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9 783170 213128
€[D]85 ,-
Kohlhammer
Die Religionen der Menschheit
Begründet von ...
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9 783170 213128
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Kohlhammer
Die Religionen der Menschheit
Begründet von CHRISTEL MATTHIAS SCHRÖDER Fortgeführt und herausgegeben von PETER ANTES, BURKHARD GLADIGOW MARTIN GRESCHAT und JÖRG RÜPKE Band 15
VERLAG W. KOHLHAMMER
Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage
von
WALTER BURKERT
VERLAG W. KOHLHAMMER
Umschlagbild: Opfer für Apollon. Von links nach rechts: Flötenspieler, Bock als Opfertier, Opferdiener, Baum im Heiligtum, Opferherr Hände waschend, Altar, dahinter Dreifuß-Weihgeschenk auf Säule, Opferdiener mit Tablett für Speisegaben, Säule und Gebälk des Tempels, der Gott, thronend, mit Lorbeerstab. Glockenkrater des Kleophon-Malers, 440/430 v. Chr., Ausschnitt. Agrigento, Museo Archeologico Regionale, Inv. AG 4688.
Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage 20ll Die erste Auflage 1977 wurde herausgegeben von Christel Matthias Schröder Alle Rechte vorbehalten © 1977 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Satz: michon, Niederhofheimer Str. 45a-c, 65719 Hofheim/Ts. Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-021312-8
Inhalt
Vorwort ........................................................... 9 EINLE'ITUNG •••.....••.•.•.••.•.....••.•..••.•.••••••.•.••••.••••.
10
1 2 3
Zur Forschungsgeschichte ........................................ , 11 Die Quellen .................................................... 18 Eingrenzung des Themas ......................................... 22
I
VORGESCHICHTE UND MINOISCH-MYKENISCHE EpOCHE ...••....•••..
25
1 2 3
4
Neolithicum und frühe Bronzezeit. ................................. Indogermanisches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Minoische und Mykenische Religion ............................. 3.1 Historischer Überblick ........................................ 3.2 Zur Quellenlage ............................................. 3.3 Die Kultanlagen ............................................. Höhlen .................................................... Höhen-Heiligtümer .......................................... Baumheiligtümer ............................................ Hausheiligtümer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tempel .................................................... Grabanlagen ................................................ 3.4 Rituale und Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die minoischen Gottheiten .................................... 3.6 De mykenischen Götternamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die "Dunklen Jahrhunderte" und das Problem der Kontinuität ...........
25 33 40 40 43 47 47 50 53 53 56 59 61 68 74 81
II
RITUAL UND HEILIGTUM •....••..•••••••••••.•••••••••••.•.••••.
91
Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 91 1 "Heiliges wirken": das Tieropfer .................................... 93 1.1 Hergang und Deutung ........................................ 93 1.2 Blutrituale ................................................. 98 1.3 Feuerrituale ............................................. " 100 1.4 Tier und Gott .............................................. 104 2 Gabenopfer und Libation ...................................... " 108 2.1 Primitialopfer .............................................. 108 2.2 Votivopfer. ................................................ 111
INHALT
9
2.3 Libation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Gebet ...................................................... Reinigung............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4.1 Funktion und Methoden ..................................... 4.2 Heiliges und Reines ......................................... 4.3 Tod, Krankheit, Wahnsinn ................................... 4.4 Reinigung durch Blut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4.5 Pharmakos ................................................ Das Heiligtum ................................................. 5.1 Temenos .................................................. 5.2 Altar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5.3 Tempel und Kultbild ........................................ 5.4 Anathemata ............................................... Priester ...................................................... Festliche Veranstaltungen ........................................ 7.1 Pompe .................................................... 7.2 Agermos .................................................. 7.3 Tanz und Lied. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 7.4 Maske, Phallen, Aischrologie .................................. 7.5 Agon ..................................................... 7.6 GöttermahL ............................................... 7.7 Heilige Hochzeit ............................................ Ekstase und Mantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 8.1 Enthusiasmos .............................................. 8.2 Die Kunst der Seher ......................................... 8.3 Orakel. ................................................... Magie ......................................................
113 118 122 122 124 127 129 131 135 135 139 140 146 151 157 157 160 161 163 166 168 169 172 172 174 178 185
III
DIE GESTALTETEN GÖTTER .•••.•••..••...•...•..•.••.••.•..•.•.
189
3 4
5
6 7
8
Dichtung und Bildkunst im Banne Homers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 189 1 Individuelle Götter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 198 1.1 Zeus ..................................................... 198 1.2 Hera ............................. ~ ......... .' ............. 206 1.3 Poseidon ...........................'.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 212 1.4 Athena .................................................... 217 1.5 Apollon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1.6 Artemis ................................................... 231 1. 7 Aphrodite................................................. 235 1.8 Hermes................................................... 241 1.9 Demeter .................................................. 245
INHALT
3
1.10 Dionysos ................................................. 1.11 Hephaistos ................................................ 1.12 Ares ..................................................... Das übrige Pantheon ............................................ 2.1 "Kleinere" Götter ........................................... 2.2 Göttervereine .............................................. 2.3 Naturgottheiten ............................................ 2.4 Fremde Götter ............................................. 2.5 Daimon .................................................. Zur Eigenart des griechischen Anthropomorphismus ..................
249 257 259 262 262 266 269 27l 276 280
IV
TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . .
291
1 2 3 4 5
Bestattung und Totenkult ........................................ Die Jenseitsmythologie .......................................... Olympisch und Chthonisch ...................................... Die Heroen ................................................... Chthonisch-olympische Doppel~esen .............................. 5.1 Herakles .................................................. 5.2 Die Dioskuren ............................................. 5.3 Asklepios .................................................
291 298 305 311 319 319 324 327
V
POLIS UND POLYTHEISMUS . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . • . . . . . . . • . .
331
1
Denkformen des griechischen Polytheismus ......................... Prinzipielles ............................................... Die Götterfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Götterpaare ............................................... Alt und Jung ............................................... Dionysos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Rhythmus der Feste ......................................... 2.1 Festkalender ............................................... 2.2 Jahreswende und Neujahr .................................... 2.3 Karneia... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Anthesteria ................................................ 2.5 Thesmophoria ............................................. Soziale Funktionen des Kults ..................................... 3.1 Götter zwischen Amoralität und Recht. ......................... 3.2 Der Eid ................................................... 3.3 Solidarisierung im Spiel und Widerspiel der Rollen ................ 3.4 Initiation ................................................. 3.5 Krisenbewältigung ..........................................
331 331 333 334 337 339 344 344 346 354 358 364 37l 37l 376 381 390 395
2
2
3
INHALT
4
Frömmigkeit im Spiegel der griechischen Sprache ..................... 4.1 "Heilig" ................................................... 4.2 The6s .................................................... 4.3 Eusebeia ..................................................
402 402 406 408
VI
MYSTERIEN UND ASKESE . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . • . . . . . . . . . . . . .
413
1
Mysterienheiligtümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 1.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 1.2 Gentil- und Stammesmysterien ................................ .416 1.3 Kabiren und Samothrake ..................................... 419 1.4 Eleusis .................................................... 425 Bakchika und Orphika .......................................... 432 2.1 Bakchische Mysterien ........................................ 432 2.2 Bakchische Jenseitshoffnung .................................. 435 2.3 Orpheus und Pythagoras ..................................... 440 Bios .. , ................................................... 449
2
3
VII PHILOSOPHISCHE
RELIGION . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . • . . . . . . . • . . . .
455
Der Neuansatz: Das Seiende und das Göttliche ....................... Die Krise: Sophisten und Atheisten ................................ Neue Grundlegung: Kosmosreligion und Metaphysik .................. 3.1 Vorsokratische Ansätze ...................................... 3.2 Platon: Das Gute und die Seele ................................ 3.3 Platon: Kosmos und sichtbare Götter ........................... 3.4 Aristoteles und Xenokrates: Geistgott und Dämonen ............... Philosophische Religion und Polisreligion: Platons "Gesetze" ............
455 464 473 473 478 483 488 493
Abkürzungen ..................................................... Literaturverzeichnis ................................................ Namen- und Sachregister. ........................................... Griechische Wörter ................................................
499 503 519 537
1 2 3
4
Vorwort Dieses Buch, 1977 erstmals erschienen, ist seit langem vergriffen; es in erneuerter Form vorzulegen, heißt neues Wissen in alte Schläuche zu gießen und sich zwischen Unbehaglichem und Unmöglichem durchzutasten. Doch nachdem Überarbeitungen schon die englische Fassung von 1985 prägten, dann erst recht die italienische Neuausgabe von 2003 durch Giampiera Arrigoni und die spanische Übersetzung von 2007 durch Alberto Bernabe - ihnen beiden gilt mein besonderer Dank -, schien ein bloßer Nachdruck des ursprünglichen Textes ausgeschlossen. Was 1977 neue Vorstöße waren, die Absage an Primitiven-Psychologie, die soziologische Sicht und der Blick zum Nahen Osten, ist weithin selbstverständlich geworden. Doch ist das Selbstverständnis der weltweit entfalteten Kulturwissenschaften durch verfeinerte selbstkritische Reflexion eher erschüttert als begründet. Eine sozusagen deutsch-klassisch-humanistische Sicht, wie sie von Walter F. Otto und Karl Reinhardt herkam, ist uns abhanden gekommen; die Internationalität der Diskussion hat sich, mit Blüte der wissenschaftlichen Reise- und Kongresskultur, endgültig durchgesetzt. Die Flut der Publikationen ist dabei vollends unüberschaubar geworden; die Zufälligkeit persönlicher Bekanntschaft und Auswahl ist nicht zu vermeiden. Was man dem Zuwachs entsprechend vom Alterwähnten streichen kann und soll, ist heikel in jedem Fall. Die Quellen haben sich, inmitten umfassender archäologischer Aktivitäten, in ihrer Substanz nicht in gleichem Maße vermehrt. Als Wichtigstes mögen die Ausgrabungen von Lefkandi und Kalapodi genannt sein, von Textfunden die Lex Sacra von Selinus, die neuen Goldblättchen und die endlich erfolgte Edition des Papyrus von Derveni. Fortschritt empfindet der Verfasser in der Kenntnis des sogenannten Orients. Bewahrt sein soll das alte Ziel, in lesbarer Form zu den direkten Quellen hinzuführen, vorab zu den klassischen griechischen Texten, aber auch zu den Ausgrabungsfunden und zur Bilderwelt; diese ist durch LIMC jetzt vollständiger als je gesammelt und zugänglich gemacht. Sinn und Funktion von Religion ist heute, zumal durch die Konfrontation mit dem Islam, in neuer Weise in Frage gestellt. Die alten Religionen, die vor Judentum, Christentum und Islam dauerhaft Wirkung geübt haben, dürften umso mehr Aufmerksamkeit erwarten, und sei es als "Museum der Gegenbeispiele". Uster, im August 2010
Walter Burkert
9
EINLEITUNG
1 Zur Forschungsgeschichte Griechische Religion! ist in gewissem Maß stets bekannt geblieben und ist doch all~s andere als kenntlich und verständlich; scheinbar natürlich und doch verfremdet, raffiniert und barbarisch zugleich, wurde sie in neuerer Zeit immer wieder als Wegweiserin genommen auf der Suche nach dem Ursprung von Religion überhaupt; und doch ist sie als geschichtliche Erscheinung einzigartig und unwiederholbar, auch selbst bereits aus einer verwickelten Vorgeschichte erwachsen. Durch dreifache Tradition2 blieb die griechische Religion im Bildungsbewusstsein bewahrt: durch ihre Präsenz in der antiken und der gesamten daran anknüpfenden Literatur, durch die Polemik der Kirchenväter und durch die symbolisierende Anverwandlung an neuplatonische Philosophie. Die Methode allegorischer Auslegung, die unter den Götternamen einerseits natürliche, andererseits metaphysische Gegebenheiten zu verstehen lehrte, war dabei in der Literatur wie in der Philosophie weitergetragen worden. Damit gab es Möglichkeiten, den Widerspruch zur christlichen Religion aufzuheben - ein letzter, gescheiterter Versuch dieser Art liegt in ereu-
2
Grundlegendes Handbuch: GGR; hervorzuheben, durch persönliches Ernstnehmen: Otte 2002; durch überragende Kenntnis der Literatur und Kulturgeschichte: GdH. Ältere Darstellungen: Sam Wide, Griechische Religion, in: Alfred Gercke/Eduard Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft II, Leipzig 1910, 191-255; Raffaele Pettazzoni, La religione nella Grecia antica fino ad Alessandro, Turin 1953; Martin P. Nilsson, A history of Greek religion, Oxford 1925; -, Greek Piety, Oxford 1948 (Griechischer Glaube, Bern 1950); Gilbert Murray, Five stages of Greek religion, Oxford 1925; Tadeusz Zielinski, The Religion of Ancient Greece, an Outline, Oxford 1926; Kern 1926-38; Wilhe1m A .. Nestle, Die griechische Religiosität in ihren Grundzügen und Hauptvertretern von Homer bis Proklos I-IIl, Berlin 1930-34 (Sammlung Göschen); Friedrich Pfister, Die Religion der Griechen und der Römer, mit einer Einführung in die vergleichende Religionswissenschaft, Leipzig 1930; Louis Gernet/Andre Boulanger, Le genie grec dans la religion, Paris 1932 (Nachdruck, mit bibliographie complementaire, 1970); Karl Kerenyi, Die antike Religion. Eine Grundlegung, Amsterdam 1940 (Neubearbeitungen: Die Religion der Griechen und Römer, München/Zürich 1963, Antike Religion, München 1971); William K. C. Guthrie, The Greeks and their Gods, London 1950; Herbert Rose, La notion du divin depuis Homere jusqu'a Platon. Entretiens de la Fondation Hardt 1, Genf 1952; Joseph Wiesner, Olympos. Götter, Mythen und Stätten von Hellas, Nieder-Ramstadt 1960; Des Places 1969; Ugo Bianchi, La religione greca, in: Pietro Tacchi Venturi, Storia delle Religioni 1I, Turin '1962,401-581; Louis Sechan/Pierre Leveque, Les grandes divinites de la Grece, Paris 1966; Roland Crahay, La religion des Grecs, Brüssel1966; Arthur W. H. Adkins, Greek Religion, in: C. Jouco Bleeker/Geo Widengren, Historia Religionum, Leiden 1969, 377-441; Simon/Hirmer 1998; Walter 1971; Antonio M. di Nola, Grecia, religione della, in: Enciclopedia delle religioni III, Florenz 1971, 514-668; Ugo Bianchi, La religione greca, Turin 1975; Burkert GR 1977; seither: Easterling/Muir 1985; Bruit-Zaidmann/Schmitt Pantel1991/1994; Bremmer 1994/1996; Price 1999; Di Donato 2001; Mikalson 2004; Parker 2005; Ogden 2007. Vgl. Otto Gruppe, Geschichte der klassischen Mythologie und Religionsgeschichte, Leipzig 1921 (RML Suppl.); GGR 3-65; Karl Kerenyi (Hrsg.), Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos, Darmstadt 1967; Fritz Graf, Religionsgeschichte, in: Der Neue Pauly XV, Stuttgart 2002, 679-699.
11
EINLEITUNG
zers Symbolik vor;3 es bestand aber auch der Anreiz, eine bewusst heidnische Gegenposition zum Christentum aufzubauen, von der Renaissance an bis zu Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands (1788), Goethes Braut von Korinth (1797) und weiter bis zu Friedrich Nietzsche und Walter F. Otto. 4 Die historische Kritik des 19. Jahrhunderts brachte den Bruch mit solch unmittelbaren Sinngebungen und setzte an ihre Stelle die kritische Sammlung und chronologische Ordnung des Quellenmaterials. Voran steht Christian August Lobecks Aglaophamus, der die Spekulationen über Mysterien und Orphik auf das Greifbare, freilich auch auf das Banale reduzierte. Packender war der aus dem Geist der Romantik geborene Ansatz, die Mythen als Zeugen eines je besonderen Volksgeistes zu deuten und dementsprechend die griechischen "Sagen" auf die einzelnen griechischen Stämme und deren Geschichte zurückzuführen; hierin ging Karl Otfried MüllerS voran; in seinem Gefolge steht noch das Alterswerk des Meisters historisch-philologischer Wissenschaft, Der Glaube der Hellenen von Wilamowitz. 6 Gleichsam als Verlängerung der gleichen Intention trat eine Zeitlang, Hand in Hand mit den aufblühenden SanskritStudien, die Rekonstruktion einer indogermanischen Religion und Mythologie in den Vordergrund, die stark der alten Natur-Allegorese verpflichtet blieb;7 sie brach eben durch den Fortschritt der Sprachwissenschaft größtenteils wieder zusammen. Hatte bislang der literarisch überlieferte Mythos samt den aus ihm entnommenen "Ideen" oder "Glaubens"-Gehalten den Begriff der griechischen Religion bestimmt, so kam eine entscheidende Wende der Sicht von der Volkskunde und der Ethnologie. Wilhelm Mannhardt erschloss mit neuen Methoden der Feldforschung die europäischen Bauernbräuche und stellte daneben ihre antiken Entsprechungen. 8 Dabei traten neben den Mythen die Bräuche der Antike in den Blick, die Rituale. Altes wie neues Brauchtum erschien dabei als Ausdruck "ursprünglicher" religiöser Vorstellungen, die im Jahreslauf um Wachstum und Fruchtbarkeit von Pflanze, Tier und Mensch kreisen; Leitbegriff wurde der ,'yegetationsgeist", der immer wieder stirbt, um neu zu erstehen. Mannhardts Synthese von Bauernbrauchtum und verfeinerter Naturallegorese wurde in Deutschland vor allem durch Hermann Usener9 aufge3 4 5
6 7 8
9
Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, Leipzig 21819; vgl. Ernst Howald, Der Kampf um Creuzers Symbolik, Tübingenl926. Friedrich. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Leipzig 1871. - Otto 2002. Lobeck 1829. - Karl O. Müller, Geschichte hellenischer Stämme und Städte I: Orchomenos und die Minyer, Breslau 1820, Il/IlI: Die Dorier, Breslau 1824; -, Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie, 1825. GdH. Bes. Adalbert Kuhn, Die Herabkunft des Feuers und des Göttertranks, Berlin 1859. Wilhe1m E. Mannhardt, Roggenwolf und Roggenhund, Danzig 1865; -, Die Korndämonen, Berlin 1867; -, Antike Wald- und FeldkulteI: Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme, Il: Antike Wald- und Feldkulte, aus nordeuropäischer Überlieferung erläutert, Berlin 1875-77; -, Mythologische Forschungen, Straßburg 1884. Hermann Usener, Kleine Schriften IV: Arbeiten zur Religionsgeschichte, Berlin 1912. Von Useners eigenem Ansatz (User 1896) blieb außer den Begriffen "Sondergott" und "Augenblicksgott" wenig
12
1 Zur Forschungsgeschichte
griffen und weitergeführt, dann durch Albrecht Dieterich,1O der mit der Gründung der Religionswissenschafdichen Versuche und Vorarbeiten (1903) und der Neugestaltung des Archivs für Religionswissenschaft (1904) der von der Antike ausgehenden Religionsgeschichte selbständigen wissenschaftlichen Status gab. Martin P. Nilsson, der die bedeutendsten, bis auf weiteres unersetzlichen Standardwerke zur griechischen Religion schuf,ll hat sich durchaus dieser Richtung zugerechnet. Parallel lief die Entwicklung in England, wo im Zentrum des Kolonialreichs Berichte über "wilde" Völker und insbesondere über ihre Religionen zusammenströmten; waren doch die Ethnologen fast durchweg Missionare. Im Bewusstsein eigenen Fortschritts begriff man das Fremde als das "Primitive", das Noch--nicht des Anfangs. Eine Synthese des Bilds der "Primitiven Kultur" gab E. B. Tylor;12 er führte in die Religionsgeschichte den Begriff des "Animismus" ein, eines Glaubens an Seelen oder Geister, der dem Glauben an Götter oder einen Gott vorausginge. Nun prägte der Grundgedanke der "Evolution" die Religionswissenschaft. Für die Religionen des Altertums wurde der damit gegebene Impuls durch die "Schule von Cambridge" fruchtbar gemacht. 1889/90 erschienen fast gleichzeitig The Religion of the Semites von W. Robertson Smith,l3 Mythology and Monuments of Ancient Athens von Jane E. Harrison14 und die Erstauflage des Golden Bough von James George FrazerY Allen gemeinsam ist, dass auch hier die Erforschung der Rituale ins Zentrum tritt. Jane Harrison, als Archäologin von den Bildzeugnissen ausgehend, suchte eine vorhomerische, vor-olympische Religion der Griechen zu erhellen; in Anlehnung an Mannhardt wurde der "Jahres-Daimon", "Eniautos Daimon" zu einem Schlüsselbegriff. Weiten Einfluss gewann die "Schule von Cambridge" vor allem durch die Zurückführung der Mythen auf die Rituale; das Schlagwort "Myth and Ritual" wirkte in die Fachethnologie und in die englischsprachige Literatur. 16 Gilbert Murray
10 11
bestehen. Albrecht Dieterich, Mutter Erde, Leipzig 1905; -, Kleine Schriften, Leipzig 1911. MMR, GGR; vgl. GGR 10 im Anschlusß an die Nennung von Dieterich: "Seitdem ist keine durchgreifende oder grundsätzliche Änderung der Methode und der Richtung der Forschung eingetreten".
12 13
14
15
16
Edward B. Tylor, Primitive Culture I-II, London 1871; -, Die Anfänge der Kultur I-II, Leipzig 1873. Smith 1889. - Thomas O. Beidelman, W. Robertson Smith and the sociological study of religion, Chicago 1974. Harrison 1890, weit erfolgreicher Harrison 1922; vgl. Anm. 24. - GRBS 13, 1972,209-30; SandraJ. Peacock/Jane E. Harrison, The Mask and the Self, New Haven 1988; William M. Calder, The Cambridge Ritualists Reconsidered, Atlanta 1991 (Illinois Classical Studies Suppl. 2); Mary Beard, The Invention afJane Harrison, Cambridge 2000; Annabel Robinson, The Life and Work ofJane Ellen Harrison, Oxford 2002. James G. Frazer, The Golden Bough. A Study in Comparative Religion l/II, Landon 1890; -, Pausanias' Description of Greece, London 1898 (6 vol.); -, Totemism and Exogamy, London 1910 (4 vol.); -, The Library of Apollodorus, London 1921, U.a.m. Vgl. auch Theodor H. Gaster (Hrsg.), The New Golden Bough, A new Abridgment of the Classic Work, New York 1959. - Robert Ackermann, James George Frazer. His Life and Work, Cambridge 1987. Geprägt in Anwendung auf alttestamentliches und altorientalisches Material: Samuel H. Hooke,
13
EINLEITUNG
und Francis Macdonald Cornford wurden Jane Harrisons Mitarbeiter, und sie haben mit den Theorien vom rituellen Ursprung der Tragödie17 und vom kosmogonischen Ritual als Unterbau der Naturphilosophie18 eine starke und originelle Anregung in die Literaturwissenschaft und die Philosophie getragen. Frazer verband die Mannhardtschen Anregungen mit dem faszinierenden Thema des rituellen Königsrnordes und griff in seinen von Auflage zu Auflage anwachsenden Materialsammlungen auch die neueren Theorien vom "Totemismus"19 und vom "Prä animismus" auf; in diesem glaubte man die ursprünglichste Form der Religion gefunden zu haben, den Glauben an ein unpersönliches "Mana".2o Diese Auffassung hat auch Nilsson21 übernommen. Frazers Mythologem vom "sterbenden Gott" Adonis-Attis-Osiris in Verbindung mit dem Sakralkönigtum lieferte einen Schlüssel, der viele Türen zu öffnen schien. In den letzten Jahrzehnten freilich sind Einfluss und Ruhm der am Golden Bough orientierten "anthropology" in den Fachwissenschaften rapid gesunken; strengeres Methodenbewusstsein und Selbstkritik, Spezialisierung und entsprechendes Misstrauen gegen Verallgemeinerungen haben in der Ethnologie wie in den Einzelphilologien und -archäologien die Oberhand gewonnen. Ein doppelter Neuansatz trat seit der Jahrhundertwende hervor, der das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften veränderte: Emile Durkheim entwickelte eine konsequent soziologische Betrachtungsweise, Sigmund Freud begründete die Psychoanalyse. Beide schließen in ihren religionsgeschichtlichen Thesen 22 an Robertson Smiths Darstellung des Opferrituals an. Beide Richtungen kommen darin überein, die vermeintliche Absolutheit und Unabhängigkeit des Geistigen einzuschränken: Es erweist sich als bedingt durch unbewusste seelische und überindividuelle gesellschaftliche Kräfte. Eben dies, mit Einschränkung auf die wirtschaftliche Basis, ist auch die
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18 19 20 21
22
Myth and Ritual. Essays on the Myth and Ritual of the Hebrews in Relation to the Culture Pattern of the Ancient Near East, London 1933; -, Myth, Ritual, and Kingship, Oxford 1958; Theodor H. Gaster, Thespis. Ritual, Myth, and Drama in the Ancient Near East, New York 1950; Clyde Kluckhohn, Myths and Rituals. A general theory, HThR 35, 1942,45-79. Kritik: ]oseph Fontenrose, The Ritual Theory of Myth, Berkeley 1966; Geoffrey S. Kirk, Myth, Cambridge 1970, 12-29; vgl. HN 39-45. Gilbert Murray, Excursus on the Ritual Forms preserved in Greek Tragedy, in: Harrison 1912,34163. Kritik: Arthur Pickard-Cambridge, Dithyramb, Tragedy, and Comedy, Oxford 1927, 185-206 (21962, 126-129); Francisco R. Adrados, Fiesta, comedia y tragedia, Leiden 1972. Francis M. Cornford, From Religion to Philosophy, London 1912; -, Principium Sapientiae, Cambridge 1952. Prinzipielle Kritik an diesem Begriff: Claude Levi-Strauss, Le totemisme aufour-d 'hui, Paris 1962 (Das Ende des Totemismus, Frankfurt a.M. 1965). --> Irl Anm. 84. Robert R. Marett, The Tabu-Mana-Formula as a Minimum Definition of Religion, ARW 12, 1909, 186-194. GGR 47-50,68 f. Ähnlich ist die Position von Ludwig Deubner, der Schüler Albrecht Dieterichs war, vgl. AF pass. Emile Durkheim, Les formes elementaires de la vie religieuse: Le systeme totemique en Australie, Paris 1912. - Siegmund Freud, Totem und Tabu, Leipzig/Wien 1913.
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1 Zur Forschungsgeschichte
These des Marxismus, dessen Beiträge zur Religionsgeschichte freilich durch Friedrich-Engels-Orthodoxie und Parteidisziplin gelegentlich beeinträchtigt warenP Für die Religionswissenschaft ergibt sich die Konsequenz, dass die Erforschung von "Vorstellungen", "Ideen", "Glauben" für sich allenfalls ein vorläufiges Ziel sein kann; sie lassen sich erst verständlich machen durch Einordnung in einen umfassenderen Funktionszusammenhang. Der soziologische Impuls wurde sogleich aufgenommen durch J ane Harrison in ihrem Buch Themis, dann durch die Arbeiten von Louis Gernet 24 und die daran anknüpfende Pariser Schule Jean-Pierre Vernants. Anregungen Freuds hat Karl Meuli mit der Volkskunde verbunden und daraus seine eigenständigen, wesentlichen Beiträge zum Verständnis griechischer Religion entwickelt;25 auch E. R. Dodds hat psychoanalytische Perspektiven zur grundlegenden Erhellung der griechischen Geistesgeschichte beigezogen. 26 Der psychologische und der soziologische Aspekt lassen sich in historischer Sicht zumindest prinzipiell vereinen durch die Hypothese, dass die Entwicklung der Gesellschaftsformen einschließlich der religiösen Rituale und der Seelenfunktionen in steter Wechselwirkung erfolgte, so dass von der Tradition her das eine je auf das andere abgestimmt istY Im eigenen Kreise stehen Walter F. Ott028 und Karl KerenyL Die Götter Griechenlands (1929) stellen einen mitreißenden Versuch dar, die Götter Homers endlich als Götter ernst zu nehmen, entgegen einer 2500-jährigen Kritik: Sie seien schlechthin Wirklichkeit als Urphänomene, in einer bewusst an Goethe anknüpfenden Sicht. Freilich ließ sich der damit eingeschlagene Weg nicht allgemein nachvollziehen, er endete in einer sublimen Privatreligion. Zu Walter F. Otto stellte sich bewusst
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Imre Trencsenyi-Waldapfel, Untersuchungen zur Religionsgeschichte, Amsterdam 1966, 11-33. Eine Verbindung von Marxismus und Cambridge-Schule leistete George Thomson, Studies in Ancient Greek Society I: The Prehistoric Aegaean, London 1949, II: The First Philosophers, London 1955; -, Forschungen zur altgriechischen Gesellschaft VII, Berlin 1974; -, Aeschylus and Athens, London 1946 (Aischylos und Athen, BerlinI956). Harrison 1912; -, Epilegomena to the Study of Greek Religion, Cambridge 1921. - Louis Gernet, Anthropologie de la Grece antique, Paris 1968; -, Les grecs sans mirade, Paris 1983. Prinzipiell wichtig, wenn auch nichf auf die Antike ausgerichtet, waren die Arbeiten von Marcel Mauss, bes. CEuvres I: Les fonetions sociales du sacre, Paris 1968; Vernant 1974, 232-243. Karl Meuli, Der griechische Agon (geschrieben 1926), Köln 1968; 1976: Bettelumzüge im Totenkult. Opferritual und Volksbrauch, Schweiz. Archiv für Volkskunde 28, 1927/8, 1-38 (Ges. Sehr. 33-68); Entstehung und Sinn der Trauersitten, Schweiz. Archiv für Volkskunde 43, 1946,91-109 (Ges. Sehr. 333-351); Der Ursprung der Olympischen Spiele, Antike 17, 1941, 189-208 (Ges. Sehr. 881-906); Griechische Opferbräuche, in: Phyllobolia, Festschrift Peter von der Mühll, Basel 1946, 185-288 (Ges. Sehr. 907-1021). Dodds 1951(1970). HN 31-45; die "gemeinsame Evolution von Genen und Kultur" proklamierte Edward O. Wilson, Sociobiology. The New Synthesis, Cambridge 1975. Otto 1929; 1933; -, Die Gestalt und das Sein. Gesammelte Abhandlungen über den Mythos und seine Bedeutung für die Menschheit, Düsseldorf 1955; -, Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion, Hamburg 1956; -, Das Wort der Antike, Stuttgart 1962; -, Mythos und Welt, Darmstadt 1963.
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EINLEITUNG
Karl Kerenyi;29 Götter und Rituale erscheinen in tiefer Bedeutsamkeit ohne rationale Explikation. Zunehmend wichtig wurde die Interpretation der archäologischen Befunde. Die Synthese mit der Archetypen-Lehre von C. G. Jung wurde nur vorübergehend hergestellt. In den letzten Jahrzehnten haben Lebhaftigkeit und Vielfalt der Studien zur griechischen Religion überall zugenommen; doch weniger als früher sind allgemeine Trends zu konstatieren. Dabei scheint sich der Marxismus zurückzuziehen, der Strukturalismus in einem diffusen Post-Strukturalismus aufzulösen. Initiativen und Leistungen bleiben auf einzelne Forscher konzentriert, selbst wenn von "Schulbildung" gelegentlich die Rede ist. Die Sprachgrenzen sind durchlässiger geworden. Doch bleiben lokale Schwerpunkte und Charakteristika. In Frankreich ist der letztlich von Durkheim stammende Anstoß soziologischer Betrachtung durch Gernet aufgenommen worden und hat dann zur vielbeachteten Schule von Jean-Pierre Vernant geführt: 30 griechische Religion im sozialen Kontext der Polis. Vorübergehend gewann, die Geisteswissenschaften allgemein faszinierend, der von Claude Levi-Strauss inaugurierte Strukturalismus bestimmenden Einfluss; er orientiert sich, unter Ablösung von naiv psychologischen, historischen und diffusionistischen Paradigmen, an formalen Modellen aus Logik und Linguistik. Er lehrt insbesondere die Mythen neu zu sehen und kann sie in ihrer ganzen Komplexität bis in die eigentümlichsten Details darstellen. 3I Der Ansatz hat ausstrahlend auf Italien, England und USA gewirkt, am wenigsten auf Deutschland. Frankreich blieb das Zentrum. Levi.--Srauss konzentrierte sich auf Indianer-Mythen. Für griechische Religion hat besonders Marcel Detienne aufsehenerregende Interpretationen vorgelegt. 32 Der ursprüngliche Elan freilich ist inzwischen erlahmt; die Leistung von Levi-Strauss ließ sich weniger als erwartet wiederholen und weiterführen. In den USA sind sowohl die deutschen wie die französischen Anregungen aufgenommen worden und haben eine Fülle von Publikationen hervorgebracht. Neu entdeckt ist das feministische Anliegen. Allgemein verbreitet, im Kontakt zur Linguistik, zur Semiologie und zum Strukturalismus, ist die Aufmerksamkeit für Kommunikations- und Symbolsysteme, auf die "Medien", immer im Blick auch auf die soziale Basis.
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Bibliographie in: Kerenyi 1976, 445-474, und in Aldo Magris, Carlo Kerenyi e la ricerca fenomenologica della religione, Mursia 1975, 331-338. Unvollständig: Werke in Einzelausgaben, 1967 ff. Mit Carl G. Jung, Das göttliche Kind in mythologischer und psychologischer Beleuchtung, Leipzig 1939; mit Carl G. Jung und Paul Radin, Der göttliche Schelm, Zürich 1954. Distanzierung von Jung: Kerenyi 1967, XXIV-XXXIII. Centre Louis Gernet de Recherches Comparees sur les Societes Anciennes; vgl. Am. 24. Claude Levi-Strauss, Anthropologie structurale, VII, Paris 1958/73, Anthropologie structurale deux, 1973; -, Mythologiques I-IV, Paris 1964-71; -, Le regard eloigne, Paris 1983. Die Diskussion um den Strukturalismus ist hier nicht weiter zu dokumentieren. Detienne 1972; 1977; Detienne/Vernant 1979, vgl. auch Vernant 1974, bes. 177-194. Einen neuen Ansatz bringt Masciadri 2008.
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1 Zur Forschungsgeschichte
Es besteht eine Neigung zu theoretischen Debatten, nicht ohne die Gefahr, dass nur Bekanntes in neue Terminologien umgesetzt wird. Ein neues Studienzentrum für griechische Religion hat sich in Liege mit der Zeitschrift Kernos um Andre Motte etabliert. Als wichtiges Hilfsmittel kam die umfassende Bibliographie Mentor zustande, die jedoch mit der weltweit steigenden Flut der Veröffentlichungen nicht Schritt halten kann. 33 Doch wurden auch anderwärts durch' internationale Zusammenarbeit bedeutende Sammelwerke geschaffen, vor allem das von Lilly Kahil ins Leben gerufene Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LlMC), dem der Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum (ThesCRA) gefolgt ist. Im ganzen mediterranen Raum wird die archäologische Arbeit fortgeführt und intensiviert, wobei die Schatzsuche von einst endgültig streng methodischen Analysen in kulturgeschichtlicher Breite gewichen ist, mehr und mehr unter Einbezug naturwissenschaftlicher Technik, die kleinsten Spuren nachgehen und zuverlässig datieren kann. Etwa für Opferrituale erbringt die Untersuchung der Tierknochen in Heiligtümern ganz neue Befunde. Vorliegendes Buch folgte einem Versuch, die Tieropfer-Rituale auf einem weit ausgreifenden anthropologischen Hintergrund zu interpretieren.34 Impulse von Karl Meuli und Reinhold Merkelbach waren aufgenommen worden; Kontakte bestehen zu Arbeiten von Albert Henrichs, Fritz Graf, Jan Bremmer. Hinzugekommen sind danach Vorstöße ins Allgemein-Anthropologische, ja Biologische einerseits,35 ins Orientalische andererseits. 36 Alle Entwürfe suchen sich an der Vielfalt des Vorgegebenen zu orientieren und einen Weg des Verstehens zu finden.
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Mentor 1992; Mentor 2 1998. HN, Burkert 1998. Burkert 1992; 2003. Babyion Memphis Persepolis: Eastern Contexts of Greek Culture, Cambridge 2004.
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EINLEITUNG
2 Die Quellen Die Vermittlung von Religion und die Weitergabe von Informationen über Religion erfolgt immer auch durch Sprache, wenn auch nicht durch Sprache allein. Die wichtigsten Zeugnisse für die griechische Religion sind nach wie vor die literarischen Texte, zumal die Griechen eine entschieden literarische Kultur begründet haben, jedoch kaum religiöse Texte im engen Sinn haben. Es gibt keine Heilige Schrift, keinen Qoran, es gibt kaum feste Gebetsformeln und Liturgien; Sekten haben später ihre besonderen Bücher, etwa des "Orpheus", doch auch diese sind nichts dem Veda oder Avesta, geschweige der Thora Vergleichbares. Dichter sind es, die zum Vergnügen Epen vortragen, die zum Götterfest jeweils neue Lieder schaffen. Dabei hat die epische Dichtung, voran die homerische Ilias, Göttergeschichten mit den heroischen Erzählungen verwoben und damit die Göttervorstellungen in besonderer Weise bestimmt. I Bronzezeitliche Texte bieten weit ältere Einzelheiten wie Götternamen, Heiligtümer, Feste und Riten, doch das lebendige Bild griechischer Religion beginnt nach wie vor mit "Homer". Bereits am Anfang des 7. Jahrhunderts v. Chr. hat Hesiod die Göttermythen in einem theogonischen System zusammengefasst, an das die erweiterungsfähigen Kataloge der Heroenmythen anschlossen. 2 Fast die gesamte archaische Chorlyrik ist Kultlyrik; die Rhapsoden des Epos leiten ihre Festvorträge mit "Homerischen Hymnen" ein. Die klassische Tragödie zeigt dann das Leiden des Einzelnen umstellt vom Rätsel des Göttlichen. Die Komödie bringt wichtige Ergänzungen durch den Blick auf die Realität des kleinen Mannes und auch durch burleske Parodie. 3 Hauptzeugnis für die griechische Religion ist damit praktisch die ganze ältere Dichtung, von der freilich nur ein Bruchteil erhalten ist. Die Prosaliteratur, die sich im 5. Jahrhundert entwickelt und seit dem 4. Jahrhundert das Sagen hat, macht Religion zu einem Gegenstand vielfältiger Diskussion. Der Inhalt der alten Tradition ist teilweise in mythographische Kompendien eingegangen und wurde in dieser Form bewahrt; weitaus am gehaltvollsten ist die auf den Namen des Apollodoror gestellte Bibliotheke 4• "Erkundung" und Sammlung des Überlieferten, historia, ist seit dem 5. Jahrhundert eine eigene Literaturgattung geworden. Dabei werden im Zusammenhang mit mythischen Erzählungen auch die Bräuche beschrieben, die dr6mena, die Rituale. Das älteste erhaltene und wichtigste Werk ist das Geschichtswerk des Herodot (veröffent1 2
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---;.IIIl. Unsere Kenntnis der Hesiodischen Kataloge hat sich durch Papyrusfunde dramatisch erweitert: Reinhold Merkelbach/Martin L. West, Fragmenta Hesiodea, Oxford 1967; Martin L. West, The Hesiodic Catalogue ofWomen, Oxford 1985; Martina Hirschberger, GYNAIKON KATALOGOS und MEGALAI EHOIAI, München 2004. Wilhelm Horn, Gebet und Gebetsparodie in den Komödien des Aristophanes, Nürnberg 1970. Richard Wagner (Hrsg.), Apollodori Bibliotheca, Leipzig 1894; lames G. Frazer, Apollodorus. The Library, Cambridge 1921; Paul Dräger, Apollodor Bibliotheke: Götter- und Heldensagen, Düsseldorf 2005.
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2 Die Quellen
licht um 425). Im 4. Jahrhundert widmen sich dann an vielen Orten Lokalschriftsteller der Pflege eigener Traditionen, allen voran die "Atthidographen" in Athen. 5 Dann spielt die hellenistische Dichtung mit Gelehrsamkeit, die lokalen Bräuchen und Mythen gilt. 6 Ausführliche Beschreibungen bestehender Bräuche sind in das geographische Werk des Strabon (1. Jahrhundert v. Chr.)7 und ganz besonders in den Reiseführer durch das Griechenland des Pausanias (2. Jahrhundert n. Chr.)8 eingegangen. Schließlich hat Plutarch (aktiv um 100-120) in seine umfangreiche Schriftstellerei viel Gelehrtes als Historiker, aber auch wichtige Einzelheiten bestehenden Rituals aus eigener Kenntnis einfließen lassen; Er war Priester in Delphi. Aus all diesen Quellen ergibt sich ein vielfältiges und oft detailliertes Bild griechischer Rituale; sie werden freilich immer nur durch das Medium literarischer Form sichtbar, nicht als Agenda des Praktizierenden, sondern in der Außenansicht durch einen realen oder fiktiven Beobachter. Unmittelbare Urkunden öffentlicher und privater Art sind die außerordentlich zahlreichen Inschriften; "Epigraphik" ist zu einer eigenen Wissenschaft geworden. Unmittelbar wichtig für Religion sind die "Heiligen Gesetze",9 die freilich in der Regel nur eine Außenseite des Kults zeigen: Es sind Volks- oder Vereinsbeschlüsse zu organisatorischen und insbesondere finanziellen Problemen, insbesondere Statuten und Opferkalender. Ein besonders wichtiger Zuwachs ist die doppelte Lex Sacra aus Selinus. lO Immerhin informieren solche Texte aus erster Hand über Priestertümer, Kultterminologie, Götternamen und -beinamen, gelegentlich auch über spezielle Rituale. Hervorzuheben sind die Sakralkalender, die die Jahresfeste samt zugehörigen Opfern aufzuführen pflegen. Doch können auch Rechnungsurkunden und Inventare für Einzelheiten aufschlussreich sein. Augenfällige Zeugen griechischer Religion sind die Monumente der griechischen Kunst, Tempel, Statuen, BilddarstellungenY Einige Tempel in Athen, Agrigent, Selinus und Paestum haben die Zeiten überdauert. Römische Kopien griechischer Götterbilder haben jahrhundertelang den unmittelbarsten Eindruck antiker Religion vermittelt, sind aber längst überboten durch die in archäologischer Exploration zutage 5 6
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Unentbehrliche Grundlage: Felix Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker III, Leiden 1999; vgl. FelixJacoby, Atthis, The Local Chronicles of AncientAthens, Oxford 1949. Am wichtigsten sind die Aitia und die Hekale des Kallimachos, wofür die Kallimachos-Ausgabe von Rudolf Pfeiffer (München 1949) alles Material an die Hand gibt. Auch die Argonautika des Apollonios Rhodios erfreuen sich und den Leser, wenn immer möglich, mit lokalen Geschichten. Radt, Stefan (Hrsg.), Strabons Geographika, I-IV, Text und Übersetzung, Göttingen 2002-2005. Maria H. Rocha-Pereira (Hrsg.), Pausaniae Graeciae Descriptio, Leipzig 21989; Kommentierte Ausgabe von Hermann Hitzig/Hugo Blümner, Heidelberg 1896-1910; von James G. Frazer -+ 1 Anm. 15; dt. Übers.: Ernst Meyer, Pausanias Beschreibung Griechenlands, Zürich 1954. Ältere kommentierte Sammlung: Hans T. von Prott/Ludwig Ziehen, Leges Graecorum Sacrae e titulis collectae I-II, Leipzig 1896-1906; Sokolowski LSCG, LSAM, LSS; Lupu NGSL (darin Nr. 6: Tiryns; Nr. 27: Selinus). Zum Kalender -+ V 2, für Athen ...... V 2 Anm. 5 .. Jameson 1993; Lupu NGSL ur. 27. Karl Schefold, Griechische Kunst als religiöses Phänomen, Hamburg 1959.
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EINLEITUNG
gekommenen Originale. Daneben hat die wissenschaftliche Archäologie einen nachgerade unübersehbaren Reichtum an scheinbar kleinen Zeugnissen erschlossen. So ist insbesondere die griechische Frühzeit in einzigartiger Intensität vor unseren Augen neu erstanden. Akropolis und Olympia, Delphi und Delos, die großen und ungezählte kleinere Heiligtümer sind ausgegraben, die Geschichte jedes einzelnen lässt sich recht exakt bestimmen; die Keramik liefert der Chronologie ein festes Fundament, und unscheinbare architektonische Reste machen umfassende Rekonstruktionen möglichY Auch darauf, was Menschen an solchen Orten taten, geben Kultmale, Altäre, Ritualgefäße, ja Tierknochen und Pflanzenreste unverächtliche Hinweise; auf.. schlussreich sind insbesondere die Deposita von VotivgabenP Sie enthalten nicht selten inschriftliche Weihungen; ein enormes Material an Götternamen und Beinamen liegt vor, das über die Verbreitung einzelner Kulte genauen Aufschluss gibt. Trotzdem bleiben Funktion und Sinn von Anlagen und Geräten nicht selten im Dunkel, wo schriftliche Quellen fehlen. Fast gleichwertig neben die Dichtung treten die Bilddarstellungen, die mit zunehmender Intensität studiert werden. Zwar sind die eigentlichen Kultbilder praktisch durchwegs verloren. 14 Doch Vasenbilder, Votivstatuen, späte Repliken gestatten, seit der früharchaischen Zeit die Entwicklung der bildhaften Göttervorstellung von Stufe zu Stufe zu verfolgenP Dazu kommen seit etwa 700 v. Chr. mythologische Darstellungen, die nicht selten weit älter sind als die erhaltenen schriftlichen Quellen.16 Verhältnismäßig selten, aber besonders wichtig sind Bilder ritueller Szenen, die uns eine gewiss vermittelte, stilisierte, aber doch unverzichtbare Anschauung von der Wirk.lichkeit des Kults gebenY Eine indirekte Quelle religiöser Haltung sind die "theophoren" Personennamen, Eigennamen, durch die eine Person in den Bereich eines bestimmten Gottes gestellt, oft als seine "Gabe" bezeichnet wird: Apollodotos, Apollodoros und Apollonios, Herodotos, Herodoros und Heron, Hermaios und Hermodoros, Athenaios, Hekataios, Dion, Apelles und viele andere. IB Theophore Namen sind auch im semitischen Orient geläufig; dagegen scheinen sie im Mykenischen zu fehlen, sie stehen bei 12 13 14
--+ II 5. Interpretationsprobleme bleiben; vgl. Mylonopoulos/Roeder 2006. --+ II 2. ThesCRA I, 269-326.
Eine kleine Apollon-Hgur war am Altar des wieder aufgebauten Heiligtums von Kalapodi befestigt (--+ 14 Anm. 41). Früher können am ehesten die gehämmerten Bronzen von Dreros (--+ 14 Anm. 16)
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als Kultbilder gelten. ThesCRA II 417-507; Werner Oenbrink, Das Bild im Bilde. Zur Darstellung von Götterstatuen und Kultbildern auf griechischen Vasen, Frankfurt a.M. 1997; Tanja S. Scheer, Die Gottheit und ihr Bild. Untersuchungen zur Funktion griechischer Kultbilder in Religion und Politik, München 2000. Simon/Hirmer 1969; Walter 1971; jetzt umfassend LlMC. Vgl. Schefold 1964 und 1993; Httschen 1969. Das Material jetzt in ThesCRA; zur Problematik Andreas Rumpf, Attische Feste - Attische Vasen, BJb 161, 1961, 208-214. Sittig 1911; die Materialien jetzt in Peter M. Fraser (Hrsg.), A Lexicon of Greek Personal Names 1IV, Oxford 1984-2005; Parker 2000.
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2 Die Quellen
Homer ganz am Rand. 19 Theophore Namen zeugen für die Verbreitung eines einzelnen Gottes und insgesamt für die Popularität des Normal-Pantheons; einen einmal eingeführten Namen freilich wird die Familientradition festhalten, auch ohne Reflexion auf seinen Sinn. Die methodische Forderung, eine Darstellung der archaischen und klassischen griechischen Religion allein auf zeitgenössische Quellen aufzubauen, ist undurchführbar. Das zeigt sich schon am Verhältnis von mythologischen Bildern und Texten. Die späten Mythographen, auch die Einzelnotizen in Klassiker-Kommentaren, gehen oft nachweislich, meistens mit Wahrscheinlichkeit, auf Literatur der klassischen oder frühhellenistischen Epoche zurück; Ritualbeschreibungen stammen sehr oft von den Lokalschriftstellern des 4. Jahrhunderts; die Apollodorische Bibliothek erzählt weithin die Hesiodischen Kataloge nach. Auch außerliterarisch muss es eine beharrliche Lokalüberlieferung gegeben haben. Vieles, was Pausanias berichtet, scheint uralt zu sein; der Mythos der Demeter von Phigalia 20 etwa dürfte in die Bronzezeit zurückreiehen. Hochaltertümlich sind auch viele Rituale, die Plutarch beschreibt. Darum werden im Folgenden stets auch späte Quellen herangezogen; deren Datierung ergibt für das von ihnen Bezeugte doch nur einen Terminus ante quem. Wenn Religion wesentlich Tradition ist, kann eine Darstellung der griechischen Religion um so weniger das noch Ältere aus dem Auge verlieren, das Vorhomerische, das Bronzezeitliche, ja das Vorgriechische. Seit die spektakulären Erfolge von Heinrich Schliemann und Sir Arthur Evans die Minoisch-Mykenische Epoche ans Licht gebracht haben,zl ist das Bild der Vor- und Frühgeschichte im Umkreis von Griechenland in enormem Maß erweitert und vertieft worden; Verbindungen zeichnen sich ab sowohl zum bronzezeitlichen Orient als auch noch weiter zurück ins europäische und anatolische NeolithikumY Von prinzipieller Bedeutung ist die Einsicht, dass die griechische, die "homerische" Religion nicht in einzigartiger Isolierung dasteht, sondern zunächst als Repräsentant eines allgemeineren Typs, einer bronzezeitlichen Koine, zu gelten hat. Immer schwieriger freilich wird es, diese Vielfalt der Beziehungen auch nur im Überblick zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn zur Synthese zu verarbeiten. Das wissbare Material wächst mehr und mehr; die Probleme nehmen zu.
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Mykenisch nur"Theodora" te-o-do-ra MY V 659; "Ares" in a-re-i-m-e-ne TH Z 849. 851 f geht wohl vom Appellativum aus (-+ III 1 Anm. 459). - Herakles und der eigentlich göttliche Diomedes sind Sonderfälle; so bleibt bei Homer nur "Diokles". -+ III 1 Anm. 146; III 1 Anm. 376. -+ 13. -+11.
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EINLEITUNG
3 Eingrenzung des Themas Eine adäquate Darstellung der griechischen Religion ist in mehr als einer Hinsicht utopisch. Das Material ist für einen Einzelnen unüberschaubar, die Methoden sind durchaus umstritten, und der Gegenstand selbst ist alles andere als definiert. So ist denn leichter zu sagen, was das vorliegende Buch nicht sein kann und will, als was es ist: Es ist kein umfassendes Handbuch, wie es Martin P. Nilsson vor 69 Jahren vorlegte, keine prophetische Verlebendigung, wie sie Walter F. Otto wagte, auch kein Buch der Bilder, wie sie den Werken der Archäologen ihren Glanz verleihen. Im Rahmen einer breit angelegten Reihe sucht dieses Buch über die Vielfalt und Vielschichtigkeit der Gegebenheiten zu orientieren, im Bewusstsein der Probleme und seiner eigenen Vorläufigkeit. Vollständigkeit ist weder in Bezug auf die Materialien, schon gar nicht auf die wissenschaftliche Literatur beansprucht. Versucht ist, möglichst viele primäre Zeugnisse an die Hand zu geben und in der Auswahl jeweils das hervortreten zu lassen, was sich in sinnvolle Zusammenhänge fügt. Für einlässliche Diskussion all des Rätselhaften und Umstrittenen ist im gesetzten Rahmen kein Raum. Man wird eine eigene Darstellung der "Religion der Tragiker" vermissen, doch ist diese zu vielschichtig, als dass sie sich auf wenigen Seiten umreißen ließe. Religion erscheint in diesem Buch eher als überpersönliches Kommunikationssystem. Griechische Religion wie griechische Kultur überhaupt ist nach Ort und Zeit eingegrenzt durch den Wirkungsbereich der griechischen Sprache und Literatur, wie sie nach dem Zusammenbruch der bronzezeitlichen Kultur insbesondere durch eine "orientalisierende Epoche" Eigenart und Geltung gewann. Das Ende bringt die Kulturrevolution des Christentums, im Verein mit den Verwüstungen durch die Völkerwanderung und dem Einbruch des Islam. Die Olympischen Spiele und die Eleusinischen Mysterien bestanden über 1000 Jahre, bis Kaiser Theodosius im Jahre 393 alle heidnischen Opfer verbot; bewusst heidnische Philosophen gab es bis in die Zeit Justinians, der 529 die Athenische "Akademie" schloss. Die Anfänge liegen im Dunkel der Vorgeschichte. Doch bedeuten die Katastrophen und Wanderungen um und nach 1200 v. Chr. einen vergleichbar markanten Einschnitt;I der Begriff "griechisch" wird hier nur für die diesseits dieser Grenze beginnende Kultur verwendet, im Kontrast zum "Mykenischen". Doch auf einen Abriss der Minoisch-Mykenischen Religion als Voraussetzung des Griechischen kann nicht verzichtet werden. Wirklich greifbar wird die griechische Religion dann erst im 9./8. Jahrhundert; Literatur und Bilddarstellungen führen nur wenig über 700 zurück. Damit verbleiben noch immer 1100 Jahre, ein Zeitraum voll von militärischen und sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Erschütterungen. In vorliegender Darstellung ist, entsprechend der Gesamtplanung der Reihe, der Umbruch des Alexanderzugs zur unteren Grenze gemacht; indem dieser den Lebensraum der Griechen unerhört erweiterte, neue Zentren schuf, ~I4.
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3 Eingrenzung des Themas
die Polis-Kultur beiseite drängte und zugleich die orientalischen Hochkulturen neu ins Spiel brachte, kann er als Epochengrenze genommen werden. Als eigentlicher Gegenstand verbleibt die Religion der durch Sprache und Kultur verbundenen Gruppe von Städten und Stämmen in Griechenland, auf den ägäischen Inseln und an der Küste Kleinasiens samt deren Kolonien vom Schwarzen Meer bis nach Sizilien, Unteritalien, Marseille und Spanien, in der spätgeometrischen, archaischen und klassischen Epoche, rund zwischen 800 und 300 v. ehr. Die bestimmende Lebensform dieser Epoche ist die griechische Polis. Selbst in dieser Begrenzung stellt sich die Frage, inwieweit von »der griechischen Religion" schlechthin die Rede sein kann: Jeder Stamm, jede Landschaft, jede Stadt hat ihre je eigene, zäh festgehaltene Tradition; wäre es richtiger, von einer Pluralität der "griechischen Religionen" zu sprechen?2 Dem steht gegenüber, dass zur Verständigungsmöglichkeit durch die gemeinsame Sprache seit dem 8. Jahrhundert auch die gemeinsame literarische Kultur hinzugetreten ist, beherrscht von der homerischen Dichtung, die ein übergreifendes Pantheon präsentiert; gleichzeitig gewinnen einige Heiligtümer panhellenische Bedeutung, voran Delphi und Olympia; und eben damals entwickelt sich auch, ungeachtet lokaler Besonderheiten, der typisch griechische Stil der bildenden Kunst, der später den ganzen Mittelmeerraum beherrschen sollte. Bei aller Betonung lokaler oder auch sektiererischer Besonderheiten erschienen den Griechen selbst ihre religiösen Manifestationen als grundsätzlich vereinbar, als Verschiedenheiten des Brauchs in der Zuwendung zu denselben Göttern, im Rahmen der einen Welt. Übergreifende religiöse "Bewegungen" sind schon im 6. Jahrhundert zu verzeichnen, dann gerät Religion überhaupt in die Krise durch die sich erhebende Philosophie. Doch dass zur griechischen Welt die griechischen Götter gehören, wollte selbst die griechische Philosophie nicht in Frage stellen. Dem Religionswissenschaftler präsentiert sich die griechische Religion in der doppelten Gestalt von Ritual und Mythos. Es fehlen die Religionsstifter und Offenbarungsurkunden,3 es fehlen auch Organisationen von Priesterschaft und Mönchtum. Legitimiert ist die Religion als Tradition, indem sie sich selbst als prägende Kraft der Beharrung von Generation zu Generation bewährt. Ritual ist, von außen gesehen, ein Programm demonstrativer Handlungen, fixiert nach Art der Ausführung und oft nach Ort und Zeit, "heilig", insofern jede Unterlassung oder Störung Angst auslöst und Sanktionen nach sich zieht; Mitteilung und Prägung zugleich, begründet und sichert es die Solidarität der geschlossenen Gruppe. In dieser Funktion hat es die Formen menschlichen Zusammenlebens wohl seit Urzeiten begleitet.4 Enthalten ist im "heiligen" Ritual die Anrufung unsichtbarer Mächte, die als personales Gegenüber genannt werden; "Götter", theoi, heißen sie, sobald wir Texte 2 3 4
Vgl. Price 1999. Beides taucht im Umkreis der Orphik auf, -+ VI 2. HN 31-96; Burkert 1998.
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EINLEITUNG
haben. Mehr zu berichten weiß von ihnen der Mythos, ein Komplex von traditionellen Erzählungen. 5 Ihnen eignet bei den Griechen immer ein gewisses Maß von Unverbindlichkeit; die Wahrheit eines Mythos ist nie verbürgt und braucht nicht "geglaubt" zu werden. Doch abgesehen davon, dass der Mythos zunächst die einzige explizite Form umfassender Wirklichkeitsbewältigung ist, erhält der Göttermythos seine Relevanz eben durch die Verbindung mit den heiligen Ritualen, denen er nicht selten eine Begründung, eine "Aitiologie" liefert, die er oft auch spielerisch nacherzählt. Dauerhafte und eindrückliche Form hat dann die Dichtkunst ihrerseits einzelnen Mythen gegeben, und eben der Vortrag dieser Dichtung wiederum bildet einen unverzichtbaren Bestandteil des Götterfestes. Komplex in seinem Wesen wie in seiner Wirkung, entzieht sich der griechische Mythos darum eindimensionalen Klassifizierungen und Analysen.
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Die Diskussionen um den "Mythos" sind uferlos; Übersicht: Graf 1991; vgL Geoffrey S. Kirk, Myth. lts Meaning and Functions in ancient and other Cultures, Cambridge 1970; HN 39-45; Burkert 1979; -, Typen griechischer Mythen auf dem Hintergrund mykenischer und orientalischer Tradition, in: Domenico Musti (Hrsg.), La Transizione dal Miceneo all'Alto Arcaismo, Rom 1991,527536; -, Antiker Mythos Begriff und Funktion, in Heinz Hofmann (Hrsg.), Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, 11-26; Marcel Detienne, Vinvention de la mythologie, Paris 1981; Paul Veyne, Les Grecs ont-ils cru aleurs mythes?, Paris 1983; Claude Calame (Hrsg.), Metamorphoses du mythe en Grece antique, Genf 1988; Lowell Edmunds (Hrsg.), Approaches to Greek Myth, Baltimore 1990; Richard Buxton, Imaginary Greece. The Context of Mythology, Cambridge 1994; -, Das große Buch der griechischen Mythologie, Wiesbaden 2005. Zur Deutungsgeschichte Kerenyi (- 1 Anm. 2); Jan de Vries, Forschungsgeschichte der Mythologie, Freiburg 1961; Jürgen Mohn, Mythostheorien, München 1998; Eric Csapö, Theories of Mythology, Maiden 2005. Zum antiken Begriff: Willy Theiler, Untersuchungen zur antiken Literatur, Berlin 1970, 130-147. Das griechische Material ist am besten verarbeitet in PR, am ausführlichsten in RML, Bilddarstellungen in LIMC; vielgebrauchte Übersichten: Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Wien 1953; Herbert J. Rose, A Handbook of Greek Mythology, London 1928 (Griechische Mythologie, München 1955); Karl Kerenyi, Die Mythologie der Griechen I, Zürich 1951; -, Die Heroen der Griechen, Darmstadt 1959.
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VORGESCHICHTE UND MINOISCH-MYKENISCHE EpOCHE
1 Neolithikum und frühe Bronzezeit Antike Religion versteht sich als "Brauch" (n6mos) und führt Traditionen weiter, deren 'Spuren sich in der Vorgeschichte verlieren, durch Zeiträume, die sich weiten. Misst man seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. die Epochen nach Jahrhunderten, ja nach Jahrzehnten, so liegen dem vier "dunkle Jahrhunderte" und rund acht Jahrhunderte bronzezeitlicher Hochkultur voraus; davor erstreckt sich die Frühbronzezeit über ein rundes Jahrtausend, das Neolithikum über mehr als drei Jahrtausende; und das mehr als 25000 Jahre umspannende Jungpaläolithikum vor alledem ist noch lange nicht der Anfang der Menschheitsgeschichte; es gibt Indizien für religiöse Aktivität seit dem Altpaläolithikum. 1 Allen Perioden der Prähistorie fehlt für immer das Zeugnis der Sprache, die authentische Verbalisierung zur Deutung vielfältiger und oft verwirrender Befunde. Erhalten ist zudem immer nur eine einseitige, von physikalisch-chemischen Zufälligkeiten bedingte Auswahl von Überresten. So sind Bestattungen deutlicher fassbar als Zeugnisse des Lebens; am genauesten zu bestimmen und einzuordnen sind die Scherben von Tongefäßen, so dass seit der Erfindung der Keramik um 6000 eben diese bestimmend wird für die Abgrenzung und Chronologie der einzelnen Kulturen. Handlungsweisen oder gar Vorstellungen des frühen Menschen werden nur indirekt fassbar. Mit dem Zuwachs an Material und dem Fortschritt der Methode ist eher die Zurückhaltung gegenüber vorschnellen Deutungen gewachsen, gerade auch gegenüber religiösen Deutungen: Es geht nicht an, Unverstandenes einfach "religiös" oder "rituell" zu benennen, selbst wenn irgendwoher genommene Analogien Erklärung anzubieten scheinen. Doch das kritische Gegenprinzip, das in jedem Fall den positiven Beweis eines religiösen Sinns verlangt, läuft wie jeder Minimalismus Gefahr, gerade Wichtigstes beiseite zu lassen. Dabei ist zu bedenken, dass religiöse Veranstaltungen wie Prozessionen und Tänze, Kränze und Masken, Sakramente und Orgien nicht die geringste bleibende Spur zu hinterlassen brauchen. Bildkunst freilich kann weiterhelfen; doch bringt sie ihre eigenen Probleme der Deutung mit sich. Auf anderem Weg führt gerade die Sprache in die Prähistorie: Das Griechische gehört zur Gruppe der indogermanischen Sprachen, und die wissenschaftliche Rekonstruktion Auf altpaläolithische "Bärenbestattungen" verwies Meuli 1946, danach HN 20-69, doch gelten die Befunde, auf die er sich stützte, als widerlegt, vgl. Walter Burkert in: Fritz Graf (Hrsg.), Klassische Antike und neue Wege der Kulturwissenschaften. Symposium Karl Meuli, Basel 1992, 176-180. Totenbestattung praktizierte bereits der Neandertaler. Altpaläolithisch ist der feuergehärtete Holzspeer, der in der Kyklopen-Geschichte auftaucht, S&H 33 f., dazu neue Funde: H. Thieme, Germania 77, Berlin 1999,451-487. Vorneolithisch sind die Monumente von Göbekli Tepe (10./9. Jahrtausend): Klaus Schmidt, Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeit jäger, München 2006. Zum Ganzen jetzt Wunn 2005.
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einer indogermanischen Ursprache eröffnet eine Welt des so Benannten. Die führt ins 4. oder 3. Jahrtausend. Allerdings scheint die damit gestellte Aufgabe, die Resultate der Sprachforschung mit den Befunden der Bodenforschung in eine eindeutige Relation zu bringen, sich als unlösbar zu erweisen: Weder die "Urheimat der Indogermanen" noch die Einwanderung von indogermanischen Gruppen in Griechenland sind archäologisch eindeutig fassbar, nicht einmal die so viel spätere, historisch bezeugte Dorische Wanderung lässt sich anhand von Ausgrabungsfunden, von Keramik oder Bestattungsformen unwidersprüchlich nachweisen. 2 Griechenland war, wie Europa überhaupt, schon im Paläolithikum von Menschen bewohnt. 3 Kontinuierliche Siedlungen beginnen mit dem frühen Neolithikum im 7. Jahrtausend;4 die Anfänge liegen der Erfindung der Keramik noch voraus. Vollzogen ist damit der entscheidende Übergang von der Jäger-Sammler-Stufe zu Ackerbau und Viehzucht. Zentren sind dementsprechend die Fruchtebenen, voran Thessalien, wo der wichtigste und zuerst erschlossene Fundplatz Sesklo für die neolithischen Kulturstufen namengebend wurde;5 Makedonien einerseits, Böotien, Argolis, Messenien anderseits schließen sich an; auch Kreta ist schon im 7. Jahrtausend von der neolithischen Kultur erreicht. Diese Ackerbaukultur, die früheste in Europa, kam aus dem Osten. Weder die Getreidesorten, Gerste und Weizen, noch die wichtigsten Haustiere, Ziege und Schaf, waren in Griechenland heimisch. Die Anfänge der neolithischen Kultur liegen im "fruchtbaren Halbmond" zwischen Iran und Jericho; die Ausbreitung Richtung Griechenland ging über Kleinasien. In Südanatolien ist durch die Ausgrabungen von C;:atal Hüyük und Hact1ar 6 ein Zentrum zutage getreten, von dem aus deutliche Verbindungen einerseits nach Sesklo führen, andererseits zu später bezeugter anatolischer Religion. Auch die bemalte Keramik ist aus dem Osten nach Griechenland gekommen, ebenso dann im 3. Jahrtausend die Metallbearbeitung und später noch die Anregung zur Hoch- und Schriftkultur; man hat von der "Ost-Westlichen Kulturdrift" gesprochen.7 Doch haben sich auch im Norden, im fruchtbaren Donauraum jenseits des Balkangebirges, seit dem 6. Jahrtausend Bauernkulturen ausgebildet, die wiederholt auf Griechenland eingewirkt haben; Eigentümlichkeiten der Befunde von der Burg von Dimini in Thessalien samt der zugehörigen Keramik werden mit einem solchen Vorstoß im 4. Jahrtausend erklärt. 2 3 4
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-+ I 2; I 4; bes. die Diskussionen bei Crossland/Birchall 1973. Vladimir Milojcic u.a., Paläolithikum um Larissa in Thessalien, Bonn 1965. Friedrich Matz, Die Ägäis. Handbuch der Archäologie II, München 1950; Fritz Schachermeyr, Die ältesten Kulturen Griechenlands, Stuttgart 1955; -, Das ägäische Neolithikum, Lund 1964; -, Ägäis und Orient, Wien 1967; -, Die ägäische Frühzeit I: Die vormykenischen Perioden, SB Wien 303, 1976; Vermeule 1964, 19-22; CAH 1,557-618; Müller-Karpe II/III; Christopulos 1974; Narr 1975; Theocharis 1977. Chrestos Tsountas, Hai proistorikai Akrop61eis Dimenioii kai Sesklou, Athen 1908. James Mellaart, <;atal Hüyük, Stadt aus der Steinzeit, Bergisch Gladbach 1967; -, Excavations at Hacllar I-II, Edinburgh 1970. Schachermeyr (vgl. Anm. 4).
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Im Ganzen scheint das griechische Neolithikum ohne radikale Brüche und ohne tiefgreifende Differenzierungen gut drei Jahrtausende zu umspannen. Zeugnisse für Religion sind in diesem Zeitraum spärlich, 8 und sie treten im Lauf der Entwicklung eher noch zurück. Den wichtigsten Komplex von mutmaßlich religiöser Relevanz stellen die plastischen Statuetten dar, die auch sonst das asiatische, afrikanische und europäische Neolithikum begleiten: kleine Figuren aus Ton, zuweilen aus Stein, meist Darstellungen nackter Frauen, mit oft übertriebener Betonung von Unterleib, Gesäß und Geschlecht. Sie haben Vorgänger seit dem Jungpaläolithikum, und sie setzen sich in verschiedenen Formen fort bis in die Hochkulturen, in Griechenland zumindest bis in die archaische Epoche. Von Anfang bis Ende begleitet sie die Problematik der Interpretation: Nach älterer, gängiger Deutung wären sie Darstellung einer Muttergottheit, Inbegriff der Fruchtbarkeit von Mensch, Tier und Erde; es ist verführerisch, daran gleich das Vorherrschen weiblicher Gottheiten noch im historischen griechischen Kult, auch die im Mykenischen bezeugte "Herrin" (P6tnia) in vielerlei Gestalt anzuschließen, bis hin zur "Magna Mater", die nach Rom kam. Dies führt über das Beweisbare weit hinaus; die Tatsache, dass diese Figuren oft in der Mehrzahl auftreten, dass von einer festen Verbindung mit Heiligtümern nicht die Rede sein kann, hat mehr und mehr Skepsis gegen jene pauschale Deutung um sich greifen lassen.9 Am eigenartigsten, am eindrucksvollsten und auch am deutlichsten ist der Befund in <;atal Hüyük (Anm. 6). Hier findet sich in der frühneolithischen Stadt eine Reihe von "Heiligtümern", besonders ausgestatteten Räumen der vielzimmrigen Häuser: Sekundäre Bestattungen von Toten, Bänke mit aufgestellten Stierhörnern, figürliche Wandmalereien geben ihnen ihr Gepräge, vor allem aber Plastiken einer "Großen Göttin" mit erhobenen Händen und gespreizten Beinen an der Wand, offenbar die gebärende Mutter der Tiere und des Lebens überhaupt. Wenn einer weiblichen Statuette ein knabenhafter Partner beigesellt ist, wenn eine andere füllige Frauengestalt, ein Kind gebärend, zwischen Leoparden thront, wenn auf einem Wandgemälde als Leoparden maskierte Männer den Stier jagen, dann ist der Zusammenhang mit der kleinasiatischen "Großen Mutter" der historischen Zeit mit ihrem Paredros, mit ihren Leoparden oder Löwen, mit Männerbund und Stieropfer unabweisbar. Hier ist religiöse Kontinuität über mehr als fünf Jahrtausende hin fast überwältigend deutlich. Fraglich ist indessen, ob man kraft der "Ost-Westlichen Kulturdrift" von hier aus die neolithische Religion schlechthin und im besonderen die Religion des neo8
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Ergiebiger sind die Zeugnisse aus dem Donauraum, von denen Gimbutas 1974 ausgeht; dazu Marija Gimbutas, The Civilization of the Goddess. The World of Old Europe, San Francisco 1991. Älterer Versuch einer umfassenden Synthese: Gertrude R. Levy, The Gate of Horn, London 1948; -, Religious Conceptions of the Stone Age, New York 1963. Vgl. Dorothy B. Thompson, Troy Suppl. III: The Terracotta Figurines of the Hellenistie Per iod, Princeton 1963, 87-92; Müller-Karpe Il 380-95; Peter J. Ucko, Anthropomorphie Figurines of Predynastie Egypt and Neolithie Crete with Comparative Material from the Prehistoric Near East and Mainland Greece, London 1968; Helck 1971; Winter 1983; ~ Anm. 33.
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lithischen Griechenland erhellen kann. J. G. Frazer hatte aus "Adonis Attis Osiris" die Vorstellung der Großen Göttin mit ihrem sterbenden Partner, der die jährlich vergehende und doch wiederkehrende Vegetation bedeute, gewonnen; Sir Arthur Evans hatte Entsprechendes in der minoischen Bildwelt wiedergefunden;lO doch auch hier ist die große Synthese längst bestritten. Einzelforschung betont die Besonderheiten der je einzelnen Bereiche; die beschränkten Kommunikationsmöglichkeiten der Steinzeit lassen eher Zersplitterung als geistige Einheit erwarten. Unter den Sesklo-Statuetten findet sich mehrfach eine männliche Gestalt, die thronend dargestellt ist,u während die weiblichen Figuren stehen oder kauern; dies weist auf patriarchalische Ordnung, vielleicht auf einen männlichen Gott, vielleicht auch auf ein Götterpaar; es gibt auch die Figur der sitzenden Frau mit Kind, den sogenannten Kurotrophos-TypY Ithyphallische Männerstatuetten,13 nicht selten auch einzelne Phallen,14 können Fruchtbarkeit bedeuten, aber auch apotropäische Markierung des Reviers; dies bleibt unentscheidbar. Als "Tempel" wurde ein Gebäude in Neo Nikomidia (Makedonien) angesprochen: Es liegt, selbständig und verhältnismäßig groß, in der Mitte der Siedlung, es enthielt eigentümliche Gefäße und fünf Statuetten. 15 Es stammt aus dem 6. Jahrtausend, liegt also von Homer der Zeit nach weiter entfernt als dieser von unserer Gegenwart. Es fanden sich andernorts einige nicht unbestrittene Indizien für Opferplätze und Altäre.16 Opfergruben vor allem bei der Otzaki-Magula in Thessalien17 mit Ascheschichten, Tierknochen, Gefäßscherben und Figurinen werden nordbalkanisehern Einfluss zugerechnet. Einige Höhlen, die später Heiligtümer waren, dienten im Neolithikum anscheinend noch zu Wohnzwecken. I8 Trotz der Vielfalt und den Unsicherheiten in jedem Einzelfall scheint insgesamt religiöse Praxis entsprechend dem später Bekannten durchaus gegeben. Die üblichen 10 11 12 13
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...... Einleitung 1 Anm. 15; I 3 Anm. 221. Christopulos 1974, 66; Narr 1975, 163. Müller-Karpe 1968, T. 133, 16; Christian Zervos, Naissance de civilisation en Grece, Paris 1962, 305 Abb. 395; Taf. C. Bes. eine große Figur aus Larisa (Athen, Nationalmuseum), Christopulos 1974, 90, Gimbutas 1974, 232, die aber eher frühhelladisch ist, Hans Möbius AA 1954, 207-216; vergleichbar eine mittelhelladische Figur aus Zerelia: AlanJ. B. Wace/M. S. Thompson, Prehistoric Thessaly, Cambridge 1912, 163 Abb. 110. Gimbutas 1974, Tafelabb. 219; Zervos 1962 (s.o. Anm. 12) 250. Zur Interpretation --+ III 1 Anm. 4; HN70. Müller-Karpe 1968, 451 Nr. 121. Altar unter freiem Himmel in einem Hof bei Chaironeia: Christopulos 1974, 91; ein Herd im Zentralhof von Dimini; Opfergruben in Elateia: Müller-Karpe 1968, 346. Johanna MilojCic-v. Zumbusch/Vladimir MilojCic, Die deutschen Ausgrabungen auf der OtzakiMagula in Thessalien I, Bonn 1971; Müller-Karpe 1968, 451 Nr. 123; Narr 1975, 169. Höhle von Phranchthi (Argolis): Michael H. Jameson, Hesperia 38, 1969, 342-381; Arch. Rep. 1971/2, 10; Höhle von Maroneia (Thrakien): Ergon 1971, 94-105; Arch. Rep. 1971/2, 18; Höhle von Kitsos bei Laurion: Arch. Rep. 1971/2, 6 f; Pan-Höhle bei Marathon: Ergon 1958, 15-22; Müller-Karpe 1968,450 Nr. 117; Rutkowski 1972, 272 f.
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Opfertiere der Griechen sind Schaf und Rind, Ziege und Schwein, während Esel und Pferd gemeinhin ausgeschlossen sind: Diese sind erst im 3. bzw. 2. Jahrtausend eingeführt worden; das Ritual dürfte also schon vor dieser Zeit auf die neolithischen Haustiere fixiert worden sein. Aus Achillion in Thessalien stammt der Fund einer kleinen Tonmaske, die an einem pfahlartigen Ständer aufgehängt ist.19 Dies erinnert unwiderstehlich an die Säule mit der Dionysosmaske, wie sie auf griechischen Vasenbildern erscheint; und doch wird das neolithische Modell bereits um 6000 datiert. Eine der Dimini-Keramik zugerechnete Scherbe zeigt eine Menschengestalt mit erhobenen Händen, im "Epiphanie"-Gestus,z° wie er in der minoisch-mykenischen Kunst erscheint, aber auch weit früher schon in <;atal Hüyük. Besonders archaisch unter den agrarischen Festen der Griechen wirken die Thesmophoria; man hat sie als "steinzeitlich" angesprochen. 21 Ihnen eigentümlich sind Schweineopfer, weshalb sich auch oft Votivschweine aus Ton in Demeterheiligtümern finden. Nun stammt aus Nea Makri bei Marathon eine eindrucksvolle Schweineplastik, noch aus dem Frühneolithikum;22 im Balkanraum gibt es Schweine-Tonplastiken, in die Getreidekörner eingepresst waren, was die Beziehung zum Ackerbau augenfällig macht. 23 In Hermione finden "geheime Opfer" für Demeter in einem Kreis großer, unbehauener Steine statt; die Charakterisierung als "steinalt", "steinzeitlich " drängt sich auf. 24 So lassen sich mancherlei uralte und bodenständige Beziehungen der griechischen Religion vermutungsweise erfassen, auch wenn die Zeugnisse weit auseinander liegen und bedenkliche Leerräume hypothetisch zu überbrücken sind; auf neue Funde kann man gefasst sein. Die Bronzezeit entstand im 4. Jahrtausend durch technische Impulse von Osten her. Während sich in Mesopotamien und im Niltal die ersten Hochkulturen entfalteten, kam der mit der Metallverarbeitung einhergehende Kulturfortschritt über Kleinasien nach Griechenland. Troia25 erreichte damals bereits eine erste Blütezeit, von der der "Schatz des Priamos" zeugt. Griechenland bleibt dahinter zurück; doch im Gefolge von Arbeitsteilung und Konzentration von Reichtum und Macht entstehen auch dort stadtähnliche, ummauerte Siedlungen mit großen zentralen Bauten. Am 19 20 21 22 23 24
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Gimbutas 1974,61, Abb. 18 (gefunden 1973); zu den "Lenäenvasen" --+ V 2 Anm. 109. - Masken aus Sesklo: Narr 1975. 163. K. Grundmann, JdI 68, 1953, 28 Abb. 33. --+ I 3 Anm. 32. Simon 1969, 92. --+ V.2.5. AM 71, 1956, 24 Beil. 15,1. Gimbutas 1968, 211. Paus. 2,34,10, vgl. 7,22,4; 9,38,1 (Orchomenos); freilich muss die Benutzung solcher Steinkreise wie auch der Westeuropas - nicht kontinuierlich erfolgen. Ein Steinheiligtum ist auch die Initiationsstätte von Gilgal (AT Jos. 4,20; 5,9). Die Beschneidung wie die Kastration im Attis-Kult wird mit einem Steinmesser vollzogen. Zu Troia allgemein DNP XII 1,852-862; earl W. BIegen (Hrsg.), Troy I, Princeton 1950. - Zwischen Troia und Griechenland ist Poliochni auf Lemnos zu nennen: L. Bernab<'> Brea, Poliochni, Rom
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besten erforscht ist Lerna in der Argolis; der Name lässt sich möglicherweise aus der protohattischen Sprache Anatoliens herleiten: 26 Mächtige Quellen geben dem Ort sein Gepräge. Dort wurde eine Art Palast errichtet, "Haus der Ziegel" genannt nach seinen bezeichnenden Resten; es wurde um 2100 gewaltsam zerstört. 27 Der Rhythmus der Geschichte beschleunigt sich; auch landschaftlich ist eine stärkere Differenzierung festzustellen. Man unterscheidet zumindest die Kultur des Festlands, die nun "frühhelladisch" heißt, von der "kykladischen" Kultur der Ägäisinseln und der "frühminoischen" Kultur Kretas, die bruchlos der minoischen Hochkultur entgegenwächst. Die Zeugnisse für frühhelladische Religion sind eher noch spärlicher als die für das Neolithikum. Statuetten werden ganz selten, was vielleicht auf ein Zurücktreten von Privat- oder Hauskulten weist. Dafür gibt es deutliche Reste von Opferkult. Aus jenem Bau in Lerna, der dem "Haus der Ziegel" voranging, stammt ein großes, flaches, rechteckiges, reichverziertes Tonbecken, das in der Mitte eine doppelaxtförmige Vertiefung aufweist; es trägt Feuerspuren und muss demnach als zeremonieller Herd gedient haben. 28 Auffallende Aschenschichten, die wohl von Opfern stammen, fanden sich in Rundbauten in Orchomenos. 29 Am wichtigsten ist der Befund von Eutresis in Böotien: 3o Ein Haus der dortigen Siedlung enthielt hinter Eingangs- und Wohnraum einen dritten, größeren Raum; in ihm standen, außer dem üblichen Herd am Rande, mitten im Raum eine aufgemauerte Bank und eine kreisrunde, verzierte Plattform mit Feuerspuren und Tierknochen; eine Opfergrube enthielt Asche, Tierknochen, brandversehrte Keramik; neben der Plattform lag ein Gefäß in Form eines Rindes, das älteste Tier-Rhyton. Hier fanden also Tieropfer mit Libationen statt, hier darf man von einem Heiligtum sprechen, auch wenn keine Darstellung eines Gottes zu finden ist. Eine Opfergrube älterer Schicht in Eutresis enthielt eine kleine Steinsäule, einen "Baitylos". Zu dem Bau, der jenem Heiligtum voranging, gehört das rätselhafte "Chasma", eine kreisrunde, trichterförmige Grube von sechs Metern Durchmesser und mehr als drei Metern Tiefe in einem Mauerkranz; darf man es mit späteren Rundbauten um Opfergruben assoziieren? Nachfolger des Heiligtums ist wiederum ein auffallendes Gebäude mit einem großen Raum, der eine Mittelsäule, jedoch keine weiteren Hinweise auf kultische Funktionen enthielt.
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Protohattisches Pluralpräfix le- und arinna, arna "Quelle": zögernd Emil Forrer, Glotta 26, 1938, 195 f. John Caskey, Hesperia 29, 1960, 285-303; Vermeule 1964,34-36. Vermeule 1964, 39; 44: p!. IV C; Müller-Karpe 1975, 646. Heinrich Bulle Abh. München 24, 1907, 19-25. Müller-Karpe 1975, 647, T. 403 F; RE Supp!. XIV 303; vg!. auch Müller-Karpe 1975, 874. Hetty Goldman, Excavations at Eutresis in Boeotia, Cambridge 1931, 15-20; John Caskey, Hesperia 29, 1960, 151 f ("Haus 1:', FH 11); Rhyton: Goldman T. VII, Müller-Karpe III T. 407 C 14; Baitylos: Müller-Karpe III 646 f, T. 407 B 4/7; Chasma: Hesperia 29, 137-139, 162 f; Vermeule 1964, 44. Zu griechischen Rundbauten Fernand Robert, Thymele, Recherches sur la signification et la destination des monuments circulaires dans l'architecture religieuse de la Grece, Paris 1939.
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Als das "Haus der Ziegel", offenbar durch einen kriegerischen Einfall, zerstört war, schüttete man über der Ruine einen großen runden Hügel auf, der Jahrhunderte lang bestand,3! Zeichen einer untergegangenen Welt, vielleicht auch kultisches Zentrum, einer "chthonischen" Macht geweiht. Unter denen, die dies sahen und achteten, waren zweifellos bereits griechisch sprechende Griechen. Schifffahrt im Bereich der Kykladen gab es seit frühneolithischer Zeit, war doch der Obsidian von der Insel Melos ein begehrtes Gut. Die bronzezeitliche Kykladenkultu2 2 hat ihre Basis in der Verbindung von Ackerbau und Handwerk mit Seehandel; in der Kommunikation mit Ost und West haben kleine, aufblühende Gemeinwesen ihren eigenen Stil entwickelt. Bemerkenswert sind die Anlagen großer Gräber, teils mit falschem Gewölbe überdacht, für mehrfache Bestattungen. Aus Gräbern stammen weithin die Kunstwerke, die die Kykladenkunst vor allem bekannt gemacht, ja in Mode gebracht haben, die Marmoridole, die gelegentlich monumentale Größe erreichen. Der Haupttyp stellt eine nackte Frau dar, aufrecht, obgleich die gestreckten Füße nicht zum Stehen taugen, die starr anliegenden Arme unter der Brust verschränkt; das nur angedeutete Gesicht ist nach oben gerichtet. Auch Figuren von Musikern mit Leier und mit Flöte kommen vor. Die Figuren sind nicht ausschließlich als Grabbeigabe geschaffen worden - eine große Statue wurde zerbrochen, um ins Grab zu passen. Den modernen Betrachter fasziniert die abstrahierende und doch harmonisch geschlossene Form; die religionsgeschichtliche Deutung stößt nach wie vor ins Leere: Haben wir es mit einer "Großeri Göttin" zu tun, Lebens- und Todesmutter, mit Göttinnen, mit Nymphen, mit dienenden Begleitern ins Jenseits?33 Noch rätselhafter ist auf einem gravierten Silberblech die Gestalt einer "Vogelgöttin", aufrecht stehend, doch anscheinend mit Schnabel und mit Flügeln ausgestattet. 34 Auch hier werden alle Deutungsversuche hypothetisch bleiben. Und doch gibt es auch hier Kontinuität zu späterem griechischen Kult, angezeigt durch das charakteristische, kirnos genannte Kultgefäß, bei dem viele kleine Schüsselchen oder Krüge kreisförmig angeordnet sind. 35 Nilsson schrieb über die Helladische Religion lapidar: "We know nothing".36 Viel Greifbares ist auch nach den Ausgrabungen von Lerna und Eutresis nicht zu nen31 32
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Hesperia 29, 1960, 293; Vermeule 1964,30; Müller-Karpe 1975, 646. Christian Zervos, L'art des Cyclades, Paris 1957; Colin Renfrew, The Development and Chronology of Early Cycladic Figurines, AJA 73, 1969, 1-32; Renfrew 1972; Müller-Karpe 1975, 151-155; Vermeule 1984, 45-57. Jürgen Thimme, Die religiöse Bedeutung der Kykladenidole, AK 8, 1965, 72-86 (Rückgeburt des Toten in die Große Göttin?); anders Karl Schefold ibo 87-90 ("Nymphen"); "Dienerinnen" nach Nilsson, MMR 293 f. Eine männliche Figur: Jose Dörig (Hrsg.), Art antique. Collections privees de Suisse Romande, Genf 1975, Nr. 32. Vermeule 1964,53 Abb. 9; Cook 1914, 334. Kernos von Philakopi, Melos (Athen, Nat.Mus.), Christopulos 1974, 108. -+ I 3 Anm. 23. MMR5. .
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nen; doch genügt es zu erweisen, dass die indogermanisch-griechischen Einwanderer ausgeprägte Kulte vorfanden und rezipierten. Um die griechische Mythologie auf die mykenische zurückzuführen, hat Nilsson37 darauf hingewiesen, dass die Zentren der Mythenkreise mit mykenischen Zentren zusammenfallen; doch ob Thessalien, Böotien, Aetolien, Attika oder Argolis, Eurotas-Ebene, Messenien, überall stehen die mykenischen Städte im neolithischen und frühbronzezeitlichen Siedlungsraum, im Bereich der alten Ackerbaukultur. So könnte es sein, dass Nilssons These in gewissem Sinn nicht etwa zu weit geht, sondern zu kurz greift. Es ist bemerkenswert, dass einige Heiligtümer, die von den späteren Griechenstädten weit abliegen, die Stelle einer helladischen Siedlung einnehmen. Dies gilt vor allem für das Heraion von Argos/ B vielleicht auch für das auf Samos. 39 Der Quellenort Lerna ist später die Stätte von Dionysosmysterien;4o der zweihenklige Becher dieses Gottes, der Kantharos, ist in Lerna eine bezeichnende Gefäßform der mittleren Bronzezeit. Unter dem Zeus-Altar im Lykaion-Heiligtum ist Helladisches gefunden worden.41 Und manches, was im Minoisch-Mykenischen zu fehlen scheint oder in den Hintergrund tritt, hat die griechische Religion mit Neolithischem und Frühhelladischem gemeinsam: Tieropfer mit Feuer, ithyphallische Darstellungen, Masken. Die vielen Bruchlinien der Tradition, die ungezählten Katastrophen der Frühzeit, sind nicht leichthin zu übersehen; und doch haben auch bewahrende Kräfte sich immer wieder behauptet, wohl gerade im Bereich der Religion.
37 38
Martin P. Nilsson, The Mycenaean Origin of Greek Mythology, Berkeley 1932, 35-186. - I 3.1. Carl W. Biegen, Prosymna, The Helladic Settlement preceding the Argive Heraeum, Cambridge
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Vladimir MilojCit, Samos I: Die prähistorische Siedlung unter dem Heraion, Bonn 1961, bes.
1937. 27-30; 68. 40
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Die Zeugnisse sind erst spätantik: Plut. Is. 364F; Paus. 2,37,5; A.P. 9,688; IG II/lII 23674; 4841; IV 666; CIL VI 1779-1780. Kantharoi (MH) z.B. Hesperia 23,1954, T. 7 a; 26,1957, T. 43 ab. Frühneolithisch dagegen ist die besonders schöne Statuette Hesperia 25, 1956, 175. Arch. Rep. 1997/8,32.
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2 Indogermanisches
2 Indogermanisches Man weiß seit langem, dass die griechische Sprache mit einer Gruppe von anderen Sprachen aus Europa und Asien so eng verwandt ist, dass sich eine gemeinsame Ursprache, Indogermanisch oder Indoeuropäisch genannt, bis in die Einzelheiten von Phonetik, Flexion und Wortbildung rekonstruieren lässt. l Besonders auffallend sind die Gemeinsamkeiten der beiden Sprachen, die zunächst die am frühesten bezeugten waren: das homerische Griechisch und das vedische Indisch. Die Entdeckung des Hethitischen und der verwandten amltolischen Sprachen, die nunmehr in die erste Hälfte des 2. Jahrtausends zurückführen, hat die Verhältnisse kompliziert und doch die Rekonstruktion im Prinzip bestätigt. Dass die rekonstruierte Sprache einst von einem ,;Volk", einer Gruppe oder Gruppen von "Indogermanen" gesprochen wurde, ist eine zwingende Folgerung. Dieses Volk hat sich in Stämme aufgespalten, die nach Indien, Kleinasien, Griechenland wie auch nach Italien, West- und Nordeuropa vordrangen; im Verlauf der Wanderungen sind aus der gemeinsamen Ursprache die fassbaren Einzelsprachen hervorgegangen. Das Auftreten der Hethiter liefert eine untere Zeitgrenze für diesen Prozess der Differenzierung. Andererseits kann die Epoche der Gemeinsamkeit nicht beliebig weit in die Prähistorie zurückgeschoben werden; im unvermeidlichen Sprachwandel schriftloser Epochen hätten sich sonst beispielshalber Vedisch und Griechisch bis zur Unkenntlichkeit auseinanderentwickeln müssen. Man wird also kaum wesentlich über die erste Hälfte des 3. Jahrtausends zurückgehen können. Zudem hat das Indogermanische zwei Wörter für "Rad", kyklos und rota, das anscheinend erst im 4. Jahrtausend erfunden wurde. Überaus umstritten ist die historische Konkretisierung dieser Postulate, die Frage nach der "Urheimat der Indogermanen", was die Zuordnung einer archäologisch fassbaren neolithischen KuIturschicht zum "Indogermanenvolk" bedeuten würde. 2
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Auf die indogermanische Sprachwissenschaft als solche ist hier nicht einzugehen. Zur "indogermanischen Altertumskunde": Otto Schrader/Alfons Nehring, Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde, Berlin 1917- 228; Anton Scherer (Hrsg.), Die Urheimat der Indogermanen, Darmstadt 1968; Benveniste 1969; George Cardona/Henry M. Hoenigswald/Al&ed Senn (Hrsg.), Indoeuropean and Indo-Europeans, Philadelphia 1970; Bernfried Schlerath, Die Indogermanen. Das Problem der Expansion eines Volkes im Lichte seiner sozialen Struktur, Innsbruck 1973; Manfred Mayrhofer (Hrsg.), Antiquitates Indogermanicae, Innsbruck 1974; Mallory/Adams 1997; Fortson 2004. Da im Englischen "deutsch" (German) und "germanisch" (Germanic) schwer zu trennen sind, wird im Englischen, Französischen, Italienischen der Name "Indoeuropean", "Indoeuropeen", "Indoeuropeo" gebraucht. Dieser Name ist irreführend, insofern in Europa auch nicht-indogermanische Sprachen (bes. ungarisch, finnisch) geläufig sind; "indogermanisch" nennt treffender die geographischen Extreme Südost-Nordwest. Die Schnurkeramiker-These, die eine Zeitlang herrschte (z.B. Schwyzer 1939, 52), ist durch politischen Missbrauch um ihren Kredit gekommen; dazu Müller-Karpe 1975, 10. Andere Vorschläge: Richard Pittioni, Propyläen-Weltgeschichte I (1961) 254 f (Trichterbecher-Kultur); Giacomo Devoto, Origini indoeuropee, Florenz 1962 (Bandkeramiker); Kar! Jettmar, Paideuma 5, 1950/4, 236-52 (Andranovo-Kultur in Zentralasien); Marija Gimbutas, The Prehistory of Eastern Europe I, Cambridge 1956, 79 f; JIES 1, 1973, 163-214 (Kurgan-Kultur in Südrussland); dazu Rüdiger SchmittJIES
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Der Spielraum der Thesen erstreckt sich vom Altai bis Anatolien, ja bis nach Norddeutschland; auf eine Entscheidung ist nicht zu hoffen. Griechenland jedenfalls ist, wie Italien, Anatolien und Indien, erst durch eine bronzezeitliche Wanderungsbewegung indogermanisiert worden. Doch diese Einwanderung der Griechen in Griechenland, genauer: die Einwanderung von Trägern einer aus dem Indogermanischen entwickelten Sprache, die uns dann als Sprache der "Hellenen", als "griechisch" fassbar wird, ist ein kaum weniger kontroverses, wenn auch umgrenzteres Problem. 3 Die griechische Sprache tritt uns seit dem 14. Jahrhundert in den Linear-B-Texten entgegen. Dass die Herren von Mykene schon vorher, mindestens seit der Schachtgräber-Periode (16. Jahrhundert), dieselbe Sprache sprachen, wird nicht bezweifelt. Dagegen ist es schon wegen des vermutbaren Zeitansatzes des Indogermanischen unwahrscheinlich, dass man in der frühhelladischen Epoche beispielshalber in Eutresis und Lerna griechisch sprach. So konzentrieren sich die Thesen auf zwei archäologisch fassbare Bruchzonen, wo Zerstörungen und Neuansätze von einem tiefgreifenden Wandel zeugen, vor und nach der "Frühhelladisch IH" genannten Periode. Um 2200 wird nach Troja 11 auch Eutresis zerstört und dann gleichfalls das "Haus der Ziegel" in Lerna. Um 1900 tritt eine auffallende Art von Keramik, die "Minyische Ware", mattgrau gefirnisst, auf, die wiederum zu Troja Verbindungen hat.4 Von beiden Umbrüchen ist Kreta nicht betroffen, wo die minoische, nichtgriechische Kultur zum Sprung in die Hochkultur ansetzt. Kompliziert wird die Festlegung dadurch, dass auch mit der Wanderung von anderen, nichtgriechischen, doch indogermanischen Gruppen zu rechnen ist, "Vorgriechen", wobei man oft an Verwandte der Hethiter, an kleinasiatische Luwier denkt. 5 Obendrein ist die Möglichkeit eines allmählichen, früheren oder späteren Einsickerns der Griechen ohne dramatische Eroberung und Zerstörungshorizonte nicht auszuschließen. Ein abschließendes Ergebnis der Diskussion ist auch hier nicht zu erwarten; es gibt weder eine indogermanische noch eine urgriechische Keramik. Im Wortschatz des Indogermanischen ist eine geistige Welt enthalten, die Wertstrukturen, soziale Gliederungen und auch religiöse Vorstellungen erkennen lässt.
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2, 1974,279-284; Henrik Birnbaum ibo 361-84; Thomas V. Gamkrelidze/Vjaceslav V.Ivanov, IndoEuropean and the Indo-Europeans, Berlin 1995 (Ostanatolien/Van-See); an die Neolithiker überhaupt möchte Colin Renfrew das Indogermanische anschließen: Archaeology and Language. The Puzzle of Indo-European Origins, New York 1990. Vgl. auch James P. Mallory/Douglas O. Adams, The Oxford Introduction to Proto-Indo-European and the Proto-Indo-European World, Oxford 2006; West 2007, 5-11. CAH I 2, 406-410; 804-807; 845-50; Fritz Schachermeyr, Zum Problem der griechischen Einwanderung, Atti e memorie delI. Congresso internazionale di Micenologia, Rom 1968,305-312; Crossland/Birchalll973; Vincent Robin d'Arba Desborough, Gnomon 45, 1973, 393-399; Robert Drews, The Coming of the Greeks, Princeton 1988. CAH I 2, 845-50; Vermeule 1964, 72-74. Vgl. Alfred Heubeck, Praegraeca, Erlangen 1961; Leonard R. Palmer, Mycenaeans and Minoans, London 1961, 321-357; West 2007,8,19. Ein nicht-indogermanisches "Pre-Greek" sucht Roben Beekes, Etymological Dictionary of Greek Leiden 2010, xiii-xlii zu fassen.
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Deutlich ist die patriarchalische Organisation, die zentrale Stellung des "Vaters" in der Großfamilie; Ackerbau ist bekannt, doch weit wichtiger sind Weide, Rind und Pferd. Man stellt sich demnach kriegerische Nomaden oder Halbnomaden am Rand der sich entwickelnden Hochkulturen vor, die eben dort sich dann zu Herren machen konnten. Im Detail freilich stellen sich von Fall zu Fall spezifische Probleme: Bedeutungsverschiebungen bei den einzelnen Vokabeln, Sonderentwicklungen, Parallelentwicklungen, Entlehnungen; der sämtlichen indogermanischen Sprachen gemeinsame Wortschatz ist minimal. Was den religiösen Bereich betrifft, kommt die Komplizierung dazu, dass dasselbe Wort nicht selten in der einen Sprache eindeutig sakral, in der anderen profan und alltäglich gebraucht wird; das Religiöse muss hier nicht das Ursprüngliche sein. Trotzdem bleiben einige sichere Anhaltspunkte für eine entwickelte Religion der Indogermanen6 mit Göttern, Götterkult und Götterdichtung. Da ist vor allem der "HimmeJ...Vater", bei Griechen und Römern der höchste der Götter, Zeus pater, Diespiter--]uppiter.7 Vom gleichen Stamm gebildet ist ein Wort für die "lichten", himmlischen Götter, altindisch devdh, lateinisch deus; gerade im Griechischen freilich ist dieses Wort durch the6s verdrängt. B Kein weiterer Name aus dem Kreis der Olympischen Götter lässt sich mit Sicherheit auf einen indogermanischen Gott zurückführen, wenn auch einige wie Hera, Poseidon, Ares mit indogermanischen Wortstämmen gebildet sind.9 Dagegen sind Helios, der Sonnengott, und Eos-Aurora, die Göttin der Morgenröte, von gut indogermanischer Abkunft,1O auch in ihrem Götterstatus; doch stehen sie bei den Griechen im Schatten der Olympier. Dass im Namen von Plataiai, wo man die Erdgöttin verehrte, der indogermanische Name der Erdgöttin, der "Breiten", erhalten ist, wussten die Griechen nicht mehr. Unabweisbar ist die Zusammenstellung der Dioskuren mit den aOvins der vedischen Mythologie; jugendliche Zwillinge, Herren der Pferde, Retter in der Not, dies sind detaillierte Übereinstimmungen; und doch ist hier kein gemeinsamer Name erhalten; der spartanische Name Tindaridai ist unerklärt; die Dioskuren überlagern sich mit nichtgriechischen "Großen Göttern".u 6
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Friedrich Cornelius, Indogermanische Religionsgeschichte, München 1942 (eigenwillig und ohne Belege); William Havers, Die Religion der Ur indogermanen im Lichte der Sprache, in: Franz König (Hrsg.), Christus und die Religionen der Erde ll, Freiburg 1951, 697-748; Paul Thieme, Studien zur indogermanischen Wortkunde und Religionsgeschichte, Ber. Leipzig, ph.-h. Kl. 98,5, Berlin 1952 (teilweise abgedruckt bei Schmitt 1968, 102-153); Benveniste 1969, II 179-279; West 2007. --+ III 1.1. --+ V 4 Anm. 31/2. Vorschläge für indogermanische Etymologie griechischer Götternamen lassen sich vervielfältigen, Janda 2005 kaum je beweisen; vgl. auch West 2007. --+ III 1 Anm. 55; III 1 Anm. 113; III 1 Anm.
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Dazu die Junktur "Tochter des Zeus" (griech. Dias thygäter), Deborah D. Boedeker, Aphrodite's entry into Greek Epic, Leiden 1974. Plataia: Risch 1974, 74; West 2007, 174; 178 f; ein Relikt im Mythos der Daidala, wonach Zeus Plataia heiratet, Paus. 9,3,1. --+ II 2 Anm. 55. Dioskuren --+ IV 5 Anm. 41.
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Fest steht, dass es indogermanische Dichtung12 gab, Kunstdichtung in Versen mit festen poetischen Floskeln, von denen einige übereinstimmend im Vedischen und Griechischen auftauchen. Auf Heldendichtung weist die Formel vom "unvergänglichen Ruhm", kleos aphthiton, auf Götterdichtung die Benennung der Götter als "Geber des Guten", dotor/doteres eaon. Damit ist zugleich eine polytheistische Mythologie gegeben, in der auch Helios und Eos ihre Rolle spielen. Wichtig waren Spekulationen um die Verneinung des Todes, um Lebenskraft und Unsterblichkeit: ambrotos, Ambrosia; doch haben die Griechen das Wort nicht mehr recht verstandenP Auch Umrisse des Kults lassen sich fassen, "Verehrung" des Heiligen mit Opfer und Gebet. Der Stamm von griechisch hazesthai "scheuen, verehren", hagnos "rein", hagios "heilig" ist in der iranischen, avestischen Religion ein Grundwort kultischer Verehrung,H während im Griechischen diese Wortsippe am Rand des Religiösen steht, zurückgedrängt von hieros und sebesthai. Ähnlich steht es mit dem Stamm, der die "Opfergüsse" vorab im Kult der Toten und der unterirdischen Mächte bezeichnet, choai: im Indischen und Iranischen ist von ihm der Titel des Opferpriesters schlechthin gebildet, hotar, zaotar; doch im Griechischen bezeichnet das Verbum auch jedes profane Ausgießen, und als Kultwort ist aus anatolischer Tradition spendein, sponde eingedrungenY Die ausführlichste Schilderung von choai im Oedipus auf Kolonos des Sophokles16 verbindet mit dem "Gießen" das Ausbreiten von Zweigen, was dem indoiranischen baresman/barhis auffallend entspricht: Hier ist offenbar indogermanische rituelle Tradition jenseits des Sprachlichen bewahrt. Dass das Tieropfer auch eine indogermanische Institution war, lässt sich am Wort Hekatombe ablesen: Die auffallende Tatsache, dass diese keineswegs ein "Opfer von 100 Rindern" sein muss, erklärt sich daraus, dass nach den Gesetzen indogermanischer Wortbildung eine Handlung genannt ist, die ,,100 Rinder einbringt";17 solch eine Auffassung des Opfers als eines gleichsam magischen, Vervielfältigung wirkenden Akrs ist wiederum im Griechischen, im Kontrast etwa zum Altindischen, allenfalls am Rand zu finden. Bemerkenswert ist schließlich, dass das Wort für Gebetsruf und Gelübde im Griechischen und im Avestischen in letztlich identischer Form erscheint,18 was auf indogermanische Verwendung auch dieser Form des Gottesanrufes weist. Weiter gehen faszinierende Rekonstruktionen, die auf mythisch-religiöse Strukturen als Entsprechungen sozialer Organisation zielen. Insbesondere hat Georges
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Schmitt 1968 und: -, Dichtung und Dichtersprache in indogermanischer Zeit, Wiesbaden 1967; Watkins 1995; West 2007. Verneinung "n" (> griech. a) und mrt- "Tod"; vgl. Paul Thieme bei Schmitt 1968, 113-132. Stamm yaz-, Yasna (avestische Liturgie), Yast (avestische Hymnen). -+ II 2 Anm. 34; IV 3. Soph. O.K. 466-492; Burkert 2007, 77-84; ....... II 2 Anm. 51; II 7 Anm. 79. Paul Thieme (Anm. 6) 62-76. eukto Thebais Fr. 3.3, avestisch aoxta, Havers (s.o. Anm. 6) 735.
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Dumezil in seinen oft wiederholten und erweiterten Arbeiten19 das System der "Drei Funktionen" von Priester-, Krieger- und Nährstand als eine G~undstruktur herausgestellt, die im Pantheon, im Ritual, im Mythos und im sonstigen Erzählen und Spekulieren immer wieder zu finden sei. Groß war Dumezils Erfolg in der französischen Forschung; Widerlegungen sind inzwischen zur Genüge erschienen. Für andersartige Strukturen eines Hirtenkriegerturns mit Tierahnen-Mythologie und Doppelkönigtum suchte Andreas Alföldi 20 Linien von eurasischen Reitervölkern bis zum ältesten Römerstaat zu ziehen. Natürlich multiplizieren sich die Unsicherheitsfaktoren, je weiter der Rahmen gespannt wird. Vor allem aber wird auffallen, dass für Dumezil wie für Alföldi das eigentlich griechische Material besonders unergiebig ist: Die griechische Kultur zeigt sich hier anscheinend der neolithisch-anatolischen Stadtkultur mehr verpflichtet als dem indogermanischen Nomadenturn. Dass das Griechische, auch die griechische Religion, zu begreifen ist als Synthese aus einem bodenständigen Substrat und indogermanischer Überlagerung,21 ist eine einleuchtende, wenn auch gewiss vereinfachende These. Leicht drängen sich scheinbar fundamentale Dualismen in den Vordergrund, die die Unterscheidung von "indogermanisch" und "nicht indogermanisch" überhöhen und belasten: Männlich und Weiblich, Patriarchat und Matriarchat,22 Himmel und Erde, Olympisch und Chthonisch, Geist und Trieb. Die Wechselwirkung beider Pole soll sich dann in der griechischen Religion spiegeln, indem die neuen Götter die alten Titanen stürzen oder auch der indogermanische Himmelsvater die mittelmeerische "Herrin" zu seiner Gemahlin macht. 23 Genauere Betrachtung zeigt immer wieder, wie die Grenzen solcher Schematisierung gesprengt werden. Der Mythos von den Göttergenerationen ist altorientalisch, 19
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Ouranos-Varuna, 1934; Juppiter, Mars, Quirinus, 1941; L'heritage indoeuropeenne a Rome, 1949; L'ideologie tripartite des Indo-Europeens, 1958; Mythe et Epopee. Videologie des trois fonctions dans les epopees des peuples indo-europeens, 1968. Zur Kritik Schlerath 1973 (s.o. Anm. 1) und Kratylos 40, 1995, 1-48; 41, 1996, 1-67; Andreas Alföldi, Die Struktur des voretruskischen Römerstaates, Heidelberg 1974 (vgl. Anm. 20) 54 f; ein Musterbeispiel für Dumezils Modell wäre ausgerechnet die sumerische Göttertrias Anu (Himmel), Enlil (Sturm), Enki (Wasser der Tiefe). Alföldi 1974 (Anm. 19). Z.B. Raffaele Pettazzoni, Les deux sources de la religion grecque, Mnemosyne 4, 1951, 1-8. "Das Mutterrecht" war eine Konstruktion von Johann J. Bachofen (Gesammelte Werke lI/IlI, Basel 1948), zur Wirkung gelangt durch Friedrich Engels und von neuem durch modernen Feminismus; vgl. Heide Göttner-Abendroth, Das Matriarchat I, Stuttgart 42010. In der ägäischen und nahöstlichen Vorgeschichte ist dergleichen nirgends nachgewiesen und spielt insofern für die griechische Religionsgeschichte keine Rolle; vgl. Beate Wagner-Hasel, Matriarchatstheorien der Altertumswissenschaft, Darmstadt 1992; Brigitte Röder/Juliane Hummel/Brigitta Kunz, Göttinnendämmerung. Das Matriarchat aus archäologischer Sicht, München 1996. Die Rolle der Göttinnen, auch die vorübergehende Übermacht von Frauen in Ritual und Mythos ist strukturell und psychologisch zu erklären; vgl. Simon Pembroke, Women in charge. The function of alternatives in early Greek tradition and the ancient idea of matriarchy, J. Warburg Inst. 30, London 1967, 135; HN 53; 94; es bleibt die besondere Rolle des Mutterbruders, Jan Bremmer, The Importance of the Matemal Uncle and Grandfather in Archaic and Classical Greece and Early Byzantium, ZPE 50,1983,173-186. -+ III 1 Anm. 14; I 3.6.
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ebenso die Vorstellung von den himmlischen im Gegensatz zu "unteren" Göttern;24 gerade die "chthonischen" chöai haben sprachliche Beziehungen zum Indogermanischen, während das "olympische" Opfer mit Semitischem zusammengeht. z5 Der Himmelsvater, der als ,,vater" doch nie unbeweibt gewesen sein kann, steht als Wettergott, unbesiegbar kraft seines Blitzes, dem Mesopotamisch-Syrisch-Anatolischen besonders nahe. Z6 Nicht-Indogermanisches im griechischen Wortschatz, insbesondere in griechischen Ortsnamen, hat seit langem Aufmerksamkeit erregt; im Blick sind vor allem die Suffixe -nth(os) und -ss(os) - Ortsnamen wie Korinth und Tiryns, Knossos und Parnass, Pflanzennamen wie erebinthos/"Erbse" und kiss6s/"Efeu", Hyazinthe und Narzisse; sie haben, wie dann auch das Hethitische bestätigt hat, in Anatolien EntsprechungenY Ob mit einer einheitlichen Sprache oder einem vielfältigen und heterogenen Konglomerat zu rechnen ist, bleibt offen. Hyakinthos, Gott und Blume zugleich, ist im griechischen Mythos ein von Apollon geliebter Jüngling, den der Gott mit einem Diskoswurf getötet hat; er wird in Amyklai, dem vordorischen Königsort, als Unterirdischer verehrt und gilt doch zugleich als in den Himmel eingegangen. Das Fest Hyakinthia ist weit verbreitet. Dass hier ein vorgriechischer "sterbender Vegetationsgott" bewahrt sei und dass der Mythos von seiner Verdrängung durch den dorischen Apollon erzähle, ist oft gesagt worden. z8 Und doch ist das nach Hyakinthos, nicht Apollon benannte Fest - mit variierenden Dialektformen - allgemein dorisch, wie besonders die Verbreitung des Monatsnamens Hyakinthiosz9 zeigt, während von Amyklai spezielle Verbindungen in den semitischen Osten weisen. JO In Mythen, jenseits vom Ritual, lassen sich immer und überall Übereinstimmungen finden; für Indogermanisches bietet sich insbesondere das überreiche Reservoir der Sanskrit-Literatur. Wahrscheinlichkeit wird man nur dort konstatieren, wo die Übereinstimmung sehr spezifisch, ungewöhnlich, ja abwegig ist. DrachenkampflI ist 24 25 26 27
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IV 3 Anm. 27/8. I 4 Anm. 45; Grazer Beitr. 4, 1975, 75-7. Sumerogramm "Gott Sturm" (dIM). -+ III 1 Anm. 11. Paul Kreschmer, Einleitung in die Geschichte der griechischen Sprache, Göttingen 1896, 401-409; August Fick, Vorgriechische Ortsnamen, Göttingen 1905; Schwyzer 1939,510 f.; Risch 1974, 174; "frühbronzezeitlich" nach Vermeule 1964, 60-65, "neolithisch" nach Schachermeyr 1967, 16; vgl. Wilhelm Brandenstein, RE Suppl. VI 170; -, Die vorgeschichtlichen Völker- und Sprachbewegungen in der Ägäis, in: In memoriam Helmuth Bossert, Istanbul1965, 111-132; EdzardJ. Furnee, Die wichtigsten konsonantischen Erscheinungen des Vorgriechischen, Den Haag 1972. MMR 56-58, vgl. GF 129-140, GGR 316; Machteid Mellink, Hyakinthos, Diss. Utrecht 1943; Luigi Piccirilli, Ricerche sul culto di Hyakinthos, Stud, dass. ed or. 16, Pisa 1967, 99-116; Dietrich 1974, 18 f. Lakonien, (Megara-)Byzantion, Kreta, Thera, Rhodos, Knidos, Kos, vgl. Samuel 1972, Index s. v.; Trümpy 1997, Index s.v. Burkert, Grazer Beitr. 4, 1957, 51-79. Watkins 1995; doch sind die ältesten Belege sumerische Siegelbilder, Burkert 2003, 56 f, denen das Keilschriftzeichen MUSH "Schlange" (sumerisch) entspricht. Vgl. auch Jaan Puhvel (Hrsg.), Myth and Law among Indo-Europeans. Studies in Indo-European comparative mythology, Berkeley 1970. -+
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eher universal. Wie dagegen Hephaistos Athena verfolgt, wobei aus seinem Samen der athen ische Urkönig Erechtheus entsteht, hat eine erstaunliche Parallele in den indischen BrahmanasY Fassbar ist offenbar nur ein Amalgam der Wanderungs zeit, das weder linguistisch noch mythologisch leicht zu analysieren ist; und hier wie anderwärts zeigen Bezüge zu Altorientalischem, Anatolischem, Semitischem, dass die Zweipoligkeit von "Indogermanisch" und "Mediterran" die historische Vielfalt ungebührlich beschneidet. So gewiss die griechische Religion von ihrer Vorgeschichte geprägt ist, so gewiss ist diese ein überaus verwickeltes Beziehungsgeflecht. Es gibt nicht einen, nicht den "Ursprung der griechischen Religion".
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Murray Fowler, The Myth of ERICHTHONIOS, CP 38, 1948, 28-32; Burkert in: Musti 1991, 533.
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3 Die Minoisch-Mykenische Religion
3.1 Historischer Überblick Die bronzezeitlichen Hochkulturen in dem Bereich, der später "griechisch" hieß,! sind in drei Etappen erschlossen worden: Seit 1871 hatte Heinrich Schliemann durch seine Grabungen in Mykene erstmalig den Glanz der griechischen Bronzezeit, die er für homerisch hielt, ans Licht gebracht;2 von 1900 an arbeitete Arthur Evans auf Kreta am großen Palast von Knossos und fand damit in der "Minoischen" den Ausgangspunkt auch der "Mykenischen" Kultur;3 nachdem eine Fülle weiterer Ausgrabungen das Bild dieser Kulturen immer reicher und differenzierter hatte werden lassen, veröffentlichte 1953 Michael Ventris seine Entzifferung der "Linear-B"-Schrifttafeln aus Knossos, Mykene und Pylos.4 Damit begann wenigstens die Schlussphase der bronzezeitlichen Welt in einer eigenen Sprache zu sprechen; sie ist griechisch. Noch warten die kretische Hieroglyphen- und Linear-A-Schrift sowie die kyprominoischen Schriften auf ihre Entzifferung. Ein Großteil jener Epoche verharrt so im Bereich der stummen Prähistorie. Trotzdem lässt sich aus den archäologischen Befunden ein sehr detailliertes Bild der Wirtschafts- und Kulturgeschichte entwerfen, während die faszinierende Bilderwelt Götter und Götterverehrung vor Augen stellt. Wirtschaftliche Basis des Aufstiegs im 3. Jahrtausend war die Intensivierung der Ölbaum- und Weinkulturen, womit der Schwerpunkt von den Fruchtebenen Nord-
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Gesamtdarstellungen: Friedrich Matz, Die Ägäis, Handbuch der Archäologie II, München 1950, 230-308; -, Kreta, Mykene, Troja, Stuttgart 1956; -, Kreta und frühes Griechenland, Baden.Baden 1962; Georg Karo, Greifen am Thron, Baden-Baden 1959; Vermeule 1964; Fritz Schachermeyr, Die minoische Kultur des alten Kreta, Stuttgart 1964; William Taylour, The Mycenaeans, New York 1964; Nicolas Platon, Kreta, München 1966 (Archaeologia Mundi); Georgios Mylonas, Mycenae and the Mycenaean Age, Princeton 1966; CAH II 1970; Hood 1971; Buchholz/Karageorghis 1971; Renfrew 1972; Marinatos/Hirmer 1973; John Chadwick, The Mycenaean World, Cambridge 1976; Hans-Günter Buchholz (Hrsg.), Ägäische Bronzezeit, Darmstadt 1987; Michel Mastorakis/Micheline van Effenterre, Les Minoens. I.:äge d'or de la Crete, Paris 1991; Oliver Dickinson, The Aegean Bronze Age, Cambridge 1994; Bryan Feuer, Mycenaean Civilization. A Research Guide, New York 1996. Zur Religion grundlegend Evans 1901; MMR 1927, 21950; Georg Karo, Religion des ägäischen Kreises: Bilderatlas zur Religionsgeschichte 7, Leipzig 1925; Persson 1942; Charles Picard, Les religions prehelleniques. Crete etMycenes, Paris 1948; Matz 1958; Willetts 1962,54-119; Robin Hägg, Mykenische Kultstätten im archäologischen Material, Opusc. Athen. 8, 1968, 39-60; Rutkowski 1972; 1981; 1986; Dietrich 1974; Vermeule 1974; Pierre Leveque, Le syncretisme crHo-mycenien, in: -, Les syncrHismes dans les religions de lantiquite, Leiden 1975, 19-73; Georgios E. Mylonas, Mykenaike Threskeia, Athen 1977; Hägg/Marinatos 1981; Chadwick 1985; Pötscher 1990; Marinatos 1993; Inger M. Ruud, Minoan Religion. A Bibliography, Jonsered 1996; Thomas G. Palaima, Mycenaean Religion, in: The Cambridge Companion to the Aegean Bronze Age, Cambridge 2008, 342-361; Marinatos 2010. Heinrich Schliemann, Mykenae, Leipzig 1878; -, Tiryns, Leipzig 1886. Zusammenfassend PM (1921-1936). JHS 73, 1953,84-103; dazugekommen sind Tafeln aus Theben und Chania. -+ 13.6.
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griechenlands sich zu den Berghängen Südgriechenlands und. der Inseln verlagerte;5 dazu kam aus dem Osten die Metallbearbeitung. Beide Neuerungen erforderten und bestärkten die zentrale Organisation von Austausch und Vorratshaltung. Die Hochkultur, die sich im Kontakt mit Ägypten und Vorderasien um 2000 (MM VII) aufbaut, ist dementsprechend gekennzeichnet vom großen Königspalast, dem Zentrum wirtschaftlicher und politischer Verwaltung. Am bedeutendsten ist Knossos, doch auch Phaistbs 6 mit Ayia Triada, Mallia7 und Kato ZakroB auf Kreta sind imponierende Anlagen. Eine Hieroglyphenschrift tritt auf. Um die Paläste gruppieren sich Städte, fast schon Großstädte - man rechnet mit mehr als 80 000 Einwohnern von KnosSOS.9 Zur "Palastzeit" gehört, was die kretische Kultur berühmt, ja populär gemacht hat: die Wandfresken in virtuosen Formen und in leuchtenden Farben; die bemalten Gefäße, deren rhythmisch fließende Ornamente den Wellenschlag des Meeres zu spiegeln scheinen; die architektonische Raffinesse der Großanlagen; der Reichtum an Schmuck; insgesamt eine unverwechselbar gekonnte Formgebung, hinter der man ein beweglich-waches, geradezu modernes Weltgefühl zu spüren meint. Ins Auge fallen die elegant gekleideten Damen in ausschwingenden, busenfreien Glockenröcken; die Akrobaten, die sich über die Hörner des Stiers schwingen. Kriegerische Gefahr scheint fern, es gibt keine Kampfszenen, weder Städte noch Paläste sind befestigt. Ein Erdbeben hat um 1730 die ersten Paläste zerstört, doch der Wiederaufbau folgte rasch; die Zeit der "neuen Paläste" (MM III/SM 1) ist die eigentliche Glanzzeit der Minoischen Kultur. Eine Silbenschrift, Linear A, ist jetzt allgemein in Gebrauch. Kretische Zivilisation durchdringt die Ägäis und beginnt das griechische Festland zu prägen. Die prächtige Stadt auf Thera10 wurde durch einen spektakulären Vulkanausbruch unter der Asche begraben und dadurch konserviertY Dies war nicht das Ende, doch ein Wendepunkt der Minoischen Geschichte. Die Paläste von Mallia und Kato Zakro versanken für immer im Schutt. Auf dem Festland künden bereits im 16. Jahrhundert die Schachtgräber von Mykene12 mit ihrem fabulösen Goldreichtum von einem erstaunlichen, scheinbar 5 6 7 8 9 10 11
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Herausgestellt von Renfrew 1972. Zur frühminoischen Entwicklung bes. Branigan 1970 und Warren 1972. Luigi Pernier/Luisa Banti, Il Palazzo Minoico di Festos I-Il, Rom 1935-1951. Fernand Chapouthier/Pierre Demargne, Fouilles executees aMallia, Paris 1928-1970. Seit 1962; Nicolas Platon, Zakros, New York 1971. PM Il564. Marinatos/Hirmer 1973,53-62; Spyridon Marinatos, Excavations at Thera I-VI, Athen 1968-74; Marinatos 1984; 1986. Über das Datum des Vulkanausbruchs - um 1500 oder um 1630 - gibt es eine vorläufig nicht abschließbare Debatte: Einige naturwissenschaftliche Indizien weisen auf das frühe Datum, das aber mit der akzeptierten Chronologie der Bronzezeit und insbesondere den Beziehungen zu Ägypten nicht vereinbar scheint. Siehe Manfred Bietak, Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Akademie Wien 134, 1997/9,4-14; dagegen etwa Archaeologiccal Reports 2006/7, 89. Georg Karo, Die Schachtgräber von Mykenai, München 1930; Alan J. B. Wace, Mycenae. An Archaeological History and Guide, Princeton 1949; vgl. Vermeule 1964, 106-110. Der zweite Schachtgräber-Kreis: Georgios E. Mylonas, Ho taphikös kjklos B ton Mykenon, Athen 1972.
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unvermittelten Aufstieg von Fürstenmacht. Das kriegerische Element tritt hier weit stärker hervor als auf Kreta; Burgen mit "kyklopischen" Mauern statt der Paläste, Streitwagen als Inbegriff königlicher Macht nach hurritisch-hethitischem Vorbild; auch das rechteckige Megaron-Haus mit dem großen, zentralen Herd und der PfeilerVorhalle ist auf Kreta unbekannt. Es sind Griechen, die hier herrschen, freilich keineswegs kraft rein indogermanischen Erbes, sondern verfugt mit nahöstlicher und kretischer Tradition. Dem Niedergang Kretas nach 1500 entspricht die Expansion der mykenischen Griechen. Während in Griechenland die Argolis mit Mykene und Tiryns13 sowie Messenien mit Pylos, I4 Attika mit Athen, Böotien mit Theben und Orchomenos, Thessalien mit lolkos hervortreten, entstehen mykenische Siedlungen auch auf den Ägäisinseln, in Kleinasien, schließlich in Zypern und vielleicht in Sizilien. Zwischen 1500 und 1375 haben offenbar Griechen im letzten Palast von Knossos die Verwaltung auf ihre Sprache umgestellt: I5 Man schreibt nun Linear B für Aufzeichnungen in griechischer Sprache, wie auch in den Palästen von Kydonia-Chania, Pylos, Mykene und Theben. Die meisten Ausdrucksformen der mykenischen Zivilisation und Kunst sind so eng mit der kretischen Tradition verbunden, dass "Minoisch-Mykenisch" als einheitliche Bezeichnung der Epoche üblich ist. Die Kuppelgräber folgen ebenfalls kretischen Vorbildern, auch wenn sie dort nie zu solcher Monumentalität gesteigert wurden wie schließlich im "Schatzhaus des Atreus" bei Mykene. Inwieweit man in der Religion zwischen Minoischem und Mykenischem differenzieren muss, ist weniger klar.l 6 In der Ikonographie der Goldringe scheint die Gemeinsamkeit überwältigend - sie gingen von Hand zu Hand, und gewiss waren kretische Künstler für mykenische Griechen tätig; in den Kultanlagen gibt es Unterschiede, wobei aber Neufunde immer wieder korrigieren können; so fehlen bislang Höhen- und Höhlenheiligtümer auf dem Festland. Zu erwarten wäre, dass die mykenische Religion zur kretischen in ähnlichem Verhältnis steht wie das Etruskische zur Italisch-archaischen, das Römische zur hellenistischen griechischen Kultur. Im einzelnen bleibt vieles offen. Zudem zeigt sich auch das Minoische in der Spätzeit starkem Wandel unterworfen.
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Tiryns I-XVI, Athen/Mainz/Wiesbaden 1912-2008. Blegen 1966-1973. Um die Datierung des letzten Palastes von Knossos und der Knossischen Linear-B-Tafeln hat Leonard R. Palmer eine hitzige Diskussion ausgelöst: Leonard R. Palmer/John Boardman, On the Knossos Tablets, Oxford 1963; vgl. Mervyn R. Popham, The Last Days of the Palace at Knossos, Lund 1964; -, The Destruction of the Palace at Knossos, Göteborg 1970; Hood 1971; Jan Driessen, An Early Destruction in the Mycenaean Palace at Knossos. A New Interpretation of the Excavation Field-Notes of the South-East Area of the West Wing, Löwen 1990. »no difference" konstatierte Nilsson MMR 6, doch korrigierte er sich 30 f., vgl. GGR 336; die Unterschiede betont stark Vermeule 1964, 282 f.; 1974, 2 f; dagegen wieder Bernard C. Dietrich AJA 79, 1975, 293 f.; siehe Robin Hägg, Mycenaean Religion: The Helladic and the Minoan components, in: Morpurgo-Davies/Duhoux 1985, 205-225.
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3 Die Minoisch-Mykenische Religion
Kriegerische Einfälle haben den Palast von Phaistos um 1400, den von Knossos endgültig um 1375 vernichtet. Eine reduzierte minoische Kultur besteht auf Kreta bis über die Jahrtausendwende fort, wobei religiöse Monumente sogar mehr als zuvor in den Vordergrund treten, besonders große Götterbilder. Auf dem Festland gab es einzelne Wirren, Theben wurde um 1250 zerstört,17 doch Mykene und Pylos hatten ihre Blütezeit im 13. Jahrhundert, bis dann um 1200 eine umfassende Katastrophe die ganze östliche Mittelmeerwelt samt Anatolien im Chaos versinken ließ. Wie Troia VII, Hattusa und Ugarit wurden damals auch Pylos, Tiryns und Mykene vernichtet. Man schreibt die Zerstörungen, gestützt auf ägyptische Aufzeichnungen, im allgemeinen den "Seevölkern" ZU.18 Jedenfalls brach damals das gesamte wirtschaftliche und soziale System mit Königtum, zentralisierter Verwaltung, weitgespanntem Handel, Handwerk, Kunst und Schriftlichkeit zusammen; auf den Glanz der Paläste folgen die "Dunklen Jahrhunderte"; Reste des Alten führen im 12. Jahrhundert ein "submykenisches" Schattendasein, während dann in Ansätzen das eigentümlich Griechische seine Form gewinnt.
3.2 Zur Quellenlage Noch immer muss die Erforschung der minoischen Religion fast ausschließlich vom archäologischen Fundmaterial ausgehen. Auf eine Entzifferung von "Linear 1'1' wartet man um so ungeduldiger, als die Linear-A-Schrift eindeutig in religiösen Kontexten verwendet worden ist, zur Beschriftung von Weihgaben;19 insbesondere kehrt eine längere Formel mehrfach auf "Libationstafeln" wieder. 20 Dagegen ist "Linear B",
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Sarantis Symeonoglou, Kadmeia I. Mycenaean Finds from Thebes, Göteborg 1973, vgl. Anthony M. Snodgrass, Gnomon 47, 1975,313-316; Aravantinos u.a. 2001/ 2002. Verwiesen sei aufCAH II 2, 359-78; Desborough 1964; - 1972; Snodgrass 1971. -+ I 4 Anm. 1; in Mykene weisen neue Befunde, nach Spyros E. Iakovidis, auf eine Erdbebenzerstörung um 1230 und allmählichen Zusammenbruch nach 1200 hin. Louis Godart/Jean-Pierre Olivier, Recueil des inscriptions en Lineaire A I-III, Paris 1976; IV, Paris 1984; V, Paris 1985; Jean-Pierre Olivier, Rapport sur les textes en hieroglyphique cretois, en lineaire A et en lineaire B, in: Mykenaika. Actes du IX' Colloque international sur les textes myceniens et egeens, Athen 1992, 443-456. Ein luwischer Lesungsversuch von Arne Furumark (Opuscula Athen. 6, 1965, 97) und Leonard R. Palmer (Transactions of the Philol. Soc. Oxford 1958, 75-100; Mycenaeans and Minoans, Westport 1961, 232-250; vgl. Wilfred G. Lambert/Gillian R. Hart, BICS 16, 1969, 166 f) führte auf eine Görtin Asasara "Herrin"; dagegen Ernst Grumach, Kadmos 7,1968, 7-26;vgl. aber Paul Faure, BABG 4, 1972,261-278; Piero Meriggi Kadmos 13, 1974,86-92. Die .Iuwische" These wird öfters wieder aufgegriffen, ohne durchschlagenden Erfolg; ein ganz anderer Versuch: Hubert LaMarle, Lint'aire A. La premiere ecriture syllabique de Crete, Paris 1996/1999. Völlig hoffnungslos sind die nicht abreißenden "Entzifferungen" des Diskos von Phaistos, PM I 650; Buchholz/Karageorghis Nr. 1409; vgl. Jean-Pierre Olivier, Le disque de Phaistos, edition photographique, Paris 1975, eine Fälschung?
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an dessen griechischer Lesung nicht zu zweifeln ist,21 soweit erhalten nur für Inventare und Abrechnungen sowie für Besitzvermerke auf Vasen verwendet worden. Obendrein lässt die dem Griechischen schlecht angepasste Orthographie oft mehrere Lesungen zu, der Kontext ist minimal knapp, Eigennamen überwiegen; so bleibt vieles unsicher, ja unverständlich. Trotzdem hat die Tatsache, dass eine ganze Reihe von griechischen Göttern mit ihrem Kult in diesen Dokumenten vorkommt, die Forschung auf eine neue Basis gestellt. Unter den materiellen Relikten stehen einige Typen von eindeutigen KultanlagenZZ obenan: die Höhlen, die Höhenheiligtümer, die Hausheiligtümer und einige "Tempel ". Sie sind zu identifizieren durch die Ansammlung von Weihgeschenken: Geräte, die zum praktischen Gebrauch nicht geeignet sind, wie goldene oder bleierne Äxte, Miniaturgefäße, dann auch die Figuren von Geräten, Tieren, Menschen aus Ton oder Metall sichern die sakrale Deutung. Es gibt auch ein paar Votivmodelle ganzer HeiligtümerP Ein - grundsätzlich vorstellbarer - Kult ohne Votivfiguren freilich würde sich nach diesen Kriterien dem Nachweis entziehen. Anschaulichste Zeugen vorgestellter Wirklichkeit sind die Bilddarstellungen. Hier ist es vor allem eine Gruppe großer Goldringe, auch einiger Silber- und Elektronringe, die offensichtlich kultische oder auch mythische Szenen abbilden; sie wurden als Amulette getragen und vornehmen Toten mit ins Grab gegeben. 24 Die phantasieanregendsten Exemplare freilich, der "Ring des Minos" und der "Ring des Nestor", sind als Fälschungen auszuscheiden. 25 Einzelne Motive dieser Darstellungen kommen auch in der unübersehbaren Fülle von Gemmen, Siegeln, Siegelabdrücken26 immer wieder vor. Eigentlicher Ausgangspunkt der ikonographischen Tradition sind die großen Wandgemälde,27 von denen freilich meist nur kärgliche Reste erhalten blieben; bedeutenden Zuwachs hat Thera gebracht. Einige Ritualgefäße zeigen in Reliefdarstellung kultische Bauten und Szenen. 28 Schließlich gibt es in der Spätzeit figürlich bemalte Tonsarkophage. 29 An Qualität und Gehalt ragt der Sarkophag von Ayia Triada30 weit heraus. 21 22 23 24 25 26 27 28
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~ 13.6. Übersichten bei Rutkowski 1972 und Vermeule 1974. --+ I 3.3. Modell von Kamilari: Doro Levi ASAtene 39/40, 1961/2, 123-38; EAA V 93; Rutkowski 1972, 199 Abb. 80; Buchholz/Karageorghis Nr. 1223; aus einem Kuppelgrab. --+ I 3 Anm. 222. Rutkowski 1972, 60 f.; Vermeule 1974, 13-18. "Ring des Minos", PM IV 947; MMR 42 Abb. 9; GGR T.19,3; Arch. Rep.2001/2, 12. "Ring des Nestor" PM III 145; MMR 43-50 (gegen Echtheit), Abb. 10. Friedrich Matz/Hagen Biesantz, Corpus der minoischen und mykenischen Siegel, I ff, Berlin 1964 ff(CMS). Exemplarisch nachgewiesen von Iannis A. Sakellarakis AE 1972, 245-258. Vor allem das Rhyton von Kato Zakro, --+ I 3 Anm. 77; wichtig auch die "Schnittervase" von Ayia Triada, MMR 160 f, Abb. 66; GGR 303, 1, T. 17, 3; Buchholz/Karageorghis Nr. 1165; Marinatos/ Hirmer T. 103-105. In Kreta: Marinatos 1993, 229-239. Die Exemplare aus Tanagra (Museum Theben) sind nicht vollständig veröffentlicht, vgl. Pötscher 1990, 192-194. MMR 426-443; GGR 326 f; Matz 1958, 398-407; Jean P. Nauert AK 8, 1965, 91-98; Iannis A.
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3 Die Minoisch-Mykenische Religion
Die menschlichen Gestalten auf den Bildern wie die plastischen Figuren aus Ton und Metall, die mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit aus Heiligtümern stammen, stellen das Interpretationsproblem, ob in ihnen Götter zu erkennen sind oder menschliche Verehrer oder gar, als komplizierteste Möglichkeit, Priester, die Götter darstellen. Eine Entscheidung lässt sich durch Körperhaltung und Attribute stützen: Die überwiegende Mehrzahl der Figuren stellt menschliche Verehrer dar, die Arme verschränkt oder die Rechte grüßend erhoben, oft auch an die Stirn gelegt;3! gelegentlich tragen sie eine Gabe in der Hand. Dagegen kennzeichnet der Gestus der beiden erhobenen, flachen Hände den, der im Zentrum steht, auf den die Blicke sich richten: der "Epiphaniegestus" der Göttin. 32 Danach sind auch die beiden FayenceFigürchen aus einem Magazin in Knossos, die "Schlangengöttinnen",33 doch wohl als Göttinnen anzusprechen, zumal eben die Schlangen der einen, der Panther auf der Kopfbedeckung der anderen auf übermenschlichen Status weisen. Auch die Gestalten, die auf Siegelbildern mit Löwen und Greifen umgehen, müssen Gottheiten sein. In den Kultszenen erscheint oft eine thronende Göttin als Ziel der Verehrung. Als reales Kultbild kommt der Kuros von Palaikastro in Frage. 34 In der Spätzeit gibt es verhältnismäßig große, starre, "glockenförmige" Idole mit Epiphaniegestus;35 sie treten meist in der Mehrzahl auf, im Gegensatz zum Kultbild des griechischen Tempels. Ob minoisch-mykenische Bilddarstellungen je Bezug nehmen auf Mythen, auf traditionelle Götter- oder Heroenerzählungen, ist ein besonders heikles Problem. 36 Man hat dergleichen von Anfang an erwartet, zumal der spätere griechische Mythos von Kreta und auch von Mykene und Pylos, von Theben und Orchomenos viel zu erzählen weiß; so verwendet man denn auch Namen des griechischen Mythos zur Terminologie - minyische Keramik, minoische Kultur. Längst vor Evans war die Religionswissenschaft fasziniert von einigen vermutlich uralten Komplexen, die nach Kreta führen: der Gott als Stier - Zeus und Europa;37 Pasiphae, die sich dem Stier hingibt
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Sakellarakis Prähist. Zeitschr. 45, 1970, 135-219; Charlotte R. Long, The Ayia Triadha Sarcophagus. A study oflate Minoan-Mycenaean practices and beliefs, Gäteborg 1974; Pätscher 1990, 171191; Marinatos 1993,31-36. Zum "Adorationsgestus" Elfriede Brandt, Gruß und Gebet. Eine Studie zu Gebärden in der minoisch-mykenischen und frühgriechischen Kunst, Waldsassen 1965. Stylianos Alexiou, He minoike theil meth' hypsomenon cheiron, Kret. Chron. 12, 1958, 179-299; bereits c,::atal Hüyük: Anat. Stud. 13, 1963,61 T. IX a; Schachermeyr 1967, Abb. 2,3,5. -l> I 1 Anm. 20. Eine Sonder form sind die "Y-färmigen Idole" der Spätstufe. PM I 500-505; MMR 84 f, vgl. 312,18; GGR T. 15; Buchholz/Karageorghis Nr. 1233; Marinatos/ Hirmer 1973, T. 70; XXV. Die Deutung als Gättinnen wurde bestritten von Matz 1958, 33-35; vgl. Franz Kiechle, Historia 19, 1970, 259-271. -l> I 3 Anm. 103. Vermeule 1974, 16-18. -l> 13 Anm. 140; 209; Kuros: -l> I 3 Anm. 235. -l> I 3 Anm. 215; 216. Vassos Karageorghis, Myth and Epic in Mycenaean Vase-Painting, AJA 62, 1958, 383-387; Anna Sacconi, Il Mito nel Mondo Miceneo, PP 15, 1960, 161-87; Dietrich 1974,310-314. PR Il 352-354; Winfried Bühler, Europa. Ein Überblick über die Zeugnisse des Mythos in der antiken Literatur und Kunst, München 1968; ältester Text Hes. Fr. 140/1; ältestes Bild LIMC s.v. Europe I nr. 96 und nr.97 ~ Schefold 1964, T. 11 b (um 650).
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und den Minotaurus gebiert;38 Geburt und Tod eines Gottes - das leuskind in der Ida-Höhle und das berüchtigte "Grab des leus" bei Knossos;39 agrarische Mysterien mit Heiliger Hochzeit - Demeters Beilager mit lasion auf dem dreifach gepflügten Saatfeld.40 Nun nennt sogar ein Knossos-Täfelchen ein Daidaleion, ein anderes eine "Herrin des Labyrinths";41 was die Namen bedeuten, steht dahin. Doch der Befund der Bildkunst der kretischen Palastzeit hat jenen Erwartungen so gut wie keine Bestätigung gebracht. Nichts weist auf einen Stiergott;42 sexuelle Symbole fehlen. Für den Kindheitsmythos des leus ist ein einziger Siegelabdruck aus Knossos,43 der einen Knaben unter einem Schaf zeigt, ein spärlicher Beleg; was seit dem ausgehenden Mittelalter als "Grab des leus" galt, entpuppt sich als eines der minoischen Höhenheiligtümer. 44 Häufig sind auf Siegeln zusammengesetzte Phantasiefiguren; einmal erscheint ein tiermenschliches Wesen thronend, das man "Minotaurus" nannte, doch fehlen ihm die Hörner mehr noch als das Labyrinth. 45 Es bleibt "Europa auf dem Stier"; doch gen au besehen ist dies eine Gruppe von Siegelbildern, die eine Göttin im Epiphaniegestus auf einem verschieden dargestellten, meist pferdeartigen Fabeltier zeigt, jedenfalls nicht auf einem schwimmenden Stier. 46 Die aus nahöstlicher Tradition übernommenen "Greife" - geflügelter Löwenleib mit Falkenkopf - erscheinen in spielerischen Szenen, zu denen man wohl Geschichten erzählte;47 auf kyprischen Vasen steht ein Streitwagen einem Riesenvogel gegenüber. Aber hier zeigen sich wiederum die griechischen Entsprechungen recht verwandelt;48 lanzenwerfende Frauen auf einer anderen Vase lassen sich als "Amazonen" ansprechen. 49 Vieles bleibt rätselhaft, wie das "leus mit der Schicksalswaage" genannte Bild. 50 Es ist bedenklich, die 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47
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PR II 361-364; maßgebend Euripides, Kreter, Fr. 472. III 1 Anm. 18; 13 Anm. 74. ---<> II 7 Anm. 96. KN Fp (1) 1,3; X 723; KN Gg 702; Doc. Nr. 205; Heubeck 1966, 97 f. Zeichnung eines Labyrinths: PY Cn 1287; Johann L. Heller, AJA 65, 1961,57-62; Gerard-Rousseau 1968, pI. 9,1. ---<> 1 3 Anm. 197. PM 1 273; 515 Abb. 373; III 476; MMR 540; GGR T. 26, 6. --+ 1 3 Anm. 74. Harrison 1922, 482; RML V 755; PM II 763; GGR T. 22,4. Glaspaste Midea, MMR 36; GGR T. 26, 7; Doro Levi, La Dea Micenea a Cavallo, Studies David M. Robinson, 1951,1108-125; Dietrich 1974,312. Henri Frankfort, BSA 37, 1936/7, 106-122; MMR 387; Anna M. Bisi, II grifone, Rom 1965. Erzählenden Charakter hat das Schiffsfresko von Thera; da jagen Greife am "Nil", Marinatos/Hirmer T. XL. ---<> 1 3 Anm. 227-234. Vasos Karageorghis, AJA 62, 1958, 384-385 und RA 1972/1, 47-52, unter Vergleich mit dem Thema Kraniche-Pygmäen (I1. 3, 3-7) und Greife-Arimaspen. Kampf gegen ein Seeungeheuer: PM 1 698; GGR T. 26, 1. Vase von lalysos, Joseph Wiesner, Olympos, Darmstadt 1960, 245 f; Dietrich 1974, 312 f, gedeutet als die Danaiden von Lindos. Krater von Enkomi, Nilsson, Op. 1 443-456; MMR 35; GGR 366 f, T. 25,1; Vasos Karageorghis, AJA 62, 1958, 385 m. T. 98, 2; ganz anders Joseph Wiesner, Die Hochzeit des Polypus, Jdl 74, 1959, 49-51; Marinatos 1993, 239 f; wieder anders (Handel am Strand) W. Gürtner in: Kotinos. Festschrift Erika Simon, 1992, 6-9. Eine Waage spielt im hethitischen Totenritual eine seltsame Rolle, ---<>
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3 Die Minoisch-Mykenische Religion
griechische Tradition unvermittelt in die Bronzezeit zu projizieren. Wichtiger fast scheint der andersartige Zugang zur minoischen Welt von den gleichzeitigen bronzezeitlichen Kulturen des Ostens her. Schon Evans hatte Ägyptisches und Vorderasiatisches regelmäßig zum Vergleich herangezogen. Seither sind mit der Erschließung des Hethitischen und Ugaritischen neben den Monumenten auch Texte zutage gekommen, die für Ritual und Mythologie Vergleichsmaterial bereitstellen. Man spricht von einer bronzezeitlichen Koine, die mindestens in der Amarna-Zeit (14. Jahrhundert) den östlichen Mittelmeerraum zu einer gewissen wirtschaftlichen und kulturellen Einheit zusammenschloss. Gerade in der genaueren Interpretation der Ikonographie sind diese Beziehungen zu beachtenY Auch die so bezeichnenden Kultsymbole der Hörner und der Doppelaxt lassen sich an altanatolische Tradition anknüpfen. 52 Freilich kann Übernahme auch immer mit Neudeutung Hand in Hand gehen. 53 Die wachsende Vielfalt der Anknüpfungspunkte hat die Interpretation nicht einfacher gemacht.
3.3 Die Kultanlagen
Höhlen Nach einem geläufigen Entwicklungsschema wäre die Höhle die Urwohnung des Menschen, die dann als Begräbnisstätte beibehalten und schließlich als Haus der Götter aufgefasst wurde. 54 In den vielen Höhlen Kretas jedoch ist die Abfolge Wohnung-Grab-Heiligtum nirgends nachgewiesen; Feuchtigkeit und Kälte machen die meisten für menschliches Wohnen ungeeignet, und viele liegen zu weit ab von den Siedlungen, um als Grabstätte zu dienen. 55 Doch die Höhlen-Heiligtümer sind eine Besonderheit des minoischen Kreta; mindestens 15 sind sicher nachgewiesen, ebenso viele sind mit Wahrscheinlichkeit noch dazu zu zählen. 56 Offenbar hat man gerade im schwer Zugänglichen, UnheimlichDunklen die Begegnung mit dem Heiligen gesucht. Man darf von Ferne an die ausgemalten Höhlen des Jungpaläolithikum
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Oliver R. Gurney, Some Aspects of Hittite Religion, Oxford 1977, 60. Vgl. z.B. die Interpretation des Mochlos-Rings (PM II 250; MMR 269 Abb. 136; GGR T. 12,6) durch Christiane Sourvinou-Inwood, Kadmos 12, 1973, 149-158; Eric H. Cline (Hrsg.), The Aegean and the Orient in the Second Millennium, Liege 1998. -,> I 3 Anm. 172/3; 176. -,> I 3 Anm. 148 zur ägyptischen Nilpferdgöttin und den minoischen "Dämonen". MMR53. Betont von Rutkowski 1972,42; 134; 147. MMR 53-68; Spiridon Marinatos, The Cult of the Cretan Caves, Review of Religions 5, 1940/1, 129-136; Faure 1964 und BCH 96, 1972,389-426; Rutkowski 1972, 121-151; Jones 1999. Zu Höhlen in Griechenland -,> I 1 Anm. 18; Willetts 1962, 141-147.
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I VORGESCHICHTE UND MINOISCH-MYKENISCHE EpOCHE
erinnern, in denen die Jäger sich eine jenseitige Bilderwelt geschaffen haben. In der Höhle von Skotin6 unweit Knossos scheinen Felsgebilde der Wände im Fackellicht wie Ungeheuer hervorzutreten, und Schutthaufen sind zu rohen Tierfiguren aufgeschichtet worden. 57 Man kann an Initiationsrituale denken und an den Mythos vom Labyrinth und den vom verschlingenden Ungeheuer bedrohten Knaben. 58 Archäologisch beweisbar ist dergleichen nicht. Fassbar und datierbar sind die Gaben, die man in den Höhlen den Mächten des Dunkels überließ; sie gehören im wesentlichen der Palastzeit59 an. So hat die Kamares-Höhle,60 weithin sichtbar an der Südflanke des Ida über Phaistos gelegen, einer Gattung mittelminoischer Keramik den Namen gegeben, die dort markant hervortritt. Ausschließlich Tongefäße waren in dieser Höhle deponiert; Getreidereste wurden noch nachgewiesen, auch Tierknochen fanden sich: Was zur Nahrung dient, hatte man zur Sommerzeit hier heraufgetragen, gleichsam zurückgegeben, vielleicht im Rahmen eines Erntefestes, vielleicht auch in größeren Abständen; die Höhle ist bis in den Frühsommer hinein von Schnee blockiert. Imponierender sind die Weihgaben in Höhlen wie denen von Arkalochori und Psychro: Doppeläxte, zuweilen aus Gold, Hunderte von überlangen, dünnen Schwertern, Dolche und Messer, dazu auch Bronzefiguren von Tieren und Menschen, Tonfiguren aller Art. In der Höhle von Psychro - die zu Unrecht "Diktäische Höhle" getauft worden ist 61 - hatte man die Äxte und Schwerter zwischen die prachtvollen Stalaktiten der unteren Kammer eingehängt, auch in Felsenspalten gezwängt, kleinere Gaben in einer Wasseransammlung versenkt. In der oberen Felskammer fanden sich mächtige Ablagerungen mit Schichten von Asche und Tierknochen, zahlreiche Reste von Libationstafeln besonders in der Nähe einer altarartigen Erhebung: Hier wurden Opferfeste gefeiert, Rinder, Schafe, Schweine und Wildziegen geschlachtet und gebraten. Von weither kamen die Verehrer: Keramik aus Phaistos ist in Psychro nachgewiesen. 62 Werkzeuge des Tötens werden hier unter blutigen Opfern geweiht, Waffen und Äxte, Symbole der Macht. Gilt auch hier das Prinzip von Gabe und Gegengabe, so heißt dies: Macht um Macht. Nach späterer griechischer Überlieferung hat König Minos alle acht Jahre seinen Vater Zeus in der Höhle des Ida aufgesucht, um mit
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Faure 1964, 166-170; -, A la recherche du vrai labyrinthe de Crete, Kret. Chron. 17, 1963,315-326; Rutkowski 1972, 121-125; 131; 320. Die Zeichnung einer "Herrin der Tiere", die Faure BCH 93, 1969, 195-199 unter einem Felsüberhang bei Vernopheto zu finden glaubte, ist moderne Kritzelei: Bogdan Rutkowski, Krzysztof Nowicki, Archäologisches Korrespondenzblatt 16, 1986, 45 f. Zur Seltenheit älterer Funde Rutkowski 1972, 147-149. MMR 65-67; Faure 1964, 178-183; Rutkowski 1972, 131 f; 143; 318. MMR 61-64; Boardman 1961; Faure 1964, 151-159; Rutkowski 1972, 131 f; 138 f; 319; id., The Psychro Cave and other Sacred Grottoes in Crete, 1996; den Namen "Diktäische Höhle" hat der Ausgräber David G. Hogarth aufgebracht. Vgl. MMR 458 f; Faure 1964, 96 f; West 1966, 297. Rutkowski 1972, 144.
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ihm "zu sprechen", seine Königsmacht zu erneuern;63 vom Palast von Mallia aus war die Höhle von Psychro unschwer zu erreichen. In der Höhle von Arkalochori indes weisen Halbfertig-Fabrikate unter den Bronzegaben auf unmittelbare Beziehung zu Schmieden,64 was wieder an die mythischen Schmiede, die "Daktylen" des Ida, erinnern mag. Sehr auffallend ist eine bronzene Votivplatte aus der Psychro-Höhle, die unter Sonne und Mond und neben dreifachem Hörnersymbol einen tanzenden Mann ·sowie Baum, Vogel und Fisch darstellt;65 man hat an eine Kosmogonie, gar an "Aphrodite Urania" gedacht, was vorläufig ein Spiel bleibt; noch sind die Linear-AInschriften mancher Weihgeschenke für uns stumm. Die Odyssee nennt die "Höhle der Eileithyia" bei Amnisos, unweit von Knossos. In dieser Höhle 66 fanden sich keine Metallgegenstände, nur Keramik von der neolithischen bis zur römischen Epoche. Einigermaßen reiche Gaben setzen erst in der letzten minoischen Periode (SM III) ein. Seltsame Felsgebilde fallen auf; eine Erhebung wie ein Bauch mit Nabel unweit des Eingangs, eine sitzende Figur ganz am Ende, vor allem ein Stalagmit inmitten der Höhle, der an eine weibliche Gestalt erinnert; die Spitze, der "Kopf" ist einmal gewaltsam abgeschlagen worden. Eine kleine Mauer umgibt die Figur, ein altarartiger Steinblock war davorgerückt; unendlich oft scheinen Menschenhände den Tropfstein berührt, gerieben, poliert zu haben. Zuhinterst in der Höhle sind Ansammlungen mineralhaltigen Wassers, von dem man offenbar schöpfte. So haben hier Menschen im Kontakt mit dem Geheimnisvollen Hilfe gesucht. Eileithyia ist die griechische Geburtsgöttin. Eine Tafel aus Knossos verzeichnet: "Amnisos, für Eleuthia, eine Amphore Honig".67 Eleuthia ist eine individuell benannte Göttin spezifischer Funktion. Der so bereits für die Bronzezeit bezeugte Name lässt sich aber gerade in dieser Form rein griechisch verstehen; dem entspricht das Aufblühen des Kults in dieser Höhle erst in der Spätphase; das Ältere bleibt im Dunkel. Die Höhle von Patsos 68 war später dem Hermes Kranaios geweiht, die von Lera einer "Nymphe";69 im Ida wurde Zeus gefeiert, ein Kult, der freilich erst im 8. Jahrhundert deutlich beginnt. 7o Dass schon in minoischer Zeit nicht etwa eine allgemeine Höhlengottheit anzunehmen ist, sondern verschiedene Götter mit je besonderen Funktionen, darauf deuten die markanten Unterschiede im Befund etwa von Kamares und von Psychro, von Amnisos und von Skotino.71 Und trotz Unterbre63 64 65 66 67 68 69 70 71
Plat. Leg. 624 a, Minos 319b, nach Od. 19, 179; PR 351. -+ I 3 Anm. 182. Spiridon Marinatos, Kadmos 1, 1962,87-94; Rutkowski 1972, 139 f. PM I 632; MMR 171; Cook 1925, II 927; GGR T. 7, 3; vgl. Boardman 1961, 46; Faure 1964, 156 f. Hom. Od. 19, 188; MMR 58; Faure 1964, 82-90; Rutkowski 1972, 129-131; 138; 317; SMEA 3, 1967,31 f. -+ I3 Anm. 241. MMR 67; Boardman 1961, 76-78; Faure 1964, 136-139; Rutkowski 1972, 319; IC II ix 1. Faure 1964, 140-144; BCH 86, 1962,47; BuH. Epigr. 1964 nr. 415. Betont von Nilsson MMR 64 f; Faure 1964, 120-126; vgl. Rutkowski 1972, 135,318. -+ III 1 Anm. 16. Vgl. Marinatos (s.o. Anm. 56); MMR 395; Faure 1964 pass.; Rutkowski 1972, 145-147; 150 f. Ver-
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I VORGESCHICHTE UND MINOISCH-MYKENISCHE EpOCHE
chungen und Neuansätzen spricht das Beispiel Eleuthia-Eileithyia für eine zumindest partielle Kontinuität vom Minoischen zum Griechischen.
Hähen-Heiligtümer Nicht weniger charakteristisch als die Kulthöhlen sind die Höhen-Heiligtümer.n Sie liegen auf kahlen, doch nicht besonders hohen Bergkuppen, den Wohnungen der Menschen entrückt und doch zumeist in etwa einer Stunde Wegs zu erreichen. Ihr Kennzeichen sind Ansammlungen von Votivterrakotten vielerlei Art, oft sehr schlicht, klein und billig. Tierfiguren, vor allem Rinder und Schafe, überwiegen; rührend ein Brotlaib auf einem Teller, wenige Zentimeter groß; daneben Statuetten von Männern und Frauen, stehend, im Gestus anbetender Verehrung. Doppeläxte oder Schwerter fanden sich nicht, auch keine Libationstafeln; Metallfunde sind sehr selten. So bezeichnend wie rätselhaft sind Tonfiguren einer einheimischen Gattung des Mistkäfers (Copris hispanus);73 er ist durch seine Lebensweise auf das engste mit der Schafzucht verbunden und könnte insofern den auch durch andere Funde nahegelegten Eindruck eines Kults von Berghirten bestätigen. Assoziationen mit Skarabäen sind dadurch nicht ausgeschlossen. Mehr als 20 Höhen-Heiligtümer sind sicher identifiziert; das "Grab des Zeus" auf dem Yuktas bei Knossos gehört dazu/4 besonders reiche und wichtige Funde stammen von Petsophas bei Palaikastro.75 Die Tonfiguren setzen mit der ersten Palastzeit um 2000 ein;76 in der zweiten Palastzeit werden öfters steinerne Gebäude errichtet, deren Fundamente erhalten sind. Um 1500 scheint ein jäher Niedergang einzusetzen; die Funde aus den folgenden Jahrhunderten (SM U/III) sind spärlich.
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ehrer vor einer thronenden Göttin unter einer Stalaktiten-Decke: Siegelabdruck von Knossos, PM II 767, IV 395; MMR 348; GGR T. 18, 5; Rutkowski 1972, 209 Abb. 88, aber vgl. PM 1Il 225, 502; Marinatos/Hirmer 1973 T. 234 (links Mitte). Verehrer vor zwei Schilden in einer Höhle: Siegel von Zakro, ASAtene 8/9, 1925/6, 183; AJA 49, 1945, 300 f. Von Nilsson noch nicht als eigene Gruppe erfasst. Nicolas Platon, Ta hieran Mazd kai td minoikd hierd koryphes, Kret. Chron. 5, 1951,96-160; Paul Faure, BCH 91, 1967, 115-133; Bernard C. Dietrich, Historia 18, 1969,257-275; Bogdan Rutkowski, Historia 20, 1971, 1-19; Rutkowski 1972, 152-188; Faure, BCH 96, 1972, 390-402; Dietrich 1974, 290-307; Jones 1999; Kyriakidis 2006. Faure, BCH 1967, 141; Rutkowski 1972, 175-179. PM I 153-9; Cook I 157-163; MMR 71 f; Paul Faure, Minoica (Festschr. Sundwall), Berlin 1958, 133-148; Rutkowski 1972, 157-159; 161-163. BSA 9,1902/3,356-358; PM 1151-153; MMR 68-70; Rutkowski 1972, 159-162; 171; -, Petsophas, A Cretan Peak Sanctuary, Warschau 1991. Doch setzt Keith Branigan, Kadmos 8, 1969, 3, die Anfänge von Petsophas in FM lll; die Anlage von Chamezi, MM I, wurde von Platon (s.o. Anm. 19) 122, Faure BCH 1967, 121, als Höhen-Heiligtum in Anspruch genommen; dagegen Rutkowski 1972, 50 f.
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Ein Relief-Rhyton aus dem Palast von Kato Zakro77 stellt ein prachtvoll ausgestaltetes Höhen-Heiligtum dar - und bestätigt zugleich, dass der Höhenkult mit dem Palast verbunden war. Über felsigem Grund erhebt sich auf gemauertem Sockel die dreigeteilt-syrnmetrische Tempelfassade; im Zentrum eine große Tür; spiralengeschmückte Hörnerpaare überragen die Seitenflügel. Altäre verschiedener Form, zum Teil mit Hörnern gekrönt, sind im Vordergrund verteilt; vor der Fassade des Gebäudes, doch nicht mit ihr verbunden, stehen hohe, spitz zulaufende Pfähle, die am unteren Teil eine Art Standarte tragen. 78 Wild ziegen lagern auf dem Tempeldach, wohl zum Opfer bestimmt, wie auch auf einern Goldring aus Pylos79 eine Ziege einern Höhen-Heiligtum entgegengeht. Zum Höhenkult gehört auch ein in mehreren Brechungen fassbares Bild, auf dem eine Priesterin ein bereits geschlachtetes Schaf einern aus Holz gefügten Altar entgegenträgt. 8o Denn dies war der eindrucksvollste Zug der Feier auf der Höhe, der sich aus den Spuren erschließen lässt: Ein großes Feuer wurde entzündet, gewiss zur Nachtzeit, wie die Funde von Lampen bestätigen; und man ließ dabei jene tönernen Figuren in die glühende Asche fallen. Von Zeit zu Zeit wurde dann, wohl jeweils vor dem neuen Fest, der Platz gesäubert und die Asche samt den Resten der Figuren von der Kuppe in die nächsten Felsspalten gekehrt. Reste von Tierknochen fehlen nicht. 81 Verbindungen zu den später bezeugten griechischen Feuerfesten drängen sich auf. 82 Für die Daidala bei Plataiai errichtete man noch einen hölzernen Altar. 83 Unheimliche, grausame Einzelheiten sind überliefert: Für Artemis Laphria jagte man lebendes Wild in die Flammen;84 am Megaron von Lykosura warf man zerstückelte Tiere auf den "Herd".85 Unter den Funden der Höhen-Heiligtümer fallen die Tonfiguren abgetrennter menschlicher Gliedmaßen auf, Arme und Beine - gelegentlich mit einern Loch zum Aufhängen versehen; einige Figuren sind auch glatt halbiert. Können dies Votivgaben für eine Heilgottheit sein? Nilsson hat an Zerstückelungsriten erinnert. 86 Bei griechischen Feuerfesten wie dem vorn Oeta-Berg taucht das Motiv vorn Menschenopfer wieder auf. 77
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Arch. Reports 1963/4, 29 f, fig. 39; Nicolas Platon, Zakros, New York 1971, 164-169; Rutkowski 1972, 164 f, Abb. 58-60; Marinatos/Hirmer 1973, 145, T. 108-110; Vermeule 1974 T. Ba; Marinatos 1993, 119, fig. 85. Dazu das fragmentierte Rhyton aus Knossos, Buchholz/Karageorghis 1971, Nr. 1167; Rutkowski 1972, 166; Vermeule 1974, 11. Chrysoula Kardara, AE 1966, 149-200, nimmt an, dass sie im Gewitter den Blitzeinschlag als göttliche Epiphanie anziehen sollten. Ägyptisches Vorbild: Stylianos Alexiou, AAA 2, 1969, 84-88. Matz 1958, Abb. 6; Vermeule 1974, 13 Abb. 2 f. Iannis A. Sakellarakis, AE 1972, 245-258. Platon (s.o. Anm. 19) 103; 157. Platon (s.o. Anm. 19) 151 f. Paus. 9,3,7. --+ II 7 Anm. 93; III 2 Anm. 55. Paus. 7,18,11-3. --+ II 1 Anm. 68. Paus. 8,37,8. --+ VI 1 Anm. 37. MMR 66 f, 75; an Ex-Votos für Heilung denken Costis Davaras, Kadmos 6, 1967, 102; Rutkowski 1972, 173. Zum Oeta-Fest --+ II 1 Anm. 71.
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Sprichwörtlich ist später die Redensart vom "Kretischen Opfer":87 So heißt, was jäh und in Unordnung abgebrochen wird. Agamemnon habe, erzählte man, auf der Höhe von Polyrrhenion geopfert, als Gefangene seine Schiffe in Brand steckten; da ließ er die brennenden Opferteile liegen, eilte zum Meer und fuhr unter Fluchen mit dem letzten geretteten Schiff davon. Der fluchtartige Aufbruch vom Ort des Feuers, wie er auch später in Tithoreia88 bezeugt ist, brächte noch einen dramatischen Zug ins Bild vom Feuerfest. Vielleicht hatte jeder Teilnehmer zumindest eine Kleinigkeit ins Feuer zu werfen, und sei es ein Tonkügelchen - auch solche wurden zahlreich gefunden. Welche Gottheit solche Verehrung fordert, lässt sich nur raten. 89 Keine Figur, die eine Gottheit darstellen könnte, wurde gefunden. Die Bergkuppe lässt an einen Wettergott denken; doch die griechischen Feuerfeste unterstehen einer Göttin. Ein Siegel aus Knossos9o zeigt eine Göttin zwischen zwei Löwen auf der Spitze eines Berges stehend, die einer zu ihr aufblickenden männlichen Gestalt eine Lanze entgegenstreckt; ein hörnerbekrönter Kultbau ist auf der anderen Seite zu sehen. Die Göttin des Berges überreicht dem König das Zeichen seiner Macht - so kann man verstehen; ob damit der Schlüssel zum Verständnis des Höhen-Kults überhaupt gegeben ist, bleibt jedoch offen. Das Bild stammt aus der Spätperiode (SM 11), als die HöhenHeiligtümer bereits zu veröden begannen. Sicher aber steht das Bild in einer ikonographischen Tradition, die aus dem Osten kommt. Inwieweit der Höhenkult überhaupt mit östlicher Tradition zu tun hat, ist offen. Im kanaanäischen Bereich gibt es die Feueropfer auf den "Höhen" für Baal;9I in Tarsos gilt das Feuer einem Gott, den man mit Herakles identifizierte.92 Doch ist das Bild der syrisch-palästinensischen Kulte im 2. Jahrtausend zu undeutlich, als dass eine solche Vermutung sich verifizieren ließe.93
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Zenob. Ath. 2,7 (Hrsg. Winfried Bühler 1982) = Zenob. Par. 5,50 (Paroem. Gr. I 287). Vielleicht ist dies verbunden mit dem Diktynna-Kult bei Polyrrhenion (Strab. 10,4,13 p. 479; Hans Walter/Ulf Jantzen, Das Diktynnaion, in: Friedrich Matz, Forschungen auf Kreta, Berlin 1951, 106-17). Paus. 10,32,17. Vg!. die Auseinandersetzung von Dietrich und Rutkowski s.o. Anm. 19. PM II 809, IIl463; MMR 353; GGR T. 18,1; Rutkowski 1972, 173; Vermeule 1974, 13 Abb. 2; Marinatos 1993, 155, fig. 133. Vg!. Göttin zwischen Löwen auf der Gemme von Mykene, GGR T. 20,5, dazu T. 20,6; 21,1, vor allem aber das Fresko aus Mari, Eva Strommenger, Fünf Jahrtausende Mesopotamien, München 1962, Abb. 165: Göttin mit Löwen überreicht dem König Ring und Stab. Z.B. AT 2. Kön. 23, 5. --+ IV 5 Anm. 18. Wie unsicher die Begriffe und Interpretationen sind, zeigt die Arbeit von William F. Albright, The High Place in ancient Palestine, Vetus Testamenturn Supp!. 4, 1957,242-258. --+ I 4 Anm. 45; II 1 Anm. 68-74; Feuerfest in Bambyke: Luk. Syr. Dea 49.
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Baumheiligtümer Auf den Bildern vor allem der Goldringe erscheinen oft unzweifelhafte Kultdarstellungen, die sich weder mit Höhlen und Bergkuppen noch auch mit den Palästen verbinden lassen. Kennzeichen ist ein mächtiger Baum, fast immer von einer Mauer eingefasst, also abgesondert, "heilig"; die Mauer kann mit Stuck verziert, von Kulthörnern bekrönt sein; eine ihrerseits verzierte Tür führt ins Innere, gibt zuweilen den Blick auf einen Steinpfeiler frei. Altäre verschiedener Form fehlen nicht; in einigen Fällen steht ein tempelartiges Gebäude dem Baum gegenüber. Natürlicher, steiniger Boden ist gelegentlich angedeutet. 94 Meist scheinen Feigen- und Olivenbäume dargestellt zu sein. Eine Gemme aus Naxos95 zeigt einen Mann mit Speer vor einer Palme stehend, neben einem Tisch mit Libationsgefäßen. Sonst bewegen sich Tänzerinnen oder Tänzer mit ekstatischen Gebärden vor dem Baum, oder eine Gottheit erscheint ihren Verehrern. Ein Miniaturfresko aus Knossos96 zeigt eine große Menschenmenge neben einer Baumgruppe, wobei eine Gruppe weiblicher Gestalten in Erregung oder Tanz die Hände erhebt. Solche Bäume sind weder auf Bergen zu finden noch in Palastkomplexen zu erwarten. Also lagen diese Heiligtümer im freien Land.97 Archäologisch sind derartige Anlagen schwer nachzuweisen, verschwanden doch die Reste vereinzelter Gebäude und Einfriedungen im Fruchtland viel rascher und gründlicher als große Ruinenstädte oder die durch ihre exzeptionelle Lage geschützten Höhen-Heiligtümer. Immerhin gibt es eine Reihe von Fundstätten, wo mit Gebäuderesten Votivfiguren mancher Art, Tiere und anbetende Menschen, zutage kamen. Sie geben der Vermutung Rückhalt, dass sich ein wichtiger Teil des religiösen Lebens im Freien abspielte, fern vom Alltag der Wohnstätten; dorthin führten Prozessionen, dort konnte im Tanz unter dem Baum die Gottheit erscheinen.
Hausheiligtümer Indem die Erschließung der minoischen Kultur mit der Ausgrabung des Palasts von Knossos begann, wurde der dortige Befund zunächst auch für das Bild der Minoischen Religion bestimmend. Offenbar kannte diese keine Tempel, sondern statt des-
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Z.B. GGR T. 13,4-8; 17,1; vgl. MMR 262-72; GGR 280-284; Faure BCH 1967, 114; 1972,419-422; Rutkowski 1972, 189-214,323-325; Marinatos 1993, 181-184. Das Schlagwort vom "Minoan Tree and Pillar Cult" hatte Evans gleich zu Beginn seiner Ausgrabungen geprägt, Evans 1901. Vermeule 1964, 39; 58; Simon 1969, 160. PM 1Il 66-68. Nilsson sprach von "rustic sanctuaries" MMR 272, Faure von "sanctuaires de la campagne", Rutkowski von "sacred enclosures".
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sen kleine Kulträume in den Palästen und Häusern,98 identifizierbar durch Weihgaben, Kultgerät und Symbole wie Hörner und Doppelaxt. Doch sind gerade hier arge Unsicherheiten der Deutung und Rekonstruktion geblieben. Starke vierkantige Pfeiler im Untergeschoss des Palasts von Knossos und auch in anderen Gebäuden sind zuweilen mit Zeichen wie Doppelaxt, Hörnerpaar oder Stern geschmückt. Evans erschloss hieraus einen "Pfeilerkult", sprach von einer "sakralen Krypta" und nahm an, dass darüber in der Regel ein Heiligtum gelegen habe.99 Doch die zusätzlichen dort gemachten Funde sind so uneinheitlich, dass sie den Schluss auf religiöse Sinngebung nicht unterstützen. IOO Rätselhaft sind auch die "lustralen Baderäume" in den Palästen. lOl Sie liegen tiefer als die umgebenden Zimmer, sind in der Regel durch eine Pfeilerbalustrade abgetrennt und über eine Treppe erreichbar. Eine solche Anlage schließt sich an den Thronraum von Knossos an. Als Bad können die Räume ihres Gipsstucks wegen nicht benutzt worden sein. Kultsymbole sind in einigen wenigen Fällen festgestellt. Ein "Heiligtum der Taubengöttin" im Palast von Knossos wird postuliert für eine Serie von Terrakottafiguren, die aus dem ersten Stock herabgestürzt waren; namengebend ist die Nachbildung von drei Pfählen, auf denen Tauben sitzen.102 Das "Zentralheiligtum" wird rekonstruiert über dem Kellerraum, wo in Steinkisten die berühmten Statuetten der "Schlangengöttinnen" gefunden wurden. lo3 Mitvollständiger, ungestörter Einrichtung fand sich allein das "Heiligtum der Doppeläxte" - nur eben die Doppeläxte sind rekonstruiert; es gehört indes in die Periode nach 1375, als der Palast von Knossos in Trümmern lag und nur einzelne Teile notdürftig wieder als Menschenwohnung eingerichtet waren, vielleicht gerade im Zusammenhang mit diesem Heiligtum. lo4 Älter, doch weniger reich an Funden, sind Heiligtümer in den Palästen von Phaistos,I°5 Ayia Triada,I°6 Mallia; in Kato Zakro, Mykene, Tiryns ist nichts Vergleichbares nachgewiesen; in Pylos wird ein Raum, der auf höherem Niveau gelegen und mit seiner Achse auf einen im Hof stehenden Altar ausgerichtet ist, als Heiligtum
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MMR 77-116; Nicolas Platon, Ta Minoika oikiaka hiwi, Kret. Chron. 8, 1954,428-483; Rutkowski 1972, 215-259; Geraldine C. Gesell, The archaeological evidence for the Minoan house cult and its survival in Iron Age Crete, Diss. Chapel Hill1972 (DA 33, 1972, 1626 A); Keith Branigan, Kadmos 8, 1969, 4; Marinatos 1993, 38-75 betont die Rolle der Paläste als Kultzentren. Evans 1901, 106-111; 143-146; PM 1425-429. MMR 236-249; Rutkowski 1972, 73-120. MMR 92-94; Rutkowski 1972, 229-31,328; Marinatos 1993, 77-87 spricht von "Adyta". PM I 220, 248; MMR 87 f; GGR T. 11,2; Rutkowski 1972, 222; 224; Marinatos-Hirmer 1973, T. 227PM I 463-85; 495-523; MMR 83-86; Rutkowski 1972, 228 f. PM II 335-44; MMR 78-80; Rutkowski 1972, 224 f, 250; Mervyn R. Popharn, Kadmos 5, 1966, 17-24; Marinatos 1993, 224 fig. 228....... 13 Anm. 15. Noch später (SM 1II B) ist das "Fetisch-Heiligtum", -+ I 3 Anm. 194. MMR 94-96 (MM II). MMR 96-98; Rutkowski 1972, 56 f; 239 f.
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angesprochen. 107 In der Einrichtung dem "Heiligtum der Doppeläxte" sehr ähnlich ist ein Raum in einem zentral gelegenen Haus der Siedlung von Asine in der Argolis, der allerdings erst ins 12. Jahrhundert gehört/OB aber auch ein wesentlich älteres, freistehendes Gebäude in der minoischen Stadt Gournia (SM 1), ein kleiner "Tempel".109 Dass der Typ des minoischen Kultraums noch sehr viel weiter zurückgeht, haben die Ausgrabungen von Myrtos gezeigt; dort ist ein solches Heiligtum bereits in der Mitte des 3. Jahrtausends nachgewiesenYo Kennzeichnend für alle diese Räume ist, neben Kultgefäßen besonderer Form und gegebenenfalls einem in die Mitte gestellten Dreifußtisch wie in Knossos und Gournia, eine Bank aus Steinen oder Lehm an einer der Wände - eine Einrichtung simpler Praxis in einer Zeit, als Möbel noch unbekannt waren -, auf der aufgestellt ist, was herausgehoben und geheiligt werden soll: Hörnerpaare mit Doppeläxten im danach benannten Schrein von Knossos, vor allem aber menschengestaltige Tonfiguren, Idole von bescheidener Größe. Fünf Statuetten waren im "Heiligtum der Doppeläxte" aufgestellt, fünf Figurinen und ein einzelner, weit größerer Kopf lagen, herabgefallen, unterhalb der entsprechenden Bank in Asine, eine ganze Figur neben zahlreichen Bruchstücken fand sich in Gournia, eine Figur auch bereits in Myrtos. Gerade die späten Idole wirken primitiv, vielleicht bewusst primitiv, wie sie sich frontal aus zylindrischem Rock aufrecken, und doch deutet der Epiphaniegestus der erhobenen Hände an, dass eine Gottheit dem Besucher entgegenblickt; der übermenschliche Status ist noch deutlicher, wenn der Göttin, wie im "Heiligtum der Doppeläxte", ein Vogel auf dem Scheitel sitzt oder, wie in Gournia, sich eine Schlange um die Schulter ringelt. Dass die älteren und unvergleichlich eleganteren "Schlangengöttinnen" aus einem Depot von Knossos (MM II)1ll für ähnliche Aufstellung bestimmt und als Göttinnen gedacht waren, lässt sich kaum bezweifeln. Nur in den Hausheiligtümern finden sich diese Idole, nicht in Höhlen und Höhen-Heiligtümern. Stets sind sie weiblich. Dies lässt an die bis ins Paläolithikum zurückreichende Tradition der Figuren in Verbindung mit Frau und Häuslichkeit denken, auch wenn die minoischen Idole an die neolithischen Figurinen, die auf Kreta nicht selten sind, ikonographisch nicht anknüpfen. Ein Charakteristikum des Hauskults sind Schlangen-Darstellungen. Vor allem in Gournia fanden sich neben dem Opfertisch Tonröhren, senkrecht auf verbreiteter Basis stehend, an denen statt der Henkel sich Schlangen emporringeln. Ähn107 Carl W. BIegen, AJA 62, 1958, 176; Biegen 1966, I, 303-305; Vermeule 1974, 38. 108 MMR 110-114; Vermeule 1964 284 f; 1974, 57; Rutkowski 1972, 281; 283; Desborough 1964, 42 (SH III Cl. 109 MMR 80-82; GGR T. 1; Rutkowski 1972, 215 f. 110 Warren 1972, 85-87, 209 f; 265 f; T. 70,69. 111 --+ I 3 Anm. 33. Tonidole der "Schlangengöttin" fanden sich auch in den Kulträumen der Villa von Kannia, EAA V 69; Vermeule 1974, 20 f; Marinatos/Hirmer 1973. T. 133; Rutkowski 1972, 240 f; 248 f; 13 Jahrhundert unbekannter Herkunft und darum der Fälschung verdächtig ist die GoldElfenbein-Statuette der Schlangengöttin in Boston, PM III 439-443; MMR 313 Abb. 150; GGR T. 15,3.
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liche Gebilde finden sich auch sonst in den minoischen Hausheiligtümern, II2 auf Zypern,I13 aber auch in Palästina. I14 Auch um tönerne Nachbildungen von Honigwaben ringeln sich Schlangen.II5 Im späteren griechischen Bereich bezeichnet die Schlange die Welt der Toten, der Heroen und der Götter der Unterwelt; auch entsprechende Schlangenröhren kommen im Totenkult vor.116 Im Minoischen dagegen weist nichts auf Grab und Tote hin; vielmehr tritt, wie Evans und Nilsson sahen,lI7 die Schlange als Wächter des Hauses auf. Von der Hausschlange wissen europäische Märchen zu erzählen; in Balkandörfern wurde noch beobachtet, wie reale, harmlose Schlangen in den Häusern gefüttert wurden. Kleine Näpfchen wie für Milch, die man neben Schlangenröhren in einem Raum des Palasts von Knossos fand, mögen in gleicher Weise zur Fütterung echter Schlangen gedient haben; doch kann im minoischen Kult auch hier die symbolische Darstellung genügen. Allgemein verbreitet, ja vielleicht angeboren, ist beim Menschen die unmittelbare Angst vor der Schlange; wird der Schrecken überwunden, das Unheimliche "besänftigt" und bewusst ins Leben einbezogen, erhält dieses eine tiefere Dimension. So deutlich der Palast dem diesseitigen Leben zugewandt ist, der Prachtentfaltung in Reichtum und Genuss, er bedarf doch der Kammern, in denen man die Schlangen füttert, in denen man mit kleinen, doch in Ehrfurcht überbrachten Gaben sich der Nähe und Gunst der Gottheit versichert. Ein sehr eigentümliches "Heiligtum" fand sich in einem stattlichen Haus auf Thera: Fresken zeigen Mädchen beim Krokus-Pflücken im Angesicht der Göttin, ein System von Falr-Türen regelt die Sicht und der Zugang. Das Szenario einer MädchenInitiation lässt sich erschließen.ns
Tempel Es war communis opinio, dass es im minoisch-mykenischen Bereich keine eigentli.chen Tempel gebe, weder vom Typ des späteren griechischen Tempels noch überhaupt im Sinn eines größeren repräsentativen, ausschließlich dem Kult dienenden Gebäu112 PM IV 140-61; MMR 81, 316-21; GGR T. 1; 2,1. In Kato Syme (->- I 4 Anm. 17), Ergon 1972, 195; 1973, 119; zusammenfassend Geraldine C. Gesell, AJA 80, 1976, 247-259. 113 PM IV 163-8; Vasos Karageorghis, Rep. Dep. of. Antiqu. Cyprus 1972, 109-12 (aus einem Grab in Enkomi). 114 Beth Shan, PM IV 167; Maurice Dunand, Fouilles de Byblos I, Paris 1939, 274, Abb. 234; JaquesClaude Courtois Alasia 1, Paris 1971, 190-195. 115 MMR 90; GGR T. 16,1/2. vgl. auch das Siegel PM IV 151. 116 GGR T. 52,4. --+ IV I Anm. 44; IV 2 Anm. 3. 117 PM IV 140-161; MMR 323-329; GGR 289 f; 404-406; Rutkowski 1972, 256. Vgl. aber Keith Branigan, The Genesis of the Household Goddess, SMEA 8, 1969, 28-38. 118 Marinatos 1984; - 1993, 203-211 (Xeste 3).
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des oder GebäudekompiexesY9 Der "Tempel" von Gournia, der nur drei mal vier Meter misst (Anm. 56), war eine wenig eindrucksvolle Ausnahme. Das subminoische Heiligtum von Karphi mit seinen bedeutenden Kultstatuen besteht im wesentlichen aus einem offenen Hof, auf den sich einige kleine Gebäude öffnen. Ein Rätsel stellt die symmetrische, dreigeteilte "Tempelfassade" dar, die oft in den minoisch-mykenischen Darstellungen begegnet,120 während in der Realität kein einziger entsprechender Bau archäologisch nachgewiesen ist. Allenfalls eine ganz unscheinbare Anlage im Hof eines Landhauses von Vathypetron kann damit in Verbindung gebracht werden. l2l Evans rekonstruierte kühn die Fassade des Westflügels des Knossos-Palasts nach diesem Bild, ohne Anhalt in den Resten. 122 Geht es um eine bloß ikonographische Tradition, die letztlich aus dem Sumerischen stammt?123 Ausgrabungen in Keos und Mykene haben dann das Bild entscheidend verschoben. In Ayia Irini auf Keos1 24 ist innerhalb der Siedlung, aber für sich stehend, ein großes Gebäude ausgegraben worden - ca. 23 x 6 m -, das offenbar an die 1000 Jahre dem Kult gedient hat. Schmal und langgestreckt, enthält es mehrere Räume, einen Hauptraum mit Nebenräumen und ein "Adyton". Den auffallendsten, einzigartigen Fund stellen Reste von etwa 20 teilweise lebensgroßen Tonstatuen dar, lauter Frauengestalten, die Brüste entblößt, die Arme leicht an die Hüften gelegt. Sind es Göttinnen? Die Haltung lässt eher an priesterliche Tänzerinnen denken. Die Anlage ist im 15. Jahrhundert errichtet worden; nach einer Erdbeben-Zerstörung um 1200 wurde sie neu ausgebaut; später wurde ein großer Kopf der alten Statuen offenbar als Kultgegenstand aufgestellt. Der Kult dauerte kontinuierlich bis in die griechische Zeit, als dann eine Weihinschrift überraschenderweise als Herrn des Heiligtums Dionysos bezeugt. So ist dieser eindeutige Tempel aus minoischer Zeit zugleich einer der wichtigsten Zeugen für die Kontinuität vom Minoischen zum Griechischen geworden. Während auf dem Festland der Kultraum in Asine (Anm. 55) Kretischem genau entspricht, gibt es offenbar bodenständige Traditionen, in denen Herd und Tieropfer in anderer Weise betont werden. Die Art, wie im "Palast des Nestor" in Pylos der
119 MMR 77; GGR 264; Vermeule 1964, 283. Karphi: MMR 101 f; Rutkowski 1972, 216 f; Vermeule 1974,22 f. 120 MMR 259-261; am ältesten das Goldornament aus dem 4. Schachtgrab von Mykene, MMR 175; GGR T. 7,1; Marinatos/Hirmer T. 227; Wandfresko von Knossos, PM II 597; 1II T. 16; MMR 175; Rutkowski 1972, 200; Marinatos 1993, 60. 121 Vermeule 1974, 10. 122 PM II 814; Vermeule 1974, 8. 123 Vgl. Samuel N. Kramer, History begins at Sumer, London 1956, T. 12 (Tell Uqair); Pierte Amiet, Elam, Auvers-sur Oise 1966,392; Hermann Thiersch, ZATW 50, 1932, 73-86. 124 Ausgrabungsberichte von John Caskey, Hesperia 31, 1962, 263-283; 33, 1964, 314-355; 35, 1966, 363-376; 40, 1971, 359-396; 41, 1972, 357-401; Vermeule 1964, 217; 285-287; T. 40 AB; 1974, 34-37; T. 5a-d; Rutkowski 1972, 275-279; 332. Dionysos-Weihung: Hesperia 33, 1964, 326-335; Kopf: ibo 330. Vgl. Robert Eisner The Temple of Ayia Irini. Mythology and Archaeology, GRBS 13, 1972, 123-133.
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große, kreisförmige Herd das Zentrum des Thronsaals bildet,125 hat nicht ihresgleichen in Kreta. Dem minoischen Einfluss voraus liegt das Gebäude in Malthi, Messenien, das man als Empfangsraum des Königs oder Heiligtum angesprochen hat;126 auffallend sind die Mittelsäule, der große, halbkreisförmige Herd mit Aschen- und Knochenresten samt großen Gefäßen, einer Steinaxt und einem hammerförmigen Gebilde, das ein Idol sein könnte; dass hier Opferkult stattfand, ist sehr wahrscheinlich; Verbindungen zu den noch älteren Befunden etwa in Eutresis sind möglich. Erstaunlicherweise ist das Kultzentrum von Mykene erst spät zutage getreten. l27 Vom Palast her führt ein Prozessionsweg, der durch ein Holztor verschließbar war, zu dem tiefer gelegenen Bereich innerhalb der Burgmauer. Wo sich der Weg mit einem Knick dem "Tsountas-Haus" zuwendet, ist ein viereckiger Altar, daneben Blöcke mit Einarbeitungen wohl für einen Opfertisch; davor ein Podium und eine Bank für Zuschauer. Es folgt eine ringförmige, aschengefüllte Einfassung. Im vorderen Raum des "Tsountas-Hauses" ist ein hufeisenförmiger Lehmaltar mit Feuerspuren und ein Steinblock, der als Schlachtblock gedeutet wird. Vom Vorplatz führt eine Treppe zu einem tiefergelegenen Hof mit einem Rundaltar. An ihn schließt das unterirdische "Haus der Idole" an, ein größerer Raum mit Säulen und Kultbänken, wo eine Statuette in situ gefunden wurde, vor ihr ein Opfertisch; dahinter liegt ein kleiner erhöhter Raum, in dem zahlreiche weitere Idole und Tonfiguren zusammengeringelter Schlangen aufbewahrt waren, und eine Art Alkoven, in dem der natürliche Fels zutage tritt. Die Idole, bis zu 60 cm hoch, teils männlich, teils weiblich, sind in abschreckend hässlicher, maskenhafter Art bemalt. Sie sind von unten ausgehöhlt, konnten vielleicht auf Stangen bei der Prozession umhergetragen werden. Neben dem "Haus der Idole" liegt das "Haus der Fresken", in dessen Hauptraum die Wandmalerei eine Göttin und einen Gott (?) beidseits einer Säule zeigte, dazu eine Priesterin oder Göttin mit Kornähren in der Hand; die Mitte des Raumes nimmt ein Herd ein; ein Raum mit einem Idol schließt sich an. Aus dem "Tsountas-Haus" stammt auch die altberühmte Darstellung der "Schildgöttin"; dazu wurde ein Fresko einer Göttin mit Eberzahnhelm, die einen Greif im Arm trägt, gefunden. Das Heiligtum wurde offenbar mit dem Palast um 1200 aufgegeben.
125 Vermeule 1964, T. 25; 1974, T. 2. 126 Mattias N. Valmin, The Swedish Messenia Expedition, Lund 1938, 78-83 ("Raum AI"); MüllerKarpe 1975, 111878; zurückhaltend Vermeule 1974,37; Rutkowski 1972, 296. 127 "Haus der Idole" und "Haus der Fresken": W. Taylour, Antiquity 43, 1969, 91-99; 44, 1970, 270279; AAA 3, 1970,72-80; Tsountas-Haus und Gesamtanlage: Mylonas 1972 und in: Les religions de la prehistoire (Actes Valcamonica Symposion 1972), 1975,243-252. Vgl. Rutkowski 1972, 282-287; Vermeule 1974, 32-34; William D. Taylour, Weil Built Mycenae I, Warminster 1981; Hägg/Marinatos 1981,41-48; Albers 1994, 13-52. Zu den Idolen Spiridon Marinatos AAA 6, 1973, 189-192; er spricht von "Demeter Erinys" (- III 1 Anm. 146); schlagend ist sein Vergleich mit der Kriegsbemalung eines Australiers. Eine der Figuren (mit Hammer) als "Zeus" zu benennen, besteht kein Anlass, vgl. LlMC Vlll s.v. Zeus nr. 3. Zur "Schildgöttin" - 13 Anm. 229; Göttin mit Greif: Mylonas 1972, T. 13.
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Vergleichbare Heiligtümer, mit ähnlichen Idolen, finden sich in der Nach-Palastzeit (12. Jahrhundert) in dem Siedlungskomplex der "Unterburg" von TirynsPS Ein spätmykenisches Heiligtum ist auch in Phylakopi auf der Insel Melos ausgegraben wor129 den; dort fand sich neben weiblichen auch eine männliche Statuette. Das "Mykenische" ist im 12. Jahrhundert (llle) im Niedergang, aber noch durchaus vorhanden, und findet gerade im Bereich religiösen Kults neue Ausdrucksmittel.
Grabanlagen Das bedeutendste architektonische Monument der minoisch-mykenischen Epoche, das erhalten blieb, ist das "Schatzhaus des Atreus" bei Mykene, das Königsgrab aus dem 13. Jahrhundert; die antike Bezeichnung "Schatzhaus", thesauros, scheint noch das freudige Erstaunen der Grabräuber in den dunklen Jahrhunderten zu spiegeln. Die Goldfunde aus den Schachtgräbern, die Schliemann vorbehalten blieben, zeigen, wie groß der Aufwand für die Toten bereits Jahrhunderte früher gewesen warYo Die großen Rundbauten (tholoi) für die Toten tauchen bereits in der frühminoischen Epoche in Südkreta in der Mesara-Ebene auf. Sie dienen jeweils ganzen Sippen über lange Zeit hin zur Bestattung. Dass sie zugleich kultische Zentren für die Gemeinschaft überhaupt waren, darauf deuten gepflasterte "Tanzplätze", die bei ihnen angelegt waren. l3l Tanz im Bannkreis der Toten erneuert den Lebenswillen. In der kretischen Palastzeit scheinen die Gräber weniger wichtig zu werden, während sich zugleich im Höhenkult neue rituelle Zentren ausbilden. Nach wie vor werden die in Fels gehauenen Kammergräber wie die Tholos-Gräber für mehrfache Bestattungen immer wieder benützt. Zu Knossos gehört die an Funden besonders reiche Begräbnisstätte von Archanes. 132 Aus der minoischen Glanzzeit stammt die auffallende zweistöckige Anlage in Gypsades bei Knossos, die Evans das "Tempelgrab" genannt hat. An eine Pfeilerkrypta unter einem Säulensaal schließt eine in den Fels gehauene Grotte mit blau bemalter Decke an. Man vermutet in ihm eine Grabstätte der Könige von Knossos; sie war seit langem ausgeraubt. 133 128 Klaus Kilian, Zeugnisse mykenischer Kultausübung in Tiryns, in: Hägg/Marinatos 1981, 49-58; Albers 1994, 104-111. 129 Renfrew 1985; Albers 1994,53-103. 130 Zum minoisch-mykenischen Totenkult Wiesner 1938; Andronikos 1968; Ingo Pini, Beiträge zur minoischen Gräberkunde, Wiesbaden 1968; zu Zypern: Helene Cassimatis, Rep. Dep. of Antiqu. Cyprus, 1973, 116-166; "Schatzhaus des Atreus": Buchholz/Karageorghis Nr. 169-171. 131 Stephanos Xanthoudides, The Vaulted Tombs of Messara, London 1924; Branigan 1970a, dazu John Boardman, CR 22, 1972, 255 f; Buchholz/Karageorghis Nr. 132; Marinatos 1993, 13-26. ---> I 3 Anm. 236/7. 132 Iannis A. Sakellarakis, Archaeology 20, 1967, 276-281 (MM 1); Marinatos 1993, 22 f. 133 PM IV 962-83; Matz 1958, 26; Buchholz/Karageorghis 1971, Nr. 141-149; Marinatos/Hirmer 1973 T. 46 f; skeptisch MMR 241.
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Auf dem Festland treten zunächst weit mehr als Bauten die Opfer für die Toten in den Vordergrund. Bereits in Malthi glaubt man ein "Heiligtum für den Grabkult" am Rand des Gräberfelds feststellen zu können: I34 einen zweiräumigen Bau mit je einem "Altar", einer rechteckigen Steinplatte, in einer Aschen- und Kohlenschicht. In Mykene fanden sich über allen Schachtgräbern Aschen- und Tierknochen-Reste. Man stellte auch einen Rundaltar über Grab IV und eine tiefe, teils mit Asche gefüllte Höhlung zwischen Grab I und IV festj doch als in spätmykenischer Zeit das Ganze durch eine doppelte Plattenstellung zum "Schachtgräberkreis" ausgestaltet wurde, war der Altar nicht mehr sichtbar.135 In dieser spätmykenischen Epoche werden die Tholos-Gräber auf dem Festland nachgebaut und zu bisher unerhörter Monumentalität gesteigert, gipfelnd im "Schatzhaus des Atreus". Der bienenkorbförmige Rundbau ist von einem falschen Gewölbe überdacht und verschwindet unter einem künstlich aufgeworfenen Hügelj ein ausgemauerter Gang ("Dramos") führt zur Eingangstürj er wurde nach der Bestattung jeweils aufgefüllt, für neue Bestattungen dann wieder ausgegraben. Die eigentliche Grabkammer ist ein kleiner Annex zum gewaltigen Gewölbe-Raum, der dem Ritus dient und die unterirdische Welt schlechthin darstellt. Das einzige unausgeraubte Tholos-Grab wurde in Archanes unweit Knossos gefundenj I36 hier war eine Königin aus jener Zeit beigesetzt, als man in Knossos Griechisch sprach. Besonders wichtig sind neben den Schatzfunden die Zeugnisse des Tierapferrituals. Ein Stierschädel war vor der Eingangstür zur Grabkammer deponiert, ein Pferd in der Tholos geschlachtet und zerstückelt worden. Anderwärts wurden die Wagenpferde des toten Herrn im Dromos vor dem Grab erstochen und mit begraben. I37 Feuerspuren fanden sich regelmäßig in den Tholoi. Man kann sich ein prächtig-unheimliches Leichenbegräbnis vorstellen, bei dem für den Leichenzug der Dramos ausgegraben, das Tor der Unterwelt geöffnet wird; die Tholos wird gereinigt mit Feuern und Opfernj die Gebeine der früheren Bestattungen werden jedoch achtlos beiseite gekehrt; Tieropfer, wohl mit Opfermahlzeit, folgen, dann schließt sich wieder die Erde über den Toten mit ihrem Eigentum.
134 "The Sanctuary of the Grave Cult", Valmin (s.o. Anm. 73) 126-131; Müller-Karpe 1975, III 878. 135 Georgios Mylonas, Mycenae and the Mycenaean Age, Princeton 1966, 94; Friedrich Matz, Gnomon 30, 1958, 326; Andronikos 1968, 127 f; Vermeule 1974, 38 f; dadurch ist Rohde 1898, I 35, MMR 607-609, GGR 379 überholt. Zu den Schachtgräbern --+ I 3 Anm. 12. 136 --+ Anm. 132; Iannis. A. Sakellarakis Archaeology 20, 1967, 276-281; Praktika 1966, 174-184; Das Kuppelgrab A von Archanes und das kretisch-mykenische Tieropferritual, Prähist. Zeitschr. 4, 1970, 135-218 (SM IIIA). 137 Marathon: Vermeule 1964, T. 47 B: Buchholz/Karageorghis Nr. 181. Noch im 8. Jahrhundert in Salamis aufZypern: BCH 87, 1963,282-286; 378-380, Archaeology 18, 1965, 282-290; Vasos Karageorghis, Salamis, 1970, 32-154.
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3.4 Rituale und Symbole Wie der Mensch im minoischen und mykenischen Kult dem Heiligen begegnet, zeigen vor allem die Votivstatuetten: Aufgerichtet und gestrafft, nach oben blickend, die Hände über der Brust verschränkt oder grüßend erhoben, oft an die Stirn gelegt, so sind Männer und Frauen dargestellt, nicht selten in Bronze, als dauerhafte Repräsentationen der Verehrer im HeiligtumYs Die Bildkunst zeigt zwei Haupttypen kultischer Tätigkeit: Prozession und Tanz. Feierliche Prozessionen der Frauen in kostbaren Gewändern waren ein Standardthema der Freskenmalerei in den großen PalästenY9 Auch die Goldringe zeigen mehrfach, wie Frauen dem Heiligtum, der Göttin entgegengehen.140 Die Bedeutung des Tanzes in Kreta wird schon dadurch suggeriert, dass die Ilias von einem Reigenplatz in Knossos spricht, der von Daidalos für Ariadne erbaut worden sei.141 Die Goldringe zeigen vielfach tanzende Figuren, Frauen zumeist, die wohl als Menschen, vielleicht als Priesterinnen, aufzufassen sind; ihnen erscheint die Gottheit.142 Auch die großen Tonfiguren aus dem Tempel von Ayia Irini lassen tänzerische Bewegungen erkennen.143 Doch auch Männer tanzen: Ein Tonmodell aus Kamilari bei Phaistos zeigt vier nackte Figuren mit spitzen Mützen, die zwischen Kulthörnern im Reigentanz begriffen sind. l44 Auf einem der Goldringe von Mykene tanzt im Zentrum eine Frau; eine andere seitlich neigt sich tief über eine Art Altar, während auf der Gegenseite ein Mann hoch in die Zweige eines Baums greift. 145 Vorschnell hat man an Trauer um einen Vegetationsgott vom Adonis-Typ gedacht. Doch handelt es sich um eine ganze Serie mit Variationen. Eine Gestalt, meist männlich, greift dem sich neigenden Baum mit beiden Händen entgegen; dass Früchte gepflückt werden, ist nie zu sehen, eher scheinen die Äste nur berührt zu werden. Einige Male ist daneben eine Figur zu sehen, die, auf die Knie gefallen, einen großen Steinblock zu umarmen oder zu wälzen scheint.146 Ob 138 ~ 13 Anm. 31; z.B. Buchholz/Karageorghis 1971 Nr. 1224/6, 1230/1. 139 Prozessionsfresko Knossos: PM Il 719-25, SuppL PI. 25-27; Vermeule 1974, 45 f; zu Theben, Pylos, Mykene, Tiryns ibo 48. 140 Z.B. Goldring Mykene, MMR 180 Abb. 85; Silberring Mykene, MMR 181; Goldring Mykene, PM Il 341e; MMR 347; GGR T. 17,1; Marinatos/Hirmer 1973, T. 229; Rutkowski 1972, 263; CMS I Nr. 17. Zu Kultgewändern MMR 155-164. 141 11. 18,591 f -+ 13 Anm. 41. 142 Vor allem der Goldring von Isopata, PM III 68; MMR 279; GGR T. 18,3; Marinatos/Hirmer 1973, T. 115; Marinatos 1993, 163 fig. 149. Goldringvon Dendra-Midea, GGR T. 17,4a; Rutkowski 1972, 266 Abb. 132; Miniaturfresko aus Knossos, PM 11166-69; Gruppe aus Palaikastro, MMR 109. 143 -+ 13 Anm. 124. 144 ASAtene 23/4, 1961/2, 139; Rutkowski 1972, 211 Abb. 90; Marinatos 1993, 22 fig. 23. 145 PM 1161, 111142; CMS I Nr. 126 u. 8.; Persson 1942, 100; abgebildet auch MMR 256; GGR T. 13,5; Marinatos/Hirmer 1973, T. 228, Marinatos 1993, 185 fig.187; vgL MMR 287 f, GGR 283 f. 146 Baum und Stein: Goldring Phaistos, MMR 268 Abb. 133; Marinatos/Hirmer 1973, T. 115; Rutkowski 1972, 191; Goldring Archanes, Archaeology 20, 1967, 280; Rutkowski 1972, 190; Marinatos 1993, 186 fig. 188; Goldring Sellopulo, Arch. Rep. 1968/9, Abb. 43; Rutkowski 1972, 206 Abb. 87;
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hier Kontakt zu Heiligem gesucht wird, ob auch Baum und Stein an der Bewegung der göttlichen Epiphanie erbebend Anteil haben, die rätselhafte Szenerie bleibt für mehrfache Deutungen offen. Statt menschlicher Verehrer erscheinen, mit rituellen Handlungen befasst, nicht selten groteske Gestalten, die aufgerichtet auf zwei Beinen oder vielmehr Tatzen einhergehen; sie haben eine Art Hundeschnauze, spitze Ohren, auch Tiertatzen statt der Hände; der Rücken ist mit einer Art Panzer bedeckt, der zum Boden hin in eine Spitze ausläuft. Man nennt sie, nicht ohne Verlegenheit, minoische "Dämonen" oder "Genien"; keine Sprachquelle gibt über sie Auskunft. 147 Ikonographisch sind sie an die ägyptische Nilpferdgöttin Ta-urt, "die Große", anzuschließen, die über dem Rücken eine Krokodilhaut trägt;148 jedoch lässt sich weder ihre Vervielfältigung noch ihre dienende Funktion vom Ägyptischen herleiten. Man sieht diese Wesen, aufWandgemälden wie auf Siegelbildern, stets in ritueller Tätigkeit: Sie tragen die Libationskanne, gießen sie aus über Steinen oder Kulthörnern; sie schleppen Tiere oder Teile von Tieren zum Opfer herbei; sie erscheinen auch, so gut wie Löwen oder Greife, in symmetrisch-heraldischer Komposition, als Randfiguren oder auch im Zentrum. Von anderen zusammengesetzten Monstern, wie sie die Phantasie minoischer Stempelschneider nicht selten schuf,149 unterscheiden sie sich durch ihren festen Typ und durch ihre feierliche Funktion; sie sind keine Gespenster, sie schrecken nicht Menschen, sie dienen der Gottheit. Es liegt nahe, an maskierte Priester zu denken, die beim kultischen Fest so auftreten;150 dargestellt allerdings sind nie verkleidete Menschen, sondern eindeutige Tierwesen. Die Fremdartigkeit ihrer Erscheinung mag ein Zeichen sein, dass das Göttliche eben das Andere ist. Man verkehrt mit der Gottheit durch Gaben. Weihgeschenke aller Art kennzeichnen die verschiedenen Heiligtümer, Wichtiges, Wertvolles, Schönes, von der täglichen Nahrung über goldene Geräte bis zu Muscheln, Zweigen, Blumen, wie sie die der Göttin entgegensehreitenden Frauen auf dem Goldring aus Mykene in Hän-
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nur "Baumpflücker": Mykene, s.o. Anm. 8; Goldring Vaphio, MMR 275; Marinatos 1993, fig. 189; Siegelabdruck Zakro, MMR 283; Siegel New York, AJA 68, 1964, T. 419. Vgl. MMR 274 f. PM IV 431-67; MMR 376-83; GGR 296 f; Marinatos 1993, 196-200; Margaret A. V. Gil\, The Minoan "Genius", AM 79, 1964, 1-21; Folkert T. van Straten, The Minoan "Genius" in Mycenaean Greece, BABesch 44, 1969, 110-121; Joost H. Crouwel, Talanta 2, 1970, 23-31; van Straten ibo 33-35. Spiridon Marinatos schlug vor, sie mit den di-Pi-si-jo mykenischer Texte zu identifizieren, den "Durstigen" (dipsioi), Proc. of the Cambridge Coll. on Myc. Studies, 1966, 265-274. Die "Genien" erscheinen auch auf Fresken in Mykene (PM IV 441 f; MMR 377; Marinatos/Hirmer 1973, T. LVIII; Vermeule 1974,50 f) und in Pylos (Biegen 1966/73 II 79 Nr. 40 Hne), auf einem Elfenbeinrelief in Theben (Sarantis Symeonoglou, Kadmeia I, 1973, 48-52, T. 70-3). Die ältesten Darstellungen aus dem 1. Palast von Phaistos: ASAtene 35/6, 1957/8, 124 f; Goldring von Tiryns: AM 55, 1930, T. 2-4; MMR 147; GGR T. 16,4; Marinatos/Hirmer 1973, T. 229; Marinatos 1993, 200 fig. 208_ So bereits Evans, PM IV 434; vgl. Schachermeyr 1967, 31, Abb. 63-69; unentschieden MMR 380 f. PM I 702 f; MMR 368-376. Emil Herkenrath AJA 41, 1937, 420 f; dagegen Nilsson MMR 376,22. Vergleichbare sumerische wie assyrische Tierdarstellungen verraten sich gelegentlich als Masken: Cyril J. Gadd, History and Monuments of Ur, 1920,35-37 mit T. 8; PM IV 432.
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den tragen. 151 Die Gegengabe muss der Gabe korrespondieren, im fortgesetzten Austausch vollzieht sich die Verbindung der Menschen mit dem Heiligen. Da freilich die Gabe eigentlich nur Symbol ist, Demonstration der Beziehung zum Übermenschlichen, kann sie ersetzt werden durch ein Bild, durch die wertlose Nachahmung in Ton: Käfer und Vogel, Schaf und Stier, Menschen, Waffen und Gewänder/52 ja ganze Altäre und Heiligtümer, dazu auch einfache Tongefäße aller Art, brauchbare und unbrauchbare, all dies häuft sich auf diese Weise im Heiligtum an. Altäre unterschiedlichen Typs markieren den heiligen Bezirk, kleine, tragbare von der ungefähren Form eines Doppelkegels, oder große, sorgfältig aufgemauerte, gelegentlich stucküberzogene und mit Hörnern gekrönte Konstruktionen.153 Niemals dienen sie - in scharfem Kontrast zum späteren griechischen Brauch -, um ein Feuer darauf zu entzünden und Teile der geschlachteten Tiere zu verbrennen.154 Vielmehr deponiert man auf ihnen im Rahmen der Opferhandlung bestimmte Darbringungen, und man scheint an ihnen zu beten. Kleine Dreifußherde sind wohl für Räucherungen in Gebrauch, auch eigentliche Räucherständer sind bekannt.155 Wie im bronzezeitlichen Anatolien spielen die Libationen im Kult eine hervorragende Rolle; das Wort dafür, hethitisch sipandi-, griechisch spendein, dürfte damals schon übernommen worden sein. 156 Gemeinsam sind auch die "Tierkopf.Rhyta", Gefäße in Form von Tierköpfen, die nach vollzogener Spende im Heiligtum niedergelegt werden.157 Die typische Libationskanne mit hochgezogener Schnaupe, aus kost:barem Metall hergestellt, hatte in der Realität keine Erhaltungschancen, doch ist sie oft auf Bilddarstellungen zu sehen. 158 Regelmäßige Funde in minoischen Heiligtümern sind "Libationstafeln" verschiedener Form aus Stein oder Ton, mit einer runden Vertiefung zur Aufnahme von Flüssigkeit in der Mitte.159 Auch kompliziertere Gebilde gehören wohl zum Libationsritual, große runde Tafeln mit vielen im Kreis umlaufenden Vertiefungen; die auffallendste steht im Palast von Mallia, ähnliches fand sich schon im frühminoischen Myrtos.160 In einem verwickelten Zeremoniell, in 151 MMR 347; GGR T. 17,1: vgI. Weilhartner 2005. 152 Kleine Gewand-Nachbildungen gefunden zusammen mit der "Schlangengöttin": PM I 506; MMR 86. 153 MMR 117-122; Rhyton von Kato Zakro --+ I 3 Anm. 77; vgI. auch MMR 169 Abb. 69 und 171 Abb. 73. --+ I 3 Anm. 127 zum Kultzentrum Mykenes. Monumentale Altäre mit Hörnerbekrönung finden sich im 12. Jahrhundert in Zypern, bes. Myrtou-Pigadhes. -+ 1.4 Anm. 7. 154 Betont von Yavis 1949. -+ 1.4 Anm. 44; II 1. 155 Auf dem Goldringvon Tiryns, MMR 147 (s.o. Anm. 10). 156 -+ II 2 Anm. 34. 157 PM II 527-536; MMR 144-146; Klaus Tuchelt, Tiergefäße, Berlin 1962; Onofrio Carruba, Kadmos 6, 1967,88-97. 158 MMR 146-153; PM I 62. 159 MMR 122-133. 160 Warren 1972, 230 f pI. 78. Mallia: Fernand Chapouthier, BCH 52, 1928, 292-323; MMR 129 f; GGR T. 3,3; Marinatos/Hirmer 1973, T. 56; "Spieltisch" PM III 390-396; Rutkowski 1972, 33 f; dagegen Neufund in einem Tempel von Kition, CRAI 1976, 233-237. Andersartig ist das zusammengesetzte Kultgefäß, der "Kernos"; dazu MMR 133 bis 141; s.o. 11 Anm. 33.
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der rechten Platzierung und Reihenfolge verschiedener "Spenden", konnte wohl ein ganzes System heiliger Beziehungen hergestellt werden: Religio im Sinne der Sorgsamkeit. Die Linear-B-Texte erwähnen Öl und Honig; auch an Wein ist sicher zu denken. Die Opferspende ist eine herrscherliche Geste; so ist neben dem Thron im Palast von Pylos der Ablauf der Flüssigkeiten im Boden markiert. 161 Auf Tieropfer weisen die Ascheschichten mit Knochenresten in Höhlen wie Psychro und bei den Höhen-Heiligtümern unübersehbar hin; auch Bilddarstellungen treten hinzu. 162 In welchem Verhältnis Opfer mahlzeit und Brandopfer standen, ist aus den Resten nicht zu bestimmen. Für sakrales Schlachten scheint das "Haus des Hohenpriesters" bei Knossos eingerichtet zu sein: der Eingang führt, stufenförmig ansteigend, zwischen zwei rechteckigen Behältern und einer beiderseits aufgemauerten Balustrade hindurch in einen Raum, zu dem wohl - obschon nicht in situ gefunden - ein Steinaltar und der Ständer einer Doppelaxt gehörten; ein Abfluss verläuft unter den Stufen nach außen. Nach Evans' Deutung übernimmt der Priester, für den zugleich Gaben am Eingang deponiert werden, die Schlachtung des Tiers im Innenraum, von dem das Blut dann nach außen fließt. 163 Zwei große Stierschädel nebst Kultgerät fanden sich in der Ecke eines Hauses beim Palast von Knossos, vielleicht ein Sühnopfer für die Mächte der Tiefe, ehe das erdbebenzerstörte Gebäude aufgefüllt wurde. 164 Die eingehendste Schilderung eines Opfers gibt der Sarkophag von Ayia Triada. 165 Neben einem Baumheiligtum ist eine Doppelaxt aufgerichtet, auf der ein Vogel sitzt; davor ein Altar, den eine Priesterin in rituellem Fellkleid mit beiden Händen wie segnend berührt; darüber sind eine Libationskanne und ein Korb mit Früchten oder Broten gemalt, Andeutung der Voropfer, die am Altar dargebracht werden. Dahinter liegt auf einem Tisch ein eben geschlachteter Stier, Blut rinnt-aus seiner Kehle in ein Gefäß. Ein Flötenspieler begleitet den Vorgang auf seinem schrillen Instrument; hinter ihm erscheint eine Prozession von fünf Frauen in feierlicher Haltung. Hier scheinen fast alle Elemente des späteren griechischen Opferrituals bereits gegenwärtig: Pompe, Altar, Voropfer, Flötenbegleitung, Auffangen des Bluts;
161 Biegen 1966, I 88 und Abb. 70: vgl. Archaeology 13, 1960, 38. 162 Marinatos 1986. ->- I 3 Anm. 80/1: 136: MMR 229-233: Sharon R. Stocker/Jack L. Davis, Animal Sacrifice, Archives, and Feasting at the Palace of Nestor, Hesperia 73, 2004, 179-195. Emily Vermeule betont mit Recht, dass das Tieropfer auf dem Festland weit stärker in den Vordergrund tritt, geht aber zu weit, wenn sie Tieropfer im minoischen Kult überhaupt bezweifelt, Vermeule 1974, 12: 61. Vgl. auch PM IV 41: 573. 163 PM IV 202-215: MMR 92 (MM III/SM II): skeptisch Rutkowski 1972, 52: "Iibations?" Marinatos 1993, 105. Merkwürdig analog erscheinen die Heiligtümer von Beycesultan, Seton Lloyd/James Mellaart, Beycesultan I, London 1962,40-45: zwei Pfeiler trennen einen Innenraum vom Vorraum, zwei Pithoi für Opfergaben stehen bei ihnen, dazwischen sperrt ein Hörnersymbol den Zugang: im Innern an der Seitenwand ist ein "Blutaltar" mit Abfluss (frühe Bronzezeit, ca. 2700/2300). Auf Verbindungen von Beycesultan mit Minoischem hat auch Palmer (->- I 3.2 Anm. 2) 238-240 hingewiesen. 164 "House of the sacrified oxen", PM II 301 f. 165 ->- I 3 Anm. 30.
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nur das Altarfeuer fehlt. Ein Opferzug mit einem großen Stier im Zentrum war auf einem Wandgemälde in Pylos dargestellt.166 Auf einem Goldring von Mykene folgt einem Mann, der einem Baumheiligtum grüßend zugewandt ist, eine Ziege, aus deren Rücken ein Zweig gleicher Art entspringt wie die Zweige des dargestellten Baums: 167 man mag an die feindliche Polarität von Ziege und Baum denken, um derentwillen später auf die Akropolis von Athen, wo der heilige Ölbaum wuchs, einmal im Jahr eine Ziege zum Opfer geführt wurde; ihr blutiger Tod garantierte die Dauer vegetabilischen Lebens. Zwei Fundkomplexe haben eine Diskussion um Menschenopfer entfacht: In Anemospilia bei Archanes grub man drei nebeneinanderliegende Räume aus, die bei einem Erdbeben um 1700 zusammengestürzt waren; aus drei Skeletten, deren eines auf einer Art Podium unter einem Bronzemesser lag, erschloss der Ausgräber, dass ein Menschenopfer im Gang gewesen war, vielleicht zur Abwehr jenes Erdbebens - die Knochen des "Opfers" seien ausgeblutet gewesen -, als das Haus zusammenbrach; die heftige Diskussion um diese These ist abgeflaut und hat allgemeiner Skepsis Platz gemacht: Weder ist beweisbar, dass das unvollständig ausgegrabene Gebäude ein "dreiteiliger Tempel" war, noch ist der Befund der Knochen aussagekräftig.168 Im Keller eines Hauses nahe dem Palast von Knossos, datiert um 1450, fanden sich Menschenknochen mit Messerspuren; gab es hier Kannibalismus, wie der Minotaurosmythos suggeriert?169 Einfacher ist die Vermutung, dass Leichen für ein zweites Begräbnis bearbeitet wurden. So kommt auch hier die Skepsis zum Sieg. Mit dem zweifellos realen Stieropfer in Verbindung stehen die beiden bekannten, immer wiederkehrenden Zeichen des Sakralen in der minoisch-mykenischen Kultur: Hörnerpaar und Doppelaxt. Beide freilich sind nach einer langen Vorgeschichte, die in Anatolien beginnt, bereits als praxisferne, verfestigte Symbole nach Kreta gelangt. Dass das Hörnerpaar, von Evans "horns of consecration" genannt,11° in der Tat von realen Stierhörnern herzuleiten ist, kann kaum bezweifelt werden; in den Hausheiligtümern der neolithischen Stadt <:;:atal Hüyük fand man Reihen echter Stierhörner, Jagdtrophäen, damals noch vom Wildstier, die im Bereich der Göttin erhöht werden; im Hintergrund steht der Jägerbrauch der partiellen Rückgabe, der symbolischen Restitution des getöteten Wilds. Es gibt Zwischenglieder zwischen <:;:atal Hüyük und Kreta. Modelle von Heiligtümern aus Kypros vom Ende des 3. Jahrtausends zeigen als sakrale Fassade, vor der ein Mensch Libationen darbringt, drei hochragende
166 BIegen 1966/1973, Hl92 f, pI. 119; vgI. pI. 132: Hirsch am Altar. MMR 178: Rind vor Altar. 167 MMR 259, GGR T. 13, 1, Marinatos/Hirmer 1973, T. 228; Ziegenopfer Athen ~ V 2 Anm. 32. Dargestellt ist allerdings eher ein Feigen- als ein Ölbaum. VgI. auch PM III 185; Vermeule 1974, 12. 168 lannis Sakellarakis/Ephe Sakellarakis, Anaskaphe Archanön, Praktika 1979, 331-392; Hughes 1991, 13-17. 169 P. M. Warren in Hägg/Marinatos 1981, 155-166; ABSA 81, 1986, 333-388; Hughes 1991, 18-24. 170 Evans 1901, 135; vgI. MMR 165-190; GGR 272-275; Cook 1914, 1506-10; als "pot-stands" interpretiertvon S. Diamant/J. Rutter, AS 19, 1969, 147-177. -+ 14 Anm. 7. <;:atal Hüyük ~ I 1 Anm. 6.
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vierkantige Pfeiler, die in mächtige Stierköpfe auslaufenj I7I die drei Pfeiler erscheinen bereits in C;atal Hüyükj doch die überragenden Stierschädel scheinen nun bruchlos aus den Pfeilern herauszuwachsen, also nicht aufgesetzte Knochen, sondern plastische Nachbildungen zu sein. Älter noch, vom Anfang des 3. Jahrtausends, ist ein Hörnerpaar aus Tell Braq im oberen Mesopotamien, das gerade dem ältesten kretischen Hörnerpaar recht ähnlich siehtj 172 stark stilisiert, aber kaum aus diesem Zusammenhang zu lösen, sind die Gebilde in den Heiligtümern von Beycesultan,173 die den Zugang zum hinteren Raum schließen. In Kreta tritt das Hörnerpaar in seiner Standardform 174 erst nach Beginn der Palastzeit (MM II) aufj kretisches Formgefühl hat dann die geometrische Stilisierung und Entwicklung des Symbols vorangetrieben, so dass das reale Stierhorn fast vergessen werden kannj aus breiter Basis steigen in feinem Schwung die beiden Spitzen fast senkrecht empor, senken sich zur Mitte in beinahe halbkreisförmiger Rundung. Sie schmücken und weihen, oft in vielen Paaren aneinandergereiht, Altäre und Heiligtümerj zwei Exemplare standen auf der Bank im "Heiligtum der Doppeläxte". Doch auch isoliert kommt das Hörnerpaar vorj das größte erhebt sich am Südeingang des Palasts von Knossos zu einer Höhe von mehr als zwei Metern. Auch die Paläste von Pylos und Gla tragen das Hörnerzeichen. 175 Dass die Axt zum Rinderopfer gebraucht wurde, steht festj in der Form der Doppelaxt tritt zur praktischen Verwendbarkeit eine einprägsame ornamentale Gestalt, die wohl früh schon symbolische Funktion übernahm. Ihre Geschichte ist der des Hörnersymbols ähnlich, jedoch nicht mit ihr gekoppelt. 176 Die Doppelaxt ist erstmalig im 4. Jahrtausend, noch als Steinform, in Arpatchiya nachgewiesenj im 3. Jahrtausend kommt sie in Elam, Sumer, aber auch in Troia II vor. Kreta erreicht sie bereits in frühminoischer Zeit, früher also als das Hörnersymbol. Die meisten der gefundenen Doppeläxte sind Weihgeschenke, die nie in praktischem Gebrauch standen: Sie sind zu klein oder aber zu groß, zu dünn oder zu ornamental geformt, auch aus Blei, aus Silber und aus Gold hergestellt. Sie fanden sich massiert vor allem in den Höhlenheiligtümern, markieren aber auch, auf steinerner Basis aufgerichtet, andere Heiligtümerj sie überragen auf dem Sarkophag von Ayia Triada sowohl die Opfer- wie die Libationsszene, sie standen in Knossos im danach benannten "Heiligtum der Doppeläxte" wie im "Haus des Hohenpriesters"j auf einem Goldring aus Mykene ist eine
171 Modelle von Kotchati (2300/2000): Vasos Karageorghis, Rep. Dep. of Antiqu. Cyprus 1970, 10/13; BCH 95, 1971, 344; Rutkowski 1972, 213. C;:atal Hüyük: Anat. Srud. 13, 1963, 77. 172 Max E. L. Mallowan, Iraq 9, 1947, 184, T. 139 (ca. 3000 v. Chr.). 173 - Anm. 163. 174 Frühminoisch ist das Hörnerpaar von Mochlos, PM 157 Abb. 16 C, MMR 188, das eher dem von Tell Braq als dem minoischen Standardtyp entspricht. 175 PM II 159; Ergon 1960, T. 48 Abb. 58; Praktika 1960,38; AJA 65, 1961, pI. 55fig. 15; Vermeule 1974,31. 176 PM 1 434-447; Cook 1925, II 513-543; MMR 194-229; Hans-Günter Buchholz, Zur Herkunft der Kretischen Doppelaxt, München 1959. Ob ein schmetterlingsartiges Ornament in C;:atal Hüyük als Doppelaxt zu erkennen ist, Anat. Stud. 13, 1963, pI. 8 b, ist unsicher.
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Doppelaxt ins Zentrum der Prozession zur Göttin gerückt.177 Oft erscheint die Doppelaxt auf Siegeln und Vasenbildern, bis zur rein ornamentalen Verwendung. Doch auf ihre ursprüngliche Funktion deutet noch der nicht seltene Darstellungstyp, der die Doppelaxt auf einem Stierschäclel, zwischen den Hörnern stehend, zeigt. Dass die Doppelaxt auch zwischen den stilisierten Kulthörnern erscheint, bestätigt deren DeutungPB In kleinasiatischer Tradition, die in Karien und Lykien später noch zu fassen ist, gilt die Doppelaxt in der Hand eines männlichen, oft Zeus benannten Gottes offenbar als Blitzwaffe des Wettergottes.179 Man hat versucht, auch die Minoische Doppelaxt so zu deuten, doch spricht der Befund dagegen: Nie ist die Doppelaxt mit einer männlichen Gestalt verbunden, vielmehr mit einer doch wohl göttlichen Frauengestalt: Sie trägt die Doppelaxt, sie schwingt je eine in beiden erhobenen Händen - ein Werkzeug und Zeichen ihrer Macht, kaum aber selbst als göttliches Wesen personifiziert. lBo Die Doppelaxt ist ein Zeichen der Macht, der Macht zu töten; an die Überwindung des Stiers erinnern die Bukranien wie auch, in sublimer Stilisierung, die kultischen Hörner. Die reale politisch-wirtschaftliche Macht lag, wie in den parallelen bronzezeitlichen Kulturen, doch wohl in der Hand eines Königs. Königtum ist ohne königliches Zeremoniell nicht vorstellbar. Der Spendenabfluss neben dem Thron von Pylos ist ein Hinweis darauf. lBl Wenn die Goldringe, die doch nur den Höchstgestellten, den Königinnen und Königen, mit ins Grab gegeben wurden, so häufig Kultszenen tragen, wird auch damit die Bedeutung der Zeremonien für die Mächtigen herausgehoben. Dass es in Knossos und dann auch in Mykene und Pylos ein "sakrales Königtum" gab, dass der König - mykenisch wanax genannt - übermenschlichen, vielleicht göttlichen Status hatte, bleibt bloße Vermutung. lB2 Siegel- und Ringbilder zeigen mehrfach neben der großen Göttin eine kleinere, männliche Figur; sie erscheint mit ihm im Gespräch begriffen, sie überreicht ihm Stab oder Lanze. lB3 Ob 177 GGR T. 17,l. 178 Doppelaxt und Bukranion: PM I 435; Il 619; MMR 205; GGR T. 8,3; Cook 1925, Il 526; 537; 539. Doppelaxt und Hörnersymbol: PM I 196 Abb. 144; Marinatos/Hirmer 1973, T. 128. 179 Cook 1925, II 543-599. Älteste Darstellung eines Gottes mit Doppelaxt offenbar: späthethitisches Relief aus Sakcegözü, Ekrem Akurgal, Orient und Okzident, Baden-Baden 1966, T. 23 b (8. Jahrhundert). Die Tradition des Zeus von Labraunda bringt die Doppelaxt mit den Amazonen und der Lyderkönigin Omphale in Verbindung, Plut. q.Graec. 301F; Doppeläxte fanden sich auch im Ortheia-Heiligtum, Dawkins 1929, 254; 264; 383. 180 Relief aus Palaikastro, MMR 225; GGR T. 9,2; Siegel aus Knossos, PM I 435 Abb. 312a; Marinatos/ Hirmer 1973, 128. Daneben gibt es Darstellungen von Priestern und Priesterinnen mit einer andersartigen - zum realen Opfer bestimmten? - Axt, EAA V 72; Schachermeyr 1967, Abb. 85; CMS I 225; Marinatos/Hirmer 1973, T. 122; Marinatos 1993, 128 f. 181 - Anm. 161; I 3 Anm. 10I. 182 Arne Furumark, Was there a~Sacral Kingship in Minoan Crete? Numen Suppt. 4, 1959, 369 f; OpusculaAthen.6, 1965,95-97; Henri van Effenterre, Politique et religion dans la Crete minoenne, Rev. hist.229, 1963, 1-18; Dietrich 1974, 89. 183 Das Siegel der "Bergmutter",- I 3 Anm. 90; Elektron-Ring Mykene mit "sacra conversazione", PM
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dies der König als Partner der Gottheit ist oder ein mythischer Paredros der Göttin, ob gar der König die Rolle des göttlichen Paredros übernimmt, lässt sich vorläufig~ nicht entscheiden.
3.5 Die minoischen Gottheiten Die Erschließung der minoischen Kultur fiel zusammen mit dem Höhepunkt der religionsgeschichtlichen "Schule von Cambridge".IB4 Man hatte längst nach den ursprünglichen Vorstufen der griechischen Religion gefahndet; jetzt traten solche, trat anscheinend die vorgriechische Religion zutage. Man suchte und fand alsbald die Antithese zur "olympischen", anthropomorphen, polytheistischen Götterwelt Homers: das Überwiegen chthonischer Mächte, Matriarchat, nicht-menschengestaltige Gottheiten oder aber eine einzige göttliche Gestalt an Stelle eines Pantheons. Doch haben sich die Erwartungen und Thesen nur zum kleinen Teil bestätigt. Sir Arthur Evans trat gleich nach Beginn seiner Ausgrabungen mit der einprägsamen These vom "Minoischen Baum- und Pfeilerkult" hervor;IB5 wenig davon hat Nilssons Kritik standgehalten. IB6 Der Baum markiert ein Heiligtum, er ist von einer sakralen Umfriedung eingefasst, insofern "heilig"; doch wenn eine Prozession sich dem Baum nähert, thront unter ihm die menschengestaltige Göttin. Der Baum wird im Tanz berührt, doch nicht als personales Gegenüber angebetet. Ähnlich steht es mit Pfeilern und aufgerichteten Steinen. Die Steinmetzzeichen in den "Pfeiler-Krypten" beweisen keinen Kult. Kleinere, säulenartige Steine werden in der Tür eines Baumheiligtums sichtbar,IB7 einige Male schweben Gebilde, die als roh bearbeitete Steinpfeiler aufgefasst werden können, frei in der Bildfläche.IBB Es ist möglich, dass ein "BätyP' so gut wie der Baum Zeichen des Heiligen ist; die Odyssee beschreibt den öltriefenden Stein an der Opferstätte in Nestors Pylos.lB9 Doch ein solcher Stein - oder auch ein Steinhaufen -, an dem "Dämonen" libieren, ist Markierung eines heiligen Zentrums, nicht aber schon ein Gott. Als Mitte zwischen zwei heraldisch gruppierten
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IIl464; MMR 351; GGR T. 17,2; Marinatos/Hirmer 1973, T. 228; dazu Siegel in Genf, lose Dörig (Hrsg.), Art antique. Collections privees de Suisse Romande, Genf 1975, Nr. 59; SiegelabdruckAyia Triada, PM II 768; MMR 346; GGR T. 16,6; Goldring Theben, MMR 179; GGR T. 19,2. Interpretation als "priest king" PM II 774-790; "Adorant" GGR 293. - Einleitung 1 Anm. 13-15. Evans 1901. MMR 236-288; zum "Baumkult" - I 3 Anm. 94-96; I 3 Anm. 146; zu den "Pfeilerkrypten" - I 3 Anm.99. Goldring Knossos, MMR 256 Abb. 123; GGR T. 13,4; Rutkowski 1972, 192 Abb. 72; Goldring Mykene - I 3 Anm. 145. Goldring Archanes - I 3 Anm. 146; Goldring Mochlos - I 3 Anm. 51. Od. 8, 406-411.
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Tieren erscheint nicht selten eine Säule - allbekannt ist das Löwentor von Mykenej190 auch "Herr" und "Herrin der Tiere" ers<:;heinen in gleicher Position,191 doch das ikonographische Schema beweist nicht Identitätj die Säule lässt sich auch als andeutende Abkürzung des Heiligtums oder Palastes auffassen. l92 In einigen Hausheiligtümern fanden sich Stalaktiten193 - wie auch schon in den Heiligtümern von <:;:atal Hüyükj doch erst in einem Heiligtum der Verfallszeit, dem "Fetisch-Schrein" im Kleinen Palast von Knossos, waren Felsgebilde, roh menschenähnlich, an Stelle von Idolen aufgestellt.194 Es bleibt der Stalagmit in der Eileithyia-Höhle mit Einfassungsmauer und Altar und "magischem" Berührungsritusj gerade hier aber ist zugleich der griechische Name der griechischen Göttin bekannt. 195 Grie~hische Mythen schienen auf einen kretischen Stierkult zu weisen, und die bekannten Darstellungen des Stierspiels, bei denen Akrobaten sich über die Hörner des Stiers hinwegschwingen, 196 ließen sich damit assoziieren. Dass das Stierspiel in ein Stieropfer auslief, ist zu vermuten. Doch dass im Tier ein Gott benannt und verehrt wurde, ist unerweislichj nie richtet sich auf einen Stier der Adorationsgestus oder eine kultische Prozession, auch die Sakralzeichen wie Doppelaxt, Kulthörner, Libationskrug werden nicht mit ihm verbunden. 197 Es lag nahe, die "olympische" patriarchale Religion den Indogermanen, das "chthonische" Reich der Mütter dagegen den Vorgriechen zuzuweisen. In der Tat sind nachweisbare Kulte der frühminoischen Zeit mit den Toten verbunden - jene "Tanzplätze" bei den Kuppelgräbern der Mesara.198 In der Palastzeit aber treten andere Kultformen in den Vordergrund, die Feste in den Höhen-Heiligtümern, die Tänze vor dem Baumj die Verehrung der Schlangengöttin in den Häusern und Palästen ist nicht mit den Toten verbunden,199 und in den heiligen Höhlen gibt es keine Grä-
190 Buchholz/Karageorghis 1971 Nr. 83/4. Vgl. MMR 250; GGR T. 12,1 und MMR 253; GGR T. 12,3. 191 -+ 13 Anm. 90; ein "Herr der Tiere" GGR T. 20,"4; T. 21, 4; T. 19, 5; vgl. Anm. 48. 192 MMR 255. Es verbleibt die einzigartige Darstellung von sechs Säulen und einem Mann mit Verehrungs-Gestus auf einem Rollsiegel von Mykene, MMR 257; GGR T. 12,5. - Man hat ans MinoischMykenische das säulengestaltige Bild des ApolIon von Amyklai (Paus. 3,19,2) und die "Säule des Dionysos" in Theben (Eur. Fr. 203) angeschlossen. 193 Nicolas Platon, Per; tes en Krete latrelas ton stalaktiton, AE 1930, 160-168; Rutkowski 1972, 129; Dietrich 1974,92-113; dazu vielleicht der Siegelabdruck von Ayia Triada, MMR 180 Abb. 84; Rutkowski 1972,202. 194 Zum "Fetisch-Heiligtum" PM II 346; 519-525; MMR 90-92; GGR T. 3,4; Rutkowski 1972, 236 f; 247; 326. 195 -+ 13 Anm. 66/7. 196 PM III 209-32; A. Reichei, AM 34, 1909, 85-99; Cook 1914, 1 497-500; GGR 277,1; Marinatos 1993,218-220 und in Ariadne. Festschrift Stylianos Alexiou, 1989, 23-32. Marinatos bestreitet die übliche Auffassung, dass die Stierspringer weiblich sind. 197 MMR 231 f; 374; 421,90; Friedrich Matz, Minoischer Stiergott? Kret. Chron. 15/6, 1, 1961/2,215223. Verehrung eines Löwen und eines Greifen auf dem "Nestor-Ring" (-+ 1 3 Anm. 30) ist Fälschung. 198 -+ 13 Anm. 131. 199 -+ 13 Anm. 117.
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ber. Gewiss gibt es reiche Totenbeigaben, auch Tieropfer im Zusammenhang mit der Bestattung. Auf dem Bild des Sarkophags von Ayia Triada 200 scheint im Verlauf eines ägyptisierenden Totenopfers der Tote selbst sich vor seinem Grabbau zu zeigen. Doch nicht dies ist die Sphäre der Götter. Das Eigentümlichste und Bezeichnendste am minoischen Gotteserleben ist vielmehr die Epiphanie der Gottheit von oben her im Tanz. Auf dem Goldring von Isopata 201 vollführen vier festlich gekleidete Frauen zwischen aufsprießenden Blumen einen Tanz in wechselnden Figuren, sich neigend oder die Hände erhebend. Über den aufgereckten Armen aber scheint eine viel kleinere, auch anders gekleidete Figur in der Luft zu schweben. Man ist sich einig in der Interpretation: Hier erscheint, inmitten des wirbelnden Tanzes der Verehrer, die Gottheit selbst. Ähnliche kleine, schwebende Figuren gibt es auch in anderen Darstellungen, und stets drängt sich die Deutung als Epiphanie eines Gottes auf. 202 So kommt auf einem Ring aus Knossos neben einem Baumheiligtum und einem aufgerichteten Pfahl der grüßend aufgerichteten Frau eine offenbar männliche Figur von oben entgegen; auf einem Siegelabdruck von Zakto erscheint eine Gestalt, die an die "glockenförmigen Idole" erinnert, über einem Kultbau. 203 Auf dem Ring von Mykene,204 der die Frauenprozession zur Göttin abbildet, die am heiligen Baum thront, wird oben im Hintergrund eine kleine, ganz von einem 8-förmigen Schild bedeckte Figur sichtbar; auf einem Ring aus Pylos205 scheint die kleine Gestalt neben einem Höhenheiligtum herabzufliegen. Wie diese Epiphanie im Kult gestaltet war, ist nicht zu sagen; möglich, dass der Tanz der Frauen bis zur Ekstase getrieben wurde. Nach geläufiger Interpretation 206 können auch Vögel als Erscheinung von Göttern begriffen werden, Vögel, wie sie auf den Doppeläxten beim Opfer auf dem AyiaTriada-Sarkophag oder auf den Balken aus dem "Heiligtum der Taubengöttin"207 sitzen, auch auf dem Kopf von Idolen der Spätzeit. 208 Wiederholt ist auf den Goldringen eine majestätisch thronende Frauengestalt dargestellt,209 unter einem Baum oder vor dem Heiligtum, kleineren menschlichen
200 ---;. I 3 Anm. 30. 201 ---;. I 3 Anm. 142; Matz 1958, 8 und Abb. 3. 202 Matz 1958; Robin Hägg, Die göttliche Epiphanie im minoischen Ritual, AM 101, 1986,411-462; Marinatos 1993, 175-178. 203 Knossos: PM 1160; MMR 256 Abb. 123; GGR T. 13,4; Rutkowski 1972, 192 Abb. 72. Eine ähnliche Darstellung auf einem Goldring in Oxford, PM II 842; MMR 342; Kadmos 10, 1971,60-69. Zakro: MMR 283; GGR T. 13,3; Rutkowski 1972, 200 Abb. 82; Marinatos 1993, 176 fig.178. 204 GGR T. 17,1. ---;. 13 Anm. 140. 205 Matz 1958, 12 und Abb. 6 (männlich). Eine fliegende Göttin mit Flügeln auf einem Sarkophag: Vermeule 1974, 43. 206 MMR 330-340; Matz 1958, 17; gestützt durch Homer, bes. 11.7,58-60. 207 ---;. I 3 Anm. 102. 208 ---;. Anm. 215/6. 209 MMR 346-352; Vermeule 1974, 16 f ---;. Anm. 204; I 3 Anm. 183; Goldring Tiryns ---;. 13 Anm. 147; vgl. Buchzholz/Karageorghis 1971 Nr. 1385 u.a.
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Verehrern oder auch einer Prozession von Genien entgegensehend. Einige Male sind Sonne, Mond und Stern über der Szene abgebildet: 210 Der Vollzug des Ritus steht in einem kosmischen Rahmen, Ausdruck und Garant einer Ordnung, die Himmel und Erde umgreift. Vermutlich ist die Kleinkunst von den Wandmalereien der Paläste angeregt; Fragmente aus Knossos,21l aus Pylos212 und aus Mykene213 lassen sich jeweils als Bild einer Göttin ergänzen und interpretieren; diese Fresken gehören aber nicht immer zu eigentlichen Heiligtümern, sie können Teil der allgemeinen königlichen Prachtentfaltung sein. In Heiligtümern aufgestellte Idole214 - kleine, steife Figuren, meist in der Mehrzahl - sind in der spätminoischen Epoche nachgewiesen; in den subminoischen Heiligtümern von Gaze15 und Karphe 16 sind daraus Götterbilder von respektablen Dimensionen geworden. Der kretischen Palastzeit wollte man die Verwendung von Idolen absprechen; doch außer den im Magazin verwahrten "Schlangengöttinnen"217 fanden sich in Knossos auch Bronzelocken, die von Holzfiguren stammen. 218 Jedenfalls haben die Funde von Myrtos den Typ des Hausheiligtums mit Idol bereits im 3. Jahrtausend erwiesen und damit das Alter der Tradition bestätigt, das der primitive Charakter der späten Idole bereits hatte vermuten lassen. 219 Die Idole ebenso wie die sitzende Gottheit auf den Bildern sind durchweg weiblichen Geschlechts. Einige Male tritt der Göttin ein kleinerer, männlicher Partner gegenüber. 220 Bereits Evans hat Frazers Schema von der großen Muttergöttin mit ihrem sterbenden Paredros, dem Vegetationsgott, zur Deutung herangezogen, und viele sind ihm gefolgt. 221 Die "Minoische Muttergöttin" wäre demnach die zentrale, vielleicht die einzige Gottheit des alten Kreta. In der Tat gibt es in Kreta keine sichere Darstellung einer Mehrzahl von Göttern,m es gibt aber auch das Bild der "Mutter" mit Kind, den an sich weit älteren 210 Goldring Mykene -+ Anm. 204; Theben -+ I 3 Anm. 183; Tiryns -+ 13 Anm. 147; Berlin MMR 266; vgI. die "kosmogonische" Tafel von Psychro, I 3.3 Anm. 12; MMR 412-421. 211 PM II 723; SuppI. pI. XXVI. 212 Die ,,weiße Göttin", Biegen 1966/73, II 57 f. 213 Vermeule 197432-34, T. 13b. -+ I 3 Anm. 75. 214 MMR 289-329; Doro Levi, Immagini di culto minoiche, PP 14, 1959,377-391. -+ I 3 Anm. 103 zum "Heiligtum der Doppeläxte". 215 Spiridon Marinatos AE 1937, 278-291; MMR 100 f; GGR T. 14,4;5; Buchholz/Karageorghis 1971 Nr. 1268; Marinatos/Hirmer 1973, 197, T. 134-137; Rutkowski 1972,206; 249 Abb. 116. 216 -+ I 3 Anm. 119; Buchholz/Karageorghis 1971, Nr. 1267; Marinatos/Hirmer 1973, T. 141-143; Rutkowski 1972, 249 Abb. 117. 217 -+ I 3 Anm. 103. 218 Rekonstruiert zu einem großen Götterbild, PM III 522-525; Vermeule 1974, 9; mehrere kleine Figuren nach Robin Hägg, AA 1983, 543-549. 219 -+ I 3 Anm. 110; vgI. MMR 110. Dass die eigentliche minoische Religion keine Kultbilder, sondern nur die Epiphanie der Gottheit im Tanz kannte, war die These von Matz (1958). 220 VgI. die "Bergmutter" -+ I 3 Anm. 190 und die "sacra conversazione" -+ I 3 Anm. 183. 221 Evans PM II 277 u.ö.; Persson 1942; William K. C. Guthrie CAH II 2, 871; Dietrich 1974, 169-190. 222 Die vier thronenden Gestalten auf dem Modell von Kamilari (-+ 13 Anm. 23) werden als heroisierte
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Kurotrophos-Typ, nur in einem rohen und späten Exemplar,223 so dass die Benennung "Muttergöttin" ohne Fundierung bleibt. Dass überhaupt immer dieselbe Gottheit gemeint sei, hat besonders Nilsson energisch bestritten,224 und die Analogie aller anderen bronzezeitlichen Kulturen, einschließlich des durch die Entzifferung von Linear B gesicherten mykenischen Befunds, spricht für ihn. Auf Differenzierungen weisen schon die unterschiedlichen Befunde in den Höhlen von Kamares einerseits, von Arkalochori oder Psychro andererseits hin: dort agrarischer Bereich, hier kriegerische Macht. 225 Dass die sitzende Göttin auf Goldringen einmal Mohnstängel in der Hand trägt, ein andermal einen Spiegel,226 könnte belanglos sein; aber wenn von den nebeneinander aufgestellten Göttinnen von Gazi (Anm. 32) die eine Mohnkapseln als Kopfschmuck trägt, die andere Vögel und das Hörnersymbol, ist der Kontrast beabsichtigt. Auf Siegelbildern kommt eine Frauengestalt vor, die das Schwert oder den Speer führt, vom Löwen begleitet. 227 Unverwechselbar ist die "Schlangengöttin", die zu den Hausheiligtümern gehört; sie erscheint indes nur in Statuetten, nicht auf Bilddarstellungen. 228 Sehr merkwürdig ist die "Schildgottheit" von Mykene, gemalt als großer S-förmiger Schild, hinter dem Füße, Hände, ein Kopfhervorwachsen. Jetzt ist beim selben Heiligtum das Fresko einer Göttin mit Eberzahnhelm gefunden worden. 229 Goldblättchen aus einem Schachtgrab in Mykene stellen eine nackte Frau dar, die von Tauben umflattert ist: Die Assoziation mit Aphrodite ist unabweisbar;230 doch handelt es sich nur um ein Schmuckstück mit östlicher Ikonographie, nicht um ein Kultobjekt. Aus dem Osten übernommen ist auch das heraldische Schema der antithetisch gruppierten Tiere, zwischen denen eine "Herrin" oder ein "Herr der
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Tote (?) gedeutet. Einzigartig ist die Elfenbeingruppe aus Mykene, zwei Frauen mit einem Kind, die unwiderstehlich an die Eleusinischen Gottheiten (-> VI 1.4) erinnert; doch wurde sie auch als Teil eines Möbelstücks angesprochen: Alan J. B. Wace, JHS 59, 1939, 210-212; MMR 313; Vermeule 1964, 220, T. 38; Simon 1969, 94 f; Buchholz/Karageorghis 1971, Nr. 1280; Marinatos/Hirmer 1973, T. 242 f; so bleiben die Gruppen der Idole von Gazi und Karphi (Anm. 32/33) und die Figuren aus dem "Haus der Idole" in Mykene (I 3 Anm. 75). us of dols' in ykene PM II 556 f, Suppl. pI. XXI; 1II 469; MMR 301; GGR T. 14,3; Dietrich 1974, 110. MMR 286-288; 292; 389-406. -> I 3 Anm. 71. Goldring Mykene -> Anm. 21; Goldring aus Kreta Buchholz/Karageorghis 1971, Nr. 1385. PM I 505; II 793; MMR 349; 355 Abb. 165; GGR T. 18,4; eine Göttin mit Greif PM II 785; Marinatos/Hirmer T. 228; 234. Priesterin oder Göttin mit Beil -> I 3 Anm. 180. -> I 3 Anm. 111. Platte vom "Tsountas-Haus" (-> I 3 Anm. 127), PM 1II 135; MMR344; GGR T. 24,1; Vermeule 1974. 51 f; dazu Amethyst-Siegel British Museum, Kadmos 5, 1966, 107; vergleichbar die kleine Figur auf dem Goldring von Mykene (-> Anm. 204) und das "Palladion" auf der Gussform von Palaikastro, GGR T. 23,1. Zum "Schildkult" MMR 406-412; Siegel von Zakro -> I 3 Anm. 71; Göttin mit Helm -> I 3 Anm. 127. So bereits Heinrich Schliemann, Mykenae, Leipzig 1878, 209, Nr. 267/8, PM I 224; MMR 333; 397 f; GGR T. 23,3/4; die Assoziation mit der "Taubengöttin" von Knossos (-> I 3 Anm. 102) liegt dann nahe. Zum ikonographischen Typ Burkert 2003, 36.
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Tiere" erscheinen kann. 231 Auch die Darstellung einer Göttin im Boot ist von Fremdem, Ägyptischem, beeinflusst. 232 Prekär ist der Status männlicher Gottheiten im ikonographischen Befund. Jener Partner der Göttin (Anm. 220) kann als Gott oder als menschlicher Verehrer, als Priester und als König gedeutet werden. Wenn eine jugendliche Gestalt zwischen Kulthörnern steht,233 vor denen ein "Genius" die Libationskanne hebt, kann an göttliche Verehrung, aber auch an Initiation oder Königsweihe gedacht werden. Der "Herr der Tiere" (Anm. 48) ist ein übernommenes Motiv; die männliche Gestalt, die auf Siegelbildern neben einem Löwen oder Greifen einherschreitet,234 ist gewiss ein übermenschliches Wesen, doch könnte man zweifeln, ob sie lebendigem Kult oder erborgtem Mythos zugehört. Eindeutig ist das "Meistersiegel "von Kydonia/Chania, das eine übergroße Jünglingsgestalt über der Stadt zeigt, einen übernatürlichen, schützenden Herrscher. In Palaikastro schließlich fand sich eine Jünglingsfigur aus Elfenbein, bisher einzigartig. 235 Zu beachten sind auch Epiphanieszenen wie auf den Goldringen von Knossos und Pylos (Anm. 19; 22): die mit dem Speer in der Hand niederschwebende Figur ist sicher männlich. Hier offenbart sich ein Gott. Im übrigen ist zu bedenken, dass die Vorstellung und Verehrung eines Gottes nicht notwendig ein Kultbild fordert; die Höhenkulte brauchten keine Idole, und später bei den Griechen blieben die mächtigsten der männlichen Götter, Zeus und Poseidon, lange ohne Kultbild und Tempel. Das Überwiegen weiblicher Figuren ist uraltes Erbe. Ein polytheistisches Göttersystem in der minoischen Hochkultur ist nach allen bronzezeitlichen Analogien zu vermuten. Den eigentlichen Beweis freilich können nur sprachliche Zeugnisse bringen. Auf eine andersartige Gottesoffenbarung weist ein Bild auf einem Teller aus dem ersten Palast von Phaistos: 236 zwei tanzende Frauengestalten, zwischen denen eine dritte, ähnliche Figur, doch ohne Arme und Beine, mit vegetabilisch wirkenden Schlangenlinien besetzt - die auch an die "Schlangenröhren" erinnern - aus der Erde
231 MMR 357-68,383-8; GGR 308 f (p6tnios therön ist falsches Griechisch); Edith Spartz, Das Wappenbild des Herrn und der Herrin der Tiere, Diss. München 1964; Chryssanthos Christou, Potnia Theron, Thessaloniki 1968; Begriff und Eigenart der Potnia Theron wurden erstmalig von Franz Studniczka, Kyrene 1890, 153-65, herausgearbeitet. Vgl. Anm. 8; - III 1.6. 232 Bes. auf dem Mochlos-Ring, - I 3 Anm. 51; gefälscht der "Ring des Minos", - 13 Anm. 26. - Ein spätes Zeugnis auf Delos für diesen Darstellungstyp: L. Basch, BCH Suppl. 1, 1973,71-76. 233 Gemme von Kydonia, PM I 708; MMR 148, 400; GGR T. 19,6. - Als "Weihe" kann mujomeno PY Un 2 verstanden werden, Doc. Nr. 97, Gerard-Rousseau 146 f; Jorro I s.v. 234 Mit Löwe: MMR 354, GGR T. 18, 2; MMR 355 Abb. 164, GGR T. 18, 4; mit Greif: PM II 785. 235 Erik Hallager, The Master Impression, Göteborg 1985; Marinatos 1993, 172; Joseph A. MacGillivray, Jan M. Driessen/L. Hugh Sackett, The Palaikastro Kouros, Athen 2000. Zu männlichen Idolen in Mykene - I 3 Anm. 127. Umstritten bleibt das Geschlecht des Kopfes aus dem Heiligtum von Asine (- I 3 Anm. 108), Dietrich 1974, 151; männlich nach Nilsson MMR 114, Guthrie CAH II 2, 879; weiblich nach Vermeule 1974, 55; 57. 236 Matz 1958, 38, Abb. 25; Kerenyi 1967, XIX; 1976. Abb. 4, vgl. Abb. 5; Branigan 1970a, 136 und Abb. 29; Marinatos 1993, 149 fig. 120, dazu fig. 119.
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zu wachsen scheint. Sie ist einer großen, stilisierten Blume zugewandt; ganz ähnliche Blumen sprießen zwischen den Tanzenden auf dem Ring von Isopata. Der Gedanke an die blumenpflückende Persephone mit ihren Gefährtinnen drängt sich auf. Der zeitliche und lokale Kontext lässt an die Totenfeste der Mesara denken, an die Tänze im Bereich der Gräber, die wohl hauptsächlich stattfanden, wenn der große Bau zu neuer Benutzung geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Das packende mythische Bild von der "Anodos" der Herrin der Unterwelt, die vorübergehend sichtbar wird, könnte solchen Ritualen nahe stehen. Aus der subminoischen und geometrischen Epoche Kretas gibt es einige Tonmodelle von "Tempeln" ähnlich den europäischen Hausurnen: runde, topfartige, oben geschlossene Behältnisse mit großer, verschließbarer Tür; im Innern wird eine Göttin im Epiphaniegestus bis zur Hälfte ihres Körpers sichtbar. Eines der ältesten stammt aus dem Quellenheiligtum bei Knossos, das sich später in einem Demeter-Heiligtum fortsetzt. 237 Doch ist "Persephone" nur einer der möglichen Namen dieser aus der Tiefe erscheinenden Göttin.
3.6 Die mykenischen Götternamen Die Brandkatastrophen, die die minoischen und mykenischen Paläste endgültig zerstörten - Knossos um 1375, Theben um 1250, Mykene und Pylos um 1200238 - haben zugleich die Tontafeln der Archive hart gebrannt, so dass sie jetzt nach ihrer Entzifferuni 39 als Dokumente zu uns sprechen. Zwar sind es nur Listen, die im wesentli237 PM II 129; SMEA 15, 1972, T. 5,8; 12. Jahrhundert; Desborough 1972, 285; vgl. John N. Coldstream, Knossos. The Sanctuary of Demeter, London 1973; Caterina Mavriyannaki, Modellini fittili di costruzioni circolari dalla Creta Minoica, SMEA 15, 1972, 161-170; ein Exemplar aus Zypern: BCH 94, 1970, 27-33; erst aus dem 9. Jahrhundert stammt das oft abgebildete Modell von Archanes, Kret. Chron. 4, 1950, 445-448, EAA V 48 f; Rutkowski 1972,198, Abb. 79; Marinatos/Hirmer 1973, T. 144 f; Vermeule 1974, 25 f; Robin Hägg/Nanno Marinatos, The Giamalakis Model from Archanes, in: Musti 1991, 301-307. Deutung als Getreidespeicher: R. Nicholls, Auckland Classical Essays pres. to Edward M. Blaiklock, 1970, 16 f. Die europäischen Hausurnen sind später (hierzu Joseph Bergmann, Jungbronzezeitlicher Totenkult und die Entstehung der europäischen Hausurnensitte, Germania 51, 1973,54-72). 238 -+ 13 Anm. 17/8. 239 Michael Ventris/John Chadwick, Evidence for Greek Dialect in the Mycenaean Archives, JHS 73, 1953, 84-103; Doc. 1956; John Chadwick, The Decipherment ofLinear B, Cambridge 1958 (Linear B, Entzifferung der mykenischen Schrift, Göttingen 1959); Anna M. Davies, Mycenaeae Graecitatis Lexicon, Rom 1963; Jorro 1985/1993. Die Texte: Knossos: John Chadwick et al., Corpus of Mycaean Inscriptions from Knossos I-IV, Cambridge 1987-1999; John T. Killen/Jean-Pierre Oliver, The Knossos Tablets, Salamanca 19895 ; Chania: Erik Hallager/Maria Vlasakis/Birgit P. Hallager, The first Linear B tablet(s) from Khania, Kadmos 29 (1990) 24-34; New Linear B Tablets from Khania, Kadmos 31 (1992) 61-87; Louis Godart/Yannis Tzedakis, Les nouveaux textes en lineaire B de La Canee, RFIC 119 (1991) 129-149; Mykene: Anna Sacconi, Corpus delle iscrizioni in Lineare B di Micene, Rom 1974; Jose L Melena/Jean-Pierre Olivier, TITHEMI, Salamanca 1991; Pylos: Emmett
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chen Namen und Zahlen enthalten, doch unter den Namen trat sogleich eine Reihe der später geläufigen griechischen Götternamen hervor. Ein reiches, differenziertes polytheistisches Göttersystem ist damit für die mykenische Religion auf jeden Fall gesichert. So enthält eine Tafel aus Knossos240 die einfache Aufzählung: Atanapotinija, Enuwarijo, Pajawone, PosedaConel, lauter Dativformen: "Für die Herrin von At(h)ana, für Enyalios, für Paiaon, für Poseidaon". Eine andere 241 bestimmt: "Amnisos: für Eleuthia (Ereutija) 1 Amphore Honig; für Alle Götter 1 Amphore Honig; für ... 1 Amphore Honig". Eine dritte242 verzeichnet Öllieferungen: "Im Monat Deukios, für Zeus (?) Diktaios, ins Daidaleion, für ... , für Alle Götter, für ... ; Amnisos, für Alle Götter, für Erinys, für ... , für die Priesterin der Winde". Aus dem Palastarchiv von Pylos ist das wichtigste Dokument243 eine lange Liste, die die "Absendung" (ijetoqe) von Gaben, nämlich goldenen Gefäßen und Frauen bzw. Männern, an eine ganze Reihe von Heiligtümern und Göttern verzeichnet: für die "Herrin" "in Pakijana", für Manasa, Trisheros,244 Dopota; "ins Poseidon-Heiligtum; ... ins Ipemedeja-Heiligtum, ins Diwija-Heiligtum" mit Gaben für Ipemedeja, Diwija und Emaa2 Areja - einen "Hermas Areias"?, ferner "ins Zeus-Heiligtum, für Zeus, Hera, Drimios den Sohn des Zeus", wobei für Zeus ein Mann, für Hera eine Frau abgeordnet wird. In einer neu gefundenen Tafel aus Chania (Kydonia) werden Honig-Gaben "für Zeus" und "für Dionysos, ins Zeusheiligtum" angeordnet (Anm. 261; 239).
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L. Bennett/Jean-Pierre Olivier, The Pylos Tablets Transcibed I, Rom 1973; Carlo Gallavotti/Anna Sacconi, 1nscriptiones Pyliae, Rom 1961; Tiryns: Tiryns Vlll, 1975,37-53; AA 1979,450-458; Theben: Theodoros G. Spyropoulos/John Chadwick, The Thebes Tablets Il. Minos Suppl. 4, 1975; Aravantinos et al. 2002. Ein Kiesel mit Linear-B-Zeichen, gefunden bei Olympia, datiert ins 17. Jahrhundert, Louis Godart, Una iscrizione in lineare B del xvii secolo a.C. ad Olimpia, Rend. dell'Accademia di Lincei Sero 9,6, 1995, 445-447, wird verdächtigt. Zur überreichen Spezialliteratur sei verwiesen auf Ernst Grumach, Bibliographie der kretisch-mykenischen Epigraphik, München 1964, Suppl. I, 1967; Heubeck 1966; Stephan Hiller/Oswald Panagl, Die frühgriechischen Texte aus mykenischer Zeit, Darmstadt 1976; Anna M. Davies/Yves Duhoux (Hrsg.), Linear B: A 1984 Survey, Louvain-la-Neuve 1985; Birgitta Eder, Staat, Herrschaft, Gesellschaft in frühgriechischer Zeit. Eine Bibliographie 1978-1991192, Wien 1994; Bryan Feuer, Mycenaean Civilization. A Research Guide, New York 1996; Paola Dardano, Decennio di studi micenei. Rassegna biliografica (1990-1997), Rom 2000; Antonin Bartonek, Handbuch des mykenischen Griechisch, Heidelberg 2003; Duhoux/Davies 2008. Zur Religion in Linear B-Texten: Luigia A. Stella, La religione greca nei testi micenei, Numen 5, 1958, 18-57; William K. C. Guthrie, Early Greek Religion in the light of the decipherment ofLinear B, B1CS 6, 1959,75-46; Gerard-Rousseau 1968; Vermeule 1974,59-73; Chadwick 1985; Francisco R. Adrados in: Gianfranco Maddoli (Hrsg.), La civilta micenea. Guida storica e critica, Bari 21992, 115-140. Zu den neuen Theben-Texten Thomas G. Palaima, Minos 35-36,2000-2001,475-486; Comelis J. Ruijgh, Mnemosyne 56, 2003, 219-228. KN V 52 = Doc. Nr. 208. KN Gg 705 = Doc. Nr. 206; Gerard-Rousseau 1968, 101. Der Name der Göttin lässt sich rein griechisch verstehen, als die, "die kommt", Alfred Heubeck, Kadmos 11, 1972,87-95. --+ 13 Anm. 66. KN Fp 1 = Doc. Nr. 200; Gerard-Rousseau bestreitet die Lesung Diwe. PYTn 316 = Doc. Nr. 172; Heubeck 1966.100-103; Vermeule 1974, 63 f. Bengt Hemberg, Tripator und Trisheros, Eranos 52, 1954, 172-190; Gerard-Rousseau 1968, 222224.
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Bekanntes und Unverständliches kreuzt sich in merkwürdiger Weise. Einige Namen scheinen genau mit dem späteren griechischen Sprachgebrauch übereinzustimmen, wie Zeus und Hera, Paiaon und Enyalios, Poseidaon einschließlich des Details, dass sein Heiligtum Posidaion - mit kurzem i-heißt; einige stehen in nicht ganz klarem Zusammenhang mit später Bezeugtem: Ipemedeja gleich Iphimedeia?245 Hermes, Ares?246 Daneben steht ganz Unbekanntes, wie Manasa oder Drimios der Sohn des Zeus. 247 Dabei sind die Verhältnisse in Knossos und in Pylos unterschiedlich; gemeinsam sind nur die Götter Zeus, Poseidon, Dionysos und der allgemeine Titel P6tnia, "Herrin", wohl für im einzelnen jeweils differenzierte Göttinnen. Nach Zeus ist in Knossos ein Monat benannt, Diwios; "Zeus Diktaios" ist infolge Beschädigung der Tafel nicht sicher zu lesen (Anm. 5). Zum "Zeus-Heiligtum" in Pylos gehört wohl auch ein mehrfach genannter diwieu, was als "Zeuspriester" verstanden werden kann. 248 In Pylos steht Hera neben Zeus, offenbar bereits als seine Gattin im selben Heiligtum, wobei aber ein rätselhafter Drimios als Sohn erscheint. In Kydonia wird Dionyos "im Zeusheiligtum" zusammen mit Zeus verehrt (Anm. 24). Poseidon tritt in Pylos weit mehr noch als Zeus in den Vordergrund - man denkt an das große Poseidon-Opfer Nestors in Pylos, das in der Odyssee geschildert wird. 249 Poseidon hat sein Heiligtum, das Posidaion, offenbar in der Stadt; es erhält regelmäßige Abgaben, was vermuten ließ, dass dort der Staatsschatz verwahrt war. Für Poseidon wird auch eine spezielle Zeremonie angeordnet, ein "Bereiten des Betts" (reketoroterijo, Lechestroterion),250 wobei auch Öl für Libationen gebraucht wird. Man kann kaum umhin, an ein Fest der Heiligen Hochzeit zu denken. Im Dienste Poseidons steht anscheinend eine Mehrzahl von Posidaiewes, Mitglieder eines Kultvereins. Auffallend und fremdartig ist, dass außer Zeus auch eine Göttin Diwija, außer Poseidon auch eine Göttin Posidaeja verehrt wird, mit je eigenem Kult und Kultort, Diwija in einem speziellen Heiligtum, Posidaeja in Pakijane. Das Auftreten einer ganzen Reihe von Göttinnen, die den Titel P6tnia, "Herrin", führen, bestätigt die besondere Rolle weiblicher Gottheiten, die aus den Bilddarstellungen zu entnehmen war. 251 P6tnia schlechthin wird in Pylos die Göttin des Haupt245 Zu erwarten wäre 'wipimedeja; Gerard-Rousseau 1968, 116-118. 246 e-ma-a z ~ Hermes ist unbedenklich, Alfred Heubeck, Gnomon 42, 1970, 812, gegen Gerard-Rousseau 1968,85-88; ein neues Zeugnis aus Theben, TH 0f31,3. Zu Ares (a-re KN Fp 14+27+28 ~ Doc. Nr. 201; Personenname Areimenes in Theben, -.. Ein!. 2 Anm. 18) Gerard-Rousseau 1968, 38 f.; Alfred Heubeck, Athenaeum 47, 1969, 144 f; Die Sprache 17, 1971, 147; Gnomon 42, 1970,814. 247 Man hat damit die Dreiheit Zeus-Hera-Dionysos Kemelios bei Alkaios 129 Voigt verglichen, Carlo Gallavotti RFIC 34, 1956, 223-236; Luigia A. Stella pp 11, 1956,321-334; Kerenyi 1972, 23 f. Hera erscheint auch in Theben mit rätselhaftem Beinamen, era Keoteja Of 28, 2. - Auch andere sichere Götternamen sind später verschollen, wie pade, dopota, qerasia; vgl. Anm. 33. 248 Alfred Heubeck, Die Sprache 9, 1963, 198; SMEA 11, 1970,69. 249 Od. 3,4-66 (-.. III 1 Anm. 114); Gerard-Rousseau 1968, 181-185; Vermeule 1974,62. 250 PY Fr 343; Gerard-Rousseau 1968, 201-203. 251 John Chadwick, Potnia, Minos 5, 1957, 117-129; Laffineur/Hägg 2001. -.. I 3 Anm. 221.
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heiligtums Pakijane genannt252 - dessen archäologisch-geographische Identifizierung nicht zu sichern ist. In Theben werden Abgaben "ins Haus der Potnia" gesandt. 253 Meist sind die "Herrinnen" indes durch eine Zusatzbezeichnung individualisiert und voneinander unterschieden. In Knossos lassen die Titel P6tnia von At(h)ana254 und P6tnia des Labyrinths aufhorchenj doch lässt sich nicht klären, ob hier ein Zusammenhang mit der Stadt Athen besteht und was mit dem "Labyrinth" gemeint ist. In Pylos ist eine "Herrin der Pferde", Potnija iqeja, auf einer Tafel genannt, die im Arsenal am Innenhof des Palastes gefunden wurdej255 gleich daneben befindet sich das kleine, auf den Altar im Hof ausgerichtete Heiligtum, das sich damit dieser Göttin zuweisen lässt. Fünf weitere, in Namen und Funktion unsichere "Herrinnen" sind in Pylos bezeugt, in Mykene zusätzlich eine "Speise-Herrin", sitopotinija. 256 In Knossos schlägt die Bezeugung der Eleuthia in Amnisos (Anm. 4) die Brücke zum archäologischen Befund in jener Höhle mit den idolartigen Tropfsteingebildenj dabei scheinen der Name wie auch der Kult einen Neuansatz gegenüber dem Minoischen zu markieren. Paiaon heißt bei den Griechen Tanz und Lied mit bestimmtem Rhythmus, dem entsühnende und heilende Kraft eignet, sowie der in diesem Lied präsente Gott, der mit Apollon gleichgesetzt wirdj257 die göttliche Epiphanie in Tanz und Lied fügt sich gut zu dem, was die minoischen Bilddarstellungen ahnen lassen. Erinys, in der Einzahl, erinnert eher an die Demeter Erinys in Arkadien, die Mutter des Pferds Areion, 258 als an den Bund der rächenden Furien. Ares und Enyalios, Doppelgänger fast als Kriegsgottheiten im späteren Griechisch, erscheinen beide in Knossischen Dokumenten, während in Pylos "Hermaas Areias" und ein Personenname Areios sowie in Theben ein Areimenes bezeugt ist (Anm. 246). Pylos kennt auch eine "Göttliche Mutter" (matere teija - Dativ),259 zu verstehen als "Mutter der Götter", ferner Artemis,260 in Kydonia und Pylos aber erscheint, was als größte Sensation betrachtet wurde, Dionysosj hinzugekommen ist später das Zeugnis aus Chania-Kydonia. Dort erhält Dionysos Honiggaben "ins Zeusheiligtum"j in Pylos ist ein "Herd des Dionysos" erwähnt. 261 Zu bedenken ist, dass das älteste, Ioniern und 252 Zu Pakijane Louis Deroy, Rev. internat. d'onomastique 16, 1964,89-103. Möglich ist eine Lesung 'sphagianes und Assozation mit Sphakteria. 253 Potinija wokode TH Of 36.2; woikos könnte, im Kontrast zu do "Haus", auch "Wohnbezirk" heißen: "an industrial unit" Leonard R. Palmer, Gnomon 48, 1976, 443 f. 254 So, wahrscheinlich nicht direkt "Herrin Athena", vgl. Heubeck 1966, 99; Gerard-Rousseau 1968, 44-47. - Zum Labyrinth --i> 13 Anm. 41; 58. 255 PY An 1281; Gerard-Rousseau 1968, 118-120. --i> I 3 Anm. 107; 46. 256 MY Oi 701. 704; Gerard-Rousseau 1968,206 f. 257 ...... I 3 Anm. 142; 202/3; 1II 1 Anm. 222/3. 258 Paus. 8,25,6 ....... 13 Anm. 127; III 1 Anm. 146. 259 PY Fr 1202. 260 Skeptisch Gerard-Rousseau 1968, 46 f; Christiane Sourvinou, Kadmos 9, 1970, 42-47; dagegen Heubeck, Gnomon 42, 1970,811 f; T. Christidis, Kadmos 11, 1972, 125-128. 261 Pylos Xa 102, Xb 1419, Docs. 127; Gerard-Rousseau 1968, 74-76. Chania --i> Anm. 239; Thomas G. Palaima in: Die Geschichte der Hellenischen Sprache und Schrift (Altenberg 1996) 205-222. Ein neuer joint (PY Ea 102 + 107) ergibt für Pylos Diwonusojo ekara ~ "Herd des Dionysos", Melena 2001,
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Attika gemeinsame Dionysos-Fest das Weinfest der Anthesterien ist. Hinzu kommt die Kultkontinuität im Tempel von Keos, wo im 15. Jahrhundert tanzende Frauen die Erscheinung des Gottes erwarten, in archaischer Zeit aber Weihungen an Dionysos dargebracht werden; weintrinkend tanzen Frauen Athens vor der Maske des Gottes, vielleicht am Anthesterienfest. Die neuen Texte aus Theben haben zu einer bisher ungelösten Kontroverse geführt. Die Herausgeber haben schon im Voraus einen Text bekannt gemacht, in dem sie ma-ka, kowa, Di-we o-po-re-i (Dativ) als "Mutter Erde" (md gd), "Kore" und "Ernte-Zeus" (Oporeus, zu opora) verstanden,z62 im Sinn einer quasi-eleusinischen Dreiheit. Dagegen haben sich Kritiker gewandt, die den religiösen Kontext der Tafel überhaupt bestreiten. 263 Eine baldige Klärung ist kaum zu erwarten. In Knossos sind mit einer Ausnahme nur "Priesterinnen" bezeugt, was dem Vorrang des weiblichen Elements in der Minoischen Religion entsprechen dürfte. Insbesondere gibt es eine "Priesterin der Winde". In Pylos tritt häufiger auch ein Priester (ijereu) auf. 264 Das verwendete Wortbildungs suffix pflegt Beruf und Herkunft zu bezeichnen; Priester, Hiereus, zu sein bedeutet also im Mykenischen nicht vorübergehende Funktion, sondern voll amtliche Lebensstellung. Es gibt wohlorganisierte Heiligtümer einzelner und mehrerer Götter; das "Haus der Potnia" in Theben (Anm. 16) muss doch wohl Tempelstatus haben, was mit der Deutung eines Titels in Pylos, karawipora, d.i. klawiphora "Schlüsselträgerin", zusammengeht. 265 Ganz fremdartig vom Späteren her gesehen, doch wohl mit Orientalischem vergleichbar ist die Institution von "Gottessklaven".266 Während in Knossos nur ein "Sklave der Götter" (teo doero) bezeugt ist, sind in Pylos mehr als 100 "Sklaven" und "Sklavinnen der Gottheit" (teojo doero bzw. doera) bekannt; 45 gehören zum heiligen Bezirk von Pakijane; es gibt auch einen "Sklaven der Diwija" und eine "Sklavin der Diwija", auch einen "Sklaven der Artemis" (?). Diese Leute sind, wie auch der "Sklave der Priesterin", keine gewöhnlichen Leibeigenen. Sie werden stets mit Namen genannt, sie haben eigenen Grundbe-
36 f. Zu Keos ~ I 3 Anm. 124; Anthesterien ~ V 2.4. 262 Aravantinos et al., 2001/2002: TH Fq 121. Dazu schon Vassilis Aravantinos/Louis Godart/Anna Sacconi, Sui nuovi testi deI palazzo di Cadmo a Tebe, Atti ... Lincei, Rendiconti 392, 1995, 1-37 u.ö; ma ga erscheint bei Aiseh. Hik. 890; 899. 263 Thomas Palaima, Minos 35/6, 2000/1, 475-86; Minos 37/8, 2002/3, 173-253; dagegen Vassilis Aravantinos/Louis Godard/ Anna Sacconi, Kadmos 42, 2003, 15-30; dagegen Palaima, Kadmos 42, 2003, 31-38; AJA 107, 2003, 113-115; id. in Sigrid Deger-Jalkotzy/Oswald Panagl (Hrsg.), Die neuen Linear B-Texte aus Theben, Ak. Wien 2006, 139-148; Yves Duhoux, Adieu au ma-ka cnossien, Kadmos 45,2006, 1-19. 264 anemo ijereja KN Fp (1) 1; 13; Roland Hampe, Kult der Winde in Athen und Kreta, SB Heidelberg 1967, 1. ~ III 2 Anm. 74-78; ijereu Gerard-Rousseau 1968, 109-111; Michel Lejeune, Memoires de philologie mycenienne II, Rom 1971, 85-93; Francisco R. Adrados, Les institutions myceniennes, Acta Mycenaea, Salamanca 1972, I 170-202. 265 Gerard-Rousseau 1968, 123-25; Vermeule 1974, 71 f. 266 Gerard-Rousseau 1968, 76-78; Klaus Wundsam, Die politische und soziale Struktur in den mykenisehen Residenzen nach den Linear-B-Texten, Diss. Wien 1968, 169-179.
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sitz, werden also rechtlich eher wie Freie behandelt. Was die Bindung an die Gottheit für sie bedeutet und wie sie zustande kam, ob durch Selbstdedikation, durch sakrale Freilassung, darüber gibt das Material bisher keine Auskunft. Die wirtschaftliche Bedeutung eines Heiligtums wie Pakijane mit seiner Anhäufung von Reichtum, seinen Priestern und Gottessklaven muss bedeutend gewesen sein. Über den ökonomischen Aspekt hinaus lassen die Tafeln nur wenig erkennen. Öl und Honig werden dargebracht, Gewänder werden gesalbt (?), Räucherwerk ist bekannt. 267 Es gibt Feste, deren Bezeichnung ganz dem späteren griechischen Typ der Festnamen entspricht, neben dem "Bettbereiten" (Anm. 13) auch ein Fest des "Umherziehens des Throns" in Pylos,268 ein Fest des "GottTragens", Theoph6ria, in Knossos. 269 Einmal werden für Poseidon oder vielmehr für eine unbekannte Gottheit Pere_82 270 - der Schreiber hat korrigiert - Rind, Schaf und Schwein bestimmt: 271 Hier wird ein "Suovitaurilienopfer" anberaumt, wie es dann Griechen und Römern geläufig ist. Eine Liste aus Pylos272 führt als Gaben "für Poseidaon" auf: Weizen, Wein, einen Stier, zehn Käse, ein Widderfell, Honig, dann Weizen, Wein, zwei Widder, fünf Käse, Öl, ein Widderfell; nochmals zwei Widder, Korn, Wein; Korn, Wein, fünf Käse, Honig. Nicht nur die Zusammenstellung, sondern gerade die Reihenfolge entspricht griechischen Kultvorschriften: Erst ein vegetabilisches Voropfer - Körner oder Kuchen -, dann eine Libation, das Tieropfer, unblutige Zugaben, das Vlies wohl zur "Reinigung". Es gab also in Pylos ein Opferritual, das in wesentlichen Punkten dem späteren griechischen Kultus entsprach, so gut wie der Göttername Poseidon sich erhielt. Auch der bezeichnende griechische Ausdruck für ein religiöses Verbot, ou themis, scheint aufzutauchen. 273 267 Ein tuweta, thyestas, PY Un 267, vielleicht in profanem Zusammenhang; vgl. zu "onguents, parfums, condiments" Michel Lejeune, REG 72, 1959, 139-45; 1. Erard-Cerceau, Vegetaux, parfums et parfumeurs a l'epoque mycenienne, SMEA 28 (1990) 251-285. 268 tonoeketerijo PY Fr 1222; Heubeck 105; Giannes K. Promponas, The Athenian Festival Thronoelkteria (to-no-e-ke-te-ri-jo) and its survival into Historical Times, Athen 1974. Vgl. kleine Tonmodelle eines Throns mit Göttin: Hans-Günter Buchholz, Zur Herkunft der kretischen Doppelaxt, München 1959, 17 m. Abb. 4. 269 KN Ga 1058. Weitere vermutliche Festnamen sind porenozoterija, sapakateria (sphakteria), porenotute[rija], turupterija, keseniwija ( = xenia); zum "Kalender" KN V 280 = Doc. Nr. 207 Leonard R. Palmer, Gnomon 48, 1976, 442. Vgl. zu den Monatsnamen Catherine Trümpy, SMEA 27, 1989, 191 ff und Trümpy 1997, 2 f. 270 Gelesen Peresa oder Perea" meist entweder als peleid "Taube" oder aber als Vorform der Persephone gedeutet, Giovanni Pugliese Carratelli, Stud. dass. e or. 7, 1958, 20-26; Martin Sanchez Ruiperez, Minoica, Festsehr. Johannes Sundwall, 1958, 359-364. 271 PYUn 6+1189+1250, Monique Gerard-Rousseau SMEA 13,1971,139-42; Vermeule 1974,68. ---i> V 3 Anm. 82. 272 PY Un 718 = Doc. Nr. 171; Vermeule 1974, 68. Zum Käse ---i> III 1 Anm. 289, zum Vlies ---i> II 1 Anm. 96; II 4 Anm. 37-39. 273 Gerard-Rousseau 1968, 158 f. Der Opferpriester heißt ijerowoko d.i. hieroworg6s, PY Ep 613.7. Auf Libationen hat man keupoda, cheusp6ndas?, bezogen Gerard-Rousseau 1968, 131 f; sakraler Zusammenhang steht nicht fest, so wenig wie bei prochod und epichod (porokowa, epikowa), Gerard-Rousseau 1968,91.
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Die religiöse Organisation erscheint mit der Palastverwaltung auf das engste verflochten. Über ein spezielles Verhältnis des Königs - sein Titel ist Wdnax - zu den Göttern, über ein eventuelles Gottkönigtum ergeben sich keine sicheren Aufschlüsse. 274 Alles deutet auf eine Beziehung gegenseitigen Gebens und Nehmens. Man hat festgestellt, dass die große Tafel mit der "Entsendung" von Goldgefäßen und Menschen, der Aufzählung so vieler Heiligtümer, (Anm. 6) offensichtlich in großer Hast geschrieben ist: Es ist verlockend, sich auszumalen, wie hier in den letzten Tagen des Palasts von Pylos der Herrscher, vielleicht schon im Angesicht feindlicher Übermacht, einen letzten Versuch unternahm, durch reichste Geschenke die Götter gnädig zu stimmen. Die Pylische Götterwelt scheint durch verschiedene sich überlagernde Beziehungen strukturiert. Es gibt zumindest Ansätze zu einer mythischen Götterfamilie: Zeus, Hera und Drimios, der Sohn des Zeus; eine Mutter der Götter. Daneben stehen die durch ihren Namen gekoppelten, aber offenbar getrennt verehrten Paare Zeus Diwija, Poseidaon - Posidaeja. Die gemeinsam mit dem Titel Potnia bedachten Göttinnen sind nicht durch Namen, jedoch durch ihren Wirkungsbereich differenziert. In Knossos sind Darbringungen für "Alle Götter" häufig, die weder durch ihre Stellung noch durch ihre - bescheidene - Quantität von den Gaben für Einzelgötter abgehoben sind; sie sollen wohl in der Vielfalt der Götter die Vollständigkeit der religiösen Pflichterfüllung garantieren. Eine direkte Beziehung zwischen dem in den Namen gegebenen Göttersystem und den Bilddarstellungen und Idolen lässt sich vorläufig nicht herstellen. Die Götterwelt ist reicher und differenzierter, als die Bilddarstellungen ahnen lassen; dies stützt entscheidend die Vermutung, dass auch schon die minoische Religion einem Polytheismus, nicht einem Quasi-Monotheismus der "Großen Göttin" huldigte.275 Umgekehrt erscheint von so ausdrücklichen Besonderheiten wie der "Schlangengöttin" oder den heiligen Bäumen bisher nichts in unseren Texten. Die Mykenischen "Genien" bleiben so namenlos wie die abschreckenden Statuetten von Mykene. Überraschende Übereinstimmungen mit dem späteren griechischen Befund stehen neben ganz Unverständlichem. Die griechische Religion ist in der minoisch-mykenischen Epoche verwurzelt und doch nicht mit dieser gleichzusetzen.
274 Umstritten ist die Bedeutung von wanasoi, wanasewijo, was man mit "Königin" (wanassa) oder "Zwei Herrinnen" assoziierte, Gerard-Rousseau 1968, 238-242; Heubeck, Gnomon 42, 1970,812 f. 275 ->- I 3 Anm. 221.
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4 Die "Dunklen Jahrhunderte" und das Problem der Kontinuität Der durch den Seevölkersturm um 1200 ausgelöste Zusammenbruch lässt Griechenland samt Kreta für mehr als 400 Jahre in die Schriftlosigkeit und damit auf prähistorisches Niveau zurückfallen. "Dunkel" sind diese Jahrhunderte auch durch den Rückgang sonstiger Relikte. Große Stein-Architektur hat aufgehört, ebenso die Bildkunst und die Plastik, selbst schlichte Tonplastik fehlt eine Zeitlang. An einem starken Rückgang der Bevölkerungszahl ist kaum zu zweifeln.! Im einzelnen freilich ist das Bild zu differenzieren. Der Zusammenbruch am Anfang des 12. Jahrhunderts trifft die Peloponnes und Mittelgriechenland, während Ostattika und die Inseln zunächst nicht betroffen sind; zu einem Rückzugsgebiet mykenischer Kultur wird vorübergehend die Landschaft Achaia im Norden der Peloponnes, wo offenbar die Selbstbezeichnung der mykenischen Achaioi fortlebt. Nach Ausweis der Dialektgeographie zogen sich Teile der alten Bevölkerung nach Arkadien zurück, andere wanderten nach Zypern aus. Die achäische Zuwanderung auf Zypern um 1200 ist auch archäologisch fassbar geworden. 2 Damit beginnt dort eine eigentliche Blütezeit, die noch über das 12. Jahrhundert hinausreicht. Das Erstaunlichste ist die Anlage großer Tempel, wie es sie nirgends zuvor im griechischen Raum gegeben hatte, mit eindrucksvollen, großen Bronzestatuen - nicht umsonst hat Zypern dem Kupfer den Namen gegeben. So gibt es in Enkomi das Zentral-Heiligtum des "gehörnten Gottes"3 und das des "Gottes auf dem Kupferbarren",4 in Kition das Heiligtum des "Schmiedegottes";5 und Reste großer Steinarchitektur in Paphos bezeugen die Anlage jenes Heiligtums, das dann als das maßgebende und wichtigste Heiligtum der Aphrodite bis in die Spätantike bestand; die Göttin war dort durch einen großen schwarzen Stein dargestellt, der erhalten ist. 6 Das mykenische Erbe ist am auffallend-
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- I 3 Anm. 18; Per Alin, Das Ende der mykenischen Fundstätten, Lund 1962; Desborough 1964; - 1972; Snodgrass 1971; Anne Schnapp-Gourbeillon, Aux origines de la Grece (XIIIe-VlIe siedes avant notre ere), Paris 2002; Prent 2005; Deger-Jalkotzy/Lemos 2006; Oliver Dickinson, The Aegean from Bronze Age to Iron Age. Continuity and change between the twelfth and eighth centuries B.C., London 2006; Susan H. Langdon, Art and Identity in Dark Age Greece, 1100-700 B.C.E., Cambridge 2008. Desborough 1964, 196-205; Porphyrios Dikaios, Enkomi 1I, Mainz 1971,519-521; F. G. Maier, Acts of the international archaeological Symposium "The Mycenaeans in the Eastern Mediterranean", Nicosia 1973, 68-79. AA 1962, 1-39; BCH 86, 1962,395 f; 87, 1963,371; Enkomi I, 1969,295; II, 171,527-530; Vermeule 1974, 159 f; Buchholz/Karageorghis Nr. 1740. BCH 88, 1964,353-356, T. 16; Alasia 1, 1971, 151-362; CRAI 1973, 223-246; AA 1974, 370; Buchholz/Karageorghis Nr. 1741. BCH 97, 1973, 648-653; 98, 1974, 865-870; Vasos Karageorghis, CRAI 1973, 520-530; Kition, Mycenaean and Phoenician. Proc. Brit. Acad. 59, 1973,259-582; CRAI 1976, 229-245. Die Bezeichnungen "Heiligtum des gehörnten Gottes", "des Schmiedegottes" dienen der praktischen Unterscheidung; welcher Gott oder welche Götter tatsächlich verehrt wurden, liegt im Dunkeln. F. G. Maier, AA 1975, 436-446; 1977, 275-285; 1978, 309-316. Der Stein: Tac. Hist. 2,21 (meta); Servo Aen. 1,720 (umbilicum, meta); falsch "weiß" Max. Tyr. 8,8. Abbildung: Sophodis Sophodeous,
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sten in der Verwendung der großen Kulthörner7 zum Schmuck der Altäre in Kition, in Paphos, am monumentalsten an der Opferstätte von Myrtou-Pigadhes. Das wichtigste Ereignis der "Dunklen Jahrhunderte" ist durch die halbmythischen Erinnerungen der Griechen und durch das Ergebnis der Dialektverteilung bekannt, auch wenn seine archäologischen Spuren nicht eindeutig fassbar sind: 8 die "Dorische Wanderung", der Vorstoß nordwestgriechischer Stammesgruppen nach Mittelgriechenland und in die Peloponnes, die sich zu Herren über die ansässige Bevölkerung aufschwangen; nur Attika blieb ausgespart. Im Zusammenhang damit steht die Auswanderung von Gruppen der vordorischen "Ionier" {Iawones/lones} über die Inseln hin zur kleinasiatischen Küste,9 konkurrierend mit Äolern im Norden und Doriern im Süden. Die historische Komplexität dieser Bewegungen, bei denen vermutlich kleine Verbände wechselnd miteinander und gegeneinander operierten, lässt sich weder vom Mythos noch von der Archäologie her im einzelnen aufklären. Dorische Splittergruppen gelangten sehr früh bis Pamphylien jenseits von Zypern, während sich in Amyklai gegenüber von Sparta offenbar eine Zeitlang ein nichtdorisches, quasi-mykenisches Königtum behaupten konnte. IO Nach den von Not und Gewalt gekennzeichneten Veränderungen tritt dann eine Beruhigung ein; der Neuansatz des eigentlichen Griechischen, der "protogeometrische Stil", geht um 1050 von Athen aus, der Stadt, die den äußeren Umwälzungen widerstanden hatte. Die Kontinuität der Bevölkerung im griechischen Raum trotz aller heftigen Veränderungen ist schon durch die Sprache gesichert. Auch viele Ortsnamen haben ihre Identität bewahrt: Namen wie Knossos, Amnisos, Phaistos, Pylos und Theben erscheinen ja schon in den Linear-B-Texten. Freilich gehört der Name Pylos jetzt zu einer Hügelsiedlung am Meer, zehn Kilometer südlich des "Nestor-Palasts", und Orte wie Gla in Böotien bleiben überhaupt unbesiedelt. Im religiösen Bereich zeugen die Götternamen am eindeutigsten für Fortbestand nicht nur vager Erinnerungen, sondern lebendigen Kults. Allerdings lebt offenbar nur etwa die Hälfte der mykenischen
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Atlas des representations Chypro-Archaiques des Divinites, Gäteborg 1985, pI. I 1. - Das Heiligtum von Ayia lrini auf Zypern wird nach 1050 erneuert, wobei das Tieropfer prominent wird; die sehr zahlreichen Votivfiguren sind auf einen großen runden Stein hin ausgerichtet, der offenbar die Gottheit vertritt, Swedish Cyprus Expedition II, 1935, 642 ff, 820-824. BCH 97, 1973, 653; zu Myrtou-Pigades BCH 94, 1970, 299; Joan du Plat Taylor, Myrtou-Pigadhes, A Late Bronze Age Sanctuary in Cyprus, Oxford 1957; M. Loulloupis, Mycenaean "Horns of Consecration" in Cyprus, Acts of the intern. arch. Symp. 1973 (--+ Anm. 2), 225-244. Nicholas G. L. Hammond, CAH II 2678-712. Desborough 1972, 107-111 mächte die submykenische Stufe als "dorisch" ansprechen; dagegen Snodgrass 1971, 117, 311 f u. pass. VgI. auch Dietrich 1974, 196-217. Die Generationenrechung der spartanischen Herakliden führt auf etwa 1000 v. Chr., Burkert 2001, 228. Michael B. Sakellariou, La migration grecque en Ionie, Athen 1958; doch zumindest in Milet ist griechische Ansiedlung bereits in der Bronzezeit sicher, bezeugt auch durch Linear B-Schriftfunde, Wolf-Dietrich Niemeier in Alexandra Villing, The Greeks in the East, London 2005, 1-36. Franz Kiechle, Lakonien und Sparta, München 1963, 39-54.
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Götter weiter, die andere Hälfte ist verschollenY Dass Götterfeste und in Verbindung damit der Grundstock des Kalenders in die Zeit vor der Besiedlung Kleinasiens zurückreichen, zeigt die Gemeinsamkeit der athen ischen mit den ionischen, auch mehrerer äolischer mit dorischen MonatsnamenY Typisches Kultgerät der mykenisehen Epoche wie die Schlangenröhren, die nun allerdings auf den Totenkult spezialisiert sind, oder die kernoi ist weiter im GebrauchP Vor allem führt die im 8. Jahrhundert wieder einsetzende Plastik die mykenische Ikonographie fort: Die ältesten Exemplare zeigen Götter im "Epiphaniegestus" der beiden erhobenen Hände; selbst eine "Schlangengöttin" in dieser Haltung ist in Athen zu finden. 14 Offenbar hat man einige mykenische Idole über Jahrhunderte wohl verwahrt, gewiss nicht bloß als Besitztu~ oder Schaustück, sondern im Rahmen eines schlichten, keine archäologischen Spuren hinterlassenden Kults. Vor allem auf Kreta und Zypern stehen Altes und Neues unmittelbar nebeneinander und gewiss auch in Berührung miteinander. Die Bergstadt Karphi mit ihrem Heiligtum, mit den großen Götterstatuen, wird als Flüchtlingsstadt der Minoer angesehenY Im Vordringen sind die Städte der Dorier. Einer der ältesten ausgegrabenen Tempel, der von Dreros,16 knüpft in seiner Einrichtung unmittelbar an die minoischen Hausheiligtümer an: eine Bank am Ende des Raums, auf der Idole und Gefäße aufgestellt waren. Im Zentrum aber steht der Herd, die Feuerstätte für Brandopfer und Opfermahl, die im minoischen Heiligtum keinen Platz hatte; auch ist der Tempel der Dreiheit Apollon-Leto-Artemis geweiht, die wohl noch nicht bestand, als in Knossos Paiawon verehrt wurde. Die aus Bronze gehämmerten Statuen der Götter sind vielleicht von eingewanderten Handwerkern aus dem Osten verfertigt worden. Die heiligen Höhlen werden weiterhin besucht; bei Amnisos ist es offenbar dieselbe benannte Göttin, Eleuthia-Eileithyia, der die Verehrung giltP Die Ida-Höhle 11 12 13 14
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--+ I 3.6. Trümpy 1997. --+ V 2.1; V 2.4 Anm. 2. --+ I 3 Anm. 160. Vermeule 1974, T. lOb. Zeus-Statuetten von Olympia: Emil Kunze, Antike und Abendland 2, 1946, 98-101; 8. Bericht über die Ausgrabungen in Olympia, 1967, 213-215; Herrmann 1972, 73; Göttinnen-Idole auf Kreta: Dietrich 1974, 218 f; Reynold A. Higgins, Greek Terracottas, London 1967, 17 Abb. 10; ferner Schefold 1964, T. 12/13. Vgl. Hans-Volkmar Herrmann, AM 77, 1962, 26-34 zu einem mykenischen Idol aus Olympia. --+ I 3 Anm. 112 (Schlangenröhren); I 1 Anm. 35 (Kernoi). --+ I 3 Anm. 216; vgl. allgemein Prent 2005. Spiridon Marinatos, Praktika 1935, 203-212; BCH 60, 1936, 214-256; AA 1936, 215-222; MMR 455 f; RE Suppl. VII 132-138; die gehämmerten Bronzestatuen: Boardman 1961, 137 und in: Dädalische Kunst auf Kreta im 7. Jahrhundert v. Chr., Hamburg 1970, 16; Simon 1969, 125. Zum ägyptischen Einfluss auf die Ikonographie der Trias Theodora Hadzisteliou-Price, JHS 91, 1971, 59. - Im Heiligtum von Kato Syme (--+ Anm. 17) besteht die Kultbank bis in späthellenistische Zeit, Ergon 1973,119. --+ I 3 Anm. 66. Zur Kontinuität in der Psychro-Höhle (--+ I 3 Anm. 61) auch Desborough 1972, 284; Snodgrass 1971, 275. Kultkontinuität scheint auch gegeben im Velchanos-Heiligtum von Ayia Triada, ASA 19/21, 1941/3,52-69 (Bruch zwischen geomettischer und hellenistischer Zeit) und vor allem im Heiligtum von Hermes und Aphrodite von Kato Syme, Praktika 1972, 193-203; Ergon
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hatte in minoischer Zeit in bescheidenem Maß als Kulthöhle gedient. Nun aber steigt ihre Bedeutung, es gibt dort große Opferfeste mit Initiationscharakter, im 8. Jahrhundert machtvoll dokumentiert durch die orientalisierenden Bronzereliefs;18 dies gehört zur dorischen Stadt Axos und lässt sich nicht tel quel in die Bronzezeit zurückdatieren. Es sind im übrigen wohl eher die kleineren Heiligtümer, die ohne viel Änderung ihr bescheidenes Dasein fristen; auch der Fortbestand des Tempels auf Keosl 9 ist in dieser Perspektive zu sehen. In Kreta allerdings ist das an einer Quelle in den Bergen gelegene Heiligtum von Syme Viannou (Anm. 17) seit der mittelminoischen Zeit kontinuierlich bis in die hellenistische Epoche besucht worden; die Weihegaben zeugen von wechselndem, doch beständigem Kult mit Initiationscharakter. Auf Zypern gibt es kriegerische Zerstörungen im frühen 12. Jahrhundert; um 1050 wird Enkomi verlassen, an seine Stelle tritt die nun ganz griechische Polis Salamis. zo Kition wird um 800 zu einer phoinikischen Stadt. Andere Heiligtümer des 12. Jahrhunderts bestehen fort, vor allem das der Aphrodite von Paphos. Eben dort hat sich eine Linearschrift bronzezeitlichen Typs erhalten, die nun, abgewandelt, bis ins 3. Jahrhundert v. ehr. zur Aufzeichnung griechischer Texte verwendet wird; das älteste Zeugnis stammt aus dem 11. Jahrhundert. zl Im eigentlichen Griechenland tritt der Hiat weit stärker in Erscheinung. In der Wissenschaft folgte auf eine "mykenische Euphorie" im Gefolge von Linear B zunehmende Skepsis gegen die Konstatierung ungebrochener Kontinuität in einzelnen Heiligtümern. zz Zwar werden im 8. Jahrhundert, das wirtschaftlichen Aufschwung und Bevölkerungswachstum brachte, vielerorts die heiligen Bezirke, die Altäre und Tempel mit ihren Weihgaben fassbar; vor diese Epoche aber führt der unmittelbare Befund nur in Ausnahmefällen zurück. In Delphi fand sich unter dem Tempel der Athena Pronaia eine große Zahl mykenischer Statuetten, doch handelt es sich nicht um ein mykenisches Heiligtum, sondern um ein Gründungs-Depositum des 8. Jahrhunderts; es beweist den Neuansatz, nicht ortsgebundene Kontinuität. z3 Ähnlich ist
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1973, 118-123; BCH 99, 1975, 685-689; Angelike Lebesi, To hiero tou Hermou kai tes Aphrodites ste Syme Vldnnou I, Athen 1985; AA 1990, 315-336; AJA 113, 2009,521-545. ~ I 3 Anm. 70; III 1 Anm. 16; VI 1 Anm. 40; Cook 1914, I pI. 35; Emil Kunze, Kretische Bronzereliefs, Stuttgart 1931; Fulvio Candani, Bronzi orientali e orientalizzanti a Creta nell' VIII e VII secolo a. C., 1970; Boardman 1970 (-+ Anm. 16), 79-84; Peter BIome, Die figürliche Bildwelt Kretas in der geometrischen und früharchaischen Periode, Mainz 1982. ~ I 3 Anm. 124; ein Bruch in submykenischer Zeit ist nicht ganz auszuschließen. Doch besteht das Heiligtum des "Gottes auf dem Kupferbarren" (Anm. 4) noch eine Zeitlang fort, AA 1974, 371. Olivier Masson, Les inscriptions Chypriotes syllabiques, Paris 1961; Obelos aus Paphos: Vasos Karageorghis in: Dossiers d'Archeologie 205, 1995, 50 f. Bes. Desborough 1964, 40-47; 1972, 278-287; Snodgrass 1971, 394-401, gegen den Optimismus von MMR 447-484; dagegen wieder Dietrich 1974, 191-289. Wichtig für eine Zeugnis-Gruppe R. Nicholls, Greek Votive Statuettes and Religious Continuity, Auckland Classical Essays pres. to Edward M. Blaiklock, 1970, 1-37. Gegen MMR 466-468: Luden Lerat, BCH 81, 1957, 708-710; Desborough 1964,43 f; zu einem Löwen-Rhyton unter dem Apollontempel GGR 339; Margherita Guarducd, SMSR 19/20, 1943/6,
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der Befund auf Delos: 24 Einige mykenische Bauten sind nachgewiesen, die möglicherweise Tempel waren; der Fund von mykenischen und geometrischen Wertgegenständen unter dem um 700 erbauten Artemis-Tempel ist aber wiederum ein GründungsDepositum anlässlich des Tempelbaus, nicht direktes Relikt minoisch-mykenischen Kults. Wenn in Delos die Reste mykenischer Gräber nun als Gräber der "Hyperboreischen Jungfrauen" verehrt werden,25 so hat eine gründliche Umdeutung stattgefunden. In Eleusis wurde, wo später das Telesterion stand, ein mykenischer Bau festgestellt, den man "Tempel" nennt; dass im "Anaktoron" immer ein Stück natürlicher Fels zutage stand, kann man mit dem Befund im "Tempel" von Mykene assoziieren. Doch gibt es in Eleusis keine sakralen Funde aus mykenischer Zeit, und für mehrere Jahrhunderte danach fehlt praktisch jedes Zeugnis. 26 In Amyklai27 sind submykenische neben geometrischen Votivfiguren vom Apollonheiligtum entdeckt worden; dazwischen bleibt auch dort eine chronologische Lücke. Auch der Bezirk der Aphaia in Aigina,28 des Apollon Maleatas 29 in Epidauros scheint an Stelle eines mykenischen Heiligtums zu stehen; lückenlose Kontinuität ist nicht bewiesen. Ganz neu, gleichsam auf jungfräulichem Boden, setzt das Ortheia-Heiligtum in Sparta ein;3o und im Heiligtum des Zeus in Olympia verweist allem Vermuten und Suchen zum Trotz nichts auf einen Kult vor dem 11. Jahrhundert. 3! Es ist eine längst gemachte Feststellung, dass der klassische Tempel architektonisch das Megaron der mykenischen Paläste fortsetzt: die rechteckige Halle mit Eingang an der Schmalseite, die Vorhalle mit zwei Säulen. 32 Es schien zwei Beispiele zu geben, wo in der Tat an Ort und Stelle der griechische Tempel den mykenischen Palast fortsetzt und ersetzt: Tiryns und Athen. In der Odyssee33 begibt sich die Göttin Athena nach Athen und "taucht in das feste Haus des Erechtheus", des erdgeborenen Urkönigs: Erechtheus und Athena im selben "Haus" - seit Ende des 5. Jahrhunderts im "Erechtheion" -, nach Nilssons These 34 entspräche dies dem mykenischen König und seiner Hausgöttin. Vieles an den Kulten der Akropolis erinnert ans Mino-
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85-114. Gallet de Santerre 1958, 203-218; BCH 71/2, 1947/8, 148-254; MMR 611; Claude Vatin, BCH 89, 1965, 225-230; Bergquist 1967, 26-29; dass kein Kult vor dem 9. Jahrhundert nachweisbar ist, betont Claude Rolley, BCH Supp\. 1, 1973, 523 f. MMR 611-614; Gallet de Santerre 1958, 93-96. MMR 468-470; Mylonas 1961,33-49; Desborough 1964,43; Snodgrass 1971,395. Ernst Buschor/Wilhelm v. Massow, AM 52, 1927, 1-85; MMR 470 f.; Dietrich 1974, 222 f; Desborough 1972, 83; 241; 280; Snodgrass 1971,395. MMR 305 471 f.; Desborough 1964, 119; Snodgrass 1971, 397. Desborough 1964, 42; 1972, 283; Snodgrass 1971, 397; Vasileios Lambrinoudakis, Remains of the Mycenaean Period in the Sanctuary of ApolIon Maleatas, in Hägg/Marinatos 1981, 59-65. Dawkins 1929; Spätdatierung der Anfänge - um 700 -: John Boardman, BSA 58, 1963, 1-7; Bergquist 1967, 47-49. --+ III 1 Anm. 289; V 4 Anm. 18. Mallwitz 1972, 77-84; Kyrieleis 2006. Gruben 1966, 28 f. Od. 7, 8I. MMR 485-498; GGR 345-350.
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isch-Mykenische: die "haushütende Schlange", der man Honigkuchen spendet, der umfriedete Ölbaum im Bezirk der "Taugöttin" Pandrosos, die beiden Mädchen, die als "Arrhephoren" den Tempeldienst versehen. 35 Doch hat sich herausgestellt, dass die Basen, die allgemein den Säulen des mykenischen Palasts zugerechnet wurden, erst von dem geometrischen Tempel stammen;36 keine Spur also vom Palast ist geblieben, nicht einmal sein genauer Ort ist bekannt. Die Treppe, die im nächtlichen Kult der Arrhephoren eine Rolle spielte, ist im 11. Jahrhundert an Stelle eines mykenisehen Brunnens angelegt worden. Es gab ein submykenisches Heiligtum in der Ruine des Turms am Burg-Aufgang, der später zum Nike-Pyrgos wurde; man kann diese Tatsache ebenso als Zeichen der Diskontinuität wie als schmale Brücke vom Mykenisehen zum Späteren auffassen. 37 Der Befund in Tiryns ist kompliziert und umstritten. 3B Nirgends scheint es den bruchlosen Übergang zu geben. Es galt als ausgemacht, dass in Athen der Basileus, der "König", der vor allem mit kultischen Aufgaben befasst ist, Nachfolger des mykenischen Königs sei,39 so wie vielleicht in Rom der "Opferkönig", der rex sacrorum, nach der Vertreibung der Könige zu amten hatte. Auffallen musste allerdings, dass der Basileus mit den Kulten der Akropolis, mit Athena Polias und Erechtheus gerade nichts zu tun hat - dies lag in den Händen des Butaden-Geschlechts; nun hat die Entzifferung von Linear B gelehrt, dass der Titel des mykenischen Königs in Pylos, Knossos und Theben Wdnax war, während Basileus Titel für eine Art "Zunftmeister" der Schmiede zu sein scheint.4o Dass der athenische Basileus vor allem mit dem Dionysoskult auf das Engste verbunden ist, lässt sich hier anschließen; vom mykenischen Königtum aber ist in diesem Bereich nichts zu finden. Eine neue Situation hat die Ausgrabung von Kalapodi in Phokis ergeben: Dort wird im 12. Jahrhundert (SH IIIC) ein Opferplatz, also ein Heiligtum, angelegt, das seither kontinuierlich besteht, jedoch im 10. Jahrhundert zu einem Doppel-Heiligtum erweitert wird; als es nach der Zerstörung durch die Perser notdürftig restauriert wird, hat man eine Apollon-Statuette in den Altar eingelassen. Es kann sich um das Heiligtum der Artemis von Hyampolis oder aber um das Apollon-Orakel von Abai handeln.41 In Milet, wo dem Athena-Heiligtum offenbar ein minoisch-mykeni-
35 36 37 38 39 40 41
I 3 Anm. 117; V 2 Anm. 26; 35. Auf minoisch-mykenischen Bildern erscheinen mehrfach zwei Mädchen, die Evans nhandmaidens of the Goddess" nannte, z.B. PM II 340-342; III 458. C. Nylander, Opuscula Atheniensia 4, 1962,31-77. Chrysoula Kardara, AE 1960, 165-184. - Im 12. Jahrhundert hat man auf der Akropolis Gräber angelegt, Desborough 1972, 64. Gegen MMR 475-479 Kurt Müller, Tiryns III, 1930,213 f; Desborough 1964, 41. MMR 485 f; vgl. Arist. Ath. Pol. 57. -+ I 3 Anm. 98/9. Michel Lejeune, Memoires de philologie mycenienne II, Paris 1971, 169-195; Jorro 1985/93 II 189190. Rainer C. S. Felsch, AA 1987, 1-99; Felsch 1996; er fand, in Verbindung mit Inschriften (SEG 37, 422; 46, 567-579), hier das Heiligtum der Artemis Elaphebolos von Hyampolis; für Abai plädiert Wolf-Dietrich Niemeier. -+ III 1 Anm. 214. -+
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4 Die "Dunklen Jahrhunderte" und das Problem der Kontinuität
sches Heiligtum vorausgeht, gibt es keine Indizien für eine Zerstörung um 1200.42 Kurzum, Kontinuitäten und Brüche bestehen nebeneinander; ein Entweder-Oder ist nicht zu halten. Das griechische Normal-Heiligtum seit dem 8. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch die "Temenos"-Abgrenzung, den Brandopfer-Altar und meistens, wenn auch nicht immer, durch den auf den Altar hin ausgerichteten Tempel mit dem Kultbild. Diese Dreiheit von Altar, Tempel und Kultbild findet sich in der minoisch-mykenischen Welt nicht, wenn es auch zu den einzelnen Elementen Ansätze gibt, die gerade gegen Ende der Epoche und dann nach der Katastrophe deutlicher hervortreten: Die "Idole" werden groß und bedeutend, wie in Gazi und Karphi,43 doch bleiben sie eine Vielheit, wie auch im Heiligtum von Mykene; es gibt "Tempel" als selbständige, für den Kult bestimmte Häuser, aber es sind komplizierte vielräumige Anlagen, nicht die "Cella" des Kultbildes - freilich lässt die Nennung des "Hauses der Potnia" in Theben aufhorchen; der minoische und mykenische Altar ist gemeinhin ein Gabentisch; doch in Mykene wurde ein Altar mit Brandspuren festgestellt. 44 Mit weiteren Überraschungen ist zu rechnen. Nicht zu übersehen ist, dass Tempel mit Kultbild einerseits, Brandopferaltar andererseits im Nahen Osten seit langem üblich sind. Das Brandopfer ist eine Besonderheit des westsemitischen Bereichs; hier sind Feuerstätten vor dem Tempeleingang und auch Steinaltäre mit verbrannten Knochen in der Bronzezeit nachgewiesen.45 Das Nacheinander von "Ganzopfer" und Opfermahl,46 die Verbindung von Speisegabe, Libation und Verbrennung von Teilen des geschlachteten Tieres verbindet alttestamentliche und griechische Opferpraxis. In der Tat hat sich vor allem auf Zypern im 12. Jahrhundert die östlich-semitische mit der mykenischen Altar-Tradition getroffen: Vor dem Tempel von Kition stehen nebeneinander ein viereckiger Steinaltar mit dem mykenischen Hörnersymbol und ein runder Brandopferaltar mit den entsprechenden Kohle- und KnochenrestenY Die große Rolle der Tieropfer, vor allem der Rinderopfer in Zypern um diese Zeit wird durch die Funde der vielen Rinderschädel in den Heiligtümern von Enkomi48 unterstrichen; besonders merkwürdig ist, dass 42 43 44 45
46
47 48
Wolf-Dietrich Niemeier in: Alexandra Villing, The Greeks in the East, London 2005, 1-36; in: Justus Cobet et al. (Hrsg.), Frühes lonien, Mainz 2007, 3-20. -+ I 3 Anm. 215/6. Theben -+ 13 Anm. 253; Mykene: Ergon 1972, 60-4; Arch. Rep. 1972/3, 13 f. Diethelm Conrad, Studien zum Altargesetz, Diss. Marburg 1966, 85-100. Zu den Altären im Tempel von Beth Shan Alan Rowe, The four Canaanite Temples of Beth Shan I, Philadelphia 1940; Henry O. Thompson, Mekal, the God of Beth Shan, Leiden 1970, 17-21; allgemein Yavis 1949. Auch in Pylos ist ein mutmaßliches Heiligtum auf einen Altar (ohne Feuerspuren) ausgerichtet, -+ 13 Anm. 107. AT Num. 6,14-7; 1. Sam. 10,8; 13,9; 1. Kön. 8,64; 9,25; Jerem. 7,21 f.; Ezech. 45,17; srp w s!mm in Ugarit, Cyrus H. Gordon, Ugaritic Manual, Rom 1955, 132, Text 9, 7; '!wh w dbhn Arthur Cowley, Aramaic Papyri of the fifth Century B. C., Oxford 1923, 30,28; vgl. LSCG 151 A 29-36; HN 16,41. CRA1 1973,523 f -+ Anm. 5. BCH 88, 1964,354 f; AA 1962, 7-12. -+ Anm. 4 und 3.
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aus Stierschädeln Masken hergestellt wurden, die die Priester beim Opfer tragen.49 Zypern hat in den dunklen Jahrhunderten starke Ausstrahlungen in die beginnende protogeometrische Epoche hinein entwickelt; auch die Eisenbearbeitung geht von Zypern aus. Wenn also eine griechische Tradition von der "Erfindung" des Opfers auf Zypern berichtet,50 macht dies Sinn als Hinweis auf einen religionsgeschichtlichen Prozess des 12./11. Jahrhunderts. Komplikation bringt die Tatsache, dass die großen "Aschenaltäre" wie der des Zeus in Olympia, wo die Reste der stets am selben Ort verbrannten Opfer sich immer höher türmten, evidente Gegenstücke im bronze- und eisenzeitlichen Mitteleuropa haben. 51 Die Linien der historischen Einflüsse zu entwirren, scheint kaum möglich zu sein. Neben mykenischen Idolen hat man in den dunklen Jahrhunderten in Griechenland auch orientalische Götterstatuetten gar nicht so selten verwahrt. Rund ein Dutzend Kleinbronzen des "Kriegergottes" hethitisch-syrischen Typs sind in griechischem Bereich zutage gekommen, dazu sieben auf Zypern, wo auch der "Gott auf dem Kupferbarren" sich ikonographisch anschließt. Im 8. Jahrhundert hat dann die beginnende griechische Plastik eben nach diesem Typ Statuetten des Zeus und des ApolIon, vielleicht auch des Poseidon gestaltet. 52 Inwieweit zusammen mit solchen Statuetten auch einiges aus ihrem religiösen Kontext mit übernommen wurde, entzieht sich dem direkten Nachweis. Doch ist damit zu rechnen, dass der Name von Amyklai mit einem in Palästina und Zypern zu fassenden Gott Mkl-Amuklos zusammengeht, eine Rückwirkung peloponnesisch-zyprischer Beziehungen im 12. Jahrhundert. Unter den griechischen Göttern, die in Linear B bisher fehlen, sind Apollon53 und Aphrodite die wichtigsten. Für Apollon führt über Amyklai und die "Krieger"Statuetten ein Weg nach Zypern und in den Osten, vom Namen her jedoch eher zu den Doriern, während für Aphrodite das Heiligtum von Paphos auf Zypern seit je als Zentrum und Ausgangspunkt gegolten hat, die Beziehungen zur östlichen Btar aber durchaus unklar bleiben.54 Zu Aphrodite gehört in besonderem Maß der Gebrauch des Weihrauchs, der im Griechischen immer mit seinem semitischen Namen (liba-
49 50 51
52
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~ II 1 Anm. 94; vgl. II 7 Anm. 44. Asklepiades FGrHist 752 F 1 = Porph. abst. 4,15; Burkert, Grazer Beiträge 4, 1975, 76. Werner Krämer, Prähistorische Brandopferplätze, Helvetia antiqua, Festschr. Emil Vogt, 1966, 111122; vgl. Yavis 1949, 208-213; GGR86-88; Olympia: Paus. 5,13,8-11; Didyma: Theodor Wiegand, Abh. Berlin 1911,41-43; Didyma 1,1941,136-139; Samos: AM 58,1933,146-150; 174-210; JdI 49, 1934, 142-144. Burkert, Grazer Beiträge 4, 1975, 51-79; zusätzliche Exemplare aus Dodona (Martina Dieterle, Dodona, Hildesheim 2007, 181), aus Sunion (Hesperia 31, 1962, 2360; Dominique Collon, The Smiting God, Levant 4, 1972, 111-134; Helga Seeden, The Standing Armed Figurines in the Levant, München 1980; Michael Byrne, The Greek Geometric Warrior Figurine, Louvain-la-Neuve 1989; Brent 2005, 389-392. Zu Mkl Burkert Grazer Beiträge 4. Möglich wäre, ]pe-ro-ne KN E 842 als "Apellonei" zu ergänzen und zu lesen, Cornelis J. Ruijgh, Ungua 25, 1971,313. -+ IIl1.5; zur Mantik ~ II 8 Anm. 30. -+ IIll Anm. 293-301.
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non - lebona) bezeichnet wurdej 55 Apollon ist der Herr der Mantik, deren wichtigste Form, die Leberschau beim Opfer, gewiss aus Mesopotamien über Anatolien/Syrien und Zypern zu den Griechen kam. Freilich sind dies nur einzelne Komponenten der sehr viel komplexeren Göttergestalten. Das älteste griechische Normal-Heiligtum ist das Heraion von Samosj sein großer Altar wird ins 10., der Tempel ins 8. Jahrhundert datiert. 56 Als Kultstatue allerdings diente ·zunächst ein "Brett", das beim Fest zum Meer gebracht und dann wieder eingeholt wurde: Dies erinnert an einen hethitisch-hurritischen Komplex vom verschwindenden und wiederkehrenden Gott der Lebensfülle, Telipinu. Das dann menschengestaltige Bild der Hera trägt den Umhang mit Ketten von Früchten, Symbolen der Fülle, der mit Kleinasiatischem bis hin zur Artemis von Ephesos zusammengehörtj 57 sie hält zu Knoten verschlungene Wollbinden in der Hand und trägt einen Polos, vielleicht gar mit Hörnern, auf dem Kopf, was sich beides an hethitische Tradition anschließen lässt. 58 Bemerkenswert frühe Steinbauten in griechischem Bereich sind der Tempel auf der Höhe von Prinias und der auf der Akropolis von Gortyn auf Kreta, die bereits um 800 angelegt wurden. Sowohl die Reste der Bauopfer wie diese Art von Architektur überhaupt um diese Zeit weisen am ehesten auf den luwischen Bereich Südostkleinasiens, und die monumentalen Reliefs der "Nackten Göttin" in Prinias und Gortyn stammen erst recht aus syrischer Anregung. 59 Einwanderung nordsyrischer Handwerker nach Kreta ist auch anderwärts nachweisbar. Neben der gebrochenen, aber unleugbar wirksamen mykenisch-minoischen Tradition sind also wiederholte, bemerkenswerte Impulse aus dem Orient, besonders aus dem hethitisch-nordsyrischen Bereich, zu verzeichnen, wobei Zypern als Ort der Begegnung und Weitervermittlung wichtig ist. Intensive Kontakte bestehen im 12. und dann wieder im 9./8. Jahrhundert, als griechische Händler Niederlassungen in Syrien anlegen, von der anderen Seite aber auch Assyrer bis ans Mittelmeer vorstoßen. 60 Im 8. Jahrhundert setzt ein eigentlicher Durchbruch östlicher Kultur ein, der "Orientalisierende Stil"j von etwa 660 an und besonders nach dem Zusammenbruch des Assyrrreichs (612) wird Ägypten tonangebend, auch dank der Rolle griechischer Söldner in der 26. Dynastie. Noch im 7. Jahrhundert kehrt sich jedoch die "Kulturdrift" um: Die griechische Form hat ein Niveau gefunden, das nun seinerseits für 55 56
57 58 59 60
-- II 1 Anm. 66; III 1 Anm. 295. Ernst Buschor, AM 55, 1930, 1-99; Dieter Ohly, AM 68, 1953. 25-50; Oskar Reuther, Der Heratempel von Samos, Berlin 1957; Hans Walter, Das griechische Heiligtum: Heraion von Samos, München 1965: -, Das Heraion von Samos, München 1976; Gruben 315-329; Bergquist 1967, 43-47; Drerup 1969, 13 f; Mallwitz, AA 1981, 624-633.-- III 1 Anm. 104. Zuntz 1971, 127-135; S&H 123-132. Chrysoula Kardara, AJA 64, 1960, 343-358. Giovanni Rizza/Valnea Santa Maria Scrinari, Il santuario sull' acropoli di Gortina, Rom 1968, bes. 24 f., 54-6; zur "nackten Göttin" Boehm 1990; zu Prinias Marinatos 2000, 67-78; John Boardman, The Greeks Overseas, London 31973,37-46; Burkert 1992.
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Jahrhunderte in Ost und West zum Vorbild genommen wird. In welcher Phase der ostwestlkhen Beziehungen ein Element der religiösen Kultur übernommen wurde, ist im einzelnen oft schwer zu entscheiden; auch das homerische Epos liefert keine klaren Indizien. Aber dass die Pforten für einen "orientalischen Einfluss" gerade ia den dunklen Jahrhunderten, der Epoche der Verwirrung und Schwächung, geöffnet waren, darf die Religionsgeschichte nicht übersehen. Zugleich mag der Zusammenbruch der Palastkultur auch sehr Altes freigesetzt haben, das unter der Kruste minoisch-mykenischer Zivilisation verschwunden war. In der dezenten Ikonographie der Palastzeit wäre ein Phallos-Umzug undenkbar; und doch weisen bereits neolithische Zeugnisse auf dergleichen hin. 61 Nach der Zäsur um 1200 ist der Königshof samt Höflichkeit verschwunden; schon die frühe Bronzeplastik stellt die nackte männliche Figur dar, auch wenn ein Gott zu gestalten ist; und im Umkreise des - mykenisch bezeugten - Dionysos tummeln sich dann die Masken der Silene/Satyrn in göttlicher Enthemmtheit. Hochaltertümlich und nachmykenisch zugleich und nicht ohne Beziehung zum Osten ist die besondere Form des griechischen Opferrituals: die gemeinsame Fleischmahlzeit der Menschen, wobei Gaben für die Götter, vor allem die nicht essbaren Teile und die Knochen, verbrannt werden. Eben darum ist der Feueraltar unter freiem Himmel62 der wesentlichste Bestandteil des Heiligtums. Hier zelebriert nicht eine gestufte Gesellschaft von Göttern, Herrschenden, Priestern und gewöhnlichem Volk den Gabenaustausch: Gemeinsam, auf gleicher Ebene stehen die Menschen um den Altar, erleben und wirken den Tod, ehren die Unsterblichen und bejahen im Essen das Leben in seiner Bedürftigkeit. Solidarität der Sterblichen im Angesicht der Unsterblichen - dies bedeutet eine Verneinung der mykenischen Organisation: Kein König steht höher als alle anderen, kein Priester kann die sakralen Portionen für sich verwenden. Vom korporativen Ansatz der "Gleichheit" der Menschen im Kontrast zum Göttlichen konnte der Weg über die Aristokratie zur Demokratie und Humanität weiterführen. Von vielerlei Traditionsströmen gespeist, hat hier das Griechische die ihm eigentümliche, in die Zukunft weisende Richtung gefunden.
61 62
-+ 11 Anm. 14.
Heiligtümer für das Rinderopfer unter freiem Himmel sind bereits Myrtou-Pigades und Ayia lrini auf Zypern (-+ Anm. 7; 21), Ayia Triada in Kreta (Anm. 17), dann Samos (Anm. 56), Lindos (Ejnar Dyggve, Lindos III, Berlin 1960,457-466); bezeichnend sind die Votivfiguren von Rindern, auf der Töpferscheibe verfertigt ("wheel-made buUs"), dazu NichoUs, s.o. Anm. 22.
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Vorbemerkung Dass für das Verständnis der antiken Religionen die Rituale aufschlussreicher sind als die wechselhaften Mythen, ist eine Einsicht, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts allgemein in der Religionswissenschaft durchgesetzt hat.! Damit steht die Antike nicht isoliert, sondern eingeschlossen in die Gesamtheit sogenannter "primitiver" Religionen, während in den "höheren", theologisch entfalteten Religionen dieselbe Basis in der Praxis durchaus vorhanden, in der Reflexion aber in den Hintergrund gedrängt ist. Die Rituale ihrerseits hat man zunächst meist unreflektiert auf "primitives Denken" oder "Vorstellen" zurückgeführt; neuerdings hat man statt solchem Hintergrund ihre Funktion als quasi-sprachliches System neben und vor der Wortsprach~ ins Auge gefasst. Dem kam die Verhaltenswissenschaft entgegen, die zumindest Analoga zu Ritualen im Tierbereich festgestellt hat. Ritual ist in dieser Sicht eine von der Pragmatik abgelöste Handlung mit Zeichencharakter; seine Funktion liegt in der Regel in der Wirkung auf Partner und Gruppe, in der Solidarisierung oder Auseinandersetzung mit Artgenossen. Religiöses Ritual sind derartige Handlungen, sofern sie eine Hinwendung zu Außer-Menschlichem, Über-Menschlichem signalisieren; de facto hat auch diese Abwendung vom Menschlichen eine eminent soziale Funktion. Religiöses Ritual ist in realen Gesellschaften als kollektive Institution in der Regel vorgegeben; der Einzelne beteiligt sich im Rahmen sozialer Kommunikation, wobei das Bedürfnis, nicht abseits zu stehen, stärkste Triebkraft ist. Man pflegt jenes Über-Menschliche, das in der Religion zur Wirkung kommt, am allgemeinsten als "das Heilige" zu benennen;2 man hat der Physik auch den Begriff der "Kraft" entliehen. 3 Man schildert das Erlebnis des Heiligen als das spannungsvolle Ineinander von mysterium tremendum, fascinans und augustum; dem entspricht, dass im Repertoire der Zeichen Drohendes neben Lockendem steht, Feuer, Blut, Waffen zum einen, Nahrung und Sexualität zum anderen; Demutsgesten neben Imponierverhalten; dazu der Umschlag von Dunkel und Licht, Maskierung und Enthüllung, Starre und Bewegung, Schall und Stille: Diese Quasi-Sprache wirkt nicht nur durch Erlernen und Nachahmen, sondern sie ist prägende Kraft zumal für Kinder und Jugendliche. Sie signalisiert und schafft Angstsituationen, um sie zu überwinden, führt von der Urangst des Ausgesetzt-Seins zur Solidarisierung und Status-Versicherung, hilft so auch reale Krisensituationen zu überwinden, indem sie die realitätsge-
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--+ Einleitung 1 Anm. 8. Die Diskussion um "Ritual" ist neuerdings vielfältig ausgeweitet worden. Vgl. Dodd/Faraone 2003; Claus Ambos u.a. (Hrsg.), Die Welt der Rituale. Von der Antike bis heute, Darmstadt 2005; Stavrianopoulou 2006; Jens Kreinath u.a. (Hrsg.), Theorizing Rituals: Issues, Topics, Approaches, Concepts, Leiden 2006. --+ V 4 Anm. 2. Friedrich Pfister, RE XI 2107 f; GOR 48 f, 68-71.
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bannte Apathie durch abgelenkte Aktivität ersetzt; enthalten ist darin der Anspruch höchsten Ernstes, des Absoluten. Ein Überblick über die Formen des Rituals könnte sich nach den verschiedenen sozialen Gruppen gliedern, die sich darin ausdrücken: Familie und Clan, Bauern, Handwerker und Krieger, Stadtbürger, König, Priester; er könnte den Lebensbereichen folgen, in denen es seine Funktion entfaltet, Geburt, Initiation und Tod, Jagd und Ernte, Hunger und Seuche, Krieg und Sieg. Doch wird das gleiche ZeichenRepertoire von verschiedenen Gruppen, in verschiedenen Situationen verwendet. So sei zunächst den einzelnen, in sich freilich schon komplexen Ritualhandlungen nachgegangen. Ins Auge gefasst ist die griechische Praxis auf dem Hintergrund allgemeinerer Gegebenheiten. Dann erst kann, in Verbindung mit der reichen mythologischen Ausgestaltung, die Wechselwirkung von Religion und Gemeinschaftsleben der Griechen dargestellt werden.
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1 "Heiliges wirken": das Tieropfer
1 "Heiliges wirken": das Tieropfer
1.1 Hergang und Deutung Inbegriff der "Heiligen Handlung" und darum oft schlicht als "Tun" bezeichnet, auch als "Heiligen", "Heiliges tun", ist im Griechischen ein schlichter, realer Vorgang: das Schlachten und Verzehren eines Haustiers "für" einen Gott.! Vornehmstes Opfertier ist das Rind, besonders der Stier; am gewöhnlichsten ist das Schaf, danach Ziege und Schwein; ein Ferkel kommt am billigsten zu stehen. Auch Hühneropfer sind üblich, 2 andere VögeP - Gans, Taube - oder Fische 4 sind eher die Ausnahme. Das Opfer ist festliche Veranstaltung einer Gemeinschaft. Markiert wird der Gegensatz zur Alltäglichkeit: Man badet, legt reine Kleider an, schmückt sich, legt sich insbesondere einen aus Zweigen gewundenen Kranz um das HauptS - dies noch nicht bei Homer. Auch das Tier wird geschmückt, mit Binden umwunden, die Hörner können vergoldet sein. In Prozession geleitet man das Tier bis zum Altar. Man erhofft in der Regel, dass das Tier gutwillig, ja "freiwillig" zum Opfer schreitet; erbauliche Legenden erzählen, wie Tiere von sich aus zum Opfer drängten, als die Zeit gekommen war. 6 Ein unbescholtenes Mädchen an der Spitze des Zugs trägt auf dem Kopf den Opferkorb, in dem das Opfermesser liegt, verdeckt von Körnern oder Kuchen. Auch ein Wassergefäß wird mitgeführt, oft auch ein Weihrauchständer; dazu Musikanten, meist ein Flötenbläser oder eine Flötenbläserin. Ziel ist der seit alters "hin-
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Stengel1910; Eitrem 1915; KA 105-124; Ludwig Ziehen, RE XVIII 579-627; GGR 142-151; Eugen Forster, Die antiken Ansichten über das Opferwesen, Diss. Innsbruck 1952; Casabona 1966; entscheidend Meuli 1946; danach Burkert 1966 (~Burkert 2007, 1-36) und HN, bes. 8-20; Detienne/ Vernant 1979; Le sacrifice dans I'antiquite. Entretiens sur l' antiquite classique XXVII, Genf 1981; neuerdings Stella Georgoudi u.a. (Hrsg.), La cuisine et I'aute!. Les sacrifices en questions dans les societes de la Mediterranne ancienne, Turnhout 2005; Gunnel Ekroth, The importance of sacrifice: New approaches to old methods, Kernos 20, 2007, 387-469; Jan Bremmer, Greek Normative Animal Sacrifice, in: Ogden 2007, 132-144; Bilder: Van Straten 1995; Klaus W. Berger, Tieropfer auf griechischen Vasen, Würzburg 1998; Jörg Gebauer, Pompe und Thysia. Attische Tieropferdarstellungen auf schwarz- und rotfigurigen Vasen, Münster 2002. Hahnopfer vor allem für Dionysos, Kore, Hermes, Asklepios, vg!. Matz 1963, 44-52; kaum antikes Material bei Isidor Scheftelowitz, Das stellvertretende Huhnopfer, Gießen 1914. Das Huhn ist anscheinend erst im 6. Jahrhundert nach Griechenland gekommen, DNP V 749. Vg!. immerhin Desborough 1972, 254 (Messenien); AA 1938, 534-538 (Relief Aigina); POx 2465 fr. 2 I 16 (Alexandria 3. Jahrhundert); Ov. fast. 1,451-454. Taube und Aphrodite -+ III 1.7 Anm. 7. Vogelopfer semitisch: Porph. abst. 1,25; Gänseopfer für Isis: Paus. 10,32,16. Fischopfer für Hekate: Apollodor FGrHist 244 F 109; Thunfischopfer für Poseidon: Antigonos bei Ath. 297e; Aal-Opfer der Böoter als Kuriosität: Agatharchides bei Ath. 297d; vg!. HN 227-235. Josef Köchling, De coronarum apud antiquos vi atque usu, Gießen 1913; Ludwig Deubner, ARW 80, 1933, 70-104; Karl Baus, Der Kranz in Antike und Christentum, Bonn 1940; Michael Blech, Studien zum Kranz bei den Griechen, Berlin 1982. Der Kranz beim Opfer als Antithese zum Trauerritus: Xenophon-Anekdote Plut. Cons. ad Apoi!. 119A; Diog. Laert., 2,54. Opfer ohne Kranz erscheint erklärungsbedürftig, Apollod. 3,210 zum Chariten-Kult von Paros. Burkert 2007, 19 Anm. 43.
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gesetzte", "errichtete" Steinaltar oder Aschenhaufen. 7 Nur dort darf und muss Blut vergossen werden. Am heiligen Ort angekommen, markiert man einen Kreis, der Opferstätte, Tier und Teilnehmer umschließt: Indem Opferkorb und Wassergefäß rings im Kreis um alle getragen werden, wird das Profane vom "Heiligen" ausgegrenzt. Alle stehen "um den Altar". Als erste gemeinsame Handlung gießt man dann Wasser aus dem Krug reihum über die Hände: Dies ist "Anfangen", archesthai. Auch das Tier wird mit Wasser besprengt; dass es dabei mit dem Kopf zuckt, wird als Nicken, als Ja-Sagen gedeutet: "Was freiwillig nickt beim Händewaschen, das, sage ich, sollst du gerechtermaßen opfern",8Iieß der Gott von Delphi sich im Orakel vernehmen. Dem Stier gibt man zu trinken: So beugt auch er sein Haupt. Aus dem Opferkorb entnehmen die Teilnehmer ungeschrotete Gerstenkörner (oulai, oulochytai), halten sie in der Hand, während Stille eintritt. Der Opferherr spricht ein Gebet, Anrufung, Wunsch, Gelübde, feierlich und laut hallend, die Arme zum Himmel erhoben; dann, wie zur Bekräftigung, werfen alle ihre Körner von sich, nach vorn auf Altar und Opfertier; in einigen Ritualen warf man mit Steinen.9 Auch dies heißt, zusammen mit dem Händewaschen, "Anfangen" (archesthai, enarchesthai, katarchesthai). Das Opfermesser im Korb ist nun aufgedeckt. Der Opferherr nimmt es, tritt, das Messer verdeckend, auf das Opfertier zu, er schneidet ihm Stirnhaare ab, wirft sie ins Feuer. Dieses "Haaropfer"l0 ist wiederum und zum letzten Mal ein "Anfangen". Noch ist kein Blut geflossen, und doch ist das Opfer nicht länger unversehrt. Jetzt folgt die Schlachtung. Kleinere Tiere hebt man über den Altar und schneidet ihnen die Kehle durch; das Rind wird mit einer Axt niedergeschlagen, dann öffnet man die Halsschlagader; man fängt das Blut in einer Schale auf und sprengt es auf den Altar und seine Seitenwände: Fromme Pflicht ist es, den Altar mit Blut zu net:zen (haimassein). Die anwesenden Frauen haben beim tödlichen Schlag aufzuschreien, hoch und schrill: Der "griechische Brauch des Opferschreis" markiert den emotionellen Höhepunkt;l1 Leben übergellt den Tod. Das Tier wird gehäutet, ausgeschlachtet; die inneren Organe, vor allem Herz und Leber (splanchna), werden vorab im Feuer des Altars geröstet. Gelegentlich wird das Herz als allererstes, noch zuckend, dem Leib entrissenP Von den Eingeweiden sofort zu kosten, ist Vorrecht und Verpflichtung des inneren, engsten Kreises der "Teilhabenden". Dann "heiligt" man die nicht essbaren Reste: Man legt die Knochen nieder 7 8 9
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14 Anm. 5I. Porph. abst. 2,9; HN 11,13. HN 12,16. Vgl. van Straten 31-49; zum Opferkorb RE SuppL IV 870-875; Jochen Schelp, Das Kanoun, der griechische Opferkorb, Würzburg 1975. Dass das Messer darin "verborgen" wird, sagt klar nur Schol. Aristoph. Pax 948; vgl. Pierre Bonnechere, REA 101, 1999, 21-36. Eitrem 1915, 344-372; HN 12. Aisch. Sept. 269; HN 12,19. Galen Plac. Hipp. et Plat. 2,4, p.238 Kühn; HN 13,22. --+
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auf dem Scheiterhaufen, der auf dem Altar vorbereitet ist, "in rechter Ordnung";! bei Homer werden noch "Anfänge" von allen Gliedern des Tieres, kleine Fleischstückehen, dazugelegt: Das zerstückelte Wesen soll andeutungsweise wiederhergestellt sein. 2 Spätere Texte und Bilddarstellungen heben die Beckenknochen mit dem Schwanz hervor; Homer nennt formelhaft die "Schenkelknochen" (meria), die verbrannt werden. Speisegaben, Kuchen, Brei in kleinen Mengen werden mit verbrannt; vor allem gießt der Opferherr Wein ins Feuer, so dass der Alkohol aufflammt. Wenn die spldnchna gegessen sind und das Feuer niedergebrannt ist, beginnt die Zubereitung der eigentlichen Fleischmahlzeit, das Braten oder Kochen; dies trägt meist profanen Charakter. Nicht selten ist jedoch vorgeschrieben, dass man das Fleisch nicht mit nach Hause nehmen darf, es wird ohne Rest im Heiligtum verzehrt. 3 Die Haut fällt dem Heiligtum oder dem Priester zu. In den Einzelheiten des Tieropferrituals gibt es Variationen, je nach lokalem "Väterbrauch "; die Grundstruktur ist einigermaßen stabil und klar: Das Tieropfer ist ritualisiertes Schlachten mit nachfolgender Fleischmahlzeit. Ritus als Zeichen des "Heiligen" ist dabei insbesondere die Vorbereitung, das "Anfangen" auf der einen, das nachträgliche Zurechtmachen auf der anderen Seite: Saktalisierung und Desakralisierung"l um ein Zentrum, in dem das Töten steht, verbunden mit Waffe, Blut, Feuer und schrillem Schrei. Sobald bei den Griechen die Reflexion zu Worte kam, geriet der fromme Anspruch dieser "heiligen Handlung" ins Zwielicht: Solch ein Opfer erfolgt "für" einen Gott, doch dieser erhält offenbar so gut wie nichts: Das gute Fleisch dient voll zum festlichen Genuss der "Teilhabenden". Man weiß, dass das Opfer eine Beziehung schafft zwischen dem Opfernden und dem Gott; Dichter erzählen, wie der Gott dessen gern gedenkt oder aber gefährlich zürnt, wenn Opfer unterbleiben. 5 Aber nur der Fettdampf ist es, im Rauch wirbelnd, der zum Himmel steigt; sich auszumalen, was die Götter damit anfangen, führt unweigerlich zur Götterburleske. Im Grunde passt das Ritual nicht zum anthropomorphen Göttermythos. "Als Götter und sterbliche Menschen sich schieden", heißt es bei Hesiod, wurde das Opfer geschaffen: 6 dort die Götter, die Unsterblichen, Todentrückten, Himmlischen, auf die die Opferflamme weist; hier die Menschen, sterblich, auf Nahrung angewiesen, tötend. Freilich kaq.n Hesiods Erzählung dann die Trennung der Anteile von Göttern einerseits und Menschen andererseits nur als Betrug erklären: Der zwielichtige Menschenfreund Promet-
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euthetisas Hes. theog. 541; HN 13,24. Od. 14,428; Meuli 1946, 218; 256; 262. Formel ou phord; Beispiele: Burkert 2007, 16 Anm. 36; LSS 88; 94. "sacralisation" - "desacralisation" sind Grundbegriffe bei Henri Hubert/Marcel Mauss, Essai sur la nature et la fonction du sacrifice, Annee sociologique 2, Paris 1898, 29-138; Marcel Mauss, Oeuvres I, Paris 1968, 193-307. Z.B. Homer H. 1,40; 22,170; Od. 1,66; - H. 9,534-537; HN 8 f. Hes. theog. 535; Vernant 1974, 146. Vgl. auch Ada Thomsen, Der Trug des Prometheus, ARW 12, 1909,460-90; Jean Rudhardt, MH 27,1970,1-5; Vernant 1974, 177-194.
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heus hat bei jener "Trennung", beim ersten Opfer, auf die eine Seite vom geschlachteten Stier das Fleisch und die fetten Eingeweide gelegt und mit Haut und Magen zugedeckt, auf die andere die weißen Knochen, in schimmerndem Fett versteckt; diesen Teil wählte Zeus namens der Götter, absichtlich, wie Hesiod betont; eine ältere Fassung wird erzählt haben, dass der Göttervater übertölpelt wurde. 7 Jedenfalls gehören spitze Bemerkungen über das Knochen- und Galleverbrenrien "für die Götter" später zum Standardrepertoire der Komödie: 8 Kann das ein Opfer sein, was keine Gabe ist? Die griechische Tragödie9 ihrerseits hat die ihr eigenen Szenen unheimlicher Gewalttat und notwendigen Untergangs fast regelmäßig mit der Metaphorik des Tieropfers umstellt, nicht selten auch Opferszenen ausgemalt und ausgespielt. Zweifellos haben Dichter und Publikum empfunden, was Walter F. Otto das "gewaltige Drama des verblutenden Tieres" genannt hat, "Ausdruck einer Stimmung, deren Großartigkeit nur in den Werken der hohen Kunst ihresgleichen hat".l0 Unmittelbar trifft der Schock des Todesschreckens, präsent im verrinnenden, warmen Blut; und dies nicht etwa als peinliches Beiwerk, sondern in jener Mitte, auf die aller Augen gerichtet sind. Und doch wandelt sich die Todesbegegnung im folgenden Schmaus in lebensbejahendes Behagen. Historisch lässt sich dieses Ritual des Opfermahls zurückführen bis auf die Situation des Menschen vor Erfindung des Ackerbaus:II da war die Jagd, vorab die Großwildjagd auf Rinder und Pferde, wichtigste Aufgabe des Mannes, Hauptnahrungsquelle für die Familie. Töten, um zu essen, war unabdingbares Gebot, und doch musste das blutige Werk seit je von doppelter Gefahr, doppelter Angst umgeben sein: dass die Waffe auch gegen den Mitmenschen, den Konkurrenten sich richten könnte, und dass der Tod des Beutetieres ein Ende sei, auf das keine Zukunft folgt, wo doch der Mensch immer neu essen, und darum jagen muss. Dazu hat der Mensch Regungen der Empathie entwickelt, zu denen kein Raubtier imstande ist. So lassen sich wichtige Elemente der Riten des Davor und des Danach auf Jägerbrauchtum zurückführen, insbesondere die Niederlegung der Knochen, speziell der Schenkelknochen, und die Erhöhung des Schädels, das Ausspannen der Haut: Versuche, das getötete Wesen wenigstens in seiner Grundfigur wiederherzustellen; dazu das, was Karl Meuli12 die "Unschuldskomödie" genannt hat, die fiktive Freiwilligkeit des Opfers. Allerdings sind diese Bräuche im Opfer eng verwachsen mit den besonderen Formen neolithischer Haustierhaltung. Dass das Tier als Besitz und als Hausgenosse doch geschlach7 8 9 10 11
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West 1966, 321; Fritz Wehrli, Theoria und Humanitas, Zürich 1972, 50-55. Menander Dysk. 451-453; HN 13,24; 14,30. Burkert 2007,24-31; Jan P. Guepin, The tragic paradox. Myth and ritual in Greek tragedy, Amsterdam 1968. Otto 1933, 23. Meuli 1946; HN pass., bes. 20-31; der älteste Text über die Einrichtung des Tieropfers durch die Götter ist ein sumerischer Mythos von Lugalbanda, William W. Hallo, Origins, Leiden 1996, 212221; Burkert in: Annette Keck u.a. (Hrsg.), Verschlungene Grenzen, Tübingen 1999, 249 f. Meuli 1946, bes. 224-52.
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tet und gegessen werden muss, hat neue Konflikte geschaffen, die im Ritual gelöst werden: das Tier wird "geheiligt", der Alltäglichkeit entzogen, einem fremden Willen unterstellt; es wird nicht selten "freigelassen",13 zum Wildtier zurückverwandelt; so sind auch die Früchte des Ackerbaus, Getreide und Wein, in den Vollzug der Handlung einbezogen, als Anfang und als Abschluss, gleichsam als Grenzmarken des "gezähmten Lebens",14 zwischen denen aus atavistischem Abgrund der Tod bricht, wenn die Früchte des ältesten Ackerbaus, die Gerstenkörner, sich in symbolische Wurfgeschosse verwandeln. Ist für mythische wie für begriffliche Reflexion problematisch, was solch ein Opfer den Gott angeht, so ist doch immer klar, was es für die Menschen bedeutet: Gemeinschaft, koinDniaY Schon mit dem "Händewaschen" ist die Zugehörigkeit markiert, mit dem Umkreisen, dem gemeinsamen Werfen; enger noch ist die Verbindung durch das "Kosten der splanchna". Psychologisch-ethologisch gesehen ist es die gemeinsam ausgespielte Aggression und ,;Verschuldung", die Solidarisierung schafft. Der Kreis der "Teilhabenden" hat sich von den Außenstehenden abgeschlossen; dabei fallen den Teilnehmern durchaus verschiedene Rollen zu im gemeinsamen "Handeln". Erst gilt es zu "tragen" - den Korb, den Wasserkrug, den Räucherständer, die Fackeln - und Tiere zu "führen"; dann gibt es die Stufen des "Anfangens", das Beten, dann das Schlachten, Häuten und Zerteilen; das Braten erst der splanchna, dann des anderen Fleisches, die Weinspenden; schließlich das Verteilen des Fleisches. Knaben und Mädchen, Frauen und Männer haben je ihren Platz und ihre Aufgabe. Einer ist der Opferherr, der Priester, der die Handlung lenkt, der betet, kostet und spendet; er demonstriert in der Scheu vor der göttlichen doch auch zugleich die eigene Macht, eine Macht, die, obschon sie eigentlich nur Tod wirkt, e contrario auch das Leben mit zu umfassen scheint. Lebensordnung wird im Opfer durch unwiderrufliche Akre konstituiert, eine Ordnung der Gemeinschaft. So selbstverständlich durchdringen sich Religion und gewöhnliche Existenz, dass jede Gemeinschaft, jede Ordnung durch ein Opfer begründet sein muss.
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So werden zum Opfer in Eleusis die Dulai vom Rharischen Feld genommen, wo der Mythos das erste Getreide wachsen lässt, Paus. 1,38,6. "Welches Opfer ist den Göttern gefällig ohne die Mit-Speisenden?" Dion or. 3,97. Zufällig Hinzukommende werden eingeladen: Horn. Od. 3,1 ff.; Eur. EI. 783-787.
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1.2 Blutrituale Von der Macht des Bluts in Glauben und Aberglauben der Völker ist oft die Rede. I6 Bei den Griechen fällt eher eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Blutmagie auf; von allgemeiner T abuisierung des Bluts wie im Gesetz der Juden ist keine RedeP Tieropfer ist Blutvergießen; dass die Altäre "blutig werden" (haimdssesthai), ist Charakteristik des Opfervollzugs. I8 Auf den Bildern sieht man an den weißgekalkten Seitenflächen der Altäre stets die blutigen Spritzer, die von der heiligen Handlung zeugen. Ein Altar in Didyma war, wie es hieß, aus dem Blut der Opfertiere errichtet. I9 Bezeichnenderweise sind die gottgefälligen Opfertiere warmblütige Tiere, meist große Säugetiere; Fische, die doch für die tägliche Nahrung viel wichtiger sind, werden kaum geopfert (Anm. 4). Auf das warme, rinnende Blut kommt es an, mit dem umzugehen doch angsterregend und bedenklich ist. Unblutige Opfer heißen mit besonderer Emphase "rein" (hagnd thymata).20 Und doch ist der Opfernde nicht etwa "unrein", sondern im "heiligen" Ausnahmestatus gemäß göttlicher Ordnung, die das Blutvergießen legitimiert und fordert. Eben darum kann man einen Menschen, der auf oder an dem Altar sitzt, gerade nicht verwunden oder töten; dies wäre eine Perversion des Heiligen, die die ganze Stadt in Verderben stürzen müsste.2l Die Schutzwirkung, die Asylie des Altars ist dem Blutausgießen polar zugeordnet; Menschenblut zu vergießen ist das extreme und doch zum Verwechseln ähnliche Gegenbild zum frommen Werk. In einigen Kulten wird Menschenblut vergossen; dies führen die Griechen dann auf "barbarische" Herkunft zurück. Besonders das Bild der Taurischen Artemis, das den Kolchischen Menschenopfern präsidierte und dann von Orestes mit Iphigenie nach Griechenland gebracht wurde, wird als Anlass solcher Riten genannt; es soll in Halai Araphenides in Attika aufbewahrt sein, wo beim Opfer für Artemis Tauropolos einem Mann der Hals mit einem Messer geritzt wird, 22 oder bei Ortheia in Sparta, wo am Altar die Epheben bis auf das Blut gegeißelt werden. 23 Es gibt Opferrituale, in denen das Blutvergießen um seiner selbst willen betrieben erscheint, nicht als Vorspiel der Mahlzeit; dies sind "Schlachtopfer" im enge16
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Hermann L. Strack, Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit, München 71900; Henry Tegnaeus, Blood-brothers, Stockholm 1951; GGR 150 f; Jan H. Waszink, RAC Il, 1954, 45973; Christina v. BraunjChrisoph Wulf, Hg., Mythen des Blutes, Frankfurt a.M. 2007. Eine ganz profane Blutwurst bei Homer, Od. 20, 25-27. Aisch. Sept 275; Theokr. Epigr. 1; Porph. abst. 1,25; Stengell91O, 18 f. Paus. 5,13,11; GGR 87; vermutlich mit anderen Opferresten vermengt, im Grunde vom Typ des Aschenaltars (-+ I 4 Anm. 51). -+ V 4 Anm. 26. Am bekanntesten wurde der "Kylonische Frevel" in Athen, im Jahr 636 oder 632, der 200 Jahre lang seinen Schatten warf; dazu Plut. Solon 12. Vgl. Eilhard Schlesinger, Die griechische Asylie, Diss. Giessen 1933; GGR 77 f. Eur. Iph. Taur. 1450-1461. Paus. 3,16,9; dass Blut fließen muss, betonen erst die späten Quellen. -+ III 1 Anm. 289; V 3 Anm. 169.
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ren Sinn, sphdgia. 24 Sie treten vor allem in zwei Ausnahmesituationen auf, vor der Schlacht und bei der Totenbestattung, außerdem bei "Reinigungen". Die Spartaner schlachten vor dem Kampf eine Ziege für Artemis Agrotera;25 sonst wird in den Berichten meist kein Gott erwähnt, es geht einfach darum, dass, bereits im Angesicht des feindlichen Heeres der Feldherr oder die Seher, die das Heer begleiten, Tieren die Kehle durchschneiden; man führt zu diesem Zweck ganze Tierherden mit. Aus den Eingeweiden der Opfer bestimmen die Seher die Erfolgsaussichten der Schlacht. Das quasi harmlose, verfügbare Schlachten ist wegweisende Vorwegnahme der Schlacht mit ihren unvorhersehbaren Gefahren, ist ein "Anfangen". Dass vor der Schlacht von Salamis statt der Tiere gefangene Perser geopfert wurden, wird behauptet. 26 Im Mythos ist in mancherlei Varianten von der - tunlichst freiwilligen - Opferung von Mädchen vor der Schlacht die Rede; auch Iphigenie in Aulis wird in diese Reihe gestellt. 27 In den Sieben gegen Theben des Aischylos wird die drohende Vorwegnahme des Blutvergießens als Eidbund dargestellt: die "Sieben" schlachten vor den Mauern von Theben einen Stier "in einen schwarzgefassten Schild", berühren "mit den Händen das Stierblut" und schwören "bei Ares, Enyo und dem blutigen Schrecken", hier und jetzt zu siegen oder zu sterben. 28 Sonst traut man Riten der Blutsbrüderschaft bis hin zum gemeinsamen Bluttrinken eher Barbaren oder allenfalls extremen Gruppen am Rande der Gesellschaft ZU. 29 Bei der Totenbestattung werden Tiere geschlachtet und auf dem Scheiterhaufen mit verbrannt. Viele Schafe und Rinder, vier Pferde, zwei Hunde, zwölf gefangene Troer schlachtet Achilleus am Scheiterhaufen des Patroklos. 30 Dies ist verständlich als Ausfluss hilfloser Wut: Wenn du tot bist, sollen auch die anderen nicht länger lebenY Wenn geschildert wird, wie "um den Toten, mit Bechern zu schöpfen, das Blut floß", geht es offenbar darum, gerade das Blut dem Toten in besonderer Weise zukommen zu lassen, ihm Leben und Farbe zurückzugeben; so wird auch rote Farbe bei Bestattungen bereits im Paläolithikum verwendetY Zu Ehren des Toten werden solche Opfer auch wiederholt. Hier ist kein Altar errichtet, man gräbt eine Grube im Boden (b6thros),33 in die das Blut fließt. Damit 24 25 26
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Stengel1910, 92-102; Ziehen, RE lIlA 1669-79; Casabona 1966, 180-193; Samson Eitrem, Mantis und sphdgia, Symb. Oslo. 18, 1938, 9-30. Xen. Lak. PoL 13,8; HeiL 4,2,20; Plut. Lyk. 22,2; HN 78. Phainias Fr. 25 Wehrli = Plut. Them. 13; Burkert 2007, 24; vgL Albert Henrichs in: Le Sacrifice dans l'Antiquite. Entretiens sur l'Antiquite Classique 27, Genf 1981, 208-224; Bonnechere 1994, 288-291. --+ HN 77 f. Aisch. Sept. 42-48; ein vergleichbares Eidopfer Xen. Anab. 2,2,9; zu Eidopfern --+ V 3.2. Hdt. 1,74,6; 4,70; Plat. Kritias 120a, dazu Hans Herter, Rh. M. 109, 1966,245-255. Il.23,166-176. Meuli 1946, 201-207 und: Entstehung und Sinn der Trauersitten, Meuli 1975,333-351, hier 348-350. 1L 23,84; Ocker bei Bestattungen: Müller-Karpe 1966, 1 232, 235. KA 16 f.; Herrmann 1959, 71-82.
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verbindet sich dann die Vorstellung, dass eben dieses nach unten fließende Blut als "Blutsättigung", haimakouria,34 zu den Toten dringt. Im ältesten und maßgebenden literarischen Text über ein solches Totenopfer ist daraus eine Totenbeschwörung geworden: Odysseus hat, nach Weisung der zauberischen Kirke, am Rand der Welt eine quadratische Grube (b6thros) ausgehoben; nach einer dreifachen Libation und einem Gebet zu Hades und Persephoneia schlachtet er einen Widder und ein schwarzes Schaf, so dass ihr Blut in die Grube fließt; alsbald versammeln sich die "Seelen" (psychai), um vom Blut zu trinken und dadurch zu kurzem Bewusstsein zu erwachen. Die Opfertiere werden neben der Grube verbrannt. 35
1.3 Feuerrituale Feuer ist Grundlage zivilisatorischen Lebens, ist ursprünglichster Schutz vor Raubtieren - und darum auch vor bösen Geistern -, spendet Wärme und Helligkeit, und doch bleibt es schmerzhafr-gefährlich, ja Urbild der Vernichtung: Was groß, fest und greifbar war, löst sich erglühend in Rauch und Asche auf. Daher die vielschichtige Faszination des Feuers, ohne das bei den Griechen kaum ein Kultakt vollzogen wird. Opfer ohne Feuer sind seltene, bewusste Ausnahmen,36 und umgekehrt gibt es kaum ein Feuer ohne Opfer; der "Herd", Hestia, ist Göttin zugleich. 37 Eine altertümliche Form des Tempels ist das "Herdhaus"; dazu gehören die alten Anlagen in Dreros und Prinias auf Kreta, aber auch der Delphische Apollontempel, der immer seine hestia im Innern enthielt.38 Sonst steht der Altar in der Regel im Freien, dem Tempeleingang gegenüber; er ist seiner Funktion nach die herausgehobene Feuerstelle, der "Herd der Götter".39 Von Feuerwundern ist nur im Dionysoskult die Rede. 40 Aber ein plötzliches Aufflammen des Altarfeuers gilt als Zeichen göttlicher Gegenwart,41 was auch den Öl- und Weinspenden über dem Altar ihre eindrucksvolle Eigenart gibt. Wie man im Haus den Herd nicht erlöschen lässt, wird auch in vielen Tempeln ein ewiges Feuer unterhalten, voran im Apollontempel von Delphi, aber auch etwa im Tempel des Apollon Lykeios in Argos, des Apollon Karneios in Kyrene.42 Gleichsam 34 35 36
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Pind. 01. 1,90; Plut. Aristid. 21. ~ IV 1 Anm. 42. Od. 10,517-537; 11,23-50. KA 102; HN 210; Athena-Opfer Rhodos Pind. 01. 7,48; nächtliches Opfer der böotischen Hipparchen, Plut. Gen. Socr. 578 b; Opfer in Lemnos in der Zwischenzeit ~ Anm. 45; Thesmophoria ...... V2.5. ~ III 2 Anm. 2. ~ II 5 Anm. 61/63, vgl. I 4 Anm. 16; III 2 Anm. 5. Aisch. Sept. 275. [Arist.] mir. 842 a 15-24; Eur. Bacch. 758; Liv. 39,13,12. Plut. Them. 13 ...... Anm. 26. Zur Weinspende Theophr. Ign. 67. Lydia M. R. Simons, Flamma aeterna, Amsterdam 1949. Delphi: Plut. De E 385c; Numa 9,12; Aristid. 20; Paus. 10,24,4, vgl. Aisch. Cho. 1037; SIGl 826 C 14; Argos: Paus. 2,19,5; Kyrene: Kali.
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1 "Heiliges wirken": das Tieropfer
als technische Verfeinerung tritt an seine Stelle die immer brennende Lampe, vor allem im Tempel der Athena Polias in Athen, aber auch in 'dem der Hera von Argos und bei Asklepios. Solch ein Feuer ist Inbegriff der Dauer des Heiligtums und des Gemeinwesens; Athenas Lampe erlosch, kurz ehe Sulla Athen erstürmte und zerstörteY Im Erlöschen und Wiederentzünden lässt sich aber auch Abschluss, "Reinigung" und Neuanfang eindrucksvoll ausspielen. In Argos wird der Herd eines Hauses, in dem ein Mensch gestorben ist, gelöscht; nach der vorgeschriebenen Trauerfrist wird vom Staatsherd neues Feuer geholt und der Herd zu einem Opfer neu entfacht.44 Die Insel Lemnos "wird zu bestimmter Zeit im Jahr gereinigt, und man löscht das Feuer auf der Insel für neun Tage. Ein Festgesandtschaftsschiff aber holt Feuer aus Delos. Wenn es eingelaufen is~ und die Gesandtschaftsmitglieder das Feuer verteilt haben für alle übrigen Bedürfnisse des Lebens und insbesondere für die Handwerker, die Feuer brauchen, sagen sie, von jetzt ab beginne für sie ein neues Leben".45 Nach der Schlacht von Plataiai beschlossen die Griechen insgesamt, neues Feuer aus Delphi einzuholen; die Athener haben auch danach aufgrund bestimmter Zeichen immer wieder eine "Pythische" Gesandtschaft nach Delphi abgeordnet, um im Dreifußkessel Feuer nach Athen zu bringen.46 Die im Freien stehenden Altäre tragen keine ewigen Feuer, sie werden im Verlauf des Festes entzündet. Eben dies ist ein eindrucksvoller Akt im Festverlauf. In Olympia fällt es dem Sieger im Stadion-Wettlauf zu, den Altar, auf den das Stadion zuführt und wo die "geheiligten" Teile der Opfertiere bereit liegen, zu ersteigen und zu entzünden.47 An den Panathenäen wird das Feuer in einem Fackellauf vom Hain des Akademos über den Markt bis zum Altar der Göttin auf der Akropolis getragen.48 Argiver holen vom fernen Heiligtum der Artemis Pyronia das Feuer zur Feier in Lerna.49 Nächtliche Prozessionen mit Fackeln50 gehören zu den elementaren, immer wieder eindrucksvollen Bräuchen; sie haben ihren Platz vor allem in Dionysosfesten. Nichts prägt eine Situation so eigentümlich und unverwechselbar wie ein bestimmter Duft; Feuer spricht neben Augen, Ohren und Gefühl gerade auch den Geruchssinn an. Das Heilige wird erlebt als eine Atmosphäre göttlichen Geruchs.
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47 48 49 50
Hymn. 2,83 f. Plut. Numa 9,11, vgL HN 170 f.; Argos: Paus. 2,17,7; Asklepios: IG IV F 742 ~ LSS 25. Plut. quaest. Gr. 296F. --+ II 4 Anm. 46; IV 1. Philostr. Her. p. 235 Kayser, II 207 ed. Teubn., vgL Burkert 1970; HN 212-218. Plut. Aristid. 20,4-8; zur "Pythais": Hauptquellen Strab. 9,2,11 p. 404; SIG3 296 f.; 696-699; 711; 728; Gaston Colin, Le culte d'Apollon Pythien a Athenes, Paris 1905; Axel Boethius, Die Pythais, Diss. Uppsala 1918; Christina Gülke, Mythos und Zeitgeschichte bei Aischylos, Meisenheim 1969, 43-67; S. V. Tracy, BCH 99, 1975, 185-218. Philostr. Gymn. 5. Aristoph. Ran. 1090-1098. Zu Fackelläufen Jüthner RE XII 569-77; Vasenbilder: Metzger 1965, 70 f. Paus. 8,15,9. Miloje Vassits, Die Fackel in Kultus und Kunst der Griechen, Diss. München 1900; RE VI 19451953.
101
II
RITUAL UND HEILIGTUM
Man hat wohl seit langem darauf geachtet und dementsprechend bestimmte Hölzer und Zweige für das sakrale Feuer ausgewählt. Zu den Göttern gehören schon in der homerischen Formel die "duftenden Altäre".51 Bei Homer gerade erst im Ansatz zu fassen ist die Bedeutungsverschiebung, die das alte Wort für "räuchern", thyein, zum normalen Wort für "opfern" schlechthin werden ließ.52 Was Patroklos für die Götter ins Herdfeuer wirft, was Hesiod jeden Morgen und Abend als Rauchopfer zu verbrennen empfiehlt, ist nicht deutlich. 53 Spätestens um 700 setzt jedenfalls die Einfuhr spezieller Räucherwaren ein, die über phönikische Zwischenhändler aus Südarabien kamen, vor allem Weihrauch und Myrrhe; sie tragen im Griechischen semitische Namen. Mit dem Handel muss die Kultpraxis sich ausgebreitet haben. 54 Der Typ des Weihrauchständers, thymiaterion, ist babylonisch-assyrischer Herkunft und wohl über Zypern zu Griechen und Etruskern gekommen. Weihrauchopfer und -altäre gehören ganz besonders zum Kult der Aphrodite und des Adonis; so wird denn auch der Weihrauch zum ersten Mal in jenem Gedicht der Sappho genannt,55 das die Epiphanie der Göttin in ihrem Hain von Apfelbäumen und Rosen, zwischen zitternden Zweigen und Altären beschwört. Später ist die Verwendung des Weihrauchs allenthalben üblich; ein Körnchen Weihrauch in die Flamme zu streuen, ist der allgemeinste und schlichteste, auch billigste Opferakr. Aufwendig sind die Feste, die ganz von der vernichtenden Macht des Feuers geprägt sind. Am ausführlichsten ist die Schilderung, die - freilich erst in der Kaiserzeit - Pausanias vom Fest der Laphria in Patrai gibt: 56 "Um den Altar im Kreis stellen sie noch grüne Hölzer auf, je bis zu 16 Ellen lang; drinnen auf dem Altar liegen die trockensten Hölzer. Sie errichten zur Zeit des Festes einen glatteren Anstieg zum Altar, indem sie Erde auf die Stufen des Altars schütten. Lebend auf den Altar werfen sie essbare Vögel und alle Arten von Opfertieren, dazu auch Wildschweine und Hirsche und Rehe, manche (bringen) sogar junge Wölfe und Bären, andere sogar ausgewachsene Wildtiere. Sie legen auf den Altar auch Früchte kultivierter Bäume. Und dann legen sie Feuer an das Holz. Da sah ich, wie ein Bär und manch anderes 51 52
53 54
55 56
H. 8,48; 23,148; Od. 8,363; vgl. Hes. Theog. 557. In der Ilias nur 9,219 f; dann Od. 14,446; 15,222 vgl. 260 f; ein Seher als thyosk6os (-+ 118 Anm. 30) H. 24,221; Od. 21,145; 22,318; 321; thysia "Opfer" erstmals Hy. Dem. 268; 312; vgl. Stengel 1910, 4-6; Casabona 69-72; tu-we-ta im Mykenischen ist wahrscheinlich profan, -+ 13 Anm. 267; Jorro 1985/93 II s.v. 11. 9,220; Hes. Erga 338; thyein von Gerste Hy. Apoll. 491; 509. "Weihrauch" libanon, libanot6s - hebr. lebona; "Myrrhe" myrron - hebr. mur; Emilia Masson, Recherches sur les plus ancient emprunts semitiques en grec, Paris 1967,53-56; Walter W. Müller, Glotta 52, 1974, 53-59; Hans v. Fritze, Die Rauchopfer bei den Griechen, Diss. Berlin 1894; Friedrich Pfister, RE I A 267-286 (1914) s. v. Rauchopfer; Marcel Detienne, Les Jardins d'Adonis, Turin 1972, 71-76; Dieter Martinetz/Karlheinz Lohs/Jörg Jantzen, Weihrauch und Myrrhe, Berlin 1989; Wolfgang Zwickel, Räucherkult und Räuchergeräte, Fribourg 1990; zum Thymiaterion H. Wiegand, BJB 122, 1912, 1-97; RE VI A 706-714; EAA IV 126/30; Cristina Zaccagnino, Il Thymiaterion nel mondo greco, Rom 1998; ThesCRA I 255-268. Fr. 2 Voigt; Weihrauch und Myrrhe Fr. 44,30. Paus. 7,18,11-3; GF 218-221; zum ganzen Komplex Nilsson 1951, 1351 f; Meuli 1946, 209 f.
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1 "Heiliges wirken": das Tieropfer
Tier beim ersten Ansturm des Feuers nach außen stürmte, ja sogar mit Gewalt durchbrach; und die Leute, die sie hereingetrieben haben, treiben sie dann wieder zurück zum Scheiterhaufen". Das Heiligtum wird zum Amphitheater. Dies ist eine kaiserzeitliche Inszenierung, nachdem der Kult von Kalydon nach Patrai verlegt war. Der Kultplatz der Artemis Laphria in Kalydon bestand schon in geometrischer Zeit, der älteste Tempel wurde im 7. Jahrhundert erbaut. An ihren Kult knüpft sich der Mythos, den die Ilias erzählt, vom Zorn der Artemis, der zur "kalydonischen" Eberjagd und schließlich zum Tod des Meleagros führt; er starb nach der ursprünglichen, voriliadischen Version, indem seine Mutter Althaia ein bei seiner Geburt dem Feuer entrissenes Scheit dem Feuer wieder übergab: 57 Reflex eines Feuer-Vernichtungsopfers. Verwandt sind offenbar die Elaphebolia der Artemis von Hyampolis, auch das Fest der Kureten in Messene. 58 Ein anderes Feuerfest fand auf der Höhe des Oita-Gebirges zu Ehren des Herakles statt; Stieropfer und Agone gehörten dazu. 59 Es galt als Erinnerung an die schaurige Selbstverbrennung des Herakles an eben diesem Ort, ein Mythos, der gewiss dem Ritual wesentliche Züge entnommen hat. Daneben steht in Theben ein nächtliches Fest, bei dem "beim Untergang des Lichts die Flamme aufgehend ununterbrochen die Nacht durchfeiert, bis zum Äther ausschlagend mit fettem Rauch":60 Man ehrt die Alkeidai, "Söhne des Wehrhaften", die man als Kinder des Herakles bezeichnete; man erzählte dann, der Vater habe sie einst im Wahnsinn getötet und verbrannt. Auf dem Kithairon bei Plataiai feierten die Boioter ihr Feuerfest mit der Verbrennung hölzerner, roh menschengestaltiger Idole, der daidala, und erzählten dazu von Heras Streit und Versöhnung mit Zeus. 61 Immer wieder steht ein Menschen- oder Gottesopfer hinter den Feuerfesten, angedeutet im Ritual, ausgeführt im Mythos; die "Jahresfeuer" des europäischen Volksbrauchs sind darum nicht Ursprung und Erklärung der antiken Rituale,62 die mit Sonnen- und Jahreslauf nicht notwendig verbunden sind, sondern eher ihrerseits Ausläufer und Neudeutungen aus gleicher Wurzel. Zusammenhänge mit den minoischen Höhenkulten, vielleicht auch semitischen und anatolischen Feuerfesten sind zu erwägen, wenn auch nicht direkt beweisbar. 63 57
58 59
60 61 62 63
H. 9,529-599; Phrynichos Fr. 6; Bacch. 5,97-154; PR II 88-100; van der KolfRE XV 446-478; Ioannes Th. Kakridis, Homeric Researches, Lund 1949, 127-148. Zu Kalydon Ejnar Dyggve/Frederik Poulsen, Das Laphrion, Kopenhagen 1948. Hyampolis: Paus. 10,1,6; Plut. mul. virt. 244BD; GF 221-225; GGR 27 f - Messene: Paus. 4,31,9; GF 433 f. Ausgrabung: Deltion 5, 1919, Beil. 25-33; Yves Bequignon, La vallee du Spercheios, Paris 1937, 204-226; Nilsson 1951, I 348-354; GGR 87; 131; Burkert 2007,27 f; pyrd Soph. Phil. 1432; zum Fest Schol. T Il. 22,159; zum Mythos -+ IV 5.1. Pind. Isthm. 4,67-74, dazu Eveline Krummen, Pyrsos Hymnon, Berlin 1990, 33-97; Pherekydes FGrHist 3 F 14; ApolIod. 2,72; PR II 627-632. -+ 13 Anm. 83; II 7 Anm. 93; III 1 Anm. 108. "Das alte, gemeineuropäische Jahresfeuer" Nilsson bereits GF 225, vgl. GGR 130-132; doch fand der Oita-Agon alle 4 Jahre statt, die Daidala in noch größeren Abständen. -+ I 3 Anm. 83; 91-93.
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II
RITUAL UND HEILIGTUM
Feueropfer, bei denen Tiere oder gar Menschen "ganz" verbrannt werden, Holokauste, sind bezeichnend für die Religion der Westsemiten, der Juden und der Phöniker. In Karthago wurden noch in historischer Zeit Kinder verbrannt; in Jerusalern wurde das tägliche Verbrennen zweier einjähriger Schafe im Tempel zum Zentrum des Gottesdienstes. 64 Die Griechen bewunderten diese völlige Hingabe an den Gott,65 im Gegensatz zu ihrer eigenen fragwürdigen "prometheischen" Opferpraxis. Bei den Griechen gehören Holokauste zunächst zum Totenkult - so schon in der Odyssee; dies entspricht der Leichenverbrennung, man spricht gleichermaßen von "Feuerstelle", pyrd. 66 Die Religionswissenschaft verstand das Verbrennen als Charakteristikum einer besonderen Klasse, der "chthonischen" Opfer,67 im Gegensatz zur "olympischen" Opfermahlzeit; doch geht die Dichotomie nicht auf: Es gibt Opfermahlzeiten im Kult von Göttern, die ausdrücklich "chthonisch" heißen,68 es gibt die Opfermahlzeiten auch im Toten- und vor allem im Heroenkult;69 es gibt, selbst wenn man die großen Feuerfeste für Artemis oder Hera als Sonderfall ausklammern wollte, Holokauste sogar für Zeus.1° Bezeichnend ist eher, dass etwa für Zeus Polieus erst ein Ferkel verbrannt und dann ein Stier zum Opfermahl geschlachtet wird7I - eine Abfolge, die auch im Semitischen durchaus üblich ist und die gleichsam als Vergrößerung der Ordnung vom ,,verbrennen der Schenkelknochen" und späterer Mahlzeit beim Normalopfer entspricht.
1.4 Tier und Gott Entwicklungsgeschichtliche Theorien ließen gern dem Glauben an menschengestaltige Götter Tierverehrung als das "Primitivere" vorausgehen. Um die Jahrhundertwende kam dazu die Entdeckung des halbverstandenen "Totemismus", in dem man eine Urform von Religion überhaupt erblickte. So war man gern bereit, hinter den Göttern der Griechen gleichsam als ihre Vorgänger göttlich verehrte Tiere, Tiergötter, Totemtiere zu entdecken.72 Wenn dies bedeutet, dass der Gott identisch ist mit 64 65 66 67
68 69 70 71 72
Karthago: Diod. 20,14; diese "Moloch"-Opfer sind besonders kontrovers, Burkert 1998, 71 f. Zum Holokaust AT Ex. 29,38-43; Num. 28,1-8; Ringgren 1963, 162. Vgl.14 Anm. 45. Theoprast bei Porph. abst. 2,26; vgl. Phiion leg. ad Gaium 356. Od. 11,31. -+ Anm. 42; vgl. auch Anm. 71. Rohde 1898, 148-152; Pfister 1909/12, 477; KA 105; 124; Harrison 1922, 1-31; Neuansätze bei Renate Schlesier, Kulte, Mythen und Gelehrte, Frankfurt a.M. 1994,21-32; Scott Scullion, Olympian and Chthonian, CIAnt 13, 1994, 75-119; Hägg/Alroth 2005. Stengel1910, 131-133; KA 124 f. Nock 1972, II 575-602. -+ IV 1 Anm. 25; IV 3. Erchia-Kalender LSCG 18 G 23 für "Zeus Epopetes", vgl. für "Epops" D 21, E 13. Auf Kos, LSCG 151 A 29-36. -+ I 4 Anm. 46. Bes. Cook, Salomon Reinach, auch Harrison und Cornford, vgl. Einleitung 1 Anm. 16 sowie 21/23; vgl. Visser 1903,13-16; 157-209; GGR 212-216; kritisch GiampieraArrigoni, ASNP 14, 1984,937-
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1 "Heiliges wirken": das Tieropfer
seinem Opfertier, dann wird der Gott selbst geopfert und gegessen. Nicht zuletzt die Berührung mit der christlichen Theologie vom Messopfer gaben diesen Überlegungen Brisanz. Zu unterscheiden freilich wäre - was im Begriff des "theriomorphen Gottes", speziell des "Stiergottes" leicht verwischt wird - zwischen einem als Tier benannten, beschriebenen, dargestellten und verehrten Gott, einem realen, göttlich verehrten Tier, Tiersymbolen und Tiermasken im Kult und schließlich dem geheiligten, zum Opfer bestimmten Tier. Tierverehrung von der Art des ägyptischen Apis-Kults ist in Griechenland unbekannt. Die Schlangenverehrung ist ein SonderfallY Mit Tierverwandlungen spielt der Mythos: Poseidon zeugt in Pferdegestalt mit der in eine Stute verwandelten Demeter das Urpferd Areion und eine geheimnisvolle Tochter;74 Zeus entführt als Stier Europa von Tyros nach Kreta und zeugt mit ihr Minos. Wenn daneben erzählt wird, wie der meerentstiegene Opferstier sich mit Minos' Gattin Pasiphae paarte und den Minotauros zeugte,75 scheint die Identifizierung von göttlichem Ahnherrn und Opfertier perfekt. Doch der ausformulierte Mythos setzt Minos und Minotauros so wenig gleich wie ihre Erzeuger. 10, Heras Priesterin in Argos, wird als Kuh von einem in Stierhaut gehüllten Wächter, Argos, bewacht, wird von Zeus geschwängert, von Hera durch die Welt gejagt; Zusammenhänge mit den Rinderherden und Rinderopfern der Hera von Argos sind deutlich. 76 Und doch vermeiden es die Griechen, auch nur metaphorisch Zeus und Hera "Stier" oder "Kuh" zu nennen, was doch etwa Ägypter und Ugariter gegenüber ihren Göttern ohne Scheu getan haben. Nur die erstarrte homerische Formel von der "kuhäugigen Herrin Hera" ist eine Bezeichnung solcher Art, bei der nicht mehr zu entscheiden ist, was Metapher und was "Glaube" war. Eine Ausnahme macht Dionysos. Er wird im Kultlied aus Elis als "Stier" angerufen, zu kommen, "mit dem Rindsfuß tobend", als "würdiger Stier";77 er wird nicht selten mit Stierhörnern dargestellt; er hat in Kyzikos ein stiergestaltiges Kultbild; von ihm erzählt auch ein Mythos, wie er als Stierkalb geschlachtet und von den frevelhaften Vorzeitwesen, den Titanen, gegessen wurde. Dieser Mythos allerdings ist in der
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1019, bes. 975 ff; ablehnend Karl Meuner, Der Totemismus bei den Griechen, Diss. Bonn 1919. Zum Problem der Tiergestalt ägyptischer Götter sei verwiesen auf Siegfried Morenz, Ägyptische Religion, Stuttgart 21977,20 f; Erik Hornung, Der Eine und die Vielen, Darmstadt 1971, 101-114. Zur Schlange -13 Anm. 112-117; IV 2 Anm. 3-5. -1Il1 Anm. 145/6. PR ll352-64. --+ I 3 Anm. 38. HN 181-189; Cook 1I1630-641. Plut. qu. Gr. 299B = PMG 871 (dyon statt thyon ist ein Druckfehler der Teubner-Ausgabe); Eur. Bacch. 1017 f; "Gott Stier", theils tauTOS, in Thespiai, IG Vll1787; GGR 215,2. - Kyzikos: Ath. 476 a. - Mit Stierhörnern: Soph. Fr. 959, Stesimbrotos FGrHist 107 F 13; Ath. 476 a; Horaz c. 2,19,30. - Cook kann in seinem langen Kapitel über "Zeus as an ox" (Ill 605-655) eine einzige Darstellung eines gehörnten "Zeus Olbios" anführen (Ill629), eine kaiserzeitliche Stele aus der Gegend von Kyzikos, vgl. zu diesem RE X A 341 f.
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1I
RITUAL UND HEILIGTUM
klassischen Zeit verdrängt, geheimgehalten, da er mit dem öffentlichen Bild des Göttlichen nicht vereinbar ist. In der Ikonographie erscheinen Gott und Tier einander zugeordnet: Mit Zeus oder Poseidon erscheint der Stier, mit Poseidon auch das Pferd, mit Hermes Widder oder Ziegenbock, mit Apollon und Artemis bald Hirsch, bald Reh. Nun hat die Bildtradition ihr Eigenleben, zumal sie die Götter durch Attribute zu differenzieren hat. Stiergott und Hirschgott lassen sich ins Kleinasiatisch-Hethitische zurückverfolgen;7B die Eule der Athena, der Adler des Zeus, der Pfau der Hera-Juno sind für die Griechen kaum mehr als Wappentiere. 79 Der Mythos lässt Hekabe in einen Hund verwandelt und der Göttin Hekate beigesellt werden, wobei zweifellos die Namen HekabeHekate assoziiert sind; doch bezeichnet wird dieser Hund als "Agalma" der Göttin,BO "Prunkstück", an dem sie ihre Freude hat, ähnlich wie jeder Gott sich über die in seinem Heiligtum aufgestellten Tierfiguren freut. Viele von diesen allerdings vertreten wiederum die für den jeweiligen Gott charakteristischen Opfertiere: Stiere für Zeus und Poseidon, Hirsche und Ziegen für Artemis und Apollon, Widder und Bock für Hermes, Tauben für Aphrodite. Grundtatsache ist das Tieropfer. In ihm werden Macht und Gegenwart des "Stärkeren", des Gottes erfahren. Nach dem bis C;atal Hüyük und weiter zurückreichenden Brauch werden Hörner, insbesondere Stierschädel mit Hörnern, Bukrania, im Heiligtum erhöht und aufbewahrt;Bl sie markieren die Stätte so gut wie die Blutflekken am Altar. Geradezu als Weltwunder galt der aus Ziegenhörnern verfertigte "Hörneraltar" der Artemis von Delos. In den Zusammenhang des Opfers gehören auch die merkwürdigsten, direktesten Belege für Tiermaskierung: In zyprischen Heiligtümern waren aus realen Stierschädeln über den Kopf zu stülpende Masken verfertigt worden, von denen auch Terrakotten eine Vorstellung geben. Dass nicht direkt ein Stiergott dargestellt ist, sondern Priester, ergibt sich aus dem zugehörigen Mythos von den "Gehörnten", den Kerastai, die grausame Menschenopfer darbrachten. B2 Der Opfernde versteckt sich, indem er dem Opfer sich angleicht, er macht damit zugleich
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"Schutzgott" und "Wettergott" auf Reliefs von Malatya, Akurgal/Hirmer 1961, T. 104 f. Zur Eule der Athena MMR 493-6; Cook 1940, III 776-836; Spiridon Marinatos, AM 83, 1968, 167-174; im Hintergrund steht wohl orientalische Mythologie und Ikonographie um eine Raubvogel-Potnia, vgL Cook T. 61 und die syrischen Siegel ZDPV 64, 1941, T. 7, 89/90. Zur Vogelepiphanie 13.5 Anm. 23-25. Eur. Fr. 62h. HN 13 f.; Bukranien bezeichnen oft aufVasenbildern das Heiligtum; vgL die Lindische Tempelchronik, FGrHist 532 C 38-40; Theophr. char. 21,7. Depots von Ziegenhörnern schon in der Höhle von Psychro (- I 3 Anm. 61), Rutkowski 1972, 139, in Kato Syme (- I 4 Anm. 17), im Tempel von Dreros, BCH 60, 1936, 224 f, 241-244; zum "Hörneraltar" von Delos Dikaiarchos Fr. 85 Wehrli; Kallim. Hymn. 2,58-64; Erich Bethe, Hermes 72, 1937, 191-194; Robert Flaceliere, REG 61, 1948, 79-81. Erik Sjöquist, ARW 30, 1932,345; Vasos Karageorghis, HThR 64,1971,261-270; Ov. met. 10,22337; vgL die "horntragenden Jungfrauen" im Kult des Dionysos Laphystios in Makedonien, Lykophr. 1237 m. SchoL ....,. 14 Anm. 49; II 7 Anm. 44.
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1 "Heiliges wirken": das Tieropfer
die früher getöteten Wesen scheinhaft wieder lebendig. Man kann vermuten, dass Bocksopfer, "Pane" als Masken und der Bocksgott Pan in ähnlicher Weise zusammengehören, auch dass eben darum das Satyrspiel auf die Tragödie folgt, weil man den von den "Bockssängern" beklagten Bock in dem mit seinem Fell Maskierten in spaßiger Weise "auferstehen" ließ.83 Auch das "reinigende" Tragen eines Widderfells 84 war wohl mit einem Widderopfer verbunden. Doch fehlen direkte Zeugnisse. In .besonderer Weise scheint das Tier im griechischen Opfer nun aber gerade dem Menschen zugeordnet. Immer wieder wird im Mythos ausgemalt, wie ein Tieropfer ein Menschenopfer ersetzt oder aber umgekehrt ein Tieropfer ins Menschenopfer umschlägt;85 eines ist im anderen gespiegelt. Eine gewisse Äquivalenz von Tier und Mensch ist wohl schon aus der Jägertradition vorgegeben, ist auch dem Viehzüchter selbstverständlich. Da sind Augen, "Gesicht", Essen, Trinken, Atmen, Bewegung und Erregung in Angriff und Flucht. Dazu kommt gerade beim Schlachten das warme Blut, Fleisch, Haut und Knochen, dann die spldnchna, die seit je bei Mensch und Tier gleiche Namen tragen, Herz, Lunge, Nieren, Leber, Galle, schließlich Form und Funktion der Genitalien. Dass ein Tier "an Stelle" eines Menschen geopfert wird, kann ausdrücklich ausgesprochen werden. 86 Bei jener "Trennung" von Göttern und Menschen im Opfer gehört das sterbende Tier insofern auf die Seite der Menschen, der Sterblichen; zum Gott steht es in einem Verhältnis der Polarität: Eben durch den vollzogenen Tod bestätigt es e contrario die überlegene Macht des ganz anderen, des todlosen, "ewig seienden" Gottes.
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Doch ist das Verhältnis der Tragödie zum Satyrspiel und die Beziehung der Satyrn zum Bock seit langem heiß umstritten; es genüge der Verweis auf Albin Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 1972, 17-48, und Burkert 2007,2-14. --;> II 7 Anm. 34. "Widderfell des Zeus", Dias k6dion, vgl. Harrison 1922, 23-28; GGR 110-113; HN 129-131. Burkert 2007, 23 f; HN 28 f; vgl. Angelo BreIich in: Myths and Symbols. Studies in honor of Mircea Eliade, Chicago 1969, 195-207. Porph. abst. 2,28.
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II
RITUAL UND HEILIGTUM
2 Gabenopfer und Libation
2.1 Primitialopfer Geben und Wieder-Empfangen, Austausch von Geschenken ist in menschlicher Gesellschaft ein sozialer Vorgang ersten Ranges; durch ihn werden persönliche Bindungen geschaffen und aufrechterhalten, Verhältnisse der Über- und Unterordnung ausgedrückt und anerkannt.! Wenn die Götter die "Stärkeren" und zugleich "Geber des Guten" sind, haben sie Anspruch auf Gaben. Platon lässt Sokrates die Frömmigkeit definieren als das "Wissen um Opfern und Beten", Opfern aber als "den Göttern Schenken" und rechnet mit selbstverständlicher Zustimmung. 2 Dass der im Tieropfer geübte Brauch dazu nicht passt, scheint urzeitlicher Betrug zu sein;3 doch geht er mit Gaben an die Götter Hand in Hand, abgesehen davon, dass das Haustier als Besitz zum Schlachten ja auch hergegeben werden muss, zu Ehren des Gottes. Eine Urform des Gabenopfers, so allgegenwärtig, dass es in den Diskussionen um den "Ursprung der Gottesidee" eine Rolle spielte, ist das "Primitialopfer",4 die Hingabe von "Erstlingen" der Nahrung, ob diese nun aus Jagd, Fischfang, Früchtesammeln oder Ackerbau gewonnen ist. Die Griechen sprechen von ap-archai, den "vom" Ganzen genommenen "Anfängen"; denn zuerst kommt der Gott. Freilich liegt wenig daran, auf welchen Wegen einem höheren Wesen etwas davon zukommen mag. Man kann solche Gaben an geheiligter Stelle deponieren, wo sie anderen Menschen oder den Tieren preisgegeben sind, man kann sie versenken in Quellen und Flüssen, Moor und Meer,5 man kann sie verbrennen; Gabenopfer schlägt um in Vernichtungsopfer. Möglich ist freilich auch, dass die Gaben über die Organisation von Tempelwirtschaft und Priestertum doch wieder Menschen zugute kommen; zunächst jedenfalls ist im Verzicht eine höhere Ordnung jenseits des Futterneids demonstrativ anerkannt. Muster schlichter Frömmigkeit in der Odyssee ist der Hirte Eumaios, der auch den Göttern gegenüber seinen "guten Sinn" beweist. Wenn er für Odysseus ein Schwein schlachtet, legt er rohe Fleischstücke, "von allen Gliedern den Anfang neh-
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Marcel Mauss, Essai sur le don, Annee sociologique II 1, 1923/4 = Sociologie et anthrophologie, 31966, 143-279; Folkert T. van Straten, Gifts for the Gods, in: Versnell981, 65-151; Tullia Linders/ Gullög Nordquist (Hrsg.), Gifts for the Gods, Uppsala 1987; Burkert 1998, 158-188. Plat. Euthyphr. 14c. -+ II 1 Anm. 19. Anton Vorbichler, Das Opfer auf den uns heute noch erreichbaren ältesten Stufen der Menschheitsgeschichte, Mödling 1956, im Anschluss an Wilhem Schmidt, Der Ursprung der Gottesidee I-X, Münster 1908-1952. Das lateinische Aequivalent zu aparchat ist primitiae; "Erstlinge" ist Luthers Wiedergabe von hehr. bikkurim. Zum Griechischen Stengel RE I 2666-2668; Rouse 1902, bes. 39-94; Hans Beer, Aparche und verwandte Ausdrücke in griechischen Weihinschriften, Diss. Würzburg 1914; Rudhardt 1958, 219-222. Versenkungsopfer gibt es seit dem Paläolithicum (HN 22); die Griechen kennen das Versenken von Tieren in Quellen: Lerna Plut. Is. 364F; Kyane Diod. 5,4,2; vgl. Eust. 1293,8, und ins Meer: Argos Paus. 8,7,2. -;> II 5 Anm. 6.
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mend" in Fett, bestreut dies mit Mehl und wirft das ganze ins Feuer; beim Austeilen legt er eine von sieben Portionen vorab "für Hermes und die Nymphen" beiseite; ehe die Menschen zugreifen, lässt er "erste Bissen", drgmata, in Rauch aufgehen. 6 Auch sonst gelten die Erstlingsopfer als bezeichnend für eine altväterlich einfache, bäuerliche Sphäre.7 Von allem, was die Jahreszeiten bringen, trägt der Fromme ein Weniges an "Jahreszeiten-Gaben" (horaia) in ein Heiligtum: Getreideähren oder Brote, Feigen und Oliven, Trauben, Wein und Milch. Solche Gaben, an kleinen ländlichen Heiligtümern geweiht, sind ein beliebtes Thema hellenistischer Epigrammatik. 8 Volkstümliche, "kleine" Götter werden genannt, Pan, Hermes, die Nymphen, Herakles, Priapos, natürlich auch Demeter und Dionysos; aber auch Heroen werden so geehrt, auch die Gefallenen von Plataiai,9 mitunter auch der Stadtgott selbst wie Poseidon von Troizen.!O Die eigentlichen Erntefeste sind nicht in den Staatskalender aufgenommen; der Bauer oder Gutsherr feiert seine thalysia nach Abschluss der Ernte auf seinem Feld oder Landgut,!! wobei natürlich festliches Essen und Trinken den Ton angeben, auch wenn man der Götter nicht vergisst; dabei mündet das Primitialopfer wieder in das übliche Tieropfer ein. Xenophon hat von seinem Beuteanteil, den er vom "Zug der Zehntausend" retten konnte, in Skillus bei Olympia ein Artemisheiligtum gestiftet mit Tempel und Altar, "und künftig brachte er jeweils den Zehnten von dem, was im Lauf des Jahres die Äcker trugen, dorthin und veranstaltete davon ein Opfer für die Göttin; und alle Nachbarn, Männer und Frauen, hatten Teil am Fest. Die Göttin spendete den in Zelten Gelagerten Mehl, Brote, Wein, Nüsschen und Oliven, dazu eine Portion von den geopferten Tieren aus der heiligen Weide, und auch von den gejagten Tieren ...".12 Der "Zehnte" wird umgesetzt in die Gabe, die die Göttin ihrerseits im Fest ihren Gästen bietet. Sonst wird der "Zehnte" oft als dauerhaftes Weihgeschenk, gleichsam als Steuer, dem Tempel überantwortetP Um 420 hat das Heiligtum von Eleusis öffentlich seinen Anspruch angemeldet, Primitialopfer für die Getreidegöttin Demeter in gesamtgriechischem Rahmen einzuziehen:!4 "Erstlingsopfer sollen den beiden Göttinnen die Athener von der 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Od. 14,414-453; GGR 145 f. aparchai als ältestes Opfer: Theoprast bei Porph. abst. 2,5; 20; 27; vgl. schon Platon Leg. 782c; Arist. EN 1160a 25-27. Z.B. A.P. 6,42 (Pan); 299 (Hermes); 22 (Priapos); 36 (Demeter); 44 (Dionysos); Paus. 9,19,5 (Herakles in Tanagra); Rouse 1902, 49-51; Laurence Demoule-Lyotard, Annales E.S.C. 26, 1971,705-722. Thuk. 3,58,4; vgl. Hsch. s.v. horaia. Plut. Thes. 6. Homer Il. 9,534; Theokrit 7; A.P. 6,258; RE VA 1230 f; zu den Thargelia -+ II 4 Anm. 70; zu den Oschophoria AF 142-147. Xen. Anab. 5,3,9. Z.B. ein Bronze-Kuros, 1G XII 5,42 = Friedländer/Hoffleit 1948, 14 b; ein Bronze-Granatapfel 1G l' 418 = Friedländer/Hoffleit 12 d; eine Tierfigur = Friedländer/Hoffleit 126; vgl. 122 abcd. 1G P 78 = S1G3 83 = LSCG 5; ein neues Gesetz (353/2) LSS 13; zu den Silos (siroi): Mylonas 1961, 125 f.
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Feldfrucht bringen nach väterlichem Brauch und nach dem Spruch aus Delphi, von hundert Scheffeln Gerste nicht weniger als einen Sechstelscheffel, von hundert Scheffeln Weizen nicht weniger als einen Zwölftelscheffel ... Die Demarchen sollen dies in den Dörfern einziehen und den Opferdienern aus Eleusis nach Eleusis liefern; drei Getreidesilos sollen in Eleusis gebaut werden ... Erstlingsopfer sollen auch die Bundesgenossen in gleicher Weise bringen ... Sie sollen sie nach Athen schicken ... Der Stadtrat soll auch allen anderen griechischen Städten Botschaft senden ... und soll sie auffordern, Erstlingsopfer zu tun, wenn sie wollen ... Auch aus diesen Städten sollen, wenn einer Gaben bringt, die Opferdiener diese in gleicher Weise in Empfang nehmen. Opfern soll man vom Opferkuchen wie die Eumolpiden Weisung geben, ferner eine Dreiheit, mit einem Rind beginnend, für jede der beiden Göttinnen von der Gerste und vom Weizen, so dann für Triptolemos und den Gott und die Göttin und Eubulos jeweils ein vollwertiges Opfertier und für Athena ein Rind mit vergoldeten Hörnern". Die Silos sind damals in der Tat erbaut worden, dem Heiligtum flossen Einnahmen zu, die offenbar einfach als Kapital des Tempels betrachtet und zur Finanzierung normaler Opferfeste verwendet wurden. Die Tieropfer ihrerseits sind - wie auch in Israel - regelmäßig von Speisegaben begleitet. Beispielshalber bestimmt eine Stiftung auf Thera: 15 "Sie sollen einen Ochsen opfern, dazu (Speisegaben) aus Weizen von 1 Scheffel, aus Gerste von zwei Scheffeln, ein Maß Wein und andere Erstlinge, was die Jahreszeiten bringen". Zu den ungeschroteten Gerstenkörnern, die man beim "Anfangen" nimmt und wirft, kommt auch "Gemahlenes", psaistd, in verschiedenen Formen, als Mehl, Brei, Fladen, Kuchen;16 hier herrscht im Einzelnen bunte Mannigfaltigkeit. Solche Gaben werden auf dem Altar verbrannt, teils vor, teils nach Knochen und Fett des Opfertieres. Doch hält man das Ausmaß der vernichteten Esswaren in Grenzen. Seit klassischer Zeit mehr und mehr bezeugt ist das Aufstellen von Opfertischen, trdpezai, neben dem Altar; auf ihnen werden auserlesene Bratenstücke, Kuchen und ähnliche Gaben aufgestellt; sie fallen dann dem Priester zu. Noch rationaler wird das Verfahren, wenn diese Gaben von vornherein in Geld eingezogen werden; man spricht noch von "Erstlingen", fordert aber schlicht, sie in die Opferbüchse, den thesauros, zu werfen.17 In Sonderfällen steht das Darbringen von Erstlingsfrüchten für sich, ohne Tieropfer oder geradezu im Kontrast zu ihm. So in Phigalia in Arkadien: "Früchte von Obstbäumen und besonders die Frucht des Weinstocks, auch Honigwaben und unbearbeitete Wolle ... legen sie auf den Altar ... und gießen dann Öl darüber".IBIn diesem Fall ist durch den Mythos vom Verschwinden der Demeter und auch durch das Ritual eine Verbindung mit dem bronzezeitlichen Anatolien gegeben. Wenn auf Delos der 15 16 17 18
LSCG 134. Vgl. z.B. Ath. 10gef; 114ab; 148f; Pollux 6,75; Lobeck 1829, 1050-1085; zu pelan6s Stenge! 1910, 66-72; zu trdpezai -> Il 6 Anm. 16. LSCG 155 (Asklepieion, Kos); LSCG 88 (Olbia). Paus. 8,42,11. --i> 1Il1 Anm. 146; 1Il1 Anm. 376.
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Altar von Apollon Genetor, dem "Erzeuger", nie zum blutigen Opfer diente, wenn ein anderer unblutiger Altar, Zeus Hypatos dem "Höchsten'! geweiht, vor dem Erechtheion in Athen stand,19 könnte wie in Paphos 20 bronzezeitliche Tradition bewahrt sein: der Altar als "Table of offerings" minoisch-mykenischen Stils.
2.2 Votivopfer Mehr im Anlass als im Gehalt verschieden vom Primitialopfer ist das Votivopfer, die Gabe an die Gottheit aufgrund eines Gelübdes. In den alten Hochkulturen ist es überall vertreten und bestimmt sehr wesentlich das Verhältnis der Menschen zu den Göttern im Sinn von Gabe und Gegengabe. 21 In Not und Gefahr sucht sich der Mensch durch einen "freiwilligen", selbst bestimmten und begrenzten Verzicht zu retten, durch ein von ihm gesetztes Wenn-Dann die ungewisse Zukunft zu meistern. Alle Angstsituationen können dazu Anlass bieten, im privaten Bereich besonders Krankheit, aber auch die Risiken der Seefahrt, in der Öffentlichkeit Hungersnot, Seuche, Krieg. Das Gelübde erfolgt laut, feierlich und vor möglichst vielen Zeugen das griechische Wort euche heißt "lauter Ruf", "Gebet" und "Gelübde" zugleich;22 die Erfüllung ist dann nach dem Erfolg unabdingbare Pflicht, freilich zugleich Gelegenheit, eben diesen Erfolg den Göttern und Menschen vor Augen zu führen. Inhalt des Gelübdes kann jede Gabe sein, die einen wenigstens minimalen Aufwand erfordert; so etwa ein bestimmtes Tieropfer,23 in dem nach überstandener Krise die Menschen sich der göttlichen Ordnung vergewissern; ebenso nahe liegt es, Erstlingsopfer zu versprechen oder zu steigern. Votiv- und Primitialopfer verschlingen sich dann im Kreislauf des Jahres zu einer nicht abreißenden Kette: Man betet beim Ernte-Opfer bereits um neues Wachstum und Gedeihen und verspricht, auch hiervon den Göttern ihr Teil geben. Man kann darüber hinaus ein Heiligtum mit Altar oder gar einen Tempel neu errichten;24 zu solcher Initiative freilich bedarf es eines ungewöhnlichen Anlasses und meist einer besonderen Legitimation durch göttliches Zeichen. Man kann den bestehenden Heiligtümern Grundbesitz, Sklaven und Tierherden stiften. 25 Man kann bewegliche Habe dem Tempel überlassen, vor allem 19 20 21 22 23 24 25
ApolIon Genetor: Arist. Fr. 489; Timaios FGrHist 566 F 147; eie. n. d. 3,88; Iambl. V. Pyth. 25; 35.0d. 12,346 f; - Athen: Paus. 1,26,5. Tac. Hist. 2,2 f ---<> I 3 Anm. 153; I 1- Anm. 6. Grundlegend Rouse 1902; kurz GGR 134; Burkert 1990, 21 f; nur Römisches im Art. Votum RE Suppt. XIV 964-973. - II 3 Anm. 7 und 10. Il. 6,305-310; Od. 10,521-525 (11,29-33). Od.12, 346 f; Tempel errichten nach den Siegen von 480 sowohl Themistokles (Plut. Them. 22) als auch Gelon von Syrakus (Diod. 11,26,7). Grundbesitz: Plut. Nik. 3,6; Sklavinnen für Aphrodite: Pind. Fr. 122 (- III 1 Anm. 298); für DeI-
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kostbare Gewänder, oder auch Grundbesitz. Am üblichsten aber ist es, eigens hergestellte Kunstgegenstände ins Heiligtum "hinaufzulegen", "Votive" im eigentlichen Sinn, Anathemata. 26 Die aufwendigste Form des "Hinauflegens" aufgrund von Gelübde und Erstlingsopfer gehört zum Krieg. Schon Hektor gelobt, die Rüstung des Gegners dem Apollon zu weihen; Odysseus überlässt Kappe, Bogen und Speer des Dolon der Athena. 27 Später wird im Krieg von der Beute regelmäßig ein fester Anteil, meist ein Zehntel (dekate), für den Gott "herausgenommen", ehe es ans eigentliche Verteilen geht; man nennt diese Abgabe auch akrothinia, das "Oberste vom Haufen". Meist wird der Beute anteil bereits vor der Schlacht einem oder mehreren Göttern durch Gelübde zugesprochen; damit steht dann auch fest, wem das Heer seinen Sieg verdankt. 28 Beute besteht vor allem in Waffen: alle griechischen Heiligtümer prangen von den dorthin geweihten Beutewaffen, besonders den Schilden. Große Einnahmen erzielt man auch durch den Verkauf bzw. das Lösegeld von Kriegsgefangenen; hiervon wird wiederum der "Zehnte" dem Gott gegeben, indem davon prunkvolle Weihgeschenke hergestellt werden. Einige der bekanntesten Kunstdenkmäler Griechenlands sind auf diese Weise zustande gekommen, von der "Schlangensäule" aus dem Perserkrieg in Delphi über die Nike des Paionios in Olympia bis zur Nike von Samothrake. Die "Heilige Straße" in Delphi ist gesäumt von den Monumenten der Siege, mit denen die Griechen im 5. und 4. Jahrhundert sich gegenseitig zerstört haben. Der Polytheismus gestattet, ohne Hemmung jeden Sieg als Machterweis eines "Stärkeren", als Gunst je besonderer Götter aufzufassen, die auf die entsprechende Dankesgabe der von ihnen ErhobenenAnspruch haben; eine Garantie gegen Wechsel und jähen Sturz ist damit nicht gegeben. Daneben gelangen in die Heiligtümer, gerade aufgrund von Gelübden, auch uneigentliche "Gaben", die man keinem Menschen anbieten würde. Zum Dank für Heilung stiftet man Nachbildungen der betroffenen Körperteile. 29 Dann gibt es vor allem das Haaropfer. Achilleus schneidet an der Bahre des Patroklos sein langes Haupthaar, das dem heimatlichen Fluss Spercheios gelobt war. Vielerorts haben Jünglinge und
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phi: Paus. 4,36,9; Eur. Phoin. 202-238; Tempelherden: KA 93 f; HN 23,20. "Hierodulen" in großer Zahl gibt es in den hellenistischen Heiligtümern Kleinasiens. Zur Lokrischen Mädchenweihe -+ II 4 Anm. 86. -+ II 5.4. H. 7,81; 10,458-464; 570 f. Auch Philister bringen die Rüstung des gefallenen Saul ins Heiligtum der Astarte, I. Sam. 31,10. Vgl. die Inschrift in Selinus IG XIV 268, dazu William M. Calder, The Inscription from Temple G at Selinus, Durham 1963. Beuteweihungen z.B. Paus. 5,27,12 = Friedländer/Hoffleit 1948, 95a; 1G VII 37 = Friedländer/Hoffleit 23; 95c; Hdt. 9,81; 8,27,5; Rouse 1902,95-148; zu Weihungen in Olympia Mallwitz 1972, 24-39; Lothar Semmlinger, Weih-, Sieger- und Ehreninschriften aus Olympia und seiner Umgebung, Diss. Erlangen 1974, Nr. 1-56; zur Nike des Paionios Richard Harder, Kleine Schriften, München 1960, 125-136. Folkert T. van Straten in: Versnel 1981, 105-151; Björn Forsen, Griechische Gliederweihungen, Helsinki 1996.
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Mädchen beim Eintritt ins Erwachsenenalter ihr Haar geschnitten und einer Gottheit geweiht, einem Fluss, einem lokalen Heros, einem Gott; der Anspruchsvollste fährt hierzu gar nach Delphi. Ähnlich ist es, wenn Mädchen ihr Kinderspielzeug in ein Heiligtum weihen und bei der Hochzeit den Gürtel Artemis darbringen. 3o Man "weiht", wovon man sich lossagt: Kimon weiht das Zaumzeug seines Pferdes, als er zur Seeschlacht antritt. Der vormals Arme "weiht", als der Reichtum hereinbricht, seinen· schlechten Kittel samt Schuhen, "nette Geschenke für den Gott", kommentiert der Komiker. So weihen Jäger, Fischer, Bauern, die sich auf das Altenteil setzen, ihr Arbeitsgerät in ein Heiligtum. 31 Dort bleibt aufgehoben, was der Mensch in einer Lebenswende hinter sich lässt; die Weihung ist nicht rückgängig zu machen, das SichLossagen ist unwiderruflich. Im Hintergrund steht offenbar die Sakralisierung von Resten der Opferhandlung im Heiligtum, das Aufhängen des Fells, die Erhöhung des Schädels. In der Haarweihe überlässt der Mensch der höheren Macht ein Stück von sich selbst - ein Verlust freilich, der nicht schmerzt und sich von selbst wieder ersetzt; die Angst der Lebenswende wird zur Andeutung eines Sich-Loskaufens vom Anspruch der bisher bestimmenden Mächte. So darf insbesondere die Braut nicht vergessen, der jungfräulichen Artemis Reverenz zu erweisen. Im Heiligtum von Brauron werden die Gewänder der Frauen, die im Wochenbett verstorben sind, geweiht,32 als deute der Fehlschlag auf eine nachträglich zu begleichende Schuld.
2.3 Libation Unserem Kulturkreis ist entschwunden, was seit prähistorischen Zeiten und insbesondere in den Hochkulturen der Bronzezeit eine der geläufigsten Sakralhandlungen war, das Ausgießen von Flüssigkeiten, die Libation. 33 Die Griechen verwenden, 30
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Haaropfer: Ludwig Sommer, Das Haar in Aberglauben und Religion der Griechen, Diss. München 1912; Paul Schredelseker, De superstitionibus Graecorum quae ad crines pertinent, Diss. Heidelberg 1913; Rouse 1902, 241-245; Achilleus Il. 23,141-153; Delphi: Theophr. char. 21,3; Delos: Hdt. 4,34; Kallim. Hymn. 4,296-299; Paus. 1,43,4; Troizen: Eur. Hipp. 1425 f; Paus. 2,32,1; Agyrion: Diod.4,24,4; ferner z.B. Paus. 1,37,3; 1,43,4; 7,5,7; 7,17,8; 8,41,3; 8,20,3; Pind. Py. 4,82; PoIl. 3,38; Ath. 11,494; A.P. 6,155; 156; 276; 277; 59; bereits minoisch, PM IV 480. Spielzeug: Rouse 249-251; A.P. 6,280. Gürtel: A.P. 6,59; Paus. 2,33,1; Apostol. 10,96 (Paroem. Gr. Il 513); John Boardman, Excavations in Chios, London 1952-1955: Greek Emporio, 1967,214-221; ähnlich schon babylonisch, RAC IX 46. - Nach athenischem Volksbeschluss (375/4) wird Falschgeld der Meter geweiht, Hesperia 43, 1974, 174 f. Plut. Kim. 5,2; Aristoph. Plut. 842-849; A.P. 6,1; 5; 18 f; 25-30; 38, 46; 63 etc. Eur. Iph. Taur. 1464-7. Johannes v. Fritze, De libatione veterum Graecorum, Diss. Berlin 1893; Kircher 1910; Paul Stengel, Hermes 50,1915,630-635; KA 103-105; Hanell RE VI A 2131-2137 s.v. Trankopfer; Rudhardt 1958,240-248; Casabona 1966, 231-268; Albrecht Citron, Semantische Untersuchungen zu spen· desthai, spendein, euchesthai, Diss. Bern 1965; Graf 1981; Lissarague 1995; ThesCRA I 237-253. --+ I 3 Anm. 157-161.
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neben dem poetischen Wort leibein, loibe, zwei Termini, in denen sich offenbar anatolische und indogermanische Tradition treffen,34 spendein, sponde auf der einen, cheein, choe auf der anderen Seite; bezeichnenderweise gehört spendein vor allem zum Wein, dem mediterranen Gewächs; freilich gibt es auch choai mit Wein, spondai mit Honig, Öl und Wasser. 35 Die Unterscheidung erfolgt zunächst nach Gefäß und Hantierung: sponde aus der in der Hand gehaltenen Kanne oder Schale mit gezieltem Strahl, choe als vollständiges Kippen und Leeren eines größeren, in der Hand gehaltenen oder am Boden stehenden Gefäßes. Dies gilt den Toten und "chthonischen" Göttern; doch kann man auch von spondai für die chthonioi sprechen. 36 Zu jedem Weintrinken gehört die sponde: Ehe der Mensch trinkt, soviel er will, gießt er eine Spende aus; so ist es schon bei Homer formelhaft fixiert. 37 Im Symposion 38 gibt es später bestimmte Regeln, wonach etwa vom ersten Mischkrug dem Zeus und den Olympiern, vom zweiten den Heroen, vom dritten und letzten dem Zeus Teleios, dem "Vollender", zu spenden ist, oder auch vom ersten dem Agathos Daimon, vom dritten dem Hermes. Es steht jedem Teilnehmer frei, mit weiteren "Spenden" einen Gott anzurufen. Denn mit der "Spende" gehen Anruf und Gebet an einen Gott einher: Man füllt den Becher, um zu den Göttern zu beten, man reicht ihn gefüllt dem Gast mit der Aufforderung, seinerseits zu beten. Um überhaupt in rechter Weise zu den Göttern zu flehen, bedarf es der "Spende".39 Beim Antritt einer Meerfahrt werden Mischkrüge mit Wein angesetzt, dann vom Heck ins Meer geleert unter Gebeten und GelÜbden.40 Als Achilleus Patroklos in den Kampf ziehen lässt, holt er aus der Truhe den Becher, aus dem er allein trinkt, reinigt ihn, wäscht sich die Hände, schöpft den Wein, tritt in den Hof und gießt den Wein aus: So betet er, indem er zum Himmel blickt, um Sieg und glückliche Rückkehr des Freundes; Zeus freilich gewährt nur das eine, das andere verweigert er.4I 34
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Der Zusammenhang spendein - hethitisch sipand - scheint sicher; zu sprachwissenschaftlichen Detailproblemen Heinz Kronasser, Etymologie der Hethitischen Sprache I, Wiesbaden 1966, 522525; Harold C. Melchert, Anatolian Historical Phonology, Amsterdam 1994, 31. -+ I 2 Anm. 15. Der Gleichklang des Worts spendein mit deutsch "spenden" (von lat. dispendere) ist zufällig, aber suggestiv. Theoprast bei Porph. abst. 2,20. -+ Anm. 55; spendein von Honigtrank z.B. Empedokles B 128; LSS 62 (Paros). Zu den weinlosen Spenden (nephdlia) StengeI180-186; RE XVI 2481-2489. Porph. ant. 18; choai trispondoi Soph. Ant. 431; cholls kataspendein Eur. Or. 1187. Formelvers 11. 9,177 und 6 mal in der Odyssee; die Formel eparxdmenoi depdessin ist nicht deutlich, bezeichnet aber jedenfalls das sakrale "Anfangen" beim Austeilen des Weins (gegen Stengel 1910, 50-58). Kircher 1910, 17-21; 34-38; Nilsson 1951, I 428-442; Peter von der Mühll, Ausgewählte Kleine Schriften, Basel 1975, 483-505; Lissaraque 1987. Zur Verwendung von gemischtem bzw. ungemischtem Wein Stengel191O, 178-180. "indem wir spenden, beten wir" Aristoph. Pax. 435, vgl. Il. 3,295 f; 6,259; 24,287; Od. 3,41 f; 7,163; 13,50 f; Pind. Py. 4,193-196; Ap. Rh. 2,1271-1275; Stengel191O, 55; 178. Thuk. 6,32,1 f; Pind. Pyth. 4,193-200. 11. 16,220-52.
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2 Gabenopfer und Libation
Auch im Tieropfer-Ritual haben Weinspenden ihren festen Platz. Der Ruf sponde! sponde! leitet überhaupt eine Opferhandlung einY Zum Abschluss gießt man Wein in die Flammen des Altars, die die Reste verzehren. So wird der Opferherr mit der Spenden-Schale in der Hand über dem brennenden Altar zu einem beliebten ikonographischen Motiv.43 Man hat aber auch den Göttern selbst die Spenden-Schale in die Hand gegeben,44 den realen Statuen und insbesondere den gemalten Götterbildern. Vielleicht goss der Priester in die Götterschale, von der der Wein dann weiterfloss. Der Gott opferte gleichsam sich selbst oder vielmehr: Er ist einbezogen in das Nehmen und Geben im gelassen rinnenden Fluss, ein Inbild in sich geschlossener Frömmigkeit. Die "Spende" steht damit in einer gewissen Polarität zum blutigen Opfer, das ihr vorausgeht. Wie die spdghia den Kampf eröffnen, so beenden spondai die Feindseligkeiten. Es gibt üblicherweise gar kein anderes Wort für Waffenstillstand oder Friedensvertrag als die spondai: "wir, die Polis, haben libiert",45 das heißt: Wir haben beschlossen und uns verpflichtet. Auch der Gottesfriede zur Zeit der panhellenisehen Feste, der Olympischen Spiele oder der Eleusinischen Mysterien, heißt so: "SpondeTräger", spondoph6roi ziehen durch die Lande,46 um ihn zu verkünden und zu vollziehen; unblutig, sanft und unwiderruflich, endgültig zugleich ist solche "Spende". "Güsse, die die Erde trinkt",47 gelten den Toten und den Göttern, die in der Erde wohnen. Schon Odysseus übt solchen Ritus in seiner Totenbeschwörung: 48 Um die Opfergrube gießt er einen Guss für alle Toten, erst mit Honigtrank, dann mit Wein, zum dritten mit Wasser, er streut darauf weiße Gerste und fleht zu den Toten, verspricht künftige Brandopfer. Ähnlich bringt in Aischylos' Persern die Königin zum Grab des toten Königs Milch, Honig, Wasser, Wein und Öl, dazu auch Blumen;49 die Gesänge, die das "Gießen" begleiten, rufen den toten Dareios ans Licht. Das zweite Stück der aischyleischen Orestie hat seinen Titel "Gussträgerinnen" (Choeph6roi) von den Totenopfern für Agamemnon, die im Auftrag Klytaimestras Elektra mit ihren Dienerinnen zum Grabe bringt. Die Abfolge des Rituals hat einen Rhythmus, der dem Normalopfer entspricht: Erst der feierliche Zug zum Grab mit allen mitgeführ42 43
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Aristoph. Pax 433. z.B. Metzger 1965, 108,4; 109,12 f; 110,15 f; 18; Heinz Luschey, Die Phiale, Diss. München 1939; van Straten 1995. Es gab einige aspondoi thysiai, Schol. Soph. O.K. 100; Paul Stenge!, Hermes 57, 1922, 546-550. Erika Simon, Opfernde Götter, Berlin 1953; Anne!iese Peschlow-Bindokat, JdI 87, 1972, 89-92; Kimberley C. Patton, When the gods pour out wine, Diss. Ann Arbor 1992; Nikolaus Himmelmann, Spendende Götter, in: Minima Archaeologica, 1996, 54-61; contra Erika Simon in Fritz Graf (Hrsg.), Ansichten griechischer Rituale, Stuttgart 1998, 136-142. Inschrift von Arkades in Kreta, ZPE 13, 1974, 265-275. Von "ungemischten" spondai spricht die Ilias 4,159. Latte RE III A 1849 f; LSS 3 B; LSS 12. Aisch. Cho. 164, vgl. Soph. O.K. 482. Od. 10,518-526 = 11,26-34. Aisch. Pers. 607-622.
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ten Gefäßen; dann ein Innehalten, ein Gebet zum Toten; dann das "Gießen", begleitet von wilden Trauerschreien ähnlich der Ololyge beim Tieropfer. 50 Das ausführlichste Guss-Ritual lässt Sophokles im Oedipus auf Kolonos zur Entsühnung im Eumenidenhain vollziehen: Erst wird Wasser aus einer stets fließenden Quelle geholt; Mischkrüge, die im Heiligtum stehen, werden mit Wolle bekränzt, mit Wasser und Honig gefüllt; indem der Opfernde dann nach Osten tritt, stößt er die Krüge nach Westen hin um; dann legt er die Ölzweige, die er in der Hand gehalten hatte, dort nieder, wo die Erde den Trank aufnahm, und geht mit einem stummen Gebet, ohne zurückzublicken. 51 Die schweigende Gelassenheit dieses Aktes wird zum Zeichen für das geheimnisvolle Entschwinden des sterbenden Ödipus. "Die Seelen nähren sich von den Güssen", hat später Lukian52 geschrieben; man fasst dementsprechend die Libation meist fraglos als "Trankopfer", als Speisegabe. Wie die Erde "trinkt", wird oft genug eindringlich gesagt. Den Toten und Unterirdischen muss man dann freilich im Mythos eigenartige Bedürfnisse zuschreiben, und wieso man für die Himmlischen den Wein schlicht auf den Boden gießt, bleibt unerklärt. 53 In der Tat ist die Wein-Spende vor dem eigenen Trinken ein evidentes Beispiel für das Primitialopfer in seinem negativen Aspekt: Nicht dass es ankommt, ist wichtig, sondern dass der Spendende in der gelassenen Verschwendung sich einem höheren Willen unterstellt; so bedeuten auch die Totenspenden Anerkennung der Totenmacht. Das Eigentümliche am Ausgießen, im Unterschied zu gewöhnlichen Speisengaben, ist die Unwiederbringlichkeit: Was verschüttet ist, kann niemand zurückholen. So ist die Libation die reinste und stilvollste Form des Verzichts. Und doch ist dies nicht alles. Man hat mit Verwunderung die Rolle des Öls bei den Libationen registriert: 54 Wie kann, was kein Trank ist, "Trankopfer" sein? Und doch wird Öl zusammen mit Wein und Honig für spondai aufgeführt. 55 Wenn man die Stelen an Gräbern salbt und bekränzt,56 können sie als Stellvertreter des Toten genommen werden, die gleich Lebenden zum Fest gesalbt und geschmückt werden. Man gießt aber Öl auch über besonderen Steinen an besonderen Orten aus, ohne anthropomorphe Erklärungen: Vor Nestors Palast in Pylos steht ein Stein, der stets von Öl glänzt; auf ihm nimmt der König Platz.57 Ölglänzende Steine stehen an den Dreiwegen; wer immer hier libiert hat, der Abergläubische bezeugt ihnen seine Verehrung. 58 Hier geht es offenbar um Markierungen, um Fixierung eines Zentrums 50 51 52 53 54 55 56 57 58
Aisch. Cho. 84-164. Soph. O.K. 466-492; Burkert 2007, 77-84. Luk. Luct. 9. Auffallend erscheint dieses Paradox in den luwischen Reliefs von Malatya, AkurgaVHirmer 1961, T. 104 f. Vielleicht hat man darum dann in die vom Gott gehaltene Schale (Anm. 44) libiert. Ziehen RE XVI 2484 f nach Cothilde Mayer, Das Öl im Kultus der Griechen, Würzburg 1917. LSS 2 B 4; 10 A 2; 124,10; vgl. das Opfer von Phigalia. --+ Anm. 18. Plut. Aristeid. 21. Od. 3, 406. Theophr. char. 16,5, vgl. Amob. 1,39; "Salben" einer Herme: Babr. 48; Steine salben im AT: Gen. 28,18 (Bethel); 35,14; Smith 1899, 175; ein heiliger Stein, mit dem Fett der Opfertiere bedeckt, bei
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2 Oabenopfer und Libation
oder Orientierungspunktes: Wer hier Öl ausgießt, vergewisser~ sich der Ordnung des Raums; wer fremd ankommt, merkt am "Glänzen", dass hier andere Menschen ihre Ordnung errichtet haben. So künden auch die Spuren der Opfer am Grab Agamemnons von der Anwesenheit des Orestes,59 so lässt man die Blutspuren am weißgekalkten Altar bestehen. 60 Mittelpunkt der Welt ist, wie der Mythos weiß, der OmphalosStein in Delphi; auch er ist ein Ort der Libationen. 61 Vieldeutig auch in der Auffassung und Benennung der Griechen ist das Ausgießen von Wasser. Zu Beginn der Normalopfer spricht man allgemein und schlicht vom "Händewaschen", chernips.62 Auch wenn man Wasser am Grab ausgießt, ist nicht selten vom "Badewasser" für die Unterirdischen die Rede,63 insbesondere davon, dass ein unverheiratet Verstorbener damit das Brautbad nachholen müsse,64 um nachträglich das "Ziel" des Lebens zu erreichen. Doch spricht man auch vom Durst der Toten. 65 Wasserspenden beenden die anderen "Güsse" mit Honig und Wein (Anm. 48). Daneben stehen eigene Feste des ,,wassertragens", Hydroph6ria, wie etwa in Athen. Man zeigte einen Erdspalt im Heiligtum der "Olympischen Erde" und erzählte, hier habe sich einst die Sintflut verlaufen; Hier goss man offenbar das herbeigetragene Wasser aus. 66 Zum Abschluss der Eleusinischen Mysterien füllte man zwei Krüge besonderer Form - mit Wasser? - und goss sie um, den einen nach Westen, den anderen nach Osten, und rief dazu zum Himmel "Regne!", zur Erde "Empfange!", im Griechischen ein Wortspiel: hye - kye. 67 Die gleiche Formel wurde an einem Brunnen angebracht. Mangel und Überschuss an Wasser, "Regenzauber" und Sintflut bilden offenbar die Thematik solchen Rituals, freilich Zauber nicht in Gestalt sympathetischer Magie, sondern wiederum aus dem Grundsinn der Libation genommen: Erhebung zum Hoffen durch gelassene Verschwendung.
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den Ainianen: Plut. q.Or. 294BC. Vgl. auch MMR 246. Eur. EI. 513 f. Die "heiligen" Männer und Frauen in Andania libieren bei der Vereidigung mit Blut und Wein, SI03 736 = LSCO 65,2 (- VII Anm. 27-32). Dass die Weinlibation Ersatz für Blutlibation sei, ist seit Smith 1899, 173 f mehrfach wiederholt worden, Kircher 1910, 86; Eitrem 1915,434; 455; 457; RE VI A 2134 f, simplifiziert, jedoch vielfältige Bezüge. ApolIon mit Artemis, Relief Sparta, LlMC II s.v. Apollon nr. 679b; Wilhelm-Heinrich Roscher, Omphalos, Leipzig 1913, T. 7,4; mit Nike, Roscher T. 7,1 vgl. 8,3. Im Ritual der Milesischen Mo1pen wird ein Stein vor Hekate niedergesetzt, bekränzt und mit Libationen genetzt, SI03 57 = LSAM 50,25; S&H 41-43. - II 1 Anm. 8. Soph. EI. 84; 434; Kleidemos FOrHist 323 F 14 = Ath. 41Oa. - IV 1 Anm. 43. Dem. 44,18; 30; Eust. 1293,8; Cook 1940, III 370-396; Paul Stengel, Hermes 57, 1922, 542-546. Waldemar Deonna, La soif des morts, RHR 119, 1939,53-81; die Texte der Ooldblättchen ...... VI 2.2; Zuntz 1971,370-374. AF 113; ein ähnlicher Brauch in Bambyke-Hierapolis, Luk. Syr. Dea 13; in Tyros noch im 19. Jahrhundert geübt, Rev. Et. juives 43, 1901, 195 f. Prok!. Tim. III 176,28 Diehl; AF 86; HN 323; Brunnen-Inschrift: 10 II/IIP 4876. Zu Wasserausgießen als Regenzauber auch Smith 1899, 174 f.
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3 Gebet »Libation, Opfer, Erstlingsgaben", dies ist der Inbegriff frommen Handelns. 68 Doch zu jedem dieser Akte gehört das rechte Wort. Jedes unrechte, böse, grobe oder klagende Wort wäre »Schaden", blasphemia, weshalb die »gute Rede", die euphemia, zunächst im »heiligen Schweigen" besteht. 69 Aus ihm erhebt sich die Anrede an ein Gegenüber, Anruf und Bitte: das Gebet.70 Es gibt kaum ein Ritual ohne Gebet, aber auch kein wichtiges Gebet ohne Ritual: litai - thysiai, »Bitten - Opfer", dies ist eine alte und feste Verbindung.71 Der Odysseedichter lässt Penelope, bevor sie zu Athena betet, sich waschen, rein kleiden und die Gerstenkörner im Opferkorb bereiten;72 in der Regel holt man Wein zur Spende oder legt Weihrauchkörner in die Flamme; für wichtige Fälle veranstaltet man ein vollgültiges Opfer, ja man organisiert eine eigene Prozession zum Gott in seinem Heiligtum, die man Bittgang nennt, hikesia.13 Das gewöhnliche Wort für »beten", euchesthai,74 heißt zugleich »sich rühmen" und im Sieg »den Triumphschrei ausstoßen": solches Beten ist mehr ein Sich-bemerkbar-Machen als Hingabe. »Laut" und »für alle" betet der, der beim Opfer der Führer ist, der die Libation vollzieht: der König, der Feldherr, der Priester. Meist schließt das Gebet das Gelübde in sich - das gleichfalls euch/! heißt; so wird es offiziell und vor Zeugen vollzogen. Freilich können die Götter auch leises Bitten hören;75 in Ausnah-
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Epikt. ench. 3l. Homer Il. 9,171; Plat. Leg. 800b; Euphemia personifiziert in einer Opferszene, apul. Vase, LIMC IV S.v.; KA 111; Gustav Mensching, Das heilige Schweigen, Gießen 1926, 101 f; Susanne Gödde, Euphemia. Konstruktion des Guten in Kult und Literatur der Antike, Heidelberg 2007. Carl Ausfeld, De Graecorum precationibus quaestiones, NJb Suppl. 28, 1903, 502-547; Konrad Ziegler, De precationum apud Graecos formis quaestiones selectae, Diss. Breslau 1905; KA 78-81; Friedrich Schwenn, Gebet und Opfer, Heidelberg 1927; GGR 157-160; Kurt v. Fritz, Greek Prayer, Rev. of. Rel. 10, 1945/6, 5-39; Wolfgang Klug, Untersuchungen zum Gebet in der frühgriechischen Lyrik, Diss. Heidelberg 1954; Andre Corlu, Recherehes sur les mots relatifs a l'idee de priere d'Homere aux tragiques, Paris 1966; William F. Bakker, The Greek imperative. An investigation into the aspectual differences between the present and aorist imperatives in Greek prayer from Homer up to the present day, Amsterdam 1966; Des Places, 1969, 153-170; A. W. H. Adkins, Eucho· mai, Euchoie and Euchos in Homer, CQ 19, 196920-33; Wilhelm Horn, Gebet und Gebetsparodie in den Komödien des Aristophanes, Nürnberg 1970; Leonard C. Muellner, The meaning of Homeric EUCHOMAI through its formulas, Innsbruck 1974; Aubriot-Sevin 1992; Pulleyn 1997; Brodersen 200l. Pind. 01. 6,78; P. Chantraine RPh 43,1969,202. Od. 4,759-767. Die Szene ist möglicherweise von Gilgamesh beeinflusst, Burkert 2003a, 49 f. Opferfest in Delphi .mit dem Flehen (hiketeiai) des ganzen Volks vom glücklichen Griechenland": Philodamos-Hymnus 112-114 (William D. Furley/Jan M. Bremer, Greek Hymns, Tübingen 2001, II 55). - Inschrift .hikesia des Peisis" auf einem Votivschaf von der Akropolis: IG P 543; Rouse 1902, 296. -+ Adkins, Muellner (Anm. 3); zur idg. Herkunft -+ I 2 Anm. 18; mykenisch bezeugt im Eigennamen Euchomenos PY Jn 725. Homer Il. 7,195; Eur. EI. 809.
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3 Gebet
mefällen, im Kult unheimlicher, unterweltlicher Gottheiten, ist das stille Gebet vorgeschrieben. 76 Auch ara heißt Gebet und Gelübde, zugleich aber auch Fluch. Erfolg und Ehre für den einen ist ja meist mit Erniedrigung und Vernichtung eines anderen untrennbar verbunden; so gehören die "gute ara" und die "böse ara" zusammen. 77 Ara hat den Klang des Altertümlichen, und dazu gehört, dass eben das Gebetswort direkt Macht' ausübt, Segen oder Fluch, der, einmal ausgesprochen, nicht mehr zurückzunehmen ist. Der Titel des Priesters, der solches Gebetswort zu handhaben weiß, ist in der Ilias areter:78 Chryses ist es, der durch sein Gebet über das Heer der Achäer die Pest bringt und diese später beendet; in der dichterischen Gestaltung ist dieses Gebet allerdings wohlformulierte Bitte an den personhaften Gott Apollon, der auf seinen Priester "hört". Eine elementarere Schicht des Anrufs sind von der Sprache her sinnlose, traditionelle Wortgebilde; sie gehören zu bestimmten Prozessionen oder Tänzen, die je einem besonderen Gott zugeordnet sind; sie bestimmen durch Klang und Rhythmus das Festerlebnis mit und erhalten von ihm ihren Inhalt. Das Opfer ist markiert vom schrillen Schrei, der ololyge der Frauen; der gleiche Frauenschrei begleitet die Geburt, wenn das "Kommen" und Eingreifen der Geburtsgöttin Eleuthia erwartet wird, aber auch andere Krisensituationen wie vermeintliche Besessenheit.79 An wilden Lauten kenntlich sind die dionysischen Begehungen: vor allem euhoi - lateinisch evoe transkribiert -, aber auch thriambe,80 dithyrambe. An den Apollonkult angeschlossen ist der Paian, genauer der Ruf ieie pajan mit dem speziellen Rhythmus drei kurz - eins lang; danach heißt das Lied, das Seuchen vertreibt und den Sieg feiert, aber auch der Gott selbst, der sich so manifestiert. 81 iakch' ö iakche ist der Ruf, der die Prozession nach Eleusis begleitet; auch hierhörte man aus dem Schrei einen Namen heraus, Iakchos, der als daimon den Zug anführe, wohl mit Dionysos identisch sei; er wurde dann in Gestalt einer Statue mitgeführt. 82 Auch Dithyrambos hat man als Beinamen des Dionysos verwendet. Der kollektive Schrei führt an die Schwelle der Ekstase; sobald die Griechen sich darüber sprachliche Rechenschaft abgeben, ist von personalen, menschengestaltig dargestellten Göttern die Rede. Uralte liturgische Gebetsformeln sind im Griechischen nicht überliefert; kein Veda, kein Arvallied; indogermanische Prägungen sind in der Dichtersprache bewahrt, aber eben darum frei verwendbar. Eine im Einzelnen variable Grundform
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Soph. O.K. 486-489. Aiseh. Cho. 145 f. Ara auf einem Weihrelief aus Epirus: JHS 66, 1946, 112, IL 1,11; 94; 5,78. Ludwig Deubner, Ololyge und Verwandtes, Abh. Berlin 1941,1. --+ II 1 Anm. 11; zu Eleuthia/Eileithyia I 3.6 Anm. 4; Besessenheit: Eur. Med. 1171-1173. Dazu Hendrik S. Versnel, Triumphus, Leiden 1970. Ludwig Deubner, Paian, NJb 22, 1919, 385-406. --+ I 3 Anm. 257; III 1 Anm. 222. AF 73; GGR 664; HN 307 f.
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des Gebets B3 ergibt sich aus seiner Funktion. Am Anfang steht, unterstützt durch die Aufforderung "Höre!", der Name der Gottheit; es kommt dabei darauf an, den richtigen Namen zu finden, insbesondere den treffenden Beinamen; tunliehst häuft man die Beinamen - auch dies wohl nach indogermanischer Tradition -, stellt auch zur Auswahl: "mit welchem Namen auch immer benannt zu werden Dir lieb ist";B4 auch räumlich sucht man die Sphäre des Gottes zu fassen, nennt seinen bevorzugten Aufenthaltsort oder mehrere Möglichkeiten, woher er kommen solL Daran schließt eine Begründung durch Berufung auf frühere Freundschaftserweise, hin oder her, gleichsam auf den Präzedenzfall: "wenn je", "so wahr jemals" der Gott dem Menschen geholfen hat oder dieser gottgefällige Werke vollbrachte, Opfer verbrannte und Tempel baute, soll sich dies jetzt bewähren. Auch die Versicherung "du kannst es ja" wird gerne eingeschoben. Dann, nachdem der Kontakt hergestellt ist, folgt knapp und deutlich die Bitte und meist auch das Versprechen für die Zukunft, das Gelübde; Frömmigkeit soll Dauer garantieren. Verfeinerung des religiösen Empfindens in der Zeit der Krise hat die eigennützige Direktheit dieser euchai als anstößig empfunden; man empfahl, schlicht um "das Gute" zu beten und dem Gott die Wahl zu überlassen. B5 Zur Regel konnte solch sublimierte Frömmigkeit nicht werden. Es gibt kein Niederknien beim Gebet;B6 Flehgebärde ist das Ausstrecken der Hände. So erhebt man, um die Himmlischen anzurufen, beide Hände mit aufwärts gewandten Handflächen zum Himmel; man streckt die Hände zum Meer, um Meeresgötterzu rufen, man streckt sie dem Kultbild entgegen. Einem Kultbild oder Heiligtum gilt, auch wenn man ohne besonderes Anliegen vorbeikommt, ein Gruß, ein chaire wie einem Bekannten,B7 oder die Geste eines Kusses, indem man die Hand an die Lippen führt;BB ein kurzes schlichtes Gebet kann sich immer anschließen. Soktates grüßt in dieser Weise auch die aufgehende Sonne. B9 Rudimentärformen des Götteranrufs begleiten den Alltag; vor allem in Situationen der Erregung, in Angst, Erstaunen, Zorn ruft man "die Götter" überhaupt oder einen passenden Götternamen; oft sind es lokale Gottheiten, die einem auf die Zunge treten, sonst vor allem "Zeus" und "Apollon" und ganz besonders "Herakies", der Abwehrer alles Bösen; "HerakIeis" - lateinisch mehercle - ist fast so abgegriffen wie
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z.B. Homer 11. 1,35-42; 10,277-294; Sappho 1 Voigt. Plat. Krat. 400 e; Phdr. 273e; Tim. 28b; Phil. l2e; Aisch. Ag. 160. Sokrates bei Xen. Mem. 1,3,2; Plat. Euthyphr. 14d. Vgl. Iambl. V.Pyth. 145. MMR 281 f; GGR 159; vgl. Euseb. Hist. eccl. 5,5,1; gounoumai im Gebet (z.B. Anakreon PMG 348; 357) bedeutet die Intention, die Knie des anderen zu berühren, vgl. Od. 6,141-149; Burkert, S&H 46 f; Kappeier 2001. Dagegen fällt der Abergläubische in die Knie, um die Steine zu küssen, Theophr. Char. 16,5 (~ 2 Anm. 58). - Hände zum Himmel: 11. 15,371; Pind. Isthm. 6,41. Gerhard Neumann, Gesten und Gebärden in der griechischen Kunst, Berlin 1965. Z.B. Menander Sam. 444-446. Karl Sittl, Die Gebärden der Griechen und Römer, Leipzig 1890, 181 f; in diesem Sinn spricht man von p10skynein, Aristoph. Eq. 156, Soph. O.K. 1654 f. -+ I 3 Anm. 31. Plat. Symp. 220d; vgl. Aristoph. Plut. 771; Menander Fr. 449 Kassel/Austin.
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3 Gebet
ein "Jesses". Die Frauen haben ihre besonderen Göttinnen, Artemis, Pandrosos und ihresgleichen. 90 Besondere Anstalten sind dagegen gefordert, wenn man Tote oder Unterweltgötter erreichen wilL Dichter sprechen davon, wie man sich auf die Erde wirft und den Boden mit den Fäusten schlägt.91 Seit dem 6. Jahrhundert wird die Anrufung der Unterirdischen zum Zweck von Fluch und Schädigung als Magie betrieben, mit stiller, . schriftlicher Fixierung: Bleiblättchen mit entsprechenden Texten werden in einem Heiligtum oder einem Grab vergraben: "ich schreibe hinab ", "ich binde hinab":92 man spricht von "Bindung", katadesis, defixio.
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Aristoph. Lys. 435-485. Homer Il. 9,564; Hymn. Apol!. 333; Aiseh. Pers. 683; Eur. Tro. 1305 f; vg!. Charles Picard, RHR 114, 1936, 137-157. - II 9.
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4 Reinigung 4.1 Funktion und Methoden Jedes höhere Lebewesen muss sich sauber halten, störende Materie beseitigen, die eben dadurch als "Schmutz" definiert ist. Beim Menschen wird das Säubern zum prägenden Kindheitserlebnis. Sauberkeit setzt Schranken. Man erfährt, wie die anderen bereit sind, mit dem Schmutz den Schmutzbehafteten auszustoßen, wie aber auch durch gewisse Prozeduren ein akzeptabler Status wieder gewonnen werden kann. Reinigung ist damit ein sozialer Prozess. Wer zur Gruppe der Konformen gehören will, muss dem Standard der "Reinheit" entsprechen; unsauber ist der Verworfene, der Außenseiter, der Rebell; Gruppen, die sich absondern, können dies mit Berufung auf besondere, gesteigerte Reinheit tun. Dementsprechend sind die emotionell aufgeladenen Handlungsschemata des Reinigens zur rituellen Demonstration geworden. Indem sie die Beseitigung des Störenden zelebrieren, grenzen sie einen höher bewerteten Bereich aus, entweder die Gemeinschaft selbst gegenüber dem chaotischen "Draußen" oder aber einen esoterischen Kreis außerhalb der normalen Gesellschaft; sie vermitteln den Zugang zu ihm und damit zu höherem Status; sie spielen die Antithese zwischen einem negativen und einem positiven Zustand aus und sind damit geeignet, einen realiter unbehaglichen, störenden Zustand zu beseitigen und in einen besseren, "reinen" überzuführen. So gehören allenthalben Reinigungsrituale zum Umgang mit Heiligem und zu allen Formen der Initiation; aber sie werden auch angewendet in Krisensituationen von Wahnsinn, Krankheit, Schuldgefühl. Insofern in diesem Fall das Ritual einem klar ins Auge gefassten Zweck dienstbar wird, nimmt es magischen Charakter an.! Das gewöhnlichste Mittel der Reinigung ist das Wasser; auch in den griechischen Reinigungsritualen 2 ist der Umgang mit Wasser fundamental. Dazu kommt die Praxis des Räucherns 3 zur Vertreibung übler Gerüche, eine Primitivform der Desinfektion; Achilleus "reinigt" seinen Libationskelch mit Schwefel, Odysseus "schwefelt" die Halle nach dem von ihm angerichteten Blutbad. 4 Möglicherweise ist das griechische Wort für "reinigen", kathairein, überhaupt von dem semitischen Wort für kultisches "Räuchern", qtr, herzuleiten. 5 Da obendrein das Feuer alles, auch Unangenehmes
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---;> 1I Vorbemerkung Anm. 4. Wächter 1910; Fehde 1910; KA 155-169; Friedrich Pfister, RE Suppl. VI 146-162 s.v. Katharsis; GGR 89-110; Moulinier 1952; Mary Douglas, Purity and Danger, London 1966; Guilt or Pollution and Rites of Purification. Proc. of the XIth internat. Congress of the International Association for the History ofReligions 1I, 1968; Parker 1983; Hoessly 2001; ThesCRA 1I 1-87. ---;> 1I 1 Anm. 63-67. 11. 16,228 (---;> 1I 2 Anm. 41); Od. 22,481-494. Burkert, Grazer Beitr. 4, 1975, 77. Widerspruch Gerhard Neumann in; Kotinos. Festschrift Erika Simon, Mainz 1992, 71-75, der 11. 16,228 übersieht. Reinigung durch Räuchern in Babyion; Hdt. 1,198.
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und Unappetitliches, verzehrt und vernichtet, kann man dann auch sagen: "alles reinigt das Feuer".6 Weniger direkt verstehbar sind zwei weitere Requisiten griechischer "Reinigungen", Getreideschwinge (liknan) und Meerzwiebeln (skilla). Die Schwinge7 "reinigt" das Korn, indem sie in der Bewegung die Spreu vom Winde verwehen lässt; wenn man sie über dem Haupt des zu Weihenden schwingt, kann man von Analogiezauber sprechen, zugleich aber auch in dem Überschütten des Neulings B ein Abreagieren -aggressiver Intentionen erkennen, wie in dem Bewerfen mit Blättern (phyllabalia) bei der Siegerehrung. Für den Gebrauch der Zwiebel9 gibt es keine griechische Erläuterung; erhellend ist dagegen ein hethitischer Ritualtext: Die Zwiebel wird Haut um Haut geschält, und übrig bleibt nichts;lO so ist das Stärende besonders elegant beseitigt. Vieldeutig ist der Gebrauch des blutigen Opfers zum Zweck der "Reinigung", die immerhin damit in den Zentralbereich des "heiligen Tuns" integriert wird. Was in der Reinigung rituell-zwangshaft beseitigt wird, kann als Gabe an gewisse Mächte interpretiert werden, die dann unheimlich, pervers und besser nicht mit Namen zu nennen sind: "Für euch das Waschwasser, für die es notwendig, für die es recht ist"Y Seit Xenokrates spricht man in diesen Situationen von "daimanes";12 mit Unreinheiten befasst, sind sie ihrerseits "unrein". Moderne Deuter finden, indem sie die das Ritual begleitenden Vorstellungen zu präzisieren suchen, eher eine stoffliche Auffassung des Unheils,13 das durch Berührung übertragbar ist, aber auch eingefasst, konzentriert und weggeschafft werden kann. In der Praxis bedurfte es nicht vieler Worte und keiner detaillierten Erklärung; die soziale Funktion ist vorgegeben und unmittelbar wirksam. Reinigungsrituale sind im Alten Orient wie in der hebräischen Bibel geläufig. Homer erwähnt nicht nur die "reinen Kleider" und das Händewaschen vor Gebet und Opfer, sondern auch die Reinigung des ganzen Heeres nach der Pest. 14 Einzelne spezielle Vorschriften finden sich bei Hesiod. Noch in den Mythos eingegangen sind die "Reinigungen" von Wahnsinn - Melampus und die Proitiden15 - und die von
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Schol. Eur. Or. 40, vgl. Plut. q.Rom. 263E. So heißt hagnizein (Eur. Or. 40; Hik. 1211 f) und kathagizein praktisch "verbrennen". Jane E. Harrison, Mystica vannus Iacchi, JHS 23, 1903, 292-324; Martin P. Nilsson, The Dionysiac Mysteries in the Hellenistic and Roman Age, Lund 1957, 21-37. ---l> Anm. 39. Zu katachysmata Ernst Samter, Familienfeste der Griechen und Römer, Berlin 1901, 1-14. vgl. zu den Dulai II 1 Anm. 9. Aristoph. Fr. 266 Kassel/Austin; Theophrast Hist.plant. 7,12; Diphilos Fr. 125 Kassel/Austin. ANET 346; Jose V. Garcia Trabazo, Textos religiosos hititas, Madrid 2002, 563 ff; Babylonisches bei Helmer Ringgren, Religions of the Ancient Near East, London 1973, 9l. Rituelle Formel bei Kleidemos FGrHist 323 F 14 ~ Ath. 409f-410b. Schweigendes Ausgießen: Aisch. eho. 96 f. ---l> III 2.5; VII 3.4. Die Dämonen-Auffassung hat Ernst Samter (---l> Anm. 8) forciert, die stoffliche Ludwig Deubner (z.B. AF 21; 180 f). Hippokr. Morb.sacr. 1, VI 362 1.. stehen miasma und alastores nebeneinander. ---l>Anm.48. ---l>Anm.51.
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Blutschuld - Apollon und Orestes. 16 Das Problem des Mordes und des Mörders, sein Weiterwirken über Generationen und seine Bewältigung durch "Reinigung" scheint im Laufe des 7. Jahrhunderts mehr und mehr in den Vordergrund getreten zu sein. Das Delphische Orakel hat dabei offenbar eine führende Rolle gespielt, wobei es indessen, wenn möglich, an lokale Überlieferungen anknüpfteY Daneben traten einzelne "Reinigungspriester" auf, kathartai, die bei Seuchen und Bürgerzwist Abhilfe versprachen. Der berühmteste, Epimenides von Kreta, hat vor 600 Athen vom "Kylonischen Frevel" gereinigt. IB Auch Familien und Privatleute waren geneigt, Unheil aller Art auf eine alte "Befleckung", auf den "Groll" (menima) einer geheimen Macht zurückzuführen. 19 Aus der Praxis des Rituals, im Bild der "Unreinheit", entwickelt sich ein Begriff der Schuld; Reinigung wird zur Sühne. Mit solcher Verinnerlichung wird freilich alsbald das Ritual in Frage gestellt. Schon bei Hesiod korrespondiert dem Äußeren ein Inneres, wenn er warnt, einen Fluss zu überqueren, "ohne Hände und Schlechtigkeit abzuwaschen".20 "Unrein ist, wer böse in seiner Seele ist", formuliert später Platon,zl und auch ein Redner22 kann fordern, ein Priester solle "nicht eine bestimmte Zahl von Tagen sich rein halten, sondern in seiner ganzen Lebensführung rein sein". "Reinheit heißt Frommes denken", hieß es in einem oft zitierten Vers, der über dem Eingang des Asklepiosheiligtum zu Epidauros eingemeißelt war. 23 De facto wurde dergleichen nicht als Abwertung, sondern als Vertiefung der äußeren Formen genommen, die peinlich aufrecht erhalten wurden. Ritual und ethische Vertiefung konnten so im Bereich der Reinigung bruchlos ineinander übergehen.
4.2 Heiliges und Reines Die Forderung nach Reinheit macht auf die Schranke aufmerksam, die das Heiligtum vom Profanen trennt; je sorgfältiger und intensiver die Reinigung betrieben wird, desto höher erscheint der Rangunterschied. "Es geht nicht an, mit Blut und Schmutz befleckt zu Zeus zu beten";24 daher jenes "Händewaschen", chernips, vor der 16 17 18
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---> bei Anm. 56-59. GGR 615-625; 632-637. Arist. Ath. Pol. 1; Plut. Sol. 12; Diog. Laaert. 1,110; Menschenopfer laut Neanthes FGrHist 84 F 16; vgl. FGrHist 457; Alfonso Mele/Marisa Tortorlli Ghidini (Hrsg.), Epimenide Cretese, Neapel 2001; Bernabe OTF III 105-168. Plat. Phdr. 244de; Resp. 364bc. Hes. Erga 740. Leg. 716e. Vgl. Eur. Or. 1604; Aristoph. Ran. 355. Demosth.22,78. Zitiert Porph. abst. 2,19 aus Theoprast; Clem. Strom. 4,142,1; 5,13,3; dazu LSS 59; 82; 86; 91; 108; LSAM 20 ~ SIG3 985; Pollux 1,25. Hektor bei Homer, Il. 6,267 f.
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Spende und dem Tieropfer; auch reine Kleider legt man sich an; gelegentlich sind weiße Gewänder vorgeschrieben. 25 An den Eingängen der Heiligtümer hat man dann Wasserbehälter aufgestellt, perirranteria,26 den Weihwasserbecken katholischer Kirchen verglei:chbar; wer eintritt, taucht die Hand ein und besprengt sich selbst. Eine "Weihe" des Wassers gibt es nicht, aber oft muss es ein besonderes Wasser sein. Nicht wenige Heiligtümer haben je ihre eigene Quelle oder ihren Brunnen, gelegentlich aber muss das Wasser auch von weiter her gebracht werden, aus einer "stets fließenden Quelle", oder aber vom besonders mächtigen Meer. Die "wassertragende" Jungfrau mit dem Krug auf dem Kopf, die hydroph6ros, gehört zum Bild des Gottesdienstes, kommt auch in Votivterrakotten häufig vor.27 Die reinigende Kraft des Feuers verbindet sich mit der des Wassers, wenn man ein Scheit vom Altarfeuer nimmt, ins Wasser taucht und Heiligtum, Altar und Teilnehmer besprengt. 28 Das indogermanische Wort für "heilig", hagn6s,29 ist im Griechischen bestimmt und eingeengt durch die Opposition zur "Befleckung", mysos, miasma. Der Begriff der speziell kultischen Reinheit wird definiert, indem gewisse mehr oder weniger gravierende Störungen des normalen Lebens als miasma aufgefasst werden. Solche Störungen sind Geschlechtsverkehr,30 Geburt,3! Tod und insbesondere Mord. Hagn6s im exemplarischen Sinn ist darum, wer den Kontakt mit Blut und Tod vermeidet, insbesondere die Jungfrau. Jungfrauen spielen in vielen Kulten tragende Rollen; Priesterinnen müssen oft zumindest für die Zeit ihrer Priesterschaft Keuschheit bewahren;32 aber auch Priester und Tempeldiener müssen gelegentlich, besonders zur Vorbereitung auf das Fest, einen bestimmten Grad der hagneia erreichen. Dazu gehört, außer dem Vermeiden von Geschlechtsverkehr und Kontakt mit einer Wöchnerin oder einem Trauerhaus, auch das Einhalten von Speiseverboten, mehrtägiges Fasten, Gebrauch bestimmter, ungewöhnlicher Speisen. 33 Dies variiert nach Zeit und Ort; generell unreine Speisen wie bei den Juden gibt es nicht. Merkwürdigerweise kann zur hagneia auch das Verbot von Bädern gehören: Wichtiger als die augenfällige Sau-
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32 33
Gerhard Radke, Die Bedeutung der weißen und schwarzen Farbe in Kult und Brauch der Griechen, Diss. Bedin 1936. RE XIX 856 f. Erika Diehl, Die Hydria, Mainz 1964, 171-209. KA 164. -;> I 2 Anm. 14; V 4 Anm. 24-30; Fehrle 1910,42-54; Eduard Williger, Hagios, Gießen 1922. Porph. abst. 4,20; Hdt. 2,64; LSS 115 A 12; Fehrle 1910, 25-42. Eur. Iph. Taur. 381-383; Aristoph. Lys. 742-757; LSS 115 A 16; Ludwig Deubner, Die Gebräuche der Griechen nach der Geburt, RhM 95,1952,374-377; Gerhard Binder, RAC IX 85-7. - Die Menstruation wird - auch medizinisch - als "Reinigung" (katharsis) aufgefasst; der Kult nimmt von ihr höchstens insofern Notiz, als manche Priestertümer ausdrücklich alten Frauen vorbehalten sind, Fehde 1910, 95,1. Fehde 1910, 65-154. Rudolph Arbesmann, Das Fasten bei den Griechen und Römern, Gießen 1929; Johannes Haussleiter, Der Vegetarismus in der Antike, Bedin 1935, 12-18.
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II
RlTUAL UND HElLlGTUM
berkeit ist der Kontrast zur Alltäglichkeit, gegebenenfalls auch zu einer künftigen kultischen Reinigung. Ein Bad mit Anlegen neuer Gewänder gehört zu individuellen Weihen, zu Mysterieninitiationen 34 und zur Hochzeit, die ja als Opfer fest gefeiert wird. Im Heiligtum der Athena Kranaia bei Elateia standen eigene Badewannen für den Knaben, der dort auf fünf Jahre das Priesteramt versieht. 35 Vor der eleusinischen Weihe baden die Mysten bei Athen im Meer, alle zusammen an einem bestimmten Tag. 36 Reliefs zeigen, wie dann auch eine Feuer-Reinigung durch Fackeln folgt: Herakles, im Begriff, die eleusinische Weihe zu empfangen, sitzt verhüllt auf einem Widderfell, eine Priesterin hält eine Fackel von unten her ganz nahe an ihn heran. 37 Im Mythos legt Demeter das eleusinische Kind Demophon kurzerhand ins Feuer des Herdes, um es von allem Sterblichen zu reinigen. 38 In anderen Darstellungen der Herakles-Weihe tritt auch das Liknon in Aktion;39 späte Systematisierung konnte von einer "Reinigung durch die Elemente", Wasser, Feuer und Wind, sprechen. 40 Auch eine "Reinigung durch Erde" gibt es, eine Abreibung: Bei gewissen Mysterien wurde der Initiand mit Lehm und Kleie eingeschmiert, vor allem im Gesicht, und dann wieder "abgerieben". Reiniger ist, wer sich auf "Abreibungen" (apomdgmata) versteht;41 im Kontrast zur absichtlichen Beschmutzung wird die folgende Reinheit umso intensiver dargestellt. Auch in Heiligtümern, auch an Götterbildern setzt sich Schmutz fest; regelmäßige Reinigung ist unumgänglich, wenn auch eher peinlich. Das Ritual hat hieraus wiederum ein Fest gemacht, in gewissem Sinn ein Anti-Fest unheimlichen und "unreinen" Charakters, das aber als Antithese zum eigentlichen, "reinen" Fest eben dieses steigert und überhöht; indem man die Unbehaglichkeit der Befleckung demonstrativ ausspielt, ist die Reinheit des Neuanfangs umso sicherer zu gewinnen. So fallen in Athen die Plynteria, das "Waschfest", in den letzten Monat des Jahres. Jungfrauen und Frauen reinigen das alte Holzbild der Stadtgättin Athena, "sie nehmen ihm den Schmuck ab und verhüllen das Bild";42 der Tag gilt als Unglückstag, an dem man nichts Wichtiges beginnen sollte. Zu trennen davon ist die jährliche Prozession der 34
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Dionysos: Paus. 9,20,4; Liv. 39,9,4; Korybanten: IE 206; Kabiren: AA 1967, 245 f; Meter: Juv. 6,522524; Isis: Apul. met. 11,23; Mithras: Tert. De bapt. 5,1. Hochzeit: Thuk. 2,15,5; Schol. Eur. Phoin. 347; Cook 1940, 1II 389; vgl. Ginouves 1962, 234-428. Paus. 10,34,8. HN 285,9. Ostothek von Torrenova, AF T. 7, 1; MarmorreliefNeapel, Cook 1914, 1426; HN 295; ThesCRA II 96 nr. 37 T. 15; nr. 39. - Reinigung "mit Fackel" auch Diphilos Fr. 125 Kassel/Austin; LukianAlex. 47; Nekyom. 7. Hymn. Dem. 239-262; Richardson 1974, 231 f; Nilsson hat die beschädigte Darstellung des Reliefs Este darauf bezogen, GGR T. 44,2, was ganz unsicher ist. Lovatelli-Urne, AF T. 7, 2; GGR T. 43, 2; ThesCRA II 96 nr. 34. Servo Aen. 6,741, vgl. Apul. Met. 11,23,8. Harpokr. apomdtton; Soph. Fr. 34 Radt; LSCG 64,16 (Messene); Graf 1974, 106. Plut. Alk. 34,1. ...... V 2 Anm. 21; Monat Plynteri6n in Chios, LSS 131, und in Paras, Thasos, los, Ttümpy 1997, Index S.V.; Bettinetti 2001, 143-160; ThesCRA II 421-427.
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4 Reinigung
Epheben zum Meer mit einem anderen Athena-Bild, dem Palladion,43 das dort gereinigt wird, um dann wieder am alten Platz eines wichtigen Gerichtshofes "errichtet" zu werden, der über Verbrechen wie Totschlag zu befinden hat: Ein Verurteilter hat in die Verbannung zu gehen, kann aber gegebenenfalls nach bestimmten Reinigungszeremonien zurückkehren; Fortgang, Reinigung und Rückkehr folgen dem Weg des zu reinigenden Götterbildes. Eine ähnliche Prozession mit einem Pallas-Bild zum Bad in Argos ist durch ein Gedicht des Kallimachos bekannt. 44 Auf Kos schreibt eine Inschrift vor, dass, wenn ein Heiligtum durch einen Toten befleckt worden ist, die Priesterin die "Knaben-nährende" Göttin, Kurotrophos, zum Meer zu führen hat, um sie dort zu reinigen. 45 So wird das rechte Gefälle zwischen dem Göttlichen und dem Sterblichen wieder etabliert.
4.3 Tod, Krankheit, Wahnsinn Störungen, die das Alltagsleben aus seiner Bahn drängen, werden durch die Forderung nach "Reinigung" eingegrenzt und bewältigt, gerade weil man sie nicht einfach vermeiden oder beseitigen kann. Am harmlosesten ist der Geschlechtsverkehr, der aber doch eine Reinigung notwendig macht, ehe man wieder mit Göttern verkehrt (Anm. 70). Viel stärker schneidet ein Todesfall ins Leben der Angehörigen, des "Hauses", ein; die Betroffenen sind als unrein eine bestimmte Frist vom normalen Dasein ausgeschlossen. Wer sie besucht, reinigt sich am Ausgang durch Besprengen mit Wasser. 46 Die Angehörigen helfen der Befleckung sinnenfällig nach: Man trägt schmutzige und zerrissene Kleider, wäscht sich nicht mehr, streut sich Erde oder Asche auf den Kopf. Wenn ein spartanischer König stirbt, müssen sich aus jeder Familie zwei Freie "beflecken", sagt Herodot; also nicht selbstverständliches Betroffen-Sein, sondern vorgeschriebenes Handeln. In Iulis auf Keos wird einschränkend durch Gesetz verfügt, wer alles auf diese Weise "sich beflecken" (miainesthai) darf und muss: 47 Mutter, Frau, Schwestern, Töchter des Verstorbenen samt deren Töchtern und dazu nicht mehr als fünf Frauen; nach Ablauf der gesetzten Frist haben sie sich zu reinigen durch ein Bad, indem sie sich Wasser über das Haupt gießen; auch das Haus wird gereinigt, mit Meerwasser besprengt, mit Erde eingerieben und dann ausgefegt. Dann soll auf dem Herd, der in der Zwischenzeit erloschen war, wieder geopfert werden: Die Normalbeziehung zum Göttlichen ist wiederhergestellt. Man sieht, wie der Zwang des 43 44 45
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Burkert, ZROO 22, 1970, 356-368. Kali. hymn. 5 m. Schol. LSCO 154 B 17-32 (sehr fragmentarisch); Price 1978. Vgl. auch Reinigung des Aphrodite-Pandemos-Heiligtums 10 II/III' 659 ~ SI03 375 ~ LSCO 39; Fest der Tinit in Karthago, Aug. civ. 2,4; dichterisch Eur. Iph. Taur. 1029-1051, 1157-1233. Eur. Alk. 98-100 m. Schol.; Aristoph. Ekkl. 1033 m. Schol. Hdt. 6,58,2; LSCO 97 A 25-28, vgl. Plut. qu.Or. 24,296F. - IV 1 Anm. 47.
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II
RITUAL UND HEILIGTUM
Rituals zugleich eine Hilfe ist; was machbar ist, wird dadurch veräußerlicht, objektiviert und kann zur bestimmten Zeit beseitigt werden. Auch Krankheit und Seuche kann als Befleckung aufgefasst werden. Als der Zorn Apollons im ersten Buch der Ilias sich wendet, nachdem seinem Priester Genugtuung geleistet ist, gebietet Agamemnon den Achäern "die Unreinheit zu entfernen" (apolymainesthai); "sie aber reinigten sich und warfen den Unrat ins Meer";48 man denkt an eine Waschung, mit Ausgießen des Waschwassers ins Meer. An die Reinigung schließt sich unmittelbar das Götterfest an, das den ganzen Tag füllt, mit dem "schönen" Kultlied, dem Paian, und den Opfern. Apollon ist der Gott solcher Reinigung und Heilung. Sein Heiligtum in Didyma, erzählt man,49 wurde begründet, als dorthin Branchos kam, eine Seuche zu bannen, indem er Lorbeerzweige schwang und das Volk damit besprengte, begleitet von einem geheimnisvollen, unverständlichen Lied. Mehrfach ist in der archaischen Epoche von Apollinischen Reinigungspriestern die Rede, die in ähnlicher Weise Seuchen zu stillen wussten. 50 Die besondere Domäne der Reinigungspriester sind Geistesktankheiten, "Wahnsinn", der mit Selbstverständlichkeit als "gottgesandt" genommen wurde. Das Abnormale in die Normalität überzuführen, soll auch hier der "Reinigung" dienen. Das mythische Exempel ist der von Hera oder Dionysos erregte Wahnsinn der Töchter des Königs Proitos von Tiryns,5I der auf alle Frauen der Stadt übergriff. Hier handelt es sich eigentlich um einen rituellen Ausbruch aus der Normalität, wie auch die Beschreibung der äußeren Entstellung der wahnsinnigen Proitiden an primitive Schminke und Maskierung erinnert, analog den hässlichen Idolen aus dem Heiligtum von Mykene. Den Weg zurück zur Normalität fand der Seher Melampus. Eine Version verlegt die Reinigung, die er vollzog, ins Heiligtum der Artemis von Lusoi, dessen Namen man eben mit "Waschen", lusthai, assoziierte. Im hellen Licht des 5. Jahrhunderts zieht der Verfasser der Schrift Von der Heiligen Krankheit zu Felde gegen die "Magier, die Reinigungs- und Bettelpriester, die Aufschneider", die mit Reinigungen und Besprechungen gegen die Epilepsie angehen; "und von ihren ReinigungsRückständen verbergen sie das eine in der Erde, anderes werfen sie ins Meer, anderes tragen sie ins Gebirge, wo es niemand berühren oder darauf treten wird".52 Als besondere Art der Besessenheit galt der "korybantische" Wahnsinn, auf den Platon mehrfach anspielt. 53 Die Korybanten stehen im Bann der Großen Mutter Kleinasiens. Je ein bestimmter Ton lässt sie das Bewusstsein verlieren, treibt sie zum 48 49 50 51 52 53
11. 1,313 f; zum ganzen Hoessly 2001. Kallim. Fr. 194, 28-31; Clem. Strom. 5,48,4. Abaris Paus. 3,13,2; Thaletas Plut. mus. 1146BC; Bakis Theopompos FGrHist 115 F 77; Rohde 1898, Il 69-99. Hes. Fr. 37,14 f; 133; PR Il 246-53; HN 189-94; Lokalisierung in Lusoi seit Bacch. 11,37-9; Stiglitz 1967, 101-5. Hippokr. Morb.sacr. 1,42, VI 362 Littre. Plat. Ion 534a; Symp. 215b; Phdr. 234d; Leg. 790d; Minos 318b; Ivan M. Linforth, The Corybantic Rites in Plato, Berkeley 1946,121-162; Dodds 1951, 77-79.
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rasenden Tanz unter der Macht der "phrygischen" Musik. Indem dann schließlich Erschöpfung den Tanzenden übermannt, fühlt er sich befreit und erlöst nicht nur von seinem Wahnsinn, sondern auch von allem, was ihn zuvor bedrückt hat: Dies ist die "Reinigung durch Wahnsinn", die "Reinigung durch Musik", die dann in den Diskussionen über die "kathartische" Wirkung der Tragödie eine solche Rolle spielen sollte.54
4.4 Reinigung durch Blut "Sie reinigen sich, indem sie mit anderem Blut sich beflecken, wie wenn einer, der in Lehm getreten, mit Lehm sich waschen wollte", so hat bereits Heraklit55 die Paradoxie des auffälligsten Reinigungsrituals angeprangert. Es hat seinen Platz besonders in der Bewältigung des Mordes. Durch den Mord ist ein besonderes, fast körperhaft empfundenes Unheil entstanden, agos, das "in" dem Mörder wirkt: er, ja seine ganze Sippschaft, ist enages. Der Kreis der Gemeinschaft ist dadurch gesprengt; um Ordnung wiederzufinden, bedarf es der Fremden. Es obliegt der Gemeinschaft, "das agos auszutreiben".56 Dies bedeutet zunächst Exil für den Mörder und die Seinen. Die weitere rituelle Agenda freilich zielt auf die Überwindung des Unheils, auf die "Reinigung" von der Befleckung. Der Ausgestoßene kann sich in der Fremde einen Schutzherrn suchen, der seine "Reinigung" übernimmt. Mythisches Beispiel ist der Muttermörder Orestes, der nach seiner Tat in die Fremde flieht. Seit Aischylos stellte man sich vor, wie Apollon selbst Orestes in Delphi durch ein Schweineopfer entsühnt hat. Vasenbilder geben eine Vorstellung von der Prozedur, analog der Reinigung der Proitiden: das Ferkel wird über den Kopf des zu Reinigenden gehalten, das Blut muss ihm unmittelbar auf Kopf und Hände fließen. 57 Natürlich wird das Blut dann abgewaschen, die neugewonnene Reinheit tritt auch äußerlich zutage. Aischylos nennt weitere besondere Regelungen, denen das Ver54 55
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Arist. Pol. 1342a7-16 in Beziehung zu Poet. 1449b28; zur poetologischen Diskussion Lesky 1971, 640 f; Hoessly 200l. B 5 = 86 Marcovich. Ausführlichster literarischer Text Apoll. Rhod. 4,691-717; vgl. Aisch. Eum. 281; Soph. O.T. 99; Eur. Hipp. 34-37; Iph. Taur. 1223 f; Or. 816 f; Hdt. 1,35; Plat. Leg. 864d-86ge. Homer kennt das Ritual der Mordsühne nicht oder ignoriert es, vgl. Moulinier 1952, 30-33; dagegen kam es in der Aithiapis vor, p. 68 Bernabe, p. 47 Davies. dgas elaunein Thuk. 1,126,2 (damals wurde der Mord an den »Kyloniden" noch nach fast 200 Jahre gegen Athen und Perikles instrumentalisiert). Man hat erwogen, ob dgas stammverwandt sei mit dem Wortstamm für das »Heilige", »Reine", hagn6s. -+ V 4 Anm. 19-23. Bes. der apulische Glockenkrater Louvre Cp 710, Harrison 1922, 228; JHS 89, 1969, T. 2,1; LIMC VII s.v. Orestes 48. Die Reinigung der Proitiden: Krater von Canicatti, AK 13, 1970, T. 30, 2, LIMC VII s.v. Proitiden 5; ThesCRA II p. 18 f. Dass die Reinigung in Delphi nicht auflokaler Kultrealität, sondern nur auf Aisch. Eum. 282 fberuht, hebt R. R. Dyer JHS 89, 1969,38-56 hervor. Schweigen des Befleckten: Aisch. Eum. 448.
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RITUAL UND HEILIGTUM
fahren unterworfen ist: Bis zur "Reinigung" darf der Mörder kein Wort sprechen und nicht ins Haus aufgenommen, nicht zur Mahlgemeinschaft zugelassen werden: Wer mit ihm Kontakt hat, ist gleichermaßen befleckt. Auch andere Orte mit lokalen Ritualen werden mit der Reinigung des Orestes verbunden: In Troizen 58 stand vor dem Apollonheiligtum eine "Hütte des Orestes"; es hieß, man habe sie errichtet, um den Mörder nicht in einem gewöhnlichen Haus aufzunehmen. In Athen führte man das merkwürdige Weintrinken am "befleckten Tag" im Rahmen des Anthesterienfests59 darauf zurück, dass Orestes kam und aufgenommen, aber nicht zur Tisch-Gemeinschaft zugelassen wurde. Von Poesie und Mythos zur Realität führt ein neugefundenes Gesetz aus Selinus, etwa gleichzeitig mit Aischylos' Orestie (458).60 Die drohende Macht, von der ein Mörder oder sonst ein Bedrängter sich reinigen möchte, eine Art Dämon, wird hier als elasteros, "der Auszutreibende" bezeichnet. Das Ferkelopfer wird genannt, und die Wieder-Zulassung zu Sprechen, Essen, Schlafen. Solche "Reinigung" ist im Grunde deutlich ein "rite de passage". Der Mörder hat sich außerhalb der Gemeinschaft gestellt; seine Wiedereingliederung auf neuer Ebene ist darum Initiation. So haben die Reinigung des Herakles vor der Eleusinischen Weihe und die Reinigung des Orestes durchaus strukturelle Parallelen; auch zu Eleusis gehört ein Ferkelopfer. 6I Bei der Mordsühne liegt der Gedanke nahe, den verfolgenden Rachemächten ein Ersatzopfer zu bieten. Das Wesentliche aber scheint zu sein, dass der Blutbefleckte nochmals mit Blut in Berührung kommt: Dies ist eine demonstrative und eben darum harmlose Wiederholung des Blutvergießens, wobei die Folge, die sichtbare Befleckung, demonstrativ beseitigt werden kann; so wird das Geschehen nicht verdrängt, sondern bewältigt. Vergleichbar ist der primitive Brauch, dass der Mörder Blut seines Opfers einsaugt und gleich wieder ausspeit: 62 Er muss das Faktum durch intime Berührung akzeptieren und zugleich in wirksamer Weise loswerden. Auch sonst wird nicht selten Blut zum Zweck der Reinigung vergossen. Am genauesten bezeugt ist die Reinigung des Platzes der Volksversammlung und des Theaters in Athen: Zu Beginn der Versammlung tragen eigene Funktionäre, peristiarchoi,63 Ferkel rings um den Platz, schneiden ihnen die Kehle durch, sprengen Blut über die Sitze, schneiden ihnen die Genitalien ab und werfen sie weg. Wie man den Kadaver beseitigt hat, erfahren wir nicht. Der Name zeigt an, dass der Ritus eigentlich von der 58 59 60
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Paus. 2,31,8. Eine priesterliche Gruppe traf sich dort regelmäßig zum sakralen Mahl. HN 245 f. --+ V 2.4. Michael H. Jameson/David R. Jordan/Roy D. Kotansky, A Lex Sacra from Selinous, Durharn 1993; Lupu 2005, nr. 27; Burkert 2007, 37-52; 210-219. - Zum Sakralgesetz von Kyrene, LSS 115 --+ 1I 9 Anm. 8. Fragment eines Reinigungsrituals nach der Satzung der athenischen Eupatriden Ath. 410b (--+ 1I 4 Anm. 11). HN 283-286; Torre-Nova-Ostothek und Lovatelli-Urne --+ Anm. 37 und 39. Aisch. Fr. 186a; 354 Radt; ApolI. Rhod. 4,477-479; GGR 92. Die Zeugnisse bei Jacoby zu Istros FGrHist 334 F 16; Kastration: Demosth. 54,39; GGR 105; RE XIX 859.
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"Reinigung" eines häuslichen Herdes genommen ist, ein vorbereitendes Opfer vor der Wieder-Entzündung, den üblichen Opfern und Gebeten für die Götter. Zu solchen Reinigungsopfern gehört das Umkreisen. Die Mantineer64 reinigen ihr ganzes Land, indem sie Schlachtopfer (sphdgia) ringsum an den Grenzen entlang führen, um sie dann zu schlachten. In Methana65 sucht man die Weinberge vor widrigem Wind zu schützen, indem man einen Hahn in zwei Teile schneidet und zwei Männer die blutenden Stücke, einander entgegenlaufend, um die Pflanzung tragen; dort, wo sie sich treffen, vergräbt man die Reste. Machtdemonstration, Markierung, Beseitigung sind Elemente solchen Handelns. Die Beziehungen zum gewöhnlichen Opfer, besonders zum "Blutig-Machen" der Altäre, sind augenfällig; doch zeigt sich das Reinigungsritual gerade hier auf das Magisch-Zweckhafte reduziert. Gegenstück zum Umkreisen ist der Durchgang durch die blutigen Stücke eines halbierten Opfers. So wird insbesondere das makedonische Heer "gereinigt", indem es zwischen den Teilen eines entzweigeschnittenen Hundes - rechts Kopf, links Hinterleib - hindurchgeführt wird. Ein Scheinkampf schließt sich an. 66 Ein entsprechendes Ritual gibt es nicht nur in Böotien, sondern bereits bei den Hethitern; Alttestamentliches und Persisches kommen dazu. Die bewusste Grausamkeit gehört zur Stählung für den Kampf; man kann denn auch erzählen, dass ein Kriegsdienstverweigerer zum Schlachtopfer genommen wurde. Insofern ist das halbierte Opfer eine Sonderform der Schlacht-Einleitung durch sphdgia. "Reinigung" ist der Durchgang, der rite de passage, indem er zum erwünschten Status führt; darum können Mordentsühnung und Kriegsweihe gleichermaßen "Reinigung" heißen.
4.5 Pharmakos Besondere Aufmerksamkeit unter den Reinigungsritualen hat das Austreiben des Pharmak6s gefunden, weil hier inmitten der griechischen Zivilisation das Menschenopfer als Andeutung, als Möglichkeit, wenn nicht gar als feste Institution erscheint. 67 Die merkwürdigsten Details sind aus Kolophon im 6. Jahrhundert bekannt, dank den Schmähgedichten des Hipponax68 : Hipponax droht seinen Feinden schmähliche Vernichtung an, indem er ausmalt, wie man mit einem Pharmak6s umspringt: Ein ob seiner Hässlichkeit ausgewählter Mensch wird erst mit Feigen, Brei und Käse 64 65 66
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Polyb. 4,21. Paus. 2,34,2. Hauptquelle Liv. 40,6 aus Polybios; GF 404 f; GGR 106 f; Samson Eitrem, Symb. Oslo. 25, 1947, 36-43; Versnell975. Hethitisch: Gurney 1954, 151; RHR 137, 1950,5-25; AT: Gen. 15,9-18; Jer. 34,18 f; Perser: Hdt. 7,39 f; im Mythos: Apollod. BibI. 3,173. Viktor Gebhard, Die Pharmakoi in Ionien und die Sybakchoi in Athen, Diss. München 1926; RE V A 1290-1304; XIX 1841 f; GF 105-113; AF 179-188; GGR 107-110; S&H 59-77; Bremmer 2000. Hipponax Fr. 5-11 West, aus Tzetzes, Chiliades.
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gespeist, dann mit Feigenzweigen und Meerzwiebeln ausgepeitscht, vor allem sieben Mal auf das Zeugungsglied; dass er schließlich verbrannt, die Asche ins Meer gestreut wird, behauptet unser byzantinischer Zeuge; ob man ihm glauben darf, ist seit langem umstritten. In Abdera69 wird alljährlich ein armer Teufel als Reinigungsopfer, kathdrsion, "gekauft", man beköstigt ihn reichlich, führt ihn dann an einem bestimmten Tag durch das Tor aus der Stadt, lässt ihn die Stadtmauern umkreisen und jagt ihn schließlich mit Steinwürfen über die Grenze. Ähnlich werden in Athen70 am Thargelienfest zwei Männer wiederum auf Grund besonderer Widerwärtigkeit ausgewählt, "einer für die Männer, einer für die Frauen"; sie werden mit Feigen behängt, als kathdrsia "hinausführt", vielleicht vertreibt man auch sie mit Steinen. In Massalia/Marseille greift man bei außerordentlichem Anlass, etwa einer Seuche, zu Ähnlichem: Man bietet einem Armen ein Jahr lang gute und reichliche Kost; mit Binden geschmückt und in "heiligen Gewändern" wird er dann um die Stadt geführt und schließlich unter Verwünschungen verjagt.7 1 Von den Klippen von Leukas, im Bereich des Apollon Leukatas, stürzte man einen verurteilten Verbrecher, band ihm jedoch Flügel an, den Sturz zu mildern, und suchte ihn wieder aufzufischen.n Ein anderer Berichr73 spricht davon, man habe "für Poseidon" einen Jüngling ins Meer gestürzt, um mit ihm alles Unheil loszuwerden: "werde du unser Unrat" (peripsema). In Chaironeia peitscht man den "Hunger", Boulimos, in Gestalt eines Sklaven zur Tür hinaus.74 Spekulationen um den "Vegetationsgeist" haben den ebenso einfachen wie erschreckenden Charakter dieses Dramas eher verdunkelt. Nahezu unritualisiert erscheint das gleiche in einem möglicherweise historischen Bericht aus der Spätantike:75 Als in Ephesos die Pest wütet, versammelt der Wundermann Apollonios die Bevölkerung im Theater, weist dann plötzlich auf einen in Lumpen gehüllten Bettler: Dies sei der Pestdämon; und schon wird der arme Kerl, wie sehr er um Gnade jammert, gesteinigt, eine ganze Pyramide türmt sich über der Leiche. Die von der Angstsituation gereizte Aggressivität wird auf einen anstößigen Außenseiter konzentriert; alle fühlen sich erleichtert durch die gemeinsame Entladung der aus Verzweiflung gespeisten Wut und auch durch die Gewissheit, auf der rechten, der "reinen" Seite zu stehen. 69 70 71
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KalL Fr. 90 (erst 1934 bekannt geworden). AF 179-88. Servo Aen. 3,57 ~ Petron Fr. 1, dazu SchoL Stat. Theb.lO,793 (Gallicus mosl; proiciebatur (Serv.) wurde in alten Ausgaben durch praecipitabatur "in die Tiefe gestürzt" ersetzt; saxis occidebatur "gesteinigt" SchoL Stat. Strab. 10,2,9 p.452; GGR 109 f. Phot. peripsema. Plut. qu.conv. 693EF, vgL Inschrift von Termessos bei Reinhold Merkelbach/JosefStauber, Steinepigramme aus dem griechischen Osten IV, Stuttgart 2002, 18/01/06,2: ein Wohltäter "jagte den Hunger ins Meer". Philostr. V.Ap. 4,10. Die hier skizzierte Dynamik hat Rene Girard, La violence et le sacre, Paris 1972, zu einer religiösen Grundaktion überhaupt ausgebaut.
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Dementsprechend mag die Durchführung des Rituals in exzeptionellen Angstsituationen, wie in Massalia, das ältere sein. Dass der attische Ostrakismos,76 das "Scherbengericht" über ein störendes Individuum, demokratische Rationalisierung eines solchen Verfahrens ist, hat man längst gesehen. Die "dreißig Tyrannen" konnten denn auch ihre politischen Morde als Reinigung bezeichnen,77 "Säuberung" in des Wortes schrecklichster Bedeutung. Die religiös abgesicherte Form ist in Ionien und Attika mit dem Fest der Thargelia im Frühsommer, mit den Erstlingsgaben der neuen Ernte verbunden: "Reinigung" als Voraussetzung der neuen Lebens-Mittel. Wesentlich ist dabei offenbar, dass das auszutreibende Wesen in engen Kontakr mit der Gemeinschaft, mit der Stadt gebracht wirdj dazu gehören die Essensgaben, von denen stets die Rede ist. Die Feigen78 stehen in doppeltem Kontrast zur normalen Kultur, zu den Früchten des Ackerbaus ebenso wie zum Opferfleischj sie deuten auf Süße, Üppigkeit, Zügellosigkeit, einen Hauch von Goldenem Zeitalter, von dem die Realität sich hart abzusetzen hat. Das "Umkreisen", das sich auch bei den Reinigungen mit Wasser und mit Blut findet, fasst die Gesamtheit der Reinen zusammenj der Ausgestoßene heißt dann "das ringsum Abgeschabte", peripsema (Anm. 73). Auf die aktive Tötung kommt es nicht anj nur weg muss der "Auswurf", über die Grenze, über die Klippe, um nicht wiederzukehren. Dem entspricht im Alten Testament der berühmte, wenn auch in sich rätselhafte Ritus der Austreibung des Sündenbocks in die Wüstej dies hat dem ganzen Komplex den geläufigsten Namen eingebracht, "Sündenbock", "scapegoat-Ritual".79 Im Griechischen gibt es einige Fälle, wo ein Stier ausgetrieben wird, etwa Feinden zu, denen er Unglück bringtj oder eben über die Grenze. Vergleichbares ist im Orient bezeugt. 8o Einen " Störenfried " auszustoßen, ist ein elementarer Gruppenreflexj dazu kommt vielleicht letztlich noch die Situation des von Raubtieren umkreisten Rudels: Nur indem ein Glied der Gruppe, am ehesten ein abseitiges, schwächliches, krankes, den Bestien zum Opfer fällt, werden die anderen gerettet. Der Ausgestoßene ist zugleich der Retter, dem man zutiefst verpflichtet ist. 81 Die griechische Bezeichnung als katharm6s vereindeutigt den Vorgang, als gehe es nur um Schmutz, den man los wirdj der Mythos jedoch deutet auf die erregende Ambivalenz. Es kann gerade der König sein, der zum Ausgestoßenen wird: König 76 77 78 79 80
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Jean-Pierre Vernant, Mythe et tragedie en Grece ancienne, Paris 1972, 124, nach Louis Gernet. Lysias 12,5. Vgl. RE VI 2145-9; Vinzenz Buchheit RhM 103, 1960, 200-29; Heinz G. Horn, Mysteriensymbolik auf dem Kölner Dionysosmosaik, Bonn 1972, 41-3. Von escape-goat. AT Lev. 16; GB IX: The Scapegoat. Legende von der Gründung Erythrais, Polyaen 8,43; Stieraustreiben in Ainos, Plut. qu.Gr. 297B; Hethitisch: ein Eber gegen die Feinde getrieben, ANET 347; Oliver R. Gurney, Some Aspects of Hittite Religion, London 1977, 47-52. Der Mythos vom Troianischen Pferd hängt damit zusammen, HN 178-181; S&H 59-62. Burkert 1998, 56-73.
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II
RITUAL UND HEILIGTUM
Kodros von Athen, der im Knechtsgewand sich von den Feinden erschlagen lässt;82 der umherirrende Ödipus;83 König Thoas von Lemnos, der beim Frauenaufstand, dem großen katharm6s, in einem Kasten auf das Meer hinaus gestoßen wird. 84 Oder das den Feinden überantwortete, überschüttete, getötete Gruppenglied ist ein besonders schönes, "auserlesenes" Mädchen, Polykrite von Naxos, die man am ThargelienFest mit Opfern ehrt. 85 Ausstoßung der Jugendlichen, wie auch der Lokrische Mädehen-Tribut86 an die Athena von Ilion, der als Sühne für den Frevel des Lokrischen Aias bezeichnet wird, kann freilich auch Teil eines Initiationsrituals sein, in dem die "reinigende" Trennung weiterführt zu einer Neueingliederung, die die alte Ordnung fortbestehen lässt. In den Gründungssagen einiger Kolonien wird erzählt, wie die ersten Siedler aus ihrer Heimat als Zehnten dem Gott von Delphi geweiht und so in die Fremde geschickt worden waren; die Austreibung, eine Art ver sacrum, ist hier statt als katharm6s als Erstlingsopfer interpretiert;87 in anderen Gründungssagen wiederum sind es Außenseiter, Bastarde und Sklaven, die ausgetrieben werden und in der Fremde den neuen Anfang finden. 88
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Pherekydes FGrHist 3 F 154; Hellanikos FGrHist 323 a F 23; vgl. Scherling RE XI 984-994. Dazu Vernant -+ Anm. 76. -+ II 1 Anm. 57; CQ 20, 1970, 7; HN 213. Im Roman des Iambulos Diod. 2,55,3 werden im Rahmen eines katharm6s zwei Männer zu Schiff auf Nimmerwiederkehr auf das Meer gesandt. Zum Komplex des "Saturnalienkönigs" vgl. auch GB IX; Stefan Weinstock in: Mullus, Festschr. Theodor Klauser, Münster 1964, 391-400. Andriskos FGrHist 500 F 1 und Theophrast Fr. 626 Fortenbaugh (Parthen. 9); Arist. Fr. 559. Aen. Tact. 31,24; Timaios FGrHist566 F 146; Kallim. Fr. 35; Lykophr. 1141-1173 mit Tzetz. zu 1141; 1155 u.a.m.; Inschrift: AdolfWilheim OeJh 14, 1911, 163-256; IG IX2 1, 706. Amaldo Momigliano CQ 39, 1945, 49-53 ~ Secundo Contributo aHa Storia degli Studi Classici, 1960, 446-453; George L. Huxley in: Studies Victor Ehrenberg, Oxford 1968, 147-164; RE Suppl. XIV 814 f; Pierre VidalNaquet, Le schiavi immortali di Atena di Ilio, in Giampiera Arrigoni (Hrsg.), Le donne in Grecia, Rom 1985, 345-361; Giuseppe Ragone, II millennio delle vergini locresi, in: Biagio Virgilio (Hrsg.), Studi ellenistici VIII, Pisa 1996, 77-96; Fritz Graf, The Locrian Maidens, in: Buxton 2000,250270; Redfield 2003, 85-156. Rhegion Strab. 6,1,6 p.257; Bottiaioi Arist. Fr. 485; Asine Paus. 4,34,9; Liebgard Gierth, Griechische Gründungsgeschichten als Zeugnisse historischen Denkens vor dem Einsetzen der Geschichtsschreibung, Diss. Freiburg 1971, 70-86. Zum italischen ver sacrum RE VIII A 911-923. - Der Mythos lässt aus einem Erstlings-Gelübde das Kinderopfer hervorgehen, im Fall des Idomeneus (Serv. Aen. 3,121; PR II 1498 f) und auch der Iphigenie (Eur. Iph. Taur. 20 f.). "Partheniai" von Tarent, Arist. Er. 611,57; Ephor. FGrHist 70 F 216; Antiochos FGrHist 555 F 13; Ps.Acro ad Hor. carm. 2,6,12; Servo Aen. 3,551; Gründung von Lokroi, Timaois FGrHist 366 F 12; Polyb. 12,5,6; Schol. Dion. Per. 366; Simon Pembroke, AESC 25, 1970, 1240-1270; Sourvinoulnwood, CQ 24, 1974, 186-198.
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5 Das Heiligtum
5 Das Heiligtum 5.1 Temenos Der Kult der Griechen ist fast stets lokal fixiert: Vorgegeben sind die Orte der Verehrung,! die man nicht ohne Bedenken verändern kann. Selbst bei Katastrophen, hei Umsturz und Wechsel der Bevölkerung werden die Heiligtümer oft bewahrt und weiter gepflegt; über dem von den Römern zerstörten Korinth ragte der Apollontempel, von dem noch heute einige Säulen aufrecht stehen. Selbst Christen folgten dem Brauch, errichteten Kapellen an Stelle von Heiligtümern oder bauten die Tempel zu Kirchen um; der Dom von Syrakus birgt den Athenatempel aus dem 5. Jahrhundert in sich. Für den modernen Betrachter verschmilzt der Eindruck eines griechischen Heiligtums unlösbar mit dem der griechischen Landschaft. 2 Auch die Alten haben etwas davon empfunden, sie sprechen von der ragenden Höhe, von der Delphischen Felskulisse, vor allem von der Lieblichkeit heiliger Haine mit Blätterrauschen, Vogelstimmen und murmelnden Quellen.3 Doch ist der Kult nicht etwa ein Reflex auf das Erlebnis der Landschaft.4 Wenn man an Ort und Stelle einen Hauch des Göttlichen verspürt und sich im Bereich höherer Wesen weiß,5 so ist dies meist eben durch den institutionalisierten Kult angeregt. Wie die Riten oft den Gegensatz des Draußen und Drinnen gestalten, gibt es in Relation zur menschlichen Wohngemeinschaft einerseits die zentralen, andererseits die exzentrisch gelegenen Heiligtümer. Jene krönen die Burghöhe - Akropolis - oder säumen den Marktplatz - Agora; diese suchen entweder die Höhe oder aber Weiher und Sumpf, limne. Insbesondere gibt es eine Artemis Limndtis und einen Dionysos en limnais. 6 Hier dürfte die uralte Praxis der Versenkungsopfer wirksam sein, während das "Hinaufsteigen", das "Hinaufführen" der Opfer auf den Berg eine ebenso bedeu-
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KA 10-31; Kar! Lehmann-Hartleben, Wesen und Gestalt griechischer Heiligtümer, Antike 7, 1931, 11-48; 161-80; Helmut Berve/Gottfried Gruben, Griechische Tempel und Heiligtümer, München 1961; Gruben 1966; Bergquist 1967; Richard A. Tomiinson, Greek Sanctuaries, London 1976; Alcock-Osborne 1994; Burkert 1996. Zur Anknüpfung an Prähistorisches - I 1 Anm. 38-40; an Mykenisches - 14 Anm. 22-31. Paula Philippson, Griechische Gottheiten in ihren Landschaften, 1939 (Symb. Oslo. Supp\. 9). Zur Höhenlage Fehling 1974, 55 Anm. 7; De\phi z.B. Eur. Ion. 714 f; Phoin. 226-228. Zum Hain Sappho 2 Voigt und Soph. O. K. 668-706. GdH 1I 544 (zu Andania, - VI 1 Anm. 24-32): "Es war einmal ein dichter Zypressenhain, in dem eine starke Quelle floss. Da fühlten die Menschen "gewißlich ist ein Gott an diesem Ort..." (nach Verg. Aen. 8,351 f.). Plat. Leg. 750e. - Laut Volksglauben spukt es auf Friedhöfen, aber nicht, weil man Spukplätze zum Begräbnis wählt; die Geister folgen den Bestattungen. Zu Artemis Limnatis GF 210-213; auch der durch den Gorgo-Giebel berühmte Artemistempe\ von Kerkyra im Sumpfge\ände vor der Stadt und das Ortheia-Heiligtum gehörten zu diesem Typ. Zum Anthesterien-Dionysos - V 2.4.
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II
RITUAL UND HEILIGTUM
tende Tradition hat. Übrigens sind die Heiligtümer dann oft nicht auf der Spitze, sondern in einem geschützten Sattel angelegt. 7 Die Götternamen sind nicht auf bestimmte Funktionen festgelegt. Es gibt Apollon am MarktplatzB aber auch in der einsamen Berglandschaft von Bassaij es gibt Höhenkulte des Zeus, aber ebenso Hera Akraia oder Aphrodite auf Akrokorinth. Burggöttin ist vorzugsweise Athenaj "vor der Stadt" auf einem Hügel liegt nicht selten ein Heiligtum der Demeter,9 die in eine gewisse Polarität zur Alltagsordnung der Stadt tritt. Die heilige Stätte muss unveränderlich markiert sein. Doch Anknüpfung an eigentliche Naturmonumente ist eher selten. Grotten und Höhlen spielen nur mehr am Rande eine Rollej am auffallendsten ist der Mysterienkult in der Ida-Höhle.lO Die wilde, quellenreiche Felsenschlucht bei Lebadeia hat dem unterweltlichen Trophonios-Kult gewiss Züge geliehenjIl es gibt Heiligtümer an heißen QuellenY In der Regel genügt die einfache Markierung mit Fels und Baum. Im Zentrum des Eleusinischen Heiligtums ließ man immer ein Stück unbearbeiteten Fels anstehenj I3 das Heiligtum der "Olympischen Erde" in Athen umschloss einen natürlichen Felsspalt.I4 Doch werden auch Steine aufgestellt, "unbearbeitete Steine" (argoi lithoi)j15 in DeIphi gilt der in der charakteristischen Form des "Nabels" (omphalos) bearbeitete Stein als Zentrum nicht nur des Heiligtums, sondern der Weltj hier trafen sich die beiden Adler, die Zeus vom fernsten Westen und Osten hatte ausfliegen lassen. 16 Wichtiger noch als der Stein ist der Baum im Heiligtum, wie es Minoisch-Mykenischer, aber auch orientalischer Tradition entsprichtP Der schattenspendende Baum ist ebenso Inbild der Schönheit wie der generationenüberspannenden Dauerj am wichtigsten sind essbare Früchte. Die meisten Heiligtümer haben je ihren beson7
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So das Heiligtum des Zeus Lykaios, RE XIII 2235-2244; HN 99; oder die Oita-Feuerstätte (-+ II 1 Anm. 59). VgL RudolfBeer, Heilige Höhen der Griechen und Römer, Wien 1891; Casparus Albers, De diis in locis editis cultis apud Graecos, Diss. Leiden 1901. RhM 118, 1975, 20. Die Agora der Phäaken ist "beiderseits des schönen Poseidon-Heiligtums", Od. 6,266. Richardson 1974, 250. VgL auch Giovanni Pugliese Carratelli, Santuari extramurani della Magna Grecia, PP 17, 1962, 241-6; de Polignac 1984. -+ I 3 Anm. 70; 14 Anm. 18; III 1 Anm. 16; VI 1 Anm. 40/1. -+ II 8 Anm. 56/57. Hierzu Jean H. Croon, Mnemosyne 9, 1956, 193-220. -+ I 4 bei Anm. 26. Paus. 1, 18, 7. -+ II 2 Anm. 66; III 2.3 Anm. 10. Als Vorgänger der menschengestaltigen Götterbilder bei Paus. 7,22,4; Visser 1903, 1-9; 55-107; E. Maas, Heilige Steine, RhM 78, 1929, 1-25; Latte RE III A 2295-2304; Maria T. Manni Piraino, PP 1968,432; Jeffery 1990, 255. - Der "Eros" von Thespiai Paus. 9,27,1: "Zeus Kappotas" bei Qytheion Paus. 3,22,1; Herakles bei Orchomenos Paus. 9,24,3; "Alkmene" in Theben Pherekydes FGrHist 3 F 84; Paus. 9,16,7; Chariten Orchomenos Paus. 9,38,1; Paphos -+ 14 Anm. 6. VgL Anm. 45; I 3.5 Anm. 2-5; II 2 Anm. 57 f. Pindar Fr. 54; Roscher, Omphalos, Abh. Leipzig XXIX 9, 1913, 54-105; Herrmann 1959; HN 144. Carl Bötticher, Der Baumkultus der Hellenen, Berlin 1856; Ludwig Weniger, Altgriechischer Baumkultus, Leipzig 1919; Baudy 1980, 77-80. -+ I 3 Anm. 185-187; zum Orientalischen Helene Danthine, Le palmier dattier et les arbres sacres, Paris 1937.
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5 Das Heiligtum
deren Baum: Auf der Akropolis zu Athen steht der Ölbaum, der besonderer Pflege bedarf, im Heiligtum der "Taugöttin" Pandrosos; dass er, als im Jahr 480 die Perser den Tempel niedergebrannt hatten, gleich wieder ausschlug, zeigte bedeutungsvoll die ungebrochene Lebenskraft Athens an.t 8 Im Heraheiligtum von Samos spielt ein Weidenbaum (lygos) eine Rolle.19 Auf Delos zeigte man die Palme, gegen die sich Leto bei der Geburt der Zwillingsgötter Artemis und Apollon gestemmt hatte; mit nichts kann Odysseus Nausikaas frische Schönheit besser vergleichen als mit dieser Palme. 20 In Didyma21 stand Apollons Lorbeerbaum; in Olympia war es ein wilder Ölbaum (k6tinos), mit dessen Zweigen die Sieger bekränzt wurden. 22 Besonders alt und heilig war die Eiche (pheg6s) von Dodona, die mit ihrem Rauschen Orakel gab. 23 Der Baum wird in enge Beziehung zumal zur Göttin gebracht: Das Schnitzbild der Athena von Athen ist aus Ölbaumholz,24 das der Hera von Tiryns aus Birnbaumholz. 25 Münzen von Gortyn 26 wie von Myra in Kleinasien27 zeigen eine Göttin im Baum sitzend; dort ist es Europa, der sich Zeus als Adler naht, hier ArtemisEleuthera. Einen Baumkult einfach als Vorgänger des Göttinnen-Kults anzunehmen, warnen indessen düstere Mythen, die vom Erhängen der Göttin oder der ihr dienenden Mädchen am Baum erzählen. 28 Seit je werden Opfer am Baum aufgehängt, auch die Felle der Jagdtiere aus uraltem Jägerbrauch, aber auch Scheiben, Oscilla, die sich im Wind bewegen; dies sind Hänge-Opfer für die mythische Phantasie oder Tradition. So kann es dann auch heißen, ein Dionysos-Idol sei aus dem Holz jener Fichte gefertigt, auf der Pentheus zu Tode kam. 29 Oft gehört zum Heiligtum ein Stück Wald, ein "Hain", tilsos, in Olympia tiltis genannt, sei es, dass er das Heiligtum selbst ausmacht, sei es, dass er in unmittelbarer Nähe liegt. 30 Der Name, "Futterplatz", weist auf seine praktische Funktion, als Weideplatz für die Zug- und Reittiere der Festteilnehmer, was ein gewisses Naturgefühl 18
Hdt. 8, 55; Philochoros FGrHist 328 F 67; Detienne, I:olivier, un mythe politico-religieux, RHR
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Paus. 8,23,5. -l> III 1 Anm. 105. Od. 6,162-167, dazu Richard Harder, Nausikaa und die Palme von Delos, Gymnasium 95, 1988, 505-514; Hymn Apoll. 117; Head 1911,485; IG XI 2, 199 A 80; Cic. Leg. 1,2; Plin. n.h. 16,89; CH. Le Roy BCH Suppl. 1, 1973, 263-286. Realiter konnte in der Meerwasser-Atmosphäre von Delos kein Palmbaum gedeihen; man hat eine bronzene Palme errichtet. Gruben 340. Pind. 01. 3,11-35; Aristoph. Pillt. 582-586. --+ II 8 Anm. 47 f. Athenag. 17,4 vgl. Varro Aug. civ. 18,9. Paus. 2,17,5; HN 189. Head 1911, 466; GGR T. 27, 3/4; Cook 1914, 1528 f; Theophr. hist. plant. 1,9,5. Head 1911, 695 f.; Cook 1925, II 680 f.; RE XVI 1085. Helena: Paus. 3,19,10; vgl. Artemis von Kaphyai Kallim. Fr. 187; Jungfrauen der Artemis von Karyai: Schol. Stat. Theb. 4,225; HN 77. Paus. 2,2,7. Z.B. LSCG 47; LSS 81; SICJ3 1157; 1168,122; (Pind.) 01. 5,11; Sappho 2 Voigt, dazu eine "von Pferden beweidete Wiese".
178, 1970,5-23.
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aber keineswegs ausschließt, zumal der Hain eben sakraler Nutzung vorbehalten ist. Wichtiger noch ist Wasser zum Trinken und Tränken und auch für die besondere "Reinheit" des Kults. Viele Heiligtümer haben ihre eigenen Quellen und Brunnen, vor allem die der Demeterj31 doch auch in Didyma 32 ist ein Brunnen unweit des Altarsj vom Alea-Tempel in Tegea führt eine eigene Tür zur Quellej33 das Heraion von Argos hat seine Quelle wenigstens am Fuß des Hügels. 34 In Delphi mündete die Kassotis-Quelle im Apollon-Heiligtum selbst, während die weit mächtigere und berühmtere Kastalische Quelle aus der Felsenschlucht in der Nähe strömt. 35 Auf der Akropolis in Athen galt als wichtigstes Kultmal neben dem Ölbaum das "Meer", etwas Salzwasser in einer Felsvertiefungj in die Nordhalle des Erechtheion einbezogen, musste es doch immer unter freiem Himmel bleiben. 36 Hier ist statt praktischem Gebrauch nur die Symbolik der Tiefe wesentlich. Eigentlich konstituiert ist das griechische Heiligtum indessen erst durch die Begrenzung, die es aus dem Profanen (bebelon) heraushebt. Das "abgeschnittene", dem Gott oder Heros zugeeignete Land heißt mit altem Terminus, der eigentlich die Domäne überhaupt bezeichnet, temenos. 37 Auch wenn ein Fluss oder der alles überschauende Sonnengott Helios verehrt wird, erhält er sein wohl umhegtes Temenos. 38 Die Grenze wird durch Grenzsteine markiert, die oft beschriftet sind, oder aber durch eine massive Steinmauerj sie war in der Regel etwa mannshoch. Meist ist nur ein Eingang gelassenj dort sind die Wasserbecken zur Reinigung aufgestellt. "Innerhalb der Wasserbecken" ist nur das Reine zugelassen. 39 Dort ist alles verboten, was ein miasma erzeugen würde, also Geschlechtsverkehr, Geburt und Sterben. Die Bedenklichkeit nahm eher zu: Delos wurde zweimal "gereinigt", unter Peisistratos und im Jahr 426/5 j40 erst entfernte man die Gräber, soweit man vom Heiligtum sehen konnte, dann überhaupt alle von der Inselj Schwangere und Sterbende wurden auf die Nachbarinsel Rheneia verbracht. Der Spartiate Pausanias, den man im Heiligtum der Athena Chalkioikos verhungern ließ, wurde noch lebend herausgeschleppt, obwohl man damit wiederum die Asylie des Heiligtums verletzteY Freilich sind die 31
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Kallichoron-Brunnen in Eleusis: Mylonas 1961,97-99: Richardson 1974, 326-328: ein Gesetz von Keos, 1G XII 5,569, verbietet, in der Quelle zu waschen und zu baden, "damit das Wasser rein ins Demeterheiligtum eintritt". Gruben 340: 1ambi. myst. 3,11, p. 123,15: 127,3 Parthey. eh. Dugas, Le sanctuaire d'Alea Athena a Tegee au 1Ve siede, 1924,69: Paus. 8,47,4. Paus. 2,17,1. Roux 1971, 126-133. Hdt. 8,55: HN 176 f. Profan gebraucht in Linear B und Horn. 11. 6,194: 9,578: 12,313: 18,550: 20,184: 391; Od. 11,185; 6,293; 17,299. Spercheios Il. 23,148; Helios Od. 12,346. ]oseph W. Hewitt, The Major Restrictions of Access to Greek Temples, TAPA 40, 1909,83-92; Parker 1983, 32-103. ---;> II 4 Anm. 24-31. Thuk.3,104. Thuk. 1,134.
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5 Das Heiligtum
Tabus des Heiligen im Grund auch hier ambivalent: Der Gott kann gerade im Heiligtum Hochzeit feiern, Apollon und Artemis sind auf Delos geboren, am Altar verbluten wieder und wieder die Opfertiere. Nicht selten ist eine Opferstätte als Grab eines Heros gedeutet, von dessen schrecklichem Tod im Heiligtum dann der Mythos zu erzählen weiß.42 Um dem Göttlichen als dem ganz Außerordentlichen Raum zu schaffen, muss das menschliche Außerordentliche ausgeschlossen bleiben.
5.2 Altar Das Temenos dient der "heiligen Handlung", dem Opfer; sein wesentlichstes Element, wesentlicher noch als Kultmal, Baum und Quell, ist der Altar, homos, auf dem das Feuer entzündet wird. 43 "Temenos und duftender Altar" des Gottes ist bereits eine homerische Forme1.44 Es gibt natürliche Felsaltäre;45 Altar und Kultmal sind dann identisch. In schlichten, ländlichen Heiligtümern können ein paar aufgeschichtete Steine als Altar dienen.46 In einigen großen und wichtigen Heiligtümern lässt man die Aschen- und Knochenreste zu ganzen Hügeln anwachsen; gerade in Olympia war dies und nichts anderes der Altar des ZeusY Der gewöhnliche griechische Altar aber ist "wohl gebaut", aus Ziegeln aufgemauert und mit Kalk übertüncht oder aus sorgfältig behauenen Blöcken gefügt. Nicht selten sind die Seiten mit Voluten geschmückt. Dazwischen liegt das metallene Tablett, auf dem das Feuer brennt. Große Altäre haben auf einer Seite eine oder mehrere Stufen, damit der Priester das Geheiligte ins Feuer legen und die Spende ausgießen kann. Nach literarischen Zeugnissen stehen die Feiernden "um den Altar", das Wassergefäß wird beim "Anfangen" um alle im Kreis herumgetragen. In Wirklichkeit steht in vielen Heiligtümern der Altar so nahe an der Temenos-Mauer, dass nur eine Auf.. stellung in einem unregelmäßigen Halbkreis denkbar ist.48 Den Hintergrund bildet dann in der Regel die Tempelfassade. Der Eingang ins Temenos führt meist unmittelbar auf den Kultplatz vor dem Altar zu. In einigen Fällen gibt es theaterähnliche Stu42 43
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Bes. Pelops in Olympia, HN 111-117; Pyrrhos in Delphi, HN 134-137. Yavis 1949; Herbert Hoffmann, Foreign Influence and Native Invention in Archaic Greek Altars, AJA 57, 1953, 189-195; Mehmet G. Sahin, Die Entwicklung der griechischen Monumentalaltäre, Diss. Köln 1972; ThesCRA IV 14-21; 381-392. Ungeklärt ist das Problem der Beziehung von griech. bomos zu westsemitisch bamah .Kulthöhe". Ein semitisches Lehnwort im Griechischen wäre nicht ausgeschlossen (-- II 4 Anm. 5; I 4 Anm. 45), doch gibt es keine semitische Etymologie für bamah, wohl aber eine indogermanische für bomos, vgl. Chantraine 1968, 204; Burkert, Grazer Beiträge 4, 1975, 77; 79. ll. 8,48; 23,148; Od. 8,363; Hymn. Aphr. 59. Athena ltonia, Paus. 9,34,2; Herakles aufThasos, Bergquist 1973, 22 f, 39 f. Dion or. 1,53. -- I 4 Anm. 51. BeTgquist 1967, 112 f.
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fenanlagen, die einer größeren Menge die Zeremonien sichtbar machen konnten.49 Der Altar ist zeremoniell "errichtet" worden, als das erste Opfer hier stattfand; oft schreibt dies der Mythos einem Heros zu, einem König der Urzeit, oder dem Herakles. Dann bleibt der Altar an seinem Ort, welche Umbauten auch immer das Heiligtum betreffen mögen. Im Heraion von Samos konnte man sieben verschiedene Zustände des Altars unterscheiden, ehe er um 550 durch Rhoikos die endgültige, monumentale Gestalt erhielt.5o Ein Ternenos muss nicht einem Gott allein vorbehalten sein; so kann es auch mehrere Opferstätten umfassen, mehrere Altäre, die dann in bestimmter Beziehung zueinander stehen. Häufig ist die Antithese von Opfergrube oder ebenerdigem Herd und erhöhtem Steinaltar, entsprechend einem "chthonischen" und einem "olympischen" Opfer; Heros und Gott sind so einander zugeordnet - sie können freilich auch je ihr eigenes abgeschlossenes Ternenos haben,5l
5.3 Tempel und Kultbild Karl Schefold hat die griechische Kultur insgesamt eine "Tempelkultur" genannt; denn im Tempelbau,52 nicht in Palästen, Amphitheatern oder Thermen, hat die griechische Architektur und Kunst ihre glanzvolle Erfüllung gefunden. Dabei war von der griechischen Religion her der Tempel nicht selbstverständlich vorgegeben; die meisten Heiligtümer sind älter als ihre Tempel, einige haben immer den Tempel verschmäht. Der Tempel ist die "Wohnstätte", naos, der Gottheit, er beherbergt das menschengestaltige Kultbild. Die Anfänge des Tempelbaus überlagern sich darum mit der Entwicklungsgeschichte der Götterbilder. Griechen selbst haben später die Theorie aufgestellt, dass die reine und ursprünglichste Götterverehrung bildlos sei.53 In der Tat haben die wichtigsten Götter der 49
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In Korinth, Hesperia 37, 1968, 305-307; 41, 1972, 307-310; in Athen, Erechtheion, Gruben 1976, 194; Lykosura, Gruben 128; 194; Richardson 1974, 235; Troia, Dorothy B. Thompson, Troy Supp!. 3, 1963,58 f; Pergamon, AM 35, 1910,370 f; vg!. schon Mykene (~ I 3 Anm. 127). Zu den Schantreppen, "Theatern", schon in Knossos und Phaistos vgl. Marinatos/Hirmer T. 29; 50 b. Gruben 1976, 317. So Pelops und Pyrrhos. -+ Anm. 42. William B. Dinsmoor, The Architecture of Ancient Greece, London 1927; WalteT Hege/Gerhart Rodenwaldt, Griechische Tempel, München 21951; Herbert Koch, Der griechisch-dorische Tempel, Stuttgart 1951; Schefold, Neues vom klassischen Tempel, MH 14, 1957, 20-32; Heinz Kähler, Der griechische Tempel, Berlin 1964; Gruben 1966; Drerup 1969; Schmitt 1992; Mazarakis Ainian 1997. Varro bei Aug. civ. 4,31, wohl nach Poseidonios, Dion or.l2,27-47 (Poseidonios Fr. 368 Theiler), dazu Strab. 16,2,35-39, p. 760 ff, Poseidonios nach Nock 1972, 860-865; vgl. Bodo von Borries, Quid veteres philosophi de idololatria senserint, Diss. Göttingen 1918; Charly Clerc. Les theories relatives au culte des images, Paris 1924. Zum Kultbild Valentin K. Müller, RE Supp!. V 472-511; Franz Willemsen, Frühe griechische Kultbilder, Diss. München 1939; Schefold, Statuen auf Vasen-
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5 Das Heiligtum
mykenischen Epoche, Zeus.und Poseidon, mancherorts bis in die klassische Epoche hinein auf Kultbild und Tempel verzichtet. Es ist möglich, dass die Indogermanen keine Götterbilder gebrauchten. Dagegen ist in der religiösen Praxis von Ägypten und Mesopotamien, die auch Hethiter und Westsemiten - mit Ausnahme Israels übernahmen, seit je der Tempel als Haus der Kultstatue das Zentrum der Verehrung; es dominiert die sumerische Bezeichnung E.GAL "großes Haus". Davor und daneben gibt es· die meist weiblichen Statuetten uralter Tradition, über deren Sinn und Verwendung sich kaum Präzises ermitteln lässt. 54 Eine Sonderstellung nimmt die minoisch-mykenische Kultur ein: 55 Es gibt einzelne "Tempel", es gibt zumindest in der Spätphase die Aufstellung von Götterstatuetten, meist Göttinnen-Statuetten, in Heiligtümern, aber diese treten immer in der Mehrzahl auf, es gibt nicht die einzigartige Kultstatue, die den Gott als Herrn des Heiligtums repräsentiert. Die homerische Dichtung kennt den Tempel als Wohnung (neos) des je besonderen Gottes, und dies entspricht den Verhältnissen vom Ende der geometrischen Epoche. Apollon entrückt Aineias in den für ihn erbauten Tempel in Troia, wo Leto und Artemis ihn im Adyton pflegen. Athena begibt sich nach Athen ins "dichte Haus des Erechtheus". Die Phäakenstadt hat ihre Göttertempel, und die Gefährten des Odysseus wollen Helios zur Sühne einen Tempel errichten und reich ausstatten. 56 Wenn im sechsten Buch der Ilias die Troianischen Frauen eine Bittprozession zum Tempel der Athena veranstalten, um ihr ein Gewand über die Knie zu legen, so ist ein Sitzbild der Göttin vorausgesetzt: 57 Kultbild und Tempel gehören zusammen. In der Tat sind die frühen Tempel eben den Göttern geweiht, die zugleich durch Kultstatuen vertreten sind: Hera, Athena, Apollon und Artemis, dann auch Demeter;58 Poseidon- und Zeustempel folgen nach. Doch einige Heiligtümer blieben immer ohne Tempel und Kultbild. Auch zu Tempel und Götterbild wie zum Altar gehört ein feierliches "Errichten" (hidrYein).59 Bauopfer werden unter den Mauern beigesetzt, altererbte Kostbarkeiten, Götterstatuetten, auch Töpfe mit Speiseopfern; Tiereschlachten, Feuer, Opfermahl,
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bildern, JdI 52, 1937,30-75; Erwin Bielefeld, Götterstatuen auf attischen Vasenbildern, Wiss. Zeitschr. der Universität Greifswald 4, 1954/5, 379-403; Leon Lacroix, Les reproductions de statues sur les monnaies grecques, Liege 1949; Hermann Funke RAC XI (1981) 659-828; ThesCRA Il 417-507. -+ I 1 Anm. 9. -+ I 3. 3-4. Zu Archanes -+ 1.3.3 n. 70a; I 3 Anm. 136; I 3 Anm. 168. H. 5,445-448; Od. 7,81; 6,10; 12,346; Vermeule 1974, 106 f. 11. 6,87-95, 286-311; RE Suppl. V 495; Vermeule 1974, 121. In der Zusammenstellung früher Tempel von Bergquist 1967, 55 erscheinen sechs Apollon-, vier Artemis-, drei Athena- und drei Hera-Tempel. Bau eines Demetertempels Hymn. Dem. 270-272, 296-302. Ohne Tempel blieb z.B. das Heiligtum des Apollon Delphinios in Milet, Milet 13, 1914, 408-412. Aristoph. Pax. 922;Plut. 1197 f. m. Schol.; Phot. 6mpnen. Gründungsopfer in Gortyn, Rizza/Scrinari (-+ I 4 Anm. 59) 24 f; in Ephesos, David G. Hogarth, Excavations at Ephesus, London 1908, 237 f; Delos, Artemis-Tempel, BCH 71/2, 1947/8, 148-254. Georg Hock, Griechische Weihegebräuche, Würzburg 1905.
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Spenden gehören immer dazu. Beziehungen zu Hethitisch-Anatolischem sind wahrscheinlich. Das Kultbild heißt hedos als das, was unverrückbar seinen "Sitz" hatj Dichter gebrauchen auch gern das Wort bretas, das fremder Herkunft sein muss. 60 Die Vorgeschichte des Tempels ist vielsträngig. Man hat oft den Anschluss an das Megaron der mykenischen Königspaläste betont. Ihm entspricht im 8. Jahrhundert der "Herdhaus"-Tempel, ein Rechteckbau mit Eingang an der Schmalseite und zentralem Herdj wichtigste Beispiele sind Dreros auf Kreta und Perachora bei Korinth. 61 In Dreros fand sich eine minoisch-mykenisch anmutende Kultbank, aber auch einzigartige aus Bronze gehämmerte Figuren, die Apollon, Leto und Artemis darstellen. Vielleicht darf man sie Kultbilder nennenj doch hat man im Herdhaustempel eben auch gekocht und gegessen. Opfermahl-Häuser waren wohl auch die langgestreckten Apsidalbauten in Thermos, im Bundesheiligtum der Aetoler. 62 Der Totenehrung dagegen diente ein großer Apsidalbau mit einem Kranz von Holzsäulen, das "Heroon" von Lefkandi (Euboia) aus dem 10. Jahrhundert. 63 Maßgebend wird dann zu Beginn des 7. Jahrhunderts die Anlage im Heraion auf Samos, ein langgestreckter Rechteckbau mit einer mittleren Säulenreihe, mit einer Reihe von Holzsäulen eingefasstj64 die Feuerstelle, der Altar, befindet sich hier im Freien gegenüber dem Tempel, der sich zu ihm hin öffnetj er geht bis ins 10. Jahrhundert zurück. Heras Kultbild war ein Holzbild wohl aus dem 8. Jahrhundert, von dem eine Statuette des 7. Jahrhunderts eine Vorstellung gibtj doch blieb die Erinnerung an eine Vorstufe bewahrt, als die Göttin einfach durch ein Brett (sanis) dargestellt war, wie auch auf der Insel Ikaros ein rohes Holzstück als "Artemis" galt. 65 Die besondere Art und Rolle des Bildes hat die besondere Tempelform nach sich gezogen. Ein ganz andersartiger, hufeisenförmiger Holzbau wurde im 8. Jahrhundert dem Apollon Daphnephoros auf Eretria errichtet,66 vielleicht als Laubhütte, Lorbeerhütte dem "Lorbeertragen" zu Ehren dieses Gottes entsprechend. Wieder ganz anders ist der rechteckige Steinbau des Athenatempels von Gortyn,67 der bereits um 800 errichtet wurde und in nordsyrisch-späthethitischer Tradition stehtj er umschließt kein Kultbild, sondern eine Opfergrubej ein gro60 61
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Chantraine 1968, I 195; Bettinetti 2001, 25-63. Dreros --+ 14 Anm. 16; Henry Payne, Perachora I, Oxford 1940, 110-113; Margherita Guarducci, SMSR 13, 1937, 159-165; Nilsson 1952, II 704-710; Marcel Launey, Etudes Thasiennes I, Paris 1944, 172-174; F. Oelmann, Homerische Tempel und nordeurasische Opfermahlhäuser, BJb 157, 1957, 11-52; Drerup 1969, 123-128. Aus Perachora, 8. Jahrhundert, stammt ein Tempelmodell, Perachora I T. 9, Drerup 72; ein anderes vom Heraion von Argos, AE 1931, 1-53; Drerup 70; Gruben 1966, 28; von Samos, AM 74, 1959, Beil. 29, 2. Gruben 1976,32 f; Drerup 1969, 14-17. Mervyn R. Popham/Peter G. Calligas/L Hugh Sackett, Lefkandi II, London 1991/3; Peter BIome, Lefkandi und Homer, Würzburger Jahrbücher 10, 1984, 9-22. --+ I 4 Anm. 56. Zum Herabild Kallim Fr. 100; die Statuette: Simon 1%9 Abb. 49....... I 4 Anm. 56/58. Artemis von Ikaros: Clern. Prott. 4,46,3. AK 17, 1974, 60-68. ...... I 4 Anm. 59.
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ßer Altar etwas unterhalb am Abhang kam wenig später dazu; in seiner Nähe war eine fast lebensgroße Steinfigur, eine thronende Göttin, aufgestellt. Götterbilder hat man in den Dunklen Jahrhunderten anscheinend nicht hergestellt, aber doch verwendet. Minoisch-mykenische Figurinen blieben greifbar, sie werden noch um 700 für Bauopfer verwendet. Im Tempel von Keos hat man den Kopf einer der großen mittelminoischen Statuen als offensichtliches Kultbild aufgerichtet. 68 Auch in Olympia fand sich ein überaus bescheidenes mykenisches Figürchen, das weit später dort deponiert oder verloren war. 69 Daneben war offenbar eine beachtliche Anzahl von kleinen Bronzestatuetten eines "Kriegergottes" syrischhethitischer Provenienz nach. Griechenland gekommen, mit Helm, Schild und drohend geschwungenem Speer.70 Ganz unfassbar ist die Rolle von Holzfiguren; xoanon, "Schnitzfigur", ist ein übliches Wort für das Götterbild. 71 Es gibt einige Hinweise auf die Handhabung kleiner tragbarer Figuren im Kult. In Patrai wird ein Dionysosbild in einer Truhe verwahrt und nur zum nächtlichen Fest einmal im Jahr hervorgeholt, denn sein Anblick bringt Wahnsinn mit sich; die Priesterin der Ortheia in Sparta trägt auf ihrem Arm das Bild der grausamen Göttin zum blutigen Schauspiel;72 in Aigion bewahren Zeus- und Heraklespriester jeweils eine Bronzestatuette des Gottes im eigenen Haus aufP Die Götter, die Aineias aus Troia mit sich nahm, stellt man sich als kleine Figuren in einem geschlossenen Behältnis vor, wie noch viel später ein Hausvater über solche Figuren verfügte.14 Man malt aus, wie in der Höhle der Muttergöttin viele hölzerne Götterbilder zu sehen sind. 75 All dies kann im Prinzip älter sein als das "Errichten" der Kultbilder in Tempeln. Für sich steht der sicher alte Brauch, hölzerne Phallen oder ithyphallische Figuren zur Markierung und Abwehr aufzustellen, die Vorläufer der Hermen.16 Im 8. Jahrhundert werden wieder Götterbilder in Ton und Bronze hergestellt, teils im typischen Epiphaniegestus minoisch-mykenischer Tradition, teils und mit besonderer Vorliebe im Kriegertyp; diesem scheint auch das einzigartige säulenför68 69 70 71 72
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Hesperia 33, 1964, 330. -+ 13 Anm. 124; 14 Anm. 19. Hans-Volkmar Herrmann, AM 77, 1962,26-34. Ein Figürchen in Syme, um 1000 v. Chr., könnte auf ein Kultbild weisen, Angelike Lebesi AJA 113, 2009, 521-545. -+ I 4 Anm. 52. W. H. Gross RE IX A 2140-2149 s.v. xoanon; vgl. Hans-Volkmar Herrmann, AA 1974, 636-8; Donohue 1988; Scheer 2000; Bettinetti 2001, 48-52. Patrai: Paus. 7,19,6 f; 20,1. -+ III 1 Anm. 432. Ortheia: Paus. 3,16,11, Schol. Plat. Leg. 633 b; Inschrift einer Ortheia-Priesterin aus Messene SEG 23, 220. -+ III 1 Anm. 289. Paus. 7,24,4; vgl. Gesetz der Klytiden, Chios, um 335, LSCG 118: die "heiligen Gegenstände" sollen aus den Privathäusern in einen gemeinsamen Oikos im Temenos überführt werden. Cic. Verr. II 4,21; 46. Die Aineias-Vasenbilder sind nicht eindeutig, Nicholas Horsfall, AK 22, 1979, 104 f., CQ 29, 1979, 389. Etruskische Amphora: Fulvio Canciani, LIMC s.v. Aineias I, nr. 94; Etruskischer Skarabäus: Peter Zazoff, Etruskische Skarabäen, Mainz 1968, 41 nr. 44; Aeneas mit dem fassartigen Behälter auf einer etruskischen Vase, John D. Beazley, Etruscan Vase-Painting, Oxford 1947, 195,3; Gotthard K. Galinsky, Aeneas, Sicily, and Rome, Princeton 1969, Abb. 45. Ov. Met. 10,693 f; Arrigoni 1982. -+ I 1 Anm. 13-14; III 1 Anm. 30-32.
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mige Kultbild des Apollon von Amyklai mit Helm und Speer verpflichtet;77 er wirkt dann weiter auf die großplastischen Darstellungen kämpferisch mächtiger Götter: Athena mit der Lanze, Zeus mit dem Blitz, schließlich der gewaltige Gott vom Artemision. Erhalten sind fast nur kleine Votivfiguren aus Heiligtümern; x6ana, aus Holz geschnitzte Kultbilder, sind vergangen. Ein seltener Glücksfall sind die Bronzebilder von Dreros; eine ähnliche Dreiheit gehämmerter Bronze-Figuren in größerem Maßstab hat man um 670 in Olympia hergestellt, unter Verwendung nordsyrischer Bronzereliefs, wohl als Weihgeschenk.78 Neben dem Standbild, wie auch dem der Hera von Samos, tritt als Haupttyp die sitzende Göttin auf - die letztlich bis <:;:atal Hüyük zurückgeht; hierzu gehört das Bild der Hera von Tiryns, das später im argivischen Heraion stand und als eines der ältesten Götterbilder überhaupt galt. 79 Ein Sitzbild scheint auch im 6. Gesang der Ilias vorausgesetzt zu sein. Umstritten ist die Gestalt des alten Bilds der Athena Polias von Athen. 80 Berühmt wurde das im 6. Jahrhundert geschaffene überlebensgroße Kultbild des Apollon auf Delos, der in der Linken den Bogen, in der ausgestreckten Rechten Statuetten der drei Chariten hielt;81 es war ein Holzbild, mit Gold überzogen. Die weitere Entwicklung ist Gemeingut der Architektur- und Kunstgeschichte. Nach Erfindung der Dachziegel entwickelt sich im 7. Jahrhundert der bekannte Normaltyp des griechischen Tempels, der allenthalben die vielgestaltigen älteren, primitiven Bauten ersetzt: ein rechteckiger Steinbau auf erhöhtem, dreistufigem Sockel mit flachem Giebeldach, vorzugsweise 100 Fuß lang (hekat6mpedos; ca. 30 m). Nicht ohne ägyptischen Einfluss werden die Säulenordnungen ausgebildet, die "ionische" in Kleinasien, die "dorische" in Argos und Korinth; seit dem 6. Jahrhundert gelten allenthalben für Säulen, Gebälk, Fries und Giebel die festen Konventionen, die dann mehr als 700 Jahre lang die mittelmeerische Architektur beherrschen. Zentrum des Tempels ist der eigentliche na6s, lateinisch cella, wo auf einer Basis das Kultbild errichtet ist; ein Gabentisch, Räucherständer, manchmal eine ewige Lampe gehören zur Einrichtung; beleuchtet ist der Raum nur durch die große, hohe Tür, die nach Osten gerichtet ist. Dort schließt sich oft eine Vorhalle an. Gelegentlich führt hinter der Cella eine Tür noch in einen nur für wenige zugänglichen Innenraum, ein "Adyton".82 77
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Paus. 3,19,2 f.; Simon 1969, 121; Burkert, Grazer Beitr. 4, 1975, 63 f.; 70 f. Zum Gott vom Artemision -- IIlI Anm. 131. Dessa Rittig/Brigitte Borell, Orientalische und griechische Bronzereliefs aus Olympia, Berlin 1998 (OF 26): 3 Statuen, die größere (160 cm) unbestimmbaren Geschlechts, zwei kleinere (120 cm) weiblich; Handwerker wahrscheinlich aus Kreta. Paus. 2,17,5; HN 189. Sitzbild: August Frickenhaus, AM 33, 1908, 17-32; Simon 1969, 194; HN 79; Standbild, = Athena archegetis: lohn H. Kroll, Hesperia Supp!. 20, 1982,65-76. -- Anm. 24. RudolfPfeiffer, Ausgewählte Schriften, München 1960, 55-65. Vergoldeter Apollon in Tegea: Paus. 8,53,7; in Thornax: Hdt. 1,69. KA 21-26; Mazarakis Ainian 1997; Manfred Bietak (Hrsg.), Archaische griechische Tempel und Altägypten, Wien 2001.
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Mit dem Aufschwung der Marmor-Großplastik im 7. Jahrhundert, der Erfindung des Bronze-Hohlgusses im 6. Jahrhundert wird die Schaffung von Götterstatuen zur vornehmsten Aufgabe der plastischen Kunst. Die Kultbilder allerdings existierten meist bereits und waren nicht zu ersetzen; die berühmten archaischen und klassischen Werke sind fast durchweg Weihgeschenke. 83 Immerhin gibt es Neuanlagen mit neu zu weihenden Bildern. An Stelle der Holzstatuen tritt im 5. Jahrhundert als höchste Prachtentfaltung das Goldelfenbeinbild: Um einen Holzkern werden das Gewand aus purem Gold, die Fleischteile aus Elfenbein gearbeitet. Wie die Tempelarchitektur ihren Höhepunkt und einen gewissen Abschluss erreicht im Tempel des Olympischen Zeus - um 460 - und in dem 438 geweihten Parthenon auf der Athener Akropolis, so waren die beiden Goldelfenbeinbilder des Pheidias, die Athena Parthenos der Akropolis und der Zeus von Olympia, nach antikem Urteil der Gipfel aller griechischen religiösen Kunst. Insbesondere der Zeus des Pheidias hat die bildhafte Gottesvorstellung überhaupt jahrhundertelang geprägt; selbst ein römischer Feldherr erschrak vor seiner Majestät.84 So sehr jedoch seither das Bild der griechischen Religion überhaupt von Tempel und Götterstatue bestimmt ist, für den lebendigen Kult waren und blieben sie mehr Kulisse als Zentrum. Gewiss, man rühmte die Heiligkeit der "alten x6ana", erzählte nicht selten, sie seien vom Himmel gefallen;85 besonders ein Palladion war ein wohl zu hütender Besitz, wenn auch niemals in dem betonten Sinn Unterpfand göttlicher Nähe wie in Rom. Wir hören auch nichts von magischen Weihen, dem Kultbild Leben zu geben, wie in Mesopotamien. 86 Gerade die berühmten Statuen waren das Werk namentlich bekannter Künstler, sie waren berühmt ob ihrer Schönheit als agdlmata, Prachtstücke, an denen auch Götter ihre Freude haben müssen. Philosophen seit Heraklit haben davor gewarnt, Götterbild und Gott zu verwechseln, "als ob man mit Häusern Gespräche führen wollte"; doch kann man betend sagen: "Dein Bild, o Göttin", ohne Bild und Gottheit gleichzusetzen. 87 In der Tat ging man zum Götterbild, um zu beten, man betrat zu diesem Zweck den Tempel;88 man reinigte und schmückte im festlichen Ritus das Bild, man übergab ihm einen neuen Mantel (peplos), man kleidete es ein. Solche Pflege galt vorzugsweise den alten x6ana; die große 83
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Ein überlebensgroßer Kopf aus Olympia wurde als Rest der Kultstatue der Hera angesprochen, Simon 1969, 56, Herrmann 1972, 96; er gehärt vielmehr einer Sphinx, D. K. Hili, Hesperia 13, 1944,353-60; Mallwitz 1972, 146-148. Neda Leipen, Athena Parthenos: A reconstruction, Toronto 1971. - Josef Liegle. Der Zeus des Phidias, Berlin 1952; Olympische Forschungen 5, 1964; Josef Fink, Der Thron des Zeus in Olympia, München 1967; Paus. 5,11,2; Polyb. 30,10,6; Dion or. 12. Bild der Taurischen Artemis, Eur. Iph. Taur. 977 f; Palladion, ApolIod. 3,143; Phylarchos FOrHist 81 F 47; Dion. Hal. Ant. 2,66; Athena Polias, Paus. 1,26,7; Dionysos Kadmeios, Paus. 9,12,4; Meter FOrHist 383 F 13; Artemis von Ephesos, nur NT Act. Apost. 19,35. Zum Palladion ~ III 1 Anm. 167. Oppenheim 1964, 186. Heraklit B 5 = 86 Marcovich; vgl. Anm. 53. - Aisch. Eum. 242. Peter E. Corbett, Oreek Temples and Oreek worshippers, BICS 17, 1970, 149-158.
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Panathenäenprozession, die im Parthenonfries verewigt ist, kann den Parthenon nur umrundet haben, um dem alten, nun im Erechtheion errichteten Bild den Mantel zu übergeben. 89 Prozessionen mit Götterbildern - die im alten Orient eine große Rolle spielen - sind eher die Ausnahme. Es gibt die Reinigungsprozession etwa des Palladion, die Entführung und Rückkehr der Samischen Hera;90 solches "Bewegen des Unbewegten" ist ein unheimliches Aufbrechen der Ordnung. Als Antithese, Ausdruck zwanghafter Ordnung, gibt es gefesselte Götterbilder, vorzugsweise von Artemis, Dionysos, Ares:91 sie harren der ebenso lustvollen wie gefährlichen Entfesselung im Ausnahme-Fest, das dann zur "errichteten" Ordnung zurückführen muss. Beim heiligen Werk des Opfers am Altar hat man den Tempel im Rücken; man blickt nach Osten und betet zum Himmel, wie auch der Tempel sich nach Osten öffnet.92 So steht der Fromme gleichsam unter den Augen der Gottheit; doch es ist nicht der Tempel-Innenraum, der ihn einsaugt und der Welt entzieht, das Fest spielt sich im Freien um Altar und Tempel ab; der Tempel, auf Fassade gebaut, den man im Schatten des säulengetragenen Gebälks umwandern kann, liefert den großartigen Hintergrund, er stärkt gleichsam dem den Rücken, der auf die Welt hinausblickt, entlässt ihn, wie er ihn empfing. So viel handwerkliches Können höchster Qualität in den Bau eines griechischen Tempels einging, Maßstab und Aufwand hielten sich im menschlichen Rahmen. Der Ausbau der Akropolis hat die Stadt Athen etwa so viel gekostet wie zwei Jahre Peloponnesischer Krieg.93
5.4 Anathemata Die heilige Stätte entsteht von selbst, indem die heiligen Handlungen dauerhafte Spuren hinterlassen: Da sind Feuerstellen, da sind Blut- und Ölf1ecken auf dem Stein, Ansatzpunkte für Altäre verschiedener Art und Funktion. Wenn Asche, Kohle und Knochenreste stets an selber Stelle verbleiben, bilden sich die großen Aschenaltäre. Schon die paläolithischen Jäger haben überdies Knochen deponiert und Schädel der Jagdtiere erhöht; in den Heiligtümern von Gatal Hüyük sind Stierschädel aufgereiht. So sind auch in den griechischen Heiligtümern Schädel von Jagd- und Opfertieren
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Cecil J. Herington, Athena Parthenos and Athena Polias, Manchester 1955. Bettinetti 2001, 185-210. -- Il4 Anm. 43; 1Il 1 Anm. 104. - Prozession mit x6ana der zwölf Götter in Magnesia, SIG' 589 = LSAM 32, 41, 196 v. Chr. Artemis in Erythrai, Polemon Schol. Pind. 01. 7,95 a; Ortheia Lygodesma (-+ Anm. 72), Paus. 3,16,11; Dionysos in Chios, Polemon a.O.; Enyalios in Sparta, Paus. 3,15,7; Morpho, Paus. 3,15,11; zu Hera -+ 1Il 1 Anm. 104. Vgl. Reinhold Merkelbach bei Meuli 1975, 1035-1081. Zur Orientierung der frühen Tempel Bergquist 1967, 72-80. Burford 1965, bes. 25.
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ausgestellt;94 darum werden dann die Bukranien mit Girlanden zum stereotypen Reliefschmuck von Altären und sakralen Bauten. In Artemis- und Apollonheiligtümern sammeln sich Ziegenhörner an; in Dreros fand sich ein solches Depot; in Delos wurde aus Ziegenhörnern der Hauptaltar der Artemis gefügt, der "Hörneraltar", der geradezu als Weltwunder bestaunt wurde.95 An heiliger Stätte verbleibt auch, was der Mensch in kultisch akzentuierter Lebenswende, im Initiationsritual hinter sich lässt, vor allem das abgeschorene Haar. 96 Und soll die Besonderheit des Heiligen betont werden, kann man auch das im Opfer verwendete Gerät nicht einfach zum profanen Gebrauch zurückholen. Von solchen Ansätzen aus hat der Brauch, Dinge ins Heiligtum "hinaufzustellen" (anatithenai), offenbar seit dem 8. Jahrhundert einen unerhörten Aufschwung genommen, vor allem in Verbindung mit dem Votivopfer. Das so Aufgestellte, anathema,97 ist die dauerhafte, sichtbare Gabe, die von der Beziehung zur Gottheit zeugt, Haupt:ausdrucksform der privaten und repräsentativstes Dokument der offiziellen Frömmigkeit. Man erwartet, wie die Inschriften aussagen, "freundliche Gegengabe" des Gottes, und sei es, um auch künftig "noch ein anderes Geschenk weihen" zu können.98 Geschenk kann vieles sein. Vermögenswerte sind in früher Zeit Gewänder einerseits, Metall andererseits. Da jedoch die "hinaufgestellten" Gegenstände als Zeichen wirken, kann auch bildhafter Ersatz, Zeichen des Zeichens dafür eintreten: Bronzefigürchen, Tonfigürchen, Bilder auf Ton und Holz; schon früh entwickelt sich geradezu eine Devotionalien-Industrie. Eine Gruppe von Anathemata kann als Umsetzung der Opferhandlung in Dauer verstanden werden: Man weiht Gefäße aller Art, Bratspieße, Opferbeil, vor allem Dreifüße; an sich als Küchengerät für das Kochen des Fleisches gebraucht und zugleich von nicht unbeträchtlichem Metallwert, sind diese zum repräsentativsten Weihgeschenk der griechischen Heiligtümer geworden.99 Voran ging Olympia; seit 94 95 96 97
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II 1 Anm. 93; HN 21 f. 111 Anm. 93. -+ Il 2 Anm. 29. Grundlegend Rouse 1902; Gerhard Naumann, Griechische Weihinschriften, Diss. Halle 1933; Antony Raubitschek, Dedications &om the Athenian Akropolis, Cambridge 1949; Wemer Gauer, Weihgeschenke aus den Perserkriegen, Istanb. Mitt. Beih. 2, 1968; Felix Eckstein, Anathemata. Studien zu den Weihgeschenken strengen Stils im Heiligtum von Olympia, Berlin 1969; Maria L. Lazzarini, Le formule delI dediche votive nella Grecia arcaica, Atti Acc. dei Lincei, Classe di Scienze Morali sero 8, XIX 2. 1976,47-354; Atti deI Congresso Intemazionale Anathema. Scienze dell'antichita. Storia Archeologia AntTOpologia 3-4, 1989-1990; ThesCRA I 269-450. - Die Bedeutung "verflucht", die andthema in der kirchlichen Tradition hat, geht vom hebräischen "Bann" aus, Kittels Theol. Wörterb. I 356 f. "Hinaufbringen" (shelü) ist der Ausdruck für Weihung ins Heiligtum auch im Akkadischen, AHw I 209, elü(m) 2h. Inschrift des Mantiklos-Apollo, ThesCRA I 277 nr. 30. - IG P 728 = ThesCRA I 277 nr. 39, dazu Friedländer/Hoffleit 1948 nr. 36, 36a, 37, 40, 106, 107; ThesCRA I 277 f. Bratspieße aus Perachora, um 700, Friedländer/Hoffleit 1948, 10. Zum Dreifuß K. Schwendemann, JdI36, 1921, 151-185; Pierre GuilIon, Les Trepieds du Ptoion, Paris 1943; UlfJantzen, Griechische Greifenkessel, Berlin 1955; Franz Willemsen, Dreifußkessel von Olympia, Berlin 1957 (Olympi-+ -+
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etwa 700 herrscht der orientalisierende, urartäisch-nordsyrisch beeinflusste Typ des Greifenkessels. Zum Opferbereich gehören auch weithin die Tierfiguren,IOO besonders die Rinderfiguren, die in gewisser Kontinuität selbst durch die dunklen Jahrhunderte hindurch vorkommen. Auf Votivtafeln, seit dem 4. Jahrhundert auch auf großen kunstvollen Reliefs, ist oft die Kulthandlung dargestellt.lol Inwieweit die kleinen, menschengestaltigen Votivfiguren den Gott oder seinen Verehrer darstellen, ist oft sehr schwer zu entscheiden;lo2 zweifellos kommt beides vor. Götter geben sich in alter Zeit durch den Epiphaniegestus zu erkennen, dann durch charakteristische Attribute; Menschen tragen nicht selten ein Opfertier. Dabei muss die Votivfigur keineswegs in strenger Beziehung zur Gottheit des Heiligtums stehen; man kann auch Statuetten anderer Götter weihen. lo3 Große Standbilder aus Kalkstein, Marmor, Bronze errichtet dann, wer in besonderer Weise dem Gott verbunden ist und dieser Bindung dauerhaften Ausdruck geben will; so Knaben und Mädchen, die den Tempeldienst versehen haben, wie die Arrhephoren auf der Akropolis, die "Kinder vom Herd" in Eleusis,104 oder Priester und Priesterinnen. Sieger in Olympia haben das Recht, ihre Bronzestatue im Heiligtum aufzustellen. Damit schlägt die fromme Weihung um in die Selbstdarstellung vor der Öffentlichkeit. Man schafft sich sein Denkmal, mnema. Die Anathemata vielbesuchter Heiligtümer sind die wirkungsvollsten Zeugen großer Vergangenheit. Der goldreiche Gyges von Lydien blieb den Griechen durch sein Gold in Delphi bekannt und mehr noch Kroisos, der sprichwörtliche Krösus. 105 So wechselnd das Kriegsglück war, der Sieger beeilt sich stets, in Olympia und Delphi sein Monument zu stiften. Von Schilden in den Heiligtümern spricht schon Homer, doch konnte man auch alle anderen Waffen einem Gott überlassen, ja zum Gedenken an Seeschlachten sogar Schiffsschnäbel oder ein veritables Schiff.lo6 Im Laufe verhältnismäßig kurzer Zeit mussten die vielbesuchten Heiligtümer geradezu überwuchert sein von Weihgeschenken. Priester überwachten die Aufstellung. Der wertlose Kleinkram wurde von Zeit zu Zeit in Gruben im Heiligtum vergraben, zur Freude moderner Archäologen; die wertvollsten Gaben repräsentierten das Tempelvermögen, über das sorgfältig Buch geführt wurde. Geschichten heften sich an merkwürdige Gegenstände, so dass das Tempelinventar zur Chronik wurde;
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sche Forschungen 3); Hans-Volkmar Herrmann, Die Kessel der orientalisierenden Zeit, Berlin 1966 (Olympische Forschungen 6); Michael Maass, Die geometrischen Dreifüsse von Olympia, Berlin 1978 (Olympische Forschungen 10); Hampe/Simon 1981, 111-113. ThesCRA 1302-305. Rouse 1902, 295-301. --+ I 4 Anm. 62. Ulrich Hausmann, Griechische Weihreliefs, Berlin 1960. Rouse 1902, 283-290; 302-309; beispielhafte Behandlung der Terrakotten aus sizilischen Demeterheiligtümern: Zuntz 1971, 89-157; Sguaitamatti 1984. Rouse 1902, 391-393; z.B. Apollon in Dodona, Parke 1967, 275 Nr. 2. --+ V 2 Anm. 26; VI 1 Anm. 130. Hdt. 1,14; 50 f. Im "Sanctuaire des Taureaux" auf Delos, Philippe Bruneau/Jean Ducat, Guide de Delos, Paris 1965, 90 f; Jaques Coupry, BCH Supp!. 1, 1973, 147-156.
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5 Das Heiligtum
inschriftlich erhalten ist die Anagraphe von Lindos.10 7 Weihgeschenke aus dem Troianischen Krieg vorzuweisen war nachgerade selbstverständlich. Natürlich lockte der Reichtum räuberischen Zugriff an. Das Gold des Kroisos wurde im "Heiligen Krieg" 356/346 für Phokische Söldner eingeschmolzen, und mancher spätere Tyrann hat sich auf die gleiche Methode finanziert. Dann wurden die Statuenwälder durch römische Kunstliebhaber gelichtet. Doch noch Plinius schreibt von Tausenden von Statuen in Delphi.108 Weihgeschenke regen zu weiterer Bautätigkeit im Heiligtum an. Bezeichnend sind offene Säulenhallen, meist am Rand des heiligen Bezirks. Die älteste vorbildhafte Anlage dieser Art wurde wiederum im Heraion von Samos bereits im 7. Jahrhundert errichtet, Didyma folgte wenig später.109 Die Hallen bieten zugleich den Besuchern Schutz vor Sonne und Regen und laden zum Verweilen ein. Im 6. Jahrhundert beginnt man mit der Errichtung eigener Schatzhäuser, thesauroi, vor allem in Olyrnpia und Delphij sie haben selbst die Gestalt kleiner Tempel und sind ihrerseits ein Geschenk an den Gott, Teil der aparche oder dekdte. Wie die Opfer, die Verehrer, sich in den Votivdarstellungen vervielfachen, so auch Götterbild und Tempel. An allem wird der Gott seine Freude haben, wie der Mensch darauf stolz sein kannj alles sind agdlmataPO Häufig werden im Temenos oder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft Häuser für das Opfermahl errichtet, hestiat6ria,1l1 besonders nachdem der "Herdhaus-Ternpel" dem Normaltempel gewichen ist, der allein der Gottheit zum Aufenthalt dient. Dagegen sind Priesterwohnungen im Heiligtum selbst die Ausnahmej 1l2 schon jener Reinheitsvorschriften wegen lässt das Heiligtum kein normales menschliches Leben zu. Die Ausstattung gerade der alten, großen Heiligtümer ist in Jahrhunderten allmählich zustande gekommen, mit immer neuen Um- und Zubauten. Es gibt darum keinen eigentlichen architektonischen Plan, keine strenge Organisation der Bauten in ihrer gegenseitigen Beziehung. Jeder Bau, vor allem jeder Tempel, ist zunächst ein Individuum, für sich gestaltet und "schön", als dgalma. Nur die Beziehung von Tempel und Altar mit dem dazwischenliegenden Opferareal, auf das der Eingang zuführt, ist funktionell gegeben und einigermaßen konstant. Erst die hellenistischen Architekten haben dann bei Neuanlagen große Tempelkomplexe entworfen mit symme107 108 109 110
FGrHist 532. Plin. n.h. 34,36. Gruben 1966, 319 f; Bergquist 1967, 34. Hansjörg Bloesch, Agalma, Bern 1943; Bettinetti 2001, 27-37. Der Weiheakt ist ein Exempel der hedone, Epikur Diog. Laert. 10,149. 111 August Frickenhaus, Griechische Banketthäuser, JdI 32, 1917, 114-133; Bergquist 1973, 41-57; Christina Leypold, Bankettgebäude in griechischen Heiligtümern, Wiesbaden 2008; zu den kltnai in Brauron Ch. Böker Gnomon 41, 1969, 806; zu den Bankettsälen im Demeterheiligtum von Korinth Hesperia 41,1972,285-307. 112 Od. 9,200; Eur. Iph. Taur. 65 f; Paus. 10,34,7; Sttab. 12,8,9 p. 575.
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trisch angelegten Tempeln, Säulenhallen, Treppen und Altären. Eine harmonische Beziehung der einzelnen Glieder eines Heiligtums haben die Bauherrn und Architekten trotzdem auch in der archaischen und klassischen Zeit oft erreicht; gerade in der scheinbaren Regellosigkeit liegt die Lebendigkeit dieser Sakralarchitektur.
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6 Priester
6 Priester Man könnte die griechische Religion geradezu eine Religion ohne Priester nennen: Es gibt keinen Priesterstand als geschlossene Gruppe mit fester Tradition, Ausbildung, Weihe und Hierarchie,! es gibt selbst in den dauerhaft etablierten Kulten keine "Lehre", disciplina, nur "Brauch", nomos. Der Gott lässt prinzipiell jeden zu, der nur den Nomos respektiert - d.h. sich der lokalen Gemeinschaft einzuordnen willens ist; eben darum sind Rollenverteilungen von Fremden und Bürgern, Sklaven und Freien, Kindern und Erwachsenen, Frauen und Männern freilich jeweils von Belang. Herodot2 stellt verwundert fest, dass Perser bei jedem Opfer einen Magier zuziehen müssen; bei den Griechen opfert, wer immer den Wunsch und die Mittel hat, auch Hausfrauen, auch Sklaven. Die Überlieferung der Riten und Mythen ist leicht durch nachahmendes Mitmachen zu erlernen; selbst von der speziellen Kunst des Sehers kann man sich durch bloßes Zuschauen vieles aneignen. 3 Natürlich muss bei jeder größeren Kultveranstaltung einer da sein, der "anfängt", das Gebet spricht, die Libation vollzieht. Voraussetzung ist eine gewisse Autorität und wirtschaftliche Verfügungsgewalt. Opferherr ist das Oberhaupt von Haus, Familie oder Dorf, der Vorsitzende des Rats, der gewählte Vorsteher der Stadt, der in Athen Archon heißt, der Feldherr. Wo es noch Königtum gibt, wie in Sparta, obliegt den Königen ganz besonders der Verkehr mit dem Heiligen.4 In Athen steht neben dem Archon auch ein "König", Basileus, gleichfalls für ein Amtsjahr gewählt, der für das alte Sakralwesen zuständig ist, "alle hergebrachten Opfer" leitet,5 insbesondere Mysterien, Lenäen, Anthesteria - wobei auch seine Frau eine spektakuläre Rolle übernimmt -, während der Archon die im 6. Jahrhundert neu organisierten Hauptfeste der Panathenäen und Dionysien ausrichtet. Die Durchführung des Olympischen Kults ist mit der Verwaltung des Elischen Staats eng verknüpft; die in Elis gewählten Staatsbeamten bringen jährlich dem Pelops im Pelopion sein Widderopfer dar. 6
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KA 32-54; Ludwig Ziehen, RE VIII 1411-24 s.v. Hiereis; allgemein Edwin O. James, The nature and function of priesthood, London 1955 (Das Priestertum, Wiesbaden 1957); Leopold Sabourin, Priesthood. A comparative Study, Leiden 1973 (zum Griechischen 35-40); Turner 1983; Holderman 1985; Mary Beard/John North (Hrsg.), Pagan Priests, London 1988; Joan B. Connelly, Portrait of a Priestess. Women and Ritual in ancient Greece, Princeton 2007; Beate Dignas/Kai Trampedach, Practitioners of the Divine. Greek Priests and Religious Officials from Homer to Heliodorus, Cambridge 2008; ThesCRA V 1-65. Hdt. 1,132,3. - Das Wort archiere1is "Hoherpriester" erscheint bei Hdt. 2,37,5; 142,1 (nach Hekataios) für Ägypten, ist später geläufig für die jüdische und römische Institution; das Wort hierarchta erst bei Dionysios Areopagita (doch hierarchein als Aktivität eines Priesters in Onchestos schon im 5. Jahrhundert v. Chr., SEG 27 nr. 62). Xen. Anab. 5,6,29. Arist. Polit . 1285a6. --. V 3.3. Arist. Ath. Pol. 3,3; 47,4; 57,1. Über basi/ells und mykenisches Königtum --. I 4 Anm. 39/40. Paus. 5,13,2; HN 113.
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Das Heiligtum ist Eigentum des Gottes; das Temenos ist menschlicher Nutzung entzogen, es sei denn zugunsten des Heiligtums und der Opferfeste. Darüber zu wachen, dass hier alles nach seiner Ordnung geschieht, bedarf es doch eines zuständigen Amtsträgers. Insofern gibt es den "Priester", hiereus, oder die "Priesterin", hiereia. 7 Dies ist kein allgemeiner Status, sondern Dienst für einen bestimmten Gott in einem einzigen Heiligtum; niemand ist generell "Priester", sondern etwa "Priester des Apollon Pythios" oder "Priesterin der Athena Polias"; man kann auch mehrere Priestertümer in Personalunion vereinen. Der Priester hat oft einen Hauswart, neok6ros; neben sich, zur Organisation der Opfer, vom Einkauf der Tiere bis zum Verkauf der Häute, sind "Opfer-Durchführer", hieropoioi, ernannt_ Wichtiger noch sind staatliche Kommissionen zur Überwachung der Finanzen der Heiligtümer, epime!etai, hierotamiai. 8 Der Priester wohnt selten im Heiligtum; doch erwartet man, dass er sich seiner Verantwortung bewusst ist; in einem Fall ist inschriftlich festgelegt, dass der Priester monatlich mindestens zehn Tage im Heiligtum anwesend sein muss.9 Notfalls kann das Opfer auch ohne Priester vollzogen werden. Priestertümer sind oft erblich in bestimmten alten Familien, die ihre Würde nicht zuletzt einem solchen Vorrecht verdanken. In Athen sind es die Eteobutaden, die den Priester des Erechtheus-Poseidon und die Priesterin der Athena Polias stellen, also die zentralen Kulte der Akropolis verwalten. Ihr Ahnherr Butes - dessen Name auf die Opfer-Rinder weist - sei, erzählten sie, Bruder des Urkönigs Erechtheus gewesen, so dass ihr Priestertum fast ranggleich neben dem Königtum steht. Die Familie der Praxiergiden richtet das Plynteria-Fest aus, tritt also in Funktion, kurz ehe Erechtheus-Priester und Athena-Priesterin die Akropolis verlassen. Die Thauloniden vollziehen das altertümliche Stieropfer der Buphonia für Zeus auf der Akropolis. Die Buzygen stellen den Priester des "Zeus am Palladion". Die Mysterien von Eleusis sind bis zum Ende der Antike in den Händen der beiden Geschlechter der Eumolpiden und Keryken; jene stellen den Hierophanten, diese den "Fackelträger", daduchos, und den "Herold des Heiligen", hierokeryx. lO In ähnlicher Beziehung stehen zum Apollon-Heiligtum von Didyma die Branchiden. Auch Emporkömmlinge geben sich die entsprechende Würde: Die Tyrannen von Gela und Syrakus, Gelon und Hieron, beriefen sich darauf, dass eine Hierophantenwürde der "Chthonischen Götter" in ihrer Fami7 8
Bereits mykenische Titel, ---l> I 3 Anm. 264. KA 48-53; David R. Smith, The Functions and Origins of Hieropoioi, Diss. University of Pennsylvania, Philadelphia 1968, vgl. Numen 20, 1973, 38-47. Zu tamiai als "Precinct governors" Jordan
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Amphiaraion, 10 VII 235 = S10' 1004 = LSCO 69. ---l> II 8 Anm. 59. - Opfer ohne Priester: Chios, LSS 129,7-11. Töpffer 1889, 113-33 (Eteobutaden); 133-6 (Praxiergiden); 136-49 (Buzygen); 149-60 (Thauloniden); 24-80 (Eumolpiden, Keryken); Jules Martha, Les sacerdoces Atheniens, Paris 1881; Douglas D. Feaver, Historical Development in the Priesthoods of Athens, YC1S 15, 1957, 121-58); Clinton
1979, 23-28.
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1974.
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6 Priester
lie erblich sei; so bauten sie nach dem großen Sieg über Karthago 480 alsbald einen Demetertempel in SyrakusY Stifter von Heiligtümern haben auch später sich und ihrer Familie die Priesterwürde "für ewige Zeiten" gesichertY Priester werden "eingesetzt"; schon in der Ilias heißt es, dass "die Troer" Theano zur Athenapriesterin gemacht haben (ethekan)P Die Gemeinschaft, meist die politische Gemeinde, entscheidet wie bei anderen Stellenbesetzungen. Das Auslosen kann als Bekundung göttlichen Willens gelten. Seit hellenistischer Zeit werden in Kleinasien Priestertümer vielerorts regelmäßig versteigert.14 Immerhin gibt es Rituale der Priesterweihe {teleisthai).J5 Je nach n6mos ist das Priestertum auf ein Jahr, einen Festzyklus, befristet oder auch lebenslänglich. Ein Jahres-Priester ist nicht selten "eponym", d.h. die lokale Zeitrechnung wird an die Namensliste der Priester geknüpft. Für Hellanikos gegen Ende des 5. Jahrhunderts war die Liste der Herapriesterinnen von Argos als die am weitesten zurückreichende das Rückgrat seiner historischen Chronologie. l6 Ein Priesteramt bringt Einkünfte, zumindest Nahrung, nach uraltem Brauch. Der Priester erhält mit dem Opfertier zusammen Nahrungsgaben, die er nur zum Teil im Opfer verwendet; er erhält einen Ehrenanteil (geras) vom Braten, meist einen Schenkel; ihm fallen die neben dem Altar auf einem Tisch aufgestellten Speisen schließlich zu.!7 Oft erhält er auch die Haut. Mit fortschreitender Rationalisierung werden feste Gebühren bestimmt, die zusammen mit dem jeweiligen Opfer fällig sind; wenn sie in Geld festgesetzt sind, erhält das Heiligtum einen Opferstock, thesaur6s, mit Geldeinwurf. l8 Eine Ausnahme, doch aus altem Brauch, ist in Griechenland der Sammel-Umzug des Priesters. Im Orient sind seit den Anfängen der Hochkultur die Tempel Wirtschaftsbetriebe, die eine große Priesterschaft ernähren. Vergleichbares gibt es in Griechenland kaum, wohl aber in Kleinasien aus östlichen Traditionen. So ist das Artemisheiligtum bei Ephesos ein selbständiges Unternehmen, das nicht der Polis Ephesos untersteht 11 12 13 14
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Hdt. 7,153; Diod. 11,26,7; Zuntz 1971, 72. Das Material bei Bernhard Laum, Stiftungen in der griechischen und römischen Antike, Leipzig 1914. Il. 6,300. Ausführlichste Verkaufs-Urkunde IE 201, 1. H. 3. Jahrhundert, mit mehr als 50 Priestertümern; Hugo Herbrecht, De sacerdotii apud Graecos emptione, venditione, Diss. Straßburg 1885; M. Segre, Rend. Ist. Lombardo di Scienze e Lettere 69, 1936,811-30; 1937,83-105. Hosioi in Delphi, Plut. q. Gr. 292 d; Zeus telesiurg6s, Milet, LSAM 49; 52, 12; ferner LSAM 79, 10; 3, 12; LSCG 166, 20; 167, 5; am ausführlichsten Kos, LSCG 156 A 18 (157 A 1); IE 206,1 f mit der Ergänzung [telesthesetlai. Vgl. ThesCRA II 114 f. Hellanikos FGrHist 4 F 74-84; Jose J. Caerols Perez, Helanico de Lesbos, Madrid 1991, 116 ff; vgl. KA39,7. KA 41 f; IE 205,21; David Gill, Trapezomata; a neglected Aspect of Greek Sacrifice, HThR 67, 1974, 117-137; Sterling Dow/David H. Gil!, The Greek Cult Table, AJA 69, 1965, 103-114; Ziehen RE XVIII 615 f. -.. II 2 Anm. 17; Franciszek Sokolowski, Fees and Taxes in the Greek Cults, HThR 47, 1954, 153169. Sammel-Umzug -+ II 7 Anm. 21.
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und sich zu einem Bankhaus entwickelt. I9 Eine andere Ausnahme ist Delphi: In felsiger Einsamkeit am Steilabhang gelegen, ist es als Bauerngemeinde einiger Größe gar nicht lebensfähig. "Wie sollen wir jetzt leben"? fragen im Apollonhymnos die Kreter, die der Gott als seine Priester nach Pytho geführt hat; lächelnd tröstet sie der Gott: "Jeder soll in seiner Rechten ein Messer tragen und nur immer Schafe schlachten; die aber werden in Menge zur Verfügung stehen ... Bewacht ihr nur meinen Tempel und nehmt die Scharen der Menschen in Empfang!" So leben denn die Delpher für das Heiligtum und vom Heiligtum. 2o Die älteste delphische Familie, die sich auf Deukalion, den Überlebenden der Sintflut, zurückführt, stellt die fünf "Geheiligten", h6sioi;21 eine andere Sippe, die Labyaden, mit ihren Festmahlzeiten ist durch eine alte Kultordnung bekannt. 22 Nichtgriechische Elemente sind evident im Kult der Artemis-Upis von Ephesos, nicht nur in dem merkwürdigen Kultbild, dessen Umhang sekundär als "vielbrüstig" aufgefasst wurde. Der Oberpriester, Megdbyxos, ist ein Eunuch; ein Männerbund, auf ein Jahr geweiht und zu sexueller Abstinenz verpflichtet, trifft sich zu Opfermahlzeiten; sie heißen essenes, "Bienenkönige"; daneben gibt es geweihte Mädchen; der Mythos erzählt von Amazonen, die das Heiligtum begründet haben. 23 KastratenPriester sind im Umkreis der Kubaba-Kybele bezeugt, Eunuchen hat auch die Hekate von Lagina in Karien, wie Aphrodite-Astarte ihre männlichen Transvestiten. 24 In Griechenland ist das Priestertum nicht Lebensform, sondern Neben- und Ehrenamt; es kann mit Aufwand verbunden sein, bringt aber hohes Prestige. Wer fromm ist, begegnet dem Priester mit Ehrfurcht: Odysseus schont Maron im Hain des Apollon bei der Eroberung von Ismaros, Alkibiades lässt Priester ohne Lösegeld frei. 25 Der Priester ist "geheiligt" (hier6menos). Er trägt meist lange Haare, ein Haarband (str6phion), einen Kranz, kostbare Gewänder, weiß oder purpurn, einen besonderen Gürtel, dazu einen Stab in der Hand; die Priesterin wird oft dargestellt als Trägerin des großen Tempelschlüssels, kleiduchos. Im Theater sind den Priestern Ehren-
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Vgl. Burkert 1999, 59-70; allgemein Marietta Horster, Landbesitz griechischer Heiligtümer in archaischer und klassischer Zeit, Berlin 2004. Hymn. Apoll. 528-538; HN 134 f; Roux 1971, 55-70. Plut. q.Gt. 292D; HN 142. BCH 19, 1895,5-69; Eduard Schwyzer, Dialectorum Graecarum exempla epigraphica potiora, Leipzig 1923, Nt. 323; unvollständig LSCG 77; Fragment einer älteren Aufzeichnung aus dem 6: Jahrhundert: George Rougemont, BCH 98, 1974, 147-158. Charles Picard, Ephese et Claros, Paris 1922; Hermann Thiersch, Artemis Ephesia, Berlin 1935; Zuntz 1971, 128; Fleischer 1973; Burkert 1999; LlMC Il s.v. Artemis Ephesia. Megdbyxos und Jungfrauen: Strab. 14,1,23 p. 641; essenes Paus. 8,13,1; Upis und Amazonen Kallim. Hymn. 3,237-250; zu Upis Wolfgang Fauth, Beitr. z. Namenforsch. 4, 1969, 148-171. Zu Meter Kybele ---i> III 2 Anm. 107; Eunuchen in Lagina: BCH 44, 1920, 78 Nt. 11; 84 Nt. 16; bei "Aphrodite" von Askalon, Hdt. 1,105; Eunuchen bei !Star: Erra IV 56, TUAT 795. Od. 9,197-201; Plut. Alk. 29,5.
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plätze reserviert. 26 Der Priester ist "wie ein Gott im Volk geehrt", heißt es in der IliasP In einigen Fällen scheint der Priester geradezu als Gott aufzutreten. Priester des Apollon lsmenios in Theben ist ein Knabe aus vornehmem Geschlecht; beim Fest der Daphnephoria geht er mit aufgelösten Haaren, goldenem Kranz, langem Festgewand hinter dem Lorbeerbaum her, ein Bild des knabenhaften Gottes mit "ungeschorenem Haar".28 Beim Fest der Laphria in Patrai fährt die Artemispriesterin auf einem von Hirschen gezogenen Wagen;29 auch die Herapriesterin von Argos ist, wenn sie im Rinderwagen zum Heiligtum fährt, der "kuhäugigen" Göttin besonders verbunden. 30 Die Athenapriesterin von Pellene zeigt sich mit Helm und Schild,31 die Athenapriesterin von Athen zieht mit der Aigis durch die Straßen;32 im Mythos ist Iphigenie Opfer, Priesterin und Doppelgängerin der Artemis. Es ist durchaus üblich, dass für Göttinnen eine Priesterin, für Götter ein Priester amtet; doch hier gibt es wesentliche Ausnahmen und Komplizierungen. 33 Athena Polias in Athen hat zur Priesterin nicht etwa eine Jungfrau, sondern eine reife Frau, die die ehelichen Beziehungen hinter sich hat. 34 Dagegen wird Pallas in Argos von einem Priester zum Bade geleitet. 35 Im Demeterkult sind Priester geläufig, vor allem Hierophanten, neben denen freilich auch Priesterinnen und hierophahtides stehen. Dionysos hat nicht selten Priesterinnen, aber auch Apollon, auch der Zeus von Dodona. Verbreitet und bezeichnend ist die Weihung von Jugendlichen zu vorübergehendem Tempeldienst. In Athen sind es zwei Arrhephoroi, die zum Dienst auf der Akropolis bestimmt sind; sie beginnen die Webarbeit am Peplos für Athena, sie pflegen den heiligen Ölbaum; zum Jahresschluss werden sie in einer geheimnisvollen, nächtlichen Zeremonie entlassen.36 Ähnlich wird eine Jungfrau vor der Ehe in Aigeira und Patrai der Artemis geweiht, in Kalaureia jedoch dem Poseidon;37 in Athen dienen
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Michael Maass, Die Prohedrie des Dionysostheaters in Athen, München 1972. Il. 16,605. Paus. 9,10,4. Apollon akersek6mes Il. 20,39; hymn. Apoll.134. --+ II 7 Anm. 12. Paus. 7,18,12. --+ II 1 Anm. 68. Hdt. 1,31,2; GF 43. Polyaen.8,59. --+ II 7 Anm. 21; zum ganzen Friedrich Back, De Graecorum caerimoniis, in quibus homines deorum vice fungebantur, Diss. Berlin 1883; Franz Kiechle, Götterdarstellung durch Menschen in den altmediterranen Religionen, Historia 19, 1970,259-271. --+ 13 Anm. 150; II 7 Anm. 99; III 3 Anm.31/38. Louis R. Farnell ARW 7, 1904, 70-94. Plut Numa 9,11; Fehrle 1910, 95; HN 167 f. Kallim. Hymn. 5,35-43 mit Schol. 37. --+ V 2 Anm. 26; Uberto Pestalozza, Sacerdoti e sacerdotesse impuberi nei culti di Atene e Artemide, SMSR 9, 1933, 173-202 ~ Religione Mediterranea, 1951,233-259. Paus. 7,26,4; 7,19,1; vgl. 7,18,12; 7,22,8; 2,33,2.
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RITUAL UND HElLIGTUM
Mädchen als "Bärinnen", drktoi, der Artemis in Brauron. 38 Knaben werden nicht nur Apollon geweiht wie in Theben, oder Zeus,39 sondern auch Athena wie in Tegea und Elateia. 40 Im Aphroditetempel von Sikyon4l amten nebeneinander eine alte Frau als neokoros und eine Jungfrau als "Bade-Trägerin", lutrophoros; ausschließlich diese beiden betreten den Tempel, während alle anderen lediglich vom Eingang aus zur Göttin beten dürfen: Nur diejenigen können sich unbefangen der Göttin des Geschlechtslebens nahen, die von ihren "Werken" ausgeschlossen sind. Die Spannung drängt zur Entladung: Poseidon, dem die Jungfrau auf Kalaureia geheiligt ist, hat doch, wie der Mythos weiß, unweit davon auf der "Heiligen Insel" Aithra überfallen und Theseus gezeugtY Im Hintergrund lassen sich Initiationsrituale ahnen, die zumindest im Mythos mit Kinder-Ausstoßung und Kinder-Opfer verschwimmen. Der Sinnzusammenhang all solcher Besonderheiten zeigt sich jeweils nur im Einzelfall. Als gemeinsamer Nenner dessen, was vom Priester gefordert wird, bleibt die dem "Heiligen" entsprechende "Reinheit", hagneia.43 Dazu gehört die Vermeidung von Kontakt mit Toten44 und Wöchnerinnen, die polare Beziehung zur Sexualität. Lebenslangen Zölibat gibt es kaum. 45 Speisetabus und Fasten sind von Fall zu Fall zu beachten; doch eigentliche Askese entwickelt sich gerade im Protest zur Poliskultur und ihrem Priestertum.46 Im allgemeinen soll der Priester die Gemeinschaft würdig repräsentieren. Dazu gehört das Bürgerrecht,47 dazu gehört vor allem auch körperliche Unversehrtheit. 48 Verstümmelte, Verktüppelte sind ausgeschlossen. Im übrigen gilt, im Kontrast zu verantwortungsvolleren Positionen: Priester kann "jeder" werden.49
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V 3 Anm. 184/5. Paus. 7,24,4. Paus. 8,47,3; 10,34,8. Paus. 2,10,4. Paus. 2,33,1; PR II 707; P. SchmittAnnales ESC 32,1977, 1059-1073. -- II 4 Anm. 29/33. In Messene muss ein Priester abdanken, dem ein Kind stirbt, Paus. 4,12,6. Fehrle 1910, 75-109; 155-161. Nach einem Zweig der Überlieferung blieben die Lokrischen Mädchen (-- II 4 Anm. 86) bis zum Tod im Athenatempel von Ilion. ---i> VI 3. Arist. Polit. 1329a29 f; seit drei Generationen: SIG3 1015 ~ LSAM 73 (Halikarnassos, Artemis). Anaxandrides Fr.40,10 KasseljAustin; Aischin. I, 19; 188; Plat. Leg. 759c; KA 38. Isokr. 2,6 (Demosth. prooem. 55). ---+
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7 Festliche Veranstaltungen
7 Festliche Veranstaltungen
7.1 Pampe Wie das Heiligtum den räumlichen, so setzt das Festl den zeitlichen Akzent. Bestimmte Tage - denen die vorangehende Nacht zugerechnet wird - heben sich heraus aus der Alltäglichkeit; die zweckgerichtete Arbeit setzt aus, die übliche Rollenverteilung lockert sich in allgemeiner "Entspannung" (dnesis); doch hält das Festprogramm neue Rollen bereit. Gruppen schließen sich zusammen, setzen sich von anderen ab. Der Kontrast zum Gewöhnlichen kann sich in Lust und Freude, in Schmuck und Schönheit ausdrücken, aber auch im Bedrohlichen und Erschreckenden. Eine Grundform der Gruppenbildung ist der Umzug, die Prozession, griechisch pompe. 2 Aus der amorphen Masse sondern sich die aktiv Beteiligten ab, formieren sich, bewegen sich auf ein Ziel zu, wobei die Demonstration, die Interaktion mit den Zuschauern kaum weniger wichtig ist als das Ziel. Die pompe fehlt bei kaum einem Fest. Ziel der heiligen Handlung ist in der Regel ein Heiligtum, in dem die Opfer stattfinden; doch auch der Weg ist bedeutend, ist "heilig". Um das Zentrum zu erreichen, etwa die Akropolis von Athen, geht die Prozession vom Stadttor aus und führt über den Marktplatz. 3 Beim Eleusinischen Fest dehnt sich die "Heilige Straße" vom gleichen Stadttor aus 30 km über Land. Auf ihr werden erst die "heiligen Gegenstände" von den Epheben nach Athen gebracht, um dann an der Spitze des großen Mystenzugs zur nächtlichen Feier nach Eleusis zurückgeführt zu werden.4 In Paphos führt die Prozession von der Neustadt zur Altstadt mit ihrem alten Heiligtum. 5 Es gibt auch Prozessionen, die das Verlassen des Heiligtums ausgestalten, den Abschied, die Unterbrechung für eine Periode der "Reinigung".6 Pompe heißt "Geleit"; doch wie sehr die Prozession ihren Zweck in sich selbst trägt, zeigt schon die Ausdrucksweise für das Festefeiern, pompas pempein, eigentlich "das Geleit geleiten". Es gibt allerlei Gerät zu tragen und dementsprechend fest benannte Rollen wie "Korbträgerin", "Wasserträgerin", "Feuerträger", "Schalenträ-
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Karl Kerenyi, Vom Wesen des Festes, Paideuma 1, 1938/40, 59-74; Karl Albert, Metaphysik des Festes, ZRGG 19, 1967, 140-152; Walter Haug/Rainer Warning (Hrsg.), Das Fest, München 1989; Jan Assmann/Theo Sundermeier, Das Fest und das Heilige, Gütersloh 1991; Jörg Rüpke, Zeit und Fest. Eine Kulturgeschichte des Kalenders, München 2006. Das griechische Wort ist heorU, ohne Etymologie. --+ V 2. Pfuhl 1900; Nilsson, Die Prozessionstypen im griechischen Kult, in: Nilsson 1951, 1166-214; Kurt Lehnstaedt, Prozessionsdarstellungen auf attischen Vasen, Diss. München 1970; Franz Bömer RE XXI 1878-1974; ThesCRA 11-20. Zum Panathenäen-Weg Henry A. Thompson, AA 1961, 225-228. HN 306-308; Graf 1974, 43-50. --+ VI 1.4. Strab. 14,6,3, p. 683. --+ 114 Anm. 43/44; V 2 Anm. 34.
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ger", "Zweigträger".7 Im Demeter- und Dionysoskult, im Bereich der Mysterien werden insbesondere verdeckte Behältnisse umhergetragen, deren Inhalt nur der Eingeweihte kennt, der runde Flechtkorb mit Deckel, die kiste, und die verhüllte Getreideschwinge, das liknon;8 dementsprechend gibt es Kistophoren und Liknophoren. Auch auf Wagen kann solches Gerät mitgeführt werden, wie Demeters Korb, kalathos, auf dem Umzug in Alexandria.9 Eine besonders einprägsame Form ist das Schiff auf Rädern, der "Schiffswagen". Vor allem gehören zum Umzug fast immer die Opfertiere, die dann zum "heiligen Werk" und zum Festschmaus dienen. Die Teilnehmer selbst zeigen ihren besonderen Status nicht nur durch festliche Gewänder, sondern auch durch Kränze,1O Wollbinden und Zweige, die sie in Händen tragen. Das klassische Monument, das die vollste Anschauung einer großen pompe vermittelt, ist der ursprünglich 160 m lange Panathenäenfries, der um die Cellawand des Parthenon lief.H Die Panathenäenprozession hat der Göttin zum Jahresbeginn ein neues Gewand, den Peplos überbracht; er war auf einem Schiffswagen durch die Stadt geführt worden; jetzt hält der Erechtheuspriester das gefaltete Gewand, dargestellt an der Ostseite, der Eingangsseite des Tempels, zwischen den zwölf Olympischen Göttern. Auf diese Mitte zu bewegt sich aufbeiden Tempelseiten der Zug: "Korbträgerinnen", Opfertiere für Athena - vier Rinder und vier Schafe auf der einen, Andeutung einer "Hekatombe" auf der anderen Seite; "Schalenträger", "Wasserträger" - diese Gefäße zu stiften und zu tragen, war Ehrenpflicht der Metöken; Musiker; würdige alte Männer; vor allem aber kriegerische Jünglinge, teils mit Schild bewaffnet, teils als Reiter, die den Blick besonders fesseln. Auch Streitwagen sind dabei, an denen Krieger den besonderen Sport dieses Festes üben, das Abspringen vom fahrenden Wagen (apobates). Natürlich sind auch die Beamten vertreten und die Jungfrauen und Frauen, die den Peplos gewirkt haben. Die ganze Bürgerschaft der Stadt in ihren wesentlichen Gruppierungen stellt sich selbst dar in dieser größten pompe des Jahres. Eine bezeichnende Form des Apollonkults ist das "Lorbeertragen", das Fest Daphneph6ria. Wir haben eine Beschreibung des thebanischen Festes, zu dem Pindar lieder schuf: "Ein Stück Ölbaumholz bekränzen sie mit Lorbeerzweigen und bunten Blumen; obenauf ist eine Bronzekugel befestigt, von ihr hängen kleinere Kügelchen herab; in der Mitte des Holzes ist eine kleinere Kugel angebracht, daran hängen Purpurbinden; der untere Teil des Holzes ist mit safranfarbenem Tuch umwunden ... Voran geht ein Knabe, dessen beide Eltern noch leben, sein nächster Verwandter 7 8 9 10 11
kaneph6ros -i> II 1 Anm. 6/7; hydroph6ros ---i> II 4 Anm. 27; pyr(o)ph6ros -i> II I Anm. 61; phiateph6ros Polyb. 12,5. -i> II 4 Anm. 7; VII Anm. 112. Kallim. Hymn. 6,1; BMC Alexandreia T. 30, 552; Schiffswagen -i> Anm. 16. -i> II 1 Anm. 5. Pfuhl 1900, 6-28; AF 25-29, T. 1.1; Ludwig Ziehen, RE XVIII 3, 459-474; Peter E. Corbett, The Sculpture of the Parthenon, Harmondsworth 1959; Martin Robertson/Alison Frantz, The Parthenon Frieze, London 1975; Ernst Berger/Madeleine Gisler-Huwiler, Der Parthenon in Basel. Dokumentation zum Fries, Mainz 1996; Ian Jenkins, The Parthenon Sculptures, Darmstadt 2007 ..
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trägt das bekränzte Holz; der "Lorbeerträger" selbst geht dahinter her und berührt den Lorbeerzweig; seine Haare sind aufgelöst, er trägt einen goldenen Kranz und ein bis zu den Füßen reichendes Festgewand, auch besondere Sandalen; ihm folgt ein Chor von Jungfrauen, mit Zweigen in den Händen ...",12 Der besonders geschmückte, den Lorbeer fassende Knabe in Theben scheint den Gott selbst zu repräsentieren. An Stelle des denaturierten, Maibaum- oder Weihnachtsbaum-artigen Gebildes, das hier beschrieben ist, kann man sich in schlichteren Festen einen einfachen Lorbeerzweig vorstellen. Apollon selbst heißt "Lorbeerträger", Daphneph6ros; im Mythos hat er selbst nach dem Drachenkampf den reinigenden Lorbeer nach Delphi geholt. So holen im Delphischen Ritual alle acht Jahre Knaben Lorbeerkränze bis vom Tempetal in Thessalien einP Der Dichter des Apollonhymnos lässt den Gott selbst leierspielend die Festprozession nach Delphi anführen. 14 Der Gott ist gegenwärtig; doch Kultbilder sind dazu nicht notwendig. Prozessionen mit Götterbildern sind eher die Ausnahme. 15 An den Großen Dionysien wird das Bild des Dionysos aus Eleutherai nach Athen eingeholt; Vasenbilder zeigen die Ankunft des Gottes im Schiffswagen.16 In Therai am Taygetos wird eine Kore-Statue zum Fest aus dem "Sumpf" ins Heiligtum der Demeter Eleusinia geleitetY Die Magna Mater hält ihren Einzug auf dem Rinderwagen. 18 Daneben steht das Wegführen von Götterbildern zur unheimlichen "Reinigung". Schrecken verbreitet sich, wenn das sonst "unbewegte" Bild bewegt wird. Das Bild der Artemis von Pellene "ruht sonst unberührt im Tempel, wenn aber die Priesterin es bewegt und herausträgt, blickt niemand geradeaus hin, sondern alle wenden sich ab; denn nicht nur für Menschen, heißt es, ist es ein schrecklicher und schwer erträglicher Anblick, auch die Bäume macht es unfruchtbar und lässt sie die Früchte abwerfen, wo es durchgetragen wird".19 Das Göttliche zeigt ein Medusenhaupt; die ihm das Geleit geben, haben Teil an seiner Macht.
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Proklos, Chrestom. bei Phot. BibI. 32la35-b32 ~ Schol. Clem. Protr. p. 299,4-19 Stählin, vgl. Pind. Fr. 94b; Paus. 9,10,4; RE V A 1545-1549; BreIich 1969,413-419. - "Baumtragen", dendrophoria, für Dionysos und Demeter: Strab. 10,3,10 p. 468. Ae\. v.h. 3.1; HN 146 f. Hymn. Apol\. 514 f; 187; Dieter Kolk, Der Pythische Apollonhymnus als aitiologische Dichtung, Meisenheim 1963. ---<> II 5 Anm. 89; eine ungeheuer aufwendige Prozession in Alexandreia, 271/0, beschreibt Kallixeinos FGrHist 627 F 2. AF 139; 102-4, T. 11, 1; HN 223 f; Kerenyi 1976, 142-148, Abb. 56-59. ---<> III 1 Anm. 423. Paus. 3,20,7. Ov. fast. 4,345 f. Plut. Arat. 32. ---<> II 4 Anm. 43/5; II 5 Anm. 89.
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7.2 Agermos Weit verbreitet und gerade im europäischen Volksbrauch teilweise noch erhalten sind Umzüge mit dem Einsammeln von Gaben. 20 Im Griechischen ist Entsprechendes an den Rand gedrängt, aber durchaus vorhanden. Nur aus einem späten Zufallszeugnis wissen wir, dass selbst die Priesterin der Athena Polias in Athen an bestimmten Tagen "sammelnd" durch die Stadt zog;21 sie trug dabei die Aigis der Göttin, kein veritables Ziegenfell mehr, sondern ein Wollgeflecht, dem aber doch mit dem Namen etwas vom alten Schrecken anhaftete; sie suchte besonders die Neuvermählten auf, die wohl zu Gaben an die jungfräuliche Göttin verpflichtet waren, damit der Schrecken ihnen zum Segen werde. Auch die Priesterin der Artemis von Perge "sammelt".zz Aischylos ließ Hera als eine wandernde Priesterin auftreten, Gaben heischend für die Nymphen, die "lebenspendenden Töchter des Inachos".23In Ionien sammeln "die Frauen" mit einem Lied auf Opis und Arge, die Delischen Jungfrauen. 24 In Sizilien ziehen Hirten in besonderem Aufzug in die Städte, tragen Hirschgeweihe, haben Brote in Tiergestalt umhängen, tragen einen Ranzen mit allen Arten von Körnernahrung und einen Weinschlauch; indem sie Essensgaben sammeln, verkünden sie im Lied den Einzug von Frieden, Glück und Gesundheit. 25 Andernorts treiben dies die Kinder, so in Athen an den Thargelien im Sommer, den Pyanopsien im Herbst: sie tragen einen Ölbaumzweig, behängt mit Wollfäden und mannigfachen "Erstlingen", Früchten aller Art, Brot, Ölfläschchen; der Zweig heißt Eiresione, und sie singen: "Die Eiresione bringt Feigen und fette Brote, Honig im Napf und Öl, sich zu salben; und einen Becher kräftigen Weins, dass du betrunken schlafen kannst".26 "Der Reichtum zieht ein", singen die Kinder auf Samos, und das "Schwalbenlied" aus Rhodos knüpft an die Bettelei die scherzhafte Drohung: "oder wir tragen die Tür davon, oder die Frau ...".27 Auch hier handelt es sich um Apollon-Feste. Der Segensverheißung korrespondiert ein geradezu sakraler Anspruch auf Gaben. Karl Meuli sieht solche Aktivitäten von Männer- oder Knabenbünden mit dem Kult der Ahnen verbunden, die in Masken repräsentiert werden. Dies ist in Griechenland nicht, vielleicht nicht mehr nachweisbar. Die öffentlichen Kulte werden öffentlich finanziert. Das "Sammeln"
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Albrecht Dieterich, Sommertag, Kleine Schriften, Leipzig 1911, 324-352; Kurt Latte, Kleine Schriften, München 1968, 483 f; Kar! Meuli, Bettelumzüge im Totenkultus, Opferritual und Volksbrauch, in: Meuli 1975, 133-68. Paroem. Gr. Suppl. I 65; Nilsson 1960, III 246 f. S1G3 1015 = LSAM 73. Aisch. Fr. 168 Radt. Hdt. 4,35. Vgl. auch S1G3 1006 = LSCG 175 (Demeter, Kos); LSAM 47 (Milet); LSCG 64 (Messene). Schol. Theocr. p. 2 f; 7 f; 14; 16 fWendel. Plut. Thes. 22,10; Schol. Aristoph. Eq. 729; Plut. 1054; vgl. FGrHist 401 cF 1; O. Schönberger, Griechische Heischelieder, Meisenheim 1980; Dorothea Baudy, Heischegang und Segenszweig, Saeculum 17, 1986,212-227. Samos: Carm. Pop. 1 Diehl; Rhodos: Ath. 360bd = Theognis FGrHist 526 F 1 = PMG 848.
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erscheint dann eher als Charakteristikum einer inoffiziellen Sektiererei; neben ApolIon-Sammlern wie Abaris28 traten vor allem die Anhänger der kleinasiatischen Göttermutter, die "Meter-Sammler", metragyrtai, auf;29 ihnen begegnet der rechte PolisGrieche mit Verachtung.
7.3 Tanz und Lied Die zweckfreie, gemeinsame, rhythmisch wiederholte Bewegung ist gleichsam die kristallisierte Reinform von Ritual überhaupt: "Man kann kein altes Weihe-Fest finden ohne Tanz". 30 Einer urtümlichen Gruppe zugehören, heißt, ihre Tänze erlernen. So haben die Griechen aus altem Herkommen vielerlei Arten von Gruppentänzen, nicht für Virtuosen, nicht für willkürlich sich findende Paare, sondern für die repräsentativen Glieder der Gemeinde. Tanzgruppe und Tanzplatz zugleich heißt chor6s; es gibt "Chöre" der Knaben, der Jungfrauen, der Frauen, aber auch Waffentänze der Krieger. Tanz und Musik sind untrennbar. Schon die einfachste musikalische Form, das Lied, drängt zum Tanz; als Musikinstrumente3! treten die Doppelflöte, aul6s, und gezupfte Saiteninstrumente, kithara, lyra, hervor; Schlagzeuge werden "fremder" Orgiastik zugeschrieben. Feste feiern heißt "Chöre aufstellen". Schon zu den Prozessionen gehören besondere Lieder; Pindar schrieb für Theben daphnephorika (Anm. 12). Man kann auf dem Weg Pausen zum Vortrag anspruchsvoller Lieder und Tänze einlegen. In Milet gibt es ein Kollegium der "Sänger", molpoi, zu Ehren des Apollon Delphinios; am Weg der Prozession zum Heiligtum von Didyma sind sechs bestimmte Kapellen, an denen sie ihr Lied vortragen. 32 Das Lied assoziiert sich mit dem Opfertier, das im Zug mitgeht; Pindar spricht vom "ochsentreibenden Dithyrambos",33 und vom "Tanz um einen Bock" sollen die "Bocks sänger", tragodoi, und damit die Tragödie ihren Namen haben. 34
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Iamb1. V. Pyth. 91f; L&S 149 f. -- III 2 Anm. 114. Luk. Salto 15. vg1. Latte 1913; Fritz Weege, Der Tanz in der Antike, Halle 1926; Lillian B. Lawler, The Dance in Ancient Greece, London 1964; Renate Tölle, Frühgriechische Reigentänze, Waldsassen 1964; Germaine Prudhommeau, La danse grecque antique VII, Paris 1966; Max Wegner, Musik und Tanz. Archaeologica Homerica III U, 1968; Lonsdale 1993; Ceccarelli 1998; ThesCRA II 299-343. J. A. Haldane, Musical Instruments in Greek Worship, G&R 13,1966,98-107. --+Anm.40. Pind. 01. 13,19. Eratosthenes Fr. 22 Powell; Burkert 2007, 1-36. Widerspruch zugunsten einer hethitischen Etymologie bei Oswald Szemerenyi, Hermes 103, 1975,300-332, wobei er die Böcke im dionysischen Kontext auf attischen Vasenbildern (Burkert ibo 11) und die Parallele des arnod6s (ib. 6 Anm. 13; HN 124) ignoriert. --+ III 1 Anm. 403.
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Erst recht entfalten sich im Heiligtum die je besonderen Tänze. Auf Delos tanzen Knaben und Mädchen den "Kranichtanz" (geranos) in labyrinthisch verschlungener Bewegung: Nach der Rettung aus dem Labyrinth, so erzählt man, haben die Jungfrauen und Jünglinge aus Athen zusammen mit Theseus diesen Tanz erfunden. 35 Mythische "Kureten" schwangen ihre Schilde im Tanz um das neugeborene Zeuskind, worauf vielleicht schon das orientalisierende Tympanon aus der Ida-Höhle Bezug nimmt. 36 In einem Hymnus aus Palaikastro rufen Jünglinge den Zeus als "größten Jüngling" (kuros) an: Er soll zur Dikte kommen, "springen" auf Herden, Felder, Stadt und Schiffe, und gewiss sind es die Tanzsprünge der Jünglinge selbst, in denen diese Kraft des Gottes präsent ist. 37 Als Pallas Athena gewappnet aus dem Haupt des Zeus sprang, da schwang sie Schild und Lanze im Waffentanz, und in Nachahmung dieses göttlichen Ursprungs gehört der Waffentanz, pyrrhiche, zu ihrem Fest, gerade auch zu den Panathenäen. 38 In den Namen Paian und Dithyrambos sind ebenso der Gott wie sein Lied und Tanz benannt, vielleicht aus minoischem Erbe. 39 Auch sonst verschmilzt das Tanzerlebnis mit dem Erleben der Gottheit. Knaben tanzen für Apollon an den Gymnopaidien, Mädchen tanzen allenthalben für Artemis, und die jugendfrisehe Gestalt der göttlichen Geschwister erscheint als Spiegelbild dieser Tänze. ApolIon selbst spielt zum Tanz, und Artemis tanzt mit ihren Nymphen.40 In den Gruppen von "Nymphen" oder "Chariten" wie in denen der "Kureten", aber auch der tanzfreudigen Satyrn sind göttliches Urbild und menschliche Wirklichkeit oft nachgerade untrennbar,41 nur dass im mythisch-göttlichen Bild Dauer hat, was bei den Menschen kurzer Höhepunkt der "Blüte der Jugend" ist. So traditionell die Namen und Grundrhythmen der Tänze sind, so wenig verlangt der Kult die Wiederholung alter, magisch fixierter Lieder. Im Gegenteil: Das Lied soll immer wieder neu zum Fest den Gott erfreuen; man braucht darum zum Tanz und Lied stets den, der es "macht", den Dichter, poietes. So hat sich, fassbar seit der Mitte des 7. Jahrhunderts, aus der Kultpraxis die literarische Gattung der Chorlyrik entwickelt, die in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts ihren Höhepunkt im 35
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Plut. Thes. 21; Pollux 4,101; Latte 1913, 67-71; Lillian B. Lawler, The Geranos Dance, TAPA 77, 1946. 112-130; ein Anhänger aus Paros, ca. 700 v. Chr., nimmt Bezug auf den Labyrinth-Tanz, Zozie Papadopoulou, Kernos 17, 2004, 155-178. -+ I 4 Anm. 18; 1II 1 Anm. 16; VI 1 Anm. 40/l. SIG' 685; Powell p. 160-162; Latte 1913,43-54; Harrison 1927, 1-29; West, JHS 85, 1965, 149-159; Furley/Bremer 2001, nr. 1; zum Tempel BSA 40, 1939/40, 66-68. Apollodor Pap. Ox. 2260 II, Albert Henrichs, Cron. Erc. 5, 1975, 20 f; Latte 1913, 34-36; Ceccarelli 1998. -+ I 3 Anm. 257 (Paian), vgl. I 3 Anm. 201-205; 1II 1 Anm. 222; 1II 1 bei Anm. 393. »Sänger", molpol, besorgen von Milet aus den Kult des Apollon von Didyma, SIG' 57 ~ LSAM 50 (datiert 450/449); vgl. F. Poland RE Suppl. VI 509-520; Alexander Herda, Der Apollon-DelphiniosKult in Milet und die Neujahrsprozession nach Didyma, Mainz 2006. Molpol in Olbia: Fritz Graf, MH 31, 1974, 209-215. - »Chor der Artemis" Hymn. Aphr. 118, vgl. Od. 6,150-2. -+ 1II 1 Anm. 229; 268; VlAnm. 28. -+ 1II 2 bei Anm. 44-57.
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Werk Pindars findet. Die Anrufung der Götter, der Vortrag der Wünsche und Bitten, verschlingt sich immer kunstvoller mit mythischen Erzählungen und aktuellen Hinweisen auf Fest und Chor. Dabei wetteifern bereits im 7. Jahrhundert mehrere Chöre um den Preis, das schönste Lied vorzutragen - wobei dann auch die Ausstattung des Chors mit Schmuck und Gewand ihre Rolle spielt. Die religiöse Funktion, die Beziehung zum Göttlichen, droht in der Rivalität unterzugehen; doch ist man überzeugt, dass auch der Gott freudig erregten Anteil nimmt und den Glanz des Sieges schenkt.
7.4 Masken, Phallen, Aischrologie Die Masken,42 ein uraltes Mittel, die eigene Identität aufzugeben und eine außerordentliche anzunehmen, ist den Griechen aus verschiedenen Traditionen vorgegeben. Es gibt neolithische, es gibt orientalische Verbindungen;43 es gibt die Tiermasken, doch auch insbesondere die hässlich-Iächerliche Maske; neben Umzug und Tanz von Maskierten gibt es die Verehrung der für sich stehenden, erhöhten Maske, die geradezu zum Götteridol werden kann. Unmittelbarste Zeugen für Tiermaskierung sind jene präparierten Stierschädel aus zyprischen Heiligtümern;44 dies hat über Zypern nicht unmittelbar hinausgewirkt. Doch heißen weinschenkende Jünglinge beim Poseidonfest in Ephesos "Stiere", tauroi, Mädchen im spartanischen Leukippidenkult "Fohlen", poloi, priesterliche Gruppen von "Bienen" sind häufiger, es gibt auch "Bären".45 Auf dem Mantelsaum der Despoina-Statue von Lykosura sind allerlei als Tiere maskierte Musikanten dargestellt, eselartige Masken vor allem, auch kuh- und schweinsköpfige Wesen;46 auch wenn das ikonographische Motiv vom Tierorchester bis ins Sumerische zurückreicht, wird etwas Rituelles im Hintergrund stehen. Dass Mischwesen wie Kentauren und Pane eigentlich Masken sind, ist überaus wahrscheinlichY Genau sind wir über das Kostüm der Silene und Satyrn unterrichtet, die plattnasige Maske mit Tierohren, Fellgewand oder Schurz mit Pferdeschwanz und Phallos. Dieser Aufzug ist seit Ende
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Margarete Bieber RE XIV 2070-2120; Meuli 1975, 62-162; 177-250; 251-282; kritisch Henry Pernet, Mirages du Masque, Genf 1988; U. Rötschenthaler HrwG IV 113-116. ~ I 1 Anm. 19; zu "Humbaba"-Masken und phönikischen Masken R. D. Barnett in: Elements ori· entaux dans la religion grecque ancienne, Paris 1960, 145-153; Ugaritica 6, 1969,409-418; Arch. Reports 1970/1, 75; BCH 99, 1975, 834 fig. 56. -+ 14 Anm. 49; II 1 Anm. 94. taüroi Ath. 425 c; poloi Hsch. polia, polos; ein Priester in Messene 1G VI, 1444; melissai Kal!. Hymn. 2,110 f; Apollod. FGrHist 244 F 89; Porph. antr. 18; Schol. Pind. Py. 4,106a; Schol. Theokr. 15,94; drktoi -+ V 3 Anm. 185. GGR T. 31, 2; EAA 1I 999 f. -+ VI 1 Anm. 36; 13 Anm. 147. -+ III 2 Anm. 49.
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des 6. Jahrhunderts zum literarischen Theaterspiel, zum "Satyrspiel", geworden und hat damit einen anderen Wirklichkeitsbezug gewonnen als altes Ritual.48 Groteske Weibermasken finden sich im Bereich weiblicher Gottheiten, vor allem der Artemis; eindrucksvolle Exemplare aus Ton fanden sich als Weihgeschenke im Ortheia-Heiligtum Spartas.49 Es heißt, dass solche Masken eigentlich aus Holz waren, die Träger kyrittoi und bryllichistai hießen;5o es konnten auch Männer in Weibermasken auftreten. Am Alpheiosfluss in Elis, so erzählte man, habe sich Artemis samt ihren Nymphen die Gesichter mit Schlamm beschmiert, um sich den Nachstellungen des Flussgottes zu entziehen5I - eine Spiegelung solch grotesken Maskenbrauchs. Noch dem 8. Jahrhundert gehören Topf-Masken aus dem Hera-Heiligtum von Tiryns an, die ältesten "Gorgonen" mit wüsten Hauer-Zähnen;52 sie gehören wohl zu dem Mythos von der hexenhaften Verwandlung der Proitos-Töchter eben in Tiryns und der grotesken Bemalung der Idole von Mykene. Wenn die drei rächenden Göttinnen, Praxidikai, in Gestalt von "Köpfen" verehrt wurden,53 wird es sich um solche Topfmasken gehandelt haben. Die Gorgo-Maske, als grinsendes Gesicht, mit runden Glotzaugen, bleckender Zunge und herausragenden Zähnen wird seit dem 7. Jahrhundert geläufig. 54 Auf dem Marktplatz von Argos war ein Gorgoneion, das als Werk der Kyklopen bezeichnet wurde. 55 In Pheneos in Arkadien war eine Maske der Demeter Kidaria verwahrt; beim Mysterienfest legte der Priester die Maske an und "schlug mit einer Rute die Unterirdischen".56 Eine erhöhte, bärtige Maske kann den Gott Dionysos darstellen;57 dass man sie auch trug, den rasenden Gott unmittelbar darzustellen, lässt sich vermuten. Die Maske wirkt Verwandlung ins Unerhörte. Bei den Griechen ist dies, von der versteinernden Gorgo abgesehen, weniger das Unheimliche als das Lächerliche und das aggressiv Obszöne. In vielerlei Varianten gibt es Umzüge mit übergroßen künstlichen Phallen; Die Träger dieser Glieder müssen ihre bürgerliche Identität verstecken, durch Beschmieren mit Ruß oder Kleie oder eben durch Maskierung. So schildert ein hellenistischer Autor die rußbeschmierten Phallophoren, die in Masken
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- III 1 Anm. 427. Dawkins 1929, 163, pI. 47-62; GGR T. 31,1. Hsch. S.v.; GF 184-187; GGR 161 f. Paus. 6,22,9; HN 191. Pickard-Cambridge 1962, pI. 12 b, nr. 69; HN 19. Hsch., Phot. s.v. Zum Gorgo-Typ Th. Ph. Howe AJA 58, 1954, 209-221; J. H. Croon, JHS 75, 1955, 9-16; bes. Theodora G. Karayorga, Gorgeie Kephale, Athen 1970; Josef Floren, Studien zur Typologie des Gorgoneion, Münster 1977; Burkert 1992, 85-87; LIMC IV s.v. Gorgo, Gorgones. - Il 4 Anm. SI. Die facies der Artemis in Chios, ein Werk des Bupalos (Plin. n.h. 36,12) war keine Maske (gegen W. Deonna, REG 40, 1927, 224-233), sondern eine normale Statue, Thes.Ling.Lat. s.v. fades. Paus. 2,20,7. Paus. 8,15,3; Stiglitz 1967, 134-143. - V2A.
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von Betrunkenen daherkommenden Ithyphalloi. 58 Auch beim Satyrkostüm gehören Maske und Phallos zusammen. Es gab aber sogar im Artemiskult phallische Maskierung von Mädchen. 59 Aus der korinthischen Vasenmalerei vor allem kennt man, wohl im Zusammenhang mit einem volkstümlichen "Dithyrambos", clownhafte Vermummte, die eine künstliche Nacktheit vor allem mit übertrieben ausgestopftem Gesäß zur Schau stellen und allerlei Unfug treiben. 60 Gegenstück dazu sind "hässliche Reden", aischrologia, und obszöne Enthüllungen in Frauenfesten, besonders im Umkreis der Thesmophorien. Indem die Frauen auf Kosten der Männer für sich feiern, wird der Geschlechtergegensatz hochgespielt und im Spott ausgetragen. Ein Name für Spottgedichte bei solchem Anlass ist "Iambos", seit Archilochos eine Gattung respektabler Dichtung; der rituelle Hintergrund scheint noch durch im "Weiberiambos" des Semonides, der das andere Geschlecht typenweise durchhechelt. 61 Iambe selbst hat man zu einer mythischen Figur gemacht, einer Magd, die die trauernde, fastende Demeter durch Entblößung zu erheitern verstand. 62 In Athen war das Stenia-Fest unmittelbar vor den Thesmophorien für den gegenseitigen Spott bestimmt.63 In Aigina führten die Frauen, finanziert von eigens bestellten Choregen, beim Fest der "Damia und Auxesia" Spottchöre auf, die freilich nur auf andere Frauen vom Ort zielten;64 dagegen spotteten Männer und Frauen gegenseitig beim Opfer für Apollon Aigletes auf der Insel Anaphe, wie es der Sage nach Medeas Sklavinnen beim Argonautenzug aufgebrachthatten. 65 Beim Zug nach Eleusis saßen an einer kritischen Engstelle, bei der Brücke über den Rheitoi genannten Bach, grotesk vermummte Figuren und erschreckten und hänselten die Vorbeigehenden. 66 Bei Dionysischen Festen zogen Wagen durch die Stadt, von denen aus die Leute auf der Straße in sprichwörtlich grober Weise insultiert wurden. 67
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Semos FGrHist 396 F 24 = Ath. 622b. Hsch. lombai; GGR 162 f. Ihre griechische Benennung ist unbekannt. Siehe A. Körte, JdI 8, 1893, 61-93; Adolf Greifenhagen, Eine attische schwarzfigurige Vasengattung und die Darstellung des Kosmos im 6. Jahrhundert, Königsberg 1929; Hunfry Payne, Necrocorinthia, Oxford 1931, 118-124; Ernst Buschor, Satyrtänze und frühes Drama, SB München 1943, 5; Pickard-Cambridge 1962, 117 f; 167-174; Ines Jucker, AK 6, 1963, 58-60; Axel Seeberg, Corinthian Komos Vases, BICS Supp\. 27, 1971; Detlev Wannagat, Archaisches Lachen, Berlin 2007. Hanns Fluck, Skurrile Riten in griechischen Kulten, Diss. Freiburg 1931; Martin L. West, Studies in Greek Elegy and Iambus, Berlin 1974, 22-39; Karsten Siems, Aischrologia. Das Sexuell-Häßliche im antiken Epigramm, Diss. Göttingen 1974; Hugh Lloyd-Jones, Females of the Species. Semonides, Park Ridge 1975. Hymn. Dem. 202 f; ApolIod. 1,30; vg\. OF 52 = OTK 395; Richardson 1974, 213-218; Graf 1974, 194-199. AF 53; 57 f. Hdt. 5,83,2; vg\. Demeter Mysia, Paus. 7,27,10. ApolIod. 1,139; Apol\. Rh. 4,1719-1730; GF 175 f. gephryismoi, HN 307. aph" hamaxön, HN 253,18.
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Man versteht sexuell betonte Riten meist als Fruchtbarkeitsmagie im Gefolge und im Sinn Frazers. 68 In den griechischen Zeugnissen indes sticht stets das Lächerliche, Spaßige der Prozedur hervor; zugleich steigt man bewusst auf ein niederes Niveau von Unterklasse und Unterleib hinab, was auch in der Rede des Mythos von "Mägden" gespiegelt ist. Das Feierliche ist dem Alltäglichen so entgegengesetzt wie dem extrem Unfeierlichen, Lächerlich-Obszönen; zwischen beidem entsteht eine gleichsam verdoppelte Spannung, die dem Fest erweiterte Dimensionen verleiht. So gibt es auch Opfer, in denen gerade die Antithese zum üblichen "heiligen Schweigen" gefordert wird, wüstes Fluchen oder künstliches Klagen. 69 Im Ausloten der Gegensätze soll die rechte Mitte sich einspielen, wie ja auch die Geschlechter, die in ihrer Diastase einander spottend gegenübertreten, aufeinander angewiesen sind.
7.5 Agon Der "agonale" Geist ist seit Friedrich Nietzsehe oft als einer der bezeichnenden Züge, als eine treibende Kraft der griechischen Kultur beschrieben worden. 70 Erstaunlich, was für die Griechen alles zum Wettkampf werden kann, Sport und Körperschönheit, Handwerk und Kunst, Gesang und Tanz, Theater und Disputation. Was als Brauch instituiert ist, steht fast von selbst im Bannkreis eines Heiligtums. Auf Lesbos gab es im Heiligtum von Zeus, Hera und Dionysos beim jährlichen Fest einen Schönheitswettkampf der Mädchen;71 im Mythos vom Parisurteil scheint sich Entsprechendes zu spiegeln. In Tarent rühmt sich ein Mädchen in einem Weihgeschenk, in der Wollarbeit die anderen übertroffen zu haben;72 die älteste griechische Inschrift aus Athen gilt einem Knaben, der "von allen Tänzern am muntersten spielt",13 "Musische Wettkämpfe" gehören besonders zum Kult von Apollon und Dionysos; in Delphi treten an den Pythischen Spielen Flötenspieler, Flötenspieler mit Sänger und KitharaSänger je gegeneinander an; in Athen werden an den Dionysien Dithyramben, Komö-
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GB IX 234-252; CGS III 103; GGR 161. Fluchen in Lindos, Burkert, ZRGG 22,1970,364 f. - Klagen im Leukothea-Kultvon Elea, Xenophanes VS 21 A 13 ~ Arist. Rhet. 1400b5. 70 Friedrich Nietzsche, Rhein.Mus. 25, 1870,528-540; 28,1873, 211-243 ~ Nietzsche, Werke. Gesamtausgabe hrsg. v. Ggiorgio Colli/Mazzino Montanari, II 1, Berlin 1982, 271-327; Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Ges. Werke, hrsg. v. Felix Stähelin, VIII, Stuttgart 1930, 278 f; Reisch RE I 836-867 s.v. Agones; Helmut Berve, Vom agonalen Geist der Griechen, in: Gestaltende Kräfte der Antike, München 21966, 1-20; Emil Vogt, A&A 11, 1965, 103-113; Ingomar Weiler, Der Agon im Mythos. Zur Einstellung der Griechen zum Wettkampf, Darmstadt 1974. 71 Alkaios 130 Voigt; Theophrast Fr. 6l0a Fortenbaugh ~ Ath. 6l0a; Schol. 11. 9,129; vgl. FGrHist 318 F 1; FGrHist 29 F 1; Paus. 7,24,4. 72 AJA 49, 1945,528 f; Friedländer/Hoffleit 1948 p. 165; vgl. auch Inschrift des J;'aionios in Olympia, SIG J 80. 73 IG F 919; Hommel, Gymnasium 56, 1949, 201-205.
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dien und Tragödien im Wettkampf inszeniert, während an den Panathenäen Rhapsoden im Homervortrag wetteifern. Populärer noch waren die Sportwettkämpfe. Am wichtigsten sind dabei die schlichteste Form, der Wettlauf, und die aufwendigste Variante, das Wagenrennen, das aus der bronzezeitlichen Praxis des Wagenkampfs entwickelt ist. Ringkampf, Faustkampf, Weitsprung, Speerwurf treten demgegenüber etwas in den Hintergrund. Auch· die Sportveranstaltung ist indessen kein profanes Fest. Ein Hauptanlass sind zunächst die Totenfeiern, wie sie das Epos beim Tod des Patroklos beschreibt und die Vasenbilder der geometrischen Zeit im Verein mit späteren Inschriften bezeugen; es gab den epittiphios ag6n bis in die klassische Zeit. Wie das Kampfspiel aus der Trauer-Wut der vom Tod Betroffenen hervorgeht, hat Karl Meuli beschrieben.74 Im Vordergrund stehen jedoch dann die mit kalendarisch festgelegten Opferfesten verbundenen lokalen Agone; die Kraftprobe der Lebenden hat auch Initiationscharakter. Vier panhellenische Feste treten im 6. Jahrhundert zu einer anerkannten Gruppe zusammen, die Olympien, die Pythien von Delphi, die Nemeen zu Ehren des Zeus in Nemea und die Isthmien für Poseidon bei Korinth. Andere Stadtfeste wie die Panathenäen oder die Heraia von Argos bemühen sich um gleichen Rang, ohne ihn ganz zu erreichen.75 Der Mythos verknüpft auch diese Agone mit Leichenspielen, mit einem lokalen Heros, dessen Tod zur ersten Feier Anlass bot - Pelops oder Oinomaos in Olympia, Archemoros in Nemea, Palaimon am Isthmos, gar der Pythondrache in Delphi. Tatsächlich ist der Agon als Übergang von einem Todes- zu einem Lebensaspekt mit den jeweiligen Opferritualen innig verbunden. In Olympia geht den Spielen eine 30-tägige Vorbereitungszeit voraus, während derer den Athleten eine vegetarische Diät und sexuelle Enthaltsamkeit verordnet ist. Das Fest beginnt mit Opfern, einem Voropfer für Pelops, reichen Rinderopfern für Zeus. "Dann lagen die geheiligten Teile auf dem Altar, Feuer aber war noch nicht an sie gelegt; die Läufer waren ein Stadion weit vom Altar entfernt; vor diesem stand ein Priester, der mit einer Fackel das Startzeichen gab. Der Sieger aber legte Feuer an die geheiligten Opferteile, und so ging er als Olympiensieger weg".76 Das älteste Stadion führte direkt auf den Zeusaltar zu; der Sieger im schlichten Wettlauf war der Olympiensieger schlechthin, dessen Name seit 776 aufgezeichnet war. Der Lauf markiert den Übergang vom blutigen "Werk" zum 74
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Der griechische Agon, 1%8 (urspr. 1926); Der Ursprung der Olympischen Spiele, Meuli 1975, 881906; Ange10 Brelich, Gueue, agoni e culti nella Grecia arcaica, Bonn 1961; Vasenbilder, A. Brückner, AM 35, 1910, 200-210; Inschriften aus Böotien, Jeffery 1990, 91 f; Inschriften über Leichen. spiele für Gefallene: BCH 95, 1971, 602-625. Edward N. Gardiner,Athletics ofthe ancientworld, Oxford 1930; HaroldA. Harris, GreekAthletes andAthletics, Bloomington 1966; -, Sport in Greece and Rome, London 1972; J. Jüthner/F. Brein, Die Leibesübungen in der Antike, SBWien 1965; Ingomar Weiler, Der Sport bei den Völkern der Alten Welt, Darmstadt 1988; Morgan 1990; Fernando Garcia Romano, Los juegos olimpicos y el deporte en Grecia, Barcelona 1992. Philostr. Gymn. 5; HN 108-119. --+ IIl1 Anm. 46.
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reinigenden Feuer, vom Chthonischen zum Olympischen, von Pelops zu Zeus. Auch beim Panathenäenagon ist die besondere Sportart, der Sprung vom Wagen, mit dem Sinn des Neujahrsfestes intim verbunden. Bei den dorischen Karneen ist der Lauf noch mehr Ritual als Sport.77 Merkwürdig vom Mythos umsponnen ist der DiskosWurf: Apollon selbst hat dabei seinen jugendlichen Liebling Hyakinthos getötet - als ob der Wurf mit der unberechenbaren Steinscheibe ein Zufallsopfer suche.
7.6 Göttermahl Das natürlich-simple Ziel eines Festes ist reichliches Essen und Trinken; im griechischen Opferbrauch ist dies in jedem Falle mit gegeben. Den Akzent des Außerordentlichen kann das Mahl im Heiligtum gewinnen, indem im Kontrast zur normalen Zivilisation das "alte Leben" "nachgeahmt" wird:78 An Stelle von Sessel oder Speisesofa tritt das Lager aus Zweigen und Laub, die stibas,79 an Stelle des Hauses die improvisierte Hütte, skene80 - missverständlich mit "Zelt" übersetzt. Die Zweige, auf denen man sitzt, gewinnen wieder einen Zeichen-Charakter, verschieden nach Gottheit und Fest: Fichten oder Weiden für die Thesmophorien, wilde Ölzweige in Olympia. 81 Man spricht vom Fest als der "prangenden Mahlzeit der Götter";82 und doch ist der Teil der Götter beim olympischen Normalopfer mehr als prekär. Dass Götter als Gäste einer Mahlzeit ausdrücklich bewirtet werden, ist die Ausnahme, die aber doch einigen Festen ihren besonderen Charakter gibt. So kann man in Athen den "Zeus der Freunde", Zeus Philias, zum Mahlladen: 83 Man bereitet ein Speise sofa (kline), deckt einen Tisch mit allem Nötigen; Reliefs stellen den Gott beim Gelage dar. Die Menschen selbst feiern offenbar von Herzen mit. Dieser Zeus, mit dem man so vertraut verkehrt, ist offenbar nicht ohne weiteres identisch mit dem blitzeschleudernden Himmelsgott. Die eigentlichen Gäste für "Götterbewirtung", theoxenia, sind die Dioskuren. Man feiert sie vor allem im dorischen Bereich, in Sparta, aber auch in Athen richtet man ihnen ein "Frühstück" (ariston) im Prytaneion, indem man einen Tisch mit
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---;. V 2 Anm. 53. Diod. 5,4,7 zu Sizilischen Thesmophoria. J. M. Verpoarten, La stibas au l'image de la brausse dans la soci<~te grecque, RHR 162, 1962, 147160; H. Tränkle Hermes 91, 1963, 503-505; F. Poland, RE III A 2482-2484. ---;. I 2 Anm. 16; II 2 Anm.51. Herbert Schäfer, Die Laubhütte, Leipzig 1939; GGR 828; z.B. Thesmophoria: Aristoph. Thesm. 624; 658; Karneia: Ath. 141ef; Hyakinthia: Ath. 138 f. Fichten: Steph. Byz. Miletos; !jgos in Athen, Fehrle 1910, 139; Ölbaumzweige: Paus. 5,7,7. Od. 8,76. ---;. II 1 Anm. 17/19. Kaum mehr als ein Name ist für uns das Fest Theodaisia, GF 279 f. Der Komiker Diodoras Fr. 2 Kassel/Austin ~ Ath. 239b; vgl. GGR T. 28,2; Harrison 1922,354-358; Cook 1925, II 1160-1210.
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Käse, Kuchen, Oliven und Lauch deckt. Bilder und Reliefs zeigen, wie die göttlichen Reiter durch die Luft herbeigaloppieren zu den beiden Klinen, die für sie bereitet sind. B4 In DelphiB5 sind die Theoxenia ein Hauptfest, das auch einem Monat den Namen gibt. Abordnungen aus ganz Griechenland treffen ein, und viele Götter werden zum Mahl geladen, wobei verständlicherweise Apollon mehr und mehr in den Vordergrund tritt. Ein skurriler Agon wird ausgefochten: Wer der Göttermutter Leto die größte Lauchzwiebel anbieten kann, bekommt eine Portion vom heiligen Tisch. Überhaupt werden die Portionen vom Göttertisch letztlich an Menschen verteilt, an das "Frühstück" der Götter schließt sich das allgemeine Essen und Trinken der Sterblichen an. Aus Delphi haben die Römer die Götterbewirtung, das lectisternium, übernommen; doch dürfte darin zugleich altes Erbe bewahrt und aktiviert sein; zeigt doch der Veda immer wieder die Ladung der Götter zum Mahl, und gerade die Dioskuren weisen auf indogermanische Tradition. B6 Bei den Griechen handelt es sich teilweise eher um Familienbrauch als um Polis-Religion; neben "Zeus Philios" steht die Sitte der Heroen- und Totenmahle.
7.7 Heilige Hochzeit Besondere Neugier erregen seit je Hinweise auf den geheimen Höhepunkt eines Festes in einer sexuellen Vereinigung; eher modern als antik spricht man von "heiliger Hochzeit", hieros gdmos. Tatsächlich sind die Informationen, was Griechenland betrifft, spärlich und undeutlich. B7 Es gibt eine altorientalische Tradition: Schon der sumerische König ist der "Geliebte" der Großen Göttin, er begibt sich zum Tempel, um seine Hochzeit festlich zu vollziehen. So kann dann auch ein Priester mit einer Göttin, eine Priesterin mit einem Gott verbunden sein. Die höchste Priesterin im ägyptischen Theben ist das "Gottesweib" des Amun; im syrischen Emar wird eine Gattin (SAL.DINGIR "Gottesfrau" = entu) für den Wettergott erwählt und in einem tagelangen Fest schließlich auf das Bett im Heiligtum gebracht. BB Aphrodite die "Königin" (wanassa), ist offenbar die 84
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Friedrich Deneken, Oe theoxeniis, Diss. Berlin 1881; OF 418-422; OOR 409-411; Athen: Chionides Fr. 7 KasseVAustin = Ath. 137e; Akragas: Pind. 01. 3; Dioskuren-Bilder: LIMC s.v. Dioskuroi nr. 110-119; OOR T. 29, 5. -+ IV 5.2. Pind. Paian 6,60-65; OF 160-162; Letos gethyllis: Polemon Ath. 372 a. -+ I 2 Anm. 11. Albert Klinz, Hieros Oamos, Diss. Halle 1933; die spärlichen Zeugnisse bei Avagianou 1991; kritische Revision Budin 2008. Vgl. auch Hartmut Schmökel, Heilige Hochzeit und Hoheslied, Wiesbaden 1956. Samuel N. Kramer, The Sacred Marriage Rite, Bloomington 1969; RHR 181, 1972, 121-146; The-
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Gemahlin des Priesterkönigs in Paphos. Daneben steht sakrale Prostitution im BtarAstarte-Kult, die Anwesenheit weiblicher und männlicher Prostituierter im Heiligtum, auch im phönikischen Zypern; Aphrodite hat auch in Korinth ihre Hetären. 89 Anderer Art ist die Idee von der Hochzeit des Himmelsvaters mit der Erdmutter im Gewitterregen. 9o Burlesk und groß zugleich gestaltet die Ilias, wie Zeus mit Hera auf dem Gipfel des Ida Beilager hält, gehüllt in eine goldene Wolke, von der glänzende Tropfen zur Erde fallen. Direkter, ohne Götternamen zu verwenden, malt dann die reife Dichtung die befruchtende Hochzeit von Himmel und Erde, während die bildende Kunst im Bann des homerischen Anthropomorphismus bleibt.9I Inwieweit über die Naturanschauung hinaus dergleichen Akte im Ritual ausgedrückt oder angedeutet wurden, ist schwerer zu sagen. In Athen feiert man gegen Ende des Winters die Hochzeit von Zeus und Hera im Fest Theogdmia,92 doch erfahren wir nur, dass man üppig schmauste an diesem Tag. Der Umzug mit Holzfiguren, daidala, in Böotien93 wird im aitiologischen Mythos als Brautzug gedeutet, doch am Ende steht ein Feuerfest, in dem die Hölzer samt hölzernem Altar verbrennen. Auch in Samos ist das Hera-Fest viel komplizierter, als dass es einfach als Heras Hochzeit verstanden werden könnte.94 Bei Knossos auf Kreta feierte man gleichfalls die Hochzeit des Götterpaares, ja man "ahmte sie nach";95 dies könnte sich freilich in einem abendlichen Brautzug und anschließendem Nachtfest, pannychis, erschöpfen. Auf Kreta, erzählt indessen Hesiod,96 hat auch Demeter sich mit lasion auf einem dreifach gepflügten Ackerfeld gepaart und danach Plutos, den Getreide-Reichtum, geboren. Hier ist, vielleicht aus alter neolithischer Tradition, Pflügen-Säen und Zeugen, Ernte und Geburt zusammengesehen. Seit Mannhardt stellt man dies mit Volksbräuchen vom "Brautlager auf dem Ackerfeld" zusammen. Der Name lasion wird auch mit Samothrake verbunden, verweist also wohl aufVorgriechisches und auf Mysterien zugleich. Dass Sexuelles in Mysterienweihen eine Rolle spielt, gilt weithin als sicher, doch gibt es kaum ein klares Zeugnis; wie etwa in Eleusis Empfangen und Gebären angedeutet war, bleibt dunke1. 97 Dass im Mythos lasion vom Blitz erschlagen wird, weist darauf hin, dass eine solche "heilige Hochzeit" dem Opfer näher steht als der Wollust.
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ben: Strab. 17,1,46 p. 816. Emar: Daniel E. Fleming, The Installation of Baal's High Priestess at Emar, Atlanta 1992. "Kurtisanen, Hierodulen und Huren" bei lStar: Erra IV 52, TUAT 795; vgl. II 6 Anm. 23; Karinth ---i> III 1 Anm. 298. Kritisch Budin 2008. Cook 1940, III 1025-1065; Il. 14,292-351; Aisch. Fr. 44 Radt; Eur. Fr. 898. Hochzeit von Himmel und Erde auch im Akkadischen, z.B. Erra 128, TUAT 784. ---i> III 1 Anm. 71. AF 177 f. ---i> I 3 Anm. 83; II 1 Anm. 73; III 1 Anm. 108. ---i> 14 Anm. 57; II 5 Anm. 90; III 1 Anm. 104-107. Diod.5,72,4. Theog. 969 f; Od. 5,125-128; GGR 121 f; Mannhardt 1905, 1480-488. HN 312-314; 317-321. ---i> VII Anm. 113.
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Unverhüllter ist die Sexualität im Bereich des Dionysos. Zumindest in einigen Spielformen von Dionysos-Weihen scheint - wie dann auch in gnostischen Sekten real vollzogener Geschlechtsverkehr, besonders Päderastie, bei der Einweihung von Mysten vorgekommen zu seinj 98 primitive Initiationsrituale, Einführung der Heranwachsenden in die Sexualität, mögen im Hintergrund stehen. Wenn dergleichen freilich publik wurde, galt es als Skandalj Rom ist mit unerhörter Schärfe dagegen eingeschritten. Beim Dionysosfest der Anthesteria in Athen wurde die Gattin des "Königs", die Basilinna, dem Gott als Frau hingegebenj99 man sprach von ihrer Liebesvereinigung (symmeixis) in einem bestimmten Lokal, dem Bukolion am Markt. Das Wie des Aktes, ob ein Bild im Spiel war, ob etwa der "König" in die Maske des Gottes schlüpfte, bleibt der Phantasie überlassen. Mythische Spiegelung ist Ariadne, die Theseus, der attische Urkönig, sich genommen hatte und die er dann auf Göttergeheiß zur Nachtzeit dem Gott überlassen musste. Um Ariadne gibt es Orgiastik und Klage, wie auch in den Anthesterien Ausgelassenheit mit Düsterem vereint erscheint. "Heilig" ist die Hochzeit auch hier, insofern sie mehr ist als menschliches Vergnügen.
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Bacchanalia, Liv. 39,13,10 f. Zum Skandal um die Isis-Mysterien in Rom Reinhold Merkelbach, Roman und Mysterium, München 1962, 11--+ V 2 Anm. 105. Im Fall Emar (Anm. 88), sagt der Text, dass die Gottesbraut auf das Bett gelegt wird; Kinder gibt es nicht.
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8 Ekstase und Mantik 8.1 Enthusiasmos Da das Heilige, Göttliche immer als das Außerordentliche, ganz Andere erscheint, sind die überwältigenden Erfahrungen eines veränderten, erweiterten Bewusstseins wenn nicht der alleinige Ursprung, so doch eine der wesentlichen Stützen der Religion. Das Erlebnis mag auf individueller Veranlagung, auf erlernbarer Technik oder auf dem Einfluss von Drogen beruhen; jedenfalls sieht, hört und erlebt der einzelne, was für die anderen nicht gegeben ist; er steht in direktem Kontakt mit einem höheren Sein, verkehrt mit Göttern und Geistern. Für die alten Hochkulturen ist indes bezeichnend, dass der etablierte Kult von solchen Ausnahmephänomenen weitgehend unabhängig ist. So sind auch den Griechen ekstatische, mediumistische, yogahafte Erscheinungen keineswegs fremd, doch sind sie teils an den Rand gedrängt, teils wohl umgrenzt; sie werden nicht zur Grundlage einer Offenbarung. Die griechischen Bezeichnungen für solche Phänomene sind uneinheitlich und widersprüchlich. Eine alte Benennung und Deutung für einen seelischen Ausnahmezustand ist entheos: "drin ist ein Gott'',! der offenbar aus dem Menschen mit fremder Stimme oder unverständlich redet, zu fremdartigen, scheinbar sinnlosen Bewegungen zwingt; gleichzeitig spricht man aber davon, dass ein Gott einen Menschen "ergreift" oder "trägt", dass er ihn "in seiner Gewalt hält", katechei, woraus in der Übersetzung possessio, "Besessenheit", geworden ist. z Ebenso aber ist von "Heraustreten" die Rede, ekstasis, nicht in dem Sinn, dass die Seele den Körper verlässt, sondern dass der Mensch seine gewohnten Bahnen, seine Vernünftigkeit verlassen hat;3 und doch kann man auch sagen, dass sein Verstand (nous) nicht mehr in ihm ist.4 Diese Ausdrucksweisen lassen sich nicht systematisch ausgleichen, auch nicht im Sinn einer geistesgeschichtlichen Entwicklung trennen; sie spiegeln die Verwirrung angesichts des Unerhörten. Die geläufigste Bezeichnung ist denn auch mania, Rasen, Wahnsinn.
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Rohde 1898, II 18-22; Julius Tambornino, De antiquarum daemonismo, Gießen 1909; Friedrich Pfister, RE Supp\. VII 100-114; RAC IV 944-987; Dodds 1951, 64-101; Jose L. Calvo Martinez, Sobre la mania y el entusiasmo, Emerita 41, 1973, 157-182. Zu entheos GGR 57; Dodds 1951, 87,41 gegen Rohde II 20; Wesley D. Smith, The so-called possession in pre-Christian Greece, TAPA 96, 1965,403-436 (der 410,23 das Wort entheos zu leicht beiseite schiebt); Lisa Maurizio, Anthropology and Spirit Possession. A Reconsideration of the Pythia's Role at Delphi, JHS 115, 1995, 69-86. Am deutlichsten ist Plut. Pyth.or. 398A, -- Anm. 65; indirekt Plat. Leg. 719c; Eur. Bacch. 300. lambdnei Hdt. 4,79,4; theophoretos Aisch. Ag. 1140; katechesthai Eur. Bacch. 1124; Rohde 1898, II 18 f. Friedrich Pfister in: Pisciculi, Festschr. Franz Joseph Dölger, Münster 1939, 178-191; GGR 577, gegen Rohde 1898, II 18 f. Plat. Ion 534 b.
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8 Ekstase und Mantik
Das "Rasen" wird beschrieben als krankhafter Ausbruch, hinter dem der Zorn eines Gottes steht; dabei gibt es neben dem individuellen, pathologischen das kollektive "Rasen", das institutionalisiert sein kann, besonders der Ausbruch "der Frauen" einer Stadt beim Ausnahme-Fest. Ziel ist gleichwohl, in der Wirklichkeit wie im Mythos, vom Wahnsinn zum Sinn zurückzufinden, wozu man der "Reinigung" und eines "Reinigungspriesters" bedarf. 5 Insbesondere scheinen die Griechen im nördlichen -Klein asien bei den Phrygern ekstatische Kulte in Verbindung mit Flötenmusik kennen gelernt zu haben; so ist die meistgenannte "Besessenheit" die durch die Göttermutter, in deren Machtbereich auch Weihe und Reinigung der Korybanten stehen. 6 Doch auch Hera, Artemis, Hekate, Pan und andere Götter können Wahnsinn senden. Man sucht dem "Angriff" der Gottheit mit "Reinigungen" beizukommen. Die Epilepsie wird als "Heilige Krankheit" nach eben diesem Schema gedeutet und behandelt.7 Auch in positiver, beglückender Weise kann göttliche Gegenwart im Umbruch des Bewusstseins erfahren werden. Man vermutet für die minoische Religion eine Epiphanie der Gottheit im Tanz. Dazu kommt die ekstatische Mantik, wobei gelegentlich der inspirierte Seher spricht, was er selbst nicht versteht. 8 Ambivalent ist die Ekstase im Dionysoskult, in dem sie eine einzigartige Rolle spielt, so dass Dionysos nahezu ein Monopol für Enthusiasmus und Ekstase gewinnt. Das "Rasen" kann auch hier im Mythos als Katastrophe, bewirkt von der feindlichen Hera, erscheinen;9 doch indem der Gott selbst der "Rasende" ist, ist der Wahnsinn zugleich göttliche Erfahrung, Erfüllung und Selbstzweck; er verschmilzt dann freilich mit dem alkoholischen Rausch. JO Daneben bleibt das Phänomen einer andersartigen, nüchternen Ergriffenheit, die den einzelnen trifft. Es gibt Menschen, die "von den Nymphen ergriffen" (nymph6leptos) aus Haus und Familie ausbrechen, sich in Höhlen in der Wildnis verbergen;l1 es gibt den "von Phoibos ergriffenen" Aristeas, der wunderbar entrückt wird und zurückkehrt mit Kunde von Apollons fernem Wundervolk, den Hyperboreern. 12 Im 7./6. Jahrhundert scheinen mehrere solcher "Wundermänner" umhergezogen zu sein; man hat von wandernden Schamanen gesprochen, Einflüsse aus skythischem Noma5 6 7 8
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Il4 Anm. 51/55 Anm; III 1.10 bei Anm. 25-32; HN 189-200. Il 4 Anm. 53; vgl. III 2.2. Hoessly 2001. --+ Il 4 Anm. 52. Zum Minoischen --+ I 3 Anm. 188; 202/3; zur Mantik --+ Il8 2. Der Karer Mys hört aus dem thespl. zein des pr6mantis im Heiligtum des ApolIon Ptoios seine Muttersprache heraus, Hdt. 8,135. Ansätze zur Ekstase gibt es auch in Prozessionen, Graf 1974, 52 f. Plat. Leg. 672b; zu Agaue, Minyaden, Ino HN 195; 199. Di6nysos main6menos 11. 6,132; Wein-Wirkung Archilochos 120 West; vgl. Eur. Bacch. 918 f. --+ III 1 Anm;387. Plut. Aristid. 11; Inschrift aus der Höhle von VaTi, IG P 980; Nikolaus Himmelmann-Wildschütz, Theo!eptos, Marburg 1957. Hdt. 4,13-15; Poetae Epici Graeci Hrsg. Bernabe 1 144-154; James D. P. Bolton, Aristeas of Proconnesus, Oxford 1962, vgl. Gnomon 35, 1963,235-240; L&S 147-149. --+
--+
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denbereich sind möglichP Dass sie, gleich Schamanen, ekstatische Vorführungen gaben, lässt sich nur indirekt aus den sie umgebenden Legenden erschließen, besonders ihrer angeblichen Entrückung, ihrer Fähigkeit zu "fliegen". Es gibt auch den Bericht über Hermotimos aus Klazomenai, dessen Körper wie tot dalag, während sein Geist auf Wanderschaft ging und alle Fernen, ja die Zukunft erkundete.14 Allgemeiner verbreitet und wohl älter ist die Überzeugung, dass jeder Seher in besonderer Beziehung zum Göttlichen stehen muss, da doch sein Spruch mehr als menschliches Wissen voraussetzt; ähnlich ist der mündliche Sänger von seiner Göttin, der Muse, abhängig, die ihm von Augenblick zu Augenblick das Gelingen schenkt. Platon unterscheidet den "mantischen" Wahnsinn Apollons und den "telestischen Wahnsinn" des Dionysos, woran noch der dichterische und der "erotische", philosophische Enthusiasmus angeknüpft werden. I5 Mit der Nennung von Apollon und Dionysos sind die Randphänomene des Bewusstseins in wohlumgrenzte Sphären gebannt, Mantik hier, Weihe dort; es sind zwei Brüder, Söhne des Zeus, die darüber walten; der höchste Gott, Zeus, steht als Vater über ihnen im klaren Raum des "Denkens", phronein.
8.2 Die Kunst der Seher Der handelnde Mensch ist darauf angewiesen, sich einen hoffnungsvollen Vorentwurf der Zukunft zu machen; dabei führt die Lernfähigkeit höherer Lebewesen dazu, dass an bestimmte Beobachtungen bestimmte Erwartungen geknüpft werden: Man erkennt "Zeichen", die beim Menschen sprachlich fixiert und kulturell tradiert werden. Für eine Trennung von Zufall und Kausalzusammenhang fehlt es zunächst an Theorie und Methode; Experimente kann man sich kaum leisten. Zudem ist der Gewinn an Lebensmut, den die Zeichen als Entscheidungshilfe einbringen, so beträchtlich, dass gelegentliche Falsifizierung durch Erfahrung dagegen nicht auf.. kommt. Zeichengläubigkeit kann ohne religiöse Deutung bestehen, als Aberglaube, wie noch in unserer Kultur. Auch die Praxis des Losens als Spielregel, als Entscheidungsmechanismus funktioniert aus sich selbst. In den alten Kulturen indes ist die religiöse Interpretation längst etabliert: Zeichen kommen von den Göttern, durch sie geben die Götter, wenn auch verschlüsselt, dem Menschen Weisung und Leitung. Gerade weil es keine Offenbarungsschriften gibt, werden die Zeichen zur eigentlichen Form des Kontakts mit der höheren Welt, zu einer Hauptstütze der Frömmigkeit. So steht 13 14 15
Meuli, Scythica (1935) = Meuli 1975, 817-879; Dodds 1951, 135-178; L&S 147-165. Der sehr kontroverse Begriff des Schamanismus kann hier nicht weiter diskutiert werden. Apoll. hist.mir. 3; L&S 152. Plat. Phdr. 265b vgl. 244ae.
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es in den alten Hochkulturen, so steht es auch bei den Griechen: Wer an der Mantik zweifelt, gerät bereits in den Geruch der Gottlosigkeit. Alle griechischen Götter geben Zeichen, frei nach Gnade und Erwählung, Zeus allen voran; die Kunst, sie zu deuten, verleiht sein Sohn Apollon. 16 Denn um die überzeugende, dem Zweifel entrückte Deutung zu finden, bedarf es einer charismatischen Gabe, einer Eingebung. So gibt es dafür seit je den hochangesehenen Spezialisten, den "Seher", mantis, als eine Urform des Weisen Mannes. Die Gabe pflanzt sich in der Familie fort; nicht nur, dass der Mythos genealogische Verbindungen der sagenberühmten Seher geschaffen hat - Mopsos als Enkel des Teiresias -, auch historische Seher führten sich auf mythische Ahnherrn, etwa auf Melampus, zurück; in Olympia gab es das Sehergeschlecht der IamidenY Bezeichnenderweise steht das griechische Wort für Gott, theos, in intimer Beziehung zur Seherkunst: Ein gedeutetes Zeichen ist thesphaton, der Seher ist theopropos, seine Tätigkeit ein theiazein oder entheazein. 18 Der Ilias-Seher Kalchas ist Sohn des Thestor; der in der Odyssee eingeführte Seher, der das zweite Gesicht hat, heißt Theoklymenos, und der Stamm, der das einzigartige Totenorakel in Epirus hütet, sind die Thesprotoi. Soweit der Seher in abnormalem Zustand spricht, bedarf er seinerseits dessen, der die Aussagen formuliert, des prophetes. 19 Das Wort für "Seher" selbst, mantis, hängt doch wohl mit dem indogermanischen Stamm für "geistige Kraft" (men-) zusammen und ist auch mit mania "Wahnsinn" verwandt. In der Praxis wird allerdings die Deutekunst weithin zu einer quasirationalen Technik. "Zeichen" kann jeder Vorgang sein, der nicht ganz selbstverständlich und nicht manipulierbar ist: ein unwillkürliches Niesen,z° ein Stolpern,zl ein Gliederzucken;22 eine unvorhergesehene Begegnung oder der Klang eines Namens, 16
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Ausführlichste alte Darstellung der Mantik: Auguste Bouche-Leclerq, Histoire de la divination dans l'antiquite I-IV, Grenoble 1879-82; William R. Halliday, Greek Divination, London 1913; KA 54-78; GGR 164-174; Th. Hopfner RE XIV 1258-1288 s.v. Mantik; Andre Caquot/Marcel Leibovici, La divination, Paris 1968; Friedrich Pfeffer, Studien zur Mantik in der Philosophie der Antike, Meisenheim 1975; Jean-Pierre Vernant, Divination et rationalite, Paris 1975; Oracles et mantique en Grece ancienne, Kernos 3, 1990; Sarah 1. Johnston/Peter T. Struck (Hrsg.), Mantike. Studies in Ancient Divination, Leiden 2005; ThesCRA III 1-104; Johnston 2008. - ApolIon ist Gott der Seher bereits Il. 1,87. Ingrid Löffler, Die Melampodie, Meisenheim 1963; Iamiden: Pind. 01. 6; Parke 1967, 173-178; Euenios und Deiphonos, Hdt. 9,92-96, Burkert 2007, 186-194; Peter Kett, Prosopographie der historischen griechischen Manteis bis auf die Zeit Alexanders des Großen, Diss. Erlangen 1966; Mary Beard/John North (Hrsg.), Pagan Priests, London 1990. Thuk. 8,1; Hdt. 1,62 f; Burkert 1997. -+ V 4 Anm. 32. Erich Fascher, Prophetes, Gießen 1927; Maria C. van der Kolf, RE XXIII 797-816; Dodds 1951, 70; prophetes neben der Pythia in Delphi, Plut. Def or. 438B; prophetes neben thesPiod6s in Klaros, OGI 530. Xen. Anab. 3,2,9; Plut. Gen.Socr. 581A. Zenon Diog. Laert. 7,28; Luk. Makrob. 19. Hermann Diels, Beiträge zur Zuckungsliteratur des Okzidents und Orients I: Die griechischen Zukkungsbücher, Abh. Berlin 1907,4; II: Weitere griechische und außergriechische Literatur und Volksüberlieferung, ibo 1908,4.
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den man auffängtj 23 Himmelserscheinungen wie Blitze, Kometen, Sternschnuppen, Sonnen- und Mondfinsternisse, selbst Regentropfen. 24 Hier vollzieht sich fast unmerklich der Übergang zur wissenschaftlichen Meteorologie und Astronomie. Dazu kommen natürlich die Träume - "auch der Traum ist von Zeus" -, doch weiß bereits Penelope in der Odyssee, dass nicht jeder Traum eine Bedeutung hat. 25 Eine besondere Rolle spielt die Beobachtung des Vogelflugs. Sie ist die besondere Kunst der Seher in den alten Epen, eines Teiresias und Kalchasj deren Titel ist darum auch oionop61os. Oion6s, Wahrsagevogel, ist vor allem der Raubvogel: Ob einer oder mehrere erscheinen, ob von rechts oder links, spielt eine Rolle. Der Seher hat seinen festen Sitzj 26 eindeutig ist die Zuordnung rechts - gut, links - schlechtj der Seher blickt in der Regel nach Norden. Eine feste "Disziplin" wie etruskische und römische Auguren haben die griechischen Vogelschauer indes anscheinend nicht entwickelt. Bei Homer 7 sind die Vogelzeichen dichterische Erfindung, unwahrscheinliche Konstruktionen, deren Deutung um so evidenter ist. Ein Mann wie Xenophon28 dagegen holte sich noch im Jahr 401 genaue Auskunft bei einem Seher, was es bedeute, dass er einen sitzenden Adler von rechts hatte schreien hören: Dies sei ein "Großes Zeichen", so erfuhr er, das aber auch auf Mühe deutej ihm half dies, durchzuhalten. Gesteigerte Aufmerksamkeit richtet sich auf den Vollzug der Heiligen Handlung, des Opfersj hier ist alles Zeichen: ob das Tier gutwillig zum Altar geht und rasch verblutet, ob das Feuer schnell und rein aufflammt, was beim Verbrennen im Feuer geschieht, wie der Schwanz sich ktümmt, die Harnblase platzt. 29 Insbesondere ist die Beobachtung der Leber der Opfertiere zu einer speziellen Kunst geworden: Wie die verschiedenen Lappen ausgebildet und gefärbt sind, wird bei jedem Schlachten mit Spannung erwartet und ausgewertet. Diese Technik stammt aus dem Zweistromland, wir fassen ihre Ausbreitung nach Mari und Alalach, zu Ugaritern und Hethitern und ins spätbronzezeitliche Zypern. 30 Bei Homer wird allenfalls an einer Stelle 23 24 25
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symbolos und kledon, Xen. Apol. 12 f; Mem. 1,1,4; ein Beispiel Hdt. 9,91; vgl. 6ssa Od. 1,282; 2,216. Aristoph. Ach. 171. Th. Hopfner RE VI A 2233-2245 s.v. Traumdeutung; 11. 1,63; Od. 19,560-567; Weihung auf Grund von Traumweisung z.B. B. IG P 750 = Friedländer/Hoffleit 173; auch das Daochos-Monument in Delphi, 337 v. Chr., SIGl 274. -+ Anm. 58 f. Soph. Ant. 999-1004; Eur. Bacch. 346-350. Hans Stockinger, Die Vorzeichen im homerischen Epos, Diss. München 1959. Anab. 6,1,23. Schol. Aristoph. Pax. 1053 f; Schol. Aisch. Prom. 497; Soph. Fr. 394 Radt; Schol. Eur. Phoin. 1256; KA 63. Vgl. auch Fische im Weihwasser, Semos FGrHist 396 F 12; Ameisen und Opferblut, Plut. Kim.18,4. Babyion: Oppenheim 1964, 206-227; Burkert 1992, 46-53; AT Hesek. 21,26; Hethitisch: Albrecht Goetze, Kleinasien, Heidelberg 21957, 149, T. 11, 21; Ugarit: Ugaritica 6, 1969, 91-119; Zypern: BCH 95, 1971, 384-386; Kadmos 11, 1972, 185 f; vgl. Tac. hist. 2,3 über Paphos. Die historischen Zusammenhänge sah schon Wilhelm Deecke, Etruskische Forschungen und Studien II, Stuttgart 1882,79; J. Nougayrol, CRAI 1955, 509-518; 1966, 193-203; Ambros Pfiffig, Religio Ettusca, Graz 1975, 115-127; Burkert 1992, 46-53. Georg Blecher, De extispicio capita ttia, Gießen 1905, bestritt diese Verbindungen auf Grund der Detailunterschiede zwischen orientalischer, griechischer, etrus-
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darauf angespielt; offenbar ist sie im 8./7. Jahrhundert von den Griechen aus dem Orient übernommen worden; aus gleicher Quelle, nicht über die Griechen, kam den Etruskern ihre weit detailliertere "Haruspizin" zu; für die plastischen Lebermodelle mit Inschriften und Zeichnungen, wie sie aus Assyrien, Ugarit, Zypern und Etrurien bekannt sind, gibt es bisher kein griechisches Gegenstück. Eingeweideschau ist vor allem Aufgabe der Seher, die die Heere in die Schlacht begleiten. Man führt eigens Herden von Opfertieren mit für hierd und sphdgia - freilich auch als Verpflegung; ohne günstige Opferzeichen wird keine Schlacht begonnen. Bei Plataiai lagen die Griechen und Perser einander zehn Tage gegenüber, weil die - nach gleicher Technik eingeholten - Opferzeichen keiner Seite den Angriff anrieten. jl Selbst der Söldnerhaufe der "Zehntausend", der sich nach Räuberart durch das Barbarenland schlug, unternahm keinen Raubzug ohne Opfer; als diese einige Tage lang ungünstig waren, drohte Hunger, doch ein gegen die Zeichen unternommenes Unternehmen schlug tatsächlich fehl. Endlich kam die rechte Opferleber ans Licht, und die Lage wurde gerettet. 32 König Agesilaos ließ sich 396 durch ungünstige Zeichen bewegen, einen Feldzug abzubrechen. 33 Ob der Sieg dem Feldherrn oder dem Mantis zu verdanken sei, war durchaus diskutabel; jedenfalls lag alles daran, einen guten Seher zu haben; die Spartaner sicherten sich zur Zeit der Perserkriege durch außergewöhnliches Entgegenkommen den Seher Teisamenos aus dem Geschlecht des Melampus, der ihnen dann wirklich drei Siege, darunter den von Plataiai, gewann. 34 Nach dem Sieg bei Knidos 394 haben die Athener inschriftlich festgehalten, dass der Seher Sthorys, der sie "geführt" habe, das athenische Bürgerrecht erhalte. 35 Noch Alexander hatte seine Seher; in den hellenistischen Heeren verliert sich ihr Einfluss. Dass der Seher gleichsam magisch die guten Vorzeichen schafft und den Erfolg herbeizwingt, wird nie ausgesprochen;36 eher glaubt man, dass es einen komplizierten und verschlungenen Weg zum Ziel gibt, den es durch Zeichen zu finden gilt. Über die prinzipielle Frage, wie Vorzeichen, Vorbestimmung und Willensfreiheit zusammenpassen, hat man erst in hellenistischer Zeit ausführlich diskutiert, wobei die Entdeckung der Naturgesetze im Bereich der Astronomie eine wegweisende Rolle spielt und zugleich eine neue, besonders wirksame Form der Mantik in Gestalt der Astrologie hervorbringt. In der alten Zeit kann man versuchen, auch mit ungünstigen Zeichen zurechtzukommen, durch Abwarten, Wiederholung, Umwege, "Reinigung"; umge-
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kischer Lehre, gab aber eine nützliche Materialsammlung. thyoskoos 11. 24,22, vgl. Od. 21,145; 22,321. Einzelheiten dann Aisch. Prom. 493-498; Eur. EI. 826-829; Xen. Anab. 5,6,29; 6,4,15; Hell. 3,4,15; 4,7,7. Bildzeugnisse: ThesCRA III 8 f, T.1. Hdt. 9,36-39; Popp 1957,51-53. Xen. Anab. 6,4,12-6,5,2; Popp 1957, 65-68. Xen. Hell. 3,4,15; Popp 1957,57. Hdt. 9,33-36. Vgl. Burkert 2007, 186-194. 10 lI/lIFl7 - S103 127; BSA 65, 1970, 151-174. OOR 164 f gegen Halliday.
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kehrt ist es wichtig, auch günstige Zeichen zur vollen Wirkung zu bringen, indem man sie "annimmt",37 mit einem beistimmenden Wort oder Gelübde. Hier bestätigt sich, dass die Entscheidungshilfe, die Stärkung des Selbstvertrauens, wichtiger ist als eigentliches Vorherwissen, wie denn auch die Seher vor allem entscheiden, was zu tun und nicht zu tun ist, nicht unbedingt, was geschehen wird.
8.3 Orakel Präsent sind die Götter in den Kulten, die an bestimmten Heiligtümern haften. Auch die göttlichen Zeichen konzentrieren sich damit auf Kultorte. Der Erfolg im Deuten von Zeichen konnte den Ruhm eines Gottes und seines Heiligtums mehr als alles andere durch die Lande tragen. Seit dem 8. Jahrhundert gewinnen auf diese Weise bestimmte Orte überregionale, ja internationale Bedeutung, wo der Gott Ratsuchenden eine "Handreichung" bietet, chresm6s: chresterion oder manteion nannten die Griechen eine solche Stätte, die Römer oraculum. 38 Orientalische und ägyptische Heiligtümer waren in solcher Spezialisierung vorangegangen; die Orakel von Daphne bei Antiocheia,39 Mopsuestia in Kilikien,40 Sura4I und Patara in Lykien42 und Telmessos in Karien43 stehen in kleinasiatischer Tradition; das Amon-Orakel in der Oase Siwa44 lernten die Griechen wohl bald nach der Gründung Kyrenes um 630 kennen. Damals hatte der Lyderkönig Gyges bereits Gold nach Delphi gestiftet. 45 Die Methoden der Orakelerteilung sind fast so vielfältig wie die Kultformen; in den Vordergrund drängt sich allerdings die spektakulärste Art, dass der Gott direkt aus einem Medium spricht, das in den Zustand des enthusiasm6s gerät.
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dechomai, Hdt. 1,63,1; 8,91; 8,115,1. Latte, RE XVIlI 1 829-866 s.v. Orakel = Kleine Schriften, München 1968, 152-192; Robert Flaceliere, Devins et orades grecs, Paris 1961 (Oreek Orades, London 1965); Parke 1967; Rosenberger 2001; ThesCRA III 16-45. Die Orakeltechnik durch Blick auf fließendes Wasser (Sebastian Brock, The Syriac Version of the Pseudo-Nonnus Mythological Scholia, Oxford 1971, 168 Nr. 14) entspricht der des lykischen ApolIon Thyrxeus, Paus. 7,21,13 (der als turakssali natri in der Stele von Xanthos erscheint, Johannes Friedrich, Kleinasiatische Sprachdenkmäler, Berlin 1932, 44 c 47). Traumorakel, Plut. Def.or. 4340. Der Name Mopsos-Muksas in der Inschrift von Karatepe: John D. Hawkins, Corpus ofHieroglyphic Luwian Inscriptions 11, Berlin 2000, p. 45-68; der Name in Zeile 108-113,324,330; KAI II nr. 26. Fischorakel, Polycharmos FOrHist 770 F 1/2; HN 228,9. Hdt. 1,182; Oerhard Radke, RE XVIlI 3, 2555-2561. Hdt. 1,78; 84; SIOJ 1044; Aristoph. Fr. 528-541; Traumorakel, Tatian 1, Tert. an. 46; Verbindung mit phrygischer und lydischer Königslegende, Arr. Anab. 2,3,4. Parke 1987, 194-241. Hdt. 1,14,2 f.
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Als ältestes Orakel rühmte sich Dodona, das Heiligtum des Zeus in Epirus. 46 Die Ilias lässt Achilleus zum "Pelasgischen Zeus von Dodona" beten; "um Dich wohnen die Helloi (Selloi?), die Deuter, mit ungewaschenen Füßen, auf der Erde schlafend ",47 Diese merkwürdige Priesterschaft ist später verschollen, selbst um ihren Namen wird allein aufgrund des Iliastextes debattiert. Odysseus will sich nach Dodona begeben, "um aus der hochbelaubten Eiche den Plan des Zeus zu erfahren";48 von drei Tauben, die in ·der Eiche wohnen, sprachen vielleicht schon die hesiodeischen Kataloge;49 nach späterer Überlieferung sind es drei Priesterinnen, die "Tauben" heißen;5o sie geraten in Ekstase, "hernach wissen sie nichts von dem, was sie gesagt haben".51 Die Ausgrabungen haben das schlichte Baumheiligtum freigelegt; erst im 4. Jahrhundert kam ein kleiner Tempel dazu, nachdem die Molosserkönige von Epirus die Schirmherrschaft über Dodona übernommen hatten. Seit dieser Zeit erfreute sich Dodona einer gewissen Popularität; doch sind es meistens Privatleute, die auf den erhaltenen Bleitäfelchen den Gott in alltäglichen Problemen um Rat angehen. Altberühmt muss das Totenorakel von Ephyra sein,sz weist doch der Name der umwohnenden Thesproter offenbar auf ihren "göttlichen Auftrag"; es dürfte schon vorhomerisch mit der Hadesfahrt des Odysseus verbunden gewesen sein. 53 Man hat die beiden Flüsse dort mit den Namen der Unterweltflüsse, Acheron und Kokytos, benannt.54 Um 600 hat der Tyrann Periandros von Korinth im Orakel von Ephyra die Seele seiner verstorbenen Gemahlin beschworen. 55 Eine veritable Reise in die Unterwelt gehört zum Orakel des Trophonios in Lebadeia. Pausanias berichtet aus eigenem Erleben, doch gibt es weder Reste noch eine Lokalisierung der beschriebenen Anlage. 56 Der Orakelsuchende wird nach lan46
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Constantin Carapanos, Dodone et ses ruines, Paris 1878; Sotiris Dakaris, Das Taubenorakel von Dodona und das Totenorakel bei Ephyra, AK Beih. 1, 1963; Parke 1967, 1-163; Lhote 2006; Martina Dieterle, Dodona. Religionsgeschichtliche und historische Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung des' Zeus-Heiligtums, Hildesheim 2007; F. Quantin, Recherches sur l'histoire et l'archeologie du sanctuaire de Dodone. Les oikoi, Zeus Naios et les Naia, Kernos 21, 2008, 9-48. Noch immer nicht vollständig veröffentlicht sind die Bleitäfelchen, SIG' 1160-1166; Parke 1967, 259-273; Lhote 2006. 11. 16,235. Od. 14,327 f = 19,296 f. Hes. Fr. 240 (mit Textlücke); Soph. Trach. 172 (2 Tauben); Eur. Fr. 1010 (3 Tauben). Die Eiche mit 3 Tauben auf einer Münze: Peter R. Franke, AM 71, 1956, 60-65; ThesCRA III T. 5 nr. 273. Paus. 10,12,10; Strab. 7,7,12 p. 329; vgl. Hdt. 2,54 f. Aristeid. or. 2,43; vgl. Plat. Phdr. 244b; Eur. Fr. 368. Die Identifizierung von Dakaris (Anm. 46) mit einem Gebäude des 4. Jahrhundert, das seither touristisch als Nekromanteion erschlossen ist, ist unhaltbar, ThesCRA In 36. Über Odysseus und Thesproter Eduard Schwartz, Die Odyssee, München 1924, 140-143; 183-194. Paus. 1,17,4 f. (Theseus und Peirithoos); 5,14,2; 9,30,6 (Orpheus). Hdt. 5,92. - Weitere Totenorakel RE XVI 2232; GGR 170; das der "Kimmerier" bei Cumae, Ephoros FGrHist 70 F 134, glaubt R. F. Paget bei Baiae gefunden zu haben, In the Footsteps of Orpheus, 1967; Robert Temple, Netherworld. Discovering the Orade of the Dead and Ancient Techniques of Foretelling the Future, London 2002. Paus. 9,39; dazu LSCG 74, revidiert bei Franc;ois Salviat/Claude Vatin, Inscriptions de Grece cen-
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gen Vorbereitungen zur Nacht in einen gewölbten Raum geführt, von wo aus ihn ein Wirbelwind mirakulös durch eine kleine Öffnung über dem Boden entführt; wenn er wiederkehrt, hat er das Lachen verlernt - hiervon, auch von dem "Abstieg" (katabasis) ist schon in den alten Zeugnissen die Rede. 57 Schlichter sind Traumorakel; der Besucher verbringt nach vorbereitenden Opfern die Nacht im Heiligtum; Priester sind zur Stelle, um bei der Deutung der Träume zu helfen. 58 Diese "Inkubation" blüht dann vor allem im Bereich der Heilgötter auf, im Amphiaraion bei Oropos59 und in den Asklepieen. Sie führt aber auch ins Kleinasiatische zurück: Ein Traumorakel war das des Mopsos in Kilikien (Anm. 40) wie das der Telmesser in Karien (Anm. 43). Mopsos, Enkel des Teiresias und Konkurrent des Kalchas, galt auch als Gründer des Orakels von Klaros bei Kolophon. 60 Dieses blieb über manche Krisen und Zerstörungen hinweg bis in die Kaiserzeit bestehen, in der es seine eigentliche Blüte erlebte und Delphi überstrahlte. Im kaiserzeitlichen Bau führte ein gespalteter Gang unter dem Tempel zu einem Gewölbebau mit der heiligen Quelle, die der Mythos aus den Tränen der Teiresias-Tochter Manto entspringen ließ; aus ihr trank der thespiodos und wurde dadurch entheos. Wer zum Orakel "einsteigen" wollte, musste zuvor eine Weihe, myesis, durchmachen. 6I Eine heilige Quelle hatte auch das andere große Apollonorakel Kleinasiens, Didyma bei Milet. Hier war es eine Priesterin, die, den Lorbeerstab des Gottes haltend, die Füße mit dem Wasser der Quelle netzend und seinen Dunst einatmend, in Ekstase geriet. 62 Im lykischen Patara (Anm. 42) wurde die Priesterin nachts im Tempel eingeschlossen: So kamen über sie der Gott und die Weissagung.
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trale, Paris 1971,81-94; Gerhard Radke, RE VII A 682-691; L&S 154; R. J. Clark, TAPA 99, 1968, 63-67; Bonnechere 2003, zur Lokalisierung 17-26. Dikaiarchos Fr. 13-22 Wehrli; Semos FGrHist 396 F 10. Ludwig Deubner, De incubatione, Gießen 1900. Vasileios Chr. Petrakos, Ho Oropos kai ta hieran tou Amphiartiou, Athen 1968; IG VII 235 = SIG3 1004 = LSCG 69 = Petrakos nr. 39. Epigonoi Fr. 3 Bernabe, Fr. 3 Davies; Nostoi p. 94 Bernabe, p. 67 Davies; Melampodie, Hes. Fr. 278. Charles Picard, Ephese et Claros, Paris 1922; Louis Robert, Les fouilles de Claros, Limoges 1954; neuere Ausgrabungen: Türk Arkeoloji Dergisi 1956-9; ThesCRA III 33 f; Weihungen zweier Kuroi und einer Kore, I.H. 6. Jahrhundert: SEG 48 nr. 1406-1408; insgesamt sind die Ausgrabungen ganz unvollständig veröffentlicht. Die (kaiserzeitlichen) Orakeltexte: Reinhold Merkelbach, Philologica. 1997, 155-218. Tac. anno 2,54; Iambl. myst. 3,11 p. 123 f. Parhey. Kultpersonal: OGI 530; SEG 15, 713 f; myethentes enebtiteusan OGI 530, vgl. NT KoI.2,18; Samson Eitrem, Stud. theol. 2, 1950,90-95. - Bluttrunk im Orakel des ApolIon Deiradiotes, Argos Paus. 2,24,1. Iambl. myst. 3,11, p. 123,15; 127,3 Parthey. Zur Baugeschichte Gruben 1966,339-354; B. Fehr, Zur Geschichte des Apollonheiligturns von Didyma, Marburger Winckelmannsprogr. 1971/2, 14-59; Walter Voigtländer, Quellhaus und Naiskos im Didymaion nach den Perserkriegen, Ist. Mitt. 22, 1972,93-11; Fontenrose 1988.
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Von keinem Orakel ist so viel bekannt, ist freilich auch so viel umstritten wie von Pytho, dem Heiligtum der Delpher.63 Ursprünglich, heißt es, sprach hier der Gott nur einmal im Jahr, am Fest seines Einzugs im Frühlingj64 der Ruhm des Orakels hat es aber dahin gebracht, dass neun Monate lang im Jahr "Handreichungen" zu geben warenj zeitweise amteten drei Pythien nebeneinander. Die Pythia ist eine lebenslänglich im Dienst des Gottes stehende Frau, als Mädchen gekleidet. 65 Sie betritt nach einem Bad in der Kastalischen Quelle und nach dem Voropfer einer Ziege den Tempel, räuchert mit Gerstenmehl und Lorbeerblättern auf der immer brennenden hestia und "steigt" dann "hinab" ins Adyton, das tiefergelegene Ende des Tempelraums. Hier steht der Omphalos, hier ist, über einer runden, brunnenartigen Öffnung im Boden, der Dreifußkessel aufgestellt, mit einem Deckel verschlossen, auf dem die Pythia Platz nimmt. Über dem Abgrund sitzend, vom aufsteigenden Dunst umhüllt, einen frisch geschnittenen Lorbeerzweig schüttelnd, verfällt sie in Trance. Die hellenistische Theorie, dass ein Dampf (pneuma) aus der Erde aufstieg,66 ist haltlos, auch wenn sie gelegentlich wieder aufgegriffen wird. Mediale Fähigkeiten sind nicht ganz selten, entsprechende Arten von Weissagung weltweit bezeugt. Freilich hielt man es auch für möglich, die Pythia zu bestechen. Die Äußerungen der Pythia werden von den Priestern dann in der gemeingriechischen literarischen Form, im homerischen Hexameter, fixiert. Das Apollon-Temenos in Delphi ist offenbar nicht vor 750 angelegt wordenj67 doch schon die Ilias spricht von den reichen Schätzen, die die Schwelle des Gottes berge. 68 Deutlich ist, dass bei der Anlage der griechischen Kolonien im Westen wie am Schwarzen Meer seit Mitte des 8. Jahrhunderts die Weisungen des Delphischen
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Verwiesen sei auf Amandry 1950 und Journal des Savants 1997, 195-209; Marie Delcourt, L'orade de Delphes, Paris 1955; Parke/WormellI956; Roux 1971; Bowden 2005; Michael Maass, Das antike Delphi, Darmstadt 2007; Emilio Suarez de la Torre, Kernos Suppl. 8, 1998,61-90 und ThesCRA III 16-31; vgl. auch Cook 1925, II 169-267; HN 133-147. Die wichtigsten literarischen Zeugnisse stammen von Plutarch, der Delphischer Priester war. Plut. qu.Gr. 292D; Kallisthenes FGrHist 124 F 49. Diod. 16,26. Zum Ritual Parke/WormellI956, 117-41; HN 139-142; Roux 1971, 88-150; zum Tempelraum Pierre Amandry, Recherches sur Ia cella du temple de Delphes, in: Jean-Georges Heintz, Orades et propheties dans l'antiquite, Paris 1997, 271-282. Die Ekstase der Pythia ist durch Plat. Phdr. 244a bezeugt; auf den Dichter übertragen von Platon Leg. 719c: "wenn er sich auf den Dreifuß der Musen setzt, ist er nicht mehr bei Sinnen, wie eine Quelle lässt er das, was ihm so kommt, frei fließen .. ."; später Plutarch, vor allem Def.Or. 438AB; vgl. auch Lucan 5,120-224. Dabei ist zu bedenken, dass das Verhalten der Pythia weder dem der Kassandra bei Aischylos (Ag. 1072-1284) noch dem der Sibylle bei Vergil (Aen. 6,46-102) entsprochen haben muss. Philologen zeigen sich oft aufgeklärt und verständnislos, vgl. Fontenrose 1978, 204-212. Erzählung von der Entdeckung des Orakels, Diod. 16,26; Schol. Eur. OI. 165; sie dürfte damit zusammenhängen, das man beim Neubau des erdbebenzerstärten Tempels im 4. Jahrhundert genau den gleichen Platz beibehielt. Solange waren dort noch Wohnhäuser: Luden Lerat, BCH 74, 1950, 322; 328; Amandry 1950, 209. Siehe Claude Rolley in: Hägg 1983, 110. 11. 9,404.
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II
RITUAL UND HEILIGTUM
Gottes eine fühTende Rolle übernehmen. 69 Auch hier geht es weniger um Voraussage als um Entscheidungshilfe in den riskanten, nicht selten auch scheiternden Unternehmungen. Dann werden auch wichtige Staatsverfassungen dem Gott von Delphi zur Billigung unterbreitet; so die spartanische Rhetra, die dem Lykurgos zugeschrieben wurde, aber auch noch die ganz rationale Phylenverfassung des Kleisthenes von Athen im Jahr 510.70 Eigentliche Domäne Apollons sind kultische Fragen, Neuerungen, Restaurierung, Reinigung im kultischen Bereich. Von Delphi ratifiziert ist das Sakralgesetz von Kyrene wie das Aparche-Dekret von Athen. 71 Dass Delphi in den Perserkriegen den Sieg der Griechen offenbar nicht voraussah, sondern überdeutlich zur Unterwerfung gemahnt hatte, hat den Umdeutungsversuchen zum Trotz seine Stellung dann schwer erschüttert. Politik fand künftig mehr und mehr ohne Orakel statt.n Dafür erfahren wir von privaten Anfragen, wie der des Chairephon, ob irgend jemand weiser sei als SokratesY Xenophon fragte, ehe er sich der abenteuerlichen Revolte des Kyros gegen den Großkönig anschloss, in Delphi an, nicht etwa, ob er sich beteiligen solle, sondern "welchen Göttern er opfern solle, um wohlbehalten zu bleiben";74 der Antwort gehorsam opferte er dem "Zeus Basileus", und es geriet ihm wenn nicht zu großem Erfolg, so doch zur Rettung. Es gab auch ein Losorakel in Delphi;75 die Formel lIder Gott nahm auf" (aneile) für das Erteilen des Orakels erinnert daran. Die Inspirationsmantik ist dann sekundär; man vermutet nichtgriechische Herkunft. In der Branchos-Überlieferung von Didyma,76 auch in Klaros, kann Vorgriechisches enthalten sein. Auch Mopsuestia, Daphne, Patara, Telmessos sind nichtgriechisch, haben indessen gerade keine Inspirationsmantik. "Rasende" Frauen, aus denen der Gott spricht, sind aber im Orient weit früher nachgewiesen, in Mari im 2. Jahrtausend, in Assyrien im 1. Jahrtausend77 Dazu kommt die Überlieferung über die "Sibyllen", einzelne weissagende Frauen der Frühzeit, die freilich nur durch die Legende zu fassen sind. Heraklit setzt als bekannt voraus, dass die Sibylle lImit rasendem Mund CI, "kraft des Gottes", "über tausend Jahre
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Opfer der sizilischen Griechen an ApolIon Archegetes, Thuk. 6,3. Rhetta: Plut. Lyk. 6 = Arist. Fr. 536 und Tyrtaios Fr. 4 West; Pavel OHva, Sparta and her Sodal Problems, Prag 1971,71-98; Parke/WormellI956, Il fiT. 21.- Athen: Arist. Ath.Pol. 21,6; Parke/Worme1l1956, 11 fiT. 80. -+ Il9 Anm. 8; Il2 Anm. 14. Vg!. Gerhard Zeilhofer, Sparta, Delphoi und die Amphiktyonen im 5. Jahrhundert v. Chr., Diss. Erlangen 1959. Plat. Apo!. 20e-21a; Xen. ApoL 14; Parke/WormellI956, U fiT. 134. Xen. Anab. 3,1,6 vgl. 6,1,22; Parke/WormellI956, 1I fiT. 172. phrykt6 LSS 41,15; Amandry hat deswegen die Inspirationsmantik für Delphi überhaupt bestreiten wollen; dagegen GGR 172 f; R. Flaceliere REA 52, 1950, 306-324. Didyma ist vor-ionisch nach Paus. 7,2,4; eine unverständliche Kultformel Kallim. Fr. 194,28, vgl. Fr. 229; Clem. Strom. 5,48,4 ("Unsinnschor" nach P. Haas, Die Phrygischen Sprachdenkmäler, Sofia 1966, 135 f; 159 O. Friedrich Ellermeier, Prophetie in Mari und Israel, Herzberg 1968,60 f; ANET 449 f; durch "Geist Gottes" rasende Propheten auch AT I Sam. 10,10-13.
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8 Ekstase und Mantik
hin reiche"/8 Die bekannteste Sibylle war mit Erythrai verbunden, doch auch nach Delphi soll eine Sibylle gelangt sein; bemerkenswert ist, dass auch eine babylonische Sibylle genannt wird. 79 Am wichtigsten wurde die Sibylle von Kyme-Cumae durch die Wirkung auf Rom; die Eroberung von Kyme durch die Osker im 5. Jahrhundert hat freilich diese Überlieferung zerstört, liefert aber zugleich einen terminus ante quem.80
Die Delphische Sibylle hat sich auch als "eheliches Weib" des Gottes Apollon bezeichnet.81 Aischylos hat 458 Kassandra als rasende Prophetin auf die Bühne gebracht; sie hat sich dem Begehren des Gottes versagt, zur Strafe finden ihre Prophezeiungen keinen Glauben mehr. 82 Wie die Sibylle Gewalt vom Gott leidet, deutet auch Vergil an. 83 Christen haben das Verhältnis der Pythia zu Apollon mit sexuellen Details ausgemalt. 84 Solche Verbindung der Priesterin mit ihrem Gott scheint in Patara und sonst in Kleinasien Analoga zu haben,85 aber offenbar nicht in der semitischen Inspirationsmantik (Anm. 76); in Klaros (Anm. 61) und am Ptoion86 wird ein männlicher Seher vom Gott ergriffen. Auch die Inspirationsmantik ist vielschichtiger, als dass Herkunft und Stationen der Ausbreitung sich eindeutig bestimmen ließen. Orakelsprüche festzuhalten, war wohl eine der frühesten Anwendungen der Schrift in Griechenland, die sich im 8. Jahrhundert zu verbreiten begann. Der Spruch löst sich damit aus dem Kontext von Frage und Antwort, aus dem Vollzug des Rituals, und kann an einem anderen Ort, zu anderer Zeit Aktualität gewinnen. Alter gibt Würde; so können in schriftlicher Form gerade "alte" Sprüche sich ansammeln, die dann zur Verfügung stehen. 87 Dass mit der Aufzeichnung auch schon die Fälschung
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Heraklit B 92 ~ 75 Marcovich. Erythrai: Apollodoros FGrHist 422; IE 224-228; Babyion: Berossos FGrHist 680 F 7; Mehrzahl: Herakleides Fr. 130 Wehrli; Paus. 10,12; Varro bei Lact. Inst. 1,6,7-12; Rzach RE II A 2073-2183; Henri Jeanmaire, La Sibylle et le retour de l'äge d'or, Paris 1939; Parke 1988; Chirassi Colombo/ Seppilli 1998; ThesCRA III 16. Alter und Herkunft der libri Sibyllini in Rom ist sehr umstritten; Rzach RE II A 2103-2183; Wilhelm Hoffmann, Wandel und Herkunft der Sibyllinischen Bücher in Rom, Diss. Leipzig 1933; Parke 1988; Chirassi Colombo/Seppilli 1998; Mariangela Monaca, La Sibilla aRoma. I libri Sibillini fra religione e politica, Cosenza 2005; ThesCRA III 40 f. Paus. 10,12,2. Aisch. Ag. 1202-1212. Verg. Aen. 6,77-80. Orig. Cels. 7,3; loh. Chrysostomos PG 61,242; HN 143. Andeutungen: Plut. Pyth. or. 405 c (synesti); Longin. subl. 13,2 ("schwanger vom pneuma"). Vgl. auch Fehrle 1910, 7 f; 75 f; Giulia Sissa, Greek Virginity, Cambridge 1990, 9-52. Patara: Hdt.1,182. -+ Anm,42. Kaiserzeitliche Inschriften von Tralleis nennen pallakides, "Nebenfrauen" des Gottes, als offenbar angesehenes Priesteramt: Louis Robert, Etudes Anatoliennes, Paris 1937,406 f; Latte, HThR 33, 1940,9-18; Budin 2008, 193-196. Hdt. 8,135. --+ Anm. 8. Latte RE XVIII 1, 850-852.
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II
RITUAL UND HEILIGTUM
einsetzt, versteht sich. Eine führende Rolle unter den schriftlichen Orakeln haben vermutlich Sibyllenorakel gespielt, die "tausend Jahre" überdauern; dann tauchten, wohl um 600, Orakel des Epimenides von Kreta auf, sodann, ihn übertrumpfend, Orakel des alten Sängers Orpheus und seines Schülers Musaios. BB Zur Zeit der Perserkriege und noch danach werden die Orakel des Bakis wichtig, B9 der sich darauf berief, den Nymphen seine Inspiration zu verdanken; Bakis scheint ein kleinasiatischer, lydischer Name zu sein. Seine Orakel haben die allgemeine Form der bedingten Voraussage: "aber wenn ...", ein besonderes Ereignis wird in kühnen, oft dem Tierbereich entnommenen Metaphern angedeutet, dem etwas Schreckliches, selten etwas Erfreuliches folgen wird; rituelle Ratschläge schließen sich an. Städte begannen, offizielle Sammlungen von Orakeln anzulegen. Am dauerhaftesten war die Wirkung der - griechisch verfassten - libri Sibyllini in Rom (Anm. 80). In Athen war um 520 Onomakritos beauftragt, die Orakel des Musaios zu sammeln; der Dichter Lasos wies ihm eine Fälschung nach, Onomakritos musste Athen verlassen.90 Während Herodot die Autorität des Bakis energisch verteidigt,91 lässt die aristophanische Komödie mehr als zweifelhafte Gestalten mit ihren Orakelbüchern bettelnd auftreten; und bei Platon kommt zum Spott das moralische Verdammungsurteil gegen den Missbrauch des Rituals dazu. Auch die Orakelsammlungen sind nicht zu Heiligen Schriften geworden; die erhaltene Sammlung der Sibyllinischen Orakel ist erst jüdisch-christlichen Ursprungs. Onomakritos wurde vielmehr zum exemplarischen Namen für die Probleme von Redaktion und Fälschung literarischer Texte.
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Epimenides FOrHist 458; Bernabe OTF 1II 105-168; L&S 150 f. -+ 1I 4 Anm. 18. Musaios: Hdt. 7,6; Philochoros FOrHist 328 F 77; OTF III 1-53.0rpheus: OF 332 f; OTF 804-81l. RE 1I 2801 f; 1. Trencsenyi-Waldapfel, Untersuchungen zur Religionsgeschichte, 1966, 232-250; ThesCRA III 40. Hauptquellen: Herodot und Aristophanes. Hdt. 7,6. Ouerrino F. Brussich, Laso di Ermione, Testimonianze e frammenti, Pisa 2000, test.2. Hdt. 8,77; Aristoph. Av. 959-991; Plat. Resp. 364b-e.
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9 Magie
9 Magie Unter dem Gesichtspunkt des Zwecks betrachtet erscheint rituelles Verhalten als Magie:! "Magisch" sind Handlungen, die auf undurchschaubarem Weg ein bestimmtes Ziel bewirken sollen. Als Zweck mag der Gewinn aller wünschenswerten Güter erscheinen, nebst Beseitigung möglicher Hemmnisse: So gibt es Regenzauber, Fruchtbarkeitszauber, Liebeszauber, aber auch Schadenzauber; die Furcht vor diesem ruft Gegenzauber auf den Plan. Die Auffassung des Rituals als einer Art Sprache führt auf eine erweiterte Perspektive; nur insoweit Ritual bewusst und einseitig in den Dienst eines bestimmten Zwecks gestellt wird - der dann durchaus auf die Form des Rituals zurückwirken kann -, liegt Magie vor. Religiöses Ritual ist als kollektive Institution vorgegeben; bewusste Magie ist Sache von einzelnen, wenigen; sie kann sich steigern zu hochkomplizierter Pseudowissenschaft. Der Schutz vor Magie ist Sache der öffentlichen Ordnung. Die internationale Bezeichnung als "Magie" der "Magier" ist durch Zufall entstanden, indem im Griechischen der Name einer Gruppe iranischer Priester verallgemeinert wurde, und zwar schon im 5. Jahrhundert v. Chr. 2 Kompliziert und schwierig dagegen ist, eine allgemeinere Definition des Phänomens und insbesondere eine Abgrenzung oder Eingrenzung von Magie und Religion zu gewinnen. Eine Religionswissenschaft, die nur zweckhaftes Handeln für sinnvoll hält, muss in der Magie den Ursprung der Religion sehen. Dies war ein Grundgedanke von Frazer. 3 Neuerdings sieht man kompliziertere Beziehungen. 1m Griechischen tritt Magie in der alten Zeit zurück, insofern in die Öffentlichkeit der Götterkult gehört. Schutz vor Magie allerdings ist relativ früh schon Sache der staatlichen Gesetzgebung.4 Das Corpus der erhaltenen "Zauberpapyri " ist im
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Auf die antike Magie und insbesondere die ,Zauberpapyri" wurde durch Usener und Dieterieh die Aufmerksamk€it gelenkt; Textsammlung: PGM; Reinhold Merkelbach, Abrasax I-V, Opladen 1990-2001. Das Interesse ist in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen: Faraone/Obbink 1991; Hugh Parry, Thelxis. Magie and imagination in Greek myth and poetry, Lanham 1992; Graf 1994/1996; Mirecki/Meyer 1995; David R. Jordan (Hrsg.), The World of Ancient Magie, Leiden 1999; Matthew W. Diekie, Magie and Magicians in the Greco-Roman World, London 2001; Mirecki/Meyer 2001; Daniel Ogden, Magie, witchcraft and ghosts in Greek and Roman Worlds. A Sourcebook, Oxford 2002; Marcello Carastro, La eite des mages. Penser la magie en Grece aneienne, Grenoble 2006. Faraone/Obbink 1991; Mirecki/Meyer 1995; Graf 1996; Robert L. Fowler, Greek Magie, Greek Religion, in: Buxton 2000, 314-344; Matthew W. Diekie, Magie and Magicians in the GrecoRoman World, London 2001; Daniel Ogden, Magie, witchcraft and ghosts in Greek and Roman Worlds. A sourcebook, Oxford 2002; Burkert 2003a, 115-118. ...... Einleitung 1 Anm. 15; in diesem Sinn Pfister 1922, 2107 f; vgl. Ludwig Deubner, Magie und Religion, Freiburg 1922; Protest bei Otto 1933, 11-45; vgl. Mary Douglas, Purity and Danger, London 1966, 18-28; Bibliographie bei Heiler 1961, 26; Hans G. Kippenberg, Magie. Die sozialwissenschaftliehe Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt a.M. 1978; Hans G. Kippenberg/Peter Schäfer (Hrsg.)., Envisioning Magie, Leiden 1997. Teos SIG' 37; Kyrene -+ Anm. 8.
185
II
RITUAL UND HEILIGTUM
wesentlichen spätantikj maßgebende Einflüsse sind das Ägyptische und das Jüdische. Ein altorientalischer Hintergrund allerdings erscheint im Namen der sumerischen Unterweltgöttin Ereshkiga1. 5 So sind denn mehr und mehr Zeugnisse beachtet und auch neu gefunden worden, die vor und außerhalb alles "Spätantiken" das Wirken von Magie im altgriechischen Bereich bezeugen. Allgemein besteht die Furcht vor Schadenzauber, und es gibt Spezialwissen und Mittel zum Gegenzauber. Im Demeterhymnus versichert die göttliche Amme, dem von ihr betreuten Kind werde keine "herankommende" Heimsuchung (epelysie) schaden noch einer, der insgeheim Kräuter "schneidet" (hypotamnon)j sie kenne die Abwehr der Heimsuchung und "gegengeschnittenes" Zauberkraut. 6 Der Hermeshymnos spricht davon, das eine lebende Schildkröte "leidvoller Heimsuchung (epelysie) Einhalt" sei, ein Wetterzauber gegen Hagel, wie es ein viel späterer Text beschreibt.7 Vom Leiden der Phaidra, in Euripides" Hippolytos, vermutet die Amme, dies könnte ein von einem Feind "herbeigebrachtes (epakton) Leiden" sein. Von einer Art Dämonen, die so über einen "herbeigebracht" werden können, scheint ein Sakralgesetz aus Kyrene zu handeln. B Der Dämon heißt hier hikesios, wie anderwärts prostropaiosj9 zur Abwehr stellt man Bilder her, die erst bewirtet und dann in der Wildnis entsorgt werden. Was wir "magisches" Handeln nennen, ist hier öffentlich geregelt. Die andere Seite solcher Praxis erscheint in den "Fluchtäfelchen", katadesmoi, defixiones, meist Bleitäfelchen, die man in Gräber versenkt hat. Sie tauchen seit dem 6. Jahrhundert v. ehr. auf und reichen weit in die Spätantikej insgesamt hat man bisher mehr als 1500 Exemplare gefunden. Wichtige Beispiele stammen aus dem Kerameikos, dem Staatsfriedhof von Athen. Man überantwortet im Text meist namentlich Genannte den Göttern der Unterwelt. IO Sie können begleitet sein von "Voodoo-Puppen", Figürchen mit Nadeln oder Verstümmelungen. Drei Anlässe für solchen Schadenzauber stehen im Vordergrund: Prozesse, bei denen der Gegenpartei die Macht,
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Siehe PGM; Hans D. Betz (Hrsg.), The Greek Magical Papyri, Chicago 21992. Bemerkenswert auch Semesilam als vox magica, offenbar semitisch »Sonne der Ewigkeit", bereits in Ebla im 3. Jahrtausend belegt. Zur Magie im Keiischrift..Bereich Tzvi. Abusch, Mesopotamian Witchcraft, Leiden 2001. Hymn. Dem. 228-230; zum Text Richardson 1974. -+ III 1.9. Hymn. Herrn. 37; Geoponika 1,14,8 (man legt die Schildkröte auf den Rücken, sie zappelt sich zu Tode). Eur. Hipp. 318. - LSS 115; dazu Parker 1983, 332-351; Burkert 1992, 68-73. Ein reiches Vokabular von Unheilsgeistern findet sich bei Aischlylos, freilich jeweils der dramatischen Funktion angepasst, vgl. Franziska Geisser, Götter, Geister und Dämonen. Unheilsmächte bei Aischylos, München 2002. Von epagogai und katddesmoi spricht Platon Resp. 364c. Ältere Sammlungen: Richard Wünsch, 1G 1II 3 Appendix, 1897; -, Antike Fluchtafeln, Bonn 1912 (Kleine Texte); Auguste Audollent, Defixionum Tabellae, Paris 1904; viele Neufunde, z.B. aus dem Malophoros-Heiligtum von Selinus, 1. H. 5. Jahrhundert: SEG 16, 1959, 573; William M. Calder, Philologus 107, 1963, 163-172; aus dem Kerameikos, 5./4. Jahrhundert: Werner Peek, Attische Grabinschriften II, Abh. Berlin 1956,3, 59-61; mit Zauberpuppe: Jürgen Trumpf, AM 73, 1958, 94-102. Vgl. GGR 800-804; John G. Gager, Curse Tablets and Binding Speils from the Ancient World, New York 1999.
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9 Magie
besonders die Macht der Rede genommen sein soll; der Sport, wo den Konkurrenten ein Handikap angehext wird; dann Erotik beiderlei GeschlechtsY Nur versteckt genannt, aber angeblich wirkungsmächtig sind die "Ephesischen Buchstaben" (Ephesia grammata) - Geheimworte, die möglicherweise mit dem Tempel von Ephesos zu tun haben; der Text ist Aisia damnameneus tetrax lix aski kataski, ein unverständlicher Hexameter - steckt Nichtgriechisches darin?12 Es gibt einen längeren Text in homerischen Hexametern, von dem etliche Exemplare auf Metallblättchen gefunden wurden, und zwar vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr., also über 600 Jahre hinwegY Die Einleitung verspricht Abwehr von jeglichem Unheil dem, der den Text "in Zinn geprägt" im Haus aufhängt; ihn habe der Heilgott Paieon14 für die Menschen gestiftet. Die eigentliche Beschwörung fängt dann mit "Ephesischen Buchstaben" an, die sich unversehens in verständliches Griechisch verwandeln: aski kata skieron oreon ... ,-:Von den schattigen Bergen, im dunkel leuchtenden Ort, aus dem Garten der Persephone führt mit Zwang zum Melken ein Knabe die vierfüßige Gefährtin der Demeter herbei, eine Ziege, mit unermüdlichem fließendem Nass üppiger Milch; es folgt die Göttin, strahlende Fackeln entzündend, Hekate, die Göttin der Wege (enodia), mit schauerlicher Stimme, barbarische Laute tönend, als Göttin führt sie den Gott. Auf eigenen Befehl bin ich gekommen durch die tiefe Nacht, aus dem Haus hervortretend, ich spreche alles göttlich formuliert, Unsterbliches für die Sterblichen ..." Eine eigenwillige, Phantasie-anregende Mythologie scheint hier vorausgesetzt, Garten der Götter, fließende Ziegenmilch, die Zaubergöttin Hekate.15 Eine Ziege hat den neugeborenen Gott Zeus in Kreta gesäugt; drei der älteren Exemplare des Textes stammen aus Kreta: Haben wir es mit kretischer Magie im Gefolge des Epimenides zu tun? Wer der Gott ist, der der Fackel schwingenden Hekate folgt, bleibt dunkel. Die Fortsetzung wird in allen Exemplaren unverständlich. Eindruckvoll ist doch, wie diese seltsame Beschwörung über viele Jahrhunderte hinweg verwendet worden ist, in Kreta und anderswo. Es gab altgriechische Magie, längst vor den ägyptischen und hebräischen Konfigurationen.
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Arist. hist.an. 605a6 nennt eine Substanz hippomanes, von der »Frauen und Beschwörer" Wunderdinge fabeln. Literarische Ausgestaltung: Theokrit 2, Pharmakeutria; das dort verwendete Zauberrad, iynx, mit einem toten Vogel, ist archäologisch viel früher dokumentiert. Ausführlichste spätere Beschreibung eines realen Versuchs erotischer Magie: Epiphanios Panar. 30, 8, 5-9. Alberto Bernabe, Las Ephesia Grammata. Genesis de una f6rmula mägica, MHNH 3, 2002, 5-28; Helck 1979, 153 f übersetzt sie als hethitisch, mit gravierenden Texteingriffen. Eine vorläufige Zusammenstellung bei Bernabe, OTF 830F, mit ausführlichen Literaturangaben und Kommentar; Bernabe nennt 5 Bleitäfelchen, das älteste (VII) 5. Jahrhundert (Hirnera), drei aus dem 4. Jahrhundert: V (Selinus? Getty Museum, unediert), IV (Phalasarna, seit langem bekannt: IC II,19, 7; Jordan ZPE 94, 1992, 191-194) und VI (Lokroi); kaiserzeitlich ist II. Die obige Darstellung benützt eine von David Jordan (1988) hergestellte Kopie des Getty-Textes. --+ III 1 Anm. 222. --+ III 2 Anm. 14-19.
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III DIE
GESTALTETEN GÖTTER
Dichtung und Bildkunst im Banne Homers Auch wenn man religiöse Rituale als eine Art eigenständiger, für sich verständlicher Sprache beschreiben kann, sind sie doch de facto stets mit Sprache im eigentlichen Sinn verbunden. Menschliches Sprechen ist dabei einerseits in die Rituale integriert, indem ein Gegenüber angerufen wird, andererseits wird auch außerhalb des Ritualvollzugs über dieses Gegenüber und damit über Gehalt und Sinn der Religion selbst erklärend, fragend oder auch unterhaltend gesprochen. Für die alten Hochkulturen gilt dabei als ausgemacht, dass dieses Gegenüber aus einer Vielzahl personenhafter Wesen besteht, die in Analogie zum Menschen verstanden und in Menschengestalt vorgestellt werden; der Begriff der "Götter", also Polytheismus und Anthropomorphismus, sind überall selbstverständlich vorgegeben.! Die Besonderheit des Griechischen in diesem Rahmen ist zunächst negativ zu fassen: Es gibt keinen Priesterstand mit fester Tradition, keinen Veda und keine Pyramidentexte; es gibt auch keinen allgemein anerkannten Prophetenstand. Ebenso wenig gibt es die verbindliche Offenbarung in Gestalt eines heiligen Buchs. Die Welt der Schrift bleibt lange ausgeklammert; noch das klassische Drama vollzieht sich zunächst in der einmaligen Aufführung; die platonische Philosophie gibt sich zumindest fiktiv als lebendiges Gespräch. Die Individualität eines Gottes, durch die sich er von anderen unterscheidet, wird durch mindestens viererlei konstituiert und vermittelt: durch den nach Ort und Zeit fixierten Kult mit seinem Ritualprogramm und der darüber liegenden Stimmung; durch den Namen; durch die über den so Benannten erzählten Mythen; durch die Ikonographie, insbesondere das Kultbild. Dieser Komplex indessen ist keineswegs unauflöslich, es gibt Einflüsse und Austausch hin und her. Dies macht es prinzipiell unmöglich, "die" Geschichte eines bestimmten Gottes zu schreiben. Eine polytheistische Götterwelt ist nicht nur für den Außenstehenden potentiell chaotisch. Zwar kann der Mythos Bezug nehmen auf das Ritual, der Name kann durchsichtig und lichtvoll sein, die Bilder weisen mit ihren Attributen auf Kult und Mythos hin; doch schon weil Name und Mythos weit leichter über Raum und Zeit hinweg vermittelt werden als das dem Hier und Jetzt verhaftete Ritual und weil gar die Bilder auch alle Sprachbarrieren überspringen, lösen sich die Elemente immer wieder voneinander, um sich neu zusammenzufinden. Im Griechischen erscheinen ähnliche Kulte unter verschiedenen Götternamen: Feuerfeste2 "gehören" der Artemis, der Demeter, dem Herakles oder gar der lsis, Rinderopfer mit der charakteristischen Flucht des Axtträgers gibt es für Zeus wie für
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Zum Polytheismus allgemein II I Anm. 68-74.
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IIl4 und V 1; zur Tiergestalt von Göttern ~ II 1 Anm. 84-89.
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III
DIE GESTALTETEN GÖTTER
Dionysos,3 Tempeldienst geweihter Jungfrauen für Artemis, Athena, Aphrodite,4 ein Peplos kann für Athena wie für Hera gewebt werden. 5 Man mag sich vorstellen, dass eine alte Große Göttin zum al als Herrin der Tiere bei den Griechen in wechselnder Weise individualisiert ist, als Hera, als Artemis, als Aphrodite, als Demeter, als Athena. Der Umhang mit den Zeichen der Fülle 6 kann Hera, Demeter, Artemis, Aphrodite, ja den kleinasiatischen Zeus von Labraunda kleiden. Götternamen erscheinen im Kult sogar auswechselbar: Der Tyrann Kleisthenes von Sikyon schaffte den Adrastos-Kult ab und gab die "tragischen Chöre" als das ihm Zukommende dem Dionysos.7 Hinter dem Isisfest von TithoreaB steht sicher ein altes einheimisches Feuerfest. Umgekehrt kann derselbe Name sehr verschiedene Kulte decken: "Zeus" heißt der Wettergott vom Lykaion wie der Herr der Buphonia in Athen, aber auch der Philios der freundschaftlichen Mahle9 und der unterirdische Meilichios, den man als Schlange darstellen kann. 1O Die Beinamen scheinen die Grenzen einer göttlichen Individualität zu sprengen. Die Große Göttin von Ephesos, die grausame Laphria in Patrai und die Göttin, für die die Mädchen in Brauron tanzen, sind offenbar verschieden und heißen dennoch Artemis. Verschiedene Namen können zusammenfallen, wie Apollon und Paiaon, Ares und Enyalios, sie können bewusst gleichgesetzt werden wie Apollon und Helios; nicht selten ordnet sich so ein lokaler Name dem gemeingriechischen bei, Poseidon Erechtheus, Athena Alea, Artemis Ortheia. Auch die Mythen sind Leerformen, die mit verschiedenen Namen ausgefüllt werden können: Kureten oder Korybanten umtanzen das Zeus- wie das Dionysoskind;l1 die dramatische Rettung des Ungeborenen aus der verbrennenden Mutter erzählt man von Asklepios ähnlich wie von DionysosY Umgekehrt können sich an dieselben Götternamen durchaus verschiedene Mythen knüpfen; am auffallendsten war die doppelte Abstammung der Aphrodite, von Uranos oder von Zeus und Dione,13 und die des Dionysos, von Semele oder von Persephone14 - später verfielen die antiken Philologen darauf, durchnummerierte Homonyme anzusetzen, drei mal Zeus, vier mal Hephaistos, fünf mal Dionysos, Aphrodite, AthenaY Es bedarf einer Autorität, im Wirrwarr solcher Traditionen Ordnung zu schaffen. Für die Griechen heißt diese Autorität Hesiod und, vor allem und in erster Linie, 3 4 5 6 7 8 9 10
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HN 156 f. ---<> V 2 Anm. 41. ---<> 11 6 Anm. 35-40. ---<> V 2 Anm. 48; III 2 Anm. 82; Kallim. Fr. 66. Zuntz 1971, l39-141; Fleischer 1973, 74-88; S&H l30-l32. Hdt.5,67. Paus. 10,32,14; GF 154 f. ~ 111 Anm. 68-73. ---<> 11 7 Anm. 83. ---<> IV 3 Anm. 24. ~ 1113.2. ~ IV 5 Anm. 74; 1111 Anm. 418. ---<> III 2 Anm. 314. ---<> 1111 Anm. 418; VI2 Anm. 69. Cie. nato deor. 3,53-60; Clem. Protr. 2,28.
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14 Anm. 57; 116 Anm. 22.
Dichtung und Bildkunst im Banne Homers
Homer. Die Dichtung war es, die, noch aus dem Bereich der Mündlichkeit kommend, Freiheit und Form, Spontaneität und Gestalt in glücklicher Weise vereinend, die geistige Einheit der Griechen geschaffen und erhalten hat. Grieche sein hieß gebildet sein; Grundlage aller Bildung aber war "Homer". Für die heutige Wissenschaft ist "Homer" als Individuum nicht fassbar. Festzustellen bleibt der durchschlagende Erfolg des alten Epos. Dieses erwächst auf der Grundlage des Mythos, ist aber nicht mit diesem identisch. Wenn Mythos16 ein Komplex von Erzählungen ist, in dem menschlich einleuchtende Schemata in phantastischen Kombinationen zu einem vielschichtigen Zeichensystem zusammentreffen, das in wechselnder Weise zur Erhellung der Wirklichkeit angewandt wird, so ist das griechische Epos weniger und mehr zugleich: Es konzentriert seinen Stoff auf das "Heroische", auf Kämpfe von Helden der Vorzeit in einer einigermaßen realistisch aufgefassten Welt,17 es gestaltet indessen diese Erzählungen mit einer in Stil, Versform und Komposition gleich raffinierten Technik zu höchster formaler Vollendung, in einer alsbald allen Griechen verständlichen Kunstsprache. Erhalten sind die beiden Großepen Ilias und Odyssee;18 beide Epen sind bewusst gestaltete Ausschnitte aus einem weit umfassenderen Themenkreis um den Troianischen Krieg, der später in schriftlicher Form als der "Troische Kyklos" vorlag. Wir wissen von einem weiteren "Kreis" des frühen Epos, der dem Schicksal der ÖdipusSöhne und der Belagerung Thebens galt;19 Argonauten-Epik und Herakles-Epik sind daneben in Spuren und Nachwirkungen zu fassen. Aus dem Stil von Ilias und Odyssee lässt sich zwingend erweisen, dass den erhaltenen schriftlichen Texten eine Phase mündlicher Dichtung vorausging, mit Generationen von professionellen Sängern, die ihre Themen improvisierend immer wieder umgestalteten. 2o Dass die Wurzeln des Epos bis in die mykenische Zeit zurück16 17 18
19
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---... Einleitung 3 Anm. 5. Hector M. Chadwick, The Heroic Age, Cambridge 1912; Cecil M. Bowra, Heroic Poetry, London 1952 (Heldendichtung, Stuttgart 1964). Zur unübersehbaren Literatur um "Homer" sei verwiesen auf Alan J. B. Wace/Frank H. Stubbings, A Companion to Homer, London 1962; Geoffrey S Kirk, The Songs of Homer, Cambridge 1962; Lesky 1971, 29-112 und RE Supp!. XI 687-846; Alfred Heubeck, Die Homerische Frage, Darmstadt 1974; Joachim Latacz (Hrsg.), Zweihundert Jahre Homer-Forschung, Stuttgart 1991; Jan P. Crielaard (Hrsg.), Homeric Questions, Amsterdam 1995; 0ivind Andersen/Matthew Dickie (Hrsg.), Homer's World. Fiction, Tradition, Reality, Bergen 1995; Morris/PowellI997; Joachim Latacz, Hg., Homers Ilias. Gesamtausgabe. Berlin 2000 ff. Die Zeugnisse bei Thomas W. Allen, Homeri opera V, Oxford 1912, 93-151; Erich Bethe, Homer II 2, Leipzig 21929, 149-204 ~ Der Troische Epenkreis, Darmstadt 1966; Malcolm Davies, Epicorum Graecorum Fragmenta, Göttingen 1988; Alberto Bernabe, Poetae Epici Graeci I, Leipzig 21996, 17-36; Martin L. West, Greek Epic Fragments, Cambridge 2003, 38-63. Grundlegend Milman Parry, L'epithete traditionnelle dans Homere, Paris 1928; seine Arbeiten gesammelt in: The Making of the Homeric Verse, New York 1971; Albert B. Lord, The Singer of Tales, Cambridge 1960 (Der Sänger erzählt, München 1965); Edzard Visser, Homerische Versifikationstechnik. Versuch einer Rekonstruktion, Frankfurt a.M. 1987; Geoffrey Hainsworth, The Iliad. A Commentary IlI, Cambridge 1993, 1-31.
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UI
DIE GESTALTETEN GÖTTER
reichen, ergibt sich weniger aus dem später rekonstruierten Datum des Troianischen Kriegs und seiner Verbindung mit der dank Schliemann berühmten Ruinenstadt am Hellespont als aus der führenden Rolle des Königs von Mykene und einigen deutlich bronzezeitlichen Details. Die eigentliche Hochblüte der epischen Kunst dürfte aber erst ins 8. Jahrhundert fallen. Die unleugbaren orientalischen Elemente im Epos verweisen statt auf die mykenische Epoche eher auf rezente Orientkontakte der Assyrerzeit.21 Die schriftliche Fixierung ist nicht vor dem 8. Jahrhundert denkbar; einige Indizien sprechen eher für die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts;22 dass Einzelteile von Ilias und Odyssee erst im 6. Jahrhundert entstanden seien, wird allerdings immer wieder verfochten. Der Name "Homer", "Homerisch" kann entsprechend der Tradition als Abbreviatur für die erhaltenen Texte als ganze in Gebrauch bleiben, auch wenn Ilias und Odyssee in Konzeption, Aufbau und Ausgestaltung, soweit wir sehen, kaum auf den gleichen Sänger zurückgehen. Hier ist nur von der Bedeutung "Homers" für die Religion der Griechen zu handeln. 23 Über Götter zu sprechen, muss schon in der älteren epischen Tradition vorgegeben gewesen sein, worauf die Formelsprache wie auch die orientalischen Parallelen weisen. Es gab im Mythos reine Göttergeschichten, Götterkämpfe, Götterhochzeiten; gewaltige Helden konnten Göttern direkt gegenübertreten, wie Gilgames der Btar, Herakles der Hera. Im griechischen Epos sind die gewaltigsten Helden Götterkinder oder wenigstens Götterenkel. Herakles ist der Sohn des Zeus, Helena seine Tochter, Achilleus hat die Meeresgöttin Thetis zur Mutter. Darum setzen die Kämpfe der HeIden die Götter mit in Bewegung, nicht nur in der Herakles-Epik. Als Achilleus mit Memnon kämpft, eilen die göttlichen Mütter herbei, Thetis hier, Eos dort - wahrscheinlich das Thema eines voriliadischen Lieds, das auch in einem der frühesten Sagenbilder erscheint.24 So kommt es zu einer Erzählung auf zwei Ebenen, gleichsam auf doppelter Bühne: Götterhandlung und Menschenhandlung begleiten einander. Die Götter sind Zuschauer, sie greifen aber rasch ein, wenn sie sich betroffen fühlen.
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24
Burkert 1992, 88-120; 2003, 28-54; West 1997; zu Troia-Ilion Ernst Meyer, RE Suppl. XIV 813815; Christoph Ulf, Der neue Streit um Troia. Eine Bilanz, München 2003; Manfred Korfrnann (Hrsg.), Troia - Archaeologie eines Siedlungshügels und seiner Landschaft, Mainz 2006; Versuch, den Schauplatz in Kilikien (Karatepe) zu finden: Raoul Schrott, Homers Heimat, München 2008. Die älteste z.Zt. bekannte griechische Inschrift wird kurz nach 800 datiert; für Homer wichtig sind vor allem der "Nestor-Becher" von Ischia und der seit langem bekannte "Dipylon-Krug" aus Athen, IG l' 919 (-+ II 7 Anm. 73), beide um 730: Jeffery 1961, 68; vgl. 16 f; Jeffery 1990, 426 f; Barry B. Powell, Writing and the Origins ofGreek Literature, Cambridge 2002; Burkert 2003,23-27. Indizien für das 7. Jahrhundert: Burkert 2001, 59-71, bes. der Gorgonenschild, ibo 70; vgl. 135 f. Nägelsbach 1884; Otto 1929; Erland Ehnmark, The Idea of God in Homer, Diss. Uppsala 1935; Wolfgang Kullmann, Das Wirken der Götter in der Ilias, Berlin 1956; Vermeule 1974; Walter Brökker, Theologie der Ilias, Frankfurt a.M. 1975; Erbse 1986; Burkert 2001, 80-94. Heinrich Pestalozzi, Die Achilleis als Quelle der Ilias, Zürich 1945; Wolfgang Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk, Stuttgart 41965, 155-202. Das Vasenbild in München: Fittschen 1969, 196 Anm. 936; Kykladische Amphora: Schefold T. 10. Anneliese Kossatz-Deissmann, LIMC s.v. Achilleus Nr. 807-844.
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Dichtung und Bildkunst im Banne Homers
Auch dies muss nach dem Ausweis der Formeln schon vorhomerisch sein, ebenso die Verfeinerung, dass das göttliche Eingreifen sich vorzugsweise im seelischen Bereich manifestiert: Ein Gott "schickt" oder "wirft" Mut und Verzweiflung, Klugheit und Verblendung "in" den Menschen "hinein"; was sich im Menschen regt, wie sein Vorhaben ausgeht, der Anfang und die Entscheidung, liegt bei den Göttern. 25 In der Komposition unserer Ilias wird die Doppelbühne des "Götterapparats" in einzigartiger Weise benützt, um Menschliches nicht nur vom Göttlichen her zu motivieren, sondern eins im anderen wechselseitig zu spiegeln, in Parallele und Kontrast. Die "leicht lebenden" Götter sind die Gegenwelt zu den "Sterblichen".26 Als der Zorn des Achilleus erste Folgen zeitigt, antwortet vom Olymp her das "Homerische", unauslöschliche Gelächter der seligen Götter; als die Schlacht um das Lager der Achäer ihrem Höhepunkt zutreibt, unternimmt es Hera, den "Vater der Menschen und Götter" zu verführen und einzuschläfern; als Achilleus furchtbare Rache für Patroklos nimmt, treten auch die Götter gegeneinander zum Kampf an, doch dieser ist eine harmlose Farce. Man hat dieser Götterburlesken wegen die Ilias auch schon das "unreligiöseste" aller Gedichte genannt;27 dass darin eher eine besondere Art unverkrampfter, selbstverständlicher Entrücktheit der Götter zum Ausdruck kommt, haben andere Interpreten hervorgehoben. 2B Den Griechen jedenfalls war mit den Göttern, wie sie in diesem Gedicht vorgestellt waren, das einprägsame Bild vorgezeichnet. Auch die Odyssee29 verwendet die doppelte Bühne von Götter- und Menschenhandlung; Götterversammlungen rahmen das Gedicht. Aktiv wird indessen fast ausschließlich Athena, die Telemachos begleitet, Odysseus' Aufnahme bei den Phäaken vermittelt, ihn bei der Ankunft in Ithaka berät, in den Freierkampf persönlich eingreift und zuletzt den Frieden vermittelt. Die zum Gerechten und Guten führende Handlung wird so noch mehr als die Ilias-Handlung zum göttlichen Plan; dabei sind aber die Götter für die Leiden, die die Menschen aus eigenem Frevel über sich bringen, nicht verantwortlich. Götterburleske gibt es nur als Einlage, im Lied des Sängers bei den fernen Phäaken. Jene gleichsam ironische Spiegelung von Menschen- und Götterebene fehlt in der Odyssee durchaus; moralisierende Frömmigkeit tritt in den Vordergrund. 25
26
Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, Göttingen 92009, 151-177; Nilsson, Götter und Psychologie bei Homer, Nilsson 1951, 1355-391; Dodds 1951, 1-27; Albin Lesky, Göttliche und menschliche Motivation im homerischen Epos, SBHeidelberg 1961,4; Arbogast Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handeins bei Homer, Abh. Mainz 1990,5. Vgl. besKarl Reinhardt, Das Parisurteil, Frankfurt a.M. 1938 - Tradition und Geist, Göttingen
1960, 16-36. 27 28 29
Paul Mazon, Introduction a I'Iliade, Paris 1942, 294; vgl Cecil M. Bowra, Tradition and Design in the Iliad, Oxford 1930, 222; Gilbert Murray, The Rise of the Greek Epic, Oxford 41934, 265. Zu den "lachenden Göttern" -- III 3 Anm. 48. Zur Besonderheit der Odyssee Alfred Heubeck, Der Odysseedichter und die Ilias, Erlangen 1954, 72-87; Burkert, Das Lied von Ares und Aphrodite, RhM 103, 1960, 130-44 - Burkert 2001, 105-
116.
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III DIE
GESTALTETEN GÖTTER
Neben "Homer" steht als eigenwillige, greifbare Dichtergestalt Hesiod. Er hat in der Theogonie ein Grundbuch griechischer Religion geschaffen. 30 Am Leitfaden der Genealogie, des Zeugens und Gebärens sind die Mächte des Alls und insbesondere die herrschenden Götter in einem sinnvollen und einprägsamen Zusammenhang vorgestellt. Die Götter sind in drei Generationen angeordnet, von denen die zweite durch eine scheußliche Untat, die Kastration des "Himmels" (Uran6s) durch Kronos, an die Macht kommt, während die dritte unter Führung des Zeus in einem großen Kampf die Titanen besiegt und eine dauerhafte Herrschaft der gerechten Ordnung errichtet, die Zeus auch gegen den Aufstand des Typhoeus verteidigen kann. Die beiden zentralen Mythen, der Sukzessionsmythos wie der Kampfmythos, haben ins Einzelne gehende hethitische Parallelen;3! sie müssen als Entlehnung aus Kleinasien gelten, die kaum erst durch Hesiod, vielleicht aber doch erst im 8. Jahrhundert zustande kam. Die unmittelbare, aber uneinheitliche und vermutlich spätere Fortsetzung der Theogonie sind die "Kataloge", in denen die Akteure fast der ganzen griechischen Mythologie in einen wohlüberlegten genealogischen Zusammenhang gebracht werden. Noch mit dem Namen "Homer" gedeckt ist eine Sammlung von Hymnen,32 die richtiger Prooimia heißen, epische Gedichte mäßigen Umfangs, die als Einleitung zum epischen Vortrag an Götterfesten bestimmt waren. Sie rufen je einen besonderen Gott an und stellen ihn vor, indem seine Geschichte erzählt wird, Geburt und Epiphanie. Die umfangreicheren Hymnen gelten Dionysos, Demeter, Apollon, Hermes und Aphrodite; sie sind stilistisch jünger als die großen Epen, wenn auch wohl weithin noch im 7. und frühen 6. Jahrhundert verfasst. Die hochentwickelte Technik des alten Epos hat Hesiod mit "Homer" gemeinsam. Ein auffallendes Stilmerkmal, das zugleich die Versbildung wesentlich erleichtert, sind die stehenden Beiwörter, gerade auch für Götter. Durch sie ist jeweils an einem Gott ein Wesenszug markiert und wird eben durch die Wiederholung eingeprägt: der Wolkensammler Zeus, der dunkelhaarige Poseidon, die weißarmige Hera, die goldene Aphrodite, Apollon mit dem Silberbogen. Wichtiger noch ist die leben30 31
32
Verwiesen sei auf West 1966. "Das Königtum im Himmel", ANET 120 f; TUAT 828-830; "Das Lied von Ullikummi" und "Der Mythos von Illuyankas", ANET 121-126; TUAT 830-844,808-811; Albin Lesky, Hethitische Texte und griechischer Mythos. Anz. Ak. Wien 1950, 137-160 ~ Ges. Schriften, 1966,356-371, vgl. 372400; Alfred Heubeck, Mythologische Vorstellungen des Alten Orients im archaischen Griechentum, Gymnasium 62, 1955, 508-25 ~ Ernst Heitsch (Hrsg.), Hesiod (Wege der Forschung), Darmstadt 1966, 545-570; Franz Dirlmeier, Homerisches Epos und Vorderer Orient, RhM 98, 1955, 18-37 ~ Ausgew. Schriften, 1970,55-67; Gerd Steiner, Der Sukzessionsmythos in Hesiods "Theogonie" und ihren orientalischen Parallelen, Diss. Hamburg 1958; Peter Walcot, Hesiod and the Near East, Cardiff 1966; Alberto Bernabe, Textos literarios hititas, Madrid 21987; Jose V. Garcia Trabazo, Textos religiosos hititas, Madrid 2002. In der Ilias ist der Sukzessionsmythos vorausgesetzt in der sprachlich jungen - Formel für Zeus: "Sohn des Krummes sinnenden Kronos." Thomas W. Allen/William R. Halliday/Edward E. Sikes, The Homeric Hymns, London 21936; Richardson 1974.
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Dichtung und Bildkunst im Banne Homers
dige Kunst des Erzählens, die eine eigene Welt schafft, in der die Götter wie Menschen sprechen, reagieren und handeln. In der Dramatik der Handlung werden die Götter zu Charakteren, zu Personen, die man zu verstehen und zu kennen glaubt, unverwechselbar. Die großen Olympischen Götter haben ihre dauerhafte Identität im Strahlungsbereich der homerischen Dichtung und durch diese; für Demeter und Dionysos, die in den Epen hintangesetzt sind, treten die Hymnen ein. "Homer und Hesiod sind es, die den Griechen eine Genealogie der Götter geschaffen haben, den Göttern ihre Beinamen gegeben, ihre Ehren und Zuständigkeiten eingeteilt und ihre Gestalt geprägt haben"; so die berühmte Feststellung des Herodotos. 33 Die individuelle Lyrik, die in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts mit Archilochos, um 600 mit Alkaios und Sappho fassbar wird, ist bereits vom Homerischen geprägt, ebenso die eigentliche Kultdichtung für Götterfeste, die "Chorlyrik", für die um 600 Alkman unser erster Zeuge ist und die mit Pindar im 5. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. Auch für die Späteren bleibt die homerische Darstellung stets der Bezugspunkt, selbst noch in der Kritik. So sehr hat sich das "Homerische" "als etwas schlechthin Überlegenes" durchgesetzt. 34 Die bildende Kunst folgt der epischen Dichtung. Was immer an Idolen in den dunklen Jahrhunderten gehütet und seit dem 8. Jahrhundert auch wieder produziert wurde, eigenständige Götterdarstellungen erscheinen etwa ab 700 zunächst im Rahmen der "Sagenbilder";35 und das Sagenbild ist offensichtlich durch die Hochblüte des - noch mündlichen - Epos erzeugt. Götter sind hier kein starres, zu verehrendes Gegenüber, sie erscheinen in der Bewegtheit mythischer Aktion: Götterankunft, Götterkampf, Göttergeburt. So schwingt Zeus den Blitz gegen einen Gegner in Kentaurengestalt,36 Apollon fährt im Flügelwagen einher,37 Athena springt aus dem Haupt des Zeus. 38 Die etwa von 650 an sich entfaltende Großplastik entwickelt ihre Haupttypen - der stehende nackte Kuros, die stehende Kore, das Sitzbild -, ohne zwischen Götter- und Menschendarstellung zu differenzieren; oft bleibt umstritten, ob ein Gott oder ein Mensch dargestellt ist: In Körperbau, Haltung und Gesicht sind Götter den Menschen gleich oder vielmehr die Menschen "Göttern ähnlich". So muss sich ein Kanon ikonographischer Attribute ausbilden, an denen die Götter zu identifizieren sind. Neben einzelnen vom Orient übernommenen Schemata - Herrin oder Herr der Tiere, der Gott mit der Waffe und mit dem Blitz, die Göttin mit dem Spiegel - wird dabei eben das Epos bestimmend: Apollon und Artemis tragen den Bogen, Apollon auch die Leier, Hera das Zepter; Athena erscheint voll bewaffnet mit Helm, Schild, 33 34 35 36 37 38
Hdt. 2,53. Karl Reinhardt, Vermächtnis der Antike, Göttingen 1960, 17. Verwiesen sei auf Schefold 1964 und Fittschen 1969. Schefold 1964, 27 Abb. 4 (675/50). Schefold 1964 T. 10; Simon 1969, 127 (um 650). Schefold 1964 T. 13; Simon 1969, 186 (680/70).
195
III DIE
GESTALTETEN GÖTTER
Lanze und Aigis; Hermes der Götterbote trägt den Schlangen-Herolds stab und die Flügelschuhe. Götter lassen sich von ihren Tieren begleiten;39 ApolIon und Artemis lieben Hirsch oder Reh, Zeus den Adler, Athena die Eule; Poseidon hält einen Fisch. Der Stier freilich kann Zeus, Poseidon oder Dionysos, der Ziegenbock Hermes, Dionysos oder Aphrodite zur Seite stehen. Götter haben auch ihre Lieblingspflanzen, ApolIon den Lorbeer, Athena den Ölbaum, Demeter Getreide und Mohn, Dionysos Rebe und Efeu, Aphrodite die Myrte; freilich gibt es Myrtenkränze auch bei Demeter, Ölbaumkränze auch in Olympia.4o Das Zeichensystem ist weder geschlossen noch widerspruchsfrei, zumal die lokalen Kulttraditionen sich immer geltend machen. Indem seit Ende des 6. Jahrhunderts Münzprägungen die Bilder der Stadtgötter übernehmen, werden die Götterdarstellungen und Götterattribute allgegenwärtig. Die Kunst der klassischen Epoche tendiert dahin, das Beiwerk zurücktreten zu lassen und die Götter allein aus ihrem "Ethos" zu charakterisierenY In der Gruppe der zwölf Götter am großen Parthenon-Fries erscheint selbst Athena ohne Rüstung, doch zunächst dem ihr im Fest überreichten Peplos. Im übrigen sind es die Paarbindungen, die die Identität erhellen: Zeus thronend neben der sich ihm entschleiernden Hera, Hephaistos neben Athena; Hermes neben Dionysos; Poseidon und Apollon kontrastieren als der ältere, bärtige und der betont jugendliche Gott; Artemis sucht die Nähe des Bruders; Ares sitzt gespannt, zum Aufspringen bereit; nur Demeter hat die Fackel, Aphrodite den Eros als Attribut. Als höchste Erfüllung plastischer Kunst in der Darstellung des Göttlichen galt das Goldelfenbeinbild des Zeus in Olympia,42 das dann zu den "Weltwundern" gerechnet wurde. Beschreibungen und Münzbilder geben uns eine gewisse Vorstellung, auch wenn vom Original nichts als die Matrizen einiger Gewandfalten erhalten sind. Im Gegensatz zu archaischen Zeusstatuen, die den Gott weit ausschreitend, den Blitz schleudernd darstellten, hat Pheidias den höchsten Gott thronend gestaltet, von gewaltigem Ausmaß - stände er auf, er würde das Tempeldach durchstoßen, sagte man - und doch eben gelassen, in der Souveränität seines Seins. Pheidias selbst soll gesagt haben,43 dass Homer ihm dieses Bild eingegeben habe, jene Szene im ersten Buch der Ilias, als Zeus der bittenden Thetis Gewährung nickt: "Sprach's; und mit blauschwarzen Brauen nickte der Kronossohn, die strahlenden Haare des Herrschers wallten vom unsterblichen Haupt; er erschütterte den langen Olympos". Dieses Nicken des Hauptes, von dem nur die kyanon-dunklen Brauen und die wallenden Haare sichtbar werden und das doch den Götterberg beben lässt, ist gött-
39 40 41 42 43
-- II 1 Anm. 90/91. --+ II 5 Anm. 22; P. G. Maxwell-Stuart, Myrtle and the Eleusinian Mysteries, WS 6, 1972, 145-161. So die Götterversammlung im Parthenon-Fries, Heiner Knell, Antaios 10, 1%8/9,38-54; Nikolaus Himmelmann, Zur Eigenart des klassischen Götterbildes, München 1959; Walter 1971 pass. -- II 5 Anm. 83. Strab. 8,3,30 p. 354; Dion or. 12,25; Val. Max. 3,7 ext. 4; Macr. Sat. 5,13,23. 11. 1,528-30.
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Dichtung und Bildkunst im Banne Homers
liehe Überlegenheit schlechthin, Vollendung schon in der Entscheidung; über dem Verhängnis der Kontur eines göttlichen Antlitzes: Auch dies kommt von "Homer". Bis in die Zeit des Pheidias ist die Dichtung die Vormacht in der Öffentlichkeit; sie ist das Medium, das viele zugleich erreicht, allgemeine Meinungen und Vorstellungen ausdrückt und prägt; bis in die Mitte des 6. Jahrhunderts war dies ihr Monopol. Dabei ist besonders das Sprechen über Götter Sache der Dichter - eine sehr außergewöhnliche Art des Sprechens, in einer hochstilisierten Kunstsprache, die sonst niemand spricht, meist mit Musik und Tanz verbunden und bei bestimmten festlichen Gelegenheiten vorgetragen. Nicht Informationen vermittelt die poetische Sprache, sie schafft eine eigene Welt; in ihr führen die Götter ihr Leben. Mit dem Verlust dieses Monopols der Dichtung, mit dem Aufkommen der Prosaschrift steht fast schlagartig theologia als Problem im Raum: Vernünftiges, verantwortbares Sprechen über Götter ist schwer. Dass der damit aufbrechende Konflikt zu keiner allgemein akzeptierten Lösung kam, lag eben an der trotz allem unausrottbaren Wirkungsmacht Homers.
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III
DIE GESTALTETEN GÖTTER
1 Individuelle Götter Aus kleinasiatischer Tradition war eine Gruppe von "Zwölf Göttern" vorgegeben. Die Griechen haben dementsprechend ihre wichtigsten Götter in einem Verein der Zwölf zusammengestellt. Die Zahl ist fest; einige Namen variieren, besonders Hestia/DionySOS.I Folgt man der Wahl, die in der zentralen Gruppe des Parthenonfrieses getroffen ist, so findet man jene individuell geprägten Gestalten versammelt, die als die Götter der Griechen schlechthin gelten können.
1.1 Zeus Zeus 2 ist der einzige griechische Göttername, der etymologisch ganz durchsichtig, ja längst zu einem Schulbeispiel der indogermanischen Sprachwissenschaft geworden ist. 3 Der gleiche Name erscheint im indischen Himmelsgott Dyaus pitar, im römischen Diespiter/Juppiter; der Wortstamm gehört zu lateinisch deus - "Gott", dies "Tag" und griechisch eudia - "schönes Wetter". Zeus ist also der Himmelsvater, der strahlende Tageshimmel. Dieser ist allerdings für den praktisch eingestellten Menschen nicht sonderlich interessant;4 im Indischen tritt denn auch Dyaus ganz in den Hintergrund gegenüber aktiveren Göttern. Höchster Gott ist der Himmelsvater nur im Griechischen und im Römischen, und dies vor allem als Gott des Regens und Gewitters: Zeus ist weit mehr ein Wettergott, als die Etymologie ahnen lässt, und dies verbindet ihn mit den vorderasiatischen "Wettergöttern", mit denen er denn auch gleichgesetzt wird. Schon im Mykenischen ist Zeus einer der wichtigsten, vielleicht der höchste Gott; ein Monat ist nach ihm benannt. 5
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Zwölfgötter von Yazdlkaya: AkurgaVHirmer 1961, T. 80; 87; .. Zwölfgötter des Markts" in Xanthos, Lykien, Kaibel 768 = TAM I44c; späte Reliefs: Otto Weinreich, Lykische Zwölfgötterreliefs, SBHeidelberg 1913; GdH I 329; neue Exemplare: Henri Metzger, Catalogue des monuments votifs du Musee d'Adalia, Paris 1952, 34-38; Bull. epigr. 1966 nr. 426/7. Griechische Kulte: Hymn. Herrn. 128 f; Hellanikos FGrHist 4 F 6; Athen -- III 1 Anm. 346; Weinreich RML VI 764-848 s. v. Zwölfgötter, bes. 838-841: ..Übersicht über die Namen". PR I 115-159; CGS I 35-178; Eugen Fehrle/Konrad Ziegler/Otto Waser, RML VI 564-759; Cook pass.; GGR 389-426; Hermann Diels, Zeus, ARW 22, 1923/4, 1-15; Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorf, Zeus, Vortr. BibI. Warburg 1923/4, 1-6, Nachdr. Kronos und die TItanen. Zeus, Darmstadt 1964; Hans v. Hülsen, Zeus, Vater der Götter und Menschen, Mainz 1967; Kerenyi 1972; Ileana Chirassi Colombo, Morfologia di Zeus, PP 163, 1975, 249-277; Hans Schwabi, RE X A 253-376 (Beinamen) und Suppl. XV 993-1481; Arafat 1990; Ken Dowden, Zeus, London 2007; LIMC VIII 310-374 S.v. Chantraine 1968, 399; genauere Bedeutung .. Aufleuchten": H. Zimmermann, Glotta 13, 1924, 95; Paul Kretschmer, Glotta 13, 1924, 101-14; Kerenyi 1972, 7-13. -+ 12. GGR391. -+ I 3 Anm. 242. In der Keilschrift wird der Wettergott mit dem Wortzeichen für .. Sturm" geschrieben, dIM.
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1 Individuelle Götter
Im homerischen Beiwort ist Zeus der "Wolkensammler", der "Dunkelwolkige", der "in der Höhe Donnernde", der "Blitzeschleuderer"; in der Umgangssprache sagt man, statt "es regnet", auch "Zeus regnet"; "regne, regne, lieber Zeus, auf die Felder der Athener", sangen die Kinder noch in der Kaiserzeit;6 in manchen alten Zeusritualen glaubte man das Wetter zwingen zu können, durch zumindest angedeutetes Menschenopfer in nächtlicher, werwölfischer Mahlgemeinschaft.7 Zeus wohnt auf den Bergen, um die die Gewitterwolken sich sammeln, auf dem Lykaion in Arkadien, dem 6ras von Aigina, dem Ida bei Troia: dort hat er, laut Homer, sein Ternenos und seinen Altar,B und die Ilias malt aus, wie er dort mit Hera Beilager hält, eingehüllt in eine goldene Wolke, von der schimmernde Tropfen fallen. Der mehrfach vorkommende Name Olympos9 hat sich auf den größten Berg im Norden Thessaliens fixiert, der damit zur eigentlichen Götterwohnung wurde - wie auch in ugaritischer Mythologie die Wohnung des Baal der Nordberg (Saphon) ist. lO Nachträglich verstand man "Olympos" auch als eine Bezeichnung für den Himmel, doch blieb die Vorstellung schwankend; Wettergott und Himmelsgott fallen nicht notwendig zusammen. Eine direkte Epiphanie des Zeus ist der Blitz; wo er einschlägt, errichtet man dem "niederfahrenden Zeus", Kataibdtes, ein HeiligtumY Als Blitz vereinigt sich Zeus mit Semele in tödlicher Umarmung. Der Blitzkeil, ikonographisch nach östlichem Vorbild in Lilienform ausgebildet,12 ist die Waffe des Zeus, die nur er führt; sie ist unwiderstehlich, selbst Götter zittern vor ihr; Götterfeinde werden durch sie zerschmettert; die Menschen stehen machtlos, entsetzt und doch staunend vor solcher Manifestation göttlicher Energie. Denn Zeus ist vor allem der stärkste der Götter. Er kann die anderen herausfordern: "Hängt ein goldenes Seil an den Himmel, hängt euch alle daran, Götter und Göttinnen: Nicht könntet ihr vom Himmel auf die Erde Zeus, den höchsten Planer, hinabziehen, auch wenn ihr euch viel plagtet; aber wenn ich entschlossen ziehen wollte, würde ich euch samt Erde und Meer emporziehen". Wunderlich mischt sich sportlerhaftes Renommieren mit kosmischer Phantasie und dem göttlichen Schimmer des Goldes; die antiken Ausleger fanden an der "goldenen Kette" viel zu deuten. 13 Die anderen Götter können gegen Zeus protestieren, sie können versuchsweise den
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Mare. Aur. 5,7. Die impersonale Ausdrucksweise "es regnet" ist aber ebenso alt: Jacob Wackernagel, Vorlesungen über Syntax I, Basel 21926, 116. HN 97-133. Prozession zu Zeus Hyetios auf Kos, SIG' 1107; GGR 394 f. Il. 8,48; dazu Il. 14,283-353. Der reale Ida = Kaz Dagl, 1767 m, tritt aus 60 km Entfernung von Troia aus als Berg kaum in Erscheinung: Der Wettergott hat seinen Berg gleichsam mitgebracht. RE XVIII I, 258-321 mit 25 Belegen. Das Heiligtum auf dem Thessalischen Olympos, AM 47, 1922, 129, ist erst hellenistisch, Deltion 22, 1967,6-14. Ug. Baal-Texte; d.i. Berg Kasios; vgl. Ortsname "Baal.Zephon" AT Ex. 14,2; der Götterberg Zion im "Norden": Psalm 48,2; Jes. 14,13. RE XA 322; GGR 72 f; Hermann Usener, Keraunos, Kleine Schriften IV, Bonn 1913, 471-497. Paul Jacobsthal, Der Blitz in der orientalischen und griechischen Kunst, Berlin 1906. Il. 8,18-27; Paul Leveque, Aurea catena Homeri, Paris 1959.
199
III
DIE GESTALTETEN GÖTTER
Gehorsam verweigern, sie können gar ein Komplott schmieden, doch nichts kann Zeus ernstlich bedrohen, er bleibt der weitaus Überlegene. Der Mythos, wie ihn vor allem Hesiod gestaltet hat, malt aus, dass dem nicht immer so war, dass die Macht des Zeus im Kampf errungen und gegen Aufstand verteidigt werden musste. Vor Zeus herrschten die Titanen, herrschte Kronos, der Vater des Zeus. Dass dieser seine Kinder verschlang, lehnt sich an den orientalischen Sukzessionsmythos an. Zeus entging dem durch die List seiner Mutter Rhea, die Kronos einen Stein verschlingen ließ. Herangewachsen, führte Zeus die Götter an im Krieg gegen die Titanen; Himmel, Erde, Meer und Unterwelt erbebten in der Schlacht; Zeus blieb Sieger dank seiner Blitze. 14 Damit ist Zeus der "König", dnax, nachhomerisch basileus. In zweifachem Bild steht er den Griechen vor Augen, als der weitausschreitende Kämpfer, der in der erhobenen Rechten den Blitz schwingt, und als der Thronende, das Zepter in der Hand. Sein Tier ist der Adler; der orientalische Löwe bleibt ihm fern. Dagegen steht er in intimer Beziehung zum Stieropfer, der Überwindung des Starken durch den Stärkeren. Eine nachhesiodeische, kretische TheogonieI5 hat die Jugend des Zeus weiter ausgemalt, insbesondere wie ein Bund jugendlicher Krieger, die Kureten, tanzend und ihre Schilde schwingend das Zeuskind umgeben, damit es sich nicht durch sein Weinen verrate. Hier spiegeln sich kretische Initiationsrituale, wie sie in den IdaMysterien fassbar sind: Hier wurde Zeus alljährlich im Schein eines großen Feuers geboren.16 Im Waffentanz der Jungmannschaft erscheint der Diktäische Zeus als der "größte Kuros", der auf Herden, Saatfelder, Häuser, Stadt, Schiffe und junge Bürger "springt".17 Wo Geburt ist, ist auch der Tod: Dass diesem jungen Zeus auf Kreta auch das berüchtigte "Grab des Zeus" polar zugeordnet ist, wo die Kureten Zeus bestatten,18 ist eine naheliegende Vermutung, auch wenn die Lokaltraditionen kein Gesamtbild liefern. Dass Zeus den eigenen Vater stürzte, bleibt ein düsterer Schatten im Hintergrund. Jedem Usurpator droht ein gleiches Schicksal. Auch Zeus ist gefährdet durch 14
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16 17 18
Hes. Theog. 453-506, 617-720, vgl. ApolIod. 1,4-7; zu den Titanen -i> III 3 Anm. 58, zu Kronos-i> V 2 Anm. 45. Es gibt keine sicheren Bilddarstellungen des Titanenkampfes, Roland Hampe, GGA 215, 1963, 125-52, gegen Jose Dörig, Der Kampf der Götter und Titanen, Olten 1961, doch vgl. LIMC s.v. Titanes nr. 1. Epimenides FGrHist 457 F 18 ~ VS 3 B 24, Bernabe, OTF III 37F; ApolIod. 1,5; Kallim. Hymn. 1,42-54; Ernst Neustadt, De love Cretico, Diss. Berlin 1906. Zeus und die Kureten sind vielleicht bereits gemeint in dem assyrisierenden Bronzetympanon aus der Ida-Höhle, 8. Jahrhundert -i> II 4 Anm. 18. Daneben ein arkadischer Geburtsmythos, Kallim. Hymn. 1,4-41; dazu Spiridon Marinatos, AA 1962, 903-916. Anton. Lib. 19. -i> 14 Anm. 18; VI 1 Anm. 22-25. Hymnos von Palaikastro. -i> II 7 Anm. 37. Ennius, Euemerus Fr. 11 Vahlen' ~ Euhemeri Messenii Reliquiae hrsg. v. Marek Winiarczyk, Stuttgart 1991, Test. 69; der Yuktas bei irakI ion, Kreta (-i> I 3 Anm. 39; I 3 Anm. 74) hat weder mit der Ida-Höhle noch mit Dikte etwas zu tun.
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Frauen, denen bestimmt ist, einen Sohn zu gebären, der mächtiger ist als sein Vater. Nach Hesiod19 ist Metis, die "Klugheit", eine solche Frau; darum verschluckt Zeus sie kurzerhand nach der Hochzeit, trägt seither die "Klugheit" in sich; einziges Kind aus dieser Verbindung ist Pallas Athena. Nach anderer Version 20 ist es die Meergöttin Thetis, auf die Zeus darum zu verzichten hat; sie wird von Peleus die Mutter des Achilleus. SO' bleiben nur von vornherein negativ gezeichnete Unholde, die sich zum eigenen Schaden gegen die Herrschaft des Zeus empören. Da ist Typhoeus,21 der Sohn von Erde und Tartaros, ein Mischwesen aus Menschen- und Schlangengestalt, meist mit Schlangenleib statt Füßen dargestellt; er wollte sich feuerschnaubend zum Weltherrscher aufwerfen, doch Zeus zerschmetterte ihn mit seinem Blitz und schleuderte ihn in den Tartaros. Später erzählte man auch, er liege unter dem Ätna, aus dessen Krater noch immer sein Feueratem dringe. Gegen die Olympischen Götter insgesamt empörten sich die Giganten,z2 die riesigen, gewappneten Kinder der Erde. Dieser Mythos ist keiner alten literarischen Quelle mit Sicherheit zuweisbar; er wird im 6. Jahrhundert zu einem Lieblingsthema der bildenden Kunst: eine Schlacht von Einzelkämpfern, in der die stets siegreichen Götter je ihre besonderen Waffen einsetzen, Poseidon den Dreizack, Apollon den Bogen, Hephaistos das Feuer. Auch hier gibt der Blitz des Zeus den Ausschlag. Macht ist latente Gewalt, die sich zumindest in einem mythischen "Einst" manifestiert haben muss. Nur der Unterlegene garantiert die Überlegenheit. So ist es auch in unserer Wirklichkeit Zeus, der den Sieg gibt. Jedes tr6paion, jenes mit Beutestücken behängte Mal auf dem Schlachtfeld, kann "Bild des Zeus" heißenY Nach ihrem größten Sieg, dem von Plataiai im Jahr 479, gründeten die Griechen an Ort und Stelle ein Heiligtum für "Zeus den Befreier", Eleutherios, wo man jahrhundertelang Feste mit Kampfspielen feierte. 24 "Dank diesen Göttern siegen die Selinuntier: dank Zeus siegen wir, und dank dem Schrecken, und dank Apollon, und dank Poseidon, und dank den Tyndariden, und dank Athena, und dank Malophoros, und dank Pasikrateia (All-Überwältigung), und dank den anderen Göttern, doch dank Zeus am 19 20 21
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Theog. 886-900. ApolIod. 3,168; Handlungsgrundlage in Aischylos, Prometheus. Hes. Theog. 820-868; Anspielung mit der rätselhaften Ortsangabe en Arimois (Aramäer?) 11. 2,781783; kompliziertere Version mit vorübergehendem Sieg Typhons ApolIod. 1,39-44, in enger Übereinstimmung mit dem hethitischen Illuyankas-Mythos (ANET 125 f; TUAT 810 f. - III Anm. 31); dazu Frands Vian in: Elements orientaux dans la religion grecque andenne, Paris 1960, 17-37. Darstellung (Typhon mit Schlangenfüßen) auf einem Schildband, Schefold 1964, p. 50, und auf einer bekannten Chalkidischen Hydria, Schefold T. 66, Simon 1969,29.; LIMC VIlI s.v. Typhon. - Aetna: Pind. Pyth. 1,20-28, vgl. Hes. Theog. 860. ApolIod. 1,34-38; PR I 66-78; RML I 1639-50; Frands Vian, La guerre des geants, Paris 1952; -, Repertoire des gigantomachies figurees dans l'art grec et romain, Paris 1951; EAA III 888-94.; LIMC IV s.v. Gigantes. Eur. Phoin. 1250; vgl. Gorgias VS 82 B 6. Plut. Aristid. 21; GF 455 f; HN 68 f; Robert Etienne/Marcel Pierart, BCH 99, 1975,51-75.
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allermeisten", verkündet naiv und ungeschminkt eine Inschrift aus Selinus im 5. Jahrhund~re5 Vergeistigter erscheint der sieghafte Zeus bei Aischylos: Uranos und Kronos wurden gestürzt und sind verschwunden, "wer aber Zeus im Siegesruf erklingen lässt, erreicht Vernunft, ganz und gar".26 Sich mit dem Sieg des Zeus zu identifizieren, heißt den Sinn der Weltordnung finden. Die Potenz des stärksten der Götter manifestiert sich nicht nur in Kampf und Sieg, sondern auch in der Fülle sexueller Zeugungskraft. Erstaunlich nach Quantität und Qualität ist die Schar der Zeuskinder im Mythos, und nicht minder die Reihe der Göttinnen und sterblichen Frauen, die sein Lager teilten. Späte Mythographen zählten 115 Frauen; ein Katalog von Zeusgattinnen - der von vielen Erklärern als Skandal empfunden wurde - steht bereits in der Ilias. 27 Berüchtigt ist auch die Liste der Verkleidungen und Verwandlungen, deren sich Zeus bediente, um ans Ziel .zu kommen: Europa und der Stier, Leda und der Schwan, Danae und der Goldregen, dazu 10 als Kuh, Kallisto als Bärin; der doppelte Amphitryon stammt aus der ägyptischen Königslegende. 28 Zeus ist der einzige Gott, der große, mächtige Götter zu Kindern hat: Apollon und Artemis von Leto, Hermes von Maia, Persephone von Demeter, Dionysos von Semele oder Persephone, Athena von Metis auf ungewöhnlichem Wege; von der legitimen Gattin Hera stammt der wenig geliebte Ares. Die von sterblichen Frauen geborenen Zeuskinder sind in der Regel sterblich - Ausnahme sind Helena und Polydeukes -, doch alle außergewöhnlich, gewaltig: Herakles von Alkmene, Helena und die Dioskuren von Leda, Perseus, der Gründer von Mykene, von Danae, Minos und Rhadamanthys von Europa, Aiakos von Aigina, Arkas von Kallisto, Zethos und Amphion, die Gründer Thebens, von Antiope, Epaphos, der Stammvater der Danaer, von 10. Verschiedene Motive überschneiden sich in diesem Komplex. Da sind die Spielregeln einer extrem patriarchalischen Familienordnung, die dem dominierenden Mann alle Freiheit gestattet, nur nicht "Verweichlichung"; da ist die phantastische Wunscherfüllung unerschöpflicher Manneskraft - auch in der gleichgeschlechtlichen Liebe ging Zeus voran, indem er als Adler den Troerknaben Ganymedes29 entführte. Da sind aber auch die Ansprüche vieler Geschlechter und Stämme, die alle in gleicher Weise vom Himmelsvater abstammen möchten. In der archaischen Welt reicht keine moralisierende Kritik an solch göttliches Verhalten heran, auch wenn man Heras Eifersucht versteht und schrecklich ausmalt. Einer, dem keiner widersteht, wird und
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-- II 2 Anm. 28. Aisch. Ag. 174 f. ll. 14,317-327, von Aristarch athetiert. Burkert 2007, 173-185. Griechisch verstanden als "sich freuend an Genitalien", vielleicht Umdeutung eines fremden Namens; Abhängigkeit vom orientalischen Bildtyp der Etana-Darstellungen ist möglich, vgl. EAA III s.v. Etana. Der Mythos bereits n. 5,265 f; 20,232-235; die Tonplastik aus Olympia: Lulhes/Hirmer 1960, T. 105 f; Herrmann 1972, 126 f.
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muss so sein. Ein archaisches Ton-Akroter aus Olympia zeigt Zeus, wie er, unverwandelt, eilenden Schritts den Ganymedesknaben entrafft; das archaische Lächeln wird zum Gestus großartiger Selbstverständlichkeit. Mit alle dem ist Zeus "Vater", "Vater der Menschen und Götter".30 "Vater" sagen zu ihm auch die Götter, die nicht seine leiblichen Kinder sind, und alle Götter stehen vor dem Vater auf. 3! Als "Vater" rufen ihn auch die Menschen im Gebet, offenbar seit indogermanischer Zeit. Zeus in seiner Souveränität trifft die Entscheidungen, die den Lauf der Welt bestimmen. So schien jenes Nicken, das den Olymp erschüttert, dem Pheidias das Wesen des Zeus am gesammeltsten auszudrücken. 32 Niemand kann Zeus zwingen oder Rechenschaft von ihm fordern, und doch sind seine Entscheidungen weder blind noch einseitig. Dass Zeus die Metis verschluckt hat, bedeutet die Vereinung von Macht und Klugheit. Vom "planenden Erfassen", n6os, des Zeus ist im Epos immer wieder die Rede. Dieser n60s ist stets stärker als der der Menschen; es mag "noch" verborgen sein, worauf er hinauswill,33 aber Zeus hat sein Ziel und wird es erreichen. Dass Götter allwissend sind, wird erst in der Odyssee versichert,34 während die Ilias in jener Verführungsszene auf dem Ida eine vorübergehende Täuschung des Zeus ausmalt; doch sie bleibt Episode, die Verführerin muss vor der Rache zittern, und ihr zum Trotz setzt Zeus durch, was er beschlossen hat. Die Überparteilichkeit seiner Entscheidung hat bei Homer ein Bild gefunden in der goldenen Waage, die Zeus in der Hand hält: 35 Beim Zweikampf von Achilleus und Hektor zeigt die sich neigende Schale an, dass Hektor dem Tod verfallen ist. Zeus empfindet Mitleid, ihn jammert des Menschen, aber er handelt der Ordnung gemäß. Hier taucht das Problem der Moira oder Aisa auf, des "Schicksals",36 wie es später verstanden wurde. Für das kausale Denken entsteht dann ein unlösbares Problem zwischen schicksalhafter Vorausbestimmung und göttlicher Freiheit. Für die
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36
In Ugarit heißt EI mit stehendem Beiwort "Vater der Menschen". Il. 1,503; 533 f. --+ III Anm. 43. Il. 16,688; 17,176; Hes. Fr. 204, 97-120. Od. 4,379; 468; Raffaele Pettazzoni, r;onniscienza di Dio, Turin 1955 (Der allwissende Gott, Frankfurt a.M. 1960). Il. 22,209-213; dazu 8,69; 16,658; 19,223; auch im Zweikampf Memnon-Achilleus, --+ III Anm. 24; E. Wüst, ARW 36, 1939, 162-171; Gudmund Björck, Eranos 43, 1945,58-66; Nilsson deutete entsprechend ein spätmykenisches Vasenbild aus Zypern, --+ I 3 Anm. 50. Verlockend ist auch, die goldene Waage aus dem dritten Schachtgrab in Mykene hiermit und mit Ägypten in Beziehung zu setzen, Dietrich, RhM 107, 1964, 121 f; John G. Griffiths, The Divine Tribunal, Swansea 1975, 15 f. William Ch. Greene, Moira, 1944; Wilhelm Krause, Glotta 25, 1936; 146 f; WSt 64, 1949,10-52; Ugo Bianchi, Dias Aisa, Rom 1953; GOR 362; Bernard C. Dietrich, Death, Fate, and the Gods, London 1965; GerhardJ. Baudy, Hierarchie oder: Die Verteilung des Fleisches, in: Burkhard Gladigow/ Hans G. Kippenberg(Hrsg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München 1983, 131-174. Ein Plural von Moirai und damit Personifizierung Il. 24,49 (-0- III 1 Anm. 36); die Namen Klotho, Lachesis, Atropos Hes. Theog. 905; Plat. Resp. 617c.
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Ilias besteht hier kein Problem, sondern ein Konflikt, der ausgetragen werden muss, wie ja das Leben überhaupt von Konflikten geprägt ist. Moira, aisa ist keine Person, keine Gottheit oder Macht, sondern ein Faktum: Das Wort heißt "Teil" und sagt aus, dass die Welt verteilt ist, dass Grenzen gezogen sind nach Raum und Zeit. Die wichtigste, schmerzlichste Grenze für den Menschen ist der Tod: Dies ist sein begrenztes "Teil". Es ist nicht unmöglich, diese Grenzen zu überschreiten, aber es hätte böse Folgen; Zeus hätte die Macht, anders zu handeln, doch die anderen Götter "loben dies nicht'?7 und darum tut er es nicht, so wie ein guter und kluger Herrscher seine reale Macht nicht gegen die Schranken des herkömmlichen Rechts einsetzt. So wird die ,,verteilung" zum Eigentum "des Zeus", Dias aisa. Alle Souveränität unter Menschen geht von Zeus aus. "Von Zeus genährt" sind die Könige bei Homer, von Zeus stammt das Zepter der Atriden;38 die "Stadt" und ihr Rat stehen unter der besonderen Schutzmacht des Zeus Polieus, Zeus Boulaios. Jeder Hausvater unterstellt seinen Hof und Besitz dem Zeus Herkeios und Zeus Ktesios; dabei ist der "Besitz" in der Vorratskammer in Gestalt eines zugedeckten Gefäßes gebannt; die hütende Macht kann auch als Hausschlange auftreten;39 hier ist der Himmelsvater nicht wiederzuerkennen. Doch wo bewahrende Ordnung ist, ist eben Zeus. Insbesondere stammt alles Recht von Zeus: Die Männer, die das Recht pflegen, haben ihre Satzungen "von Zeus her";40 Hesiod lässt Dike, das "Recht", als Tochter des Zeus dem Vater zur Seite thronen. Recht ist "des Zeus", Dias dika; dabei kann man aber nicht sagen, dass Zeus "gerecht", dikaios, wäre: "gerecht" ist, wer in der Auseinandersetzung mit einem gleichgestellten Partner die Satzungen respektiert; Zeus steht über den Auseinandersetzungen. Er gibt bald Gutes, bald Böses, oft weiß niemand warum; aber dass überhaupt ein planender Vater die Macht in Händen hält, macht Recht unter den Menschen möglichY Seine erste eigentliche Gattin ist darum Themis, die "Satzung"Y Zeus steht über den Parteien. Kaum eine Stadt kann Zeus schlicht als ihren Stadtgott in Anspruch nehmen; dafür gibt es die Athena von der Burg, den Apollon vom Marktplatz, auch Hera, auch Poseidon; aber überall wird Zeus verehrt, auch als Zeus "der Stadt", Polieus,43 und die größten Tempel werden ihm erbaut - so auch in Athen, wo die Riesenanlage des Peisistratos freilich dann endlich erst durch Hadrian als "Olympieion" vollendet wurde.44 In besonderem Maß wacht Zeus über die Bezie37 38 39 40 41 42 43 44
11. 16,443; 22,181. 11. 2,101-108. Antikleides FGrHist 140 F 22 = Ath. 11,473; Stele von Thespiai mit Schlange und Inschrift DIOS KTESIOU, Cook 1925, II 1061; Harrison 1927,297-300; Nilsson 1951, I 25-34. Il. 1,237 f.; vgl. Minos und Zeus, Od. 19,172-179. -'> I 3 Anm. 63. Zu dieser gleichsam amoralischen Gerechtigkeit des Zeus Lloyd-Jones 1971. Hes. Theog. 901; Pind. Fr. 30. Zu den Dipolieia und Buphonia -'> V 2.2. Gruben 1966, 220-228; vgl. auch das riesige, nie vollendete Olympieion von Akragas, Gruben 297301.
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hungen, die Fremde aneinander binden: Gastfreunde, Schutzflehende, Schwörende - Zeus Xenios, Hikesios, Harkios. Athena und Hera hassen Troia, weil Paris sie verschmähte; Zeus hat Troias Untergang beschlossen, weil Paris das Gastrecht brach. Darum kann Zeus in besonderem Maß der Gott aller Griechen, der "Panhellenen" sein. Wenn der Wettergott vom "Berg" (aros) auf Aigina den Beinamen Helldnios trug,45 geht dies auf Beziehungen zu Thessalien zurück, doch man verstand den Namen nachträglich als den des Griechengottes überhaupt. Die größte verbindende Macht entfaltete jenes Zeusfest, das aus allen anderen Festen herausstrahlte wie aus allen Kostbarkeiten das Gold: Opfer und Agon von Olympia.46 Hier beteiligt zu sein, hieß Hellene sein - so dass die Zulassung der Makedonen und später der Römer von besonderer politischer Bedeutung war. Der Sieger im Stadionlauf, der das Opferfeuer auf der Höhe des alten Aschenaltars entzündete, war als Epiphanie göttlicher Überlegenheit aus allen Menschen herausgehoben. Dass dabei in Olympia, nach der Überlieferung im Jahr 720, erstmalig ein Läufer in voller Nacktheit siegte,47 wurde über den Sport hinaus entscheidend für die Leiblichkeit der Griechen und ihrer Götter. Erhabenheit bleibt körperhaft. Zeus war der einzige Gott, der zu einem umfassenden Allgott werden konnte. Die Tragiker haben ihn nicht auf die Bühne gebracht, im Gegensatz zu Athena, Apollon, Artemis, Aphrodite, Hera und Dionysos. Aischylos benennt ihn allein, weit über alle anderen Götter hinaus, mit Prädikaten der Allheit: 48 All-Mächtiger, All-Verursacher, AIl-Bewirker; "Herrscher der Herrscher, Seligster der Seligen, des Vollendeten vollendetste Macht, glücklicher Zeus";49 in einer seiner verlorenen Tragödien war ausgesprochen: "Zeus ist Aither, Zeus ist Erde, Zeus ist Himmel, Zeus ist Alles - und was noch höher ist als dieses".5o In Dodona sangen die Priesterinnen: "Zeus war, Zeus ist, Zeus wird sein: 0 großer Zeus";51 ein Vers des Orpheus' verkündete: "Zeus ist Anfang, Zeus ist Mitte, von Zeus her ist alles vollendet".52 Die im Gedicht des Orpheus dem vorangehende Aussage, dass Zeus "selbst der einzige wurde",53 scheint den Polytheismus hinter sich zu lassen. Hier konnte die philosophische Spekulation ansetzen, die im Pantheismus der Stoa gipfelte: Zeus ist die Welt als ganzes und insbesondere das denkende Feuer, das alles durchdringt, gestaltet und in Schranken hält.
45 46 47 48 49 50 SI 52 53
Pind. Paian 6,125; Panhellenios Paus. 2,30,3; Cook 1940, III 1164 f; RE X A 303. Pind. 01.1,1-7. Verwiesen sei auf Mallwitz 1972; Herrmann 1972: Ulrich Sinn, Das antike Olympia, München 1996; 2004'. -- 1I 7 Anm. 76. Thuk. 1,6,5; Arnold W. Gomme, Commentary 1, Oxford 1956, z.d.St.; das Epigramm des Orsippos Kaibel843. Wolfgang Kiefner, Der religiöse Allbegriff des Aischylos, Hildesheim 1965; Robert Bees, Aischylos. Interpretationen zum Verständnis seiner Theologie, München 2009. Aisch. Hik. 524 f. Aiseh. Fr. 70 Radt. Paus. 10,12,10. Bernabe, OTF I 14 F ~ Pap. Derv. XVlI 12; Plat. Leg. 715 e ~ OF 2Ia. Pap. Derv. XVI 6 ~ OTF I 12F; Burkert 2006, 95-111.
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1.2 Hera Der Name der Götterkönigin Hera 54 lässt mehrere Etymologien ZU; die Verbindung mit hora "Jahreszeit", die Deutung als die "zur Ehe Reife" ist eine Möglichkeit. 55 Ihr Kult hat zwei bedeutende Zentren, das Heiligtum bei Argos, 56 nach dem sie bei Homer mit stehendem Beinamen Here Argeie heißt, und Samos; doch weitum war Hera als große Göttin verehrt. Sie trägt im Bild die hohe Götterkrone, den POlOS,57 wie auch Meter, Artemis und andere Göttinnen; doch gibt es Erinnerungen an ältere, anikonische Darstellungen, als Säule in Argos,58 als "Brett" in Samos. 59 Ein homerisches Beiwort ist boöpis, "kuhgesichtig";60 weite, fruchtbare Ebenen mit weidenden Rinderherden und Rinderopfer sind ihr besonderer Bereich. Einzigartig ist Heras Beziehung zum Tempel: Die ältesten und wichtigsten Tempel sind Hera-Tempel. Auf Samos ist der Tempel, erstmals nach dem sakralen Maß der ,,100 Fuß" angelegt, wohl schon im 8. Jahrhundert zum großen Altar hinzugetreten. 6l In Perachora gegenüber von Korinth standen im 8. Jahrhundert zwei Heratempel, der für Hera Akraia und der für Hera Limenia. 62 Auch im Argivischen Heraion muss damals schon ein Haus für die Göttin bestanden haben; ein Tempelmodell weist darauf hin. In der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts trat an seine Stelle ein großer Ringhallentempel, der die ganze Terrasse ausfüllte. Ihn übertraf bei weitem der Neubau in Samos im 6. Jahrhundert, der einer der größten griechischen Tempel geblieben ist. In Tiryns wurden die Ruinen der mykenischen Burg zum Heratempel umgebaut, der ein besonders altertümliches Sitzbild der Göttin enthielt. 63 In Olympia erhielt Hera lange vor Zeus ihren Tempel; neben dem großen Kultbild der thronenden Göttin stand Zeus in Gestalt einer Kriegerstatue. 64 Weithin berühmt waren Tempel und Heiligtum der Hera Lakinia bei Kroton in Unteritalien. 65 Dass auch in 54 55 56
57 58 59 60 61 62 63 64 65
Roseher RML I 2070-2134; CGS I 179-257; Eitrem RE VIII 369-403; GGR 427-433; Simon 1969, 35-65; Kerenyi 1972; Pötscher 1987; Oe la Geniere 1997; LIMC IV S.v. Pötscher, RhM 104, 1961,302-355; 108, 1965, 317-320. Anders, GdH I 237, GGR350: "Herrin", zu Heros. Mykenisch E·ra -i> I 3 Anm. 243; 247. Charles Waldstein, The Argive Heraeum, Boston 1902/5; Amandry, Hesperia 21, 1952, 222-274; Bergquist 1967, 19-22; Gruben 1966, 99-102; Hans Lauter, AM 88, 1973, 173-187; James C. Wright, JHS 102, 1982, 186-199. -i> I 1 Anm. 38; II 5 Anm. 34. Valentin K. Müller, Der Polos, die griechische Götterkrone, Berlin 1915. Vgl. vor allem die Holzstatuette aus Samos, Simon 1969, 55 T. 49. Phoronis Fr. 4 Bernabe = Clem. Strom. 1,164,2. --+ II 5 Anm. 65. --+ II 1 nach Anm. 88; Uberto Pestalozza, Athenaeum 17, 1939, 105-137 (Religione Mediterranea, Mailand 1951, 151 ff). --+ I 4 Anm. 56. Humfry Payne, Perachora I, Oxford 1940; Thomas J. Dunbabin, Perachora II, Oxford 1962; John Salmon, BSA 67, 1972, 159-204; Tomlinson 1976, 111-115. --+ II 5 Anm. 78. Paus. 5,17,1; Gruben 1966,48-51. --+ II 5 Anm. 83. Liv. 24,3,4 f; RE VIII 381; Simon 1969, 45 f.
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Poseidonia/Paestum zwei der berühmten, gut erhaltenen Tempel der Hera geweiht waren, die "Basilika" aus dem 6. Jahrhundert und der sogenannte Poseidontempel aus dem 5. Jahrhundert, war eine überraschende Entdeckung;66 nicht weit ab an der Mündung des Sele-Flusses lag ein weiterer Heratempel aus dem 6. Jahrhundert67 Auffallend oft liegen Heras Heiligtümer außerhalb der Städte, in der Argolis, auf Samos, bei Kroton und auch am Sele-Fluss. Gegenüber der kultischen Realität scheint das Bild der Hera bei Homer abzufallen und eher das Komische zu streifen. Als eheliche Gattin des Zeus liefert Hera mehr Muster von Eifersucht und Ehezank als von Zuneigung. Dahinter steht, dass eine Hera auch dem Stärksten sich nicht willig unterordnet, sondern Partnerin eigenen Rechts bleibt. Dass sie Zeus' leibliche Schwester ist, "älteste Tochter des großen Kronos",68 verstößt gegen das Inzesttabu und unterstreicht eben damit ihre einzigartige Ebenbürtigkeit. "Du schläfst in den Armen des großen Zeus",69 darauf beruht ihre Autorität; ebenso ist Zeus, mit stehendem Beiwort, "der donnerstarke Gatte der Hera". Mit vielen Frauen hat Zeus verkehrt, doch Hera allein sitzt auf dem goldenen Thron,70 trägt das Zepter; dem Paris bietet sie die Königsherrschaft an. Der Vollzug der Ehe, den die berühmte Iliasszene ausmalt, ist "Trug an Zeus" und eben darum ihr Triumph. Sie bringt, dank dem für einmal ausgeborgten gestickten Gürtel der Aphrodite, den Vater der Götter und Menschen dazu, seine Aufsicht über den Troianischen Krieg zu vergessen: "so er sie sah, so umhüllte Verlangen seinen dichten Verstand ",71 er nimmt sie in den Arm, die Erde lässt Gras und Blumen sprießen, über alles senkt sich eine goldene Wolke; so vereinen sie sich auf dem Gipfel des Ida im heiligen Bezirk. Das Bild der Gewitterwolke am Bergesgipfel, Epiphanie des Wettergottes, wirkt durch die Schilderung; aber Hera ist nicht die stumme Erde, sondern eine eigenwillige, starke Persönlichkeit. Das in der Ilias gestaltete Bild der göttlich vollzogenen Ehe hat starke Wirkung entfaltet; man ehrt Hera, indem man daran erinnert. Aus dem Heraion von Samos stammt ein Tonrelief des 7. Jahrhunderts, das zwischen Sträuchern einen Mann zeigt, der eine nackte Frau an der Hand fasst und zugleich am Kinn streicheltP Eine wenig spätere Holzschnitzerei aus dem gleichen Heiligtum stellt Zeus stehend dar, wie er den
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67 68 69 70 71 72
Arch. Class. 4, 1952, 145-152; Arch. Rep. 1955, 54; P. Sestieri, Ikonographie et culte d'Hera a Paestum, Revue des Arts 1955, 149-158; Gruben 1966, 233-244, 248-255; EAA V 833; Kerenyi 1972, 133-142. Paola Zancani Montuoro/Umberto Zanotti Bianco, Heraion alla foce del Sele VII Rom 1951/4; EAA VII 157. 11. 4,59 f; "Schwester und Gattin" Il. 16,432; 18,356; bei Hes. Theog. 454 ist Hera die jüngste Tochter, wie Zeus der jüngste Sohn. Il. 14,213. zu chrysothronos Ernst Risch, Kleine Schriften, Berlin 1981,354-362. 11. 14,153-353, der zitierte Vers: 294; temenos am Gargaron 11. 8,48 vgl. 14,352; 15,152; Giampiera Arrigoni, QUCC 115, 1983,41-48. -- II 7 Anm. 90; 1II 1 Anm. 8. AM 58,1933, 123 Abb. 69; 68, 1953,80 u. Beil. 41; Walter 1971,158 Abb. 140.
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Arm um Hera legt und gleichzeitig mit herrischer Geste an ihre Brust greift. 73 Sublimiert wird die Szene im 5. Jahrhundert auf einer Metope von Selinus wie dann auf dem Parthenon-Fries: Zeus, sitzend, versinkt staunend in den Anblick der Frau, die, sich entschleiernd, ihm zugewandt ist.74 Lokale Mythen erzählen auch anderwärts vom göttlichen Beilager, auf Euboia75 oder bei Knossos, wo man beim jährlichen Opferfest diese Hochzeit "nachahmte",76 oder auf der seligen, fernen West-Insel, wo die Äpfel der Hesperiden reifen.17 Als Urbild der vollzogenen Ehe, der "alten Satzung des Ehebettes",7B ist Hera allenthalben die Göttin der Hochzeit und Ehe - wobei für Verführung und Genuss Aphrodite zuständig bleibt. Man opfert ihr im Hochzeitsmonat Gameli6n zusammen mit "ihrem" Zeus, dem Zeus Heraios.79 Man ruft sie an als die "die Hochzeit Bereitende", gamost6los, die "Verbindende", zygia, vor allem die "Vollendete", teleia, ist doch die Hochzeit in besonderer Weise Ziel und Vollendung, telos, eines Menschenlebens. Vor ihrem Tempel in Lesbos finden Schönheitswettkämpfe statt. BO Sappho betet um Heras Nähe. BI In Olympia feiern die Frauen alle vier Jahre ihr Herafest. B2 Sechzehn ausgewählte Frauen, zwei aus jeder Gemeinde, stehen dem vor. Hera erhält einen neu gewebten Peplos. Jungfrauen laufen um die Wette im Stadion, im kurzen Chiton, die rechte Schulter entblößt. Siegespreis ist ein Ölbaumzweig und eine Portion von der für Hera geschlachteten Kuh. Hippodameia, sagt der Mythos, hat das Fest der Hera zum Dank für ihre Hochzeit mit Pelops gestiftet. So singt und tanzt ein Chor für Hippodameia, ein anderer jedoch für Physkoa, die Geliebte des Dionysos, den die Frauen anrufen, als Stier zu erscheinen. Indem die Frauen sich unter dem Patronat Heras zusammenfinden zu eigener Organisation, Gegenbild zur Männergesellschaft im großen Olympischen Fest, ist doch gleichzeitig auch Heras Gegenspieler Dionysos zugegen; die Antithese verdoppelt sich. Seltsam, dass ein Zug im Bild Heras fehlt: die Mutterschaft. Zwar nennt Alkaios sie "Zeugung von allem", pdnton genethla,B3 aber niemand ist ihr eigentliches, liebes Kind. Der einzige bedeutende Gott, der der legitimen Ehe des Göttervaters ent73 74 75 76 77 78 79
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AM 68, 1953, Beil. 13-15; Schefold 1964 T. 39; Simon 1969,50. Simon 1969, 52 f. Ocha-Berg, Steph. Byz. Kdrystos; Elymnion Soph. Fr. 437; vgl. Plut. Fr. 157,3. Diod. 5,72,4. - II 7 Anm. 95. Eur. Hippol. 748; Eratosth. Catast. 3. Od. 23,296. AF 177 f; die Neuverheirateten haben ihr Hochzeits-Opfer zu bringen, gamelan (Labyadeninschrift [- II 6 Anm. 21] A 25); es finden nicht etwa alle Hochzeiten in einem Monat statt, gegen Kerenyi 1972, 87 f; Zeus Heraios LSCG 1 A 21; es gibt auch Zeus Aphrodisios auf Paras, Zeus Damatrios auf Rhodos, RE X A 284, 51; 296, 59. ...... II 7 Anm. 71. 17 Voigt, vgl. A.P. 9,189. Paus. 5,16; zum elischen Dionysoslied, PMG 871-- II 1 Anm. 89; IV 4 Anm. 24. 129, 7 Voigt ....... I 3 Anm. 247.
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stammt, ist Ares; und ihn apostrophiert Zeus als das "verhassteste" seiner Kinder. 84 Daneben werden sekundäre Gestalten genannt, wie Hebe, die "Jugendblüte", die den Göttern Wein kredenzt, oder die altverehrte, aber in ihrer Wirkung beschränkte Eileithyia. 85 Nie wird Hera als "Mutter" angerufen, nie als Mutter mit Kind dargestellt. Allenfalls reicht sie dem einst verhassten Herakles zum Zeichen der Versöhnung die Brust.86 Ihr Frau-Sein ist eingeschränkt auf die Beziehung zum Gatten, den Liebesvollzug und das Davor und Danach, Hochzeit einerseits, Trennung andererseits. Drei Tempel hat Hera in Stymphalos, als "Mädchen", pars, als "Vollendete", teleia, und als "Getrennte", chera. 87 Der Mythos umspielt auf der einen Seite das Davor: wie Hera und Zeus das erste Mai sich vereinten, "heimlich vor den lieben Eltern"; davon spricht die Ilias, und davon wissen die Frauen noch mehr zu schwatzen.88 Noch origineller ist die Geschichte, wie Zeus am Berg Thornax bei Hermione sich in einen Kuckuck verwandelte, um Hera in den Schoß zu flattern. Das Goldelfenbeinbild des Polyklet im argivischen Heraion trug ein Zepter mit besagtem Kuckuck. 89 Als notwendige Voraussetzung der geschlossenen Ehe gehört zu Hera wiederum die Jungfräulichkeit. Samos soll darum Parthenie, die Jungfräuliche, geheißen haben, der Fluss Imbrasos am Heiligtum vielmehr Parthenios, weil dort dann Hera Hochzeit hielt.9o Auch in Hermione wurde Hera Parthenos verehrt;91 im Fluss Kanathos bei Nauplion wurde Hera - d.h. wohl ihre Statue - alljährlich gebadet, wodurch sie, wie man sagte, wieder zur Jungfrau wurde;92 so wurde sie Zeus von neuem zugeführt. Doch ebenso gehört zu Heras Ehe der andere Grenzpunkt, das Zerwürfnis, die Trennung. In der Ilias ist Hera die zänkische, eifersüchtige Gattin, die sehr zum Ärger des Gemahls seine kleinen Geheimnisse durchschaut, so dass dieser nur mit Androhung von Prügeln seine Überlegenheit salvier~n kann.93 Nach jenem "Trug" erinnert der wieder erwachte Zeus seine Gattin gar daran, er habe sie schon einmal zwischen Himmel und Erde gefesselt aufgehängt, einen Amboss an jedem Bein, und sie mit Schlägen gepeitscht - eine barbarische Exekution in kosmischem Rahmen, die ein Lieblingsthema der Allegoriker wurde.94 Dem steht gegenüber, dass Hera 84 85 86
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Il. 5,890. -+ I 3 Anm. 66/7. Öfters auf Bilddarstellungen (LIMC s.v. Hera nr. 454), mehrheitlich etruskisch, Cook 1940, III 89-94; Marcel Renard, Hommages a Jean Bayet, Brüssel 1964, 611-618; nach orientalischem Vorbild, Winfried Orthmann, Ist. Mitt. 19/20,1969/70, 137-143. Paus. 8,22,2. Il. 14,296; Kallim. Fr. 75,4; Theokr. 15,64; verbunden mit Vor-Hochzeitsbräuchen in Naxos und Paros, Kallim. a.O. und Schol. T 11. 14,296 Erbse. Paus. 2,36,1 f; 2,17,4; Schol. Theokr. 15,64. Kallim. Fr. 599. Steph. Byz. Hermi6n. Paus. 2,38,2. Il. 1,536-569. Il. 15,18-24; Herad. Alleg. 40.
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gefährlich ist, böse und unversöhnlich in ihrem Zorn: Eben dass sie die "beste" unter den Göttinnen ist, muss sich darin bestätigen, dass sie ihren Feinden Übles anzutun imstande ist.95 Ist sie keine Mutter, so eine um so furchtbarere Stiefmutter. Sie verfolgt Dionysos noch vor seiner Geburt, bringt es dahin, dass Semele im Blitz des Zeus verbrennt,96 dass Dionysos' Amme Ino sich mit dem eigenen Sohn ins Meer stürzt. Sie lässt die Proitos-Töchter, die ihr Bild in Tiryns verspottet haben, gleich tollen Kühen durch die Peloponnes rasen; sie hetzt desgleichen ihre argivische Priesterin 10, auf die Zeus sein Auge geworfen hatte, wahnsinnig und in Kuhgestalt durch die Welt.97 Besonders vielfältig ist ihr Intrigenspiel gegen Herakles, dem sie die Knechtschaft unter König Eurystheus von Mykene auferlegt, gegen den sie den Nemeischen Löwen und die Lernäische Hydra selbst nährt, den sie schließlich im Wahnsinn Frau und Kinder in Theben töten lässt.98 Die Selbstvernichtung der Familie im Wahnsinn ist die Umkehrung der Ehe, der "alten Ordnung des Bettes". Selbst gegen Zeus richtet sich Heras anarchische Vernichtungsmacht: Sie hat aus sich selbst Typhaon geboren, der Zeus" Herrschaft stürzen sollte.99 Auch Hephaistos hat sie aus sich allein geboren, den missgestalteten Schmiedegott; sie wirft ihn dann freilich wütend vom Olymp ins Meer,lOo er rächt sich, indem er der Mutter einen Thron schenkt, der sie mit raffinierter Automatik fesselt, bis Dionysos den Hephaistos in den Olymp zurückführt und Versöhnung stiftet. 101 Wo wir Genaueres von Hera-Festen erfahren, geht es denn auch nicht einfach um ein frohes Hochzeitsfest, sondern um schwere Krisen, in denen die Ordnung zusammenbricht, die Göttin selbst verloren zu gehen droht. Im argivischen Heraion freilich fassen wir, von Andeutungen abgesehen,102 diese Krise nur im Mythos, im Tod des Argos durch Hermes Argeiphontes, in der Flucht der kuhgestaltigen 10. Im Neujahrsfest Heraia wird dann, im Zug der Herapriesterin auf dem Rinderwagen zum Heiligtum, in einer Prozession der schildtragenden Knaben die Ordnung neu begründet.103 In Samos erzählt die Kult1egende, wie Seeräuber das Kultbild zur Nachtzeit entführen wollten, was ihnen auf wunderbare Weise misslang; sie ließen das Bild am Strand zurück und setzten ihm Speisen vor; die samischen Ureinwohner, die "Karer", such95 96 97 98 99 100 101 102 103
H. 18,364-367. Aiseh. Fr. 168; 451ef, p. 335 Radt, vgl. Plat. Resp. 281 d. Stiefmutter scheint Hera schon im Mykenisehen zu sein. -+ I 3 Anm. 247. HN 219-221; 189-194; 185-189. H. 19,96-133, vgl. 14,249-261; 15,25-30; Euripides, Herakles; Löwe und Hydra: Hes. Theog. 328; 314. Hymn. Apoi!. 305-354; nach Euphorion Fr. 99 Powell = Fr. 103 van Groningen (Schol. H. 14,295) ist sie auch Mutter des Prometheus. Hes. Theog. 927 f; Fr. 343; H. 18,395-399; hymn. Apoll. 316-320. Horn. Hymn.l, West, ZPE 134, 2001, 1-11; Alkaios 349 Voigt; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Kleine Schriften V 2,1937,5-14; Vasenbilder: LIMC IV s.v. Hephaistos nr.l14-172. Ein "geheimer Mythos" zur Erklärung des Granatapfels in Heras Hand Paus. 2,17,4; "geheime Opfer" Paus. 2,17,1. HN 185-189.
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ten und fanden das Bild, umwanden es mit Weidenzweigen und banden es an ein Weidengebüsch, damit es nicht wiederum davonlaufe; die Priesterin schließlich reinigte das Bild und brachte es zurück in den Tempel.104 Der Festritus selbst lässt sich daraus nicht exakt ablesen. Immerhin heißt es, dass zur Buße für jene Fesselung die "Karer" nun ihrerseits mit Weidenzweigen sich bekränzen, während die eigentlichen ,;Verehrer der Göttin", darunter wohl die Priesterin, den Lorbeerkranz tragen; und so fand das Festmahl im Heiligtum statt, auf Weiden-Streu, mit Weiden-Kränzen, wohl in Gegenwart des Bildes: Eine Basis, offenbar für die Statue, zwischen Tempel und Altar ist festgestellt. 105 Der besonderen Weiden art, lygos, wird allgemein anti-aphrodisische Wirkung zugeschrieben.106 Die Deutung als Reinigung, Brautbad, Hochzeit sagt hier nicht viel.1°7 Nächtlicher Verlust und Finden am hellen Morgen, Gewalt gegen das Götterbild und Entsühnung, die Männer im Keuschheitskranz der "Karer" auf primitiver Streu beim Opferschmaus im Heiligtum weit draußen vor der Stadt: Es ist ein Ausnahmezustand, der den thesm6s, die Ordnung des normalen Lebens, um so gewisser herbeiführt, wenn dann die Göttin gereinigt in ihr altes Haus zurückkehrt. In Böotien feiert eine Gruppe von Städten unter Leitung von Plataiai jedes 60. Jahr das Fest der "Großen Daidala".108 Daidala sind aus Bäumen hergestellte Holzfiguren, vermutlich nur roh behauen. Beim Fest ist eine davon als Braut geschmückt, wird vom Fluss Asopos aus mit einem Rinderwagen in Begleitung einer "Brautführerin" mit großem Pomp wie in einem Hochzeitszug zum Gipfel des Kithairon gebracht. Dort ist eine Holzkonstruktion als Altar errichtet, Tiere werden geschlachtet, für Zeus ein Stier, für Hera eine Kuh, und schließlich wird alles, Fleisch, Altar und Daidala, miteinander verbrannt; weithin leuchtet die Flamme vom Berggipfel. Dieses Feuerfest 109 wird durch einen aitiologischen Mythos "homerisiert": Hera hat sich mit Zeus zerstritten und nach Euboia zurückgezogen; Zeus lässt daraufhin eine Hölzpuppe als seine Braut ausstaffieren und verkünden, er feiere Hochzeit mit Plataia, der Tochter des Asopos. Da eilt Hera herbei, zusammen mit den Frauen von Plataiai, sie zerreißt der Nebenbuhlerin die Kleider - und bricht in Lachen aus angesichts der Holzfigur; doch vernichtet muss die andere werden, darum das Feuerfest. 104 Menodotos FGrHist 541 F 1 = Ath. 14,672a-673b, mit weiteren Angaben 673bd, darunter Anakreon PMG 352. GF 46-49; GGR 429 f; vgl. II 5 Anm. 90. 105 Bergquist 1967,43-47. Ein Baumstumpf im Altar wurde irrtümlich als Lygos-Baum gedeutet, AA 1964,220 f, dagegen Hermann J. Kienast, AM 106, 1991,71-80. -+ II 5 Anm. 19; 14 Anm. 56. 106 Lateinisch agnus castus, .Keusch-Lamm", Fehrle 1910, 139-148. Entsprechend sind Myrtenkränze bei der Samischen Hera verboten, Nik. Alex. 619 f; Schol. Aristoph. Ran. 330. 107 Von Heras Hochzeit auf Samos sprach Varro, Lact. inst. 1, 17, 8; Aug. civ. 6, 7. Ein Hieros-GamosFest erschloss Ernst Buschor, AM 55, 1930, 1-9; in anderer Weise Godehard. Kipp, Zum Hera-Kult auf Samos, Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 18, 1974, 157-209. Rätselhaft ist die Darstellung einer Fellatio Heras an Zeus auf einem Votivbild, worüber sich Chrysipp veTbreitete, SVF II nr.1071-1074. 108 Paus. 9,3,3-8; Plut. Fr. 157/8; GF 50-56; GGR 431; Kerenyi 1972, 114 f. -+ II 7 Anm. 93; II 1 bei Anm.73. 109 Minoischen Typs? -+ I 2 Anm. 10; I 3 Anm. 83; II 1 Anm. 73.
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Zwei Statuen und zwei Beinamen hat Hera in ihrem Tempel in Plataiai, "die als Braut geführte", nympheuomene, und die "vollendete", teleia;llo durch Krise und Bruch hindurch erneuert sich immer wieder die "Vollendung" ihrer Ehe. Dabei ist Plataia der indogermanische Name der Erdgöttin und damit der alten Gattin des Himmelsvaters;11l hier steht also eine sehr alte Überlagerung hinter der mythischen Erzählung. Diese wird nun aber gerade zum Ausdruck für das zwiespältige Wesen Heras, die ihren Gatten nicht will und doch will, wobei schließlich beide ihr Ziel erreichen und das Vernichtungsfest zur heiteren Laune der Olympier dient.
1.3 Poseidon Der offensichtlich zusammengesetzte Name Poseidon l12 - mykenisch Poseidaon, dorisch Poteidan, neben anderen Namensvarianten - reizt ganz besonders zur sprachwissenschaftlichen Entschlüsselung; das Vorderglied ist offenbar der Vokativ potei-, "Herr", doch bleibt der zweite Bestandteil da- hoffnungslos vieldeutig;I13 dass er "Erde" heißen soll und Poseidon "Gatte der Erde" wäre, ist unbeweisbar. Sicher ist Poseidon ein alter und wichtiger Gott. Die Linear-B-Tafeln bezeugen ihn als Hauptgott von Pylos; die Telemachie hat eine Erinnerung daran bewahrt, wenn sie Nestor von Pylos beim großen Opfer für Poseidon am Meeresufer einführtY4 Dahinter steht die Tradition, dass die kleinasiatischen Ionier aus Nestors Pylos stammen; ihr Zentralheiligtum am Mykale-Berg ist dem Poseidon geweihtYs Schon die Was spielt auf das Opferfest dort an, wo die Jünglinge den brüllenden Stier herbeischleppen und Poseidon seine Freude daran hat. Der genealogische Mythos unterstreicht Poseidons Beziehung zu Pylos, indem er ihn zum Vater von Pelias und Neleus macht, den Königen von Iolkos in Thessalien einerseits, von Pylos andererseitsY6 110 Paus. 9,2,7. 111 -- I 2 Anm. 10. Vgl. Robert Renehan, Hera as Earth-Goddess, RhM 117, 1974, 193-201. 112 E. H. Meyer/H. Bulle, RML III 2788-2898; CGS IV 1-97; E. Wüst, RE XXIII 446-557; GGR 44452; Schachermeyr 1950; Kerenyi 1972, 53-75; Jannis Mylonopoulos, Peloponnesos oiketerion Poseid6nos. Heiligtümer und Kulte des Poseidon auf der Peloponnes, Kernos Supp1.13, Liege 2003; Erika Simon, LIMC VII s.v. 113 "Gatte der Erde" Paul Kretschmer, Glotta 1, 1909, 27 f.; GdH I 212; Kerenyi 1972, 56; "Kenner des (Meeres-)Weges" Alfred Heubeck IF 64, 1959,225-240; "Herr der Wasser" C. Scott Littleton, Poseidon as a Reflex of the Indo-European "Source of Waters" God, JIES 1, 1973, 423-440; vgl. Fritz Gschnitzer, Serta philol. Aenipontana, 1962, 13-18; C. J. Ruigh, REG 80, 1967, 6-16; Eric P. Hamp, Minos 9, 1968, 198-204; Risch 1974,57,1. -- III 1 Anm. 358 zu "Demeter". 114 Od. 3,4-66. -- 13.6 Anm. 12. 115 Hdt. 1,148; Diod. 15,49; vgl. 11. 20,404; Gerhard Kleiner/Peter Hommel, Panionion und Melie, Berlin 1967. Zur Ionier-Tradition Roland Hampe, Nestor, in: Reinhard Herbig (Hrsg.),Vermächtnis der antiken Kunst, Berlin 1950, 11-70; Michael B. Sakellariou, La migration grecque en Ionie, Athen 1958; Thomas B. L. Webster, Von Mykene bis Homer, Oldenburg 1960, 185-212. 116 Od. 11,235-257.
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Poseidon ist auch sonst Stammvater und Ursprung einigender Macht. Sein Heiligtum auf der Insel Kalaureia ist Zentrum eines alten Bundes.l17 Aiolos und Boiotos, die Eponymen von Aeolern und Böotern insgesamt, sind seine Söhne.ns Von weiterer Verehrung zeugen Stadtnamen wie Poteidaia auf der Chalkidike und Poseidonia-Paestum in Unteritalien. In Troizen, wo er als "König", Basileus, verehrt wird,l19 hat er sich zum Vater des Theseus gemacht, der dann der große, Ordnung und Einheit stiftende König von Athen wurdeYo Allerdings sind die Beziehungen Poseidons zu Athen komplex: Urkönig ist Erechtheus; er wird im Kult mit Poseidon identifiziert, derselbe Altar dient den beiden, doch bleiben Tempel und Ternenos ein Erechtheion. Offenbar hat der gemeingriechische, "homerische" Göttername den des lokalen Stammvaters zurückgedrängt. l2l Der Mythos hat dies so auseinandergelegt, dass Poseidon als Vater des Eumolpos von Eleusis im Krieg mit Athen König Erechtheus in die Erde rammte und damit seinem Opfer doch ewige Ehren und Kult einbrachte. Durch das Epos ist Poseidon als Meeresgott festgelegt. Im Zusammenhang der "Zeustrug"-Episode lässt der Iliasdichter Poseidon selbst erklären: Drei Söhne hatte Kronos, bei der Verlosung der Welt erhielt Zeus den Himmel, Poseidon das Meer, Hades die Unterwelt; die Erde und der Götterberg Olympos sind ihnen gemeinsam.122 Grundsätzlich haben die Brüder gleiche Ehre; doch muss Poseidon dem Himmelsgott nachgeben, der hier der ältere, bei Hesiod dagegen der jüngere heißt.123 Malerisch ist der Meeresgott im 13. Buch der Ilias geschildert: Mit drei Götterschritten, die die Berge erbeben lassen, erreicht Poseidon vom Olymp aus sein golden schimmerndes Haus in der Wassertiefe bei Aigai in Thrakien, am "Ägäischen" Meer; er schirrt sein Pferdegespann an, besteigt den goldenen Wagen und fährt dann über die Wogen dahin, ohne dass die Achse des Wagens benetzt wird. Freudig tut das Meer sich auf, das Meergetier, die Ungeheuer der Tiefe kommen und spielen unter ihm im Wasser: Sie kennen ihren Herrn.124 Die andere traditionsbildende Szene steht in der Odyssee: Poseidon erblickt von den Solymerbergen aus Odysseus auf seinem Floß; grimmig ergreift er seinen Dreizack, wühlt das Meer auf, erregt die Winde, überzieht Erde und Meer mit Wolken, lässt schließlich eine Riesenwoge das Floß zerschmettern und zieht sich dann murrend in sein Haus bei Aigai zurück.125 Als Gott des Meeres genießt danach Poseidon bei den Griechen eine selbstverständliche Popularität, zusammen mit seiner Gemahlin Amphitrite - deren Name 117 Strab. 8,6,14 p.374; Paus 2,33; Gabriel Walter, Troizen und Kalaureia, Berlin 1941; Thamas KeIly, The Calaurian Amphicryany, AJA 70, 1966, 113-121; Bergquist 1967, 35; Snadgrass 1971, 402. 118 Hygin Fab. 186 nach Euripides. 119 Paus. 2,30,6; wanax in Karinth, IG IV 210. 120 Paus. 2,33,1; Hans Herter, RE Supp!. XIII 1053. 121 HN 175-177. 122 Il. 15,186-193. Das Schema stimmt überein mit Atrahasis, Burkert 2009, 41 f. 123 Il. 15,182 - Hes. Theag. 456 f. 124 Il. 13,17-31. 125 Od. 5,282-381.
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offenbar mit dem des Meerwesens Triton zusammenhängt,126 aber nicht weiter aufzuhellen ist. Auch sein Heiligtum am Isthmos, wo die panhellenischen Isthmischen Spiele stattfinden, wird mit der meerbeherrschenden Stellung Korinths zusammengesehen, auch wenn in dem zugehörigen Kult um den toten Knaben Palaimon kompliziertere Strukturen erscheinen. I27 Alle Schiffe, die auf Athen zufuhren, grüßte von weitem der lichtweiße Poseidon-Tempel von Kap Sunion. Insbesondere ist Poseidon Herr und Helfer der Fischer. So geben die Maler ihm einen Fisch, oft einen Delphin, in die Hand. Der gewaltigste Fischfang ist die Thunfischjagd, bei der auch die Dreizack-Harpune (triaina) verwendet wird,I28 die Poseidon seit Homer als sein Kennzeichen führt. Erstlinge des Thunfischfangs werden als Opfer ins Poseidon-Heiligtum zum festlichen Mahl gebracht.n9 Mit der gefährlichen Macht des Meeresgottes, dem verheerenden Sturm, müssen Seemann und Fischer immer rechnen. Der Sturm kann aber auch gerade zur Epiphanie des Gottes werden: Als im Jahr 480 ein plötzlich hereinbrechender Nordsturm die persische Flotte in Thessalien schwer beschädigte, taten die Griechen Gelübde an Poseidon, gossen ihm Trankopfer ins Meer und ehrten fortan in neuem Kult Poseidon "den Retter", SoterPO Als Dankopfer nach dem Seekrieg dieser Jahre ist vielleicht auch die gewaltige Statue am Kap Artemision aufgestellt worden, die später ins Meer stürzte und so erhalten blieb.\31 Zugleich ist aber Poseidon, wie die homerischen Beiwörter zeigen, auf das Engste mit der Erde verbunden: Er ist der "Erderschütterer",I32 der Gott des Erdbebens. Der Mythos malt aus, wie Poseidon mit seinem Dreizack die Felsen bricht und ins Meer schleudert; so stürzt er Aias den Lokrer, der den Göttern trotzen wollte, samt dem Felsen, an den er sich klammert, in die Tiefe,m so wirft er die Insel Nisyros auf den Giganten Polybotes;134 sein Dreizack, erzählte man in Thessalien, hat zwischen Olymp und Ossa das Tempetal durchgebrochen, so dass der See, der Thessalien bedeckte, ausgeflossen ist. I35 Auch selbsterlebte Naturkatastrophen wie das Erdbeben von Sparta im Jahr 464136 hat man auf Poseidon zurückgeführt; als 373 die
126 Hans Herter, RE VII A 245-304. 127 Zum Heiligtum Gruben 1966, 97 f; zum Ritual HN 219-221. Der Palaimon·Kult ist aber erst im 1. Jahrhundert n. Chr. ausgebaut, Elizabeth R. Gebhard/Matthew W. Dickie, in: Hägg 1999, 159-165. 128 Bulle RML III 2855; GGR 446; Simon 1969, 82 gegen Cook 1925, n 786-798, vgl. Aiscn. Sept. 131; Paroem. Gr. I 255, II 459 s.v. thynnizein. 129 Antigonos von Karystos Ath. 297e = Fr. 56A Dorandi; HN 231. 130 Hdt. 7,192. 131 Athen, Nationalmuseum; Christos Karusos Deltion 13,1930/1,41-104; LIMC s.v. Poseidon nr. 28; Schwabi, RE SuppL XV 1429. Zuschreibung an Zeus: R. Wünsche, JdI 94,1979,77-111 u.a.m. 132 Das geläufige Beiwort gaieochos gehört, wenn auf gaidwochos IG V 1, 213 Verlass ist, nicht zu echein "halten", auch nicht zu ocheuein "begatten", sondern zum Stamm uegh. "fahren", GGR 448; "erschüttern" vermutet Chanttaine 1968, 219. 133 Od. 4,505-510. 134 ApolIod. 1,38; Cook 1940, III 14-18. 135 Hdt. 7,129,4; SchoL Pind. Pyth. 4,246a. 136 Thak. 1,128,1.
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beiden Städte Helike und Bura bei einem Erdstoß im Korinthischen Golf versanken, war man sogleich bereit, von einem besonderen Frevel zu erzählen, den sich diese Städte an Poseidons Altar hatten zuschulden kommen lassen. 137 Man stimmt beim Erdbeben "Poseidons Paian" an13B und ruft ihn beschwörend als den Gott der "Standfestigkeit", Asphdleios. Es gibt große Stieropfer für Poseidon, der daher auch "Stier-Poseidon", Taureos, genannt werden kannj 139 doch spezieller ist seine Beziehung zum Pferd. Poseidon hat eine zweifache Ehre, haben Griechen gesagt, als Bezwinger der Rosse und als Retter der Schiffe. 140 Der Kult des Poseidon Hippios ist allgemein verbreitet. Er hat Pferdeherden im Heiligtum,141 er wird als Reiter dargestellt, er wird mit Wagenrennen geehrtj merkwürdig der Brauch von Onchestos, wo die Katastrophe des Wagenrennens als Opfer eintritt: Ein führerloses Gespann geht mit dem Wagen durch.14z Urtümliche, unzensurierte Mythen machen Poseidon direkt zum Vater des Pferdes: Man erzählt, wie er seinen Samen auf einen Felsen ergoss, der dann das Ross entspringen ließ - so im Kult des "Felsen"-Poseidon, Poseidon Petralos, in Thessalien, aber auch am Kolonos Hippios in Athen,143 oder auch dass er ein grimmiges weibliches Wesen begattete, die zur Mutter des Pferdes wurde: Gorgo-Medusa, aus der, als Perseus sie köpfte, Pferd und bewaffneter Krieger, Pegasos und Chrysaor, entsprangenjl44 oder eine "zürnende" Gottheit, Erinys, an der Tilphusischen Quelle in Böotien: Hier zeugte er das Wunderpferd Areion, das beim Unternehmen der "Sieben gegen Theben" Adrastos von Sikyon trug und rettete.145 Der gleiche Mythos kehrt in Arkadien wieder, in Thelpusa und Phigalia. 146 Hier ist die Partnerin Demeter, die ob ihres Zorns Demeter Erinys zubenannt wirdj sie verwandelte sich in ein Pferd, um Poseidon zu entgehen, doch dieser verwandelte sich in einen Hengst und besprang sie. Danach gebar Demeter Areion und eine geheimnisvolle Tochter. Man hat vermutet, dass der Kult des PferdePoseidon mit der Einführung von Pferd und Streitwagen aus Anatolien nach Griechenland um 1600 v. Chr. zusammenhängtj147 die Technik von Pferdebändigung und Wagenbau freilich gehört für die Griechen zur Zuständigkeit Athenas. 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147
Diod. 15,49; Paus. 7,24 f; Herakleides Fr. 46 Wehrli. Xen. Hell. 4,7,4. Hes. Scut 104; tauroi als Poseidons Opferdiener, Ath. 425c, Hsch. Tauras. Hom. Hymn. 22, 4 f; Paus. 7,21,9. Paus. 8,14,5,7 f(Pheneos). Hymn. Apoll. 230-238; Interpretation kontrovers, vgl. Schachter, BICS 23, 1976, 102-114. - Poseidon und Hippodrom in Sparta: Xen. Hell. 6,5,30; Paus. 3,20,2. Schol. Pind. Pyth. 4,246; Schol. Ap. Rh. 3,1244. - Schol. Lyk. 766, vgl. Soph. O.K. 1595; Gruppe, ARW 15, 1912, 373. Im bekannten Gorgo-Giebel vom Artemistempel auf Kerkyra, Lullies/Hirmer 1960, T. 17 f. Medusa als Kentaurin aufböotischer Reliefamphora, Schefold 1964, T. 15b. Thebais Fr.6A-C Davies, Fr. 8 Bernabe = SchoLli. 23,346. Paus. 8,25,4; 42,2/3; Walter Immerwahr, Kulte und Mythen Arkadiens, Leipzig 1891, 113-120, und Stiglitz 1967, 110-134 suchen nach historischen Kultüberschichtungen. Schachermeyr 1950, 148-155.
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Man hat Poseidon als "Gatten der Erde" gedeutet (Anm. 2), damit das Pferd als "chthonisches" Wesen assoziiert und die Beziehung zum Meer für sekundär erklärt. l48 Dies ist einzuschränken und zu präzisieren. Mit den aus der Erde wachsenden Pflanzen hat Poseidon so wenig zu tun wie mit den Toten, und die zürnende Pferdernutter ist nicht von vornherein die Erde. Dagegen ist auch die Pferdegeburt mit Wasser verbunden; es gibt die "Pferdequelle", HiPpou Krene, die der Huf des ersten Pferdes schlug;l49 das Pferd entspringt, wo die Tiefe sich auftut. Umgekehrt müssen Pferde versinken: Im Süßwasserquell im Meer, dem "Wirbel" (Dine) bei Argos, werden für Poseidon Pferde versenkt. 150 Dies gehört zu den uralten, weit verbreiteten Versenkungsopfern. 151 Versenkungsopfer für Poseidon sind auch sonst bezeugt.152 Das Versinken in der Tiefe, so dass nur ein Stückchen "Meer" übrigbleibt, kommt auch im Erechtheus-Mythos vor. Umgekehrt kann Poseidon auch Süßwasser aufbrechen lassen; so sprudeln für die Danaostochter Amymone, die sich Poseidon ergab, alsbald die reichen Quellen von Lerna empor;153 ja alle Quellen gelten als von Poseiqon gesandt. 154 Auch als Meeresgott offenbart sich Poseidon, indem das Meer sich auftut, ob nun die Ungeheuer unter ihm spielen oder sturmgepeitschte Wogen sich türmen. So erscheint Poseidon als ein Herr der Tiefe, besonders des Wassers der Tiefe, vergleichbar dem sumerischen "Herrn des Unten", Enki, der mit dem Himmelsgott Anu und dem Sturmgott Enlil die große mesopotamische Götterdreiheit bildet (Anm.l22). Der Herr der Tiefe ist auch ein Gott der Orakel. Dem Poseidon untersteht das Totenorakel am Kap Tainaron, er wird sogar als ursprünglicher Herr von Delphi genannt.155 Sein Intimfeind Odysseus, der Seefahrer, der orakelsuchend bis zur Unterwelt gelangt, wird gleichsam zum Poseidonpriester, indem er eine neue Kultstätte des Poseidon, wohl ein Totenorakel, begründet.156 In der homerischen Dichtung wird aus solchem Hintergrund und solchen Aktionen ein eigentümlicher Charakter des Gottes: Er ist groß und mächtig, doch von einer gewissen Schwere, nie jugendlich beschwingt, sondern entschieden der älteren Generation zugehörig und eher onkelhaft besorgt. Er muss denn auch manche Kränkung 148 Entschieden GdH I 211-224, vgl. RE XXII 451-454; Schachermeyr 1950, 13-19 u. pass.; Ludolf Malten, Das Pferd im Totenglauben, JdI 29, 1914, 179-255. Dagegen GGR 450: "Gott der Gewässer. " 149 RE VIII 1853-1856. 150 Paus. 8,7,2. Poseidon, Pferdeopfer, Versinken im Fluss auch im Euenos-Mythos, ApolIod. 1,60. 151 Berta Stiernquist bei Herbert Jankuhn, Vorgeschichtliche Heiligtümer und Opferplätze, Abh. Göttingen 1970, 90 f, vgl. 168 f. Pferde im Fluss versenkt: Il. 21,131 f; GGR 237. 152 Stiere: Theophrast Fr. 709 Fortenbaugh = Ath. 261d; Plut. Sept.sap.conv. 163B; allgemein Eust. 1293,8. 153 PR II 274 f. 154 Aisch. Sept. 308. 155 psychopompeion am Tainaron: Plllt. Ser.num.vind. 56E; hyperkritisch Felix Bölte, RE IV A 2045 f. Delphi: Eumolpia Paus. 10,5,6; Eust. Dion. Per. 498; Paus. 10,24,4; GdH I 213; G. Daux, BCH 92, 1968,540-549; HN 151,21. 156 Od. 11,119-134. - II8 Anm. 53.
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hinnehmen; er kann die Zerstörung Troias nicht beschleunigen, er kann die Heimkehr des Odysseus nur stören, nicht verhindern. Er zeugt das Pferd, er beherrscht das Meer, doch Athena ist es, die Zaumzeug und Zügel erfindet, die das erste Schiff baut; sie triumphiert über ihn auch in Athen. Poseidon bleibt Verkörperung elementarer Kraft; Seesturm und Erdbeben sind die gewaltigsten Energieformen, die den Menschen unmittelbar treffen, während zugleich das Pferd im Dienst des Menschen die stärkste Energie war, die sich damals kontrollieren ließ. Man kann mit solcher Macht ringen, man muss mit ihr rechnen; erhellende Klarheit kommt nicht von ihr, sondern von Athena oder Apollon; und ganz unwiderstehlich ist allein der himmlische Blitz.
1.4 Athena Die Göttin Athena,157 genauer Athenaia, ionisch Athenaie, attisch Athena, episch verkürzt Athene, gehört nach Name und Wirkungskreis auf das Engste zu jener Stadt Athen, die noch heute von ihrem ,,]ungfrauengemach", dem Parthenon, Inbegriff griechischer Kunst, überragt wird. Ob in der Benennung die Stadt oder die Göttin vorangeht, ist ein alter Streit. Da -ene ein typisches Ortsnamensuffix ist - Mykene, Pallene, Troizen(e), Messene, Kyrene -, hat wohl doch die Göttin den Namen von der Stadt, sie ist die "Pallas von Athen", Pdllas Athenaie, wie Hera von Argos Here Argeie heißt. l5B Auch das einzige Linear-B-Zeugnis, atana potinija in Knossos, ist syntaktisch als "Herrin von At(h)ana" zu verstehen.159 Für die Athener war sie "die Göttin", he theos, schlechthin. Das Wort Pallds bleibt dunkel; es wurde bald als "Mädchen", bild als "die Waffen Schwingende" gedeutet, doch kann auch Nichtgriechisches darin stecken.160 Nilsson wollte Athena an die Schlangengöttin, die mutmaßliche Haus- und Palastgöttin des minoischen Königs, anschließen.1 61 Suggestiver noch ist die Verbindung mit der Schildgottheit von Mykene, besonders nachdem im selben Heiligtum
157 Ferdinand Dümmler, RE Il 1941-2020; CGS I 258-423; Otto 1929, 44-61; GGR 433-443; Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Athene, SBBerlin 1921,950-965 = Kleine Schriften V 2, 1937,36-53; Kerenyi 1953; Friedrich Focke, Pallas Athene, Saeculum 4, 1953, 398-413; Cecil J. Herington, Athena Parthenos and Athena Polias, Manchester 1955; Pötscher 1963; Robert Luyster, Symbolic Elements in the Cult of Athena, HR 5, 1965, 133-163; lrmgard Kasper-Butz, Die Göttin Athena im klassischen Athen, Frankfurt a.M. 1990; Neils 1996; Susan Deacy, Athena, 2008; LlMC II s.v. 158 Cook 1940, III 224; Ryszard Gansciniec, Eranos 57, 1959, 56-58; anders GGR 434; Pötscher 1963, 529; O. Szemereny JHS 94, 1974, 154 f. 159 --+ I 3 Anm. 240; 254. Ob atana Athen meint, ist offen. 160 "Mädchen" Strab. 17,1,46 p. 816, vgl. Chantraine 1980, 853; "schwingen" Apollodor Pap. Ox. 2260 II 2, Cron. Erc. 5, 1975, 20-44; zu ba'alat, Pallas Athene = Herrin von Athen, Onofrio Carruba, Atti e Memorie delll Congresso di Micenologia, 1968, II 939-942 (doch wird ba'al als Belos transkribiert). 161 --+ I 3 Anm. 33; 228.
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ein Freskobild einer Göttin mit Helm zutage kam;162 später stand in Mykene ein Athenatempel an Stelle des Palasts. Freilich ist in griechischer Zeit Athena überall die Burg- und Stadtgöttin schlechthin; oft wird dies auch durch ihre Beinamen ausgedrückt, Polias, Poliouchos.1 63 So ist ihr Tempel überaus häufig der zentrale Tempel der Stadt auf dem Burghügel, nicht nur in Athen, auch in Argos, Sparta, Gortyn, Lindos, Larisa in Thessalien, Ilion, daher sogar im homerischen Troia, obschon sie doch im Epos Troias Feindin ist. Als Burg- und Stadtgöttin manifestiert sie sich in dem in sich spannungsreichen Bild der gewappneten Jungfrau, wehrhaft und unberührbar; eine Stadt erobern, heißt metaphorisch "ihr den Schleier lösen".164 Bewaffnete Göttinnen gibt es auch im Orient: Istar in vielen lokalen Varianten, 'An at in Ugarit. 165 Syrischen Kriegerstatuetten mit Helm, Schild und erhobener Waffe166 entspricht ikonographisch das Bild der "kleinen Pallas", das Palladion. Der Mythos erzählte, dass Troias Schicksal an seinem "Palladion" hing; erst nachdem Odysseus und Diomedes zur Nachtzeit in Troia eindrangen und das Palladion raubten, konnte Troia fallen. Mehrere Städte behaupteten nachträglich, dieses Palladion zu besitzen, Athen und Argos vor anderen. 167 In Argos wird das Bild zusammen mit dem Schild des Diomedes auf einem Wagen zum Bad gefahren, und eine ähnliche Prozession der Pallas zum Meer und zurück in ihren Bezirk gibt es in Athen. Athena trägt ihre Waffen nicht umsonst. "Schreckliche Weckerin des Kampfgewühls, Führerin des Heeres, eine Herrin, der Kampfgeschrei gefällt und Kriege und Schlachten", heißt sie bei Hesiod. 168 Als die Achäer zum Kampf aufbrechen, eilt Pallas Athene waffenfunkelnd durch ihre Reihen, erregt in jedem unablässige Kraft zu Kampf und Krieg;169 als Achilleus wieder in den Kampf eingreift, erhebt Athena selbst weithin schallend das Kriegsgeschrei, bald vom Graben, bald von der Küste her. 170 So glaubt im Augenblick der Erregung der Krieger die Gottheit selbst im wilden Klang zu vernehmen. Auch Archilochos schildert, wie den siegreichen Kriegern im realen Kampf Athena zur Seite stand und ihr Herz erregte; der Städteeroberer weiß sich mit ihr im Bund.l7l
162 ---<> I 3 Anm. 127. 163 CGS I 299; GGR 433-437. 164 11. 16,100. 165 Denyse de Lasseur, Les deesses armees dans l'art classique grec et leurs origines orient ales, Paris 1919; Marie-Therese Barrelet, Les deesses armees et ailees: Inanna-lStar, Syria 32, 1955, 222-260; ANEP 473 (Anat); zu Anat-Athena Robert Du Mesnil Du Buisson, Nouvelles etudes sur les dieux et les mythes du Canaan, Leiden 1973, 48-55. 166 ---<> I 4 Anm. 52; damit kreuzt sich minoische Formgebung in der Tonstatuette von Gortyn, Simon 1969, 188 Abb. 169/170. 167 Ziehen RE XVIII 3, 171-189; Lippold ibo 189-201; Fernand Chavannes, De Palladii raptu, Diss. Ber\in 1891; Burkert ZRGG 22, 1970, 356-368. ---<> II 4 Anm. 43 f; 1I 5 Anm. 84. 168 Theog. 925 f. 169 11. 2,446-54. 170 Il.20,48-50. 171 Archilochos Fr. 94 West; Inschrift von Xanthos Kaibel 768 ~ TAM I 44c, V. 7.
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Kennzeichen und Panzer Athenas ist die Aigis;172 wenn sie. die Aigis erhebt, werden die Feinde panisch verstört und sind verloren.173 Die Aigis ist, wie der Name sagt, ein Ziegenfell; ein besonderes Ziegenopfer gehört zum Athena-Kult in Athen. 174 Der Mythos malt aus, wie diese Ziege ein Ungeheuer, eine "Gorgo" war, die von Athena selbst getötet und gehäutet wurde;175 die bildende Kunst hat aus dem Tierkopf ein Gorgonenhaupt gemacht und lässt die Aigis von Schlangen gesäumt sein, während der Iliasdichter zivilisierter von goldenen Fransen spricht.176 Unheimlicher noch sind Mythen, wonach Athena ein Menschenwesen, einen Riesen Pallas, erschlagen, abgehäutet und sich in seine Haut gekleidet habe, weswegen sie Pallas heiße; es wurde gar behauptet, dieser Pallas sei ihr eigener Vater gewesen.177 Neben solch urtümlicher Grausamkeit steht die Sorge für friedliches Handwerk, zumal die Arbeit der Frauen an Spindel und Webstuhl. Athena Ergdne ist Erfinderin und Patronin der Wollarbeit, der "prächtigen Werke", die einen so wesentlichen Bestandteil häuslichen Besitzes und Stolzes ausmachen; sie führt auch selbst die SpindeU7s Ihr weben die Frauen Athens gemeinsam den Peplos, der am Panathenäenfest überreicht wird; eingewirkt freilich sind regelmäßig Bilder vom Gigantenkampf.179 Athena ist auch die Göttin der Zimmerleute, sie hat den Wagen erfunden so gut wie das Zaumzeug der Pferde, sie baute das erste Schiff, sie half das Hölzerne Pferd zu konstruieren. ISO Schließlich ist ihr der milde Ölbaum heilig, insbesondere jener Ölbaum auf der Athener Akropolis, der den Fortbestand der Stadt verkörperte: welches Zeichen der Hoffnung, als er nach dem Perserbrand wieder ausschlug. lsl Zusammen mit Zeus wacht sie über die Ölbäume überhaupt, von denen an ihrem Fest, den Panathenäen, das Öl den Siegern als Preis zugemessen wird. Als in der Urzeit die Götter um das attische Land stritten, hat Athena den Ölbaum wachsen lassen und damit Athen gewonnen, während Poseidon mit der Salzquelle, die er aus dem Felsen schlug, zurückstehen musste. Das Verbindende dieser divergierenden Bereiche liegt nicht im Elementaren, sondern im Zivilisatorischen, in der rechten Fixierung der Rollenverteilung von Frauen, Handwerkern und Kriegern und in der organisatorischen Klugheit, die dies bewerk172 173 174 175 176 177 178 179 180
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GGR 436 f; Cook 1940 III 837-865; Kerenyi 1953,57-64. Od. 22,295-298. Varro r.r. 1,2,19 f; HN 172 f. --... V 2 Anm. 32. Eur. Ion 987-997; zum Gorgoneion - II 7 Anm. 54. Il. 2,446-449; mit Gorgo-Kopf: 11. 5,738-742. Riese Pallas: Epicharm Fr. 85a Austin, Apollod. 1,37; vgl. Athena gegen Asteros auf Kos: Meropis, SH Fr.903A = PEG 131-135; Vater Pallas: Schol. Lyk. 355; Cic. n.d. 3,59. Simon 1969, 188 Abb. 168; vgl. Il. 14,178; Od. 7,110; 20,72. Eur. Hek. 466-474 m. Schlol; Arist. Fr. 637; HN 175,92. Athena Chalinitis, Pind. 01. 13,65; Paus. 2,4,1; Nikolaos Yalouris, Athena als Herrin der Pferde, MH 7, 1950, 19-101; Argo, Apollod. 1,110, Apoll. Rh. 1,19, vgl. Il. 15,412; Hölzernes Pferd Od. 8,493. Hdt. 8,55. - II 5 Anm. 18.
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stelligt. Nicht der wilde Ölbaum von Olympia, sondern der veredelte ist Athenas Gabe. Poseidon zeugt gewaltsam das Pferd, Athena legt ihm Zügel an und baut den Wagen; Poseidon erregt die Wellen, Athena baut das Schiff; die Schafherden mag Hermes vervielfältigen, Athena lehrt die Verwendung der Wolle. Selbst der Krieg Athenas ist nicht wildes Draufgängerturn - dies ist in die Gestalt des Ares gefasst -, sondern eigentümlich kultiviert, als Tanz, als Taktik, als Entsagung: Wenn Odysseus, klug und beherrscht wie er ist, erreicht, dass das Heer der Achäer trotz Kriegsüberdruss und Heimatsehnsucht in den Kampf zieht, ist auch dies das Werk Athenas.182 Mehr als jede andere Gottheit ist Athena ihren Schützlingen nah - "Göttin der Nähe" hat Walter F. Otto sie genannt.183 Wo immer Schwierigkeiten sich lösen und etwas machbar wird, ist Athena dabei, doch so, dass sie die Leistung dem anderen nicht abnimmt: "Im Bund mit Athena - rühr' auch die eigene Hand", sagt das Sprichwort. 18t In einem der schönsten Bilder ihres Wirkens, auf der Metope aus Olympia, stützt sie mit leichter Hand den Himmel, der auf den Schultern des Herakles lastet185 : Huld und Hilfe, die leicht und fast spielerisch bleibt. Sie steht auch sonst Herakles stets zur Seite; so hilft sie, wie oft dargestellt wird, dem Perseus, Gorgo zu überlisten und zu töten. 186 In der Ilias hilft sie am unmittelbarsten dem Diomedes, indem sie selbst sein Wagenlenker wird, ja ihn antreibt, Ares zu verwunden.I 87 Freilich kann Athenas Eingreifen auch gefährlich sein; des einen Sieg ist des anderen Untergang. So lockt sie Hektor in den Tod, indem sie ihm als sein Bruder erscheint, um dann im entscheidenden Augenblick dem Achilleus seinen Speer zurückzugeben und zu verschwinden;188 bedenkenlos vernichtet sie Aias, um die Griechen zu schützen. Ihre bezeichnendste Offenbarung gilt Achilleus: Als er im Streit mit Agamemnon zum Schwert greift, steht Athena hinter ihm, fasst ihn am Haar; den anderen bleibt sie unsichtbar, doch Achilleus erkennt "staunend" die Göttin; furchtbar leuchten ihre Augen. Sie sagt, er solle seinen Zorn bezähmen; "wenn du mir folgen willst", fügt sie leichthin bei; und Achilleus gehorcht mit Selbstverständlichkeit. Man hat oft besprochen, wie hier ein psychischer Vorgang der "Selbstbeherrschung" auseinandergelegt und als göttliches Eingreifen dargestellt ist. 189 Athenas leuchtende Augen markieren ein Moment lichter Klugheit in dem sich verdüsternden Streit. Auch dem Odysseus offenbart sich Athena in besonders bezeichnender Weise: Als Odysseus, nach Ithaka heimgekehrt, sein Vaterland nicht erkennt und in Klagen ausbricht, tritt Athena in Gestalt eines Hirten nahe zu ihm, sie sagt ihm Bescheid; Odysseus, bei aller Freude misstrauisch, antwortet mit einer Lügengeschichte. Athena 182 183 184 185 186 187 188 189
H. 2,155-182; 278-282. Otto 1929, 54. Zenob. 5,93. Simon 1969, 198 f. Schefold 1964, T. 44 a. 11. 5,793-863. H. 22,214-298. H. 1,188-222; Otto 1929,49. -- III Einleitung Anm. 25.
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aber lächelt, sie wandelt ihre Gestalt, ist nun wie eine schöne, große Frau, die sich auf herrliche Webearbeiten versteht; Odysseus erkennt sie und erkennt Ithaka. Das ist es ja, sagt Athena, was sie mit Odysseus verbindet, dass er der erste ist unter den Menschen an Plänen und Gedanken, sie selbst aber unter den Göttern durch Klugheit und Listen ausgezeichnet ist; darum kann sie Odysseus nicht verlassen. 190 So lenkt sie denn die Odyssee-Handlung von Anfang bis zum klugen Ende. Nach Hesiod ist Metis, die "Klugheit", Athenas Mutter; dies ist freilich eine Klugheit besonderer Art, die Umwege, Ränke und Tricks durchaus mit einschließt;191 erst spätere Ethik hat Athena dann als sittlich verantwortliche Vernunft, phr6nesis, gedeutet. Einen raffinierten Trick vollzog Zeus selbst in seiner Verbindung mit Metis, indem er diese kurzerhand verschluckte.192 So musste Athena aus dem Haupt des Zeus geboren werden. Nach anderer Version hat Zeus Athena ganz allein, ohne Mutter, hervorgebracht. Das Bild, wie Athena gewappnet aus dem Haupt des Zeus entspringt, ist in der Kunst seit dem 7. Jahrhundert dargestellt worden;193 mit im Bild ist oft Hephaistos, mit seiner Axt, der als Geburtshelfer Zeus den Schädel spalten musste. Die Ilias spielt auf die besondere Zusammengehörigkeit von Athena und Zeus deutlich an: Zeus allein hat diese Tochter ,,geboren".194 Dieser Geburtsmythos ist ebenso populär wie rätselhaft. Er ist kaum aus Naturmetaphorik herzuleiten - Geburt aus dem Bergeshaupt195 -, erst recht nicht aus Allegorie, wonach die Klugheit aus dem Kopf kommt, das rechte Denken sitzt für die frühen Griechen eher im Atem, im Zwerchfell. Einzelmotive haben orientalische Parallelen, so das Verschlucken und Gebären aus unüblichem Körperteil im KumarbiMythos;l96 der ägyptische Thoth, Gott der Klugheit, wird aus dem Haupt des Seth geboren.197 Die Griechen betonten seit Homer die einzigartige Bindung an den Vater: "ganz gehöre ich zum Vater".198 Und doch ist in der gewaltsamen Bindung ein sehr ambivalentes Verhältnis angedeutet: Schädelspalten ist allemal tödlich, nicht umsonst flieht Hephaistos, nachdem er zugeschlagen, mit seiner Axt auf vielen Bilddarstellungen. Axthieb und Flucht war kultische Realität im Rinderopfer für Zeus, 190 Od. 13,221-310. 191 Jean-Pierre Vernant/Marcel Detienne, Les ruses de l'intelligence. La metis des Grecs, Paris 1974, 167-241. 192 --+ III 1 Anm. 19. 193 Hes. Theog. 886-900, 924-926, vgl. West z.d.St.; Alternativfassung Hes. Fr. 343; Hom. hymn. 28; S. Kauer, Die Geburt der Athena im altgriechischen Epos, 1959; Alberto Bernabe, EI nacimiento de Atenea en la literatura griega arcaica, in: Ricardo Olmos (Hrsg.), Mitologia y Iconografia, Madrid 1986,87-95. Älteste Darstellung, Reliefpithos von Tenos, Schefold 1964, T. 13; Simon 1969, 186; LIMC II s.v. nr. 360, vgl. nr. 343-364. 194 Il. 5,875. 195 Wilamowitz, Kleine Schriften V 2, 43. 196 Güterbock 1946,7; ANET 120; Hoffner/Beckman 1990, 40 f.; TUAT 829 f.; Geoffrey S. Kirk, Myth, 1970,215-217. 197 Helck WM I 402; Lichtheim II 220; TUAT 944-946. 198 Aisch. Eum. 738.
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gerade auf der Akropolis im Angesicht des Parthenon-Ostgiebels.I99 Dieses - nie ausgesprochene - Element von Vatermord im Geburtsmythos führt zurück zum apokryphen Pallas-Mythos. Zugleich ist die Mutterlosigkeit Absage der Jungfrau ans Weibliche überhaupt: nicht einmal mit einem Frauenschoß ist sie in Berührung gekommen. Die zivilisatorische Klugheit ist abgetrennt vom Lebensgrund. Merkwürdig gegenstrebig ist der athenische Lokalmythos vom Ursprung des ersten Königs: 20o Hephaistos, der gewalttätige Geburtshelfer, verlangte die von ihm ans Licht gebrachte Jungfrau zu entjungfern; er verfolgte sie, vergoss seinen Samen auf ihren Schenkel; sie wischte das ab und warf es auf die Erde; daraufhin gebar die Erde den Knaben Erichthonios-Erechtheus, den Athena in ihrem Tempel aufzog. Die Fortsetzung, wie das heimliche Kind von den Kekrops-Töchtern entdeckt wird und ihnen den Tod bringt, steht in enger Beziehung zum Arrhephoren-Ritual auf der Akropolis. 2oI Athena, die Jungfrau, wird so um ein Haar zur Mutter des Urkönigs, der im Erechtheion fortdauernde Ehren genießt. Das Paradox einer Identität von Jungfrau und Mutter auszusprechen, scheut der Mythos zurück. Im Gegensatz zu solch alten Zweideutigkeiten hat man im 5. Jahrhundert der erhabenen, unberührbaren Jungfrau, Parthenos, den prächtigsten Marmortempel ganz neu erstellt. Für ihn schuf Pheidias das Goldelfenbeinbild der sieghaften Göttin, stehend, mit Prunkhelm und Schild, die geflügelte Siegesgöttin Nike auf der rechten Hand. Von religiöser Ergriffenheit, wie sie der Zeus von Olympia ausstrahlte, ist merkwürdigerweise in Bezug auf dieses Bild nie die Rede; dafür wird das Gewicht des Goldes treulich verzeichnet. 202 Der Peplos wurde nach wie vor dem alten, schlichten x6anon überreicht, das dann im Erechtheion war; der Parthenon steht auf künstlichem Fundament.
199 ~ V 2 Anm. 41. Cook 1940, III 656-739; Jeanmaire RA 48, 1956, 12-39. 200 Danais Fr. 2 Bernabe = Harpokr. Autochthones (Text unklar, ergänzt durch Tabula Borgiana); ApolIod. 3,188; Paus. 3,18,13; Cook 1940, III 181-237; HN 170 f. ~ I 2 Anm. 32. 201 ~ V 2 Anm. 28. 202 Die antiken Testimonien bei Overbeck Nr. 645-690. ~ II 5 Anm. 83; T. W. Hooker (Hrsg.), Parthenos and Parthenon, Oxford 1963; Cecil J. Herington, Athena Parthenos und Athena Polias, Machester 1955; Gerhard Zinserling, Zeustempel zu Olympia und Parthenon zu Athen: Kulttempel? A. Ant. Hung. 13, 1965,41-80.
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1.5 Apollon Man hat Apollon 203 oft den "griechischsten der Götter" genannt,z04 nicht ohne Grund. Auch wenn das Missverständnis, als ob alle archaischen Jünglingsstatuen Apollon darstellten, längst ausgeräumt ist, bleibt doch bestehen, dass jenes plastische Idealbild vom kostbaren "Höhepunkt" (akme) körperlicher Entwicklung vor allen anderen Göttern Apollon meinen kann, mindestens seit jenen gehämmerten Bronzefiguren aus dem Apollontempel von Dreros. 205 Dass der Jugendliche, der Kouros, zum Ideal erhoben wurde, gibt der griechischen Kultur insgesamt ihr Gepräge;206 gereinigt und erhöht erscheint das Ideal im Göttlichen: Der Gott dieser Kultur ist Apollon. Apollons Verehrung ist überall verbreitet,207 sie durchdringt den staatlichen wie den privaten Bereich. Wichtige, gerade alte Tempel und Kultstatuen gehören dem Gott; theophore Namen wie Apelles, Apollonios, Apollodoros sind überaus häufig. 20B Eine Besonderheit des Apollonkults ist, dass er zwei überregionale Zentren hat, die geradezu missionarische Ausstrahlung entfalten: Delos und Pytho_Delphi;209 Heiligtümer speziell des Delischen oder des Pythischen Gottes finden sich an vielen Orten, oft auch nebeneinander. Festgesandtschaften wurden von dort aus regelmäßig zum Zentralheiligtum abgeordnet; für die Kommunikation unter den Griechen und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl hat dies eine wesentliche Rolle gespielt. 210 Delos, die kleine Insel ohne Quellen, war der zentrale Markt und das gemeinsame Heiligtum der Kykladen; das abgelegene Delphi verdankt seine Blüte dem Orakel. Sein großer Aufstieg fa.1lt mit der Epoche der Kolonisation zusammen; bald verehrte man Apollon den "Führer", Archegetes, von Sizilien bis zum Phasis am Asowschen Meer, und nicht wenige Städte hießen Apollonia. 211 Die Verbreitung des Apollonkults ist um 700, als unsere Schriftquellen einsetzen, bereits vollzogen. Im Epos ist Apollon einer der wichtigsten Götter. Trotzdem
203 Konrad Wernicke, RE II 1-111; CGS IV 98-355; Otto 1929,62-91; GGR 529-564; Karl A. Pfeiff, Apollon. Wandlung seines Bildes in der griechischen Kunst, Frankfurt a.M. 1943; Karl Kerenyi, Apollon. Studien über antike Religion und Humanität, Düsseldorf 1953; Franz Bömer, Gedanken über die Gestalt des Apollon und die Geschichte der griechischen Frömmigkeit, Athenaeum 41, 1965, 275-303; Burkert 1975; Solomon 1994; Detienne 1998; Monbrun 2007; Graf 2009; LIMC II s.v. 204 Otto 1929, 78; GGR 529. 205 -+ I 4 Anm. 16. 206 Dazu Georges Devereux, Symb. Oslo. 42, 1967, 76 f, 90 f. 207 Übersicht RE II 72-84, überholt, doch nicht ersetzt. 208 Sittig 1911, 36-40; vgl. Peter M. Fraser (Hrsg.), A Lexicon of Greek Personal Names I-IV, Oxford 1984-2005; Burkert 1975, 7 f. 209 Delos: Gallet de Santerre 1958; Delphi -+ II 8 Anm. 63. 210 Dass der Homerische Schiffskatalog einer Delphischen (Amphiktyonischen?) Thearodokenliste folgt, ist die These von A. Giovannini, Etude sur les origines du Catalogue des Vaisseaux, Bern 1969. 211 RE II 111-117; archegetes Thuk. 6,3,1; hegemon in Phasis Jeffery 1990, 368.
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herrscht der Eindruck, dass Apollon nicht nur ein jugendlicher, sondern ein "junger" Gott bei den Griechen sei. Es gibt kein sicheres Zeugnis für ihn in Linear B.2I2 In Delos ist die eigentliche Herrin des Heiligtums Artemis; ihr gehört der älteste, um 700 errichtete Tempel, ihr der berühmte Hörneraltar; Apollons Tempel steht am Rand, erhielt freilich dann das monumentale, goldüberzogene Bild.213 Ein Hinzutreten Apollons zu Artemis im 9. Jahrhundert lässt sich vielleicht in Kalapodi fassen. m In Delphi hat das zentrale Temenos immer Apollon gehört, es ist aber nicht vor der Mitte des 8. Jahrhunderts angelegt; dass der angrenzende Bezirk der "Erde" älter sei, weiß allein der Mythos. Dass die großen Apollonfeste Karneia, Hyakinthia und Daphnephoria zuerst ohne Apollon gefeiert wurden, ist eine Vermutung,215 die in die dunklen Jahrhunderte zurückgreift. Gesichert schien eine Zeitlang, dass Apollon ein kleinasiatischer, speziell lykischer Gott sei; einer seiner häufigsten Beinamen ist Lykeios; die !lias verbindet ihn mit Lykienj obendrein ist er im homerischen Epos ein Feind der Griechen. Dahinter glaubte man hethitische Anknüpfungspunkte zu entdecken. Die fortschreitende Erschließung des Späthethitischen und Lykischen hat zumindest die Herleitung aes Namens wieder zusammenbrechen lassen; eine 1974 veröffentlichte Inschrift hat endgültig bewiesen, dass Apollon kein lykischer Gottesname ist. 216 Es bleiben merkwürdige, wohl alte Beziehungen von Delos zu Lykien, es bleibt die Reihe von ApollonOrakeln an der Küste Kleinasiens von Daphne bei Antiochia über Mallos und Mopsuestia in Kilikien, Patara in Lykien, Telmessos in Karien bis Didyma und Klaros, Gryneion und Zeleia. Später sind kleinasiatische Stadt- und Gaugötter im Zug der Hellenisierung oft Apollon genannt worden. Aber dass der Gott schlechthin, Name, Kult und Mythos, importiert sei, ist unbeweisbar. In der ersten Hälfte des 7. Jahrhundert schon hat Gyges, König von Lydien, als entscheidenden Orakelgott den Apollon von Delphi, nicht einen Kleinasiaten, herangezogen (Hdt. 1,14). Mindestens drei Komponenten lassen sich in der Vorgeschichte der Apollonverehrung mit einiger Deutlichkeit ausmachen: eine dorisch-nordwestgriechische, eine kretisch-minoische und eine syrohethitische. Der Name in der älteren, vorhomerischen Form Apellon ist kaum zu trennen von der Institution der apellai, Jahresversammlungen des Stammes- oder Geschlechterverbandes, wie sie in Delphi und in Lakonien bezeugt und aus dem Monatsnamen Apellaios für das ganze dorisch-nord212 213 214 215 216
-- I 4 Anm. 53. ~ II 5 Anm. 80. Felsch 1998. ~ I 4 Anm. 41. Wilamowitz, Hermes 38, 1903, 575-586; GdH I 89 f. Gegen Wilamowitz, Hermes 38, 1903,575-586; GdH I 324-328; Burkert 1975, 1-4,21; die Inschrift von Xanthos: Henri Metzger, Xanthos VI: La stele trilingue du Letoon, 1979. Nilsson akzeptierte einen "Apulunas" aus hethitischen Hieroglyphen, GGR 558 f; diese Inschriften sind neu behandelt von John D. Hawkins, The Hieroglyphic Inscription of the Sacred Pool at Hattusa (Südburg), Wiesbaden 1995, Appendix 2,86-102, wobei von der alten Lesung nichts geblieben ist. Zu Apollon Lykeios Burkert 2007, 186-194.
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westgriechische Gebiet zu erschließen sind. 217 Einer der ältesten Apollontempel ist in Thermos nachgewiesen, dem Ort der Jahresversammlung der Aetoler. 218 Bei einem solchen Anlass ist die Aufnahme der neuen Mitglieder, der Herangewachsenen, ein wichtiger Akt: Die apellai sind notwendigerweise zugleich ein Initiationsfest. ApelIon ist der Ephebe an der Schwelle des Erwachsen-Seins, noch mit dem langen Haar des Knaben: "der mit dem ungeschorenen Haar", akersek6mes, heißt ApolIon in der Ilias. 219 Er ist Inbegriff jenes "Wendepunktes der Jugendblüte", telos hebes, den der Ephebe erreicht hat und mit dem Fest, das ihm Einlass in die Männergesellschaft verschafft, auch schon hinter sich lässt; entrückt und bewahrt bleibt das Bild des Gottes. Zu Versammlung und Männerbund lässt sich auch das Beiwort Lykeios, der "wölfische", und vielleicht PhoiboS 220 stellen; sicher gehört auch Delphidios, Delphinios in diesen Zusammenhang. 221 Apollons Kult1ied ist der Paian. Paiawon ist ein selbständiger Gott im griechisch beherrschten Knossos, Paieon kann auch in der Ilias noch von Apollon unterschieden werden, während doch zugleich paieon das heilende Lied ist, das Apollon gehört: Es besänftigt seinen Zorn. 222 Die intime Beziehung von Gott und Lied scheint aus minoischer Tradition zu stammen; nach literarischen Zeugnissen ist der kretische Paian als Lied und Tanz Anfang des 7. Jahrhunderts aus Kreta nach Sparta übertragen worden;223 der Paian gehört besonders zu den Hyakinthien von Amyklai. Offen bleibt von hier aus, warum Apollon mit Pfeil und Bogen auftritt, obwohl er nicht Gott der Jäger ist, warum er speziell mit Hirsch oder Reh verbunden ist, aber auch den Löwen im Gefolge hat. Apollons Pfeile bedeuten im ersten Iliasbuch die Pest; der Heilgott ist zugleich Pestgott. Dies verbindet ihn mit dem semitischen Gott Resep/Raspu, der als Pestgott Feuerbrände verschießt; "Resep vom Pfeil" heißt er in Ugarit wie in Zypern, Löwen gehören ihm dort wie hier; er wird regelmäßig mit Apollon gleichgesetzt. Vielleicht ist im Namen des Apollonheiligtums von Amyklai der Name des semitischen, auf Zypern verehrten Resep (A)mukal bewahrt. 224 Die besondere Rolle der Siebenzahl im Apollonkult muss aus semitischer Tradition stammen. 225 Die Kriegerstatuetten, die in gar nicht so geringer Zahl nach Griechenland 217 Burkert 1975, nach Harrison (1912) 1927,440 f, Kern 1926, I 111. Widerspruch Robert S. Beekes, Journal ofNear Eastern Religions 3,2003,1-21; dagegen Markus Egetmeyer, Lumiere sur les loups d'Apollon, Res Antiquae 4 (2007) 205-219, bes. 215,57. 218 Polyb. 5,8,4; 11,7,2; 18,48,5; Gruben 1966, 32-37. - II 5 Anm. 63. 219 Il. 20, 39. - II 2 Anm. 29. 220 Burkert 1975, 14,56. 221 Hymn. Apol\. 496 f; Fritz Graf, Apollon Delphinios, MH 36, 1979, 2-22. 222 - I 3 Anm. 257; II 3 Anm. 14. Paieon selbständig: Il. 5,401; 899; Apollons Lied: Il. 1,473. 223 Plut. Mus. 1134BD, 1146C; Burkert 1975, 20,83. 224 Manfred K. Schretter, Alter Orient und Hellas, Innsbruck 1974; Burkert, Grazer Beitr. 4, 1975, 51-79, bes. 55-57, 68-71, 78. Vg\. auch Herbert A. Cahn, Die Löwen des Apollon, MH 7, 1950, 185-199. 225 Apollon ist hebdomagetas, Aisch. Sept. 800 f; Opfer der spartanischen Könige am 7. Monatstag, Hdt. 6,57,2; vg\. GdH I 328. - V 2 Anm. 12. Kriegerstatuetten - I 4 Anm. 52.
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gelangt sind, lassen sich vom Ägyptischen her Resep nennen, aber auch als der hethitische "Schutzgott" auffassen, der mit dem Hirsch verbunden ist und insofern mit dem Stier des Wettergottes kontrastiert; auch mit Pfeil und Bogen wird der Hirschgott dargestellt. Dass Zypern nach 1200 als Schmelztiegel anatolischer, semitischer und griechischer Elemente eine Rolle spielte, lässt sich vermuten; im zyprischen Kult des Apollon Alasiotas hat sich der bronzezeitliche Name von Zypern erhalten. zz6 Vieles bleibt vorläufig im Dunkel, insbesondere auch, wo und wie die Trias Leto-Apollon-Artemis zustande kam. ZZ7 Jugendhaft reiner Neubeginn in der Jahresversammlung, Bannung des Unheils in Lied und Tanz und das Bild des pfeiltragenden Schutzgottes lassen sich zusammensehen; dass eine einheitliche Gestalt daraus geworden ist, wird wohl mehr noch als bei anderen Göttern der Dichtung verdankt. Dabei haben sich die Dichter oder vielmehr Sänger in besonderem Maß unter den Schutz des Apollon gestellt. In doppeltem Wirken wird Apollon schon im ersten Buch der Ilias vorgestellt: Nachtgleich kommt er, die Pest zu senden, die Pfeile klirren an seiner Schulter, schrecklich zirpt die Sehne des Bogens; Tiere und Menschen fallen, bis endlich der Gott im Paian versöhnt wird. Auf dem Olymp unter den Göttern aber spielt Apollon selbst die "wunderschöne Phorminx", das Saiteninstrument, und die Musen singen dazu im Wechsel mit schöner Stimme. ZZB Ähnlich im alten Apollonhymnus: Als Apollon mit seiner schrecklichen Fernwaffe den Olymp betritt, springen alle Götter von ihren Sitzen auf; allein Leto, die Mutter, bleibt sitzen; sie nimmt dann dem Sohn Köcher und Bogen ab, bietet ihm seinen Platz an, und sie freut sich, dass sie einen starken, bogentragenden Sohn geboren hat. Dann wieder schreitet Apollon leierspielend über die Erde, bis Delphi und weiter, die anmutigen Chariten tanzen samt Artemis und Aphrodite; Glanz umgibt Apollon, der in der Mitte die Saiten schlägt. ZZ9 Der Pestgott ist zugleich des heilenden Liedes Meister; die so vorgegebene Verbindung von Bogen und Leier kristallisiert zum Bild: Auch der Bogen "singt", auch die Leier "versendet" Klang. Als "in sich zurückgewendete Fügung", palintropos harmonie, hat HeraklitZ30 Bogen und Leier zusammengesehen, indem "das, was auseinandergeht, mit sich selbst eines wird ". Die kolossale Kultstatue des Apollon auf Delos trug in der rechten Hand die drei Chariten, die Göttinnen "Anmut", in der linken den Bogen; nach der Deutung des Kallimachos bedeutet dies, dass die Gnade des Gottes früher und stärker ist als die vernichtende Macht. z3I
226 KAI 42 = ICS 216 (Tamassos); Gurney 1954, 137 f; Olivier Masson in: Acts (-+ I 4 Anm. 2) 117-121. -+ 11 5 Anm. 70. 227 -+ III 2 Anm. 29. 228 I\. 1,44-52; 603 f. 229 Hymn. Apol\. 2-13; 182-206. Zum Datum des Hymnos (522) Burkert 2001, 189-197; 212-217. 230 VS 22 B 51 = 27 Marcovich. 231 Kallim. Fr. 114. -+ 11 5 Anm. 80.
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Der Pfeil wirkt aus der Ferne; als "Ferntreffer" hat man Apollons Beinamen
hekatebolos, hekebolos, hekatos verstanden. 232 Das Lied klingt auf und verklingt: ApolIon ist nicht immer greifbar nahe, trotz der Statue. Darum ist der Geburtsmythos so viel wichtiger als bei Zeus oder gar Poseidon: Dies war seine erste Epiphanie. Nach dem Schema von der Geburt des Königskindes erzählt man vom Leiden der Mutter, die durch die Welt irrte und keine Bleibe fand, bis die kleine Delos-Insel sich ihr anbot.. Dort, an der Dattelpalme, kam Leto nieder, und ganz Delos füllte sich mit ambrosischem Duft, die gewaltige Erde lachte, es freute sich selbst das tiefe Meer. Z33 Für immer ruht auf Delos etwas vom Glanz dieser ersten Stunde, wirkt nach in der Schönheit der Palme, des runden Sees. Zum Fest wird Apollon jeweils neu durch den Paian herbeigerufen, auch nach Delos; er weile in Lykien, hieß es,234 oder aber im fernen Norden jenseits eines riesigen Gebirges, beim frommen Volk der Hyperboreer. Mykenische Gräber auf Delos wurden als Gräber der "hyperboreischen Jungfrauen", die einst nach Delos gekommen seien, bezeichnet und verehrt;235 Gaben, die über Apollonia in Epirus und Dodona nach Delos gelangten und vielleicht auf der "Bernstein-Route" aus dem NordeQ kamen, galten als Gaben der Hyperboreer. 236 Auch in Delphi konnte man ApolIons Epiphanie im Fest als Ankunft aus dem Hyperboreerland gestalten; ein Hymnus des Alkaios schilderte, wie Apollon auf dem Schwanenwagen erscheint; Nachtigallen und Schwalben singen, Grillen zirpen, silbern fließt der kastalische Quell, der Dreifuß ertönt. 237 Ein noch früheres Vasenbild zeigt Apollon im Wagen mit flügelpferden, hinter ihm zwei Begleiterinnen, vielleicht hyperboreische Jungfrauen; Artemis, wohl als Herrin von Delos, begrüßt ihn. 238 Im Kult ist Apollons Ankunft auch im Tragen des Lorbeerzweigs zum Heiligtum dargestellt, den Daphnephoria. 239 Der Bogen-Gott ist gefährlich. Mitleidlos tötet er, zusammen mit Artemis, aUe Kinder der Niobe, die sich ihrer Kinderzahl gerühmt und Leto beleidigt hatte 240 • Auch Achilleus stirbt unter Apollons Pfeil; hier ist eine geheimnisvolle Fast-Identität
232 Das Rätsel liegt darin, dass die Namen hekateb610s und hekatos vom Namen der Göttin Hekate (--+ III 2 Anm. 18) nicht zu trennen sind: Chantraine 1968, 328; Carlo de Simone, ZVS 84, 1970, 216-220. 233 Hymn. Apoll. 25-126; Theogn. 5-10; zur Dattelpalme --+ II 5 Anm. 20. 234 --+ Anm. 216; Simonides PMG 519, 55a; Servo auct. Aen. 4,143; Burkert 2007, 186-194. 235 --+ I 4 Anm. 25. 236 Hdt. 4,32-35; Paus. 1,31,2; J. Treheux, La realite historique des offrandes hyperbon'ennes, Studies D. M. Robinson H, 1953,758-774; William Sale, The Hyperborean Maidens on Delos, HThR 54, 1961, 75-89; Nicholas G. L. Hammond, Epirus, Oxford 1967, 331; Heinz Kothe, Apollons ethnokulturelle Herkunft, Klio 52, 1970, 205-230; Giovanni B. Biancucci, La via Iperborea, RFIC 101, 1973,207-220; Burkert 2007, 189 f. 237 Alkaios 307c Voigt = Himer. or. 48,10 f Colonna. 238 Schefold 1964, T. 10; Simon 1969, 127; LIMC II s.v. ApolIon ur. 1005 (um 650 V. Chr., "Melische Amphora", wohl für Delos angefertigt). 239 --+ II 7 Anm. 12/13. 240 PR II 119-126.
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von Gott und Opfer im Spiel, wie bei Artemis und Iphigenie; gerade der erblühte Jüngling, noch unverheiratet, noch im Schmuck des langen Haars, fällt durch eben diesen Gott. Achills Sohn Neoptolemos findet ein grässliches Ende im Apollonheiligtum von Delphi und wird dadurch zum Heros, der über allen Opferfesten waltet. 241 Eindeutiger werden die Fronten, wenn Apollon Ungeheuer erlegt, den Unhold Tityos, der Leto vergewaltigen wollte,242 oder den Drachen von Delphi. Der Drachenkampf ist ein Wandermotiv; Name und auch Geschlecht des Delphischen Drachen werden verschieden angegeben; durchgesetzt hat sich die Fassung, wonach die Schlange "Python" hieß, ein Sohn der Erde war und Herr des Ortes, bis ihn Apollons Pfeile töteten. 243 Der Pythische Agon gilt dann als Feier dieses Siegs. An allen Apollonfesten ist Apollons Musik in den Chören der Knaben und Mädchen präsent; gerade zum Pythischen Fest gehört immer der musische Agon, Wettkampf im Lied zur Leier und zur Flöte, auch im Flöten-Solo-Spiel, auch wenn die sportlichen Veranstaltungen, besonders das Pferderennen, im Interesse des Publikums eher überwogen. Der Sieger erhält den Lorbeerkranz. Auf solche Tradition hat die Renaissance mit der Dichterkrönung des poeta laureatus zurückgegriffen. Die Musen sind für die Griechen freilich die Töchter des Zeus und der Erinnerung; aber Apollon ist ihr Anführer, Musagetes. Dass Apollon Heilgott ist, bleibt ein wesentlicher Zug seiner Verehrung, von der mythischen Gründung Didymas, als Branchos, Ahnherr des Priestergeschlechts der Branchiden, eine Seuche vertrieb,244 bis zur Erbauung des gut erhaltenen Tempels in der Bergeinsamkeit von Bassai in Arkadien, der anlässlich der Pest um 430 Apollon dem Helfer, Epikurios, gelobt und erbaut wurde. 245 Für die einzelnen Krankheiten des kleinen Mannes ist dann Asklepios eingetreten; er ist aber immer der Sohn Apollons, der auch selbst "Arzt", Iatr6s, genannt wird. Der Gott des heilenden Liedes könnte ein rechter Magiergott sein; Apollon ist das Gegenteil, ein Gott der Reinigungen und der verschlüsselten Orakel. Indem Seuche und Unheil, n6sos im weiten Sinn, als "Befleckung" gedeutet werden, wird das Unheil nicht personifiziert, sondern objektiviert; Wissen und Selbstverantwortung des Menschen kommen ins Spiel: Es gilt herauszufinden, welches Handeln die "Befleckung" bewirkt hat, und es liegt an ihm, durch neues Handeln das miasma zu beseitigen. 246 Dazu freilich bedarf es übermenschlichen Wissens: Der Gott der Reinigungen muss zugleich Orakelgott sein, so gewiss die Funktion der Orakel dann über den Bereich der kultischen Weisungen weit hinausreicht. Die Orakel haben mehr als
241 Pindar Nem. 7,42-47: Burkert 1975, 19; HN 136 f. Man singt im Paian: "Schone die Knaben", IE 205,36-38. 242 Od. 11,576-581; RE VI A 1593-1609. 243 }oseph Fontenrose, Python. A study of Delphic Myth and its Origins, Berkeley 1959. 244 Kallim. Fr. 194,28-31. --+ II 8 Anm. 62. 245 Paus. 8,41,7-9; Gruben 1966, 115-124. 246 --+ II 4 Anm. 16/17.
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alles andere in archaischer Zeit zum Ruhm des Apollon beigetragen, obgleich sie nicht überall zu seinem Kult gehören - in Delos z.B. verkümmert das Orakel -, während es doch auch die Zeus-Orakel und die Totenorakel gibt. 247 Schon in der Ilias steht der Seher unter Apollons Schutz; im Apollonhymnus ist dies Apollons Proklamation: "Die Leier sei mir lieb und der gekrümmte Bogen, und im Orakel künden will ich den Menschen den untrüglichen Ratschluss des Zeus".248 In dieser Funktion ist Apollon seinem Vater Zeus besonders nahe: "Prophet des Vaters Zeus ist Loxias".249 Freilich gehört gerade zu Apollon die indirekte, verhüllte Offenbarung; Loxias, der "Schräge", heißt er darum; schwer verständliche Äußerungen eines vom Gott erfassten Mediums werden in häufig bewusst zweideutige, unbestimmte Verse gebracht; oft fand sich die rechte Deutung erst auf das zweite oder dritte Mal durch schmerzliche Erfahrung. Apollon bleibt selbst hier, wo dem antiken Menschen das Göttliche besonders greif. bar scheint, der Distanzierte, nicht Verfügbare. Durch die kultischen Weisungen, die von Delphi ausgingen, wurden erstmalig die Umrisse einer allgemeinen, Herkommen und Gruppeninteressen übersteigenden Moral bei den Griechen sichtbar. Dass Mord einer Sühne bedarf, dass es aber auch möglich ist, durch Entsühnung über die Katastrophe hinwegzukommen, ist von Delphi aus eingeschärft und bestätigt worden. 250 Der Mythos lässt Apollon selbst sich diesem'Gesetz unterwerfen; er wird vom Olymp verbannt, als er die Kyklopen erschlagen hat, er verlässt Delphi, als er Python getötet hat, und sucht Reinigung bis im Tempetal in Thessalien. 251 Seit Aischylos stellt man sich auch vor, dass er persönlich im Tempel von Delphi die blutige Reinigung an Orestes vollzogen hat. 252 Anwalt der Reinheit ist Apollon bereits im letzten Buch der Ilias: er erhebt Anklage gegen Achilleus, der über den Tod des Patroklos nicht hinwegkommt und nicht ablässt, Hektors Leichnam zu schänden: "die stumme Erde verunstaltet er in seinem Groll". "Ein Herz, das ertragen kann, haben die Moiren den Menschen gegeben".253 Der Mensch hat die Chance, fertig zu werden und neu anzufangen im Bewusstsein seiner begrenzten Zeitlichkeit. Im 6. Jahrhundert sind am Tempel von Delphi Sprüche eingemeißelt worden in diese Form war "Weisheit" damals gefasst -, die dann den "Sieben Weisen" zugeschrieben wurden. 254 Zwei vor allen anderen sind es, die Apollons Geist, der Weisheit und Ethik zugleich ist, ausdrücken: meden dgan, "nichts im Übermaß", und gnothi
247 --+ II 8. 248 Hymn. Apoll. 131 f. 249 Aisch. Eum. 19. 250 GGR 647-652; Wolfgang Schadewaldt, Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, Hellas und Hesperien I, 1970, 669-685. 251 Eur. Alk. 6 f. - Aristonoos 1,17 p. 163 Powell; Paus. 2,7,7; 30,3. 252 --+ II 4 Anm. 16. 253 11. 24,33-54, bes. 49; 54; Franz Dirlmeier, ApolIon, Gott und Erzieher des hellenischen Adels, ARW 36, 1939, 277-299 = Kleine Schriften, 1970,31-47. 254 Arist. Fr. 3; SIG3 1268; Bruno Snell, Leben und Meinungen der Sieben Weisen, München 41971; vgl. Louis Robert, CRAI 1968,416-457; Nouveau choix d'inscriptions grecques, Paris 1971, 183 Nr. 37.
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saut6n, "erkenne dich selbst"; dies ist, wie man längst gesehen hat, nicht psycholo-
gisch und auch nicht existentiell-philosophisch im Sinn des Sokrates gemeint, sondern anthropologisch: Erkenne, dass du kein Gott bist. Eine Ethik des "Humanen" zeichnet sich ab, die allerdings dem Pessimismus näher steht als einem fortschrittlichen Programm. Apollon bleibt der "Gott der Ferne";255 der Mensch erkennt sich selbst in der Distanz zum Gott. Wiederum ist dies bereits in der Ilias gestaltet. Im Götterkampf treffen Poseidon und Apollon aufeinander; doch Apollon nimmt die Herausforderung nicht an: "Nicht besonnen müsstest du mich nennen, wenn ich mit dir um der Sterblichen willen kriegen wollte, der Elenden, die Blättern gleich bald leuchtend auf.. blühen, die Früchte der Erde essend, bald wieder dahinschwinden, jämmerlich".256 So wendet der Gott mit der Gebärde der Überlegenheit sich ab von den Menschen insgesamt, Frommen und Gottlosen, Unreinen und Reinen. Doch die Menschen, die im Bewusstsein ihres Elends eben diesen Gott sich denken, wagen damit den Entwurf des Höheren, Absoluten; die Erkenntnis der Schranke besagt, dass das Beschränkte nicht alles ist. Auch das allzu Menschliche gewinnt Licht und Form aus jener Ferne. Es war einleuchtend und doch eine Verengung, dass man seit dem 5. Jahrhundert begann, Apollon als Sonnengott zu verstehen. 257
255 Otto 1929, 77. 256 Il. 21,462-466. 257 Dass ApolIon Sonnengott sei, war noch für Roscher "eine der sichersten Tatsachen der Mythologie", RML I 422; ausführliche Widerlegung CGS IV 136-144; vgl. Pierre Boyance, L'Apollon Solaire, Melanges ]eröme Carcopino, Paris 1966, 149-170. Älteste Zeugnisse: Aisch. Hik. 212-214 (Text unsicher); Aisch. Fr. p. 138 f Radt.
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1.6 Artemis Artemis 258 ist im Kult nicht nur eine der meist verehrten, sondern auch eine der eigentümlichsten und offenbar ältesten Gottheiten. Ihr Name259 ist undurchsichtig; ob er in Linear B bezeugt ist, ist umstritten; besonders häufig erscheint er in Monatsnamen. 260 Auffallend sind ihre engen Beziehungen zu Kleinasien. Ihr Name erscheint unter den Göttern der Lyder und der Lykier, und wenn auch Übernahme aus dem Griechischen bei beiden wahrscheinlich ist, so zeigen doch die theophoren Personennamen durch nichtgriechische Bildung, wie völlig diese Göttin assimiliert ist. 261 Im Kult der Artemis von Perge 262 in Pamphylien und erst recht in der hochberühmten Artemis von Ephesos 263 scheint vollends Kleinasiatisches von griechischen Poleis übernommen zu sein, im Kultbild wie in der Organisation der Eunuchenpriester im Rahmen eines Priesterstaates. Identifizierungen mit der Großen Göttin Kleinasiens, mit Kybele oder Anahita, gingen später ohne weiteres vonstatten. Auch die Löwen hat Artemis, wie Apollon, aus östlicher Tradition zu Begleitern. "Herrin der Tiere", P6tnia theron, heißt Artemis in der Ilias 264 mit offenbar vorgeprägter Formel; hierin sieht man mit Recht einen Schlüssel zu ihrem Wesen. Das in der archaischen Kunst beliebte, aus dem Orient übernommene ikonographische Motiv einer - nicht selten geflügelten - Göttin zwischen symmetrisch angeordneten Wildtieren wird allgemein auf Artemis bezogen. Diese P6tnia theron ist eine Herrin der gesamten wilden Natur, der Fische des Wassers, der Vögel der Luft, der Löwen und Hirsche, Ziegen und Hasen; sie selbst ist wild und unheimlich, wird auch mit Gorgonenkopf gemalt. Sie hegt und schützt die Jungtiere, ist zu "spielenden Löwenjungen, ja den säugenden Kleinen aller im Feld weidenden Tiere freundlich"265; aber zugleich ist sie die Jägerin, die jauchzend ihre Beute erlegt, bewaffnet mit Pfeil und Bogen. Artemis ist immer und überall die Göttin der Jagd und der Jäger; altertümlich ist die Art ihrer Ehrung, indem der Jäger das Gehörn des erbeuteten Tieres samt 258 Konrad Wernicke RE II 1336-1440; CGS II 425-98; Otto 1929, 62-91; GGR 481-500; Gerda Bruns, Die Jägerin Artemis, Diss. Bonn 1929; Karl Hoenn, Artemis, Gestaltwandel einer Göttin, Zürich 1946; l1eana Chirassi, Miti e culti arcaici di Artemis nel Peloponneso e Grecia centrale, Triest 1964; LIMC II S.v. 259 Zu artemes "gesund" Apollodor Strab. 14,1,6 p. 635 = FGrHist 244 F 99b; zu drtamos "Metzger" Schol. Lyk. 797, PR I 296, 2; zu drktos, keltische Bärengöttin (Dea Artio), Martin S. Ruiperez Emerita 15, 1947, 1-60. 260 Doc. 127; Jono 1985, I s.v. a-te-mi-to. -+ 13 Anm. 260. Monate: Trümpy 1997, Index s.v. Dabei ist klar, dass der Stamm auf -t- endet, daher Artemisios etc., das klassische -d- ist sekundär. 261 Lydisch Artimus, Alfred Heubeck, Lydiaka, Erlangen 1959, 23; Roberto Gusmani, Lydisches Wörterbuch, Heidelberg 1964, 64; Eigenname Artimmas, Sittig 1911, 60; GdH I 324; lykisch Ertemis, RA 1970, 311 Abb. 6, Eigenname Erttimeli/Artimelis, CRAI 1974,85; 116. 262 B. Pace, Diana Pergaea, Anatolian Studies pres. to William Ramsay, Manchester 1923, 297-314; SICJ3 1015; Fleischer 1973, 233-254; 414. -+ II 7 Anm. 22. 263 Fleischer 1973. ~ II 6 Anm. 22. 264 11. 21,470. ~ 13 Anm. 231. 265 Aisch. Ag. 141-143.
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dem Fell an einem Baum aufhängt oder auch an besonderen, keulenförmigen Pfeilern. 266 Solcher Brauch wie auch die Vorstellung von einer Herrin der Tiere überhaupt könnte bis ins Paläolithikum zurückreichen. Das homerische Epos hat diesen Bereich, der doch im Titel "Herrin der Tiere" anklingt und der im Kult lebendig bleibt, entschieden zurückgedrängt und Artemis zum Mädchen gemacht. Im Götterkampf spielt Artemis eine klägliche Rolle: Eine kecke Rede, und schon packt Hera ihre Hände, schlägt ihr den Köcher um die Ohren, dass die Pfeile zu Boden fallen; tränenden Auges verlässt Artemis die Szene, um sich vom Vater Zeus trösten zu lassen, während Mutter Leto die Pfeile aufliest. 267 So ist die Göttin in die Rolle des halbgaren Mädchens neben der gestrengen Stiefmutter gedrängt; unter Kriegern scheint sie doppelt fehl am Platz. Das positive Gegenbild zeichnet die Odyssee: Die reizvollste Jungfrau, Nausikaa, gewinnt Gestalt durch den Vergleich mit Artemis. "Wie Artemis über die Berge schreitet, die pfeilschüttelnde, über den gar langen Taygetos oder den Erymanthos, sich erfreuend an Ebern und schnellen Hindinnen, und zusammen mit ihr spielen die Nymphen, die Töchter des Zeus, des Aigishalters, die im freien Feld walten, und es freut sich in ihrem Sinne Leto: über sie alle hinaus hat jene Haupt und Stirn, und leicht herauszuerkennen ist sie, doch schön sind alle: so stach unter den Mädchen hervor die unbezwungene Jungfrau".268 Dies ist dann das bestimmende Bild, Artemis im Schwarm der Nymphen bei Jagd, Tanz und Spiel auf Bergen und Fluren. Artemis ist darum die "Lärmende", keladeine; "ihr gefällt der Bogen, in Bergen Tiere zu töten, Saiteninstrumente und Tänze und durchdringende Jubelschreie, schattige Haine - und auch die Stadt gerechter Menschen", heißt es im homerischen Hymnus. 269 Dem entspricht der klassische Darstellungstyp: Die jugendliche, meist bewegte Figur mit kurzem Chiton, Mädchenfrisur, mit Köcher und Bogen, oft von einem Tier, besonders Hirsch oder Reh, begleitet - auch dies hat sie mit ihrem Bruder Apollon gemeinsam. Die Göttin im Kreis ihrer Nymphen ist hagne im besonderen Sinn, als unberührte und unberührbare Jungfrau. Ein sonst noch kaum aussprechbares Empfinden für die "jungfräuliche Natur" mit Fluren, Hainen und Bergen gewinnt hier Gestalt;270 Artemis ist die Göttin des Draußen, außerhalb der Städte und Dörfer, außerhalb der "Menschenwerke", der Äcker. Dahinter steht aber auch etwas Rituelles, das alte Jagd-Tabu: Auch der Jäger muss enthaltsam, muss rein und keusch sein; so kann er Artemis' Gunst gewinnen. Am ergreifendsten wird das artemisische Ideal im Hippolytos des Euripides gestaltet. Der Jäger Hippolytos bringt Artemis einen Blütenkranz, gepflückt von einer nie gemähten Wiese, die nur der Reine betreten darf; ihm ist dies erlaubt; ihm ist sogar gegeben, in der Einsamkeit die Stimme der Artemis zu verneh266 267 268 269 270
A.P. 6,111; Simon 1969, 167; Meuli 1975, 1084-1088. 11. 21,470-514. Od. 6,102-9, Übersetzung nach Wolfgang Schadewaldt. Hymn. Aphr. 18-20. Otto 1929,83 f; "Göttin des Draußen" GdH I 177-184.
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men. 271 Mit seiner ausschließlichen Hinwendung zu dieser Göttin freilich stellt sich Hippolytos außerhalb der menschlichen Norm; so fällt er der Aphrodite zum Opfer. Denn die Jungfräulichkeit der Artemis ist nicht Asexualität wie Athenas prak.tisch-organisatorische Klugheit, sondern ein eigentümlich erotisches, herausforderndes Ideal. In der Ilias wird der "Chor der Artemis" nur einmal erwähnt,272 um zu erzählen, wie Hermes eine aus dem Chor erotisch begehrte und zur Mutter machte. Auch sonst ist der Chor der Artemis die rechte Gelegenheit für Mädchenraub, ob nun die Dioskuren sich die Leukippiden greifen oder Theseus die Helena. 273 Kallisto, die "Schönste", jagte im Gefolge der Artemis; da nahm Zeus selbst die Gestalt der Göttin an und schwängerte Kallisto, die Gestalt der "Reinen Jungfrau" ins Gegenteil verkehrend: So wurde er Vater des Arkas, Stammvater der Arkader. 274 Die malerische Schilderung von Artemis und ihrem Gefolge knüpft hier und sonst an rituelle Gegebenheiten an. Schon das Wort nymphe bezeichnet ja ebenso die göttlichen Wesen, die in Quellen und Blumen walten, wie die menschlichen "Bräute" und "jungen Frauen" in der ersten Liebesbegegnung. 275 Allenthalben finden sich die fast erwachsenen Mädchen zu Tanzgruppen zusammen, zumal an Festen zu Ehren der Göttin; auch die Tänzerinnen von Karyai, die "Karyatiden", sind ebenso Legende wie Wirklichkeit. 276 Auch realiter ist dies eine' der wichtigen Gelegenheiten, wo junge Männer Mädchen kennen lernen können. Gelegentlich werden die Mädchen für längere Zeit in den ausschließlichen Dienst der Artemis gestellt, im Rahmen eines Initiationsrituals; das bekannteste Beispiel ist Brauron bei Athen. 277 In einem anderen Kult treiben die Mädchen mit umgebundenen Phallen Scherz,278 was sich im merkwürdigen Schicksal der Kallisto spiegelt, oder sie maskieren sich in grotesker Weise, wovon die Masken aus dem Ortheia-Heiligtum eine Vorstellung geben;279 gleich ihrer Göttin zeigen die Mädchen manchmal ein Gorgonenantlitz, womit ihr Ausnahmestatus im Draußen noch drastischer ausgespielt wird. Dabei entbehrt das heitere, nicht ganz unschuldige Bild der artemisischen Mädchenschwärme nicht des dunklen Untergrunds. Die unberührbare Göttin ist furcht271 Eur. HippoL 73-87; GB III 191-200; HN 72 f. Als Göttin des "Draußen" ist Artemis aueh Göttin der Epheben, z.B. AAA 5, 1972, 252-254. 272 Il. 16,183. 273 Leukippiden: Yase des Meidias-Malers, ARY' 1313, Arias/Hirmer 1960, T. 214 f; LIMC III S.v. Dioskouroi nr. 210; Helena: Plut. Thes. 31. 274 ApolIod. 3,100; Amphis Fr. 46 Kassel/Austin; REX 1726-1729; WilliamSale, RhM 105,1962,122141; 108, 1965, 11-35; Gigliola Maggiulli, Artemide - Callisto, in: Mythos, Seripta in hon. Marii Untersteiner, Genf 1970, 179-186. 275 Zu "Nymphe" Fatima Diez Platas in: Jose C. Bermejo Barrera/Fatima Diez Platas, Leeturas de! mito griego, Madrid 2002, 185-208. 276 "Chöre der Artemis" - II 7 Anm. 40; Milet: Plut. muI. virt. 254a; Karyai: Wide 1893, 102 f; vgI. Brelieh 1969; Calame 1977. 277 ---+ Y 3 Anm. 185. 278 Hseh. L6mbai. - II 7 Anm. 59. 279 Artemis Alpheiaia -+ II 7 Anm. 51; Ortheia ---+ II 7 Anm. 49; P6tnia therdn als Gorgo: GGR T. 30,2.
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bar, ja grausam, ihr Pfeil droht jedem Mädchen, das sein Frauenschicksal erfüllt. "Zur Löwin für die Frauen hat dich Zeus gemacht, zu töten, welche du willst", sagt Hera zu Artemis. 28o Der Brauronische Tempeldienst wie die einfacheren Proteleia-Opfer für Artemis281 galten als vorwegnehmender Loskauf von der Macht der jungfräulichen Göttinj Frauen, die im Kindbett starben, waren unmittelbare Opfer der Artemisj ihre Gewänder wurden in Brauron geweiht. 282 Doch wie der Pestgott zugleich Heilgott ist, ist die Jungfrau zugleich Geburtsgöttinj der schrille Angstschrei der Frauen ruft sie herbei, und sie kommt und bringt Erlösungj283 so verschmilzt sie mit Eileithyia. Keine Hochzeit ohne Artemis: Das Davor und das Danach in diesem entschei.denden Wendepunkt des Mädchenlebens untersteht ihrer Macht, Gefahren zu senden und abzuwehren. Als Göttin des Draußen waltet Artemis über der Jagd wie über der MädchenInitiation. Der aitiologische Mythos deutet auf eine noch intimere Verbindungj die Weihung der Mädchen nach Brauron sei Sühne für einen der Artemis heiligen Bären, den attische Jünglinge tötetenj284 darum heißen die Mädchen selbst "Bärinnen", drktoi. Das Mädchen als Ersatzopfer für das zu tötende Jagdtier, mythisch ausgemalt als Braut des Bären oder des Büffels, ist ein verbreitetes Motiv. Es scheint auch im bekanntesten griechischen Menschenopfer-Mythos durch, dem von Iphigeneia: Weil Agamemnon im Hain der Artemis einen Hirsch erlegt hat, verlangt die Göttin das Opfer der Tochter,285 für das dann im weiter ausgesponnenen Mythos in wunderbarer Weise wiederum eine Hirschkuh eintritt. Im Rahmen des Epos hat dieses Opfer die Funktion, den Krieg zu eröffnenj in der Realität gehen Ziegenopfer an Artemis Agrotera der Schlacht voraus. 286 Jagd und Kriegszug zeigen sich äquivalent. Hinter der Mädcheninitiation erscheint als noch tiefere Schicht das Bild vom Mädchenopfer. Und wie Apollon sich in Achilleus spiegelt, so Artemis in Iphigeniej Iphigenie selbst wird zur Göttin, zur zweiten Artemis. 287 So wächst gerade die Gestalt der "Jungfrau" aus dem Opfer. In der Tat ist und bleibt Artemis eine Herrin der Opfer, gerade der grausamen, blutigen Opfer. Das Artemis-Bild, das Orestes zusammen mit Iphigenie aus dem Taurerland entführte, verlangt nach Menschenblut. So lässt man es nach Halai Arapheni.des in Attika kommen, wo im Fest der Artemis Tauropolos einem Menschen der Hals
280 281 282 283 284
11. 21,483 f.
HN 75,20. Artemis-Opfer vor und nach der Hochzeit in Kyrene: LSS 115 B. II 2 Anm. 32. Eur. Hippol. 161; zu Eileithiya -+ I 3 Anm. 66/7; III 2 Anm. 10. Schol. Aristoph. Lys. 645; Zenob. Ath. 1,8 p. 350 Miller; Paus. Att. e 35 Erbse; William Sale, RhM 118, 1975, 265-284. Vasenbild, vermutlich aus Brauron, mit Bär und Bärenmasken: LiUy Kahil, CRAI 1976, 126-130. -+ V 3 Anm 185. 285 Kypria, Proklos Z. 43 p. 41 Bernabc~; PR II 1095-1106. Ausgrabung des Heiligtums von Aulis: Ergon 1958-1961. 286 -00 II 1 Anm. 97; HN 77 f. 287 Hes. Fr. 23,26. -00
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blutig geritzt wird,2BB aber auch nach Sparta, wo im Ortheia-Fest das Blut der Knaben fließt. Die Auspeitschung im Theater, als Wettspiel der Standhaftigkeit einem Publikum von Touristen dargeboten, ist in dieser Form offenbar erst eine kaiserzeitliche Errungenschaft. Die älteren Quellen weisen auf ein Kultspiel, bei dem eine Gruppe oder Altersklasse den "Käse" vom Artemisaltar zu rauben hat,2B9 während andere den Zugang peitschenbewehrt verteidigen. Auch dies ist für Griechen alles andere als ein Bild "reiner" Frömmigkeit. In der rituellen Grausamkeit ragt in die Stadtkultur etwas von der uralten Härte vorzivilisatorischer Existenz. Die Griechen haben dies gerne mit den barbarischen Taurern im fernen Norden verbunden, ohne doch die Identität dieser Göttin mit der munteren Anführerin der Nymphen zu bestreiten.
1.7 Aphrodite Der Wirkungskreis der Aphrodite290 ist am unmittelbarsten und sinnfälligsten gegeben: der lustvolle Vollzug der Sexualität. Aphrodisia, als Verbum aphrodisidzein, bezeichnet schlicht den Liebesakt. Schon in der Odyssee291 tritt der Name der Göttin dafür ein. Das alte abstrakte Substantiv für Liebesverlangen, eros, männlich nach grammatischem Geschlecht, wird als Gott Eros zum Sohn der Aphrodite; die "Sehnsucht", Himeros, steht ihm oft zur Seite; beide werden als geflügelte Jünglinge, dann auch als kindliche Putti dargestellt. 292 Auch wenn die Vergöttlichung der Geschlechtlichkeit vom Christentum her problematisch anmutet, so lässt sich doch für den modernen Menschen nachempfinden, wie im Liebeserlebnis die ganze Welt verwandelt und freudvoll gesteigert erscheint, alles andere dahinfällt: hier offenbart sich eine unerhörte Macht, eine große Gottheit. Hier eine Göttin zu benennen und kultisch zu verehren, ist aber keine spontane Schöpfung der Griechen. Seit je sieht man Aphrodite auf dem Hintergrund der semitischen Göttin Astarte, der Himmelskönigin und Hetäre, hinter der dann die sumerisch-akkadische Inanna-lStar in Erscheinung getreten ist. Dies ist im Ganzen plausi288 Eur. Iph. TaUT. 1450-1461. - II 1 Anm. 34. 289 Xen. lak. Pol. 2,9; Plat. Leg. 633b; zu den Namensvarianten dieser Göttin - Worthasia, Worthatia, Wortheia, Ortheia; Orthia ist inkorrl!kt - Ernst Risch, Hefte des Archäologischen Seminars der Universität Bern 5, 1979, 27. - 14 Anm. 30; II 1 Anm. 35; II 5 Anm. 72; V 3 Anm. 18. 290 Tümpel RE I 2729-76; CGS II 618-730; GdH I 95-98; GGR 519-526; Hans Herter, Die Ursprünge des Aphroditekultes, in: Elements orientaux dans la religion grecque ancienne, 1960,61-76; Deborah D. Boedeker, Aphrodite's Entry into Greek Epic, Leiden 1974; Jean-Edouard Dugand, Aphrodite-Astarte, in: Hommages a PierTe Fargues, Paris 1974, 73-98; Friedrich 1978; Pirenne-Delforge 1994; Budin 2003; Rachel Rosenzweig, Worshipping Aphrodite. Art and Cult in Classical Athens, Ann Arbor 2004; Barbara Breitenberger, Aphrodite and Eros. The Development of Greek Erotic Mythology, New York 2005; Pironti 2007; LlMC II s.v. Aphrodite. 291 Od. 22,444. 292 Adolf Greifenhagen, Griechische Eroten, Berlin 1952.
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bel, im einzelnen aber schwierig zu belegen, zumal der "orientalische" Hintergrund alles andere als einfach ist: Die Herleitung vom Semitischen behauptet bereits Herodot, er nennt Phöniker und Assyrer. 293 Beweisend sind vor allem die Übereinstimmungen in dem, was in Bild und Kult über bloße Sexualität hinausführt: Astart heißt "Königin des Himmels"294 wie Aphrodite die "Himmlische", Urania; zu Astart gehören Räucheraltar und Taubenopfer, genau wie zu Aphrodite und zu ihr allein. Auch die Verbindung mit dem Garten findet sich dort wie hier, auch die mit dem Meer. 295 lStar ist zugleich eine kriegerische Göttin; ebenso kann auch Aphrodite bewaffnet sein und den Sieg verleihen. 296 Die Gottheit ist zweigeschlechtig, es gibt lStar mit Bart, einen männlichen Astar neben Astart so gut wie eine bärtige Aphrodite, Aphroditos neben Aphrodite. 297 Wenn schließlich im Aphroditekult von Prostituierten die Rede ist,298 scheint auch dies mit lStar-Astart-Kult zusammenzugehen. Bei der Übermittlung haben Bilder der frontalen, nackten Göttin eine Rolle gespielt, wie sie gerade in der Kleinkunst, auf Schmuckstücken, Goldanhängern vorkommen;299 vielleicht heißt darum Aphrodite die "Goldene". Die oft abgebildeten Schmuckfigürchen aus dem 3. Schachtgrab sind fremde Ikonographie. In den mykenischen Texten gibt es keine Spur von Aphrodite.
293 Hdt. 1,105; 131; bestritten wurde die Beziehung von Alexander Enmann, Kypros und der Ursprung des Aphroditekultes, 1886; Tümpel ---;. Anm. 290; vgl. Anm. 18. Zu lStar-Astarte Gese 1970, 161164; Helck 1971, 230-242; RIAss V 74-89; Corinne Bonnet, Astarte, Rom 1996; Budin 2003. Zur komplexen Ikonographie Winter 1983. 294 AT JeT. 7,18; 44,17-19. 295 Walter Andrae, Der kultische Garten, Welt des Orients 1, 1947/52,485-494; Hierokepia bei Paphos, Strab. 14,6,3 f. p. 683; Ernst Langlotz, Aphrodite in den Gärten, SBHeidelberg 1953, 4. - Astarte und Jam ("Meer"): ANET 17 f. 296 GGR 521,5; Johan Flemberg, Venus Armata. Studien zur bewaffneten Aphrodite in der griechischrömischen Kunst, Stockholm 1991. ---;. III 1 Anm. 165. 297 Andre Caquot, Syria 35,1958,45-60; Gese 1970, 137-139; Aphroditos auf Zypern, Paion FGrHist 757 F 1; in Athen mit Riten des Kleidertausches, Philochoros FGrHist 328 F 184. 298 Der Begriff der sakralen Prostitution, der vor allem auf einer Mischung von Metapher und Polemik im Alten Testament beruht, wird inzwischen sehr kritisch hinterfragt, im semitischen wie im griechischen Bereich: Edwin M. Yamauchi, Cultic Prostitution, in: Orient and Occident, Essays Cyrus H. Gordon, 1973, 213-222; Bonnie McLachlan, Sacred prostitution and Aphrodite, Studies in Religion 21 (1992) 145-162; Christopher A. Faraone, Prostitution and Courtesans n the Ancient World, Madison 2006; ganz negativ Budin 2008. Prostituierte sind beim Aphradisia-Fest in Kalydon prominent, Plaut. Poen. 252-270, 317-322, 333-342, 1174-1183. Ein Einzelfall war die Stiftung von 25 (?) Prostituierten für Aphrodite in Korinth durch den Olympiensieger Xenophon im Jahr 480 v. Chr., Pindar Fr. 122; vgl. Heinz A. Schmitz, Hypsos und Bios. Diss. Zürich 1970, 30-32; Hans Conzelmann, Korinth und die Mädchen der Aphrodite, NGG 1967,8; Pirenne-Delforge 1994, 110113. - Lokroi: lustin. 21,3; Prückner 1968, 9-14; umstritten die inschriftliche Nennung von "Lohn (Pacht?) der geheiligten Frauen gemäß dem Beschluß", Alfonso de Franciscis, Stato e societa in Locri Epizefiri, Neapel 1972, 152 f; Simon Pembroke, Annales ESC 5, 1970, 1269 f. 299 Winter 1993; Böhm 1990; vgl. Marinatos 2000; Burkert 2003, 21 f; 36; zum Schachtgrab ---;. I 3 Anm.230.
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Als Zwischenstation nennt die Überlieferung speziell Paphos. Dort ist schon in der Odyssee Aphrodites Heimat/ oo und Kypris ist seit der Ilias der geläufigste poetische Name der Göttin. Gerade dass der alte, hochberühmte Aphroditetempel von Paphos jetzt archäologisch fassbar geworden ist,301 kompliziert indes die Lage: Es handelt sich um eine monumentale Anfage des 12. Jahrhunderts v. ehr., aus der Epoche, als mykenische Achäer dort siedelten; aus mykenischer Tradition stammt evidentermaßen auch die dreiteilige Tempelfassade mit Kulthörnern, wie sie die späten Münzbilder zeigen. Die Göttin heißt gut mykenisch Wanassa "Königin". Die phönikische, von Tyros ausgehende Kolonisation hat Zypern erst im 9. Jahrhundert erreicht; um 800 ist der mykenische Tempel von Kition durch ein Astarte-Heiligtum ersetzt worden. 302 Und doch ist der monumentale Tempelbau an sich so wenig mykenisch wie Aphrodite. Aphrodites zweites berühmtes Heiligtum auf Zypern ist in Amathus,303 wo, trotz des griechischen Ortsnamens, einheimische, "eteokyprische" Schrift und Sprache bis an die Schwelle des Hellenismus bewahrt blieb. Schlechthin heimisch auf Zypern dürfte Aphrodite nicht sein; bronzezeitliche Statuetten der nackten Göttin sind auf Zypern vogelgesichtig, von abschreckender Hässlichkeit. Immer war Zypern mannigfachen nahästlichen Einflüssen ausgesetzt; ohne Entzifferung der kyprischen Schriften lassen sich diese aber kaum bestimmen. Bemerkenswert ist eine Bronzestatuette der nackten Göttin, die auf einem Kupferbarren steht, Gegenstück zum "Gott auf dem Kupferbarren" aus Enkomi,304 während zugleich an der spätmykenischen Anlage von Kition die Verbindung von Tempel und Schmiedewerkstätten auffiel. Die Verbindung von Aphrodite und Hephaistos scheint hier einen unerwarteten Tiefgang zu gewinnen. Doch der "Ursprung" Aphrodites bleibt so dunkel wie ihr Name. 30s Mit Überlagerungen und sekundärer Umformung unter phönikischem Einfluss ist auf jeden Fall zu rechnen; ein zweites, archaisches Aphroditeheiligtum in Paphos 306 zeigt in den Weihgeschenken mannigfache Beziehungen zum Phönikischen.
300 Od. 8,363 ~ Hymn. Aphr. 59, vgl. Hom. Hymn. 6. Anja Ulbrich. Kypris. Heiligtümer und Kulte weiblicher Gottheiten auf Zypern, Münster 2008. Den anderen Beinamen Kythereia verbindet Hes. Theog. 192-198 mit der Insel Kythera, was wegen des kurzen -e- eine sekundäre Umdeutung sein muss.
301 - I 4 Anm. 21. 302 - 14 Anm. 5; schon der bronzezeitliche Tempel hatte einen Garten. 303 RE I 2760; Sabine Fourrier/Antoine Hermary, Amathonte, 6, Le sanctuaire d'Aphrodite des origines au debut d' epoque imperiale, Paris 2006. 304 H. W. Catling, Alasia 1, 1971,17. -14 Anm. 4. 305 Von Griechen mit aphr6s "Schaum" assoziiert, Hes. Theog. 197; Aphr-hodite "auf dem Schaum wandelnd" Paul Kretschmer, KZ 33, 1895, 267; zu Astoret Fritz Hommel, Jb. f. dass. Philol. 28, 1882, 176; Helck 1971, 233; Dugand (- Anm. 290); zu prd "Taube" Eduadrd Röth, Geschichte unserer abendländischen Philosophie 1. Mannheim 1846, 263; zu pr! "fruchtbar sein" Schretter (- III 1 Anm. 224) 165; idg. "glänzende Wolke", Hypostase der Eos, Boedeker (- Anm. 290), G. Nagy, HSCP 77, 1973, 162. 306 V. Wilson, AA 1975, 446-455. - Zu einer phönikisch-zyprischen Sonderform: Wolfgang Fauth, Aphrodite Parakyptusa, Abh. Mainz 1966, 6.
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Der epischen Dichtung ist die "goldene Aphrodite" als die selbst liebliche Göttin der Liebe vertraut, auch wenn ihr Name dem Hexameter ein Problem stellt. Dass Aphrodite im Parisurteil Athena und Hera aus dem Feld schlug und darob, indem sie Helenas Entführung in die Wege leitete, den troianischen Krieg vom Zaun brach, ist ein alter Sagenzug. 307 Der Iliasdichter wiederholt dies andeutend, indem er schildert, wie Aphrodite den unterlegenen Paris aus dem Zweikampf nach Troja ins eheliche Schlafgemach entrückt und ihm Helena zuführt. Helena erkennt die Göttin an ihrem wunderschönen Hals, der lieblichen Brust, den funkelnden Augen; ihr Sträuben gegen den Zwang der Göttin bricht rasch zusammen: 308 auch Aphrodite kann eine furchtbare Göttin sein. Weniger sieghaft geht Aphrodites Eingreifen in den Kampf aus, als sie ihren Sohn Aineias vor Diomedes schützen will: Diomedes verwundet sie selbst an der Hand, Götterblut fließt, und Diomedes höhnt, Aphrodite möge schwache Frauen betören, vom Krieg habe sie sich fernzuhalten - was dann Vater Zeus, in etwas freundlicheren Worten, der Sache nach bestätigt. 309 Er selbst freilich erliegt später dem Zauber, der vom gestickten Gürtel Aphrodites ausgeht: "in ihm ist Liebe, Sehnsucht, Geplauder, Überredung".3JO Im Gesang des Demodokos vor den Phäaken schließlich wird die Verführerin ihr eigenes Opfer: Mit Hephaistos verheiratet, empfängt sie den schnellen Ares zum Seitensprung; doch Hephaistos hat ein raffiniertes Netz ausgelegt und fängt beide in flagranti, und alle Götter kommen zur Schau und erheben ihr homerisches Gelächter. 311 Großartiger ist Aphrodite in dem alten Hymnus gefasst, der erzählt, wie sie den Hirten Anchises im Ida-Gebirge aufsucht, um zur Mutter des Aineias zu werden. Hier steht im Hintergrund die große phrygische Göttin, die Mutter vom Berg, die auch sonst mit Aphrodite gleichgesetzt wird. 312 Aphrodite schreitet durch den Bergwald am Ida, hinter ihr kommen schwanzwedelnd graue Wölfe, Löwen mit funkelnden Augen, Bären und schnelle Panther; die Göttin freut sich ihres Gefolges, und sie wirft Liebessehnsucht über sie, dass sie alle, zwei und zwei, sich paaren in den schattigen Triften. 313 Eine Herrin der Tiere ist auch diese Aphrodite, Herrin der furchtba307 Karl Reinhardt, Das Parisurteil, Frankfurt a.M. 1938 ~ Tradition und Geist, Göttingen 1960, 16-36. Vgl. Christoph Clairmont, Das Parisurteil in der antiken Kunst, Zürich 1951; Irmgard Raab, Zu den Darstellungen des Parisurteils in der griechischen Kunst, Bern 1972; LIMC VII s.y. Paridis iudicium; die ältesten Bilder: m.22 (Elfenbeinkamm Sparta) ~ Simon 1969, Abb. 229 und m.26 ("Chigi-Kanne"). 308 Il. 3,380-420. 309 11. 5,311-430. 310 Il. 14,216. -> I1I1 Anm. 71. 311 Od. 8,266-366; Burkert 2001,105-116 .. 312 Charon FGrHist 262 F 5. -> III 2 Anm. 118. 313 Hymn. Aphr. 68-74. Der Aineias-Tradition wegen wird das Verhältnis des Hymnus zur Ilias heftig diskutiert: Karl Reinhardt, Die Ilias und ihr Dichter, Göttingen 1961, 507-521; Ernst Heitsch, Aphroditehymnos, Aeneas und Homer, Göttingen 1965; H. L. Lentz, Der homerische Aphroditehymnos und die Aristie des Aineias in der I1ias, Diss. Bonn 1975; Peter Smith, Nursling ofMortality, Frankfurt a.M. 1981; Jean Rudhardt, L'hymne homerique a Aphrodite. Essai d'interpretation, MH 48, 1991, 8-20; Alberto Bernabe in: Juan A. Ferez, Mitos de la literatura griega, arcaica y cla-
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ren Raubtiere, die aber diese ihre Natur unter Aphrodites Einfluss beiseite lassen und dem höheren Gesetz der Vereinung folgen. Unheimlichere Tiefen erreicht der Geburtsmythos, den Hesiod erzählt. 314 Uranos, der Himmel, Gatte der Gaia, ließ seine Kinder nicht ans Licht kommen; da schneidet sein Sohn Kronos, wä,end Uranos Gaia umarmt, dem Vater das Zeugungsglied mit einer Sichel ab und wirft es rücklings ins Meer. Es treibt dahin, weißer Schaum erhebt sich, darin wächst ein Mädchen, das treibt weiter bis Kythera und Zypern: dort steigt es ans Land, eine ehrwürdige und schöne Göttin, schaumgeboren, "Aphrodite". Während Aphrodite im Epos formelhaft Tochter des Zeus heißt und eine Dione ihr zur Mutter gegeben wird, ist sie hier älter als alle Olympischen Götter; mit der ersten kosmischen Differenzierung, der Trennung von Himmel und Erde, ist auch die Macht der Vereinung entstanden. So steht Aphrodite in kosmogonischer Spekulation, die sich über "Orpheus" bis Parmenides und Empedokles weiter reich entfaltet hat: 315 Zeugung und liebende "Vermischung" ist es, was die Entfaltung der Welt vorantreibt. Obschon vom heroischen Epos ignoriert, ist der Geburtsmythos keine marginale Dichtererfindung. Aphrodites homerisches Beiwort philommeides, "die das Lächeln liebt", ist der Wortbildung nach Umdeutung der von Hesiod gebrauchten Form philommedes: 316 "Ihr eignen männliche Genitalien". Ein merkwürdiges Ton-Votiv aus dem 7. Jahrhundert zeigt eine bärtige Aphrodite aus einem Hodensack hervorwachsend. 317 Kastration und Wurf ins Meer knüpfen vermutlich an Opferrituale an; Aphrodite gehört der Bock. 318 Die aus dem Meer auftauchende Gestalt freilich hat all dieses Krude hinter sich gelassen. Gern hat die griechische Kunst die Meeresgeburt dargestellt,319 am schönsten auf dem frühklassischen "Ludovisischen Thron", der vielleicht vom Aphroditetempel in Lokroi stammt. Am persönlichsten und gültigsten spricht sich Aphrodite-Verehrung in den Gedichten Sapphos aus. Der Kreis der Mädchen, die auf die Hochzeit warten, ist durchwaltet vom Fluidum dieser Göttin, samt den Blumenkränzen und kostbaren Hauben, den Wohlgerüchen, den weichen Polstern. Zum Fest wird Aphrodite angerufen, in ihren heiligen Hain zu kommen, wo zaubrischer Schlaf aus den zitternden Zweigen herabgreift, um Nektar, mit Festesfreuden gemischt, wie Wein zu schenken. Aber auch um die Rückkehr und Versöhnung mit dem Bruder betet Sappho zu Kypris. Das Gedicht, das an den Anfang der Sappho-Ausgabe gestellt wurde, malt sica, Madrid 2002, 93-110. 314 Hes. Theog. 154-206; vgl. West z.d.St. 315 Willibald Staudacher, Die Trennung von Himmel und Erde, Tübingen 1942. Die hethitische Parallele, --+ III 1 Anm. 196, hat nur die Kastration des Himmels, nicht die Geburt einer Göttin. 316 Alfred Heubeck, Beitr. z. Namenforsch. 16, 1965, 204-206. 317 Humfry Payne, Perachora, Oxford 1940, T. 102 Nr. 183a. 318 HN 84,56; 81,46. 319 Erika Simon, Die Geburt der Aphrodite, Berlin 1957; vgl. Simon 1969, 248; Prückner 1968, 247 zu Lokroi; "Ludovisischer Thron" LlMC II s.v.Aphrodite nr. 1170.
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aus, wie Aphrodite, die buntthronende, vom goldnen Haus des Vaters im Vogelwagen auf die Erde kommt: sie hört die Bitte der ihr Vertrauten, sie wird das Herz der Geliebten wenden, dass sie ihrerseits Liebe sucht; Liebe allein verhindert, dass Kummer und Überdruss die Lebenskraft überwältigen. 32o Unbefangene Hinnahme der Sexualität ist freilich auch in Griechenland nicht selbstverständlich. Im 4. Jahrhundert finden wir Aphrodite aufgespalten in zwei Aspekte, die höhere, "himmlische" Liebe, Aphrodite Urania, und die des "ganzen Volks", Aphrodite Pandemos, der das "niedere" Geschlechtsleben gehört, besonders die Prostitution.321 Beide Benennungen Aphrodites sind alte und verbreitete Kultepitheta, die jedoch zunächst anderen Sinn haben. Die "Himmlische" ist die phönikische Himmelskönigin, die Pandemos aber ist wörtlich die, die das "Ganze Volk" umfasst als jene Bindung und Sympathie, ohne die kein Staat existieren kann. Auch hier liegt östliche Tradition von umfassender, insbesondere politischer Macht der Btar zugrunde. Es gibt mancherorts gemeinsame Weihungen von Behörden für Aphrodite, sei es als Schützerin, sei es als Kontrast zu ihren Amtspflichten. 322 Besonders deutlich zeigt sich die kleinasiatische Große Göttin als Herrin der Stadt Aphrodisias in Karien. 323 In der Bilddarstellung ist die nackte Orientalin bereits in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts verdrängt worden durch das Normalbild der Göttin mit reichem langem Gewand und hoher Götterkrone, p61os. 324 Aphrodites Besonderheit ist der reiche Schmuck, vor allem Halsbänder, und gelegentlich "orientalisch" gemeinte Buntheit der Gewänder. Erst um 340 hat Praxiteles für das Heiligtum in Knidos die Statue der anscheinend zum Bad sich rüstenden, nackten Aphrodite geschaffen; sie blieb Jahrhunderte lang das berühmteste Bild der Liebesgöttin, Verkörperung aller weiblichen Reize. Die Statue stand in einer Rotonde, so dass sie von allen Seiten zu bewundern war; dass Voyeurturn die Andacht überwog, versichern griechische Zeugen. 325 Viele berühmte Aphroditen sind in der hellenistischen Kunst gefolgt, halbnackt und nackt, kallipyg und schamhaft, wurden durch kaiserzeitliche Kopien allgegenwärtig und sind heute Glanzstücke der Museen; sie gehören kaum mehr der Religionsgeschichte an. Wirkungsmächtig wurde das Aufgreifen der Aineias-Tradition durch Rom, insbesondere durch Julius Caesar;326 mehr als die griechische Aphrodite kam hierdurch nochmals die phrygische Mutter zu Ehren. 320 Sappho Fr. 2; 1 Voigt; Wolfgang Schadewaldt, Sappho. Welt und Dichtung. Dasein in der Liebe, Potsdam 1948. 321 Plat. Symp. 180e ff; Xen. Symp. 8,9; Heiligtum der Aphrodite Pandemos samt Prostitution von Solon eingeführt: Nikandros FGrHist 271/2 F 9 und Philemon Fr. 3 Kassel/Austin. 322 Franciszek Sokolowski, Aphrodite as Guardian of Greek Magistrates, HThR 57, 1964, 1-8; Francis Croissant/Fran<;ois Salviat, Aphrodite gardienne des magistrats, BCH 90, 1966, 460-47l. 323 Laumonier 1958, 482-500; Fleischer 1973, 146-184; Kenan T. Erim, Aphrodisias, Istanbul1986. 324 Ferdinand Dümmler, RE I 2776-80; Furtwängler, RML I 406-419; Simon 1969, 241 f; Marinatos 2000; LIMC II S.v. - Schmuck der Aphrodite: Horn. Hymn. 6. 325 In satirischer Zuspitzung Luk. Amores 13 f; Testimonien bei Overbeck 1868, nt. 1227-1245. 326 Zu Venus Genetrix C. Koch, RE VIII A 864-868; Robert Schilling, La religion romaine de Venus, Paris 1954.
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1.8 Hermes Hermes, 327 der göttliche Schelm, ist eine besonders schillernde Gestalt; doch ist gerade sein Name 328 ziemlich sicher gedeutet und damit auf eine Grundgegebenheit zurückgeführt; herma heißt ein Steinhaufen, als künstlich angelegtes Mal, als elementare Form der Markierung. Wer vorbeikommt, pflegt einen Stein dazuzulegen 329 und damit seine eigene Anwesenheit zu bekunden. So werden Reviere bezeichnet und abgegrenzt. Eine andere, schon vormenschlich angelegte Form der Revierabgrenzung ist das phallische Imponieren,33o das dann symbolisierend ersetzt wird durch aufgerichtete Steine oder Pfähle. Insofern gehören Steinhaufen und "apotropäischer" Phallos seit je zusammen. Die Macht, der man im Steinhaufen begegnet, heißt personifizierend Hermd-as oder Hermd-on, in mykenischer Schreibung e_ma_a,331 dorisch Hermdn, ionisch-attisch Hermeso Man hat phallische Holzfigürchen geschnitzt und auf die Steinhaufen gesteckt. 332 Um 520 hat der Peisistratos-Sohn Hipparchos in Athen für solche Male, die die Mitte zwischen den einzelnen attischen Dörfern und der Agora von Athen markieren sollten, jene Steinform eingeführt, die sich dann allgemein durchsetzte: 333 ein vierkantiger Pfeiler mit einem bärtigen Männerkopf und männlichem - zunächst regelmä.ßig erigiertem - Glied. Die Obszönität ist durch die geometrische Form aufgefangen und gleichsam neutralisiert. Ein solches Monument hieß schlechtweg Hermes - durch lateinische Tradition hat sich die feminine Form "die Herme" eingebürgert. Bald stand fast vor jedem Haus in Athen ein zugehöriger Hermes. Wie Vasenbilder zeigen, fanden oft private Opferfeste an Hermen statt. Dass ein solches Mal in einen olympischen Gott verwandelt werden konnte, ist erstaunlich. Die erzählende Dichtung hat dabei zwei Motive verwendet, die weitverbreitete mythische Figur des kulturstiftenden Schelms, des "Tricksters",334 und die epi327 CGS V 1-61; Eitrem, RE VIII 738-92; GGR 501-9; eigenwillig Wilhelm-Heinrich Roscher, Hermes der Windgott, Leipzig 1878; RML I 2342-2390; Pierre Raingeard, Hermes Psychagogue, Rennes 1935; Karl Kerenyi, Hermes der Seelenführer, Zürich 1944; Norman O. Brown, Hermes the Thief, Madison 1947; Paul Zanker, Wandel der Hermesgestalt in der attischen Vasenmalerei, Bonn 1965; Hans Herter, Hermes. Ursprung und Wesen eines g;iechischen Gottes, RhM 119, 1976, 193-241; Laurence Kahn, Hermes passe ou les ambiguites de la communication, Paris 1978; Dominique Jaillard, Configurations d'Hermes. Une "theogonie hermaique", 2007 (Kernos Supp!. 17); LIMC V S.V. 328 Karl-Otto Müller, Handbuch der Archäologie, 1848, § 379, 1; PR I 385, 5; GGR 503 f. 329 Antikleides FGrHist 140 F 19; Cornut. 16, p. 24 Lang; Bilddarstellung: Erika Zwierlein-Diehl, Die antiken Gemmen des Kunsthistorischen Museums in Wien, München 1973, 126 T. 23. 330 Fehling 1974, 7-27. 331 -+ I3 Anm. 243. 332 Ein Beispiel GGR T. 33, 1. 333 Ludwig Curtius, Die antike Herme, Diss. München 1903; Stenge! RE VIII 696-709; Reinhard Lullies, Die Typen der griechischen Herme, Königsberg 1931; Hetty Goldmann AJA 46, 1942,58-69; Henri Metzger, Recherches sur!' imagerie Athenienne, Paris 1965, 77-91; Birgit Rückert, Die Herme im öffentlichen und privaten Leben der Griechen, Regensburg 1998. 334 Paul Radin/Karl Kerenyi/Carl G. Jung, Der göttliche Schelm, Zürich 1954; Mac L. Richetts. The NorthAmerican Indian Trickster, HR5, 1961,327-350.
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sche Rolle des Götterboten, die auch in orientalischer Epik gegeben war. Das unbewegliche Grenzmal wird umspielt von Geschichten vom Überschreiten der Grenze und vom Bruch der Tabus, wodurch eine neue Lage - und neue, abgegrenzte Ordnung - geschaffen wird. Am heitersten und doch nicht ohne Tiefgang erscheint das Wesen des Hermes im Mythos vom Rinderdiebstahl, wie ihn vor allem der Homerische Hermeshymnus erzählt: "Am Morgen geboren, spielte er am Mittag die Leier, am Abend stahl er die Rinder des fernhintreffenden Apollon".335 Voll frühreifer Kraft und Fixigkeit treibt er zur Nachtzeit die Rinderherde von Thessalien bis in die Gegend von Olympia, schlachtet zwei Rinder, versteckt alles und kriecht wieder als Wickelkind ins Körbchen; dann leugnet er seinem großen, hellsichtigen Bruder gegenüber den Diebstahl so lange, bis Vater Zeus selbst lachend Einigung stiftet; Apollon erhält von Hermes die Leier als Versöhnungsgabe. Doch hinter dem Schwank steht Kosmogonie. Hermes singt zur neu erfundenen Schildkröten-Leier "von den Göttern und der dunklen Erde, wie sie zuerst entstanden und wie jeder sein Teil erhielt",336 er erfindet auch Feuer und Feuerzeug, und er erfindet das Opfer, offenbar ein Zwölfgötter-Opfer, wie es dann in Olympia bezeugt ist. 337 Hermes ist insofern ein Konkurrent des listigen Feuerbringers Prometheus. Wenn es Opfer geben soll, muss das Tabu der Heiligen Herde Apollons gebrochen werden; dies leistet der Schelm. Das Heimliche, Diebische ist schon in der Ilias Hermes' Bereich. Freilich hören Griechen im Wort kleptein, "stehlen", mehr die Heimlichkeit und Schlauheit als den Rechtsbruch. Als Ares in einem Fass gefangen saß, hat Hermes ihn heraus "gestohlen";338 als Achilleus gegen Hektors Leiche wütet, erwägt man im Götterrat, ob es nicht am einfachsten wäre, wenn Hermes die Leiche stehlen könnte. 339 Statt dessen wird dann der Bittgang des greisen Priamos zu Achilleus in die Wege geleitet; ihm erscheint, nahe dem Grenzmal beim Einbruch der Nacht, Hermes in Gestalt eines königlichen Jünglings, er übernimmt selbst die Zügel, schläfert die Wächter des Griechenlagers ein, öffnet das Hoftor vor Achilleus' Hütte, gibt sich dann Priamos zu erkennen und ist verschwunden; plötzlich, unerwartet, aus der Nacht aufgetaucht steht Priamos vor Achilleus. 34o All dies ist das Werk des Hermes, der dann auch die glückliche Rückkehr bewerkstelligt. Am hellichten Tag, doch nicht weniger heimlich-unheimlich hilft Hermes dem Odysseus auf der Insel der Kirke; er tritt ihm in Jünglingsgestalt, an der Grenze von 335 Hymn. Herrn. 17 f; dazu Hes. Fr. 256; Alkaios 308 Voigt; Sophokles, Ichneutai; Bilddarstellungen: R. Blatter, AK 14, 1971, 128 f; LIMC V s.v. Hermes nr. 241-242. Ludwig Radermacher, Der homerische Hermeshymnus, Wien 1931, möchte den Hymnus an die attische Komödie heranrücken. 336 Hymn. Herrn. 427 f. 337 Hymn. Herrn. 126-129; Weinreich, RML VI 781-785, 828 f; Burkert 2001, 178-188. 338 Il.5,385-391. 339 Il. 24,109. 340 11. 24,334-470; vergleichbar, wie Gott Hasamilis auf Geheiß des Wettergottes König Mursilis heim. lich durch Feindesland führt, Albrecht Goetze, Die Annalen des Mursilis, Leipzig 1933, 126.
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Kirkes Machtbereich, entgegen, verrät ihm die Absicht der Zauberin und zeigt ihm den Gegenzauber, die Pflanze Moly.341 Als "schnellen Boten" sendet Zeus den Hermes zur fernen Insel der Kalypso. Da gleitet er möwengleich über die Wogen dahin, mit goldenen Schuhen - die dann in Bildern als Flügelsandalen erscheinen - und mit dem zauberischen Stab, der Menschen nach Hermes' Willen bald einschlafen, bald erwachen lässt. 342 Mit solchen Mitteln hat Hermes auch die Tat vollbracht, die man aus seinem epischen Beinamen Argelphontes heraushörte, die Tötung des vieläugigen Riesen Argos, der in Heras argivischem Heiligtum 10 bewachte: Es gelang Hermes, alle Augen des Argos einzuschläfern und ihn dann mit einem Steinwurf zu töten. 343 Auch dies ist ein Tabu-Bruch, der das Ausnahmefest einleitet. Die unheimlichste Schranke, die Hermes durchquert, ist die zwischen Lebenden und Toten. Die bestimmende literarische Darstellung ist die "zweite Nekyia" der Odyssee:344 Hermes "ruft" die Seelen der erschlagenen Freier "heraus" aus dem Palast des Odysseus, er hat den Stab in der Hand; sie folgen ihm zirpend, Fledermäusen gleich, hin zur Asphodelos-Wiese, wo die Seelen ihren ewigen Aufenthalt haben. Später hat man noch das Bild vom Unterweltstrom mit Charons Nachen hinzugefügt; so zeigen attische Lekythen, wie Hermes die Seelen dem Charon zuführt. Hermes allein kennt auch den Weg zurück: Er ist es im Demeterhymnus, der Persephone aus dem Hades abholt; auch Vasenbilder stellen diese Rückkehr dar. 345 Hermes ist es aber auch, der auf dem berühmten Orpheus-Relief Eurydike mit leichter Berührung fasst und anzeigt, dass sie endgültig zu den Toten zurückkehren muss. 346 So ist denn Hermes, als Gott des Grenzbereichs und des tabubrechenden Übergangs, Patron der Hirten, der Diebe, der Gräber und der Herolde. Der fromme Hirte Eumaios legt beim Opfermahl eine Portion für Hermes und die Nymphen beiseite.347 Im arkadischen Kyllene-Gebirge war Hermes von der Nymphe Maia geboren worden; sein Hauptfest, mit Agonen gefeiert, war in Pheneos.348 Im elischen Ort Kyllene wird Hermes in Gestalt eines Phallos verehrt. 349 Man malt sich aus, wie Hermes unter den 341 Od.l0,275-308. 342 Od. 5,43-54; zu hethitischem Vorbild der Flügelsandale Louis Deroy, Athenaeum 30, 1952, 59-84. Auch Perseus, auch Gorgo und andere Götter tragen gelegentlich Flügelsandalen, z.B. ApolIon auf der Metope von Selinus, Simon 1969, 139. Zum Zauberstab Ferdinand J. M. de Waele, The Magic Staff or Rod in Graeco-1talian Antiquity, Gent 1927. 343 ApolIod. 2,6 f; Cook 1940, III 632-641; HN 185 f. 344 Od. 24,1-14; LlMC s.v. Hermes nr. 598-634. -+ IV 2 Anm. 19. 345 Hymn. Dem. 335-383; Glockenkrater New York, LlMC VIII s.v. Persephone nr. 250 = s.v. Hermes nr. 637; Simon 1969, 101. 346 Simon 1969, 315; Ludwig Curtius, Interpretationen von sechs griechischen Bildwerken, Bern 1947, 83-105; LIMV s.v. Eurydike I nr. 5; wohl vom Zwölfgötteraltar auf der Athener Agora: The Agora of Athens, 1972, 135 f. 347 Od. 14,435. --'> n 2 Anm. 6. 348 Pind. 01. 6,77-80; Paus. 8,14,10; 5,27,8. Bronze-Eberkopf mit Weihung Hermdnos Pheneo, 1G V 2, 360; Das Tier in der Antike, 1974, T. 26 Nr. 163. 349 Paus. 6,26,5.
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Nymphen der Bergwälder entsprechende Aktivitäten entfaltet,350 sieht aber auch die Vervielfältigung der Schaf- und Ziegenherden von dieser Macht abhängig. Die Hirten selbst führen eine Rand-Existenz im Kontrast zur Ackerbaukultur, in den bergigen Grenzgebieten, in steter Auseinandersetzung mit konkurrierenden Nachbarn. Viehdiebstahl ist dabei eine Tugend, sofern die Tat nicht aufkommt. Echter Sohn des Hermes ist darum Autolykos, der Großvater des Odysseus, der unter den Menschen berühmt war ob seiner Gaunereien "durch Dieberei und Eide".351 Man kann Hermes unverblümt beim Diebstahl anrufen;352 man sieht nicht das Böse, sondern das unverhoffte Glück: Auch Hermes ist ein "Geber des Guten"; jeder Glücksfund ist ein hermaion. Jedes Steinmal kann auch ein Totenmal sein; man libiert an Steinhaufen wie am Grab. Schon hier setzt die Verehrung des "chthonischen" Hermes an, die der Mythos vom Totengeleiter, psychopompos, weiter ausmalt. Man ruft Hermes bei den Totenspenden an, man stellt die Gräber unter seinen Schutz. 353 Als Götterbote trägt Hermes den Heroldsstab, das kerykeion, eigentlich das Bild kopulierender Schlangen.354 Das gleiche Zeichen tragen die irdischen Herolde, die allesamt unter dem Schutz des Hermes stehen. Hermes ist auch Stammvater der Eleusinischen Keryken, der "Herolde" und Opferpriester. Dass sprachliche Vermittlung auch mit Feinden und Fremden gelingt, schafft Hermes; so trägt der Dolmetscher, hermeneus, von ihm seinen Namen, und es entspricht der allegorischen Deutung, die in Hermes die Rede, den logos schlechthin fand, dass dieser Name im Begriff der Hermeneutik weiterlebt. Ikonographisch wird Hermes bis ins 5. Jahrhundert hinein außerhalb der Geburtsgeschichte als voll erwachsener, bärtiger Gott dargestellt; bärtig sind auch die steinernen Hermen. Die in Ilias und Odyssee gegebene Beschreibung als "Jüngling" setzt sich erst mit dem Parthenon-Fries und dem Orpheusrelief durch; das bekannteste Meisterwerk dieses Typs ist dann der Hermes des Praxiteles in Olympia. 355 In dieser Gestalt ist Hermes, neben Eros und Hel'akles, recht eigentlich der Gott der sporttreibenden Jugend, der Palästren und Gymnasien;356 das phallische, homoerotisch getönte Element bleibt dabei durchaus gegenwärtig. Auch die heranwachsende Jugend steht in einem Grenzbereich. Die nicht ganz geheuren Züge des in Grenzbe-
350 Hymn. Aphr. 262; Hes. Fr. 150,31; Theog. 444-446; Hymn. Herrn. 567 f. 351 Od. 19,396. 352 Hipponax 3a; 32 West. Rituell verwurzelt ist das Stehlen im Ausnahme-Fest: Plut. q.Gr. 303D (Samos, Hermes Charidotes), vgl. Karystios Ath. 14,639b. 353 herma tymbochoston Soph. Antig. 848; Hermdnos auflakonischem Grab, IG V 1, 371; Gräber in Thessalien, GGR 509. 354 Aus altorientalischer Tradition, Heuri Frankfort, lraq 1, 1934, 10; E. Douglas van Buren, Archiv für Orientforschung 10, 1935/6, 53-65. 355 Lippold 1950, 241 f; LIMC s.v. Hermes ur. 394; vgl. Zanker --+ Anm. 1; Scherer, RML I 2390-2432. 356 Ath. 561d; Kallim. Fr. 199 (Iambus IX); H. Siska, De Mercurio ceterisque deis ad artem gymnasticam pertinentibus, Diss. Halle 1933; Jean Delorme, Gymnasion, 1960.
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reichen wesenden Gottes traten im Übrigen zurück. Zum Gott des Handels und der Ware, Mercurius, den prallen Geldbeutel in der Hand, haben erst die Römer den Hermes gemacht.
1.9 Demeter Demetei157 - dorisch und äolisch Damater - ist, wie der Name sagt, eine "Mutter", doch die genauere Bestimmung dieser Mutter, die Anfangssilbe, bleibt rätselhaft. Die im Altertum verbreitete, oft wieder aufgegriffene Deutung als "Erdmutter"358 ist weder sprachwissenschaftlich noch inhaltlich einleuchtend; bei allen Bindungen an die Unterwelt ist Demeter doch nicht einfach die Erde. Aber auch die ansprechende Deutung als "Getreidemutter" geht sprachlich nicht auf. 359 Immerhin steht fest, dass das Zentrum ihrer Macht und Gnade das Getreide ist. Die Speise der Menschen heißt in der epischen Formel "Schrot der Demeter" (Demeteros akte); der Bauer betet bei der Aussaat zum "chthonischen Zeus" und zu Demeter, und man feiert der Demeter das Erntefest, denn sie ist es, die ihm die Scheuer füllt. 360 Demeter erscheint im Ährenkranz, mit Ähren in der Hand. Wenn im Gleichnis der Ilias das Worfeln des Getreides auf dem "heiligen" Dreschplatz beschrieben wird, "wenn die blonde Demeter im Eilen der Winde Frucht und Spelzen trennt",361 dann hat die Göttin selbst die Farbe des reifen Getreides angenommen. In Zypern hieß das Ernten des Getreides damatrizein. 362 Leicht kommt man dazu, Demeter und ihre Tochter geradezu metonymisch für Getreide und Mehl zu gebrauchen. 363 Wenn im Mythos Plutos, der Reichtum, Demeters Sohn ist, gezeugt auf dreifach gepflügtem Saatfeld,364 so ist der "Reichtum" eben der Vorrat an Getreide, wie "Schatzkammer", thesauros, zunächst einmal der Getreidespeicher ist. 357 PR 1747-97; Leo Bloch, RML "Kora" II 1284-1379; CGS III 29-278; Kern RE IV 2713-64; GGR 456-81; zum Mythos am ausführlichsten Richard Förster, Der Raub und die Rückkehr der Persephone, Stuttgart 1874; Donald White, Agne Theti, A Study of Sicilian Demeter, Diss. Princeton 1963; Zuntz 1971; Richardson 1974; Sfameni Gasparro 1986; Valentina Hinz, Der Kult von Demeter und Kore auf Sizilien und in der Magna Graecia, Wiesbaden 1998; LlMC IV S.v. 358 Pap. Derv. XXII 10; Albert Henrichs, ZPE 3, 1968, 111 f; PR 1747, 6; ~ III 2 Anm. 72; oft verbunden mit der Etymologie von Poteidaon, -+ III 1 Anm. 113. 359 EM. 264, 12 mit Verweis auf kretisch deai "Gerste", ein Wort, das aber gemeingriechisch korrekt ze(i) a heißt; Wilhelm Mannhardt, Mythologische Forschungen, Straßburg 1884, 287; Ken'nyi 1962, 42 f (1967, 280. - Suggestiv, aber ungesichert ist die Lesung einer Linear-A-Inschrift auf einer Votivaxt aus der Höhle von Arkalochori (-+ 13 Anm. 61) durch Giovanni Pugliese Carratelli, Minos 5, 1957, 166, 171 f, als I-da-ma-te "Mutter vom Ida", Bergmutter.In Linear B ist kein Zeugnis aufgetaucht; zu pere82- Persephone? ...... I 3 Anm. 270; zu md gd -+ I 3 Anm. 262. 360 Hes. Erga 465 f; 308 f; Erntefest thaljsia Theokr. 7,3; 155; Brumfield 1981. -+ II 2 Anm. 11. 361 ll. 5,500 f. 362 Hsch. 363 GGR 463; Kerenyi 1962, 124 f (1967, 131 O. 364 Hes. Theog. 969 f; vgl. Od. 5,125.
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Innig mit Demeter verbunden, so dass oft einfach von den "beiden Göttinnen" die Rede ist oder auch von Demeteres im Plural,365 ist ihre Tochter, das "Mädchen", K6re, die mit ihrem eigentlichen, rätselhaften Namen Persephone - auch Pherseph6ne, attisch Pherrephatta - heißt. Bei Homer ist sie für sich allein genannt oder in Verbindung mit ihrem Gatten, Hades-Aidoneus, der personifizierten Unterwelt, als die "ehrwürdige" und "schreckliche", agaue, epaine. 366 Zwischen beiden Aspekten, der mädchenhaften Tochter der Getreidegöttin und der Herrin der Toten, schlägt der Mythos die Brücke, der in geradezu ausschließlicher Weise die Vorstellung von Demeter bestimmt, obgleich das heroische Epos ihn ignoriert; die früheste ausführliche Fassung ist der Homerische Demeterhymnus, doch spielt auch Hesiods Theogonie auf ihn als längst Bekanntes an, und einzelne Züge späterer Überlieferung scheinen sehr Altes zu bewahren. 367 Dieser Mythos führt Persephone, die Tochter von Zeus und Demeter, als Jungfrau im Kreis gleichaltriger Mädchen ein, nach dem Typ jener Mädchenchöre der Artemis; Artemis und Athena, die beiden jungfräulichen Göttinnen werden ihr denn auch zu Gespielinnen gegeben. 368 Die Mädchen verlassen das Haus und pflücken Blumen auf einer Wiese - an verschiedenen Orten wurde diese Blumenwiese gezeigt, berühmt wurde vor allem die Landschaft am runden Lago di Pergusa bei Enna in Sizilien;369 der Hymnus verlegt die Szene zu den Okeanos-Töchtern an den Rand der Welt. Als das "Mädchen" sich bückt, eine Narzisse zu ergreifen, tut sich die Erde auf, der Unterwelt:gott stürmt heraus mit Rossen und Wagen, packt Persephone und führt sie mit sich fort. Die Stelle, wo er wiederum in die Tiefe fuhr, wurde abermals an verschiedenen Orten gezeigt; bemerkenswert ist dabei die Kyane-Quelle bei Syrakus, weil hier altertümliche Versenkungsopfer bezeugt sind. 37D Demeter hört den Schrei der Geraubten, sie macht sich auf die Suche und durchstreift die ganze Welt. Diese suchende Wanderung wird mit rituellen Einzelheiten ausgemalt: Fastend, mit aufgelöstem Haar, Fackeln tragend, eilt Demeter dahin, von Schmerz und Zorn bewegt. Wem sie begegnet, bei wem sie eingekehrt ist, wer ihr Nachricht von der verschwundenen Tochter geben konnte, darüber berichten wetteifernd lokale Varianten in Verbindung mit bestimmten Kulten und Kultansprüchen. Seit dem Homerischen Hymnus ist die Einkehr in Eleusis und die Stiftung der Mysterien die wichtigste Version. Solange Kore versunken ist und Demeter trauert, herrscht Ausnahmezeit. Vergeblich ziehen die Rinder 365 GGR463. 366 Für sich Od. 10,494; 11,213; 635; mit Hades Il. 9,457; 595; Od. 10,534 etc. GdH 1108-110; F. Bräuninger, RE XIX 944-972; Zuntz 1971, 75-83. Neuere Versuche einer Namens-Etymologie: Michael Janda, Eleusis, 2000, 224-250: "Herüberbringen des Lichts" oder "Über den Tod hinwegbringen"; Rudolph Wachter, Kratylos 51,2006, 139-144: "Garben-Schlagen" (altind. parsa). 367 Hes. Theog. 913 f; Hymn. Dem. mit Richardson 1974; Förster -;. III 1 Anm. 357; HN 283-292; Ruth Lindner, Der Raub der Persephone in der antiken Kunst, Würzburg 1984. 368 Hymn. Dem. 424; Graf 1974, 154-157. 369 Cic. Verr. IV 107. 370 Diod. 5,4; HN 287.
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den Pflug, fallen die Gerstenkörner in die Erde, nichts keimt und wächst; vernichtet würde das ganze Geschlecht der Menschen, und auch die Götter kämen um ihre Ehren, wenn es nicht gelänge, Demeter zu versöhnen. Abermals muss die Unterwelt sich öffnen, Hermes - oder Hekate, oder Demeter selbst371 - holt die Tochter zurück. Freilich gilt diese Rückkehr (dnodos) der Kore nur begrenzt; sie hat in der Unterwelt vom Granatapfel gegessen, ist damit durch eine Art Blutsakrament mit der Totenwelt verbunden. 372 Ein Drittel jedes Jahres muss sie dort zubringen, dann aber wird sie wieder heraufkommen, "ein großes Wunder für Götter und sterbliche Menschen".373 Seit der Antike verstand man diesen Mythos als ein durchsichtiges Stück NaturAllegorie: Kore sei das Korn, das unter die Erde muss, damit aus scheinbarem Tod neue Frucht keimen kann; dieses Aufsprießen ist die "Rückkehr", die Wiederkehr des Getreidesegens im Jahreslauf, "wenn die Erde von Frühlingsblumen sprießt".374 Und doch passt dies in Einzelheiten gerade nicht zum Wachstum des Getreides im Mittelmeerraum, das wenige Wochen nach der Herbstsaat keimt und kontinuierlich weiterwächst. Cornford und Nilsson haben darum eine andere Deutung verfochten: Kores Weg in die Unterwelt sei das Verbergen des Getreides in unterirdischen Silos während der Sommermonate - während derer im mediterranen Klima alles Wachstum zu erliegen droht. Zur Zeit der ersten Herbstregen, rund vier Monate nach der Ernte, wird das Saatgut hervorgeholt aus dem unterirdischen Verließ, Kore kehrt zurück, der Kreislauf der Vegetation beginnt von neuem. 375 Dies geht weit besser auf, doch haben die Griechen es nicht so verstanden; man wird auf Vorgriechisches, vielleicht Neolithisches geführt. Literarisch bezeugt ist das Motiv von Verschwinden und Rückkehr der Gottheit, vom Aufhören aller Vegetation und Sexualität, von der Bedrohung allen Lebens in der Zwischenzeit in zwei wichtigen orientalischen Mythen, dem sumerisch-babylonischen von der Katabasis der Inanna-lStar und dem hethitischen von Telipinu. 376 Der griechische Mythos scheint beide zu kombinieren, indem einerseits Kore in die Unterwelt sinkt, andererseits Demeter sich zürnend zurückzieht und verbirgt. Keine Parallele findet die Mutter-Tochter-Konstellation. Man hat in europäischem Bauernbrauch und zugehörigen volkstümlichen Überlieferungen die Vorstellung von Kornmutter oder Kornmädchen angetroffen und daraus einen "nordischen", von den Griechen mitgebrachten Mythos erschlossen;377 tatsächlich kommt aber in dem großen, Kallim. Fr. 466; Orph. hymn. 41,5 f; Richardson 1974, 84; 156. Richardson 1974, 276; Cook 1940, III 813-818; Kerenyi 1962, 127-135 (1967, 134-141). Hymn. Dem. 403. Vgl. Claude Berard, Anodoi, Rom 1974. Hymn. Dem. 401 f. Francis M. Cornford, Studies William Ridgeway, 1913, 153-166; Nilsson ARW 32, 1935, 106-114 ~ Nilsson 1952, II 577-588, vgl. GGR 472-474; HN 287 f. 376 ANET 52, TUAT 458-495 und 760-766; in der sumerischen Version, TUAT 494 f, findet sich die Teilung des Jahres zwischen Dumuzi und seiner Schwester. - ANET 126-128, TUAT 815-820. --->- I 4Anm.57. 377 GGR 476 nach Mannhardt (- Anm. 359) 202-350 und GB VII 131-213; Mutter und Tochter dort nur in einem einzigen unklaren Beleg, 164-168. 371 372 373 374 375
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von Mannhardt und Frazer gesammelten Material die Verbindung von Mutter und Tochter so gut wie gar nicht vor. Es bleibt die suggestive Verbindung einer größeren und einer kleineren Göttin in Statuetten schon in <;atal Hüyük378 und die rituelle Verbindung von großer Göttin und Jungfrauenopfer. Das bezeichnend Griechische, "Homerische", ergibt sich eben durch die Zusammenfügung zweier Handlungsbögen; zum menschlich ergreifenden, tragenden Motiv wird die Mutter-Tochter-Beziehung, der Schmerz der Mutter über den Verlust des Kindes, die Freude des Wiedersehens; es gibt rührende Bilder, wie Kore, wiedergekehrt, auf Demeters Schoß sitzt. 379 Damit entsteht zugleich eine in sich geschlossene Götterhandlung, in der die Menschen auf der Erde mit ihren Ängsten nur mehr eine marginale Rolle spielen. Ambivalent ist die Rolle des Gegenspielers: Ist es eine Hochzeit, ist es Tod, oder ist es beides zugleich, was Kore widerfährt? Der Todesaspekt überwiegt; "von Hades geraubt werden", "Hochzeit mit Hades feiern" werden zu geläufigen Metaphern für den Tod zumal von Mädchen. Im Grunde spricht der Mythos auch nicht von einem Zyklus; nie mehr wird es ganz so sein, wie es vor dem Raub war. Begründet wird eine Doppelexistenz zwischen Oberwelt und Unterwelt, eine Todesdimension des Lebens und eine Lebensdimension des Todes; so ist auch Demeter eine "chthonische" Göttin. "Von den Toten kommt die Nahrung, das Wachsen, das Getreide".380 Demeters Feste sind überaus weit verbreitet, sie sind sehr merkwürdig und zweifellos hochaltertümlich und stehen in engster Verbindung mit dem Leben der Frau. Dies gilt insbesondere von den Thesmophoria,381 dem Fest des Frauenbundes mit dem eigentümlichen Schweine-Versenkungsopfer. Daneben stehen Feste des "Einzugs", Katagoge,382 mit Männern, die "Kore führen", koragoi, was unheimliche Öffnung der Unterwelt und Einkehr des Segens zugleich sein kann. Außerdem gibt es die Geheimkulte mit individueller Weihe, Mysteria, unter denen der Kult von Eleusis alle anderen überstrahlt;383 altertümliche Spielarten finden sich besonders in Arkadien und Messenien. Im Zusammenhang damit hat man von manchen ungewöhnlichen Liebesvereinigungen dieser "Mutter" erzählt, auch mit dem rossgestaltigen Poseidon;384 vieles bleibt für uns "ungesagt", drrheton. Das Geheime, das in besonderem Sinn Heilig-Reine (hagn6n) prägt die Gestalt dieser Göttin, die das "Leben", den Lebensunterhalt gibt und der die Toten gehören; Demetreioi" nannten die Athener die Toten und besäten die Gräber mit Getreide. 385 378 James Mellaart, <;atal Hüyük, Stadt aus der Steinzeit, Bergisch Gladbach 1967, 236: 238: dort auch T. IX, aus einem Getreidespeieher, die Statuette einer thronenden, gebärenden Göttin, zwischen Leoparden. 379 LIMC VIII Suppl. s.v. Persephone nr. 64-66. 380 Hippokr. Viet. 4,92, VI 658 Littte. 381 --+ V 2.5. 382 Diod. 5,4: Gnomon 46, 1974, 322 f: zum Verständnis von katagoge GF 356 f: koragoi Mantinea, IG V 2,265/6. 383 --+ VI 1.4. 384 --+ III 1.3 Anm. 35: Demeter-lasion --+ VI 1 Anm. 48: Demeter-Keleos HN 315,56. 385 Plut. Fac. 943B: Demetrios von Phaleron Fr. 135 Wehrli.
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1.10 Dionysos Dionysos386 lässt sich scheinbar einfach umschreiben als Gott des Weins und der rauschhaften Ekstase. Der Weinrausch als Bewusstseinsveränderung wird als Einbruch eines Göttlichen gedeutet. Doch geht die dionysische Erfahrung über das Alkoholische weit hinaus und kann davon ganz unabhängig sein; "Wahnsinn" wird zum Selbstzweck.387 Mania, das griechische Wort dafür, bezeichnet seiner Herkunft nach, in der Verwandtschaft mit menos, das "Rasen" nicht als Abirren des Wahns, sondern als Steigerung der selbsterlebten "geistigen Kraft". Doch ist die dionysische Ekstase nicht Leistung eines Einzelnen, Einsamen, sondern ein Massen-Phänomen, das fast ansteckend um sich greift. Mythisch ausgedrückt heißt dies, dass der Gott stets umgeben ist vom Schwarm seiner rasenden Verehrer und Verehrerinnen. Wer sich diesem Gott hingibt, muss es riskieren, seine bürgerliche Identität aufzugeben und"wahnsinnig zu sein"; dies ist göttlich und heilsam zugleich. Äußeres Zeichen und Instrument der vom Gott gewirkten Verwandlung kann die Maske sein. Einzigartig im Kreis griechischer Religion ist, dass bei solcher Verwandlung Verehrer und Gott miteinander verschmelzen; "Bakchos" heißt der eine wie der andere. 388 Mit solchem Verfließen der persönlichen Geformtheit steht der Dionysos-Kult in Kontrast zu dem, was mit Recht als typisch griechisch gilt; wieso eben darum beides, das "Apollinische" und das "Dionysische", als Polarität zusammengehören, ist eine Frage der Kulturpsychologie, die genial und eigenwillig Friedrich Nietzsche
386 F. A. Voigt/E. Thraeme, RML I 1029-1153; Rohde 1898, II 1-5; Kern RE V 1010-1046; CGS V 85-279; GdH II 60-81; AF 93-151; GGR 564-601; Paul F. Foucart, Le culte de Dionysos en Attique, Paris 1904; Otto 1933; Jeanmaire 1951, dazu Gernet, REG 66, 1953, 377-395 = Anthropologie de la grece ancienne, 1968,63-89; Eric R. Dodds, Euripides Bacchae, Oxford 1944, 1953'; Karl Kerenyi, Der frühe Dionysos, Oslo 1961; Kerenyi 1976; Maria Daraki, Dionysos, Paris 1985; Jose A. Dabdab Trabulsi, Dionysisme. Pouvoir et societe en Grece jusqu'a la fin de l'epoque classique, Paris 1990; Anton F. H. Bierl, Dionysos und die griechische Tragödie, Tübingen 1991; Giovanni Casadio, Storia del culto di Dioniso in Argolide, Rom 1994; -, Il vino deli 'anima. Storia de culto di Dioniso a Corinto, Sicione, Trezene, 1999; Giampiera Arrigoni, Perseo contra Dioniso en Lerna, in: Fabrizio Conca, Ricordando Raffaele Cantarella, Bologna 1999, 9-70; Fede Berti (Hrsg.), Dionysos. Mito e mistero, Ferrara 1991; Thomas H. Carpenter/Christopher A. Faraone (Hrsg.), Masks of Dionysus, Ithaka 1993; Jean-Marie Pailler, Bacchus. Figures et pouvoirs, Paris 1995; Ismene Lada-Richards, Initiating Dionysus. Ritual and Theatre in Aristophanes' Frogs, Oxford 1999; Hall/Macinstosh/ Wrigley 2004; Barbara Goff, Citizen Bacchae. Women's Ritual Practice in Ancient Greece, Berkeley 2004; Seaford 2006; Isler-Kerenyi 2007; LIMC III S.v. 387 Seit Karl-Otto Müller, Kleine Schriften II, 848, 28 f, war man geneigt, den Wein im Dionysoskult für sekundär zu halten, GGR 585; dagegen Otto 1933, 132, Simon 1969, 289; ältestes, eindrucksvolles Zeugnis für die Zusammengehörigkeit von Dionysos, Dithyrambos und Wein: Archilochos 120 West. Auf Honig-Rauschttänke verweist Kerenyi 1976, 40-57. 388 Name des Geweihten OF 5 = OTF 576; Eur. Bacch. 491; Goldblättchen von Hipponion (-+ VI 2.2); Gottesname Soph. O.T. 211; Eur. Hipp. 560; "Dionysos" heißt nur der Gott; bakeheia bezeichnet eben das "Rasen". -+ VI 2.1; Jeanmaire 1951, 58; West ZPE 18, 1975, 234; S. G. Cole GRBS 21, 1980,226-231..
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gestellt hat. 389 Die historische Forschung hat zunächst versucht, den Gegensatz in ein historisches Nacheinander aufzulösen: dass Dionysos ein "junger", aus Thrakien nach Griechenland eingewanderter Gott sei, galt lange als ausgemacht; die bestimmende Darstellung dieser These gab Erwin Rohde. 390 Einige Angaben Herodots, die Spärlichkeit der Bezeugung bei Homer und die Mythen vom Widerstand gegen Dionysos waren die Stützen der Argumentation. Es gab vereinzelten Widerspruch; dass Dionysos wesensmäßig der "Kommende" ist, dass dies also nicht Spiegel zufälliger Faktizität ist, sah Walter F. OttO. 39I Seither haben zwei Entdeckungen eine neue Lage geschaffen: Dionysos ist auf Linear-B-Täfelchen von Pylos und insbesondere von Chanial Kydonia, in Verbindung mit dem "Heiligtum des Zeus", bezeugt; und das Heiligtum von Ayia Irini auf Keos, wo eine lokale Kontinuität des Kults vom 15. Jahrhundert bis ins Griechische wahrscheinlich ist, stellt sich mit der ersten Weihinschrift als Dionysos-Heiligtum dar; der Kopf einer minoischen Tänzerinnen-Figur wurde am Boden des Raums aufgestellt und offenbar als der aus der Tiefe aufsteigende Dionysos verstanden. 392 Dazu kommt die ältere Feststellung, dass das Anthesterienfest, von Thukydides die "älteren Dionysien" genannt, den Ioniern und Athenern gemeinsam ist, also älter sein muss als die ionische Wanderung;393 dazu passt, dass auch sprachlich das Mykenische dem Ionisch-Attischen nahe steht. Mit einer mykenischen Herkunft des Namens Dionysos und wesentlicher Aspekte seines Kults ist also fest zu rechnen. Auch die Identifikation von Gott und ekstatischem Lied im "Dithyrambos" mag zu diesen alten Elementen gehören. Der Name ist verrätselt. Dass im Vorderglied von Dionysos - auch Deunysos, Zonnysos - der Name Zeus steckt, ist unabweisbar; so verstand man es auch im Altertum: Dias Di6nysos,394 des Zeus Sohn Dionysos. Der zweite Bestandteil aber bleibt undurchschaubar, auch wenn die Bedeutung "Sohn" wiederholt postuliert wurde. 395 Mit Nichtgriechischem ist zu rechnen: Semele als Mutter, Bacchos als Name des Verehrers und Zweitname des Gottes, Thyrsos als sein heiliger Stab, Thriambos und Dithyrambos als sein Kultlied, dies sind offenbar keine normalgriechischen Wörter. Die griechische Tradition stellt Dionysos in engste Beziehung zum Phrygischen und zum Lydischen, den kleinasiatischen Königreichen des 8./7. und 7./6. Jahrhunderts, auch zur phrygischen Göttermutter Kybele. Dass Semele ein thrakisch-phrygisches 389 ...... V I Anm. 78. 390 Rohde 1898, lll-55, nach Karl-Otfried Müller, Orchomenos und die Minyer, Breslau '1844, 372377, vgl. schon Lobeck 1829, 289-298; Hdt. 5,7; 7,111; Harrison 1922, 364-374; RE V 1012 f; GGR 564-568; phrygisch-lydische Herkunft: GdH ll6l. 391 Otto 1933, 71-80. Vgl. Ioan M. Lewis, Ecstatic Religion, London 1971, 10l. 392 Zu Linear B ...... I 3 Anm. 24. Zu Keos: Miriam E. Caskey, Ayia lrini, Kea: The Terracotta Statues and the Cult in the Temple, in Hägg/Marinatos 1981, 127-133 ....... I 3 Anm. 261; 13 Anm. 124; 14 Anm.19. 393 Thuk. 2,15,4; AF 122 f; Trümpy 1997, 31-38 ....... V 2.4. 394 Eur. Bacch. 446; Dionysos im Zeusheiligtum in Kydonia ...... 13 Anm. 26l. 395 -nysos .. Sohn": Paul Kretschmer, Semeie und Dionysos, Berlin 1890, vgl. GGR 567 f; Chantraine 1968, 285; Metathese aus *Diwossunos: Oswald Szemerenyi, Glotra 49, 1971, 665.
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Wort für "Erde" ist,396 lässt sich freilich so wenig sichern wie die Priorität von lydisch baki- gegenüber Bakchos als Name des Dionysos.397 Thyrsos kann man mit einem in Ugarit bezeugten Gott tirsu, "Rauschtrank", zusammenstellen, aber auch mit späthethitisch tuwarsa, "Weinrebe"j398 auf den Vegetationsgott auf dem luwischen Felsrelief von Ivriz mit Ähren und Weintrauben hat man oft hingewiesen. "Bakchos" könnte aber auch ein semitisches Lehnwort in der Bedeutung "Weinen" sein,399 wobei den Frauen. Israels, die "den Tammuz beweinen", die Griechinnen, die Dionysos suchen, entsprechen würden. Dass ältere kilikisch-syrische Beziehungen durch spätere phrygische, dann lydische überlagert wurden, wäre durchaus möglich. Seit 660 ist obendrein mit zunehmendem Einfluss der ägyptischen Os iris-Religion zu rechnen,40o der vielleicht schon in den Schiffsprozessionen des 6. Jahrhunderts zu fassen ist. Unter den griechischen Dionysosfesten sind mindestens vier Typen zu unterscheiden: das Anthesterienfest im ionisch-attischen Bereich, das ganz unmittelbar mit dem Genuss des Weins zu tun hat, samt dem ihm vorangehenden Lenäenfestj das Agrionienfest im dorischen und äolischen Bereich, ein Fest der Auflösung und Verkehrung mit Frauenaufstand, ,,wahnsinn" und kannibalistischen Phantasienj die bäuerlichen Dionysia mit Bocksopfer und Phallos-Prozessionj schließlich der Einzug des Dionysos vom Meer her, Katag6gia, "Große Dionysia", die in Athen im 6. Jahrhundert eingeführt sind.401 Gemeinsam scheint die rauschhafte Ausnahmezeit, wobei bald deren Einbruch, bald ihre Beendigung betont scheint und bald das Bocksopfer, bald das Stieropfer in den Vordergrund tritt. Neben den staatlichen Festen stehen immer die von kleineren Gruppen, Kollegien, Kultverbänden gefeierten Orgiaj oft wird hervorgehoben, dass sie "trieterisch" waren, also nur jedes zweite Jahr gefeiertwurdenj402 Geheimkulte, "Mysterien" haben sich früh entwickelt.
396 Kretschmer (-+ Anm. 395), entsprechend russisch semlja; dagegen Astour 1965, 169. 397 Lydisch bakiwali = Dionysikles, Enno Littmann, Sardis VII, Leiden 1916, 38 f; Friedrich 1932, 116 nr. 20, vgl. nr. 22, 9; Roberto Gusmani, Lydisches Wörterbuch, Heidelberg 1964 s.v. bakilli-, bakivali. 398 Astour 1965, 187; Gese 1970, 111. - Emmanuel Laroche, BSL 51, 1955, XXXIV. Das luwische Relief von Ivriz (Tab al) stellt einen Gott mit Weintrauben dar, Akurgal/Hirmer 1961, 103; T. 140; T. XXIV. Man kann seinen Namen jetzt lesen: Wettergott Tarhunzas (Hawkins 2000, X 43 p. 516-518, pI. 194/5). 399 bdkchon: klauthm6n. Phoinikes Hsch.; Astour 1965, 174 f; AT Ez. 8,14 (Tammuz). Morton Smith, On the Wine God in Palestine, in: Salo Wittmayer Barron Jubilee Volume, Jerusalem 1975, 815-829, verweist auf die Oreibasie der Mädchen AT Jud. 11,40 und die Tänze in den Weingärten ibo 21,21; vgl. Kerenyi 1976, 206 f. Ganz anders zu bdkchos EdzardJ. Furnee, Die wichtigsten konsonantischen Erscheinungen des Vorgriechischen, Den Haag 1972, 209. 400 Burkert 2003, 79-106. Osiris-Religion breitet sich um diese Zeit auch in Phönizien aus, Sergio Ribichini, Saggi Fenici I, Rom 1975, 13 f; AT Ez. 8,7-12. 401 Anthesteria -+ V 2.4; Agrionia HN 189-199; Dionysia AF 134-138; 138-142; Schiffswagen -+ Anm. 423; Bocksopfer Burkert 2007,9-15. Darstellung der Phallos-Prozession AF T. 22, GGR T. 35, 2/3, Pickard-Cambridge 1962 pI. 4. 402 Trieterische Feste: Hom. hymn. 1,19 (zu diesem Dionysoshymnus -+ UI 1 Anm. 101); Diod. 4,3; GGR 573; Kerenyi 1976, 158-168.
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Der Mythos umspielt diese Gegebenheiten; das heroische Epos freilich spricht wenig von Dionysos, und der Hymnus, der die homerische Sammlung einleitete, ist bis auf einen Rest verloren. Um so wichtiger ist Dionysos für die spätarchaische Chorlyrik, für die der Dithyrambos eine wichtige Gattung war, und dann für die klassische Tragödie, gehört doch der Dithyrambos wie die Tragödie in den Rahmen des dionysischen Festes.403 Die großartigste und einflussreichste Gestaltung des Dionysischen stammt vom Ende des 5. Jahrhunderts: die 405 aufgeführten Bacchai des Euripides. Dionysos als Gott des Weins ist "Wonne für die Sterblichen", wie in der Ilias steht, der Spender "vieler Freude", polygethes;404 er stillt allen Kummer, bringt Schlaf und Vergessen des alltäglichen Elends;405 "die Seele wird groß, wenn uns der Pfeil der Rebe überwältigt''.406 Die Mythen von der Erfindung des Weins indes klingen dunkel und unheilvoll: Ikarios, der in Attika als erster vom Gott selbst die Pflanzung der Reben und die Kelterung des Weins gelernt hat, wurde erschlagen, weil die Bauern meinten, er habe sie vergiftet; seine Tochter Erigone fand nach langem Suchen die Leiche des Vaters in einem Brunnen und erhängte sich. Vatertod und Mädchenopfer werfen ihren Schatten auf den Genuss des Weins; diese Erzählung gehört zum Anthesterienfest.407 Vielleicht hat man insgeheim viel direkter vom Tod des Gottes selbst gesprochen; die Assoziation von Wein und Blut, die Rede vom Wein als "Blut der Reben" ist alt und verbreitet.4oB Im Umkreis der Anthesterien steht auch der Mythos von Ariadne und Dionysos. Theseus hat Ariadne aus Kreta entführt, doch bleibt sie nicht seine Frau; nach einem Beilager im Dionysosheiligtum wird sie von Artemis erschossen, erzählt eine Variante; Theseus verließ sie auf Naxos, sei es aus eigenem Wunsch oder auf göttliches Geheiß, woraufhin Dionysos erschien und die Einsame zu seiner Frau machte - dies die herrschende Version.409 So werden Dionysos und Ariadne als Liebespaar immer wieder dargestellt. Im attischen Anthesterienritual wird die Frau des "Königs", die Basilinna, dem Dionysos zur Frau gegeben, wie Theseus Ariadne dem Gott überließ. Diese "heilige Hochzeit" jedoch ist umgeben von Düsterem, zwischen einem "Tag der Befleckung" und Opfern für den "chthonischen Hermes". AufNaxos gibt es zwei Ari403 Die literaturgeschichtliche Frage des "Ursprungs" von Dithyrambos, Tragödie und Satyrspiel kann hier nicht diskutiert werden; verwiesen sei auf Ziegler, RE VI A 1899-1935; Pickard-Cambridge 1962; 1968; Lesky 1971, 260-270 und: -, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 31972, 17-48; Francisco R. Adrados, Fiesta, comedia y tragedia, Madrid 1983: Anton F. H. Bierl, Dionysos und die griechische Tragödie, Tübingen 1991; Burkert (1966) 2007, 1-32. 404 11. 14,325; Hes. Erga 614. 405 Eur. Bacch. 280-282. 406 Pind. Fr. 124b. 407 Eratosth. Catast. p. 77-81 Robert; Reinhold Merkelbach, Die Erigone des Eratosthenes, in: Miscellanea di Studi Alessandrini in memoria di Augusto Rostagni, Turin 1963, 469-526; -, Tragödie, Komödie und Dionysische Kullte in der Erigone des Eratosthenes, in: Hestia und Erigone, 1996, 180-196; Kerenyi 1976, 132-138. 408 HN 248,38. 409 Od. 11,321-325 - Hes. Fr. 298, Plut. Thes. 20; PR II 680-698. ~ II 7 Anm. 99; V 2 Anm. 105.
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adne-Feste, ein freudig-ausgelassenes und ein mit Trauer und Klage verbundenes; die Hochzeit mit Dionysos steht im Todesschatten, das Weintrinken erhält eine Tiefendimension, ebenso wie Demeters Gabe. Wilder und gefährlicher erscheint die Macht des Dionysos in den AgrionienMythen. Typisch ist etwa die Geschichte von den Töchtern des Minyas in Orchomenos: "Allein enthielten sich der dionysischen Tänze die Töchter des Minyas, Leukippe, Arsippe und Alkithoe ... Dionysos aber ergrimmte. Und sie waren an ihren Webstühlen beschäftigt, arbeiteten im Dienst der Athena Ergane so recht um die Wette. Da plötzlich schlängelten sich Efeu und Weinranken um die Webstühle, in den Wollkörben nisteten Schlangen, von der Decke träufelten Tropfen von Wein und Milch ". "Da warfen sie Lose in ein Gefäß, und die drei losten; und als das Los der Leukippe heraussprang, gelobte sie laut, dem Gott ein Opfer zu bringen, und sie riß Hippasos, ihren Sohn, zusammen mit ihren Schwestern in Stücke, und dann stürmten sie hin zu den ursprünglichen Mänaden".410 Die Frauen, zur Arbeit im geschlossenen Frauengemach bestimmt, brechen aus, "von Webstühlen und Spindeln rasend hinweggescheucht durch Dionysos";411 die Mutterrolle verkehrt sich ins furchtbare Gegenteil. Das Zerreißungsopfer eines Tieres, die Mänade mit einem zerrissenen Rehkitz, wird oft dargestellt. In Tenedos hieß Dionysos "Menschenzerschmetterer", Anthroporraistes; in Lesbos ist er der "Rohesser", Omestes;412 der Mythos schreckt auch vor Kannibalismus nicht zurück. Freilich kann die Perversion nicht das Feld behaupten; die Mänaden werden vertrieben, der Minyadenmythos endet mit der Metamorphose in Eulen und Fledermäuse. Die Verfolgung der Mänaden, der "Ammen des rasenden Dionysos", schildert bereits die Ilias;413 der gewaltige Lykurgos, der "Wolfsabwehrer", "scheuchte sie über die heilige Nysa-Ebene hin; sie warfen alle zugleich ihr Opfergerät zu Boden, vom männermordenden Lykurgos geschlagen mit dem Ochsenschläger; Dionysos, verschreckt, tauchte hinab in die Woge des Meeres; Thetis nahm ihn auf in ihrem Schoß". Plutarch414 bezeugt viel später, dass die Verfolgung der "verderblichen Weiber" (Oleiai) ebenso wie die Suche nach dem verschwundenen Dionysos zum Agrionienritual in Böotien gehörte. Dionysos bricht ein und wird wieder ausgetrieben vom bewaffneten Mann; die Raserei kann als Strafe erscheinen; so rasten die Frauen von Argos und Tiryns und wurden von Melampus geheilt.415 Der Wahnsinn des rasenden Gottes selbst kann auf den Zorn der Hera zurückgeführt werden. Hera präsentiert die
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Ael. v.h. 3,42 und Anton Lib. 10,3, nach Korinna und Nikandros; HN 195-7. Eur. Bacch. 118 f. Ael. nato an. 12,34; AIkaios 129 Voigt. 11.6,130-40; G. Aurelio Privitera, Dioniso in Omero e nella poesia greca arcaica, Rom 1970; HN 197-9. Die rasende, durch das Gebirge stürmende Mänade auch hymn. Dem. 386. 414 Plut. q.Gr. 299EF.; q.conv. 717A. 415 HN 189-194.
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Normalordnung der Polis; deren Verkehrung ins Gegenteil ist ihr Zorn.416 Und doch erfüllt Dionysos darin sein eigentlichstes Wesen. Dem gleichen mythisch-rituellen Schema folgt die berühmteste WiderstandsGeschichte, die vom Ende des Königs Pentheus, wie sie in Euripides' Bacchen gestaltet ist.417 Pentheus will den Dionysoskult gewaltsam unterdrücken und kann doch nicht verhindern, dass die Frauen von Theben in die Berge schwärmen, darunter seine eigene Mutter Agaue mit ihren beiden Schwestern. Pentheus lässt Dionysos festnehmen, doch der Gott befreit sich mit Leichtigkeit aus seinen Fesseln und gewinnt Macht über Pentheus, verführt ihn dazu, in die Wildnis zu schleichen, um das Treiben der Mänaden auszuspähen. Besonders unheimlich ist, wie Pentheus, bereits selbstverloren, sich dionysisch kostümiert, mit langem "weibischem" Gewand, Gegenbild des "verweiblichten" Dionysos selbst. So wird er als Opfer den Mänaden zugeführt; mit bloßen Händen zerstückeln ihn die Mänaden, die eigene Mutter reißt ihm Arm samt Schulter aus. Danach freilich muss auch sie Theben verlassen. In denselben Kreis gehört der in Theben lokalisierte Geburtsmythos.418 Auch hier wird das Normale ins Gegenteil verkehrt: Zeus liebt Semele, die Tochter des Kadmos - und verbrennt sie mit seinem Blitz; das ungeborene Kind wird im Schenkel des Zeus als in einem "männlichen Mutterleib" ausgetragen und ein zweites Mal aus dem Schenkel geboren. Hermes bringt das göttliche Kind zu den Nymphen oder Mänaden ins geheimnisvoll-ferne Nysa, wo Dionysos heranwächst, um später mit göttlicher Macht wiederzukehren. Die Schenkelgeburt, Gegenstück zur Kopfgeburt der Athena,419 ist nicht weniger rätselhaft. Eine Verwundung des Vater-Gottes ist beide Male vorausgesetzt; der Schenkel bringt erotische, auch homoerotische Assoziationen. Die Schenkelwunde steht in Beziehung zu Kastration und Tod, offenbar auch im Zusammenhang mit Initiationen.42o Wer die Schenkelgeburt in ein Missverständnis auflösen will,421 verkennt, wie gerade das Paradoxon seine Wirkung tut. Die Geburt des Dionysos, gefeiert im Dithyrambos,422 seine erste Epiphanie fällt zusammen mit einem "unsagbaren 416 Plat. Leg. 672b. --+ 1II1.2; V 1 Anm. 73-77. 417 Dazu Dodds (--+ Anm. 386); Reginald P. Winnington-Ingram, Euripides and Dionysus, Cambridge 1948; Jeanne Roux, Euripide, Les Bacchantes, Paris 1970; Richard Seaford, Euripides Bacchae, Warminster 1996; Hubert Philippart, Iconographie des Bacchantes d'Euripide. Paris 1930; Adolf Greifenhagen, Der Tod des Pentheus, Berliner Museen N. F. 16, 1966,2,2-6; LIMC VII s.v. Pentheus. 418 Eur. Bacch. 88-100; 519-536; Aischylos, Xantriai und SemeIe, Fr. 168-172; 221-224 Radt; Bilddarstellungen: Cook 1940, III 79-89; LIMC VII s.v. Dionysos nr. 666/7. 419 --+ III 1 Anm. 183. 420 Vasileios Lambrinoudakis, Merotraphes. Me!ete peri tes gonimopoioü tr6seos e desmeüseos toü podos en te archaia he!!enike mytho!ogia, Athen 1971; vgl. auch Burkert 2008, 20-23. 421 Teiresias bei Eur. Bacch. 286-297; dazu Bernhard Gallistl, Teiresias in den Bakchen des Euripides, Diss. Zürich 1979. Missverständnis eines Adoptionsritus: Johann J. Bachofen, Das Mutterrecht, Gesammelte Werke III, Basel 1948, 637; CGS V 110; Cook 1940, 1I189; den hebräischen Ausdruck »aus dem Schenkel (jarek) hervorgegangen" (Gen. 46,26) für »Sohn" zieht Astour 1965, 195 heran. 422 Dithyrambos und Dionysosgeburt: Plat. Leg. 700b; Eur. Bacch. 526.
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Opfer", dem in der kultischen Realität das Stieropfer entspricht. Danach entschwindet Dionysos in die Ferne; doch wieder und wieder wird er Einzug halten und Verehrung fordern. Der Einzug des Dionysos wird seit dem 6. Jahrhundert mit einer Schiffsprozession gefeiert, wobei das Schiff von Männern getragen oder auf Räder gesetzt wird.423 Bezeugt ist dies durch einige Bilddarstellungen; eine Beschreibung des Rituals haben wir erst aus der Kaiserzeit. Die passende Vorgeschichte erzählt bereits der siebte der Homerischen Hymnen: Dionysos erscheint am Strand in Gestalt eines Jünglings, tyrrhenische Seeräuber wollen ihn auf ihrem Schiff entführen; doch die Fesseln fallen ab, Reben wachsen auf und umwinden Mast und Segel, Efeu schlingt sich um den Mast; die Räuber stürzen sich ins Meer und werden in Delphine verwandelt. Nur der Steuermann, der sich den anderen widersetzt hat, bleibt, ihn stellt der Gott in seinen Dienst, wie denn beim Fest der Dionysospriester als Steuermann des Schiffs auftritt.424 Wie das Schiff dahinfährt, vom Weinstock überschattet, von Delphinen umschwärmt, stellt in einzigartiger Harmonie die Münchner Exekias-Schale dar.425 Andere Bilder zeigen unverstellt das primitive Räderschiff und auch die ausgelassene Stimmung, die seine Begleiter umgibt. Der Weingott ist in der attischen Keramik des 6. Jahrhunderts für die Ausschmückung der Weingefäße überaus populär geworden; dabei findet die Ikonographie des Dionysos-Thiasos ihre feste Form, nicht ohne Zusammenhang mit der Ausgestaltung der Dionysosfeste, vor allem dann des Satyrspiels. Abzeichen des Dionysischen ist, zusammen mit Wein- und Efeuranken, der Thyrsos, ein federnder Stab (narthex) mit einem Efeugewinde am oberen Ende, das auch als Pinienzapfen verstanden werden kann.426 Das Gefolge gliedert sich in weibliche Mänaden und betont männliche Satyrn. Die Mänaden, bekleidet, oft ein Rehfell (nebris) um die Schulter geschlungen, tanzen in Trance, den Kopf gesenkt oder weit in den Nacken geworfen. Die Erscheinung der Satyrn,427 die Menschliches und Tierisches mischt, ist zunächst 423 August Frickenhaus, Der Schiffskarren des Dionysos in Athen, JdI 27, 1912, 61-79; AF 102-111; HN 223 f. Getragen: klazomenische Vase aus Ägypten, JHS 78, 1958, 2-12; auf Rädern: 3 attische Skyphoi, AF T. 11,1; 14,2; GGR T. 36,1; Pickard-Cambridge 1968 fig. 11-13; Simon 1969, 284; zusätzliche Dokumente Kerenyi 1976 Abb. 49-52; Auffarth 1991, 214 f. 424 Hymn. Dion. 49; 53 f; Rtual in Smyrna: Philostr. Vit. soph. 1,25,1. Angeregt durch den Dionysoshymnus sind die Reliefs des Lysikrates-Monuments in Athen. LIMC IU s.v. Dionysos nr. 792. 425 München 2044; ABV 146, 21; Arias/Hirmer 1960, T. XVI; Simon 1969,287; Kerenyi 1976 Abb. 51; LIMC III s.v.Dionysos nr. 788. 426 EAA IV 1002-1013. 427 Silenoi erscheinen im Gefolge der Aphrodite (Hymn. Aphr. 262), inschriftlich mit Dionysos auf der Fran~ois-Vase u.a.m., Schefold 1964, T. 52, Simon 1969, 219 Abb. 203; Guy M. Hedreen, Silens in Attic Blackfigure, Ann Arbor 1992; Sdtyroi erscheinen erstmals Hes. Fr. 123 A, in der Genealogie des Doros. In der attischen Vasenmalerei des 6. Jahrhunderts ist die Bezeichnung meist unbestimmbar (Thomas H. Carpenter, Dionysian Imagery in Archaic Greek Art, Oxford 1986). Gegen 500 kommt in Athen das Satyrspiel auf die Bühne, mit einem Chor von Sdtyroi und einem PappoSilenos als Chorführer: Furtwängler, Kleine Schriften I, 1912, 134-185; Frank Brommer, Satyroi, Würzburg 1937; -, Satyrspiele, Berlin 21959; Ralf Krumeich/Ruth Bielfeldt (Hrsg.), Das griechische
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als Maskierung verständlich: Eine stumpfnasige Gesichtsmaske mit Bart und Tierohren verbirgt die Identität, ein Lendenschurz hält den ledernen - oft erigierten - Phallos und den Pferdeschwanz. Möglicherweise dient das Kostüm von Haus aus der Kelterung, bei der man Gewänder nicht beschmutzen und doch die persönliche Nacktheit verbergen will. Dass so maskierte Satyrn an den Festen auftraten, nicht nur als der standardisierte Chor im Satyrspiel, ebenso wie wirkliche Frauen als Mänaden oder "Thyiaden" kraft des Gottes ins "Rasen" gerieten, ist bezeugt.428 Das phallische Moment dient nicht der Fortpflanzung - die Mänaden wissen sich der Zudringlichkeit der Satyrn, und sei es mit Hilfe des Thyrsos-Stabs, stets zu erwehren; es ist ein Element der Erregung um ihrer selbst willen, zugleich Zeichen des Außergewöhnlichen: Zu den Dionysia gehört eine Prozession mit einem Riesen-Phallos. Der Gott selbst ist vielgestaltig. Er kann in der schlichtesten Form vergegenwärtigt werden durch die Maske, die an einer Säule aufgehängt und mit einem Stück Gewand fast nach Art einer Vogelscheuche ausgestattet wird.429 Dass auch Menschen die Maske tragen, als Gott tanzen und "rasen" konnten, ist anzunehmen.43o Auf Nrums gibt es zweierlei Masken des Gottes,43I die des "Rasenden", Baccheus, aus Rebenholz, die des "Milden", Meilichos, aus Feigenholz, was auch auf die Unterwelt deuten kann. Auch von alten Dionysos-xoana ist die Rede, einem kaum bearbeiteten, "vom Himmel gefallenen" in Theben, einem Wahnsinn auslösenden in Patrai, mehreren aus der Fichte des Pentheus verfertigten in Korinth.432 Die idealisierenden Bilddarstellungen zeigen im 7. und 6. Jahrhundert Dionysos als den Alten, Bärtigen, in ein langes Gewand gehüllt, den besonderen Weinkrug, kdntharos, in der Hand.433 In der Mitte des 5. Jahrhunderts tritt wie bei der Hermesgestalt eine Verjüngung ein, maßgebend im Parthenon-Fries: Wie im Homerischen Hymnus wird nun Dionysos jünglingshaft und meist nackt dargestellt. Mehr als früher entsteht damit ein eigentlich erotisches Fluidum um Dionysos, Spiegelbild einer mehr und mehr vom Individualismus geprägten Gesellschaft. Wein
Satyrspiel, Darmstadt 1999; Isler-Kerenyi 2007; LIMC VIII s.v. Silenoi. 428 Plat. Leg. 815c; Xen. Symp. 7,5. Zu den Thyiaden GGR573. Phallos-Prozession ...... Anm. 401; Thyiaden ...... V 1 Anm. 90. 429 August Frickenhaus, Lenäenvasen, 72. Winckelmannsprogramm 1912; HN 260-263; FrontisiDucroux 1991. Maske des Dionysos Morychos, Polemon Fr. 73 Müller ~ Zenob. 5,13 ....... Anm. 46; II 7 Anm. 57; V 2 Anm. 22. 430 Die Franc;ois-Vase stellt Dionysos als Maskentänzer vor den Hilrai (Jahreszeiten) dar, Schefold 1964, T. 48a; vgl. Schol. Aristid. p. 22,20 Dindorf (Schol. Demosth. 21,180); bei den Iobacchen, SIGl 1109 = LSCG 51, 124. 431 Ath. 78c. 432 Paus. 9,12,4; 7,18,4; 2,2,6; vgl. 2,23,1. ...... II 5 Anm. 71. 433 Älteste Darstellung eine "melische Amphora", JHS 22, 1902, pI. 5; Dimitrius Papastamos, Melische Amphoren, Münster 1970, 55-58, T. 10; LIMC III s.v. Dionysos nt. 708 (vor 600); dann ein korinthischer Amphoriskos, Humfry Payne, Necrocorinthia, Oxford 1931, 119 Abb. 44 G; Pickard-Cambridge 1962, 172 fig. 5; Simon 1969, 219 Abb. 204; LIMC III SN. Dionysos nt. 548; Scherbe aus Perachora, Perachora II, 1962, T. 107.
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und Geschlechtsgenuss gehören zusammen; private Dionysosfeiern können "Orgien" im modernen Sinne sein. Doch wächst auch, gespeist von der gleichen Tendenz zum Individualismus, eine merkwürdige Belebung der Dunkelseite des Dionysoskults; dem Ineinander von Lebensüberschwang und Vernichtung entsprechen DionysosMysterien, die den Weg in ein seliges Jenseits versprechen.434 Während der literarische Mythos wi.e die Ikonographie des Gottes gegen Ende des 5. Jahrhunderts ihre im wesentlichen abschließende, klassische Form gefunden haben, bleibt unter dieser Oberfläche der Gott und sein Wirken geheimnisvoll und unfassbar.
1.11 Hephaistos Hephaistos435 ist kein griechisch verständlicher Name. Seine Stadt, Hephaistias,436 war Hauptstadt der Insel Lemnos, wo sich bis ins 6. Jahrhundert eine eigenständige, nicht-griechische Bevölkerung hielt; die Griechen nannten sie "Tyrsener", identifizierten sie also dem Namen nach mit den italischen Etruskern. Von einem großen Reinigungsfest auf der Insel Lemnos, das in die Entzündung neuen Feuers und seine Verteilung an die Handwerker mündete, wissen wir aus später Überlieferung.437 Nach der Ilias haben Sintier auf Lemnos den Hephaistos, als er vom Himmel fiel, in Pflege genommen.438 Zum lemnischen Hephaistos gehören als seine Söhne oder Enkel die Kabiren, geheimnisvolle Schmiedegötter.439 Volkstum und Sprache der "Tyrsener" von Lemnos sind nicht fassbar; die lemnischen Inschriften sind nicht sicher gedeutet.44o Die besondere Bedeutung des Schmiedehandwerks in der Bronze- und frühen Eisenzeit hat zu enger Verflechtung mit politischen und religiösen Organisationen geführt. Andreas Alföldi glaubte, ein "Schmiedekönigtum" hethitischer Tradition zu
434 --+ VI 2.2. 435 Rapp, RML I 2036-2074; CGS V 374-390; Ludolf Malten, JdI 27, 1912, 232-264 und RE Vlll 311-366 (lykisch-karische Herkunft); Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Hephaistos, GGN 1895, 217-245 = Kleine Schriften V 2, 1937,5-35; Cook 1940, 111190-237; Marie Delcourt, Hephaistos ou la legende du magicien, Paris 1957; Frank Brommer, Hephaistos. Der Schmiedegott in der antiken Kunst, Mainz 1978; Masciadri 2008, 259-293. Die dorische und äolische Namensform ist (H) dphaistos. Der Personenname a-pa-i-ti-jo in Knossos (KN L 588) kann als Haphaistios gelesen werden_ 436 Hekataios FGrHist 1 F 138, Hdt. 6,140, RE Vlll 315 f; die Ausgrabungen, durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen (EAA III 230 f; IV 542-5) wurden 1978 wieder aufgenommen, Masciadri 2008, 136. Zur Eroberung durch Miltiades Konrad Kinzl, Miltiades-Forschungen, Diss. Wien 1968, 56-80,121-144. 437 --+ II 1 Anm. 57. 438 Il. 1,594. 439 --+ VI 1.3. 440 Eine einzige längere Inschrift ist seit 1885 bekannt, IG XII 8,1. Beziehung zum Ettuskischen scheint festgestellt. Wilhelm Brandenstein, RE VII A (1948) 1919-1938; Carlo de Simone, I Tirreni a Lemnos, Florenz 1996; Luigi Beschi, PP 53,1998,48-76; Masciadri 2008, 142-144.
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fassen. 441 Die direkte Verbindung von Schmiedewerkstätten und Heiligtum ist eindrucksvoll in Kition auf der Kupferinsel Zypern im 12. Jahrhundert bezeugt; dort ehrt man auch den Gott und die Göttin "auf dem Kupferbarren".442 Auch bei den Phrygern scheint die Große Göttin mit Schmiedewerkstätten zu tun zu haben.443 Die griechischen Städte haben zugunsten kriegerischer Arete das Handwerk in den zweiten Rang verwiesen. Nur in Athen hat Hephaistos in Mythos und Kult eine einzigartige Bedeutung; er wird in der Begegnung mit Athena de facto zum Vater des Urkönigs Erechtheus/Erichthonios und damit Stammvater der Athener;444 so erhält er am Geschlechterfest der Apaturia ein Opfer.445 Ein Schmiedefest Chalkeia, das auch mit Athena zu tun hat, gehört zum Festkalender.446 Einen monumentalen Tempel erhielt Hephaistos, zusammen mit Athena, allerdings erst nach 450; er steht, fast vollständig erhalten, auf dem Hügel über der Agora gegenüber von Athenas Akropolis.447 Im Epos hebt sich Hephaistos von den anderen Olympischen Göttern ab durch seine innige Bindung an sein eigentliches Element, das Feuer; sein Name kann - ein bei Homer singulärer Fall - für "Feuer" schlechthin stehen.448 Als der Flussgott Skamandros den Achilleus in seinen Fluten ertränken will, ruft Hera Hephaistos herbei, der mit lodernden Flammen den Fluss bändigt.449 Eine Epiphanie des Hephaistos und damit ein Zentrum seiner Verehrung war das - heute noch bestehende - Erdgasfeuer bei Olympos an der Südküste Kleinasiens; dass es ein ähnliches Erdfeuer auf der Insel Lemnos gab, ist reine Vermutung. 450 Sekundär ist die Verbindung des Hephaistos mit Vulkanen, die Benennung der Liparischen Inseln als Hephaestiades insulae, die Verlegung seiner Schmiede unter den Ätna. Der Gott Hephaistos hat verkrüppelte Füße, was ihn zum Außenseiter unter den vollkommenen Olympiern macht; es gibt realistische und mythische Erklärungen.451 Der mit besonderen Kräften Begabte ist der Gezeichnete. Die Göttererzählung gibt eine burleske Begründung: Hera hat diesen Sohn aus sich selbst, ohne männliche Zeugung, geboren; das Ergebnis war enttäuschend, sie warf ihn zornig vom Himmel herab. 452 Die Fortsetzung, wie Hephaistos die Mutter zur Rache an einen kunstvollen 441 Andreas Alföldi, Die Struktur des voretruskischen Römerstaates, Heidelberg 1974, 181-219. 442 --+ 14 Anm. 4/5; III 1 Anm. 304; BCH 97, 1973, 654-656; auch in Pylos gibt es "Schmiede der Potnia", SMEA 5, 1968, 92-96. 443 Albert Gabrie\, REA 64, 1962,31-34; bei Kubaba in Sardes: A. Ramage, BASOR 199, 1970, 16-26. 444 --+ III 1 Anm. 200. 445 Istros FGrHist 334 F 2, vgl. Jacoby z.d.St.; Simon 1969, 215; Aiseh. Eum. 13; Plat. Tim. 23e. 446 AF 35 f. 447 William B. Dinsmoor, Observations on the Hephaisteion, Hesperia Suppl. 5, 1941; Gruben 1966, 199-204. 448 Il. 2,426. 449 Il. 21,328-382. 450 RE V1ll317-319; 316; Burkert 1970, 5 f; Masciadri 2008, 132 f. 451 RE V1ll333-337; medizinisch Edwin Rosner, Forsch. und Fortsehr. 29, 1955, 362 f; an Zwerge erinnert Wilamowitz, Kleine Schriften V 2, 31-34; Archetypisches bei Stephan Sas, Der Hinkende als Symbol, Zürich 1964. 452 11.18,394-399; Hymn. ApolI. 316-320; Masciadri 2008, 269-293.
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Thron gefesselt hat und nur Dionysos in der Lage ist, Hephaistos schließlich, betrunken, zur Rettung in den Olymp zurückzuführen, ist zu einem beliebten Thema dionysischer Bilddarstellungen geworden; literarisch war es in einem homerischen Hymnus und bei Alkaios gestaltet, vielleicht in Anlehnung an Lemnische Tradition.453 Die Ilias macht Hephaistos zum Anlass und Zentrum des "homerischen Gelächters", als er anstelle des schönen Knaben Ganymedes humpelnd und keuchend Wein kredenzt; und doch ist eben diese Heiterkeit sein erwünschter Erfolg, er allein hat die Klugheit und Selbstdistanz, auf diese Weise eine gespannte Situation zu entschärfen.454 Auch das "homerische Gelächter" der Götter in der Odyssee geht auf seine Kosten und ist doch sein Sieg, als er die ehebrecherische Aphrodite samt Ares im kunstreichen Netz gefangen hat.455 In der Ilias ist Chdris, die Anmut, Hephaistos' Gemahlin. Seine Schmiede, in einem ehernen Haus ~uf dem Olympos eingerichtet, wird ausgemalt in der Szene, als Thetis neue Waffen für Achilleus erbittet. Hephaistos selbst arbeitet an Blasebälgen und Amboss, rußig und schwitzend, doch herrliche Kunstwerke gehen aus seinen Händen hervor: Dreifüße auf Rädern, die automatisch rollen, ja goldgeschmiedete Roboter_Mädchen, die ihn stützen.456 Noch erstaunlicher ist dann der Schild, den er erschafft, ein Bild der ganzen Menschenwelt, umrahmt von den himmlischen Sternen. Der Handwerker-Gott wird zum Inbild des gestaltenden Schöpfers; vielleicht hat der Iliasdichter sich selbst in diesem Bilde mit gemeint.457
1.12 Ares "Ares''458 ist anscheinend ein altes abstraktes Substantiv mit der Bedeutung "Kampfgewühl", "Krieg".459 Bezeichnend ist das häufige Vorkommen des davon abgeleiteten Adjektivs are/os: Es gibt einen Zeus Areios, eine Athena Areia, eine Aphrodite Areia, mykenisch anscheinend auch einen Hermaas Areias,460 dazu den "Areshügel", Areios pagos, in Athen. Bei Homer wird ares für "Kampf" gebraucht; formelhaft sind Aus453 454 455 456 457
--+ III 1 Anm. 100/1. Lemnische Kabiren und Wein, Aisch. Fr. 97; Burkert 1970, 9. Il. 1,571-600. Od. 8,266-366. --+ III 1 Anm. 311. Il. 18, 369-420. Walter Marg, Homer über die Dichtung, Münster 1957; vgl. Hubert Schrade, Gymnasium 57, 1950, 38-55; 94-112. Der Himmelssturz des Schöpfergottes wurde in der Gnosis aufgegriffen, Burkert in: Raban v. Haehling (Hrsg.), Griechische Mythologie und frühes Christentum, Darmstadt 2005, 189-191. 458 Stoll/Furtwängler, RML I 477-93; Tümpel/Sauer, RE II 642-667; CGS V 396-414; Pötscher, Ares, Gymnasium 66, 1959,5-14 = Hellas und Rom, 1988,37-48; LIMC II s.v. 459 Alfred Heubeck, Die Sprache 17, 1971,8-22; Personenname Areimenes --+ I3 Anm. 246. 460 --+ I 3 Anm. 246. Ares und Athena Areia z.B. im attischen Ephebeneid, Tod 1946 nr. 204,17; Louis Robert, Hellenika 10, 1955, 76 f.
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drücke wie "dem scharfen ares standhalten", "den scharfen ares wecken", "sich im ares messen", "durch ares töten";461 zugleich aber ist Ares ein gepanzerter, "eherner" Krieger, dem Furcht und Schrecken, Ph6bos und Deimos, den Streitwagen anschirren; er ist "übermächtig", "unersättlich am Krieg", "vernichtend", "meuchelmordend"; doch da ein Held nun einmal ein Krieger ist, heißt ein solcher "Zweig des Ares"; die Danaer sind "Gefolgsleute des Ares", besonders Menelaos ist "Ares lieb" und im Kampf "Ares gleich". In der Ilias wird Ares immer wieder Athena gegenübergestellt, und dies geht regelmäßig zu seinen Ungunsten aus; er steht ja auch auf der am Ende verlierenden, der troischen Seite. Erhebt Athena das Kampfgeschrei auf griechischer Seite, so brüllt Ares, einer dunklen Regenwolke gleich, von der Burg der Troer und vom SimoeisFluss her.462 Als Ares im Olymp erfährt, dass einer seiner Söhne erschlagen ist, da heult er auf, schlägt sich die Schenkel, will sich in den Kampf stürzen; doch Athena nimmt ihm Helm, Schild und Lanze ab und weist ihn an, sich Zeus zu fügen. 463 Im Götterkampf treten beide gegeneinander an, Ares schleudert seinen Speer erfolglos gegen die Aigis, Athena aber wirft ihm einen Stein gegen den Nacken, dass Ares in den Staub fällt, sieben Plethren weit dahingestreckt.464 Übler noch spielt sie ihm in der Diomedes-Aristie mit: Sie selbst lenkt den Speer des Diomedes gegen den Gott, verwundet ihn am Unterleib, Götterblut fließt; wie neun- oder zehntausend Männer zugleich brüllt Ares auf, flieht zum Olymp, Zeus aber fährt ihn an: "Am verhaßtesten bist du mir unter den Göttern, die den Olymp innehaben; stets ist Streit dir lieb und Kriege und Schlachten".465 Ares ist Verkörperung alles dessen, was am Krieg hassenswert ist; der Glanz des Sieges, Nike, bleibt der Athena. So ist denn die Heimat des Ares das wilde Barbarenland, Thrakien.466 Es gibt wenig eigentliche Ares-Mythen. Eine dunkle Andeutung steht in der Ilias, wie die Aloaden Otos und Ephialtes Ares in ein ehernes Fass sperrten, dreizehn Monate lang, bis Hermes ihn "herausstahl";467 man ahnt ein "entfesseltes" Ausnahroefest im 13. Monat. Ein Sohn des Ares ist Kyknos, der, mörderischer noch als sein Vater, aus Menschenschädeln einen Tempel zu bauen unternahm; Herakles erschlug den Unhold, Ares versuchte ihn zu rächen, doch auch hier wurde er verwundet; Zeus trennte die Kämpfenden.468 Am eigentümlichsten ist Ares in den Gründungsmythos von Theben verwoben: 469 sein Sohn ist jener Drache, den Kadmos an der 461 462 463 464 465 466 467
Vg1. Lexikon des frühgriechischen Epos 11259-1262. 11. 20, 48-53. H. 15,110-142. H.21,391-433. H. 5,890 f, vg1. 590-909. 11. 13,301; Od. 8,361. 11. 5,385-91. Vg1. Orakel von Klaros über Aufstellung einer gefesselten Ares-Statue in Syedra (1. Jahrhundert v. ehr.), Louis Robert, Documents de I'Asie Mineure meridionale, Genf 1966, 91-100; Merkelbach/Stauber 2002, IV 18/19 nr.!. 468 Divergierend Hes. Scutum 57 ff und ApolIod. 2,114; PR II 508-512. 469 Eur. Phoin. 931-943; PR II 107-110; Francis Vian, Les origines de Thebes, Paris 1963.
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1 Individuelle Götter
Quelle erlegt, um seine Zähne auszusäen; die so entstehenden Erdgeborenen, die sich gegenseitig erschlagen, sind also Ares-Geschlecht. Später hat Kadmos Ares versöhnt und seine und Aphrodites Tochter Harmonia geheiratet: Mörderischer Krieg endet in "harmonischer" Ordnung; so wird die Stadt gegründet. Dass kriegführende Heere von Fall zu Fall dem Ares opferten, versteht sich; doch einen Tempelkult hatte Ares nur an wenigen Orten.470 Eine berühmte Ares-Statue schuf Alkamenes.471 Der Arestempel auf der Athener Agora, den Pausanias nennt,472 ist erst in Augusteischer Zeit dorthin versetzt worden; er stand zuvor vielleicht in Acharnai, er könnte sogar einem anderen Gott gehört haben. Erst der römische Mars, der Mars Ultor des Kaisers Augustus, hat Ares einen solchen Platz inmitten der athenischen Polis verschafft.
470 Bei Troizen, Paus.2,32,9; Gerontrai, Paus. 3,22,6; Argos, Ares mit Aphrodite, Paus.2,25,1; Halikarnaß, Vitr. 2,8,11; Priester in Erythrai, IE 201a3; zu Ares und Aphrodite ---;. V 1. n. 36. Ares Theritas in Sparta, Paus. 3,19,7-8, ist eher Enyalios, Hsch. s.v. Theritas. 471 Overbeck 1868 nr. 818; Lippold 1950, 186. 472 Paus. 1,8,4; Hesperia 28, 1959, 1-64; Homer A. Thompson, The Agora of Athens, Princeton 1972, 162-165. Der unter den "Homerischen Hymnen" überlieferte Ares-Hymnus (8) ist spätantik und stammt vielleicht von Proklos, Martin L. West, CQ 20, 1970, 300-304.
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III
DIE GESTALTETEN GÖTTER
2 Das übrige Pantheon
2.1 "Kleinere" Götter Die Zahl der Götter ist unbegrenzt und unübersichtlich; sie lassen sich nicht vollständig aufzählen. Dass man sich gegebenenfalls durch eine Formel "alle Götter" absichert, ist seit mykenischer Zeit üblich. l Die Auswahl der "großen", panhellenischen Götter ist im wesentlichen durch die panhellenische Bildungsrnacht des Epos erfolgt. Es bleibt ein beträchtlicher Rest von Gottheiten, die über lokale Bedeutung nicht hinausgelangten, teilweise auch ihrem Wesen nach eng umgrenzt und darum kaum entwicklungsfähig waren. Hestia, 2 ionisch Histie, ist das Alltagswort für den Herd als Zentrum des Hauses und der Familie; eine Familie vertreiben oder vernichten, heißt einen Herd beseitigen. 3 Auch die Gemeinschaft der Polis hat zum Zentrum einen "gemeinsamen Herd" (koine hestia},4 der in einem Tempel oder im Ratsgebäude steht. Der nie erlöschende Herd im Tempel von Delphi galt zuweilen als der "gemeinsame Herd" von ganz Griechenland. 5 Der Herd ist eine Opferstelle für Libationen und kleine Speisegaben; das Mahl beginnt, indem man diese ins Feuer wirft. "Von der Hestia aus anfangen" ist daher im Sprichwort das gründliche, richtige Beginnen. 6 Die so geehrte Macht ist nur in Ansätzen zur Person geworden; der Herd ist unverrückbar, so dass Hestia sich am Götterzug7 und erst recht am übrigen Treiben der Olympischen Götter nicht beteiligen kann. Im Aphroditehymnus heißt Hestia die älteste und zugleich jüngste Tochter des Kronos; von Göttern umworben, hat sie sich ewige Jungfräulichkeit ausbedungen. 8 Dies entspricht alten Sexualtabus gegenüber dem Herd,9 wo die Töchter des Hauses das Feuer hüten, das zugleich als phallische Kraft erlebt wird. So sitzt Hestia, "fette Spenden empfangend", in der Mitte des Hauses. Eine der römischen Vesta entsprechende Bedeutung hat sie nie erlangt.
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-+ 13 Anm. 241; Friedrich Jacobi, Pdntes theoi, Halle 1930; Konrad Ziegler, RE XVIII 3, 704-707. Derselbe Ausdruck ist akkadisch, hethitisch, persisch belegt. Hom. Hymn. 24; 29; Pind. Nem. 11; August Preuner, RML I 2605-2653; CGS V 345-373; Suess RE VIII 1257-1304; Hildebrecht Hommel in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 12, 1972, 397-420; Reinhold Merkelbach, Der Kult der Hestia im Prytaneion griechischer Städte, ZPE 37, 1980,77-92 = Merkelbach 1996,52-66; Walter Pötscher, Hestia und Vesta. Eine Strukturanalyse, in: Alberto Bernabe et al., Athlon. Satura grammatica in honorem Francisci R. Adrados II, Madrid 1987,743-762; LIMC V s.v. Das Verhältnis von hestia-histie-Vesta ist aus indogermanischer Sprachwissenschaft nicht zu klären; es müssen Entlehnungen aus einer dritten Sprache mit im Spiel sein. Hdt. 5,72 f. Pind. Nem.ll; Arist. Pol. 1322b26; RML I 2630-2643; Merkelbach -+ Anm. 2. Plut. Aristid. 20,4; vgl. Hom. Hymn. 24. -+ II 1 Anm. 50. Aristokritos FGrHist 493 F 5; GGR 337 f. Plat. Phdr. 247 a. Hymn. Aphr. 21-32. Hes. Erga 733; Gaston Bachelard, Psychoanalyse du feu, Paris 1949.
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2 Das übrige Pantheon
Eileithyia,1O die Göttin der Geburt, die schon in mykenischer Zeit in der Höhle bei Amnisos verehrt wird, ist in jeder Familie unentbehrlich, freilich nur von Zeit zu Zeit zum klar bestimmten Zweck. Ihr Name ist wohl eine Entstellung der Verbalform Eleuthyia, die "Kommende"; die mykenische Form ist Eleuthia. Nach ihr ruft der Schrei aus Schmerz und Angst, bis sie "kommt" und zugleich das Kind. Natürlich sind es vor allem die Frauen, die sie verehren. Sie steht in enger Beziehung zu Artemis und Hera, entwickelt aber keinen eigenen Charakter. Einige Gottheiten sind gleichsam Doppelgänger der "homerischen" Götter. Bereits im Mykenischen bezeugt ist Enyalios;l1 die Griechen kennen ihn als Kriegsgott. Für ihn singen noch die Söldner um Xenophon bei Eröffnung der Schlacht den PaianY Neben ihm steht eine Partnerin Enyo. In der Ilias ist Enyalios ein Beiname des Ares,13 was auch in den Kult Eingang fand. Der Mythos hat nur in einigen spät bezeugten Ansätzen versucht, Ares und Enyalios zu differenzieren. Mehr Eigenständigkeit hat Hekate,14 so oft sie auch seit dem 5. Jahrhundert mit Artemis gleichgesetzt wird. l5 In der Ikonographie ist sie in der Regel die gleiche kurzgeschürzte, bewegte Jungfrau, nur dass sie statt des Bogens die Fackeln trägt - die aber auch Artemis übernehmen kann. Hekate ist die Göttin der Wege, Enodia, insbesondere der Dreiwege und der dort niedergelegten Opfer; aus den drei Masken, die man an Dreiwegen aufhängt, entwickelt sich ihre Darstellung in dreifacher Gestalt. Die Wege der Hekate sind nächtlich; von bellenden Hunden begleitet, führt sie ein gespensterhaftes Gefolge an. Hekate ist auch Göttin des Mondes und der mondbeschwörenden Hexen Thessaliens, auch der gefährlichen Zauberin Medeia. l6 Hier spiegeln sich geheimbündische Rituale. Auch bei der Hadesfahrt, bei Raub und Rückkehr der Persephone ist Hekate zur Stelle.17 Hekate scheint bei den kleinasiatischen Karern verwurzelt zu sein; ihr bedeutendstes Heiligtum ist Lagina, ein Tempelstaat orientalischen Typs, wo es auch "heilige Eunuchen" gibt. lB Karisch ist auch der theo10
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-+ 13 Anm. 66; 13 Anm. 241; Jessen, RE V 2101-2110; GGR 312 f; Willetts, Cretan Eileithyia, CQ 52, 1958, 221-223; LIMC III s.v. Eileithyia. -+ I 3 Anm. 240; Gerard-Rousseau 1968, 89 f; Jessen, RE V 2651-2653. Xen. Anab. 1,8,18; 5,2,14. 11. 17,211 f; 20,69, vgl. 21,391 f. Steuding, RML I 1888-1910; CGS II 501-519; Heckenbach, RE VII 2769-2782; GdH I 169-177; GGR 722-725; Theodor Kraus, Hekate, Heidelberg 1960; Sarah 1. Johnston, Hekate Soteira. A Study ofHekate's Roles in the Chaldaean Orades and Related Literature, Atlanta 1990; Robert Von Rudloff, Hekate in Ancient Greek Religion, Victoria 1999; Wolfgang Fauth, Hekate Polymorphos Wesensvarianten einer antiken Gottheit, Hamburg 2006; LIMC VI s.v. Hekate. Aisch. Hik. 676; Eur. Phoin. 109; IG P 383,125 f; LSCG 18 B 11: "für Artemis Hekate im Bezirk der Hekate". Eur. Med. 395-397; Eur. Hel. 569 f; Rohde II 80-89. -+ II 9 Anm. 13. -+ 1Il1 Anm. 37l. Laumonier 1958, 370; 406-425; eunoüchoi: Die Inschriften von Stratonikeia II 1, 1982, nt. 513,34; 544. -+ II 6 Anm. 23. Zweifel an der karischen Herkunft äußert W. Berg, Numen 21, 1974, 128-140, mit Verweis auf die erst hellenistischen Zeugnisse für Lagina, was wenig besagt. Der Name Hekate wurde mit der hurritischen Großen Göttin Hepat verbunden von Kraus (-+ Anm. 14) 55, 264. Vgl.
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III
DIE GESTALTETEN GÖTTER
phore Name ungriechischen Typs Hekatomnos, Vater des Maussolos. Die aus Kyme stammende Familie Hesiods scheint Hekate besonders verehrt zu haben. Die Theogonie enthält einen Hekatehymnus, der die Göttin besonders heraushebt: Sie hat in allen Bereichen der Welt ihr "Teil".19 Held eines der bekanntesten und meist gedeuteten griechischen Mythen ist Prometheus,zo der Sohn des Titanen Iapetos. Er hat die Menschen erschaffen, das Feuer für sie vom Himmel gestohlen, das Opfer zu ihren Gunsten eingerichtet; sein Gegenspieler Zeus hat die Menschen durch die Frau Pandora und ihr Fass der Übel gestraft, hat Prometheus an den Kaukasos schmieden lassen und den leberfressenden Adler gegen ihn gesandt, bis Herakles Erlösung bringt. Literarisch bestimmend ist die doppelte Darstellung bei Hesiod einerseits,21 das Aischylos-Drama andererseits, das den Trotz des Menschenfreundes gegen Zeus mit dem Problem der Kultur verkettet. 22 Volksüberlieferung steht daneben. 23 den Hintergrund bildet anscheinend ein Trickster-Mythos. 24 Prometheus genießt Kult vor allem in Athen, sein Fest Promethia wird mit Fackelläufen gefeiert. 25 Auf einem Weihrelief steht er Hephaistos zur Seite
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auch III 1.5 Anm. 30. Hes. Theog. 411-452, zur Authentizität West 1966, 276-280; Hekate ist Tochter des Perses (Theog. 409), Hesiods Bruder Perses trägt wohl einen theophoren Namen, West 278, vgI. HN 233. Karl Kerenyi, Prometheus, das griechische Mythologem von der menschlichen Existenz, Zürich 1946; Louis Sechan, Le mythe de Promethee, Paris 1951; Walter Kraus, RE XXIII 653-702; Lothar Eckhart ibo 702-730; Ugo Bianchi, Prometheus, der titanische Trickster, Paideuma 7, 1961,414-437; Raymond Trousson, Le theme de Promethee dans la litterature europeenne, Genf '1976; Jaqueline Duchemin, Promethee, Histoire du mythe, de ses origines orientales a ses incarnations modernes, Paris 1974; Margit Räder, Sinnpotential des Prometheus-Mythos, Diss. Frankfurt 1981; Carlos Gar· da Gual, Prometeo, mito e tragedia, Pamplona 1994; Carol Dougherty, Prometheus, London 2005; LIMC VII s.v - Der Name ist, wie die Schreibung Promethia 1G P 82,37 (LSCG 13) zeigt, eigentlich Promethos, vgI. Personenname Promathos in Inschrift aus Ätolien, 7. Jahrhundert, Jeffery 1990, 225 f nr. 1, pI. 44,1; Paus. 7,3,3; Promethis Kallim. Fr.67,7. Für Griechen gehärt der Name zu prometheomai "vorsorgen" (dazu V. Schmidt, ZPE 19,1975,183-190), was den Bruder Epimetheus "Nachbedacht" nach sich zog. Die Verbindung mit der altindischen Bezeichnung des Feuerholzes, pramanth- (Adalbert Kuhn, Die Herabkunft des Feuers, Gütersloh 1859), geht sprachwissenschaftlich nicht auf (vgI. Johanna Narten, Indo-Iranian Journal 4, 1960, 135 Anm. 40). Theog. 510-616; Erga 47-105; Otro Lendle, Die Pandorasage bei Hesiod, Marburg 1957; Gerhard Fink, Pandora und Epimetheus, Diss. Erlangen 1958; Jean Rudhardt, Pandora, Hesiode et les femmes, MH 43, 1986,231-246. Zur anhaltenden Kontroverse, ob wirklich Aischylos der Verfasser des "Gefesselten Prometheus" ist, vgI. Lesky 1971, 292-294; negativ Mark Griffith, The Authenticity of Prometheus Bound, Cambridge 1977; Martin L. West, Studies in Aeschylus, Stuttgart 1990, 51-72; Robert Bees, Aischylos, München 2009, 18-24. Menschenschäpfung: Aesop 240 Perry; Plat. Prot. 320d-322a; Menander Fr. 518 Kassel/Austin; Philemon Fr. 93 Kassel/Austin. Das burleske Motiv von der Entgleisung der Menschenschäpfung, Phaedrus 4,14 f; Otto Weinreich, Fabel Aretalogie Novelle, Heidelberg 1931, 43-50, hat bereits ein sumerisches Gegenstück, Samuel N. Kramer, Sumerian Mythology, New York '1961, 68-72; TUAT 392-400. Griechische Darstellungen des Gefesselten seit dem 7. Jahrhundert, Schefold T. 11a, nach orientalischem Vorbild, Chrysoula Kardara, AAA 2, 1969, 216-219. AF 211 f.
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2 Das übrige Pantheon
als der Ältere neben dem Jüngeren;26 im Übrigen differenzieren sich die beiden auch als Töpfer und Schmied. Leto,27 dorisch Lato, hat Apcillon und Artemis auf Delos geboren; dort führt die Löwenterrasse zu ihrem Heiligtum. Leto genießt an vielen Orten eigenen Kult, besonders auf Kreta; in Phaistos steht sie im Bereich eines Initiationsmythos. 28 In Lykien ist Leto, als griechisches Äquivalent einer "Mutter des Heiligtums",29 zur eigentlichen Hauptgöttin geworden: Das Letoon bei Xanthos ist Bundesheiligtum; ihrem Schutz sind besonders die Gräber anvertraut. Offenbar altertümlich sind Meeresgottheiten, die aber für die Griechen am Rand des göttlichen Bereichs stehen. Thetis 30 ist durch den Glanz der Ilias und ihres Sohnes Achilleus gleichsam in den Schatten gestellt, doch dass Achilleus, auf der "Weißen Insel" hausend, als "Herrscher des Schwarzen Meeres", Pontdrches, verehrt wird, hängt wohl mehr mit seiner Mutter zusammen als mit seinen Ilias-Taten. Man ahnt ägäische Fischerkulte und -mythen, die der Mutter und Herrin der für Menschenspeise so wichtigen Seetiere galten. Thetis hat ein bedeutendes Heiligtum bei Pharsalos in Thessalien und wird dort auch an der "Tintenfischküste", Sepids, verehrt. Auch in Sparta hat Thetis ihren Kult; ein Gedicht Alkmans hat sie in überraschender Weise in kosmogonischer Funktion eingeführt. 31 Wie die Nymphen zu Artemis, gehören zu Thetis die Nereiden. Der Mythos von der Wasserfrau, die von einem sterblichen Mann überwunden wird, ihm den Sohn gebiert und ihn verlässt, um in ihr Wasserreich zurückzukehren, scheint alt und weitverbreitet. 32 Eine andere Meerfrau ist Leukothea, die "Weiße Göttin", wie sie gemeinhin verstanden wird; die Namensform Leukathea, die in Monatsnamen erscheint und auf eine Festbezeichnung weist, dürfte älter sein. 33 Sie wird allenthalben im Mittelmeerraum verehrt. Im Mythos ist sie zunächst eine sterbliche Frau, die Tochter des Kadmos, die sich als Amme des Dionysos angenommen hat; Hera macht sie wahnsinnig, sie stürzt sich mit ihrem eigenen Sohn Melikertes-Palaimon ins Meer. Entsprechendes erzählt man von der syrischen Fischgöttin Atargatis. 34 Eine ähnliche Gestalt mit 26 27 28 29
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Apollodor FGrHist 244 F 147. Wehrli, RE Suppt. V 555-576; LIMC VI s.v. Unklar ist das Verhältnis zur kretischen Stadt Lato. - V 3 Anm. 157. Wörtlich "Mutter dieses Bezirks"; Henri Metzger, Xanthos VI: La stele trilingue du Letoon, 1979; Emmanuel Laroche, BSL 55, 1960, 183 f. Zu diesem Heiligtum gehört der Frösche-Mythos Ov. Met. 6,339-381. M. Mayer, RE VI A 206-242. ThetideionRE VI A 205 f; Hdt. 7,191; Pherekydes FGrHist 3 F 1 a; Kultmythos Phylarchos FGrHist 81 F 81; Hildebrecht Hommel, Der Gott Achilleus, SBHeideiberg 1980,1. Fr. 5 PMG = 5 Davies; dazu Gien W. Most, CQ 37, 1987, 1-29; Paus. 3,14.4; Jean-Pierre Vernant in: Hommages a Marie Delcourt, Brüssell970, 38-69; Rosana B. Martinez Nieto, La aurora dei pensamiento griego, Argos 2000, 53-85. PR II 65-79. Altindisches bei Norbert Oettinger in: Maria T. Laporta (Hrsg.), Studi di antichita linguistiche. In memoria di Ciro Santoro, Bari 2006, 309-327. Od. 5,333-353; Eitrem, RE XII 2293-2306; LIMC V s.v. Ino. Zu Leukathea Trümpy 1997, 103-105. Xanthos FGrHist 765 F 17; HN 227-230.
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DIE GESTALTETEN GÖTTER
anderem Namen ist Eurynome, die beim arkadischen Phigalia ihren Kult hatte. 35 Auch von einem Herrn der Seetiere erzählt man mit wechselnden Namen;36 er heißt Phorkys, Proteus, Nereus, Glaukos "der Blaugrüne" oder einfach der "Meergreis", halios geron; auch ihn kann und muss man fangen und überwinden. Die Vorstellung von dem Herrn oder der Herrin der Tiere und ihrer Bezwingung zugunsten der Jäger mag paläolithisch sein; für die offizielle Religion der Griechen wird sie zu einem fast schon folkloristischen Unterbau. Im Grenzbereich der Stadtkultur wie der Menschlichkeit steht der Bocksgott Pan;37 er wird mit Bocksfüßen und großen Ziegenhörnern dargestellt, sehr oft ithyphallisch. Sein Fest ist das Bocksopfer. 38 Kultzentrum ist Arkadien; in Attika brachte ihm seine Epiphanie gegenüber dem Marathonläufer öffentlichen Kult. 39 Er haust in Höhlen, wo man sich zum Opferschmaus trifft. Pan verkörpert die unzivilisierte Zeugungskraft, die auch für die Zivilisation unerlässlich und faszinierend bleibt. Sekundär haben sich an seinen Namen Spekulationen über einen "Allgott" geknüpft.
2.2 Göttervereine Pan wie Eileithyia treten auch in der Mehrzahl auf: Es gibt Pane,40 Eileithyien,4l Damit stellen sie sich zu einer ganzen Klasse göttlicher Wesen zusammen, die grundsätzlich im Kollektiv erscheinen und pluralisch bezeichnet werden. Der genealogische Mythos, voran Hesiod, hat auch ihnen Individualnamen gegeben, doch sind diese deutlich sekundär, spielerisch und unverbindlich. Die göttlichen Vereine sind streng nach Geschlechtern getrennt, männlich oder weiblich, und nach Altersklasse homogen; die meisten werden als jugendliche Gestalten vorgestellt, in Bewegung begriffen, in Tänzen, Gesängen oder ekstatischer Raserei; doch es gibt auch Gruppen alter Frauen. Im Bild und ebenfalls in den Individualnamen ist die Vielheit oft durch die Dreiheit ausgedrückt.42 Statt "Götter", theoi, heißen diese Vereine gelegentlich auch 35 36 37
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Paus. 8,41,4; H. 18,398; GdH I 220 f; West zu Theog. 358; LIMC IV s.v. Eurynome 1. GGR 240-244; S&H 95 f. CGS V 464-468; Frank Brommer, RE Supp!. VIII 949-1008; Reinhard Herbig, Pan, der griechische Bocksgott, Frankfurt a.M. 1949; GGR 235 f; Patricia MeTivale, Pan the Goat-God, Cambridge 1969; Luigi Lehnus, I.:Inno a Pan di Pindaro, Mailand 1979; Philippe Borgeaud, Recherches sur le dieu Pan, Rom 1979; LIMC VIII (Supp!.) S.v. Luk. Bis acc. 9 f. Hdt. 6,105; Paus. 1,32,7; SEG 36,267; zur Höhle --+ I 1 Anm. 18. "daimon mit Ziegenbeinen" (aigik· name) Supp!. Lyr. Gr. fiT. 387 (Pindar? ZPE 64, 1986, 15-32). Plat. Leg. 815c; Frank Brommer, Satyroi, Würzburg 1937. H. 11,270; 19,119. Hermann Usener, Dreiheit, RhM 58, 1903, 1-48; 161-208; 321-62; z.B. drei Chariten = "Grazien" (LIMC III s.v. Charis, Charites), drei Bacchen (--+ Anm. 6), drei Korybanten (auf kaiserzeitlichen Reliefs, Ruth Lindner, LIMC VIII s.v. Kouretes, Korybantes fiT. 7; 16; 17; 19; 22; 24; 26; 29).
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2 Das übrige Pantheon
daimones oder "Diener" und "Vorläufer", amphipoloi, propoloi einer Gottheit.43 Denn in der Regel sind sie einem der großen Olympischen Götter oder aber der Göttermutter wie ein Chor dem Chorführer zugeordnet. Schon damit spiegeln diese Gruppen sehr deutlich reale Kultgemeinschaften, thiasoi, besonders auch in der Betonung von Tanz und Musik.44 Sicher bezeugt sind auch im realen Leben Gruppen von Mänaden,45 Thyiaden und Satyrn46 im Umkreis des Dionysos, auch außerhalb des Theaterspiels, ebenso Männerbünde von Kureten in EphesosY Die Bezeichnung Nymphen ist verräterisch doppeldeutig, gilt sie doch ebenso jenen göttlichen Wesen in Bäumen und Quellen wie der "Braut" und jungen Frau überhaupt.4B Bei den Kentauren weisen die alten Darstellungen deutlich auf die Vermummung hin. 49 Entsprechend lässt sich vermuten, dass hinter Kabiren,5o Idäischen Daktylen,51 Telchinen und Kyklopen Schmiedezünfte stehen. Die realen Frauen der Nachbarschaft versammeln sich als Geburtshelferinnen - ihnen entsprechen die Eileithyien. Wenn erzählt wird, wie Frauen sich als Erinyen kostümierten, um Helena zu töten,52 muss auch dies Hinweis auf tatsächliche Praxis sein. Die Gorgonen sind zunächst eindeutig Maskenj53 die erinyenhaften Praxidikai sind "Köpfe",54 das heißt durch die sakralisierten Topfmasken dargestellt. Semnai, die "Ehrwürdigen", heißen die den Erinyen und Eumeniden gleichgestellten Göttinnen vom Areopag,55 Gerairai, die "Geehrten", heißt ein dionysischer Frauenbund in Athen. 56 Die Chariten und Musen, die Nereiden und Okeaniden sind Mädchenchöre. Die Griechen
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Strab. 10,3,8-23, p. 466-474, der wichtigste Text zu diesem Kapitel, mit Material aus Apollodor, Demetrios von Skepsis, Poseidonios: Karl Reinhardt, Poseidonios über Ursprung und Entartung, Heidelberg 1928, 34-51; RE XXII 814. "Der mythische Thiasos aber ist ein Abbild des im festen Kultus gegebenen", Ulrich v. Wilamowitz· Moellendorff, Euripides Herakles I, Berlin 1889, 85. Otto Kern, Die Inschriften von Magnesia am Maeander, Berlin 1900, Nr. 215. -+ III 1 Anm. 427/8. Strab. 14,1,20 p. 640; Dieter Knibbe, Forschungen in Ephesos IX 1: Die Inschriften des Prytanei. ons, Frankfurt a.M. 1980; Fritz Graf, Ephesische und andere Kureten, in: 100 Jahre Österreichische Forschungen in Ephesos, 1999, 253-262. Vgl. allgemein Luk. Salto 79; Jeanmaire 1939. -+ III 1 Anm. 275. Georges Dumezil, Le probleme des Centaures, Paris 1929 mit T. 1; HN 103; 255,21; im Gegensatz zu den orientalischen und minoisch-mykenischen Phantasiebildern stellen die geometrischen und früharchaischen Kentaurenbilder einen normalen Mann (mit Menschenfüßen) und angesetztem Pferde·Hinterleib dar, wobei die Unbeweglichkeit dieses Anhängsels (z.B. Schefold 1964 T. 62) ver· räterisch ist; vgl. die etruskische Bronze RML 1I 1078, wo der Tierteil fast wie eine Hose den Mann umschließt. Vgl. LIMC VIII s.v. Kentauroi et Kentaurides; Kentauroi in Etruria. LIMC VIII s.v. Megaloi Theoi. -+ VI 1.3. Bengt Hemberg, Die Idaiischen Daktylen, Eranos, 30, 1952,41-59; LIMC VIII S.V. Kuretes; zum "Schmiedekänigtum" -+ III 1 Anm. 441. Paus. 3,19,10. -+ IV 2 Anm. 31. -+ II 7 Anm. 52. -+ II 7 Anm. 53. Aisch. Eum. 383; Polemon Schol. Soph. O.K. 489; AF 214. -+ V 2 Anm. 108.
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pflegen zu sagen, dass die menschlichen thiasoi ihre Vorbilder, die göttlichen Satyrn oder Nymphen oder Kureten, "nachahmen"57 - eine "Nachahmung", die zur Identifizierung wird. Die Institution von Maskenbünden ist so alt und elementar, dass man die Vorstellungen von entsprechenden göttlichen Vereinen am ehesten mit Blick auf solche Realitäten versteht. Die Dichtung allerdings beschreibt diese Gruppen als Glieder der göttlichen Welt: Die Satyrn und Mänaden tanzen um Dionysos, die Nymphen um Artemis, Kureten oder Korybanten um den neugeborenen Zeus oder das inthronisierte Dionysoskind. Die Musen umgeben Apollon, die Okeaniden begleiten Persephone auf die verhängnisvolle Wiese, die Kyklopen schmieden für Zeus den Blitz. Die Titanen erscheinen im theogonischen Mythos als Vertreter einer überwundenen Urzeit;58 auch die Telchinen von Rhodos gelten als untergegangene Ureinwohner. 59 Allerdings kehren im rituellen Ausnahmefest die Vertreter der Vorzeit, die "Ureinwohner", eben als Masken wieder. Die Denk- und Erzählform der Göttervereine greift auch auf Abstrakta über, die auf diese Weise personifiziert werden: Die drei Jahreszeiten, "Horen", werden zu einem Mädchenverein; Hesiod60 gibt ihnen die bedeutungsvollen Namen "Gutes Gesetz", "Recht" und "Frieden", Eunomie, Dike, Eirene, als Bringern guter Zeiten in tieferem Sinn. Aus mOlra, dem "Teil" in der Verteilung der Welt, wird eine Dreiergruppe uralter, mächtiger Göttinnen,61 gleichsam durch Verschmelzung von Eileithyien und Erinyen: Klotho die "Spinnende", Ldchesis die "Losung", 'Atropos die "Unabwendbare". Einige dieser Gruppen existieren nur in der mythischen Erzählung, wie Titanen und Giganten. Andere genießen bedeutende Kulte; so die Musen vom Helikon,62 die Chariten von Orchomenos,63 die Kabiren. Die entsprechenden menschlichen Kultgemeinschaften sind nicht in jedem Fall nachweisbar. Unter Umständen kann ein Kult normalen Typs den alten Maskenbund ersetzt haben; doch hat nur ein Bruchteil der tatsächlichen Bräuche den Weg in unser Quellenmaterial gefunden.
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Plat. Leg. 815b. Hesiods Titanenmythos wurde historisch interpretiert, indem man die Titanen zu vorgriechischen Göttern machte: Georg Kaibel, NGG 1901, 488-518; Max Pohlenz, Kronos und die Titanen, NJb 37, 1916,549-594; Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Kronos und die Titanen, SBBerlin 1929, 51 - bis der hethitische Sukzessionsmythos bekannt wurde ....... III Anm. 31. Eine antike Deutung brachte Titanen und titan6s "Gips" zusammen und sprach von entsprechender weißer Maskierung der Titanen, Harpokr. Apomdtton; Albert Henrichs, Die Phoinikika des Lollianos, Bonn 1972, 63 f; Burkert 1992, 94 f. Herter RE V A 197-224, bes. 214. Vg1. HN 250-255 zu "Karern" in Attika. Theog. 902. -+ III 1 Anm. 36. Paus. 9,30,1; G. Roux BCH 78, 1954,22-45. Vg1. auch Walter F. Otto, Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens, Darmstadt 1954; Pierre Boyance, Le Culte des Muses chez les philosophes grecs, Paris 1937. Pind. 01. 14; Hes. Fr. 71; Ephoros FGrHist 70 F 152; Paus. 9,35,1; 38,1; RE III 2153 f. Vg1. auch Erkinger Schwarzenberg, Die Grazien, Diss. München 1966; LIMC III s.v. Charis, Charites.
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2.3 Naturgottheiten Angeregt durch antike Naturphilosophie galt bis ins vorige Jahrhundert als Axiom, dass die Götter des Mythos "ursprünglich" Naturerscheinungen gewesen seien und sich dementsprechend entschlüsseln ließen. Wenig davon ist übriggeblieben; weder die Vorstellung noch gar der Kult der personalen Götter lässt sich so herleiten. Allerdings gilt vieles, was wir mit der von der Philosophie des 5. Jahrhunderts entwickelten Terminologie "natürlich" nennen, den Älteren als "göttlich". Insbesondere Sonne und Mond sind im Alten Orient fraglos große Götter. In der griechischen Religion ist dergleichen auffallend zurückgedrängt gegenüber den durch Dichtung und Kult fixierten Göttergestalten; Zeus ist keineswegs mehr schlicht der "Vater Himmel". Man möchte vermuten, dass hier einmal das "Homerische" als neue Sicht sich durchgesetzt hat, was die Naturphilosophie dann rückgängig zu machen sucht. 64 Als in der Ilias Zeus die Götter zur Versammlung in den Olymp entbietet, da bleibt keiner fern, und neben den bekannten Olympiern erscheinen insbesondere die Nymphen und die Flüsse; nur Okeanos bleibt an seinem OrtY Dass die Flüsse Götter, die Quellen göttliche Nymphen sind, ist nicht nur in der Dichtung, sondern in Glauben und Ritual fest verwurzelt;66 eingeschränkt ist die Verehrung einzig durch die unaufhebbare lokale Fixierung. Jede Stadt ehrt ihren Fluss, ihre Quelle. Man errichtet dem Fluss ein Temenos und gegebenenfalls sogar einen Tempel, wie dem Pamisos in Messenien,67 man opfert ihm das Haar der Herangewachsenen,68 man bringt Votivgaben zum Quellenhaus,69 man schlachtet Tiere "in" Flüsse und Quellen "hinein". Dies ist offenbar die rituelle Grundlage, die uralte Praxis der Versenkungsopfer, verstärkt und einsichtig gemacht durch die besondere Kostbarkeit des Wassers in südlichen Ländern. Dass in Wirklichkeit die mächtigste Quelle, die von Lerna, durch die Opfer völlig verschmutzt wurde,1° zeigt erschreckend die Blindheit des Rituals. Im Bild erscheinen die Flüsse, vor allem Acheloos, als Mischgestalt aus Mensch und Stier.71 Die Verehrung der Erde, Gaia, Ge, wird spekulativ gerne als eine Urform der Frömmigkeit überhaupt angesehen; auch Griechen haben seit Solon so gedacht und gesprochen, wobei neben dem agrarischen der politische Aspekt, neben der Spen64 65 66 67 68 69 70 71
VII3.l. Il. 20,4-9. Waser, RE VI 2774-2815 s.v. Flussgätter; GGR 236-240; Jennifer Larsson, Greek Nymphs. Myth, Cult, Lore, New York 200l. Paus. 4,3,10; 31,4; Mattias N. Valmin, The Swedish Messenia Expedition, Lund 1938,417-65. Temenos des Spercheios: Il. 23,148. Il. 23, 141-151. - II2 Anm. 29. Brunnenhaus mit Votivfigur auf Glockenkrater Paris, BibI. Nat. 422, Furtwängler/Reichhold T. 147. Zenob. Ath. p. 381 Miller. H. P. Isler, Acheloos, 1969; LIMC I S.v. -+
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derin der Nahrung die verpflichtende Heimaterde beschworen wird. 72 In der hergebrachten Religion ist die Rolle der Gaia überaus bescheiden; sie wächst heraus aus dem Ausgießen der Libationen, besonders dem "Wassertragen" zu einem Erdspalt.D Weder Demeter noch die klein asiatische Große Göttin ist schlicht mit der "Erde" zu identifizieren. Viel lebendiger ist der Kult der Winde. Bereits im mykenischen Knossos amtet eine "Priesterin der Winde", und entsprechende Opfer sind später nicht selten bezeugt. 74 Man hofft auf das besonders Veränderliche Einfluss zu nehmen. So ist der Zweck meist präzisiert und lokal begrenzt: Ein bestimmter, individuell benannter Wind, der zu gewisser Jahreszeit das Wetter bestimmen und die Ernteaussichten, ja das ganze Lebensgefühl entscheidend beeinflussen kann, wird gebannt oder herbeigerufen. In Methana hält man den Südwind Ups fern durch ein Hahnopfer und Umkreisen der Fluren. 75 Empedokles hat in Selinus durch ein Eselsopfer den bösen Nordwind gestillt. 76 Die Athener beteten zu Boreas, dem Nordwind, der die persische Flotte zerschlug. 77 Von Boreas erzählte man auch, er habe die athenische Königstochter Oreithyia entführt. Das Opfer der Keer beim Sirius-Frühaufgang ruft die kühlenden Etesien herbei. 78 Spartaner singen einen Paian auf Euros den Ostwind, er möge als "Retter von Sparta" kommen. 79 Helios, die Sonne, ist überall ein "Gott"; es war skandalös, dass Anaxagoras ihn einen glühenden Klumpen zu nennen wagte. 80 Einen bedeutenden Kult hat Helios aber fast nur auf der Insel Rhodos;81 damit wird er anthropomorph: Die größte griechische Bronzestatue, der "Koloss von Rhodos", stellte Helios dar. Ein spektakuläres Opfer wird Helios dargebracht, indem ein Viergespann samt Wagen ins Meer gestürzt wird. 82 Der Mythos von Pbaethon und dem Absturz des Sonnenwagens83 mag mit solchen Bräuchen zusammenhängen. Die Vorstellung vom Sonnenwagen ist im übrigen so gut indogermanisch wie altorientalisch. 84 In der Odyssee hat Helios eine Insel mit 72
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Solon 36,4 f. West; Aisch. Sept. 16-19; "Allmutter" Aisch. Prom. 90; "Mutter der Götter" Soph. Fr. 269a51; vgl. Plat. Menex. 238a; Tim. 40b; Leg. 886d. Albrecht Dieterich, Mutter Erde, ein Versuch über Volksreligion, Leipzig 1905; GGR 456-461; LIMC IV s.v. Ge. -+ III 1.9 Anm. 2; I 3.6 Anm. 25. -+ II 2 Anm. 66; II 5 Anm. 14. -+ I 3 Anm. 264; LSS 116A 1; Paus. 2,12,1; 9,34,3; Hsch. anem6tas. CGS V 416 f; GGR 116 f; Louis Robert, Hellenika 9, 1950, 56-61. Paus. 2,34,3. ---;> II 4 Anm. 65. ---;> V 3 Anm. 219. Hdt. 7,189; LIMC III s.v. Boreas. HN 125-127PMG 858. Plat. Apol. 26d. ---;> VII 2 Anm. 39. Pind. 01. 7; CGS V 417-420; Jessen, RE VIII 66-69; GGR 839 f; zur Ikonographie Konrad Schauenburg, Helios, Berlin 1955; LIMC V s.v. Helios. -+ III 1 Anm. 257. LSS 94; Festus p. 181 M. G. Türk, RE XIX 1508-1515; James Diggle, Euripides Phaethon, Cambridge 2004; LIMC VII s.v. Babyion: Oppenheim 1964, 193; AT 2. Kön. 23,11; Peter Gelling/Hilda R. Davidson, The Chariot of the Sun and Other Rites and Symbols of the Northern Bronze Age, London 1969.
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heiligen Rindern; doch um sich am Frevel der Odysseus-Gefährten zu rächen, bedarf er der Hilfe des Zeus. 85 Im übrigen freut man sich des Sonnenscheins; "komm heraus, liebe Sonne", singen die Kinder. 86 Sokrates grüßt fromm die Sonne bei Sonnenaufgang. 87 Selene, der - weiblich bezeichnete - Mond, erscheint in einigen Mythen, wie dem von der Liebe zum schlafenden Endymion;88 ähnliche Mythen gibt es um die indogermanisGhe Göttin des Morgenrots, Eos, die den Kephalos entrafft. 89 Religiöse Verehrung ist so wenig im Spiel, wie wenn Iris, der Regenbogen, Brücke zwischen Himmel und Erde, zur anthropomorphen Götterbotin wird.90 Als den Griechen in Kleinasien aus bodenständiger Tradition ein Mondgott begegnete, nannten sie ihn mit dem alten ind~germanischen Namen Men. 91 Nyx, die Nacht, ist eine Urpotenz in spekulativen kosmogonischen Mythen,92 insofern vergleichbar Okeanos, dem Ringstrom, an dem Erde und Himmel sich treffen.93 Dem Menschen, seinen Sorgen und seiner Frömmigkeit bleiben solche Mächte fern.
2.4 Fremde Götter Polytheismus ist ein offenes System. Das Herkommen, das die Götterkulte festlegt, gilt doch nur in der geschlossenen Gruppe und wird durch jeden Kontakt mit Fremden in Frage gestellt. Zwar neigt man zu der Annahme, dass überall dieselben Götter wirken, wie denn im Epos Griechen wie Troianer zu Zeus, Apollon, Athena beten; dementsprechend gelten Götternamen, gleich anderen Wörtern, als übersetzbar; daneben aber wächst aus der Erfahrung der Andersartigkeit die Vermutung, dass gewisse Götter nur in bestimmten Ländern je bei ihren Völkern geehrt und wirksam sind. So bezeugt man im fremden Land den dort heimischen Göttern die Reverenz94 und vergisst doch nicht die in den eigenen Göttern ausgedrückte Identität; ein Arkader feiert
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Od. 11,127-139; 12,261-402; ihre Zahl, 350 (Od.11,129 f), scheint auf die Tage des Jahres bezogen zu sein. Schafe des Helios in Apollonia: Hdt. 9,93. Aristoph. Fr. 404 Kassel/Austin. Plat. Symp. 220d. Sappho 199 Voigt; Bethe, RE V 2557-2560; Endymion-Kult am Latmos unweit Milet, Paus. 5,1,5. Escher RE V 2657-2669, bes. 2662-2665. H. 2,786-790 u.ö.; grobe Späße mit Iris Aristoph. Av. 1202-1261; RML II 343-348; Frank Brommer, Satyrspiele, Berlin 21959,26-29. Eugene Lane, Corpus monumentorum religionis dei Menis 1/11, Leiden 1971/75. So in der Theogonie des Orpheus, Pap. Derv. XIV 6 ~ OTF lOF 2; Eudem Fr.l50 Wehrli ~ OTF 20F; vg1. Hes. Theog. 211-232; Burkert 2006, 98-101. 11. 14,201; 246. Vase des Sophilos, LIMC VII s.v. Okeanos ur. 1. theoi ennaetai ApolI. Rh. 2,1273, dazu Schol.: "man opfert in der Fremde den dort einheimischen Göttern und Heroen".
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auch in Kleinasien die Lykaia.95 Solches Nebeneinander muss bei einigermaßen intensiven Kontakten dann doch zur gegenseitigen Beeinflussung werden, wobei vielerlei produktive Missverständnisse unterlaufen können. Bewusste Annahme eines fremden Gottes kann aus dem Erfolgserlebnis im Zusammenhang eines Gelübdes folgen; auch Städte können, unter Einschaltung des Delphischen Orakels, auf solchem Weg fremde Kulte rezipieren. Es gibt aber auch Religionsformen, deren Anhänger missionierend umherwandern; dies ist den Griechen fremd und verdächtig; und doch können solche Bewegungen staatliche und sprachliche Grenzen leicht überwinden. Das griechische Pantheon ist nicht unveränderlich. Das mykenische Pantheon ist nur zum geringen Teil indogermanisch, hat nur zum Teil überlebt, Apollon und Aphrodite sind wohl erst später dazugetreten. Dass überhaupt eine geschlossene Gesellschaft der eigentlich griechischen Götter zustande kam, ist mitbewirkt durch das Epos; seine Blütezeit im 8. Jahrhundert markiert eine gewisse Grenze: Was danach hinzukam, wird nicht mehr ganz assimiliert und behält einen Zug des Fremden. Von der Mitte des 7. Jahrhunderts an hat freilich die griechische Kultur so viel Substanz und Ausstrahlungskraft gewonnen, dass fremde Infiltrationen eine Zeitlang zurücktreten; aufgehört haben sie in keiner Epoche. Der Kult des sterbenden Gottes Adonis96 ist bereits im Mädchenkreis der Sappho auf Lesbos um 600 voll entfaltet;97 man könnte sogar fragen, ob Adonis nicht von vornherein mit Aphrodite zu den Griechen kam. Dass er aus dem semitischen Raum stammt, wussten die Griechen; sie leiteten ihn von Byblos und von Zypern her.98 Sein Name ist offenbar der semitische Titel adon "Herr". Allerdings ist ein genau entsprechender Kult in Verbindung mit diesem Titel und erst recht der Adonismythos im Semitischen nicht nachgewiesen;99 über den Kult in Byblos gibt es nur späte, griechische Nachrichten. 1oo Fassbar scheint die Ausbreitung des mesopotamischen DumuziTammuz-Kults. Alttestamentliche Propheten berichten empört davon: Da sitzen die Frauen vor dem Tor und weinen über Tammuz, oder sie räuchern dem "Baal" auf den Dächern, sie pflanzen "lustige Pflanzen".101 Eben dies sind Besonderheiten des Ado95 96
Xen. Anab. 1,2,10. Wolf W. v. Baudissin, Adonis und Esmun, Leipzig 1911; GGR 727 f; Pierre Lambrechts, Meded. Vlaamse Akad. v. Wet., Lett. & Schone Kunsten, Kl. d. Lett. 16, 1954, 1; Wahib Atallah, Adonis dans la litterature et l'art grecs, Paris 1966; Detienne 1972; Brigitte Soyez, Byblos et la Fete des Adonies, Leiden 1977; S&H 105-111; N. Robertson HThR 75, 1982, 313-359; Helene Tuzet, Mort et resurrection d'Adonis, Paris 1987; LIMC I s.v. 97 Sappho 140; 168 Voigt; vgl. Hes. Fr. 139; Epimenides OTF III 57F (GRBS 13, 1972,92). 98 Als Vater erscheint Phoinix Hes. Fr. 139, aber auch Kinyras von Paphos auf Zypern, Apollod. 3,182. 99 Daher wurde von gräzistischer (Paul Kretschmer, Glotta 7, 1916, 39; Günther Zuntz, MH 8, 1951, 34) wie von orientalistischer Seite (Henri Frankfort, The Problem of Similarity in Ancient Near Eastern Religions, Oxford 1951; Carsten Colpe, in: lisan mithurti, Festschrift Wolfram v. Soden, Neukirchen-Vluyn 1969, 23) die Beziehung angezweifelt. Vgl. Otto Eissfeldt, Adonis und Adonaj, SBLeipzig 115,4, 1970; Sergio Ribicchini, Adonis. Aspetti "orientali" di un mito greco, Rom 1981. 100 Luk. Dea Syr. 6 f; Kyrillos MG 70, 440 f; vgl. Kleitarchos FGrHist 137 F 3; Gese 1970, 185-188; S&H 105-111. 101 Ez. 8,14; Jerem. 32,29; 44,15; Jes. 17,10.
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nis-Kults: ein reiner Frauenkult, den man auf den Flachdächern feiert, wo auch Scherben mit rasch aufkeimenden grünen Kräutern, "Adonis-Gärtchen", aufgestellt werden; Weihrauch-Wohlgerüche bestimmen die Atmosphäre des Fests, Zentrum aber ist die laut schallende Klage um den verstorbenen Gott. Man hat dann den toten Adonis auf seinem Lager als plastische Figur ausgestellt und zu Grabe getragen: Man warf das Bild, man warf die Gärtchen ins Meer.102 Erst eine kaiserzeitliche Quelle spricht davon, dass man hernach sich mit der Versicherung tröstete, dass der Gott lebe.103 Der Mythos erzählt von der Geburt des Adonis aus dem Weihrauchbaum, Mjrrha, nach einem blutschänderischen Verhältnis des Weihrauch-Mädchens zum eigenen Vater; den schönen Knaben vertraute Aphrodite der Persephone an, die ihn nicht mehr herausgeben wollte; ähnlich wie im Fall Persephones selbst wurde der Streit so geschlichtet, dass Adonis zwei Drittel des Jahres der Aphrodite gehören sollte. 104 Populärer ist die andere Version vom Tod des Lieblings der Liebesgöttin geworden: Auf der Jagd verwundete ihn ein Wildschwein - oder Ares in Gestalt des Tiers am Schenkel, so dass er verblutete. lOs Dass das Sterben des Gottes dem Absterben der Natur im Sommer entspricht - die Adonien wurden, entsprechend dem Monat Tammuz, im JunVJuli gefeiert -, ist eine alte, weithin anerkannte Deutung, die doch nur wenig erklärt. In Griechenland gewinnt der Adonis-Kult seine besondere Funktion als Möglichkeit ungehemmten Gefühlsausdrucks im engumgrenzten Frauenleben, in Antithese zur strengen Polis- und Familienordnung samt den offiziellen Frauenfesten zu Ehren der Demeter.106 Der Kult der Großen Mutter, Meter,107 ist insofern komplex, als hier minoischmykenische Tradition sich kreuzt mit direktem Einfluss aus dem kleinasiatischen Reich der Phryger. Opfergaben für eine "Göttliche Mutter" erscheinen auf einer Pylos-Tafel; ein Heiligtum der "Mutter" in minoischer Tradition ist seit dem 11. Jahrhundert in Knossos nachweisbar. lOB Das Anatolische dagegen liegt klar zutage in der geläufigen Bezeichnung der "Phrygischen" Göttin, die bei den Griechen Kybele heißt 102 Aristoph. Lys. 389-398; Plut. Alk. 18; Men. Sam. 39-46; Eust. 1701,45; Theokr. 15 Adonidzousai. 103 Luk. Dea Syr. 6. Pierre Lambrechts, La resurrection d'Adonis, Melanges Isidore Levy, Brüssel1955, 207-240. Vgl. HN 290 f. 104 Panyasis Fr. 27 Bernabe bei ApolIod. 3,183-185; Anton. Lib. 34; Paus. 9,16,4; PR I 359-363; römischer Spiegel, JHS 69, 1949, 11; zur Teilung des Jahres --+ III 1.9 Anm. 17; 20. Ungelöst ist die Kontroverse, ob der "Bostoner Thron" diesen Konflikt von Aphrodite und Persephone darstellt oder eine Fälschung ist. 105 ApolIod. 3,185; Bion, Totenklage auf Adonis. 106 Detienne 1972 pass., bes. 151-158. 107 Rapp RML II 1638-72; Drexler ibo 2848-2931; Schwenn RE XI 2250-98; COS III 289-393; OOR 725-727; Henri Oraillot, Le culte de Cybele, Paris 1912; E. Will in: Otto Eißfeld, Elements orientaux dans la religion grecque ancienne, Paris 1960, 95-111; Helck 1971; S&H 102-122; Naumann 1983; Philippe Borgeaud, La Mere des Dieux, Paris 1996; Lynn E. Roller, In search of Ood the Mother: The cult of Anatolian Cybele, Berkeley 1999; Mark Munn, The Mother of the Oods, Athens, and the Tyranny of Asia, Berkeley 2006; Maarten Vermaseren, Corpus Cultus Cybelae Attidisque I-VII, Leiden 1977-1986; LIMC VIII s.v. Kybele. 108 --+ I 3 Anm. 259.
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oder auch Kybebe, was von dem noch älteren Kult der Kubaba von Karkemis am Euphrat stammt. Die Ausbreitung dieses Kults in der frühen Eisenzeit ist anhand von Schrift- und Bildzeugnissen fassbar;Io9 er hat anscheinend auch die Phryger erreicht. Die wichtigsten phrygischen Monumente,lIo die großen Felsfassaden mit der Nische für das Bild der zwischen zwei Löwen stehenden Göttin ebenso wie eine Statue einer Göttin mit hoher Götterkrone (polos) zwischen einem Leier- und einem Flötenspieler aus einem Torbau im phrygischen Boghazköy, stammen zwar erst aus dem 7./6. Jahrhundert und sind in der Technik bereits griechisch beeinflusst. Dass die Tradition in die eigentliche Blütezeit des Phrygischen Reichs unter König Midas zurückreicht, ist trotzdem kaum zu bezweifeln. In den phrygischen Inschriften der Monumente ist mehrfach matar, einmal matar kubileya llI zu lesen. Lydische Inschriften bezeugen demgegenüber kuvav, also Kubaba/Kybebe. Die Griechen Kleinasiens müssen den Kult schon im 7. Jahrhundert übernommen haben. Gewöhnlich heißt die Göttin bei den Griechen Meter schlechthin, Meter oreie "Mutter vom Berg" oder nach den einzelnen Bergnamen Meter Dindymene, Meter Sipylene, Meter Idaia und dergleichen. Der Kult geht von Nordionien und Kyzikos aus; vom Fest in Kyzikos berichtet Herodot.lI2 Charakteristisch sind Weihreliefs, die die Göttin frontal in einem Tempel thronend zeigen;l\3 auch an natürlichen Felswänden werden Nischen mit entsprechenden Bildern angebracht. Der Kult ist weithin Privatkult; er wird getragen und verbreitet durch wandernde Bettelpriester, metragyrtai, die auch selbst Kybeboi heißen.II4 Für den Meterkult in Theben hat Pindar gedichtet; nach der Legende hat er selbst den Kult eingeführt. I\5 In Athen wurde gegen Ende des 5. Jahrhunderts eine Meter-Statue des Agorakritos, mit Tympanon und Löwe, im alten Bouleuterion an der Agora aufgestellt; dieses Metroon war fortan Staatsarchiv.II6 Die "Mutter" passt nicht gut ins genealogische System der griechischen Mythologie. Für Homer und Hesiod gibt es eine Mutter von Zeus, Hera, Poseidon und einigen anderen individuellen Göttern; sie heißt Rheie - ein Name, der nur im Mythos auf-
109 Emmanue! Laroche, Koubaba, deesse anatolienne et le probleme des origines de Cybele, in: Elements orientaux (-+ Anm. 107) 113-128; Kurt BitteI, Phrygisches Kultbild aus Bogazköy, Antike Plastik II, 1963, 7-21. RIAss VI 257-264 (1981); Naumann 1983, 17-38. 110 Caroline H. E. Haspels, The Highlands of Phrygia, Princeton 1971; Bitte! -+ Anm. 109; Naumann 1983,41-62. 111 Haspels 1971,1293 nr. 13; Claude Brixhe, Die Sprache 25, 1979, 40-45. Inschrift Kybalas im italischen Lokroi, 7. Jahrhundert, Margherita Ouarducci, Klio 52, 1970, 133-138; Juliette de la Geniere, MEFRA 97, 1985,693-718. Zu lydisch Kuvav Roberto Ousmani, Kadmos 8, 1969, 158-161. 112 Hdt.4,76. 113 Naumann 1983,101-155; MaartenJ. Vermaseren, Corpus Cultus CybelaeAttidisque I-VII, Leiden 1977-1986. 114 Semonides 36 West, vgl. Hipponax 156 West; Kratinos Fr. 66 Kassel/Austin. 115 Aristodemos FOrHist 383 F 13; Pind. Fr. 80; 95; Dith. 2; Pyth. 3,77 f; Arrigoni 1982; Joe! B. Lidov, GRBS 37, 1996, 129-144. 116 Travlos 1971, 352-356; Zum Bild A. von Salis, Die Göttermutter des Agorakritos, JdI 28, 1913, 1-26, Lippold 1950, 187; Naumann 1983, 159-169.
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tritt. Die Meter des Kults dagegen ist "Mutter aller Götter und aller Menschen",lI7 darüber hinaus wohl auch Mutter der Tiere und überhaupt allen Lebens; ihr untersteht darum die Fortpflanzung; Kybele wird mit Aphrodite gleichgesetzt.ns Ein eigener Mythos fehlt. Die Griechen übertrugen auf sie den Demetermythos; wenn Demeter als Meter auch Mutter des Zeus wurde, verwandelte sich Persephones Zeugung allerdings in einen Inzest, was eine besondere Faszination ausüben konnte.H 9 Meter wird gefeiert mit wilder, aufreizender Musik, die sich zur Ekstase steigern kann; so untersteht ihr der Männerbund der Korybanten. Der schrille Klang der Flöten, das dumpfe Dröhnen der Pauken (tYmpana), das Schmettern der kleinen Bronzebecken (kymbala) begleiten ihren Einzug; empfängliche Menschen werden von der Göttin in Ekstase "getragen" und "besessen". In der mythischen Vorstellung sind die wilden Raubtiere, vor allem die Leoparden oder Löwen, mit im Zug; Ziel ist ein Stieropfer; die Erfindung des mit Stierhaut bespannten Tympanon stillt den wilden Zorn der "Mutter"Yo Mindestens seit Pindar ist das Gefolge der Meter Kybele mit dem dionysischen Schwarm in eins gesetzt.l2l Der Ausbruch aus der Ordnung, der Zug zum Berg, der ekstatische Tanz schaffen die Identität. Der makabre Höhepunkt der Raserei für die Große Göttin, die Selbstkastration der Gdlloi, hat das Interesse besonders auf sich gezogen, geht aber keineswegs immer und überall mit dem Meterkult einher. Sie hat ihren Ort im Priesterstaat von Pessinus, im alten hethitisch-phrygischen Bereich, und blieb zunächst außerhalb des griechischen Gesichtskreises.ln Das älteste Zeugnis für eine solche Kastration führt ans Ende des 5. Jahrhundertsj123 der zugehörige Attis-Mythos wird erst im Hellenismus fassbar. 124 Durch die Verpflanzung des Kults von Pessinus nach Rom im Jahr 205 hat der Magna-Mater-Kult ein neues Zentrum gefunden, von dem aus er dann das ganze Römerreich durchdrang. Im 5. Jahrhundert taucht in Athen der phrygische Gott Sabazios125 auf, der mit 117 Horn. Hymn. 14. 118 -+ III 1 Anm. 312. 119 Pap. Derv. XXVI; Melanippides PMG 764; Eur. Hel. 1301-1368. 120 Pind. Fr. 70b; Eur. Hel. 1301-1365; Meter-Hymnus von Epidauros, IG IV l' 131 = PMG 935; Robert Wagman, Inni di Epidauro, Pisa 1995, 109-146; Furley/Bremer 2001, fiT. 6.2; Menander, Theophoroumene. -+ 11 4 Anm. 53; 11 8 Anm. 6;. 121 Strab. 10,3,13 zu Pind. Fr.70b; EuT. Bacch. 123-129. 122 Hugo Hepding, Attis, seine Mythen und sein Kult, Gießen 1903; Pierre Lambrechts, Attis, van herdersknaap tot God, Verh. Vlaamse Acad. v. Wet. 46, 1962; Maarten J. Verrnaseren, The Legend of Attis in Greek and Roman Art, Leiden 1966; -, Cybele and Attis. The Myth and the Cult, London 1977; Maria G. Lancellotti, Attis between Myth and History, Leiden 2002; LIMC 1II S.v. 123 Plut. Nik. 13,2. 124 Kallimachos Fr. 761; Catu1l63. 125 Aristoph. Vesp. 9 f; Lys. 387; "Mysterien" CRAI 1975, 307-330; gleich Dionysos: Amphitheos FGrHist 431 F 1; Cook 1914, 1390-400; GGR 836; Schaefer RE I A 1540-1551; Maarten J. Vermaseren/Eugene N. Lane, Corpus Cultus lovis Sabazii, Leiden 1983-1989; DelneFi 2006, 15-81; LIMC VIII S.v. A. Vaillant NClio 7/9, 1955/7, 485 f deutet den Namen als "Befreier" (slav. svoboda). Die Mysterien der Mutter des Aischines, Dem. 18, 259 f, werden wegen des Rufs saboi dem Sabazios
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III DIE
GESTALTETEN GÖTTER
Dionysos in Parallele gesetzt wird. Er gehört zugleich zum Kreis der Meter. Man feiert ihm private Mysterien. Mysterien der thrakischen Göttin Kotyto wurden in einer Komödie des Eupolis parodiert.126 Offiziellen Kult erhielt in Athen, aufgrund eines Gelübdes nach Ausbruch des Peloponnesischen Krieges, die thrakische Göttin Bendisjl27 sie wird als eine Art Artemis mit Jagdstiefeln, Fackel und spitzer thrakischer Mütze dargestellt. Der OrakelgottAmmon aus der Oase Siwa ist früh, wohl von Kyrene aus, bekannt gewordenj Pindar widmete ihm einen Hymnusj im 4. Jahrhundert ist sein Kult in Athen staatlich organisiertYs Von den anderen ägyptischen Göttern, besonders Isis und Osiris, wusste man, nicht zuletzt durch Herodotj Ägypter errichteten bereits im 4. Jahrhundert ein Isis-Heiligtum in Piräus, die große Ausbreitung des Kults erfolgte im Hellenismus.129 Erst recht blieb der Kult des Mithras, des persischen Gottes, auf persisch-kleinasiatische Bereiche beschränkt, seine "Mysterien" sind erst am Ende des 1. Jahrhundert n. ehr. zu fassen.
2.5 Daimon Vielgestaltig und unzählbar sind die Götter, theoij und doch reicht die Bezeichnung the6s nicht aus, die "Stärkeren" zu fassen. Daneben steht seit Homer ein anderes Wort, das eine erstaunliche Karriere gemacht hat und bis heute in den europäischen Sprachen lebendig ist: Daimon,n° der Dämon, das dämonische Wesen. Der Begriff hat sich als so nützlich erwiesen, dass er bis heute aus der Beschreibung von Volksglauben und
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zugeschrieben, Strab.10,3,18; Plut. quaest.conv. 671F, von den Scholien als Mysterien des chthonischen Dionysos kommentiert. Eupolis, Baptai, Fr. 76-98 Kassel/Austin; GGR 835; Delneri 2006, 249-353. IG P 136 ~ LSS 6; Plat. Resp. 327ab; 354a; Phot. Lex. b 126 s.v. Bendis ed. Theodoridis (1982); GGR 833 f; Ronda R. Simms, The Cult of the Thracian Goddesss Bendis in Athens and Attica, Ancient World 18, 1988,59-76; Claudia Montepaone, Lo spazio deI margine, Rom 1999, 155-174; Delneri 2006, 125-213; LIMC 1II S.v. Pind. Fr. 36; Paus. 9,16,1; GGR 832; Parke 1967, 194-241. Einige Hinweise: Ladislav Vidman, Sylloge inscriptionum religionis Isiacae et Sarapiacae, BerIin 1969 (nr.!: Piräus); Fran~oise Dunant, Le culte d' Isis dans le bassin oriental de la Mediterranee, Leiden 1973; Reinhold Merkelbach, Isis Regina - Zeus Sarapis, Stuttgart 1995; Laurent Bricault, Recueil des Inscriptions concernant les Cultes Isiaques, Paris 2005; Michel Malaise, POUT une terminologie et une analyse des cultes Isiaques, Brüssel 2005. Joseph A. Hild, Etude sur les demons dans la litterature et la religion des Grecs, Paris 1881; Julius Tambornino, De antiquorum daemonismo, Gießen 1909; Anders, RE Supp!. III 267-322; GGR 216-222; Johanna ter Vrugt-Lentz, RAC IX 598-615 s.v. Geister und Dämonen; Gilbert Fran<;ois, Le polytheisme et l'emploi au singulier des mots theos, daimon dans la litterature grecque, Paris 1957; Marcel Detienne, La notion de Daimön dans le Pythagorisme ancien, Paris 1963; F. A. Willford, DAIMON in Homer, Numen 12, 1965, 217-232; Herbert Nowak, Zur Entwicklungsgeschichte des Begriffs Daimon. Eine Untersuchung epigraphischer Zeugnisse vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 5 Jh. n. Chr., Diss. Bonn 1960.
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2 Das übrige Pantheon
Primitivreligion nicht wegzudenken ist. Sofern in der Religion eine Evolution vom Niederen zum Höheren angenommen wird, müsste der Dämonenglaube älter sein als der Götterglaube. In der griechischen Literatur ist dies nicht zu verifizieren. Klar ist nur, dass der Begriff des Dämons als eines niederen Geisterwesens vorwiegend gefährlichen und bösen Charakters von Platon und seinem Schüler Xenokrates geprägt ist.l3l Die Dämonen, die Pandoras Fass entfliegen, sind als "Krankheiten" (nousoi) 'personifiziert, werden aber nicht daimones genannt; die todbringenden Schadegeister (keres) heißen theoi132 so gut wie die Erinyen bei Aischylos. Auch Besessenheit ist Werk eines "Gottes". Die etymologische Bedeutung des gut griechisch aussehenden Wortes daimon ist nicht sicher feststellbar. 133 Immerhin ist klar, dass in den alten Belegen weder das Rangverhältnis zu den Göttern noch der gute oder böse Charakter eines daimon festgelegt ist, vom Geist-Begriff zu schweigen. Ein Held kann "einem daimon gleich" anstürmen, aber auch ,gottgleich" (is6theos) heißen. In der Ilias werden einmal die auf dem Olymp versammelten Götter allesamt daimones genannt; Aphrodite geht als daimon der Helena voran.134 Daimon bezeichnet offenbar nicht eine bestimmte Klasse göttlicher Wesen, sondern eine eigentümliche Wirkungsweise. Denn daimon und the6s sind auch kaum je einfach austauschbar. Am deutlichsten ist dies in der im Epos häufigen Anrede an einen Menschen, daim6nie: 135 Sie ist eher Vorwurf als Lob, heißt also gewiss nicht "göttlich"; sie wird verwendet, wenn der Sprechende nicht begreift, was der Partner tut und warum er es tut. Daimon ist undurchschaute Macht, ein den Menschen Treibendes ohne benennbaren Urheber. Der Mensch erfährt, dass einmal gleichsam der Strom mit ihm fließt, er handelt "mit dem Daimon", sjn daimoni, ein andermal kehrt sich alles gegen ihn, er steht "gegen den Daimon", pros daimona, besonders wenn ein "Gott" beschlossen hat, den Gegner zu ehrenP6 Krankheit kann so beschrieben werden, dass "ein verhasster Daimon" auf den Menschen "einstürmt"; "Götter", theoi, sind es dann, die ihn retten.137 Jeder Gott kann als daimon wirken; nicht in jedem Wirken ist der Gott zu entdecken. Dafmon ist gleichsam das verhüllte Gesicht göttlichen Wirkens. Es gibt kein Bild von einem Daimon, es gibt keinen Kult. Daimon ist 131 -+ VII 3.4. 132 Hes. Theog. 221. 133 Der Stamm dai- ist mehrdeutig; die geläufigste Deutung als "Zuteiler" (z.B. GdH I 369; Kerenyi 1972, 18 f) stößt auf die Schwierigkeit, dass daio zerteilen, nicht zuteilen bedeutet; doch scheint schon Alkman PMG 65 daimonas eddssato damit zu spielen, vgl. Richardson 1974 zu Hymn. Dem. 300. Abwegig "Zerreißer und Fresser der Leichen" Walter Porzig, IF 41, 1923, 169-173. "Leuchter" (Fackelträger im Kult?) wäre nicht unmöglich; "Kenner" setzt einen Stamm da- voraus (Archilochos Fr. 3,4 West ist ddmon zu lesen). 134 Il. 1,222; 3,420; Kullmann 1956, 49-57. Bei einern Lyriker (Pindar?) ist Pan als "ziegenbeiniger Daimon" angeredet, ...... III 2 Anm. 39. 135 Elisabeth Brunius-Nilsson, DAIMONIE, 1955. 136 Il. 17,98 f. 137 Od.5,396.
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III DIE GESTALTETEN GÖTTER
damit das notwendige Komplement eben der plastischen, individuellen, personalen "homerischen" Götterauffassung; es deckt den peinlichen Rest, der sich der Gestaltung und Benennung entzieht. Nur in einem Ausnahmefall erscheint Daimon in Kult und Bild: als "Guter Daimon", Agathös Daimon; ihm gilt beim Weintrinken im Allgemeinen und im Dionysosheiligtum im Besonderen die erste Spende; er wird als Schlange dargestellt. Segenswunsch sucht sich abzusichern durch Ehrung eines unterweltlichen Wesens, von dem kein Mythos erzähltPS Im übrigen hat Hesiod139 auch den allgemeinen daimones ihren Platz angewiesen: Die Menschen des Goldenen Zeitalters seien, als ihr Geschlecht verging, nach dem Willen des Zeus zu daimones geworden, ,,wächter" über die Menschen, "gute", reichtumspendende Wesen. Doch bleiben sie unsichtbar, sind nur an ihren Wirkungen zu erkennen. Eines besonderen Wissens um daimones rühmte sich die Randgruppe der Pythagoreer: Sie vermochten diese nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, ja sie verwunderten sich, dass dies den anderen Menschen nicht selbstverständlich war.140 Der gewöhnliche Mensch sieht nur, was ihm, unvorhersehbar und nicht von ihm gewirkt, passiert, und er nennt die treibende Macht daimon; daimon ist damit so etwas wie "Schicksal", doch ohne dass eine Person, die plant und schickt, sichtbar wird. Man muss damit zurechtkommen: "Den Daimon, der um mich wirkt, werde ich stets bewusst mir zurichten, indem ich nach meinen Mitteln mich um ihn bemühe", so Pindar. I41 Man ruft ,,0 datmon", aber ohne Gebet. ,;Viel sind die Gestalten des Daimon-haften; vieles wirken unverhofft die Götter", heißt es im stereotypen Schluss euripideischer Tragödien: Sobald ein Subjekt des Wirkens in Erscheinung tritt, sind es "Götter". "Des Zeus großer Geist steuert den Daimon der Männer, die er liebt".142 Ob er glücklich oder unglücklich ist, hat der Mensch nicht in der Hand; glücklich ist, wer einen "guten daimon" hat, eudaimon, im Gegensatz zum Unglücklichen, dem kakodaimon, dysdaimon. Dass je ein bestimmtes Wesen über jedem Menschen wacht, ein daimon, der den Menschen bei seiner Geburt "erlost" hat, finden wir seit Beginn des 4. Jahrhundert formuliert, wohl aus älterer Überlieferung.143 Auch von "zwei daimones", einem guten und einem bösen, kann die Rede sein; dass man euphemistisch
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138 GGR 213. Aristoph. Eq. 85; Vesp. 525; Diod. 4,3; Plut. q.conv. 655E; Suda a 122; LSS 68; LSCG 134; Paus. 9,39,5; 13; Reliefvon Thespiai, Harrison 1922,357, vgl. Harrison 1927, 277-280; Sonderentwicklung in Alexandreia, Michel Malaise, Pour une terminologie et une analyse des cultes isiaques, Brüssel2005, 159-176. - Isoliert eine Vaseninschrift DAIMONOS in Morgantina, 4. Jahrhundert, SEG 34,964. 139 Hes. Erga 122-6, wobei 124 f = 254 f wohl sekundärer Einschub ist. Theog. 991 wird Phaethon zu einem dafmon. 140 Arist. Fr. 193; L&S 73 f; 171,34; 185 f; Detienne -+ Anm. 130. 141 Pind. Pyth. 3,108 f. 142 Pind. Pyth. 5,122 f. 143 Pap. Derv. III 4 (fragmentarisch); Lysias 2,78; Plat. Phd. 107d, vgl. Lys. 223a, Resp. 617de, 620d, Leg. 877a; Menand. Fr. 500 KasseVAustin.
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vom "anderen daimon" statt dem bösen spricht,t44 zeigt die Angst vor dem Unheimlichen an. Heraklits berühmter Satz "Der Charakter (ethos) ist für den Menschen sein daimon" wendet sich gegen die populäre Auffassung des Preisgegeben-Seins.145 Die Tragödie hat Anlass genug, schreckliches Schicksal, das den einzelnen trifft, auszumalen; dabei wird vor allem bei Aischylos der daimon zu einem selbständigen, individuellen Ungeheuer, das "schwer aufs Haus fällt" und sich mästet am Mord; auch dies freilich ist "gottgewirkt".146 Daneben stehen, als ähnlich unheimliche Mächte, die Erinyen als der verkörperte Fluch147 und die personifizierte Rachemacht des vergossenen Blutes, der Alastor: 148 fürwahr eine "dämonische" Welt; doch ist gerade bei Aischylos daimon nicht Oberbegriff für alle, sondern einer unter vielen, eher Schicksalsmacht, neben Rachemacht. Erst in der Bemerkung eines Arztes des 5. Jahrhunderts äußert sich allgemeiner Gespensterglaube in der Benennung daimon: Nervöse Frauen und Mädchen, meint er, könnten durch eingebildete Schreckerscheinungen "böser daimones" zum Selbstmord getrieben werden. 149 Inwieweit hier allgemeiner, volkstümlicher Aberglaube zum Ausdruck kommt, ist schwer abzuschätzen. Durch Hesiods Mythos war es vielmehr gerechtfertigt, selige, mächtige Tote als daimon zu ehren. So wird in den Persern des Aischylos der tote König Dareios als daimon beschworen;15o der Chor tröstet Admetos über den Tod der Alkestis: "jetzt ist sie ein seliger daimon";151 der ermordete Rhesos wird zu einem wahrsagenden "MenschenDaimon': (anthropodaimon}.152 Platon will die im Krieg Gefallenen generell als daimones verehrt wissen. In hellenistischen Grabinschriften ist die Bezeichnung des Toten als daimon dann gang und gäbe geworden.153 Als Sokrates die einzigartige innere Erfahrung, die ihn in unvorhersehbarer Weise in den verschiedensten Situationen zwanghaft innehalten, "nein" sagen und umkehren hieß, in Worte zu fassen suchte, sprach er lieber als von "Göttlichem" von etwas "Daimon-haftem", daim6nion, das ihm begegne.154 Dies konnte als Umgang mit Geistern, als geheimer Kult missdeutet werden; dies hat Sokrates das Leben gekostet.
144 Pind. Pyth. 3,34; Kallim. Fr. 191,63; vgl. Theogn. 161-164. Beim Sokratiker Eukleides sind die "zwei daimones" in Schlaf und Tod umgedeutet, Stob. 3,6,63 = II A 11 Giannantoni. 145 VS 22 B 119 = 94 Marcovich; dazu Epicharm Fr. 266 KasseVAustin (tropos als daimon). 146 Aisch. Ag. 1468; 1476 f; 1486-1488; Franziska Geisser, Götter, Geister und Dämonen. Unheilsmächte bei Aischylos, München 2002. 147 -+ IV 2 Anm. 31. 148 Aisch. Ag. 1500 f; Pers. 353; Soph. O.K. 787 f; Eur. Med. 1333; vgl. Sokrates von Argos FGrHist 310 F 5; Apollodor FGrHist 244 F 150; LIMC I s.v. Alastor; Elasteros heißt der "Dämon" in der Lex Sacra von Selinus, -+ II 4 Anm. 60. 149 Hippokr. Parth. VIII 466 Uttre. 150 Aisch. Pers. 641, wobei der König gleichzeitig theos ist, 642. 151 Eur. Alk. 1003. 152 Eur. Rhes. 971. 153 Plat. Resp. 469b; 540c; VII 3.4 Anm. 20; vgl. Krat. 398c. Nowak 1960 (-+ Anm. 1). 154 Plat. Apol. 3lcd; Guthrie 1967/81 III 402-405. -+ VII 2 Anm. 42.
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III
DIE GESTALTETEN GÖTTER
3 Zur Eigenart des griechischen Anthropomorphismus Früher war die Religionswissenschaft geneigt, die olympische Götterwelt für etwas Einzigartiges zu halten, für eine Schöpfung "Homers", d.h. der frühen Griechen und ihrer Dichter. I Die Wiederentdeckung der altorientalischen Literatur hat dies widerlegt. Da herrscht durchweg ein personhafter Polytheismus, der sich dichterisch ausgestalten lässt; nur Israel hat sich abgesondert. Nicht nur im Hethitischen und Ugaritisehen, auch in der Akkadischen Epik sind frappante Parallelen zum "Homerischen" aufgetaucht. Ein Pantheon anthropomorpher Götter, die in menschlicher Weise miteinander sprechen und verkehren, die lieben, zürnen und leiden, die durch Ehen und Eltern-Kind-Beziehungen miteinander verbunden sind, gehört zur vorderasiatisch-ägäischen Koine; es gibt die Götterversammlung, es gibt den Götterberg im Norden. 2 Auch das mykenische Griechenland steht nicht abseits: Es gibt das Paar ZeusHera, es gibt die "göttliche Mutter", es gibt "Drimios den Sohn des Zeus".3 Die Eigenart des Griechischen, des "Homerischen" zu bestimmen, bedarf genauerer Differenzierung. Eine auffallende Besonderheit sind zunächst die Götternamen: Nicht nur der moderne Forscher erwartet, dass Götternamen eine Aussage enthalten. Bei den Römern gibt es so klare Götternamen wie Diespiter und Mercurius, auch luno oder Venus sind verständlich; freilich stehen etruskische und griechische Entlehnungen daneben. Ganz durchsichtig in ihrer Benennung sind sumerische Götter wie EN-KI "Herr des Unten", NIN-HURSAG "Herrin vom Berg"; Isis heißt der "Thron", Horus der "Oben Befindliche". Die wichtigsten Götter in Ugarit sind EI und Baal, "Gott" und "Herr", bei Hethitern "Die Sonne von Arinna" und der Wettergott (geschrieben "Gott Sturm"), der wohl Tarhunt "der Starke" hieß.4 Die griechischen Götternamen aber sind praktisch durchweg undurchsichtig. Die Griechen konnten selbst "Zeus" nicht richtig etymologisieren. In diesem Paradox liegt geradezu System: 5 Allenfalls halbe Verständlichkeit wird zugelassen, De-meter, Dio-nysos; sonst werden verständliche Namensformen eher verdrängt: Eileithyia statt Eleuthyia, Apollon statt Apellon, Hermes statt Hermaas. Dabei tragen gewöhnliche griechische Menschen meist überaus durchsichtige Namen, ob sie nun nach dem Typ Thrasyboulos "Kühn im Rat" oder Simon "Platt-
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Bes. Harrison 1922; als einzigartig beurteilten das griechische Pantheon auch Martin P. Nilsson, The Mycenaean Origin of Greek Mythology, London 1932, 221; Kerenyi 1972, 36. Die "Gätterversammlung" ist geläufig in der akkadischen Epik (Atrahasis, Gilgamesh, Anzu, Enuma elish); im hethitischen Telipinu-Mythos, ANET 126 f, Hoffner/Beckman 1990, 15; 21, Ullikummi, ANET 123, Hoffner/Beckman 55 f.; im ugaritischen Baal-Mythos, ANET 130; im Alten Testament, Hiob 1,6-12; Byblos KAI 4,4; Burkert 2003, 32. Zum Gätterberg ---+ III 1 Anm. 10. ---+ I 3 Anm. 247. Emmanuel Laroche, Recherches sur les noms des dieux hittites, Paris 1948, 89. Vgl. Belayche 2006. Usener 1895,314-6 sprach von dem "Gesetz", dass eine Gottesbezeichnung, indem sie die sprachliche Verständlichkeit einbüßt, zum Eigennamen wird, sah aber hierin mehr eine Entgleisung sprachlicher Entwicklung.
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3 Zur Eigenart des griechischen Anthropomorphismus
nase" gebildet sind. Die Heroennamen dagegen sind großenteils ähnlich verrätselt Agamemnon statt Aga-men-mon, der "in besonderer Weise Standhaltende" - oder unerklärlich wie Achilleus und Odysseus. Offenbar kommt es darauf an, dass die Individualität einer Person, gerade einer nicht unmittelbar gegenwärtigen Person, durch auffallende Namengebung einprägsamer wird - so wie viele deutsche Familiennamen die orthographische Komplizierung suchen. Das Paradoxon wird damit zum Wesensmerkmal: Die griechischen Götter sind Personen und keine Abstraktionen, Ideen, Begriffe; the6s kann Prädikat sein, ein Göttername in mythischer Erzählung ist Subjekt. Wir können sagen, die Erfahrung des Blitzschlags sei "Zeus", die der Sexualität "Aphrodite"; die griechische Sprachregelung drückt dies so aus, dass "Zeus blitzt" und Aphrodite Gaben gibt. Darum müssen auch die Naturgottheiten ins zweite Glied treten. Der moderne Religionshistoriker mag von "Urgestalten der Wirklichkeit" sprechen;6 im Griechischen wird Aussage und Vorstellung so strukturiert, dass eine individuelle Person erscheint, die ihr eigenes, plastisches Sein hat; sie ist nicht zu definieren, doch kann man sie kennen, und solche Bekanntschaft kann Freude, Hilfe und Rettung sein. Diese Personen, wie sie die Dichter vorstellen, sind menschlich fast bis zur letzten Konsequenz. Sie sind keineswegs reiner "Geist"; wesentliche Elemente der Körperlichkeit gehören unabdingbar zu ihrem Wesen. Ihr Wissen übersteigt das menschliche bei weitem, und ihr Planen zielt weit voraus und findet meist Erfüllung; aber selbst Zeus scheint nicht immer allwissend zu sein.7 Die Götter können riesige Räume durchmessen, sie sind aber nicht allgegenwärtig; besuchsweise kommen sie zu ihren Tempeln, sind aber nicht ins Kultbild gebannt. Die Götter sind nicht ohne weiteres sichtbar, zeigen sich höchstens einzelnen, verwandeln sich im übrigen bald in diese, bald in jene Menschengestalt. Doch kann ein Gott durchaus leiblich mit einem Menschen zusammenstoßen; Apollon schlägt Patrok10s auf den Rücken, Diomedes verwundet mit seinem Speer Aphrodite und Ares. 8 Götterblut ist anderer Art als Menschenblut, wie auch Speise und Trank der Götter andere, göttliche Substanzen sind; aber auch die Götterwunde schmerzt, lässt den Gott aufschreien und klagen. Überhaupt können die Götter leiden; der höchste Gott, Zeus, wird zumindest durch Mitleid dahin gebracht, dass sein "Herz jammert" beim Tod eines lieben Menschen, und er vergießt blutige Tränen.9 Erst recht können Götter ergrimmen und wüten, aber auch von "unauslöschlichem Lachen" geschüttelt sein. Selbstverständlich gehört zu Göttern ihre Sexualität. Der Mann ist definiert durch sexuelle Aktivität; für Götter fallen die menschlichen Einschränkungen dahin, Wunsch und Vollbringen sind auch hier nicht getrennt; und "nicht ohne Frucht 6 7 8 9
Otto 1929, 163 f. VgL Walter Pätscher, Das Person-Bereichdenken in der frühgriechischen Periode, WSt 72, 1959, 5-25. -+ III 1 Anm. 34. 11. 16,788-92. -+ Ill1 Anm. 309; III 1 Anm. 465. 11. 16,450; 459; 22,169.
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ist das Lager mit Unsterblichen".1O Somit gehört zu diesen Göttern ein Heroengeschlecht: Der Adel klinkt sich ein in die epische Tradition. Götter bleiben aktiv: Auch in historischer Zeit ist man bereit, einen Sieger oder König als von einem Gott gezeugt zu preisenY Der Charakter des Vaters schlägt durch in den Götterkindern: ein Zeussohn wird besonders königlich, ein Hermessohn eher gewandt und spitzbübisch, ein Heraklessohn muskelstark und draufgängerisch sein; aber "herrlich" sind alle diese Kinder. Schwieriger ist das Verhältnis der Göttinnen zur Sexualität; da die weibliche Rolle gemeinhin als passives "Bezwungen-Werden", damenai, bezeichnet wird, steht sie im Widerspruch zur Herrschaft der "Herrin". So sind Artemis und Athena gerade als "unbezwungene Jungfrauen" besonders mächtig, während Demeters Beilager Anlass schweren Zorns istP Hera und Aphrodite erfüllen ihr Wesen in der Liebesgemeinschaft; wenn ausführlicher davon erzählt wird, sind sie die aktiven Partner, Hera beim "Trug des Zeus", Aphrodite mit AnchisesP Auch die Geburt, die von Geburtsschmerz und -not unabtrennbar ist, wird aus dem Bild der herrlichen Göttin ausgeblendet; die Erzählung verweilt bei der "kleineren" Gottheit Leto, die, gegen die Palme von Delos gestemmt, Artemis und Apollon gebiert. Freilich ist der Kreis der Olympischen Götter nach Homer und Hesiod geschlossen, mit weiteren Göttergeburten ist nicht zu rechnen. Es fehlt den Göttern das Schicksal, das an die Möglichkeit auch des Todes gebunden ist. So sind sie in ihrer Vollkommenheit bewahrt, und doch irgendwie erstarrt und gefangen, "immer seiend ", aien e6ntes. Und doch sind diese isolierten Gestalten an bestimmte Bereiche und Funktionen gebunden, wo man ihre Wirkung erreichen und erfahren kann. Diese Verbindung wird durch zweierlei akzentuiert, die Beinamen I4 und die personifizierten Abstrakta in ihrem Gefolge. Hymnische Dichtung häuft, wohl aus alter Tradition, gerne Götterbeinamen; die epische Verstechnik baut daraus ihre Formeln. Im Kult ist es Aufgabe des Betenden, durch Beinamen den Gott gleichsam einzukreisen und den rechten, treffenden Namen zu finden. Im etablierten Kult ist meist ein Name fixiert, der sich bewährt hat, was aber die Suche nach weiteren Beinamen nicht hindert. Die Beinamen sind ihrerseits komplex. Manche sind unverständlich und eben dadurch von geheimnisvoller Wirkung; manche entstehen durch Verschmelzung zunächst selbständiger Götter - Poseidon Erechtheus, Athena Alea, Artemis Ortheia; viele sind von Heiligtümern genommen - Apollon Pythios und Delios, Hera Argeia -, von Festen - Zeus Olympios, Apollon Karneios - oder vom Ritual, als ob der Gott es selbst vollziehe - Apollon Daphnephoros, Dionysos Omestes. Viele lassen
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Od. 11,249 f. Burkert 2007, 175-178. -- 1111 Anm. 146; 1111 Anm. 384. -- 1111 Anm. 71; 1111 Anm. 312/3. Carl F. H. Bruchmann, Epitheta deorum, RML Suppl., 1893, gibt nur literarische Belege; Listen der Beinamen enthalten die RE-Artikel. --1ll2; zum Namensuchen im Gebet --1l3 Anm. 17.
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sich spontan bilden, um zu bezeichnen, in welchem Bereich man das göttliche Eingreifen erhofftj so wird jeder Gott umgeben von einer Schar von Beinamen, die ein komplexes Bild seines Wirkens zeichnen. Zeus als Regengott ist ombrios oder hyetios, als Zentrum von Hof und Besitz herkeios und ktesios, als Stadtherr polieu.s, als Schützer der Fremden hikesios und xenios, als Gott aller Griechen panhellenios. Hera als Ehegöttin ist zygia, gamelios, teleiaj damit Poseidon "Sicherheit" vor Erdbeben gewähre, ruft man ihn asphaleiosj Apollon wird als "Helfer" epikourios, als "Abwehrer" des Unheils apotropaiosj Athena schützt die Stadt als polias, das Handwerk als ergane, kämpft mit als promachos, gibt den Sieg als nikej Artemis ist als Göttin des "Draußen" agrotera, kommt aber auch zur Entbindung als lochiaj Demeter ist die "Erdhafte", chthonia, die doch "die Frucht bringt", karpophorosj Hermes bringt Gewinn am Marktplatz als agoraios, er geleitet die Toten als chthonios, als psychopompos. Gelegentlich erscheint nur ein Beiname dieser Art, ohne dass ein bestimmter Gott bezeichnet oder auch nur gedacht wirdj hier kann sich sehr Altes mit beginnender Skepsis gegenüber den von Dichtern gegebenen Namen treffen. Besonders oft wird der "Knaben nährenden" Macht, Kourotrophos,15 geopfert, die man freilich auch mit Hera oder Demeter identifizieren kann. Die Personifikation abstrakter Begriffe ist ein kompliziertes und umstrittenes Phänomen. 16 Spätere Rhetorik lehrte sie als einen Kunstgriff, dessen sich dann allegorische Dichtung bis in die Barockzeit hinein nur allzu gern bedientej mehr Spontaneität möchte man der Frühzeit zutrauenj doch die extreme These, es gebe "ursprünglich" überhaupt keine Abstraktap sondern nur personenhaft erfahrene dämonische Mächte, geht an den Tatsachen zumindest der indogermanischen Sprachen vorbei. Dabei ist die Verehrung von Göttern, die mit abstrakten Begriffen bezeichnet werden, sehr altj ein sicheres Beispiel ist der indoiranische Mithras, dessen Name ,:-Iertrag" heißtjlB es gibt auch ägyptische und vorderasiatische Entsprechungen.19 Insoweit Götternamen bedeutungsvoll sind, ist die Grenze zwischen Name und Begriff fließendj erst die "Homerisierung" hat hier eine deutliche Schranke aufgerichtet. Eben dadurch gewinnen nun die archaisch-griechischen Personifikationen ihr besonderes Wesen, dass sie zwischen den individuellen Göttern und den Berei-
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Price 1978; sehr oft in Sakralinschriften, z.B. LSCG 1 A 10, 18 A 25; GdH I 202. -+ V 2 Anm. 152. Grundlegend Deubner RML III 2068-2169 (1903); Usener 1948, 364-375; GGR 812-815; Leiva Petersen, Zur Geschichte der Personifikation in griechischer Dichtung und bildender Kunst, Diss. Würzburg 1939; Friedrich W. Hamdorf, Griechische Kultpersonifikationen der vorhellenistischen Zeit, Mainz 1964; Nilsson 1960, III 233-242; Harvey A. Shapiro, Personifications in Greek Art, Zürich 1993; Burkert 2003, 172-191; Emma Stafford (Hrsg.), Personification in the Greek World. From Antiquity to Byzantium, London 2005. Usener zweifelt, "ob die Sprache überhaupt ursprünglich Abstrakta besitzt", 1948, 371; 374 f. Bezeugt schon im Mitanni-Vertrag ANET 206; Alberto Bernabe/Juan A. Alvarez-Pedrosa, Historia y leyes de los hititas, Madrid 2004, 96. Dietrich, Acta Classica 8, 1965, 17,22; Hans G. Güterbock, Kumarbi, Ankara 1946, 114 f; Burkert 2003, 172-191.
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chen der Wirklichkeit vermitteln;20 sie empfangen von den Göttern Elemente des Mythisch-Personhaften und lassen diese teilhaben an begrifflichen Ordnungen. Die Personifikationen treten in der Dichtung auf, gehen in die bildende Kunst über und greifen schließlich auch über in den Bereich des Kults. Die Dichter behandeln sie schon aus ihren formalen Konventionen heraus als menschengestaltige Wesen, dem grammatischen Geschlecht der Abstrakta entsprechend zumeist als Jungfrauen; als Verknüpfungsschemata drängen sich, der Mythologie entsprechend, Genealogie, Gefolgschaft und Kampf auf. Themis, die Ordnung, und Metis, die Klugheit, werden zu Gemahlinnen des Zeus;2I seine Tochter ist Dike, das Recht; böse Männer bringen es fertig, diese Jungfrau gewaltsam durch die Gassen zu zerren, die Götter aber achten sie; und wenn sie sich dann zu ihrem Vater setzt und ihm den bösen Sinn der Menschen meldet, lässt dieser ganze Völker büßen. Man kann der Dike auch Eigenrnacht zutrauen; auf der Kypselos-Lade war dargestellt, wie eine wohlgestaltete Dike eine hässliche Adikia, "Unrecht", an der Kehle würgte und mit einem Stock schlug.22 Athena im Parthenon trägt Nike, den Sieg, als kleine Flügelfigur auf der Hand; Nike hat aber auch seit langem ihren eigenen Tempel zuvorderst auf der Akropolis23 • Ares, den Kriegsgott, begleiten "Furcht" und "Schrecken", Ph6bos und Deimos, Aphrodite dagegen Eros, die Liebe, Himeros, die Sehnsucht, und Peith6, die Überredung. Dionysos führt die "Horen" an, die "Zeiten" des fruchtbringenden Jahres. Man kann in sei.nem Gefolge aber auch Tragodia als Mänade, Komos den "Umzug" als Satyrknaben, Pompe den "Festzug" als korbtragende Jungfrau auftreten lassen. 24 In einigen Fällen gibt es auch in Griechenland alte Kulte scheinbarer Personifikationen. Eros hatte in Thespiai ein Heiligtum, wo der Gott als Stein verehrt wurde.25 Nemesis, das "Übelnehmen", wird in Rhamnus in Attika verehrt, wo sie im 5. Jahrhundert einen prächtigen Tempel erhielt. Ein alter Mythos erzählte, wie Zeus sie verfolgte und gegen ihren Willen zur Mutter der Helena machte, weshalb sie sich "übelnehmend " zurückzog: Offensichtlich ist sie hier Doppelgängerin der "zürnenden" Demeter Erinys.26 Da nun aber das "Übelnehmen" eine enorme sittenerhaltende Funktion hat, konnte der Nemesis-Kult moralisch verstanden werden; man gab der Nemesis bereits im 6. Jahrhundert einen Tempel der "Rechten Ordnung", der Themis, zur Seite. 20 21 22 23 24 25 26
Karl Reinhardt, Personifikation und Allegorie, in: Vermächtnis der Antike, Göttingen 1960, 7-40. Hes. Theog. 886; 901. -- III 1 Anm. 19. Hes. Erga 220-247. - Paus. 5,18,2; LIMC III s.v. Dike. Ira S. Mark, The Sanctuary of Athena Nike in Athens, Princeton 1993; Domenico Musti (Hrsg.), Nike. Ideologia, iconografia e feste della vittoria in eta antica, Rom 2005. RML III 2115; AF T. 9,4. Paus. 9,27,1; GGR 525; RE VI A 44 f; LIMC III s.v. Eros. -- II 5 Anm. 15. Kyprien Fr. 9/10 Bernabe = 7 Davies; Kratinos Nemesis Fr. 114-127 Kassel/Austin; Apollod. 3,127; RML III 117-166; dazu Philodem, Wolfgang Luppe, Philologus 118, 1974, 193-202: 119, 1975, 143 f Albert Henrichs, ZPE 15, 1974, 302-304; Herter RE XVI 2338-2380; M. M. Miles, Hesperia 59, 1989, 131-149; Pavlina Karanastassis, AM 109, 1994, 121-131; W. Erhardy, AK 40, 1997, 29-39; LIMC VI s.v. Nemesis.
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Als gegen Ende des 6. Jahrhunderts die von Dichtern gestalteten, plastischen Götterindividualitäten problematisch wurden, konnten die Personifikationen um'so größere Bedeutung erlangen. Sein und Wirken der homerischen Götter entzieht sich dem Nachweis, doch die Wichtigkeit der abstrakt benannten Phänomene und Situationen ist von keinem Einsichtigen zu bestreiten. Den steilsten Aufstieg hat Tyche erfahren, das glückliche "Treffen".27 Wenn es einer "getroffen" hat, wie es nicht vorauszusehen war, wie es keinem anderen gelang, dann kann er sich als Schützling der "rettenden Tyche", S6teira Tycha, fühlen. So richtet Pindar eine seiner ergreifendsten Oden an dieses "GlÜck".28 Bei Euripides wird dann schon die Frage gestellt, ob Tyche, die erhebt und erniedrigt, nicht stärker ist als alle anderen Götter. 29 So nimmt Tyche den Chanikter der "Großen Göttin" an, die über allem Leben waltet, und wird in hellenistischer Zeit, in Konkurrenz mit Kybele, vielerorts zur Stadtgöttin. Am berühmtesten war die Tyche von Antiocheia. Schon zuvor war im 4. Jahrhundert der Durchbruch der Personifikationen in den Kult hinein erfolgt: Mehr und mehr errichtet man Statuen, Altäre, ja Tempel für Gestalten wie Eirene, den "Frieden", oder Homonoia, die "Eintracht"; auch die "Demokratia" darf nicht fehlen. 30 Freilich ist all dies mehr Demonstration als Religion. Die Willkürlichkeit der Kultsetzung war nicht zu übersehen; die Fülle weiblicher Gewandstatuen allegorischen Charakters erweckt nur noch ästhetisches, klassizistisch verstaubendes Interesse. Für die alte Zeit waren die anthropomorphen Götter eine Selbstverständlichkeit, die freilich im Ernst schwer zu verstehen ist. Ein Gott ist Gott, indem er sich offenbart; doch von Epiphanie der menschengestaltigen Götter konnte immer nur in sehr reduziertem Maß die Rede sein. Es gibt einige Zeugnisse, dass Göttermasken von Menschen getragen werden, im Kult der Mysteriengötter Demeter und Dionysos. Der Priester im arkadischen Pheneos setzt die Maske der Demeter Kidaria auf und schlägt mit einem Stab die "Unterirdischen";3! in Demeters Purpurgewand kleidet sich der Schwörende in einer mysterienhaften Eidzeremonie in Syrakus und nimmt eine brennende Fackel in die Hand. 32 Man erzählt auch, wie zwei Messenier-Jünglinge als Dioskuren auftraten, wie eine jungfräuliche Priesterin als Athena erschien;33 vor allem berichtet Herodot, wie Peisistratos um die Mitte des 6. Jahrhunderts als Tyrann in Athen einzog: Vorausgesandte Boten verkündeten, Athena selbst habe Peisistratos zu höchsten Ehren 27
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Konrad Ziegler RE VII A 1643-96; Hans Strohm, Tyche, Zur Schicksalsauffassung bei Pindar und den frühgriechischen Dichtern, Stuttgart 1944; LIMC VIII s.v.Tyche. "Tyche und Moira" Archilochos 16 West. Pind. 01. 12. Eur. Ion 1512-1514; vg1. Hek. 488-491; Kyk1. 606 f. Anthony E. Raubitschek, Demokratia, Hesperia 31, 1962,238-243. Paus. 8,15,3. ---+ II 7 Anm. 56; III 1 Anm. 430. Plut. Dion 56. Paus. 4,27; Polyaen. 8,59. ---+ II6 Anm. 30.
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unter allen Menschen erhoben und führe ihn in ihre Stadt, und so stand denn auf dem Wagen eine prachtvolle weibliche Gestalt neben dem Herrscher, übermenschlich groß und schön, in der Waffenrüstung der Göttin. Die Menschen beteten sie an und nahmen Peisistratos auf. Aber zugleich redete man davon, eine gewisse Phye aus Paiania habe die Göttin gespielt; und Herodot findet das Ganze ein überaus törichtes Spektakel.34 Schon im Mythos ist Salmoneus, der als Zeus durch das Land fährt und Blitz und Donner zu imitieren sucht, ein törichter Frevler. 35 Anhänger des Pythagoras meinten allerdings, ihr Meister sei der hyperboreische Apollon. 36 Empedokles stellt sich in Akragas vor als "unsterblicher Gott, nicht mehr sterblich";37 ein gewisser Menekrates jedoch, der im 4. Jahrhundert als Zeus auftrat, war fast schon ein klinischer Fall. 38 Bildliehe Darstellungen der Götter boten der Phantasie entscheidenden Halt; auch Phyes Kostümierung folgt dem Palladion-Typ. Doch umgab die Götterbilder ein merkwürdiges Dilemma: Die alten, hochheiligen x6ana waren unansehnlich, von den herrlichen Kunstwerken aber kannte man den Künstler; sie waren Prunkstücke, agalmata, keine Offenbarung. Im Epos gehören Begegnungen von Göttern und Menschen zu den Standardszenen; und doch macht Homer davon mit auffallender Zurückhaltung Gebrauch. 39 Für gewöhnlich sind die Götter nicht präsent; nur bei den fernen Aethiopen nehmen sie am Mahl teil, wie Apollon bei den Hyperboreern am anderen Ende der Welt unter seinem Volke lebt. Sonst kann nur der Dichter beschreiben, wie etwa Poseidon der Schlachtreihe voranschreitet; die Kämpfer hören allenfalls die Stimme des Gottes. Gewöhnlich nimmt ein Gott, um mit einem Menschen zu sprechen, die Gestalt irgend eines Bekannten an; erst die Wirkung, die Wendung im Geschehen lässt ahnen, dass ein "Stärkerer" am Werk war. 40 Gelegentlich enthüllt sich die Gottheit andeutungsweise. Helena erkennt Aphrodite, die ihr als alte Frau nahte, an dem schönen Nacken, der lieblichen Brust, den funkelnden Augen; Achilleus erkennt Athena sofort an ihren schrecklich leuchtenden Augen.4I Nach ihrem Beilager mit Anchises zeigt sich Aphrodite in ihrer ganzen unsterblichen Schönheit, die ihr von den Wangen strahlt; ihr Haupt reicht bis zur Decke des Gemachs, Anchises erschrickt und verhüllt sich. Ähnlich deutet Demeter, die in Gestalt einer alten Dienerin nach Eleusis kommt, ihre Göttlichkeit an; als sie die Schwelle betritt, reicht sie mit dem Haupt bis an die Decke des Palastes, sie erfüllt die Türen mit göttlichem Licht; ihre wahre 34 35 36 37 38 39 40 41
Hdt. 1,60. RML IV 290-294; LlMC VII s.v....... Anm. 38. Arist. Fr. 191 Rose; L&S 140-144. VS 31 B 112. Otto Weinreich, Menekrates Zeus und Salmoneus, Stuttgart 1933. Kullmann 1956; einen radikalen Versuch, Dichtung und Glauben zu unterscheiden, unternahm Walter Bröcker, Theologie der Ilias, Frankfurt a.M. 1975. Il. 14,385; 2,182. - Od. 1,322 f; 3, 371-385; 420. Il. 3,395-398; 1,199 f. -+ 1Il1 Anm. 189.
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Gestalt zeigt sie erst später, als sie das Alter von sich stößt: Schönheit weht um sie, lieblicher Duft verbreitet sich von ihrem Gewand, Licht strahlt vor ihrem Leib, das ganze Haus füllt sich mit Glanz wie vom BlitzY Am selbstverständlichsten spricht wie aus eigenem Erleben Sappho 43 von der Begegnung mit Göttern: Aphrodite ist vom Himmel her im Vogelwagen zu ihr gekommen, hat, lächelnd mit unsterblichem Antlitz, zu ihr gesprochen; die Dichterin betet um Wiederholung solcher Gunst. Das Kommen der Göttin wirkt Verwandlung, bei Aphrodite heißt dies: Abneigung weicht dem Verlangen - Himmelshaus und Götterwagen sind dichterische Tradition. Aphrodite wird gerufen, zu ihrem Fest "mit Festesfreude gemischten Nektar zu kredenzen": Es ist der seligste Augenblick inmitten des Festes, wenn die Göttin selbst durch die Reihen geht. In der Schlacht kann man zum Gott um "offenbare" Hilfe beten; Archilochos 44 stellt fest, dass in der Schlacht Athena den Siegern zur Seite stand: Es ist die entscheidende Wende, die von ihrer Gegenwart zeugt; nach der Göttin sich umzusehen hatte keiner Gelegenheit. In den Berichten über die Perserkrieg-Schlachten von Marathon und Plataiai sind es nur noch Heroen, die der eine oder andere als Mitkämpfer ausgemacht haben wollte;45 in Pindars Dichtung ist direkte Aktion der Götter auf den Mythos beschränkt; den jetzigen Menschen bleibt der in Sieg und Fest aufstrahlende Glanz, der von den Göttern kommt. Im attischen Theater treten Götter auf,46 aber man weiß, dies ist Theater; Zeus bleibt aus dem Spiel. Der normale Opferkult ist ein Kult ohne Offenbarung und ohne Epiphanie. Ein Weinwunder, ein Milchwunder mag hier und dort angedeutet oder manipuliert werdenY Im übrigen begnügt man sich mit dem aufstrahlenden Glanz, den Opferfeuer und Fackeln andeuten oder die aufgehende Sonne, der die Tempel und die am Altar Stehenden zugewandt sind. Die Götter sind, doch sind sie nicht verfügbar; man fühlt sich ihnen in ihrer .Menschlichkeit vertraut, man kann über sie sogar lachen,48 und doch bleiben sie entrückt. In gewissem Betracht sind sie der polare Kontrast zum Menschen; die Trennungslinie ist der Tod: Hier die Sterblichen auf dem Weg zu ihrem Ende, dort die todlosen Götter. Mögen diese sich erregen, ja leiden, es fehlt dem der eigentliche Ernst, der beim Menschen aus der Möglichkeit der Vernichtung kommt. In der letz42 43 44 45 46 47 48
Hymn. Aphr. 172-175; 181-183; Hymn. Dem. 188-190; 275-280. Vgl. allgemein Friedrich Pfister, RE Suppl. IV 277-323 s.v. Epiphanie. 1; 2 Voigt. ~ III 1 Anm. 320. Aisch. Sept. 136; Archil. Fr. 94 West. ~ III 1 Anm. 171. ~ IV 4 Anm. 43-49. Erich Müller, De Graecorum deorum partibus tragicis, Gießen 1910. Weinwunder: Theopomp FGHist 115 F 277; Steph. Byz. Naxos; Paus. 6,26,2; Otto 1933, 91 f; Milchwunder: Pind. Fr. 104b. Paul Friedlaender, Lachende Götter, Antike 10, 1934, 209-226 ~ Studien zur antiken Literatur und Kunst, 1969,3-18; Albin Lesky, Griechen lachen über ihre Götter, Wien. hum. BI. 4, 1961,30-40; Wilhelm Horn, Gebet und Gebetsparodie in den Komödien des Aristophanes, Nürnberg 1970; GGR 779-783; Burkert 1982.
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III DIE
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ten, entscheidenden Not ziehen sich die Götter vom Menschen zurück: Apollon verlässt Hektor, als sich die Waagschale senkt, Artemis sagt dem sterbenden Hippolytos ein Lebewohl und geht. "Es wäre ja eine Plage, aller Menschen Nachkommenschaft zu retten",49 und so retten denn die Götter keinen; distanziert und abweisend klingt von ihren Lippen jenes wiederholte "Um der Sterblichen willen". In der griechischen Mythologie nahezu unterschlagen ist jener Mythos, der sonst einer der wichtigsten ist: die Erschaffung der Menschen durch Götter. Im Alten Testament ist dies das Ziel der Schöpfertaten "am Anfang", ebenso im babylonischen Weltschöpfungsepos; die Götter schaffen die Menschen, damit sie ihnen dienstbar sind. 50 In Hesiods Theogonie ist die Menschenschöpfung übersprungen, von den Aktivitäten des Prometheus wissen nur subliterarische Fabeln, und die Anthropogonie aus dem Ruß der vom Blitz verbrannten Titanen bleibt apokryphY Götter und Menschen stehen nebeneinander, auch im Opferritual "getrennt" und doch aufeinander bezogen als Bild und Gegenbild. Götter können nicht Leben geben; wohl aber können sie vernichten. Es gibt keinen Teufel in den alten Religionen; aber jeder Gott hat seine dunkle, gefährliche Seite. Athena und Hera, die Stadtgöttinnen par excellence, sind mehr als alle andern auf die Vernichtung Troias aus; Apollon der Heilgott sendet die Pest, vernichtet zusammen mit Artemis Niobes Kinder; Athena lockt Hektar in den Tod, und grausam vernichtet Aphrodite den spröden Hippolytos. Selbst von Zeus kann es in paradoxer Formulierung heißen: "Böses plante der planende Zeus".52 ,;Vater Zeus, kein Gott ist verderblicher als du", klingt es durch dashomerische EposY Allerdings kann die Vernichtung durch den Gott in paradoxer Weise Erwählung sein; das Opfer wird zum Doppelgänger. So fordert Artemis das Leben der Iphigeneia, Apollon bringt Linos und Hyakinthos, Achilleus und Neoptolemos den Tod, Athena der Iodama,54 Poseidon dem Erechtheus. Der so Getötete bleibt als dunkles Gegenbild des Gottes im göttlichen Bereich bewahrt. Auch der olympische Gott wäre nicht, was er ist, ohne diese Tiefendimension. Und doch bedürfen die Menschen der Götter ganz anders als die Götter der Menschen; sie leben von der Hoffnung auf gegenseitige Freundlichkeit, chdris. "Gut ist es, geziemende Gaben den Unsterblichen zu geben",55 sie werden sich erkenntlich zeigen. Doch fest zu rechnen ist damit nicht. Zwar hängen am Ritual die Erwartungen, dass es gewisse Wirkungen zeitigt; aber die homerischen Götter können ohne Angabe von Gründen auch Nein sagen. Beim Sühnopfer der Achaier zur Befreiung 49 50 51 52 53 54 55
H. 15,140 f; 22,213; Eur. Hippol. 1437-1439. ->- III 1 Anm. 256; IV 3 Anm. 34. ANET 68; 99; insbesondere AtTahasis, TUAT 623 f; Marianne Luginbühl, Menschenschöpfungsmythen. Ein Vergleich zwischen Griechenland und dem Alten Orient, Bern 1992. --+ III 2 Anm. 23; VI 2 Anm. 69. H.7,478. H. 3, 365; Od. 20, 201. Simonides FGrHist 8 F 1. ->- III 1 Anm. 287; HN 176 f. H. 24,425; Bacch. 1,162.
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von der Pest "hört" Apollon das Gebet des Priesters, er "freut sich" an dem Kultgesang, das Unheil wendet sich. 56 Aber als die Achaier beim Auszug in die Schlacht, wozu ein gottgesandter Traum ausdrücklich aufgefordert hat, den Göttern opfern, da "nimmt Zeus die Opfergaben entgegen, steigert aber die nicht beneidenswerte Kampfesnot".57 Die Frauen von Ilios unter Führung der Königin legen der Athena in ihrem Tempel einen Peplos über die Knie und beten, sie möge den Speer des Diomedes brechen; "doch Pallas Athena lehnte ab",58 kurz und kalt. Der Mensch kann sich seiner Götter nie ganz sicher sein. Dem allzu hoch Gestiegenen droht um so eher Verderben: Dies ist der "Neid der Götter".59 Die Götter sind nicht das mütterlich Umgreifende; sie stehen in Distanz, plastisch, von verschiedenen Seiten zu sehen. Dies lässt auch dem Menschen seinerseits die Freiheit, "nein" zu sagen, ja sich aufzulehnen. "Wenn du mir folgen möchtest", sagt Athena zu Achilleus, als wäre Ablehnung denkbar;60 derselbe Achilleus wagt gegen Apollon, der ihn irregeführt hat, das kühnste Wort: "Rächen wollte ich mich, wenn ich nur die Macht hätte".61 Es gibt keinen Gehorsam gegen Gott, wie es kaum göttliche Befehle gibt; es gibt kein Göttergericht. Der Gott wird auch nur selten mit "Herr", despota, angerufen, wie der Sklave zum Eigentümer spricht. "Diener" (ldtris) des Gottes sind Seher, Priester und Tempelsklaven, kaum aber normale Bürger. 62 Man sagt im Altgriechischen nicht "Mein Gott".63 Der Mensch steht den Göttern gegenüber, plastisch in kühler Luft wie seine Götterbilder. Dies ist eine Art der Freiheit und Geistigkeit, auf Kosten von Sicherheit und Vertrauen. Doch die Wirklichkeit setzt auch dem befreiten Menschen seine Grenzen. Die Götter sind und bleiben die "Stärkeren".
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H. 1, 457; 474. H. 2,420. H.6,311. Aisch. Pers. 362; Hdt. 1,32; 3,40; 7,46; Protest: Platon Tim. 2ge; Phdr. 247a; Arist. Met. 983a2; Svend Ranulf, The jealousy of the Oods and criminal Law at Athens, London 1933/4; Fritz Wehrli, Lathe bi6sas, Leipzig 1933, pass.; Ernst Milobenski, Der Neid in der griechischen Philosophie, Wies· baden 1964; Oerhard J. D. Aalders, Meded. Kon. Nederl. Ak. v. Wt., Afd. Letterk. 38, 2, 1975. H. 1,207. H. 22,20. Henri W. Pleket bei Versnel1981, 152-192. Im Semitischen wuchert der Oottes·»Knecht" ('bd) vor allem in den Eigennamen, bis Abdullah. Der Name Theodu!os ist spätantik-christlich. Burkert 1996a; dagegen ist neugriechisch thel! mou geläufig, nach NT Mt. 27,46.
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IV
TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
1 Bestattung und Totenkult Totenbestattungen, hinter denen Totenrituale stehen, gehören zu den ältesten Zeugnissen menschlicher Kultur. Sie stellen zugleich einen der wichtigsten Fundkomplexe der prähistorischen und auch noch der klassischen Archäologie dar; was absichtlich unter die Erde gebracht wurde, kann am ehesten ungestört Jahrtausende überdauern. So ist die Gräber-Archäologie längst zu einer sehr spezialisierten und komplexen Wissenschafrgeworden; eine Darstellung der griechischen Religion muss sich demgegenüber auf relativ grobe Hinweise beschränken. Zu den Ausgrabungsbefunden treten hier die Zeugnisse der Dichter und Antiquare, wobei wiederum Homer besondere Bedeutung gewinnt.! Totenbrauch und Totenglaube stehen seit je und überall in gegenseitiger Wechselwirkung nebeneinander, jedoch, wie Einzeluntersuchungen zeigen, nicht in strenger Korrelation. 2 Die Vorstellungen sind oft vage und so gut wie immer vielgestaltig und widersprüchlich. Die verständliche Scheu, über den Tod zu reden oder nachzudenken, bewirkt, dass um so eher bestimmte Sprachregelungen nachgesagt werden, ohne dass man daraus Konsequenzen zieht. Um so mehr wird das Brauchtum, wie es in Familien- und Ortstradition vorgegeben ist, in unreflektierter Konformität nachvollzogen. Dabei haben es Ritual und Glaube fast ausschließlich mit dem Tod der anderen zu tun; der eigene Tod liegt im Dunkel. Neben der Frage nach historischen Einflüssen und Überlagerungen können Interpretationen dieses Komplexes einerseits auf psychologische Motivation, andererseits auf gesellschaftliche Funktion zielen. Der Psychologe stellt in den Reaktionen auf den Abbruch der Bindung an einen - meist älteren - Partner eine starke Ambivalenz der Gefühle fest, zwischen wütendem Schmerz und Erleichterung, Triumph und schlechtem Gewissen. 3 Die reale Befreiung und Bereicherung des Erben wird überdeckt von demonstrativer Trauer, Ehrung des Toten und postmortalem Gehorsam; Desorientierung und Depression werden überwunden durch festliches Essen und durch prestigeträchtige Kampfspiele. Hierin wird zugleich eine soziale Funktion der Totensitten deutlich, die überhaupt mit der Bestätigung der Tradition über den Generationensprung hinweg und insbesondere der Solidarisierung der Familie zu
2 3
Rohde 1898; GdH I 302-316; Wiesner 1938; GGR 174-199; 374-378; Andronikos 1968; Kurtz/ Boardman 1971; Kurtz in: Arrigoni 1985, 223-240; Heros et heroines dans les mythes et les cultes grecs. Kernos Suppl. 10, 2000. Z.B. Rosalind Moss, The Life after Death in Oceania and the Malay Archipelago, London 1925; Hermann Kees, Totenglauben und Jenseitsvorstellungen der alten Ägypter, Berlin 51983. Karl Meuli, Entstehung und Sinn der Trauersitten, in: Meuli 1975, 333-351; HN 60-69. - Orestes richtet ein Totenmahl für den erschlagenen Aigisthos aus, Od. 3,309.
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TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
tun haben. Den Anspruch des Toten anerkennen heißt die Identität der Gruppe bejahen, ihre Regeln akzeptieren und damit ihren Fortbestand sichern. Im griechischen Totenbrauch zeigt sich der Bruch mit der mykenischen Kulturwelt nach 1200 deutlich im Vordringen der Einzelbestattung und in der Brandbestattung. Zwar werden an einzelnen Orten bestehende Kuppel- und Kammergräber weiterhin benutzt; auf Kreta und Zypern hält sich das Kammergrab als Normalform, es wird auch auf Rhodos eingeführt. Zur Regel aber wird das Einzelgrab, sei es als mit Steinplatten ausgekleidetes "Steinkistengrab", sei es als bloße Erdgrube; bei Brandbestattungen wird die Urne entsprechend beigesetzt. Die Leichenverbrennung ist die spektakulärste Veränderung gegenüber der mykenischen Epoche.4 Sie ist in der Bronzezeit im griechischen Bereich praktisch unbekannt, wird allerdings von den hethitischen Königen und auch in Troia VI/VIIA geübt. Sie erscheint im 12. Jahrhundert in Attika auf dem Perati-Friedhof. Das homerische Epos nimmt sie allein zur Kenntnis. In Wirklichkeit hat sie sich nirgends ausschließlich durchgesetzt. Am intensivsten erforscht ist der Hauptfriedhof Athens vor dem Dipylon-Tor, der Kerameik6s. Dort überwiegt die Brandbestattung im Protogeometrischen stark, herrscht allein im 9. Jahrhundert, während seit dem 8. Jahrhundert die Erdbestattungen wieder zunehmen und dann etwa 30 Prozent ausmachen. Die Interpretation der Befunde ist umstritten. Deutet das Vordringen der Kistengräber auf Einwanderer, etwa auf die "Dorische Wanderung"?5 Die Neuerung steht in keiner deutlichen Korrelation zu den nachweisbar dorischen Bereichen. Handelt es sich um eine soziale Umschichtung im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des mykenischen Königtums? Im Einzelbegräbnis wird der Tote als Individuum behandelt, wobei allerdings die Einheit der Familie im Begräbnisplatz demonstriert bleibt; adlige Familien haben je ihren eigenen, sogar durch Mauern ausgegrenzten Gräberbezirk. 6 Man kann aber auch von einem Rückgriff auf Älteres sprechen, das neben den mykenischen Standardformen weiterbestanden hatte. Der Übergang zur Brandbestattung ist besonders von Erwin Rohde als geistige Revolution interpretiert worden, mit der die Macht des Toten gebrochen, die Seelen aus dem Bereich der Lebenden verbannt worden seien. Ethnologen und Archäologen sind gegen diese Deutung zunehmend skeptisch geworden.7 Bestattung und Verbrennung gehen am selben Ort zusammen, in Kreta kommen sie im selben Grab vor; im Begräbnisritual, in den Grabbeigaben ist kein Unterschied festzustellen. Es geht auch nicht um Vernichtung der Leiche, die verbrannten Knochen werden um so pietätvoller gesammelt und in 4 5 6 7
Ingo Pini, Beiträge zur minoischen Gräberkunde, Wiesbaden 1969; Andronikos 1968,51-69; 129131; Snodgrass 1971, 140-212. --+ I 3 Anm. 130. So Desborough 1964, 37-40, dagegen Snodgrass 1971, 177-184, Kurtz/Boardman 1971, 24. Rohde 1898, I 229; Demosth. 43,79. Desborough 1972, 268; Snodgrass 1971, 143-147; C. Sourvinou-Inwood JHS 92, 1972, 220-222 gegen Rohde 1898, I 27-32; Otto 1929, 141; GGR 176 f; Ursula Schienther, Brandbestattung und Seelenglauben, Berlin 1960; Albrecht Schnaufer, Frühgriechischer Totenglaube, Hildesheim 1970. Richtig bereits GdH I 305 f.
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1 Bestattung und Totenkult
einer Urne geborgen. So sieht man sich auf die Annahme äußerer Faktoren - etwa Holzmangel- oder unberechenbarer "Mode" zur Erklärung des wechselnden Brauchs zurückgeworfen. Von einem Gegensatz des religiösen Glaubens kann so wenig die Rede sein wie von einem· der Stammeszugehörigkeit. Mit der Entwicklung des Städtewesens geht die strikte Trennung von Siedlung und Gräberbezirk einher: Der Tote muss "hinausgetragen" werden; so häufen sich die Gräber. entlang den Hauptausfallstraßen der Städte. Exemplarisch ist der Kerameik6s in Athen. Begräbnis auf dem Marktplatz der Stadt oder gar im Rathaus wird zur einmaligen ehrenden Ausnahme. 8 Bestattungen von Kleinkindern allerdings sind immer ein SonderfalP Die wesentlichen Stationen im normalen TotenrituaPO sind damit die Aufbahrung, pr6thesis, das Hinaustragen, ekphord, die eigentliche Bestattung mit Totenopfer und Totenmahl, woran sich ein fortdauernder Grabkult anschließt. Die pr6thesis ist bereits auf spätmykenischen Sarkophagen und dann immer wieder auf den großen geometrischen Grabvasen dargestelltY Von den Frauen gewaschen und gekleidet, das Haupt mit Binde oder Kranz umwunden, wird der Verstorbene in seinem Haus zur Schau gestellt, umringt von den klagenden Angehörigen. Die Totenklage, die den Frauen obliegt, ist unabdingbar; sie kann erkauft, sie kann erzwungen werden. Noch in Platons Zeit kann man Klageweiber aus Karien mieten. Achilleus beordert die gefangenen Troianerinnen zur Klage um Patroklos, Sparta zwang die unterworfenen Messenier zur Teilnahme beim Tod eines KönigsY Zum schrillen Schrei gehört das Raufen der Haare, das Schlagen der Brüste, das Zerkratzen der Wangen. Die Angehörigen "beflecken" sich, schneiden die Haare, streuen Asche auf das Haupt, tragen befleckte, zerrissene GewänderY Das ganze "Haus" ist aus der Normalität herausgefallen. Die pr6thesis dauert den ganzen Tag. Danach, in der Morgenfrühe des dritten Tags,14 folgt das "Hinaustragen". Vornehme verwenden einen Leichenwagen, wie auch die geometrischen Vasenbilder zeigen. Auch hier gibt es großes Gefolge, laute Totenklage bis zum Grab. Im Fall der Brandbestattung wird der Scheiterhaufen nahe dem Bestattungsplatz errichtet. Pflicht des nächsten Angehörigen, besonders des Sohnes, ist es dann, die Gebeine aus der Asche zu lesen. 8 9 10 11
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Roland Martin, Recherches sur l'agora grecque, Paris 1951, 194-201; z.B. Thuk. 5,11; Xen. Hell. 7,3,12; Plut. Timol. 39. - Im Rathaus: Paus. 1,42,4; 43,2 f(Megara). GGR 175; Plut. cons. ad ux. 11,612A. Rohde 1898, I 216-245; KA 144-149; Kurtz/Boardman 1971, 142-161. Gudrun Ahlberg, Prothesis and Ekphora in Greek Geometric Art, Gäteborg 1971; Sarkophage von Tanagra BCH 95, 1971,929; Vermeule 1964, T. 34; 35a; Kurtz/Boardman 1971, 27. "Ein Tag": Solon Demosth. 43,62. Eugen Reiner, Die rituelle Totenklage bei den Griechen, Stuttgart 1938; Ernesto de Martino, Morte e pianto rituale nel mondo antico, Turin 1958; MargaretAlexiou, The Ritual Lament in Greek Tradition, London 1974. Dichterische Ausmalung Aisch. Cho. 23-31; 423-428. Klageweiber: Aisch. Cho. 424; Plat. Leg. 800e. Zwang: H. 18,339 f, 19,302; Tyrtaios 7 West. 11. 24,162-165. - II 4 Anm. 46. Antiph. 6,34; Plat. Leg. 960a; Solon Demosth. 43,62; Demetrios v. Phaleron Fr. 135 Wehrli; Herakl. All. Hom. 68.
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IV
TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
Zur Bestattung gehören Totenopfer; sie sind nach Motivation und Durchführung mindestens dreifacher Art: Der Tote erhält Gaben als Besitz gemäß seinen Lebensgewohnheiten und seiner sozialen Stellung; die Überlebenden demonstrieren damit, dass sie sich das freigewordene Gut nicht hemmungslos aneignen. Zahl und Wert dieser Beigaben ist im 1. Jahrtausend verhältnismäßig gering, im Kontrast zu den Schätzen mykenischer Königsgräber. I5 Minimalgabe sind Tongefäße, teilweise mit Speise und Trank; die Zeichenfunktion der Gabe gestattet auch praktisch unverwendbare Miniaturformen. Männer erhalten oft Waffen, Messer, sonstiges Berufsgerät, Frauen Schmuck, Gewänder, Spindeln. In Kammergräbern stehen Stuhl und Bett. Nach Erfindung der Münzprägung gibt man den Toten auch eine kleine Münze mit, die dann als Fährgeld für Charon bezeichnet wird. I6 Nicht selten werden, wie seit prähistorischer Zeit, Figuren verschiedenen Typs ins Grab gegeben; die Deutungen bleiben schwankend zwischen Göttern, dämonischen Wesen, Dienern oder SpielzeugY Ein Teil der Gaben wird auf dem Scheiterhaufen mitverbrannt - so verlangt es ausdrücklich der Geist der Gattin des Tyrannen Periandros für ihre GewänderB -, doch werden immer auch unverbrannte Gaben mit versenkt. Neben der Beigabe steht das Vernichtungs opfer, motiviert aus der mit Trauer einhergehenden ohnmächtigen Wut: I9 Wenn der geliebte Mensch tot ist, soll auch all das andere nicht mehr sein. So zerbricht man Waffen und Gerät, tötet Hunde, Pferde, ja Dienerschaft und Frau. Achilleus schlachtet am Scheiterhaufen des Patroklos Schafe und Rinder, vier Pferde, neun Hunde, zwölf gefangene Troer. 20 Auf Zypern fanden sich die eindrucksvollen Überreste der Opfer von Pferd und Wagen im Dromos von Gräbern aus homerischer Zeit;2I auch Menschenopfer sind nachgewiesen. 22 Allgemein üblich war das Schlachten von Opfertieren am Grab; Solons Gesetze verboten, ein Rind zu opfern. 23 Immer gehören zum Grab die Libationen; manchmal hat man die Libationsgefäße dort zerbrochen. 24 Schließlich gehörte zum Leichenbegräbnis aber auch das Totenmah1,25 das wiederum Tieropfer voraussetzt. Achilleus lässt noch vor der Leichenverbrennung seine 15 16 17 18 19 20 21 22
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Kurtz/Boardman 203-217. Aristoph. Ran. 140; 270; RE III 2177. --+ IV 2 Anm. 21. Wiesner 1938, 150 f; Andronikos 1968, 98 f; Kurtz/Boardman 1971, 64, 214 f. --+ I 1 Anm. 9; 33. Hdt. 5,92. --+ II 1 Anm. 43. 11.23,166-176. BCH 87, 1963, 282-286; 378-380; Excavations in the Necropolis of Salamis I, 1967, 117-119; Andronikos 1968, 85-87. The Swedish Cyprus Expedition I, 1934,243-5 (Lapithos); BCH 87, 1963,373-80 (Salamis); Wiesner 1938, 161; MMR 608; GOR 178; Andronikos 1968, 82-84. Dazu der Befund von Lefkandi (Euboia), 10. Jahrhundert: bestattete Frau neben der Brandbestattung des fürstlichen "Heros", Mervyn R. Popham/Peter O. Kalligas/L. Hugh Sackett, Lefkandi II. The Protogeometric Building at Toumba l/II, London 1990/93. Plut. Solon 21. Verboten in lulis, LSCG 97; Wiesner 1938, 160 f. Mathias Murko, Das Orab als Tisch, Wärter und Sachen 2, 1910,79-160.
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Gefährten "das herzerfreuende Begräbnis beschmausen", schlachtet dazu Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine, und "überall rings um den Toten floss, mit Bechern zu schöpfen, das Blut".26 Vernichtungsopfer und Totenmahl stehen nebeneinander; ihre Spuren sind archäologisch nicht leicht auseinanderzuhalten. In geometrischer Zeit hat man an den Gräbern Essen gekocht und genossen. 27 Manchmal sind Tiere im Scheiterhaufen mit verbrannt worden, es finden sich aber auch Feuerstellen neben dem Scheiterhaufen und zersplitterte Knochen von der Mahlzeit. Später wird das Totenmahl, perideipnon, entgegen seinem Namen nicht mehr "um" den Toten oder das Grab "he~um" begangen, sondern nachträglich zuhause;28 man gedenkt dabei ehrend des Toten, verzichtet aber darauf, seine Präsenz zu verdeutlichen. Doch stellt m~n sich den ordnungsgemäß versorgten Toten dementsprechend gern beim Mahl vor, wie die große Gruppe der "Totenmah1-Reliefs" zeigt. 29 In der alten Zeit schließt sich an die Bestattung eines bedeutenden Toten ein Agon, wie die Ilias und andere Dichtung im Verein mit den geometrischen Grabvasen bezeugen. 3o Die Trauer-Wut tobt sich aus, die Rollen der Lebenden werden neu verteilt. Insbesondere blieb der bronzezeitliche Streitwagen praktisch allein für solche Agone in Gebrauch. Hesiod trug seine Gedichte bei den Leichenspielen für Amphidamas in Chalkis vorY Vom 7. Jahrhundert an konzentrieren sich die Agone auf den Heroenkult einzelner Heiligtümer, die Leichenspiele treten schließlich zugunsten der so institutionalisierten panhellenischen Spiele zurück. Aber weder die Gefallenen von Plataiai, noch heroisierte Tote in hellenistischen Stiftungen werden durch Agone geehrt. 32 Das Grab wird mit einem Stein markiert, dem "Zeichen", sema. 33 Es kann ein roher Stein sein. Doch schon im Schachtgräberkreis von Mykene sind Reliefstelen aufgerichtet. Aus den kaum behauenen länglichen Steinen, die in den dunklen Jahrhunderten üblich sind, entwickelt sich seit dem 8 Jahrhundert die sorgfältig bearbeitete Grabstele, nun mit Inschrift und Relief oder Bemalung versehen. Die Inschrift nennt den Namen des Toten, nicht selten durch ein Epigramm in Versform. 34 Die entwickelte Plastik des 6. Jahrhunderts hat die stehende Jünglings- oder Frauenfigur als Grabaufsatz geschaffen; in der attischen Kunst des 5. und 4. Jahrhunderts gelangt 26 27 28 29 30 31 32 33 34
Il. 23,29; 34. John Boardman JHS 86, 1966, 2-4. Vg\. Ernst Pfuhl, AM 28, 1903, 275-83; R. S. Young, Hesperia Supp\. 2, 1939, 19 f; Andronikos 1968, 87-91; Kurtz/Boardman 1971,40; 66; 75 f. GdH I 312. »Gleich nach der Bestattung" Hegesippos Fr. 1,12 f. KasseVAustin; vg\. Il. 24,801-803; Plut. q. Gr. 296F; Arist. Fr. 611,60; Va\. Max. 2,6 ext. 7. Rhea Thönges-Stringaris, Das griechische Totenmahl, AM 80,1965, 1-99. Il. 23; Stesichoros, Leichenspiele für Pelias, Fr. 178-180 Davies. -+ II 7 Anm. 74. Hes. Erga 654-659. Diod. 11,33,3; Plut. Aristid. 21; Kritolaos-Stiftung auf Amorgos, IG XII 7, 515. Andronikos 1968, 114-121; Kurtz/Boardman 1971, 218-246; Sourvinou-Inwood 1995, 140-297; Knud Johansen, The Attic Grave-Relief of the Classical Period, Kopenhagen 1951. Werner Peek, Griechische Vers-Inschriften I: Grab-Epigramme, Berlin 1955; Gerhard Pfohl, Untersuchungen über die attischen Grabinschriften, Diss. Erlangen 1953.
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die Reliefstele zur höchsten Vollendung. Auch die schlichte Stele kann in gewissem Maße als Vertreter des Toten behandelt werden: beim Totenfest werden die Stelen gewaschen, gesalbt, mit Binden umwunden;35 den Ölspenden dienen die länglichen Tongefäße, lekythoi, die oft Darstellungen von Grab und Jenseits aufweisen. Das "Zeichen" kann aber auch als geheimnisvoller Wächter über dem Toten aufgefasst werden; so kommen Löwe und Sphinx als Grabaufsatz vor. 36 Das "Zeichen", sema, bleibt bestehen und kündet "in alle Ewigkeit"3? von dem Toten. Den Nachkommen obliegt die fortdauernde Sorge um die Gräber. Zunächst finden Totenopfer und Totenmahl ihre Fortsetzung in sich erweiternden Abständen: Man bringt am dritten und am neunten Tag nochmals Speisen zum Grab, man trifft sich am 30. Tag zu einem gemeinsamen Essen als Abschluss der Trauer. 38 Dann geht die Totenehrung ein in die allgemeinen Feiern, mit denen die Stadt alljährlich ihre Toten ehrt, "Totentage", nekysia, oder "Elterntage", genesia. 39 Da schmückt man die Gräber, bringt Opfergaben, genießt selbst besondere Speise und spricht davon, dass die Toten "heraufkommen" und in der Stadt umgehen.40 Die Gaben für die Toten sind "Güsse", choai: 4I Gerstenbrei, Milch, Honig, nicht selten Wein und vor allem Öl, auch Blut der Opfertiere,4z auch einfach Wasser, weshalb man auch vom "Bad" der Toten spricht.43 Grabvasen ohne Boden oder ringförmige Aufsätze können daher das Grab markieren.44 Indem die Libationen versickern, glaubt man den Kontakt zu den Toten hergestellt, kann man zu ihnen beten. Dass man Röhren verlegt, um den tiefergebetteten Leichnam tatsächlich zu füttern,45 ist ein seltener Seitentrieb des Totenrituals. Dazu kommt das enagizein,46 das "Heiligen" und Verbrennen von Speise und 35 36 37 38
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Plut. Aristid. 21; Luk. Merc. cond. 28; IG lI/lIP 1006, 26 f. Z.B. Löwe von Kerkyra, Lullies/Hirmer 8 f; Sphinx vom Midasgrab, Kleobulos Diog. Laert. 1,89, Simonides PMG 581. Kleobulos-Epigramm -+ Anm. 36. trita, enata, triakds, eniausia Isaios 2,37; 8,39; Hypereides Fr. 1I0 Jensen; Poll. 8,146; dass der 3. Tag der Tag der Beerdigung sei (Kurtz/Boardman 1971, 145 f, vgl. Plat. Leg. 959a), ist schwer mit Is. 2,37 zu vereinbaren; ,,2. Tag, 10. Tag, Jahrestag" werden genannt im Labyadengesetz LSCG 77 C 28-30, vgl. LSCG 97; zum "sitzenden" Essen am 30. Tag Phot. kathedra, An. Bekk. 268, 19, Harpokr. triakds; Rohde 1898, I 233. Hegesandros Ath. 334f; Hdt. 4,26; Plat. Leg. 717e; Rohde 1898,1235 f; AF 229 f; FelixJacoby, Genesia: A Forgotten Festival of the Dead, CQ 38, 1944, 65-75 ~ Abh z. griech. Geschichtsschr., 1956, 243-259; GGR 181 f. Beim Anthesterienfest, -+ V 2.4. Ausgemalt Aiseh. Pers. 61I-618 (Milch Honig Wasser Wein Öl), Eur. Iph. Taur. 159-166 (Wasser Milch Wein Honig), Aiseh. Cho. 84-164 (pelan6s 92; chernips 129); vgl. Graf 1981; Weinspenden in einer kyprischen Inschrift, Excavations in the Necropolis of Salamis I, 1967, 133-142. -+ IV 2.3. haimakouria "Blutsättigung" Pind. 01. 1,90; Plut. Aristid. 21; vgl. Eur. Hek. 536. Paul Wolters, JdI 14, 1899, 125-135; Ginouves 1962, 244-264; Kurtz/Boardman 1971. 149-161. -+ II 2 Anm. 63. Georgios Oiconomus, De profusionum receptaculis sepulcralibus, Athen 1921; GGR 177, T. 52; Herrmann 1959,53-57; Andronikos 1968,93-97. GGR 177,1. chein und enagizein: Aristoph. Fr. 488; Isaios 6,51; 65; Luk. Katapl. 2....... IV 3 Anm. 8.
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Opfertieren; doch auch die Lebenden halten ihr Mahl. Der Tote hat seine Ehre, eben durch die "vom Brauch geforderten Mahlzeiten der Sterblichen", die "wohl zu speisenden, fettdampfgesättigten Feueropfer der Erde".47 Die Gesetzgeber griechischer Städte haben mindestens seit Solon ihre Aufgabe immer wieder darin gesehen, den Aufwand beim Leichenbegängnis zu beschneiden; eingeschränkt wird die Zahl der "sich Befleckenden", der Teilnehmer am Leichenzug, die Art der Opfer und der Grabmonumente.4B Hier stellt sich ein gewisser rationaler Sinn gegen Gefühlsüberschwang und sinnlose Verschwendung und zugleich der Anspruch der Polis gegen demonstrative Selbstdarstellung der mächtigen Sippen. Für die Identität der Familie bleibt der Totenkult Grundlage und Ausdruck. Wie man die Vorfahren ehrt, erwartet man Gleiches von den Nachkommen. Aus der Rückwendung zu den Toten wächst der Wille zum Fortbestand.49
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Aisch. Cho. 483 f, vgl. Soph. EI. 284; Beschreibung der enagismata Luk. Merc. cond. 28: "Sie gießen Salböl über die Stele, setzen ihr den Kranz auf und trinken und essen selber, was zubereitet ist". Vgl. HN 264 zu Chytroi. Eberhard Ruschenbusch, Solonos Nomoi, Wiesbaden 1966, F = Cic. leg. 2,63 = Demetrios Phal. Fr. 135 Wehrli; Cic. leg. 2,59; Plut. Solon 21,5; Ruschenbusch F 109 = Demosth. 43,62. Gesetz von Iulis auf Keos, IG XII 5 593 = SIG-' 1218 = LSCG 97; Labyaden-Gesetz LSCG 77 C; LSAM 16; Plat. Leg. 958d-960a; Reverdin 1945, 107-124; GGR 714 f. -+ Anm. 23/4; II 4 Anm. 47. Isaios 2,46; 6,51; 65; 7,30.
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2 Die Jenseitsmvthologie Der Totenkult scheint vorauszusetzen, dass der Tote am Ort der Bestattung, im Grab unter der Erde, gegenwärtig und wirksam ist. Die Toten trinken die "Güsse", ja das Blut, sie werden geladen zum Mahl, zur "Blutsättigung"; wie die Spenden in der Erde versickern, sollen sie nach oben "das Gute heraufsenden".! Man kann sie beschwören, selbst "heraufzukommen", wie in den Persern des Aischylos Dareios an seinem Grab erscheint. Wie allenthalben gibt es auch bei den Griechen Spukerfahrungen; man erzählt auch hier, dass manche Toten keine Ruhe finden, um ihre Gräber irren, Vorübergehende bedrohen. 2 Überhaupt fürchtet man den Zorn der Toten, glaubt sie durch fortdauernde Spenden "besänftigen", "bei guter Laune halten" zu müssen: meilissein, hildskesthai. Das Schrecktier schlechthin ist für den Menschen die Schlange, unheimlich nach Gestalt und Verhalten, wie sie unversehens auftaucht, vielleicht an SpendenÜberbleibseln leckt, rasch in einem Schlupfloch verschwindet. Allgemein glauben die Griechen, dass der Tote in Gestalt einer Schlange erscheinen kann;3 halbrationale Spekulation meinte, das Rückenmark der Leiche verwandle sich in eine Schlange.4 Die Totenschlange ist vor allem in bildlichen Darstellungen ein bequemes und darum fast allgegenwärtiges Motiv. Die typischen Gefäße des bronzezeitlichen Schlangenkults, der offenbar ein Hauskult war, erscheinen jetzt nur noch im Totenkult. 5 In unseren literarischen Texten kommen diese Bereiche kaum je zur Sprache. Schon die Totenriten werden praktisch nur in Theaterszenen einigermaßen ausführlich dargestellt; sonst sagt man nur: "tun, was Brauch ist", ohne auch nur die Frage zuzulassen, warum man so handelt. Das Ritual scheint für die Praktizierenden selbst kaum weniger verwirrend als das Phänomen des Todes an sich. Man bescheidet sich mit dem Nicht-Expliziten und findet gerade das Schweigen angemessen. Um so kühner ist die epische Dichtung ins Jenseits vorgestoßen. 6 Bestimmend für den gebildeten Griechen sind drei homerische Szenen, die Traumerscheinung des toten Patroklos in der Ilias, die Hadesfahrt des Odysseus, der Zug der Freierseelen am Ende der Odyssee; auch andere alte Epen haben Hadesfahrten enthalten, vor allem
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Aristoph. Fr. 504 Kassel/Austin; vgl. Rohde 1898, I 243-245; Wiesner 1938, 209 f. Plat. Phd. 81cd; Rohde 1898, II 362-4; Sarah I. Johnston, Restless Dead, Berkeley 1999. Erich Küster, Die Schlange in der griechischen Kunst und Religion, Gießen 1913; Harrison 1922, 325-331; GGR 198 f. Plut. Kleom. 39; Ael. nat.an. 1,51; Ov. Met. 15,389 f; Orig. Cels. 4,57; Servo Aen. 5,95. --+ I3 Anm. 112-117. Rohde 1898, I 301-319; Otto Gruppe/Friedrich Pfister, RML VI 35-95 s.v. Unterwelt; Ludwig Radermacher, Das Jenseits im Mythos der Hellenen, Bonn 1903; Carlo Pascal, Le credenze deli' Oltretomba, Turin 1921; Wassiliki FeIten, Attische Unterweltsdarstellungen des 6. und 5. Jahrhunderts, München 1975; Lars Albinus, The House of Hades. Studies in Ancient Greek Eschatology, Aarhus 2000; Burkert, Numen 56, 2009,141-160; Schnaufer --+ IV 1 Anm. 7.
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im Zusammenhang mit dem Herakles- und dem Theseus-Myth9s;7 im 6. oder 5. Jahrhundert tauchten dann, das Frühere übertrumpfend, Dichtungen des "Orpheus" auf. Keiner der Texte war unanfechtbare Offenbarung; doch bedurfte man einer SprachI'egelung für das Unsagbare. Nach der homerischen Ausdrucksweise verlässt im Augenblick des Todes ein Etwas, die psyche,8 den Menschen und geht ins "Haus des Ais", der auch Aides, Aidoneus, attisch Hddes heißt. Psyche heißt "Hauch", wie psychein "hauchen"; das Aufhören der Atmung ist das einfachste äußere Kennzeichen des Todes. Dem Toten - auch dem toten Tier - ist etwas abhanden gekommen, über dessen Vorhandensein und Wirken it;n Lebenden indes zunächst nicht weiter reflektiert wird; nur wenn es um Tod und Leben geht, geht es um die psyche. Psyche ist zunächst nicht "Seele" als Träger von Empfindungen und Gedanken, nicht Person, auch nicht Doppelgänger des Menschen. Von dem Augenblick an jedoch, da sie den Menschen verlässt, wird sie auch als eidolon bezeichnet9, "Bilderscheinung" gleich dem Spiegelbild, das man - nicht immer deutlich - sieht und doch nicht ergreifen kann: Das Traumbild, auch Spukbild, in dem der Tote noch erscheinen kann, ist gleichgesetzt mit dem "Hauch", der den Körper verlassen hat. So ist die psyche eines Toten denn gegebenenfalls sichtbar, jedenfalls vorstellbar; doch als Achilleus den Patroklos, Odysseus die Mutter umarmen will, gleitet die psyche wie ein Schatten oder Rauch durch ihre Hand.10 Es geht keine Kraft, keine Lebensenergie von den psychai aus, sie sind "Häupter ohne Lebenskraft", amenena kdrena, ja es fehlt ihnen das Bewusstsein; in der Nekyia der Odyssee müssen sie erst vom Opferblut trinken, um sich erinnern und sprechen zu können. Sonst "flattern sie als Schatten", gleich zirpenden Fledermäusen, in ihrer Höhlell . Als Erinnerungsbilder können psychai in der Lebenstätigkeit oder Todessituation verharren: Orion der Jäger jagt, Minos der König spricht Recht, Agamemnon ist umgeben von denen, die mit ihm erschlagen wurden. Die bildende Kunst stellt seit dem 6. Jahrhundert die psychai als kleine geflügelte Menschlein dar;12 so flattern sie etwa um die Spenderöhre des Totenkults. Die Vorstellung vom verfallenden Leichnam und Gerippe bleibt fern, auch wenn die Dichtung statt psyche oder eidolon auch einfach nekys "Toter" sagen kann. 7 8
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Minyas Fr. 1-4 Bernabe - Paus. 10,28,2; 7; 9,5,8; 4,83,7; Hes. Fr. 280 f. Gegen Rohde 1898,16-8 (psyche als ,Doppelgänger", "zweites Ich") entscheidend Walter F. Otto, Die Manen oder von den Urformen des Totenglaubens, Berlin 1923; vgl. Ernst Bickel, Homerischer Seelenglaube, Berlin 1925; Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, Göttingen 41975, 18-21; GGR 192-197; Otto Regenbogen, Kleine Schriften, München 1961,1-28. - psyche eines Tieres: Od. 14,426. H. 23,72; Od. 11,83. H. 23,99 f; Od. 11,204-208. Od. 10,495; 11,207; 24,6-9. Bekanntlich ist die Vorstellung von der Bewusstlosigkeit der Toten schon im 11. Buch der Odyssee nicht durchgehalten und fehlt im 24.; H. 13,416 kann der Tote sich freuen. GGR 195, T. 52, 2; Herrmann 1959, 39; Klaus P. Stähler, Grab und Psyche des Patroklos, Diss. Münster 1967; LIMC VII S.v.
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TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
Ob das "Haus des Ais" ein redender Name war, "Haus der Unsichtbarkeit", bleibt umstritten. \3 Für die Dichter ist Aides/Hades ein personhafter Gott, Bruder des Zeus, daher auch "der andere Zeus", "der unterirdische Zeus" genannt,I4 Gatte der Persephone; diese, mit rätselhaftem Namen, kann als selbständige, unheimliche Große Göttin erscheinen;I5 im Mythos ist sie identisch mit dem "Mädchen" Kore, Demeters geraubter Tochter. Die unterirdischen Herrscher thronen in einem Palast; Hauptkennzeichen ist das große "Tor des Hades", das man durchschreiten muss, um nie mehr zurückzukehren. Man kann an ein mykenisches Kuppelgrab mit Dromos und Eingangstor denken. I6 Und doch weiß man, wie abscheulich "das unter der Erde" ist. Als im Götterkampf die Erde bebt, springt Hades vom Thron auf und brüllt vor Schreck, da er fürchtet, die Erde könnte aufbrechen und sein Reich ans Licht kommen, grässlich, modrig, gottverhasstI7 - wie wenn man einen Stein umwendet und larvenwimmelnder Moder sichtbar wird. Ritualtraditionen und Phantasie verbinden sich, den Jenseits-Aufenthalt und den Weg dorthin in Einzelheiten auszumalen. Widersprüche werden hingenommen. Bald ist das Totenreich weit weg am Rand der Welt, jenseits des Okeanos - so in der Odyssee -, bald liegt es direkt unter der Erde - so im Bild der Ilias. Im 24. Buch der Odyssee ist Hermes der Totengeleiter, der die Seelen der gemordeten Freier "herausruft" und mit seinem zauberischen Stab anführt, vorbei am Okeanos und dem "Weißen Felsen", an den Toren der Sonne und dem Volk der Träume, bis zur Asphodelos-Wiese.18 Das bleich blühende Zwiebelgewächs Asphodelos mag mancherlei Assoziationen eingeben; doch stritt man schon im Altertum, ob nicht vielmehr "schaurige Wiese" oder "aschebestreute Wiese" zu lesen und zu verstehen sei.19 lm 10. und 11. Buch der Odyssee ist der Eingang in die Unterwelt jenseits des Okeanos durch Flüsse markiert, den Acheron, in den der "Feuerstrom" Pyriphlegethon und der "Klagestrom" K6kytos einmünden, ein Ableger der StYx; aus dem Namen dieser Unterweltquelle hört man "Hass", aus Acheron "Weh" heraus. 2o An Stelle des Flusses Acheron erscheint auch ein "Acherusischer See". Fluss oder See bildet die Grenze, die der Totenfährmann auf seinem Schiff überquert; sein Name Charon ist unerklärt. 2l Zur Herakles-Sage gehört 13
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Zu »unsichtbar": Wilhelm Schulze, Quaestiones epicae, Gütersloh 1892, 468; eine Tarnkappe heißt »Hadeskappe" Il. 5,845; zu »Sich-Wiedersehen": H. Thieme bei Schmitt 1968, 133-153; zu aia »Erde": Jacob Wackernagel, Kleine Schriften I, Göttingen 1953, 765-769. Il. 9,457; Hes. Erga 465; Aisch. Hik. 231 vgl. 155. -+ III 1 Anm. 366. Die Sotades-Schale Brit. Mus. D 5, ARYl 763,2, LIMC IV s.v. Glaukos m. 1, stellt Hades als Kuppelbau mit brunnenartigem Zugang dar. 11. 20,61-65; vgl. 8,14; 22,482. Od. 24,1-14. -+ III 1 Anm. 344. Schol. Od. 11,539; 24,13; Wiesner 1938, 209. -+ II 8 Anm. 53 zur Lokalisierung in Thesprotien. Löwen-Epitheton chdrops? Erstmalig Minyas Fr. 1 Bernabe = Paus. 10,28,2; Franz De Ruyt, Charun, demon Ettusque de la Mort, Rom 1934; GdH 1311; Christiane Sourvinou-Inwood, »Reading" Greek Death, Oxford 1995, 303-361; Bilddarstellungen LIMC III s.v. Charon 1. -+ IV 1 Anm. 16.
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der dreiköpfige Hund Kerberos,22 der das Hades-Tor bewacht. "Feuerbrand" und "Klage" deuten auf das Bestattungsritual: Wenn dieses vollzogen ist, befindet sich die psyche jenseits der Ströme, hat das Tor des Hades durchschritten und sich mit den anderen Toten vereint. Dies ist der letzte Wunsch der psyche; darum bittet Patroklos den Achilleus, Elpenor den Odysseus um ordnungsgemäße BestattungY Der schlaue Sisyphos freilich hat seiner Gattin aufgetragen, die Bestattungsriten zu unterlassen, und wird darum an die Oberwelt zurückgeschickt, um die Lebenden an ihre Pflichten zu mahnen; freilich war er damit dem Hades nur auf kurze Zeit entronnen. 24 Psyche-Begriff und Jenseits-Geographie kommen darin überein, die Toten vom Bereich des Lebens auf das Gründlichste zu trennen. Der Lebende ist den Toten nicht ausgesetzt; die "Schatten" sind kraftlos und bewusstlos. Es fehlt der gespenstische Schrecken, das Ausmalen der Verwesung, das Klappern der Totengebeine; aber ebenso wenig gibt es Trost und Hoffnung. "Suche mir nicht den Tod zu verreden", sagt Achilleus in der Unterwelt, indem er Odysseus' rühmende Worte abwehrt: "lieber wäre ich auf der Erde ein Taglöhner bei einem anderen, einem Armen, der nicht viel zu leben hat, als Herrscher zu sein über alle dahingeschwundenen Toten".25 Alles wird gleichgültig im düsteren Einerlei. Man hat das homerische Jenseitsbild gern als typisch "griechischen" Fortschritt, als Befreiung von uralten Bindungen verstanden. 26 Und doch hat man mit Recht auch die babylonische Vorstellung von der Unterwelt verglichen, mit der Ugaritisches und Alttestamentliches zusammengehen: 27 auch dort ein düsteres "Land ohne Wiederkehr"; wie Enkidu aus der Unterwelt gleich einem Wind vor seinem Freund Gilgames erscheint und ihm von der Totenwelt berichtet, diese als Schluss ans GilgameS-Epos angefügte Szene28 erinnert auffallend an Patroklos und Achilleus gegen Ende der Ilias. Die Unterschiede im einzelnen freilich treten dann erst hervor: Gegen das Ausmalen von Lehm und Staub in Mesopotamien steht die bildhafte Erstarrung im Griechischen. Lächelnd, fein gekleidet und geschmückt, in zierlicher Haltung steht die archaische Mädchenstatue aus Merenda in Attika vor dem Betrachter; die Inschrift sagt: "Mal der Phrasikleia. Mädchen werde ich immer heißen, da ich an Stelle der
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Ein "Schiffer der Unterwelt" (malah erseti) erscheint in der assyrischen Unterweltvision (ANET 109), vgL den "Mann des Flusses" im sumerischen Text Enlil und Ninlil (Kramer 1961, 46 f; TUAT 430 f); Vergleichbares auch im Ägyptischen (John G. Griffiths, CR 22,1972,237); Francisc Diez de Velasc, EI origen deI mito di Caronte, Madrid 1988. Il. 8,368; Hes. Theog. 311. Il. 23,71-74; Od. 11,72-80; vgL Il. 7,410. Alkaios 38 Voigt; Pherekydes FGrHist 3 F 119. Od. 11,489-91. Bes.Otto 1929, 136-149. Geoffrey S. Kirk, The Nature of Greek Myths, London 1974, 260 f. Andrew R. George, The Babylonian Gligamesh Epic H, Oxford 2003, 726-735; die alte sumerische Fassung ib. 743-777.
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IV
TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
Hochzeit von den Göttern diesen Namen erloste".29 Keine lebendige Entwicklung mehr, kein Klagen; es bleibt Name und schönes Bild. Das homerisch-griechische Jenseitsbild ist ebenso sublim wie ergreifend; allgemeingültig ist es nicht, wie ja auch das Ritual ganz andere Vorstellungen weckt. Selbst bei Homer gibt es widersprechende Motive, die den Keim zu einer radikalen Umgestaltung des Jenseitsglaubens in sich tragen. Da ist ein furchtbarer Abgrund, "so weit unter der Erde, wie der Himmel über der Erde ist", der Tdrtaros;30 in ihn wurden die Götterfeinde, die Titanen gestürzt, und er harrt weiterer Opfer. Unvermittelt werden in der Eidformel der Ilias Mächte angerufen, "die unter der Erde die Toten strafen, wenn einer einen Meineid schwört"; sie werden genauer Erinyen genannt. 3! Ein Totengericht ist hier nicht vorausgesetzt; die Erinyen sind Verkörperung der im Eid enthaltenen Selbstverfluchung. Doch mit bewusstlosen Schatten können sie es nicht zu tun haben. Fast am bekanntesten im Toten-Buch der Odyssee ist die Schilderung der "Büßer": Sisyphos, der den immer zurückrollenden Stein nach oben wälzt, Tantalos, der nach den Früchten, nach dem Wasser greift, ohne sie je zu erreichenY Freilich sind beide Figuren eben darum so faszinierend, weil Kommentar und mahnender Zeigefinger fehlen. Von ihrer Schuld ist nicht die Rede; der dritte "Büßer", dem zwei Geier die Leber zerfleischen, der Wüstling Tityos, hat es nicht zu sprichwörtlichen Ehren gebracht. Aber dass es für arge Vergehen unerhörte und ewige Strafe im Jenseits geben kann, ist damit ausgesagt und wurde verstanden. Eine Verallgemeinerung erscheint im homerischen Demeterhymnus: 33 Der Totenkönigin Persephone steht die Bestrafung der Übeltäter zu, "alle Tage", also bis in Ewigkeit, weshalb man sich mit Opfern ihrer Gunst versichern muss. Spätestens seit dem 5. Jahrhundert finden wir Jenseitsstrafen und Jenseitsgericht weiter ausgemalt, wohl nicht ohne ägyptischen Einfluss; Moderne sprechen von "Orphik".34 Gegenpol ist die Nennung der "Elysischen Ebene" im 4. Buch der Odyssee: Menelaos wird nicht sterben, sondern die Götter werden ihn in jenes Gefilde geleiten am Rand der Welt, "wo der blonde Rhadamanthys ist"; dort erwartet ihn das "leichteste Leben" im angenehmsten Klima, "weil du Helena hast und Schwiegersohn
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Gefunden 1972; Nationalmuseum Athen; EAA Suppl. 1970, gegenüber S. VIII; das längst bekannte Epigramm: 6 Kaibel ~ 68 Peek. Zur Interpretation G. Daux, CRAI 1973,382-93, gegen E.l. Mastrokostas, AAA5, 1972,298-324; Schefold, AK 16,1973,155; Nikolaos M. Kontoleon, AE 1974, 1-12, die an eine Angleichung der Toten an die Göttin Kore "Jungfrau" denken. Il. 8,13; 481; Hes. Theog. 720-819. Il. 3,278 f; 19,260; Erinyen und Fluch: 11. 9,454; 15,204; 21,412; Aisch. Eum. 417. ~ III 2 Anm. 52. Od. 11,576-600. Die Verse 565-627 wurden von Aristarch athetiert (Schol. 568), von Wilamowitz, Homerische Untersuchungen, Berlin 1885, 199-226, "die Orphische Interpolation" genannt, vgl. Erwin Rohde, Kleine Schriften H, Tübingen 1901, 280-287; Peter von der Mühll, RE Suppl. VII 727 f; Burkert, Numen 26,2009, 152-158. Zur "Orphik" ~ VI 2.3. 367-369; Richardson 1974 z. d. St. Ludwig Ruhl, De mortuorum iudicio, Gießen 1903; Graf 1974,79-15; Burkert 2009, 79-96. ~ VI 2 Anm. 63.
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des Zeus bist".35 Dies ist Ausnahmeschicksal. Ins Elysion einzugehen, heißt den Tod vermeiden. In Elysion ist aus der Bezeichnung der vom Blitz getroffenen Stelle oder Person 36 wieder ein undurchsichtiger, geheimnisvoller Name geworden; Blitztod ist Vernichtung und Erwählung zugleich. Damit kreuzt sich das mythische Motiv von der Entrückung auf eine ferne, reine Insel, das von der sumerischen Flutsage37 herzukommen scheint. So wird Achilleus auf die "Weiße Insel" entrückt und "Herrscher des Schwarzen Meeres", Pontdrches; Diomedes wird zum göttlichen Herrn einer AdriaInseP8 Eine Verallgemeinerung dieser Ansätze findet sich im Rahmen des WeltalterMythos bei Hesiod: Die Heroen, ehe vor Troia oder Theben gefallen sind, erhalten ein "Leben" am Rand der Welt, auf den "Inseln der Seligen" (makdron nesoi) am Okeanos, wo die Erde dreimal im Jahr Frucht trägt. Ein alter Zusatz-Vers nennt Kronos als ihren König, den Gott der Vorzeit, der Ausnahmezeit, vielleicht der Endzeit. 39 Eine Ausnahme anderer Art ist Herakles. Während in der Ilias schlicht von seinem Tod die Rede ist, heißt es in der Odyssee und in den Hesiodeischen Katalogen, dass er als Gott im Olympos lebt und Hebe, die Jugendblüte, zur Gemahlin hat. 40 Ihm ist damit der höchste Aufstieg gelungen. So einzigartig Herakles im Mythos erscheint, ist seine Gestalt doch zum Vorbild kühnster Hoffnungen geworden. 41 Denn die Vorstellungen von Tod und Jenseits waren, schon weil sie weniger explizit und einheitlich waren als die Göttervorstellungen, stärkerem und gründlicherem Wandel unterworfen. Die einzelnen Motive und Stationen dieser Entwicklung sind hier nur anzudeuten: Geheimkulte, "Mysterien", treten hervor mit der Verheißung, dem Geweihten im Gegensatz zum Ungeweihten "Seligkeit" im Jenseits zu vermitteln; ethische Reflexion führt zu dem Postulat, dass der Fromme und Gerechte auf solche "Seligkeit" Anspruch hat, während der Böse in jedem Fall seine Strafe finden muss; in der Seelenwanderungslehre wird "Seele", psyche, als vom Körper unabhängiger Träger persönlicher Identität entscheidend aufgewertet;42 im Rahmen beginnender Naturphilosophie taucht der Gedanke einer Verwandtschaft der Seele mit Gestirnen und Himmel auf, während zugleich der Kosmos und das Göttliche in unmittelbare Beziehung treten;43 im Zug der sophistischen Reflexion wird "Seele", psyche,
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Od. 4,563-9. Dietrich Roloff, Oottähnlichkeit, Vergättlichung und Erhebung zum seligen Leben, Berlin 1970,94-101, 124-6. Burkert, Olotta 39, 1960/1, 208-13: eine hethitische Etymologie wellu· ,,(Toten·)Wiese" bevorzugt Jaan Puhvel, ZVS 83, 1969,64-69. ANET 44.: Bottero/Kramer 1989, 567: TUAT 457. Schol. Pind. Nem. 1O,12a: Strab. 6,3,9 p. 284: Rohde 1898, I 84-90. Hes. Erga 167-73 mit den Zusatzversen 173a-e (Hrsg. Solmsen), die offenbar schon Pindar 01. 2,70 f voraussetzt. H. 18,117-9 - Od. 11,601-603, vom Scholien als Interpolation des Onomakritos bezeichnet: Hes. Fr. 25,28 f: 229. ~ IV 5 Anm. 14. ~ IV 5 Anm. 40. ~ VI 2 Anm. 90. ~ VI 2 Anm. 94: VII 3 Anm. 18-22.
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als das, was empfindet, denkt und entscheidet, mit empirischem Gehalt erfüllt.44 So konnte in der großen Synthese, die Platon geleistet hat, der neue Seelen-Begriff zur Basis der Philosophie und der Religion zugleich werden. 45 Zugleich schuf Platon in Aufnahme und Umformung von vielerlei Traditionen seine wirkungsmächtigen Jenseitsmythen;46 sie geben sich spielerisch, nicht als Offenbarung, und haben doch vielen Apokalypsen den Weg vorgezeichnet. Die älteren dichterischen Gestaltungen verblassten darüber fast zum belanglosen Märchen.
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John Burnet, The Socratic Doctrine of the Soul, Proc. Brit. Acad. 7, 1916; Dodds 1951,138-140; Heinz G. Ingenkamp, Inneres Selbst und Lebensträger, RhM 118, 1975,48-61; Burkert 2008, 260276. ---.. VII 3.2. Perceval Frutiger, Les mythes de Platon, Paris 1930; Hans W. Thomas, Epekeina, Würzburg 1938.
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3 Olympisch und Chthonisch
3 Olympisch und Chthonisch Totenkult und Götterkult haben im Vollzug wie in ihren psychologischen und sozialen Funktionen vieles gemeinsam: hier wie dort die das Alltagleben überragende Aufmerksamkeit, die fixierte, aus dem Profanbereich ausgegrenzte Stätte der Verehrung, die geheiligten Mahlzeiten, in denen sich Gemeinschaft konstituiert, mit Tieropfer,' Feuer, Speisegaben, Libationen, Gebeten; Heil und Unheil, Zorn und Gnade gehen vom einen wie vom anderen aus, Krankheit und Krankenheilung, mantische Offenbarung, Epiphanie. Und doch werden immer wieder im Ritual gerade die gemeinsamen oder ähnlichen Riten so differenziert, dass sie eindeutig der einen oder anderen Seite zugeordnet sind und damit eine grundlegende Dualität verdeutlichen: hier die "der Erde angehörenden", chthonioi, dort die "himmlischen" Götter.! Zu den Göttern kommt man "rein", im festlichen Schmuck, den Kranz im Haar - zum Grab ziehen die "Befleckten", ohne Kranz, 2 mit aufgelöstem Haar. Hier Erhebung, dort Bedrückung; zum Begräbnis, auch zum wiederholen Toten- und Heroenkult, 3 gehört das Weinen und Klagen - beim Götteropfer soll die euphemia durch keinen Klagelaut gestört sein. Der Altar für die Götter wird aus Steinen hoch aufgeschichtet den Toten gebührt ein ebenerdiger Herd, eschdra, oder eine Grube, bothros,4 die in die Tiefe weist. Dem Opfertier wird beim Götteropfer der Kopf zurückgebeugt, dass die Kehle nach oben gewendet durchschnitten wird, 5 während beim Schlachten für die Unterirdischen das Blut direkt in den bothros fließt. Für solche Opfer sind Abend und Nacht die rechte Zeit, während das Götterfest mit Sonnenaufgang beginnt. Der Tempel der Götter, naos, erhebt sich auf dreifach erhöhtem Sockel, während Familienheiligtümer in einem "heiligen Haus", ofkos, konzentriert werden, auch Mysterien in einem "Haus" stattfinden6 und eine Opfergrube zu einem Rundbau, tholos, ausgestaltet werden kann.1 Den Göttern opfern heißt "heiligen", hiereuein, und insbesondere (
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Markant Plat. Leg. 717a; 828c. Rohde 1898, I 148-150, 204-215; Sam Wide, Chthonische und himmlische Götter, ARW 10, 1907, 257-268; Harrison 1922, 1-31; Guthrie 1950, 205-253; Rudhardt 1958, 250 f; Scott Scullion, Olympian and Chthonian, Class. Antiquity 13, 1994, 76-119; Hägg/Alroth 2005. Zur Bedeutung des Wortes chth6nios Guthrie 1950, 218 f, gegen GdH 1210 f. Xenophon-Anekdote Diog. Laert. 2, 54. -+ II 1 Anm. 5. GGR 187; Unvereinbarkeit von Apollon und Klage: Aiseh. Ag. 1074 f; Alexander ließ einen Makedonen töten, der beim Grab des "vergöttlichten" Hephaistion weinte, Luk. Calumn. 18. Porph. antr. 6 und bei Servo Ecl. 5,66; Schol. Eur. Phoin. 274; Ernst Pfuhl, AM 1903, 1-288; Yavis 1949,91-95, doch vgl. 141; Herrmann 1959, 81 f. Die realen Befunde sind selten eindeutig, vgl. Bergquist 1973. Schol. Ap. Rh. 1,587; Eust. 134,17; Stengel1910, 113-125. Gesetz der Klytidai aus Chios, SIG' 987 = LSCG 118; ein "heiliges Haus" in Priene, Theodor Wiegand-H. Schrader, Priene, Berlin 1904, 172-182; ein "mystischer oikos" Dion or. 12,33; Gelage im oikos 1G II/lII' 2350, dazu Louis Robert, AE 1969, 7-14. -+ V 2 Anm. 81. Ammonios 329 Nickau konfrontiert mit dem na6s der Götter den sek6s der Heroen. Der Sinn der klassischen Rundbauten (Epidauros; Athena Pronaia in Delphi; Philippeion in Olympia; Arsinoeion in Samothrake) ist nicht dogmatisch festzulegen; ein Versuch: Fernand Robert, Thymele, Recherehes sur la signification et la destination des monuments circulaires dans l'architecture reli-
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"räuchern", thyein, steigt doch der Fettdampf zum Himmel, während es beim Totenopfer "weihen", "tabuisieren", enagizein heißt oder ins Feuer "hineinschneiden", entemnein. 8 Man kann den Himmlischen weiße, den Unterirdischen schwarze Rinder oder Schafe opfern.9 Die Libationen für die Unterirdischen heißen choai, während man den Göttern spondai ausgießt. lO Dabei sind es nicht nur die Toten, die "der Erde angehören"; es gibt auch chthonische Götter. Freilich spricht man ungern und meist nur in Andeutungen von ihnen. Durch die homerische Dichtung bekannt und anerkannt sind die Totenherrscher Hades und Persephone;ll doch sind sie nicht allein. Da gibt es Mächte, die nur Gefahren und Böses bringen, die man am besten gar nicht nennt, die man durch geeignete Opfer "abwenden" muss, um sie los zu seinY Die Ilias nennt einmal die Titanen, ein andermal die Erinyen unter der ErdeP Man ruft sie an in Eiden, und man sucht sich ihre schreckliche Macht zunutze zu machen in Fluch und Schadenzauber, indem man in der "Defixio" den Gegner unheimlichen Göttern überantwortet. I4 Doch der Schrecken der Vernichtung ist nur die eine Seite des "Chthonischen". Seit es Bauerntum gibt, weiß man, wie die Nahrung und damit das "Leben" aus der Tiefe wächst: "das Getreide kommt von den Toten"Y Darum ist Hades zugleich Pluton, der Hüter und Spender des Getreide-Reichtums; und die Getreidemutter Demeter ist in besonderem Maße die Chthonia, bei der auch die Toten geborgen sind. In Hermione heißt Demeters Fest Chth6nia schlechthin; Pausanias I6 beschreibt die Prozession und das unheimliche Kuhopfer im verschlossenen Tempel, er weist auf die Trauer-Bedeutung der Blütenkränze hin, die die Kinder im Zug tragen, er macht eine Andeutung über geheime Riten im alten Steinkreis. In den Mysterien vermittelt die getreidespendende Göttin, dass der Tod seinen Schrecken verliert. Mysteriengeheimnis umgibt auch den "chthonischen Dionysos", den Sohn der PersephoneP "Chthonisch" heißt ferner Hekate, die Göttin nächtlichen Zaubers, die auch in die Unter-
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gieuse de la Grece, Paris 1939. Die Belege am ausführlichsten bei Pfister 1909/12, 466-480; Casabona 1966, 18-26; 69-85; 204208; 225-227; Rudhardt 1958, 238 f; 285 f. ~ Il 1 Anm. 64; IV I Anm. 46. Die Unterscheidung von Holokaust und Opfermahl fällt nicht zusammen mit der von chthonischem und olympischem Opfer. --+ Il1 Anm. 82; IV 1 Anm. 47; IV 4 Anm. 30; Nock 1972, 575··602. Il. 3,103; Od. 10,524-527; SchoL BT IL 23,30; Orakel bei Euseb. Praep. Ev. 4,9,2; Stengel191O, 187190. --+ Il 2 Anm. 35/36. ~ IV 2 Anm. 14/15. Isoh. 5,117; Apollodor FGrHist 244 F 93. Il. 14, 274-9; 19, 259 f. --+ Il 9. Hippoh. vict. 4,92, VI 658 L. Paus. 2,35; GF 329 f. ~ VI 1.4; VI 2 Anm. 69; 7L
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welt eindringen kann/B und natürlich Hermes,19 der Seelengeleiter, der die Grenze zum Jenseits überschreitet. Am häufigsten aber ist der "chthonische Zeus" genannt, womit dem Himmelsvater ein unterirdischer Partner gegenübersteht, "der andere Zeus", "der Zeus der Toten".2o Dies kann bloß ein anderer, bezeichnender Name für Hades sein; man erwartet indessen gerade von ihm das Wachstum: Der Sämann betet zum "unterirdischen Zeus und zur reinen Demeter",zl man opfert für die Früchte dem "chthonischen Zeus und der chthonischen Erde".22 Der Orakelgott von Lebadeia, der dem zu ihm "Herabsteigenden" schreckliche Erkenntnis zuteil werden lässt, heißt der "Ernährer", Zeus Trephonios oder TrophoniosY Weit verbreitet ist schließlich die Verehrung eines unterirdischen Zeus, den man als den "Milden" anruft, Meilichios, Milichios. In Athen gilt ihm das "größte" Fest des Zeus, Didsia, während etwa in Selinus jeweils eine Familie "ihren" Meilichios errichtet und ehrt. 24 In Argos bedeutete die Errichtung seines Bildes Entsühnung nach blutigem Bürgerkrieg. Zeus Meilichios wird als väterliche thronende Gestalt dargestellt oder auch einfach als Schlange; im Vaterbild erscheint die Versöhnung mit den Toten, wie sein Name die "besänftigende" Wirkung der Totenspenden zusammenfasst. In der Verehrung der "chthonischen" Mächte steckr sicher sehr viel Altes. Doch kann man nicht mehr den Gegensatz von "Olympisch" und "Chthonisch" mit dem von Griechisch und Vorgriechisch oder Indogermanisch und Mediterran gleichsetzen. Himmlische Götter waren in sumerisch-babylonischer, hethitischer und westsemitischer Tradition vorgegeben, unterirdische wie Osiris besonders in Ägypten; indogermanisch ist der "Himmelsvater", aber sicher auch Ahnenkult, weshalb gerade im chthonischen Ritual die indogermanischen Kultwörter wie chein und enagizein auf.. tauchen, im Kontrast zu spendein und hiereuein. 25 Im keltischen und vorkeltischen Westeuropa sind Heiligtümer des Totenkults offenbar primär gegenüber Göttertempeln. 26 Auch im Akkadischen unterscheidet man zwei Klassen von Göttern, himmlische und unterirdische, deutlicher noch sprechen die Hethiter von "oberen" und "unteren Göttern?7 auch in Ugarit gibt es "Götter der Erde" im Zusammenhang mit 18 19 20 21 22 23 24
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Aristoph. Fr. 515 Kassel/Austin.; Theokr. 2,12 mit Schol. = Kallim. Fr. 466; Sophron Fr. *7 Kassel/ Austin. ~ III 1 Anm. 371; IIl2 Anm. 17. ~ III 1 Anm. 344-366. -+ IV 2 Anm. 14. Hes. Erga 465. Mykonos, SIG' 1024 = LSCG 96, 25. -+ II 8 Anm. 56. Athen: Thuk. 1,126,6; Privatopfer, Ferkel-Holokaust Xen. Anab. 7,8,4-6; AF 155-158. Selinus: Ettore Gabrici, Il Santuario della Malophoros a Selinunte, Mailand 1927, 381-383; Jeffery 1990, 270 ff; Zuntz 1971, 98 f; neuer Beleg in Jameson/Jordan/Kotansky 1993. Argos: Paus. 2,20,1 f; Cook 1924, II 1091-1160; RE XA 335-7; Fritz GrafZPE 14, 1974, 139-144. -+ I 2 Anm. 21-26; II 2 Anm. 34-36; IV 1 Anm. 24, 41-46. Siegfried J. Da Laet, Van Grafmonument tot Heiligdom, Meded. Nederl. Ak. van Wet. 28, 2, 1966. Dietz O. Edzard, WM I 42; 80, "Anunnaki" und "Igigi"; E. v. Schuler ibo 161 "sarrazes" und "katteres siunes".
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TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
dem Weg ins Totemeich. 28 Die Antithese von Oben und Unten, Himmel und Erde ist so elementar und einleuchtend, dass sie auch als religiöse Struktur unabhängig von der Ausformung der besonderen griechischen Kultur zustande kam. Man hat sie im übrigen auch im Minoischen gesucht und gefunden, in der Architektur des "Tempelgrabs" wie in dem Fries des Ayia-Triada-Sarkophags. 29 Das Besondere des Griechischen liegt in der Radikalität und Konsequenz, mit der der Gegensatz von Götter- und Totenbereich ausgestaltet wurde. Die Götter sind die "Unsterblichen", athanatoi; das Beiwort wird zur Definition. Eine Festbezeichnung "Tag des Begräbnisses der Gottheit" wie im Phönikischen30 ist im Griechischen unmöglich; ein Gott, den man als Toten beklagt, wie Adonis,3! wird stets als fremd empfunden; wenn die Kreter ein "Grab des Zeus" zeigen, beweist dies nur, dass Kreter eben immer Lügner sind. 32 Von den Göttern kann man Geburtsmythen erzählen; dann erstarren sie zur Idealgestalt, sei es in der "Jugendblüte" wie Apollon und Artemis, sei es im "Höhepunkt" der Reife wie Zeus und Hera; das Alter bleibt ihnen fern. Uralt ist nur der "Meergreis", Halios Gc~ron, im abgesunkenen Bereich des Volksglaubens. 33 Die Menschen dagegen sind auf den Tod hin ausgerichtet, als "Sterbliche", brotOI, thnetoi. Solange sie im Leben stehen, sind sie auf die Götter angewiesen, die gute Gaben geben, die bewahren und retten können; die im Tod gesetzte Grenze bleibt bestehen. Selbst Zeus hält inne, wenn sie erreicht ist, und er straft Asklepios mit dem Blitz, als er Tote erwecken will. Apollon verlässt Hektar, als seine Waagschale sinkt, er verlässt das Haus des Admetos, als der Tod der Alkestis naht. Artemis nimmt rasch und selbstverständlich Abschied vom sterbenden Hippolytos, der ihr doch so nah wie niemand sonst gestanden hatte und eben darum untergeht. 34 Wer bewusst in den Tod geht wie Antigone, sagt damit den Göttern Lebewohl. 35 Olympische Götter und Tote haben nichts miteinander zu schaffen; die Götter hassen das Haus des Hades und halten sich fern. Offenbar wurde dieser Kontrast in der historischen Zeit erst verschärft und ausgebaut; hier ist im Ansatz bewusste Theologie am Werk. Erst unter Peisistratos wurde beschlossen, Delos von Gräbern "zu reinigen", soweit die Insel vom Heiligtum aus überschaubar war, weiter ging dann die "Reinigung" im Jahr 426/5, als alle Gräber entfernt wurden;36 in den vorhergehenden Jahrhunderten, als das Heiligtum auf.. 28 29 30 31 32 33 34 35 36
KTU 1.5, Y.6. -+ I 3 Anm. 30; I 3 Anm. 133; Matz 1958, 18-27; Pätscher 1990, 171-191. Inschrift von Pyrgi, KAI 277,8 f; der Gott ist Melqart, Sergio Ribichini, Saggi Fenici 1, Rom 1975, 41-47. -+ III 2 Anm. 96-106. Kallim. Hymn. 1,8 f. -+ I 3 Anm. 21; III 1 Anm. 18. -+ III 2 Anm. 36. 11. 16,431-461; 22,213; Eur. Alk. 22; Hippol. 1437-1441: "leichthin verläßst du eine lange Gemeinschaft". -+ III 3 Anm. 49. Soph. Ant. 938; vgl. Aias 824-831. Thuk. 3,104. --+ II 5 Anm. 40.
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3 Olympisch und Chthonisch
blühte, hatte man an den Gräbern keinen Anstoß genommen. Xenophanes37 kritisierte gegen Ende des 6. Jahrhunderts das Leukothea-Fest in Elea, bei dem man der "Weißen Göttin" unter Klagen opferte: Handle es sich um eine Gottheit, sei die Klage verkehrt, handle es sich nicht um eine Gottheit, sei das Opfer nicht am Platz. Solche Kritik hatte Erfolg; es gibt kein späteres Zeugnis für ähnliche Ambivalenz im griechischen Ritual. Literarisch tritt die Antithese der "Oberen" und "Unteren Götter" entschieden in den Dramen des Aischylos auf;3s am konsequentesten sucht sie dann Platon in seinen Gesetzen durchzuführen. 39 Das tatsächliche Brauchtum blieb ein Konglomerat mit vielerlei Zwischenstufen. Als theologisches System besteht die Diastase vom "Olympischen" als Gegensatz zum "Chthonischen" nur in Ansätzen. Dabei handelt es sich offenbar um eine Polarität, in der das eine ohne das andere nicht sein kann und jeweils erst vom anderen her seinen vollen Sinn empfängt. Oben und Unten, Himmel und Erde, bilden das All. In Korinth stehen nebeneinander Statuen von Zeus schlechthin, von Zeus "Chthonios" und "Zeus dem Höchsten", Hypsistos.40 Kein Sonnenaufgang, dem nicht eine Nacht vorausgeht. So sind denn auch chthonisches und olympisches Ritual immer wieder miteinander verbunden. Die sakrale Zeitrechnung beginnt mit dem Abend, der Tag folgt auf die Nacht; so folgen olympische Opfer auf chthonische Voropfer. Viele Heiligtümer haben neben Altar und Tempel eine chthonische Opferstätte, die dann im Mythos als Grab eines Heros bezeichnet wird. So gehören zu Olympia das Pelops-Heiligtum wie der Zeusaltar, Erechtheus und Athena teilen sich in das "Haus" auf der Athener Akropolis, Pyrrhos wacht von seinem Grab aus über die Apollon-Opfer in Delphi; bei Athena von Sikyon ist Epopeus begraben; im Delischen Heiligtum blieben die Gräber der "Hyperboreischen Jungfrauen"Y Das merkwürdige Bild des Apollon von Amyklai steht auf einer altarförmigen Basis, die das Grab des Hyakinthos ist; man bringt diesem durch eine bronzene Tür hindurch seine Totenopfer vor dem Opfer an Apollon.42 Im Mythos haben die Götter dementsprechend oft einen sterblichen Doppelgänger, der dem Gott fast zum Verwechseln ähnlich wird, nur dass er vom Tod gezeichnet, ja vom Gott selbst getötet ist: Wie Hyakinthos neben Apollon steht Iphigeneia neben Artemis, Erechtheus neben Poseidon, lodama neben Athena. Im Kult wird dann Iphigeneia auch als "Artemis" geehrt,43 Erechtheus wird Poseidon Erechtheus, 10dama "lebt" als Athenas Altar, der ewiges Feuer trägt.44 Der Mythos hat in zwei Gestalten aufgespalten, was im Opferritual als Spannung vorgegeben ist. 37 38 39 40 41 42 43 44
VS 21 A 13 = Arist. rhet. 1400b5; spätere Fassungen setzen Osiris statt Leukothea ein. -+ lIl2Anm. 33. Pers. 229; 404 f; 522 f; 622; Hik. 24 f; 154 ff; Ag. 89. -+ 1111 Anm. 48; vgl. Eur. Hek. 146 f. Plat. Leg. 717a; 828c. Paus. 2,2,8. -+ 14 Anm. 25. Vgl. Eitrem, RE VlIl1127; HN 111-119; 176 f; 134-139; 211. Paus. 3,19,3. Hes. Fr. 23a 26; vgl. auch Burkert 1975, 19 zu Achilleus-Apollon. Paus. 9,34,1; Simonides FGrHist 8 F 1.
309
IV
TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
Die homerisch-griechische Götterwelt verdankt ihren lichten Glanz dieser ihrer Todesferne; das Christentum erschien gebildeten Griechen als eine Gräber-Religion.45 Der Entwurf der olympischen "immer seienden" Gestalten konnte Maß und Orientierung geben; in der Wirklichkeit des Kults war dabei der Gegenpol in einer Weise enthalten, dass jede Verflachung ausgeschlossen blieb. Die Götter können nicht die umgreifende Fülle der Wirklichkeit repräsentieren; Religion erschöpft sich nicht im Götterkult, sie umfasst auch die Beziehungen zu Toten und Heroen; und wenn Mysterien in Anlehnung an verdrängte oder nichtgriechische Traditionen mit universaler Spekulation individuellen Hoffnungen entgegenkamen und die erkältende Vereinsamung des Menschen im Tod zu überwinden suchten, blieb dies lange Zeit mehr eine Ergänzung als eine systemsprengende Konkurrenz des griechischen Entwurfs.
45
Libanios or. 62,10.
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4 Die Heroen
4 Die Heroen Dass es zwischen Göttern und Menschen noch eine besondere Klasse von "Heroen" gibt, die auch "Halbgötter" heißen,! ist eine Besonderheit der griechischen Mythologie und Religion, für die es kaum Parallelen gibt. Die Etymologie des Wortes heros ist unklar. 2 Hauptproblern ist seine zWeifache Verwendung: Im alten Epos bezeichnet es die Helden schlechthin, von deren Ruhm der Sänger erzählt; das Wort hat seinen festen Platz im Formelsystem; praktisch sind alle homerischen Gestalten "Heroen", insbesondere die Achäer insgesamt. Im späteren Sprachgebrauch dagegen ist der "Heros" ein Toter, der von seinem Grab aus im Guten oder Bösen mächtig wirkt und entsprechende Verehrung fordert. Von den archäologischen Spuren her klar zu fassen ist der äußerliche, kultische Aspekt: Heroenkult bedeutet Heraushebung eines einzelnen Grabs, das dann Heroon heißt, aus den üblichen Bestattungen durch Abgrenzung, Opfer und Weihgaben, gegebenenfalls auch durch einen besonderen Grabbau; Prachtbauten tauchen zuerst in Randgebieten auf, im "Nereidenmonument" von Xanthos in Lykien oder im "Mausoleum" von Halikarnassos in Karien; Ähnliches wird in hellenistischer Zeit üblich. 3 Durch Kult ausgezeichnete Heroengräber sind seit dem letzten Viertel des 8. Jahrhunderts nachweisbar: 4 Da gibt es einen Kult des Agamemnon in Mykene und auch in Sparta, einen Kult des Menelaos und der Helena in Sparta, der "Sieben gegen Theben" bei Eleusis. Offenbar hat man damals alte Gräber wiederentdeckt und bekannten "Heroen" des Epos zugeschrieben. Die Gräber der "Sieben" sind in Wirklichkeit helladische Gräber, das Grab des "Amphion" bei Theben ist ein frühhelladisches
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Rohde I 146-99; II 348-62; Pfister 1909/12; Henri Hubert, Le culte des heros et ses conditions sociales, RHR 70, 1914, 1-20; 71, 1915, 195-247; Paul F. Foucart, Le culte des heros chez les grecs, Mem. Ac. Inser. 42, 1918; Farnell1921; Eitrem, RE VIII 1111-1145; Marie Delcourt, Legendes et cultes de heros en Grece, Paris 1942; GGR 184-191; Nock 1972, 575-602 = The cult of Heroes, HThR 37, 1944, 141-174; Angelo Brelich, Gli eroi greci, Rom 1958; Emily Kearns, The Heroes of Attica, London 1989; Jennifer L. Larson, Greek Heroine Cults, Madison 1995; Deborah Lyons, Gender and Immortality. Heroines in Ancient Greek Myth and Cult, Princeton 1997; Hägg 1999; Vinciane Pirenne-Delfoge/Emilio Suarez de la Torre (Hrsg.), Heros et heroines dans les mythes et les cultes grecs, Liege 2000 (Kernos Suppl. 10); Burkert 2001, 26 f; Boehringer 2001; Ekroth 2002. Chantraine 1968, 417. Zu Hera im Sinn der (Geschlechts-) "Reife": Pätscher, RhM 104, 1961,302355; 108, 1965, 317-320. Mykenisch ti-ri-se-ro-e wird als "dreifach-Heros", Trisheros, verstanden, vgl. Gerard-Rousseau 1968, 222-224; Bengt Hemberg, Eranos 52, 1954, 172-190; Aura Jorro 1993, II 353. Diod. 13,35,2 spricht zum Jahr 412 von "heroischen Ehren" und einem "Tempel" (ne6s) für den Gesetzgeber Diokles von Syrakus. Zusätzliches bei Bremmer, ZPE 158, 2006, 15-26, seit späterem 6. Jahrhundert J. M. Cook in: Geras Keramopoullou, Athen 1953, 112-118; BSA 48, 1953,30-68; Roland Hampe, Gymnasium 63,1956,19 f; Snodgrass 1971, 193 ff. Die Angabe ,,13. Gamelion" bei Deinias FGrHist 306 F 2 gibt das Datum der Totenopfer für Agamemnon in Mykene/Argos, Ulrich v. WilamowitzMoellendorff, Aischylos Orestie: Das Opfer am Grabe, Berlin 1896, 204. Zum "Grab der Klytaimestra" MMR 604 f.
311
IV
TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
Fürstengrab;5 die Gräber der "Hyperboreischen Jungfrauen" auf Delos sind Reste mykenischer Gräber. 6 Bei Menidi in Attika wurde ein mykenisches Kuppelgrab von der geometrischen bis zur klassischen Zeit mit Tieropfern und Votivgaben bedacht, unter denen kleine Tonschilde einerseits, Gefäße für das Wasserbad andererseits auffallen; der Name dieses Heros ist für uns verschollen. Bei Korinth wurde ein protogeometrisches Grab um 600 wiederentdeckt und von da an bis zum 2. Jahrhundert v. ehr. mit heroischen Ehren bedacht.? Die besonders von Nilsson verfochtene These, dass der Heroenkult unmittelbare Fortsetzung des mykenischen Totenkults sei, ist nach dem archäologischen Befund nicht zu halten: 8 Es gibt keine Belege für fortdauernden Grabkult in der mykenischen Epoche und erst recht nicht in den dunklen Jahrhunderten. Folglich ist die Heroenverehrung seit dem 8. Jahrhundert am ehesten auf den Einfluss der epischen Dichtung zurückzuführen, die damals ihren Höhepunkt fand. Im griechischen Epos ist eine eigenständige Welt fixiert, die bewusst als eine schönere, größere Vergangenheit gestaltet wird: Die Heroen waren gewaltiger als "wie die Sterblichen jetzt sind ".9 Zugleich wurde dies eine allen Griechen gemeinsame geistige Welt; die Realität wurde von hier aus gedeutet. Familien und Städte waren stolz, ihre Traditionen an die epischen Heroen anknüpfen zu können. So verehrten die Kerkyräer, die ihr Land mit dem der Phäaken identifizierten, den Alkinoos der Odyssee; in Tarent opferte man den Atriden, Tydiden, Aiakiden und Laertiaden en bloc; in Kreta kamen Idomeneus und Meriones zu Ehren. lO Die Bezeichnung "Halbgötter", Hemitheoi, taucht einmal schon in der Ilias auf,u Prinzipiell ist im hesiodeischen Weltaltermythos ausgeführt, dass "die Heroen, die Halbgötter heißen", eine eigene Generation bildeten, besser als die vorangehende und weit über dem jetzigen, dem "eisernen" Geschlecht stehend; sie fanden den Tod in den Kämpfen um Theben und Troja, den beiden Hauptthemen der epischen Dichtung entsprechendY Ähnlich ist die Konzeption der hesiodeischen Kataloge: als Götter und Menschen noch zusammenlebten, entstand aus ihrer Vermischung die lange Reihe der Gotteskinder, mit denen die Stammbäume der Völker und Familien anheben; das Ende solchen Umgangs brachte der Troianische Krieg,u Die Entstehung des Heroenkults unter dem Einfluss des Epos hat ihren Sinn und ihre Funktion in der Entwicklung der griechischen Polis; der Hervorhebung 5 6 7 8 9 10 11 12 13
"Sieben": Paus. 1,39,2; Plut. Thes. 29; vg1. Eur. Hiketiden; Mylonas 1961, 62 f und Praktika 1953, 81-87. "Amphion": Theodoros Spyropoulos, AAA 5, 1972, 16-22. ~ I 4 Anm. 25. Menidi: Paul Wolters JdI 14, 1899, 103-135; MMR 600-603. Korinth: Emily Vermeule, Aspects of Death in Early Greek Art and Poetry, 1979, Berkeley 206 f. ~ I 3 Anm. 130; 135, gegen MMR 584-615, GGR 378-383. 11. 1,272; 5,304; 12,383; 449; 20,287. Thuk. 3,70; [Arist.j mirab. 840a6; Diod. 5,79; allg. Farnelll921, 280-342. 11. 12,23; Hes. Erga 160; Fr. 204,100. Zum Problem, inwieweit Heroenkult bereits dem Iliasdichter bekannt ist, Pfister 1909/12, 541-544; Theodora Hadzisteliou Price, Historia 22, 1973, 129-144. Hes. Erga 156-173. Hes. fr. 1; fr. 204,95-119.
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4 Die Heroen
einzelner Gräber entspricht die Zurückdrängung des normalen Totenkults. Der Aufwand, von dem noch die spätgeometrischen Vasen zeugen, nimmt ab und wird dann von Gesetzes wegen eingeschränkt;14 an Stelle der Leichenspiele für adlige Herren treten die institutionalisierten Agone der Heiligtümer, zu Ehren eines dazu ernannten Heros. Damit sinkt die Bedeutung der einzelnen Familie zugunsten von Veranstaltungen, die alle an Ort und Stelle Anwesenden angehen. In der Tat ist der Heroenkult kein eigentlicher Ahnenkult; es geht um die wirksame Präsenz, nicht um die Kette des "Blutes" in den Generationen, auch wenn natürlich Stammväter heroische Ehren erhalten können. Wie seit etwa 700 das Polis-Heer, die Hopliten-Phalanx an Stelle der adligen Reiterei, bestimmend wird, so wird der Kult der gemeinsamen "Heroen des Landes" zum Ausdruck der Gruppen-Solidarität. Hand in Hand damit geht eine geistige Strukturierung wiederum unter dem Einfluss "Homers": eben jene radikale Trennung von Götter- und Todes-Bereich, von Olympischem und Chthonischem.15 Wer gestorben ist, ist kein Gott; wer in der Erde, im Grab wohnend verehrt wird, muss ein Mensch gewesen sein, freilich am ehesten ein Mensch jener größeren Vorzeit. Die Götter sind als exklusive Gruppe in einen idealen Olymp emporgehoben; was übrig blieb, fiel unter die Kategorie der "Halbgötter". Die Kontroverse der Religionswissenschaft, ob die Heroen als "ab gesunkene Götter" zu gelten haben l6 oder als reale, obschon kultisch verehrte Tote, ist also wohl mit einem Sowohl-aIs-Auch zu schlichten. Wenn Begriff und Kultform erst relativ spät, gegen Ende des 8. Jahrhunderts, im Kraftfeld von adligem Totenkult, Polis-Anspruch und Homerischem Epos fixiert worden sind, so schließt dies die Aufnahme sehr altertümlicher Traditionen in diesen Komplex nicht aus. Hinter einigen epischen Heroen stehen eindeutig mythische Gestalten. Die Verehrung des Achilleus als "Herrscher des Schwarzen Meeres" lässt sich nicht aus der Ilias ableiten, sondern aus seiner Beziehung zur Meeresgöttin Thetis;17 die "Alexandra", die in Amyklai ihren Kult hat,18 ist sicher erst sekundär mit der epischen Kassandra von Troia gleichgesetzt worden; Helena war in Sparta eine Göttin schlechthin. 19 Wir wissen durch Ausgrabungen, dass manches angebliche Heroengrab kein echtes Grab war, keine Leiche barg; so das Pelopion in Olympia,ZO das "Grab" des Pyrrhos in Delphi,21 das Mal des Erechtheus auf der Athener Akropolis. Hier handelt es sich um chthonische Kultstätten; sie 14 15 16
17 18 19 20 21
IV 1 Anm. 48. IV 3. Usener 1948, 252-273; 255: "daß alle Heroen, deren Geschichtlichkeit nicht nachweisbar oder wahrscheinlich ist, ursprünglich Götter waren"; ähnlich Pfister 1909/12, 377-397; vorolympische Daimones sieht Harrison 1927, 260-363 in den Heroen. Widerspruch: Foucart (---> Anm. 1) 1-15; FarnellI921, 280-285; vgl. Rohde 1157,170 ("Ahnenkult"); GGR 185 f. ---> III 2 Anm. 30. Paus. 3,19,6; Bull. Epigr. 1968 nr. 264; Lykophron, Alexandra; R. Stiglitz OeJh 40, 1953, 72-83. Bethe RE VII 2824-2826; Martin L. West, Immortal Helen, London 1975. Der Befund am Pelopion und seine Datierung war lange umstritten; siehe Kyrieleis 2006. Pind. Nem. 7, 40-48; HN 136. --->
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IV
TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
einem Gott zu geben, ließ die Exklusivität der Olympier nicht mehr zu. Im Lokalkult kann noch von Zeus Trophonios,22 ja von Zeus Agamemnon die Rede sein;23 im homerisierenden Mythos ist Trophonios ein schlauer, aber durchaus sterblicher Baumeister. In der "homerischen" Sprachregelung sind Heroen und Götter zwei getrennte Gruppen, auch wenn sie gegenüber den Menschen als die Stärkeren zusammengehören. Die Trennungswand besteht: Kein Gott ist Heros, kein Heros wird zum Gott; Dionysos und Herakles freilich können dieses Prinzip durchbrechen. 24 "Götter und Heroen" gemeinsam konstituieren die Sphäre des Sakralen. Bereits die Satzungen {thesmoi} Drakons gebieten ausdrücklich ihre Verehrung. 25 Man schwört bei "Göttern und Heroen",26 man betet zu ihnen. Die erste Spende im Symposion gilt den Göttern, die zweite den HeroenY "Nicht wir haben dies vollbracht, sondern die Götter und Heroen", konnte Themistokles nach dem Sieg von Salamis sagen. 28 Der Heroenkult, dem Totenkult entsprechend, ist der Götterverehrung als der "chthonische" Gegenpol zugeordnet, mit Schlachtopfern, Speisegaben, Libationen; nicht selten findet sich das Bereiten des "Bades"; Weinen und Klagen ist mehrfach bezeugt. 29 Hauptereignis freilich sind die kultischen Mahlzeiten der Lebenden im Bereich und zu Ehren des Heros. 30 dementsprechend stellt man den Heros gern als beim Mahl liegend dar. 3! In den Tetrapolis-Fasten wird jedem Heros seine Heroine zugeteilt. 32 In der Regel erhält der Heros einmal im Jahr am kalendarisch festgelegten Tag seine enagismata. Ein wesentlicher Unterschied zum Götterkult besteht darin, dass ein Heros ortsgebunden ist: Er wirkt im Umkreis seines Grabs für seine Familie, Gruppe oder Stadt. Durch räumliche Ferne wird die Beziehung zu den Heroen ausgelöscht; dagegen hat man bei der Neugründung von Messene 370 die alten Heroen wieder
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32
IG VII 3077; 3090; 3098; der Mythos: Telegonie p. 102,5 Bernabe, p.72,6 Davies; Kallim. Fr. 29; Charax FGrHist 103 F 5. --+ II 8 Anm. 56; IV 3 Anm. 23. Athenag. 1; Schol. Lyk. 1369. Amphiaraos gilt in Oropos als Gott, Paus. 1,34,2, Akademos heißt "Gott" Eupolis Fr. 36 KasseVAustin. Einzig im Kultlied der Elischen Frauen wird "Heros Dionysos" angerufen zu "kommen", Plut. q. Gr. 299AB = PMG 871 (duon statt thyon der Teubner-Ausgabe, danach PMG ist Druckfehler). --+ V 1 Anm. 77. Zu Herakles --+ IV 5.1. - theol heroes in der böotischen Inschrift IG VII 45,3 sind die Toten. Porph. abst. 4,22. Thuk. 2,74,2; 4,87,2; 5,30; SIG' 360; 527; 581. Kircher 1910, 17 f, 34-37. --+ II 2 Anm. 38. Hdt.8,109,3. GGR 187. - Singulär sind "heroische Ehren" für Dion in Syrakus zu Lebzeiten, Diod. 16,20,6; vgl. Reverdin 1945, 159,5. Ihre Bedeutung erkannte Nock (--;0 Anm. 1). Bei Votivterrakotten stellt sich das Problem, ob der Verehrer oder der Heros beim Mahl dargestellt ist; vgl. Helga Herdejürgen, Die Tarentinischen Terrakotten des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. im Antikenmuseum Basel, Basel 1971; Lucia Pirzio Biroli Stefanelli, Tabelle fittili tarantine relative al culto dei Dioscuri, Arch. Class. 29, 1971,310-398. IG II/III' 1358 = LSCG 20. - Der Heros Astrabakos macht sich zum Vater eines spartanischen Königs, Hdt. 6,69; Burkert 2007, 173-185.
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4 Die Heroen
"heraufgerufen".33 Stellt sich heraus, dass derselbe Heros an verschiedenen Orten verehrt wird, dass mehrere Gräber gezeigt werden, kann Streit entstehen um den besser beglaubigten Anspruch, den man am elegantesten durch die Annahme von Homonymen schlichtet. 34 Besser kümmert man sich nicht um die Nachbarn und hält am eigenen fest: Der Heroenkult ist ein Zentrum ortsgebundener Gruppen-Identität. Dabei ist die Schar der Heroen, wiederum im Gegensatz zu den Göttern, nie endgültig fixiert. Große Götter werden nicht mehr geboren, aber aus dem Heer der Toten können immer wieder neue Heroen hervorgehen, indem eine Familie, Gruppe oder Stadt einen entsprechenden Beschluss zu kultischer Ehrung fasst. In der hellenistischen Zeit wird die "Heroisierung" (apheroizein) eines Verstorbenen fast zur Routinej35 in der alten Zeit ist dies die große Ausnahme. In den neu angelegten Städten, den Kolonien, wird meist der Gründer zum "Gründer-Heros", Heros Ktistes, der oft auf dem Marktplatz bestattet ist. 36 Damit gibt es gerade im Neuland gleich ein Zentrum wenn nicht der Urzeit, so doch des glückhaften und verpflichtenden Anfangs. Argos hat im 6. Jahrhundert auf dem Marktplatz ein Monument der "Heroen in Theben" errichtet und sich diese sagenberühmten Gestalten damit zu eigen gemacht. Wenn Kleisthenes in Athen im Jahr 510 in einer überaus rationalen und radikalen Maßnahme die alten Geschlechterverbände zerschlug und zehn neue "Stämme", "Phylen", künstlich schuf, so musste doch jede Phyle nach einem Heros benannt sein, und zehn Heroa wurden auf dem Marktplatz angelegtY Dergleichen war kein bloßer Verwaltungsaktj der Gott in Delphi wurde angefragt, ob dies "besser und förderlicher" sei. Der gleichen Sanktion bedurfte es, wenn durch Translation von Reliquien ein Heroengrab verlegt wurde. So hat auf Grund eines Orakels Sparta in der Auseinandersetzung mit Tegea um die Mitte des 6. Jahrhunderts die Gebeine des Orestes nach Sparta gebracht - angeblich grub man einen sieben Ellen großen Sarg aus, fürwahr Zeugnis einer "größeren" Vorzeit 38 -, und im Zusammenhang mit der Eroberung von Skyros hat Kimon von Athen auf jener Insel das Grab des Theseus gesucht und gefunden: "einen Sarg einer großen Leiche und eine bronzene Lanzenspitze dabei und ein Schwert"j39 im Jahr 475 wurden die Gebeine feierlich nach Athen überführt und im Theseion unweit der Agora beigesetzt, zu Athens und Kimons eigenem Ruhm. 33 34 35 36
37
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Paus. 4,27,6. Pfister 1909/12, 218-238. Z.B. Thera 10 XII 3,864; Athen 10 II/IIr' 1326 ~ S103 1101 ~ LSCO 49,46, 176/5 v. Chr.; Rohde 1898, Il 358-362; Farnelll921, 366 f; RE VIII 1137 f. Battos von Kyrene Pind. Pyth. 5,95; Brasidas in Amphipolis, Thuk. 5,11; Hdt. 6,38; Rohde 1898, 1 175 f; Pfister 1909/12, 445 f; Farnelll921, 413-418; Roland Martin, Recherches sur ['agora grecque, Paris 1951, 194-200. VgL Claude Berard, Eretria III: L'Heroon a la porte de ['ouest, 1970. Argos, SEO 36, 283; Anne Pariente in: Marcel Pierart (Hrsg.), Polydipsion Argos, Athen 1992, 195-225; dazu die "Sieben" als Monument der Argiver in Delphi, Paus. 10,10,3. Athen: Richard E. Wycherley, The Athenian Agora III, Princeton 1957, 85-90; Parke/Wormell 1956, Il nr. 80; Uta Kron, Die zehn attischen Phylenheroen, Berlin 1976 (AM 91 Beih. 5). Hdt. 1,68. Arist. Fr. 611,1; Plut. Thes. 36; Kim. 8; Herter RE Suppt. XIII 1224.
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IV
TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
Hinter und neben solch organisierten Maßnahmen stehen immer wieder spontane Manifestationen von Heroen, die Einzelne zu erleben glauben; der Kult gilt als Antwort darauf, dass der Heros seine Macht bewiesen hat. Ein Heros kann einem Menschen leibhaft "entgegenkommen",4o was erschreckend und gefährlich ist - hier mündet reiner Gespensterglaube in den Heroenkult ein; die Schlange, das Schrecktier, kann auch als Erscheinung eines Heros aufgefasst werden;41 oft spürt man nur die indirekte Wirkung: wenn die Erde keine Frucht trägt, Seuchen über Mensch und Vieh kommen, keine gesunden Kinder geboren werden, Streit und Zwietracht herrschen, kann dies vom Zorn (menima) eines mächtigen Toten herrühren, den es "milde" zu stimmen gilt. Hier ist der Rat der Seher und Orakel vonnöten; nicht selten begnügt man sich auch damit, einen anonymen Heros zu verehrenY Umgekehrt erhofft man vom kultisch "besänftigten" Heros alles Gute, Fruchtbarkeit der Felder, Heilungen, mantische Weisungen. Vor allem sind die Heroen Helfer im Kampf für ihren Stamm, ihre Stadt, ihr Land.43 Im Glauben an die übermächtigen Kampfeshelfer ist besonders die Gestalt des Großen Aias und seines Bruders verwurzelt. In der homerischen Dichtung sind die "Aianten" differenziert als zwei gleichnamige Heroen mit unterschiedlichem Stammbaum und Charakter: Aias der Telamonier ist fast identisch mit dem großen, bergenden Turmschild; Aias der Lokrer, den das Epos als widergöttlichen Frevler gestaltet hat, ist nichtsdestoweniger der verlässliche Kampfhelfer seiner Lokrer: Man lässt für ihn eine Lücke in der Phalanx, und wehe dem Feind, der da durchbrechen wollte. 44 Vor der Schlacht bei Salamis riefen die Athener Aias und Telamon von Salamis zu Hilfe und schickten ein Schiff nach Aigina, Aiakos und die Aiakiden zu holen; man errichtete auf dem Schiff eine Kline, den unsichtbaren Heroen zum Lager. 45 Polygnots Bild der Schlacht bei Marathon46 zeigte den Heros Marathon selbst und Theseus, den Urkönig, wie er aus der Erde emporstieg, den Seinen zu helfen. Ein blinder Kriegsinvalide erzählte jedem, der es hören wollte, wie er in der Schlacht einen gewappneten Kämpfer erblickte, dessen Bart den ganzen Schild überschattete und der jählings seinen Nebenmann erschlugdies war das letzte, was er sah.47 Als ein Perserkontingent kurz vor Delphi umkehrte, wodurch das Heiligtum überraschenderweise der Plünderung entging, erzählte man, zwei Heroen, der "Wächter" und der "Selbstbedachte", Phylakos und Autonoos, hätten die Feinde vertrieben, und man zeigte die Felsbrocken, die sie von den Parnassflan40 41 42 43 44 45 46 47
ephodoi Hippokr. morb. sacr. VI 362 Littre; vg!. Eur. Ion 1049. Der Abergläubische errichtet, wo ihm eine "heilige" Schlange erschien, ein Heroon, Theophr. char. 16,4; Bilddarstellungen z.B. Harrison 1922,325-331. -i> IV 2 Anm. 3. Rohde 1898, I 173 f; GGR 188; Herrmann 1959, 61 f (Olympia); IE 349. Rohde 1898, I 195 f; Pfister 1909/12,512 fund RE Supp!. IV 293 f; GGR 715 f; Petervon der Mühll, Der Große Aias, 1930. Legenden von der Sagras-Schlacht, Konon FGrHist 26 F 1,18; Paus. 3,19,12. Mauricio Giangiulio, Ricerche su Crotone arcaica, Pisa 1969, 69; 91. Hdt. 8,64; Plut. Them. 15; vg!. Hdt. 5,80 f; Diod. 8,32 (Iustin 20,2). Paus. 1,15,3. Hdt.6,117.
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4 Die Heroen
ken aus gegen die Eindringlinge gerollt hatten.48 Oedipus auf Kolonos kündet bei Sophokles an, sein geheimes Grab werde mehr wert sein als viele Schilde und Söldner, es werde Athen vor Verwüstung schützen, während sein unversöhnlicher Zorn den Thebanern gilt.49 Die Götter sind fern, die Heroen sind nah. Oft hat man den Heroenkult mit dem christlichen Heiligenkult verglichen; und dass hier zur strukturellen Verwandtschaft unmittelbare Kontinuität kommt, ist nicht zu bezweifeln. Allerdings bedürfen die Heroen keineswegs eines heiligenmäßigen Lebenswandels. Verdienst allein macht noch keinen Heros; dass die im Krieg Gefallenen heroische Ehren erhalten, ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. 50 Göttliche Abkunft ist durchaus keine notwendige Vorbedingung, so gewiss Göttersöhne meist als Heroen gelten. Selbst ein Verbrecher, der ein spektakuläres Ende gefunden hat, kann zum Heros werden,51 ein Landesfeind kann nach seinem Tod als Heros zum Helfer und Schützer werdenY Es gibt aber auch Heroen, die in fortdauerndem Groll Unheil anrichten, bis es gelingt, mit ihnen fertig zu werden, wie jener Heros von Temesa, dem alljährlich das schönste Mädchen zur Defloration zugeführt werden musste, bis der Athlet Euthymos sich als der noch Stärkere erwiesY Das Außerordentliche macht den Heros; etwas Unberechenbares und Unheimliches bleibt daher. Schweigend geht man an einem Heroon vorbei. 54 Aristophanes lässt in einer danach betitelten Komödie die Heroes als Chor auftreten; sie kommen an die Oberwelt, um nach dem Rechten zu sehen: "Hütet euch, ihr Menschen, und verehrt die Heroen, denn wir sind die Verwalter des Üblen und des Guten, wir schauen hinauf auf die Ungerechten, die Diebe und Räuber" - und dann folgt ein groteskes Verzeichnis der Krankheiten von der Krätze bis zum Wahnsinn, die die Heroen den Übeltätern an den Hals bringen. 55 Dabei stellt man sich die Heroen in der Regel nicht alt, grau und hässlich vor, sondern in der Vollkraft und ,,vollendung" der Jugend; auch Kinder-Heroen kommen vor, wie Palaimon am Isthmos, Archemoros in Nemea,56 wie denn seit hellenistischer Zeit öfters gerade frühverstorbene Kinder heroisiert werden. Die heranwachsende Jugend, die Epheben, werden zum Heroenkult angehalten. Die Gymnasien haben je 48 49 50
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Hdt. 8,37 f. Soph. O. K. 1524-1533. Helden von Marathon, Paus. 1,32,4; von Plataiai, Plut. Aristeid. 21; späte Erneuerung einer Grabschrift für die "Heroen" der Perserkriege bei Megara, IG VII 53 = Simonides Fr. 96 Diehl. Platon will grundsätzlich die Kriegsgefallenen zu daimones erheben, --+ III 2 Anm. 153; VII 3 Anm. 115. Kleomedes von Astypalaia, Paus. 6,9,6 f; Rohde 1898, I 178 f. Kimon in Kition, Plut. Kim. 19,5; Eurystheus in Athen, Eur. Heraklid. 1024-1043. Paus. 6,6,4-11. Vgl. die Fesselung des Aktaion in effigie, Paus. 9,38,5. Epicharm Fr. 163 KasseVAustin = Hsch., Phot. kreissonas; zu gefährlichen Heroen Chamaileon Fr. 9 Wehrli; Schol. Aristoph. Av. 1490; Rohde 1898, I 190 f. Aristoph. Fr. 322 KasseVAustin; Reinhold Merkelbach, Die Heroen als Geber des Guten und Bösen, ZPE I, 1967,97-99. Isthmos --+ III 1 Anm. 127; Nemea: Eur. Hypsipyle; RE VIII 1118 f.
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ihren Heros, in Athen etwa Hekademos an der Akademie,57 einen Lykos am Lykeion, Herakles am Kynosarges-Gymnasium. Besonders großartig lässt man die Epheben das Aias-Fest auf Salamis begehen. 58 So kann man die nachwachsende Generation an die Welt der Toten und die von ihnen ausgehende verpflichtende Tradition binden.
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Die alte Horos-Inschrift BCH 92, 1968, 733 ~ IG P 1091; vgL Diog. Laert. 3,7; ]oseph Fontenrose, The Hero as athlete, Calif. Stud. Class. Antiq. 1, 1968,73-104. AF 228.
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5 Chthonisch-Olympische Doppelwesen
5.1 Herakles Einige Gestalten des Kultus und Mythos, die besonders als mächtige Helfer angerufen werden, reichen ebenso in den heroisch-chthonischen wie in den göttlichen Bereich und beziehen eben von daher ihre Dynamik: Sie durchdringen Unten und Oben, Nähe und Fernej sie gehen dem Tod nicht aus dem Weg. Der populärste unter ihnen ist Herakles.! Herakles, der gewaltigste Sohn des Zeus, der stets den "schönen Sieg" sein eigen nennen kann, ist der größte der griechischen Heroen und doch durchaus untypisch: Es gibt kein Grab des Herakles, es gibt keinen maßgebenden Dichtertext. Wie Geschichten von ihm allbekannt sind, ist auch sein Kult in der ganzen griechischen Welt verbreitet und weit darüber hinaus. Herakles ist Heros und Gott zugleich, heros theos, wie Pindar sagtj2 im selben Fest wurde ihm erst wie einem Heros, dann wie einem Gott geopfert. 3 Die Heraklesgestalt ist zunächst geprägt von einem Konglomerat volkstümlicher Erzählungen, in das die hohe Dichtung nur sekundär eingegriffen hat. Wohl aber haben sich später Dichter mit dem Phänomen Herakles auseinandergesetzt, wobei der Mythos in eine heroisch-tragische, humane Atmosphäre einbezogen wird,4 im Widerstreit zu seiner eigentlichen Tendenz, die unbekümmert über das Humane hinausweist. Denn Herakles hat es zunächst und vor allem mit Tieren zu tun: Er tötet die gefährlichsten Tiere, den Löwen und die Schlange, und er fängt die anderen, die essbaren Tiere ein, um sie den Menschen zu bringen: Er erjagt die windschnelle Hirschkuh, er schleppt das Wildschwein herbei, er raubt dem Thraker Diomedes die menschenfressenden Pferde und holt von der "Roten" Insel Erytheia, jenseits des Okeanos, eine ganze Rinderherde, die der dreiköpfige "Brüller" Geryoneus besaßj er reinigt den
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PR II 422-675; Furtwängler, RML I 2135-2252; Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles 1', Berlin 1895 (~ ll, 1959) 1-107; Gruppe, RE Supp!. III, 1918,910-1121; Farnell 1921, 95-174; Bernhard Schweitzer, Herakles, Tübingen 1922; Frank Brommer, HerakIes, Die zwölf Taten des Helden in antiker Kunst und Literatur, Darmstadt '1972; F. Prinz, RE Supp!. XIV 1974, 137196; John Boardman, LIMC IV/V s.v. Herakles; Corinne Bonnet/Franz Cumont (Hrsg.), Heraeies d'une rive a l'autre de la Mediterranee, Brüssel 1992; Corinne Bonnet (Hrsg.), Le Bestiaire d'Heracles, Liege 1998; Emma Stafford, Herakles, London 2006. Pind. Nem. 3,22. Hdt. 2,44; LSCG 151 C 8-15; Paus. 2,10,1; Pfister 1909/12, 466 f; zum Herakles-Heiligtum von Thasos Marcel Launey, Etudes Thasiennes I, Paris 1944, 126 ff; dagegen Bergquist 1973, und in: Hägg 1998,57-72. Zu nennen ist die epische Oichalias Hdlosis, p. 157-164 Bernabe; West, Greek Epic Fragments (Loeb) 172-177; Burkert 2001, 138-149; Stesichoros, Geryoneis, S7-S87, p. 154-175 Davies; Sophokles, Trachinierinnen; Euripides, Herakles.
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Stall der Sonnenrinder, um vom Sonnensohn Augeias ein Zehntel seiner Herden zu gewinnen; er fängt auch die Vögel von Stymphalos. Orientalische Motive sind in diesen Komplex eingegangen. Ob die Griechen der Frühzeit je eine Chance hatten, lebende Löwen zu sehen, steht dahin, während die Wanderung des Löwenbildes, auch des Löwenkampfbildes, archäologisch gut dokumentiert ist. 5 Die "Schlange mit den sieben Köpfen", die ein Gott erschlug, ist ugaritischer wie alttestamentlicher Mythologie vertraut und erscheint zuvor schon auf sumerischen Siegelbildern. 6 Überhaupt gibt es auf Rollsiegelbildern des 3. Jahrtausends einen Helden mit Löwenhaut, Bogen und Keule, der Ungeheuer überwindet, Löwen, Drachen, Raubvogel; man identifiziert ihn als Ninurta oder Ningirsu, Sohn des Sturmgottes Enlil.7 Der Kern des Herakles-Komplexes dürfte indes noch wesentlich älter sein: Das Herbeiführen der essbaren Tiere weist bis in die Jägerkultur zurück, und die Beziehung zum Jenseits mit Sonnenrindern, roter Insel, Menschenfressern gehört wohl zu schamanistischem Jagdzauber, mit dem auch die jungpaläolithischen Höhlenmalereien zusammenzuhängen scheinen. 8 Schamanenleistung ist es, zum Land der Toten und der Götter zu gelangen: Herakles holt den Hades-Hund Kerberos aus der Unterwelt, wenn auch nur für kurze Zeit, und er gewinnt die goldenen Äpfel vom Göttergarten im fernen Westen, die sich als Frucht der Unsterblichkeit deuten lassen. Kämpfe mit Fabelwesen an der Grenze des Menschlichen schließen sich an, mit Kentauren einerseits, Amazonen andererseits; hier konkurriert Herakles mit Theseus, wie auch bei der Bändigung des Stiers. Indem dann Herakles in den Bereich des heroischen Epos gezogen wurde, wuchsen ihm heroischere Taten zu: Herakles hat bereits einmal Troia erobert und auch andere Stämme und Städte besiegt, besonders Oichalia. Um 700, mit dem Einsetzen unserer Dokumentation, ist all dies bereits bekannt und populär: Die Ilias nennt Kerberosabenteuer und Troiafahrt,9 zu den frühesten griechischen Sagenbildern überhaupt gehören die Abenteuer mit Löwen, Hydra, Hirschkuh, Vögeln, Kentauren und Amazonen.\O Die Etablierung eines festen Zyklus von zwölf Kämpfen (athla) schreibt die Überlieferung dem epischen Gedicht 5 6
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Ältestes griechisches Löwenkampfbild: Schefold 1964, T. 5a, LIMC V s.v. Herakles nt. 1907, um 720; Bezug auf Herakles unsicher; dann, nach 650, nt. 1912; 1850; 1776. KTU 1,5 (Baal 5), I 1-3, ANET 138, Johannes C. de Moor, An Anthology of Religious Texts from Ugarit, Leiden 1987,69 f; fast wörtlich übereinstimmend AT Jes. 27,1; Burkert 2003b, 48-72. Siegel: JHS 54,1934, 40; T.2,1. Gertrude R. Levy JHS 54, 1934,40-53; Henty Frankfort, Cylinder Seals, London 1939, 121 f; Burkert 2003b, 52-58. Clara Gallini, Animali e al di I", SMSR 20, 1959, 65-81; S&H 83-94. Il. 8,365-369; 20,144-148; 5,638-642. Löwe --> Anm. 5; Hydra: 2 Fibeln, um 700, Schefold 1964, T. 6a, LIMC V s.v. Herakles nt. 2019; 2020; Hirschkuh: Roland Hampe, Frühe griechische Sagenbilder aus Böotien, Athen 1936, 42-44; LIMC V s.v. Herakles nt. 2174-2240; vgl. Meuli 1975, 797-813; Vögel: Schefold T. 5b; LIMC V s.v. Herakles nt. 2241-2283; Kentaur: Schefold T. 6c; Amazone: Schefold T. 6b; LIMC V s.v. Herakles nt. 2455-2461.
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eines Peisandros von Rhodos zu, das vielleicht um 600 anzusetzen istY Der ikonographische Typ des Herakles in der Löwenhaut, die wie eine Kapuze über den Kopf gezogen ist, erscheint etwas früherP Besonders eigentümlich ist der Tod des Herakles: Seine Gattin Deianeira, "die Männer bekämpfende", schickt ihm aus Eifersucht ein vergiftetes Gewand, das ihn verbrennt oder vielmehr, wie es die Erzählung auseinanderlegt, ihn durch heillose Qual dazu veranlasst, sich selbst auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Diese Geschichte ist den Hesiodeischen Katalogen im Detail bekannt;13 dabei wurden die Verse, die hier und in der Odyssee von der Vergottung des Herakles sprechen, von antiken Kritikern als Interpolation des Onomakritos ausgeschieden,l4 weil die Ilias Herakles anscheinend schlicht sterben lässtY Der Mythos, der Herakles' Ende am Oita-Gebirge unweit Trachis lokalisiert, nimmt jedenfalls Bezug auf eine reale Kultstätte, die ausgegraben ist; dort feierte man alle vier Jahre ein Feuerfest mit Rinderopfern und Agonen. l6 Durch die Flammen geht Herakles zu den Göttern ein; Bilder zeigen ihn über dem Scheiterhaufen gen Himmel fahrenP Der Komplex von Feuertod und Vergottung erinnert an Orientalisches, wenn auch rätselhaft ist, wie dies sich mit dem Höhenfeuer am Oita verbunden hat. In Tarsos in Kilikien wird einem Gott jährlich ein Scheiterhaufen bereitet, der griechisch Herakles, einheimisch Sandes oder Sandon heißt; der Name steht in altanatolischer Tradition. lB Die hethitischen Könige wurden durch aufwendige Feuerbestattung "zum Gott gemacht".l9 Bemerkenswert ist ein Zusatz zum sumerischen Bi/games and the Netherworld: "Did you see the man who was burnt to death? - His ghost is not there, his smoke went up to the heavens."2o. 11
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Peisandros Fr.l Bernabe, Fr.l Davies, bei Strab. 15,1,9 p. 688; vgl. Stesichoros PMG 229; George L. Huxley, Greek Epic Poetry from Eumelos to Panyassis, Cambridge 1969, 100-105. Nach PR II 435439 verficht Brommer (- Anm. 1) 53-63, 82 die These, dass der Dodekathlos erst im 5. Jahrhundert entstanden sei. Die Verbindung mit dem Tierkreis (RE Supp!. III 1104) ist sekundär. Furtwängler, RML I 2143-2148: Boardman, LIMC V p. 185; älteste Darstellungen protokorinthisch (650/600): JHS 71, 1951, p!. 29 cf. p. 65; AJA 60, 1956, p!. 69, 9/10 ~ LIMC VIII (S) s.v. Kentauroi and Kentaurides nr. 236. Hes. Fr. 25,20-33 - ein Text, den Franz Stoessl, Der Tod der Herakles, Zürich 1945, erst teilweise kannte; dann Bacch. 16: Soph. Trach. Schol. Od. 11,601; Obeloi im Papyrustext bei Hes. Fr. 25,26-33 und Fr. 129,47-50. - IV 2 Anm. 40. 11. 18,117-119. ---i> II 1 Anm. 71. Pelike München 2360, ARV' 1186,30; Cook 1940, III 514, vg!. 513 und 516: LIMC V s.v. Herakles nr.2916. Dion or. 33,47; Berossos FGrHist 680 F 12; Münzen: JHS 54, 1934,52; Peter R. Franke, Kleinasien zur Römerzeit, München 1968, nr. 376; Helmuth Th. Bossert, Santas und Kupapa, Leipzig 1932; Hetty Goldman, Hesperia Supp!. 8, 1949, 164-174; Thomas J. Dunbabin, The Greeks and their Eastern Neighbours, London 1957, 52 f. Seit Herodot (2,44) steht die Gleichsetzung des Herakles mit dem phönikischen Melqart außer Frage; die Melqart-Säulen im Tempel von Gadeira-Cadiz wurden "Säulen des Herakles". Heinrich Otten, Hethitische Totenrituale, Berlin 1958; Alexei Kassian et al., Hittite Funerary Ritual sallis wastais_, Münster 2000. - IV 1 Anm. 4/5. Gilgamesh hrsg. v. George p. 776.
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Das Bild des immer starken, nie überwundenen, auch sexuell überaus potenten Helden scheint, gleich manchen Märchenmotiven, von Wunscherfüllungs-Phantasie bestimmt. Doch gehört dazu, neben dem schrecklichen oder immerhin ambivalenten Ende, auch die Antithese: Der strahlende Held ist zugleich Knecht und Weib und Wahnsinniger. Der Sohn des Zeus ist kein "zeusgeehrter König", sondern von Anfang an Eurystheus, dem König von Mykene, untertan; noch über Eurystheus steht Hera, die Göttin der Argolis. Herakles scheint Heras Namen in dem seinen zu tragen, als sei "Hera sein Ruhm",21 und doch wird stets nur ausgemalt, wie die eifersüchtige Gemahlin des Zeus den Stiefsohn mit unerbittlichem Hass von der Geburt bis ans Ende verfolgt. Dass der Namensanklang durch Zufall zustande kam, ist nicht ausgeschlossen; da er aber von den Griechen nie überhört wurde, blieb für sie das Paradoxon bestehen. In Kos opferte dem Herakles ein Priester in Frauenkleidung, und man erzählte, Herakles selbst habe sich in solcher Kleidung versteckt. 22 Bekannt war auch seine Knechtschaft bei der lydischen Königin Omphale, im Mythos durch eine Blutschuld motiviert, wobei die Rollen getauscht werden: Omphale schwingt die Doppelaxt, Herakles arbeitet am Spinnrocken. 23 Dass Herakles im Wahnsinn in Theben Frau und Kinder erschlug und verbrannte, steht in Verbindung mit einem nächtlichen Feuerfest, das den "Söhnen des Starken", den Alkiden, galt; die Deutung auf Herakles hat sich widerspruchslos durchgesetzt. 24 Das Extrem scheint umzuschlagen ins Gegenteil, Ohnmacht und Selbstzerstörung, um sich selbst dann doch neu zu bestätigen. Herakleskulte sind fast in der ganzen griechischen Welt verbreitet - nur Kreta fällt aus der Reihe. 25 Ein altes und wichtiges Heiligtum bestand auf er Insel Thasos. 26 Heraklesfeste sind weniger Polis-Feste als Veranstaltungen einzelner Kultgenossenschaften; dementsprechend gibt es etwa in Attika eine ganze Reihe von kleineren und größeren Herakles-Heiligtümern. 27 Zu Gymnasien und Epheben passt Herakles besonders gut,2s haftet doch dem Herumziehenden, Kämpfenden, nirgends fest Etablierten stets etwas Jungenhaftes an. Hauptmerkmal der Heraklesfeiern sind gewal21
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Auffallend ist dabei das kurze a im Namen. Mit mythengeschichtlicher Umdeutung rechnet Pötscher, Emerita 39, 1971, 169-184; haltlos RE Supp!. XIV 159-162; den Zusammenhang mit Hera bestritt Hermann Usener, Sintflutsagen, Bonn 1899, 58; an Eragal ~ Nergal erinnert Manfred Schretter, Alter Orient und Hellas, Innsbruck 1974, 170 f; freilich scheint Nergal in Tarsos (mit Löwe, Bogen, Keule: WM I 110; AK Beih. 9, 1972, 78-80) nicht mit Sandon identisch zu sein. Plut. q.Gr. 304C; GF 451 f. PR 1I 589-594. Mit Labraunda verbunden, Plut. q.Gr. 301E; vg!. Hans Herter, Kleine Schriften, München 1975, 544 f. Il 1 Anm. 72. Daher hat, nach den Argumenten von Farnelll921, 95-145, Wilamowitz seine These von Herakles dem Dorier zurückgenommen, GdH Il 20. Bergquist 1973. Eur. Herc. 1328-1335; AF 226 f, vg!. GF 445-452; Susan Woodford, Cults of Heracles in Attica, Studies pres. to George M. A. Hanfmann, Mainz 1971, 211-225. Jean Delorme, Gymnasion, 1960, 339 f; Haaropfer: Ath. 494 f; Phot. Hsch. oinisteria. --;0
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tige Fleischmahlzeiten. Im Kynosarges-Gymnasium hat Herakles vornehme Athener als "Mitesser", parasitoi, wenn ihm der Tisch gedeckt wird. 29 Man bildet daher Herakles als Opferer ab,30 nennt ihn als Gründer von Altären, stellt ihn sich selbst als gewaltigen Fresser vor;31 so hat ihn vor allem die Komödie auf die Bühne gebracht. Man fühlt sich mit Herakles vertraut. Über den Kult hinaus ist er der allgegenwärtige Helfer, den man bei jeder Gelegenheit anruft. Man schreibt über das Haus: "der Zeussohn, der schönsiegende Herakles wohnt hier. Nichts Böses soll hereingehen".32 Er ist der Abwehrer des Bösen, Alexikakos schlechthin. Man stellt Herakles-Bilder als Amulette her, wobei wiederum Orientalisches und Griechisches ineinander laufen. 33 Von der unerhörten Popularität des Herakles zeugen auch die Vasenbilder, die vor allem den Löwenkampf vielhundertfach wiederholen. 34 Früh ist er auch in den etruskischen und römischen Mythos und Kult eingegangen;35 so war dem Römer der Ruf meherde so geläufig wie dem Griechen Herakleis. Höchsten sozialen Rang gewann Herakles dadurch, dass die Könige der Dorier ihn zum Stammvater gemacht haben. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine fiktive Legitimierung der dorischen Einwanderung in die Peloponnes: Der eponyme Heros der einen dorischen Phyle, Hyllos, wurde zum Sohn des in der Argolis beheimateten Herakles. 36 Während das dorische Königtum in Argos bald unterging, bewahrten die Könige in Sparta um so sorgsamer die genealogische Tradition; und als Könige gleichen Rangs wurden auch die der Lyder und dann die der Makedonen zu Herakliden. 37 Auf den Stammvater der Königshäuser ist bereits in archaischer Zeit die ägyptische Königslegende übertragen worden, wie der höchste Gott, begleitet von seinem Diener, dem Götterboten, die Gestalt des Königs annahm, um der Königin beizuwohnen und den künftigen Herrscher zu zeugen, jene Geschichte, die dann als Amphitryon-Komödie in die Weltliteratur eingegangen ist. 38 Als geistige Gestalt konnte Herakles später vor allem in zweifacher Weise wirken: zum einen als Vorbild des Herrschers,39 der kraft göttlicher Legitimation unwiderstehlich zum Wohl des Menschengeschlechts tätig ist und sein Ziel bei den Göttern findet; so prägt Alexander Herakles auf seine Münzen; zum andern als Vorbild auch 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Lex sacra bei Polemon, Ath. 234e. Z.B. Kylix Berlin 3232, ARY' 117,2 - LIMC s.v. Herakles nr. 1342, vgl. ARY' 225,3; 472,210. Zu Mythos und Opfer auf Lindos Burkert, ZRGG 22,1970,364 f. Kaibell138; Otto Weinreich, ARW 18, 1915,8-18; P. Orlandini Kokalos 14-15, 1968/9,330 f. Diod. 5,64,7; 3,74; Cristiano Grottanelli, Oriens antiquus 11, 1972,201-208, zu Bes und "Herakles dem Daktylen"; vgl. Furtwängler, RML 12143-2145. LIMC Y s.v. Herakles nr. 1762-1989. Jean Bayet, Herde, Paris 1926; -, Les origines de I'Hercule romain, Paris 1926. Ygl. auch Desborough 1964, 246 f; in welchem Sinn die "Dorische Wanderung" historisch ist, ist allerdings besonders umstritten. ---;. I 4 Anm. 8. Lyder: Burkert 2001,229-231. -- Anm. 23; Makedonen: Hdt. 8,137. Amphitryon erscheint schon Il. 5,392; Od. 11,266-8; dann Hes. Aspis; vgl. Burkert 2007, 175-177. Wilhe1m Derichs, Herakles, Yorbild des Herrschers, Diss. Köln 1950; Ulrich Huttner, Die politische Rolle der Heraklesgestalt im griechischen Herrschertum, Stuttgart 1997.
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für den gewöhnlichen Menschen, der hoffen kann, nach einem Leben der Plage und eben dadurch zu den Göttern eingehen zu können. Herakles hat den Schrecken des Todes gebrochen; dass ihm die Weihe in Eleusis wider die Gefahren der Unterwelt geholfen hat, erzählte man schon im 5. Jahrhundert; doch die Dynamik des Herakles lässt selbst Eleusis hinter sich. Hier war das Göttliche in Menschengestalt nah, nicht als apollinisches Gegenbild, sondern als mitreißendes Vorbild.40 In Herakles lag die Potenz, die Grenzen der griechischen Religion zu sprengen.
5.2 Die Dioskuren Zu den einprägsamsten Gestalten der griechischen Mythologie gehören die göttlichen Zwillinge Kastor und Polydeukes - lateinisch Pollux -, die Brüder der Helena, die "Jünglinge des Zeus", Dias kouroiY Ihre Verehrung entstammt offenbar indogermanischem Erbe, wie vor allem die lichten "pferdebesitzenden" Brüder, Acvin, in vedischer Mythologie beweisenY Doch ist die spartanische Benennung als Tindaridai - in Inschriften - oder Tyndaridai - in literarischen Texten - rätselhaft;43 der Mythos hat einen Ziehvater Tyndareos dazu erfunden. In dem häufigen Darstellungstyp "Dioskuren im Dienst einer Göttin"44 verschmelzen die Dioskuren mit den Repräsentanten des Männerbundes, der die anatolische Große Göttin umgibt. So zweifeln denn auch mehr als einmal antike Deuter, ob lokale "Schutzherren", Anak(t)es oder "Große Götter" nun als Kureten, Kabiren oder Dioskuren zu identifizieren seien; eng sind auch die Beziehungen zu den Göttern von Samothrake.45 In der Tat sind die Dioskuren weithin Spiegelbild der waffenfähigen Jungmannschaft: Sie sind Erfinder der Waffentänze,46 sie sind kriegerische Reiter, die auf Abenteuer wie Rinderdiebstahl und Brautraub ausziehen, sie sind aber auch die Retter der Schwester. In besonderer Weise ist das Doppelkönigtum Spartas mit den Dioskuren
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Friedrich Pfister, Herakles und Christus, ARW 34, 1937, 42-60; Carl Schneider, Herakles der Todüberwinder, Wiss. Zeitschr. d. Universität Leipzig 7, 1957/8, 661-666; Josef Fink, Herakles, Held und Heiland, A&A 9, 1960, 73-87. PR II 306-30; Samson Eitrem, Die göttlichen Zwillinge bei den Griechen, Oslo 1902; Bethe, RE V 1087-1123; Farnell1921, 175-228; GGR 406-411. L. Myriantheus, Acvins oder arische Dioskuren, München 1876; James R. Harris, The cult of the Heavenly Twins, Cambridge 1906; Hermann Güntert, Der arische Weltkönig und Heiland, Halle 1923,260-76; DonaldJ. Ward, The Divine Twins, Berkeley 1968; Martin L. West, Immortal Helen, London 1975; West 2007, 186-191. -+ I 2 Anm. 11. Tindaridai IG VI, 305; 919; 937; zum Namen Polydeukes Chantraine 1968/80,633. Fernabd Chapouthier, Les Dioscures au service d'une deesse, Paris 1935. Paus. 10,38,7. Fest ist die Identifizierung der Anakes mit den Dioskuren in Athen; Bengt Hemberg, Anax, dnassa und dnakes als Götternamen, Uppsala 1955. Zu Samothrake -+ VI 1.3. Epicharm Fr. 92 Kassel/Austin; Plat. Leg. 796b; Messenier als Dioskuren verkleidet: Paus. 4,27,1 f; vgl. Norbert Wagner, Zeitschr. f. deutsche Philologie 79, 1960, 1-17; 225-247.
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verbunden: Man ruft beim Auszug zum Kampf die Tyndariden; bleibt ein König zu Hause, so auch der eine der Tyndariden;47 so bleibt die reale Ordnung im Göttlichen gespiegelt. Fast Doppelgänger sind die Thebanischen Zwillinge Zethos und Amphion, Zeussöhne und Reiter auch sie, genannt "die weißen Pferde des Zeus"48 oder "die mit den weißen Pferden" (leukop61o). Sie haben im Mythos nicht die Schwester, sondern die Mutter gerettet und die böse Königin Dirke von einem Stier zu Tode schleifen lassen. Das Grab der Dirke war in Theben nur dem Anführer der Reiterei, dem Hipparchos bekannt; trat er vom Amt zurück, führte er seinen Nachfolger zur Nachtzeit an diesen Ort, beide brachten dort feuerlose Opfer dar und schütteten die Spuren noch vor Morgengrauen wieder ZU.49 SO garantierten die beiden Reiterführer die Kontinuität der Herrschaft, indem sie sich in geheimem Bund zusammenschließen nach dem Vorbild der weißen Reiter-Zwillinge, die Theben gegründet haben. Die Dioskuren Kastor und Polydeukes sind laut Mythos in Sparta beheimatet. Sie wachsen mit Helena im Haus des Königs Tyndareos heran; sie holen die Schwester, als Theseus sie raubt, aus Aphidna in Attika zurück;50 als die Reiter mit "weißen Pferden"51 rauben sie ihrerseits zwei entsprechende Schwestern, die "Leukippiden" Phoibe und Hilaeira. Hieran oder an einen Rinderraub schließt der Kampf mit einem kontrastierenden Brüderpaar, Idas und Lynkeus, die anscheinend "Wald" und "Luchs" im Namen führen und ins feindliche Messenien versetzt werden. Dabei fällt Kastor, der sterblich ist im Gegensatz zu seinem unsterblichen Bruder; und doch bleiben die Zwillinge ungetrennt. Dieses Paradoxon eines "Lebens", in dem Unsterblichkeit und Tod keine Gegensätze mehr sind, wird variierend umschrieben. "Lebend hält sie die getreidespendende Erde", heißt es in der Odyssee; "bald sind sie lebendig, einen Tag um den anderen, bald sind sie tot"Y Alkman scheint von ihrem zaubrisehen Schlaf, koma, im Heiligtum Therapne bei Sparta gesprochen zu haben. 53 Pindar lässt sie jeden zweiten Tag in Therapne, den anderen jeweils bei ihrem Vater Zeus im Olympos weilen. 54 Der spartanische Dioskurenkult steht im Zusammenhang mit Kriegerbund und Initiationen, zu denen auch die Todesbegegnung gehört. Auch Phoibe und Hilaeira haben ihr Heiligtum, ihre Priesterinnen heißen direkt "Leukippiden"; die Epheben bringen der Phoiba vor ihrem rituellen Kampf im "Platanistas"55 ein nächtliches Hun47 48 49 50 51 52 53 54 55
Hdt. 5,75,2; Ernst Meyer, RhM 41, 1886,578; Andreas Alföldi, Die Struktur des vor-etruskischen Römerstaates, Heidelberg 1974, 151-180. Eur. Antiope Fr. 223,127; Pind. Pyth. 1,66. PR II 114-127; HN 207-210. ---+ IV 4 Anm. 5. Plut. Gen.Socr. 578B. PR II 699-703; Lilly Kahil, Les enlevements et le retour d'Helene, Paris 1955. ---+ Anm. 48. Od. 11,301; 302 f; Kypria 11 Bethe ~ 8 Bernabe ~ 6 Davies; schlicht von ihrem Tod scheint 11. 3,243 f zu sprechen. PMG 7 ~ Fr. 19 Calame. Pind. Pyth. 11,61-64; vg1. Nem. 10,49-91. Paus. 3,16,1; 3,14,8 f; Wide 326-32.
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IY
TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
deopfer dar. Das seltsame Symbol der "Balken", dokana, das in Sparta die Dioskuren repräsentiert - zwei senkrechte Stützen, durch zwei Querbalken verbunden _,56 lässt sich vielleicht als Tor im "rite de passage" verstehen. 57 Hauptform der Dioskurenverehrung ist im Übrigen die "Götterbewirtung", Theoxenia. 58 In einem geschlossenen Raum wird ein Tisch gedeckt, ein Speisesofa mit zwei Polstern bereitet; zwei Amphoren werden aufgestellt, vermutlich mit Speise aus allerlei Körnern, panspermia, gefüllt. Bilddarstellungen zeigen, wie die göttlichen Reiter in wirbelndem Ritt durch die Luft zu ihrem Mahl erscheinen. Doch stellt man auch Schlangen dar, die sich um die Amphoren ringeln. 59 Das Festessen der menschlichen Verehrer schließt sich an. 60 Wie zum Fest, so sollen die weißen Reiter auch in der Not ihren Mahlgenossen plötzlich erscheinen. Die Dioskuren sind in besonderem Maß die "Retter", soteres. 61 Sie bewähren sich in der Schlacht: Das unteritalische Lokroi führte den Sieg in der sagenüberwucherten Schlacht am Fluss Sagras auf das Eingreifen der Dioskuren zurück;62 dieser Glaube samt dem durch ihn gestützten Kult breitete sich rasch aus, so dass bereits 484 in Rom auf dem Forum der Tempel der Castores zum Dank für ähnliche Kampfhilfe erbaut wurde. 63 Noch etwas älter ist eine Weihinschrift für "Castor und Podlouques", die Kuroi, aus Lavinium. 64 Populärer noch wurden die Dioskuren als Retter in privater Not, vor allem in Seenot. Im St. Elms-Feuer, den elektrischen Entladungen am Schiffsmast im Gewitter, sah man die leibhaftige Epiphanie der Dioskuren;65 man nannte die Flämmchen geradeheraus "Dioskuren", verglich sie zugleich mit Sternen, wonach die Dioskuren selbst als "Sterne" bezeichnet und mit Sternen als Attribut dargestellt wurden. 66 Die Doppelexistenz zwischen Todesnacht und Olymp, von der die Dichter sprachen, konkretisiert sich in dem geheimnisvollen Licht inmitten der Gefahr. Auch die Dioskuren gelten, gleich Herakles, als in Eleusis geweiht67 und als Leitbilder einer Hoffnung auf den Durchbruch vom sterblichen zum göttlichen Bereich.
56
57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67
Plut. Frat. am. 478A; Et. M. 282,5 ("geöffnetes Grab"); GGR T. 29, 4; Cook 1925, II 1063; Margaret C. Waites, The meaning of the Dokana, AJA 23, 1919, 1-18 (Torpfosten); Walter Kraus, RAC 1lI 1126; Walter Stein hauser, Sprache 2, 1950/2, 10 f (Rosspfahl der Reiternomaden); GGR 408 f (Haus-Fachwerk); Andreas Alföldi, AJA 64, 1960, 142. Wie das Tigillum sororium in Rom (dazu Latte 1960, 133). Pind. 01. 3 mit Schol.; Nem. 10,49 f. ---i> II 7 Anm. 84. Bilder: ---i> 1I 7 Anm. 84; Münze Sparta, GGR T.29,2. Weihungen der "Gespeisten" (sitethentes) für Dioskuren, Wide 1893,311; GGR 408, T. 29,l. Hom. Hymn. 33; PMG 1027c. Diod. 8,32; Iustin 20,3. Latte 1960, 173 f. Attilo Degrassi, Inscriptiones Latinae liberae reipublicae 1I, Göttingen 1963, nr. 1271a. Aet. 2,18 ~ Xenophanes YS 21 A 39; Metrodoros YS 70 A 10. Eur. Hel. 140; Plut. Lys. 12; Polemon Schol. Eur. OI. 1637; KalI. Hy. 5,24 f; Diod. 4,43,2; Horaz c. 1,3,2; Cook 1914, I 760-775. Xen. Hell. 6,3,6; "Pourtales"-Krater Brit.Mus. F 68, ARY' 1446,1, Kerenyi 1961 T. 2.
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5 Chthonisch-Olympische Doppelwesen
5.3 Asklepios Über den chthonischen Bereich, in dem er doch verwurzelt ist, weist auch Asklepios 68 hinaus. Insofern er als Sohn Apollons von einer sterblichen Frau geboren wurde, Kinder zeugte und starb, gehört er zu den Heroen; "Heros" nennt ihn denn auch Pindar;69 doch sein Grab spielt keine Rolle, vielmehr wird er schließlich in ganz Griechenland als Gott verehrt, eng verbunden mit seinem lichten Vater; man baut ihm Tempel mit Goldelfenbeinbildern; er erscheint in Statuen, thronend oder stehend, wie ein freundlich blickender Zeus, doch unverkennbar dank seinem Stab, um den sich die Schlange ringelt. Man denkt sich Asklepios kaum je unter den anderen Göttern im Olymp, aber erst recht nicht im Totenreich; er ist unter den Menschen zugegen, er erscheint direkt in Gestalt der Schlange, die man in seinem Heiligtum realiter hegt. Bei der Einrichtung seines Heiligtums in Sikyon im 5. Jahrhundert wurde "der Gott auf einem Maultiergespann, einer Schlange gleichend, von Epidauros gebracht";70 zurückhaltender formuliert die Chronik des athenischen Asklepieion den entsprechenden Vorgang;71 Sophokles gewährte dem Gott, bis der Tempel errichtet war, Unterkunft in seinem Haus, was ihm selbst heroische Ehren als dem "Empfangenden", Dexion, einbrachte.n Der Name des Gottes, Asklapi6s, Aisklapi6s - daraus lateinisch Aesculapius -, entzieht sich der Deutung. Im Gegensatz zu den komplexen Gestalten der anderen Götter verdankt Asklepios seinen Status und seine Popularität einer einzigen, doch für die Menschen besonders wichtigen Funktion, der Krankenheilung. Schon in der Bias sind seine Söhne Podaleirios und Machaon als Ärzte tätig, und ihr Vater wird der "untadelige Arzt" genannt; sie stammen aus Trikka in ThessalienY Nach Lakereia am Boibe-See führt der eigentümliche Mythos, der seine Geburt und seinen Tod umgibt; er stand ausführlich in den hesiodeischen Katalogen. 74 Apollon hat Koronis zu seiner Geliebten gemacht, doch sie, vom Gott geschwängert, lässt sich mit einem sterblichen Mann 68
69 70 71
72
73 74
Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Isyllos von Epidauros, Berlin 1886, 44-103; GdH 11 223-232; Emma J. Edelstein/Ludwig Edelstein, Asclepius. A collection and interpretation of the Testimonies, Baltimore 1945; Ulrich Hausmann, Kunst und Heiltum, Potsdam 1948; GGR 805-808; Karl Kerenyi, Der göttliche Arzt, Basel 1948; Jürgen W. Riethmüller, Asklepios. Heiligtümer und Kulte, Heidelberg 2005; Milena Melfi, I santuari di Asclepio in Grecia I, Rom 2007; LIMC 11 s.v. Zum Namen Chantraine 1968, 124; Oswald Szemerenyi, JHS 94, 1974, 155. Pind. Pyth. 3,7. Paus. 2,10,3. IG II/III' 4961 + 4960; Kevin Clinton, The Epidauria and the Arrival of Asclepius in Athens, in: Hägg 1994, 17-34, der in Zeile 13 die alte Ergänzung dakontos, als wäre die Asklepios-Schlange genannt, ablehnt zugunsten von diak6no(u)s. RE lIlA 1044 f; GdH 11 224.; Soph. Fr. p. 57 f., Test. 67-73 Radt; Sara B. Aleshire, The Athenian Asklepieion, Amsterdan 1989; -, Asklepios at Athens. Epigraphical Essays on Athenian Healing Cults, Amsterdam 1991. Nach Tert. ad nato 2,14 werden Asklepios und Koronis in Athen wie Tote verehrt. Il. 11,833; 4,194; 2,729. Hes Fr. 50-54; 59/60; Apollod. 3,122; Pind. Pyth. 3; PR I 423-431.
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IV
TOTE, HEROEN UND CHTHONISCHE GÖTTER
ein; daTUm trifft sie der tödliche Pfeil der Artemis. Doch als der Leichnam auf dem Scheiterhaufen liegt, rettet Apollon das ungeborene Kind, es wächst beim Kentauren Cheiron auf und wird zum besten Arzt. Als aber Asklepios schließlich mit seiner Kunst einen Toten auferweckt, greift Zeus ein und tötet ihn mit seinem Blitz. Fast kommt es darüber zum Götterkampf: Apollon tötet die Schmiede des Blitzes, die Kyklopen, Zeus ist drauf und dran, Apollon selbst zu vernichten; Leto legt sich ins Mittel und erreicht Versöhnung: Ein Jahr lang muss Apollon die Götter meiden und bei einem Sterblichen Knechtsdienst tun, bei Admetos, dem Gemahl der Alkestis; so führt der Mythos nach Thessalien zurück. Merkwürdig korrespondieren Anfang und Ende: Aus dem Leichenfeuer rettet Apollon zum Leben, aber dem Leben, das zur Unsterblichkeit durchstoßen möchte, setzt das himmlische Feuer die unwiderrufliche Grenze. Neben der thessalischen Tradition stehen eigenständige Ansprüche Messeniens auf Asklepios.75 Im 5. Jahrhundert gelangen die Ärzte von Kos zu hohem Ruhm, wobei der Name des Hippokrates alle anderen überstrahlt; diese Ärzte nennen sich "Asklepiaden", Nachkommen des Asklepios, und sind als Geschlechterverband organisiert, wobei der neu eintretende Schüler jeweils adoptiert wird.76 Auf Kos wurde, nach der Neuanlage der Hauptstadt 366/5, ein neues Asklepiosheiligtum gegründet, das dann immer prächtiger ausgebaut wurde. 77 Um 500 scheint das Heiligtum von Epidauros angelegt zu sein, das dann alle anderen Asklepios-Kultstätten in den Schatten stellte und sich als ZentTUrn und Ausgangspunkt der AsklepiosverehTUng geben konnte; auch den Geburtsmythos hat Epidauros an sich gezogen. Die Kunde von den wunderbaren Heilungen zog Scharen von Heilsuchenden nach Epidauros und ließ einen regelrechten Kurbetrieb entstehen; zur Werbung und Bestätigung für die Gäste wurden die Taten des Gottes auf Stein ausführlich verzeichnet und ausgestellt. So konnte die kleine Stadt es sich im 4. Jahrhundert leisten, eines der prächtigsten Heiligtümer Griechenlands mit dem schönsten griechischen Theater zu erstellen.78 Vorher schon war der Gott von Epidauros auch nach Athen gekommen, im Anschluss an die große Pest; später wurde in Pergamon ein Asklepieion gegründet, das in der Kaiserzeit alle anderen an Bedeutung übertraf.1 9
75 76 77 78
79
Hes. Fr. 50; Paus. 3,26,9; Strab. 8,4,4 p. 360; vgl. Hymn. Apoll. 210; PR I 427. Inschrift der Asklepiaden SEG 16,326; Schwur bei Apollon, Asklepios, Hygieia und Panakeia im »Hippokratischen Eid", IV 628 Littre ~ CMG I 1, 4; Platon Phdr. 270c; Arr. Anab. 6,11,1. Susan M. Sherwin-White, Ancient Kos, Göttingen 1978, bes. 340-354; LSCG 158; 159; 162; Herondas 4. Alison Burford, The Greek Temple Builders at Epidauros, Liverpool1969; zum Rundbau (th6los, thymela IG IV 12 103,12; 162) ~ IV 3 Anm. 7; Otto Weinreich, Antike Heilungswunder, Berlin 1909; Rudolf Herzog, Die Wunderheilungen von Epidauros, Leipzig 1931; Lynn R. LiDonnici, The Epidaurian Miracle Inscriptions. Text, Translation and Commentary, Atlanta 1995. Geburtsmythos: Isyllos 39-51, p. 133 f Powell, anders Paus. 2,26,3 f. Altertümer von Pergamon XI: Odkar Ziegenaus/Gioia de Luca, Das Asklepieion 1/2, Berlin 1968/75; VIII 3: Christian Habicht, Die Inschriften des Asklepieions, Berlin 1969.
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Die eigentliche Heilmethode ist der Schlaf im Heiligtum, die Inkubation;8o man erwartet, dass der Gott selbst im Traum Weisungen erteilt oder auch direkt Heilung bringt. Das Unternehmen steht im Zusammenhang eines Opferrituals, zwischen einem einleitenden Ferkelopfer am Vorabend und einem zu gelobenden Dankopfer. 81 Mit Asklepios bleibt dabei Apollon verbunden; in Epidauros ist es Apollon Maleatas, dessen Heiligtum an mykenische Tradition anknüpft. 82 In Korinth ist der Asklepioskult einem älteren Apollonkult eingegliedert. 83 Asklepios' Tochter aber ist schlicht Hygieia, die "Gesundheit": dieser Gott bringt dem Einzelnen sein je persönliches, diesseitiges Heil. Polis-Feste für Asklepios 84 treten zurück gegenüber dem Privatkult. Den Hilfe Suchenden muss das Heiligtum stets zur Verfügung stehen. So kommt es im Asklepios-Heiligtum, im Gegensatz zum üblichen Wechsel von Fest und Alltag, zur Institution eines täglichen Gottesdienstes. 85
80 81 82 83 84 85
II 8 Anm. 58. V 3 Anm. 242. --+ I 4 Anm. 29. Carl Roebuck, Corinth XIV: The Asklepieion and Lerna, Cambridge 1951. Athen LSS 11; Erythrai IE 205,25 ff. IG IV 1', 742 = LSS 25. -+ --+
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V
POLIS UND POLYTHEISMUS
1 Denkformen des griechischen Polytheismus
Prinzipielles Griechische Religion darstellen heißt viele Götter nacheinander aufzählen; die Aufgabe der Religionsgeschichte scheint in die Geschichte der einzelnen Götter zu zerfallen. Die Tatsache, dass die griechischen Götter sich als Individuen geben, legt dies nahe, und die resultierende Übersichtlichkeit bestätigt das Verfahren. Und doch droht dabei ein grundsätzliches Missverständnis, als sei polytheistische Religion die Summe aus vielen einzelnen Religionen; in der Tat spricht man gelegentlich von Zeusreligion, Apollonreligion, Dionysosreligion. Ihr Zusammentreffen im selben Stamm oder in derselben Stadt erscheint dann als zufälliges Faktum; der Wissenschaft bliebe die Analyse der Elemente. Und doch ist das Ganze auch hier mehr als die Summe der Teile. Polytheismus! bedeutet, dass nicht nur am selben Ort zur selben Zeit, 2 sondern von derselben Gemeinschaft, demselben Individuum viele Götter verehrt werden; erst ihre Gesamtheit macht die göttliche Welt aus. So sehr ein Gott auf seine "Ehre" bedacht ist, er bestreitet keinem anderen die Existenz, sind sie doch alle die "immer Seienden". Es gibt keinen "eifersüchtigen" Gott wie im jüdisch-christlichen Glauben. Verhängnisvoll ist nur, wenn ein Gott übersehen wird. Oineus "vergaß" beim Erntefest im Weinberg Artemis, die Göttin des "Draußen", und sie rächt sich, indem aus der Wildnis der Eber in die gepflegten Pflanzungen einbricht. 3 Hippolytos weiß sich der jungfräulichen ]ägerin Artemis. einzigartig nahe; dies würde ihm Aphrodite gönnen, aber dass er darob sie selbst verachtet und schmäht, fordert ihre grausame Rache heraus, ohne dass Artemis schützend dazwischen träte: "So ist der Brauch bei den Göttern: keiner ist bereit, dem eifrigen Willen eines anderen entgegenzutreten; wir ziehen uns zurück".4 Einen Gott übersehen oder gering achten heißt, die Fülle der Welt und damit auch die Ganzheit des Humanen zu amputieren. Seinem allzu strengen Schüler Xenokrates gab Platon den Rat: "Opfere den Chariten".5 Dies ist mehr als mythisch-scherzhafte Redeweise. Die Tatsachen des Kults sind unmissverständlich: Bei Götterfesten wird regelmäßig nicht einem, sondern einer ganzen Reihe von Göttern geopfert. Dies zeigen besonders die attischen Opferka-
2 3 4 5
Angelo Breiich, Der Polytheismus, Numen 7, 1960, 123-136; Jean Rudhardt, Considerations sur le polytheisme, in: Rudhardt 1981, 71-82, und: -, Comprendre la religion grecque, Kernos 4, 1991, 47-59; Parker 2005. "Der eine dem, der andere jenem der unsterblichen Götter" opfernd, H. 2,400. H. 9,534-549; danach Stesichoros PMG 223: Tyndareos vergaß AphTOdite. Eur. Hippol. 1328-1330; vgl. 20. Diog. Laert. 4,6.
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V
POLIS UND POLYTHEISMUS
lender 6 schon für die einzelnen Dörfer und erst recht für die gesamte Stadt. Für die Eleusinia etwa werden als Empfänger von Opfern genannt:7 Themis, Zeus Herkeios, Demeter, Pherephatta, sieben Heroen, Hestia, Athena, Chariten, Hermes, Hera und Zeus, dazu noch Poseidon und Artemis. Die "beiden Göttinnen" mit ihren Heroen stehen im Zentrum, umrahmt vom Herrn der "Einhegung" und dem "Herd"; Themis, das sakrale Recht in Person, eröffnet, Athena kann nicht fehlen; Chariten und Hermes gehören zum Agon; das Paar der höchsten Götter folgt; Poseidon und Artemis schließlich haben ihren eigenen Tempel am Eleusinischen Heiligtum. Wenn die literarische Überlieferung etwa zum Fest Haloa Demeter und Dionysos als Empfänger von Opfergaben und außerdem eine Prozession für Poseidon erwähnt oder wenn am letzten Tag des dionysischen Anthesterienfestes 9 Hermes Chthonios Opfer erhält, ist die Hypothese einer sekundären Kombination, als ob nur zu fragen bliebe, welcher Gott "hinzugetreten" ist, keineswegs allein legitim und wesentlich; Ein Ternenos gehört in der Regel einem einzelnen Gott; doch kann man darin auch Statuen anderer Götter aufstellen, wie der Hermes des Praxiteles im Heratempel zu Olympia stand; man kann Weihungen an andere Götter aufstellen, also zu diesen anderen Göttern auch an Ort und Stelle beten. So wird eine Apollonstatuette "dem Zeus" geweiht oder auch das Weihgeschenk für Zeus zum Dank für den gewährten Sieg im Apollontempel aufgestellt;lO im Apollonheiligtum von Argos stehen alte Kultbilder von Aphrodite und Hermes.u Manchmal teilen Götter das gleiche Ternenos, manchmal auch den Tempel, wie Athena im "Haus des Erechtheus" wohntY Sehr oft sind Bezirke und Tempel mehrerer Götter nebeneinander angelegt und stehen in gegenseitiger Beziehung, die der Kult herstellt; dieser kann aber auch räumlich getrennte Heiligtümer, ja zeitlich auseinanderliegende Feste zusammenschließen. Die von Claude Levi-Strauss angeregte Denkform des "Strukturalismus" hat auch in die Wissenschaft von der griechischen Religion hineinwirkt; dies heißt, Götter statt als unabhängige Quasi-Personen als Terme eines Beziehungssystems zu sehen. Nachdem Georges Dumezil mit dem Versuch vorangegangen war, die indogermanischen Götter von einem System der "Drei Funktionen" her zu verstehen,!3 hat vor allem Jean-Pierre Vernant14 prinzipiell ausgesprochen, dass ein Pantheon als organisiertes System zu gelten hat, das definierte Relationen zwischen den Göttern impliziert, als eine Art Sprache, in der die Einzelgötter so wenig für sich stehen wie 6
7 8 9 10 11 12 13 14
Neben dem Nikomachos-Kalender (--+ V 2 Anm. 5) der von Erchia, LSCG 18, von Eleusis, LSCG 7, von der Tetrapolis, LSCG 20, von Teithras, LSS 132, von Thorikos, ZPE 25, 1977, 243-264 = SEG 26, 136, Lupu 2005 nr.l. LSS 10, 60-86; LSCG 4. Paus. Att. a 76 Erbse; AF 60-67. --+ V 2 Anm. 112. --+ II 5 Anm. 102; II 2 Anm. 28. Paus. 2,19,6. Od. 7,81. --+ 1lI 1 Anm. 201. --+ I 2 Anm. 19. Vernant 1974, 106.
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1 Denkformen des griechischen Polytheismus
die Einzelwörter einer Sprache isoliert sind. Ein Zeichen im System hat seinen Sinn durch seine Differenzierungen von anderen Zeichen, Verknüpfungen und Ausschließungen, Parallelen und Antithesen. Freilich bringt dieser Ansatz seinerseits die Gefahr mit sich, dass nunmehr um des Systems und seiner logischen Struktur willen die historisch gegebene Realität in ihrer bunten Vielfalt zu kurz kommt. Relationen sind "gut zu denken", doch eine gewisse Eigensinnigkeit der Fakten bleibt. Sowenig es den "griechischen Geist" als einheitliches, definierbares Gebilde gibt, sowenig kann das griechische Pantheon ein in sich geschlossenes und stimmiges System sein; selbst wenn man ein System gleichsam punktuell für jeden Ort und Zeitpunkt konstruieren, ja für jedes Individuum entwerfen könnte, bliebe es instabil und lückenhaft, wie die Erfahrung jedes Einzelnen bei aller Bemühung um Ganzheit zerfahren und heterogen bleibt. Insbesondere lässt ein Gott sich nicht konstruieren, um eine Lücke zu füllen; man muss ihn kennen lernen, er muss sich zeigen, und dabei kommen Zufälligkeiten aller Art ins Spiel. Man kann daher die Sprache des Polytheismus sozusagen nur passiv erlernen, nicht aktiv beherrschen; das Vorhandene lässt sich interpretieren, doch Postulate einer Grammatik lassen sich kaum aufstellen. Das Konglomerat der Tradition, das die Religion ausmacht, verdankt seine Eigenart vielleicht weniger einer List der Vernunft als einer List der Biologie; es gibt eben damit kaum ausschöpfbare Anregung zu geistiger Formung, freilich mehr in der Art der Dichter als der Denker.
Die Gätterfamilie Die olympischen Götter erscheinen als Familiengemeinschaft. Dabei ist weder das anthropomorphe Pantheon an sich noch die "Götterfamilie" eine Besonderheit der griechischen Religion.15 Doch was die griechisch-homerische Götterfamilie auszeichnet, ist ihre Geschlossenheit und Übersichtlichkeit. Nur einmal gefällt sich die Bias darin auszumalen, wie unendlich viele Götter zur Versammlung kommen, alle Flüsse, alle Nymphen;16 sonst sind in der Dichtung wie im Bewusstsein der Griechen nur die großen Götter wirklich präsent. Es gibt auch nicht Opferlisten oder Litaneien mit unabsehbar vielen Götternamen wie etwa in Babyion oder bei den Hethitern, nicht die ,,1000 Götter des Landes"; man kann die Olympischen Götter in der traditionellen Zwölfzahl zusammenfassen, wobei aber nicht, wie in Anatolien, dieselbe Gestalt verzwölffacht ist,17 sondern eine sehr differenzierre, spannungsreiche Gruppe zustande kommt. Die Verhaltenswissenschaft hat festgestellt, dass die "Fußbal1-Elf" eine ideale Gruppe für menschliche Kooperation darstellt, nicht zu groß und nicht zu klein; die elfbis dreizehn Olympischen Götter bilden entsprechend eine aufeinander abgestimmte "Mannschaft". 15
-11l3 Anm. 1-3.
16
11. 20,4-9.
17
- III 1 Anm. 1.
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POLIS UND POLYTHEISMUS
Die Differenzierungen sind dabei vom elementaren Familienverband genommen: Eltern-Kinder, männlich-weiblich, drinnen-draußen. In der Elterngeneration gruppieren sich um das zentrale Paar Zeus und HeralB zwei Geschwister, die in eine Onkel- bzw. Tantenrolle geraten, Poseidon und Demeter. Poseidon pocht auf seine Gleichberechtigung, ist auf Wohlanständigkeit bedacht und leicht gekränkt, und doch werden hinter seinem Rücken wichtige Beschlüsse gefasst;I9 Demeter, auch sie zum Zürnen geneigt, scheint gleich einer Witwe allein für ihre Tochter da zu sein. Die übrigen Töchter spalten sich durch ihre Einstellung zur Sexualität: Aphrodite, Liebesverlockung und Liebesvereinigung in Person, passt eigentlich nicht in den Familienkreis und kann daher auch eine ganz andere, urtümliche Genealogie erhalten; um so fester ist die Stellung der dezidierten Jungfrauen Athena und Artemis, bei denen die negierte Sexualität in Aggressivität umschlägt. Athena, die immer gewapp'net bleibt, gehört zum inneren Zentrum des Hauses mit Lampe und Arbeit am Webstuhl; Artemis schweift ins Draußen bis hart an die Grenze der Jungfräulichkeit, erfüllt ihr Wesen in Jagd und Tanz. Diesen Göttinnen steht je einer von den göttlichen Söhnen nahe, nur dass beim Mann der Wertakzent, was Drinnen und Draußen betrifft, umschlägt: Athenas Partner Hephaistos sinkt als Handwerker im Rang, während Apollon, der Zwillingsbruder der Artemis, zum Ideal der machtvollen Energie, Schönheit und Geistigkeit schlechthin geworden ist. Ares, der Kriegsgott, ist ein unberechenbarer Außenseiter, der mit Aphrodite intimen Kontakt hat. Außenseiter in anderem Sinn sind die Götter, die die Grenze zwischen Götterreich und Totenreich überschreiten, Hermes und Hekate. Dionysos schließlich ist der ganz andere, Gegenpol der olympischen Klarheit und Ordnung, der eben darum in vielfältigen, spannungsreichen Beziehungen zu den anderen steht.
Götterpaare Unter den Götterpaaren ist Zeus-Hera das wichtigste, das Urbild des Ehepaares überhaupt. Im Hain des Zeus von Olympia hat Hera den ältesten Tempel, in dem wiederum ein Standbild des Zeus neben dem Kultbild der Göttin steht. 20 Auch in den Herafesten von Argos und Samos hat Zeus laut Überlieferung seinen Platz. Argos hat in historischer Zeit das Fest der Heraia mit dem des Zeus von Nemea verbunden, so dass Zeus Nemeios und Hera nebeneinander als die Hauptgötter erscheinen. 2I Die Eheprobleme von Zeus und Hera, die von Homer ausgemalt werden, spiegeln die innere Spannung einer patriarchalen Ordnung, die sich durch ihr Gegenteil immer wieder bestätigt. 22 18 19 20 21 22
-+ III 1, 1/2. 11.15,185-99; Od. 1,22-79; 5,282-379; 8,344-58. Paus. 5,17,1. Paus. 2,24,2; 4,21,6; HN 183,7. -+ III 1.2.
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-+
III 1.3.
1 Denkformen des griechischen Polytheismus
Als Geschwisterpaar den sexuellen Spannungen entrückt, die doch im apokryphen Mythos angedeutet werden,23 gehören Apollon und Artemis im Bewusstsein der Griechen besonders eng zusammen. Schon die Ilias nennt beide im Verein mit Leto, und die gehämmerten Kultbilder von Dreros stellen diesen Dreierverein dar. 24 Ihn zeigte auch der Ostgiebel über dem Eingang des Apollontempels von Delphi im 6. Jahrhundert; die Amphiktyonen schwören bei Apollon, Lato und Artemis. 25 In Delosstand neben dem Artemision der Apollontempel mit seinem monumentalen, vergoldeten Kultbild. 26 Vasenbilder zeigen seit dem 7. Jahrhundert die Begegnung der Geschwister. 2? Man kann in ihnen die Gegenbilder der heranwachsenden Jugend erkennen: In den Festen der Götter ehren die Sterblichen je ihr eigenes Inbild. Die Mädchen tanzen für Artemis in Karyai, die Knaben feiern für Apollon die Gymnopaidia in Sparta/8 Mädchen und Jünglinge zusammen tanzen den "Kranichtanz" auf Delos. 29 Die Relationen überkreuzen sich auch: Jünglinge sind es, die am Altar der Artemis Ortheia das blutige Schauspiel bieten, Mädchen singen das Lied für Apolion auf Delos. 30 Der Historiker kann und muss Apollon und Artemis trennen; das zentrale Heiligtum von Delos gehört eindeutig der Artemis, Apollons Tempel wird erst gegen Ende des 7. Jahrhunderts am Rand errichtet, während in Delphi Artemis keinen eigenen Kultplatz hat und Frauen und Mädchen vielmehr "vor dem Tempel" durch Athena Pronaia vertreten sind; nichts von Apollon verlautet im Mädchenkult von Brauron, nichts von Artemis in Amyklai. Doch die Fakten der Kultgeschichte werden überstrahlt von der Denkform, dem Bild des jugendlichen Geschwisterpaars. Hephaistos und Athena sind als Handwerkergötter bei Homer zusammen genannt;3! fixiert und vertieft ist diese Beziehung in der speziell athenischen Überlieferung, die Erechtheus-Erichthonios de facto zu ihrem Kind macht. 32 Athena hat eine Statue im Hephaistos-Tempel oberhalb der Agora, während umgekehrt die ewige Lampe im Tempel der Athena Polias auf der Akropolis als Präsenz des Feuergottes verstanden werden kann. 33 Die Prozession der Schmiede am "Schmiedefest", Chalkeia, wendet sich an Athena Ergdne. 34 Mochte Athena an Rang den Schmiedegott so überragen wie die Akropolis-Tempel das Hephaisteion, die durch beide markierte Achse mitten über die Agora hinweg ist noch heute augenfällig zu fassen.
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OF 153 ~ OTF 285. I\. 5,447. ---,> 14 Anm. 16; II 5 Anm. 62. SIG3 145, 1. ---,> II 5 Anm. 80. Amphora aus Melos ~ III 1 Anm. 36. Paus. 3,10,7; 4,16,9; Wide 1893, 102 f; GF 140-142; Petterson 1992. ~ II 7 Anm. 40. ---,> II 7 Anm. 35. ~ 1lI 1 Anm. 289; Hymn. Apol\. 156-178. Od. 6,233; 23,160; dann Solon 13,49 West; Plat. Prot. 321d; Krit. 109c; Leg. 920d. ~ III 1 Anm. 200. Paus. 1,14,6. ---,> II 1 Anm. 55; V 2 Anm. 14. Soph. Fr. 844 Radt; AF 35 f.
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Ares und Aphrodite sind in dem berühmten Schwank der Odyssee ein illegitimes Paar, das, in flagranti ertappt, dem unauslöschlichen Gelächter der Götter preisgegeben ist. Dabei ist die Verbindung der beiden in Bilddarstellungen und im Kult vielfach belegt, und Dichter nennen Ares unbefangen den Gemahl der Aphrodite. 35 Zwischen Argos und Mantineia haben sie einen gemeinsamen Tempel, in Knossos einen gemeinsamen Priester. 36 Von ihrer orientalischen Herkunft her gehört das Kriegerische auch zu Aphrodite, doch bleibt die "bewaffnete Aphrodite" bei den Griechen eine Rarität;37 die Beziehung zu Ares wird vielmehr als Polarität entfaltet, entsprechend dem biologisch-psychologischen Rhythmus, der Männerkampf und Sexualität aneinander bindet. So opfern die Polemarchen in Theben nach Ablauf ihrer Amtsperiode der Aphrodite; Tochter von Ares und Aphrodite ist Harmonia, die "Fügung", die zugleich den musikalischen Wohlklang bezeichnet, entsprossen aus dem Widerstreit von Krieg und Liebe. 38 Dunkel und unheimlich sind Demeters Liebesverbindungen, ob nun Zeus, Poseidon oder ein Iasion als Partner auftritt. 39 Iasion wird vom Blitz erschlagen, Poseidon wandelt sich zum Pferd, Zeus selbst erscheint in dieser Verbindung als chthonischer "Zeus Eubuleus";4o Inzestphantasien treten auf: Ist Demeter nicht auch Mutter des Zeus? Das Geheimnis des Werdens, die Geburt der Tiere, das Keimen der Nahrung führt in vorindividuelle Bereiche, in denen die Gestalten vergehen, nur das Mütterliche bleibt, Opfer fordernd und LebeJ;l. spendend. Wenn Hermes und Aphrodite sich verbinden, scheint dies weniger Spannung als natürliche Ergänzung zu sein: Phallosfigur und nackte Göttin. Gemeinsame Kulte von Hermes und Aphrodite sind mehrfach bezeugt, so neben Hera von Samos;4I das Heiligtum von Syme auf Kreta steht in unmittelbarer minoischer Tradition.42 So können Hermes und Aphrodite auch geradezu verschmelzen zur bisexuellen Gestalt des Hermaphroditos;43 Im Hintergrund steht die Doppelgeschlechtigkeit der orientalischen Aphrodite-Astarte.44 Aus alter mythischer Spekulation wird ein künstlerisches 35
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42 43
44
Hes. Theog. 933-937; Pind. Pyth. 4,87 f; Aiseh. Sept. 105; 135 ff; Hik. 664-666; NaxischeAmphora: LIMC II s.v. Aphrodite nt. 1294 ~ Ares nt. 4 Kypseloslade: Paus. 5,18,5; K. TümpelJb. f. dass. Philol. Suppl. 11, 1880,639-754. Paus. 2,25,1; SIG' 56 ~ 1C I VIII, 4, 35. ~ III 1 Anm. 296. Plut. Pelop. 19,2. - III 1 Anm. 325. - III 1 Anm. 146; 384. Graf 1974, 172,72. AM 72, 1957,77-79; Gruben 1976,325; Bergquist 1967, 45; Argos - Anm. 11; Athen: Paus. Att. ps 2, Zopyros FGrHist 336 F 2; Halikarnassos: Vitt. 2,8,11; Relief, vielleicht aus Lokroi, Cook 1925, II 1043. - 14 Anm. 17. Theophr. Char. 16; Poseidippos Fr. 12 KasseVAustin; Diod. 4,6; Paul Herrmann, RML I 2314-42; Jessen RE VIII 714-721; Marie Delcourt, Hermaphrodite, Paris 1958; -, Hermaphroditea, Brüssei 1966; Luc Brisson, Le sexe incertain. Androgynie et hermaphroditisme dans l'antiquite grecoromaine, Paris 1997. - III 1 Anm. 297.
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Experiment hellenistischer Plastik. Im griechischen Mythos ist dies kaum reflektiert. Dass die Jungfrauen Athena und Artemis in Opposition zu Aphrodite stehen, wird oft ausgesprochen. Die Polarität, die in der Hippolytos-Tragödie ihren bedeutendsten Ausdruck findet, wird auch zur gängigen Scheidemünze. "Artemis, sei nicht böse", ruft das Mädchen in der Schäferszene; "ich werde ein Kalb dem Eros, ein Rind der Aphrodite selber opfern", respondiert der Partner.45 Die Mädchen bringen der Artemi~ vor der Hochzeit ein Voropfer, proteleia, um sich von ihrem Anspruch gleichsam loszukaufen, und doch bleiben sie bei der Geburt auf die Gnade dieser Göttin angewiesen,46 während Aphrodite im Liebesvollzug ihre Macht beweist. Auch Athena kann von Jungfrauen vorübergehenden Tempeldienst verlangen; als Priesterin fordert sie eine reife Frau, die über die "Werke der Aphrodite" hinaus istY Damit werden freilich Ehe und Sexualität nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr vorausgesetzt. Mit Hippolytos zusammen wird im Kult nicht etwa Artemis, sondern Aphrodite verehrt.
Alt und Jung Der Generationenkonflikt ist aus dem Bereich der herrschenden Götter verbannt; das Titanengeschlecht ist auf ewig im Tartaros gefangen, und der Sohn des Zeus, der stärker wäre als sein Vater, bleibt ungeboren.48 Gemeinsam haben die Götter die nachgeborenen Aufrührer, die Giganten, zerschmettert; dies bestätigt ihre Solidarität. In besonderem Maß sind Apollon und Athena, die wichtigsten Kultgötter der Städte, mit ihrem Vater Zeus verbunden. Athena als Schlachthelferin führt die Entscheidung des Vaters aus. Apollon als Gott der Orakel gibt die Zukunftsweisungen, die dem in Zeus' Willen aufgenommenen "Teil", der Dias Aisa, entsprechen.49 Spannungsreicher sind Verbindungen von Alt und Jung außerhalb der ElternKind-Beziehung. Athena und Poseidon gehören zusammen in ihrer Bindung ans Pferd: Neben Poseidon Hippios steht Athena Hippia. Poseidon zeugt das Pferd, Athena erfindet Zügel und Trense und macht damit das Tier für den Menschen erst handsam; so opfert Bellerophontes, der erste Reiter, dem Poseidon einen Stier und errichtet einen Altar für Athena Hippia. 5o In Athen sind Poseidon und Athena die Hauptgötter, wie vor allem der im Parthenongiebel dargestellte Mythos vom Streit der beiden um das attische Land ausdrücktY Historisch gesehen ist Poseidon als "home-
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Theokr. 27,63 f. --+ II 2 Anm. 30. Athen: Plut. Numa 9,11; Eur. Erechtheus Fr. 370,95-97; HN 167 f; Milet: Wolfgang D. Lebek/Thomas Drew-Bear, GRBS 14, 1973,65-73. --+ III 1 Anm. 19/20. Aisch. Eum. 616-618. Pind.01. 13,63-82. --+ III 1 Anm. 141-47;180. Im mykenischen Pylos, wo die Poseidon-Verehrung prominent ist, gibt es auch eine "Herrin der Pferde", --+ I 3 Anm. 255. HN 176 f.
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rischer" Gott offenbar an Stelle des Erechtheus getreten, nach dem der Tempel immer noch Erechtheion heißt; aber das dadurch zustande kommende Paar Poseidon-Athena ergab seinerseits eine wirkungsvolle Konstellation von elementarer Kraft und technischer Klugheit. Merkwürdig oft sind Apollon und Poseidon im Kult verbunden. Poseidon hat in Delphi Altar und Ternenos neben dem Apollontempel, ja es heißt, er sei der eigentliche Herr der Stätte gewesen und habe dann Delphi gegen Kalaureia getauscht. 52 Die Athener opfern in Delos dem Apollon und Poseidon. 53 Beim Bundesfest der Dorier in Knidos opfert man dem Poseidon und Apollon, wie am Bundesfest der Ionier in Mykale, das Poseidon Helikonios galt, Apollon als Vater des Ion nicht ohne Anteil bleiben konnte. 54 An der böotischen Quelle Tilphousa, wo Poseidon das Pferd Areion zeugte, hat Apollon seinen Tempel,55 wie auch in Arkadien dort, wo Poseidon in Pferdegestalt Demeter beiwohnte;56 und auch im Hain des Poseidon von Onchestos genießt er Ehren. 57 Das Epos erzählt, Poseidon und Apollon hätten gemeinsam die Mauern von Troia erbaut; beide begegnen sich in der Ilias mit Respekt und vermeiden den Zusammenstoß. 58 Offenbar empfindet man Poseidon-Apollon als eine - in unseren Texten nicht weiter explizierte - Polarität von Alt und Jung, Wassertiefe und Knabengestalt; die implizierte Onkel- oder Patenschaft mag im Grunde mit Initiationen in Beziehung stehen. Vergleichbar ist die Stellung von Athena und Artemis-Hekate zu Demeter. Sie sind nach einer verbreiteten Tradition als Gespielinnen der Kores beim Raub zugegen;59 Hekate begleitet Demeter fackeltragend auf ihrer Suche, sie begrüßt die wiederkehrende Kore und wird ihre ständige Begleiterin.6o Vor den Propyläen des Eleusinischen Heiligtums steht ein Artemis-Tempel, der zugleich ,;Vater Poseidon" geweiht ist/i [ unweit vom ,,]ungfrauen-Brunnen", Parthenion, wo der Mythos die Königstöchter der Demeter begegnen lässt. Jungfrauen-Tänze werden so zum Vorspiel der MysterienInitiation, und darum stehen auch die göttlichen Jungfrauen im Kraftfeld jener "Mutter", obschon sie vom Wandel, den die Weihe bringt, ausgeschlossen bleiben.
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Paus. 10,5,6; 10,24,4; G. Daux BCH 92, 1968,540-549. LSS 10 B. FGrHist 444 F 2; ApolIon Panionios 1G lI/III' 4995; OeJh 45, 1960, Beiblatt p. 76 Nr. 2. Hymn. Apoi!. 244-276, 375-387; vg!. Thebais Fr. 8 Bernabe = Fr.6c Davies = Schol. Il. 23,346. Paus. 8,25,4-11. Hymn. ApolI. 230-238; Schachter, B1CS 23, 1976, 102-114. Il. 7,452; 21,441-457. Richardson zu Hymn. Dem. 424; Graf 1974, 154-157. Hymn. Dem. 51-61; 438-440. Paus. 1,38,6; Mylonas 1961, 167-170.
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Dionysos Dionysos entzieht sich der Gestaltung; darum sind auch seine Relationen zu den anderen Olympiern ambivalent, ja paradox: Nähe wird zum Mysteriengeheimnis, Antithese schlägt um in Identität. So kann Dionysos zu Demeter gehören wie Baumfrucht zu Feldfrucht,62 Wein zu Brot; doch hinter den Naturgegebenheiten steht dunkel der Mythos vom zerrissenen Kind der Persephone. 63 Mit Hermes, dem grenzüberschreitenden, besteht freundschaftliche Beziehung; Hermes hat insbesondere den Neugeborenen zu den Nymphen nach Nysa gebracht; die Praxiteles-Statue von Hermes mit dem Dionysosknaben aus Olympia ist allbekannt. 64 Beim Anthesterienfest gelten die Opfer des dritten Tags dem "Chthonischen Hermes", ist doch im Trinken des neuen Weins Jenseitiges eingebrochen. 65 Nun kann aber offenbar Dionysos selbst als Herme errichtet werden;66 dabei scheint schon in der Antike die Interpretation zu schwanken, für die Modernen bleibt in manchen Fällen die Streitfrage bestehen; die klaren Abgrenzungen geraten ins Fließen. Artemis und Dionysos scheinen einander entgegengesetzt wie Morgenfrische und Abendschwüle; und doch haben ihre Kulte viele Parallelen: 67 Beide, und sie allein, haben ihren Thiasos, ihr Gefolge bewegter Tänzerinnen, wobei allerdings die "Mänaden" Frauen, die "Nymphen" Jungfrauen sind; Artemis- wie Dionysostänze kennen die Maske, ja die phallische Kostümierung. 68 Dass ein Lied des Timotheos Artemis selbst als "rasende Thyiade" apostrophierte, rief allerdings Protest hervor. 69 Doch leicht schlägt Artemisisches in Dionysisches um. Zum Heiligtum der Artemis von Karyai gehört eine Geschichte von der Einkehr des Dionysos, der ein Mädchen verführt.70 Artemis- und Dionysosfest greifen ineinander in Patrai:71 Der zentrale Tempel der "drei Gaue" ist Artemis Triklaria geweiht. Knaben ziehen mit Ährenkränzen zum Heiligtum am Fluss Meilichos; sie legen die Kränze "bei der Göttin" nieder, waschen sich im Fluss und legen Efeukränze an, um so Dionysos Aisymnetes zu begegnen. Aisymnetes heißt ein altes Holzbild in einer Truhe, die nur in der einen Festnacht des Jahres der Priester zusammen mit je neun ausgewählten Männern und 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71
Vgl. z.B. Demeter Phylaka und Dionysos Karpios nebeneinander in Larisa, 10 IX 2, 573; Bull. Epigr. 1959 nr. 224. - VI2 Anm. 69-74. -+ III 1 Anm. 355. HN 264 f....... V 2 Anm. 112. Hetty Ooldman, AJA 46, 1942,58-68; Friedrich Matz, Abh. Mainz 1963,15, 1428-1443 und: -, Die Dionysischen Sarkophage lll, Berlin 1969, nr. 202, T. 211, 218; J. FrelAA 1967, 28-34. OF 179 ff, 188, 259; Jeanmaire 1951, 209-213; Simon 1969, 165. -+ III 1 Anm. 278. PMO 778. Servo auct. Ecl. 8,29. Paus. 7,19 f; D. Hegyi, Der Kult des Dionysos Aisymnetes in Patrae, AAntHung 16, 1968,99-103; Marcello Massenzio, La festa di Artemis Triklaria e Dionysos Aisymnetes a Patrai, SMSR 39, 1968, 101-132; Massimo Osanna, Santuari e culti deli' Acaia antica, Neapel 1996, 131-141.
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Frauen aus dem Tempel trägt und öffnet; wer das Bild erblickt, wird "wahnsinnig". Der Mythos malt aus, wie Artemis, nachdem ein junges Paar ihren Tempel durch den Liebesakt entweiht hatte, Menschenopfer gefordert hatte, Jüngling und Jungfrau, bis die Ankunft des Aisymnetes dem ein Ende machte. Die "jungfräuliche" Grausamkeit löst sich im nächtlichen Taumel. Umgekehrt findet der ausschweifende Wahnsinn der Proitos-Töchter sein Ende durch den Dionysospriester Melampus im Tefupel der Artemis von Lusoi, dem Ort der "Waschungen"Y Dass Hera den Dionysos mit stiefmütterlichem Hass verfolgt, hat der Mythos vielfältig ausgemalt: Hera lockt Semele arglistig in den Tod, sie vernichtet seine Amme Ino samt Kindern und Gemahl im Wahnsinn, sie bringt den Wahnsinn über Dionysos selbst. 73 Und doch liegt in dieser Feindschaft eine merkwürdige Intimität: Wahnsinn zu senden, ist ja eigenste Domäne eben des "Rasenden Gottes". So schwanken die Versionen im Proitidenmythos, ob Hera oder Dionysos den Wahnsinn über die Mädchen brachte. 74 Im Ritual wird der Gegensatz beider Gottheiten dadurch unterstrichen, dass ihre Priesterinnen sich nicht grüßen, dass kein Efeu ins Heraheiligtum gebracht werden darf;75 eben in der Negation bleibt die Fixierung. In der Tat erscheinen Dionysos und Hera, zusammen mit Zeus, im selben Heiligtum auf Lesbos verbunden;76 der Name Dionysos Omestas, "Rohfresser", weist auf ein Agrionienritual, wie es hinter dem Proitidenmythos in Tiryns und Argos steht. Die sechzehn Frauen in Elis, die für Hera ihr Fest organisieren, stellen einen Mädchenchor für Hippodameia auf, den anderen für Physkoa, eine Geliebte des Dionysos und Stifterin seines Kults; offenbar dieselben Frauen rufen auch "Heros Dionysos" an, "mit dem Stierfuß rasend" zu kommen.77 Statt einander auszuschließen, bedingen Hera- und Dionysoskult einander. Am berühmtesten ist die Antithese von Dionysos und Apollon geworden, von Dionysischem und Apollinischem. 78 Seit Friedrich Nietzsche hierin gleichsam den Schlüssel zur griechischen Geistesgeschichte und zum Wesen der Kunst zugleich zu finden glaubte - Traum gegen Rausch, Gestalt und Grenze gegen Verschmelzung und Vernichtung -, haben die damit gesetzten Zeichen ihre eigene Bedeutung und 72 73 74 75 76 77 78
Paus. 8,17,7 f. -+ II 4 Anm. 51. Aisch. Fr. 168 Radt; ApolIod. 3,28; Plat. Leg. 672b; Eratosth. Catast. p. 90 Robert ~ Schol. Germ. p. 70; 129 Breysig. -+ II 4 Anm. 51. Plut. Fr. 157,2 Sandbach. Alkaios Fr. 129 Voigt. -+ I 3 Anm. 247. -+ III 1 Anm. 82; IV 4 Anm. 24; Jeanmaire 1951, 216; GGR 573 f. Martin Vogel, Apollinisch und Dionysisch, Geschichte eines genialen Irrtums, Regensburg 1966; Karlfried Gründer/Jürgen Mohr in: Historisches Wörterbuch der Philosophie I, Basel 1971, 441446. Vor Nietzsche sind C. F. Creuzer, Symbolik III, Leipzig 21821, 148-72, und Johann J. Bachofen, Unsterblichkeitslehre der Orphischen Theologie, Werke VII, Basel 1958, zu nennen, vgl. dort Meuli 509-515; F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, 1872, Krit. Gesamtausgabe III 1, München 1972. Eine Anwendung des Begriffspaars auf die Ethnologie: Ruth Benedict, Patterns of Culture, Boston 1934, neu hrsg. 1959, 78-81.
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ihr eigenes Leben gewonnen und sind damit fast unabhängig geworden von ihrer Herkunft, von der griechischen Religion. Dort sind Apollon und Dionysos nicht nur Brüder, sie haben auch immer noch andere Götter neben sich. Immerhin sind beide oft aufeinander bezogen. Mehrere schwarzfigurige Vasen stellen auf der einen Seite Apollon, auf der anderen Dionysos dar. 79 Naxos auf Sizilien setzt Apollon- und Dionysoskopf auf die Münzen. 8o Die Thebaner opfern Dionysos und Apollon Ismenios als ihren Hauptgöttern. 81 Merkwürdig ist ein Apollon Dionysodotos in den Mysterien von Phlya in Attika, als werde Apollon durch Dionysos "gegeben".82 Ein Gegensatz von Apollon und Dionysos wurde zunächst in der Musik bewusst: Ihre Kultlieder, Paian hier, Dithyrambos dort, gelten als unvereinbar, in Harmonie und Rhythmus wie im "Ethos"j83 Klarheit steht gegen Trunkenheit. Der Gegensatz von Saitenmusik und Flötenmusik kommt dazu. 84 Er findet seinen schärfsten Ausdruck im Mythos vom Silen Marsyas, dem Flötenspielerj Athena wirft die Flöte weg, Apollon siegt durch Saitenspiel und Gesang und zieht dem Marsyas die Haut ab. Im Hintergrund steht die Flötenmusik der phrygischen Meter mit Widder- oder Eselsopferj B5 doch dieser Komplex ließ sich spekulativ vereindeutigen und verschärfen, bis das Apollinische als das Reine und eigentlich Griechische gegen das Phrygisch-Barbarische steht. Dabei hat der Delphische Gott die Flöte durchaus zugelassenj bei den ersten Pythischen Spielen siegte Sakadas von Argos, indem er im Flötensolo Apollons Drachenkampf feierte. 86 Der wichtigste Ort der Begegnung und des Ausgleichs von Apollon und Dionysos ist Delphi. Die Tragiker lieben es seit Aischylos, die dionysischen Züge des apollinischen Delphi mit anklingen zu lassen. 87 Ein Vasenbild des 4. Jahrhunderts zeigt, wie Dionysos und Apollon im Delphischen Heiligtum sich die Hand reichen. 88 Nach Plutarch89 gehören die vier Wintermonate in Delphi dem Dionysos, die Sommermonate dem Apollonj er übernimmt die Herrschaft im Frühlingsmonat Bysiosj nur zu 79 80 81 82 83 84 85
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Z.B. Brit. Mus. B 259, ABV 331, 12; B 257, ABV 401, 3; Halsamphora Gotha, Corpus Vasorum 24, T.35 [1159]. Franke/Hirmer 1963, T. 4. Paus. 4,27,6. Paus. 1,31,4. Pind. Fr. 128c.; Philochoros FGrHist 328 F 172; Rede eines anonymen Sophisten Pap. Hibeh 13, Sofisti hrsg. v. Mario Untersteiner III, Florenz 1954, 210. Helmut Huchzermeyer, Aulos und Kithara in der griechischen Musik bis zum Ausgang der klassischen Zeit, Diss. Münster 1930. Satyrn gegen Flötenmusik: Pratinas TrGF 4 Fr. 3. Marsyas und Meter Diod. 3,59 f; Widderopfer: Statue Louvre 542, Lippold 1950, 321,17; Sarkophag bei Franz Cumont, Recherehes sur le symbolisme funeraire des Romains, Paris 1942, 303 Abb. 67; LIMC VI s.v. Marsyas 1. Dudelsack aus Eselshaut und/oder Flöte aus Eselsknochen? Martin Vogel, Der Schlauch des Marsyas, RhM 107, 1964,34-56. RE IA 1768 f; Dieter Kolk, Der pythische Apollonhymnos als aitiologische Dichtung, Meisenheim 1963,41-47. Aiseh. Eum. 22; 24; Soph. Ant. 1126; Eur. Ion 550-553; 714-718; Bacch. 306-309; Fr. 752; HN 141. Kelchkrater Leningrad St. 1807, ARYl 1185, 7; GGR T. 38, 2; LIMC II s.v. ApolIon ur. 768a. Plut. De E 389C.
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dieser Zeit gab er zunächst Orakel. Das hochangesehene Frauenkollegium der Thyiaden feiert alle zwei Jahre, "trieterisch ", zur Winterszeit auf dem Parnass für Dionysos ihr Fest; sie "wecken den Liknites", das Dionysoskind in der Getreideschwinge; gleichzeitig opfern im Tempel die h6sioi, ein Männerkollegium im Dienst Apollons.90 Im Tempel des 4. Jahrhunderts war im Ostgiebel Apollon mit den Musen dargestellt, im Westgiebel Dionysos mit den Thyiaden;91 Sonnenaufgang korrespondiert Sonnenuntergang. Im 4. Jahrhundert hat man auch behauptet, Dionysos sei im Tempel des Apollon zu Delphi begraben, neben dem heiligen Dreifuß und dem Omphalos.92 Da scheint Dionysos überhaupt zum dunklen, "chthonischen" Gegenpol Apollons zu werden. Religionsgeschichtlich pflegt man dieses Ineinander auf einen Akt der Delphischen Priesterschaft zurückzuführen, die in archaischer Zeit die dionysische Bewegung aufnahm, legalisierte und zugleich in Schranken hielt.93 Dokumente über diesen Vorgang fehlen. Die Wirkung jedenfalls geht aus von der wie auch immer zustande gekommenen polaren Struktur. Die älteste und maßgebende literarische Gestaltung eines Konflikts von Apollon und Dionysos geht offenbar auf Aischylos zurück. Seine Orpheus-Tragödie Die Bassariden stellte, wenn den Inhaltsangaben zu trauen ist,94 dar, wie Orpheus Dionysos verschmäht und allein den Sonnengott, den er Apollon nennt, bei seinem morgendlichen Aufgang vom Berg aus anbetet. Da sendet Dionysos den Mänadenschwarm, die Bassariden, die Orpheus zerreißen; Apollons Musen sammeln die Überreste und bestatten sie. Derselbe Dichter, der in den Eumeniden Konflikt und Versöhnung der alten Kinder der Nacht und der jungen Olympier gestaltet, scheint hier im Gegensatz der Götter einen Kampf der Religionen aufbrechen zu lassen. Und doch ist Orpheus anerkanntermaßen eben der Prophet dionysischer Mysterien; der Zerreißungsmythos macht ihn zum Opfer des eigenen Gottes - wie Hippolytos zu Aphrodite gehört. Aischylos wird aber auch dafür zitiert, dass er es in einem anderen Drama wagte, Apollon und Dionysos geradezu gleichzusetzen; Euripides ist ihm gefolgt.95 Im 4. Jahrhundert hat Philodamos in einem für das Delphische Dionysosfest gedichteten Hymnus eben diesem die Form des Paians gegeben, mit einem Refrain, in dem die Kultrufe euhoi und ie paian ineinanderklingen; Dionysos selbst wird, wie sonst Apollon, 90 91 92
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Plut. Is. 365A; Def. or. 438B; qu.Gr. 292D; Prim. frig. 953D; Mul. virt. 249E; Paus. 10,4,2 f. -+ lIll Anm.428. Paus. 10,19,4. Philochoros FGrHist328 F 7; Kallim. Fr. 643; 517; HN 140-143; MarcelPierart, Le tombeau de Dionysos a Delphes, in: Colette Bodelot (Hrsg.), Poikila. Hommage a Othon Scholer, Luxemburg 1996, 137-154; Emilio Suarez de la Torre, Cuando los limites se desdibujan: Dioniso y Apolo en Delfos, in: Carmen Sanchez Fernandez/Paloma Cabrera Bonet (Hrsg.), En los limites de Dioniso, Murcia 1998, 17-28. Rohde 1898, 1I 54 f; Jeanmaire 1951, 187-191; GGR 614. Aiseh. Bassarai p. 138 Radt = Eratosth. Catast. p. 29 Olivieri; West, BICS 30, 1983, 63-71; Massimo Di Marco, Dioniso ed Orfeo nelle Bassaridi di Eschilo, in: Agostino Masaracchia (Hrsg.), Orfeo e l'orfismo, Rom 1993, 101-153. Aiseh. Fr. 341 Radt; Eur. Fr. 477 Kannicht.
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zum Paidn.96 Spätere Allegoriker haben sowohl Apollon als auch Dionysos mit der Sonne gleichgesetzt.97
96 97
PoweU 1925 p. 165; Furley-Bremer 2001, II 52-84. Kleanthes SVF I Fr. 540; 541; 546; Macrob. Sat. I, 17/18 = OTF 538; 542 f; West 1983, 206; 235.
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2 Der Rhythmus der Feste
2.1 Festkalender Die lebendige, praktizierte Religion der Griechen konzentriert sich auf die Feste, heortai, die den Alltag unterbrechen und gliedern.! Die Ordnung des Kalenders2 ist weit-
hin identisch mit der Abfolge von Festen. Im Kalenderwesen herrscht eben darum ein kaum überbietbarer Partikularismus; es gibt praktisch ebenso viele Kalender wie Städte und Stämme - selbst in hellenistischer Zeit ist der Makedonische Kalender nur in Kleinasien, Syrien und Ägypten durchgedrungen, und erst in der Kaiserzeit hat der iulianische Kalender Vereinheitlichung gebracht; immerhin sind die alten Kalender gleich aufgebaut: Der Monat (men) ist im Prinzip ein echter "Mond ", der vom Neumond über Vollmond bis zum Verschwinden des Mondes dauert; den Ausgleich mit dem Sonnenjahr und den Jahreszeiten stellt man durch Einschaltung von Zusatzmonaten her, die freilich recht willkürlich gehandhabt wird. Die zwölf Monde des Jahres haben ihre je lokalen Namen; und diese Namen sind fast durchweg von Göttern und Festen genommen. 3 "Ziviles" Jahr und Kirchenjahr fallen zusammen; man lebt nicht nur von Mond zu Mond, sondern von einem Fest zum andern. Der Kalender einer Stadt oder eines Stammes ist stets zugleich ein Grunddokument der lokal bestimmten Religion. Alle großen Götter haben Monaten den Namen gegeben: Dios, Heraios, Athanaios, Poseidonios, Apollonios, Artamitios, Aphrodisios, Damatrios, Dionysios, Hermaios, Areios und Hephaistios sind bezeugt, auch Herakleios, Hestiaios, Latoios, Pantheios. Daneben stehen die von Festen genommenen Namen, wie Apellaios, Agrianios, Karneios, Theoxenios, von denen einige zugleich Götter-Beinamen sind: Lykeios und Apollon Lykeios, Laphrios und Artemis Laphria. Durchweg auf Festnamen gehen, auch in der Wortbildung, die ionisch-attischen Monatsnamen auf -on zurück, etwa Anthesterion. Am genauesten ist der attische Kalender bekannt.4 Er wurde im Rahmen von Solons Gesetzgebung in dieser Form fixiert; mit zusammenfassender Redaktion und Veröffentlichung der gültigen Opferkalender war dann in den Jahren nach 410 durch II 7 Anm. 1. Elias Bickermann, Ancient Chronology, London 1968. Ernst Bischoff, De Fastis Graecorum antiquioribus, Leipz. Studien 7, 1884, 315-416 und RE X 1568-1602; SamueI1972, dazu Lewis, CR 25,1975,69-72; Trümpy 1997. August Mommsen, Feste der Stadt Athen im Altertum, geordnet nach attischem Kalender, Leipzig 1898; AF Anhang; William K. Pritchett/Otto Neugebauer, The Calendars of Athens, Cambridge 1947; Benjamin D. Meritt, The Athenian Year, Berkeley 1961; Jon D. Mikalson, The Sacred and Civil Calendar of the Athenian Year, Princeton 1975; Stephen D. Lambert, The Sacrificial Calender of Athens, ABSA 97,2002,353-399; Parker 2005, mit einer "Check List of Attic Festivals" 456485. Zu dem "Kalenderfries" an der "Kleinen Mitropolis" in Athen AF 248-254, T. 34-40; EAA IV 1039-1047. --+
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Volksbeschluss ein gewisser Nikomachos beauftragt; Ergebnis war die umfangreichste Inschrift Athens, angebracht in der "Königs-Stoa" am Markt; erhalten sind von ihr nur kleine Bruchteile. 5 Der attische Kalender beginnt mit Hekatombai6n, benannt nach einem "Hekatomben"-Fest zu Ehren des Apollon. Es folgt Metageitni6n mit einem "Nachbarschaftsfest" Metageitnia; Boedromi6n, mit einem Fest des "Helfers" Apollon; Pyanopsi6n, mit dem "Kochen des Breis", Pyan6psia; Maimakteri6n und Poside6n setzen Feste voraus, die für uns praktisch verschollen sind; es folgt Gameli6n, mit einem Fest der Heiratenden, Gamelia; Anthesteri6n mit dem Anthesterienfest, über das wir einiges wissen;6 Elapheboli6n heißt nach einem Fest der "hirschjagenden" Artemis, Munichi6n nach einem der Artemis von Munichia. Die Thargelia im Thargeli6n leiten die Getreideernte ein, die Skira des Skirophori6n gehören zum Jahresabschluss.1 Bemerkenswert ist, wie wenig der Kalender auf den natürlichen Rhythmus des bäuerlichen Jahres Rücksicht nimmt: Es gibt keinen "Saat"- oder "Erntemonat", keinen "Weinlesemonat"; die Namen sind von den "künstlichen" Festen der Polis genommen. Ähnliches gilt für die anderen griechischen Kalender. Die wetterabhängige Landwirtschaft hätte mit den beweglichen Mondmonaten dauernd in Konflikt geraten müssen. So akzentuiert denn der Kalender den Rhythmus des Gemeinschaftslebens; die Naturgegebenheiten fügen sich von Fall zu Fall ein, wenn nur im Verhältnis zwischen Menschen und Göttern alles seine Ordnung hat. Die namengebenden Monatsfeste sind sehr verschiedenen Ranges. Von einiger Bedeutung waren, nach unserer Dokumentation zu schließen, Pyanopsia, Anthesteria, Thargelia und Skira. In den anderen Monaten sind andere Feste weit wichtiger; die größten Feste der Stadt Athen wie die Panathenäen im Hekatombaion,B die Mysterien im Boedromion,9 die Großen Dionysien im Elaphebolion sind in den Monatsnamen nicht markiert, auch nicht die Thesmophorien im Pyanopsion,1O die ländlichen Dionysien im Posideon, die Lenäen im Gamelion. Andere ionische Kalender haben allerdings Monate wie Thesmophorion und Lenaion, auch Plynterion oder Buphonion, wie es auch in Athen Plynteria und Buphonia gibt;l1 es gab eben weit mehr als zwölf Feste im Jahr. Die "Großen Dionysien" sind erst im 6. Jahrhundert eingeführt worden, als der Kalender längst fixiert war. Die Entstehung der griechischen Festkalender erscheint heute komplizierter als zuvor. Martin P. Nilsson12 hatte in einer Serie gelehrter Untersuchungen die These 5
Sterling Dow, The Law Codes of Athens, Proc. of the Massachusetts Hist. Soc. 71, 1953/7,3-36; Hesperia 30,1961,58-73. Die Reste sind: Hesperia 3,1934,46 und 4,1935, 13-32 ~ LSS 10; Hesperia 10, 1941,32-36; IG lI/IlI' 1357 ab ~ LSCG 17; dazu Lysias or. 30: Gegen Nikomachos.
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~V2.4.
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V 2 Anm. 34-38. V 2 Anm. 32. --+ VI 1.4. ~
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~V2.5.
V 2 Anm. 22; 41. Martin P. Nilsson, Die älteste griechische Zeitrechnung, ApolIon und der Orient, ARW 14, 1911, 423-48 ~ Nilsson 1951, I 36-61; -, Die Entstehung und religiöse Bedeutung des griechischen Kalen--+
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verfochten, dass die Monatsnamen später seien als Homer und Hesiod - die Nennung des Monats Lenaion bei Hesiod I3 wäre dann Interpolation -, und dass die griechischen Kalender im Anschluss an babylonische Anregungen im 8. Jahrhundert von Delphi aus zentral geregelt worden seien. Nun hat die Entzifferung von Linear Beine neue Basis geschaffen: in Knossos und Pylos sind eindeutige Monatsnamen bezeugt;I4 dabei entspricht Dios (di-wi-jo), der Monat des Zeus, späteren Bezeichnungen, außerdem Lapatos (ra-pa-to), ein rätselhafter und auch in der Wortbildung andersartiger Monatsname in Arkadien. Auffällig ist, wie dann die ionisch-attischen Monatsbezeichnungen sich abheben von denen der anderen Griechen; sie knüpfen in der Form auf -on an Festbezeichnungen im Neutrum Plural an, wie sie auch mykenisch bezeugt sind;I5 offenbar liegt eine nachmykenische Weiterentwicklung vor, die zusammenhängen muss mit einer Wanderung oder Kulturdiffusion der "Ionier" zu Anfang des Jahrtausends nach Kleinasien; nur so scheint die Identität des Grundstocks mit dem Attischen erklärbar. Dieser Schluss gilt zugleich für die wichtigen gemeinsamen Feste der Ionier wie Apaturia, Anthesteria, Thargelia. Auch dorisch-nordwestgriechische Gemeinsamkeit wird im Monatsnamen Apellaios deutlich; Fest und Monat der Kameen gelten als spezifisch dorisch. I6 Die entscheidende Ausformung der in den Monatsnamen gegebenen Kalenderordnung muss also bis in die protogeometrische Epoche zurückgehen. Mit späteren Veränderungen, auch nachträglichen Anpassungen und Ausgleichungen, ist jedoch immer zu rechnen. Monatsnamen konnten durch Volksbeschluss stets ohne weiteres abgeändert werden. Seit Ende des 4. Jahrhunderts kam der Brauch auf, einen Monat statt nach Olympischen Göttern nach Monarchen zu benennen, was schließlich Iulius und Augustus in unseren Kalender gebracht hat.
2.2 Jahresende und Neujahr Sinn und Verlauf eines Festes kann von den Feiernden und für sie in dreifacher Weise ausgedrückt werden, gleichsam in dreifachem Code: von außen zu beschreiben, was "getan wird" in einer Abfolge von Reinigungen, Prozessionen, Opfern, Tänzen und Agonen, ist das reflektierteste und insofern späteste Verfahren; einfacher ist die Aufzählung der Heroen und Götter, die nacheinander Ehre empfangen, eine scheinbar karge Liste, die aber dem mit der Sprache des Polytheismus Vertrauten eine Fülle von Beziehungen erschließt; außerdem erzählt man Geschichten, aitiologische
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ders, Lund 1918, Lund '1962; -, Primitive Time-Reckoning, Malmö 1920. Erga 504. Doc. 304 f; Trümpy 1997, 2 f; Aura Jorro 1985/93 S.v. -;. I 3 Anm. 268; 269; diese Monatsnamen entstanden aus Festbezeichnungen auf -ia durch Umakzentuierung des Genitiv Plural (-ion/ion), Schwyzer 1939, 488. Zu Apellaios Burkert RhM 118, 1975,8 f; Karneia -;. V 2.3.
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Mythen, die auf das Fest Bezug nehmen; sie wirken nicht selten willkürlich, ja an den Haaren herbeigezogen, und spiegeln doch oft umfassende Zusammenhänge wider, zumal sie aus dem Festerlebnis von Teilnehmern erwachsen sind. Der moderne Interpret wird seinerseits versuchen, in eigener Sprache die psychischen Spannungsbögen und die soziologische Dynamik des Festgeschehens nachzuzeichnen. Zu bedenken ist dabei, dass über allen organisierten, beschreibbaren Veranstaltungen eines Festes zugleic\:l eine gewisse Stimmung liegt, wie ein bestimmter Duft, der vom Erleben her unvergesslich bewahrt bleibt und sich doch kaum analysieren lässt; allenfalls könnte es gelingen, ihn durch die verschiedenen Mitteilungsformen gleichsam einzukreisen. Hier können nur einige Beispiele aus der Vielfalt griechischer Feste vorgestellt werden. Wichtigstes Fest der Stadt ist nach altorientalischer Tradition das Neujahrsfest. Da die Hauptfeste in die Pausen des landwirtschaftlichen Jahres fallen müssen,n ergeben sich zwei mögliche Termine für Neujahr, entweder im Frühjahr oder aber nach Abschluss der Getreideernte. Dies ist der Fall in Athen: Das Jahr beginnt mit dem Panathenäenfest im Monat Hekatombaion, etwa im Juli. Der neue Archon tritt sein Amt an mit der Proklamation: "Was ein jeder hatte, ehe er sein Amt antrat, das solle er haben und besitzen bis zum Ende seines Amtes":18 Der Rechtsfriede wird verkündet und doch zugleich eingeschränkt auf die Dauer des Jahres. So können auch Mordprozesse nicht von einem Jahr ins andere übertragen werden. 19 Zwischen Alt und Neu klafft ein Spalt, den das Ritual markiert und ausspielt. In Babyion wird der König zu Neujahr in aller Form abgesetzt, gedemütigt und schließlich neu inthronisiert. 2o In Athen beginnt der Zyklus der Feste, die das Ende vor dem Neuanfang bezeichnen, bereits zwei Monate vor den Panathenäen. Die Reinigung des zentralen Heiligtums der Athena Po lias wird fällig, "Schön-Machen" und "Waschen": Man begeht Kallynteria und Plynteria. 21 Frauen aus einem adligen Geschlecht, die Praxiergiden, sind damit beauftragt: sie nehmen dem alten Kultbild im Erechtheion den Schmuck ab, offenbar auch sein Gewand, und verhüllen das Bild mit einem Tuch. 22 Dann gibt es eine Prozession, wohl um die Gewänder zum Waschplatz zu bringen, den Unrat fortzuschaffen; voran wird eine Feigenpaste getragen, "weil dies die erste gesit-
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Arist. EN 1160a25-8. Arist. Ath. Pol. 56,2. Antiphon 6,42; 44. ANET334. Plut. Alk. 34,1; AF 17-22 (falsch ist die Verquickung mit der Pallas-Prozession, -+ II 4 Anm. 43); offen ist das Problem des genauen Datums: dass nach dem Nikomachos-Kalender am 29. Thargelion der Athena ein "Tuch" gestiftet wird (LSS 10 A 5), schien dieses Datum zu sichern, kann aber terminus post quem sein: dagegen steht die Tatsache, dass an diesem Tag mehrfach Volksversammlungen stattfanden, Mikalson 1975, 160-164. Der Kalender von Thorikos (Lupu 2005 nr.l,52. -+ Y.l Anm. 6) setzt die Plynteria in den Skirophorion. Vgl. auch Louisa Koenen, Eine Hypothesis zur Auge des Euripides und tegeatische Plynterien, ZPE 4, 1969,7-18. Plut. Alk. 34,1.
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te te Nahrung war, die die Menschen kosteten?3 man erzählt zudem, nach dem Tod der Kekropstochter Aglauros, der ersten Athena-Priesterin, habe man ein Jahr lang keine Gewänder gewaschen. 24 So erinnert man an Tod und Urzeit und blickt gleichzeitig voraus auf einen Anfang mit "gesitteter" Nahrung, wobei doch der Feige bei aller Süße immer etwas Primitives, Dunkles, ja Obszönes anhaftet. Die gewöhnliche Lebensordnung ist dabei unterbrochen; die Göttin ist an diesem Tag nicht da für ihre Stadt. Darum gilt der Tag als Unglückstag, apophras;25 zu seinem Unglück kam Alkibiades gerade an diesem Tag nach Athen zurück. Wenig später folgt das geheimnisvolle Nachtfest Arrheph6ria; in ihm findet der priesterliche Dienst zweier Mädchen, der Arrhephoren, sein Ende, die fast ein Jahr lang auf der Akropolis gewohnt haben. "Sie laden sich auf den Kopf, was die Athenapriesterin ihnen zu tragen gibt, wobei weder diese weiß, was das ist, was sie ihnen gibt, noch die Trägerinnen es wissen. Es gibt aber in der Stadt einen heiligen Bezirk, nicht weit entfernt von der ,Aphrodite in den Gärten', und durch ihn hindurch einen von der Natur geschaffenen Weg unter die Erde: hier also steigen die Jungfrauen hinab. Unten lassen sie zurück, was sie mitgebracht haben, etwas anderes nehmen sie und bringen es, eingehüllt wie es ist. Und diese Jungfrauen entlässt man daraufhin".26 Was in den verschlossenen Körben (kistai) hinabgetragen, was verhüllt empor geholt wurde, lässt sich allenfalls raten; Arrheph6ros scheint "Tauträgerin" zu heißen, wobei "Tau" zugleich auf Befruchtung und Nachwuchs deutet. Die Ausgrabungen am Nordhang der Akropolis haben eine steile Treppe - die ursprünglich, in der spätmykenischen Burg, zu einer Quelle führte - und dann ostwärts in den Felsen ein kleines Heiligtum des Eros nachgewiesen; soweit lässt sich der Weg der Arrhephoren verfolgen. Das Aglauros-Heiligtum allerdings liegt weiter östlich an der Akropolis;27 die Topographie des Ritus wird uns hier nicht ganz klar. Gespiegelt ist das Ritual im Mythos von den Töchtern des Kekrops,28 des halb noch schlangengestaltigen Urkö23 24 25 26
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Paus. Att. e 1; zur Feige Ath. 78bc; Rohde 1898, II 406 f. Phot. Kallynteria kai Plynt
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nigs der athenischen Burg: Athena übergab an Aglauros, Herse und Pandrosos eine Kiste mit dem Verbot, sie zu öffnen; in Athenas Abwesenheit, zur Nachtzeit siegte die Neugier: Aglauros und Herse erblickten im Behältnis das geheimnisvolle Hephaistos-Kind Erichthonios, zugleich aber eine oder zwei hervorschnellende Schlangen, so dass sie vor Entsetzen sich über den Abhang der Burg in den Tod stürzten. Unterhalb der Steilfelsen ist das Heiligtum der Aglauros; Pandrosos, die wie ihre Schwester Herse den "Tau" im Namen führt, die im Mythos frei von Schuld bleibt, hat ihren Bezirk vor dem Erechtheion, wo der heilige Ölbaum wächst; vom Tau benetzt, verkörpert er die Kontinuität der Polis-Ordnung. 29 Hierzu gehört der fast ein Jahr dauernde Dienst der Mädchen, die auch beim Weben des Panathenäen-Peplos den Anfang machen. In den Kistai waren vielleicht einfach die Rückstände von der Reinigung der ein Jahr lang brennenden Lampe der Athena, also Wolle und Öl; der Mythos macht aus schlichten Dingen Symbole für Unerhörtes: Athena wischte sich mit Wolle den Samen des Hephaistos vom Schenkel und warf dies auf die Erde, woraus Erichthonios entstand. 30 Woher das verborgene Kind im Kreis der Jungfräulichkeit stammt, davon sollen weder Athenas Priesterin noch die Mädchen wissen. Die Schlange gehört zu Athena, grauenerregend und doch "faszinierend" auch im Sinn der phallischen Befruchtung; dass sie eine Erscheinung von Erichthonios-Erechtheus sei, wurde gesagt und geglaubtY Keine Ziege durfte auf die Akropolis getrieben werden - weil die Ziege eine Feindin des Ölbaums sei -, außer einmal im Jahr, zum "notwendigen" Opfer.J2 Es liegt nahe, diese Ausnahme mit dem Fest des Unerhörten, den Arrhephoria, zu verbinden. Mythischer Mädchentod und Ziegenopfer korrespondieren auch sonst. Vom Opfer bleibt das Fell, vom Opfer der Ziege (aix) die Aigis, Athenas Umhang, von dem panischer Schrecken ausgeht;33 im Mythos kehrt Athena zurück, gerade als die Kekropiden die kiste geöffnet haben und zu Tode stürzen. Neun Tage später, am 12. Skirophorion, wird das Skira-Fest begangen mit einer merkwürdigen Prozession: Unter einem Baldachin "ziehen von der Akropolis zu einem Ort, der Skiron heißt, die Priesterin der Athena, der Priester des Poseidon und der des Helios; den Baldachin tragen Eteobutaden".34 Die Eteobutaden sind das attische Adelsgeschlecht, das auch die Athenapriesterin und den Erechtheuspriester stellt; der Ahnherr Butes gilt als Bruder des Erechtheus. 35 Der Ort Skiron, ein Heroen-Bezirk, liegt außerhalb der Stadt am Weg nach Eleusis; unweit davon ist ein
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206; LIMC I s.v. Aglauros, Herse, Pandrosos. - II 5 Anm. 18. ApolIod. 3,188; HN 170. -;> 1111 Anm. 200. Paus. 1,24,7. Zum Verhältnis von Erichthonios und Erechtheus - HN 168; 176. Varro r.r. 1,2,20. --+ 1111 Anm. 172. Lysimachides FOrHist 366 F 3; AF 40-50 (falsch ist die Verquickung mit den Thesmophoria); HN 161-168; Parker 2005,173-177. Toepffer 1889, 113-133.
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Heiligtum der Demeter und Kore, wo auch Athena und Poseidon geehrt werden: 36 dies ist offenbar das Ziel jener Prozessionen; Athena und Poseidon sind da bei den Eleusinischen Gottheiten zu Gast. Die Priester von Erechtheus und Athena ziehen an diesem Tag nicht hin zu "ihrem" Tempel auf der Akropolis, sondern weg von ihm bis über die Grenze der Stadt; dies ist keine normale pompe, sondern ein Wegführen, eine apopompe: Stadtgöttin und Urkönig, in ihren Priestern repräsentiert, verlassen Burg und Stadt. Die Geschlechtsgenossen geleiten sie; sie tragen das "Widderfell des Zeus" (Dias k6idion), das zur Reinigung von Mordbefleckten gebraucht wirdY Der Auszug in Richtung Eleusis erscheint im Mythos als Weg des Erechtheus in den Kampf gegen die Eleusinier unter Eumolpos, in dem der König sein geheimnisvolles Ende fand. "Skiros" wird als Seher der Eleusinier eingeführt, der fiel und mit seinem Grab dem Ort den Namen gab; Erechtheus' Gemahlin wird zur ersten Priesterin der Athena eingesetzt - so Euripides in seinem Drama Erechtheus. 3B Damit gibt der Mythos jener apopompe die radikalste Deutung: Zelebriert wird in der Monatsmitte vor Jahresende der Tod des Königs. Ein besonderes Fest sind die Skira für die Frauen von Athen: Dies ist einer der wenigen Tage im Jahr, an denen sie die Abgeschiedenheit des Frauengemachs verlassen und kraft altem Brauch sich versammeln dürfen; sie entwickeln ihre eigene Organisation; hohe Auszeichnung ist es, den Vorsitz zu führen. Den Männern ist das Ganze nicht geheuer; Aristophanes malt aus, wie die Weiber bei dieser Gelegenheit ihr Komplott schmieden, durch die "Weibervolksversammlung" die Macht im Staate zu ergreifen. 39 Die patriarchalische Ordnung des Hauses wird mit aufgelöst, indem die höchste Autorität von der Burg verschwindet. Die sonstigen Reinigungen und Opfer des Tages werden nicht beschrieben. Das Wort skiros scheint etwas wie "weiße Erde" zu bedeuten; es heißt einmal, Theseus habe, ehe er Athen verließ, ein Athenabild aus "Gips" hergestellt und getragen.40 Weitere Andeutungen weisen auf Würfelspiel und Ausgelassenheit "am Skiron" hin. Am übernächsten Tag findet dann auf der verwaisten Akropolis das umständlichste und merkwürdigste Stieropfer des Jahres statt, der "Rindermord", Buph6nia, für den "Zeus der Stadt", Dii Poliet; die Dipolieia sind schon bei Aristophanes sprichwörtlich für einen alten, unsinnigen Zopf.41 Die Seltsamkeiten beginnen, indem das Tier sich selbst zum Opfer bestimmen muss: Eine Reihe von Ochsen wird um einen 36 37 38 39 40 41
Paus. 1,36,4; 37,2. Paus. Att. d 18 Erbse. Eur. Fr. 370,90-97 Kannicht; PR II 140-143; HN 166-168. LSCG 36,10-12; Aristoph. Ekkl. 18; HN 164 f. Schol. Paus. 1,1,4. Zum Gips in der Landwirtchaft Brumfield 1981,173. Sprachlich unklar ist, inwieweit zwischen den Stämmen skir- mit langem und mit kurzem i und skyr- zu differenzieren ist. Aristoph. Nub. 984 f AF 158-174; Cook 1940, III 570-873; HN 153-161; Parker 2005, 187-191; Haupttext Theophrast bei Porph. abst. 2,28-30 ~ Fr. 584 Fortenbaugh. Das "Herumtreiben" der Ochsen um den Altar ist dargestellt auf Vasen des Gela-Malers, Georgios Bakalakis, AK 12, 1969, 56-60; HN 155,7.
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Altar herumgetrieben, auf dem Getreidegaben niedergelegt sind; das Tier, das vom "Heiligen" zu fressen beginnt, wird auf der Stelle mit der Axt niedergeschlagen. Nach der Legende war es der spontane Zorn eines frommen Bauern, der wegen solcher Entweihung des Altars zum ersten" Ochsenmord " ausholte. Doch dieser Totschlag bedeutet Schuld: Der "Ochsenschläger" wirft das Beil fort und flieht; andere zerlegen das Opfertier und halten ein Mahl. Daran schließt sich, nun ganz skurril, eine Gerichtsverhandlung im Prytaneion über die Schuld am Ochsenmord. Der "Schläger" bleibt verschwunden, die anderen Beteiligten aber schieben jeweils die Schuld den anderen zu, die Wasserträgerinnen denen, die Beil und Messer wetzten, diese dem, der das Beil zugereicht hat, dieser dem Schlächter, dieser dem Messer, das zuletzt, stumm wie es ist, ins Meer geworfen wird. Die Ochsenhaut wird ausgestopft, der Ochse aufgestellt, vor einen Pflug gespannt: Durch solche Auferstehung ist der Mord rückgängig gemacht. Dass eine solche "Unschuldskomödie" mit den Schuldgefühlen, die sie ausdrückt, etwas sehr Altes, bis in die Jägerzeit Zurückreichendes ist, hat Karl Meuli gezeigtY Zusätzliche religionswissenschaftliche Hypothesen, wonach dieser Stier eigentlich oder ursprünglich der Gott selbst oder ein Totem, der Vegetationsgeist oder der König sei, bringen mehr zusätzliche Mythologie als Klärung. Das Töten des Opfertiers, selbstverständlicher Bestandteil jeden Tieropfers, wird hier so ausgespielt, dass eine Atmosphäre des Unheimlichen, Schuldhaften zustande kommt, das sich doch durch Skurrilität selbst aufhebt. Gerade im letzten Jahresmonat hat dergleichen seinen Platz. Mit den Skira ist dieses Opfer vielfältig verbunden: Angehörige eines Eleusinischen Geschlechtes, Keryken, sind es, die den "Ochsenmord" vollführen, nachdem zwei Tage zuvor Erechtheus und Athena gen Eleusis gezogen waren; dabei führen die Keryken ihr Geschlecht auf Hermes und die eine Kekropstochter, Herse, zurück, während der Hierophant aus dem Geschlecht des Eumolpos steter Gast im Athener Prytaneion ist. Athen und Eleusis spielen zusammen in einem Ritual der Verkehrung und Auflösung. Die "Auflösung", schreibt Platon,43 ist nicht weniger gut und notwendig als das Werden des Neuen; darum will er in seinem Staat den letzten Monat des Jahres dem Gott der Unterwelt, Pluton, weihen. Schrecken der Lebensvernichtung wird im Ritus demonstriert; die Menschen möchten sich distanzieren durch Flucht und Schuldabwälzung, und doch, wie die aitiologische Legende paradox und eindrucksvoll schildert, die einzige Form der Bewältigung ist die Wiederholung unter Beteiligung von allen; so ist der "Mord" zugleich Bestätigung der Stadt, Zeus dem Stadtherrn zu Ehren. Der neue Mond bringt neuen Anfang; zunächst die namengebende "Hekatombe" für Apollon am 7. Tag; am 8., erzählt man, sei Theseus nach Athen zurückgekehrt.44 42 43 44
Meuli 1975, 907-1021; zu den Buphonia 1004-1006. Leg. 828cd. AF 201; Plut. Thes. 12,2, vgl. Anm. 24.
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Am 12. indes kommt erst nochmals ein Fest der Verkehrung und des Rollentausches: das Kronos-Fest, Kr6nia.45 An ihm ist die harte Ordnung der Gesellschaft in anderer Weise als an den Skira aufgehoben: Die Sklaven, sonst rechtlos, unterdrückt und geschunden, werden von ihren Herren zu Tisch geladen zu einem opulenten Mahl; sie dürfen auch mit Lärm und Geschrei in der Stadt umherziehen. Daneben muss ein offizielles Opfer stehen, hat doch Kronos mit Rhea Tempel und Altar. Kronos repräsentiert die Periode, die der von Zeus gebrachten Ordnung vorausliegt; in Kombination mit dem Zeitalter-Mythos wurde er zum Herrscher der Goldenen Zeit.46 Herrschaft und Arbeit, die Zwänge gegenwärtigen Alltags, galten da "noch nicht"; so taucht man an seinem Fest zurück in eine ideale Urzeit, die freilich nicht Bestand haben kann. In manchen ionischen Städten steht der Monat Kronion an Stelle des attischen Skirophorion; in Athen ergibt sich eine Motivverdoppelung, die den Kontrast von Auflösung und Neubeginn unter wechselnden Aspekten unterstreicht. Es folgt am 16. Hekatombaion das Fest Synoikia,47 das als Erinnerung an den von Theseus durchgeführten "Synoikismos" gilt, die Zusammenführung aller attischen Dörfer zu der einen Stadtgemeinde. Man opfert der Eirene, dem Frieden, und zwar auf der Burg; die Polis steht wieder klar umrissen im Blick, Frauen und Sklaven sind wieder in ihre Schranken verwiesen. Dann endlich als Geburtstagsfest der Stadt die Panathenaia.48 Diesem Fest fehlt all das Merkwürdige, Nächtliche, Unheimliche oder Skurrile der vorangegangenen Feste; es bleibt der helle Glanz gleich dem Marmorfries des Parthenon. Seit 566 werden alle vier Jahre die Großen Panathenäen als panhelleniseher Agon gefeiert; die Grundelemente des Fests sind aber auch den "kleinen" jährlichen Panathenäen eigen, Opferprozession und Agon. Auftakt bildet ein Nachtfest, pannychis; mit Sonnenaufgang wird neues Feuer eingeholt, im Fackellauf vom Hain des Akademos vor der Stadt,49 wo man Eros und Athena gemeinsam opfert, über die Agora bis hin zum Altar der Athena auf der Akropolis. Am Dipylon-Tor, wo der Weg von Eleusis in die Stadt mündet, formiert sich der große Zug, den der Fries vom Parthenon in zeitentrückter Schönheit festgehalten hat. Alle Glieder des Gemeinwesens haben ihren Platz, die 45
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GF 35-40; AF 152-155; Altar und Tempel des Kronos: Philochoros FGrHist 328 F 97; Paus. 1,18,7. Max Pohlenz, Kronos und die Titanen, NJb 37, 1916,549-594; Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Kronos und die Titanen, SBBerlin 1929, 35-53 = Kleine Schriften V 2, 1971, 157-183, suchten in Kronos einen vorgriechischen Gott (-+ III 2 Anm. 58); Nilsson GGR 510-516 versteht Kronos der Sichel wegen als Erntegott, dagegen West 1966, 217 f; ferner Hendrik S. Versnel, Greek Myth and Ritual: The Case of Kronos, in: Bremmer 1987, 121-152; Burkert 2003b, 154-171; Alberto Bernabe, Isimu 7, 2004, 63-76. In Kydonia, Kreta, dürfen an den Kronia die Sklaven die Freien sogar peitschen, Ephoros FGrHist 70 F 29; beim Peloria-Fest in Thessalien löst man Gefangenen die Fesseln, Baton FGrHist 268 F 5. Vgl. Plat. Leg. 713b; auf der Insel der Seligen, Hes. Erga 173a, Pind. 01. 2,70. -+ IV 2 Anm. 39. AF 36-38. AF 22-35; HN 173-177; Parke 1987,33-71; Neils 1992; 1996; Parker 2005,253-269. Vgl. Eur. Heraclid. 777-783; Liste von Preisen: IG lI/lIP 2311. Zu Hekademos/Akademos -+ IV 4 Anm. 57; Ath. 561e; Schol. Soph. O.K. 701.
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jugendlichen Reiter und die vornehmen Alten, die Mädchen mit dem Opfergerät, Körben und Kannen; dazu die Opfertiere. Schon bei den Kleinen Panathenäen gibt es Opfer für Athena Hygieia und andere, bei denen die Beamten, Prytanen, Archonten, Strategen allesamt bedacht werden, dann werden über 100 Schafe und Kühe am "großen Altar" geschlachtet, und auf dem Marktplatz wird das Fleisch an die ganze Bürgerschaft verteilt. 50 Mitte des eigentlichen Festaktes zuvor ist die Übergabe des neuen .Gewands an das alte x6anon der Athena Polias; die Frauen von Athen haben gemeinsam Monate lang daran gearbeitet; das traditionelle Bildmotiv auf dem gewirkten Tuch ist der Gigantenkampf, der auch im Giebel des älteren, von den Persern zerstörten Athenatempels dargestellt war. Während die Peplos-Übergabe im Zentrum des inneren Parthenon-Frieses dargestellt ist, zeigt der Ost-Giebel darüber die Geburt der Athena inmitten der Götter; die Kentaurenkämpfe auf den äußeren Metopen variieren das Thema vom Sieg über außerzivilisatorische Gewalt: Niederlage des Niederen, Triumph des Höheren, so scheint alles an seinen rechten Platz gerückt. Der Versuch, den sportlichen Agon der Großen Panathenäen auf das Niveau der panhellenischen Agone zu heben, ist nicht recht gelungen. 51 Von besonderer Bedeutung wurde, dass Hipparchos, der Sohn des Peisistratos, Homer-Rezitationen ins Festprogramm einführte;52 damit begann Athens Rolle als literarisches Zentrum Griechenlands. Die eigentliche Besonderheit der Panathenäen-Agone war eine altertümliche Form des Wagenrennens, das ja überhaupt Fortsetzung des bronzezeitlichen Wagenkampfes ist: der Apobdtes, Absprung des gewappneten Kriegers vom fahrenden Wagen mit anschließendem Wettlauf zu Fuß. Erfinder des Wagenfahrens im Kriegergewand ist in der Überlieferung Erichthonios, der Stifter der Panathenäen. 53 Wie das Kind in der kiste zum Mann gereift ist, kann der Mythos großzügig übergehen; genug, beim Panathenäenfest ist der König zugegen in voller Kraft; in kriegerischem Sprung ergreift er Besitz von seinem Land. Aus dem Geheimnis der Arrhephoren-Nacht ist die Herrschaft des Tages geworden. Dies ist das Neujahrsfest der Polis Athen und seiner Göttin. Es ist ein weitgespannter Bogen, der doch in einem sinnreichen Rhythmus schwingt. Gewiss gibt es zufällige Agglomerationen - Skira und Kronia einerseits, Hekatombaia, Synoikia, Panathenaia andererseits erscheinen fast als Dubletten; die Buphonia könnten fehlen oder für sich allein das Jahresfest vertreten, wie es andernorts ein Monat Buphonion andeutet. Ihre Reihenfolge aber ist nicht austauschbar. Athen ist die Stadt Athenas; aber dieser Fest- Zyklus ist dadurch nicht ausgefüllt. Fast ein ganzer Götterolymp samt Heroen wird in Bewegung gebracht: Athena, Aglauros, 50 51 52 53
10 II/HF 334 = LSCO 33 B 10 ff; vgl. AF 25 f. --+ II 7 Anm. 75. Plat. Hipparch. 228b. Es geht hier um eines der umstrittensten Probleme der Homer-Philologie. Es genüge der Verweis auf Morris/Powell 1996, 82-84; Burkert 2001, 198-217. Dion. HaI. Ant. 7,73,2 f; Theophrast Fr. 657 Fortenbaugh = Harpokr.s.v. apobdtes; dazu Eur. Iph. Aul. 211-230; HN 176; Burkert 2007,112-114.
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Pandrosos, Kurotrophos, Erechtheus, Aphrodite und Eros zu Beginnj Athena, Poseidon-Erechtheus, Apollon-Helios, Demeter und Kore, der Heros Skiros an den Skiraj Zeus Polieusj dann Apollon, Kronos, Theseus, Eirene, schließlich neben Akademos und Pandrosos Erechtheus und vor allem Athena, die am Ende wie am Anfang steht. Auch in den Opfertieren ist der Spannungsbogen ausgedrückt, Ziege, Widder, Stier, erst zuletzt die Normalopfer von Schaf und Rind. Verschiedene Patriziergeschlechter sind der Reihe nach beteiligt, Praxiergiden, Eteobutaden, Keryken, zum Schluss die ganze demokratisch gewählte Beamtenschaft. Es gibt die Dimension von Zentrum und Grenze, Drinnen und Draußen: von der Akropolis zum Skiron, von Akademos zur Akropolisj die Grenzziehungen der Gesellschaft werden berührt, die Frauen, die Metöken, die Sklaven, wie auch die Grenzen des Lebens überhaupt mit Königstod, Zeugung, Jungfrau, Kind und Eros. Was fehlt, im Kontrast etwa zu Babylonischem, ist die Ausweitung ins Kosmische: Keine Weltschöpfung, kein Drachenkampfj selbst die erdgeborenen Giganten sind Hopliten. Entfaltet wird ein anthropomorpher, auf Menschenrnaß und Menschenexistenz abgestellter Organismus. Deutlich knüpft der zentrale Zusammenhang von Arrhephoria über Skira bis Panathenaia an die Gestalt des Urkönigs Erechtheus anj der Ritus der Stadt, die das Muster der Demokratie geworden ist, scheint ein Königtum zu perpetuieren, das realiter die mykenische Epoche nicht wesentlich überdauert haben wird. Dies heißt nicht, dass der Festzyklus als solcher bronzezeitlich ist. Vielleicht geht die religiöse Kraft gerade vom symbolisierten, nicht mehr realen Königtum aus. Für die anderen griechischen Städte sind ähnliche Festperioden zu vermutenj einiges Vergleichbare wird im Umkreis der Hera von Argos sichtbar.54 Im übrigen versagt die Dokumentation.
2.3 Karneia Die Kameen sind das wichtigste Jahresfest der Dorier, das regelmäßig auch einem Spätsommermonat den Namen gibt. 55 Dass während dieses Festes nicht Krieg geführt werden konnte, hat die militärischen Aktionen von Argos und Sparta mehrfach empfindlich gestört, am auffälligsten während der Perserkriege: An den Kameen lag es, dass die Spartaner zur Schlacht von Marathon zu spät kamen und dass Leonidas mit einem unzureichenden Kontingent an die Thermopylen geschickt wurde. 56
54 55
56
HN 181-189. Wide 1893, 63-87; GF 118-129; CGS IV 259-263; Prehn RE X 1986-1988. Karneia als Fest der Dorier: Thuk. 5,54; Paus. 3,13,4; Schal. Theokr. 5,83; Knidos ...... V 2 Anm. 65; Thera ...... V 2 Anm. 66; Kyrene ..... V 2 Anm. 83. Hdt. 6,106; 7,206; GF 118 f; Papp 1957,75-106.
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Das Datum im Monat ist nicht mehr festzustellen; in Kyrene wird der 7. Tag genannt, in Thera der 20., in Sparta der Vollmond;57 das Fest dauert dort neun Tage; nimmt man die Daten von Kyrene und Sparta zusammen, kommt man auf den 7. bis 15. Karneios, so dass das Fest mit Vollmond endet. Das Fest in Sparta, heißt es, ist "ein Abbild soldatischer Lebensführung":58 Man errichtet neun "Schattendächer", skiddes, eine Art Hütte oder Zelt; in jeder speisen neun Männer, und sie tun alles auf Kommando; je drei Phratrien sind dabei vertreten. Eine repräsentative Auslese von "Männern" also, die sich außerhalb des normalen Lebensbereiches unter einem provisorischen Dach zu gemeinsamem Opfermahl zusammenfinden, abgesondert und doch aneinandergebunden im quasimilitärischen Lagerleben. Daneben werden aus den Unverheirateten fünf von jeder Phyle ausgelost, "Karneatai",59 die im "Dienst für den Karneios" unter anderem die Kosten für das Fest zu tragen haben, für Opfer und Chöre. Denn zur Atmosphäre des Festes gehören insbesondere die Tänze von Jünglingen und Mädchen. Ein Vasenbild zeigt neben einem Pfeiler, der "Karneios" beschriftet ist, Knaben und ein Mädchen mit weit ausladenden Blätterkronen, "kalathiskoi", sich schmückend oder im Tanz wirbelnd. 60 ApolIon selbst freut sich, wie er noch vor der Gründung von Kyrene die dorischen Krieger mit den blonden Libyerinnen sich im Reigen schwingen sieht, "als die festgesetzten Zeiten der Karneen gekommen waren".61 Seit dem Jahr 676 sind in Sparta die Karneen zu einem großen musischen Agon ausgestaltet worden, der für die Entwicklung der griechischen Musik und Dichtung eine zentrale Rolle spielte. 62 "Nicht nur einen Tag" dauern Lied und Tanz der Jungen, denn Apollon ist reich an Liedern. 63 Einige der Karneaten treten zu einem merkwürdigen Wettlauf an; sie heißen "Traubenläufer", staphylodr6moi. Ihnen gegenüber steht einer, der nicht nackt läuft wie sonst die griechischen Athleten, sondern mit Wollbinden umhängt wird; er ist beim Lauf mit Sicherheit im Nachteil, und darauf kommt es an: Er beginnt den Lauf mit einem Gebetsruf an die Götter zum Wohl der Stadt; die anderen verfolgen ihn, "und wenn sie ihn einholen, erhoffen sie Gutes für die Stadt, nach einheimischer Überlieferung, andernfalls das Gegenteil".64 Ein "Karneenläufer" wird auf einer Inschrift
57 58 59 60 61 62 63 64
Plut. q.conv. 717D; 10 XII 3 Supp!. 1324 (--+ V 2 Anm. 66); Eur. Alk. 448 f. Demetrios von Skepsis Ath. 141e; nichts spricht dafür, dies den "zweiten Teil" des Festes zu nennen, mit Wide 1893, 81, OF 122. Hsch. Karnedtai; das Wort "Phyle" ist ergänzt. Krater in Tarent, Pierre Wuilleumier, RA 30, 1929, 197-202; Arthur D. Trendall, The red figured vases of Lucania, Campania and Sicily, Oxford 1967, 55 nr. 280; Arias/Hirmer 1960, 234-235. Kallim. Hymn. 2,85-87. Sosibios FOrHist 595 F 3; Hellanikos FOrHist 4 F 85/6 Karneonikai. Kallim. hymn. 2,30 f. An. Bekk. 305,25; dazu Hsch. staphylodr6moi; Weihung eines staphylodr6mas, IO V 1, 650; 651.
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aus Knidos geehrt,65 ein anderer aus Thera rühmt sich, als erster ein reiches Festmahl nach dem Lauf gestiftet zu haben. 66 Offenbar ist eine begrenzte Rennstrecke vorausgesetzt, so dass das Einholen des Behinderten nicht ganz sicher ist. In Kyrene hat, laut Pindar, der Gründer-König Aristomenes sogleich einen gepflasterten Weg für die Apollon-Prozession angelegt. 67 In Sparta gibt es nach Pausanias 68 einen Rennweg, Dramos, wo die spartanische Jugend sich im Lauf übt; an seinem Ende ist der Tempel der Eileithyia, des Apollon Karneios und der Artemis Hegemone, der "Anführerin"; agetas, "Anführer", war der Titel eines am Fest zu priesterlichem Dienst Geweihten;69 Eileithyia deutet auf neues Leben, das ans Licht tritt. Der Wettlauf ist als schlichteste Sportart in Agonen regelmäßig vertreten; das Einzigartige am Karneenlauf ist demgegenüber, dass hier einer vorausläuft, der einzufangen ist; eine Jagd also, wobei von dem zur Beute Bestimmten nicht etwa ein Verzweiflungs schrei, sondern ein guter Wunsch für die Polis erwartet wird: willige Zustimmung des Opfers.70 Zum Opfer gehören auch jene Wollbinden. Herodot beschreibt ein angebliches Menschenopfer für Zeus Laphystios in Thessalien; der dazu Bestimmte aus dem Geschlecht des Phrixos werde "mit Wollbinden völlig zugedeckt" zum Altar geführt. Phrixos selbst sollte im Mythos geopfert werden, ein goldener Widder brachte ihm Rettung.7I Zum Karneenfest seinerseits gehört ein Widderopfer;72 eine alte Weihung an Karneios aus Lakonien zeigt ein Paar Widderhörner über der Inschrift,73 ja es wird versichert, kdrnos heiße überhaupt "Widder".74 Der bindenumwundene Karneenläufer und der Widder vertreten einander, ähnlich wie es der Phrixos-Mythos andeutet. Sam Wide hat einleuchtend den Karneenlauf mit europäischen Erntebräuchen zusammengestellt, bei denen ein Tier verfolgt und getötet wird;75 der Name "Traubenläufer" weist auf die Weinernte; und doch liegt der Monat Karneios für die normale Weinlese zu früh. 76 Noch enger verwandt ist das Einfangen und Töten eines "Wilden 65 66 67 68 69 70 71 72 73
74 75 76
AJA 77, 1973,413-424; Bull. epigr. 1974 nr. 549; Datierung der Inschrift: 180/70, des Karneensiegs: Ende 3. Jahrhundert IG XII 3 Suppl. 1324; GF 125 f; dass Kdrneia theon (nicht theon) zu lesen ist, beweist jetzt die Parallele aus Knidos. Pind. Pyth. 5,93. Paus. 3,14,6. Hsch. agetes; GF 123. --+ II 1 Anm. 6. Hdt. 7,197; HN 130 f. Theokr. 5,83. BSA 15, 1908/9, 81-85; IG V 1, 222; vgl. BCH 89, 1965, 370-376; Paus. 4,33,4: ApolIon Karneios und Hermes mit Widder. Friedrich Imhoof-Blumer, Revue Suisse de Numismatique 21, 1917,5-11, deutet Münzdarstellungen eines jugendlichen Gottes mit Widderhörnern als ApolIon Karneios. Hsch. kdrnos. Wide 1893, 76-81. Karneios - Metageitnion: Plut. Nik. 28,2; zwei Monate später ist das attische Fest Oschoph6ria (AF 142-147), das den Karneen vergleichbar scheint: Prozession mit Trauben und Wettlauf, Mythos von
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Manns" oder auch "Bären" im jahreszeitlichen Kultspiel,77 das keinerlei Bezug zur Ernte hat. Wide deutete im Anschluss an Mannhardt das Opfer als den "Vegetationsdämon". Die Dorier gaben dem Fest einen anderen, spezifischen Sinn: Die aitiologischen Legenden verbinden das Fest bald mit der Einnahme Troias, bald mit der Rückkehr der Herakliden, d.h. der Dorischen Wanderung, bald mit der Gründung von Kyrene; gemeinsam ist die Idee des Aufbruchs zur Eroberung. "Es heißt, dass die Griechen auf dem Ida bei Troia Kornelkirschbäume (kraneiai), die im Hain des ApolIon wuchsen, abhieben, um das Hölzerne Pferd daraus herzustellen; als sie merkten, dass der Gott ihnen zürnte, versöhnten sie ihn durch Opfer und nannten ihn Apollon Karneios".78 Das willkürliche Wortspiel kraneiai-Karneios zeigt, dass einigermaßen gewaltsam das dorische Fest im eigentlich heroischen, troianischen Bereich verankert werden soll; sind doch Agamemnon und Menelaos Könige der späteren Dorier-Zentren Argos und Sparta. Aus dem Bezirk ApolIons, durch Verschuldung und Sühne hindurch, wird das Werkzeug zur Einnahme Troias gewonnen. Geläufiger ist die Erzählung, Karnos sei ein Seher gewesen, der den Herakliden bei ihrem Einbruch in die Peloponnes begegnete; er war kein Feind, doch Hippotas der "Reiter" erschlug ihn; um die Untat zu sühnen, welche Pest und alles Unheil über das Heer brachte, wurde das Karneenfest eingeführt. 79 Wieder geht es dem eigentlichen ktiegerischen Erfolg voraus. Pausanias führt noch eine andersartige, spartanische Lokaltradition an: 80 "Karneios der Hausgenosse", Oiketas, sei ein göttliches Wesen, das schon vor der Ankunft der Herakliden in Sparta im Haus des Sehers Krios seinen Kult hatte; dieser habe den Doriern Kunde gegeben, wie sie Sparta erobern konnten. Kri6s heißt ,;Widder"; der Seher Krios ist offenbar nur eine Übersetzung des "Sehers Karnos"; zu "Karneios Oiketas" muss ein Widderopfer gehören. Inschriften nennen Priester und Priesterin von "Karneios Oiketas und Karneios Dromaios",81 was die Zusammengehörigkeit von Widderopfer und Lauf auf dem Dromos bestätigt. Man führte in der Prozession ein Gebilde mit, das man als Floß verstand, Erinnerung an die Flöße, mit deren Hilfe die Herakliden bei Rhion in die Peloponnes eingefallen waren. 82 Nach Kallimachos feiern die dorischen Einwanderer in Libyen noch vor der Gründung von Kyrene in Azilis, als die Zeit gekommen ist, ihre Karneen und wirbeln mit den Libyerinnen im Tanz; von dort werden sie dann in nächtlichem Aufbruch zur
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der Ankunft des Theseus und dem Tod seines Vaters Aigeus (dazu Waldner 2000, 102-175). Richard Bernheimer, Wild Men in the MiddleAges, Cambridge 1952,52-59. Paus. 3,13,5; vgl. Schol. Theokr. 5,83d; ein Troianer Karneos bei Alkman PMO 52. Theopomp FOrHist 115 F 357; Paus. 3,13,4; Schol. Kallim. hymn. 2,71; Schol. Pind. Pyth. 5,106; Konon FOrHist 26 F 1,26. Paus. 3,13,3 f; vgl. das unbetretbare oikema des ApolIon Karneios in Sikyon, Paus. 2,10,2. 10 V 1, 497; 589; 608: "Apollon Dromaios" in Kreta und Sparta: Plut. q.conv. 724C. An. Bekk. 305,31; Hsch. stemmatiaion; Felix BöIte, RhM 78, 1929, 141-3; Zugehörigkeit zu Karneia nicht sicher.
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Quelle Apollons in Kyrene geführt. 83 Draußen vor der Stadt, im Provisorium, feiert man die Karneen, wie die 81 ausgewählten Männer in Sparta draußen ihr Lagerleben führen. Alte Schuld ist mit dem Fest verbunden, vergegenwärtigt in Wettlauf und Widderopfer, doch wird sie eben im Ritual entsühnt; und um so befreiter können die Krieger aufbrechen zur Besitznahme; vervielfältigte Gewalt und Blutvergießen bei der Eroberung kann ihnen nichts mehr anhaben. Darum also darf man während der Karneen keinen Krieg führen: Sie schaffen erst die Voraussetzung für das unbedenkliche kriegerische Ausgreifen. "Karneios" gilt mit Selbstverständlichkeit als Beiname Apollons, und doch wird auch ein "Zeus Karneios" genannt,84 und der "Karneios Oiketas" von Sparta scheint chthonisches Gegenbild zu Apollon zu sein; man kann auf ihn den HyakinthosMythos übertragen. 85 "Karnos" ist ein mythischer Seher, aber auch eine "gespensterhafte Erscheinung" des Apollon selbst und zugleich der Widder. Man hat von einem "vordorischen Widdergott" gesprochen,86 was doch die Komplexität des Ganzen nicht erklärt: Aufgliederung der Gemeinde in Jünglinge, Mädchen, Unverheiratete und "Männer", Lager im Draußen und Besitznahme, der Unterliegende und die Siegenden, der Seher und die Kämpfer, der "Wohnende" und der Kommende, Karnos und Apollon. Über die Wanderzeit lässt sich hier kaum zurückfragen. Nach der Überlieferung von Sikyon sind im Jahr 1161 Karneenpriester an Stelle der Könige getreten. 87
2.4 Anthesteria Den Namen des Anthesterienfestes88 haben die Griechen mit dem "Blühen" im Frühling assoziiert; es fällt in die Mitte des Monats Anthesterion im Frühjahr. Monatsname wie Fest sind den Athenern und allen Ioniern gemeinsam; beides muss also in eine Zeit vor der Ausbreitung zurückreichen. 89 In Athen sprach man auch von den "älteren Dionysien",9o im Kontrast zu den im 6. Jahrhundert eingeführten Großen
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Kallim. hymn. 2,85-89; Hdt. 4,158. In Argos, Schol. Theokr. 5,83bd. Praxilla PMG 753 = Paus. 3,13,5 macht Karneios zum "Geliebten des ApoUon". Samson Eitrem, Der vordorische Widdergott, Christiania 1910. Kastor FGrHist 250 F 2; der Karnos-Mörder bzw. sein Sohn vertreibt die vordorischen Könige und begründet die dorische Herrschaft in Korinth, Konon FGrHist 26 F 1,26. CGS V 214-224; AF 93-123; GGR 594-598; Pickard-Cambridge 1968, 1-25; Gerard van Hoorn, Choes and Anthesteria, Leiden 1951; HN 236-269, zum Namen 237,4; Auffarth 1991, 202-276; Richard Hamilton, Choes and Anthesteria, Ann Arbor 1992; Richardson, Athens' Festival of the New Wine, HSPh 95, 1993, 197-250; Daniel Noel, Les Anthesteries et le vin, Kernos 12, 1999, 125152; Humphreys 2004, 223-275; Parker 2005, 295-316. AF 122 f. ~ V 2 Anm. 16. Thuk. 2,15,3.
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Dionysien. Ein kleines Heiligtum des "Dionysos in den Weihern", en limnais,91 war im ganzen Jahr nur zu diesem Fest am 12. Anthesterion geöffnet - wobei der Tag in sakraler Zeitrechnung von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang gezählt wird; Sumpf oder Seen gab es allerdings auf Athener Stadtgebiet nicht, der Name muss also als Kultname mit diesem Dionysos zusammen gekommen sein.92 Das Fest erstreckt sich über drei Tage, "Fässeröffnung", "Kannen" und "Töpfe" benannt, Pithoigia, Ch6es und Chytroi, nach den handgreiflichen Realitäten des Weintrinkens und des Eintopfgerichts. Der im Herbst gekelterte Wein wird nach strengem Brauch erst im Frühjahr angebrochen; so war, unabhängig von den Zufällen des Bauernjahrs, ein kalendarisch festgelegtes Fest entstanden. "Am Heiligtum des Dionysos en limnais pflegten die Athener den neuen Wein, den sie hintransportierten, für den Gott aus den Fässern zu mischen und dann auch selbst davon zu kosten ... Erfreut über die Mischung besangen sie mit Liedern den Dionysos, tanzten und riefen ihn an als den Schönblumigen, den Dithyrambos, den Rasenden, den Stürmenden" - so schildert ein attischer Lokalhistoriker den Beginn des Fests am 11. Anthesterion.93 Der "Anfang" der neuen Nahrung, das Primitialopfer, ist in den Bereich des Heiligtums gerückt, das erst bei Sonnenuntergang geöffnet wird; den Tag füllen Vorbereitungen, die Tonfässer werden von den im Land verstreuten Weingütchen herbeigekarrt, Kleinbauern, Taglöhner, Sklaven kommen in die Stadt, Bekannte und Unbekannte warten vor dem Heiligtum auf den Einbruch der Nacht; dann ehrt man, indem die Fässer geöffnet werden, den Gott mit den ersten Spenden. Am Tag der "Kannen" steigert sich das Trinken des neuen Weins zum Wett:kampf: Jeder erhält sein Maß gemischten Weins, in einem besonderen - archäologisch wohlbekannten - Krug von mehr als zwei Litern Inhalt; wer ihn als erster leert, ist Sieger. Auch Sklaven sind bei diesem Trinken dabei, auch die Kinder: Nach Vollendung des dritten Lebensjahrs werden sie dem Familienverband bei den Apaturia vorgestellt und auch am Choentrinken mit einem sehr viel kleineren Krüglein beteiligt; "Geburt, Choes, Ephebie und Hochzeit", so konnte man die Marksteine eines Lebens aufzählen.94 Verstorbenen Kleinkindern gab man ein Choenkrüglein mit ins Grab, um gleichsam nachzuholen, was ihnen entgangen war; die Bilder dieser Vasen geben eine lebendige Vorstellung vom Kinderfest mit Gabentisch, Krüglein, allerlei Spielzeug und Lustbarkeit. Dieser Tag häuslicher Heiterkeit ist aber ein "Tag der Befleckung", miara hemera.95 Man streicht die Türen frisch mit Pech, man kaut früh am Morgen Weißdorn "zur Abwehr der Gespenster". Alle Heiligtümer sind an diesem 12. Anthesterion geschlos91 92 93 94 95
Pickard-Cambridge 1968, 19-25; Travlos 1971, 274, 332, Abb. 219; 379; 435 {mit Zweifel an der Identifizierung}; HN 238,9. ~ II 5 Anm. 6. Phanodemos FGrHist 325 F 12. IG II/III' 1368, 130. Ein Krug {chous} mit Graffito CHOES: REG 49, 1976, 366. Wett-Trinken: Aristoph. Ach. 1068; 1202. Phot., Hsch. S.v.
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sen, mit Seilen abgesperrt: Der Zugang zu den Göttern ist unterbrochen; auch das Geschäftsleben, das der Eide bedarf, muss stillstehen. Dafür ist die Stadt von unheimlichen Gästen bevölkert, über deren Namen und Wesen freilich schon die antike Überlieferung streitet, "Karer" oder "Keren", Ausländer oder Schadegeister, die dann auch als "Totenseelen" erklärt werden. Wenn die Karer in der aitiologischen Legende als "frühere Einwohner" von Attika erscheinen, konvergieren allerdings beide Angaben: 96 "Ureinwohner" oder "Ahnengeister" sind wechselnde Bezeichnungen für jene Wiedergänger, die an bestimmten Tagen zum Mahl geladen werden. Realiter handelt es sich um Maskenbrauch;97 Dionysos der Weingott ist zugleich der Maskengott. Maskenbrauchtum muss zum Anthesterienfest gehört haben, in volkstümlichen, nicht staatlich organisierten Formen, so dass wir außer einigen Andeutungen auf Vasenbildern nicht darüber unterrichtet sind; von Umzügen auf Wagen mit ausgelassenen Beschimpfungen "von den Wagen aus" ist immerhin die Rede.98 Unter solchen Vorzeichen hat selbst das Wett-Trinken eine unheimliche Dimension. Jeder erhält das gleiche Maß Wein, jeder trinkt zur selben Zeit auf ein Trompetensignal hin auf Geheiß des "Königs"; jeder hat auch seinen eigenen Tisch, und dabei darf kein Wort gesprochen werden. Größtes Maß an Gemeinsamkeit mit größtmöglicher Isolierung jedes Beteiligten: Der aitiologische Mythos erzählt, der Muttermörder Orestes sei in Athen auf diese Weise bewirtet worden, so dass die gewährte Haus- und Mahlgemeinschaft durch das Kommunikationsverbot im Essen, Trinken, Reden zugleich rückgängig gemacht wurde.99 Damit ist die Atmosphäre dieses Rituals gekennzeichnet: Die Feiernden verhalten sich beim Choen-Trinken wie Mordbefleckte; darum sind sie auch von den Heiligtümern ausgeschlossen. An blutigen Mythen, die sich um das Trinken des ersten Weins ranken, fehlt es nicht. In die Literatur ging vor allem die mit dem attischen Weindorf Ikaria verbundene Fassung ein: Dionysos kehrt bei Ikarios ein und lehrt ihn Rebbau und Weinbereitung; doch als Ikarios seinen ersten Wein den Dorfgenossen ausschenkt, glauben diese sich vergiftet und schlagen Ikarios tot. Man erzählt daneben von Weinbringern aus Aetolien, die in Athen erschlagen wurden. lOo Den roten Wein mit Blut zu assoziieren, ist uralt und weit verbreitet. Der konsequenteste Mythos wäre der, dass Dionysos, der Gott des Weins, selbst getötet und zerstückelt wurde, um als Wein zu sakramentalem Genuss zu dienen. Späthellenistische Allegoriker haben dies ausgesprochen: IOI Für sie ist "Dionysos" ein Name für den Wein, seine "Leiden" beschreiben die Weinbereitung. Für die frühe, vom "Homerischen" geprägte Zeit galt, dass ein Gott qua Gott unsterblich ist und 96 97 98 99 100 101
Zenob. Ath. 1,30, p. 352 Miller; HN 250-255. Meuli 1975,57-60. Paus. Att. t 4 Erbse; HN 253,18. Eur. Iph. Taur. 847-860; Phanodemos FOrHist 325 F 11; HN 246. --+ III 1 Anm. 407; HN 247. Diod. 3,62,7; Kornutos 30; HN 249.
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demnach nicht getötet werden kann. So setzen die archaischen Legenden in die Mordgeschichten Menschen ein, allenfalls Heroen, die zu versöhnen sind. In den Geheimmythen der Mysterien hat man wohl anders gesprochen;102 vielleicht ist der Mythos von der Zerreißung des Dionysos so alt wie das Anthesterienfest. Markanter Brauch im Jäger- und Opferritual ist das nachträgliche Sammeln der Knochen; analog endet der Choentag: Es galt die Regel, "nach Abschluss des Trinkens die Efeukränze, die man getragen hatte, nicht in den Heiligtümern niederzulegen - da sie mit Orestes unter einem Dach geweilt hatten; jeder solle vielmehr seinen Kranz um seine Choenkanne legen und der Priesterin zum Heiligtum "in den Weihern" bringen und dann im Heiligtum die weiteren Opfer durchführen".103 Im "trunkenen Schwarm", wie AristophaneslO4 beschreibt, ziehen die Zecher zum Heiligtum en limnais. Bilder der Choenvasen zeigen mehrfach die schwankenden Gestalten mit dem geleerten Krug. Was mit der "Fassöffnung" von diesem Heiligtum ausging, wird am Abend des nächsten Tages wieder zusammengeführt. Zum Heiligtum "in den Weihern" gehören 14 Frauen, die "Ehrwürdigen", gerairai, genannt; sie sind vom "König" eingesetzt, Vorsteherin ist die "Königin", die Frau des archon basileus. Sie vereidigt die "Ehrwürdigen", dann fällt ihr eine weit spektakulärere Rolle zu: Sie wird selbst dem Gott zur Frau gegeben; die Liebesvereinigung findet im Buk6lion, dem "Rinderhirten-Haus" an der Agora, statt. 105 Nirgends sonst wird im Griechischen so deutlich von einer "Heiligen Hochzeit" im Ritual gesprochen. 106 Zu den Aussagen der Schriftsteller treten Hinweise der Vasenbilder: Sie zeigen die "Königin" in Prozession, von Satyrn geleitet, und auch die Hochzeit von Dionysos und Ariadne, umrahmt von Zechern des Choentages.107 Die Frage nach dem konkreten Vollzug der "Hochzeit" bleibt freilich ohne Antwort: Der "König" in der Maske des Gottes? Andeutungen gibt die Anklage eines Redners gegen eine unwürdige "Königin": "Diese Frau hat die unaussprechlichen Opfer für die Stadt dargebracht; sie hat gesehen, was sie als NichtAthenerin nicht hätte sehen dürfen. Eine solche Frau hat den Raum betreten, den kein anderer von all den vielen Athenern betritt, nur allein die Frau des ,Königs'. Sie hat die ,Ehrwürdigen' vereidigt, die bei den heiligen Handlungen assistieren, sie wurde dem Dionysos zur Gemahlin gegeben, sie hat für die Stadt die väterlichen Bräuche gegenüber den Göttern vollzogen, viele, heilige, geheime Bräuche".loB
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VI 2 Anm. 69-74. Phanodemos FGrHist 325 F 11; HN 255 f. kraipalokomos Aristoph. Ran. 211-219. Arist. Ath. Pol. 3,5; [Demosth.] 59, 73, 76; Hsch. Dionysou gdmos. HN 257. --+ II 7.7. HN 258, 12. Zur "Königin" Erika Simon, AK 6, 1963, 11 f; wichtig die Vase New York Metr. 06.1021.183 (van Hoorn 1951 nr. 745 fig. 105, Metzger 1965 pI. 27,2, LIMC III s.v. Dionysos nr. 781): Choen-Zecher zu beiden Seiten von Dionysos/Ariadne (Basilinna?); weiteres HN 258,12. 108 [Demosth.] 59, 73. --+
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Die Hochzeit vollzieht sich in der Nacht, wie denn Choenzecher mit Fackeln das Lager von Dionysos und Ariadne umstehen. Ein genaueres Bild von dem, was im Kreis der "Ehrwürdigen" geschah, könnten wir uns machen, sofern die Bilder der sogenannten "Lenäenvasen"109 auf die Anthesterien zu beziehen sind; dies ist bislang unbeweisbar. Sie zeigen Frauen Wein schöpfend, trinkend, tanzend vor einem ad hoc hergestellten Dionysosidol: eine bärtige Maske - oder auch zwei gegenständige Masken - an einer Säule aufgehängt; ein Tuch zur Andeutung des Körpers, um die Säule geschlungen, gelegentlich von einer Querstange gehalten wie bei einer Vogelscheuche; Arme und Beine sind nicht einmal angedeutet. Der Gott ist mit Zweigen und aufgespießten Kuchen geschmückt, ein Gabentisch mit Speisen und zwei großen Weinktügen, stdmnoi, steht vor ihm. Die Frauen bewegen sich gemessen und vornehm, sofern nicht die Phantasie des Malers den üblichen Schwarm der Satyrn und Mänaden um die Szene tanzen lässt. Das Idol im Zentrum ist ohne Zweifel Dionysos; offenbar ist dieser Gott nicht dauerhaft in einer Statue präsent, er wird für das Fest, ja in seinem Verlauf erst "gemacht". Ein Choenkrug zeigt die mächtige Maske des Gottes in einer Getreideschwinge, daneben zwei Frauen mit Weinkrug und Früchtetablett;110 einmal ist die Dionysosmaske aufrecht in einer Höhle dargestellt, davor eine tanzende Frau. lll Hatte die "Königin" die Maske aus einem unbetretbaren unterirdischen Raum im Dionysosheiligturn zu holen? Jedenfalls wird offensichtlich im Kreise jener Frauen die wie immer beigebrachte Maske an der Säule befestigt, das Tuch schafft den Körper, Schmückung folgt, der Gott wird bewirtet; dann Weintrinken und Tanz. Man möchte sich vorstellen, wie im nächtlichen Ritual der so geschaffene Gott lebendig wurde und eine Frau verlangte. Geschah das im Bukolion? Am 13. Anthesterion, dem Tag der "Töpfe", werden Körner aller Art zusammen mit Honig in einem Topf gekocht. Dies ist das primitivste Getreidegericht der frühen Ackerbauern, älter als die Erfindung des Mehlmahlens und Brotbackens; im Totenbrauch blieb es bei den Griechen bewahrt. Allerdings hat der Begriff der "Totennahrung" im Verein mit einer verkürzten Angabe einer antiken Quelle zu dem Missverständnis geführt, als sei den Lebenden verboten gewesen, aus den "Töpfen" zu essen: Nach dem vollständigen Text sind nur die Priester von dieser Speise ausgeschlossen, entsprechend der Schließung aller Heiligtümer am Choentag. l12 Mit dem Topfgericht wird der Sintflutmythos verbunden: Die Überlebenden haben, als das 109 August Frickenhaus, Lenäenvasen, 72. Winckelmannsprogramm 1912; AF 127-132; GGR 587 f; Pickard-Cambridge 1968, 30; Barbara Philippaki, The Attic Stamnos, Oxford 1967, XIX f; HN 260-263; Simon 1983, 100 f; das Material am vollständigsten bei Frontisi-Ducroux 1991; UMC m s.v. Dionysos nr. 6-48; Parker 2005, 306-312. Vielleicht ist bei Euripides, Antiope Fr. 203 Kannicht (Text lückenhaft) ein solcher Ritus beschrieben, durch den Dirke zur Bacchantin wird: "Drin im Gemach des Rinderhirten [richtet sie herl die von Efeu sprießende Säule des Euios-Gottes". 110 ARV' 1249,13; GGR T. 38,I. 111 Frickenhaus (-+ Anm. 109) Nr. 1. 112 Theopomp FGrHist 115 F 347 a und b; HN 263-265, gegen Harrison 1922, 37, AF 112 f, GGR595.
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Wasser schwand, alles, was zu finden war, zusammengeworfen und gekocht, als erste Speise nach der Katastrophe, Anlass zu neuem Lebensmut und doch im Gedenken an die Toten. Man opfert dem "Chthonischen Hermes" um der Toten willen und isst von den "Töpfen" in der Gewissheit wiedergewonnenen Lebens. Der "Tag der Befleckung" liegt zurück, die Masken und Toten verlieren ihr Recht: "hinaus, ihr Karer, die Anthesterien sind zu Ende" wurde zu einer sprichwörtlichen Redensart. l13 Zum Neuanfang gehören Agone. Eine Besonderheit für die Kinder, vor allem die Mädchen, ist an diesem Tag das Schaukeln. Vasenbilder zeigen mehrfach dieses Schaukeln in einem rituellen Rahmen, von dem die Texte schweigen: Ein Thronsessel mit Gewand und Diadem ist aufgestellt, ein offener Pithos steht daneben im Boden; auch Reinigung durch Feuer und Räucherwerk spielt eine RolleY4 Ein düsterer Mythos wird dazu erzählt, Fortsetzung der Geschichte vom Weinbringer Ikarios: Erigone, seine Tochter, sei auf der Suche nach ihrem Vater umhergeirrt, bis sie dessen Leiche in einem Brunnen fand und sich erhängte. Als Sühne werde nun dieses schreckliche Ereignis in harmloser Form wiederholt, im Schaukeln der athenischen Mädchen.1l5 Es gab daneben andere Versionen des Mythos vom erhängten Mädchen Erigone, der "Früh Geborenen", der "Schweifenden", aletis, die offenbar auch in Liedern benannt und besungen war. Im Tod des Mädchens kommt ein düsterer Aspekt der "Heiligen Hochzeit" zutage; erzählte man doch auch, der einkehrende Dionysos habe Erigone zur Frau gemachtY6 Zugleich wird im Bild vom toten Vater die Atmosphäre des Choentags beschworen. Doch im Schaukeln der Kinder setzt sich das bewegte Leben durch, durch Befleckung und Schrecken hindurch der Zukunft zugewandt, die der Frühling verheißt. Der Rhythmus des dreitägigen Festes lässt sich nachvollziehen; eine gewisse Ähnlichkeit mit der Abfolge von Karfreitag und Ostern ist vielleicht nicht nur unsere Projektion. Die mythische Ausdeutung allerdings kompliziert das Bild, indem sie heterogene Erzählungen übereinander schiebt, die Einkehr des Dionysos mit dem Tod von Ikarios und Erigone, die Bewirtung des Orestes, die Sintflut; erst in der Tiefenstruktur von Katastrophe, Verschuldung, Entsühnung fallen sie zusammen. Das Fest der Weinbauern inmitten der Blüten des Frühjahrs, mit dem Rückblick auf die Weinlese, bringt die ganze Stadt in Bewegung. Ausgehend von der Zelle der Familie, des "Hauses", sind die Oberen, "König" und "Königin", ebenso einbezogen wie die Unteren, Kleinkinder, Mädchen, Sklaven. Die Normalität ist aufgehoben zwischen pechglänzenden Türen, Masken, Geistern, ausgelassenen Beschimpfungen und allgemeiner Trunkenheit; die Götter der Stadt sind ausgeschlossen, nur Dionysos und Hermes sind zugegen. Eben die Teilhabe am Ausnahmezustand aber führt zusammen, gibt insbesondere den Kindern einen neuen Status. Dem Athener in der Fremde kommt 113 114 115 116
Zenob. Ath. 1,30; HN 250. Vasenbilder: HN 266,11; Dietrich, Hermes 89, 1961,36-50. Eratosth. Katast. p. 79 Robert; HN 267 f. Ov. met. 6,125.
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sein Athenertum eben dadurch zum Bewusstsein, dass er die Anthesterien feiert. II7 Die Rolle von "König" und "Königin" scheint hochaltertümlich, wenn auch nicht direkt im mykenischen Königtum verwurzelt; basileus ist in den Linear-B-Texten nicht der König, sondern ein Zunftmeister, zumal der Vorsteher der Schmiede.ns So hat auch das Anthesterienfest nichts mit der Akropolis, nichts mit Erechtheus zu tun; eher ist glaublich, dass es seit je den Bauern und Handwerkern gehört. Der Weingott ist vom Fest unabtrennbar, und sein Name Dionysos ist nunmehr altbezeugt.II9 Es ist verführerisch, den Befund im Tempel von Keos I2O mit den Anthesterien zusammenzusehen: Dort war ein großer Tonkopf als Kultbild aufgestellt, was einen ähnlichen Eindruck machen musste wie die aufgerichtete Maske in der Höhle. Älter noch sind dort die erstaunlichen Tonstatuen von Tänzerinnen: "ehrwürdige" Frauen, die um Dionysos tanzen, bereits im 15. Jahrhundert? Dies muss Vermutung bleiben.
2.5 Thesmophoria Die Thesmophorien121 sind das verbreitetste griechische Fest, die Hauptform des Demeter-Kults. Die Göttin des Ackerbaus zu ehren, feiern die Frauen der Gemeinde unter sich; bezeichnend ist das Schweineopfer: Schweineknochen, Votivschweine, Terrakotten, die eine Verehrerin oder auch die Göttin selbst mit dem Schweinchen auf dem Arm darstellen, sind die archäologisch fassbaren Kennzeichen der Demeter-Heiligtümer allenthalben.122 Die Thesmophorien-Heiligtümer liegen nicht selten außerhalb der Stadt, gelegentlich auch am Hang der Akropolis;I23 dass es in Athen ein zentrales Thesmophorion nahe bei der Pnyx, dem Platz der Volksversammlung, gab, ist neuerdings wieder in Frage gestellt wordenY4 117 Kallim. Fr. 178; Alkiphron 4,18; 10 f; der verbannte Themistokles führt in Magnesia die Choen ein, Possis FGrHist 480 F 1. 118 ~ I 4 Anm. 40. 119 --+ I 3 Anm. 261. 120 --+ I 3 Anm. 124. 121 GF 313-325; CGS III 75-112; AF 50-60; P. Arbesmann RE VI A 15-28; Samson Eitrem, Symb. Oslo. 23, 1944, 32-45; GGR 463-466; Brumfield 1981; Uta Kron, Frauenfeste in Demeterheiligtümern: Das Thesmophorion von Bitalerni, AA 1992, 611-650; Versnel1993, 228-288; Catherine Trümpy, Die Thesmophoria, Brimo, Deo und das Anaktoron: Beobachtungen zur Vorgeschichte des Demeterkults, Kernos 17, 2004, 13-42; Parker 2005, 270-289. Übersicht über die Verbreitung: GF 313-316; RE VI A 246, dazu LSS 32 (Arkadien); Gela --+ Anm. 140; Monatsname Thesmophorios: Samuell972, Index; Trümpy 1997, Index. 122 HN 284; Sguaitamatti 1983. 123 Außerhalb der Stadt in Paros, Thasos, Smyrna, Milet, Troizen, Gela (Bitalerni); unter der Burg in Theben (Paus. 9,16,5) und Megara (Paus. 1,39,5); vgl. Richardson 1974, 250. 124 Henry A. Thompson, Hesperia 5, 1936, 151-200; Oscar Broneer Hesperia 11, 1942, 250-74; Travlos 1971, 198, Abb. 5; Simon 1983, 18 - Kevin Clinton, The Thesmophorion in Central Athens and the Celebration of the Thesmophoria in Attica, in Hägg 1996, 111-125.
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Für die Frauen sind die Thesmophorien der einmalige Anlass, nicht nur tagesondern auch nächtelang von Familie und Haus fernzubleiben; sie versammeln sich im Heiligtum unter strengem Ausschluss aller Männer. Provisorische Behausungen, sk~nai, werden errichtet; die Frauen bilden ihre eigene Organisation, in Athen unter zwei "Anführerinnen", drchousai. 125 Kinder - außer Säuglingen - bleiben fern, Jungfrauen sind nicht zugelassen,126 auch Sklavinnen sind ausgeschlossen. 127 Man kennt einander und weiß, wer dazugehört. Jeder Gatte ist verpflichtet, seine Frau zu den Göttinnen zu entsenden und für die Kosten aufzukommenY8 Das Fernbleiben der Männer gibt dem Frauenfest etwas Geheim-Unheimliches. Nicht zu Unrecht wird öfters von "Mysterien" gesprochen.129 Es gab Initiationsriten, teletai; in Mykonos haben die Stadtbürgerinnen ohne weiteres, die Fremden erst nach einer Weihe, Zutritt zu DemeterYo Es gab Demetertempel mit Statuen, die Männer nie zu Gesicht bekamen.l3l Wenn Aristophanes die "Frauen beim Thesmophorienfest" in der Komödie auf die Bühne bringt, weiß er vom Fest nicht allzu viele Einzelheiten anzugeben. Das Fest umfasst in Athen wie in Sparta und Abdera drei Tage, vom 11. bis zum 13. Pyanopsion; vorgeschaltet sind zwei weitere Frauenfeste, die Thesmophorien von Halimus und die Stenia;132 in Syrakus dauert das Fest zehn Tage.133 "Hinaufzug", dnodos, heißt in Athen der erste Tag, offenbar, weil da die Frauen in Prozession hinaufziehen zum höher gelegenen Thesmophorion; allerhand ist mitzutragen, Kultgerät, Speise und Gerätschaften für den Aufenthalt, gewiss vor allem auch die Ferkel für das Opfer. Dieses fällt dann vermutlich auf den Abend oder die Nacht: "Man wirft die Ferkel in die Klüfte der Demeter und der Kore. Die verwesten Reste des Hineingeworfenen holen Frauen heraus, die "Schöpferinnen" heißen; sie haben sich drei Tage lang rein gehalten und steigen so in die unbetretbaren Räume hinab, bringen die Reste herauf und legen sie auf die Altäre. Wer davon nimmt, glaubt man, und es mit der Saat auf die Erde streut, wird eine gute Ernte haben. Man sagt, es gebe Schlangen unten bei den Klüften, die das meiste, was hineingeworfen wird, auffressen; deswegen mache man Lärm, wenn die Frauen "schöpfen" und wenn wiederum jene Gebilde niedergelegt werden, damit die Schlangen weggehen ... Es werden unaussprechliche heilige Dinge aus Getreideteig verfertigt und hinaufgetragen, Bilder von 125 126 127 128 129
130 131 132 133
Isaios 8,19; 10 lI/lIP 1184. Kallim. Fr. 63; zweifelhaft Luk. dial.mer. 2,1, wonach eine Jungfrau und eine Hetäre dabei wären. Aristoph. Thesm. 294; Isaios 6,50 (unsichere Zuweisung). Men. Epitr. 749 f; Isaios 3,80. td mystikd in den mdgara, Ael. Dion. m 2 Erbse (- Anm. 136); Hdt. 2,171 behauptet, die eigentliche Mysterienform sei nur in Arkadien bewahrt, sonst mit der dorischen Wanderung unterdrückt worden; dies hängt mit seinen Theorien über Pelasger (vgl. Demeter Pelasgis Paus. 2,22,1) und Ägypter zusammen. - Mystena für Demeter Thesmophoros in Ephesos: SIG' 820. SI03 1024 ~ LSCO 96, 20 ff. Katane, Cic. Verr. 4,99. AF 52. Diod.5,4,7.
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Schlangen und männlichen Gliedern; sie nehmen auch Fichtenzweige ... Dies wird in die sogenannten Megara geworfen, auch die Ferkel, wie erwähnt." Soweit unser Hauptzeugej134 von den Megara der Demeter, dem megarizein der Frauen äquivalent zum thesmophoridzein, ist sonst nur in kurzen Andeutungen die Rede. 135 Megara oder mdgara136 muss es gerade in Athen gegeben haben, doch sind sie archäologisch nicht nachgewiesen. Im Demeterheiligtum von Knidos137 dagegen fand man eine runde Grube mit Schweineknochen und marmornen Votivschweinenj im Demeterheiligturn von Priene138 war eine rechteckige Grube ausgemauert, die sich mit flachem Giebel über die Erde erhob und mit schweren Brettern abgedeckt war. In einem eigens ummauerten Teil des großen Demeterheiligtums von Agrigent ist ein brunnenartiger Rundaltar, dessen zentrale Öffnung etwa 1,20 m tief hinabführte zu einem natürlichen Felsspalt. 139 Die Einrichtungen waren offenbar nicht überall gleichartigj wenn der Haupttext einerseits von "Werfen" und "Schöpfen", andererseits von "Hinabsteigen" und "Niederlegen" spricht, scheint er zwei verschiedene Möglichkeiten anzudeuten. Gemeinsam ist die Grundhandlung der Versenkung von Opfern in der Tiefe. In Gela, Siris, Lokroi fand man Reste von Opfern und Opfermahlzeiten, die jedes Mal gesondert vergraben wurden. Ho Die Frauen treten so in Kontakt zum Unterirdischen, zu Tod und Verwesung, während doch zugleich mit Phallen, Schlangen, Fichten Sexualität und Fruchtbarkeit präsent sind. Der Mythos erklärt das Schweineopfer mit dem Raub der Kore: Als Demeters Tochter in der Erde versank, wurden die Schweine des Hirten Eubuleus mit in die Tiefe gerissen. I4I So hat Demeter auf der Suche nach ihrer Tochter die Thesmophorien gestiftetj142 die Todeshochzeit wiederholt sich im Opfer. Demeter, Kore, Zeus Eubuleus werden gemeinsam im Umkreis der Thesmophoria verehrt. I43
134 Schol. Luk. p. 275,23-276,28 Rabe; Rohde, Kleine Schriften II, 1901, 355-365; AF 40 f; der Scholiast erklärt das Wort thesmoph6ria bei Lukian; seine Behauptung, Skirophoria und Arrhetophoria (sic) seien "dasselbe", bezieht sich nur auf seine Deutung, nicht auf die Beschreibung des Rituals, vgl. Hermes 94, 1966, 7 f; HN 284,5. Dass das megarizein zu den Thesmophoria gehört, sagt Clem. Protr. 2,17,1 eindeutig; die Änderung von megarlzontes in zöntas cholrous (Lobeck 1829, 831; Rohde a.O. 360,1) ist willkürlich. Man findet Votivschweine mit aufgeschlitztem Bauch in Thasos und Naxos, Fran~ois Salviat, BCH 89, 1965, 468-471. 135 Clem. -+ Anm. 134; Epiphan. De fide 10, III 1 p. 510, 10 Hohl. 136 Ael. Dion. m 2 Erbse; Men. Fr. 553 Kassel-Austin; Albert Henrichs, ZPE 4,1969,31-37. 137 C.T. Newton, Halicarnassus, Cnidus and Branchidae II, 1863,283; GF 319f. 138 Martin Schede, Die Ruinen von Priene, Berlin 21964,93 f. 139 Donald White, Hagne Thed, Diss. Princeton 1964, 69. Vgl. Philippe Bruneau, Recherches SUT les cultes de Delos, Paris 1970, 269-293. 140 Gela: Piero Orlandini, Kokalos 14/5, 1968/9,338: Gefäßinschrift "Heilig der Thesmophoros, aus der skene der Dikaio"; vgl. Uta Kron (-+ Anm. 1). Siris, Lokroi: AA 1968, 770-784; Klio 52, 1970, 138. 141 Clem. Protr. 2, 17; Schol. Luk. p. 275,24 ff; HN 283-292. 142 Kultlegende von Paros, Apollodor FGrHist 244 F 89. 143 Paros: IG XII 5, 227; Delos: IG XI 287 A 69; Graf 1974, 172,72; Bruneau (s.o. Anm. 19) 269-290.
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Was "niedergelegt" wird, kann griechisch thesm6s heißenj "getragen" werden von den Frauen jene Reste von den Gruben zu den Altären, aber auch die neuen Gaben wiederum zu den Gruben. In der Bilddarstellung sind die Thesmophorien durch eine Frau dargestellt, die einen verdeckten Korb auf dem Kopf trägt.144 Von hier aus ist offenbar der Name des Festes zu verstehen,145 nach dem dann die Göttinnen selbst, Demeter allein oder zusammen mit Kore, Thesmoph6ros heißen. Der zweite, mittlere Tag heißt nesteia, Fasten. Die Frauen weilen abgeschieden bei der Göttinj ohne Tisch und Stuhl bereiten sie sich ihr Lager auf dem Boden, aus Weidenzweigen und anderen Pflanzen, denen antiaphrodisische Wirkung zugeschrieben wird.146 Die Stimmung ist düster,147 entsprechend der Trauer der Demeter nach dem Raub der Korej man trägt keine Kränze.148 Es heißt auch, man ahme das alte Leben nach,149 primitiven Urzustand vor Erfindung der Kultur. Sein Ende findet das Fasten schließlich in Opfern mit reicher Fleischmahlzeit150 am dritten Tag bzw. in der vorangehenden Nacht. In Athen ruft man dabei Katligeneia an, die Göttin der "schönen Geburt"j151 sie scheint, ähnlich der "Knabennährenden", Kurotr6phos,152 nur im Ritual zu existieren und wird nicht mit einer der mythischen, olympischen Gottheiten gleichgesetzt. Zwei Aspekte noch gehören zum Weiberfest, ohne dass ihre Zuordnung ganz deutlich wird, der obszöne und der blutige. Die Frauen üben sich in unanständiger Rede, aischrologiaj 153 sie können sich in Gruppen spalten und gegeneinander streiten, doch muss es auch Gelegenheiten gegeben haben, bei denen Männer und Frauen sich gegenseitig verhöhnten. Der iambos als Spottgedicht hat hier seinen Ursprungj154 Baubo, die durch Entblößung die Göttin zum Lachen bringt, gehört zu den Thesmophorien.155 Nach einem späten Zeugnis verehren die Frauen die Nachbildung einer Vulva. 156 In Sizilien bäckt man Kuchen solcher Form und genießt sie offenbar
144 Kalenderfries, AF 250, T. 35 Nr. 4. 145 GF 323, nach Frazer; AF 44; nachträglich tauchte als Beleg thesmos e osteon, "Opferrest oder Knochen", in einer Inschrift aus Kos auf, LSCG 154 B l7; vgl. thesis tön thesmophorion Schol. Aristoph. Thesm.585. 146 Plut. Is. 378e; Ael. nat.an. 9,26; Plin. n.h. 24,59; Galen XI 807 Kühn; Dioskorides Mat. med. 1,134; Fehrle 1910, 139-154. 147 Plut. Demosth. 30,5. 148 Schol. Soph. O.K. 681. 149 Diod. 5,4,7; auf Eretria verwenden die Frauen kein Feuer, Plut. q.Gr. 298BC. 150 Schol. Aristoph. Thesm. 372. 151 Aristoph. Thesm. 298 m. Schol.; Hsch. s.v. Kalligeneia: "nicht die Erde, sondern die Demeter; ... die einen (sagen, Kalligeneia sei) ihre Amme, die andern ihre Priesterin, wieder andere ihre Dienerin"; Alkiphr. 2,37; Nonnos 6,140. 152 --+ 1113 Anm. 15. 153 ApolIod. 1,30; Kleomedes 2,1; Diod. 5,4,7; vgl. Aristoph. Thesm. 539. --+ Il 7 Anm. 61-64. 154 Martin L. West, Studies in Greek Elegy and Iambus, Berlin 1974, 22-39. 155 Graf 1974, 168-171. 156 Theodoret Graec. aff. cur. 3,84.
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auch außerhalb des Festrituals.I57 Die Teigphallen beim Ferkelopfer sind passende Ergänzung. Und doch wird, in scheinbarem Widerspruch hierzu, die sexuelle Enthaltsamkeit schon vor dem Fest gefordert und dann durch die besondere Lagerstreu bekräftigt;I58 "heilig-rein", hagne thed., heißen Demeter und ihre Tochter in betonter Weise. I59 Demeters Priesterinnen müssen unverheiratet sein. 160 Und doch ist die Enthaltung ihrerseits gegenstrebige Vorbereitung - wie das Fasten zum Opfermahl -, die auf Erfüllung in Zeugung und Geburt drängt. Zum Reizzustand des Fastens passen die Obszönitäten; die reale Männerferne wird in der Phantasie verbal und bildhaft kompensiert, bis dann das Fest im Zeichen der Kalligeneia endet. In der Phantasie wird auch die Feindschaft gegenüber den Männern grausig übersteigert. In Kyrene, heißt es, haben beim Fest "Schlächterinnen" mit blutbeschmierten Gesichtern, Schwerter in der Hand, den Mann kastriert, der sie ausspähen wollte, König Battos selbst.161 Aristomenes von Messene wurde, als er thesmophorienfeiernden Frauen zu nahe kam, mit Opfermessern, Bratspießen und Fackeln überwältigt und gefangen.162 Dem Spion in der Aristophaneskomödie ergeht es kaum besser. Herodoe 63 behauptet, die Danaiden hätten die Thesmophorien aus Ägypten nach Griechenland gebracht, die notorischen Männermärderinnen also, die doch zugleich die Brunnen der Argolis erschlossen. Realiter essen die Frauen beim Thesmophorienfest Granatapfelkerne, deren tiefroter Saft stets mit Blut assoziiert wird; fällt ein Kern zu Boden, gehört er den Toten.164 So sind die Frauen mit Blut und Tod befasst; auch Demeter ist nicht nur passive Trauer eigen, sondern aktiver Zorn, der Opfer fordert. Die Manipulation mit den Resten verwester Ferkel zugunsten einer guten Ernte ist das deutlichste Beispiel von Agrarmagie in griechischer Religion: "Fruchtbarkeitsträger", "mit den Kräften der Erde vollgesogen", "als Fruchtbarkeitszauber für die neue Aussaat verwendet", wie es Ludwig Deubner formuliert hat. 165 Sicher liegt hier sehr Altes vor; bereits frühneolithische Befunde weisen auf einen Zusammenhang von Korn und Schwein. 166 Es fällt auch auf, dass die Begehungen kaum im Mythos reflektiert werden, dass an Stelle der "homerischen", gestalteten Götter funktionelle Namen wie "Kalligeneia" erscheinen. Der attische Monat Pyanopsion ist der Monat der Aussaat. Und doch kann das Fest auch, wie in Theben oder Delos,t67 zwei Monate 157 Herakleides von Syrakus Ath. 14,647a. 158 Fehrle 1910, 138-142. --->- Anm. 146. 159 -+ V 4 Anm. 29; vgL White (--->- Anm. 139). 160 Luk. diaLmer. 7,4; Timon 17; SchoL Luk. p. 279,21; Fehrle 1910, 103 f. Demeters Dienerinnen als "Bienen": Apollodor FGrHist 244 F 89 (Paros); Servo auct. Aen. 1,430 (Korinth); Detienne, QUCC 12,1971, 11-17. 161 AeL Fr. 44 = Suda a 4329, eh 272, s 1590, 1714. 162 Paus. 4,17,1. 163 Hdt. 2,171, vgL Hes. Fr. 128. 164 Clem. prott. 2,19. 165 AF 51 vgL GGR 119 f. 166 --->- I 1 Anm. 22/23. 167 IG XI 287 A 68; GF 316 f.
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früher angesetzt werden: Die Koppelung mit der Aussaat ist dann doch nicht das Entscheidende. Auch sind die Versuche gescheitert, die besondere Beziehung der Frauen zu Demeter aus einer angeblichen Form des frühen Ackerbaus herzuleiten.168 Das Thesmophorienfest hat agrarische Funktionen, ist aber nicht von diesen her in allen seinen Eigentümlichkeiten erklärbar. Einen ganz anderen Zugang suchte Karl Kerenyi/69 indem er die Abgeschlossenheit der Frauen in unheimlicher, blutiger, sexueller Atmosphäre mit den Tabus der Menstruierenden in manchen Primitivkulturen verglich. Diese frappante Beziehung ist freilich nicht so zu erklären, als ob an das biologische Wunder einer kollektiven Menstruation in einer "ursprünglichen" Zeit zu glauben wäre; wohl aber könnten Erleben und Verhalten im Umkteis der Monatsregel das Modell abgegeben haben für die rituelle Gestaltung eines Jahresfestes, in dem die Frauen sich ihrer eigenen, den Männern versagten Besonderheit versichern. So bleibt als Kern die Auflösung der Familie, die Trennung der Geschlechter, die Konstituierung des Frauenbundes. Einmal im Jahr zumindest demonstrieren die Frauen ihre Eigenständigkeit, ihre Verantwortung und Bedeutung für die Fruchtbarkeit von Gemeinde und Ackerland. Eben dass Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden, sichert die Kontinuität. Dabei stehen die Thesmophorien mit ihrem ernsten, düsteren, "reinen" Charakter in einer gewissen Polarität zum Adonis-Fest,170 bei dem die Frauen in anderer Weise aus ihrem wohlumgrenzten Dasein ausbrechen, in einer Stimmung von Verführung und Leidenschaft, Lieblichkeit und wilder Klage; der orientalisierende Privatkult lässt dem individuellen Ausdruck Raum, während das Polisfest die Solidarisierung in der Frauenrolle betont. Dem Frauenbund entspricht zumindest mancherorts ein Männerbund. So dienen in Paros die Kdbarnoi, die sich zu Opfermahlzeiten treffen, der Demeter Thesmophoros. l7l Auf dem Bild Polygnots in Delphi172 waren Tellis und Kleoboia mit dem "Heiligen" des Demeterkults dargestellt, der Bruder, der die "Weihe" im Namen trägt, neben der Jungfrau. Das Demeterheiligtum von Korinth enthält eine ganze Reihe von Räumen für kultische Mahlzeiten, und dort gefundene Terrakotta-Votive zeigen einen Jüngling mit einer Weihgabe in der Hand. 173 Man kann auch an die Männerbünde der kleinasiatischen Meter denken; möglich, dass sich männer- und frauenorientierte Kulte überlagert haben; doch ergänzen sie sich offenbar recht wohl. Denn die Diastase im Zeichen der trauernden, zürnenden Demeter ist nicht Zweck in sich, sondern Durchgang. Die dunklen Gruben, die geöffnet wurden, schlie-
168 169 170 171 172 173
COS III 106-109, OOR 465 gegen Harrison 1922, 272, OF 323. Kerenyi 1972, 126 f. --+ III 2 Anm. 106. Antimachos Fr. 67 Wyss ~ 78 Matthews; Steph. Byz. s.v. Paros; 10 XII 5,292. Paus. 10,28,3. Hesperia 34, 1965, 1-24; 37, 1968, 299-330; 38, 1969, 297-310; 41, 1972, 283-331; Altertum 11, 1965,8-24; dazu Jünglingsstatuen, Hesperia 41, 1972,317.
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ßen sich wieder, die "schöne Geburt" weist hoffnungsvoll in die Zukunft; die gute Ernteaussicht ist Teil dieser Erwartung, die aus dem Fest erwächst. Die Griechen haben Demeter thesmophoros schließlich als Bringerin der "Satzung", der Ordnung der Ehe, der Zivilisation, des Lebens überhaupt gedeutet,174 und sie hatten damit nicht ganz Unrecht.
174 Diod. 5,5,2; Kallim. hymn. 6,19; Servo Aen. 4,58; Ehe als thesm6s Od. 23,296; dazu PR I 777; CGS III 75-77; GdH II 45.
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3 Soziale Funktionen des Kults
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3.1 Götter zwischen Amoralität und Recht Im Kampf des Christentums gegen die heidnische Götterwelt war eines der durchschlagendsten Argumente der Vorwurf der Unmoral; denn die Verteidiger des Alten konnten selbst nicht umhin, seine Berechtigung zuzugeben; am anfechtbarsten erschienen die zügellosen Liebschaften der Götter, am beunruhigendsten der Sturz des eigenen Vaters durch Zeus. Seit vielen Jahrhunderten hatten die Griechen selbst diese Kritik an den homerischen Göttern formuliert und nichts zur Verteidigung gefunden als wenig überzeugende Künste der Allegorese.! Der moderne Betrachter kann dem Gericht der Geschichte beipflichten und in der moralischen Schwäche der alten Religion einen Hauptgrund für ihren Niedergang und ihre Auflösung finden;2 er kann freilich auch der Amoralität der Olympier einen eigenen ästhetischen Reiz abgewinnen. Und doch ist das Problem vielschichtiger. Die Kritik an "Homer" ist sehr alt. "Vieles lügen die Dichter", klingt bereits bei Solon wie ein Sprichwort;3 und bei Hesiod scheint das Eingeständnis der Musen, sie wüssten "viele Lügen zu erzählen",4 sich gegen die "homerische" Tradition zu richten. Das scharfe und endgültige Urteil hat dann bereits gegen Ende des 6. Jahrhunderts Xenophanes formuliert: "Alles haben Homer und Hesiod den Göttern aufgeladen, was bei den Menschen Vorwurf und Schimpf ist: Stehlen, Ehebruch treiben und einander betrügen".5 Pindar sagt sich los von Mythen, die Götter zu Kannibalen machen. 6 Bei Euripides geraten die Götter selbst ins Zwielicht: "Wenn die Götter etwas Schlechtes tun, sind sie keine Götter";7 wenn Hera aus kleinlicher Eifersucht Herakles auf das Grausamste vernichtet: "Wer möchte zu solch einer Gottheit beten"B Platon hatte nur zusammenzufassen und zu systematisieren, um all dies und überhaupt Homer in seinem Idealstaat zu verbieten.9 Und doch sind die bedeutendsten griechischen Tempel, die erhabensten Götterstatuen Generationen nach Xenophanes geschaffen worden. Man fuhr fort, zu diesen Göttern zu beten; die Praxis der griechischen Religion hat 800 Jahre über Xenophanes hinaus bestanden und ist erst im Wandel der antiken Gesellschaft unter massi1 2
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~ VII 3 Anm. 23. Martin P. Nilsson, Die Griechengötter und die Gerechtigkeit, HThR 50, 1957, 193- 210 = Nilsson 1960, III 303-321; Pierre Brule (Hrsg.), La norme en matiere religieuse en Grece ancienne, Liege 2009 (Kernos Suppl. 21). Solon Fr. 29 West. Hes. Theog. 27. Xenophanes VS 21 B 11. Pind. 01. 1,52. Eur. Fr. 286b7 Kannicht; vgl. Ion 436-451. Eur. Herakles 1307 f. -+ VII 3 Anm. 51.
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vem staatlichem Druck verschwunden. 1O Offenbar hatte jene Kritik doch nur eine Oberfläche berührt, nicht die Wurzeln. Man fand bequeme Aushilfe in einer Doppelgleisigkeit: Es gebe eine "Theologie der Dichter" als unverbindliches Spiel, daneben eine "Theologie der Polis", die allerdings Bürgerpflicht sei; mit ernstlichem Wahrheits anspruch trat dazu die "Natürliche Theologie" der Philosophen, gegenüber der ebenso geistiges Engagement wie skeptische Distanzierung möglich war.II Erstaunlich ist, dass für die Polis-Religion dabei mit Selbstverständlichkeit vorausgesetzt und ausgesprochen wird, was die Götterwelt anscheinend gerade nicht leisten kann: dass sie Fundament der moralischen Ordnung ist. Spöttisch bemerkt Aristoteles, der Herrscher müsse sich fromm gebärden, "denn von solchen fürchten die Menschen weniger Gesetzwidriges zu erleiden";I2 noch verheerender klingt die in einem Drama gegen Ende des 5. Jahrhunderts verkündete These, die Götter seien Erfindung eines schlauen Politikers, um die Menschen auch dort, wo sie anders nicht zu kontrollieren seien, an die Gebote zu binden. I3 Aber gerade dies besagt, dass die griechische Religion aus ihrer moralischen Funktion ableitbar sei. Für Aristoteles ist es philosophische Gewissheit, dass es Götter gibt; "das andere" - also offenbar die Gesamtheit von Mythos und Ritual - "ist eingeführt, um die Massen zu überreden, und zum praktischen Gebrauch für die Gesetze und die Nützlichkeit";I4 also das Gegenteil von amoralischem Ästhetizismus. Redner konnten den gleichen Gedanken weit positiver ausdrücken: "Diejenigen, die diese Furcht vor den Göttern in uns gepflanzt haben, haben damit veranlasst, dass wir nicht ganz tierisch miteinander verfahren"P Früher bereits wird mit dem gleichen Argument polemisiert: Magie sei im Grunde Gottlosigkeit, denn der Magier manipuliert die Götter, "und so jemand würde in seinem Handeln vor dem Äußersten nicht zurückschrecken, wenigstens soviel an den Göttern liegt, denn vor ihnen hat er keine Furcht".I6 Mit der Götterfurcht fallen alle moralischen Barrieren. Im Grunde ist dieses Motiv bereits in der Kyklopenschilderung der Odyssee enthalten: Polyphem, obschon Poseidons Sohn, kümmert sich nicht um die Götter,u und so ist er denn ein Menschenfresser. Dem 10 11
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De facto blieb unterschwellig im Volksbrauch vieles erhalten, z.B. die Tieropfer, HN 16; vgl. John C. Lawson, Modern Greek Folklore and Ancient Greek Religion, Cambridge 1910. Aet. 1,6,9; Pontifex Mucius Scaevola, Aug. civ. 4,27; Varro, Aug. civ. 6,5; auf Panaitios zurückgeführt von Max Pohlenz, Die Stoa I, Göttingen 1948, 198; vgl. Godo Lieberg in: Wolfgang Hasse/ Hildegard Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 14, Berlin 1973, 63-115; Jörg Rüpke in: Andreas Bendlin/Jörg Rüpke, Römische Religion im historischen Wandel, Stuttgart 2009, 73-88. Arist. Polit. 1314b38. Satyrspiel Sisyphos, Euripides oder Kritias zugeschrieben, TrGF 43 F 19 ~ VS 88 B 25. ~ VII 2 Anm.22. Arist. Met. 1074b1-8. Isokr. Bus. 25. Hippokr. morb. sacr. 1, V1360 L.; Text nach Hermann Grensemann. Od. 9,274-278.
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entspricht die Frage, die Odysseus an unbekannter Küste zu stellen pflegt: ob die Bewohner "übermütig, wild und nicht gerecht" seien oder aber "gastfreundlich und gottesfürchtigen Sinns".lB Gottesfurcht ist Anfang der MoraL Wenn die Ausbildung eines "Über-Ichs" durch Erziehung ein grundlegender Vorgang in der Entwicklung eines Menschen ist, so wirkt Religion bei diesem Vorgang als ein entscheidender Faktor: Dass es überhaupt unbedingte, kategorische Pflichten gibt, ist hier als Absolutes vorgegeben; keine Moral ohne Autorität Man kann versuchen, die Dialektik von unmoralischen Göttern und religiöser Moral entwicklungsgeschichtlich aufzulösen: Im Mythos wäre dann ein Primitivstadium fixiert, das in zunehmenden Widerspruch geriet zur Entwicklung von Kultur und Sittlichkeit. In einer primitiven Horde könnte Prestige auf Gewalt und sexueller Aktivität beruhen, kann Raub und Diebstahl an den anderen durchaus honorig sein; die Niederen, Schwachen mögen daran gewöhnt sein, dass hohe Herren sich in jeder Beziehung sehr viel mehr leisten können und sich über die Ordnung von Eigentum und Familie, die sie erzwingen, selbst nach Belieben hinwegsetzen. Den olympischen Wirren entspricht dann eine instabile Adelsherrschaft am Ausgang der dunklen Jahrhunderte. Und doch sind Zeus, Apollon, Athena zweifellos mehr als Junker, die über die Stränge schlagen, mehr als Repräsentanten eines vom historischen Fortschritt überholten Rechtszustandes. Insbesondere erscheint in der Gestalt des Zeus seit je nicht nur die souveräne Macht, sondern ein Zentrum von Sinn, der fraglos akzeptiert wird. Man kann versuchen, von einer gleichsam amoralischen "Gerechtigkeit des Zeus" zu sprechen19 - ein Wirken, das nicht an vorgegebene Statuten gebunden, weder voraussagbar noch nachrechenbar ist und doch schließlich und endlich immer im Recht ist, selbst wenn es Vernichtung bringt. "Wer von Herzen Zeus als Sieger feiert, trifft Vernunft ganz und gar". zo Doch auch damit sind die Widersprüche längst nicht ausgeräumt. Es geht bei den moralisch fragwürdigen Taten der Götter auch nicht nur um den Mythos als Widerspiegelung sei es realer Verhältnisse, sei es unterdrückter Wünsche. Die gleiche Dialektik erscheint im RituaL Wenn Hermes stiehlt, so gibt es auch Hermes-Feste, an denen Stehlen erlaubt ist;21 wenn die Götter sich an irdischen Frauen vergreifen, so gibt es feierliche Anlässe, an denen die schönste Jungfrau oder gar die "Königin" einem "Stärkeren" hingegeben werden muss. 22 Es gibt die aischroLogia neben der euphemia, die kultische Befleckung neben der Reinheit, es gibt vor allem die Gewalttat im Opferritual, "Ochsenmord", Blutvergießen und Zerstückelung, Vernichtung im Feuer, es gibt den "Wahnsinn", ob er nun als Verhängnis oder Offenbarung des 18 19 20 21 22
Od. 6,120 f; 9,175 f; 13,201 f. Lloyd-Jones 1971. Aiseh. Ag. 174. ...... III 1 Anm. 352. ...... V 2 Anm. 106; IV 4 Anm. 53.
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"wahnsinnigen Gottes" erscheint. Die Götter beim kannibalischen Mahl entsprechen der Werwolfs-Atmosphäre geheimer Opferfeste. 23 Der Polytheismus hat prinzipielle Schwierigkeiten, eine moralische Weltordnung von den Göttern her zu legitimieren. Die Vielheit der Götter impliziert stets auch ein Gegeneinander: Hera gegen Zeus, Aphrodite gegen Artemis, Dionysos gegen Apollon. Ordnung ist dann nur als "Verteilung", moira, als Departementalisierung möglich. Jeder Gott hütet seinen Bereich; er greift dann und nur dann ein, wenn dieser speziell verletzt ist. Dies gilt zunächst selbst für Zeus: Er wacht über das Gastrecht im Bereich von Haus und Hof, auch über Fremde und Schutzflehende, die diesen schützenden Bereich erreicht haben: Zeus herkeios, hikesios, xenios; was jenseits der Grenze vorgeht, berührt ihn nicht. Asylie haftet am Heiligtum, am Altar;24 anderswo kann man morden. Zwischen vielerlei Ansprüchen und Notwendigkeiten muss der Mensch lavieren; Frömmigkeit ist Klugheit und "Vorsicht". Eben darin liegt freilich auch eine Chance des Polytheismus, vielfältige Wirklichkeit in sich aufzunehmen, ohne Widersprüchen aus dem Weg zu gehen, ohne zu angestrengter Negierung eines Teils der Welt genötigt zu sein. Dem Menschen bleibt sogar ein Freiheitsraum jenseits der abgegoltenen Ansprüche;25 darum konnte sich bei den Griechen Gesetz und Ethik als menschliche "Weisheit" fortentwickeln, frei und doch im Einklang mit dem Gott; Weisheits sprüche und Gesetz werden in Tempelwände eingegraben und gelten doch immer als menschlicher Vorschlag, nicht als göttliche Offenbarung. Gesetzgebung ist eine Sache menschlicher Klugheit; griechische Götter geben keine Gesetze. 26 Und doch ist der Versuch, die Götter in einem engeren Sinn auf Moral festzulegen, ohne Zweifel altY Verfehlungen haben spürbare Folgen, auch wenn sie vielleicht erst nachträglich bemerkt werden. Schon in einem Ilias-Vergleich wird wie selbstverständlich behauptet, dass Zeus den Menschen zürnt, wenn sie mit Gewalt auf dem Marktplatz schiefe Rechtsprüche fällen, das Recht vertreiben, ohne sich um die Aufsicht der Götter zu kümmern: Dann schickt Zeus einen gewaltigen Regen, der die Ackerfluren schädigt. 28 "Alles sieht das Auge des Zeus, und alles erfaßt es", heißt es bei Hesiod; "dreimal tausend unsterbliche Wächter des Zeus über die sterblichen Menschen gibt es auf der vielnährenden Erde, die über Recht und böse 23 24
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HN 98-119. --+ II 1 Anm. 21; Eilhard Schlesinger, Die griechische Asylie, Diss. Giessen 1933; Sinn 1993; Jochen Derlien, Asyl. Die religiöse und rechtliche Begründung der Flucht zu sakralen Orten in der griechisch-römischen Antike, Marburg 2003; Martin Dreher (Hrsg.), Das antike Asyl, Köln 2003. --+ V 4 Anm. 8 und 55 zu h6sion und euldbeia. Doch Gastrecht ist "Auftrag" (ephetmai) des Zeus, 11. 24,570. Erst Platon interpretiert die Beziehung des Minos zu Zeus, des Lykurgos zu Delphi so, dass Zeus bzw. Apollon die Gesetze von Kreta und Sparta gegeben hätten, Leg. 624a, 632d, 634a. Ein Lokrisches Gesetz (6. Jahrhundert) wird ausformuliert, erst dann unter den Schutz des Gottes gestellt: "Das Gesetz soll heilig sein dem Apollon und seinen Tempelgenossen", Jeffery 1961, 105 f, Meiggs-Lewis 1969, fiT. 13. In der homerischen Sprache gibt es einen speziellen Terminus für das Vergehen gegen einen Gott, alitesthai, Od. 14,406, --+ V 4 Anm. 80. 11. 16,385-392; oft als interpoliert betrachtet.
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Taten wachen, unsichtbar überall über das Land wandelnd".29 Dike, das als Göttin personifizierte Recht, kommt zu Vater Zeus, wenn sie beleidigt wird, setzt sich neben ihn und berichtet über den ungerechten Sinn der Menschen, damit einer seine Strafe findet. 30 "Wer sich verfehlt und Frevel ins Werk setzt", "denen bringt Kronos' Sohn vom Himmel große Plage, Hunger und Seuche", ein Heer wird vernichtet, die Stadtmauer fällt, die Schiffe gehen unter im Meer: So straft der Gott;3! dabei sei es "gleiche Verfehlung", ob einer nun Ehebruch treibt, Waisen schädigt oder Eltern beleidigt. 32 In griechischer Popularethik erscheint dies als Grundkodex: die Götter ehren und die Eltern ehren. 33 Beides stützt sich gegenseitig; beides garantiert gemeinsam die zeitüberspannende Kontinuität der durch ihre Verhaltensregeln geprägten Gruppe. Religion wird zur Krise der Moral im Menschenopfer. 34 In der griechischen Realität spielt dies keine Rolle, wird aber von der Literatur aufgenommen und intensiv in der Tragödie ausgespielt. Real gemeint, doch kaum verständlich, sind einige Fälle von Geboten mit Androhung härtester Sanktionen, die ganz ohne Proportion zur Verfehlung erscheinen: Wer eine gewisse Grenze überschreitet35 oder einen Zweig auf einen bestimmten Altar niederlegt,36 soll des Todes sein. Hier gibt sich Religion geradezu als Modell eines "du sollst", das die Gefahr des Verfehlens künstlich schafft. Der Odysseedichter lässt bereits das Thema der Theodizee anklingen: Zu Unrecht geben die Menschen den Göttern die Schuld für Unglück, für das sie selbst verantwortlich sind; dass aber die Freier für ihren Frevel Strafe finden, ist Beweis für die Existenz der Götter und ihre universale Gerechtigkeit: ,;Vater Zeus, also gibt es noch euch Götter im hohen Olympos, wenn wirklich die Freier ihren schamlosen Übermut gebüßt haben".37 "Denn nicht lieben die seligen Götter frevelnde Taten, sondern sie ehren das Recht und gehörige Taten der Menschen".38 Wenn damit die Lücke zwischen Göttern und Moral sich zu schließen scheint, so reißt um so bedrohlicher die Kluft zwischen Postulat und Wirklichkeit auf. Während Solon in der Nachfolge Hesiods darauf vertraut, dass die Gerechtigkeit des Zeus sich durchsetzt, zumindest im Laufe der Zeit, und sei es über Generationen hin, und so auch seine eigene politische Tätigkeit dem Richterspruch der Zeit unterstellt,39 formuliert etwa gleichzeitig ein anderer Dichter seine Enttäuschung in fast gönnerhaf29 30 31 32 33 34 35 36
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Erga 267; 252-255. Erga 256-260. Erga 241-247. Erga 327-331. Albrecht Dihle, Der Kanon der zwei Tugenden, Köln 1968. Seren Kierkegaard, Furcht und Zittern, Oes. Werke IlI, Jena 1922. -+ II 1 Anm. 85/6; II 4.5. Zum unbetretbaren Lykaion-Bezirk Theopomp FOrHist 115 F 343, Architimos FOrHist 315 F I, HN99 Hiketeria in Eleusis, Andok. 1,113-116; HN 312 f. Od. 1,32-43; 24,351 f. Od. 14,83 f. Solon Fr. 36,3 West; vgl. Friedrich Solmsen, Hesiod and Aeschylus, Ithaka 1949, 112 f. Werner Jaeger, Scripta Minora I, Rom 1960, 320-332.
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ter Kritik: "Lieber Zeus, ich muss mich über dich wundern: du herrschst über alle, du hast selbst die Ehre und die große Macht: wie bringt dein Sinn es fertig, Kronos-Sohn, den Frevlern und den Gerechten gleichen Teil zukommen zu lassen ... ?''40 Moralität und Frömmigkeit scheinen gemeinsam zu scheitern. Fast bedenklicher noch war es, dass die Moralität mit der tatsächlich praktizierten Religion in Konflikt kommen musste. Mit einer gewissen Naivität ist in der !lias ausgesprochen, dass, wer sich einer Übertretung oder eines Fehlers schuldig macht, doch durch Opfer und freundliche Gebete, durch Libation und Fettdampf die Götter "wenden" und sich wieder geneigt machen kann;41 ähnlich heißt es im Demeterhymnus zum Ruhm der Persephone, dass in ihrer Macht liegt, ewige Strafe für Übeltäter zu verhängen, wenn sie nicht mit Opfern, mit geziemenden Geschenken, die Göttin versöhnen.42 Im Grund sind selbst die Reinigungsriten, die Apollon fordert, ein fast zu leichtes Mittel, mit einem Mord fertig zu werden; sie bedeuten Resozialisierung, aber keine Sühne. Bei Aischylos ist es so weit, dass die von Apollon selbst vollzogenen Reinigungsriten die Erinyen von Orestes nicht mehr verscheuchen können;43 erst ein formeller Richterspruch ist dazu in der Lage; freilich ist auch dieses Gericht von Göttern eingesetzt. Für Platon ist dann die Lehre von der Beeinflussbarkeit der Götter durch Geschenke und Opfer ärgste Gottlosigkeit.44 Damit freilich verliert der überhöhten Macht des "Guten" gegenüber das Ritual selbst seinen Sinn. Das hier aufbrechende Problem des Verhältnisses von Kult und Moral hat keine Religion ganz gelöst.
3.2 Der Eid Religion, Moral und die Organisation der Gesellschaft überhaupt zeigen sich unlösbar verkettet in der Institution des Eids. 45 Seine Funktion ist es, einer Aussage absolute Verbindlichkeit zu sichern, sei es, dass sie Vergangenes betrifft, sei es, dass sie eine Willenserklärung für die Zukunft ist. Von einzigartiger Bedeutung ist dies in der schriftlosen Kultur, in der es keine Aufzeichnungen als Beweismittel, keine Urkunden gibt. Doch hat die Schriftlichkeit in den alten Hochkulturen den Eid nur langsam zurückgedrängt und nie ganz verdrängt. "Was die Demokratie zusammenhält, ist der Eid ".46 40 41 42 43 44 45
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Theognis 373-378. Il. 9,497-501. Hymn. Dem. 367-9. -l> IV 2 Anm. 33. Aiseh. Eum. 276-283. -l> II 4 Anm. 60. Resp. 364b-365a; Leg. 885b, 905d-907b. -l> VII 4 Anm. 9. Rudolf Hirzel, Der Eid, Leipzig 1902; Ziebarth, RE V 2076-83; KA 136-8; Karoly Marot, Der Eid als Tat, Szegedin 1924; GGR 139-142; Burkert 1998, 205-212; Margo Kitts, Sanctified Violence in Homeric Society. Oath-making Rituals in the Iliad, Cambridge 2006. Lykurg Leokr. 79.
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Im Griechischen sind "Eid" (h6rkos) und "schwören" (omnynai) etymologisch nicht weiter durchsichtige, von der Vorgeschichte längst fest geprägte TerminiY Der Eid besteht in der Anrufung von außermenschlichen Zeugen, meist von Göttern, und in einem Ritual, das den Charakter des nie wieder Zurückzunehmenden und oft des prägenden Schreckens hat. Dazu gehört etwa das Ergreifen und Wegwerfen eines Stocks oder Steins;48 eindrücklicher ist es, Eisenbarren ins Meer zu versenken als Ausdruck des absolut Unwiederbringlichen, wie die Phokäer bei ihrer Auswanderung verfuhren und noch 478 die Ionier beim Bund gegen Persien. 49 Meist gehört zum Eid ein Tieropfer mit Libation; diese tritt ganz in den Vordergrund bei Waffenstillstand und Friedensschluss, wodurch dem Blutvergießen ein Ende gesetzt wird; dies sind darum spondai schlechthin. 50 Beispielhaft schildert schon die Ilias ein Eidopfer: 51 die Troer liefern ein schwarzes und ein weißes Lamm für Erde und Himmel; die Achäer bringen ein Lamm für Zeus. Die "Könige" treffen sich im Kreis ihrer Mannen, waschen die Hände, die Herolde mischen Wein und schenken jedem einen Becher ein; Agamemnon als Opferherr schneidet den Lämmern die Stirnhaare ab, er ruft betend die Zeugen an: Zeus, Helios, Flüsse und Erde und die unterweltlichen Strafrnächte; dann schneidet er den Lämmern die Kehle durch, die andern gießen ihrerseits betend den Becher aus. Zeus ist hier der besondere Gott der Griechen; daneben steht die umfassende Anrufung von Sonne-Himmel, Erde mit Flüssen und Unterwelt, also des gesamten Kosmos. Diese dreiteilige Formel begegnet auch sonst; Hera selbst schwört bei Erde, Himmel und der Unterweltquelle Styx den "größten Eid "52 - dass die Götter bei der Styx schwören, ist missverstandene Verselbständigung des Schlussteils dieser kosmischen Formel. Weltbereiche werden auch in orientalischer Tradition zitiert. 53 In nachhomerischer Zeit stehen im Eid die jeweiligen Polis-Götter im Vordergrund. Zeus als höchster und stärkster bewahrt eine Vorrangstellung, er ist Zeus h6rkios. 54 Atheney55 schwören bei Zeus, Apollon und Demeter - hier treten zu Zeus der Gott der Phratrien, der patriarchalen Familienorganisation, und die Thesmophorien-Göt47 48 49 50 51 52 53
54 55
Chantraine 1968/80, 798 f; 820 f; Emile Benveniste, L'expression du serment dans la Grece ancienne, RHR 134, 1948,82-94; R. Hiersche, REG 71, 1958,35-41. Il. 1,233-246; vgl. den Eid per lovern lapidem, Latte 1960, 122 f. Hdt. 1,165,3; Arist. Ath. Pol. 23,5. -+ II 2 Anm. 45. Il. 3,103-107; 268-313; vgl. 19,249-265. Il. 15,36-38. Zum Abschluss der hethitischen Schwurgötter erscheinen im Vertrag zwischen Muwatallis und Wilusa "Berge, Flüsse und Quellen des Landes Hatti, das große Meer, Himmel, Erde, Wind, Wolken", Johannes Friedrich, Staatsverträge des Hatti-Reiches II, Leipzig 1930, 81; Albero Bernabe/ Juan A. Alvaez Pedrosa, Historia y leyes de los Hititas, Madrid 2004, 187. - Ugaritisch: Gese 1970, 168; aramäisch: Inschrift von Sfire, ANET 659. - "Himmel, Erde, Quellen, Flüsse" auch im Eid von Dreros, -+ Anm. 56. REXA345. Cook 1925, II 729 f; Zeus, Poseidon, Athena in Drakons Gesetz, Schol. BT Il. 15,36.
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tin, der Lichte und die Dunkle - oder auch bei Zeus, Poseidon, Demeter oder Zeus, Athena, Poseidon und Demeter; hiermit werden die beiden wichtigsten sakralen Zentren Attikas beschworen, Akropolis und Eleusis. Der Eid der attischen Epheben ruft eine lange Zeugenliste an: Aglauros, in deren Heiligtum die Vereidigung stattfindet; Hestia, das Zentrum der Polis; die kriegerischen Götter zum Antritt des Militärdienstes, Enyo und Enyalios, Ares und Athena Areia; dann Zeus; Thallo und Auxo, "Sprossen" und "Wachsen" als Schutzmächte der Heranwachsenden; Hegernone, die "Führerin", und Herakles, das große Vorbild dessen, der aus eigener Kraft sich durch die Welt hindurchfindet; schließlich "die Grenzen des Vaterlandes, Weizen, Gerste, Weinstöcke, Ölbäume, Feigenbäume", also Inbegriff der fruchtbaren "väterlichen Erde".56 Seit je können Gegenstände zu Zeugen des Eids erhoben werden; Achilleus schwört bei seinem Stab, der nie wieder grünen wird, Hera beim Haupt des Zeus und ihrem ehelichen Lager. 57 Das Eidopfer hat wesentliche Elemente mit dem allgemeinen Tieropfer gemeinsam, unterstreicht aber den Aspekt von Schrecken und Vernichtung. Man lässt das Blut in ein Gefäß rinnen und taucht die Hände ein. 58 Wesentlich ist die Zerstückelung des Opfertiers: Man "schneidet den Eid"; der Schwörende tritt mit dem Fuß auf "abgeschnittene Stücke", und zwar auf die Geschlechtsteile des männlichen Opfertiers; so kommt zum Blutvergießen der Schauder der Kastration. 59 Dazu gehört die Selbstverfluchung. "Wer als erster gegen den Eid Böses tut, dessen Hirn soll so zu Boden fließen wie dieser Wein", heißt es in der Iliasj60 später ist die gewöhnliche Formel, dass völlige Vernichtung (ex61eia) den Eidbrecher samt seinem ganzen Geschlecht treffen soll; die Auslöschung der Familie61 entspricht der Kastration. "Wenn die Molosser einen Eid schließen, stellen sie ein Rind bereit und Becher, mit Wein gefüllt; dann zerhauen sie das Rind in kleine Stücke und beten, dass die Übertreter so zerstückelt werden sollen; sie gießen die Becher aus und beten, so möge das Blut der Übertreter vergossen werden".62 Ob man vom Eidopfer essen dürfe, war umstritten. 63 In der Ilias nimmt Priamos die Opfertiere mit nach Hause, doch wohl zu profaner Verwendung, während bei Agamemnons Reinigungseid der geschlachtete Eber ins Meer geworfen wird. 64 Oft werden Eide bei Gelegenheit eines normalen Opfers abgenommen, "über bren56
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Louis Robert, Etudes epigraphiques et philologiques, Paris 1938, 296-307; Tod 1948, II nr. 204; Reinhold Merkelbach, ZPE 9, 1972, 277-283; zu Hegernone vgl. hegem6syna-Opfer für Herakles, Xen. Anab. 4,8,25, und Artemis Hegernone in Sparta, -+ V 2 Anm. 68. Schwurgätter von Dreros: SIG3 527 = IC 1 ix l. -+ Anm. 48; 11. 15,39 f. Aiseh. Sept. 43 f; Xen. Anab. 2,2,9. Demosth. 23,67 f; Paus. 5,24,9; Stengell91O, 78-85; HN 47,8. Il. 3,299 f; 19,264 f. Gesetz bei Andok. 1,98; Anekdote und Orakel bei Hdt. 6,86. Provo Coisl., Paroemiographi Graeci 1 225 f Anm. Paus. 5,24,10. 11. 3,310; 19,267 f.
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nenden Opfern", "bei vollkommenem Opfer";65 dem, der schwören soll, gibt man die Eingeweide (splanchna) des Opfertiers, Herz und Leber in· die Hand, um seinen Kontakt zum Heiligen ganz sinnenfällig zu machen. 66 Das Essen der splanchna kann zur ,;Verschwörung" werden, wobei man geheimen Zirkeln selbst kannibalische Riten zutraut. 67 Eidzeremonien lassen sich weithin "prädeistisch" verstehen: Sie setzen keine formulierren Göttervorstellungen voraus. 68 Einzelne Gegenstände oder die Gesamtheit des Kosmos werden gleichsam aktiviert durch die Anrufung zusammen mit der Demonstration von Vernichtung und Unwiederbringlichkeit, inmitten der Verschuldung und Solidarisierung im blutigen Opfer. Und doch scheint den Griechen unerlässlich, dass eine göttliche Person all dies überwacht und strafend eingreifen kann. Der kleine Mann glaubt, dass Zeus seinen Blitz gegen die Meineidigen schleudert,69 auch wenn es von der Erfahrung nicht bestätigt wird. Darum greift die Spekulation über das Lebensende des Menschen hinaus und stellt unterweltliche Schergen bereit, die Eidbrecher nach dem Tod in der Unterwelt zu strafen:70 Erinyen umgeben den Eid schon, wenn er entsteht, warnt Hesiod.71 Dementsprechend ist man überzeugt, dass nur Gottesfurcht Garantie für das Einhalten von Eiden gebe; nur wer Götter ehrt, kann demnach Vertragspartner sein. Dabei können, der Offenheit des Polytheismus entsprechend, durchaus verschiedene Götter an einem Eid beteiligt sein, wenn sie nur für den Partner verbindlich sind; so wird bei zwischenstaatlichen Verträgen vereinbart, dass jede Partei "den größten einheimischen Eid" zu leisten hat.n Dabei beherrscht der Eid das Staatsrecht wie auch das Straf- und Zivilrecht und spielt damit im praktischen Leben jedes Einzelnen eine entscheidende Rolle. Ob vor Gericht, ob im wirtschaftlichen Verkehr mit Waren, Geld und Grundbesitz, an allen Rechtsgeschäften sind Götter als Zeugen beteiligt. Jedes Darlehen, jeder Kaufvertrag, der nicht sofort vollzogen wird, muss beeidet werden. Um der Sache Gewicht zu verleihen, pflegt man ein Heiligtum aufzusuchen. Gegebenenfalls ist gesetzlich vorgeschrieben, in welchem Heiligtum man "den Eid zu opfern" hat.D Daher sind Markt und Tempel auf das engste verbunden; der Geächtete wird von Markt und Heiligtümern zugleich ausgeschlossen. Eine Handelsniederlassung erfolgt in Form der Grün65
66 67 68 69 70 71
72 73
IG P 14 = SIG3 41 = IE 4,18; SIQ3 685; LSCG 65, 2; Gesetz bei Andok. 1,97 f; SIQ3 229 = IE 9,22. Paul Stenge!, Hermes 49, 1914,95-98 deutet hiera teleia in diesem Zusammenhang zu Unrecht als "ganz verbrannte Opfer"; es sind Opfer vollständig ausgewachsener Tiere, nach dem Voropfer, vgl. Aisch. Ag. 1504; Paus. 7,18,12. Hdt. 6,67,3; Aischines 1,114; "sich am Altar halten" beim Eid: SIG' 921 = IG II/IIP 1237, 76. Albert Henrichs, Die Phoinikika des Lollianos, Bonn 1972, 29-33, 37 f; HN 47. Richard Lasch, Der Eid, Struttgart 1908; GGR 139 f. Aristoph. Nub. 397. --+ IV 2 Anm. 31. Erga 803. Thuk. 5,18,9; 5,47,8; 5,105,4. Histiaios, im Begriff zum Verräter zu werden, schwört bei den "Göttern des Großkönigs", um den Eid sofort zu brechen, Hdt. 5,106,6. Grundstücksverkauf in Ainos, Theophrast Fr. 650 Fortenbaugh bei Stob. 4,2,20, IV 129,10 Hense.
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dung von Heiligtümern; so N aukratis in Ägypten: König Amasis "gab denen, die dort nicht ständig Wohnsitz nehmen wollten, Land, wo sie Altäre und heilige Bezirke für die Götter gründen konnten"; "der größte heilige Bezirk dort, der berühmteste und meist benützte, der Hellenion heißt, ist von folgenden Städten gemeinsam begründet: Chios Teos Phokaia Klazomenai Rhodos Knidos Halikarnassos Mytilene. Ihnen gehört der heilige Bezirk und sie stellen die Vorsteher des Handelsplatzes".74 Organisation des Kults und des Handels fällt zusammen. Nicht anders verfahren Ausländer in Griechenland: Phoiniker errichten im Piräus ein Heiligtum der Astarte-Aphrodite, Ägypter eines der Isis.75 Das Heiligtum bürgt für Bestand; "benützt" wird es für die zu beeidenden Verträge. Nicht ohne Ironie zeigt Platon, wie der an der Existenz der Götter zweifelnde Protagoras nicht ohne Tempel auskommt: ,,wenn einer nach Abschluss der Lehre einverstanden ist", lässt er den Sophisten ausführen, "so zahlt er, was ich verlange, und die Sache ist erledigt; andernfalls hat er in ein Heiligtum zu gehen und einen Eid zu leisten, wie viel wert ihm die Lehre zu sein scheint, und diese Summe legt er hin".76 Durchaus archaisch ist hierbei, dass der Eid eine Selbstfestlegung bedeutet: Der Schuldner setzt unter Eid die Höhe des zu erstattenden Betrags fest. In der Satzung der Labyaden von Delphi ist verfügt: Wer gegen einen Bußbescheid Einspruch erhebe, solle "den üblichen Eid schwören und frei sein",17 Selbst in einem Strafprozess konnte ein Beschuldigter durch einen Reinigungseid das Verfahren beenden; die Erinyen werfen Orestes eben dies vor: "einen Eid würde er nicht auf sich nehmen, könnte er nicht leisten";78 könnte Orestes schwören: Ich habe die Mutter nicht getötet - so wäre er frei. Platon meint freilich, dergleichen sei allenfalls in der Zeit des Rhadamanthys möglich gewesen.79 Die Ausgestaltung des Reinigungseids zum GottesgerichrB° ist im Griechischen nur in Ansätzen zu fassen. Im normalen Gerichtsverfahren steht Eid gegen Eid: Der Ankläger beschwört seine Anklage, der Angeklagte versichert seine Unschuld mit einem Gegeneid; zwischen diesem "Auseinander-Schwören" (diomosia) haben die vereidigten Richter zu entscheiden. 81 Besonders feierlich ist das Ritual vor dem Areopaggericht: Der Ankläger hat, nachdem die Priester Eber, Widder und Stier geschlachtet haben, auf die "abgeschnittenen Teile" zu treten und den Eid zu sprechen, wobei er "völlige Vernichtung" für sich, sein Haus und sein Geschlecht herabwünscht, falls er nicht die Wahrheit spreche. 82 Der Freigesprochene, der Sieger im Prozess, hat nochmals mit einem 74 75 76 77 78 79 80
81 82
Hdt. 2,178 f. 1G II/III' 337 ~ S1G3 280. Plat. Prot. 328bc. LSCG 77 D 24 f. Vgl. Verfahren der Juden in Elephantine, ANET 491. Aisch. Eum. 429. Plat. Leg. 948bc. "Durchs Feuer gehen" und "glühendes Eisen tragen" Soph. Ant. 264 f; Trinken eines Gifttranks steht hinter dem Styx-Trank der Götter Hes. Theog. 775-806. Gustave Glotz, ~ordalie dans la Grece primitive, Paris 1904. Justus H. Lipsius, Das attisches Recht und Rechtsverfahren, Leipzig 1905-15, 830-834. Demosth. 23,67 f.
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Opfer, durch "Schneiden der Stücke", seinen gerechten Sieg vor den Augen der Götter zu demonstrieren. 83 Jede Aussage kann wahr oder falsch sein; zum Eid gehört als Möglichkeit stets schon der Meineid. Dass im Griechischen das Wort, das den "Eid dabei" bezeichnet, epi-orkos, zur Bedeutung "Meineid" gekommen ist,84 wirft ein grelles Licht auf den Missbrauch von Eiden schon in früher Zeit. "Mit Eiden zu betrügen" ist nicht nur die Kunst eines Autolykos, "der durch Stehlertum und Eid bei den Menschen berühmt war; ein Gott gab es ihm",85 sondern allgemeine Praxis auf dem Markt;86 freilich besteht die feinere Kunst darin, den direkten Meineid zu vermeiden und doch den Partner zu täuschen durch zweideutige und missverständliche Formulierungen; das Muster liefert bereits Hera in der Ilias;87 aber in Liebessachen ist selbst Zeus, meint der Mythos, unbedenklich zum Meineid bereit. 88 Trotzdem muss, per Saldo, die rechte Verwendung von Eiden den Missbrauch überwogen haben; sonst hätte kein Kaufvertrag, kein Bündnis, kein kriegerisches Aufgebot Bestand gehabt. Um menschliches Verhalten der freien Willkür zu entziehen und voraussagbar zu machen, war der Eid ein manchmal fast verzweifeltes, aber jedenfalls gänzlich unersetzbares Mittel. Die "Benützbarkeit" von Göttern und Heiligtümern, kurz die Religion, war hier Fundament der staatlichen, rechtlichen und wirtschaftlichen Organisation schlechthin. Und doch ist der Eid keine eigentlich moralische Macht. Es gibt die verbrecherischen Eide, die Verschwörung der Bösen; es gibt den erschlichenen, sinnlosen oder unmoralischen Eid. "Die Zunge hat geschworen, der Geist weiß nichts vom Eid", ruft Hippolytos bei Euripides;89 und doch hält er sich an jenen Schwur, was ihn das Leben kostet. Blind, starr, elementar ist der Eid zusammen mit der Religion aus den Tiefen der Vorgeschichte erwachsen. "Sohn des Streits", "große Plage für die Menschen"90 und doch ein Fundament, auf dem man baut.
3.3 Solidarisierung im Spiel und Widerspiel der Rollen Der Eid ist bei aller Bedeutung doch nur ein Sonderfall der allgemeineren Tatsache, dass durch Ritual und Götteranrufung eine Basis des Verstehens und Vertrauens geschaffen wird. Platon will in den Gesetzen gleich bei der Stadtgründung jedem 83 84 85 86 87 88 89 90
Aischines 2,87; Paus. 1,28,6. Manu Leumann, Homerische Wörter, Basel 1950, 79-92. Od. 19,395 f. Ausspruch des Kyros, Hdt. 1,153. Il. 15,41 m. Schol. Hes. Fr. 124 - ApolIod. 2,5, als Begründung der vernünftigen Maxime, in Liebessachen keinen Eid zu verlangen. Eur. Hippol. 612; Aristoph. ran. 147l. Hes. Theog. 231 f.
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QuaTtier seinen Gott, Daimon oder Heros zuweisen, samt heiligen Bezirken und allem, was dazugehört, "damit Zusammenkünfte der einzelnen Gruppen zu bestimmten festgesetzten Zeiten stattfinden und für die Erledigung praktischer Angelegenheiten günstige Gelegenheit bieten und damit die Menschen einander freundlich begegnen im Opfer und einander vertraut werden und sich kennen lernen; gibt es doch kein größeres Gut für die Stadt, als wenn man sich gegenseitig bekannt ist. Wo nämlich die Art eines jeden nicht im Licht, sondern im Dunkel liegt, wird einer weder die Ehre finden, die er verdient, noch die Ämter, noch gegebenenfalls die zukommende Strafe".9I Die Feste sind die eigentliche Gelegenheit zur Begegnung, wobei Weltliches keineswegs ausgeschlossen ist92 - im Doppelsinn des Wortes "Messe" zeigt sich das gleiche Ineinander auch im christlichen Bereich. Dabei ist die Praxis des Rituals mehr als unverbindliche Begegnung, ist "Teilhabe": hieran metechein. Grundfigur ist das Tieropfer mit seiner Doppelpoligkeit von Blutvergießen und Essen, Tod und Leben. Ein Kreis umschließt die Teilnehmenden, schließt die anderen aus, Mörder, Fluchbeladene, Geächtete,93 in Ausnahmefällen auch Frauen,94 Fremde95 oder Sklaven;96 alle sind beteiligt, nehmen die Gerstenkörner zur Hand und werfen gemeinsam, essen vom Opferfleisch.97 Dabei sind die Aufgaben differenziert, die Ränge abgestuft: Viele sind dienend beschäftigt mit Tier, Korb, Wasserkrug, Räuchergefäß, Musikinstrumenten, Feuer und Bratspießen; einer steht an der Spitze, "fängt an", betet und libiert, König oder Beamter, Priester oder Hausherr. Zuerst kommt der Teil der Götter, dann das Kosten der spldnchna im engen Kreis, dann die Fleischverteilung in festgelegter Folge, Priester, Beamte, Ehrengäste, dann die übrigen, die sich damit immer noch herausheben aus der anonymen Masse derer, die "nicht Teil haben". So ist die Opfergemeinschaft ein Modell der griechischen Gesellschaft: nicht Gabenaustausch mit Tempel und Priester wie im Alten Orient,98 auch nicht Abgabe an die Götter, sondern "Trennung von Göttern und sterblichen Menschen",99 indem eine Gruppe von "Gleichen" zwischen Tod und Leben, im Ange91 92 93 94
95 96 97 98 99
Plat. Leg. 738d; vgl. Arist. Polit. 1319b23-27. Ein zollfreier Markt im Heiligtum an den Artemisia in Eretria: LSCG 92. Ausschluss "vom Händewaschen, von Spenden, Mischkrügen, Opfern, Markt" in den Gesetzen Drakons, Demosth. 20,158, vgl. Andok. 1,8; 71; Arist. Ath. Pol. 57,2; Plat. Leg. 868c-e; 871a. LSCG 82, 96; LSS 56, 63, 66, 88, 89; LSAM 42; Wächter 1910, 125-129; Louis R. Farneli, ARW 7, 1904 70-94; Uta Kron in: pontus Hellström/Brita Alroth, Religion and Power in the Ancient Greek World, Stockholm 1996, 139-182; Matthew Dillon, Girls and Women in Classical Greek Religion, London 2002; Ross Shepard Kraemer, Women's Religions in the Greco-Roman World, Oxford 2004; }oan B. Connelly, Portrait of a Priestess. Women and Ritual in Ancient Greece, Princeton 2006. LSCG 96,26; LSS 49; Wächter 1910, 119-122; Franz Bömer, Untersuchungen über die Religion der Sklaven 4, Abh. Mainz 1963, 10; 99,2. Plut. Aristeid. 21; qu.Gr. 301 f; Phiion, Quod omnis prob.lib. 140; Eitrem 1915,465 fund: Beiträge zur Religionsgeschichte III, 1920,39-43; Bömer (~Anm. 5) 81-100. ~ II 1. -+ I 4. Hes. Theog. 535.
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sicht der Unsterblichen solidarisch wird. Die Gruppe der "Gleichen", "Beteiligten" kann mehr oder weniger exklusiv gefasst sein, mehr aristokratisch oder mehr demokratisch; doch selbst die griechische Demokratie ist eine exklusive Gruppe, auf Vollbürger beschränkt. Im Schrecken des Blutvergießens, im Verzicht der Voropfer und Libationen werden die gegenseitigen Spannungen entkrampft, wird aus Neben- und Gegeneinander ein Miteinander, orientiert am Göttlichen. So.sind denn alle wesentlichen Gemeinschaftsformen von der Religion nicht nur verbrämt, sondern geprägt: Definition der Zugehörigkeit ist überall die Beteiligung an einem Kult. Dies beginnt bei der Familie,lOo für die das Griechische gar kein eigenes Wort hat; man spricht von "Haus" und "Herd" und nennt damit bewusst zugleich die häusliehe Opferstelle.101 Sache des Hausherrn ist es, am Herd zu opfern, Spenden in die Flamme zu gießen und kleine Erstlingsopfer vor der Mahlzeit hineinzuwerfen. Das Erlöschen des Herds zeigt die Krise an, wenn ein Familienmitglied stirbt,102 doch folgt ja das Wiederentzünden mit einem Opfer am Herd. Das neugeborene Kind wird am 5. Tag vom Vater im Lauf um den Herd getragen, am Fest Amphidr6mia,103 wozu ein Opfer an den Herd gehört. Die Braut wird vom Herd des Vaterhauses weggeführt zum neuen Herd,104 über den sie nun als Hausfrau zu wachen hat. Das andere Kult. zentrum der Familie sind die Gräber, zu denen die Angehörigen an den festgesetzten Tagen Gaben bringen. 105 Das genos, die Großfamilie, hat darüber hinaus weitere Götter, in deren Kult die Glieder sich treffen.I° 6 In Athen gehört dazu vor allem ein Altar des Zeus Herkeios, der über den "Hof" wacht, und des Apollon Patroos in der Organisation der Phratrien. Denn über das Bürgerrecht wacht die Phratrie, der Familienverband107 - in dieser Institution allein ist im Griechischen das indogermanische Wort für "Bruder" bewahrt. Der Vater hat das dreijährige Kind und dann den Epheben, der Mann die neuvermählte Frau "einzuführen"; der neu Eintretende wird zu den Altären geführt, und je ein Opfer ist fällig, meion, koureion, gamelion für den "Kleineren", den Kuros,
100 "Teilhabe an den Göttern der gleichen Abstammung", theoi hom6gnioi Plat. Leg. 729c; die Enkel sind dabei, Isaios 8,15 f; Herbert J. Rose, The religion of a Greek household, Euphrosyne 1, 1957, 95-116. 101 -+ 1Il 2 Anm. 2-6. 102 -+ II 1 Anm. 56. 103 GGR 95; Deubner, RhM 95, 1952,374-377. 104 Phot. zeugos hemionik6n; lambL Vit. Pyth. 84. 105 -+ IV 1 Anm. 38. 106 Z.B. Hdt. 5,66,2. 107 Il. 2,362 f; Philochoros FGrHist 328 F 35; SchoL Plat. PhiL 30d; Jeanmaire 1939, 133-144; Marghe.. rita Guarducci, L'istituzione della fratria nella Grecia antica, Mem. Acc. Unc. VI 6/8, Rom 1937/8; Latte RE XX 745-756; Charles W. Hedrick, The Attic Phratry, Philadelphia 1984; Stephen D. Lam.. bert, The Phratries of Attica, Ann Arbor 21998. Unklar und umstritten ist, ob die Ioniern und Athenern eigentümliche Phratrienorganisation über die dunklen Jahrhunderte zurückreicht; dage.. gen A. Andrewes, Hermes 89, 1961, 129-140; JHS 81, 1961, 1-15; Johannis Sarkady, Acta Classica Univ. Scient. Debrec. 2, 1966, 22-24.
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den Hochzeiter. Es gibt bei allen Ioniern ein dreitägiges Jahresfest, die Apaturia,108 wo die phrdteres sich zum Opferschmaus treffen, dem die Eintrittsopfer dienen; bei Nordwestgriechen, zumindest in Delphi, haben die Apellai ähnliche Funktion,109 auch sie mit dreierlei Opfern für Kind, Jüngling, Hochzeit, paideia, apellaia, gdmela. Wenn in Athen künftige Archonten auf ihre Wahlfähigkeit geprüft werden, haben sie ihre Vollbürgerschaft nicht nur durch Nennung von Eltern und Großeltern nachzuweisen, sondern auch durch die Angabe, "wo sie ihren Zeus Herkeios und ihren Apollon Patroos und ihre Familiengräber haben"Yo Diese Kultstätten sind nicht verlegbar; so bleibt die Bindung an die Polis unauflöslich. Daneben gibt es ungezählte Kultgemeinschaften, die die Familienstrukturen überlagern. Sie sind vor allem durch Inschriften bekannt, die freilich erst in der hellenistischen Epoche zahlreich werden. Ein Sakralgesetz des 4. Jahrhunderts lehrt in Attika Salaminioi kennen.III Inwieweit es sich um Familien handelt, die früher in Salamis wohnten, ist nicht deutlich; jetzt jedenfalls siedeln die Salaminier teils in Sunion, teils in "sieben Phylen"; sie haben gemeinsam das Recht und die Pflicht, bestimm:te Kulte durchzuführen, deren Finanzierung im erhaltenen Dokument geregelt wird. Insgesamt haben sie über das Jahr verteilt mindestens acht Feste zu organisieren; sie sind insbesondere für Priestertum und Kult der Athena Skiras in Phaleron zuständig. Beim Oschophorienfest dürfen sie die Brote, die die Stadt der Athena Skiras stiftet, unter sich verteilen. Die Stadt ihrerseits ist eine Opfergemeinschaft. Sie untersteht einer "stadtschirmenden" Gottheit, die ihre Dauer verbürgt und damit zugleich Fortbestand der eigenen Ehren;II2 Stadt und Götter sind gegenseitig aufeinander angewiesen. Die größte Inschrift, die in Athen öffentlich ausgestellt war, in der "Königs-Stoa" am Marktplatz, war der Opferkalender. Feste umrahmen Jahresende und Jahresanfang;113 die "Mysterien" im Herbst, die "Großen Dionysien" im Frühjahr sind die anderen ganz großen Ereignisse im Jahreslauf; dazwischen gibt es eine Fülle weiterer Festlichkeiten, ja man 108 GF 463 f; AF 232-234; der Festname ist zu verstehen als a-patro-horia "Wahrung des gemeinsamen Vaters"; doch griechisch missverstanden und zu apdte "Betrug" gestellt. Gemeinionisch: Hdt.1,147. Hauptdokument die Satzung der Demotioniden IG 11/IIl' 1237 = SIG' 921 = LSCG 19; Charles W. Hedrick, The Decrees of Demotionidai, Atlanta 1990; zum koureion Jules Labarbe, Bull. Acad R. de Belgique 39, 1953, 358-394. 109 Labyaden-Inschrift BCH 19, 1895, 5-69; GF 464 f; RhM 118, 1975, 10 f; ältere Aufzeichnung aus dem 6. Jahrhundert: Georges Rougemont, BCH 98, 1974, 147-158. 110 Arist. Ath. Pol. 55,3; Harpokr. Herkeios Zeus mit Zitaten aus Deinarchos, Hypereides, Demetrios Fr. 139 Wehrli; Demosth. 57, 67; unverlegbar: Lykurg Leokr. 25. 111 William S. Ferguson, Hesperia 7, 1938, 1-68; Nilsson 1952,11 731-41; LSS 19; Martha C. Taylor, Salamis and the Salaminioi. The History of an unofficial Athenian Demos, Amsterdam 1997; Stephen D. Lambert, ZPE 125, 1999,93-130. Zu den Oschophoria Waldner 2000, 102-175; Parker 2005,211-217. 112 Solon Fr. 4,1-6 West; Theognis 757-760; Aisch. Sept. 69; 76 f; 109; 253; Aristoph. Eq. 581. Vgl. Sourvinou Inwood 2000; S. Krauter, Bürgerrecht und Kultteilnahme. Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum, 2004. 113 ~ V 2 Anm. 5; V 2.2.
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sagte, es gebe in Athen nur einen einzigen Tag im Jahr ohne Fest, und man widme sich den Festen mit größerer Genauigkeit als den militärischen Unternehmungen.n4 Aber für Sparta waren etwa die Karneen nicht minder wichtig.1l5 Wenn Angehörige verschiedener Städte zusammentrafen, blieb jede Gruppe der eigenen Identität bewusst durch ihre je besonderen Feste. Inmitten der 10 000 Söldner des Kyros feiert der Arkader Xenias seine Lykaia; die Amyklaier entfernen sich aus dem spartanischen Heer, um die Hyakinthien zu feiern; ein Athener feiert auch in Ägypten die Anthesteria. l16 Die Erstarkung der Polis drückt sich darin aus, dass sie das Monopol für Kulte in Anspruch nehmen konnte. Nicht nur Platon1l7 will im Gesetzesstaat alle privaten Kulte verbieten; es gab schon früher in Athen ein Verbot, "neue Götter" einzuführen.n s Das Herkommen blieb respektiert, doch konnte etwa festgelegt werden, dass beim Fest eines Gottes keine Familie, kein Privatmann vor der Stadt opfern durfte. ll9 Auch übergreifende Zusammenschlüsse einzelner Städte ebenso wie Stammesorganisationen haben ihr Zentrum je in einem Heiligtum mit seinem Jahresfest. Umwohner, amphiktiones,120 eines größeren Heiligtums entwickeln institutionalisierte, mehr oder weniger bindende Beziehungen. Die Aetoler treffen sich bei ApolIon in Thermos,l21 die Achaier bei Zeus Hamarios unweit Aigion,122 die zwölf ionischen Städte Kleinasiens bei Poseidon in Mykale,123 die sieben dorischen Städte bei Apollon in Knidos. 124 "Pamboiotia" feierten die Böoter bei Athena Itonia von Koroneia,125 doch der böotische Bund wurde dann in Anschluss an eine alte Amphiktyonie um das Poseidonheiligtum von Onchestos organisiertY6 Sehr früh schon im 1. Jahrtausend bestand eine Amphiktyonie um das Poseidonheiligtum von Kalaureia im Saronischen Golf, der etwa Epidauros, Aigina und Athen angehörten. 127 Für die ionischen Kykladeninseln wurde die unbedeutendste, zur Ansiedlung ungeeignetste zum um so heiligeren Zentrum: Delos; dort strömten die "gewänderschleppenden
114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127
Demosth. 4,35 f. -+ V2.3. Xen. Anah. 1,2,10; Hell. 4,5,11; Kallim F~. 178. Plat. Leg. 9l0b-c. Reverdin 1945, 228-231; Garland 1992. LSAM 48, 1-4; IE 205, 27 f; vgl. die Zusammenlegung der Hausheiligtümer der Klytiden auf Chios, LSCG 118. Zur Orthographie Amphiktionen/Amphiktyonen Chantraine 1968/80,592; Oswald Szemen!nyi, Gnomon 49, 1977, 1 f. -+ II 5 Anm. 63; III 1 Anm. 218. Strab. 8,7,5 p. 387; RE XA 270 f. -+ III 1 Anm. 115; V 1 Anm. 54. RhM 118, 1975, 20. Strab. 9,2,29 p. 411; Ziehen RE XVIII 3, 288 f. Strab. 9,2,33 p. 412; Bull. epigr. 1973 nr. 212. Strab. 8,6,14 p. 374; Robert M. C. Cook, Proc. Cambr. Philol. Soc. 188, 1962, 21; Dietrich 1974, 243. -+ V I Anm. 57.
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Ionier" zusammen, wie der homerische Apollonhymnus schildertYs Als dann die Ionier unter Athens Führung sich gegen Persien zum Seebund zusammenschlossen, war das Delische Heiligtum zunächst weiterhin Ort der Tagungen und der Bundeskassej als Athen die ganze Macht an sich riss und in Athen konzentrierte, wurden konsequenterweise auch die Bündner zur Beteiligung an den attischen Festen aufgeboten: Jede Stadt hat zu den Panathenäen eine Kuh und eine volle Rüstung, zu den Dionysien einen Phallos zu schickenj I29 wie zuvor die Stadt, stellt sich nun das Reich in der Festprozession dar. Als sich im 4. Jahrhundert die unteritalischen Städte Kroton, Sybaris und Kaulonia unter achäischer Vermittlung versöhnen, bestimmen sie "als erstes ein gemeinsames Heiligtum des Zeus Homarios und einen Ort, wo sie Versammlungen und Beratungen abhielten".130 Die bedeutendste Organisation dieser Art war die "pylaische Amphiktyonie",l3l die um das Demeterheiligtum an den Thermopylen entstanden war, durch den ersten "Heiligen Krieg" um 590 jedoch die Aufsicht über das Delphische Orakel an sich riss und fortan in Delphi tagtej Bestand und Einfluss hatte sie, gerade weil sie sich der direkten politischen Betätigung enthielt. Die Mitglieder konnten gegeneinander Krieg führenj immerhin wurde bestimmt, man dürfe keiner beteiligten Stadt das Wasser abschneiden und keine zerstörenI32 - wenigstens ein Ansatz zur Humanisierung des Kriegs. Für Philipp von Makedonien war die Amphiktyonie ein Sprungbrett, in Griechenland Fuß zu fassen. Als er dann Athen und Theben niedergerungen hatte und einen griechischen Staatenbund erzwingen konnte, wurde dessen Zentrum wie von selbst Olympia, das rangerste griechische Heiligtumj Philipp und Alexander errichteten dort den Rundbau, in dem die makedonische Königsfamilie in der Art von Götterbildern dargestellt war. I33 Seit langem bedeutete die Teilnahme am Opfer und Agon von Olympia, als Grieche anerkannt zu seinj Gruppenzugehörigkeit und Herrschaft sind und bleiben im Heiligtum dokumentiert. Dass die Religion ein Mittel sei, Herrschaft aufrechtzuerhalten, haben antike Autoren seit dem 5. Jahrhundert oft wie eine Selbstverständlichkeit ausgesprochenp4 Die herrschende Stellung ist stets zugleich eine priesterlichej das Ritual dramatisiert und bekräftigt den Status. Das festgelegte, geheiligte Programm gibt allen ein Gefühl der Sicherheit, Herrschern wie Beherrschten. Jeder Familienvater hat, indem er die Spende am Herd ausgießt, die Gewissheit seiner Stellung. Die spartanischen Könige haben alle wichtigen Opfer darzubringenj wenn sie das Heer ins Feld führen, beginnen sie mit einem Opfer an Zeus Agetor, den "Führer", opfern an der Landesgrenze dem Zeus und der Athenaj beim weiteren Zug geht ihnen ein "Feuerträger" mit Feuer 128 129 130 131 132 133 134
Hymn. ApolI. 147-164, vgl. Burkert 2001,212-216; Oallet de Santerre 1958 pass. 10 P 46,15-117; II/HP 673; HN 46,7. Polyb. 2,39; vgl. Zeus Hamarios Anm. 32. Parke-Wormell1956,1 100-112. Aischines 2,115; 3,109 f. Amaldo Momigliano, Filippo il Macedone, Florenz 1934, 99 f. Mallwitz 1972, 128-133. -+ V 3 Anm. 10-12.
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vom heimischen Altar voraus, ein Tross von Opfertieren folgt. Jeden Tag vor Morgengrauen opfert der König; wenn "das Heilige" beendet ist, findet die Heeresversammlung mit dem Tagesbefehl statt. 135 In Athen sind die Funktionen aufgeteilt; der "König" oder Zunftmeister bringt "sozusagen alle altererbten Opfer" dar; der ihm vorgeordnete Präsident, der Archon, hat das größte, neu organisierte Fest auszurichten, die Dionysien;136 die Akropolis-Kulte bleiben der Eteobutaden-Familie, die sich auf den Bruder des Urkönigs Erechtheus zurückführt.137 Tyrannen haben sich ihrerseits um kultische Herrschaftsbestätigung bemüht. Die sizilischen Herrscher Gelon und Hieron behaupteten, in ihrer Familie sei ein Priestertum der "chthonischen Götter" ererbt;138 so ließ Gelon zur Feier des Siegs von Himera nach 480 einen Tempel der Demeter und Persephone in Syrakus errichten; denn Hieron "umsorgt Demeter und das Fest ihrer Tochter auf dem weißen Gespann";139 zugleich reorganisierte man den Bau des Tempels für die Stadtgöttin Athena, der im Dom von Syrakus erhalten ist. Aber auch Themistokles hat nach "seinem" Sieg nahe seinem Haus ein Heiligtum der Artemis Aristobule errichtet und darin auch sein eigenes Bild als Weihgabe aufgestellt. Ho Und doch wäre es einseitig, das Ritual nur unter dem Blickwinkel der Herrschaft, ihrer Demonstration und Manipulation zu betrachten. Die Rollen, die es bereithält, sind vielgestaltig und komplex und nicht auf einen durchsichtigen Zweck hin ausgerichtet. Sie glIedern die Gesellschaft, wie auch die Olympische Götterfamilie, zunächst nach männlich und weiblich, nach jung und alt; so unterscheidet man in den "Chören" in der Regel Knaben, Jungfrauen und Männer, wozu noch Vereine "ehrwürdiger" Frauen treten. Beim Normalopfer tragen Jungfrauen Korb und Wasserkrug, Knaben und Jünglinge treiben die Opfertiere, braten das Fleisch, ein würdiger Mann "fängt an" und gießt die Spende, die Frauen markieren mit der aufkreischenden ololyge den Höhepunkt der Zeremonie. Auf dem Mittelbild des Parthenonfrieses übergibt der bärtige Erechtheuspriester den Peplos einem Knaben, während zugleich die Athenapriesterin zwei "sesseltragende" Mädchen entsendet.I41 Die ältere Generation gibt Weisungen, die Jüngeren fügen sich dienend ein; auch ihre Rolle bietet Gelegenheit zu Auszeichnung und Stolz: Harmodios unternahm seinen Tyrannenmord, nachdem seiner Schwester die Rolle der "Korbträgerin" beim Panathenäenfest verweigert worden war. 142 Der Glanz des Festes kommt mehr noch als von der Würde 135 136 137 138 139 140 141
Xen. Lak. pol. 13,2-5. Arist. Ath. Pol. 57,1; 56,3-5. -+ V 2 Anm. 35. Hdt. 7,153; Zuntz 1971, 135-139. Diod. 11,26,7 (Gelon); Pind. 01. 6,95 (Hieran). Plut. Them. 22. Die facharchäologische Diskussion über das Geschlecht des (offenbar nackten) Peplos-Trägers ist hier nicht zu resümieren. Die Sesselträgerinnen sind wohl, mit Erika Simon, als Trapez6 und Kosm6 zu benennen. 142 Thuk.6,56.
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der Alten von der Lieblichkeit der Kinder und Jungfrauen, der strahlenden Kraft der Epheben. Unablösbar gehört zum ganzen das von den Dichtern immer wieder neu gestaltete Lied, das den Mythos zum Leuchten bringt und jenen Verständigungscode der Göttermythologie als lebendige Sprache erhält. Die Rollen der Geschlechter werden differenziert; die Frauen sind bei manchen Kulten ausgeschlossen, sie haben dafür ihre eigenen Feste, Skira, Thesmophoria, Adonia,143 zu denen Männer keinen Zutritt haben; die Männer sehen dergleichen nicht ohne Misstrauen an, können aber "das Heilige" nicht hindern. Es gibt aber auch als Antithese die Verwechslung der Geschlechter-Rollen in Masken- und Ausnahmefesten sowie in Verbindung mit der Hochzeit,I44 die ja einen Umbruch des Status bedeutet; da wird Gewand- und Haartracht verwechselt, da gibt es Jünglinge in Mädchenkleidern, ja Mädchen mit Bärten, Phallen, Satyrkostüm. Das Ja zur eigenen Rolle führt über ein groteskes Nein. Ähnlich doppelwertig ist das Verhältnis zu den Sklaven gestaltet; gelegentlich sind sie ausgeschlossen, bei den Choen aber ausdrücklich zu Tisch geladen, bei den Kronia werden sie die Überlegenen; auf Kreta dürfen sie ihre Herren sogar peitschen. Ein andermal wird ihnen in böser Weise die negative Rolle zugeschoben, mit realen Misshandlungen. 145 Im übrigen weist die Tatsache, dass im Ritual nicht selten Freie zu niedrigem Dienst verpflichtet sind l46 - Kehren des Tempels, Reinigung des Bildes, Waschen der Gewänder, auch Schlachten und Braten -, auf eine Zeit zurück, in der die kommerzialisierte Sklaverei noch keine Rolle spielte. Dass "auch Sklaven Menschen sind", hat die Religion nicht vergessen lassen; Tempel oder Altar gewähren einem Sklaven wie einem Freien Asyl, Blutschuld ist Blutschuld; Sklaven haben die gleichen Götter wie ihre Herren;147 sind sie Ausländer, können freilich auch sie am heimischen Brauch festhalten. Immerseiende Götter bürgen für Bestand. Auch die Feste der Auflösung und des Umsturzes münden in die Bestätigung des Bestehenden. Menschheitsgeschichtlich relevante Antithesen werden durchgespielt, Jäger- und Hirtenleben gegen Stadt143 Vgl. Arrigoni 1985; Dillon 2001. ..... Anm. 94; V 2 Anm. 39; V 2.5. 144 Heraklespriester von Kos als Frau: Plut. q.Gr. 304CD, ..... IV 5 Anm. 22; Bräutigam als Frau: Plut. ib., ..... V 3 Anm. 17-19; Braut mit Bart: Plut. mul. virt. 245EF; argivisches Fest Hybristika mit Kleidertausch ib.; Phallen ..... II 7 Anm. 59. Eine Gruppe attischer Vasen (um 500) zeigt Männer in Frauenkleidern mit Schirmen: Ernst Buschor, Das Schirmfest, JdI28/9, 1923/4, 128-132; dazu AF 132 f; Nilsson 1960, 11181-84; eine Vaseninschrift entschied, dass es sich um einen Komos im ionischweichlichen Stil des "Anakreon" handelt, John D. Beazley, John Caskey, Attic Vase Paintings in the Museum of Fine Arts lI, London 1954, 55-61; Henry R. Immerwahr, AJA 69, 1965, 152-154. Vgl. auch Marie Delcourt, Hermaphrodite, Paris 1958, 21 f. 145 Plut. q.conv. 693F (..... 4 Anm. 74); Plut. q.Rom. 267D (Leukothea, Chaironeia); ein "Gekaufter" als Pharmakos in Abdera ..... Anm. 6; II 4 Anm. 69; V 2 Anm. 29; V 2.4. 146 Vgl. auch lambl. Vit. Pyth. 54. 147 Franz Bömer, Untersuchungen über die Religion der Sklaven in Griechenland und Rom, Abh. Mainz 1963, 10. Kult eines "wohlgesinnten" Heros (Eumenes) durch Herren und Sklaven in Chios, Nymphodoros FGrHist 572 F 4, Graf 1985, 121-125.
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leben, Berg und Sumpf oder Weiher gegen Fruchtebene, ungemahlene Körner gegen Brei und Brot: Die Alltagsordnung von Herrschaft und Arbeit erweist sich als die einzige dauerhaft mögliche; und doch wird die Wunschvorstellung einer "goldenen Zeit" beschworen, werden Chancen und Risiken angedeutet und Potentialitäten wachgehalten, die die eindimensionale, volle Anpassung des Menschen an seine Rolle verhindern. Geschichten von Verschwörung und Umsturz verbinden sich gern mit Festen. Doch auch innerhalb des Bestehenden bietet das Ritual dem Einzelnen durchaus Chancen, seine Persönlichkeit zu entfalten. Hierzu zwei Beispiele: Xenophon errichtet auf dem Besitztum bei Skillus, das ihm Sparta verliehen hat, unter Verwendung seines Beuteanteils vom Kyroszug ein Heiligtum der Artemis; dies bedeutet, wie seine Beschreibung lebhaft vor Augen führt, ein jährliches Fest der Begegnung mit der ganzen Nachbarschaft, die sich versammelt zum Jagen, Essen, Trinken; "die Göttin" spendet dies, ohne Xenophons Rolle als Gastgeber zu verdunkeln; das Priesteramt, das ihm zufällt, gibt dem Ganzen würdige Form und unterscheidet es vom Protzenturn eines Neureichen. H8 In Menanders Dyskolos ist die Mutter des jungen Liebhabers eine reiche Dame aus Athen, die, wie es heißt, fast jeden Tag opfernd rings in ganz Attika umherzieht;149 diesmal, sagt sie, ist ihr der Bocksgott Pan im Traum erschienen, und darum muss nun in der Pansgrotte bei Phyle außerhalb der Siedlung ein Opfer stattfinden, das zugleich eine Landpartie mit Picknick ist. So hat die Frau die Möglichkeit, aus der Enge des Frauengemachs auszubrechen und auf Kosten des Ehemanns auch einmal dem Bocksgott ihre Reverenz zu erweisen; unterdrückte Wünsche manifestieren sich als fromme Pflicht. Die realitätsträchtige Vielfalt des Polytheismus ist es, die dem Einzelnen eine gewisse Freiheit der Selbstverwirklichung lässt, ohne ihn aus der Solidarität des Humanen zu entlassen. Ganz außerhalb hingegen steht, wer selbst göttliche Verehrung fordert, wie dies der Makedone Alexander von der Höhe seiner fernen Erfolge aus tat und nach ihm die Diadochen-Könige. Und doch ließ sich der Herrscherkult150 fast ohne Schwierigkeiten ins traditionelle System integrieren, wie denn auch Einzelfälle bereits vor Alexander zu verzeichnen sind. 151 Nicht ein Bürger der Stadt wird so verehrt, sondern ein von außen kommender Sieger und Retter. Auch die Olympischen Götter standen in Distanz; ihre verblassenden Konturen schienen durch die reale Macht und Pracht des Herrschers mit neuem Glanz erfüllt. Wiederum solidarisiert sich die Gemeinschaft in der Verehrung dessen, der ihr nicht angehört. 148 Xen. Anab. 5,3,7-13. --+ II 2 Anm. 12. 149 Men. Dysk. 261-263; 407-418. Gegen übertriebene religiöse Aktivität der Frauen wendet sich Plat. Leg.90ge. 150 Christian Habicht, Gottmenschentum und griechische Städte, München 1956, 21970; Fritz Taeger, Charisma, Stuttgart 1957; Lucien Cerfaux/Jules Tondriau, Le culte des souverains dans la civilisation greco-romaine, Tournai 1957; Burkert, Vergöttlichung von Menschen in der griechisch-römischen Antike, in: Justin Stagl/Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Grenzen des Menschseins, Wien 2005, 401-442. 151 Erstmals Lysandros auf Samos, 403 v. Chr., Duris FGrHist 76 F 71.
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3.4 Initiation Dass Religion eine Erziehungsmacht ist und ihrerseits diese Macht der Erziehung im weitesten Sinn, vor allem dem elterlichen Vorbild, verdankt, ist allenthalben evident. "Götter ehren" und "Eltern ehren" geht zusammen. Anschaulich beschreibt Platon,152 wie die Kinder noch fast als Säuglinge von ihren Ammen und Müttern die Mythen hören, die da gleich Zauberliedern im Scherz und auch im Ernst erzählt werden; sie hören die Gebete beim Opfer, sie sehen, wie ihnen sichtbares Handeln entspricht, prächtige Schaustellungen, wie sie Kinder mit größter Freude sehen und hören; Opfer finden statt, und die Kinder sehen und hören, wie da ihre Eltern für sie und sich mit größtem Ernst bemüht sind, wie sie mit den Göttern sprechen und sie anflehen; wer kann da leichthin behaupten, es gebe keine Götter? Prägung der heranwachsenden Generation erscheint dort als Hauptfunktion der Religion, wo das Ritual sich konzentriert auf die Einführung der Heranwachsenden in die Welt der Erwachsenen: in den "Initiationen",I53 den Knaben- und Mädchenweihen, die man besonders in "primitiven" Zivilisationen beobachtet hat. Kennzeichnend ist die vorübergehende Abschließung der Initianden vom Alltagsleben, die Existenz "am Rande" (en marge), so dass das Ritual im Dreischritt von Trennung, Zwischenzeit und Wiedereingliederung verläuft. Unterweisung in den Tätigkeiten der Erwachsenen gehört dazu - Jagd für die Knaben, Spinnen und Getreidemahlen für die Mädchen -, ebenso Einführung in die Stammestraditionen durch Erlernung von herkömmlichen Tänzen und Liedern und Einführung in die Sexualität. Dazu entladen sich Gruppenaggressionen in allerlei Quälereien und Drohungen, als würden die Jungen getötet, von einem Ungeheuer gefressen; eine Dimension von Tod und neuem Leben ist gegeben. In den alten Hochkulturen, die bereits Stadtkulturen mit einem gewissen Pluralismus der Traditionen sind, sind Stammesinitiationen nur in Relikten erhalten. Teils erscheinen sie abgeschwächt zu Begleitzeremonien eines eher normalen Lebenslaufs, teils werden sie transformiert zum Tempeldienst auserwählter Jugendlicher; es gibt auch die Weiterentwicklung zu Geheimkulten besonderer Bedeutung, den Mysterien. Die Mythen weisen jedoch bezeichnende Initiationsmotive auf, wie Aussetzung und
152 Plat. Leg. 887de. 153 Allgemein Arnold van Gennep, Les rites de passage, Paris 1909; Mircea Eliade, Birth and Rebirth, New York 1958 (Rites and Symbols of Initiation, New York 1965; Das Mysterium der Wiedergeburt, Zürich 1961); Claas J. Bleeker (Hrsg.), Initiation, Numen Suppl. 10, Leiden 1965; Volker Popp (Hrsg.), Initiation. Zeremonien der Statusänderung und des Rollenwechsels, Frankfurt a.M. 1969. Zum antiken Befund Jeanmaire 1939; Angelo Breiich 1969 und: -, Le iniziazioni II, Rom 1962; Burkert, Hermes 94, 1966, 1-25. Alain Moreau (Hrsg.), I.: initiation l/II, Montpellier 1992; Waldner 2000; David B. Dodd/Christopher A. Faraone (Hrsg.), Initiation in Ancient Greek Rituals and Narratives, London 2003; Burkert, ThesCRA II, 2004, 91-124; 91: initiatio als lateinische Wiedergabe von griechisch myesis.
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Kinderopfer, Draußen-Sein und Drachenkampf, und auch im Ritual ist die Situation des Draußen-Seins immer wieder von besonderer Bedeutung. Echte Initiationsrituale sind aus dem dorischen Kreta und aus Sparta überliefert. Für Kreta ist die Hauptquelle ein Bericht des Ephoros aus dem 4. Jahrhundert, der allerdings bereits vom Verfall der Sitte spricht. 154 Die Männer sind dort bündisch organisiert, sie treffen sich regelmäßig zu gemeinsamen Mahlzeiten (syssitia) im "Männersaal" (andreion), wofür die Gemeinde die Kosten trägt. Die dem Kindesalter entwachsenen Knaben werden zunächst ins Männerhaus geholt, um dort Knechtsdienste zu leisten; im einfachen Gewand haben sie am Boden zu sitzen. Als Skandal erschien den anderen Griechen die institutionalisierte Homosexualität: Ein Mann aus dem Männersaal kann einen schönen Knaben entführen;155 dies bedeutet geradezu eine Auszeichnung für den Erwählten. Der Mann kündigt seine Absicht im voraus an; die Angehörigen veranstalten eine Verfolgung bis zum Männersaal; dann werden Geschenke ausgeteilt, und der Mann mit seinem Knaben zieht, begleitet von seinen beschenkten Verfolgern, für zwei Monate irgendwohin auf das Land; Jagd und Schmaus füllen die Tage. Zum Abschluss schenkt der Liebhaber dem Knaben ein Kriegsgewand, ein Rind und einen Weinbecher; der Knabe gilt jetzt als "berühmt", klein6s. Die selbständig gewordenen Jugendlichen bilden unter der Führung und auf Initiative eines irgendwie ausgezeichneten Altersgenossen eine "Herde" (agela), die, vom Gemeinwesen finanziert, sich der Jagd, dem Sport und rituellen Kämpfen widmet, die an festgesetzten Tagen mit Musikbegleitung stattfinden. Der Austritt aus der agela fällt mit der Hochzeit zusammen. Von Religion ist soweit gar nicht die Rede; dies liegt freilich am aufgeklärten Berichterstatter; die "festgesetzten Tage" sind natürlich Götterfeste. Inschriften lehren die "Herden" der "sich Ausziehenden" (ekdY6menoi) kennen/ 56 deren sportliche Nacktheit mit der mädchenhaften Kleidung der Jüngeren kontrastiert; im Mythos gehört dazu die Geschichte vom Mädchen, das sich überraschend in einen ktäftigen Epheben verwandelt. In Phaistos feiert man das Fest des "Ausziehens", Ekdysia, zu Ehren der Leto.157 Parallel sind die Geschichten von Achilleus, der in Mädchenkleidern unter den Töchtern des Lykomedes versteckt ist, bis er beim Anblick der Waffen seine männliche Natur beweist,158 und von Theseus, der bei der Ankunft in Athen am Tempel des Apollon Delphinios als Mädchen verspottet wird, bis er den Chiton 154 Ephoros FGrHist 70 F 149 ~ Strab. 10,4,21 p. 483 f; dazu Plat. Leg. 636cd; Arist. Fr. 611,15; Dosiadas FGrHist 458 F 2; Nikolaos FGrHist 90 F 103; E. Bethe, Die dorische Knabenliebe, RhM 62, 1907,438-475; Jeanmaire 1939,421-460; Ronald F. Willetts, Ancient Crete: A social history, London 1966, 115 f; Harald Patzer, Die griechische Knabenliebe, Wiesbaden 1982, 71-84. 155 Dazu der Ganymedes-Mythos, Dosiadas FGrHist 458 F 5. -+ III 1 Anm. 29; der Mythos von Kaineus, der, als Mädchen von Poseidon begattet, zum unverwundbaren Mann wird, Akusilaos FGrHist 2 F 22. 156 IC I ix 1 (Dreros); I xix 1, 18 (Mallia). 157 Nikandros bei Anton. Lib. 17, vgl. Ov. met. 9,666-797; Waldner 2000, 222-242. 158 PR II 1106-1110.
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ablegt und den Opferstier bis über das Dach hochwirft. I59 Dass für Apollon der Bildtyp des nackten Jünglings gerade in Kreta so früh durchdrang,16o ist bezeichnend. In Kreta lokalisiert der Mythos auch die "Kureten", die dem Namen nach ja die jungen Krieger schlechthin sind.161 Dahinter steht eine Kultgemeinschaft junger Krieger um die Idagrotte, mit Waffentänzen und Schilde-Schwingen, wovon schon in sehr früher Zeit die bronzenen Votivschilde162 zeugen. Man feiert alljährlich mit einem großen Feuer in der Höhle die Geburt des Zeus,163 weiß aber auch von einem "Grab des Zeus" und munkelt von einem Kinderopfer.164 Geburt, Höhle, Kindertod, Waffentanz sind Initiationsmotive; doch scheinen sich daraus eigene "Mysterien" entwickelt zu haben. 165 Der Diktäische Zeus wird andererseits im Hymnus von Palaikastro166 als "größter Kuros" angerufen, und gewiss sind es die realen Jünglinge, kouroi, die den Hymnus singen und die "gewaltigen Sprünge" im Tanz vollziehen, zu denen sie den Gott einladen. Der ausgesprochene Zweck ist hier, den Gott "für das Jahr" mit seiner umfassenden Vitalität herbeizurufen; dass die Jungen selbst mit diesem Fest ihren Status dramatisieren oder ändern, wird nicht ausgesprochen. Und doch ist es gewiss von Bedeutung und nicht über viele Jahre hin wiederholbar, in den Kreis der so Singenden und Tanzenden aufgenommen zu sein. In Sparta167 wird die "Erziehung", agoge, die man Lykurgos zuschrieb, zum lebenfüllenden Selbstzweck; muss doch die so gestählte kleine Kaste die Herrschaft über die unterjochten Heloten behaupten. Bereits mit sieben Jahren werden die Knaben von der Familie getrennt und in "Herden" eingeteilt, doch erst mit 30 Jahren werden sie vollberechtigte Mitglieder der gemeinsamen Mahlzeiten (phiditia). Dazwischen liegt ein kompliziertes System von Altersklassen, über das wir nur unvollständig unterrichtet sind. Bezeichnend für eine Existenz en marge ist, dass die Heranwachsenden zeitweilig ein Räuberleben führen und sich vom Stehlen nähren müssen; eine Elite muss ein Jahr lang gleichsam untertauchen, um, von niemand gesehen, Heloten zu morden; dies ist das berüchtigte ,,verstecken", krypteia. 168 Vergleichsweise harmloser ist die aufsehenerregende Geißelung der Knaben am Altar der Artemis Ortheia.169 Voran geht eine Zwischenzeit auf dem Land, die "Fuchszeit";17o was folgt, ist nach den Paus. 1,19,1. -+ Anm. 181. 115 Anm. 62; RhM 118, 1975, 18 f. -+ III 2 Anm. 47; III 1 Anm. 17. -+ I 4 Anm. 18. Anton. Lib. 19; GGR 321. Istros FGrHist 334 F 48. -+ VI 1 Anm. 22-25. -+ 11 7 Anm. 37. Jeanmaire 1939,499-558; Nilson 1952, II 826-869; William G. Forrest, A History of Sparta, London 1968, 51 ff. 168 Arist. Fr. 611,10; Plut. Lyk. 28; Kleom. 28. 169 Wide 1893, 112-116; GF 190-196; GGR 487-489; Jeanmaire 1939,515-523; Burkert 2007, 178180. -+ III 1 Anm. 289. 170 Hsch. phouaxir.
159 160 161 162 163 164 165 166 167
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Andeutungen von Xenophon und Platon17l ein Kultspiel: Es gilt, "möglichst viele Käse von Ortheia zu rauben", andere schlagen auf die Räuber ein, umstehen also wohl als Verteidiger den Altar; vermutlich stehen zwei Altersklassen gegeneinander. Eine Prozession in langen, "lydischen" Gewändern schließt sich an.172 In der Kaiserzeit scheint die Geißelung als sadistisches Schauspiel für Touristen dargeboten worden zu sein, als Wettstreit im Ertragen von Schmerzen, ohne die Arme zu rühren; die Artemispriesterin hält das Bild der Göttin, das schwer wird, wenn die Schläge zu leicht fallen; Todesfälle waren nicht ausgeschlossen. 173 Dabei war die Geißelung nur ein Akt im weit komplexeren Kult der Ortheia. Es gab da auch musische Agone, wobei der Preis in einer Sichel bestand;174 es gab liebliche Mädchenchöre175 und groteske Maskenaufzüge. 176 Die extremen Gegensätze treffen sich im Bereich der wilden Göttin; der Initiationscharakter erscheint in der Folge von Vorbereitung, "Probe", Einkleidung immerhin recht deutlich. Auch ~m Umkreis des Apollon werden die Altersklassen relevant. Zum Fest der "nackten Knaben", Gymnopaidia, haben die Unverheirateten keinen Zutritt, die ihrerseits als Karneatai das Karneenfest ausrichten und finanzieren. 177 Einen rituellen Ephebenkampf, den Platanistas, beschreibt Pausanias178: Zwei Mannschaften opfern zur Nachtzeit im Heiligtum der Phoiba unweit Therapne je einen jungen Hund dem Enyalios; dann lassen sie zwei Eber gegeneinander kämpfen, der Ausgang gilt als Vorzeichen für den kommenden Kampf. Dieser findet auf dem "Platanenplatz" statt, der rings von Sumpf umschlossen ist; es gibt je eine Brücke von jeder Seite, die eine mit einem Herakles-, die andere mit einem Lykurgos-Standbild markiert. Kurz vor Mittag treffen so die gegnerischen Gruppen aufeinander, fechten mit Fäusten, Füßen, Zähnen, doch offenbar ohne Waffen; Sieger ist, wer den Gegner ins Wasser drängt. Die Härte der spartanischen agoge wurde zum folkloristischen Sonderfall; andernorts ist der Zwang des kollektiven Rituals zugunsten persönlicher Freiheit zurückgetreten. Doch auch in Athen sind in der Institution der Ephebie179 noch Initiationsmotive deutlich. Voran geht die Haarschur, mit Weihung der Haare an einen Gott, bei
171 Xen. Lak. Pol. 2,9; Plat. Leg. 633b. 172 Plut. Aristeid. 17. 173 Plut. Inst. Lac. 239CD; Paus. 3,16,10; Schol. Plat. Leg. 633b; Cic. Tusc. 2,34. Zu rituellem Stehlen --+ III 1 Anm. 352. 174 IG V 1, 276; 269; 280; 292 mit T. V; GGR 488. 175 Plut. Thes. 31. 176 --+ II 7 Anm. 49. 177 Plut. Lyk. 15,1; Petterson 1992, 42-56. --+ V 2 Anm. 59. 178 Paus. 3,14,8-10; 11,2; Lukian Anacharsis 38. 179 Die Ephebie in der reich dokumentierten Form ist nach der Niederlage von Chaironeia organisiert, doch gab es Vorstufen; Chrysis Pelekidis, Histoire de l'ephebie attique des origines iL 31 avantJesusChrist, Paris 1962; Oscar W. Reinmuth, The ephebic inscriptions of the fourth century B.C., Leiden 1971; Reinhold Merkelbach, ZPE 9, 1972,277-283; Pierre Vidal-Naquet, Le chasseur noir, Paris 1981.
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der Aufnahme in die Phratrie an den Apaturia. lBo Der eigentliche Dienst der Epheben besteht einerseits in militärischer Ausbildung in den Kasernen des Piräus, andererseits im Grenzwächterdienst, im Wechsel also von Einschließung und DraußenSein, getrennt von der elterlichen Familie und vor der eigenen Familiengründung; zugleich umfasst er eine Einführung in die Kulte der Polis: Für alle großen Feste stellen die Epheben das wichtigste Kontingent. Wenn dabei insbesondere hervorgehoben wird, wie sie beim Opfer die "Rinder hochheben",IBl so vollbringen sie damit die gleiche jugendliche Kraftprobe, die der Mythos den jungen Theseus bei Apollon Delphinios vollziehen lässt. Auch zum Status der "Jungfrau" gehört die Trennung von den Eltern. Allgemein bilden Jungfrauen ihre "Chöre" bei Götterfesten. In Keos verweilen die heiratsfähigen Mädchen tagsüber in Heiligtümern, wo sie von Burschen besucht werden, während sie abends zuhause Magddienste leisten müssen. lB2 In Lesbos gibt es SchönheitsWettkämpfe beim Jahresfest im Hera-Heiligtum. lB3 In Athen müssen die Mädchen vor der Hochzeit der Artemis von Brauron oder von Munichia geweiht werden. lBt In BrauronlB5 leben Mädchen als "Bärinnen" (arktoi) längere Zeit von allem abgeschieden im Artemis-Heiligtum, verbringen die Zeit mit Tänzen, nackten Wettläufen, Opfern. Abschließung und kultische Nacktheit gehören ebenso zu den Initiationsmotiven wie die Opfer-Drohung im Mythos: Artemis verlangt ein Mädchenopfer, das im letzten Moment durch ein Ziegenopfer ersetzt wird. lB6 In Korinth haben sieben Knaben und sieben Mädchen ein Jahr im Tempelbezirk der Hera Akraia zu verbringen, sie tragen schwarze Gewänder; zum Abschluss wird eine schwarze Ziege geopfert, die angeblich selbst das Opfermesser ausscharrt. Man erzählt dazu vom Tod der Kinder der Medea in eben diesem Heiligtum und zeigt ihre Gräber.IB7 Mit der Todesbegegnung, der immer zu erneuernden Sühnung alter Schuld, werden die Kinder auf die Tradition 180 -+ II 2 Anm. 29; V 3 Anm. 108. 181 Regelmäßig in den hellenistischen Ephebeninschriften, 10 lI/lII' 1006; 1008; 1011; 1028/9; SEO 15, 104; 24, 189; im Hephaistia-Dekret 10 P 82 = LSCO 13,30 f mit unsicherem Text; Eur. Hel. 1560-1564; Ludwig Ziehen, Hermes 66, 1931,227-32; RE XVIII 610 f; Cook 1914, 1504 f; Bilddarstellung (schwarzfigurige Amphora) in: La Cite des Images, 1984, 55 fig. 83. 182 Plut. mul.virt. 249DE. 183 -+ II 7 Anm. 71; III 1 Anm. 80. 184 Krateros FOrHist 342 F 9; zum Hochzeits-Voropfer -+ III 1 Anm. 281; HN 75,20. 185 AF 207 fund Jeanmaire 1939, 259-261 sind überholt durch neuere Ausgrabungen und Vasenbilder, Lilly Kahil, AK Beih. I, 1963, 5-29; AK 8, 1965, 20-33; AK 20, 1977, 86-98; CRAI 1088, 799-813; wichtige Inschrift SEO 52, 104; 1. D. Kontis Deltion 22, 1967, 156-206; Brelich 1969, 241-290; Brule 1987; Christiane Sourvinou-Inwood, Studies in Oirl's Transitions. Aspects of the Arkteia and Age Representation in Attic lconography, Athen 1988; Ken Dowden, Death and the Maiden, London 1989; Marco Oiuman, La Dea, la Vergine, il Sangue. Archeologia di un culto femminile, Mailand 1999; Bruno Oentili/Francia Perusino (Hrsg.), Le orse di Brauron, Pisa 2002: Parker 2005, 228-249. -- III 1 Anm. 284. 186 Embaros-Legende von Munichia, Zenob. Ath. 1,8 p. 350 Miller; Paus. Att. e 35 Erbse. 187 Phot. ed. Theodoridis aigös tr6pon; Zenob. Ath. 2,30, ed. W. Bühler IV, 1982, 233; Burkert 2007, 28f.
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der Stadt festgelegt. Deutlicher noch ist die Initiationssymbolik im Dienst der athenischen Arrhephoren; auch hierzu gehört das Ziegenopfer.188 In derselben Perspektive werden weitere Notizen über vorübergehenden Tempeldienst von Mädchen und Knaben verständlich.189 Die Götternamen können dabei vielfältig sein: ob Artemis, Athena, Aphrodite oder Poseidon, Jungfrau, Liebesvereinigung, Vaterbild markieren Stationen, durch die hindurch der krisenreiche Weg zum Erwachsen-Sein führt. Eine besonders suggestive Verbindung von Persephone- und Aphrodite-Kult zeigen die künstlerisch hervorragenden Votivtafeln aus dem Persephone-Heiligtum von Lokroi in Unteritalien19o, wo auch ein zentraler Tempel der Aphrodite stand. Dass hier über einen besonderen Mythos ein Initiations-Prinzip wirkte, von Todesbegegnung zur Liebeserfüllung, ist bestechend. Leider fehlt dazu jeder Text.
35 Krisenbewältigung "Not lehrt beten". Zeremonien, die man sonst eher gelangweilt über sich ergehen lässt, können in kritischen Lagen zu einem Halt, vielleicht dem einzigen, werden. Wenn das Durchhaltevermögen des Menschen weit über alles, was Tiere leisten, hinausgeht, ist Religion dabei immer wieder mit im Spiel. Freilich laufen "reine" Religion, Magie und Aberglauben hier ununterscheidbar ineinander; es geht um den Zweck, um Rettung und Hilfe, nicht um die Mittel. 191 Es ist nicht nötig, eine spezielle "magische Mentalität" des "primitiven Menschen" anzusetzen. Im Bereich des Praktischen, Vorhersehbaren beweisen auch die "Primitiven" durchaus zulängliche technische Intelligenz.192 Doch das Machbare hat seine Grenzen. Die glänzenden Erfolge wie die Katastrophen hängen offensichtlich von anderen Mächten ab: Das "Gelingen" ist Sache der Götter, rycha theön, wie Pindar formulierte.193 Alle die großen Krisen, denen die Menschen auch vereint machtlos gegenüber stehen, können als Manifestationen des Zorns von "Stärkeren", von Göttern und Heroen gedeutet werden: Missernten und Unfruchtbarkeit des Landes, Seuchen von Menschen und Vieh, Sterilität und Missgeburten, aber auch Bürgerkriege und Niederlagen gegen den äußeren Feind. Umgekehrt muss, wenn diese Mächte gnä188 -+ V 2 Anm. 32. 189 -+ II 6 Anm. 35-41. 190 Erstveröffentlichung Ausonia 3, 1909, 136 ff; dann Behandlung von Einzelheiten, ohne Gesamtpublikation, durch Paola Zancani Montuoro; Übersicht: Prückner 1968; Zuntz 1971, 164-168; Atti deI XVI Convegno di Studii sulla Magna Grecia: Locri Epizephyrii, 1976; Sourvinou-Inwood 1991, 147-188; Redfield 2003, 346-385; Madeleine Mertens-Horn, I pinakes di Locri, in: 11 rito segreto. Misteri in Grecia e aRoma, Mailand 2005, 49-57. 191 -+ II Vorbemerkung. 192 Grundlegend Bronislaw Malinowski, Magie, Science, and Religion, New York 1948. 193 Pind. Pyth. 8,53; Nem. 6,24; 01. 8,67; Hans Strohm, Tyche, Stuttgart 1944.
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dig gestimmt sind, aller Segen einkehren, reiche Ernte, rechte Kinder, gute Ordnung unter den Bürgern. Die traditionellen Mittel, mit denen man sich des einen zu versichern, dem andern zu wehren unternimmt, sind Opfer und Gebet, insbesondere in Form des Gelübdes. Je nach Anlass wird man den zuständigen Gott zu erreichen suchen: für die Feldfrucht Demeter, gegen Schädlinge und Krankheit Apollon, gegen Zwietracht den "zusammenfügenden" Zeus;I94 bestehende Kulte können intensiviert, neue Kulte eingeführt werden; Einzelheiten des Rituals können auf den besonderen Zweck abgestellt sein. Eigentlich magische Manipulationen bleiben im Griechischen selten. Es ist der Rhythmus des Opfers von der Todesbegegnung zur Lebensbejahung, der Spannungsbogen des Gelübdes zwischen Verzicht und Erfüllung,I95 der das Vertrauen stärkt und trägt und die Solidarität im Bestehen der Not ermöglicht, ob es nun um Landwirtschaft oder Seefahrt, Krieg oder Krankheit geht. Das Ritual schafft Angstsituationen, um sie zu überwinden, und gibt damit ein Modell der Angstbewältigung überhaupt; es wiederholt sich immer wieder in gleicher Weise und gibt damit die subjektive Gewissheit, dass auch in der augenblicklichen Gefahr alles seinen rechten Gang gehen wird. Darum gilt: ,,wem immer das Haus von Unheilschlägen getroffen wird, der muss die Götter ehren und dadurch Mut fassen".196 Opferfeste begleiten bei den Griechen das ganze landwirtschaftliche Jahr; die Einzelheiten sind wiederum aus Attika bekannt. Man beginnt mit einem "Vorpflügefest", Proerosia,197 das am 5. Pyanopsion durch den Hierophanten und den Herold in Eleusis angesagt wird. Die Epheben "heben die Rinder hoch";198 im Piräus versammeln sich die Frauen. Es gibt eine besondere "Vorpflüge-Gerste",I99 vielleicht ein Teil des Saatgutes; wozu sie diente, ist unbekannt. Man vollzieht eine erste symbolische, "heilige Pflügung".zoo Wenig später ist das Thesmophorienfest der Frauen, bei dem jene verwesten Reste gewonnen werden, die man dem Saatgut beimischt. ZOI Beim Säen selbst soll man, wie Hesiod rät, zum chthonischen Zeus und zur reinen Demeter beten - zugleich aber muss ein Knecht mit seiner Hacke das Saatgut bedecken, damit es die Vögel nicht fressen;z02 die Vorschrift "nackt zu säen, zu pflügen, zu ernten" kann saktale Bedeutung haben, die aber nicht expliziert wird. 203 In die landwirt-
194 ---+ V 3 Anm. 130. 195 --+ 1Il/2. 196 Eur. Ion. 1619 f. 197 AF 68 f; Opferkalender aus Eleusis, 10 lI/lIl' 1363 = SI03 1038 = LSCO 7, Sterling Dow/Robert F. Healy, HThR 21, 1966, 15 f. Die orthographischen Varianten deuten auf die Verwurzelung im Volk: Erst 1941 publiziert wurde LSS 18 aus Paiania, mit der Schreibung Prer6sia; demnach bezeichnet auch Plerosia 10 II/IH' 1183, gegen AF 68, das gleiche Fest. 198 --+ V 3 Anm. 181. 199 LSS 18 B 21. 200 Plut. praec.coni. 144A, Kombination mit Proerosia AF 69. 201 --+ V 2 Anm. 134. 202 Hes. Erga 465-472. 203 Erga 391 f; Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Hesiods Erga, 1928, 87 f.
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schaftliche Ruhezeit im Winter fällt dann das Fest der Haloa, das "Tennenfest";204 man opfert, schmaust und treibt Kurzweil auf den Tennen draußen zwischen den Feldern; man opfert "der Erde, in den Fluren" eine trächtige Kuh;205 wachsende Saat und embryonales Leben sind offenbar aufeinander bezogen, und nach der paradoxen Opferlogik hat man das eine zu töten, um das andere zu fördern. Es gibt eine Prozession mit Stieropfer für Poseidon. 206 Dann treffen sich in Eleusis die Frauen zu einem geheimen, wohl nächtlichen Fest; sie schleppen künstliche Phalloi herbei und führen zügellos unanständige Gespräche, während die Tische mit allen möglichen Speisen, besonders Kuchen in Form von Genitalien, gedeckt sind; verboten sind jedoch Granatapfel und Apfel, Hühner, Eier, gewisse Fische. 207 Das Fest scheint damit in Polarität zu stehen zu sonstigem Demeter-Persephone-Kult,208 wie es mit seiner ausgelassenen Vitalität zum winterlichen Stillstand den Kontrast bildet. Das Wachsen des Getreides im Frühjahr ist dann begleitet von Festen des "Sprießens", Chloaia,z°9 "Halme-Schießens", Kalamaia,210 und "Blühens", Antheia;2l1 zu den Kalamaia treffen sich wiederum die Frauen. "Abwehrer" drohender Gefahren ist Apollon; andernorts hat er als Smintheus 212 den Mäusen, als Pornopion den Heuschrecken,213 als Erythibios 214 dem Getreiderost zu wehren; in Athen und Ionien gilt ihm das Vor-Erntefest der Thargelia,215 bei dem das erste Getreide als Topfgericht oder als Brot im Umzug getragen wird; freilich weist dieses Fest mit dem unheimlichen pharmak6s-Reinigungsritual über das Agrarische weit hinaus. Das eigentliche Erntefest, thalysia,216 ist eine pri204 AF 60-67; Philochoros FGrHist 328 F 83 und Jacoby z.d.St.; gegen Martin P. Nilsson, De Dionysiis Atticis, Lund 1900,99 und AF 65 kann hdlos nur "Tenne", nicht "Getreidefeld" meinen; man wird sich hüten, die Saat zu zertreten, und sammelt sich auf den zwischen den Feldern angelegten Dreschplätzen. Singulär ist die Darstellung von aufrecht stehenden Phallen in keimender Saat, Pelike Brit. Mus. E 819, ARy2 1137, 25; Cook 1914, I 685; AF 65 f, T. 3. 205 Opferkalender von Marathon, IG lI/lIP 1358 ~ LSCG 20 B 9. 206 An. Bekk. 385,2. 207 Schol. Luk. p. 279,24-281,3; AF 61; der Bezeichnung als Telete p. 280,12 entspricht LSCG 20 BIO; "endon", d.h. in geschlossenem Raum p. 280,25. 208 Granatapfel bei Thesmophoria -- Y 2 Anm. 164; Demeter Malophoros, "Apfelträgerin", in Selinus; Hahnopfer für Persephone -- 1I 1 Anm. 2; zum Ei Nilsson 1952, 1I 3-20. 209 LSS 18; Michael H. Jameson, Athenaeum 54, 1976, 444,5; Demeter Chloe LSCG 96, 11; Eupolis fr. 196 Kassel/Austin; Philochoros FGrHist 328 F 61; lE 201 b5, c9; Komutos 28: vgl. LSCG 20 B 49; IG lI/lIP 1299. 210 IG 1I/IIP 949,8-9; 36; 1177,9-12; AF 67 f. 211 LSS 18 B 7; 29, beide Male parallel zu Prer6sia (Anm. 7), Opfer eines trächtigen Schweins; dies hat, gegen Sokolowski, nichts mit den Anthesteria (-- Y 2.4) zu tun. 212 11. 1,39 mit Schol; Strab. 13,1,64 p. 613; Ael. nat.an. 12,5. Der Kult des Smintheus ist weit verbreitet, RE II 68 f, CGS IY 164 f; Monatsnamen Sminthios und Smision RE III A 726 f; Trümpy 1997 Index. Auch eine Deutung als Pestgott ist möglich, Manfred Schretter, Alter Orient und Hellas, Innsbruck 1974, 174-182. 213 Strab. 13,1,64 p. 613; RE II 63. 214 Strab. 13,1,64 p. 613; da daneben die inschriftlich gesicherte Form Erethimios steht, könnte volksetymologische Umdeutung vorliegen, GGR 535, vgl. Burkert, Graz. Beitr. 4, 1975, 71. 215 AF 179-198, bes. 188 f; Hsch.s.v. thargelos. --11 4 Anm. 70. 216 -- 1I 2 Anm. 11.
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vate Feier, bei der man unter viel Essen und Trinken der Demeter und des Dionysos gedenkt. Eigentlich magische Praktiken gibt es im Zusammenhang mit Regen und Wind. Auch hier freilich stehen die Normalformen von Opfer und Gebet im Vordergrund; man veranstaltet Bittprozessionen mit Opfern zum "Regen-Zeus", Zeus Hyetios oder Ömbrios;217 droht ein Wirbelsturm, opfert man rasch ein schwarzes Lamm. 218 Doch zusätzlich umkreisen in Methone zwei Läufer mit den Hälften eines geopferten Hahns die Weinberge, um den schädlichen Wind zu bannen; Empedokles soll den bösen Nordwind in die ausgespannten Häute geopferter Esel eingefangen haben. 219 Im Kult des Zeus Lykaios in Arkadien gibt es echten Regenzauber: Bei großer Dürre begibt sich der Zeuspriester zur Quelle Hagno, opfert, lässt das Blut in die Quelle rinnen, betet und taucht dann einen Eichenzweig ins Wasser; daraufhin steigt Dunst auf, der den ersehnten Regen bringt. 22o Das Zeusfest in Keos zur Zeit des Sirius-Frühaufgangs im Hochsommer rief, wie man glaubte, die kühlenden Nordwinde herbei. Hier wie am Lykaion steht im Hintergrund die Praxis eines geheimen Opferfestes, das die Kräfte des Kosmos in Bewegung bringt. 221 Im Anschluss an Wilhelm Mannhardts Erforschung europäischer Bauernbräuche ist in Frazers Monumentalwerk The Golden Bough der Eindruck erweckt worden, dass Fruchtbarkeitsmagie Zentrum und Ursprung urtümlicher Religion überhaupt sei. 222 Die griechische Hochkultur freilich ist bestimmt von einem kriegerischen Adel, der nicht direkt vom Ertrag der Felder, sondern von der Herrschaft lebt. Aber auch die vermutbare ältere, neolithische Bauernreligion ist kein Letztes. Weder die Formen des Kults noch die Gottesvorstellungen sind aus dem Agrarischen ableitbar. Älter und fundamentaler ist die Jagd. Auch der Jäger bedarf einer Art von "Fruchtbarkeitsmagie", ist er doch auf die Reproduktion des Wilds angewiesen; doch wichtiger als sympathetische Mittel ist die paradoxe Tatsache, dass durch Töten das Leben besteht; darin ist der Rhythmus des Opfers verwurzelt. 223 Darum sucht der Bauer, indem er auf Hoffnung sät, im Opfer einen Halt. Unberechenbaren Risiken ist die antike Seefahrt ausgesetzt; nie kommen, außer im Krieg, so viele Menschen zugleich ums Leben wie beim Sinken eines Schiffs. Auch antike Seeleute sind abergläubisch und suchen sich durch magische Praktiken zu sichern. In den Vordergrund tritt wiederum der Rhythmus von Gelübde und Opfer. 224 Man opfert beim Einsteigen und Aussteigen, embateria und apobateria; der 217 Cook 1940, 1II 525-70; RE XA 344; 368. 218 Aristoph. Ran. 847 m. Schol. 219 Paus, 2,34,2; Timaios FGrHist 566 F 30; vgl. den Schlauch des Aiolos, Od. 10,19-47, Reinhold Strömberg, Acta Univ. Gotoburgensis 56, 1950, 71-84; L&S 154. -+ I1I 2 Anm. 74-79. 220 Paus. 8,38,4; Cook 1940, 1II 315 f. 221 HN 125-127; 98-108. 222 -+ Einleitung 1. 223 -+ 111; HN pass. 224 Dietrich Wachsmuth, P6mpimos ho Daimon, Diss. Berlin 1965 und Der Kleine Pauly V 67-71 s.v. See-
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fromme Kaufmann hat auch auf dem Schiff einen Altar. Keine Abfahrt ohne euche, zumindest Spende und Gebet; so schildert schon Homer die Abfahrt des Telemachos. 225 Als die stolze Flotte der Athener im Jahr 415 nach Sizilien ausläuft, da gebietet ein Trompetensignal das fromme Schweigen, und alle zusammen, an die 30 000 Mann, sprechen den Herolden die üblichen Gebete und Gelübde nach; in jedem Schiff und ebenso an Land werden Mischkrüge mit Wein angesetzt, die Matrosen, soweit .sie nicht Ruder zu halten haben, und die Behörden an Land gießen die Spenden aus; die ganze Menge der Abschiednehmenden am Strand fällt ein mit Gebeten und Gelübden. Dann wird getrunken, der Paian angestimmt, der letzte Rest ins Meer gegossen; und so fährt man ab. Z26 Oft ist bezeugt, dass man Kränze ins Meer wirft,227 mit denen wohl zuvor die Mischkrüge geschmückt waren. Nach glücklichem Erfolg der den Sizilienfahrern versagt war - sind dann die Gelübde zu erfüllen, durch abermalige Opfer und Weihgeschenke. Erprobte Retter in Seenot waren die Dioskuren 228 und die Götter von Samothrake; die Mysterienweihe in Samothrake sollte überhaupt gegen die Gefahren der See feien, wie Odysseus durch Leukotheas Schleier unsinkbar geworden war: "Man sagt, er sei in Samothrake eingeweiht gewesen und habe daher diesen Schleier als Binde verwendet; denn die Geweihten binden sich um den Leib purpurne Binden".229 Eine überwältigende Fülle von Weihgeschenken war ausgestellt, von der Macht dieser Götter zu zeugen. Noch gefährlicher, todesträchtiger ist der Krieg. Er ist daher ganz besonders von Gelübden und Opfern begleitet, ja er gibt sich fast wie eine große Opferhandlung. 230 Voropfer vor dem Auszug gelten heroisierten Jungfrauen - den Hyakinthiden in Athen,231 den Leuktriden in Böotien232 -, deren mythischer Tod die Abwendung von der Liebe zum Krieg markiert. Auf dem Schlachtfeld, bereits im Angesicht des Feindes, werden die sphdgia geschlachtet, als Anfang des Blutvergießens; die Spartaner führten Ziegen dafür mit ins Feld. 233 Zugleich opfern die Seher, um zu prophezeien; selbst der Söldnerhaufe der "Zehntausend" unternahm keinen Beutezug ohne Opfer. 234 Nach der Schlacht errichtet der Sieger ein tr6paion 235 dort, wo die Schlacht die "Wende" genommen hatte: Beutewaffen werden um einen Eichenpfahl gehängt, Panzer, Helm, Schild und Speer; im Grund entspricht dies dem Jägerbrauch, Fell, wesen.
225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235
Od. 15,222 f. Thuk. 6,32. Z.B. Harrison 1922, 182. ---> IV 5 Anm. 65/6. Schol. ApolI. Rh. 1,917b. ---> VII Anm. 80. HN 58-60; 77-79; Burkert 2007, 195-209. Eur. Fr. 370, 68-89. Xen. Hell. 6,4,7; Plut. Pelop. 20; Diod. 15,54; Paus. 9,13,5. ---> II 1 Anm. 36/7. ---> II 8 Anm. 32. Kar! Woelcke, BJb 120, 1911, 127-235; Friedrich Lammert, RE VII A 663-73; Andreas J. Janssen, Het antieke tropaion, Brüssell957.
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Schädel, und Gehörn des Beutetiers am Baum aufzuhängen. Das tropaion ist ein "Bild des Zeus",236 des Herrn über den Sieg. Trankopfer, spondai, beenden die Feindseligkeiten. 237 Gelübde vor und während der Schlacht ziehen weitere Opfer, Weihgaben, Tempelgründungen nach sich. Allgemein "nimmt" man den Zehnten der Beute "für den Gott heraus",238 weiht Rüstungen, Helme, Schilde, Beinschienen in die heimischen Tempel oder auch die panhellenischen Heiligtümer, Olympia oder Delphi. Der Friedensidee konnten diese Götter kaum Vorschub leisten; immerhin kam vom Ritual die Markierung der Stationen des "Anfangens" und auch des Beendens, es gab weder den unerklärten noch den unbeendeten Krieg. Die bedrückendste individuelle Krise ist die Krankheit. Vielerlei Götter und Heroen können im Zorn Krankheit senden; doch in besonderem Maß eignet die Macht, Seuche zu schicken und zu bannen, seit alters Apollon, dem Pest- und Heilgott, in Verbindung mit dem heilenden Lied, dem Paian. 239 Der wohlerhaltene Tempel von Bassai kündet von der "Hilfe" des Apollon in der "Pest"-Epidemie um 430. 240 Für die Nöte des einzelnen hat dann Apollons Sohn, Asklepios, seine Zuständigkeit erwiesen und andere Heilgötter und Heilheroen zurückgedrängt. 241 Selbst den legendenumwucherten Heilschlaf in seinem Heiligtum indes umgreift der Opferrhythmus. 242 Voraus geht eine dreitägige Reinheitsperiode mit Enthaltung von Beischlaf, Ziegenfleisch, Käse und anderem; dann sind "Voropfer" fällig: Mit Lorbeer bekränzt opfert der Kranke ein Tier dem Apollon, mit Ölzweigen bekränzt Kuchen für verschiedene andere Götter; dann folgt ein Ferkelopfer für Asklepios auf dessen Altar mit einer begleitenden Gabe in Geld. Vor dem Schlaf am Abend sind drei Kuchen zu opfern, im Freien für Tyche und Mnemosyne, "Gelingen" und "Erinnerung", im Schlafraum für Themis, die "rechte Ordnung". Den Kranz behält der Kranke auf und lässt ihn dann auf seinem Lager zurück. Wer gesund geworden ist, erstattet dem Gott seinen Dank, entsprechend dem Dankopfer des Siegers oder des aus Seenot Geretteten; im kaiserzeitlichen Pergamon sind die Gebühren in Geld festgesetzt, während in Erythrai im 4. Jahrhundert ein richtiges Opfer stattfindet, wobei man, wenn die heilige Portion auf den Altar gelegt ist, diesen umschreitet und dazu den Paian singt. 243 Das Asklepios-Ritual steht in gewisser Verbindung mit den eleusinischen Mysterien, nicht nur durch das Ferkelopfer; es ist auch die Rede davon, dass man die "Gesundheit", 236 237 238 239 240
Eur. Phoin. 1250: Gorgias VS 82 B 6. - Il 2. Anm. 45/6: V 3 Anm. 50. - II 2 Anm. 27/8. - III 1 Anm. 222. ApolIon Epikurios, Paus. 8,41,7-9. Errichtung einer Herakles-Statue in Melite aus gleichem Anlass, Schol. Aristoph. Ran. 501. 241 - IV 5.3. 242 Ausführlichstes Dokument die Lex sacra aus Pergamon, Michael Wärrle, in: Altertümer von Pergamon VIII 3,1969,167-190, nach alter Vorlage, vgl. 185-187: dazu IE 205: LSS 22 aus Epidauros, vgl. LSCG 60: LSCG 21 vom Piräus. "Voropfer" sind in Pergamon, Erythrai, Epidauros, Piräus belegt, das Ferkelopfer nur in Pergamon, "Mnemosyne" in Pergamon und Piräus. 243 IE 205, 31.
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Hygieia, direkt trinkt, in Form eines Tranks aus Weizen, Honig und Öl, ähnlich dem kyke6n von Eleusis. 244 Die Placebo-Wirkung solcher Verfahren im Krankheitsfall wird man nicht gering veranschlagen. Aber auch in den anderen Krisenfällen, Hunger, Seesturm, Krieg, ist es von Bedeutung für das Überleben, dass die Kraft der Hoffnung geweckt wird. Statistische Beweise für den Erfolg fordert nur der Gottesleugnerj245 Experimente waren nicht zu riskieren. So fand man Krisenbewältigung ohne Religion undenkbar und nahm Erfolge gern als die "guten Gaben der Götter", als Bestätigung der Frömmigkeit.
244 Hsch. s.v. hygieia, An. Bekk. 313,13, Ath. 3,115a; R. Wünsch ARW 7, 1904, 115 f. Zu Epidauria und Mysterien AF nf. Kerenyi 1962, 73. 245 Diagoras-Anekdote, ...... VII 2 Anm. 36.
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4 Frömmigkeit im Spiegel der griechischen Sprache Insofern menschliches Verstehen überwiegend durch Sprache vermittelt wird, müsste eine Analyse der religiösen Sprache der GriechenI eigentlich als Grundlage der Darstellung am Anfang stehen; die sprachliche Ausdrucksweise ist um so wichtiger, als das religiöse Erleben der Griechen selbst, wie alles menschliche Erleben, stets durch die von Kind auf erlernte Sprache vorgeformt und geprägt ist. In der Art, wie man über Religion spricht, in der semasiologischen Struktur des einschlägigen Wortschatzes und den Regeln seiner Anwendung sind sehr spezifische Eigenheiten fixiert, die der Übersetzbarkeit rasch Schranken setzen. Nun beruht aber sprachliches Verstehen auf der Kompetenz in der jeweiligen Sprache; diese kann hier nicht vorausgesetzt werden. So scheint es angezeigt, Andeutungen und Umschreibungen zum griechischen Wortgebrauch auf die Darstellung des Beschreibbaren, der Rituale und Mythen, der Verhaltensweisen und Funktionen griechischer Religiosität folgen zu lassen.
4.1 "Heilig" Als zentraler Begriff hat sich in der Religionswissenschaft "das Heilige" bewährt, umschrieben durch die Erfahrungen des mysterium tremendum, fascinans und augustum. 2 Die Übersetzungs schwierigkeiten zeigen sich indes schon darin, dass das Griechische für heilig drei oder vier Wörter hat, hier6s, h6sios und hagios/hagn6s, von denen obendrein zwei, hier6s und h6sios, in Opposition stehen können, als hieße h6sios "heilig" und "nicht heilig" zugleich. Für die Griechen ist zweifellos hier6s 3 seit mykenischer Zeit der entscheidende Begriff, um die Sphäre des Religiösen abzugrenzen. Das Wort hat grenzziehende, definierende Funktion, ist aber fast ausschließlich ein Prädikat von Sachen: "das Heilige" schlechthin ist das Opfer, vor allem das Opfertier, und das Heiligtum mit Tempel und Altar. "Heilig" sind auch die Weihgaben im Heiligtum; das Geld, das dem Gott gestiftet ist; das Land, das nicht bebaut werden darf; ferner alles, was mit dem Heilig-
2 3
Karl F. Nägelsbach, Die nachhomerische Theologie des griechischen Volksglaubens, Nürnberg 1857, noch immer als Materialsammlung nützlich; wichtig Rudhardt 1958; kurze Übersicht bei Edouard Des Places, La religion grecque, Paris 1969, 363-381; vgl. Eduard Norden, Agnostos Theos, Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, Leipzig 1913; Andre Motte, Vexpression du sacre dans la religion grecque, in Julien Ries (Hrsg.), Vexpression du sacre dans les grandes religions 1II, Louvain-la-Neuve 1986, 109-256. Rudolf Otto, Das Heilige, Breslau 1917; Gustav Mensching, Die Religion, Stuttgart 1959, 18 f, 129 f; vgl. die Überschriften bei Heiler (1961); Colpe, HrwG 1I180-99; RGG4 1I11528-1539. Peter Wülfing von Martitz, Glotta 38, 1959/60, 272-307; 39, 1960/1, 24-43; Jan P. Locker, Untersuchungen zu hieros hauptsächlich bei Homer, Diss. Bern 1963; Carlo Gallavotti, Il valore di hieros in Omero e in miceneo, AC132, 1963,409-428; James T. Hooker, Hieros in Early Greek, Innsbruck 1980.
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turn zu tun hat, von der "heiligen Straße" nach Eleusis bis zum "heiligen Krieg" um Delphi. "Heilig" ist auch der Kranz beim Fest, die Locke, die man dem Gott zu weihen gedenkt;4 "heilig" ist der Tag, an dem die Götter wirken, aber auch die Krankheit, in der sich Götter manifestieren. Ein Mensch ist hieros, wenn er dem Gott geweiht ist, als Myste im Mysterienkult oder auch als Angehöriger eines Heiligtums, ja als Tempelsklave.5 Hieros wäre demnach zu definieren als das, was einem Gott oder Heiligtum in verbindlicher Weise gehört; Gegensatz ist bebelos, "profan"; der Mensch "heiligt" ein Ding, einen Besitz, indem er ihn der eigenen Verfügung entzieht und dem Gott überlässt. Doch geht die epische Sprache und von daher die ganze griechische Dichtung darüber weit hinaus: "Heilig", hieros, ist eine Stadt wie Troia, sind Naturgegebenheiten wie der Tag, die Berge, die Flüsse, das Getreide samt den Tennen als Gabe der Demeter; ein Fürst wird umschrieben als "heilige Macht" (hieran menos). Die etymologische Grundbedeutung des Worts ist wahrscheinlich "stark";6 vom Sinn des Überlegenen, Herausgehobenen, nicht Verfügbaren her lassen sich die Verwendungen begreifen. Es ist verführerisch, den Begriff des "Tabu" in der eingebürgerten Bedeutung heranzuziehen; doch während man auch von einem "Tabu des Abscheus" sprechen kann, fehlt dem Wort hieros diese Komponente; für die Griechen ist die Beziehung auf die Götter nicht mehr wegzudenken. Dabei ist das hieron vor allem negativ gekennzeichnet, von Verboten umstellt:7 Ungezwungener Umgang, unbedenkliche Verwendung ist ausgeschlossen; das "Heiligtum" ist oft zumindest teilweise unbetretbar, adyton, abaton, die "heilige Rede", hieras logos, ist "unsagbar", arrheton. Gefühl ist nicht gefordert, weder mysterium tremendum noch fascinans; es ist auch unmöglich, einen Gott selbst hieros zu nennen - hier mussten Juden und Christen zum Wort hagios greifen; hieros ist gleichsam der Schatten, den die Gottheit wirft. Hosios B ist zunächst aus dem Kontrast zu hieros zu begreifen: Wenn das Geld, das den Göttern gehört, hieros ist, so ist das übrige hosion,9 man kann darüber verfügen; 4 5
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Eur. Bach. 494. Andania --+ VI 1 Anm. 29; hierzu wohl die Bezeichnung hiar6s/hiara auf Grabinschriften aus Messenien (älteste 5. Jahrhundert: IG V 1, 1356 = Jeffery 1990. 203; IG V 1 1362 f 1367), die aber an anderen Orten andere Funktion haben kann, IG V 1, 1127; 1129; 1214; 1221; 1223; 1283; 1338; C. Le Roy, BCH 85, 1961,228-231; RE VIII 1471-1476; die heroisierten Könige von Kyrene, Pind. Pyth. 5,97; Ions Mutter Eur. Ion. 1285; Sonderstatus des Oedipus Soph. O.K. 287; Perser sprechen die Bewohner von Delos als andres hiroi an, Hdt. 6,97,2; parodistisch Aristoph. Ran. 652; unsicher Hes. Fr. 17a,4. Chantraine 1968/80, 457. --+ II 5 Anm. 39. Wesentliches sah Harrison 1922, 504 f; vgl. Rudhardt 1958, 30-37; Marchinus H. A. L. H. van der Valk, Mnemosyne III 10,1942,113-140; REG 64,1951,418; Jeanmaire, REG 58, 1945,66-89; verfehlt Johanna Bolkestein, H6sios en Eusebes, Diss. Utrecht 1936. Etymologie unklar, z.B. A. Willi, JHS 128, 2008, 153-171; auffällig die Substantivierung hosia, Hymn. Herrn. 130, Empedokles VS 31 B 3,7, als "Göttin" Eur. Bacch. 370-378. IG P 253: Geld "des Dionysos" - argyrion h6sion; Demosth. 24,9.
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wenn Festtage Verpflichtungen und Verbote bringen, sind die normalen Tage h6siai;1O im Heiligtum zu gebären ist verboten, die hochschwangere Frau muss einen Platz suchen, der h6sios ist,u Hermes hat das Opfer gestiftet, die Portionen der Götter verteilt: Jetzt wünscht er "die hosie des Fleisches", um essen zu können: 12 h6sios bezeichnet die Desakralisation nach der Sakralisation. Ebenso ist, wer die Weihe für Mysterien oder priesterlichen Dienst überstanden hat, h6sios I3 : h6sion bedeutet, das "Heilige" hinter sich zu lassen und damit fromm und frei zugleich zu sein. Das Wort bezeichnet damit das genaue Komplement zu hier6s: Wenn hier6s Grenzen zieht, heißt h6sios Anerkennung dieser Grenzen. Die Negationen fallen darum praktisch zusammen, anieros heißt fast dasselbe wie an6sios. Vorausgesetzt ist damit, dass "das Heilige" nicht einen unendlichen Anspruch erhebt, nicht die ganze Welt ausmacht; es gibt Grenzen, die man kennt und respektiert. Man kann diesen Respekt in kleinen, symbolischen Zeremonien zeigen; "sich als h6sios distanzieren", aphosiousthai sinkt ab zur Bedeutung "der bloßen Form Genüge tun". Doch wenn die Grenze verletzt wird, werden die Töne schrill: Der an6sios zieht den göttlichen Zorn auf sich; mit ihm darf sich niemand einlassen, der nicht Schaden nehmen wilL An6sios ist vor allem der Mörder; wer gerechterweise, im Krieg oder auf Grund gerichtlichen Urteils, tötet, ist h6sios. 14 So nimmt h6sion die allgemein ethische Bedeutung des "Erlaubten" an, kontrastiert mit adikon "ungerecht"; h6sion und dikaion bezeichnen die Pflichten gegenüber Göttern und Menschen oder auch die gleichen Pflichten unter ihrem göttlichen und ihrem zivilen Aspekt. 15 Verwirrend konnte der Sprachgebrauch auch den Griechen selbst erscheinen; nicht umsonst macht Platon h6sion zum Ansatzpunkt eines besonders ironischen, "sokratischen" Dialogs. 16 Der indogermanische Wortstamm für religiöse Verehrung, hag-, ist im Griechischen in den Hintergrund gedrängt;17 das Verbum hazesthai wird zunehmend durch aideisthai, "scheuen", und sebesthai, "verehren", ersetzt, das Adjektiv hagios wird weit seltener gebraucht als hier6s. Dabei besteht der Unterschied darin, dass hag- nicht auf sachliche Abgrenzung weist, sondern auf Haltung und seelische Bewegung des Menschen, Aufblick, Scheu und Faszination zugleich; hagion, parallel zu semn6n "ehrwürdig" und timion "geehrt", hebt rühmend besondere Tempel, Feste, Riten hervor, auch im Superlativ, als hagi6taton; von Menschen wird es in alter Zeit ganz selten gebraucht.18 10 11 12 13 14 15
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Xen. Hell. 3,3,l. Aristoph. Lys 742 f. Hymn. Herm. 130. hosiotheis Eur. Fr. 472,15; h6sioi in Delphi. -- V 1 Anm. 90; HN 142. Andok. 1,97 vgl. Arist. Fr. 611,25. Antiphon 1,25, vgl. Plat. Polit. 301d; Eur. Herakles 773. Im kaiserzeitlichen Kleinasien sind Weihungen an einen Gott H6sios kai Dikaios geläufig, M. Ricl Epigr. Anat. 18, 1991, 1~70; 19, 1992, 71-103. Platon Euthyphron. -- I 2 Anm. 14; Chantraine 1968, 25 f. Parodistisch Aristoph. Av. 522; Eduard Williger, Hagios, 1922.
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Eine verwirrende und doch bezeichnende Komplizierung entsteht durch die Überlagerung mit agas. Agas ist das negative Tabu, ein gefährliches, entsetzliches Etwas, das ein Mensch sich zuzieht durch einen Tabubruch, insbesondere durch Meineid, Mord, Verletzung des Asyls; er ist dann damit behaftet, ist enages samt allen, die mit ihm Kontakt haben; es bleibt nichts übrig, als das agas auszutreiben, agas elaunein,19 samt seinem Träger; freilich kann es auch apollinischen Reinigungsriten gelingen, das agas zum Verschwinden zu bringen. Eu-ages ist, wer im "guten" Verhältnis zum agas steht und nichts zu fürchten hat; das Wort steht hosias ganz nahe. zo Zugrunde liegt wohl doch ein von hag- verschiedener Wortstamm ag_;Zl doch hat der lautliche Zusammenfall semasiologische Konsequenzen. Der Terminus für das Totenopfer, enagizein, enagismata, ist wohl zu enages zu ziehen, heißt dann "Tabu machen", zz kontrastiert mit "heiligen", hiereuein, im Kult der himmlischen Götter; man kann es aber auch verstehen als "heiligen" "in" die Flamme des am Grab entzündeten Feuers hinein, wie man auch vom "Reinigen", hagnizein, im Leichen- und Opferbrand spricht;Z3 kat-hagizein, "bis zum Ende heiligen", bis zur Vernichtung, bezeichnet eindeutig das Verbrennen der Opfer. Geläufiger und doch besonders schwer zu fassen ist hagnos, die Bezeichnung des Heilig-Reinen; sie wird von Sachen wie von Personen, von Göttern wie von Menschen gebraucht, in Beziehung zu Kult und Heiligtum und auch unabhängig davon. Z4 Hagnon sind Riten und Feste, Tempel und Ternenos, der Hain, aber auch Feuer, Licht, Zustand der Unberührtheit, der im Verkehr mit Göttern gefordert wird, die Ferne von Sexualität, Blut und Tod; dies heißt hagneia. Z5 Konträrer Gegensatz ist miaros, "befleckt", "ekelhaft", was man hasserfüllt von sich stößt; doch liegt zwischen den Extremen ein weiter Zwischenbereich. Hagna thymata sind unblutige OpferZ6 - doch auch blutige Opfer sind heilig. Unter den Göttern können Zeus und Apollon hagnosZ7 heißen, mit besonderer Betonung Artemis, ZB vor allem aber sind die hagnai theai Demeter und Persephone;z9 dies scheint fast eine Beschwörung e cantraria,30 denn so 19 20 21
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30
Thuk. 1,126-128; 2,13; miasma elaunein Soph. O.T. 97 f. Rudhardt 1958, 45 f.; Zuntz 1971, 317,3. Für Identität beider Stämme Pierre Chantraine/Olivier Masson, Sprachgeschichte und Wortbedeutung, Festschrift Albert Debrunner, Bern 1954, 85-107; vg!. Rudhardt 1958,41-43; Chantraine 1968, 13; hdgios im Sinn von enages Kratinos Fr. 402 Kassel/Austin. Pfister 476 f. -+ IV 3 Anm. 8. Soph. Ant. 545; Fr. 116; Eur. Hik. 1211; Iph. Taur. 705. Fehrle 1910, 42-54; Rudhardt 1958, 39-41. -+ II 4 Anm. 29-33; hagnos kai katharos schon Hymn. Apoi!. 121, Hes. Erga 337; "keusch" im Oerairen-Eid Demosth. 59,78 (-+ V 2 Anm. 105); "fastend" Eur. Hipp. 138. Thuk. 1,126,6. Pind. Pyth. 9,64; Aisch. Hik. 653. Od. 5,123; 18,202; 20,71. Demeter: Hymn. Dem. 203; Archillochos 322 West; 10 XIII, 780; SEO 16, 573 (Selinus); Persephone: Od. 11,386; Hymn. Dem. 337; vg!. die Hagnd in Andania, LSCO 65,34; Paus. 4,33,4; hagnal theai 10 XIV 204 (Akrai); 431 (Tauromenion) ....... V 2 bei Anm. 159; 139. "Euphemismus" Rohde 1898, I 206, 2.
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gewiss Demeter in ihrer Trauer, fastend und einsam, Vorbild kultischer hagneiai ist, bringen doch Mythos und Ritual der "beiden Göttinnen" ganz besonders den Kontakt mit Sexualität und Tod. Aber dies ist eben das Wesen der hagn6tes: Sie bildet gleichsam einen schützenden Mantel, so dass nichts Bedenkliches andringen kann. Hier6s zieht Grenzen; hagn6s schafft ein Kraftfeld, fordert Aufblick und Distanz.
4.2 The6s "Religion" kann man auf Griechisch kaum anders ausdrücken als "Ehren der Götter", theön timai, und es bezeichnet damit zugleich den Kult jener Wesen, von denen die Dichter seit dem alten Epos so viel zu erzählen wissen. Merkwürdig ist dabei, dass im Griechischen das indogermanische Wort für "Gott", deivos, lateinisch deus, aufgegeben ist,31 unbeschadet der indogermanischen Herkunft der Götterdichtung; das Adjektiv dios ist abgewertet zur Bedeutung "heldenhaft strahlend". Das neue Wort the6s 32 seinerseits scheint im Kult nahezu entbehrlich zu sein, ruft man doch im Gebet je den bestimmten Gott mit allen seinen Namen; es ist mehr als eine grammatische Pikanterie, dass the6s im Singular in der klassischen Zeit keinen Vokativ bildet. In einer zufällig überlieferte Formel vom dionysischen Lenäenfest fordert der Herold auf: "ruft einen Gott" (the6s), und die Versammelten rufen: "Semelesohn, Iakchos, Reichtumspender"33 - Genealogie, Sondername, Wirkungsweise erscheint im Anruf dessen, der als the6s angekündigt war. The6s ist allgemeine Verkündung, ist staunende Bezeichnung einer Gegenwart. Wenn ein geheimnisvolles Licht in der Kammer leuchtet, weiß Telemachos: "Gewiss, ein Gott ist drinnen"; früher war ihm die Ahnung gekommen, dass sein Gast "ein Gott war".34 Wenn ein Mensch in Ekstase sich unerhört gebärdet, gilt dieselbe Feststellung: "drinnen ist ein Gott", er ist entheos. 35 Dementsprechend wird, wie oft festgestellt, the6s überwiegend als Prädikat verwendet; schon Hesiod kann sagen, dass auch Pheme, das Gerücht, the6s ist, später wird etwa das Glückhaben, das Wiedersehen, ja auch der Neid the6s genannt. 36 Auch der umgangssprachliche Ausruf theoi, "Götter!", ist kein Gebet, sondern gleichsam Kom31 32
33 34 35 36
--+ 12. Walter PätscheT, Theos. Diss. Wien 1953; zu Carlo Gallavotti, SMSR 33, 1962, 25-43 vgl. Angelo Brelich ibo 44-50; Philippe Borgeaud, Manieres grecques de nommer les dieux, Colloquium Helveticum 23, 1996, 19-23; Alan B. Lloyd (Hrsg.), What is a God?, London 1997, darin Burkert 1997; Michael Meier-BTügger, Zur Bildung von griechisch THEOS. In: Incontri Linguistici 29, 2006, 119125. Zum Vokativ --+ III 3 Anm. 63. Schol. Aristoph. Ran. 479; AF 125. Od. 19,40; 1,323. --+ II 8 Anm. 1. Hes. Erga 764; Aisch. Cho. 60; Eur. Hel. 560; Hippothoon TrGF 210 F 2; GdH 117; Ken!nyi 1972, 14; einschränkend Walter Pätscher, Das Person-Bereichdenken in der frühgriechischen Periode, WSt 72, 1959, 5-25.
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mentar aus Verwunderung oder Verblüffung. Vom rituellen Ruf stammt vermutlich die Verdoppelung des Worts, the6s! the6s!; dies bezeichnet die Epiphanie. 3? Die besondere Beziehung des Worts the6s zum göttlichen Bescheid in der Mantip8 fügt sich dazu. Nicht in eine Ich-Du-Beziehung also führt das Wort the6s, es ist Mitteilung über ein Drittes, Gegebenes, wenn auch oft aus einem Zustand der Verwirrung und des Überwältigtseins erwachsen. Man verwendet the6s auch als Mitteilung im verhüllenden, umschreibenden Sinn, um den Namen des Gottes für den direkten Verkehr mit ihm zu reservieren. Der Athener sagt he the6s, "die Göttin", und meint Athena, zu der man "Herrin Athena" betet; er sagt to the6, "die beiden Göttinnen", und meint Demeter und Kore. Gerade die Namen von Mysteriengöttern nennt man ungern; bestimmte Mysterien hielten die Götternamen überhaupt geheim; dem Ungeweihten blieb nur zu wissen, dass es hier um "große Götter" gehe. 39 Wenn ein Relief mit einer Schlangendarstellung "dem Gott", töi theöi, geweiht ist,40 vermeidet man jede peinliche Festlegung über das Verhältnis von Tier und Gott. Schließlich bedarf man in Gebeten der zusammenfassenden Formel "alle Götter",41 will man sicher sein, dass nicht etwa ein wichtiger Name vergessen wird. Dann spricht man, nach dem Vorbild Homers, von Göttern, theoi, gern in allgemeinen Sentenzen: "auf den Knien der Götter" liegt die Zukunft;42 man muss nehmen, was "die Götter geben"Y Schon in archaischer Zeit kann dafür auch der Singular eintreten: 44 "ein Gott" {the6s} hat es so eingerichtet, "ein Gott" schickt dem Bösen die Hybris, die ihn vernichtet, "ein Gott" kann retten; "mit dem Gott" im Bunde sucht man zu reden und zu handeln. Implizierter Gegenpol sind stets die Menschen; ihnen wird abgesprochen, was vom Gott gilt. Man setzt mit the6s oder theoi einen nicht überbietbaren, absoluten Bezugspunkt für alles, was Wirkung, Gel.tung und Bestand hat; die den Menschen selbst betreffende, oft undurchschaubare Wirkung kann daimon heißen.45 Während das Epiphanieerlebnis den privaten Kreis kaum überschreitet, bleibt in der Literatur the6s ein unentbehrlicher Grenzbegriff der Spekulation.
37 38 39 40 41 42 43 44 45
Bacch. 3,21; Eur. Herakles 772 f; deus! ecce deus! Verg. Aen. 6,46, vgl. Eduard Norden 1915 z.d.St. -- 1I 8 Anm. 18. Zu Samothrake --+ VI 1.3. Weihrelief aus dem Meilichios-Heiligtum im Piräus, GGR T. 27,2. Friedrich Jacobi, Pdntes theoi, Halle 1930. --+ I 3 Anm. 242; III 2 Anm. 1. Il. 17,514; Od. 1,267 U.ö. Archilochos 13,5 West; Theognis 134. Archilochos 24,15 West; Semonides 7; Theognis 151; Gilbert Fran<;:ois, Le polytheisme et l'emploi au singulier des mots THEOS, DAIMON, Paris 1957. --+ III 2.5.
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4.3 Eusebeia Religion hat mit der Angst zu tun; aus dem Wortfeld "Furcht" sind in den verschiedensten Sprachen und Kulturen die Ausdrücke für den Umgang mit Göttlichem genommen. In der Odyssee ist theudes, "gottesfürchtig", eine lobende Qualifikation, die weitere Tugenden verbürgt.46 Doch in der späteren Sprache ist dieses Wort nicht mehr lebendig; das vom selben Stamm gebildete Wort deisidaimon, "Daimon-fürchtend ", wird fast ausschließlich peiorativ verwendet, für Aberglauben, der lächerlich wirktY Haben die Griechen "das Gruseln verlernt"?"B Gegenüber Göttern tritt der Wortstamm seb- ein; auch er weist etymologisch auf Scheu und "Rückzug",49 doch stehen im Griechischen Ehrfurcht und Staunen im Vordergrund: "sebas hält mich, wenn ich hinsehe".50 Sebesthai steht neben aideisthai und deckt sich fast mit hdzesthai. Götter und alles, was ihnen gehört, Feste, Tempel, Opfer sind semnd, "ehrwürdig", auch Kleidung, Redeweise, Gehabe am Götterfest; Semnai schlechthin heißen die Göttinnen vom Areopag, die Aischylos mit Erinyen und Eumeniden zusammensieht.51 Menschen freilich, die sich als semnoi geben, wirken in demokratischer Gesellschaft überheblich und lächerlich. Doch nicht das Verhalten des sebesthai an sich ist "Frömmigkeit" als Tugend, sondern nur, wenn es einem Maßstab des Guten unterstellt ist: eusebeia,sz Dabei ist der einzige Maßstab, der zur Verfügung steht, der Brauch der Vorfahren und der Stadt, nomos: "nichts zu verändern von dem, was die Vorfahren hinterlassen haben", dies ist eusebeia. 53 Was besteht, ist themis; verboten ist, was ou themis ist. 54 Hierin liegt die Abgrenzung zur deisidaimonia; auch im religiösen Gebaren soll man nicht aus dem Rahmen fallen. Eusebeia ist eng verbunden mit euldbeia, "Vorsicht";55 Anstoß erregt ebenso das Zuwenig wie das Zuviel. Man soll nicht "vielgeschäftig sein",56 sich vor Neugier hüten: "schweige, halte Sehen und Denken zurück, frage nicht", wenn ein Wunder sich zu begeben scheint;57 man befleißigt sich der euphemia, indem man dem Hei46 47
48 49 50 51 52 53 54 55 56 57
Od. 6,121; 8,576; 9,176; 13,202; 19,109. ~ V 3 Anm. 16. Theophrast Char. 16; Peter J. Koets, Deisidaimonia. A contribution to the knowledge of the religious terminology in Greek, Pumerend 1929; Hendrik Bolkestein, Theophrastos' Charakter der Deisidaimonia, Gießen 1929; Samson Eitrem, Symb. Oslo. 31, 1955, 155-169; in positivem Sinn Xen. Ages. 11,8; Kyrup. 3,3,58. Thukydides spricht statt dessen vom theiasm6s des Nikias, 7,50,4. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, Göttingen 41975, 30 f. Chantraine 1980, 993; vgl. Aisch. Pers. 694. Odysseus vor Nausikaa, Od. 6,161; sebas zwischen aid6s und deos bei der Offenbarung der Göttin, Hymn. Dem. 190, vgl. 281-293. ~ III 2 Anm. 55; Aisch. Eum. 383; Paus. 1,28,6. Dieter Kaufmann-Bühler, RAC VI 985-1052 (1966) SN.; erster Beleg Theogn. 145, vgl. 1141 f. Isoh. 7,30. Harmen Vos, Themis, Utrecht 1957; zur Etymologie Chantraine 1968, 427 f; o-u-te·mi mykenisch, doch unklar, Gerard-Rousseau 1968, 158 f; Aura Jono, 1993, Il S.v. te·mi (termis?). Joseph C. A. van Herten, Threskeia, Euldbeia, Hiketes, Diss. Utrecht 1934. Plat. Leg. 821a. Od. 19,33-43.
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ligen gegenüber schweigt. 58 Eusebeia ist Zurückhaltung, aber eben damit alles andere als Gleichgültigkeit. Auch das rechte Verhalten gegen die eigenen Eltern ist eusebeia. Für den Götterkult gibt es außerhalb des attischen Dialekts das spezielle, nicht weiter durchsichtige Wort threskeia, das sich neugriechisch im Sinn "Religion" behauptet hat. 59 Ein allgemeineres Wort ist therapeia. Theraps, therapon ist im Epos der "Gefolgsmann", wie Patroklos gegenüber Achilleus. Angesprochen ist also ein Verhältnis der Unterordnung, doch auf Gegenseitigkeit und im beiderseitigen Interesse. Therapeuein heißt "sich bemühen", um Eltern, Kinder, Haustiere und Pflanzen, um Kranke, um die Volksgunst, oder eben auch um die Götter; parallel ist epimeleia,60 "Sich Kümmern", Kontrast ameleia, "Vernachlässigung". Von "Dienst" am Gott, latreia, ist zunächst nur in der Sonderstellung etwa der Prophetin oder des Tempeldieners die Rede;61 der Gott heißt ja auch kaum "Herr", desp6tes. Natürlich hat er Anspruch auf Ehre; von den "Ehren der Götter" ist geradezu am häufigsten die Rede; sie sind gleichsam materialisiert in den "Ehrengaben", gera, womit wiederum die Opfer ins Zentrum treten. Unterwürfigkeit ist damit nicht vorausgesetzt; tapein6s "demütig" taucht im religiösen Zusammenhang erst beim späten Platon auf. 62 Man versucht, den "Gefallen" der Götter zu finden, aresasthai,63 sie "heiter" zu stimmen, hiltiskesthai, denn Götterzorn ist gefährlich; am schönsten ist lächelndes Gewähren, chtiris,64 wie man den Gott auch gleich einem Bekannten mit chalre grüßt, "freue dich"; die Übersetzung "Gnade" gibt nur die eine Seite der chtiris wieder. Wenn eusebeia im Kult sich äußert, besteht das Problem, dass der Reiche und Mächtige dem Armen auch hier den Rang abläuft. Hiergegen ist mindestens seit Hesiod betont worden, dass es nicht auf den absoluten Wert der Gabe ankommt: "nach Vermögen" soll ein jeder opfern. 65 Wohl seit dem 6. Jahrhundert im Stil der "Sieben Weisen" wurde die Frage nach dem Frömmsten in Form einer Anekdote beantwortet: Der Gott von Delphi nennt nicht den Reichen, der Hekatomben darbringt, sondern einen schlichten Bauern, der eine Handvoll Gerstenkörner in die Flamme streut. 66 Auch so grenzt eu-sebeia sich vom Übertriebenen ab. Aus der Regelmäßigkeit des Brauchs erwächst Vertrautheit; ein Grieche kann einen Gott als seinen "lieben" Gott, phil6s, anreden. "Liebster Apollon" ruft der Haus58 59 60 61 62 63 64 65 66
II 3 Anm. 2. Anm. 55. Isokr. 15,282; therapeuein erstmals Hes. Erga 135. Kassandra Eur. Tro. 450; Ion Eur. Ion 129; 152; vgl. Iph. Taur. 1275; dann Sokrates' "Gottesdienst", Plat. Apol. 23c; vgl. Henri W. Pleket bei Versnell981, 1152-1192. Plat. Leg. 715e. Albrecht Dihle, RAC III 735-778 s.v. Demut. Xen. Oik. 5,3. Pindar Nem. 10,30; Parth. 2,4; Fr. 75,2; paradox Aisch. Ag. 182 f. Hes. Erga 336, zitiert Xen. Mem. 1,3,3; Arist. EN 1164b5 f. Porph. abst. 2,15 ~ Parke-Wormelll956 nr. 241 (anlässlich des Siegesfestes der sizilischen Tyrannen 480); Varianten ibo nr. 239/40, 242/3, nach Theophrast, vgl. Jacob Bernays, Theophrastos' Schrift über Frömmigkeit, 1866, Hildesheim 68 f; Walter Pötscher, Theophrastos PERl EUSEBEIAS, 1964, Fr. 7,47 ff; Parke-Wormell nr. 238 ~ Theopomp FGrHist 115 F 344. --+ --+
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herr in Erregung angesichts der Statue, die vor seiner Haustüre steht.67 Wenn Hipponax zum "lieben Hermes" betet,68 offenbar im Begriff, einen Diebstahl zu begehen, wirkt die Vertraulichkeit freilich schon bedenklich, und ironischer noch klingt "lieber Zeus".69 Für Hippolytos ist Artemis die "liebe Herrin", ja die "liebste Artemis",7° und doch überlässt sie ihn dem Verderben. "Absurd wäre es, wenn einer sagen wollte, er liebe Zeus", heißt es dann in der aristotelischen Ethik.7I Die Dichter sprechen seit Homer gern davon, dass ein Gott eine Stadt oder einen einzelnen Menschen "liebt";72 doch "menschenliebend" schlechthin, philanthropos, heißen allenfalls Prometheus oder Hermes;73 Zeus ist darüber erhaben. Derselbe Gott, der "liebt", kann auch hassen und verderben.74 Nie wird die Bindung eines Menschen an einen Gott so eng, dass sie sich durch ein besitzanzeigendes Fürwort ausdrücken ließe: Der Grieche kann nicht, wie Hebräer oder Hethiter, beten: "Mein Gott!" An Stelle der verzweifelten Frage: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen" steht die trotzige Feststellung: ,;Vater Zeus, kein Gott ist vernichtender als du".75 Dem Menschen bleibt nichts übrig als zu "ertragen", so lange er vermag.76 Äußere, am nomos orientierte eusebeia ist dennoch auf jeden Fall Bürgerpflicht; asebeia zieht den Götterzorn auf die ganze Gemeinschaft und ist darum ein Staatsverbrechen. Freilich gibt es zwischen eusebeia und asebeia einen weiten Zwischenbereich des Ermessens. Die Götter schelten, ist gewiss nicht "fromm" und doch durch das Vorbild der erhabensten homerischen Helden gedeckt; gefährlich ist es erst, wenn der Mensch sich über die Götter erheben will, wenn auch nur in Worten.17 Über Laxheit in der Erfüllung kultischer Pflichten mögen die Götter befinden; eindeutige, einklagbare asebeia liegt erst vor bei aktivem Vergehen gegen Kult und Heiligtum, Priester oder Geweihte, also bei Tempelraub, Eidbruch, Verletzung von Asyl oder Gottesfrieden.1 8 Hier droht "von den Göttern her" die Katastrophe, wie erbauliche Legenden gerne ausmalen: dass Helike im Meer versank,79 war Folge eines solchen Verstoßes. Darum muss die Gemeinschaft rechtzeitig das agos von sich treiben.
67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Menander Sam. 444. Hipponax 32 West. Theogn. 373. ~ V 3 Anm. 38. Eur. Hipp. 82; 1394-1398. Arist. MM 1208b30. 11. 1,381; Tyrtaios 5,1 etc.; Franz Dirlmeier, Theophilia-Philotheia, Philologus 90, 1935,57-77, 176193 ~ Ausgewählte Schriften, 1970,85-109. Aisch. Prom. 11; 28; Aristoph. Pax 392. Zum "Neid der Götter" ~ III 3 Anm. 59. Menelaos 11. 3,365 vg1. Achilleus 11. 22,15; Od. 20,201; Kassandra ruft "mein Apollon" und meint: "mein Vernichter", Aisch. Ag. 1081/6. ~ III 3 Anm. 53; Burkert 1996a. 11. 24,49; Hymn. Dem. 216 f; Pind. Pyth. 3,82. Soph. Aias 127 f, vg1. EI. 569. Jean Rudhardt, La definition du delit d'impiete d'apres la legislation attique, MH 17, 1960,87-105; Mario Torelli et a1., Le delit religieux dans la eite antique, Rom 1981. Herakleides Perl eusebeias, Fr. 46 Wehrli.
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4 Frömmigkeit im Spiegel der griechischen Sprache
Ein spezielles Wort für den Frevel gegen die Götter, alitainesthai, adjektivisch alitros, ist nach Homer am Aussterben;80 neu gebildet wird im 5. Jahrhundert atheos,81 um grundsätzlicher und schärfer als durch asebes den Wegfall der Beziehung zu den Göttern zu fassen. Nachdem dann Protagoras prinzipiell die Existenz von Göttern in Zweifel gezogen hatte, war im theoretischen Atheismus eine neue, gefährlichste Form der "Asebie" entstanden. 82 Man betonte die dem entgegenstehende Verpflichtung, the01'.ts.nomizein, eine Formel, die aber von bezeichnender Doppeldeutigkeit blieb: "an Götter glauben" oder "es mit den Göttern dem Brauch entsprechend halten";83 Platon widerlegt die Anklage gegen Sokrates nur im ersten, Xenophon zunächst im zweiten Sinn84 und entspricht dabei wohl mehr dem durchschnittlichen Maßstab. Glaubensbekenntnis bleibt den Griechen so fern wie Inquisition. Vom christlichen Standard aus wird man geneigt sein, eine Frömmigkeit ohne Glaube, Liebe und Hoffnung als bloße Äußerlichkeit abzutun. Doch wäre zumindest ein Schluss vom Äußerlichen auf das Unechte verfehlt; griechische Religion ist nicht auf das Wort gegründet, sondern auf die rituelle Tradition, und in ihr ist nicht geringerer Einsatz der Person möglich, so verhalten auch der sprachliche Ausdruck bleibt. Mit Platon manifestiert sich eine Revolution der religiösen Sprache und der Frömmigkeit zugleich; fortan gibt es philosophisch untermauerten Glauben, diesseitsübersteigenden Eros, Jenseitshoffnung, es gibt Demut, Dienst und zugleich "Angleichung an Gott".85 In der älteren Polis-Welt war Solidarität wichtiger als Aufschwung; Religion war nicht Tür und Weg, sondern Ordnung,86 einsichtige Einordnung in eine "verteilte", begrenzte Welt.
80 81 82 83 84 85 86
Il. 24,570; Od. 14,406; dort ist das Wort in der antiken Tradition zumeist missverstanden; Eva Tichy, Glotta 55, 1977, 160-177. Ältester Beleg Aisch. Pers. 808. --+ VII 2. Vg!. diken nomizein Hdt. 4,106; Snell (--+ Anm. 48) 32 f; Wilhelm Fahr, Theous nomizein, Hildesheim 1969. Xen. Mem. 1,1,2; Plat. Apo!. 26b-28a. --+ VII 3 Anm. 58. So Oppenheim 1964, 182 über babylonische Religion.
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VI
MYSTERIEN UND ASKESE
1 Mysterienheiligtümer
1.1 Allgemeines Griechische Religion als Polis-Religion ist in extremem Maße eine Religion der Öffentlichkeit: Opferprozession und gemeinsames Mahl, laute Gebete und Gelübde, weithin sichtbare Tempel mit prunkvollen Weihgeschenken bestimmen das Bild der eusebeia; durch sie integriert sich der Einzelne in die Gemeinschaft; wer sich absondert, gerät in den Geruch der Asebie. Und doch stehen daneben seit je Geheimkulte, die nur auf Grund einer besonderen, individuellen Weihe zugänglich sind, "Mysterien".! Dabei heißt "einweihen" myeln oder auch telein, der Eingeweihte heißt mystes, die ganze Veranstaltung mysteria, während telesterion das besondere Gebäude für die Weihe bezeichnet; die Feier kann auch telete heißen, doch wird dieses Wort auch für religiöse Feiern allgemein gebraucht. 2 Auch 6rgia ist ein Wort für "Ritual" überhaupt, das aber besonders für Mysterien verwendet wird: Das intensive Feiern des durch die Weihe Verwandelten ist ein orgiazein. Am berühmtesten und bekanntesten waren die Mysterien von Eleusis, für die Athener ta Mysteria schlechthin; doch waren sie anscheinend nur das prominenteste Glied einer weit verbreiteten Gruppe ähnlicher Veranstaltungen. Die Geheimhaltung war radikal, wobei nur offen blieb, ob "das Heilige" in diesen Fällen "verboten", ap6rrheton, oder schlechthin "unsagbar", arrheton, seL 3 Inbild der Mysterien ist der verschlossene Deckelkorb, die cis ta mystica;4 nur der Geweihte weiß, was die kiste birgt; die Schlange, die sich um die kiste oder aus ihr ringelt, weist auf "unsagbaren" Schrecken. Heidnische Autoren gingen über Andeutungen nie hinaus, und Christen, die dem Geheimnis den Schleier abreißen wollten, wussten selten
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Raffae1e Pettazzoni, I misteri, Cosenza 1924; Otto Kern, Die griechischen Mysterien der klassischen Zeit, Berlin 1927, und RE XVI 1209-1314; Alfred Loisy, Les mysteres paiens et le mystere chretien, Paris 21930; OlofE. Briem. Les societes secretes de mysteres, Paris 1941; Eranos-Jahrbuch 11, 1944: Die Mysterien (The Mysteries, 1955); Nock 1972, II 791-820: Hellenistic Mysteries; HN 274 f; Ugo Bianchi, lconography of Religions XVII 3: The Greek Mysteries, Leiden 1976; Burkert 1990; Cosmopoulos 2003; Sfameni Gasparro 2003; Parker 2005, 326-368; ThesCRA II 92-114. Mykenisch mu.jo.me-no in umstrittenem Kontext, Gerard-Rousseau 1968, 146 f, Aura Jorro Dicc. S.v. Zur Begriffsbestimmung Carsten Colpe in: John R. Hinnells (Hrsg.), Mithraic Studies, Manchester 1975, 379-384. Curnelius Zijderveld, Telete, Pumerend 1934; Sfameni Gasparro 2003, 99-117. Nicolaas M. H. van der Burg, Ap6rrheta, dr6mena, 6rgia, Diss. Utrecht 1939; drrhetos telete Epigramm des 5. Jahrhunderts vom athenischen Eleusinion, IG P 953; CEG I nr. 317. Albert Henrichs, ZPE 4, 1969, 230 f; HN 297 f. --+ V 2 Anm. 26; VI 1 Anm. 112/3.
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mehr als vage Verdächtigungen vorzubringen. Es ist ein Glücksfall, dass über Eleusis ein Gnostiker einige wesentliche Einzelheiten heraussagt. 5 Der Wissenschaftler wird versuchen, von den Andeutungen ausgehend gleichsam Tangenten um das verborgene Zentrum zu legen. Da ist der Aspekt der Initiation an sich;6 initia ist das lateinische Äquivalent für mysteria. Eine geheime Gesellschaft erzeugt um so höhere Solidarität, je härter es ist, den Zugang zu erreichen. Es ist möglich, dass Mysterien aus Pubertätsweihen entstanden; in Eleusis werden, mit Ausnahme des "Kindes vom Herd", nur Erwachsene geweiht, anfänglich wohl nur attische Bürger;7 und doch sind eigentliche Mysterien erst da, wenn die Weihe beiden Geschlechtern und auch Nicht-Athenern offen steht. Daneben steht der agrarische Aspekt: Mysteriengötter sind Demeter und Dionysos; Trinken des Gerstentranks oder des Weins spielt eine zentrale Rolle. Und doch ist die Herleitung der Mysterien aus Agrarmagie allenfalls eine Vermutung über Prähistorie.8 Für die historisch fassbaren Athener stehen Mysterien und Getreide als die "beiden Gaben" der Demeter nebeneinander; das Weinfest der Anthesterien, der Saat-Zauber der Thesmophorien, Proer6sia oder Kalamaia sind keine Mysterien.9 Eher lässt sich fragen, wenn auch ohne Aussicht auf sichere Antwort, ob prähistorische Rauschtrank-Rituale nachwirken, ein "Fest der Unsterblichkeit", das dem erweiterten Bewusstsein jenseitige Wirklichkeit verbürgt. lO Unleugbar ist der sexuelle Aspekt· der Mysterien; Genitalsymbole,II Entblößungen, gelegentlich veritable "Orgien" sind bezeugt; Pubertätsweihe, Agrarmagie, todüberwindende Lebensrnacht überhaupt können sich darin vereinen. Schließlich gibt es den mythischen Aspekt: Zu Mysterien gehören Erzählungen - die ihrerseits zuweilen geheim sind, hieroi l6goi - von "leidenden" Göttern; die Mysten ihrerseits "erleiden" etwas in der Weihe,n auch wenn nicht generell gilt, dass der Myste selbst das Schicksal des Gottes erleidet,u der damit selbst der erste Myste wäre. Die
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Hippol. Ref. 5,8,39; HN 277 f. -+ VI 1 Anm. 106. Zu Mysterien und Initiationen Felix Speiser, Die eleusinischen Mysterien als primitive Initiation, Zeitschr. f. Ethnol. 60, 1928,362-372; Karl Prümm, Zeitschr. f. kath. Theol. 57, 1933,89-102; 254272; Eliade 1958/1965 -+ V 3 Anm. 153; Wolf D. Berner, Initiationsriten in Mysterienreligionen, im Gnostizismus und im antiken Judentum, Diss. Göttingen 1972. -+ V 3.4. LSS 3 C 20; HN 280. GGR 662; 674 f; vgl. Varro bei Aug. dv. 7,20. -+ V 2.5; V 3 Anm. 197-200; 210. Vermutungen über Psychopharmaka in Eleusis äußerten Karl Kerenyi, in: Initiation. Numen Suppl. 10, 1965,63 f; Ernst Jünger, in: Studies in honor ofM. Eliade, 1969,327-342; Robert G. Wasson et al., The Road to Eleusis, New York 1978. Längst gibt es Diskussionen um das indo-iranische Soma/ Haoma; Zeugnisse zum Haoma-Fest in Persepolis: Raymond A. Bowman, Aramaic Ritual Texts from Persepolis, Chicago 1970, vgl. Walter Hinz, Acta lranica 4, 1975,371-385. Vgl. auch Georges Dumezil, Le festin d'immortalite, Paris 1924. Zu Opiumgebrauch Kerenyi 1976, 35-39; CRAI 1976, 234 f; 238 f. Phallos "so ziemlich in allen teletat": Diod. 4,6,4; HN 299. Arist. Fr. 15; Goldblättchen 487 F Bernabe = 3 Graf/Johnston; Athenagoras 32,1. Dies macht Colpe (-+ Anm. 1) zum definitorischen Moment.
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"Leiden" fügen sich am besten zum Initiations-Aspekt; Überstehen der Todesangst14 kann als vorwegnehmendes Bestehen, als Überwindung des Todes erlebt und gedeutet werden. Der Begriff "Wiedergeburt" freilich taucht erst im späten Hellenismus auf. Im Hintergrund steht die Todesbegegnung im Opfer überhaupt, der zentralen "heiligen Handlung". Eben darum sind die Mysterien keine eigene "Religion", die neben der öffentlichen Religion bestünde und von ihr zu scheiden wäre; sie sind eine besondere Möglichkeit im Rahmen der vielgestaltigen polytheistischen Polis religion. In Kreta, heißt es, feiert man die gleichen Weihen, die in Samothrake und Eleusis hohes Geheimnis sind, in aller ÖffentlichkeitY Dass für den Mysten der Tod seinen Schrecken verliert, dass er die Garantie für ein seliges Leben im Jenseits gewinnt, wird nicht bei allen Mysterien ausdrücklich erwähnt, steht aber bei vielen entschieden im Vordergrund. Dabei können die verschiedenen Aspekte ineinander fließen: In Rausch und Sexualität gewonnene Lebensgewissheitverbindet sich mit der Einsicht in den Kreislauf der Natur, vor allem aber gilt der durch Initiation erreichte Sonderstatus absolut und über den Tod hinaus. Das "orgiastische" Fest der Mysten setzt sich im Jenseits fort. Das Versäumen der Weihe freilich lässt sich nicht mehr einholen; dies demonstrieren eindrucksvolle mythische Bilder: Oknos, das "Zaudern", flicht im Hades an einem Seil, das sein Esel gleichzeitig abfrisst; die "Ungeweihten" tragen in einem Sieb Wasser in ein durchlöchertes Fass, zwecklos und endlos.16 Geheimbund und Initiation sind zweifellos alte Institutionen; man mag eine neolithische Grundlage der Mysterien annehmen;17 für Demeter- und Dionysosmysterien bestehen Beziehungen zur altanatolischen Muttergöttin. Am engsten ist die Organisation von Eleusis mit der Polis Athen verbunden.18 Und doch konnte das, was älter ist als die entfaltete Polis, über diese zugleich hinausführen. Man spricht mit Recht von der "Entdeckung des Individuums" im 7./6. Jahrhundert in Griechenland; in der Literatur sind Gestalten wie Archilochos, Alkaios, Sappho die ersten Beispiele für das seiner Eigenheit bewusst gewordene "Ich ". Die Fähigkeit zur individuellen Entscheidung und die Suche nach privater Lebenserfüllung findet ihren Ausdruck auch in der Religion: Neben die Beteiligung an den kalendarisch festgelegten Polisfesten 14
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Plut. prof.virt. 81E; Fr. 178; Prokl.ln Remp.II 108,21-24 Kroll; vgl. Richardson 1974,306 f; Raquel Martin Hernandez, La muerte corno experiencia misterica. Estudio sobre la posibilidad de una experiencia de muerte ficticia en las iniciaciones griegas, 'Ilu 10, 2005, 85-105. Diod.5,77,3. Oknos und Wasserträger auf dem Unterweltsbild des Polygnotos in Delphi, Paus. 10,29,1; 31,9; 11, um 450; Lekythos Palermo, um 500, Cook 1940, III T. 36; LlMC VII s.v. Oknos 1. Wasserträger auf Münchner Amphora, um 540/30, ABV 316,7, Cook 1940, III 399; Plat. Gorg. 493b; Graf 1974, 107-120, 188-194. Eva Keuls, The water carriers in Hades, Amsterdam 1973, vermutet, dass die Wasserträger eigentlich Geweihte, nicht Ungeweihte, darstellten. --+ 11 Anm. 14; 23/4. --+ VI 1,4. Der dem Alkibiades zugeschriebene Mysterienfrevel, 415 v. Chr., war eine Staatskrise. Vgl. Alexander Rubel, Stadt in Angst. Religion und Politik in Athen während des Peloponnesischen Krieges, Darmstadt 2000.
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tritt das Interesse für Selbstgewähltes, Besonderes und damit für zusätzliche Weihen und Mysterien. Mehr als zuvor wird dem Einzelnen der Tod zum Problem, der in der Gemeinschaft doch fraglos eingeplant ist; so finden Verheißungen, über den eigenen Tod hinwegzuhelfen, aufmerksames Gehör. Das statische System der Religion gerät in dynamische Bewegung; seit etwa 600 nehmen Mysterien verschiedener Art einen deutlichen Aufschwung. Über die altertümlichen Gentil- und Stammesinitiationen hinweg gewinnen in der mobiler werdenden Gesellschaft einzelne Heiligtümer wie Samothrake und Eleusis zunehmendes Prestige. Darüber hinaus drängen Bewegungen, die von etablierten Heiligtümern und ihrem Väterbrauch sich befreien; dies scheint das Kennzeichen der Bakchikd und Orphikd. Noch weiter geht die Autonomie des Individuums, wenn es das Ritual selbst hinter sich lässt und in eigener Verantwortung seinem Leben die Regel setzt.
1.2 Gentil- und Stammesmysterien In Phlya - heute Chalandri - bei Athen hat Themistokles nach seinem Sieg ein Heiligtum wiederhergestellt, über das seine Familie, die Lykomiden, zu verfügen hatte. Näheres erfahren wir darüber erst durch Plutarch und Pausanias: Es handle sich um "Mysterien", die sogar älter seien als die von Eleusis. I9 Es gab ein Gebäude für die geheime Weihe, von Pausanias klision, "Hütte", genannt; auf der Wand einer Säulenhalle war ein grauhaariger, ithyphallischer, geflügelter Mann dargestellt, der eine Frau verfolgt; die beigeschriebenen Namen sind durch die Überlieferung entstellt und damit undeutbar. 20 Die Mysterien gelten einer "Großen Göttin", die Pausanias mit der Erde identifiziert;21 dazu gehören Altäre des Apollon Dionysodotos, "von Dionysos gegeben", der Artemis Selasphoros, "Fackelträgerin", des Dionysos Anthios, "Blüten"-Gott, und der Ismenischen Nymphen; ferner ein Tempel mit Altären der Demeter Anesidora, "die Gaben heraufsendet", des Zeus Ktesios, der den "Besitz" schirmt, der Athena Tithrone, der Kore Protogone, "Erstgeboren", und der "ehrwürdigen Götter" allgemein. 22 Eine Demeter-Gruppe und eine Apollon-Gruppe scheinen nebeneinander zu stehen; ob sekundäre Kultmischung vorliegt, bleibt uns dunkeL Pausanias erwähnt uralte Hymnen, von Orpheus, Musaios, Pamphos gedichtet, die die Lykomiden bei ihren 6rgia singen; von Demeters Einkehr bei Phlyos, dem Sohn
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Plut. Themist. 1 (nach Simonides PMG 627) und Fr. 24 ~ Hippol. ref. 5,20,5; Paus. 4,1,7; 1,31,4. Toepffer 208-223; AF 69 f; GGR 669. Plut. Fr. 24 Sandbach ~ Hippol Ref. 5,20,5.8; die Darstellungen sind wohl spätarchaisch, Spiridon Marinatos, Platon 3, 1951, 228-242. Paus. 1,31,4. Paus. 1,31,4. Nilsson GGR 669 hält diese Vielfalt für "jung".
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der Erde, ist die Rede, von Eros als uraltem Gott. 23 Über Assoziationen kommt man in diesem Komplex von Kosmogonie, Zeugung und Fruchtbarkeit kaum hinaus. Nach dem Sturz der spartanischen Herrschaft über Messenien im Jahr 370 wurden bei Andania, am Hain Karneiasion mit der Quelle der "Ehrwürdig-Reinen", Hagna, Mysterien eingerichtet mit dem Anspruch, uraltes Zentrum Messeniens und seiner Tradition zu sein: Die erste Königin, selbst Messene genannt, sei von Kaukon in. diese Mysterien eingeweiht worden;24 Aristomenes, der legendäre Held der Messenischen Kriege, habe als sein Testament eine Zinnfolie mit dem Mysteriengesetz vergraben, das nunmehr wiederaufgefunden und in Kraft gesetzt wurde. 25 Deutlich ist die Anknüpfung an Vordorisches. Wohl in diese Periode gehört die Aktivität eines Lykomiden aus Phlya, der die Mysterienstätte von Andania "reinigte" und bewundernd feststellte, wie genau diese Mysterien denen von Phlya entsprächen. 26 In einer Inschrift aus dem Jahr 24 n. Chr. hat dann ein Hierophant Mnasistratos seine vom Orakel bestätigte Neuregelung "für ewig" festgehaltenY Über die geheimen Riten schweigt natürlich der Text. Immerhin erfahren wir, dass eine Reinigung mit Widderopfer voranging, dass die neu zu Weihenden, protomystai, ein Lammopfer zu bezahlen hatten, dass sie erst eine Art Tiara tragen, dann einen Lorbeerkranz. 28 Eine Prozession findet statt für Demeter, Hermes, "die Großen Götter", Apollon und Hagna; "heilige" Männer und Jungfrauen gehen in ihr, einige von ihnen als Götter kostümiert; die "Heiligen" sind zugleich Mystagogen, gleichsam Paten der Neulinge. 29 "Opfer und Mysterien" finden unter Musikbegleitung statt, wohl im "Theater"" das mit dreifachem Ferkelopfer gereinigt wird. 3D Es schließt eine "heilige Mahlzeit" der "Heiligen" an; es gibt auch einen Agon, offenbar ein Pferderennen im Hippodrom.31 Die "Großen Götter" entsprechen vielleicht den pferdeliebenden Dioskuren; die "heiligen" Männer tragen Filzkappen, piloi, gleich diesen. 32 Im Zentrum steht also ein Männerbund der "Heiligen", den "Großen Göttern" entsprechend, ausgerichtet 23 24 25 26 27
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Paus. 1,22,7; 9,27,2; 9,30,12. Paus. 4,1,4 vgl. 4,14,1; 7; 4,15,7; 4,16,6. Die "Kaukonen" sind vorgriechisch, Hdt. 4,148; Franz Kiechle, Historia 9, 1960, 26-38. Paus. 4,20,4; 26,6 f; 27,5; 33,5; vgl. LSCG 65,12. Paus. 4,1,5-8. IG V 1, 1390 = SIG' 736 = LSCG 65; Datierung 24 n. Chr., statt bisher 92 v. Chr., durch Petros Themelis, Kernos 20, 2007, 317 f; GdH II 536-544; GGR478; Magherita Guarducci, I cultidiAndania, SMSR 10, 1934, 174-204; Ludwig Ziehen, Der Mysterienkult von Andania, ARW 24, 1926,29-60; Magdalena L. Zunino, Hiera Messeniaka, Udine 1997,301-334; Fritz Graf in: Cosmopoulos 2003, 242-246; Nadine Deshours, Les Mysteres d'Andania. Etude d'epigraphie et d'histoire religieuse, Paris 2006; ThesCRA II 111 f. LSCG 65, 67 f; 14 f. LSCG 65,33; 68; 24. ~ V 4 Anm. 5. LSCG 65,73 vgl. 39; 75; 85; 67. LSCG 65,95; 31. LSCG 65,13. - IV 5.2; Messenier von Andania "spielen" Dioskuren, Paus. 4,27,1 f. - II 6 Anm. 30; III 3 Anm. 33. Vgl. Toepffer 1889, 220 f; Hemberg 1950. 33-36. Pausanias spricht von "Großen Göttinnen" und meint Demeter und ihre Tochter, 4,33,4.
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auf die göttliche Mutter und eine geheimnisvolle Tochter, die an der Quelle verehrt wird; Hermes und Apollon bringen einen dunklen und einen lichthaften Aspekt in die Opfer. Beauftragt mit der Mysterienfeier sind "die Messenier" schlechthin;33 hinter den Mysterien steht der Kriegerbund des Stamms als Geheimorganisation. Nicht weit ab liegt Arkadien, wo, wie Herodot behauptet, allein vordorische Demetermysterien erhalten blieben. 34 Mit den mythischen Anfängen der Arkader verknüpft ist Lykosura, die "älteste Stadt der Welt";35 sie blieb darum bestehen, als nach 360 alle anderen arkadischen Städte in Megalopolis vereinigt wurden; bestehen blieben auch die Mysterien, von denen eine Inschrift aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. zeugt und auch der Ausbau, den Pausanias sah.36 Hauptgöttin ist eine geheimnisvolle, nicht mit Namen genannte "Herrin", Despoina, von Pausanias mit Kore gleichgesetzt; sie hält auf dem Kultbild die kiste auf den Knien, neben ihr stehen Demeter und Artemis. Das "Megaron" hinter dem Tempel, wo die Weihe stattfindet, ist ein großer Altar unter freiem Himmel; hier sind Zerstückelungsopfer Brauch: "welches Glied des Opfertieres einer gerade trifft, das haut er mit dem Messer ab".37 Noch über dem Megaron liegt ein Hain, an höchster Stelle ein Heiligtum des Pan. Auffallend sind Votivstatuetten von widderköpfigen Menschen in langen Gewändern; auch auf dem Mantelsaum der Kultstatue sind Menschen mit Tierköpfen dargestellt,38 auf der Basis Kureten und Korybanten. 39 Ein Masken- und Kriegerbund im Umkreis des Opfers ist auch hier zu fassen. Der ältest bezeugte Mysterien-Kriegerbund gehört zur Ida-Höhle auf Kreta; die orientalisierenden Bronze-Tympana entsprechen den Schilden der mythischen Kureten, die das Zeuskind umtanzen.40 Die Verse aus den Kretern des Euripides freilich,4I in denen die "Mysten des Zeus Idaios" sich vorstellen, verraten wohl mehr dichterische Phantasie als authentisches Wissen um den Kult: als Tempel ein dicht geschlos33 34 35 36
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SIG' 735. Hdt. 2,171; Jost 1985 und in: Cosmopoulos 2003, 143-168. Paus. 8,38,1; 8,2,1; die Funde im Heiligtum gehen ins 6. Jahrhundert zurück, Jost 1985, 326-337 und BCH 99, 1975, 339-364. IG V 2, 514 = SIG' 999 = LSCG 68, 3. Jahrhundert v. Chr.; Paus. 8,37; Ernst Meyer, RE XIII 241732; GGR 479 f; Stiglitz 1967, 30-46; Edmond Levy/Jean Marcade, BCH 96, 1972, 967-1004; Jost 1985, 172-178. Bruchstücke der Kultbild-Gruppe des Damophon (Paus. 8,37,3) sind erhalten, EAA II 999 f. Die Datierung des Damophon an den Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr. ist durch neue Inschriftenfunde gesichert, SEG 41 (1991) nr. 332; Dimitris Damaskos, Untersuchungen zu hellenistischen Kultbildern, Stuttgart 1999, 44-71. Paus. 8,37,8. AE 1912, 155; 159; GGR T. 31, 2. --+ II 7 An,m. 46. Paus. 8,37,6. --+ 14 Anm. 18; III 1 Anm. 16; III 2 Anm. 51; V 3 Anm. 28. Eur. Fr. 472 Kannicht; Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Berliner Klassikertexte V 2, 1907,77; R. Cantarella, Euripide, I Cretes, Mailand 1964; Fauth, RE IX A 2226-30. Giovanni Casadio, I Cretesi di Euripide e l'ascesi orfica, in: Didattica deI Classico II, 1990, 278-310; Adele-Teresa Cozzoli in: Masaracchia 1993, 155-172; Alberto Bernabe in: Juan A. Lopez (Hrsg.), La tragedia griega en sus textos, Madrid 2004, 257-286.
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senes, mit Stierblut versiegeltes Mysterienhaus aus Zypressenbalken, Donnergetöse "des nächtlichen Zagreus" bei der Weihe, Essen rohen Fleisches, Fackelschwingen für Bergmutter und Kureten; dann erhält der Geweihte den Titel bdkchos, trägt weiße Gewänder, lebt vegetarisch, vermeidet Kontakt mit Geburt und Tod. Stieropfer, Fackeln, Tympanon gehören auch sonst zu Meter-Orgien. Ein hellenistisches Zeugnis zur Ida-Höhle 42 spricht von einem großen Feuer und aufwallendem Blut, wenn Zeus alljährlich in der Höhle geboren wird. In anderer Form soll Pythagoras sich der Weihe der "Idäischen Daktylen" unterzogen haben: 43 Er wurde mit einem "Blitzstein" - einer Doppelaxt? - "gereinigt", musste tagsüber ausgestreckt am Meer, des nachts auf dem Vlies eines schwarzen Widders am Fluss liegen; dann wurde er in die Höhle eingelassen, in schwarze Wolle gekleidet, brachte Feueropfer dar, sah den Thron, der jährlich dem Zeus bereitet wird. Die Fakten des Kults sind hinter solch phantasievollen Beschreibungen nicht sicher auszumachen. Gar nichts von Weihen verlautet auf Paros, wo ein Männerbund als "Orgeonen" der Demeter mit dem merkwürdigen Namen Kdbarnoi 44 besteht; doch wenn auf Polygnots Unterwelts-Gemälde dargestellt war, wie Tellis und Kleoboia die kiste der Demeter nach Thasos bringen,45 so wird die Gründung dieser Kolonie von Paros aus als Übertragung von Mysterien gesehen, und "Tellis" trägt die telete im Namen; nicht umsonst stammte Polygnotos aus Thasos. Auch die "ungeweihten" Wasserträger auf dem Bild können auf die Thasischen Mysterien Bezug nehmen. All diese Hinweise und Andeutungen, so lückenhaft sie bleiben, runden sich doch zum Bild eines Mysterientyps, der auf das Engste mit Geschlecht, Stamm oder Stadt verbunden ist, im Mythos mit der Gründung von Volk oder Stadt überhaupt zusammengeht, in der Realität in Form eines Männerbundes, besonders Kriegerbundes, besteht. Von Jenseitshoffnungen ist explizit nicht die Rede; doch kann dies zum "Geheimnis" gehören.
1.3 Kabiren und Samothrake Mit den Kabiren und den Göttern von Samothrake tritt zum Mysteriengeheimnis das Rätsel des Nichtgriechischen, Vorgriechischen, das freilich auch in der KaukonTradition von Andania46 angedeutet ist. Kabirenkult47 ist vor allem auf Lemnos und bei Theben fassbar. Die Einwohner von Lemnos wurden von den Griechen "Tyrrhener" 42 43 44 45 46 47
Boio bei Anton. Lib. 19. Porph. Vit. Pyth. 17. Antimachos Fr. 67 Wyss; Steph. Byz. s.v. Paras. Paus. 10,28,3. -+ VI 1 Anm. 24. Das ganze Material bei Hemberg 1950; überholt Kern, RE X 1399-1450.
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genannt und mit den Etruskern gleichgesetzt, aber auch mit den "Pelasgern"; sie erlagen erst im 6. Jahrhundert der athenischen Eroberung.48 Im Kabirenheiligtum, durch Weihungen an Kdbiroi sicher identifiziert,49 scheint der Kult bruchlos über die Eroberung hinweg fortbestanden zu haben. Lemnos ist Zentrum des Hephaistoskults;50 die Hauptstadt hieß Hephaistia; die Kabiren werden genealogisch als Söhne oder Enkel des Hephaistos eingeordnet.51 Aischylos52 ließ sie in einer Tragödie als Chor auftreten und die Argonauten auf Lemnos empfangen; sie erscheinen dabei als gewaltige Weintrinker; Weingefäße sind der einzige charakteristische Fundkomplex aus dem Kabirenheiligtum. Hephaistos und Dionysos sind auch im griechischen Mythos durch die burleske "Rückführung"53 eng verbunden; im Hintergrund stehen wohl Feiern von Handwerkergilden, speziell Schmiedebünden. Wenn die "Tyrrhener" Zeus, Apollon und den Kabiren Erstlingsopfer bringen,54 steht neben dem Geheimbund die Vater-Sohn-Koordinate, die zur Initiationsthematik passt. Eine lemnische Weihung an den "dabei spielenden", Allotria treibenden Gott55 (Dionysos parapaizon) könnte ein Hinweis sein, dass auch auf Lemnos ein burleskes Element zum Kabirenkult gehörte. Weit reicher und verwirrend vielfältig sind die Befunde im Kabirion bei Theben;56 sie setzen im 6. Jahrhundert ein und reichen bis in die Kaiserzeit. Nach Pausanias57 hat Demeter Kabeiraia die Weihen für Prometheus, einen der "Kabiren" und seinen Sohn Aitnaios gestiftet. Dies weist auf Schmiedebünde analog zum lemnischen Hephaistos. Die Weihungen aus dem Heiligtum gelten einem "Kabiros" im Singular, der wie ein bärtiger, zum Trinken gelagerter Dionysos dargestellt wird, und seinem "Knaben", Pais. 58 Dem Pais weiht man allerlei Spielzeug, besonders Kreisel; dies deutet auf den Übergang vom Kind- zum Erwachsenenstatus, auf Pubertätsweihen hin. Ein besonders häufiger Typ von Votivfiguren zeigt einen Knaben mit der spitzen
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Hdt. 6,136; Konrad Kinzl, Miltiades-Forschungen, Diss. Wien 1968,56-80, 121-44; Schachter in: Cosmopoulos 2003, 112-142; Masciadri 2008, 128-149. Hemberg 1950, 160-170; ASAtene 30/2, 1952/4,337-40; Doro Levi, Il Cabirio di Lemno, Charisterion A.K. Orlandos III, Athen, 1966, 110-132; Kerenyi, Symb. Oslo. 41, 1966,26-28; Burkert, CQ 20, 1970,9 f; Inschriften gesammelt bei Luigi Beschi, ASAA 74/5, 1996/7 (2000), 9-145; SEO 50, 824-862. -+ III 1.11. Akusilaos FOrHist 2 F 20; Pherekydes FOrHist 3 F 48; vgl. Hdt. 3,37. Aischylos Kabeiroi, Fr. 97 Radt. -+ III 1 Anm. 453. Myrsilos FOrHist 477 F 8. Simone Follet, RPh 48, 1974,32-4; Bull.epigr. 1974 nr. 430. Paul Walters/Oerda Bruns, Das Kabirenheiligtum bei Theben I, Berlin 1940; II: Wolfgang Heyder, Die Bauten, Berlin 1978; III: Ursula Heimberg, Die Keramik des Kabirions, Berlin 1982; V: Bernhard Schmaltz, Terrakotten aus dem Kabirenheiligtum bei Theben, Berlin 1974; Oerda Bruns in: Neue deutsche Ausgrabungen im Mittelmeergebiet und im vorderen Orient, 1959, 237-248; AA 1964, 231-265; AA 1967, 228-273; Hemberg 1950, 184-205; Schachter 1986, II 66-110 Paus. 9,25,5-9; 4,1,7; "Pelarge" als Stifterin erinnert an die Lemnischen "Pelargoi" bei Myrsilos FOrHist 477 F 9. OOR T. 48, 1 ~ ThesCRA II 3.c. Abb. 104.
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Dioskurenmütze, dem pilos, der in Andania die "Heiligen" auszeichnet. 59 Stieropfer und Weintrinken müssen der Feier ihr Gepräge gegeben haben. Kleine Bronzestiere treten an Zahl unter den Weihegaben hervor. Zentrum des Heiligtums ist ein großer Altar, um den später ein Theater gebaut wurde, offenbar nicht für das literarische Schauspiel, sondern zum "Zeigen" des Heiligen; hinter dem Altar ist ein rechteckiges Gebäude, das vom Typ des griechischen Tempels ganz abweicht. Zu den ältesten Anlagen gehören Rundbauten mit Herd, offenbar für sakrale Mahlzeiten im eng geschlossenen Kreis. Auf das Weintrinken weisen die charakteristischen "Kabirennäpfe", die, oft mit einer Weihung versehen, stets stark fragmentiert gefunden wurden: Offenbar wurden sie nur einmal benutzt und dann zerbrochen. 60 Eine gewisse Ähnlichkeit zum attischen Anthesterienfest deutet sich an. 61 Die bemalten Vasen aus dem Heiligtum, die meist aus der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts stammen, zeigen in einem unverkennbaren Stil groteske Zerrbilder von mythischen oder alltäglichen Szenen; pygmäen- oder negerhafte Gestalten mit verzerrten Gesichtern, dicken Bäuchen, baumelnden Genitalien. Eine gewisse Analogie bilden einige Anthesterienvasen. Zumindest eine Phase der Mysterienfeier wird anscheinend in starkem Kontrast zu normaler Sitte und sozialen Prätentionen erlebt, als Herabsteigen ins Primitive; die aischrologia der Demeterfeste, der "Spott von den Wagen" an den Anthesterien62 sind vielleicht vergleichbar. Eine Kabirenvase zeigt vor Kabiros und seinem Knaben als kleine Groteskfigur Prat61aos, den "ersten Menschen", neben dem Paar Mitos und Krdteia; hier ist ein sonst unbekannter anthropogonischer Mythos angedeutet,63 so wie auch auf Lemnos von Kabeiros als dem ersten Menschen die Rede ist. 64 Anthropogonie und Initiation fügen sich im Sinn des Neuanfangs zusammen. Von den Ritualen selbst ist nahezu nichts bekannt. Es gab Kabiriarchoi als leitende Priester, paragogeis "Einführer" als Mystagogen;65 ein Bad gehört zur Weihe;66 der Geweihte trägt Zweige und Binden; er darf den Hain der Demeter Kabeiraia betretenY Von Jenseitshoffnungen verlautet nichts. Der nichtgriechische Name Kabeiroi/Kabiroi - beide Formen inschriftlich belegt - erinnert fast unwiderstehlich an Semitisch kabir "groß". Doch sind in Lemnos, Theben, Samothrake keine weiteren Beziehungen zu Semitischem nachweisbar, was anderen Etymologieversuchen Auftrieb gibt. 68 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68
-- VI 1 Anm. 32. AA 1967, 271. Vielleicht war thamcikes Bezeichnung des "Genossen", nach einer Inschrift AA 1964, 242. Van Hoorn 1951, 52. -- II 7 Anm. 61-67; V 2 Anm. 98; 153. -- Anm. 58; Ouo Kern, Hermes 25, 1890, 7; HN 272. Hippol. Ref. 5,7,2 = PMG 985. IG VII 2428; ein hierarchos SEG 35,413. AA 1967, 245 f. Paus. 9,25,5. kabir wird seit Scaliger verglichen; vgl. PR I 848; Hemberg 1950, 318-320. Archibald H. Sayce, JHS
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Am bedeutendsten sind die Mysterien von Samothrake. 69 Die Einwohner von Samothrake hießen bei den Griechen "Pelasger"j dass sie auch mit den Troianern verknüpft werden, soll sie vielleicht nur als Nichtgriechen, Anti-Griechen kennzeichnen. Nichtgriechische Sprache wurde im Kult bis in hellenistische Zeit verwendet.7° Doch der Ausbau des Mysterienheiligtums seit dem 7. Jahrhundert gehört zur griechischen Besiedlungj im Gegensatz zu den anderen Kabiren-Heiligtümern gewann es überlokale Bedeutung. Man wusste von diesen Mysterien im 5. Jahrhundert in Athenj Herodot gibt zu verstehen, dass er eingeweiht war.71 Dichter und Historiker bauten die samothrakischen Traditionen in ihre Genealogien ein. Seine Glanzzeit erreichte das Heiligtum indessen erst unter Philipp von Makedonien und dann in hellenistischen Zeit, als die Insel ein Stützpunkt der Ptolemäer warj die "Nike von Samothrake" wurde im 2. Jahrhundert geweiht.n Die "Götter von Samothrake" wurden im ganzen Mittelmeerbereich populär. Der Kult bestand bis in die Zeit Konstantins. Die Ausgrabungen haben von der Anlage des Heiligtums ein noch immer problematisches Bild ergeben. Am ältesten ist ein Felsaltar mit Aschenhaufen und Opfergruben. Später besteht ein sehr eigenartiger Bau, von den Ausgräbern "Anaktoron" genannt:73 Der Eingang ist an der westlichen Längsseitej an der linken, nördlichen Schmalseite befindet sich ein Allerheiligstes, das laut Inschrift nur Mysten betreten durftenj74 die östliche Längsseite entlang verliefen Sitzbänke.75 Es gibt einen weiteren ummauerten Bezirk mit Herdaltar, ein "Megaron",76 und einen "Neuen Tempel", der in einer Inschrift Hier6n schlechthin heißtj77 er hat am Nordeingang eine Säulen-Vorhalle wie ein Normaltempel, im Innern aber einen Herdaltar und am absidal gebildeten Südende eine Opfergrubej daneben ist nochmals ein großer, ummauerter Altarbezirk. Das im 2. Jahrhundert erbaute Theater daneben hat kaum kultische Funktion. Es gab ein Jahresfest, zu dem Festgesandte, theoroi, zusammenströmtenj78 doch konnte die persönliche Weihe, myesis, anscheinend auch zu anderem Termin bei
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45, 1925, 163 verwies auf hethitisch habiri "Freibeuter" , auch als Götter, doch die ugaritische Form zeigt den Anlaut c, der kaum zu k werden konnte, Hemberg 320 f. Karl Lehmann (Hrsg.), Samothrace 1958-1992 (unabgeschlossen); Otto Rubensohn, Die Mysterienheiligtümer von Eleusis und Samothrake, Bonn 1892; Hemberg 1950, 49-131, 303-317; GGR 670; Karl Kerenyi in: Geist und Werk, 1958, 125-138; eole 1984. Die wichtigsten Zeugnisse im Schol. Ap. Rh. 1,916, vgl. Jacoby zu FGrHist 546, 1; Mystenlisten bei eole 1984. Diod. 5,47,3; nichtgriechische Graffiti: Samothrace II 2, 8-19; 45-64. Hdt. 2,51; vgl. Aristoph. pax 277 f; Diagoras -+ VII 2 Anm. 36. Lippold 360. Hemberg 1950, 112-115, der 128,3 auf mesopotamische Tempel verweist. Revidierte Datierung des "Anaktoran" (frühkaiserzeitlich): eole 1984, 12 f. Samothrace II 1, 118-20 nt. 63 = LSS 75 a; Hemberg 1950, 112. Ein rundes Holzpodium, von Arthur D. Nock, AJA 43, 1941, 577-581, vgl. Hemberg 1950, 113, als Tanzplatz in Anspruch genommen, erwies sich als Rest eines Kalkofens. Von den Ausgräbern "Temenos" genannt; vgl. Lykosura -+ VI 1 Anm. 37. Samothrace II 1, 117 f nt. 62 = LSS 73; Samothrace III: The Hieran, 1969. Hemberg 1950, 126-128.
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einem gelegentlichen Besuch erlangt werden. Wie in Eleusis gab es neben den mystai auch epoptai, die zum zweiten Mal "schauend" dabei waren. Von der Einweihung sind drei merkwürdige Einzelheiten bekannt: Der Priester fragt den Initianden, "was das Schlimmste sei, das er in seinem Leben begangen habe";79 dies scheint weniger "Beichte" zu sein als Begründung unverbrüchlicher Gemeinschaft durch Mitwisserschaft. Sodann binden sich die Geweihten eine Purpurbinde um den Unterleib;80 dies setzt Entkleidung und wohl ein Bad voraus; dem entspreche, heißt es, wie Odysseus seine Kleider im Seesturm wegwarf und mit dem Schleier der Leukothea ins Meer sprang, das ihm nun nichts mehr anhaben konnte. Schließlich tragen die Geweihten fortan Eisenringe. 81 Ein Widderopfer muss im Kult eine große Rolle gespielt haben. 82 Die Weihe fand in der Nacht statt. 83 Das besondere Geheimnis der Götter von Samothrake ist, dass sie keinen oder nur einen streng geheimgehaltenen Namen hatten. Auch die Weihungen im Heiligtum gelten einfach den "Göttern", theoi. Ein AutorB4 nennt die Namen Axieros, Axiokersos, Axiokersa und "übersetzt" sie als Demeter, Hades, Persephone; aber wenn Varro 85 die Kapitolinische Trias Jupiter, Juno, Minerva in Samothrake wiederfindet, gibt er offenbar seine "Übersetzung" derselben Dreiheit. Eine Große Göttin von Samothrake ließ sich auch mit Meter identifizieren; ein Kybele-Typ erscheint auf samothrakischen Münzen. Bezeugt sind ferner Kulte von Aphrodite und Hekate. 86 Wohl bekannt ist ferner ein jugendlicher, dienender Gott, Kasmilos oder Kadmilos, mit "Hermes" übersetztY An den Toren des Anaktoron standen Bronzebilder von zwei ithyphallischen "Hermen".88 Herodot leitet darum die ithyphallischen Hermen überhaupt von den Samothrakischen Mysterien her und behauptet, es gebe darüber einen hieros logos, "was in den Mysterien von Samothrake verdeutlicht" sei; ein solcher
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Plut. Lac.apophth. 217D; 229D; 236D; vgl. die Rhampsinit-Geschichte Hdt. 2,121 e 2. Schol. Ap. Rh. 1,916b. ~ V 3 Anm. 229. Lucr. 6,1044; Plin. n.h. 33,23; Isidor Et. 19,32,5; EM s.v. "Magnetis". Etliche Exemplare sind durch die Ausgrabungen zutage gekommen. Vgl. die Weihekrieger der Chatten, Tac. Germ. 31. Widder und Hermesstab auf Münzen, Head 1911, 263; Hemberg 1950, 102. Val. Flacc. Arg. 2,440 f. Mnaseas Schol. Ap. Rh. 1,916b; man stellt dazu Hsch. kerses: gdmos und kersai: gamesai; von "Deme· ter und Kore" spricht Artemidor bei Strab. 4,4,6 p. 198. Willkürlich postuliert Hemberg 1950, 88 nach dem Schema "Dioscures au service d'une deesse" (--+ IV 5 Anm. 44), Axieros müsse männlich sein. Wahrscheinlich sind die drei Samothrakischen Gottheiten, zusammen mit dem Hermesstab (Kadmilos), in den Büsten des Haterier-Grabs (Rom, Vatikan) dargestellt (Kopien von Giebelfiguren aus Samothrake?), Ugo Bianchi, The Greek Mysteries, Leiden 1976, 30 f, Abb. 58. Varro bei Macr. Sat. 3,4,8; Aug. civ. 7,28; vgl. Servo Aen. 3,12; 264; 8,679; Prob. Ecl. 6,31; dagegen Caelum et Terra als Götter von Samothrake, Varro ling.Lat. 5,58; Hemberg 1950, 91; Kerenyi in: Studi Funaioli, 1955, 157-162. Hemberg 1950, 82, 69, 84 f; Lykophr. 77; Schol. Nik. Ther. 462. Akusilaos FGrHist 2 F 20; Kallim. Fr. 199; 723; Mnaseas --+ Anm. 84; Inschrift von Imbros IG XII 8,74. Varro ling.Lat. 5,58; der Naassener bei Hippol. Ref. 5,8,9 f.
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logos existiere nicht, versichert dagegen der Lokalhistoriker Demetrios von Skepsis. 89 Wir finden jedoch die Andeutung einer mythologischen Erklärung: Hermes habe "Persephone gesehen" und sei daher in diesen Erregungszustand geraten.90 Dies kann ein Hinweis auf das Geschehen im Anaktoron sein, der eine Beziehung zu Eleusis herstellt. Die von Herodot und Hippolytos angeregten phallischen Phantasien der Modernen haben im Übrigen durch die Ausgrabungen keine Bestätigung erfahren. Entziehen die Götter von Samothrake sich der mythologischen Gestaltung, so gibt es doch eine allgemein bekannte Heroen-Mythologie von Samothrake:91 Herrin von Samothrake ist die Atlas-Tochter Elektra oder Elektryone - ein Name, der gemeinhin als die "Strahlende" verstanden wurde; sie gebiert dem Zeus Dardanos, Eetion und Harmonia. Harmonia feiert auf Samothrake mit Kadmos von Theben Hochzeit - dessen Name merkwürdig an Kadmilos anklingt; im Fest von Samothrake wird Harmonia "gesucht",92 was einen Mythos ähnlich dem Koreraub voraussetzt. Eigenartiger ist das Schicksal der Brüder: Eetion wird gleichgesetzt mit lasion, der Demeter begattete und vom Blitz des Zeus getötet wurde;93 die "heilige Hochzeit" mit tödlichem Ausgang wie im Bereich von lStar und Meter dürfte auf geheime Opferriten weisen. Es heißt aber auch, dass Dardanos den Bruder ermordet habe;94 jedenfalls flieht Dardanos von der heiligen Insel auf einem Floß, anlässlich einer Sintflut, wie meist hinzugefügt wird, er landet am Ida, wird zum Ahnherrn der Troianer und führt zugleich den Kult der Meter Idaie ein.95 Der Verbrecher wird zum Geretteten in der Flut: Dies erinnert an jene Frage bei der Einweihung, aber auch an die Rettung 89 90
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Hdt. 2,51,4; Strab. 10,34,20 p. 472. Demetrios bezieht sich auf Herodot, bestreitet also nicht generell den Begriff "Kabiren" für Samothrake. Aus Herodot auch Kallim. Fr. 199. Cic. n.d. 3,56; vgl. Servo auct. Aen. 4,577; 1,297. Fälschlich sieht Hemberg 1950, 93 im ithyphallisehen Hermes den Gatten der Heiligen Hochzeit; solche Figuren bleiben draußen, vgl. Satyrn im Gefolge von Dionysos und Ariadne oder Hermenfiguren am Bettpfosten (Apollodor FGrHist 244 F 129). Ob die ithyphallischen Figuren, die Hemberg 1950, 56 nach Kern, RE RE X 1425 "hervrorhebt", etwas mit den Mysteria zu tun haben, steht dahin. Jetzt bereits für Hesiod belegt, Fr. 177, vgl. "Arktinos", Hiu Persis Fr. 1 Bernabe ("fragmentum dubium" p.65 Davies) = Domitios FGrHist 433 F 10 = Dion. HaI. ant. 1,68; Hellanikos FGrHist 4 F 23; PR 1854-6; Hemberg 1950, 312-315. Ephoros FGrHist 70 F 120; Hemberg 1950, 91. Hes. Theog. 969-971; Od. 5,125; nach Samothrake verlegt Hes. Fr. 177; rationalisiert Hellanikos FGrHist 4 F 23; vgl. Skymnos 684 f; Diod. 5,47-49; Dion. HaI. ant. 1,61; vgl. auch AphroditeAnchises; Hemberg 1950, 89. Phyllis W. Lehmann, The pedimental sculptures of the Hieron in Samothrace, New York 1962, fand Aetion in den Giebelskulpturen des Hieron, was auf Ablehnung stieß. Servo Aen. 3,167, vgl. Clem. Protr. 2,19 über Korybanten und Kabiren, außerdem die RhampsinitGeschichte (--+ Anm. 34); Norbert Strosetzki, Kain und Romulus als Stadtgründer, F&F 29, 1955, 184-188. Nach kaiserzeitlichem Zeugnis wird in den Samothrakischen Mysterien Adamna verehrt, der als Urmensch interpretiert und zugleich mit Attis gleichgesetzt wird: der Naassener bei Hippol. Ref. 5,8,9; Attishymnos ibo 5,9,8; Thielko Wolbergs, Griechische religiöse Gedichte der ersten nachchristlichen Jahrhunderte, Meisenheim 1971, 8,70 f; der Name wird phrygisch als "der Geliebte" gedeutet, Hsch. Adamnein; Wolfgang Fauth, IF 82, 1977, 80 f. Flut: Lykophr. 69-85; Plat. Leg. 682b; 702a; Schol. AT H. 20,215-216 Erbse; Meter: Diod. 5,49; vgl. Ephoros FGrHist 70 F 104.
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des Odysseus durch Floß und Schleier. Es heißt aber auch, auf Samothrake erzähle man gar nicht von "Dardanos", sondern von Polyarkes, dem "Starken", Geschützten und Schützenden, und Elektra werde dort Strategls "Herführerin" genannt.96 So führt auch der Heroenmythos .auf Vieldeutigkeiten. Eines aber bewirken die Mysterien von Samothrake nach allgemeiner Überzeugung: Rettung in Seenot, Erfolg auf dem Meer. Davon kündeten die schon im 5. Jahrhundert so zahlreichen Votivgaben;97 die Nike von Samothrake feiert einen Seesieg. Der Mythos lässt bereits die Argonauten die samothrakischen Weihen empfangen.98 Von Jenseitshoffnungen verlautet nichts. Das nichtgriechische Element der samothrakischen Mysterien andernorts anzuknüpfen, ist nicht mit Sicherheit möglich. Kadmilos-Kasmilos wurde schon im Altertum mit dem altlateinischen Wort für den Knaben als Opferdiener, camillus, gleichgesetzt;99 die Übereinstimmung ist frappant, es liegt nahe, an Etrusker als Vermittler zu denken; doch verlautet nichts von "Tyrrhenern" auf Samothrake. Man hat Kasmilos auch mit einem hethitischen oder protohattischen Personennamen zusammengestellt. lOo Der Dardanos-Mythos behauptet Ähnlichkeit mit kleinasiatischen Meter-Mysterien; die Parallele zum Dioskurenmythos - die verschwundene Schwester, der sterbende Bruder - würde sich dazu fügen. IOI Aber auch von "Kyrbanten" und "Daktylen" auf Samothrake ist die Rede,102 zudem taucht ein namengebender "Saos" auf,103 dessen Name für Griechen nach "Rettung" klingt. Die Rätsel häufen sich.
1.4 Eleusis Die Mysterien von Eleusis sind der bestdokumentierte griechische Kult, ob man nun auf die Baugeschichte des Heiligtums, die Prosopographie der Priester, die Sakralgesetze, die Ikonographie oder die Widerspiegelung in der Literatur blickt.104 Vom ältes96 97 98 99 100 101 102 103
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SchoL Ap.Rhod. 1, 916-918a, mit Verwendung von Hellanikos FGrHist 4 F 23; überliefert Pol,drche als Akkusativ, verb. Wilamowitz. -+ VII 2 Anm. 36. Ap.Rh. 1,915-921; VaL Flacc. Arg. 2,432-442. Hemberg 1950, 316 f; Latte 1960,407 f; Giampiera Arrigoni, Camilla Amazzone e sacerdotessa di Diana, Mailand 1982. Kadmilos-Hasamili Hemberg 1950, 129; 316 f. -+ IV 5 Anm. 44. "Dioskuren" auf Samothrake: Nigidius Fr. 91 Swoboda. Pherekydes FGrHist 3 F 48; Ephoros FGrHist 70 F 104; Hemberg 1950, 303-305. Sohn des Hermes und der Rhene (die den "Widder" im Namen führt), SchoL Ap. Rh. 1,916b, zu Arist. Fr. 579 Rose; assoziiert mit den römischen "Saliern", Kritolaos FGrHist 823 F 1; Servo auct. Aen.8,285. CGS III 127-198; Paul F. Foucart, Les mysteres d'Eleusis, Paris 1914; Kern, RE XVI 1211-1263; AF 69-91; GGR 653-667; Kerenyi 1962 und 1967; HN 274-327; Graf 1974; Alberto Bernabe in: Francesc Casadesus Bordoy, Sectes, ritus i relgions dei mon antic, Palma de Mallorca 2002, 133-157;
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ten Zeugnis, dem eleusinischen Zentralteil des homerischen Demeterhymnus, bis zu dem Verbot des Kults durch Theodosius und der Zerstörung des Heiligtums durch die Goten um 400 n. Chr. überblicken wir tausend Jahre, in denen dieser Kult Menschen aus ganz Griechenland, dann aus dem ganzen Römerreich anzog und ihnen, wie immer wieder versichert wird, Glück und Trost gespendet hat. Das besondere Alter und die unberührbare Reinheit des Kults macht, nach Diodor,105 den Ruhm von Eleusis aus; die einzigartige Stellung Athens in Literatur und Philosophie der Griechen war es, die diesen Ruhm zu allen Griechen trug. Das Geheimnis, das alljährlich Tausenden zugänglich war, ist oft genug profaniert worden; doch die uns zugänglichen Quellen, ob Bilder oder Texte, halten sich an die Spielregel des Geheimnisses, die nur Andeutungen zulässt. Dass Demeter in Eleusis ihre Tochter wiederfand, ist die mythische Umkleidung des Mysteriengeschehens. Nur Christen haben die Spielregel verletzt. Clemens von Alexandrien teilt das "Erkennungswort" (synthema) der eleusinischen Mysten mit, ein Gnostiker hat einen Ruf des Hierophanten aufgezeichnet und nennt, was als Höhepunkt der Feier "gezeigt" wurde: eine geschnittene Ähre. An seinem Zeugnis zu zweifeln, besteht kein Anlass~lo6
Die Mysterienfeier lag in den Händen zweier Familien, der Eumolpiden, die den Hierophanten, und der Keryken, die den "Fackelhalter", daduchos, und den "Opferherold", hierokeryx, steHen; dazu kommt eine Demeterpriesterin, die dauernd im Heiligtum wohnt. Der erste eigentliche Weihes aal, Telesterion, wurde an Stelle eines tempelartigen Baus aus Solonischer Epoche in der Zeit des Peisistratos oder kurz danach gebaut; Reste der früheren Kulte sind undeutlich. Die Einweihung, myesis,107 war ein individueller Akt; die meisten, aber nicht alle Athener waren geweiht; Frauen, Sklaven, Fremde waren zugelassen. Der erste Teil der Weihe konnte anscheinend zu verschiedenen Zeiten stattfinden, in Eleusis selbst oder in der Filiale in der Stadt Athen, dem "Eleusinion" oberhalb der Agora. Der erste Akt war ein Ferkelopfer; jeder Myste hatte sein Ferkel mitzubringen; nach einer Schilderung badet der Myste zusammen mit dem Ferkel im Meer. IOB Er gibt das Tier "an seiner Statt" in den Tod; der Mythos assoziiert den Tod des Schweins mit dem Versinken der Kore in der Erde, ähnlich wie bei den Thesmophoria. 109 Es folgt eine Reinigungszeremonie, die der homerische Hymnus Demeter selbst beispielhaft vollziehen lässt: Ohne ein Wort zu sprechen, setzt sie sich auf einen Sche-
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ThesCRA II 92-96. Zum Demeterhymnus Richardson 1974; zur Prosopographie Clinton 1974; Inschriften Clinton 2005; zur Ikonographie Heinz G. Pringsheim, Archäologische Beiträge zur Geschichte des eleusinischen Kults, 1905; Clinton 1992; zu den Ausgrabungen Ferdinand Noack, Eleusis, die baugeschichtliche Entwicklung des Heiligtums, Berlin 1927; Mylonas 1961. Diod. 5,4,4. Clem. Protr. 2,21,2; Hippol. ref. 5,8,39 f; HN 275-283. HN 283-294. Plut. Phok. 28,6. --+ V 2 Anm. 134-141.
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mel, über den ein Widderfell gebreitet ist, und verhüllt sich das Haupt. Dem entsprechen Reliefs, die Herakles bei der Weihe zeigen, verhüllt, auf dem Widderfell sitzend, während einmal eine Getreideschwinge über ihn gehalten, das andere Mal eine Fackel von unten ganz nah an ihn herangeführt wird. llo Als "Reinigung durch Luft und Feuer" wird dergleichen in der Antike interpretiert, was im Erleben des blinden Mysten als Bedrohung erlebt werden muss. Es folgt auf den Reliefs die Begegnung mit Demeter, Kore und der kiste; dies deutet wohl auf das eigentliche Fest: "Solange du nicht bis zum Anaktoron gelangt bist, bist du nicht geweiht".11l Über die Stufen der vollzogenen Weihe gibt das synthema Auskunft,112 verhüllend, so dass nur der Geweihte dem Geweihten zu verstehen gibt, dass er alles Vorgeschriebene erfüllt hat: "Ich habe gefastet, ich habe den Kykeon getrunken, ich nahm aus der kiste, werkte, legte zurück in den Korb (kdlathos) und aus dem Korb in die kiste." Clemens selbst wusste keine näheren Angaben zu machen, meint allerdings, es müsse sich um Obszönes handeln; so rät man meist auf Genitalsymbole in kdlathos und kiste. Doch eine Andeutung bei Theophrast,113 wonach die frühen Menschen die "Werkzeuge" des Getreide-Schrotens "verbargen und ihnen als etwas Heiligem gegenübertraten", führt auf die Vermutung, dass Mörser und Mörserkeule zu den "geheimen Dingen" gehörten, die Werkzeuge zur Herstellung des kyke6n: Dies ist ein Gerstentrank,'ceine Art Graupensuppe, mit einem bestimmten Kraut gewürzt; dies ist die Art, sich Demeters Gabe anzueignen. Es gab daneben eine in Worten vollzogene "Überlieferung" (parddosis) der Weihen, Erklärungen wohl mythischer Form, von denen wir nichts weiter erfahren; das wichtige freilich, meinte Aristoteles,114 sei nicht ein "Lernen", sondern ein "Erleiden", eine Einstimmung durch das, was geschieht. Das eigentliche Mysterienfest hat seinen festen Platz im Kalender im Herbstmonat Boedromion. Äußerliches Hauptereignis ist die große Prozession von Athen nach Eleusis auf der "Heiligen Straße" über 30 km weit am 19. Boedromion und die folgende Nachtfeier. ll5 Zuvor waren am 14. des Monats von den Epheben "die Heiligtümer" von Eleusis nach Athen ins Eleusinion gebracht worden. Der Hierophant leitete die Festperiode mit dem ,,vorspruch" (pr6rrhesis) ein,116 der alle die drohend hinweg110 Hymn. Dem. 192-211; Ostothek von Torrenova, AF T. 7, 1; Kerenyi 1962 T. 7; Mylonas fig. 84; Lovatelli-Urne, AF T. 7, 2; OOR T. 43, 2; Kerenyi 1962 T. 8-11; HN 295-297; ThesCRA II 94. 111 Max. Tyr. 39,3k. 112 Clem. Protr. 2,21,2; HN 297-302. 113 Theophrast bei Porph. abst. 2,6 = Fr.584A Fortenbaugh; Armand Delatte, Le Cyceon, Bull. Ac. de Belgique, CL d. Lettr. V 40, 1954,690-751; HN 301. - Erfolg hatte zuvor die Vermutung von Alfred Kärte, die kiste enthalte einen Frauenschoß, mit dem der Myste die "Wiedergeburt" vollziehe, ARW 18, 1915, 116-26; Kern, RE XVI 1239; doch das Quellenzeugnis, Theodoret Oraec. aff. eur. 3,84, bezieht sich auf die Thesmophoria, vgL 7,11; HN 299,21. -+ V 2 Anm. 156. 114 Arist. Fr. 15. - VI 1 Anm. 12. 115 10 lI/lIF 1078 = SI()3 885 = LSCO 8; AF f. 116 Tzetzes, Aristoph. Ran. 369; Isokr. 4,157; Orig. Cels 3,59; Theon Smyrn. p. 14,23 Hiller; Sueton Nero 34; Libanios decl. 13,19; 52.
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weist, "die nicht rein an Händen sind oder eine unverständliche Sprache sprechen". Nach allgemeiner Auffassung waren damit Mörder und Barbaren ausgeschlossen. Bezeichnend für die archaische Ausprägung ist, dass von Reinheit des Herzens nicht die Rede ist. Am 16. zogen die Mysten gemeinsam "zum Meer" an der Bucht von Phaleron, um sich durch ein Bad zu reinigen. Am 18. blieben sie zu Hause. Der Zug, der sich dann nach Eleusis in Bewegung setzt, das "Heilige" geleitend, das Priesterinnen in verschlossenen kistai tragen, ist tänzerisch, fast ekstatisch bewegt; iakch' 0 iakche, dieser rhythmische Ruf erschallt und gliedert die Bewegung der Massen. Man hört den Namen eines göttlichen Wesens aus dem Ruf, Iakchos, ein daimon der Demeter, wie man dann sagte, oder vielmehr ein Beiname des Dionysos, wie viele meinten. Man schwingt dazu Zweigbündel, die bdkchoi heißen. Als im Jahr 480 die Perser das Festland erobert hatten, wurde ein Grieche Zeuge des Wunders, dass eine Staubwolke wie von 30 000 Menschen, aus der der Iakchos-Ruf ertönte, von Eleusis ausging und zum Griechenheer nach Salamis entschwand: ll7 das vom Krieg verhinderte Fest feiert sich gleichsam selbst, und von ihm kommt Kraft und Sieg Athens. An der Grenze des athenischen und des eleusinischen Gebiets gibt es kleine flüsschen; an einer der Brücken wurde eine Groteske gespielt: Vermummte hänselten die Mysten mit Spott und obszönen Gesten. So hat im Mythos Iambe oder Baubo Demeter erheitert.lls Das Fasten der Mysten wurde gebrochen, sobald die Sterne sichtbar wurden,1l9 die zum 20. Tag gerechnete Nacht begann. Inzwischen war man am Heiligtum angekommen. Der Tempel von Artemis und Poseidon,lZo Opfer altäre, ein "Brunnen der schönen Tänze" (Kallichoron) waren noch allgemein zugänglich; dahinter war das Tor zu dem Bezirk, den bei Todesstrafe kein Ungeweihter betreten durfte. Den Mysten standen die Tore offen. Wir wissen, dass hinter dem Eingang zunächst eine Grotte liegt - kein besonderes Naturwunder, kaum der Ausgangspunkt des ganzen Kults; sie war dem Pluton geweiht;l2l so war man dem Eingang zur Unterwelt nahe. Der eigentlichen Feier diente das Telesterion, ein einzigartiger Bau: Während der gewöhnliche Tempel auf Fassade gebaut ist und im Innern nur dem Kultbild Platz bietet, ist das Telesterion als Innenraum für mehrere Tausend Menschen geschaffen, die hier "schauten", wie der Hierophant das "Heilige zeigte". Man unterschied zwei Klassen der Feiernden, die "Mysten", die zum erstenmal teilnahmen, und die epoptai, "Zuschauer", die mindestens zum zweiten Mal anwesend waren. 122 Sie sahen, was die Mysten nicht sahen; wahrscheinlich hatten diese sich in bestimmten Phasen der Feier zu verhüllen. Jeder Myste hatte seinen "Mystagogen", der ihn ins
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Hdt. 8,65. Graf 1974, 46-69; HN 307 f. HN 307. Ov. fast. 4,536. Mylonas 1961, 167 f. Clinton 1992, 14-27 vermutet hier den "Fels ohne Lachen" (agelastos petra), auf dem Demeter saß (ApolIod. 1,30). 122 HN 292,1; 303 f.
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Heiligtum geleitete. 123 Im Zentrum war das Anaktoron, ein länglicher, quaderförmiger Steinbau mit einer Tür am Ende der einen Längswand; daneben stand der Thron des Hierophanten; der Hierophant allein durfte auch durch die Tür ins Innere dieses Baus gehen. Das Anaktoron blieb in den verschiedenen Bauphasen des Telesterion unverrückt; ein Stück natürlichen Felsens stand im Innern anY4 Einen eigentlichen Eingang in die Unterwelt, die Darstellung einer Unterweltfahrt gab es nicht. Auf dem Anaktoron brannte offenbar das große Feuer, "unter dem" der Hierophant seines Amtes waltete. Das Dach des Telesterion hatte dementsprechend eine Art Laterne, opaion, für den Rauchabzug. Insofern kann man das Anaktoron dem Typ der "Altäre mit Grubenkammern" zuordnen;125 auch der Herd im "Megaron" von Lykosura lässt sich vergleichen.126 Vor den Solonischen bzw. Peisistratischen Bauten wurden die Mysterien wohl auch in Eleusis um ein Feuer unter freiem Himmel gefeiert. Dunkel umfing die Menge im Mysteriensaal, während die Priester bei Fackelschein agierten; Furchtbares, Angsterregendes wurde dargestellt, bis dann ein "großes Licht" aufleuchtete, "wenn das Anaktoron geöffnet wurde", der Hierophant "aus dem Anaktoron heraus erschien in den strahlenden Mysteriennächten".127 Wir kennen nicht den eigentlichen Ablauf und haben Mühe, die verschiedenen Hinweise zu koordinieren. Wurde eine "Heilige Hochzeit" von Hierophant und Priesterin angedeutet?128 Im Mythos legt Demeter den Sohn des Königs von Eleusis ins Feuer des Herdes, so dass die entsetzte Mutter meint, das Kind verbrenne, während doch die Göttin ihm Unsterblichkeit verleihen will. 129 Man möchte damit assoziieren, dass im Ritual jeweils ein "Knabe vom Herd her" geweiht wurde, was als besondere Auszeichnung galtYo Nilssons Versuch, in einem stark zerstörten Relief die Darstellung einer Feuerweihe zu erkennen, ist nicht haltbar. l3l Nicht der Schrecken, sondern die Verheißungen mussten das Wort behalten. Das Beglückende erscheint in dreifacher Form: Der Myste "sieht Kore", die vom Hierophanten unter Gongschlägen "heraufgerufen" wird. 132 Die Unterwelt tut sich auf, der Schrecken schlägt um in die Freude der Wiedervereinigung. Der Hierophant verkündigt überdies eine göttliche Geburt: "einen heiligen Knaben hat die Herrin geboren, Brimo den Brimos"; und er zeigt schweigend die abgeschnittene Ähre vor. 133 Wer das Kind war, wer die Mutter, scheint unterschiedlich gedeutet worden zu sein: Iak123 124 125 126 127 128 129 130 131 132
LSS 15. Mylonas 1961, 83-88; 120 f; HN 304 f; Gerda Bruns, Umbaute Gätterfelsen, JdI75, 1960, 100-111. Franz Studniczka, Altäre mit Grubenkammern, OeJH 6, 1903, 123-186; 7, 1904,239-244. ---> VII Anm. 37; 77. Plut. prof. virt. 81E; Epigramm IG ll/lII' 3811. AF 84 f; HN 313. Hymn. Dem. 239-291; Richardson z.d.St.; HN 309-311. Inschriften und Statuen HN 309 f; Clinton 1974,98-114. GGR T. 44, 2 und Nilsson 1952, ll624-627. Apollodor FGrHist 244 F 110; Walter F. Otto, Eranos.Jahrbuch 7, 1939, 83-112 ~ Die Gestalt und das Sein, 1955,313-337; HN 315. 133 Hippol. Ref. 5,8,40; 39; HN 318; 320 f.
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chos-Dionysos, Sohn der Persephone, oder Plutos, der Sohn der Demeter? Plutos, der "Reichtum", ist recht eigentlich der Ertrag der Getreideernte, der Armut und Hunger bannt. Vasenbilder des 4. Jahrhunderts zeigen zwischen den Eleusinischen Gottheiten den Plutosknaben mit seinem Füllhorn, einmal auch umgeben von aufsprießenden Ähren. I34 So kann man Kind und Ähre zusammen sehen; der "geschnittenen", "gemähten" Ähre gilt freilich noch eine andere Assoziation, als sei das "Schneiden" ein Akt der Kastration. Wachsen, Blühen und Gedeihen ist jäh zu Ende mit dem Schnitt; und doch liegt in der geschnittenen Ähre die Kraft zu neuem Leben. Weitere festliche Begehungen umrahmen die Mysterienfeier, Tänze, ein großes Stieropfer, das die Epheben im "Hof" des Heiligtums vollziehen, sicher mit reichlicher Mahlzeit verbunden wie in Andania,135 zuletzt das Ausgießen zweier Gefäße, des einen nach Westen, des anderen nach Osten; man ruft dabei zum Himmel gewandt "regne", zur Erde gewandt "empfange", was im Griechischen einen magischen Reim ergibt: hye-kye. I36 Tanzte man über das "Rharische Feld", wo der Mythos das erste Getreide wachsen lässt? Was bei den Stammesmysterien und auch den Großen Göttern von Samothrake allenfalls unausgesprochen mit eingeschlossen ist, das wird in Eleusis zum eigentlichen, universalen Anspruch: Die Mysterien vermitteln, indem sie dem Tod den Schrecken nehmen, ein besseres Los im Jenseits. "Selig, wer dies gesehen hat unter den irdischen Menschen; wer aber ungeweiht im Heiligen ist, wer nicht teil hat, der hat niemals gleiches Los im Tode, unter dem modrigen Dunkel", heißt es im Demeterhymnus;I37 "Selig, wer jenes geschaut hat und so unter die Erde geht; er kennt das Ende des Lebens, er kennt den von Zeus gegebenen Anfang", klingt es bei Pindar,I38 und bei Sophokles: I39 "Dreimal selig sind jene Sterblichen, die diese Weihen geschaut haben und so in den Hades kommen; für sie allein gibt es dort Leben; für die anderen hat er alles Unheil"; Isokrates I40 gab die Prosaformulierung, dass der Myste "für das Ende des Lebens und für die ganze Ewigkeit erfreulichere Hoffnungen" habe. Schlicht, aber eindrücklich klingt es noch aus einer kaiserzeitlichen Grabinschrift: Der Myste gedenkt des Hierophanten, der den Menschen zeigte, "dass der Tod nicht ein Übel sei, sondern etwas Gutes".I4I Das "Dreimal selig" wird in der eleusinischen Liturgie erklungen sein;I4Z worauf 134 HN 319,73; vg\. AF 86; Clinton 1992, 49-55; 92-94; er betont, dass Plutos als Knabe, nicht als Neugeborener erscheint: fig. 3, 20/1, 22/23, 25. Doch auf einer Loutrophoros in Malibu ist der Knabe mit Füllhorn und Ähren als Eniautos (Jahr) angeschrieben, Clinton fig. 4a. 135 HN 322. -+ VI 1 Anm. 31. 136 Hippo\. ref. 5,7,34; Prokl. Tim. III 176,28; HN 323. 137 Hymn. Dem. 480-482. 138 Pind. Fr. 137a. 139 Soph. Fr. 837 Radt, vermutlich aus Triptolemos. 140 Isokr. 4,28. 141 IG lI/lII' 3661 = Peek 879. 142 Eduard Norden, Agnostos Theos, Leipzig 1913, 100,1; Gustav Dirichlet, De veterum macarismis, Gießen 1914, 62-64; vg\. Zuntz 1971. 342 f zu den Goldblättchen (Graf/Johnston 2007).
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seine Überzeugungskraft beruhte, bleibt Geheimnis. Wenn es eine Lehre oder einen Mythos gab, der diesen Glauben stärkre, so ist dies verloren. Die in der Literatur erscheinenden Bilder vom glücklichen Jenseits, vom "Symposion der h6sioi", von der milden Sonne in der Unterw~lt, sind kaum spezifisch eleusinische Überlieferung,143 sondern unmaßgebliche Ausmalung in Erzählungen und Dichtungen verschiedenen Niveaus. Daneben steht die von Athen geflissentlich verbreitete Tradition von der Stiftung des Getreides und damit der Kultur überhaupt durch Demeter in Eleusis;144 die Bilder von Triptolemos, der auf seinem Flügelwagen Demeters Gabe in der ganzen Welt verbreitet, setzen in der Mitte des 6. Jahrhunderts ein;145 man zieht sogar die Konsequenz, von der ganzen Welt "Erstlings opfer" für Eleusis zu fordern;146 so wird die Bedeutung von Eleusis ins Diesseits transponiert und doch damit keineswegs ausgeschöpft. Man hat hinter dem Geheimnis unerhörte Rituale vermutet, Dramen, Orgien, Rauschmittel; gerade die Analogie des indoiranischen Soma-Haomafestes147 zeigt freilich, dass ein Ritual fortbestehen kann, wenn das zu vermutende ursprüngliche Psychopharmakon längst durch harmlose Substanzen ersetzt ist. Vielleicht hat die Mysteriennacht sich von einem östlichen Osterfest gar nicht so sehr unterschieden. Bemerkenswerterweise ist nie in Zusammenhang mit Eleusis von "Unsterblichkeit" die Rede. Der Tod bleibt eine Realität; aber er ist kein absolutes Ende, sondern zugleich ein neuer Anfang, eine andere Art "Leben", jedenfalls "gut". Man hat auf das Wort aus dem Johannesevangelium verwiesen, dass das Weizenkorn sterben muss, um viele Frucht zu bringen. 148 "Denn von den Toten kommt die Nahrung und das Wachsen und die Samen".149 Die vom Hierophanten geschnittene und gezeigte Ähre kann in diesem Sinn verstanden werden. Euripides lässt angesichts des Todes eines Kindes die Worte sprechen: 150 "man begräbt die Kinder, man gewinnt neue Kinder, man stirbt selbst: da nehmen es die Menschen schwer, wenn sie Erde zu Erde tragen. Notwendig ist's, das Leben zu ernten wie eine fruchttragende Ähre, und dass der eine ist, der andere nicht". Damit war doch wohl eine tiefere Schicht der Weltfrömmigkeit erreicht als in der vorsichtigen, in Gelübde und Opfer sich erschöpfenden eusebeia.
143 Graf 1974,94-125. 144 Graf 1974. 158-181. 145 Gerda Schwarz, Triptolemos. Ikonographie einer Agrar- und Mysteriengottheit, Graz 1987; LIMC VIII s.v. 146 IG I' 78. --+ Il2 Anm. 14. 147 --+ VI 1 Anm. 10. 148 Joh. 12,24; GGR 675. 149 Hippokr. viet. 4,92, VI 658 Littre. 150 Eur. Hypsipyle 922-927 (Fr. 757 Kannieht); vgl. Epiktet 2,6,13.
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2 Bacchika und Orphika 2.1 Bacchische Mysterien Der Kult des Dionysos bei den Griechen ist uraltjI und doch zeigt er sich in stetem Wandel begriffen. Nicht umsonst gehören Ausbruch und Umsturz zum Wesen des Gottes. Revolutionäre Neuerungen werden seit Mitte des 7. Jahrhunderts fassbar. Archilochos, der sich rühmt, wie er den Dithyrambos anzustimmen wisse, wird in der Legende mit der Einführung der Phallagogie für Dionysos verknüpft. 2 Fast explosions artig treten dann um 600 in der korinthischen Vasenmalerei burleske Szenen in dionysischer Atmosphäre auf, "Dicksteißtänzer", deren Vermummung groteske Nacktheit andeutet, bei Tanz, Weintrinken und allerlei Schabernack.3 Nach der Überlieferung hat damals in Korinth Arion den Dithyrambos "erfunden".4 Jedenfalls wurde durch den Tyrannen Kypselos, dem sein Sohn Periandros folgte, der Familienclan der Bacchiaden gestürzt, die sich auf Dionysos als Stammvater zurückführten. 5 Anscheinend trat eine neue, volkstümliche, auf das Handwerkermilieu abgestellte Form an Stelle eines alten, gentilizischen Dionysoskults. Fast gleichzeitig hat der Tyrann Kleisthenes in Sikyon den Dionysoskult auf Kosten des hergebrachten Adrastos-Kults ausgestaltetj 6 die athenischen Neuerungen der Tyrannenzeit folgen, die Stiftung der Großen Dionysia mit dem Dithyrambos, dann die tragodoi des Thespis und die sdryroi des Pratinas von Phleius, "Tragödie" und "Satyrspiel".7 Um 530/20 erreicht in der attischen Vasenmalerei die Ikonographie des Dionysischen Thiasos mit Satyrn und Mänaden ihre feste, kanonische Formj 8 Dithyrambos und Tragödie werden in neuem Maße literarisch. Alt sind wohl auch Bünde von "rasenden" Frauen, Mänaden, Thyiaden, auch wenn direkte Dokumente erst aus späterer Zeit vorliegen.9 Sie brechen aus der Enge des Frauengemachs und ziehen "zum Berg". Fixiert bleiben die soziale Rolle und der kalendarische Termin: "die Frauen" der Stadt "rasen" zur vorgegebenen Zeit des Festes,
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--+ III 1.10. Archilochos Fr. 120 West; Inschrift von Paros, SEG 15, 517, E, II 16-57; Giovanni Tarditi, Archilochus, Rom 1968, 6 f, vg1. Fr. 251 West; HN 83. --+ III 1 Anm. 403. Humfry Payne, Necrocorinthia, Oxford 1931, 118-124; Pickard-Cambridge 1962, 117 f, 167-174; Axel Seeberg, Corinthian Komos Vases, BICS Supp1. 27, 1971. Es gibt Ähnliches in ionischer Vasenmalerei, bes. Chios. Pindar 01. 13,19; Hdt. 1,23; Hellanikos FGrHist 4 F 86; Arist. Fr. 677; Giorgio Ierano, Il ditirambo di dioniso. Le testimonianze antiche, Pisa 1997. Pap. Ox. 2465 fr. 3 II; Gnomon 35, 1963, 454. Hdt.5,67. --+ III 1 Anm. 403; Pickard-Cambridge 1962 und 1968; Lesky 1971, 260-70; Ralf Krumeich/Ruth Bielfeldt (Hrsg.), Das griechische Satyrspiel, Darmstadt 1999, 74-80. --+ III 1 Anm. 426/7. --+ III 1 Anm. 428.
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2 Bacchika und Orphika
am Jahresfest der Agrionia oder Lenaia10 - manche Kalender enthalten auch einen Monat Thyiosll -, oder alle zwei Jahre beim "trieterischen" Fest. Wahre Ekstase freilich ist nicht manipulierbar: ,,viele sind Narthexträger, aber wenige sind Bacchen"Y Dionysos ist der Gott der Ausnahme: Es gibt mehr und mehr auch die Absonderung privater Gruppen von der Polis. Neben den dionysischen Polis-Festen entwickeln sich private Dionysos-MysterienP Sie sind esoterisch: Der Zugang erfolgt über eine individuelle Weihe, telete. Als Zeichen des Geheimnisvollen, Geschlossenen, Jenseitigen tritt die bakchische Grotte oder Höhle auf; meist finden sie zur Nachtzeit statt. Die Geschlechterrolle wird unwichtig, es gibt männliche wie weibliche Mysten. Im Gegensatz zu den Mysterien der Demeter und Großen Götter sind diese Mysterien nicht an ein fest errichtetes Heiligtum mit gentilizisch fixierter Priesterschaft gebunden; sie können an allen Orten auftreten und Anhänger finden. Soziologische Voraussetzung sind wandernde Priester, die sich auf eine von ihnen privat verwaltete Tradition der 6rgia berufen können. Die älteste Erwähnung von "Bacchen" und "Mysten" findet sich bei Heraklit; in die Mitte des 5. Jahrhunderts führt die Schilderung des Herodot vom hellenisierten Skythenkönig Skyles:14 er ließ sich auf eigenen Wunsch in der Griechenstadt Olbia "dem Dionysos Bakcheios einweihen" (telein), obgleich ein Zeichen ihn warnte, "als er im Begriffe stand, die Weihe (telete) sich übergeben zu lassen"; er "vollendete die Weihe" und zog als "Rasender" im Thiasos des Gottes mit. Skythen erspähten ihn dabei, und dies kostete ihn Thron und Leben. Die bakchischen Weihen erscheinen hier weder als spontanes Ergriffensein noch als öffentliches Fest; auf persönlichem Wunsch beruht die Zulassung, es gibt eine Vorbereitungszeit, eine "Übergabe", dann die Integration in die Gruppe der Geweihten. Ein Mann, ein Ausländer wird in Olbia geweiht. Herodot, der mit dieser Geschichte kaum verhüllt Kritik an einem Kult übt, den er kennt, verweist ausdrücklich auf Milet als Mutterstadt von Olbia. In Milet zeugt eine Inschrift des 3. Jahrhundertsl5 vom offenbar gleichen Kult des Dionysos Bakcheios. Männer und Frauen werden geweiht, doch werden die Weihen nach Geschlechtern getrennt von Priestern bzw. Priesterinnen vorgenommen. "Essen rohen Fleisches" (omophagion), im Mythos grausiger Höhepunkt dionysischen Rasens,
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-- III 1 Anm. 410-416; zu lenai und Lenaia AF 126. SamueI1972, Index; Trümpy 1997, Index. Plat. Phd. 69 C; OF 5; 235; OTF 576. GdH II 368-387; Andre J. Festugiere, Les mysteres de Dionysos, in: Etudes de religion grecque et hellenistique, 1972, 13-63; Nilsson 1957; Matz 1963; Association 1986; ThesCRA II 96-101. Zur "Höhle" Pierre Boyance, Rend. pontif. Ace. di Arch. 33, 1960/1, 107-127; Claude Berard, Melanges Paul Collart, Lausanne 1976, 61-73. Heraklit VS 22 B 14 ~ 87 Marcovich (zum Wortmagois Burkert 2003,115-117,126-129); Hdt. 4,7880; dazu die Graffiti von Olbia, -- VI 2.3. Abh. Berlin 1908, 22-25 ~ LSAM 48; Wilhelm Quandt, De Baccho in Asia Minore culto, Diss. Halle 1913, 171; Nilsson 1957, 6 f.
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wird erwähnt, doch in einer Weise, dass der konkrete Vollzug unklar bleibt. Auch oreibasia, der "Zug zum Berg", ist in Milet bezeugt. I6 Die Polis sichert sich in Milet den Vorrang, indem sie jeweils das erste Opfer darzubringen hat. Die Bakehai des Euripides orientieren sich am alten Mythos, wonach "die Frauen" der Stadt schlechthin vom Gott ergriffen werden. Und doch können auch Männer zum Berg ziehen, ja der Anführer des Thiasos ist ein Mann - wie der Zuschauer weiß: dies ist der Gott Dionysos in Person. Er rühmt sich, die 6rgia vom Gott persönlich erhalten zu haben; sein Amt ist es, sie zu "zeigen", weiterzugeben. Dieser Vorgang ist geheim; dem, der sich der bakeheia nicht stellt, darf nichts davon gesagt werden. Selbst der "Vorteil", der den Geweihten winkt, bleibt geheimY Die Feiern sind nächtlich. Hier überlagert sich also der Mythos vom Frauenaufstand mit der Praxis geheimer, geschlechtsindifferenter, auf Initiation beruhender Feiern. Zu diesen bacchischen Mysterien gehört die Seligpreisung, wie in Eleusis: ,,0 selig, wer, begnadet, die Weihen der Götter weiß".18 Die dionysische Weihe erfüllt sich in der Raserei, bakeheia; sie macht den Initianden zum bdkchos. Dieses Rasen ist Seligkeit, wie es vor allem das Einzugslied des Euripideischen Dramas mitreißend darstellt. Die Erde verwandelt sich in ein Paradies, Milch, Wein und Honig quellen aus dem Boden, Mänaden reichen einem Rehkitz die Brust; doch neben dem Paradiesischen steht mörderische Wildheit, die Rasenden werden zu unwiderstehlichen Jägern auf Tier und Mensch bis zur Zerstückelung, der "Wonne des Rohfleischessens".19 Durch die Kruste der verfeinerten Stadtkultur bricht ein Urquell vitaler Energie. Für Platon20 schließlich ist Dionysos der Herr des "telestischen" Wahnsinns, den er als eigene Gattung vom prophetischen, musischen und erotisch-philosophischen Wahnsinn unterscheidet. Durch "Reinigungen und Weihen", katharmoi, teletai, wirkt der Gott, schafft Erlösung von "Krankheit und größter Bedrängnis", die vielleicht auf Grund alter Schuld des Geschlechtes drohen. Man muss sich dem Wahnsinn hingeben und ergreifen lassen, um frei und gesund zu werden für die Gegenwart und alle Zukunft. Die Mysterien werden so zu einer Form individueller Therapie. Geduckt und verschreckt vom normalen Alltag, kann der Mensch sich entfalten und befreien von allem Drückenden.zr Die Raserei wird zur Gottesoffenbarung, Sinnzentrum im Kontrast zu einer mehr und mehr rationalen, entgötterten Welt. Dass die Ekstase ihr eigenes Gesetz hat, wenn auch Tanz und rhythmische Musik ihr besonders entgegenkommen, ist etwa bei Euripides durchaus deutlich. Freilich gehören zu Dionysos zwei besondere Reizmittel, die auch in dionysischen Geheim16 17 18 19 20 21
Albert Henrichs, ZPE 4, 1969,223-241; Changing Dionysiac Identities, in: Ben F. Meyer/Ed P. Sanders, Jewish and Christian Self-Definition III, Philadelphia 1982, 137-160. Eur. Bacch. 460-476; telete 22; 40; 465; 6rgia 34; 78; 482; katharmol 77. Hendrik Versnel, Lampas 9, 1976,4-81; Richard Seaford, CQ 31, 1981,252-275 und Euripides, Bacchae, 1996. Eur. Bacch. 72-77; vgl. Pindar Fr. DIa. Eur. Bacch. 139; LSAM 48,2 (-+ Anm. 15); Harpokr. nebrlzon (Rehe); Arnob. 5,19 (Ziegen). Plat. Phdr. 265b; 244de. Zum Therapie-Aspekt der teletal Hoessly 2001. Vgl. Aristid. Quint. 3,25 p. 158 Meibom.
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feiern nicht fehlen, Alkohol und sexuelle Erregung, Weintrinken und Phallos. Aufschlussreich sind zwei Komplexe in der hellenistischen Weiterentwicklung der bacchischen Mysterien, das Zerrbild der von Rom im Jahr 186 v. Chr. mit äußerster Härte unterdrückten Bacchanalia 22 und die großartigen Bilder der "Villa dei Misteri" bei Pompei,23 aus cäsarischer Zeit. Bei den Bacchanalia wurde behauptet, dass zur Weihe das "Erleiden" eines homosexuellen Aktes gehörte. Jener Bilderzyklus zeigt neben. dem Gott den großen, erigierten Phallos in einer Getreideschwinge; eine Frau ist dabei, ihn zu enthüllen; aber auch Rutenschläge sind zu "erleiden". Es fehlt nicht an ikonographischen Parallelen zu Einzelheiten in der frühen Kaiserzeit; was uns fehlt, sind zugehörige Texte. Die Formen der bakchischen Initiationen waren wohl von Gruppe zu Gruppe, von Zeit zu Zeit unterschiedlich, wobei die Variationsbreite von Landpartien mit Weingenuss bis zur existenziellen Lebenswende, von sublimer Symbolik bis zur handfesten "Orgie" reicht. Alte Formen der Pubertätsweihe scheinen weiterzuwirken, wenn es heißt, dass nur Frauen, nicht Jungfrauen Bakehai sein können;24 doch Ehepaare konnten sich gemeinsam weihen lassen; Plutarch war dionysischer Myste und konnte daraus Trost beim Tod eines Kindes schöpfen. 25 Dabei haben die "reineren" Formen der Religion im Allgemeinen mehr Chancen für langen Bestand als Orgien im modernen Sinn.
2.2 Bacchische Jenseitshoffnung Unerwartete Erweiterung unseres Wissens um bakchische Mysterien, ja direkte Dokumente von diesen brachten seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts Neufunde von Goldblättchen aus Gräbern in Unteritalien, Thessalien und Kreta. Einige Texte dieser Art waren seit langem bekannt und viel diskutiert;26 doch erst die neu gefun22 23
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Uv. 39,8-19; Andre J. Festugiere, Etudes (~Anm. 13) 89-109; Jean-Marie Pailler, Bacchanalia. La repression de 186 av. J.-C. a Rome et en Italie, Paris 1988; ThesCRA II 97. Aus den widerstreitenden Interpretationen seien genannt: Matz 1958; Reinhold Merkelbach, Roman und Mysterium, München 1962,48-50; Zuntz, Proc. Brit. Acad. 49, 1963, 177-201; Otto J. Brende!, JdI 81, 1966, 206-260; Margarete Bieber, AJA 77, 1973,453-456; Paul Veyne/Fran<;:ois Ussarague/Fran<;:oise Frontisi-Ducroux, Les Mysteres du gynecee, Bari 1998; Gilles Sauron, La grande fresque de la Villa des Mysteres a Pompei, Paris 1999; Turcan 2003. Diod. 4,3,3: bakeheia der Frauen - thyrsophorein der Jungfrauen. Plut. cons.ad ux. 611D. Die beste ältere Ausgabe war Alessandro Olivieri, Lamellae aureae Orphicae, Bonn 1915; nicht befriedigend VS 1 B 17-21 und OF 32; vgl. Gilbert Murray bei Harrison 1922, 659-673; Jan H. Wieten, De tribus laminis aureis, Diss. Leiden 1915; neuen Grund legte Zuntz 1971, 277-393, wurde aber durch die Neufunde sogleich überholt. Der Fund von Hipponion: Giovanni Pugliese Carratelli, PP 154/5, 1974, 108-126; die Funde von Pe!inna: Kyriakos Tsantsanoglou/George M. Parassoglou, Two Gold Lamellae from Thessaly, Hellenika 38, 1987,3-17. Gesamtausgaben: Giovanni Pugliese Carratelli, Le lamine d'oro "Orfiche", 2001; Bernabe/Jimenez 2001; OTF nr. 474-496; Graf/Johnston 2007. Siehe Fritz Graf, Dionysian and Orphic Eschatology, in: Thomas H. Carpen-
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denen bewiesen die Beziehung auf "Mysten" und "Bakchos": "Jetzt bist du gestorben und jetzt bis du geboren, dreimal Seliger, an diesem Tag. Sage der Persephone, dass Bakchios selbst dich gelöst hat."27 So beginnen Goldblättchen des 4. Jahrhunderts aus Pelinna in Thessalien. Der älteste und ausführlichste Text kommt aus HipponionVibo Valentia und ist durch ordentliche Ausgrabung auf etwa 400 v. Chr. datiert. Da heißt es: "Du wirst im Haus des Hades zur Rechten eine Quelle finden, bei ihr steht eine weiße Zypresse; hier kühlen sich, herabsteigend, die Seelen der Toten. Dieser Quelle komme nicht nahe! Weiter wirst du dann kühles Wasser finden, das vom See der Erinnerung fließt; Wächter sind darüber, die dich verständigen Sinns fragen werden, wozu du das Dunkel des finsteren Hades durchstreifst. Sprich: ,Ich bin ein Sohn der Erde und des gestirnten Himmels; aber von Durst bin ich ausgedörrt und vergehe: drum gebt mir rasch kühles Wasser, das vom See der Erinnerung fließt.' Und dann werden sie dem unterirdischen König ankündigen, und sie werden dir vom See der Erinnerung zu trinken geben. Und du gehst ja, wenn du getrunken hast, einen Weg, den auch andere, Mysten und Bacchen, den heiligen, ruhmvoll schreiten." Die letzten zwei Zeilen finden sich nur auf dem Blättchen aus Hipponion, während der Hauptteil, der Weg ins Jenseits, Quelle, Baum und See, die Szene vor den Wächtern auf mehreren anderen Exemplaren mit Varianten belegt ist. "Mysten und Bakchoi" ziehen einen "heiligen Weg", dessen Ziel ewige Seligkeit ist; Pindar spricht vom ;;Weg des Zeus".28 "Du wirst mit den anderen Heroen herrschen", heißt es in einem anderen Text, oder auch: "Geh ein in die heilige Wiese. Frei von Buße ist der Myste."29 Der Myste hat die Gewissheit: "Selig sind sie alle dadurch, dass ihnen die von Mühsal lösenden Weihen zuteil wurden" - so wiederum Pindar in einem Lied zur Totenfeier, das das selige Los der Frommen ausmalt. 30 Dem "heiligen Weg", den die Mysten ziehen, entspricht im Diesseits der gemeinsame Weg "zum Berg", die oreibasia; das Jenseits ist Iteration der Mysterien. Entsprechend lässt Aristophanes in den Fröschen den Mystenchor in der Unterwelt die Iakchos-Prozession auf der "Heiligen Straße" nach Eleusis weiterfeiern. 31 Auch bakehisehe Mysterien zeigen sich als Jenseits-Religion. Dass alle bakehisehen teletai ausschließlich oder auch nur vorzugsweise mit dem Jenseits zu tun haben, wäre trotzdem eine unzulässige Veral1-
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ter, Masks of Dionysus, lthaka 1993, 239-258; Emanuele Dettori, Testi "orfid" dalla Magna Greda al Mar Nero, pp 51, 1996, 292-310; Christoph Riedweg in: Graf 1998, 359-398; Burkert 2003a, 83-96; 2006, 21-61; Edmonds 2004. OTF 485/6 = Graf/Johnston fiT. 26 alb; Hipponion: OTF 474 = Graf/Johnston fiT. 1. Pind. 01. 2,70. Vom "mystischen Weg zu Rhadamanthys", d.h. ins Elysion spricht Poseidippos, JHS 83, 1963, 81 = SH 705,22; VII 14 hrsg. v. Bastiniani-Gallazzi. OTF 476,11 (Petelia) = Graf/Johnston fiT. 2; OTF 493 (Pherai) = Graf/Johnston fiT. 27. Pind. Fr. 131a; "Lösung" und "Mühsal" entspricht Plat. Phdr. 244de, -+ VI 2 Anm. 19; vgl. Platon Resp. 364b, -!> VI 2 Anm. 57, und Leg. 870de, -+ VI 2 Anm. 85, über teletai. Alberto Bernabe, Platone e l'orfismo, in: Giulia Sfameni Gasparro (Hrsg.), Destino e salvezza: Tra culti pagani e gnosi cristiana, Cosenza 1998, 37-97. Aristoph. Ran. 312-459; Graf 1974, 40-50; Ismene Lada-Richards, Initiating Dionysus, Oxford 1999.
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gemeinerung; von einheitlicher Organisation ist keine Rede. Die Weihen bleiben so vielgestaltig wie ihr Gott. Plastisch und rätselhaft zugleich ist die Szenerie der Unterwelt gezeichnet, die "weiße Zypresse" an der bedenklichen Quelle, die Frage der Wächter am kühlen Wasser, das Passwort, mit dem der Wissende kosmischen Status beansprucht: "Sohn von Himmel und Erde". Die Wächter am Wasser, Frage und Antwort haben frappante Parallelen im ägyptischen Totenbuch. 32 Der "Erinnerung" am See muss die Gefahr eines "Vergessens" entsprechen; es liegt nahe, dies mit der Quelle zu verbinden, vor der gewarnt wird: Dort "kühlen sich" andere Seelen. In Platons Mythos erscheint die "Ebene der Lethe", des ,,vergessens", wo die Seelen vor der Wiederverkörperung vom Fluss Ameles, "Gleichgültigkeit", trinken. 33 Wiederverkörperung scheint damit auch von den Goldblättchen-Texten vorausgesetzt. "Erinnerung" verbürgt das bessere Los. ,,wecke den Mysten die Erinnerung an die heilige Weihe", heißt es in einem späten orphischen Hymnus; "Vergessen" des bei der Weihe Geschauten lässt bei Platon die Seele in die Tiefe sinken. 34 "Erinnerung", "Gedächtnis" ist höchster Wert bei Pythagoreern. 35 Herodot berichtet, dass Ägypter Tote nicht in Woll-, sondern in Leinenkleidern bestatten, und bemerkt: "dies entspricht den sogenannten Orphikd und Bacchikd, die in Wahrheit ägyptisch und pythagoreisch sind".36 Die bakchische Kultvorschrift, die mit Tod und Begräbnis zu tun hat, wird damit zugleich unter den Namen "Orpheus" gestellt; dabei schreibt Herodot um 430 in Unteritalien, steht also auch durch Ort und Zeit dem Text von Hipponion nicht fern, der wie Herodot vom "Bakchischen" spricht; die Hinweise auf Ägyptisches und Pythagoreisches passen merkwürdig gut zu dem, was die Goldblättchen erkennen lassen. Längst bekannt ist die Inschrift aus einem Gräberbezirk von Cumae in Unteritalien: "Es ist nicht erlaubt, dass hier einer liege, der nicht als bdkchos gefeiert hat".3? Die besondere Begräbnisstätte der bebakcheumenoi demonstriert das Ausnahmelos im Jenseits. Die Weihe ist nicht geschlechtsspezifisch: Die Inschrift wie der HipponionText gebrauchen die generelle, männliche Form; aber im Grab von Hipponion war eine Frau bestattet. 32
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Bereits Rohde 1898, II 390 f; Zuntz 1971, 374 f; Martin L. West, Early Greek Philosophy and the Orient,Oxford 1971, 64; Reinhold Merkelbach, Die goldenen Totenpässe: ägyptisch, orphisch, bakchiseh, ZPE 128, 1999, 1-13; Ricardo Olmos in Bernabe/Jimenez 2001, 323-327. Plat. Resp. 621a; die "Lethequelle" ist erst später bezeugt, Nilsson 1960, III 85-92 (der aber die Goldblättchen zu spät datiert). Hymn. Orph. 77,9; Plat. Phdr. 250a; Gorg. 493c. L&S 213 f. Hdt. 2,81 = OTP 650; zum Text L&S 127 f. Jeffery 1990, 240 nr. 12, pI. 48; Eduard Schwyzer, Dialectorum Graecarum exempla epigraphica potiora, Leipzig 1923, nr. 792; !en6s in der Grabinschrift ibo 791 heißt wohl "Sarg", nicht "bakehiseher Myste"; Laurent Dubois, Inscriptions grecques dialectales de Grande Grece I, Genf 1995, Nr. 19. Vgl. Robert Turcan, Bacchoi ou Bacchants? De la dissidence des vivants a la segregation des morts, in: Association 1986, 227-246.
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Eine Einzelheit bakchischen Rituals, das auf die Unterwelt Bezug hat, ist literarisch überliefert: "Bekränzt wurden die, die in die Bakchika eingeweiht wurden, mit Weißpappel, weil diese Pflanze chthonisch ist, chthonisch aber auch der Dionysos, der Sohn der Persephone".38 Die Weißpappel wachse am Acheron, und Herakles habe sich mit ihren Zweigen nach dem Sieg über Kerberos bekränzt. Bindung an die Unterwelt und zugleich Überwindung des Todes wird so durch Ritus und Mythos ausgedrückt; ausdrücklich genannt wird dabei der "chthonische" Dionysos, Sohn der Persephone. Goldblättchen, Inschriften, literarische Texte fügen sich zusammen: Spätestens seit dem 5. Jahrhundert gibt es "bakchische" Mysterien, die Seligkeit im Jenseits verheißen. Das implizierte Wort bakeheia bezeichnet die Ekstase im dionysischen Fest; in ihr versinkt offenbar die Wirklichkeit samt der Realität des Todes. Was freilich die zugehörigen Riten, Mythen, Dogmen betrifft, bleibt unser Wissen durchaus fragmentarisch. Man kann versuchen, aus Grabbeigaben und funerärer Ikonographie weitere Illustration zu gewinnen. Bei Derveni, unweit Thessaloniki, wurden um 330 die Gebeine eines Makedonen in einem vergoldeten Bronzekrater beigesetzt, der auf das Reichste mit dionysischen Szenen geschmückt ist; bei einer anderen reichen Bestattung am selben Ort wurde ein orphisches Buch mit verbrannt. 39 Bescheidener, doch vielfältiger und anhaltend ist das Zeugnis unteritalischer Grabvasen: Immer wieder werden dort der Tote und sein Grab in eine dionysische Atmosphäre gerückt, mit Trauben, Thyrsos, Efeublatt. Einmal ist eindeutig Orpheus als Vermittler jenseitiger Seligkeit dargestellt: Er singt vor dem Grab eines Mannes, der ein Buch (doch wohl des Orpheus) in der Hand hält.4o Eine andere apulische Vase zeigt Dionysos mit seinem Gefolge in der Unterwelt, wie er dem Totenherrscher Hades freundlich die Hand reicht.4I Einzigartig ist eine Gruppe von Goldblättchen, die sich in zwei außergewöhnlichen Grabhügeln des 4. Jahrhunderts im unteritalischen Thurioi fandenY In dem einen waren vielleicht vom Blitz Erschlagene beigesetzt; der Tod durch das himmlische Feuer kann eine außergewöhnliche Stellung im Jenseits zur Folge habenY Auf den Texten spricht der Tote selbst: "Ich komme rein von den Reinen, Königin der Chthonischen, Eukles, Eubuleus und ihr anderen unsterblichen Götter; denn ich 38 39
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Harpokr. leuke, dazu Phot. Leuke; Schol. A. 11.13,389; Eratosthenes FGrHist 241 F 6. Krater von Derveni: BCH 87, 1963, T. 16-20; Georgios Bakalakis, The Gilt Bronze Krater from Derveni, Athen 1972; Beryl Barr-Sharrar, The Derveni Krater, Princeton 2008. Pap. Derv....... VI 2 Anm.52. Margot Schmidt/Arthur D. TrendalVAlexander Cambitoglou, Eine Gruppe apulischer Grabvasen in Basel, Basel 1976, 32-35; T. 11. Sarah I. Johnston/Timothy J. McNiven, Dionysos and the Underworld in Toledo, MH 53, 1996, 25-36; vgl. Margot Schmidt, AK 43,2000,86-101; Ricardo Olmos in: Bernabe/Jimenez 2001, 29 f. Zur Szene Horaz c. 2,19,29-32. Zuntz 1971, 299-343; Pugliese Carratelli 1I AI-lI b 2; Bernabe/Jimenez 135-178; OTF 488-492; Graf/Johnston nt. 3-7. Zu HElysion" ...... IV 2 Anm. 36.
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rühme mich, auch selbst aus eurem seligen Geschlecht zu sein". Zwei Texte setzen hinzu: "Ich habe Buße abgezahlt für ungerechte Werke", während der dritte die klingenden Zusatzverse hat: "Ich entflog dem Kreis der schweren Trauer und Schmerzen. Ich erreichte mit schnellen Füßen den ersehnten Kranz. Ich tauchte unter den Schoß der Herrin, der chthonischen Königin".44 Es folgt eine Seligpreisung unerhörten Inhalts: "Glücklicher, Seliger: Gott wirst du sein statt eines Sterblichen", und ein Rätselwort: "Böcklein fiel ich in die Milch".45 Ähnliches steht auf dem Goldblättchen aus dem größeren Grabhügel, in dem ein einzelner Toter bestattet war, dem kultische Verehrung zuteil wurde: "Freue dich, erlitten zu haben, was du noch nie zuvor erlittest; Gott bist du geworden aus einem Menschen. Böcklein fielst du in die Milch";46 die Blättchen von Pelinna fügen hinzu: "Stier sprangst du in die Milch, eilends (?) sprangst du in die Milch, Widder fielst du in die Milch".47 Man kann vermuten, dass in den Rätselworten von Böcklein, Stier und Widder Bezug genommen wird auf ein Initiationsritual; der "Schoß der Herrin" könnte auf ein Wiedergeburtsritual deuten.48 Persephone, die Königin der Toten, spielt jedenfalls eine besondere Rolle. In der Verheißung der Vergottung gehen diese Texte über alles hinaus, was sonst aus griechischen Mysterien der klassischen Epoche bekannt ist.49 Die Ordnung des "Gesetzten" und der ,,verteilung", Themis und Moira scheint sich aufzulösen. Hier wird das System der traditionellen griechischen Religion durch Mysterien gesprengt. Doch scheint dies zunächst ein vereinzelter Fall geblieben zu sein.
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OTF 489 F 4,490 F 4 - Graf/Johnston nr. 6 und 7; OTF 488,5-7 - Graf/Johnston nr. 5. OTF 488 - Graf/Johnston nr. 5. OTF 487 - Graf/Johnston nr.3. Pelinna: OTF 485/486 - Graf/Johnston nr. 26ab. OTF 485/6 - Graf/Johnston nr. 26 alb. Viel diskutiert war eine merkwürdige alttestamentliche und ugaritische Parallele, das Verbot, das Böcklein in der Milch seiner Mutter zu kochen (AT Ex. 23,19b; 34,26b; Dtn.14,2lc): Cook 1914, I 676-678; Theodor H. Gaster, Thespis, New York 21961, 97; 407 f; Paolo Xella, Shr e Slm, Rom 1973, 54 f; 144; Kerenyi 1976, 203-207; Othmar Keel, Das Böcklein in der Milch seiner Mutter und Verwandtes, Göttingen 1980; Grigorio Del Olmo Lete, Mitos y leyendas de Canaan, Madrid 1981, 440; die Texte von Pelinna haben eine neue Situation geschaffen, ohne das Rätsel zu lösen. -+ VI 1 Anm. 112. Platon Resp. 620e beschreibt ein "Hindurchgehen durch den Thron" der sitzendenGöttin. Vergleichbar ist Empedokles VS 31 B 146; 112; mythisches Vorbild kann Herakles sein, -+ IV 5 Anm. 40, auch Semele und Ino, Pind. 01. 2,23-30, oder Dionysos selbst, vgI. Marten J. Vermaseren, Liber in Deum. L'apoteosi di un iniziato Dionisiaco, Leiden 1976. Philosophie strebt das gleiche Ziel an: deum te scito esse Cic. Somn. Scip. 26.
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2.3 Orpheus und Pythagoras Mit den Stichworten "orphisch" und "pythagoreisch", Orpheus und Pythagoras verweist Herodot50 auf Gestalten, die gegenüber der diffusen, traditionell gebundenen griechischen Religion in die Rolle von Sektenstiftern, wenn nicht gar Religionsstiftern zu treten scheinen. Freilich scheint sich bezeichnenderweise der eine als Sänger und Dichter, der andere als Philosoph zu maskieren. Ein tiefgreifender Neuansatzder griechischen Religion knüpft an diese Namen an; zentrale Begriffe werden "Seele" und "Unsterblichkeit". Eben darum ist freilich das Problem der "Orphik" zu einem der umstrittensten Bereiche griechischer Religionsgeschichte geworden. 5I Mangel an alten Quellen und versteckte christliche oder antichristliche Impulse haben sich zu einem Knäuel von Kontroversen verstrickt. Unerwartete Neufunde jedoch haben seit den Sechzigerjan.. ren des 20. Jahrhunderts eine neue Basis geschaffen und vor allem die Abhängigkeit von spätantiken Zeugnissen radikal eingeschränkt. Es handelt sich um die neuen Goldblättchen, insbesondere die von Hipponion und Pelinna, um Graffiti aus Olbia, die im 5. Jahrhundert Orphikoi im Zusammenhang mit Seelenlehre und Dionysos bezeugen, und vor allem um den Papyrus von Derveni, ein Buch vom Anfang des 4. Jahrhunderts mit ausführlichen Zitaten aus der Theogonie des "Orpheus".52 Orpheus ist im Mythos ein Sänger, der mit seinem Lied Tiere und Bäume bezaubert, der den Weg in den Hades findet, Eurydike zu holen, der von thrakischen Mänaden schließlich in Stücke gerissen wird. Für die Griechen ist er, als Teilnehmer am Argonautenzug, eine Generation vor dem Troianischen Krieg datiert, also älter als Homer; für uns führt kein Zeugnis über die 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts 50 51
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Hdt. 2,81. --+ VI 2 Anm. 36. Zur älteren Diskussion: GdH II 182-204; William K. C. Guthrie, Orpheus and Greek Religion, London 1935,21952; Konrad Ziegler, RE XVIII 1200-1316,1321-1417; Linforth 1941; Dodds 1951, 147-149; Nilsson 1952, II 628-683; Louis Moulinier, Orphee et l'orphisme a l'epoque dassique, Paris 1955; L&S 125-136; Zuntz 1971; Graf 1974 pass.; Neueres: Borgeaud 1991; Masaracchia 1993; Brisson 1995; BibI.: Marco Antonio Santamaria Alvarez, 'Ilu: revista de ciencias de las religiones 8, 2003, 225-264; GuidorizzVMelotti 2005; Alberto Bernabe, La tradizione orfica della Grecia dassica al Neoplatonismo, in; Giulia Sfameni Gasparro (Hrsg.), Modi die comunicazione tra il divino e l'umano, Cosenza 2005, 107-150; Alberto Bernabe/Francesc Casadesus (Hrsg.), Orfeo y la tradici6n 6rfica, Madrid 2008. Goldblättchen ...... VI 2 Anm. 26; Olbia: A. S. Rusajeva, Vestnik drevnej Istörii 143, 1978,87-104; West 1983, 17-19; Juri G. Vinogradov in: Borgeaud 1991, 77-86; Leonid Zhmud, Hermes 120, 1992, 159-168; Laurent Dubois, Inscriptions grecques dialectales d'Olbia du Pont, Genf 1996, nr. 94 p.154 f; OTF 463-465. Pap.Derv.: ZPE 47 (1982) Appendix 1-12; Andre Laks/Glen W. Most (Hrsg.), Studies on the Derveni Papyrus, Oxford 1997; Richard Janko, The Derveni Papyrus: An Interim Text, ZPE 141 (2002) 1-62; Fabienne Jourdan, Le Papyrus de Derveni, Paris 2003; Gabor Betegh, The Derveni Papyrus. Cosmology, Theology and Interpretation, Cambridge 2004; Theokritos Kouremenos/George M. Parassoglou/Kyriakos Tsantsanoglou (Hrsg.), The Derveni Papyrus, Florenz 2006; OTF II 3, 171-269. Vgl. Burkert 2003a, 90 f; 2006, 62-111; Alberto Bernabe, Kernos 15, 2002, 91-129.
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zurück. 53 Mindestens seit dieser Zeit waren Dichtungen des "Orpheus" im Umlauf. Direkte Kenntnis eines solchen Werks vermittelt jetzt der Papyrus von Derveni; Aristoteies und Eudemos zitieren wohl dasselbe Gedicht. 54 Es möchte offenbar Hesiods Theogonie übertrumpfen; es erweitert die Göttergenealogie Uranos-Kronos-Zeus: Am Anfang steht nun die Nacht; es sucht das Unerhörte, Hybride; Anregungen vom Hethitischen und vom Ägyptischen her sind kaum zu bezweifeln. Daneben stand offenbar ein Gedicht, das von Demeters Einkehr in Eleusis und der Stiftung der Kultur handelte; dieses war Aristophanes und seinem Publikum bekannt; Eleusis wird als Gründung des "Orpheus" in Anspruch genommen. 55 Auch ein Gedicht vom "Abstieg" in die Unterwelt, katabasis, wohl des Herakles, in Konkurrenz zur Nekyia der Odyssee ist zU postulieren.56 Für die reale Funktion solcher Literatur ist Platon unser Kronzeuge: "Bettelpriester und Seher kommen zu den Türen der Reichen und überreden sie, es läge in ihrer Hand, von den Göttern übergeben, die Macht, mit Opfern und Beschwörungen, falls von einem selbst oder von Vorfahren ein Unrecht vollbracht sei, dies zu heilen mit vergnüglichen Festen ... und sie bieten einen Stapel von Büchern des Musaios und Orpheus an ... , denen gemäß sie ihr Opferwesen treiben; sie überreden nicht nur einzelne, sondern ganze Städte, dass es Lösung und Reinigung von Unrecht gebe durch Opfer und spielerische Vergnügungen, und zwar für die Lebenden wie für die Toten; sie nennen dies Teletai, welche uns von dem Übel im Jenseits erlösen; wer aber nicht opfert, sagen sie, den erwartet Schreckliches".57 Weihen, Mysterien also, bewirken Lösung von alter Schuld - worüber Platon im Phaidros Dionysos walten lässt58 - und bessere Hoffnung für das Jenseits. Opfer werden in privatem Kreis nach Büchern von Orpheus und Musaios vollzogen;59 'Platon verabscheut ihren amoralischen Ritualismus. "Orpheotelesten", die das Leben im Jenseits ausmalen, werden auch sonst genannt. 60 Vor allem spielt Euripides auf Leute an, die "Orpheus zum Herrn haben", "viele Bücher" ehren, bakchische Riten feiern und ein vegetarisches Leben führen. 61 Orpheus und Buch erscheinen als Vermittler jen53 54
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Ibykos PMG 306; Fries vom Sikyonier-Schatzhaus in Delphi, Claude Rolley, La sculpture grecque, Paris 1994, 206-210. Arist. Met. 1071b26 = OF 24 = OTF 20 II; Eudemos Fr. 150 Wehrli (Damask. Princ. 124) = OF 28 = OTF 20 I; dazu Plat. Leg. 715e = OF 21 = OTF 31 III. Zu verschiedenen orphischen Theogonien Willibald Staudacher, Die Trennung von Himmel und Erde, Tübingen 1942, 77-121; West 1983; Alberto Bernabe, Hieros Logos, Madrid 2003, 31-214. Aristoph. Ran. 1032; Graf 1974,22-39; 158-181. Orpheus und Samothrake: Ephoros FGrHist 70 F 104; Orpheus und Phlya (VII Anm. 19): Paus. 9,27,2; 9,30,12. Graf 1974, 139-150. Plat. Resp. 364b-365a; Graf 1974, 14-6; Bernabe (~ VI 2 Anm. 30) 37-97. -+ VI 2 Anm. 19. Der Autor von Derveni unterscheidet zwischen "Vollzug des Heiligen" "in Städten" und "von einem, der das Heilige zu seinem Handwerk macht", Pap. Derv. col. XX, also etwa Eleusis gegenüber einem privaten Orpheotelesten. Plut. Lak.apophth. 224E; Theophr. char. 16,12. Eur. Hippol. 952-954; Euripides legt hier dem Theseus eine zeitgemäße Aktualisierung der asketi-
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seitiger Seligkeit auf einer apulischen Vase in Base1. 62 Die bei Platon zusätzlich auftauchenden Bilder von Seligkeit und Verdammnis im Hades, Symposion der H6sioi und Tischgemeinschaft mit den Göttern auf der einen Seite, Liegen im Schlamm, Wassertragen und Oknos dem Seilflechter auf der anderen, wird man auf solche "Bücher" zurückführen. 63 Die Berufung auf Bücher ist ebenso bezeichnend wie revolutionär: Hier dringt die Schriftlichkeit in einen Bereich ein, der von der Unmittelbarkeit der rituellen oder der Mündlichkeit der mythischen Tradition beherrscht war. Die neue Form der Überlieferung macht neue Autorität möglich, zu der nun aber der Einzelne, sofern er lesen kann, unmittelbaren, nicht durch ein Kollektiv vermittelten Zugang hatj Verselbständigung des Individuums und Auftreten von Büchern gehen auch in der Religion zusammen. Die Verwendung von Büchern war längst im Kreis der Seher üblich geworden. Freilich wusste man eben deshalb um die Leichtigkeit der Eilschung: "Nimm das Buch" - damit kann der Seher in der Komödie sich nur lächerlich machen. 64 So wurde denn die Authentizität der Orpheus-Werke früh bezweifelt, man riet auf andere, "wahre" Verfasserj genannt wird neben Pythagoras besonders Onomakritos,65 der um 520 in Athen Orakel des "Musaios" redigierte und dabei einer Fälschung überführt wurde. Der Komplex der Goldblättchen lässt sich gut mit dem von Platon skizzierten Bild vereinen. Wandernde Spezialisten bieten sich den Vermögenden an, bieten an, durch Rituale, abgesichert durch Bücher, den rechten Weg ins Jenseits zu garantieren. Etwas wie eine kirchliche Organisation ist hierfür nicht nötig. Auch die traditionellen Seher sind lose Gruppen, von denen jeder auf eigenes Glück und Risiko tätig ist. So zeigen denn auch die Goldblättchen, je ad hoc gefertigt, ihre bedeutenden Variationen. Einen weiteren Blick auf die Realität eröffnet ein Dekret von König Ptolemaios Philopator (um 210 v. Chr.): Diejenigen, die teletai für Dionysos praktizieren, müssen sich in Alexandreia registrieren lassen und dabei "angeben, von wem sie das Heilige übernommen haben, bis zu drei Generationen, und den hieros logos versiegelt einreichen, je mit dem eigenen Namen versehen".66 Hier geht es um die Kontrolle von Dionysos-Mysterienj auf solche weisen auch die Goldblättchen. Weder das Dekret noch die Goldblättchen nennen allerdings "Orpheus". Doch das "Kennwort" des Goldblättchens von Pherai,67 Andrikepaidothyrson, lässt den Namen Erikepaios anklingen, der seinerseits im 3. Jahrhundert v. Chr. in Ägypten in einem quasi-liturgischen
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sehen Haltung des Jägers Hippolytos in den Mund. ---+ VI 2 Anm. 40. Graf 1974,94-150; Edmonds 2004. Aristoph. Av. 974-989; Paus. 8,37,5; 1,22,7; Philoponos in De An. p. 186,26, zu Arist. Fr. 7. Die ganze Onomakritos-Tradition kann Ausweitung von Hdt. 7,6 (- Il8 Anm. 90) sein. Arthur S. Hunt/Campbell C. Edgar, Select Papyri (Loeb) Il, Cambridge 1977, nr. 208; Nilsson 1957, 11 f; Günther Zuntz, Opuscula Selecta, Manchester 1972, 88-101. OTF 493 = Graf/Johnston nr. 27.
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Fragment in der Form Irikepaigos auftaucht. 68 So fallen eher die Konvergenzen auf, als dass saubere Distinktionen von Bakchika und/oder Orphika sich ergeben. Die modernen Kontroversen gingen und gehen vor allem um die Fragen nach Alter und Bedeutsamkeit des anthropogonischen Dionysos-Mythos einerseits, nach Ursprung und Funktion der Lehre von Unsterblichkeit und Seelenwanderung andererseits .. Die späthellenistische Kompilation "Heiliger Reden" des Orpheus lief aus in die Menschenentstehung aus dem Tod des Gottes: 69 Zeus vergewaltigt seine Mutter Demeter und zeugt Persephone, er vergewaltigt, in Gestalt einer Schlange, Persephone und zeugt Dionysos. Dem Dionysoskind übergibt er die Herrschaft, setzt den Sohn auf einen Thron, lässt ihn von Korybanten bewachen; da schickt Hera die Titanen, sie verführen das Kind mit Spielzeug, und während es in den Spiegel blickt, wird es von den Titanen vom Thron gestoßen, in Stücke gerissen, ja gekocht, gebraten und gegessen. Zeus verbrennt darauf die Titanen mit seinem Blitz; aus dem aufsteigenden Ruß entstehen die Menschen, Aufrührer, die doch am Gott teilhaben. Aus den geretteten, gesammelten Resten entsteht Dionysos neu. Die hellenistischen Dichter Kallimachos und Euphorion haben den Mythos vom Tod des Dionysos durch die Titanen behandelt, wobei von seinem Grab in Delphi die Rede ist; doch auch von seinem Tod durch Perseus in Argos wird erzählt. 70 In ältere Zeit führt kein unanfechtbares Zeugnis, doch es gibt ernst zu nehmende indirekte Hinweise. Der Platonschüler Xenokrates verwies zur Interpretation einer Platonstelle auf Dionysos und die Titanen.71 Nach Platon selbst lehren "Orpheus und die Seinen", dass die Seele zur Strafe für gewisse unnennbare Verfehlungen in den Körper gebannt sei; ein andermal spricht er von der "alten titanischen Natur" des Menschen,
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OF 31 = VS 1 F 23 = OTF 578; James Hordern, ZPE 129, 2000,131-140. Wie im Goldblättchen von Pherai taucht hier die Göttin Brimo auf. OF 60-235; OTF 90-359. Die Anthropogonie nur Olympiod. in Plat. Phd. p. 2,21 Norvin = OF 220 = OTF 320 (nicht aus den Rhapsodien zitiert); doch vgl. Dion or. 30,10: Menschen aus dem Blut der Titanen; Plat. Leg. 70lc und schon hymn. Apoll. 336.; Harpokr. s.v. euoi; der Mutter-Inzest des Zeus auch Pap.Derv. col. XXVI. Nonnos 6,165-205 (OTF 308 V) nennt den von den Titanen zerstückelten Dionysos ZagreUs; Zagreus als Beiname de Dionysos Kallim. Fr.43,117. Die Philologie hat sich des Beinamens Zagreus bemächtigt, um den "orphischen" vom normalgriechischen Dionysos zu scheiden; Linforth 1941, 307-364; Alberto Bernabe, Platone e l'orfismo, in Giulia Sfameni Gasparro (Hrsg.), Destino e salvezza: Tra culti pagani e gnosi cristiana, Cosenza 1998, 37-97; Alberto Bernabe, La toile de Penelope: a+il existe un mythe orphique sur Dionysos et les Titans?, RHR 219, 2002,401-433. Kallim. Fr. 643; Euphorion Fr. 13 Powell; Grab: Philochoros FGrHist 328 F 7; Perseus: Deinarchos FGrHist 399 F 1 = SH 379B; Wolfgang Fauth, RE IX A 2221-2283 s.v. Zagreus; HN 197; Pierart 1996; kritisch Giampiera Arrigoni, La maschera e 10 specchio. 11 caso di Perseo e Dioniso a Delfi e l'enigma dei satiri, QUCC 73, 2003, 9-55. - Als Geburt des chthonischen Dionysos wurde das Bild einer Pelike in Leningrad (1792 St.; GGR T. 46, 1) gedeutet, was unsicher bleibt, Erika Simon, AK 9, 1966, 78-86; Graf 1974, 67-76, vgl. LIMC III s.v. Dionysos nr. 528. Xenokrates Fr. 20 Heinze = Fr. 219 Isnardi Parente = Damaskios in Plat. Phd. § 2, p. 29 Westerink (1977), zu Plat. Phd.62b.
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VI
MYSTERIEN UND ASKESE
die unversehens zum Durchbruch kommen könne. 72 Dass Herodot von den "Leiden" des Osiris, den er mit Dionysos gleichsetzt, betont und ausdrücklich schweigt, obwohl damit in Ägypten selbst kein Geheimnis verbunden war, ist daraus zu verstehen, dass der entsprechende Mythos von der Zerstückelung des Dionysos "unsagbare" Mysterienlehre ist; eine Erklärung der dionysischen Phallagogie, auf die Herodot anspielt, liefert der Osiris-Zerstückelungsmythos.73 Wenn schließlich Pindar davon spricht, dass Persephone von Verstorbenen "Buße für alte Trauer" annimmt, ehe sie diese zu erhöhtem Dasein entlässt,74 kommt als Grund der Trauer der Göttin, an der die Menschen Schuld tragen, wohl nur der Tod ihres Kindes Dionysos in Frage. Dass also der Mythos von der Zerreißung des Dionysos bei den Griechen verhältnismäßig alt und bekannt, als Mysterienlehre jedoch bewusst geheimgehalten war, sollte man zugeben. Das Unbehagen, bei Tageslicht vom Tod eines Gottes zu sprechen, musste dabei die Geheimhaltungspflicht verstärken. Inwieweit dieser und damit überhaupt der Kult des "chthonischen" Dionysos und der Jenseitsglaube von vornherein vom ägyptischen Osiriskult abhängig ist, bleibt zumindest ernsthaft zu fragen. 75 Anthropogonie durch Tötung eines Gottes erscheint in den maßgebenden akkadischen Texten, Atrahasis und Enuma elish.76 Wie immer da Verbindungen gelaufen sind, dies ist jedenfalls der vorgegebene Hintergrund und nicht die christlichen Lehren vom Sündenfall und Erlösertod. Dass sämtliche Formen bakchischer Mysterien auf dieser Grundlage aufbauen, ist damit wiederum nicht gesagt. Wenn der Tote auf den Goldblättchen sich als "Sohn von Erde und Himmel" vorstellt, ist der Titanenmythos nicht notwendig eingeschlossen;77 eher ist die "Buße für ungerechte Taten" auf den Thurioi-Blättchen7B mit Platon und Pindar zusammenzustellen. Doch besteht kein Grund, "das Orphische" als einheitliche geistige Bewegung zu konstruieren; die "Handwerker des Heiligen" waren kaum organisiert. Mit der Anthropogonie war in jener späthellenistischen Kompilation auch die Seelenwanderungslehre verbunden79 - ein spekulatives Lehrstück, das im Rahmen 72 73 74
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Plat. Krat. 400c, vgl. Phd. 62b; Leg. 701c. Hdt. 2,61; 132; 170; Gilbert Murray bei Harrison 1927, 342 f; Phallagogie Hdt. 2,49; Diod. 1,22,7; Plut. Is. 358B. Pind. Fr. 133,1; P. Tannery RPh 23, 1899, 129; Herbert J. Rose, HThR 36, 1943, 247; Hugh LloydJones, Pindar and the Afterlife, in: Greek Epic, Lyric, and Tragedy, 1990, 80-109; Alberto Bernabe in: Juan A. L6pez Ferez (Hrsg.), Desde los poemas homericos hasta la prosa griega dei siglo IV d. C., Madrid 1999, 239-259. Burkert 2003a,105 f. --+ 1111 Anm. 400. Bottero-Kramer 1989, 538; 639 f; TUAT 623 f; 592; Burkert 1992, 94 f; 2003b 74; 2006, 74; Jan Bremmer in: Christoph Auffarth/Loren Stuckenbruck (Hrsg.), The Fall of the Angels, Leiden 2003, 35-61. --+ VI 2 Anm. 26; Gnomon 46, 1974, 327. --+ VI 2 Anm. 44/5. OF 224 ~ OTF 338. Carl Hopf, Antike Seelenwanderungsvorstellungen, Diss. Leipzig 1934; Walter Stettner, Die Seelenwanderung bei Griechen und Römern, Stuttgart 1934; Herbert S. Long, A study of the doctrine of metempsychosis in Greece from Pythagoras to Plato, Princeton 1948; L&S 120-
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griechischer Religion ein Fremdkörper ist. Sie tritt uns im 5. Jahrhundert in wechselnden Formen bei Pindar, Empedokles und Herodot entgegen, dann in Platons Mythen. Am eindrücklichsten ist der älteste Text, Pindars zweite Olympische Ode für Theron von Akragas aus dem Jahr 476; daneben stehen undatierte Pindar-Fragmente aus zwei Totenliedern, Threnoi. 80 Nach Pindar gibt es drei Wege im Jenseits, drei Möglichkeiten: Wer fromm und gerecht gelebt hat, findet in der Unterwelt ein festliches Leben, frei von allen Sorgen, dort, wo des Nachts die Sonne scheint; die Bösen leiden Furchtbares. Dann kehrt die Seele an die Oberwelt zurück, wobei ihr Schicksal durch die vorherigen Taten bestimmt ist; wer sich dreimal bewährt, geht ein zur Insel der Seligen. Man kann damit vergleichen, dass auf zwei der Thurioi-Goldblättchen unmittelbare Vergottung verheißen ist, zweimal dagegen bescheidener ein Geleit zu den "Sitzen der Reinen" erbeten wird; wie bei Pindar ist es Persephone, die die Entscheidung fällt. 81 Das Goldblättchen von Hipponion nennt in der Unterwelt eine erste, zu meidende Quelle, "wo die Seelen der Toten, herabkommend, sich kühlen"; nur wer sie meidet, kann zum "See der Erinnerung" gelangen.8l Hier ist doch wohl für die gewöhnlichen Seelen ,;Vergessen" vor der Wiederverkörperung gemeint. Herodot deutet eine andere, mehr naturwissenschaftliche Fassung der Seelenwanderung an: Die Seele muss alle Bereiche des Kosmos durchwandern, sie wird von einem gerade geborenen Lebewesen eingesogen. 83 Nach Empedokles ist das Getrieben-Werden durch die Elemente Sühne für eine jenseitige Blutschuld; Ziel ist Rückkehr zu den Göttern, Vergottung. 84 In Mysterien, teletai, hören und glauben "viele", wie Platon versichert, dass es nicht nur im Jenseits Strafe gibt, sondern vor allem auch der abermalige Tod nach der Wiederkehr genaue Vergeltung früherer Schuld sei; diesen "Rechtsspruch des Rhadamanthys" zitiert Aristoteles in Versform. 85 Laut Aristoteles stand "in den sogenannten Orphischen Versen", dass die Seele aus dem All in die Lebewesen mit dem ersten Atemzug eingehe, getragen von den Winden; Aristoteles kennt aber auch "phythagoreische Mythen", wonach "eine beliebige Seele in einen beliebigen Körper eingehen" könne. 86 So bringt er seinerseits die beiden Namen Orpheus und Pythagoras ins Spiel. Dem Pythagoras weist der älteste Zeuge, Xenophanes, in einem Spottgedicht die Auffassung zu, dass in einem geprügelten Hund die "Seele" eines Freundes stecken könne. 87
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136; zum Indischen 133,71. Giovanni Casadio, La metempsicosi tra Orfeo e Pitagora, in Borgeaud 1991, 119-155; Hist. Wörterbuch der Philosophie IX, 1995, 117-120. Pind. 01. 2,56-80; Fr. 129-131a; 133; Kurtv. Fritz, Phronesis 2,1957,85-89; Dietrich Roloff, Gottähnlichkeit, Vergöttlichung und Erhebung zum seligen Leben, Berlin 1970, 186-197. ~ VI 2 Anm. 44-46; Zuntz 1971, 336 f. ~ VI 2 bei Anm. 34. Hdt. 2,123. Empedokles VS 31 B 115-147; Zuntz 1971, 181-274; Milij L. Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker II, Düsseldorf 2009, nt. 157-186. Plat. Leg. 870de; Arist. EN 1132b25; vgl. Pindar 01. 2,57 f; Plat. Meno 81b. Arist. an. 41Ob29 = OF 27 = OTF 421; an. 407b20; L&S 121. VS 21 B 7 = Fr. 7a West; L&S 120.
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Mit Pythagoras tritt endlich eine gewiss historische Persönlichkeit ans Licht, von der es freilich kein direktes Zeugnis gibt, nur Dokumente dritter Hand. Pythagoras, aus Samos gebürtig, wirkte gegen Ende des 6. Jahrhunderts in Unter italien, vor allem in Kroton und Metapont; er starb in Metapont. Seine Anhänger, Pythag6reioi, spielen vor allem in Tarent bis ins 4. Jahrhundert eine Rolle. BB Der Pythagoreer Archytas war Platons Freund. Die Späteren sahen in Pythagoras den Begründer der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft. Die vorplatonischen Zeugnisse deuten auf ein merkwürdiges Ineinander von Zahlensymbolik, musikalischem und arithmetischem Wissen mit Lehren über Jenseits und Unsterblichkeit und asketischen Lebensregeln. Die alte, eigentümliche Legende zeigt Pythagoras als Quasi-Schamanen, der durch einen "Abstieg in die Unterwelt" seine Unsterblichkeitslehre beglaubigt. Dass ein Ionier des 6. Jahrhunderts Elemente babylonischer Mathematik, iranischer Religion, ja auch indischer Seelenwanderungslehre aufnehmen konnte, ist durchaus möglich. Die Konkurrenz der Überlieferungen über "orphische" und "pythagoreische" Seelenwanderungslehre löst sich auf, wenn man ernst nimmt, dass unter italische Pythagoreer, ja Pythagoras selbst, neben Onomakritos als "wahre" Verfasser orphischer Gedichte genannt werden. B9 Bakchisches, Orphisches, Pythagoreisches sind Kreise mit je eigenen Zentren, die sich teilweise überlagern. Die Benennung geht von ganz verschiedenen Prinzipien aus: Bakchos-Dionysos ist ein Gott, Orpheus ein mythischer Sänger, Pythagoras ein Samier des 6. Jahrhunderts; einerseits also Mysterienritual, andererseits Literatur, durch einen Verfassernamen gezeichnet, und schließlich eine historisch greifbare Gruppe und ihr Meister. "Orphisch" und "bakehiseh" treffen sich in der Sorge um Begräbnis und Jenseits und wohl auch im besonderen Dionysos-Mythos, "orphisch" und "pythagoreisch" in Seelenwanderungslehre und Askese. Im übrigen darf die Schwierigkeit genauer Abgrenzungen nicht dazu führen, die Phänomene selbst zu leugnen. Am wichtigsten ist der Wandel im Begriff der Seele, psyche, der sich im 5. Jahrhundert vollzieht.90 Die Seelenwanderung setzt voraus, dass in den Lebewesen, Mensch wie Tier, ein individuelles, beständiges Etwas enthalten ist, ein Ich, das seine Identität unabhängig vom Körper, der vergeht, kraft eigenen Wesens bewahrt; so wird ein neuer Allgemeinbegriff für "Lebewesen" geschaffen: empsychon, "drin ist eine psyche". Diese psyche ist offenbar nicht das kraftlose, bewusstlose Erinnerungsbild im modri88
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L&S 109-120 und pass.; ein neues Zeugnis: eine Münze von Metapont mit Pythagoras-Bild (?), Ulrich Klein in: Ludwig Deubner (Hrsg.), Iamblichus Chalcidensis: De vita Pythagorica liber, Zürich 21975, XX. Vgl. Christoph Riedweg, Pythagoras. Leben, Lehre, Nachwirkung, München 2002. Ion von Chios FGrHist 392 F 25 ~ VS 36 B 2; Suda SN. Orpheus; vgl. Arist. Fr. 7; L&S 128-131. Rohde 1898, II 1-37 leitete den Neuansatz von der dionysischen Ekstase her, Dodds 1951, 135178 aus skythischem Schamanismus; vgl. Jaeger 1953, 88-106; L&S 162-165; zur Verbindung mit dem Bildungsprogramm der Sophisten Burkert, "Seele", Mysterien und Mystik. Griechische Sonderwege und aktuelle Problematik, in: Walter Jens/Bernd Seidensticker (Hrsg.)., Ferne und Nähe der Antike, Berlin 2003,111-128.
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gen Hades, wie es die Odyssee darstellt; sie wird durch den Tod nicht affiziert: Die Seele ist "unsterblich", athanatos.91 Dass diese Bezeichnung, di~ seit "Homer" die Götter charakterisiert, nunmehr zum Wesensmerkmal der menschlichen Person wird, ist in der Tat eine Revolution. Sie vollzieht sich freilich in Etappen. Zunächst ist dieses beständige Etwas keineswegs identisch mit dem empirischen Wachbewusstsein; Pindar beschreibt es geradezu in Antithese zu diesem: Es schläft, wenn die Glieder tätig sind, es zeigt sein Wesen allenfalls im Traum und dann im Tod.92 Ekstaseerfahrungen bakchischen, schamanistischen oder yogahaften Typs mögen im Hintergrund stehen. Sodann wird keineswegs eine geschlossene "Lehre" von der Seelenwanderung fassbar, sondern, wie es scheint, ein experimentierendes Spekulieren mit widersprüchlichen Prinzipien von Ritual, Moral und Vorahnung natürlicher Gesetze: 93 Die Seele ist nicht nur unsterblich, sondern sie stammt von den Göttern und kehrt nach mehrfacher Bewährung zu den Göttern zurück; oder aber sie läuft für immer im Kreis durch alle Bereiche des Kosmos; über die Wiederverkörperung entscheidet der schiere Zufall oder aber ein Totengericht; das bessere Los wird durch moralisch untadeligen Wandel verbürgt oder aber durch die Mysterienweihe, die von Schuld befreit; mit der Vorstellung, dass die Seele lichte Himmelssubstanz sei und der Tote demnach letztlich "in den Himmel" kommen werde, bahnt sich eine sehr folgenschwere Verkettung von Kosmologie und Erlösungsreligion an.94 Indem man diese widerstreitenden Motive vorphilosophisch, auf dem Niveau unverbindlicher Dichter-mythoi rezipierte, war der Widerspruch zum Bestehenden kaum beunruhigend; Pindar kann unteritalischen Auftraggebern zuliebe die Seelenlehre vortragen, ohne im übrigen sein traditionell-aristokratisches System zu gefährden. Platon seinerseits meint, die Seelenwanderung gebe eine Erklärung für bestehende Kulte, sofern man überhaupt nach einer solchen suche, statt Unverstandenes zu praktizieren;95 und so will er denn am traditionellen Poliskult so wenig wie nur möglich ändern. Dass die Seelenwanderungslehre, sei es in ihrer quasi-naturwissenschaftlichen, sei es in ihrer moralischen Variante, ungeachtet ihrer Rolle in Mysterienkulten das Ritual und damit die Polisreligion im Grunde überflüssig macht, wollte selbst Platon nicht zugeben.
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Ältester direkter Beleg Hdt. 2,123, im Zusammenhang der Seelenwanderung (falsch ist seine Angabe, dies sei ägyptisch); Dikaiarchos bei Porph. Vit. Pyth. 19 über Pythagoras; Aristote!es über Alkmaion VS 24 A 12. Erland Ehnmark, Some remarks on the idea of immortality in Greek religion, Eranos 46, 1948, 1-21; Werner Jaeger, The Greek ideas of immortality, HThR 52, 1959, 13547 = Humanist. Reden u. Vorträge, 21960, 287-299. Pind. Fr. 131b; L&S 134. ---l> Anm. 83; 87; 88; L&S 133-135. Doch wohl aus iranischem Einfluss; Franz Cumont, Lux Perpetua, Paris 1949; Barte! L. van der Waerden, Die Anfänge der Astronomie, Groningen 1966, 204-252; L&S 357-368; Burkert 2003a, 118-121. Plat. Men. 81a.
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Mit der Idee der unsterblichen Seele hat die "Entdeckung des Individuums" ein Ziel erreicht, das sich nur in der Philosophie erfüllt: Die sokratische "Sorge um die Seele", die platonische Metaphysik, gab dem die klassische Form, die für Jahrtausende bestimmend werden konnte.
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3 Bios Mit jeder Mysterienweihe geht eine Statusänderung einher; wer sich aus individueller Entscheidung weihen lässt, sondert sich ab und gliedert sich einem neuen Kreis ein. In eigener Sicht unterscheidet sich der Myste von den anderen durch eine besondere Beziehung zum Göttlichen, durch eine Form der "Frömmigkeit". Das Fest steht im Kontrast zum Alltag, auf das "Heilige" folgt die Freiheit des h6sian;! doch die hasi6tes der Geweihten ist besonderer Art, korrespondierend mit den "Reinigungen" vor der Weihe und zugleich mitunter im polaren Kontrast zu Initiationsritualen. Die Mysten von Samothrake nennen sich die "Frommen" oder die "Gerechten'? während bei der Einweihung das ,,verbrechen" seine Rolle spielt. Auch die Bakchen rühmen die besondere "Reinheit" dessen, der "die Weihen der Götter kennt", und singen doch zugleich von der "Wonne der Omophagie".3 Schlichter klingt es, wenn die Eleusinischen Mysten versichern, dass sie, als Geweihte, "fromm" ihr Leben führen auch gegenüber Fremden und gewöhnlichen Leuten.4 Von "Gesetzen des Triptolemos" in Eleusis ist die Rede,5 die gebieten, "die Eltern zu ehren, die Götter mit Früchten zu erfreuen, Tiere nicht zu schädigen" - wobei jedoch der dritte Artikel nicht im Sinn eines allgemeinen Vegetarismus gegolten haben kann. Eleusinische Mysten fallen nicht auf in ihrer Lebensführung. Weiter gehen in der Darstellung des Euripides die Mysten vom Ida: Auf die Omophagie folgt Vegetarismus. 6 Rohfleisch-Speisen haben sie hinter sich gelassen, sie sind h6siai und führen ein "reines Leben" (hagn6s); sie tragen weiße Gewänder, kommen weder mit Geburt noch Tod in Kontakt, hüten sich von dem zu essen, in dem "Seele" ist. Sie sind sich des Kontrastes zum Normalen bewusst. Bias, "Leben", gewinnt hier eine neue Bedeutung im Sinn eines bewusst gewählten, streng durchgehaltenen, auf. fallenden Regelkomplexes. Was immer hier dichterischer Phantasie zu verdanken ist, in der Realität weiß man von einem "Orphischen Bias" so gut wie von einem "pythagoreischen Bias". Von beidem spricht Platon. Der "Orphische Bios" ist vor allem durch Nahrungstabus bestimme7 Orphiker essen kein Fleisch, keine Eier,B keine Bohnen,9 sie trinken keinen Wein. lO Diese Art der "Reinheit" steht in polarer Opposition zur Initiation, ~V4Anm.8.
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SchoL Aristoph. Pax 278; SIG' 1052 f; eole 1984. ~ VI 1 Anm. 79. Eur. Bacch. 74; 139. Aristoph. Ran. 455. Xenokrates Fr. 98 Heinze = Fr. 252 Isnardi Parente bei Porph. abst. 4,22. Eur. Fr. 472. ~ VI 1 Anm. 41. Plat. Leg. 782c; dazu Eur. HippoL 952 (~ VI 2 Anm. 61): "Speise ohne Seele"; Johannes Haussleiter, Der Vegetarismus in der Antike, Berlin 1935, 79-96. Plut. q.conv. 635E; Macr. Sat. 7,16,8. OF 291 = OTF 645; 649. Weinrausch als Rache des Dionysos für seine "Leiden": Plat. Leg. 672b.
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zu der ja allgemein Tieropfer gehören; und "bakchische Weihen" sind ohne Wein undenkbar. Im Mythos wird Dionysos "gekocht und gebraten"; eben dies, "Gekochtes zu braten", ist dem Orphiker ausdrücklich untersagt; Grund dafür sei, "was in der Weihe gesagt wird ".u Dass der zu Weihende auch ein Ei zu verschlucken hatte, ist in einem späten Zeugnis angedeutetY Auch gewisse Formen sexueller Abstinenz gehören offenbar zum Orphischen Bios, doch fassen wir diese nur indirekt in mythischer Spiegelung. I3 "Orpheus und den Seinen" schreibt Platon14 eine radikale Begründung all solcher Verzichte zu: Die Seele habe in diesem Leben Strafe zu leiden, "wofür auch immer", und sie sei im Körper wie in einem Gefängnis eingeschlossen, das die Seele doch zugleich bewahrt und schützt, "bis sie bezahlt hat, was sie schuldig ist". Im Phai· don hat Platon für dieses schützende Gefängnis den vielberufenen Ausdruck phrourd, "Wache", gebraucht. 15 Auch Aristoteles erwähnt als Lehre "alter Seher und Mysterienpriester", dass wir "zur Strafe für gewisse gewaltige Verfehlungen" in diesem Leben und im Leibe seien. I6 Das ungenannte große Verbrechen ist wohl der Mord der Titanen am Gott Dionysos. Nur lebenslange Reinheit kann die Schuld tilgen, insbesondere Enthaltung von allem, in dem "Seele" ist, empsychon. Selbstmord vor der Zeit aber istverboten.17 Der Mythos wird so zur Begründung einer erschütternden Umwertung des Lebens: Nur Last und Strafe sind zu erwarten. Eben damit freilich ist umgekehrt den in der Realität Bedrückten und Unterdrückten eine Möglichkeit gegeben, diesem ihrem Leben voller Plage einen Sinn zu geben. Auch wandernde Orpheotelesten waren oft nicht besser gestellt als Bettler.18 Man ist von hier aus geneigt, die Orphik in einer Schicht der "kleinen Leute" anzusiedeln, sollte aber nicht übersehen, dass eben jene von Platon karikierten "Telesten" "zu den Türen der Reichen" gehen. Der Begriff der "Orphiker" (Orphikoi) ist durch das Graffito von Olbia19 gesichert; man wird Gruppen der durch gemeinsame Lebensführung verbundenen annehmen, auch wenn es an Zeugnissen fehlt. Einen Bios gestiftet zu haben, ist nach Platon die dauerhafte Leistung des Pythagoras. Im einzelnen indessen tritt uns da ein Konglomerat von Vorschriften entgegen, das kaum auf einen Grundgedanken zurückzuführen ist. Sie heißen akousmata, "Gehörtes", durch die mündliche Lehre des Meisters legitimiert, oder auch symbola, "Erkennungszeichen". Sie machen den "Pythagoreischen Bios" aus. 20 Sie stehen nicht 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Arist. probl. ined. 3,43 Bussemaker = OTF 633; Iambl. Vit. Pyth. 154; Ath. 656b. Mart. Cap. 2,140; Pierre Boyanee, Me!. d'areh. et d'hist. 52, 1935,95-112. Orpheus und Hippolytos sind Frauen-Feinde. Plat. Krat. 400e.; Alberto Bernabe, Una etimologia plat6nica: söma-sema, Philologus 139, 1995, 204-237. Plat. Phd. 62b, dazu der Kommentar des Xenokrates, -+ VI 2 Anm. 68. Arist. Fr. 60. Plat. Phd. 62b; J. C. G. Straehan, CQ 20, 1970,216-220. Plut. Lak.apophth. 224e; vgl. Plat. Resp. 364b. -+ VI 2 Anm. 52. GdH II 199 fhatte auf dem Fehlen von Belegen für Orphikoi insistiert. Plat. Resp.600b; Fritz Boehm, De symbolis Pythagoreis, Diss. Berlin 1905; Haussleiter (-+ Anm. 7)
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in fester Beziehung zu einem Ritual: Es gibt keine "pythagoreische" Telete; der Bias lässt den Kult hinter sich. Gewisse Beziehungen zu Mysterienweihen bleiben, im Bohnenverbot wie in dem Hinweis auf Ferkelopfer, von denen man isst. 21 Erstaunlicherweise gilt kein absoluter Vegetarismus; statt dessen gibt es spezielle Verbote, bestimmte Teile von Opfertieren zu essen, vor allem das Herz. Es gibt Vorschriften besonderer Frömmigkeit: das Heiligtum barfuß betreten, nicht die Hand in das Wassergefäß am Tempeleingang tauchen, Spenden für die Götter nur am Henkel des Gefäßes ausgießen, wo man selbst nicht die Lippen ansetzt; Vorschriften über das Begräbnis wie das von Herodot erwähnte Verbot wollener Gewänder22 gehören dazu. Vieles aber reglementiert auch das Alltagsleben: beim Aufstehen das Bett richten und die Spuren verwischen; nicht mit einem Messer im Feuer stochern; nicht über einen Besen oder ein Joch hinwegtreten; nicht auf einem Getreidernaß sitzen; nicht bei Licht sich im Spiegel besehen; nicht ohne Licht sprechen; Brot nicht brechen; was vom Tisch fällt, nicht aufheben, "denn es gehört den Heroen". Unter rein moralischen Vorschriften fällt auf, dass, im Gegensatz zur allgemeinen Praxis, auch dem Mann der außereheliche Geschlechtsverkehr verboten wird. 23 Das Ernstnehmen der Akusmata bedeutet eine strenge Einengung des Lebens: Ob man aufsteht oder zu Bett geht, Schuhe anzieht oder Nägel schneidet, Feuer schürt, den Topf aufsetzt oder isst, immer hat man auf eine Regel zu achten, einen Fehler zu vermeiden. Mythischer Ausdruck dieser Ängstlichkeit ist der Glaube, die ganze Luft sei voll von Seelen - die Sonnenstäubchen, die man im Sonnenstrahl tanzen sieht, seien "Seelen"; es sei verwunderlich, wenn ein Mensch glaube, ihm sei noch nie ein daimon begegnet. 24 Mit den Orphikern teilen dabei die Pythagoreer die Auffassung vom Leben als Plage und Strafe: "Gut sind die Mühen, die Vergnügungen aber sind in jedem Fall übel; denn wer zur Strafe gekommen ist, muss bestraft werden".25 Dank ihren "Erkennungszeichen" fanden sich Pythagoreer leicht zusammen, gewährten einander finanzielle und politische Unterstützung. Zumindest zeitweilig, in Kroton und an anderen Orten, entstanden Gemeinschaften der durch ihre Lebensweise Verbundenen, die geradezu klösterliche Formen anzunehmen scheinen. 26 Wer eintrat, verzichtete auf Privatbesitz; er hatte sich einer fünfjährigen Schweigeperiode zu unterziehen; wer aus der Gemeinschaft austrat, wurde als Toter behandelt; man setzte ihm ein Grabmal. Vergleichbarer Radikalismus ist nur im Judentum zu finden.
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97-157; L&S 166-192. L&S 180-182. Zum Bohnenverbot ~ Anm. 9. Hdt. 2, 81. ~ VI 2 Anm. 36. Iambl. Vit. Pyth. 50; 132. Arist. an. 404a16; Fr. 193. --+ III 2 Anm. 140. Iambl. Vit. Pyth. 85, nach Aristoteles. Iambl. Vit. Pyth. 96-100, wohl nach Aristoxenos; doch schreibt Iamblich bereits in Konkurrenz zum Christentum und kann zumindest Akzente zurechtgerückt haben. Vgl. Burkert, Craft versus Sect, in Burkert 2006, 191-217.
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VI
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Man hat in suggestiver Weise die Bezeichnung "Puritanismus" auf den orphischen und den pythagoreischen Bios übertragen,27 im Sinn der düsteren Lebensauffassung, der radikalen und starren Reglementierung, der Distanz zu Diesseits und Körperlichkeit. Einzelne wandernde Seher und ,,wundermänner" waren wohl seit je mit absonderlicher Lebensführung hervorgetreten; Pythagoras steht in einer Tradition von Männern wie Epimenides. 28 Enthaltungen und "Reinigungen" wurden im Zusammenhang mit Festen, besonders Mysterien, immer verlangt. Doch wenn der Ausnahmezustand zum dauernden Gruppenmerkmal wird, ändert er seine Funktion. Der Rhythmus von Außerordentlichem und Ordnung fällt dahin, an seine Stelle tritt der Gegensatz zur "gewöhnlichen" Welt kraft des neuen selbstgewählten Lebens. Die Besonderheiten der Lebensführung werden zur andauernden Selbstbestätigung im geschlossenen Zirkel. Insofern lässt sich die orphische und pythagoreische "Reinheit" interpretieren als Protestbewegung gegen die etablierte Polis. 29 Durch die Nahrungstabus wird die elementarste Form der Gemeinschaft, die Tischgemeinschaft, in Frage gestellt; das zentrale Ritual religiöser Ordnung, das Opfermahl, muss verworfen werden. Radikal hat dies freilich nur der Einzelgänger Empedokles getan; es gab Möglichkeiten des Kompromisses, gespiegelt auch in der Seelenwanderungslehre;30 zumindest Initiationsopfer bestanden fort. Doch als eigentliche gottesdienstliche Handlung bleibt dem Orphiker und Pythagoreer nur noch das Rauchopfer. 31 Auf jeden Fall tritt an Stelle der vorgefundenen Gemeinschaften von Familie, Stadt und Stamm eine selbstgewählte Form der Bindung, Gemeinschaft aus gleichem Entschluss und gleicher Gesinnung. Für die Pythagoreer hat diese neue Form mit ihrem elitären Anspruch zur Katastrophe geführt: Es kam in Unteritalien um die Mitte des 5. Jahrhunderts zu politischen Wirren, in deren Verlauf die Versammlungshäuser der Pythagoreer angezündet, Pythagoreer in Scharen ermordet wurden. 32 Blutiger Bürgerkrieg war in griechischen Städten keine Seltenheit; doch hier scheint daraus erstmals eine Art Pogrom zu werden, Verfolgung derer, die durch Lebensweise und Gesinnung anders sein wollen als die anderen. In der Folge blieb der Pythagoreismus eine Randerscheinung, eine unterschwellige Strömung. Bezeichnend ist dabei, welch verschiedene Formen die Tradition des Pythagoras annimmt: Man knüpft an ihn die diätetische Medizin,33 die Methode also, durch genau reglementierte Lebensführung auf Grund individueller Entschei-
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Dodds 1951, 135-178. -- II 4 Anm. 18; L&S 147-161. Detienne 1972, 71-114; Detienne 1977; Edmunds 2004. »In Opfertiere gehen Menschenseelen nicht ein", Iambl. Vit. Pyth. 85, oder: Opferschlachtung ist vorherbestimmte, gerechte Exekution, Porphyrios bei Stob. 1,49,59; vgl. Plat. Leg. 870e; L&S 182. So in der spätantiken Sammlung Orphischer Hymnen. Polyb. 2,39; L&S 115-117. Porph. Abst. 1,26 ~ Herakleides Pont. FrAO Wehrli; L&S 180 f; 293.
452
3 Bios
dung (diaita) die Gesundheit zu schützen, aber auch die Bewegung der Kyniker/ 4 die den Protest gegen das Etablierte durch aufreizende Lebensführung zum Äußersten trieben, und schließlich die Essener/5 die jüdischen Sektierer am Toten Meer. Die Form des selbstgesetzten Bias kann ebenso aus der Religion überhaupt hinausführen wie Ansatz zu einer ganz neuen, andersartigen Religion werden. Doch kam dies erst weit jenseits der klassischen Epoche voll zum Tragen.
34 35
Diodoros of Aspendos, L&S 202-204. los, ant. lud. 15,10,4.
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VII
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1 Der Neuansatz: Das Seiende und das Göttliche Mit dem Aufgang der Philosophie,! der eigentümlichsten Leistung der Griechen für die geistige Tradition der Menschheit, kommt scheinbar endgültig Erschütterung und Umbruch ins statisch-strukturelle Bild der griechischen Religion. Es liegt nahe, Geistesgeschichte nunmehr zu dramatisieren als einen Kampf mit wechselnden Vorstößen, Siegen und Niederlagen, wobei der Mythos sukzessive dem Logos erliegt und das Archaische durch Modernes verdrängt wird. Aber es handelt sich gerade unter religionsgeschichtlichem Aspekt um einen sehr merkwürdigen Kampf: Die Entscheidung scheint von allem Anfang an gefallen zu sein, und doch bleibt sie praktisch wirkungslos. Das Bild der tatsächlichen Religion verändert sich kaum, den Taten der "großen Geister" zum Trotz. Was sich ändert, wenn die Philosophie wirksam wird, ist in der Tat vor allem die Art des Sprechens und der Rezeption. Bisher war Religion durch Verhaltensformen und Institutionen gegeben; durch Nachahmung und Akzeptanz; jetzt geht es um Thesen und Gedanken individueller Menschen, die einer sich bildenden Öffentlichkeit gegenüber sich äußern, ja schriftlich eine dauerhafte Richtigkeit in Anspruch nehmen. Persönliche Texte sind jetzt da, wie es sie nach Form und Inhalt vorher nicht gegeben hat. Die Philosophie beginnt mit dem Prosabuch. Hier ist nicht die gesamte, besonders auf Naturwissenschaft und Mathematik hinführende Entwicklung darzustellen, sondern nur die besondere Art des Sprechens über Götter, der theologia,z die damit von vornherein einhergeht. Bisher war das Sprechen über Götter Vorrecht der Dichter, eindrücklich und unverantwortbar:
2
Die eigentliche griechische Philosophie kann hier nicht einmal in Andeutungen behandelt werden. Standardwerke sind: Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, I, Leipzig 71923; 111 (Platon), Hildesheim 51922; II 2 (Aristoteles), Leipzig i1921; Karl Praech· ter, Die Philosophie des Altertums (Friedrich Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie 1), Berlin 12 1926; William K. C. Guthrie, History ofGreek Philosophy I-VI, Cambridge 1962-1981; Flashar 1983-2007. Grundlegende Textausgabe: VS. Zur "Theologie": Edward Caird, The evolution of theology in the Greek philosophers, Glasgow 1904 (Die Entwicklung der Theologie in der griechischen Philosophie, Halle 1909); Otto Gilbert, Griechische Religionsphilosophie, Leipzig 1911; Roy K. Hack, God in Greek philosophy to the time of Socrates, Princeton 1931; Harry A. Wolfson, Religious philosophy, New York 1971; Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen I, Dannstadt 1971; Daniel Babut, La religion des philosophes grecs, Paris 1974; Andre Motte, Philosophie et religion dans la Grece antique, Kernos 1, 1988, 163-176; Lloyd P. Gerson, God and Greek Philosophy, Studies in the early history of natural theology, London 1990; zu den Vorsokratikern: Jaeger 1947/1953; Geof&ey S. Kirk/John E. Raven/Malcolm Schofield, The Presocratic Philosophers, Cambridge 21983; Alberto Bernabe, Textos 6rficos y filosofia presocratica, Madrid 2004; Gemelli Marciano 2007/2009. Ältester Beleg des Wortes Plat. Resp. 379a; doch "reden über Götter" schon Xenophanes B 34, Empedokles B 131; Jaeger 1953, 9-18; Viktor Goldschmidt, REG 63, 1950, 20-42.
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PHILOSOPHISCHE RELIGION
Die Muse hat es gegeben, doch wissen Musen auch viele Lügen zu künden. Horner und Hesiod hatten die allgemein bekannten Gestalten umrissen, Lyriker hatten in immer kunstvolleren Weisen bei den Götterfesten das Bekannte in neuen Schattierungen und Glanzlichtern vor Augen geführt. Doch indem man sich an die Spielregeln der Kunst hält, hat jede Äußerung zugleich ein spielerisches Element. Die Aussagen von "Weisen" wie Solon zielten auf allgemeine und dauerhafte Richtigkeit, doch im Partiellen blieb Allgemeineres eher vermutend zu suchen. Anders eine zusammenhängende Prosaschrift: Die Stützen und vorgezeichneten Bahnen der Beiwörter und Formeln sind verschwunden; versucht wird, auf direktem Weg über einen Sachverhalt in sachlicher Weise zu sprechen. Im Felde der Religion einen Sachverhalt zu bestimmen, erweist sich freilich als Problem. Im Hintergrund steht die Verselbstständigung des Individuums in einer von wirtschaftlichem Wachstum geprägten Zivilisation: Griechen haben sich im Mittelmeerraum durchgesetzt, Griechisches wird zum überall nachgeahmten Vorbild. Handel und Gewerbe sind im Aufschwung; Münzprägung wird zum Stimulans und Maß der Ökonomie; dem Einzelnen bieten sich Entfaltungsmöglichkeiten, die in Familie, Stadt und Stamm nicht vorgezeichnet waren. Grenze und Anregung findet die Expansion in den hochkultureIl befestigten Mächten und Großmächten des Ostens. Die Anfänge der Philosophie liegen in Ionien, in Milet und Ephesos, zu der Zeit, als erst die Lyder, dann die Perser ihre Herrschaft auch über Griechen begründen. Der Tradition nach erschien das Buch des Anaximandros ein Jahr vor der Eroberung von Sardes durch Kyros. 3 Der Kontakt mit Fremden reduziert sich notwendigerweise zunächst auf Handgreifliches. Der differenzierte Hintergrund personaler und familiärer Kultur, heiliges Herkommen, Dichtung und Religion sagt und bedeutet dem Fremden nichts. Verständigung erzielen kann man dagegen leicht über Gegebenheiten, wie sie als "Zeugen" schon in den alten Eidformeln angerufen werden, Himmel und Erde, Sonne und Meer. Wenn der Perser die Hände zu Ahura Mazda erhebt, sieht der Grieche das Himmelsrund und stellt fest, dies sei der Gott, den die Perser verehren.4 Religion und Mythos in Mesopotamien, Ägypten und Iran waren mehr auf den Kosmos bezogen als der "homerische" Anthropomorphismus; die homerischen Götter aber sind nicht in solcher Weise aufzeigbar. Die Dichtungen sind von Dichtern geschaffen, die Statuen von Künstlern. Wie kann man darüber im Stil der Sachlichkeit sprechen? Natürliche, unverformte Sprache ist sinnvoll, sofern sie einen Gegenstand aussagt. Dieser Gegenstand lässt sich in griechischer Sprache in allgemeinster Form fassen als das "Seiende", und zwar als Pluralform: td 6nta. Schriftliche Gesetze und wohl auch praktische Anweisungen gab es seit längerem; Philosophie entsteht mit dem Versuch, über "alles" in gleicher Weise schlicht das Richtige zu sagen. So wagt man 3 4
Sofern die Altersangabe Apollodor FGrHist 244 F 29 = VS 12 A 1, 2 mit dem Abschluss von Anaximandros' Buch zusammenzunehmen ist. Hdt. 1,131. -+ V 3 Anm. 53.
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allgemeine Aussagen jenseits des Banalen. Hauptgegenstände der Erklärung werden die "Dinge am Himmel", meteora, dazu die "Dinge unter der Erde", was den dunklen Todesbereich einschließt. Dass es einen "Anfang", arche, geben müsse, von dem aus "alles" zu erklären wäre, ist ein Postulat, das schon den kosmogonischen Mythen innewohnt, von Hesiod verwendet wird und etwa gleichzeitig in Palästina neu fixiert wird. 5 Neu ist die Einsicht, dass es ein "Werden" eigener, von den Menschen nicht zu beeinflussender Gesetzlichkeit gebe, physis - in lateinischer Übersetzung natura. Dass die bestehende Welt letztlich "Ordnung" sei, k6smos, knüpft enger an die kosmogonische Tradition an, wird aber im neuen Terminus explizit gemacht. Aus der Tradition übernimmt man mit Selbstverständlichkeit die Form des Mythos, die Vergangenheitserzählung, um das Werden der Welt zu beschreiben. Die Männer, die mit Büchern solchen Inhalts hervortraten, hatten für sich und ihr Unternehmen noch keinen Namen; allenfalls konnte man vom "Weisheit-Betreiben" der Weisen, dem sophizesthai der sophoi, sprechen: Sie waren also sophistai; wer sich darum bemüht, mag phil6-sophos heißen; "Philosophie" im prägnanten Sinn ist erst eine Wortprägung Platons. 6 Die Modernen haben einen Terminus geprägt, der im Grunde nur Negatives aussagt: Die "Vorsokratiker". Diese Literatur beginnt in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts mit den Milesiern Anaximandros und Anaximenes, es folgt Heraklit von Ephesos; einen bereits polemischen Neuansatz, markiert durch den Rückgriff auf die poetische Form, bringt Parmenides von Elea, der durchdachte Begrifflichkeit und begriffliche Beweise schafft. In der Auseinandersetzung mit seinen Prinzipien entwerfen im 5. Jahrhundert Anaxagoras, Empedokles, Leukippos und Demokritos Modelle umfassender Welterklärung, die Konstanz und Veränderung der materiellen Welt zum Ausgleich zu bringen versuchen: Anfänge echter Naturwissenschaft. Eine Neubesinnung, von den Sache zur Person, bringt Sokrates, an den dann die philosophischen Klassiker anknüpfen, Platon und Aristoteles. Im Buch des Anaximandros7 ist im Prinzip bereits das Weltmodell entworfen, das bis zur kopernikanischen Wende bestimmend blieb und der Wissenschaft und der Religion gleichermaßen zu genügen schien: Der Mensch mit seiner relativ kleinen Erde im Zentrum des Universums, umgeben von den wachsenden Kreisen der Gestirnbahnen, letztlich umschlossen von einem Höchsten, Göttlichen. Auf die Bizarrerien dieses ersten Entwurfs im Einzelnen ist hier nicht einzugehen. Das Werden von Erde und Himmelsrädern, die Bewegungen von Sonne, Mond und Sternen und auch die Himmelserscheinungen wie Blitz und Donner, Wolken und Regen, Hagel und Schnee werden dabei mit Selbstverständlichkeit als Ineinanderwirken 5 6 7
Hes. Theog. 115; AT Gen.1,I; Thales VS 11 A 12. Burkert 2006, 217-235. VS 12; Charles H. Kahn, Anaximander and the origins ofGreek cosmology, New York 1960; Carl]. Classen, RE Suppl. XII 30-69; Daniel Babut, REG 85, 1972, 1-32; Hermann Schmitz, Anaximander und die Anfänge der griechischen Philosophie, Bonn 1988; Dirk L. Couprie/Robert Hahn/ Gerard Naddaf, Anaximander in Context, Albany 2002; Gemelli Marciano 2007, 132-69.
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handgreiflicher Dinge erklärt: Feuchtes trocknet aus, Feuer bringt zum Schmelzen, bewegte Luft wird zum Windstoß, der Wolken ballt und zersprengt. Von einem Zeus, der nach den Worten der Dichter und nach populärem Glauben "regnet" oder Blitze schleudert, bleibt so wenig eine Spur wie von einem Sonnengott, der tagsüber mit Pferd und Wagen über den Himmel fährt, um am Abend bei Mutter, Frau und Kindern einzukehren. Und doch sind diese "seienden Dinge" bei Anaximandros nicht autonom. "Anfang" von allem ist das "Unendliche", apeiron, unermesslich, ungeschieden, unerschöpflich; es "umfasst alles", "lenkt alles", es ist "unsterblich und nicht alternd", es ist "göttlich".8 Damit sind die homerischen Prädikate der Götter bewahrt, auf ein Erstes und Höchstes übertragen; doch an Stelle mythischer Götterpersönlichkeiten steht ein Neutrum: "das Göttliche", theion. Seine Göttlichkeit besteht - und dies ist traditionell- in seiner Ewigkeit und in seiner Macht: Was "alles lenkt", ist nachgerade allmächtig. Wie sich dies im Einzelnen vollzieht, finden wir freilich nicht ausgeführt. Doch dies ist damit gesagt: Unsere Welt, in der Flamme und Dunst, Feuchtes und Trockenes, Erde und Meer sich gegenseitig und wechselweise verdrängen und Grenzen setzen, ist umfangen von einem Höheren; woraus die Dinge entstehen, in das vergehen sie auch "nach der Notwendigkeit; denn sie zahlen einander Buße und Strafe für das Unrecht nach der Ordnung der Zeit" - so der berühmte Satz, der zumindest teilweise originalen Wortlaut bewahrt.9 Modell für die Ordnung der Zeit ist der Jahreslauf: Unrecht tut der Tag der Nacht im Sommer, die Nacht dem Tag im Winter, doch muss eines dem andern peinlich genauen Ersatz leisten für jeden Übergriff. Kühn wird dies verallgemeinert: Alles "Seiende" steht in der Zeit zwischen Werden und Vergehen, und das Vergehen, dem sich keines entziehen kann, ist jeweils "Buße" für Übergriffe, die mit jedem Wachstum verbunden sind. Ordnung besteht im Ausgleich. Jenseits von Werden und Vergehen steht das "Göttliche", Ursprung und Steuerung; im Blick auf dieses lässt sich alles Geschehen, gerade auch die Vernichtung, als gesetzlich Geordnetes begreifen und akzeptieren. Solche Haltung ist eine "Frömmigkeit", die vom homerischen Bild der souveränen, entrückten Götter gar nicht so weit entfernt ist. Doch fehlt die personhafte Beziehung; dafür verspricht dieser umgreifende, nicht alternde "Anfang" eine Geborgenheit, der nichts entfallen kann. Homers Götter verlassen den Sterbenden; Vergehendes bleibt aufgehoben im All. AnaximenesIo hat das Prinzip, vom unmittelbar Gegebenen aus zu sprechen, noch konsequenter verfolgt, indem er an Stelle des jenseitigen "Unendlichen" die Luft, besser wohl: den "Dunst", aer, als "Anfang" setzte. Aus ihm entsteht durch Verdichtung und Verdünnung, "was war, was ist und was sein wird, Götter und
8 9 10
VS 12A 15. VS 12 BI - Simp!. phys. 24,14-21, aus Theophrast, Fr. 226A Fortenbaugh. VS 13; Carl J. Classen, RE Supp!. XII 69-71; Georg Wöhrle, Anaximenes aus Milet. Die Fragmente seiner Lehre, Stuttgart 1993; Gemelli Maricano 2007, I 70-99.
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Göttliches"Y Dabei ist offenbar Ausgleich mit der herkömmlichen Sprechweise gesucht: Es mag eine Mehrzahl von "Göttern" und göttliche~ Phänomenen geben, wozu vielleicht auch Helios, die Sonne, zu rechnen ist; doch Gewordenes ist im Prinzip auch vergänglich; über allem steht jener "Anfang", der in seinen Modifikationen immer präsent bleibt. Die Konsequenzen zog Xenophanes von Kolophon12 ; als Dichter und Rhapsode hat er seine Thesen zugleich popularisiert und verbreitet, in der herkömmlichen Form der Kommunikation und doch gefestigt durch schriftliche Aufzeichnung. "Einer ist Gott, unter Göttern und Menschen der Größte"; was wie Monotheismus klingt, ist doch Anlehnung an durchaus übliche Formeln: Einer ist der Größte und ist eben darum nicht alleinP Dieser Gott aber ist weder an Gestalt noch an Gedanke sterblichen Menschen ähnlich, er ist unbeweglich, denn "es ziemt sich nicht" für ihn, "bald da-, bald dorthin zu wandeln."14 Erstmals wird damit das Sprechen über Göttliches von Postulaten des "Geziemenden" beherrscht. Was dem Gott bleibt, ist denkendes Erfassen - der "Weise", der die Athleten verachtet,15 setzt das körperliche Gottesbild außer Kraft: "Als ganzer sieht er, als ganzer erfasst er, als ganzer hört er"; "fern von Mühe erschüttert er alles durch denkendes Erfassen".16 Homers Zeus, der durch das Nicken seines Hauptes den Olymp erschüttert, bleibt weit zurück. Aristoteles meint, Xenophanes habe "zum Himmel aufgeblickt und so das All Gott genannt";17 dabei fasst Xenophanes doch nur zusammen zum polemischen Stoß, was auch Anaximandros und Anaximenes geschrieben hatten: Der göttliche Anfang, der alles umfasst und alles lenkt, aus dem alles hervorgeht, auch Götter und Göttliches, ist ja in der Tat der Eine, Größte. Die originelle Fortführung liegt im Begriff des "denkenden Erfassens", nous; die Frage, wie denn das Göttliche alles lenken könne, wird beantwortet, indem ein menschliches "Kaum gedacht - schon getan" zu einer gött:lichen Identität von Denken und Wirken gesteigert wird. Der Begriff des "Geistes" (nous), der damit in die Theologie eingeführt war, ist für die Zukunft beherrschend geblieben. Xenophanes trägt diese seine "Theologie" in schärfster Polemik gegen die Göt:ter von Homer und Hesiod vor;18 die Kritik an deren Unmoral wird zu einer beißenden Widerlegung des Anthropomorphismus überhaupt: Könnten sie zeichnen, "würden Pferde ihre Göttergestalten Pferden ähnlich, Rinder Rindern ähnlich malen"; 11 12 13 14 15 16 17 18
VS 13 A 7 und Philodem bei Hermann Diels, Doxographi Graeci, Berlin 1879, 531 f; problematisch A 10. VS 21; Kurt von Fritz, RE IXA 1541-62; Gemelli Marciano 2007, I 222-283. VS 21 B 23; vgl. Erik Hornung, Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt 1971. VS 21 B 26; Jaeger 1953, 275. VS 21 B 2. VS 21 B 24/25. VS 21 A 30 - Arist. met. 986b20. -V3Anm.5.
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denn auch "die Äthiopen sagen, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, sie seien blauäugig und rotblond".I9 Menschen haben je ihr eigenes Bild zu Göttern gemacht. All dies sind "Fiktionen der Früheren", zo die hic et nunc keine Geltung haben. Der Bruch mit der Tradition ist vollzogen. Diese Kritik des Xenophanes an der homerischen Religion war im Grunde nicht zu übertreffen, und sie wurde niemals widerlegt; selbst Christen hatten dem nichts weiter hinzuzufügen. Freilich, indem Xenophanes selbst in homerischer Form dichtete, blieb der Konflikt eingeordnet in die bereits etablierte Sphäre des Dichterstreits, des Wettkampfs der "Weisen"; Xenophanes hatte Zuhörer, doch keine "Jünger". Radikale Kritik verbindet Heraklit, der eigenwilligste der "Vorsokratiker", mit dem Anspruch vertiefter Einsicht ins "Seiende" und schafft so den Ansatz einer ganz neuen Sprache der Frömmigkeit. 2I Kunst und Verführung der Sprache schaffen eine bleibende Faszination. Die Angriffe richten sich jetzt nicht nur gegen Homer und Hesiod, auch gegen andere "Lehrer", unter denen neben Pythagoras auch bereits Xenophanes in der Kritik steht, vor allem aber auch gegen die Rituale des herkömmlichen Kults. Wiederum entstehen Formulierungen von einer Schärfe, die christlichen Polemikern vorzugreifen scheint; so gegen das Gebet vor Götterstatuen: "als ob einer mit Häusern Unterhaltung pflegen wollte"; gegen Reinigung von Blut durch Blut: "als ob einer, der in Schlamm gestiegen ist, mit Schlamm sich waschen wollte".zz "Wäre es nicht für Dionysos, dass sie eine Prozession veranstalten und ein Lied auf Genitalien singen, ist Schamlosestes vollbracht. Derselbe aber ist Hades und Dionysos, für den sie als Mänaden und Unai auftreten" - da scheint die Polemik ins Mysterium umzuschlagen; gern wird darum der Satz zitiert; doch kann er "natürlich" als das gefährliche Paradoxon des dionysischen Weins verstanden werden: Versinken im Rausch ist Sterben der Seele in Feuchtigkeit. 23 Doch "der Weg hinauf und hinab ist einer und derselbe".24 Denn der Mensch hat es mit einer geheimnisvollen, doch geistgeleiteten und vom Göttlichen durchdrungenen Wirklichkeit zu tun. Die Menschen freilich sehen nicht, was ist, ob es ihnen gleich auf den Nägeln brennt. Heraklit aber spricht mit dem in seinem Buch niedergelegten Wort, logos, zugleich die Formel alles Seienden, Gesetz und Rechnung, logos aus. 25 Wirklichkeit ist ein Prozess antithetischer Verwandlung. "Diesen Kosmos, denselben für alle Wesen, hat weder einer von den Göttern noch von den Menschen gemacht, sondern stets war er, ist er und wird er sein: Feuer, stets 19 20 21 22 23 24 25
VS 21 B 15/16. VS 21 B 1,22. VS 22; große kommentierte Ausgabe durch Miroslav Marcovich 1967; RE Suppl. X 246-320; Oemelli Marciano 2007, I 284-369. B 5 = 86 Marcovich = 15 Oemelli Marciano. B 15 = 50 Marcovich = 14 Oemelli Marciano, vgl. Albin Lesky, Oes. Schriften, Bern 1966,461-467; vgl. Heraklit B 36 = 66 Marcovich = 54 Oemelli Marciano. B 60 = 33 Marcovich = 32 Oemelli Marciano. B 1 = 1 Marcovich = 16 Oemelli Marciano.
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lebendig, sich entzündend nach Maßen und erlöschend nach Maßen".26 Alle Veränderung wird zum "aufdampfenden" RauchopferY "Gott ist Tag - Nacht, Winter - Sommer, Krieg - Frieden, Übersättigung - Hunger"; "er ändert sich, wie ,Feuer', wenn es mit Räucherwaren sich mischt, benannt wird nach dem angenehmen Duft eines jeden".28 Die Welt ist ein Prozess und doch eine Einheit kraft des "Göttlichen": "Alle menschlichen Gesetze nähren sich von dem Einen, dem Göttlichen; denn es herrscht, soweit es will, hält Stand gegen alles und bleibt überlegen".29 Das Stärkere, Lenkende, wie bei Anaximandros, ist zugleich Gedanke, wie bei Xenophanes: "Einsicht" (gnome) lässt sich "verstehen" als das, was "alles durch alles lenkt",30 ein "Feuer", das "vernünftig" ist: "alles steuert der Blitz'?l als stärkste Form der feurigen Energie. "Eines ist das Weise, allein; es will nicht und will doch mit Namen Zeus genannt werden".32 Der homerische Name des Blitzeschwingers bleibt für den denkenden All-Lenker immerhin möglich. So bleibt die Brücke zur Tradition erhalten. Indem Heraklit die Sprache abzuhorchen und einzusetzen weiß wie keiner vor ihm, schafft er eine Form feierlicher Prosa, Prosa-Kunst, die zur gemäßen Form des Sprechens auch über den Gott wird, den einen, geistigen, lenkenden, wobei freilich durch Antithesen und gesuchte Widersprüche Rätsel aufgegeben sind, was Tiefe andeutet oder vorspiegelt. Gewissermaßen als Antipode Heraklits entwickelt Parmenides 33 von Elea mit einer neuartigen, rücksichtslosen Konsequenz des Denkens eine Lehre vom reinen "Seienden", indem er doch auf die alte Form des hesiodeischen Lehrgedichts zurückgreift; seine erregende Folgerung: Wenn denn das "Seiende" ist, kann es Werden und Vergehen nicht geben, also auch keinen Tod. Grundlage des Beweises ist eine strenge Korrelation von denkendem Erfassen (noein), Sprechen und "Seiendem". Wahrheit wird damit nicht nur von der Tradition, sondern auch von der Alltagserfahrung unabhängig. In welche Schwierigkeiten der sogenannte gesunde Menschenverstand sich verstrickt, zeigt dann Parmenides' Schüler Zenon am Paradoxon des Infinitesimalen: nie kann Achilleus die Schildkröte einholen, denn jedes Mal ist sie einen immer kleiner werdenden Bruchteil voraus. 34 Das Denken setzt sich autonom; es erfasst, nach Parmenides, das ungewordene, unvergängliche, ungeteilte und unbewegliche Sein, "einer wohlgerundeten Kugel ähnlich".35 Fast beiläufig wird mit diesem "Seienden",
26 27 28 29 30 31 32 33
34 35
B 30 - 51 Marcovich - 40 Gemelli Marciano. B 12 - 40 Marcovich - 52 Gemelli Marciano. B 67 - 77 Marcovich - 50 Gemelli Marciano. B 114 - 23 Marcovich - 18 Gemelli Marciano. B 41 - 85 Marcovich - 23 Gemelli Marciano. B 64 - 79 Marcovich - 38 Gemelli Marciano. B 32 - 84 Marcovich. VS 28; aus der überreichen Literatur seien genannt: Alexander Mourelatos, The Route of Parmenides, New Haven 1970; Ernst Heitsch, Parmenides, München 1974; A. H. Coxon, The Fragments of Parmenides, Assen 1986. VS 29 A26. B 8,43.
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das hinter allem Werden und Vergehen besteht, ein Prinzip aufgestellt, das bis heute die Naturwissenschaft trägt. Besteht eine gewisse Ähnlichkeit dieses "Seienden" zum "größten" Gott des Xenophanes, so heißt es doch nicht Gott. Erst im zweiten Teil des Lehrgedichts, in dem Parmenides die "Meinungen der Sterblichen" zum kosmischen System erhebt, ist es dann doch eine Gottheit, ein weiblicher daimon, der "in der Mitte" befindlich "alles lenkt",36 Zeugung und Geburt veranlasst, Wesen vom Leben zum Tod und vom Tod zum Leben sendet. Auch Götter werden dabei erschaffen oder vielmehr erdacht, "Eros als erster von allen Göttern", kosmische Liebes- und Zeugungsmacht. 37 So durchdringen sich traditionell-mythische und neue Kosmogonie mehr als zuvor, doch nur in einem uneigentlichen, "trügerischen" Sprechen. Auch das Proömium des Gedichts, das eine Wagenfahrt durch das Tor von Tag und Nacht zu einer geheimnisvollen Göttin schildert,38 ist nur Hinführung zur Offenbarung, die in sich selbst gegründet ist. Das Seiende ruht aus eigener Notwendigkeit in sich und scheint der Theologie nicht zu bedürfen, vom kultischen Ritual ganz zu schweigen. Die Bücher von Anaximandros und Anaximenes sind wohl nur von wenigen gelesen worden. Xenophanes war sein eigener Propagator. Heraklit tritt in der Pose des Einzelgängers auf; doch weihte er sein Buch in den Artemis-Tempel zu Ephesos 39 und stellte es damit der Öffentlichkeit dar; seine Publikation war ein Erfolg, es müssen bald viele Abschriften zirkuliert haben; nachahmende "Herakliteer" treten mehrfach im 5. Jahrhundert auf, machen Eindruck und haben Erfolg.40 Die Thesen des Parmenides aber wirkten nicht nur auf direkte Schüler und Anhänger wie Zenon und Melissos, sie schienen unwiderlegbar und zwangen jeden, der fortan über "Seiendes" sich äußern wollte, zur Auseinandersetzung. So war eine Denkbewegung entstanden, in der Einzelne gegeneinander und doch in gemeinsamem Streben das Sprechen über Göttliches und Götter in neuen Bahnen führten. Der Ansatz ist dabei alles andere als unfromm; über bewussten Bruch hinweg bleibt eine verbindende Grundlage erhalten. Die homerischen Götter waren keine kosmischen Potenzen, sie waren erzählerisch personalisiert und zugleich begrenzt vom Horizont kleiner archaischer Gruppen, aber sie waren doch Repräsentanten von Realität, nicht Vorwand magischer Wunscherfüllung. Daher die Überzeugung, dass genaueres Erfassen des Wirklichen nicht von den Göttern wegführt, sondern die ganze Fülle des Göttlichen erst einsehbar macht: "Alles ist voll von Göttern", soll schon Thales gesagt haben;41 sie sind nicht von den Mauern eines Heiligtums ein-
36 37 38 39 40 41
B 12; Simpl. phys. 39,20. B 13. Burkert 2008, 1-27. Diog. Laert. 9,6. Insbesondere setzt sich auch der Autor von Derveni mit Heraklit auseinander. VS 11 A 22; vgl. Heraklit bei Arist. Part. an. 645a21; Hippokrates Morb. sacr. 18, VI 394 Littn' und Aer. 22, II 76/8 Littre.
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geschlossen, außerhalb dessen man sie beiseite lassen kann. Nur der Anthropomorphismus erweist sich als Fessel, die abgeworfen wird. Homers Götter waren "immer seiend", groß und schön, sie waren die "Stärkeren", Anfang und Ursache menschlichen Geschehens; nun steht als Ursprung alles Seienden das Göttliche da, ewig, unerschöpflich, allmächtig und allwissend. An die Stelle der "Schau" von Götterfesten tritt die "Schau" auf den wohlgeordneten Kosmos der seienden Dinge: theoria. Dazu gehört ,wissende Einordnung, Anerkennung auch des Untergangs. Soweit konnte es geradezu eine Kontinuität der eusebeia geben. Und doch fehlt die Gegenseitigkeit der chdris. Kann man noch sagen, dass das Göttliche sich um die Menschen, um den einzelnen Menschen kümmert?42 Hier war der praktischen Religion eine Wunde geschlagen, die sich nicht wieder schließen wollte.
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Das Problem ist erstmals Aisch. Ag. 369 f angesprochen.
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2 Die Krise: Sophisten und Atheisten "Sophist" (sophistes) ist seit Platon im peiorativen Sinn festgelegt - im Kontrast zu eigentlich "Weisen" (soph6s) - als ein mit Scheinwissen betrügender Scharlatan, wobei Platon an ein schon seit längerem geäußertes Unbehagen gegen "Sophisten" anknüpfen konnte. l Es bedarf gewisser Anstrengung, darüber zurück Anspruch und Leistung der "sophistischen" Bewegung zu würdigen, die die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts bestimmt; Wortführer war Protagoras. 2 Ziel ist die Ausbildung der Person zum gesellschaftlichen Höchstwert, arete, "Bestheit", was mit "Tugend" immer nur missverständlich übersetzt werden kann. Der Sophist zielt nicht von vornherein auf "Zersetzung" des guten Alten und insbesondere der Moral und Religion. Wohl aber bietet er an, Lebensplanung und Chancen des einzelnen den von Familie und Polis gesetzten Bräuchen und Selbstverständlichkeiten zu entziehen und einen kritisch begründeten Aufstieg zu ermöglichen. Es geht um die Erfindung und Entwicklung einer "höheren Bildung". Zur lokalen kommt die soziale Mobilität. Protagaras trat um 450/430 - als sophistes in Athen auf, andere folgten konkurrierend seinem Beispiel: Gorgias von Leontinoi, Prodikos von Keos, Hippias von Elis. Athen, wo Ende der Sechzigerjahre die "Demokratie" zur vollen Entfaltung gekommen war, wird zum Zentrum und Brennpunkt dieser geistigen Bewegung. Dort boten sich jedem Bürger neue, nicht vorgezeichnete Möglichkeiten in Politik und Gerichtswesen, wenn er nur zu "überzeugen" vermochte: Die Kunst "gut zu reden" (eu legein) und "zu überzeugen" (peithein) wurde zum eigentlichen Gegenstand sophistischer Lehre, mochte Protagaras auch umfassender von "Wohlberatenheit" (euboulia) als Ziel seines Unterrichts sprechen. 3 In der gegenseitigen Konkurrenz der Lehrer eröffnet sich für sie und ihre Schüler ein neues Feld der Redekunst, das Streitgespräch, die Disputation; an Stelle gymnastischer Wettspiele tritt der Rede-Agon, und er wird mit sportlichem Elan gepflegt. Alles, wovon je die Rede war, kann damit auch dem Widerspruch ausgesetzt werden, Politik und Kindererziehung, Naturerklärung und Medizin, Dichterworte und Religion; rezipiert werden vor allem Formen der eleatischen Philosophie, die scharfe Antithetik von "Sein" und "Nichtsein", das rücksichtslose Argumentieren über allen Augenschein hinaus. Aus den Spielregeln des Diskutierens entwickeln sich Grund-
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Hans Raeder, Was ist ein Sophist?, Kopenhagen 1918; -, Platon und die Sophisten, Medded. Danske Vid. Selsk., Kopenhagen 1939; Guthrie III 1969, 27-34; Burkert 2006, 233. Das Wort ist älter, stolze Selbstbezeichnung auch für Dichter, Pindar Isthm. 5,28; vgl. Theognis 19. Als Selbstbezeichnung in neuem Sinn von Protagoras inauguriert, Plat. Prot. 317b. Allgemein: Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940; Carl J. Classen (Hrsg.), Sophistik, Darmstadt 1976 (Wege der Forschung); George B. Kerferd, The Sophistic Movement, Cambridge 1981; Richard Buxton (Hrsg.), From Myth to Reason?, Oxford 1999. VS 80; Kurt v. Fritz, RE XXIII 908-921; Gregory VIastos, Plato Protagoras, Indianapolis 1956. Plat. Prot. 318e.
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lagen der Logik, auch wenn die "echt sophistischen" Trug- und Fangschlüsse im Vordergrund zu stehen scheinen. Auf der Strecke bleibt der Mythos - das Wort mythos, im Attischen ungebräuchlich, wird jetzt erst auf das, was die alten Dichter trieben und was man jetzt nur noch Kindern erzählt, festgelegt und abgewertet.4 Als Einkleidung und Schmuck des Vortrags kann auch ein Sophist einen "Mythos" verwenden; dass man aber sich schlicht eine Geschichte erzählen lässt, die Staunen erregt und Freude macht, die man dann zumindest partiell als Schlüssel für komplexe Wirklichkeit verwenden kann, ist vorüber; es gibt Einwände, Gegeneinwände, Argumente, genannt logos, zusammenhängende "Rechenschaft" im Gegeneinander kritischer Individuen. "Jeder Rede steht eine andere Rede entgegen", hieß es bei Protagoras.5 Im Jahr 444 wurde Protagoras beauftragt, für die von Athen neu in Unteritalien zu gründende Stadt Thurioi Gesetze zu entwerfen, 6 Zeichen hohen Ansehens - keine Rede von Aufhebung der Moral. Auch der berüchtigte Satz des Protagoras, er vermöge "die schwächere Rede ~ur stärkeren zu machen",? besagt doch nur, dass in einer geistigen oder rechtlichen Auseinandersetzung nicht von vornherein und unabänderlich feststeht, wer gewinnen wird. Der Bereich des Machbaren, auch Manipulierbaren wird ausgeweitet. Doch wenn in den sophistischen Diskussionen vielerlei gutgemeinte Thesen vor einer immer breiter werdenden Öffentlichkeit hin- und hergewendet werden, so muss aus ihren Widersprüchen ein negativer Effekr sich summieren: Unsicher ist alles, was da behauptet wird, auch von "weisen" Männern, auch von den "Alten", den Vorfahren; jede Rede lässt sich bestreiten. Aus allgemeiner Verunsicherung erwachsen allerdings auch feindselige Reaktionen gegen die Sophisten, auch Verleumdungen und Verdrehungen; jener Satz des Protagoras, behauptet man, verheiße schlankweg, Unrecht zu Recht zu machen. B Zu einem Zentralbegriff sophistischer Reflexion wurde nomos, "Brauch" und "Gesetz" zugleich.9 Gesetze werden von Menschen gemacht und willkürlich abgeändert; und was ist Herkommen anderes als eine Summe ähnlicher Setzungen? Reisen und Reiseberichte weiten den Horizont, mit wachsendem Interesse nimmt man Berichte über fremde Völker zur Kenntnis, bei denen alles ganz anders ist - uns liegen die ethnographischen Exkurse des Herodot vor; und alle Selbstverständlichkeiten der Sitte können damit erschüttert werden. Virulent wird diese Feststellung durch den
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Historisches Wörterbuch der Philosophie VI s.v. Ältester Beleg der Sonderbedeutung, in Konfrontation mit 16gos, Pind. 01. 1,29 (476 v. Chr.); vgl. Nem. 7,23; 8,33; dann Eur. Hippol. 197 (42 v. Chr.); Diog. Apoll. VS 64 A 8. 80 A 20; B 6a. Herakleides Fr. 130 Wehrli = Diog. Laert. 9,50. 80A2l. So in den Wolken des Aristophanes; Kenneth J. Dover, Aristophanes, Clouds, Oxford 1968, LVII f. Fe1ix Heinimann, Nomos und Physis, Basel 1945; Martin Ostwald, Nomos and the Beginnings of Athenian Democracy, Oxford 1969.
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Gegenbegriff, den die "Natur" an die Hand gab, das "Werden", physis, des Kosmos und aller in ihm enthaltenen Dinge, was da ohne gesellschaftliche Vorschrift nach eigenem Gesetz vor sich geht. Als erster soll der Anaxagorasschüler Archelaos, um 440, die bestürzende These formuliert haben: Das Gerechte und das Ungerechte, das Hässliche und das Schöne gibt es nicht durch physis, sondern nur durch nomos, willkürliche veränderliche menschliche Konvention. lO Auf Tradition aber, auf nomos, beruht, wie die Griechen wussten, ganz besonders die Religion. Ihr wird mit der Distanzierung vom nomos die Grundlage entzogen. Gewiss, man kann sich entschieden auf die Seite der Macht des nomos stellen; Pindar hatte bereits das Stichwort gegeben: "Nomos, König von allem, von Sterblichen und Unsterblichen"Y Man kann dies akzeptieren: "durch nomos glauben wir an Götter und leben wir, indem wir Unrecht und Recht unterscheiden"P Aber aus der selbstbegründeten Selbstverständlichkeit des Seienden fallen die Götter des nomos heraus. Die wichtigste theoretische Aussage stammt wiederum von Protagoras. Freilich ist nur der gewichtige Anfangssatz eines Buchs "Über Götter" erhalten: "Über Götter kann ich nicht sagen, weder dass sie sind noch dass sie nicht sind, auch nicht wie beschaffen an Gestalt sie sein sollten; denn vieles gibt es, was das Wissen verhindert, die Undeutlichkeit, und dass das menschliche Leben kurz ist"Y Dies scheint zurückhaltend formuliert und hatte doch aufwühlende Wirkung; es heißt, Protagoras sei deswegen vor Gericht gezogen worden, er habe sich dem durch die Flucht entzogen und sei dabei gebührenderweise im Meer ertrunken, das Buch aber sei in Athen öffentlich verbrannt worden. 14 Allerdings sind solche Maßnahmen, wenn überhaupt, Jahrzehnte nach dem ersten Auftreten des Protagoras ergriffen worden, ähnlich wie im Fall des Anaxagoras. Der Schritt, den Protagoras tat, war die Anwendung der eleatischen Alternative von "Sein oder Nicht-Sein" auf die Theologie; und die Antwort war ein Weder-Noch: Die Wirklichkeit der Götter ist nicht gegeben, sie ist "undeutlich ", ddelon, und kann darum nicht Gegenstand eines Wissens sein. Grundsätzlich hat Protagoras in einer anderen, erkenntniskritischen Schrift den Relativismus der "Wahrheit" verfochten: Für jeden gilt, was ihm erscheint, aber eben nur für ihn: "Das Maß aller Dinge ist der Mensch, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind ".15 Musterbeispiel war offenbar der Honig, der dem Kranken bitter schmeckt: Er "ist" nicht einfach süß. Was uns in solcher Weise gegeben ist, kann 10 11 12 13 14
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Diog. Laert. 2,16 = VS 60 A l. Pind. Fr. 169; M. Gigante, Nomos basileus, 1956. Eur. Hek. 798 f; vgl. Plat. Leg. 88ge. -- V 4 Anm. 83. VS 80 B 4; was danach noch Inhalt eines Buchs sein konnte, ist rätselhaft; vgl. Carl W. Müller, Protagoras über die Götter, Hermes 95,1967,140-159. v. Fritz, RE XXIII 909-911; gegen die widersprüchlichen Angaben über den Asebieprozess (Diog. Laert. 9,52; 54; A 3) steht Plat. Men. 91e = VS 80 A 8: Protagoras sei 40 Jahre lang erfolgreich gewesen und genieße noch immer guten Ruf. Bücherverbrennung: VS 80 A 3; Wolfgang Speyer, Büchervernichtung, Jahrb. f. Antike u. Christentum 13, 1970, 123-152, bes. 129. VS 80 BI. Platons Widerspruch Leg.716c: "Das Maß aller Dinge ist Gott".
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nicht "Gott" sein, denn Gott wäre das Stärkere, Absolute; so bleibt die "Undeutlichkeit" undurchdringbar. Eine Aussage dieser Art hat es an sich, ähnlich der Götterkritik des Xenophanes, dass sie, einmal ausgesprochen, nicht zurückzunehmen und nicht zu widerlegen ist. Im Grunde stimmt selbst Herodot dem Protagoras zu: "Alle Menschen wissen gleich viel über die Götter",16 das heißt: Alle wissen nichts Sicheres; darum will Herodot von der ägyptischen theologia schweigen. "Wie beschaffen an Gestalt" die Götter sein sollen, haben für die Griechen Homer und Hesiod festgesetzt;17 dies sind Erdichtungen von Dichtern. Nur dass Götter nicht menschengestaltig sind, steht fest. 18 Dass der schon alte Hinweis auf die "Lügen der Dichter" nicht ausreicht, das Problem der Religion zu erledigen, war freilich deutlich. Etwa in dem Zeitraum von 430 bis 400 treten Prodikos, Demokrit und Kritias mit verfeinerten Antworten auf die Frage hervor, wie denn überhaupt Menschen auf den Gedanken gekommen sind, dass es Götter gibt. Die "Undeutlichkeit" ihrer Existenz ist dabei bereits mit Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Prodikosl 9 geht von der Sprache aus, sucht von den "Namen" aus das Seiende zu fassen; für ihn ist die Fragestellung: Wie kamen Menschen dazu, Götternamen zu gebrauchen? In einer spekulativen Darstellung vom Urzustand der Menschheit und der Entwicklung der Kultur gibt er darauf eine doppelte Antwort: Zunächst habe man, was den Menschen besonderen Nutzen brachte, "Gott" genannt und als Gott verehrt, Sonne und Mond, Quellen und Flüsse, das Feuchte überhaupt als Poseidon, das Feuer als Hephaistos. Sodann seien Menschen, umherwandernd und lehrend, Ur-Sophisten gleichsam, als Götter verehrt worden, weil sie Fortschritt brachten, neue Kulturpflanzen einführten, Demeter das Getreide, Dionysos den Wein. Mythen von der Einkehr der Götter werden auf einen "historischen Kern" reduziert; Kult wird zur Gedächtnisfeier; Nutzen und Fortschritt sind die Kriterien. Die Frontstellung gegen die bestehende Religion ist dabei ganz scharf: Die geltenden Götter seien weder existent noch Gegenstand eines Wissens. Demokritos von Abdera, dessen Atomtheorie für die Entwicklung der Physik so wichtig werden sollte, stellt die Entwicklung der Religion gleichfalls in eine spekulative Geschichte der Menschheit, doch lässt er Gefühl und Anschauung sprechen an Stelle von Nützlichkeitserwägungen: Die Menschen sahen, was sich am Himmel zutrug, Donner und Blitz, Sonnen- und Mondfinsternisse, sie erschraken und glaubten hier höhere Mächte am Werk; sie sahen aber auch, wie der regelmäßige Wechsel der Jahreszeiten vom Himmel abhängt, erkannten sein Gesetz und ehrten die Macht, die es gegeben hat. "Einige von den Menschen, die etwas zu sagen wussten, streckten die Hände dahin aus, wo wir Griechen jetzt von ,Luft' sprechen, und so nannten sie das ganze ,Zeus'; und sie sagten: dieser weiß alles, er gibt und nimmt, er ist 16 17 18 19
Hdt. 2,3,2. Hdt. 2,53,1 klingt wie ein Zitat von Protagoras B 4. Vgl. Hdt. 1,131 mit 1,60,3 und 7,129; Burkert 2007, 140-172. VS 84 B 5 und Pap. Herc. 1438 fr. 19, Albert Henrichs, HSCP 79, 1975, 107-123.
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König von allem".20 Furcht also einerseits, Einsicht in Ordnung andererseits führt spontan zum Gestus der Verehrung; der mythische Name ist dann rasch gegeben. Die neuen Denker freilich erklären Blitze und Sonnenfinsternisse auf andere, "natürliche" Weise, und die kosmische Ordnung ist für den Atomismus vorübergehender Zufall. Von Religion bleibt der Gefühlswert und vielleicht eine Vorstufe wahrer Einsicht; in Wirklichkeit hat die Notwendigkeit alles im voraus festgelegt, was war, was ist und was sein wird. Daneben steht bei Demokrit eine Theorie, die subjektive religiöse Erlebnisse, insbesondere Träume und Visionen, erklärt, in denen ja auch Götter, wie die Dichter sie beschreiben, erscheinen können: Diese Erscheinungen sind nicht nichts, aber sie sind auch nicht Boten einer höheren Wirklichkeit, sondern eidola, Scheinbilder, zufällige Atomkonfigurationen, die sich von realen Gestalten abgelöst, vielleicht auch verändert haben; sie können erschrecken, schaden und nützen, wie anderes, was einem zustößtY Doch sie enthalten nichts, was das Niveau der allgemeinen Lehre vom Seienden und der Natur übersteigt; ihr Sinn fällt in sich zusammen. Eindrücklicher noch ist die Theorie, die Religion auf eine bewusste Zwecklüge zurückführt. Sie wurde in einem Drama vorgetragen, als dessen Verfasser Euripides oder Kritias genannt wirdY Den Rahmen bildet die Entstehung der Kultur: Am Anfang war das Leben der Menschen ungeordnet und tierisch; dann haben Menschen die Gesetze aufgestellt, "damit das Recht Tyrann sei". Doch heimliche Übeltaten blieben ungestraft. Da hat ein kluger Mann die Götterfurcht "erfunden": Er redete den Menschen ein, es gebe einen Daimon, von unvergänglichem Leben strotzend, der mit seinem Geiste hört und sieht, dem nichts entgeht, was einer sagt, tut oder denkt; als Wohnung wies er den Göttern den Bereich zu, von wo Schrecken und Nutzen für die Menschen kommen, den HimmeL Hier scheinen die früheren Ansätze zusammengefasst und überboten: "Schrecken" und "Nutzen", der vom Himmel kommt, auch die "weise" Ordnung der Zeit waren schon diskutiert worden; als Paradigma des Gottes überhaupt scheint der Gott des Xenophanes genommen, der "mit dem Geiste hört und sieht". Aber nicht spontanes Erleben oder Erkennen führt zur Religion, sondern kluge Berechnung eines Gesetzgebers. Dass er im Interesse der herrschenden Klasse aus eigensüchtigen Motiven handelt, ist nicht gesagt; es geht um ausnahmslose Achtung vor dem Gesetz; obendrein macht die neue Lehre den Menschen "Freude". Und doch handelt es sich
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VS 68A 75 (vgl. Hemichs l.c. 96-106) und B 30; Text, mitWilamowitz, nach Clem. Protr. 68. Donal McGibbon, The religious thought of Democritus, Hermes 93, 1965, 385-397; Herbert Eisenberger, Demokrits Vorstellung vom Sein und Wirken der Götter, RhM 113, 1970, 141-158. 68 A 77; 137; B 166; Plut. Aem. Pau!. 1,4. VS 88 B 25; TrGF V 658 f Kannicht ("?Kritias"). Albrecht Dihle, Hermes 105, 1977, 28-42; Marek Winiarczyk, Wien. Stud. 100, 1987, 35-45; Harvey Yunis, ZPE 75, 1988, 39-46; Malcolm Davies, Sisyphos and the inventionofreligion, BICS 36,1989,16-32; Charles H. Kahn, Phronesis 42,1997, 247-262; J. Holzhauer, Hermes 127, 1999, 286-292. --+ V 3 Anm. 13.
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um eine "Lüge", die "die Wahrheit verhüllt". Wahrheit wäre demnach, dass es keinen solchen Aufpasser gibt und ein Ungerechter nichts zu fürchten hat, soweit er sich menschlichen Ordnungshütern entziehen kann. Mit Protagoras, Prodikos, Kritias steht, von diesen nicht provokativ ausgesprochen, aber nicht zu eliminieren, der prinzipielle Atheismus daP Man kann in der Entdeckung des Atheismus eines der wichtigsten Ereignisse der Religionsgeschichte sehen ..Freilich muss man differenzieren: Dass man an der Existenz der Götter zweifeln kann, ist im Grunde schon in dem frommen Ausruf der Odyssee enthalten: "also seid ihr noch Götter im langen Olympos, wenn wirklich die Freier ihren unziemlichen Übermut gebüßt haben".Z4 Dass gewisse Leute es halten, als seien Götter "nirgendwo",'wird in den Persern des Aischylos, aufgeführt 472, ausgesprochen. 25 Wenn Thukydides 26 erwähnt, dass in der Katastrophe der Pest die Götterfurcht zusammenbrach, weil Fromme wie Unfromme dahinstarben, beschreibt er nur, was immer schon geschehen konnte. Platon meint, die Mehrheit der Menschen huldige dem praktischen Atheismus. 27 Aber bewusster Affront gegen die Religion, ,,verlachen" der Frommen und ihrer Kulthandlungen,28 hat doch erst in der Epoche der Sophistik einen theoretischen Hintergrund gefunden. In der Schrift eines Arztes, der psychische Störungen junger Mädchen "natürlich" erklären möchte, steht der Satz: "da weihen die Frauen der Artemis alles Mögliche, auch die kostbarsten Gewänder, aufgefordert von den Sehern: so lassen sie sich betrügen".29 Bei Aristophanes klagt eine Kranzbinderin, Euripides habe den Leuten eingeredet, es gebe keine Götter, und ruiniere damit ihr Geschäft. 30 Wenn freilich der Dichter Kinesias mit seinen Genossen einen Club von Kakodaimonistai bildet, die sich an Unglückstagen zum gemeinsamen Mahl treffen,31 bleibt die Provokation vom vorgegebenen Brauch abhängig, ist ein Übergang zu Privatmysterien, auf Protest gegründet. Auch bei dem Mysterienfrevel im Jahr 415, der die Karriere des Alkibiades zerstörte, ist unklar, ob es sich um mutwillige Parodie handelte, wie Moderne meist unbesehen annehmen, oder um den Bund einer verschworenen Gesellschaft durch Initiation, wie Zeitgenossen befürchteten. 32 Aber in welchem Maß persönliche Laune und Willkür im religiösen Bereich möglich gewor-
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Anders B. Drachmann, Atheism in pagan antiquity, London 1922; Reverdin 1945, 208-241; Hermann Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus 1, Berlin 1966; Wilhelm Fahr, Theous nomizein, Hildesheim 1969; Pieter A. Meijer in: Versnel1981, 216-231; Marek Winiarczyk, Philologus 128, 1984, 157-183; RhM 33, 1990, 1-15; Bibliographie zum antiken Atomismus, 1994. Od. 24,351 f. Aisch. Pers. 497 f. Thuk. 2,53,4; 52,3. Plat. Leg. 948c. Xen. Mem. 1,4,2; Plat. Leg. 908c. Hippokr. virg. Vlll 468 Littre. Aristoph. Thesm. 448-452. Lys. Fr. 143 Baiter-Sauppe ~ Ath. 551e. Douglas Macdowell, Andocides: on the mysteries, Oxford 1962.
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den war, ist bezeichnend. Dabei mussten auch die Lehren der Naturphilosophie eben in ihrem gegenseitigen Widerstreit vor allem negativ wirken. In den Wolken des Aristophanes, 423 aufgeführt, wird eine unheilige Allianz von Sophistik und Naturphilosophie, Protagoras und Diogenes von Apollonia unter der Maske des Sokrates vorgestellt: In der Denkerwerkstatt, wo Unrecht zu Recht gemacht wird, sind "Götter" keine gängige Münze mehr; nicht Zeus ist es, der regnet und blitzt, sondern die Wolken, und über sie herrscht als alles bewegende Kraft der Luftwirbel, Dlnos: "Dinos ist König, den Zeus hat er gestürzt" - da triumphiert doch wieder die Form des Mythos. 33 Wie dann zum Schluss der Komödie mit der Rückkehr zu den alten Göttern die Atheisten im eigenen Haus verbrannt werden, ist im Grund nicht mehr lustig. Zur Tragödie wurde die Infragestellung der Götter anscheinend in einem verlorenen Drama des Euripides: Bellerophontes kann angesichts der Erfahrungen mit dem Glück der Bösen, der Hilflosigkeit der Frommen nicht mehr ans Dasein der Götter glauben; er will sich Gewissheit verschaffen, indem er mit dem Flügelpferd Pegasos zum Himmel aufsteigt; doch das Ende ist nicht Wissen, sondern Absturz und Wahnsinn. 34 Der prominenteste Atheist des 5. Jahrhunderts ist Diagoras von Melos,35 kein Philosoph, kein Theoretiker, sondern ein Dichter; "fromme" Götterlieder aus seinem Oeuvre zu zitieren war später eine philologische Pikanterie. Sein Atheismus indes ist für uns nur durch Anekdoten fassbar: Er sagte in Samothrake, angesichts der vielen Weihgeschenke an die Großen Götter für Rettung in Seenot, viel zahlreicher wären diese, wenn alle Ertrunkenen Gelegenheit gehabt hätten, noch etwas zu weihen;36 den Wunderglauben widerlegt die Statistik. Diagoras erzählte die Eleusinischen Mysterien allen, "und machte sie so gemein";37 bei Licht des Tages ist die Mysterienfeier nichts. Diagoras wurde in Athen wegen Asebeia angeklagt; er entzog sich der Bestrafung, obgleich im ganzen attischen Seereich nach ihm gefahndet wurde. Konfrontiert mit dem Atheismus, gewinnen die - an sich seit alters möglichen Asebieprozesse38 eine neue Dimension. Aus der Hilflosigkeit derer, die am Herkommen hängen, entspringt eine Gereiztheit, die gefährlich werden kann. Politische oder persönliche Momente kommen freilich in der Regel als auslösende Faktoren dazu. Der Prozess gegen Diagoras ließ sich auf die Profanation der Mysterien gründen;
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Aristoph. Nub. 247; 380; 828. Zuvor hatte Kratinos einen Naturphilosophen Hippon als dtheos angegriffen, Fr. 167 Kassel/Austin = VS 38 A 2. Eur. Fr. 286 Kannicht; Mary R. Lefkowitz, SIFC 5, 1987, 149-166; CQ 39, 1989,70-82; Christoph Riedweg, Illinois Classical Studies 15, 1990,39-52; Mariarita Paterlino, Sileno 19, 1993,513-523. Marek Winiarczyk (Hrsg.), Diagoras Melius, Theodorus Cyrenaeus, Leipzig 1981; id. Eos 67, 1979, 191-213; 68, 1980,51-75. FelixJacoby, Diagoras ho dtheos, Abh. Berlin 1959, datiert den Prozess um 431; dagegen Leonard Woodbury, Phoenix 19, 1965, 178-211 für das überlieferte Datum 415; so auch Winiarczyk 1981, VII. Richard Janko, CP 96,2001, 1-32 vermutet Diagoras als Autor des Pap. Derv. (-+ VI2 Anm. 51; dagegen Betegh 373-380). Diog. Laert. 6,59; Cic. n.d. 3,89; Diagoras Fr.36/37 Winiarczyk .. Krateros FOrHist 342 F 16; Melanthios FOrHist 326 F 2-4. -+ V 4 Anm. 78.
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schon um 432 aber konnte ein gewisser Diopeithes einen neuartigen, viel weitergehenden Volksbeschluss durchbringen: Man solle "diejenigen anzeigen, die nicht an das Göttliche (ta theia) glauben oder Lehren über die Dinge am Himmel vortragen".39 Man wusste, dass dies auf Anaxagoras zielte und dass Perikles dadurch getroffen werden sollte; Anaxagoras, der seit 30 Jahren in Athen lehrte, verließ die Stadt; dass der Sonnengott Helios, wie andere Himmelskörper, ein glühender Metallklumpen sei, war seine berühmteste Behauptung; dies hatte ihm der Fall eines Meteoriten im Jahr 467 bewiesen. Jetzt sollten dergleichen Lehren von Staats wegen verboten sein. Doch kam dieser Volksbeschluss danach anscheinend nicht mehr zur Anwendung und geriet in Vergessenheit. Der Konflikt zwischen Frömmigkeit und Naturerklä.rung, ja "Weisheit" überhaupt, aber bestand von nun an; er klingt in den Wolken an wie bei Euripides.40 Asebieprozesse alter Art, gegen fassbare Freveltaten gerichtet, waren der Hermokopiden- und der Mysterienprozess des Jahres 415, wobei politische Verdächtigungen eine bürgerkriegsähnliche Atmosphäre schufen und schließlich viele Todesurteile vollstreckr wurden,41 Wieder anders war die Anklage gegen Sokrates formuliert, die im Jahr 399 eingereicht wurde: "Sokrates tut Unrecht, weil er nicht an die Götter glaubt, an die die Stadt glaubt, sondern andere dämonische Wesen einführt; und er tut Unrecht, weil er die Jungen verführt",42 Sokrates war nach dem übereinstimmenden Zeugnis von Platon und Xenophon in jedem Sinn ein frommer Mann; er opferte, er grüßte die aufgehende Sonne mit einem Gebet, er verwies Xenophon ans Delphische Orakel, er nahm den Spruch Apollons, der ihn selbst als den ,,weisesten" auszeichnete, als lebensentscheidend an. Was ihn in die Vereinzelung trieb, war ein einzigartiges, aus unserer Sicht an der Grenze des Pathologischen stehendes Erlebnis, eine Art Stimme, die ihm in den verschiedensten Situationen unvorhersehbar und zwingend Halt gebot. Er konnte es "etwas Göttliches" nennen (Plat. Apo1.31d), sprach aber lieber von "etwas Dämonischen" - es war ihm selbst rätselhaft .. Ein normales, bürgerliches Leben wie auch politische Tätigkeit war ihm dadurch unmöglich gemacht; ihm blieb eine Existenz des fragenden Gesprächs im Kreis der von ihm faszinierten Schüler. Juristisch gesehen war die "Einführung neuer Götter" der einklagbare Tatbestand; 43 Platon lässt den Ankläger nichtsdestoweniger behaupten, Sokrates sei ein Atheist, der Lehren wie Anaxagoras verbreitet; vielleicht waren viele der 350 Richter, die ihn schuldig sprachen, gleicher Meinung. Ein politischer Hintergrund des Prozesses ist auch hier zu fassen. Es kann aber vor dem Volksgericht der 600 auch
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Plut. PerikL 32; falsch datiert Diod. 12,39,2; Henry T. Wade-Gery, Essays in Greek History, Oxford 1958, 260; Jaap Mansfeld, Mnemosyne 33, 1980, 79-05 (datiert das Diopeithes-Psephisma 438/7). Eur. Fr. 913; Bacch. 395. ~Anm.32.
Diog. Laert. 2,40; Plat. ApoL 24b; Xen. Mem. 1,1,1. Alfred E. Taylor, Socrates, London 1933, 89-129; Guthrie) III 2008, 380-385. Garland 1992. --+ V 3 Anm. 118.
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das allgemeine Misstrauen gegen den "Weisen" den Ausschlag gegeben haben. In den Bacchen des Euripides, mit denen die Tragödie des 5. Jahrhunderts einen denkwürdigen Abschluss findet, fällt das Wort: "das Weise ist nicht Weisheit";H Pentheus, der kluge Vertreter rationaler Ordnung, findet einen jämmerlichen Untergang.
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Eur. Bacch. 393; insaniens sapientia Horaz c. 1,34,2.
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3 Neue Grundlegung: Kosmoreligion und Metaphysik
3 Neue Grundlegung: Kosmosreligion und Metaphysik
3.1 Vorsokratische Ansätze Die Krise der Autorität der Dichter und des von ihnen verwalteten Mythos hat kein Ende der Religion gebracht; zu fest war sie mit dem realen Leben verwachsen. Die Erschütterung der alten Schemata konnte im Gegenteil für das Nachdenken über Göttliches geradezu befreiende Wirkung haben: Seit Xenophanes ist der Begriff des "Gottgeziemenden" aufgestellt, und mit der neuen Freude an Denkexperimenten konnte man, ungehindert vom Hergebrachten, die Folgerungen ziehen.! Es gibt jetzt Postulate, was ein Gott ist, wenn er denn Gott sein soll: nicht menschengestaltig dies ist im Ernst nicht mehr diskutabel; nicht nur unvergänglich, sondern auch ungeworden; bedürfnislos und sich selbst genug: Dies ist seine Stärke und seine Seligkeit. Ein Gott wirkt durch seinen Geist, allwissend und alles lenkend. Das Problem bleibt nur, ob solch ein Gott sich um den einzelnen kümmert. Im Grund sind die alten Bezeichnungen der "immer seienden", "stärkeren", "seligen" Götter bewahrt und verabsolutiert; das "geistige" Element ist neu dazugekommen, es ersetzt den naiven Anthropomorphismus. Die praktische Frömmigkeit des Kults ist schwer zu begründen, kann aber gegenüber kühner Theorie in den Hintergrund treten. Ein Beispiel, wie durch Götterkritik hindurch der "reinere" Gottesbegriff triumphiert, gibt der Herakles des Euripides. Dass Hera aus Eifersucht den Herakles vernichtet, ihn im Wahnsinn Frau und Kinder morden lässt, ergibt schauerlich wirksames Theater, ist aber für den Nachdenkenden nicht mehr akzeptabel. "Wer möchte zu solch einer Gottheit beten?" "Ich bin der Ansicht, dass die Götter weder Liebesverbindungen suchen, die nicht erlaubt sind, noch dass sie sich gegenseitig fesseln, habe ich je für richtig gehalten, und ich werde es nie glauben; auch nicht, dass einer Herr über den anderen ist. Der Gott, wenn er wahrhaft Gott ist, bedarf nichts. Das andere sind die unseligen Reden der Sänger".2 Dass Herakles mit diesen Worten seine eigene Existenz in Frage stellt, dass die Tragödie mit dem Mythos ihre Basis verliert, macht die euripideische Dichtung vertrackt. Katastrophen sind wirklich, unbestreitbar; was dahintersteht, bleibt "undeutlich ". Empedokles hat in sein Naturgedicht einen "theologischen" Passus aufgenommen, eine "gute Rede über die seligen Götter": nicht Menschen-, nicht Mischgestalten darf man sich vorstellen, "sondern heiliges, nicht auszusagendes Denken allein, das mit schnellen Gedanken durch den gesamten Kosmos dahinstürmt";3 so wird Xeno-
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~ VII I Anm. 14; Jaeger 1953, 62-64; Oskar Dreyer, Untersuchungen zum Begriff des Gottgezie. menden in der Antike, Hildesheim 1970. Eur. Herakles 1307 f; 1341-1346. ~ V 3 Anm. 3; vgl. Iph. Taur. 386-391; Tro. 983-989; Franziska Egli, Euripides im Kontext zeitgenössischer intellektueller Strömungen, München 2003. Empedokles VS 31 B 131; 134; zur Zuweisung ans Naturgedicht Charles H. Kahn, Arch. Gesch. Philos. 42, 1960, 6; Zuntz 1971, 211-218. Der Straßburger Empedokles-Papyrus hat mit neuem
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phanes weitergeführt. Nun kommt es freilich im Lehrgedicht des Empedokles zu einer wahren Inflation des Göttlichen: Götternamen tragen die vier Elemente, Götter sind die bewegenden Kräfte Liebe und Hass, "Aphrodite" und "Neikos" benannt; "Gott" heißt auch der Sphafros, die harmonische Mischung von allem, die zerrissen wurde, als unsere Welt entstand. Wie damit der feierlich angekündigte Geist-Gott systematisch verbunden ist, bleibt dunkel. Doch so viel ist klar: Indem Empedokles einleuchtender und detaillierter die natürliche Welt zu erklären unternimmt, stellt er sich nicht abseits des Religiösen, er ist erst recht Prophet einer "reinen", "guten" Frömmigkeit. Schon Heraklit hatte gesagt, dass "alle menschlichen Gesetze sich von dem Einen, Göttlichen nähren";4 Empedokles greift dies auf und bringt das "Gesetz" in noch engeren Kontakt zum Kosmos: "Das für alle Gesetzesgültige ist durch den weithin herrschenden Aither durchgehend ausgespannt und durch den unermesslichen Glanz".5 Ein Widerhall solcher Gedanken klingt im zentralen Chorlied des König Ödipus von Sophokles auf: Der Chor bekennt sich zur "ehrfürchtigen Reinheit in allen Worten und Werken, wofür hohe Gesetze aufgestellt sind, im himmlischen Aither gezeugt: Olymp os allein ist ihr Vater, nicht sterbliche Menschen haben sie hervorgebracht, und nimmermehr kann Vergessen sie einschlummern lassen: ein großer Gott ist in ihnen, und er wird nicht alt". 6 Es gibt Gesetze, Gesetze der eusebeia, die im Himmel verwurzelt sind, menschlicher Willkür entrückt, ewig wie der Kosmos selbst; sie erheischen "reines", ehrfürchtiges Betragen. Die Spaltung von physis und nomos wird rückgängig gemacht; Frömmigkeit hat eine neue, unerschütterliche Basis. Anaxagoras-Schüler haben solche Gedanken erfolgreich entfaltet. Von Anaxagoras selbst kennen wir keine Äußerung über Gott oder Göttliches; er lehrt zwar, dass der Geist, Nous, alles bewegt und lenkt, nennt ihn aber nicht explizit Gott.7 Diogenes von Apollonia dagegen, der diesen Nous mit der Luft gleichsetzt, hat kein Bedenken, diesen "ewigen und unsterblichen Körper", der als Allerfeinstes alles durchdringt und über alles herrscht, auch "Gott" und "Zeus" zu nennen. 8 In jedem denkenden und empfindenden Menschen ist ein Stück dieser denkenden Luft enthalten, ein "Teilchen vom Gott".9 Der menschliche Geist ist ein Teil des Kosmos-Gottes: Ein ganz neues Verhältnis von Gott und Mensch scheint erfasst zu sein. Euripides hat dies
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Text neue Probleme gebracht, Alain Martin/Oliver Primavesi, VEmpedocle de Strasbourg, Berlin 1999, vgl. Gemelli Marciano, Gnomon 72, 2000,389-400; Alberto Bernabe, De Tales a Democrito, Madrid 22001,327-340; RichardJanko, ZPE 150, 2004,1-26; Oliver Primavesi, Empedokles Physika I, Berlin 2008. B 114 = 23 Marcovich ....... VII 1 Anm. 29. B 135. Soph. O.T. 863-872. VS 59 B 12. VS 64 B 5; A 8. VS 64 A 19 § 42.
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aufgegriffen: "Der Nous in einem jeden ist für die Menschen Gott";l0 in den Troerinnen lässt er Hekabe beten: "Du, der du die Erde trägst und auf ihr ruhst, wer immer du bist, schwer zu erahnen und zu wissen, Notwendigkeit der Natur, oder Geist der Menschen, ich bete dich an: auf lautlosem Wege wandelnd, führst du die Dinge der Sterblichen nach dem Recht"Y Der "Körper", der die Erde trägt, Naturnotwendigkeit und lenkender Geist zugleich, Gerechtigkeit wirkend, ist der geziemende Empfänger eines "neuen" Gebets. Die Tragödienhandlung freilich lässt auch diesen Aufschwung ins Leere verhallen. Konkrete Naturbeobachtung dagegen führte auf eine großartige, ungemein wirkungsvolle These: In der Welt der Lebewesen herrscht eine erstaunliche Ausgewogenheit, ein System gegenseitiger Beziehungen, das sich in der Balance hält. Dies lässt sich nur als Wirkung einer höchsten, alles lenkenden Vernunft begreifen, einer ,Norsehung des Göttlichen, die weise ist" (tou theiou he pronoie ... eousa sophe), so HerodotP Herodots Beispiel ist, dass die Löwen immer nur ein Junges haben, während die Beutetiere sich rasch vervielfältigen. Von wem dieser wichtige Gedanke kam, lässt sich nicht mehr feststellen. Offenbar hat sich Diogenes von Apollonia mit solchen Überlegungen beschäftigt: "Es wäre ja gar nicht möglich, dass alles (in der Welt) so eingeteilt wäre, ohne planendes Denken; dass die Welt von allem Maße hat, von Winter und Sommer, Nacht und Tag, Regen, Wind und Sonnenschein; und auch das andere wird einer, wenn er nachdenken will, so beschaffen finden: so schön wie nur irgend machbar"Y Detaillierte Beobachtungen dieser Art lässt dann Xenophon den Sokrates zur Widerlegung des Gottesleugners vortragen: 14 Wie der Mensch geschaffen ist, mit Augen und Ohren, Zunge und Zähnen, Atmungs- und Verdauungsorganen, kann doch nur das Werk einer denkenden Vorsehung sein, eines göttlichen Geistes, der sich evidentermaßen um die Menschen kümmert; es wäre ja auch erstaunlich, wenn im Menschen ein "Geist" wohnte, in dem so unendlich viel größeren Kosmos aber kein lenkender Geist anzutreffen wäreP Damit war ein empirisches Argument für die Existenz und das Wirken des Gottes gewonnen, das bis in die Gegenwart Kraft bewahrt hat; der Streit um das "intelligent design" in der Weltordnung hält an. Nicht weniger dauerhaft wirksam sind die damit einhergehenden Spekulationen über Geist und Seele. Was Mensch und Tier durch seine Anwesenheit lebendig macht, die "Seele", psyche, wird selbstverständlich als ein "Seiendes" und damit zunächst als ein besonderer Stoff aufgefasst, Feuer, Luft oder ein Zwischending, das auch aither heißen kann; insofern nun die Logik des Parmenides allgemein akzep-
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Eur. Fr. 1018. Eur. Tro. 884-888. Hdt.3,108. VS 64 B 3; W. Theiler, Zur Geschichte der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles, 1924. Xen. Mem. 1,4; 4.3. Xen. Mem. 1,4,8.
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tiert wird, wonach es in Wahrheit kein Werden und Vergehen geben kann, wird die "Unsterblichkeit der Seele" zu einer baren Selbstverständlichkeit. Hatte Parmenides Anregungen aus pythagoreischer Seelenwanderungslehre empfangen,16 so gibt seine Logik der Spekulation eine scheinbar feste Basis. "Nichts stirbt von allem, was entsteht"Y Leicht verband sich damit die Assoziation von Seele und Himmel, wobei ein Anstoß aus iranischer Jenseitsmythologie zu vermuten ist: 18 Seele ist Himmelsstoff; im Tod fällt der Leib der Erde anheim, Erde zu Erde, die psyche aber kehrt zurück in den Aither. Für Diogenes von Apollonia ist die Seele "ein Teilchen vom Gott",19 der alles umgebenden, alles lenkenden Luft. Ähnlich schreibt ein Hippokratiker: Das ,,warme", das in jedem Lebewesen ist, sei "unsterblich; es erfasst alles, sieht, hört und weiß alles, was ist und was sein wird"; als beim Weltanfang "alles durcheinander kam, wich das meiste davon hinaus zum obersten Himmelskreis, und dies, scheint mir, nannten die Alten aither".20 "Der Aither hat die Seelen aufgenommen", schreibt ein Epigramm auf die Kriegsgefallenen im Jahr 432;21 in der 412 aufgeführten Helena präzisiert Euripides: "Der nous der Toten ist zwar nicht lebendig, aber unsterblich und kann wahrnehmen, wenn er in den unsterblichen Aither eingegangen ist"Y Inwieweit dabei freilich die Individualität bewahrt bleibt oder die Einzelseele im Unpersönlichen, Umfassenden aufgeht, ist die Frage. Aber dass im Menschen ein Unsterbliches, Göttliches ist, sein "Geist", Teil eines umfassenden "Geistes", davon hatte die homerische Religion nichts geahnt; Mysterien hatten göttlichen Ursprung und göttliches Ziel als Geheimnis gelehrt; explizit, mit dem Anspruch sachlicher Wahrheit, wird das Neue durch die Naturphilosophie. Indem sich Natürliches und Göttliches zur Synthese fanden, konnte man auch versuchen, den Konflikt mit den Dichtern zu überbrücken; an Stelle des Angriffs auf Homer schien es geraten, die alte Weisheit zum Bundesgenossen zu gewinnen. Der Kunstgriff, durch den dies gelang, war die Allegorie: 23 Dass der von Dichtern erzählte Mythos, so wie er dasteht, unsinnig ist, bleibt vorausgesetzt; behauptet aber wird, der Dichter habe einen "Untergedanken" gehabt, hyp6noia,24 der freilich dem gewöhnlichen, oberflächlichen Hörer und Leser entgeht. So wird als erster Allegoriker ein Rhapsode Theagenes von Rhegion genannt, der unmittelbar auf die Her16 17 18 19 20 21 22 23
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Burkert 2008, 25. Eur. Fr. 839,12. --+ VI 2 Anm. 94. --+ Anm. 9. Hippokr. carn. 2, VIII 584 Littre - VS 64 C 3. Vgl. auch Xen. Mem. 1,4,8; 17; 4,3,14. IG P 1179 - Nr. 20, 5 Peek - CEG I m.lO. Eur. Hel. 1013 f; vgl. Hik. 533; 1140; Erechtheus Fr. 65,71 f; Fr. 877; 971. Fritz Wehrli, Zur Geschichte der allegorischen Deutung Homers, Diss. Basel 1928; Felix Buffiere, Les Mythes d'Homere et la pensee grecque, Paris 1956; Jean Pepin, Mythe et allegorie, Paris 1958; Pierre Leveque, Aurea catena Homeri, Paris 1959; eine neue Dimension ist durch Pap. Derv. zugänglich geworden. Plat. Resp. 378d. Der Autor von Derveni drückt es so aus, dass der Dichter "über das Wirkliche in Rätseln spricht" (XIII5; VII).
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ausforderung durch Xenophanes antwortete. 25 Ausführlicher unterrichtet sind wir über die Anwendung solcher Methoden durch Anaxagoreer: Diogenes von Apollonia "lobt Homer: er habe nicht mythisch, sondern wahr über Götter gesprochen; er meine nämlich mit ,Zeus' die Luft".26 Andere Deutungen werden von Metrodoros von Lampsakos mitgeteilt, die für uns freilich rätselhafter sind als der zu erklärende HomertextY Euripides lässt den Seher Teiresias eine halb naturphilosophische Deutung der Dionysosgeburt vortragen. 28 Die deutlichste Vorstellung gibt der 1962 entdeckte Papyrus von Derveni. 29 Der Verfasser, der kaum viel später als 400 v. ehr. schreibt und neben Heraklit von Anaxagoras, Diogenes von Apollonia und Demokrit gelernt hat, erklärt die Theogonie des "Orpheus" nach dem Prinzip, dass mit den mythischen Personen und ihren sexuellen und gewalttätigen Handlungen in Wahrheit eine naturphilosophisch verstandene Kosmogonie beschrieben sei. War bei Orpheus gesagt, dass Moira bei der Geburt des Zeus schon da war, so bedeuten beide Namen in Wirklichkeit dasselbe, "Hauch", pneuma, als "denkende Vernunft", phr6nesis. "Ehe nämlich die Bezeichnung ,Zeus' entstand, war ,Moira', die denkende Vernunft des Gottes, immer und durchwegs ... Da alle seienden Dinge, jedes einzelne, benannt ist nach dem jeweils Vorherrschenden, wurde alles zusammen nach dem gleichen Grundsatz ,Zeus' genannt. Denn über alles herrscht die Luft, soweit sie nur will".30 Die Welt differenziert sich, indem die einzelnen Dinge sich "absondern", doch herrschend bleibt Zeus; wenn Orpheus einen sexuellen Akt des Gottes beschreibt, bedeutet dies, dass durch Mischung der Dinge Neues entsteht. Die materielle Wirklichkeit der "Luft" fällt zusammen mit dem denkenden Gott, der "selbst der einzige wurde".J1 Auch dieser Autor will dabei einer falschen Frömmigkeit eine echte, reinere entgegensetzen. Die kosmische Theologie, die Spekulationen über die psyche, die entsprechende Ausdeutung oder vielmehr Umdeutung der Dichter blieb ein 16gos einzelner "Sophisten" oder "Philosophen", dem immer andere l6goi entgegenstanden; keiner von allen Entwürfen hat sich durchgesetzt, es gab so viele Philosophien wie Philosophen. Doch wenn diese sich auch auf solche Weise weithin gegenseitig neutralisierten, blieb ein Effekt: Es kommt zu einer typisch "aufgeklärten" Durchschnittshaltung der Gebildeten gegenüber der Religion. Sie lässt sich durch drei Grundsätze charakterisieren:32 die Dichter sind zu kritisieren, denn ihre Mythen sind, wörtlich verstanden, unwahr und unfromm. Dagegen gibt es "Umrisse" der theologia, die man vernünftigerweise 25 26 27 28 29 30 31 32
VS 8; Rudolf Pfeiffer, Geschichte der klassischen Philologie, Reinbek 1970, 25-27. VS 64A8. VS 61. Eur. Bacch. 286-297; zu Vers 293 E. Kerr Borthwick, eR 16, 1966, 136 f; Bernhard Gallistl, Teiresias in den Bakchen des Euripides, Zürich 1979. -- VI 2 Anm. 52. Pap. Derv. XVIII 9 f; XIX 1-4. Pap. Derv. XVI 6. Babut 1974.
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akzeptiert; sie handeln von der göttlichen Macht, Vollkommenheit, und Geistigkeit. Die praktische Ausübung der Frömmigkeit aber bleibt unberührt, sie gilt, recht verstanden, als vereinbar mit der "reineren" Frömmigkeit, ja als Pflicht. Ein Schuss protagoreischer Skepsis verbindet sich mit der altererbten "Vorsicht" in religiösen Belangen. Die geistige Revolution endet in konservativer Bürgerlichkeit.
3.2 Platon: Das Gute und die Seele Wer immer Platon liest, ist fasziniert von der Begegnung mit einem unausschöpfbar reichen Geist, der zugleich einer der raffiniertesten Meister griechischer Sprache ist. Platon ist der erste Philosoph, dessen gesamtes CEuvre erhalten ist und für immer den Maßstab gesetzt hat, was Philosophie heißen soll. Eben darum ist die Beschäftigung mit Platon unabschließbar. 33 Dass Platon nie im eigenen Namen schreibt, sondern Dialoge gestaltet, in denen Sokrates als Gesprächsführer auftritt, ist nur eines der Probleme; dass er Wichtiges in gleichnishafter Form, im bewusst spielerisch gehaltenen Mythos darstellt, dass er Wesentlichstes andeutet, aber verschweigt, kommt dazu. Für eine Gesamtdarstellung Platons ist hier nicht der Ort; nur eine Skizze der Argumentationsketten kann gegeben werden, auf denen Platons Theologie beruht. 34 Es gibt seit Platon keine Theologie, die nicht in seinem Schatten stünde. Für viele Jahrhunderte war Platonismus die Art schlechthin, in der über Gott gedacht und gesprochen wurde, im Abendland wie im islamischen Orient. Der Hauch von Spätantike und Christentum, der damit Platon anhaftet, ist für manche Verfechter der "klassischen" Antike zur Verlegenheit geworden. Doch können die Versuche, Platon als den "Hellenen" vom späteren Platonismus so weit wie möglich abzurücken,35 ebenso wenig befriedigen wie die Abtrennung Platons vom Hellenenturn, sei es dass man orphische und orientalische Strömungen, sei es dass man individualpsychische Aberrationen für seine Sonderstellung verantwortlich machen möchte. 36 33
34
35 36
Die unabsehbare Platonliteratur ist nach Zeller, Praechter, Guthrie (--+ VII 1 Anm. 1) jetzt von Erler 2007 aufgearbeitet. Ältere Standardwerke: Paul Friedländer, Platon, I/II, Berlin 31964, III, Berlin 31975; Ian M. Crombie, An examination of Plato's doctrines, London 1962/3; Gregory VIastos, Platonic Studies, Princeton 1973; Thomas A. Szlezak. Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin 1985; -, Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen, Berlin 2004. Paul E. More, The Religion of Plato, Princeton 1921; Auguste Dies, Le dieu de Platon; La religion de Platon; in: -, Autour de Platon II, Paris 1927, 523-603; Friedrich Solmsen, Plato's Theology, Ithaka 1942; Reverdin 1945; Pierre Boyance, La religion de Platon, REA 49, 1947, 178-192; Viktor Goldschmidt, La religion de Platon, Paris 1949; Willem J. Verdenius, Platons Gottesbegriff, Entretiens Fond. Hardt I, 1954,241-292; James K. Feibleman, Religious Platonism, Westport 1959; Cornelia J. de Vogel, What was God for Plato, in: Philosophia, 1970, 210-242; Jeröme Laurent (Hrsg.), Les dieux de Platon, Caen 2003; Erler 2007 nr. 5600-5656. Zum platonischen Mythos --+ IV 2 Anm. 46. Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Platon, Berlin 1918; Kurt Hildebrandt, Platon, Berlin 1933. Etwa George Devereux Symb. 0510. 42, 1967, 91; Lloyd.Jones 1971, 135 f.
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Religion ist seit Platon und durch ihn wesentlich verschieden von dem, was gewesen war. Für die Griechen, wie wir sie seit Homer kennen, bedeutete Religion immer zugleich Hinnahme der Realität, in einer naiven und doch zugleich sehr erwachsenen Weise, Hinnahme der Realität einschließlich Körperlichkeit, Vergänglichkeit, Vernichtung, in heroischem Trotz oder in tragischer Einsicht. Durch Platon wird die Wirklichkeit entwirklicht zugunsten einer unkörperlichen, unveränderlichen Überwelt, die als primär gelten soll; das Ich konzentriert sich auf eine unsterbliche Seele, die im Körper fremd und gefangen ist. "Flucht" aus der Welt ist eine Losung, die in der Tat von Platon formuliert ist. 37 Dafür lässt sich über das Göttliche und seine Beziehung zum Menschen in einer neuen Art intellektueller Sicherheit sprechen, mit Begriffen und Beweisen; wo zuvor Dichter zwischen Bild und Phrase tasteten oder "Weise" vieldeutige Rätsel stellten, steht nun eine Lehre vom Sein, das direkt auf Gott zuläuft. All dies war vorbereitet. Es gab jenseitsgewandte Frömmigkeit in orphischen Zirkeln, es gab die Philosophie des Parmenides, die das wahre Sein zur scheinhaften Realität in Kontrast setzte; einer Synthese von Religion und Naturphilosophie hatten ,;Vorsokratiker" mehr vorgearbeitet, als Platons Polemik erkennen lässt. 38 Daneben stand der entscheidende Fortschritt der Mathematik und Astronomie,39 von woher Platon Methode und Vorbild nahm, um ein neues Niveau des Beweisens zu erreichen. Platons Sokrates steht dadurch im Gegensatz zu den Sophisten, dass er, statt mit angeblichem Wissen zu prunken, weiter und gründlicher fragt als sie. Versprechen die Sophisten schlankweg, die arete zu lehren, so werden sie zuschanden an der Frage des Sokrates, was denn die "Tugend" eigentlich zur Tugend mache, das "Gute" zum Guten. Das "Gute" ist dabei nicht eigentlich moralisch genommen, sondern als alles Erstrebenswerte einschließlich des Nützlichen. Das ironische Nichtwissen des Sokrates ruht dennoch auf festen Überzeugungen: dass es ein "Gutes" gibt, um das jeder Mensch, sofern er überhaupt ein Ziel hat, sich müht; dass das Gute ein Wesen hat, dass es an sich nur "gut" und nicht etwa dann und wann auch schädlich sein kann; dass es mit dem Persönlichkeitskern, welcher "Seele" heißt, zu tun hat. Das Streben nach arete wird damit zur Bemühung um ein vollkommenes Wissen, das seines Gegenstandes sicher sein soll, und zugleich zur "Sorge um die Seele".40 Auf dieser Basis baut Platon weiter, wobei er über den historischen Sokrates eindeutig hinausgeht. Muster eines sicheren Wissens liefert die Mathematik. Dieses Wissen stammt nicht aus irgend einer Erfahrung; in dieser sind die Gegenstände der Mathematik nie rein gegeben, und doch kann selbst ein ungebildeter Sklave einen mathematischen Satz findenY Wahres Wissen dieser Art muss also von vornher37 38 39 40 41
Tht. 176ab. ~ VI 3 Anm. 14-16; VII 1 Anm. 33; VII 3.1. L&S 299-368; 406-465. Guthrie III 1967,467-473. Menon 82b-c.
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ein in der Seele angelegt sein. Was von Begriffen wie "Gleichheit" gilt, muss auch von jener "Bestheit" (arete) gelten, die Sokrates gesucht hat, vom eigentlich und absolut Gerechten, Schönen und Guten. Hier tritt die eleatische Begrifflichkeit ein: Der Gegenstand vollkommener Erkenntnis ist ein "Seiendes", das zeitlos und unveränderlich ist, ungeworden und unvergänglich; er ist eines, das in der Erfahrung in vielerlei wechselnden Erscheinungen begegnet. Im Unterschied zu Parmenides, für den das "Seiende" nur ein Einziges, Undifferenziertes sein konnte, erfasst die sokratische Erkenntnis jedoch eine distinkte Vielheit von "Seiendem"; eines unterscheidet sich vom andern durch seine besondere "Gestalt", eidos, idea, wie jeder Mensch sein eigenes Gesicht hat, das man kennt. Diese "Ideen" sind außerhalb von Raum und Zeit, unkörperlich und zeitlos, "wahrhaft Seiendes", das "immer in gleicher Beziehung sich gleich verhält". Was in unserer Welt etwas "ist", ist dies durch Teilhabe an der Idee; sie ist Ursache, indem sie hinzutritt oder sich entzieht.42 Die vielverhandelten logischen Schwierigkeiten dieser Ideenlehre brauchen hier nicht ausgeführt zu werden. Ihre eigentliche Faszination entfaltet sie durch ihre Beziehung zur Seele: Die Seele des Menschen ist es, die zur Seinserkenntnis befähigt ist. Sie trägt in sich ein Wissen, das sie nicht in diesem Leben gewonnen hat: Wissen ist "Erinnerung", anamnesisY Damit überragt die erkennende Seele das Dasein zwischen Geburt und Tod. Nicht, dass die Seele selbst "Idee" wäre; was sie genau ist, bleibt zu bestimmen schwierig.44 Aber wenn es zwei Gattungen des Seienden gibt, das unveränderliche, wahre und das, was wird und vergeht und nie eigentlich "ist", dann steht die Seele offensichtlich eher auf Seite des Höheren, Bleibenden. Der Tod geht nur den Leib an: Die Seele ist unsterblich. Was Mysterienpriester im Ritual glaubhaft zu machen suchten, wird damit zur Gewissheit höchster Rationalität; die Spekulationen der Naturphilosophen werden befreit von der Bindung an einen irgendwie aufweisbaren Seelenstoff. Das Wort, das in der epischen Tradition die Götter auszeichnet, wird zum unverlierbaren Siegel der eigentlichsten Persönlichkeit: athanatos. Das homerische Bild der Götter scheint trotzdem in merkwürdiger Transposition bewahrt: Bei Homer sind die vergänglichen Menschen, kämpfend, leidend und sterbend, bestimmt durch die ewig seienden Götter, die eingreifen oder sich entziehen; das Wechselnde hat Teil an ewigen Gestalten. Freilich ist für Platon der Anthropomorphismus versunken; es sind lauter Neutra, die bestimmen, was ist, "das Gerechte", "das Schöne", "das Gute". Dafür sind sie der Seele des Menschen als Gegenstand der Erkenntnis unverlierbar gegeben; die Seele kann nicht mehr im Stich gelassen werden von den Göttern, im Gegenteil: Sie ist zum Aufstieg berufen. 42 43 44
William D. Ross, Plato's theory of ideas, Oxford 1951; Gottfried Martin, Platons Ideenlehre, Berlin 1973; Andreas Graeser, Platons Ideenlehre, Bern 1975; Erler 2007, ur. 5130-5215. Menon 80d-86c. Phd. 78d ff; nur der geistige Teil der Seele gilt als unsterblich: Tim. 41cd; 69c; 90a; Erler 2007, ur. 5050-5115.
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Aufstieg der Seele zur Erkenntnis ist nicht kühle Kenntnisnahme. Platon schildert diesen Weg als Leidenschaft, die den ganzen Menschen ergreift, als "Liebeserfahrung", eros, bis zum "Wahnsinn", mania. Das Schöne ist es, das dem Menschen den Weg weist. Es rührt die Seele an, erregt das Verlangen; doch Aufstieg beginnt erst mit der Einsicht, dass das Schöne in vielen Leibern erscheint, ein und dasselbe in mannigfacher Ausprägung. So führt von der leiblichen Schönheit die Erkenntnis zur Schönheit der Seele, von da zur Schönheit des Wissens selbst, bis schließlich ein Mensch, "zum Ziel der Erotik schreitend, plötzlich ein Schönes erblickt, das von wunderbarem Wesen ist, eben jenes, um deswillen alle Mühen zuvor waren", das reine Seiende, unvergänglich und göttlich, die Idee des Schönen.45 Das einprägsamste Bild von der unsterblichen Seele und ihrem Verhältnis zu den Göttern und dem wahren Sein ist im Phaidros entworfen: Die Seele gleicht einem Wagenlenker mit einem geflügelten Pferdegespann. Das eine Pferd ist gut, das andere aber böse und ungebärdig. "Der große Führer am Himmel, Zeus, fährt in seinem geflügelten Wagen voran, alles ordnend und besorgend; ihm folgt das Heer der Götter und Dämonen, in elf Abteilungen geordnet ... Vielfältig und selig sind die Schau und die Bewegung innerhalb des Himmels, wo sich das Geschlecht der seligen Götter bewegt, indem ein jeder das Seine tut; ihnen folgt, wer will und kann; denn Neid steht außerhalb des Chors der Götter. Wenn sie aber zum Mahl und Gelage ziehen, wenden sie sich steil hinauf zur höchsten Wölbung über dem Himmel. Da fahren die Gespanne der Götter, die gleichmäßig dem Zügel gehorchen, mit Leichtigkeit, die andern aber mit Schwierigkeit. Denn das Pferd, das an Schlechtigkeit Anteil hat, drückt nach unten ... Den Ort über dem Himmel hat noch keiner der hiesigen Dichter besungen, und nie wird ihn einer nach Gebühr besingen ... Das ungefärbte, ungeprägte, unberührte Sein, das wahrhaft ist, das nur vom Nous, dem Lenker der Seele, zu schauen ist, mit dem es die Art wahren Wissens zu tun hat, dies ist es, was diesen Ort einnimmt". Hier schauen die Götter die Ideen, hier erhaschen die Seelen in ihrem Gefolge den Blick auf die Wahrheit, der sie zur Menschenwürde erhebt. Götter und Seelen nähren sich von diesem Anblick. Jene Seelen allerdings, denen nur ein schwacher Blick auf dieses Jenseits gelingt, verlieren ihre Flügel und sinken in die Körperwelt; doch bleibt ihnen eine Erinnerung, bleibt die Chance und Aufgabe der Rückkehr in die Höhe.46 Wie im Symposium werden auch im Phaidros Aufstieg und "Schau" mit Metaphern der Mysteriensprache beschrieben: eine "Weihe", die "selig" macht, myesis, epopteia, orgidzeinY Das ganze ist ausdrücklich als Vergleich eingeführt; doch das Bild, bestärkt durch die religiöse Sprache, ist von solcher Faszination, dass es oft genug wörtlich genommen wurde: Man malt eine himmlische Hierarchie und will den Weg der Seele 45 46 47
Symp. 21Oa-212a, bes. 21Oe; 21le. Phdr. 246a-249b, bes. 246e; 247a; 247c. Edouard Des Places, Platon et la langue des mysteres, Etudes Platoniciennes 1981, 83-98; Riedweg 1987.
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in den Himmel und darüber hinaus von Stufe zu Stufe bestimmen. Philosophische Erkenntnis und religiöses Erlebnis fallen zusammen. Welches der höchste Gipfel überhaupt ist im Bereich des wahren Seins, wird im Staat ausgesprochen, freilich nur andeutend, vorläufig, gleich wieder im Gleichnis verhüllt: Es ist die "Idee des Guten". Wie die Sonne im Bereich des Sichtbaren Licht und Erkenntnis spendet und zugleich Wachstum und Gedeihen gibt, so ist die Idee des Guten im Bereich des geistig Erfassbaren Ursprung der Erkenntnis und Wahrheit, zugleich aber auch Ursache des Seins überhaupt.48 Sie selbst ist damit, als Verursachendes, noch "jenseits des Seins" (epekeina tes ousias). Dass das "Gute" dann konsequenterweise nicht mehr "Idee" heißen dürfte, ist eine Konsequenz, die im Staat nicht gezogen wird. Indirekte Berichte sprechen von einer Vorlesung Platons "Über das Gute", die Platon selbst nicht schriftlich aufgezeichnet hatj in ihr war das "Gute" als das "Eine" bezeichnet, der Versuch einer mathematischen Ableitung der Seinsprinzipien in Analogie zum Aufbau der Zahlen aus der Einheit schloss sich an. Die modernen Kontroversen um dieses platonische System müssen hier auf sich beruhen.49 Was wir fassen, ist überlagert von den je eigenen Versuchen deduktiver Metaphysik seitens der Platonschüler. Bei Xenokrates heißt die "Einheit" unverhohlen "Gott".50 Platon selbst spricht nur auf der spielerischen Stufe des Mythos unbefangen von "Gott" und "Göttern". Im Staat werden unter dem Gesichtspunkt der Erziehung die Dichter einer strengen theologischen Zensur unterworfen. 5I Die "Umrisse der Theologie" beruhen auf zwei Prinzipien: Gott ist gut, und Gott ist einfachj daraus folgt zum einen, dass Gott Ursache des Guten und nur des Guten ist, im Gegensatz zu den Vernichtung wirkenden Göttern in Epos und Tragödie. Woher dann das Böse in der Welt kommt, ist ein neues Problem, auf das Platon keine deutliche Antwort gegeben hat. 52 Zum andern ergibt sich, dass ein Gott unwandelbar ist und nicht trügen kann. Beide Prinzipien führen auf das zusammengehörige "Gute" und "Eine". Hier freilich kommt die Philosophie an eine Grenze des Unsagbarenj im Staat versteckt sich die wichtigste Aussage unter der Maske des "Lächerlichen".53 Ein andermal heißt es, der "göttliche Nous" sei vom "Guten" vielleicht nicht unterschiedenj54 48 49
50 51 52 53 54
Resp. 504d-509d; Hans J. Krämer, Arch. f. Gesch. d. Philos. 51,1969, 1-30; Fritz-Peter Hager, Der Geist und das Eine, Bern 1970. Harold Cherniss, The Riddle of the Early Academy, Berkeley 1945 (Die ältere Akademie, Heidelberg 1966); Hans J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, Heidelberg 1959; Konrad Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, Stuttgart 1963; Jürgen Wippern (Hrsg.), Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons, Darmstadt 1972; Margherita Isnardi Parente, Testimonia Platonica, Atti della Ace. Naz. dei Lincei 394, Memorie IX 8,4, 1997; 395, Memorie IX 10,1, 1998; Erler 2007, nr. 5230-5324. Fr. 15 Heinze ~ Fr. 213 Isnardi Parente. Resp. 377b-383c. Freie Entscheidung des Menschen: Resp. 617e; Tim. 42d; strukturelle Antithese zum Guten: Tht. 176a; böse Weltseele: Leg. 896e vgl. 906a; Polit. 270a. Resp. 509c. Phileb. 22c.
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auch heißt der Schöpfergott "das Beste von allem, was mit Denken zu erfassen und was ewig ist".55 Explizite Aussagen gehen darüber nicht hinaus. Mit dem logischen Sachverhalt, dass das, was über dem Sein steht, nicht mehr erkannt und benannt werden kann, kreuzt sich urreligiöse Scheu, Schweigen und Mysteriengeheimnis. Das Motiv des ontologischen "Jenseits", woraus der Begriff der "Transzendenz" sich entwickeln sollte, entspricht einer alten Tendenz, Gott über das Gegebene immer noch hinauszuheben: "Zeus ist das All - und was noch höher als dieses ist".56 Der längst ausgesprochene Begriff der "Allmacht" freilich geht bezeichnenderweise in die Seinsphilosophie nicht ein: Gott ist allmächtig nur im Rahmen dessen, was überhaupt möglich ist. 57 Jedes Wollen hat sein Ziel in einem "Guten", über das es nicht hinauswill. Das Verhältnis von Zeus und Moira ist so auf subtile Weise wiederhergestellt. Für den Menschen fallen Wünsche und Pflichten, Philosophie und Religion im Aufblick zum Guten zusammen; es gibt nicht mehr "Frömmigkeit" als eine Tugend neben anderen, sondern nur das eine Ziel: "Angleichung an Gott, soweit es möglich ist".58
3.3 Platon: Kosmos und sichtbare Götter Es gibt eine doppelte Wende in Platons Spätwerk gegenüber den Schriften der mittleren Periode, die im Staat gipfelt: Da ist ein selbstkritischer, logischer Ansatz, der die Ideenlehre erschüttert, die Ideen aus ihrer Isolierung reißt, Bewegung und Veränderung ins Sein aufnimmt;59 dies ist ein Fortschritt ontologischer und auch sprachlicher Reflexion, an dem die Philosophiegeschichte mit besonderem Interesse Anteil nimmt. Damit verschlungen ist eine Hinwendung zur diesseitigen Realität, zur Natur und zur Naturphilosophie; diese ist auch von religiöser Relevanz, sie hat geradezu religionsbildende Kraft entfaltet. Die Religion der Transzendenz findet ihre Ergänzung im Wahrnehmbaren, in "sichtbaren Göttern": Diese kühne Bezeichnung gilt für den Kosmos als ganzen und insbesondere für die Gestirne. Grundlage für diesen Neuansatz ist ein Fortschritt der Wissenschaft: 60 Eudoxos von Knidos schuf die mathematische Astronomie in Gestalt eines geometrischen Modells - Äquivalent einer mathematischen Formel -, durch das die scheinbar regel55 56 57 58 59 60
Tim. 37a. Aisch. Heliades, Fr. 70. Zeller 1921, II 1, 928,3. Tht.176b. Im Zentrum stehen Theaitetos, Parmenides und Sophistes. Verwiesen sei auf Vlastos (~VII 3 Anm. 33) und Egil A. Wyller, Der späte Platon, Hamburg 1970. Wolfgang Schadewaldt, Das Weltmodell der Griechen, in: Hellas und Hesperien 1,21970,601-625; Jürgen Mittelstrass, Die Rettung der Phänomene, Berlin 1962; Franc;:ois Lasserre, Die Fragmente des Eudoxos von Knidos, 1966; L&S 322-337; Hauptzeugnis: Eudemos Fr. 148 Wehrli.
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losen Bewegungen der Irrsterne, der "Planeten", auf eine Kombination vollkommener Kreisbahnen zurückgeführt wurden. Dass dieses erste Modell sich bald als falsch erwies, beeinträchtigt weder die Leistung noch die Wirkung des Eudoxos. Die von den ionischen Naturphilosophen entwickelte Vorstellung eines kosmischen "Wirbels", der tote Steine und Metallklumpen mit sich reißt, erscheint damit als überholt. Babylonische Astronomen hatten aus jahrhundertelangen Aufzeichnungen bereits zuvor die Perioden der Planeten erkannt und konnten sie auf Grund von Zahlentabellen bald sehr genau vorausbestimmen;61 ihre Daten übernahmen die Griechen samt den babylonischen Götternamen, mit denen die Planeten bezeichnet waren erst ins Griechische, dann ins Lateinische übersetzt sind dies: Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn;62 die geometrische Formulierung der Bewegungsgesetze, das anschauliche Modell samt den daraus gezogenen Konsequenzen ist griechisch. Man weiß nunmehr: Der Kosmos gehorcht unveränderlichen, mathematisch fassbaren Bewegungsgesetzen. Zwei kühne Folgerungen schienen sich daraus unmittelbar zu ergeben: Der Kosmos ist ewig, ist doch in den vielen Jahrhunderten der Beobachtung keine Veränderung festzustellen, und die mathematische Formel lässt diese auch nicht zu; falsch also ist das alte kosmogonische Modell, als sei der Kosmos irgendwann einmal entstanden und einem entsprechenden Verfall in der Zukunft ausgesetzt. Zum anderen: Mathematisch genaue Bewegungen sind vernünftig; die Himmelsbewegungen setzen also einen bewegenden Geist voraus. Platon lässt in den Gesetzen den Athener, hinter dem er deutlich selber steht, aussprechen, er habe dies "nicht als junger Mann und nicht vor langer Zeit" gelernt. 63 Platon hatte sich früher mit Anaxagoras auseinandergesetzt, er hatte diesem vorgeworfen, dass er zwar den Nous als Beweger einführe, im Einzelnen aber einem geistlosen Materialismus huldige. 64 Jetzt führt Naturwissenschaft auf mathematische, geistige Formen; so wird ein überraschendes Bündnis mit geistiger Frömmigkeit möglich. Aufgabe ist, "dem alten Brauch mit dem l6gos zu Hilfe zu kommen".65 Der Begriff der "Seele", die bisher nur mit dem einzelnen Menschen verbunden war, auch in der Philosophie als Subjekt des Erkennens und moralischen Entscheidens, erhält eine neue, kosmische Dimension: Die Bewegung des Kosmos ist geistig-seelischer Natur. Seele lässt sich neu und allgemein definieren als "das sich selbst Bewegende"; merkt man doch die Lebendigkeit des Lebewesens an seiner Fähigkeit, sich zu bewegen, im Gegensatz zu allem Toten. Daraus entwickelt sich ein neuer Unsterblichkeitsbeweis: 66 Auch für das, was von anderem bewegt wird, muss das sich selbst Bewegende letztlich Ursprung der Bewegung sein; als Ursprung aber ist es 61 62 63 64 65 66
Otto Neugebauer, A History of Ancient Mathematical Astronomy, Berlin 1975. Franz Cumont, Les noms des planetes et l'astrolätrie chez les Grecs, ACl4, 1935, 5-43; L&S 300 f. Plat. Leg. 821e. Phd. 97b-99c = VS 59 A 47. Leg. 890d. Phdr. 245c-e; Leg. 894b-896d; Cic. Somn. Scip. 27 f.
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3 Neue Grundlegung: Kosmoteligion und Metaphysik
selbst ohne Ursprung und damit unvergänglich; sonst müsste ja längst alles zum Stillstand gekommen sein. Damit ist "Seele", als Selbstbewegtes, primär gegenüber allen bewegten Körpern. Dies gilt für den gesamten Kosmos ebenso gut wie für den einzelnen, sterblichen Menschenleib. Die damit gegebene prinzipielle Wende hat Platon mehrfach in den Gesetzen hervorgehoben. "Völlig umgekehrt steht es jetzt wie damals, als die Denker sich die Gestirne seelenlos dachten. Verwunderung freilich regte sich schon damals; und was jetzt wirklich gilt, ahnte, wer sich auf Genauigkeit damit einließ: dass doch nimmermehr die Gestirne als seelenlose Dinge sich so genau an wunderbare Berechnungen halten könnten, wenn sie nicht Verstand besäßen. Einige riskierten es, schon damals sich damit hervorzuwagen, und sie sagten, dass der Nous es sei, der alles am Himmel geordnet habe. Eben diese freilich täuschten sich über die Natur der Seele, nämlich dass sie primär ist gegenüber den Körpern; sie dachten sie sich als jünger und ruinierten damit sozusagen alles, mehr noch: sich selbst. Jetzt aber, wie gesagt, steht es genau umgekehrt: es ist nicht mehr möglich, dass je einer von den sterblichen Menschen auf die Dauer gottesfürchtig wird, wenn er nicht diese zwei genannten Prinzipien erfasst: dass die Seele das älteste von allem ist, was Teil am Werden hat, und dass sie unsterblich ist, auch dass sie über alle Körper herrscht; und dazu muss er, was jetzt oft gesagt worden ist, den erwähnten Verstand des Seienden in den Gestirnen erfassen und dazu auch die zuvor notwendigen mathematischen Wissenschaften"Y Astronomie wird zur Grundlage der Religion. Die Epinomis des Philippos von Opus hat dies noch energischer ausgeführt; sie macht auch Ernst mit dem, was schon in den Gesetzen angedeutet ist: Die Gestirne haben Anspruch auf einen echten Kult mit Opfern, Gebeten und Festen. 68 Die packendste, für alle folgende Kosmosfrömmigkeit grundlegende Darstellung der neuen naturphilosophischen Weltsicht hatte Platon zuvor schon im Timaios vorgelegt. 69 Dieser Dialog "Über das All", in dem bereits nicht mehr Sokrates, sondern ein fiktiver Pythagoreer aus Unteritalien das Wort führt, wird zu einem Hymnus auf den beseelten, göttlichen Kosmos. Ontologie und Kosmologie klingen zusammen in Harmonie. Die sichtbare und greifbare Welt hat ihre Ursache im höheren, wahren, unveränderlichen Sein; Platon schildert sie als geschaffen von einem "Handwerker", demiourg6s - das hier geprägte Wort für den Schöpfergott sollte eine enorme Wirkungsgeschichte entfalten;70 er heißt im Timaios gelegentlich auch "der Gott" schlechthin. 71 Er blickt bei seiner Schöpfung auf ein ewiges "Muster", das "geistig erfassbare Lebewesen", wie der Kosmos der Ideen hier heißt. 72 Davor noch steht die viel zitierte 67 68 69 70 71 72
Leg. 967a-e. Epin. 984a; 988a; vgl. Leg. 821d. Frands M. Cornfotd, Plato's Cosmology, Indianapolis 1937; Etlet 2007 nr. 3200-3355. Cornelius M. A. van den Oudenrijn, Demiourgos, Diss. Uttecht 1951; Carl). Classen, C&M 23, 1962, 1-22; Erler 2007, 455-46l. Tim. 34a. Tim. 28e; 30c; 37c; 3ge.
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Hindeutung auf den höchsten Gott: "Den Hersteller und Vater dieses Alls zu finden ist eine mühevolle Leistung; ihn, wenn man ihn gefunden hat, allen mitzuteilen, ist unmöglich"P Ob dieser unsagbare Vater mit dem Einen und Guten, ob er mit dem "Demiurgen" identisch ist, blieb ein vielverhandeltes Problem des Platonismus. Pla-ton lässt es beim Geheimnis. Der Kosmos, nach dem Vorbild des "vollkommenen Lebewesens" geschaffen, ist selbst ein Lebewesen mit Seele und Geist.14 Seine Seele, die Weltseele, ist eine Harmonie mathematischer Zahlenverhältnisse, die sich in den Gestirnbewegungen manifestiert;75 die Gestirne sind "Werkzeuge der Zeit";76 die Zeit selbst, chr6nos, ist mit dem Himmel entstanden, Abbild der ungewordenen zeitlosen Ewigkeit, ai6n.77 Der sichtbare Kosmos ist vollkommen, soweit Körperliches überhaupt Vollkommenheit erreichen kann; ein zweites Prinzip der "Notwendigkeit", der "Raum", "Amme des Werdens", ist bei allem Körperlichen mit beteiligt.78 Der Kosmos ist ein Gott in Gestalt der vollkommenen Kugel,79 geworden zwar, doch nach dem Willen des Schöpfers unauflöslich, denn der Schöpfer ist uneingeschränkt gut. Viele Timaios-Interpreten, besonders Platons unmittelbare Schüler, betonten,80 dass auch die beschriebene Entstehung des Kosmos nur eine Methode der Darstellung sei, ein Bild zum Zweck der Verdeutlichung; in Wahrheit sei der Kosmos ebenso ungeworden wie unvergänglich. Innerhalb dieses umfassenden Gottes werden, entsprechend dem vollkommenen Vorbild, weitere sichtbare Götter geschaffen, die Gestirne am Himmel. 8! Die Fixsterne sind göttliche Lebewesen, die stets auf gleiche Weise im gleichen Bereich sich bewegen, "sichtbare und gewordene Götter" auch sie,82 nicht prinzipiell unsterblich83 , aber von gleicher unbegrenzter Dauer wie der Kosmos insgesamt. Die von ihnen umkreiste Erde ist "die erste und älteste Göttin innerhalb des Himmels".84 Die Planeten haben am Prinzip des "Anderen", an der Veränderung stärkeren Anteil. Daneben werden in spielerisch-ironischem Ton andere, mindere Götter eingeführt, daimones;85 man kann, was sie betrifft, auf die Theogonien von Orpheus und seinesgleichen hören, die
73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85
28c; Andre J. Festugiere, La reveJation d'Hermes Trismegiste IV: Le dieu inconnu et la Gnose, Paris 1954. ~ VII 3 Anm. 55. Tim. 30ab. Tim. 34b-36d. Tim. 42d. Tim. 38bc. Tim. 49a-52c; Heinz Happ, Hyle, Berlin 1971. Tim. 34a; 68e; 92c; Leg. 821a. Arist. cael. 279b32; Speusippos Fr. 54 Lang ~ Fr. 94 Isnardi Parente; Xenokrates Fr. 54 Heinze ~ Fr. 153-155 Isnardi Parente. Tim. 3ge; 40a. Tim.40d. Tim. 41a. Tim.40c. Tim.40d.
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sich als Götterkinder ausgeben; zwar haben sie weder wahrscheinliche noch notwendige Beweise vorgebracht, doch dem Brauch folgend mag man ihnen glauben. Dies sind die Götter des Kults, Zeus samt seinen Vorfahren und seinen Kindern; weit sind die Olympier abgesunken. Die "jungen" Götter, Gestirngötter und traditionelle Götter, werden ihrerseits schöpferisch tätig: Sie bilden die Körper der Lebewesen; diese können, als sterbliche, ja nicht direkt vom Demiurgen geschaffen sein. Hier wird die Darstellung erst recht zum Spiel mit dem Mythos. Im Menschen selbst ist der Nous, die Kraft des geistigen Erfassens, als etwas Göttliches eingepflanzt, ein daimon im Menschen;B6 das Wort Heraklits vom Charakter als daimon B7 erhält so eine neue Wendung. Seine Leistung ist es, uns "zur Verwandtschaft mit dem Himmel von der Erde aufzurichten": Der aufrechte Gang zeichnet den Menschen aus, er weist nach oben; der Mensch ist im Himmel verwurzelt, "Himmelspflanze" (phytön ouranion) auf Erden. BB Indem die Seelenwanderungslehre wieder auf.. gegriffen wird, heißt es, jede Seele habe einen ihr eigenen Stern, von dem sie gekommen ist und zu dem sie zurückkehren wird;B9 die Zahl aller Seelen ist konstant. Ungelöst bleibt das Problem des Dualismus. Der Nous in der Welt steht gegen die Ananke, "Notwendigkeit"; er kann sie "vernünftig überreden", doch nicht außer Kraft setzen. Als "Raum", als "Mutter des Werdens" scheint das Gegenprinzip nur eine conditio sine qua non zu sein, keine aktive Kraft; in den Gesetzen aber taucht eine böse Weltseele auf, die mit der guten in einen ewigen Kampf verstrickt ist.90 Monistische und dualistische Tendenzen liefen seither im Platonismus nebeneinander her. Dessen ungeachtet bietet der Platonische Entwurf so viel Einleuchtendes und Anschauliches, dass seine ungeheure Wirkung nicht überraschen kann. Nie zuvor wurden Götter in solcher wenn nicht gerade handgreiflichen, so doch offenbaren Deutlichkeit dargeboten. Dies ließ sich auch losgelöst von den Subtilitäten der Ideenlehre und Ontologie begreifen, glauben und predigen; die "Undeutlichkeit", auf die Protagoras sich berufen hatte,91 schien überwunden. Der Mensch ist zu Hause in einer Welt, die auf das "Gute" gegründet ist; strenge Wissenschaft und religiöser Aufschwung fallen zusammen. Kosmos- und Gestirnreligion ist seither, besonders im Hellenismus, die herrschende Form aufgeklärter Frömmigkeit,92 die freilich, vom Gefühl der Erhebung abgesehen, nicht viel verlangt und nicht viel gibt; in der Praxis waren die Götter des nomos nicht zu ersetzen. Allerdings gab es die Möglichkeit, durch die Methode der
86 87 88 89 90 91 92
Tim.90a. VS 22 B 119 = 94 Marcovich. ~ III 2 Anm. 145. Tim.90a. Tim. 42b. Leg. 896e; 906a; vgl. Polit. 270a. Zum Problem einer Anregung durch Zarathustra Julia Kerschensteiner, Platon und der Orient, Stuttgart 1945. --+ VII 2 Anm. 13. Andre J. Festuguiere, La revelation d'Hermes Trismegiste II: Le dieu cosmique, Paris 1949.
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Allegorie93 die mythischen mit den sichtbaren Göttern zu identifizieren; im Einzelnen suchten vor allem Stoiker dies auszuführen; vieles davon wurde Gemeingut aller Gebildeten bis in die Zeit des Barock: Zeus ist der Himmel, Apollon die Sonne, Artemis der Mond, Demeter die Erde. Die dem Laien wenig auffallenden Planeten haben es nicht zu gleicher Popularität gebracht; doch wurde seit dem Späthellenismus die mit ihren Perioden arbeitende Astrologie als neue Art der Mantik zu einer geistigen Weltmacht.94 Das eigentlich Problematische an dem ganzen so erfolgreichen Auf. schwung der kosmischen Religion, die Bindung an ein bestimmtes, überholbares Stadium der Naturwissenschaft, hat erst fast 2000 Jahre nach Platon zum Eklat geführt.
3.4 Aristoteles und Xenokrates: Geistgott und Dämonen Platons Schüler sind sehr verschiedene Wege gegangen. Es gab die Entwicklung einer orthodoxen Dogmatik durch Kommentierung und Systematisierung von Platons Lehren; diese Richtung schlug Xenokrates95 ein, Platons zweiter Nachfolger, der langjährige Vorsteher der Akademie; zum Fundamentaltext wurde insbesondere der Timaios. Daneben standen Dissidenten, die Platons Erbe in selbständiger Weise weiterentwickelten, durchaus mit Kritik an Platons eigenen Lehren. So hat Aristoteles 96 seine eigene Schule begründet; er lehnte die jenseitsgerichtete Ideenlehre ab und verwandte seine Energie auf die logische Bewältigung der Erfahrungswelt. Doch bleibt eine gemeinsame Basis erhalten, gerade in der Synthese von Religion und Philosophie: Auch für Aristoteles ist die "erste Philosophie" im Grunde Theologie,97 insofern sie es mit der höchsten Ursache des Seienden zu tun hat; dass sie in der Tradition den Namen "Metaphysik" erhielt, ist ein bibliographischer Zufall. Alle Platonschüler sind überzeugt von der Göttlichkeit des Kosmos, die in der Regelmäßigkeit der Gestirnbahnen ihren überzeugenden Ausdruck findet. 93 94
95
96
97
-;. VII 3 Anm. 23. Auguste Bouche-Leclerq, rastrologie grecque, Paris 1899; Franz Cumont, Astrology and Religion among the Greeks and Romans, New York 1912; Franz Boll/Carl Bezold/Wilhelm Gundei, Sternglaube und Sterndeutung, Leipzig 41931; GGR IF 268-281; Scott B. Noegel/Joel T. Walker (Hrsg.), Prayer"Magic, and the Stars in the Ancient and Late Antique World, University Park 2003. Richatd Heinze, Xenokrates, Leipzig 1892; Heinrich Dörrie, RE IX A 1512-1528; Margherita Isnardi Parente, Senocrate - Ermodoro. Frammenti, Neapel 1982; Hans Krämer in: Flashar 2004, IIF 32-55. Übersicht bei Flashar III, '2004. Bestimmend war lange die Auseinandersetzung mit Werner Jaeger, Aristoteles, Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923; ferner William D. Ross, Aristotle, London 1923; Ingemar Düring, Aristoteles, Heidelberg 1966, und RE Supp!. XI 159-336; Guthrie VI 1981; Willem J. Verdenius, Traditional and personal elements in Aristotle's religion, Phronesis 5, 1960,56-70; Walter Pötscher, Sttukturprobleme der aristotelischen und theophrastischen Gottesvorstellung, Leiden 1970. Arist. Met. E 1026a13-23 (K 1064a30-b6).
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3 Neue Grundlegung: Kosmoreligion und Metaphysik
Über Platons explizite Lehre hinaus geht die These, dass die Welt ewig sei, ohne Anfang und Ende. Hierüber bestand ein gewisser Konsens. Man deutet den "Demiurgen" des Timaios als einen bloßen Kunstgriff der Darstellung.98 Am wirkungsvollsten hat anscheinend Aristoteles in einem verlorenen Dialog "Über Philosophie" die Ewigkeit der Welt vertreten: Es mag periodische Katastrophen auf Erden geben, die immer wieder ganze Zivilisationen vernichten; Kulturentstehung ist eine Tatsache; aber trotzdem ist das Menschengeschlecht so ewig wie alle Arten von Lebewesen im vollkommenen, unvergänglichen Kosmos. Es wäre ja denn doch "schreckliche Gott:losigkeit", atheotes, den Untergang der Welt, eines "so großen sichtbaren Gottes", auch nur für möglich zu halten.99 Im Menschenbereich freilich herrscht der Wechsel; der Kosmos zeigt sich zweigeteilt: Im Gestirnbereich ist alles ewig und läuft auf unveränderlichen, vollkommenen Bahnen; auf der Erde gilt der Zufall, nicht mathematisches Gesetz. Grenze ist der Mond, das niedrigste Gestirn, der noch auf einer mathematischen Kreisbahn läuft, doch mit wechselndem Licht. Auch diese Spaltung der Welt in einen "translunaren" und einen "sublunaren" Bereich ist Gemeingut der Akademie;lOo die maßgebende Wirkung ging vom Werk des Aristoteles aus. Die Gestirnwelt ist der irdischen Physik entrückt; im Anschluss an eine Andeutung des Timaios kommt es zur Hypothese eines fünften Elementes, einer quinta essentia jenseits von Feuer, Wasser, Luft und Erde; ihm soll die reguläre Kreisbewegung eigentümlich sein; es bildet Himmelssphären und Gestirne. Es kann auch Aither genannt werden. 101 Dass auch die Seele aus Himmelsstoff, aus Aither, bestehe, womit vorsokratische Stofflichkeit wiederaufgenommen wird, ist eine naheliegende Erweiterung;102 der himmlische Ursprung der Seele und ihre himmlische Bestimmung ist dann physikalische Tatsache. Über Gestirngöttern und Kosmosgott freilich steht nach Platons Lehre noch ein höchster, jenseitiger Gott. Das Verhältnis beider Gottesbegriffe blieb schwierig. Für Xenokrates ist bezeugt, höchster Gott sei die "Einheit", Monds, die auch "Zeus" heißen kann; aber auch Himmel und Sterne seien "Olympische Götter";103 wie der metaphysische und der kosmologische Ansatz zum Ausgleich kamen, steht dahin. Versuche, beides notwendig aneinander zu binden, unternimmt Aristoteles. In der Schrift Vom Himmel führt er aus, außerhalb des Himmels sei weder Raum noch Zeit; "dort" 98 99 100 101
102 103
-+ VII 3 Anm. 80. Arist. Fr. 18; Bernd Effe, Studien zur Kosmologie und Theologie der aristotelischen Schrift "Über die Philosophie", München 1970. Xenokrates Fr. 15; 18 Heinze = Fr. 213; 216 f Isnardi Parente; Herakleides Fr. 95 Wehrli; Arist. meteor. 339a19-32; "bis zum Mond" 340b7; vgl. L&S 244,32. Paul Moraux, RE XXIV 1171-1263 s.v. Quinta esentia; aither Plat. Epin. 981c, 984bc (-+ Anm. 24); "unbenannt" Aristoteles Peri philosophias Fr. 27 Walzer/Ross (Clern. Rom. Recogn. 8,15); Arist. cael. 268b14-270b25; aither 270b22 (meteor. 339b17-340a18) (aither 339b22). Aristoteles Peri philos. Fr. 27 Walzer/Ross bei Cic. Tusc. 1,22; Acad. 1,26; vgl. Arist. gen.an. 736b37. Xenokrates Fr. 15 Heinze = Fr. 213 Isnardi Parente; vgl. Heinz Happ, Hyle, Berlin 1971, 241-256.
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also sei nur Unkörperliches, Unveränderliches: es habe das beste, selbstgenügsamste Leben in Ewigkeit; man könne es darum Aion nennen, lebens erfüllte Dauer, als die letzte Grenze, die die Grenze des ganzen Himmels, die ganze Zeit, die Unbegrenztheit umfasst. I04 Das göttliche "Umfassende", wie es Anaximandros gelehrt hatte, kehrt wieder, freilich auf höherem Reflexionsniveau, als unkörperliche "Grenze" gefasst; es gilt wie zuvor als "unsterblich und göttlich", und alles andere, sagt Aristoteles, hängt von ihm ab, in exakter oder in lockerer, undeutlicher Weise. Strenger versucht das 12. Buch der Metaphysik dieses Höchste abzuleiten: I05 Zeit, definiert als "Zahl der Bewegung", und die Bewegung selbst können weder Anfang noch Ende haben; denn diese müssten in der Zeit liegen. Und doch bedarf die Bewegung einer Ursache; diese kann also nur unbewegt sein, ein "unbewegter Beweger"; ein solcher verursacht vor allem die größte, die Himmelsbewegung, der alle anderen Bewegungen folgen. Bewegend, ohne selbst bewegt zu sein, ist das im Denken erfasste Ziel, das noeton, insbesondere das Schöne. Der erste, unbewegte Beweger ist demnach das erste Schöne, und er bewegt, weil er Ziel der Liebe und Sehnsucht ist. Ins Kosmische umgesetzt erscheint so Platons Lehre vom Eros: Er ist die zum Aufstieg führenden Macht. Im Denken erfasst, noeton, ist das höchste Sein, unkörperlieh, reine Aktualität, energeia. Seine Aktualität, seine Tätigkeit besteht in geistigem Erfassen; der Gegenstand des noein und sein Vollzug selbst sind identisch: "Denken des Denkens", noesis noeseos, ist seligste Existenz und der höchste Ursprung von allem. "Dies ist der Gott. Von einem solchen Prinzip also hängt der Himmel und die Natur ab". Das Höchste, Beste ist eines. Im Monotheismus des Geistes hat die philosophische Spekulation einen Endpunkt erreicht; dass auch darin eine Selbstprojektion des denkenden Philosophen liegt, darüber hat die antike Philosophie nicht reflektiert. Bei Platon sind nur Ansätze zur Vergöttlichung des Nous aufweisbar;I06 den Nous als Beweger hatte in weit schlichterer Weise Anaxagoras eingeführt, im Anschluss an Xenophanes, der den Gott alles durch seinen Nous lenken ließ. Die Selbstgewissheit theoretischer Erkenntnis im Bündnis von Mathematik und Philosophie hat einen neuen Gott gebildet; der Schwung religiöser Sprache mit ihren superlativischen Formulierungen trägt über manchen Gedankensprung hinweg. Für die Planetenbewegungen allerdings muss dann eine Vielzahl von unbewegten Bewegern angenommen werden; reale, nicht weiter ableitbare Vielfalt ist anzuerkennen. Mit der praktischen Religion ist die metaphysische Theologie kaum mehr in Kontakt zu bringen. Dass der Gott oder die Götter sich um die menschlichen Angelegenheiten kümmern, lässt sich von den aristotelischen Prinzipien her nicht ableiten; in
104 cael. 279all-b3; dazu Sextus Pyrrh. hypot. 3,218; adv. math. 10,33; Willy Theiler, Untersuchungen zur antiken Literatur, Berlin 1970, 309-317. 105 Arist. Met. 1072a19-1073a13. 106 Phileb. 30d, vgl. Zeller 1922, Il1 715,1. Arist. Fr. 49: "Gott ist entweder Noüs oder etwas jenseits des Noüs" knüpft an Resp. 509b an (-00 VII 3 Anm. 48).
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der Ethik ist davon nur in der Form eines unverbindlichen "Wenn" die Rede. 107 In den Untersuchungen der aristotelischen Politik ist die normale Polis religion vorausgesetzt, nicht ohne ironische Obertöne: "leicht" kann der Gesetzgeber über Sakralgesetze einen praktischen Zweck erreichen; dem Herrschenden nützt es, sich got:tesfürchtig zu geben; Neureiche gebärden sich als "Freunde der Götter".108 In den Mythen mögen Reste alter Weisheit bewahrt sein, etwa der Hinweis auf die Göttlichkeit der Himmelskörper; "das übrige ist in mythischer Weise angefügt, zur Überzeugung der Menge und zum Gebrauch für die Gesetze und zum Nutzen".109 Aber natürlich soll man am bestehenden Brauch nichts ändernYo Dass man Götter zu ehren hat, ist selbstverständlich. Der Mensch wird die Götter in seiner Weise lieben - Liebe zu einem Höheren, die unerwidert bleibt. Es wäre lächerlich, dies dem Gott vorzuwerfen: Geliebt zu werden, nicht zu lieben ziemt dem Höheren. l11 Solch philosophische Kühle wird dem normalen Menschen wenig bedeuten, dem Alltagssorgen auf den Nägeln brennen. Er braucht göttliche Nähe, wie sie weder die Gestirne noch metaphysische Prinzipien bieten. Hier trat der Name in die Lücke, der die unfassbare Wirkung eines Höheren seit je bezeichnete: daimon. l12 Grundlegend ist auch hier Platon. Er lässt im Symposion die Priesterin Diotima vom Eros sprechen als einem Wesen, das weder Gott noch sterblich ist, sondern ein "Mittleres": ein daimon;l13 daimones, in der Mitte zwischen Göttern und Menschen, sind "Dolmetscher und Fährleute", die Botschaften und Gaben von den Menschen zu den Göttern, von den Göttern zu den Menschen übermitteln, Gebete und Opfer von der einen, Aufträge und Belohnungen von der anderen Seite. Alle Seher- und Priesterkunst arbeite in Wahrheit mit Dämonen. Bei Platon ist dies Mythos, Erzählung in der Erzählung; doch fällt auf, dass er auch sonst eine Vorliebe für den Begriff daimon entwickelt; nicht mehr "Heroen", sondern daimones werden die im Krieg Gefallenen genannt;1l4 "Götter und daimones", statt "Götter und Heroen", erscheint als stehende Verbindung in den GesetzenY5 Ein System der Dämonenlehre entwickelt die Epinomis:1l6 Am Himmel leben die feurigen Sterne, auf der Erde die irdischen Lebewesen; es ist zu postulieren, dass auch die anderen Elemente, Wasser, Luft und Aither, je ihre eigenen Lebewesen bilden. Von Wassernatur sind "Halbgötter", Heroen, die gespensterhaft undeutlich erschei-·
107 108 109 110 111 112 113 114 115 116
EN 1099b11; 1179a24; Heribert Rahe, Göttliche Epimeleia, Münster 1968. Polit. 1335b15; 1314b39; Rhet. 1391b1. Met. 1074bl-5; Fr. 13; vgl. cael. 270b16. Polit. 1331a27; 1336b6; vgl. 1328b12; 1329a27; Top. 105a5. EN 1162a4; EE 1238b27. -+ V 4 Anm. 71; Zeller 1921, II 2 366,4. -+ III 3.5. Plat. Symp. 202e-203a. Plat. Resp. 540c. -+ III 2 Anm. 153. Plat. Leg. 738d; 799a; 906a; "daimones, die den Göttern folgen" Leg. 848d; vgl. Aristoph. Plut. 81. Plat. Epin. 984b-985b; Leonardo Taran, Academica: Plato, Philip of Opus and the Pseudo-Platonic Epinomis, Philadelphia 1975.
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nen; ZU Luft und Aither gehören daimones, die durchaus unsichtbar sind, jedoch kräftigen Geistes: Sie erkennen alle unsere Gedanken, freuen sich über die Guten, hassen die Bösen - Götter dagegen sind frei von Emotionen. Dämonen können entsprechend eingreifen; es empfiehlt sich, sie mit Gebeten zu ehren. Auch Aristoteles nimmt daimones als Zwischenwesen; doch ist es für ihn mehr eine fac;:on de parler: Träume sind "dämonisch ", kommen aber eben darum nicht von den Göttern; die Natur der Lebewesen ist daimonia, des Staunens wert, nicht aber "göttlich", sie fordert weder Distanz noch Unterwerfung.1I7 Xenokrates sprach von "Dämonen unter dem Mond", unterhalb der göttlichen Sphäre; sie sind seelen-artig, können sich freuen und leiden.l1 s Neu und von ungeahnter Wirkung aber ist die These,1I9 dass es unter diesen daimones auch böse Wesen gebe, erfüllt von Gier nach Blut und Sexualität. Sie brächten es fertig, durch Seuchen, Unfruchtbarkeit, Zwietracht und ähnliche Nöte die Menschen sich gefügig zu machen, bis hin zum Opfer einer reinen Jungfrau; sie seien die treibenden Kräfte hinter all den düsteren und unbehaglichen Ritualen der religiösen Tradition, Fasten, Klagen, Obszönitäten, Rohfleisch-Essen. All dies kann mit den Göttern, wie die Philosophie sie gezeichnet hat, nichts zu tun haben, und doch hat es Wirklichkeitscharakter: Hier wirken Dämonen. Die Erklärung hat ihren Preis: Geistphilosophie wird zur Geisterlehre, ununterscheidbar von primitivem, diffusem Aberglauben. Die Gestalten der Dichtung konnten Orientierung und Klarheit bieten; Dämonen sind unfassbar, man findet sich preisgegeben an Mächte, mit denen man irgendwie paktieren muss, ohne dass ein Sinn aufleuchtet. Die praktisch geübte Religion ist scheinbar ernstgenommen, verwandelt sich aber unter der Hand in Magie. Von Xenokrates her hat das Wort daimon jenen Sinn des "Dämonischen" angenommen, der dann durch das Neue Testament verfestigt wurde. Entfaltung des Dämonenglaubens erfüllt die Spätantike.
117 Arist. div.per somn. 463b12. 118 Xenokrates Fr. 15 Heinze ~ Fr. 213 Isnardi Parente. 119 Xenokrates Fr. 23/4 Heinze ~ Fr.223; 225 Isnardi Parente ~ Plut. def. orac. 416C, 417B-C, Is. 36Dd; RAC IX 614 f s.v. Geister und Dämonen.
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4 Philosophische Religion und Polisreligion: Platons "Gesetze"
4 Philosophische Religion und Polisreligion: Platons "Gesetze" Platons Theologie kann als Grundlage für individuelle Mystik dienen; und in der Tat ist alle spätantike und mittelalterliche Mystik vom Platonismus geprägt. Platon selbst ist diesen Weg nicht gegangen. Sein letztes Werk, die Gesetze,! stellt im Gegenteil einen Staat vor, der die Realitäten der griechischen Polis weit mehr zu ihrem Recht kommen lässt als der frühere, utopische Entwurf des Staates. "Zweitbester" Staat in den Augen des Philosophen, 2 ist der Gesetzesstaat gesättigt mit der vielfältigen Realität des tatsächlich Bestehenden. So kommt die umfassendste literarische Darstellung einer griechischen Polis überhaupt zustande, einschließlich ihrer Religion. In der Theorie ist Platons Gesetzesstaat eine Theokratie: "das Maß aller Dinge ist Gott";3 das "Größte", Wichtigste im Staat ist, "über die Götter die richtigen Gedanken zu haben und dementsprechend gut, oder aber nicht gut, zu leben"; denn "wer an Götter gemäß den Gesetzen glaubt, hat noch nie willentlich eine Freveltat unternommen oder ein ungesetzliches Wort sich entfahren lassen".4 Religion garantiert die Gerechtigkeit der Bürger und trägt damit den Staat. Sie kann insbesondere den Menschen einprägen, dass nur Gerechtigkeit nützlich ist, dass Ungerechtigkeit in jedem Fall ihre Strafe findet, und sei es im Jenseits. Darum wacht der Staat über die Religion. Hier führt die philosophische Religion über alle bestehenden Gesetze weit hinaus: Glaube an die Götter wird zur Staatspflicht erklärt, Atheismus ist ein Staatsverbrechen, auf das Todesstrafe steht. Ein höchstes Aufsichtsorgan, der "Nächtliche Rat", hat hierüber zu wachen. Ketzerprozesse und Inquisition scheinen damit vorweggenommen; die Proteste der neuzeitlichen Aufklärung treffen in der Tat auch Platon. Die Repression wendet sich nicht mehr gegen praktischen Religionsfrevel, sondern gegen den theoretischen Atheismus. 5 Zwar gilt der eigentliche Ingrimm den moralisch verkommenen Gottesleugnern, insbesondere jenen heuchlerischen Scharlatanen, die mit ihren Ritualen Götter beeinflussen und bestechen wollen; aber dass es reine, durch tadellosen Lebenslauf ausgezeichnete Atheisten geben kann, damit wird ausdrücklich gerechnet. Ihnen soll in fünfjähriger Beugehaft in einer Stätte der Besinnung, sophronisterion, Gelegenheit gegeben werden, zur Einsicht zurückzufinden; sonst verfallen gerade sie der Todesstrafe. 6
2 3 4 5 6
Literaturübersicht bei Erler 2007 nt. 3460-3563; zur Religion Reverdin 1945, bes. 56-103; Else Kerber, Die Religion im platonischen Gesetzesstaat, Diss. Wien 1947; Glenn R. Morrow, Plato's Cretan City, Princeton 1960; Willy Theiler, Die bewahrenden Kräfte im Gesetzesstaat Platos, in: -, Untersuchungen zur antiken Literatur, Berlin 1970, 252-261; Ernst Sandvoss, Soteria. Philosophische Grundlagen der platonischen Gesetzgebung, Göttingen 1971. Hans Herter, Platons Staatsideal in zweifacher Gestalt, in: Kleine Schriften, 1975, 259-278. Leg. 716c. -+ VII 2 Anm. 15. Leg. 888b; 885b. Leg. 886a. Leg. 907d-909d.
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Solche erschreckende Strenge scheint Platon gerechtfertigt, weil er sich der Wahrheit sicher fühlt: Die Zweifel der Naturphilosophen und Sophisten sind überholt, seit die Vollkommenheit der Himmelsbewegungen die Priorität der Seele bewiesen hat.7 Nach dem metaphysischen Gott wird auf der Stufe der Gesetze nicht gefragt; zur Widerlegung des Atheismus genügen die "sichtbaren Götter". Neben die Beweise treten Mythen, die gleichsam als "Beschwörungen" die Seelen der Menschen gewinnen und überzeugen sollen;8 hier bleibt den Dichtern eine Aufgabe, wobei sie jedoch strenger Kontrolle unterworfen sind. Es sind vor allem Seelenwanderung und Jenseitsstrafen, wovon in solchen Mythen zu erzählen ist; nicht dass alles, was Dichter darüber gesagt haben, in allen Einzelheiten wahr wäre, aber der Grundgedanke ist durchaus ernst zu nehmen. Mythos, logos und nomos verbünden sich. Drei Grundsätze der Religion werden verbindlich festgelegt: 9 dass die Götter existieren, dass sie sich um die Menschen kümmern und dass sie nicht durch Opfer und Gebet zu beeinflussen sind. Der zweite Satz, der aus kosmischer Religion stets schwer herzuleiten ist, folgt aus der Vollkommenheit des Göttlichen: Faulheit, Nachlässigkeit, Versehen sind ausgeschlossen; "Sorge" des Göttlichen muss sich im Kleinen wie im Großen zeigen. Die Gegenbeispiele, die die Erfahrung bietet, werden überspielt: Als Philosoph muss man des Ganzen gewahr werden, statt am Detail hängen zu bleiben. Der dritte Satz ist aus dem Begriff des Göttlichen als des Guten ohne Weiteres zu entnehmen; er bedeutet aber im Prinzip die Abschaffung des Kults, der ja aus "Opfern und Gebeten" besteht. Eben diesen Schritt tut Platon nicht: Die platonische Polis hat ihren Kult, der wohlvertraut erscheint: Da gibt es eine Akropolis mit den Heiligtümern von Hestia, Zeus und Athena, da ist der Marktplatz von Tempeln umgeben; jedes Dorf hat seinen heiligen Markt und seine Heiligtümer,IO Heiligtümer sind über das ganze Land verstreut, mit Tempeln, Altären, Götterbildern;I1 es gibt Priester, Küster, Schatzmeister, Seher und Exegeten;12 der Kult besteht, wie eh und je, aus Prozessionen, Opfern13 und Gebeten, Tänzen und Agonen. Kein Gedanke daran, dass Platons Polis sich absondert von den übrigen Hellenen: Sie wird sich an den panhellenischen Festen in Olympia, Delphi, Nemea und am Isthmos beteiligen, sie baut ihrerseits Gästehäuser bei den Heiligtümern für auswärtige Besucher.14 Dabei spricht Platon nicht im Sinn eines achselzuckenden Sich-Abfindens mit dem Herkommen; selbstverständliche Tradition wird erst recht lebendig. Zorn wendet sich gegen die Verächter, die Neuerer, die sich hinwegsetzen wollen über die alten 7 8 9 10 11 12 13 14
--;. VII 3 Anm. 66/7. Leg. 903ab; 664b. Leg. 885d-907b. Leg. 848d. Leg. 931a. Leg. 759a-760a. Brandopfer, Leg. 800 b. Leg. 947a; 950e; 953a.
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Mythen, das Vorbild der Eltern, das Erlebnis der Feste, das Beispiel aller Völker: All dem haben sie "auch nicht ein einziges hinreichendes Argument entgegenzustellen, wie behaupten dürfte, wer auch nur ein bißchen Verstand besitzt".15 "In Bezug auf Götter und Heiligtümer .. , wird keiner, der Verstand besitzt, es unternehmen, an dem zu rütteln, was von Delphi oder Dodona oder von Ammon gekommen ist oder wozu gewisse alte Überlieferungen, auf welche Weise immer, die Menschen bestimmt haben" sei es daß Erscheinungen auftraten oder von göttlicher Eingebung die Rede war: sie haben es dahin gebracht, daß Opfer, mit Weihen verbunden, eingerichtet wurden ... sie haben durch solche Überlieferungen Rufe, Bilder, Altäre, Tempel heilig gemacht, sie haben Bezirke für die einzelnen von diesen abgegrenzt. Von diesem allem darf der Gesetzgeber auch nicht das mindeste ändern".16 Bei der Gründung der neuen Kolonie soll in bezug auf "Opfer und Chöre" eine zehnjährige Probezeit gelten, während der die zuständigen Behörden Verbesserungen anbringen können; dann soll alles "unbeweglich" werden, selbst die Lieder, nach dem Vorbild der Ä gypter. 17 Der konservative Affekt beruft sich also ausdrücklich auf den ,,verstand", nous. Seine Einsicht ist zunächst negativ: Der Mensch weiß im Grunde nichts von den Göt:tern. 18 Die "Theologia" beschränkt sich auf Umrisse: jene drei Grundsätze, die die Moral der Gerechtigkeit tragen, samt ihren Voraussetzungen, dass Gott gut ist, dass Göttliches immaterieller, geistiger Natur ist. Darüber hinaus ist allenfalls die Betonung der Zweiteilung von Olympischen Göttern einerseits, chthonischen Mächten andererseits19 mit einem Prinzipiendualismus der Metaphysik zu verknüpfen; dazu gehört die besondere Betonung der "Unreinheit", die mit aller Tötung verbunden ist. Im übrigen sagt der Verstand, dass angesichts des Dunkelbereichs, der das Göttliche umhüllt, der traditionelle Kult unvergleichlich viel sinnvoller ist als die Pose der Verachtung, wie denn sogar im Ammenmärchen mehr Wahrheit enthalten sein kann als in der hochmütigen Kritik. Dabei ist Religion nicht auf religiöse Bedürfnisse des einzelnen abgestellt, zo sondern sie ist die Form der Polis-Gemeinschaft, deren Funktionen durch ihre Götter erkannt und formuliert werden. Hestia, Zeus und Athena auf der Akropolis,21 dies bedeutet den Herd als Zentrum der Wohngemeinschaft, den höchsten Gott und die Vertreter in der Stadt - durch die angebliche kretische Stadt scheint ein idealisiertes Athen hindurch. Die Polis braucht Zeus, der die Grenzen hütet und die Fremden schützt, sie braucht Hera als Göttin der Ehe, Hermes als Wächter der Gesandten;
15 16 17 18 19 20 21
Leg. 887e. Leg. 738bc vgl. 759ab; 848d; Epin. 985cd. Leg. 772c; 799ab. Vgl. Krat. 400de; Tim. 40d; Phdr. 246c; Epin. 985d; Hdt.2,3,2 --> VII 2 Anm. 16. Leg. 717a; 828c. --> IV 3. Wer privat opfern will, muss den staatlichen Priester zuziehen, 909de; private Heiligtümer sind verboten, 91Oc. --> V 3 Anm. 117/8. Leg. 745b.
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die Handwerker haben Hephaistos und Athena, die Krieger Athena und Ares. 22 Ein Wettkampf im Bogenschießen ist Apollon unterstellt, ein Waffenlauf dem Ares,23 und natürlich ehrt man die Gaben des Dionysos wie die von Demeter und Kore. 24 Die Stadt ist in Phylen gegliedert, und jeder von diesen ist ein Gott oder Heros zugewiesen; zweimal monatlich trifft man sich in seinem Heiligtum. 25 So wird die Gliederung der Stadt "geheiligt", "göttlich gemacht". Geheiligt werden auch die Institutionen: Die wichtigsten Wahlen werden in Heiligtümern vollzogen, auch die der Richter und Strategen.26 Die Wahl der euthynoi, der höchsten Aufsichtsbeamten, ist ein Fest, zu dem sich die ganze Stadt im Heiligtum des ApolIon und Helios am Marktplatz versammeltY Der Markt ist nämlich rings von Heiligtümern umgeben - wie man in der Tat bei den Neuanlagen von Megalopolis und Messene um 370 verfuhr -, wo auch Amts- und Gerichtsgebäude lokalisiert sind. 28 Die Blutgerichtsbarkeit untersteht unheimlichen Göttern entsprechend den "Ehrwürdigen" Göttinnen vom Areopag. 29 Eidgötter sind Zeus, ApolIon und Themis, der höchste Gott, der Gott der lichten Wahrheit, und die "Ordnung" schlechthin. 30 Eheschließung ist mit "Opfern und heiligen Handlungen" verbunden, wodurch sie ihre Würde und Unverletzlichkeit empfängtY Von Eileithyias Tempel aus wachen ausgewählte Frauen über Ehe und Kinderzeugung. 32 Kinder sollen im Alter von drei bis sechs Jahren von ihren Ammen in die ländlichen Heiligtümer gebracht werden, wo sie sich im harmlosen Spiel ergehen können, auch dies nach altem Brauch.33 So erhalten die wesentlichen Gliederungen und Funktionen der Gesellschaft in Familie und Öffentlichkeit, in Verwaltung, Markt und Gericht von qer Religion her Würde und Dauer. Eine Besonderheit ist die Kultgemeinschaft von ApolIon und Helios; sie wird mehrfach hervorgehoben. Ihre Priester sind die euthynoi, die alle Staatsbeamten überwachen; sie wohnen im Heiligtum; einer von ihnen ist jährlich zum "Oberpriester", archiereos, bestellt, er ist zugleich eponym, gibt dem Jahr den Namen. Das Begräbnis eines euthynos soll nicht mit Klagen, sondern als Fest begangen werden. 34 Im Hintergrund steht, unausgesprochen, die Gleichsetzung von ApolIon und Helios;35 die 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Leg. 843a; 72ge; 774a; 941a; 920de. Leg. 833b. Leg. 665b; 782b. Leg. 745d; 771b. Leg. 755e; 767cd; 945e. Leg. 945ef. Leg. 778c. Leg. 778c. Leg. 936e; Aldo Lo Schiavo, Themis e la sapienza dell' ordine cosmico, Neapel 1997; Jean Rudhardt, Themis et les Horai, Genf 1999. Leg. 775a. Leg. 784a. Leg. 794ab; vgl. die Tithenidia, Polemon bei Ath. 139a; Hdt. 6,61,3. Leg. 945e; 947a-c. -+ 1II 1 Anm. 257.
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postulierte Gestirnverehrung rückt damit ins Zentrum der Stadt, verbirgt sich freilich hinter der Doppelbenennung: Die kosmische Deutung ist möglich, wird aber nicht erzwungen. Dem Helios, der "alles übersieht und hört",36 entspricht der Auftrag seiner Priester. Herkommen und Natur treffen sich. Zu den Göttern und Heiligtümern gehören die Feste. Jeden Tag soll ein Fest stattfinden, wechselnd verteilt auf die einzelnen Gruppen der Bürgerschaft,37 in jedem Monat aber auch ein Fest eines der zwölf Hauptgötter, wobei dem Pluton, dem Gott der Auflösung, der letzte Monat des Jahres zufällt. 38 So findet der griechische Sakralkalender seine reinste Form. Die Feste bestehen aus Opfern, Chören und Agonen, die als Kampfspiel zugleich die militärische Ausbildung fördern. 39 Am eingehendsten werden die Chöre beschrieben. Musik bedeutet, dass in die instinktiven Bewegungen und Laute Ordnung und Freude an dieser Ordnung kommt; Rhythmus und Harmonie sind Manifestation des "Guten". So feiern und tanzen Götter selbst in der Musik mit den Menschen zusammen, die Musen, Apollon und Dionysos.4o Die alte Erlebnisweise, wonach in Paian und Dithyrambos der Gott selbst zugegen ist,41 wird so zurückgewonnen. Die ganze Bürgerschaft ist in drei "Chöre" eingeteilt, die Knaben, die jungen Männer, die Dreißig- bis Sechzigjährigen; diese feiern "gelöst" durch Dionysos, während die jungen Männer im Dienst Apollons stehen.42 Keiner darf sich dem kultischen Dienst entziehen. 43 Die Chöre sollen einander immer wieder Sinn und Wert der Gerechtigkeit vor Augen stellen; zugleich aber ist ihr Tun Spiel, Spiel im Gegensatz zum Ernst und doch mit dem Anspruch, wichtiger zu sein als aller Ernst; sind die Menschen doch selbst Spielpuppen, Marionetten der Gottheit. 44 Die gesellschaftliche Funktion des Feste-Feierns gerät dabei nicht aus dem Blick: Die regelmäßigen Zusammenkünfte bieten Gelegenheit zu allen möglichen Geschäften, vor allem aber auch zum Kennen-Lernen in entspannter Atmosphäre.45 Darum sollen die Phylen für sich und auch die ganze Stadt jeden Monat im Fest sich treffen. 46 Auch die Chöre der Jungfrauen und Jünglinge haben den eingestandenen Zweck, dass die jungen Leute einander sehen und gesehen werden; auch nackt mögen sie sich beim Sport zeigen, "soweit es sittsame Scham zuläßt";47 "gibt es doch kein größeres Gut für die Stadt, als wenn man sich gegenseitig bekannt ist".48 36 37 38 39 40
41 42 43
44 45 46 47 48
Od. 11,109 u.Ö. Leg. 828b. Leg. 828bc. Leg. 829b. Leg. 653b-654a. ---;. 1I 7 Anm. 39. Leg. 664c-665b. Leg. 949cd. Leg. 803c; 804b. Leg. 738d; ---;. V 3 Anm. 91. Leg.771de; 828bc. Leg. 772a. Leg. 738d.
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Und doch steht all dies ausdrücklich an zweiter Stelle; an erster Stelle stehen die Götter. Zwar dürfen die Menschen nicht versuchen, durch Opfer, Gebete und Weihungen die Götter zu beeinflussen, aber für die aus ihrer Güte fließenden Gaben können sie auf traditionelle Weise reagieren und Dank und freundliche Verbundenheit zum Ausdruck bringen, chdris.49 Geschenke unter Freunden sind unbedenklich, ja selbstverständlich; von bösen Menschen nehmen die Götter nichts. "Für den Guten ist es das schönste, das beste, das wirkungsvollste fürs glückliche Leben und ausnehmend geziemend, zu opfern und stets mit den Göttern Umgang zu pflegen durch Gebete und Weihgeschenke und den gesamten Götterkult".50 So wird der herkömmliche Kult nicht nur gerechtfertigt, sondern mit Sinn durchdrungen: Es geht nicht darum, durchsichtige Zwecke zu erreichen, sondern um "Umgang mit Gott", prosomilefn tals theols. Wiederholt wird das Feiern orgidzein genannt,51 mit dem Ausdruck ekstatischer Mysterien; dies ist mehr als ein stilistischer Effekt. Auch ohne den Apparat der Mysterienveranstaltungen, auch ohne die äußeren Zeichen von Ekstase und Besessenheit erweckt das Fest eine Ergriffenheit, die auch dem traditionellen Kult Sinn und Leben gibt. Platons Akademie selbst war ein Musen-Heiligtum. 52 Platons Gesetze sind ein utopischer Entwurf, nicht Abschilderung einer realen Polis; doch ist so viel von Platons Erfahrung und Wirklichkeitssinn darin eingegangen, dass für uns hier das umfassendste und intensivste Bild der Polis-Religion entsteht. Zugleich werden wesentliche Züge der Situation sichtbar, die für die nächsten 600 Jahre gilt: Dass philosophische und traditionelle Religion unvereinbar seien, wird entschieden negiert. In Bezug auf die traditionelle Religion huldigt man bewusstem Konservativismus, intellektuell abgesichert durch die Vorsicht des Nicht-Wissens, die mit der Vorsicht der eusebeia so wohl zusammengeht. Über Einzelheiten des Rituals mag man den Kopf schütteln, im Ganzen gilt die Frömmigkeit; erkennt doch die Philosophie ausdrücklich Götter an. Tatsächlich bleiben die Atheisten eine verschwindende Minderheit; Atheistenprozesse gibt es nicht mehr. Der Brauch der Väter gestattet, alle sozialen Funktionen des Kults auszuschöpfen; die Polis-Gemeinschaft bleibt bestehen, soweit sie nicht wirtschaftlichen oder militärischen Katastrophen ausgesetzt ist. Und das Mitspielen der alten Spiele kann immer auch zum Ergriffensein, zum orgidzein, werden. An einer Grenze allerdings musste die Polis-Religion scheitern, an der Entwicklung der Großstädte; dort wird das gegenseitige Sich-Kennen-Lernen zur Unmöglichkeit, exotische Vielfalt dominiert; der Organisation von Macht und Masse steht der Rückzug ins Private gegenüber. In den Großstädten hat denn auch das Christentum am ehesten Fuß gefasst. 49 50 51 52
Leg. 771d. Leg. 716d (zitiert von Porph. abst. 2,61). Leg. 717b vgl. 91Oc; Phdr. 250c. Reverdin 1945, 104 f; Pierre Boyance, Le culte des muses chez [es philosophes grecs, Paris 1937.
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Geläufige Zeitschriften sind nach L'Annee Philologique abgekürzt ABV AE AF Ahw AM ANET A.P. ASAtene AT BABesch BMC BSA CAH CEG CGS CIG CIL CMG CMS CRAI Davies DNP Doc.
EAA FGrHist FH FM GB GdH
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NAMEN- UND SACHREGISTER
- Didyma 98 - minoisch-mykenisch 49. 51, 53. 63-65. 87.
Abaris 128,50. 161 Achilleus, Pontarches 265. 303. 313. - als Mädchen 391 - und Apollon 288. Ackerbau 26. 35. - und Feste 396 f Adamna 424,94 Adonis 61. 272-273. 308 Agamemnon 311. 314 Agathos Daimon 114.278 Aglauros 348 f. 378 Agone 103. 166-168.295.313.363.464. -+ Delphi. Isthmia. Nemea, Olympia, Panathenäen Agrionia 251-254. 340. 432 f Aias, Kampfhelfer 316 - Kult 318 Aias der Lokrer, Frevel 134 Aigeira 155 Aigis 155. 160. 219.349 Aineias 143. 238. 240 Aischylos, über Zeus 202. 205. 373. 409,64. 483 - Apollon und Dionysos 342 - chthonisch und olympisch 309 - Daimon 279 - Erinyen 376 Akademos 101. 314,23. 318. 352 Alea, Athena Alea 138. 190. 282. Alexandra 313 Alkeidai 103. 322 Alkibiades 154.469 Alkmene 136,15 "Alle Götter" 75. 80. 262.407 Allegorische Deutung 11. 247. 283 f.343. 360. 371. 476 f. 487 f Allwissenheit der Götter 203. 281 Altar 139-140. - Aschenaltäre 88 - Asylie 98 - Brandopfer 87. 93 f. 101. 110.
111 - Mykene 58 - neolithisch 28 - Pylos 54. 77 - Samos 89. 142 Amazonen 46. 154.320 Ammon 178. 276 Amnisos 49. Amphiaraos 152,9. 180. 314,23 Amphidromia 383 Ampiktyonie 386 Amphion 311 f. 325 Amphitrite 213 f Amhitryon 202. 323 Amyklai, submykenisch 82. 85. 88. 225 - Alexandra 313 - Apollon 144.309 - Hyakinthos 38. 309 Anaphe 165 Anaxagoras 270. 471. 474. 484 Anaximandros 457 f Anaximenes 458 f Andania 417 f Anemospilia 65 Antheia 397 Anthesteria 78. 130. 151. 171.251-253.332. 339.346.358-364.385.421 Anthropomorphismus 189.280-289.333 f - Kritik 459 f. 463. 473 - minoisch-mykenisch 68. 72 f Apaturia 258. 346. 384. 394 Apellon 224 f. 280 Aphaia, Aigina 85 Aphrodite 235-240. 281. 334 - Amathus 237 - Aphrodisias 240 - Areia 259 - Ares 238. 259.334. 336 - bewaffnet 236 519
NAMEN- UND SACHREGISTER
- Bocksopfer 196. 239 - Geburt 190. 239 - Hephaistos 238 - Hermes 242. 332. 336 - Hippolytos 232 f - in den Gärten 348 - Kalydon 236,298 - Knidos 240 - Korinth 136. 170. 236,298. - Kybele 238. 275 - Lokroi 395 - mykenisch? 72 - orientalisch 88. 154,24. 235 f - Pandemos 127,45.240 - Paphos 81. 88. 157. 237 f - Parakyptousa 237,306 - Samothrake 423 - Sikyon 156 - und Adonis 272 - Urania 236. 240 - Weihrauch 88 f. 102. 236. Aphroditos 236 Apollinisch und Dionysisch 249 f. 340-343 Apollodor, Bibliotheke 18. 21 Apollon 223-230. 334 - Agoraios 204 - Aigletes 165 - Alasiotas 226 - Apotropaios 120. 283 - Archegetes 182,69. 223 - Artemis-Leto 83. 142. 226. 335 - Betrelumzug 160 - Daphnephoros 142. 158 f. 282 - Deiradiotes 180,61 - Dekate 112 - Delphinios 161. 225. 391 f. 394 - Dionysos 249 f. 340-343 - Dreros 83. 223. - Epikurios, Bassai 136. 228. 283. 400 - Erythibios 397 - Geburt 227 - Genetor 110 f - Hebdomagetas 225,225 - Hegemon 223,211 - Helios 190. 230. 343 - Hermes 242
Hyakinthos 38. 168. 224. 225. 288. 309 Iatros 228 in Amyldai 144. 309 Ismenios 155. 341 Karneios 100. 357 Korinth 135. 329 Leukatas 132 Loxias 229 Lykeios 100. 224 f Maleatas 85. 329 Mantik 173 f Musagetes 228. 268 nicht mykenisch 88 Paiaon 77. 119. 190. 225 Patroos 377. 383 Pest 119 Phoibos 225 Pornopion 397 Poseidon 338 Ptoios 173,8 Reinigung 124. 128. 130. Selinus 243,342 Smintheus 397 Thyrxeus 178,39 Troizen 130 und Asldepios 327 --. Delos, Delphi, Didyma, Gymnopaidia, Hyperboreer, Karneia, Paian, Thargelia Archanes 60. 65 Archetypen 16 Areopag-Gericht 380 f Ares 99. 202. 209. 259-261. 334. 378 - und Aphrodite 238. 259.334. 336 - Hermes 242. 260 - Theben 260 f - mykenisch 21,19. 76 f - Name 21,19. 35. 259 --. Enyalios Argeiphontes 210. 243 Argos, Apollon Deiradiotes 180,61 - Apollon Lykeios 100. 224 f. 332 - Artemis Pyronia 101 - Athena 218 - Gorgo 164 - Heraia 155. 167. 210. 334. 354 -
520
NAMEN- UND SACHREGISTER
- Heraion 32. 101. 138. 153. 206. 209 - Meilichios 307 - Pallas 127. 155. 218 - Pferdeopfer 108,5 - Trauerritual101 Ariadne 61. 171. 252. 361 Aristeas 173 Aristophanes, "Wolken" 470 Aristoteles 488-491 - über Religion 372. 410. 491 Arkalochori, Höhle 49.72.245,359 Arrhephoria 155. 222. 337. 348 f. 354. 366,134. 395 Artemis 121. 231-235. 334. 405 - Agrotera 99. 234. 283 - Alpheiaia 164 - Aristobule 387 - Chios 164,54 - Dreros 83. 142 - Elephebolos 103. 345 - Erythrai 146,91 - Gürtelweihe 13 - Hegemone 356 - Hekate 263 - Hippolytos 232. 308. 331. 337. 410 - Hirsch 106. 155. 196 - Ikaros 142 - in Aulis 234,285 - Kaphyai 137,28 - Karyai 137,28. 233. 339 - Kerkyra 135,6. 215,144 - Kleiderweihe 469 - Limnaris 135 - Lusoi 128. 340 - Masken 164 - Munichia 394 - mykenisch 77 - Pellene 159 - Perge 160. 231 - Persephone 338 - Phallen 165 - Proteleia 337 - Pyronia 101 - Skillus 109 - Tänze 162. 268 - Taurisch 98. 145,85. 234
-
Tauropolos 98. 234 f Triklaria, Patrai 339 f und Dionysos 339 Wahnsinn 173 --. Apollon, Brauron, Delos, Ephesos, Laphria, Ortheia Asine 55.57. 73,235 - Krisis 134,87 Askese 156 Asklepios 327-329. 101. 124. 180. 190-228. 308.400 Astarte 154. 170. 235. 237. 380 Astrologie 177. 488 Asylie 98. 138.374.405.410 Atheismus 411. 469-471. 493 Athen, mykenisch 42. 77. 82. 85 f - Asklepios 327 - Dioskuren 168 - Festkalender 344 f - Jahresende und Neujahr 346-354 - Kolonos Hippios 116 - Metroon 274 - Olympia Ge 117. 136 - Olympieion 204 - Palladion 127. 146. 152. 218 - Plynteria 126 f. 152 - Pythais 101 - Thargelia 13 2 --. Arrhephoria, Athena Polias, Dionysia, Eleusis, Erechtheion, Erechtheus, Panathenäen, Parthenon Athena 144.196.217-222.334.337 - Areia 259 f. 378 - Argos 218. --. Pallas - Chalinitis 219,180 - Chalkioikos 138 - Elateia 156 - Eleusis 110 - Ergane 219. 283 - Eule 106. 196 - Geburt 162. 201 f. 221. 254 - Gortyn 89. 142.218 - Herakles 220 - Ilion 134. 141. 218
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NAMEN- UND SACHREGISTER
- in Athen 86. 144. 145 f. 152. 155. 218. 347-354 - Itonia 139,45. 385 - Kranaia 126 - Lampe 101. 349 - Lindos 218 - Mykene 218 - mykenisch? 75. 77. 217 - Ölbaum 137. 196. 220. 349 - Pallas 217 - Pellene 155 - Persephone 246. 338 - Polias 136.144. 155. 205. 218. 283 - Poseidon 337 - Priesterin 152. 160. 337. 349 - Pronaia 84 - Sikyon 309 - Skiras 384 - Syrakus 135. 387 - Technik 215. 219 - und Hephaistos 221. 258. 335. 349 - Waffenweihe 112 ---. Alea, Pallas, Palladion Attis 14. 28. 29,24. 275 Axieros, Axiokersos, Axiokersa 423 Ayia Triada 41. 54 - Sarkophag 44,30. 64 f. 70. 308 Bad 93. 126.428 - der Göttin 156. 209. 218 - der Toten 117. 296.314 - Hochzeit 117 - in Mysterien 126.421 - "lustrai" (minoisch) 54 - verboten 125 Bär 156. 163. 202. 234 Bakchos 249. 251 Bakis 128,50. 184 Baubo 367 Baum-Heiligtum 53. 61 f. 68. 136 f. 231 f Bauopfer 84 f. 89. 141 Bendis 276 Bettel-Umzug 153. 162. 160 f Bildloser Kult 140 f Blitz 67 f. 199 - Blitztod 303. 438
Blut-Ritual, im Opfer 94. 96. 98-100. 107.
117 - Eid 378 - Mantik 180,61 - Reinigung 123. 129-131 - Totenkult 99 f. 296. 299 - und Wein 252 Bock, und Aphrodite 196. 239 - Dionysos 251. 439 - Hermes 106. 196 - Pan 107. 266 - Tragödie 107. 161 Boreas 270 Branchiden, Branchos 128. 152. 182. 228 Brandbestattung 292 f Brauron 113. 149,111. 156. 190.234.335. 394 Brimo 443,68 Bukranion 66. 67. 87. 106. 146 f Buphonia 152. 190. 221 f. 345. 350 f. 353 Buzyge 152 <:;:atal Hüyük 26.27. 29. 65 f.69. 106. 144. 146.248 Chalkeia 258. 335 Chariten 162.226. 259.266,42. 267.332 - Delos 144 - Orchomenos 29,24. 136,15. 268 - Paros 93,5 Charon 243. 294. 300 Chloaia 397 Choes 359-362 Christentum 22. 371. 498 Chthonisch-Olympisch 104. 114. 140. 168. 305-310. 313. 342. 358 Chytroi 362 f Cornford, Francis McDonald 14. 247 Cumae, Sibylle 183 - Totenorakel179,55 Dämonen 277. 491 f --. Genien Daidala 51. 103. 170 Daidaleion 46.75 Daktylen 49. 267. 419. 425 Damia und Auxesia 165 522
NAMEN- UND SACHREGISTER
Danaiden 46,49.368 Daphne bei Antiocheia, Orakel 178. 182 Daphnephoria 142. 155. 158 f. 161. 224. 227 Defixio 121. 186 f. 306 Delos 223. 385 f - Apollon 144. 224. 226. 335 - Apollon Genetor 110 f - Hömeraltar 106. 147 - Hyperoreische Jungfrauen 160. 227. 309. 312 - Kranichtanz 162. 335 - mykenisch 85 - Palme 137. 227 - Poseidon 338 - Reinigung 138. 308 f - Thesmophoria 368 Delphi 23. 154. 181 f. 223. 229 - Amphiktyonie 386 - Anathemata 112. 148 f. 178 - Athena Pronaia 84 - Dekate 134 - Dionysos 341 f - Drachenkampf 228. 341 - Dreifuß 181 - Haaropfer 113 - Herd im Tempel 100. 262 - Kassotis 138 - Kastalia 138 - Lorbeer von Tempe 159 - mykenisch? 84 - Omphalos 117. 136 - Poseidon 216. 338 - Pythais 101 - Pythia 175,19. 181 - Pythische Spiele 167 - Reinigungen 124.129.229 - Sibylle 183 - Theoxenia 169 - Weisen-Sprüche 229 f - Weisungen an Städte 110. 182. 315 Demeter 245-251. 286. 334 - Aparchai 109 f - Chthonia 29. 306 - Demeter Chloe 397,209 - Eleusinia 159 - Erde 270 523
-
Gela 366 Iambe 165 lasion 46. 170. 336 in Agrigent 366 Kabeiraia 420 f Keos 138,31 Kidaria 164. 285 Knidos 366 Knossos 74 Korinth 149,111. 369 Lokroi 366 Malophoros 201 Paros 369. 419 Phigalia 21. 110. 215 Priene 366 Siris 366 Skiron 349 f Syrakus 153. 285. 387 Thasos 369 Thelpusa 77. 105. 215. 337 Thermopylen 386 und Persephone 246-251. 275. 300 vor der Stadt 136 ---t Eleuis, Lykosura, Thesmophoria Demokrit 457. 467 f Derveni-Papyrus 440 f. 477 Despoina 163. 418 Diagoras von Melos 470 Diasia 307 Didyma 180. 224 - Altar 98 - Branchiden 152. 182 - Brunnen 137 - Grundungslegende 128. 182,76. 228 - Halle 149 - Lorbeer 137 - Molpen 161 Diktynna 52,87 Diogenes von Apollonia 470. 474 f. 476 Diomedes 21,19. 218. 220. 238. 260. 281. 303.319 Dionysia 151. 159. 166 f. 250. 256. 345. 358. 384. 387. 432 Dionysos90.196.249-257.268.334.340343.432-436 - Aisymnetes, Patrai 143. 256. 339 f
NAMEN- UND SACHREGISTER
als Stier 105. 208. 314,24. 340 Anthroporraistes 253 Aparchai 109 Apollon 249 f. 340-343 Bakchos, Bakcheus, Bakcheios 249.251. 256.433 - Chthonios 306. 438. 443 - Elis 105.208.314,24.340 - en limnais 135.359.361 - Feuerwunder 100 - Geburt 190. 202. 210. 254 - Hera 340 - Hermes 254. 339 - Heros 105. 314,24 - Iakchos 119.428.429 f - Idol 138 - in Chios 140,91 - Kadmeios 145,85 - Keos 57. 250. 364 - Korinth 256. 432 - Lerna 32 - Maske 29. 165.249.256.339.361 - Meilichos 256 - Morychos 256,429 - mykenisch 77 f. 250 - Mysterien 32. 171. 257. 342. 432-435 - Omestes 253. 282. 340 - Phallos 251. 256. 386. 432. 435 - Piraten 255 - Sabazios 275 f - Sikyon 190 - Spott 165 - und Agathos Daimon 278 - Wahnsinn 143. 173. 249. 251. 253. 340. 433 - Wein 78. 249. 251. 252. 255 f. 278. 435 - Zerreißung 105 f. 339. 360. 443. 450 ~ Agrionia, Anthesteria, Dionysia, Lenaia Diopeithes 471 Dioskuren 35. 168 f. 202. 233. 285. 324326.399.425 Dipolieia 350 f Dithyrambos 119. 162. 165.250.254.341. 432 Dodds, E.R. 15 -
Dodona 137. 148,103. 155. 179. 205 Doppelaxt 30. 48. 54 f. 65. 67. 70. 322 Dorische Wanderung 26. 82. 292. 323. 357 Dreifuß 147. 181. Dreizack 214 Dreros, Tempel 83. 100. 106,81. 142. 147. 223 Drimios 75 Dumezil, G. 36 f. 332 Eid 99. 285. 302. 376-381 Eileithyia 49.69. 75. 77. 83. 209. 234. 263. 266.280.356 Efeu 438 Ekdysia 391 Ekstase 172. 174. 179. 180. 182 f. 249. 275. 432 f. 434. 438. 447 Eleusis, Mysterien 22. 152. 248. 345. 384. 425-431 - "Knabe vom Herd" 414. 429 - Anaktoron 85 - Aparche 109 f. 431 - Dioskuren 326 - Eleusinia 332 - Eumolpiden 152 - Geheimnis 470 - Heilige Hochzeit? 170 - Heilige Sttaße 157.436 - Herakles 126. 130. 324 - Hye-Kye 117 - Krieg mit Athen 213. 350 - Myesis 126. 130. 138. 426 - mykenisch? 71,222. 85 - Orpheus 441 - Pluton 428 - Poseidon und Artemis 332. 338. 428 - Spott 165. 428 --. Iakchos Eleuthera, Myra 137 Elysion 302 f Empedokles 270. 286. 398. 439,49. 445. 452. 473 f Enyalios 75. 77. 146,91. 190.263.378.393 Enyo 99. 263. 378 Eos 35.271
524
NAMEN- UND SACHREGISTER
Epheben 225. 233,271. 318. 322. 378. 393 f. 427. 430 Dphesia Grammata 187 Ephesos, Artemision 89. 145,85. 154. 190. 231 Ephyra, Totenorakel175. 179 Epimenides 124. 184. 200. 452 Epiphanie 70. 73. 77. 194.284-287.326. 407 - Epiphanie-Gestus 29. 45. 55. 74. 83. 143. 148. Erdbeben 214 f. 283 Erde als Göttin 35. 212,113. 216. 224. 239. 245. 269 f. 486 Erechtheion 111. 138. 140,49. 141. 146. Erechtheus 85. 141. 152. 158. 190.213. 216. 222.282.288.309.313.332.335.338. 349.354.387 Erichthonios 222. 258. 335. 349. 353 Erigone 252. 363 Erinys 75. 77. 215. 284 - Erinyen 267. 277. 279. 302. 306. 376. 379 Eros 235. 244. 284.348.352.462.481.490 Erythrai, Ktisis 133,80 - Artemis 146,91 - Asklepios 400 - Sibylle 183 Esel-Opfer 270. 398 Eubuleus 366 -. Zeus Eubuleus Eumenides 116 Eunuchen -+ Kastration Euripides, über Götter 278. 285. 381. 474 f - Bakchai 252-254. 434. 472 - Götterkritik 372,13. 470. 473 - Mysterien 54,38.418.431. - über Tod 279. 476 Europa 46. 105. 137. 202 Eurynome 266 Evans, Sir Arthur 21. 28. 40. 54. 56. 59. 64. 68.71 Fackel 101. 126. 427 Fasten 125. 156.367.427 f Feige 132. 347 f Fels, umbaut 58 f. 85. 136.429 525
- als Altar 139,422 Feste 157. 344-370. 190. 382. 497 - mykenisch 79. 83 Feuer 51. 100-104. 190. - Reinigung 122 f. 126 - und Opfer 95. 100,36. 139. 167 Fisch-Opfer 93. 98 Fluch 119. 166. 279. 378 Frauen-Feste 350. 364. 369 f - "Rasen" 173.432 f. 435 - ausgeschlossen 382,94. 388 - beim Opfer 94. 119 Frazer, J. G. 13. 28. 71. 166.248.398 Gaben-Opfer 62 f. 108-113 Ganymedes 202. 391,155 Gazi 71 f Gebet 18. 36. 94. 114. 118-121. 146 - Gestus 45,31. 50. 120 - stumm 116. 119,76 Geburt, unrein 125. 138. 156 Gefesselte Götter 146. 209. 259. 260 Gelübde 36. 111-113.398 f "Genien", minoisch-mykenisch 62.71. 73. 80 Gestirnkult 485-487 Giganten 201. 219.353 Götterbild 71. 81. 140-146 Götterburleske 193 Goldblättchen 435-439 Gorgo 164. 215. 219. 220. 231. 243,342. 267 Gortyn, Athena-TempeI89. 142.218 - Europa im Baum 137 Gottesfurcht 372 f. 408 Gottesgericht 380 Granatapfel 210,102. 247. 368. 397 Greif 45.58.62.69,197. 73 Große Götter 35.324.407.417.421 Große Göttin, <;atal Hüyük 27 - Kykladen 31 - Männerbund 324 - Minoisch 71 f - Phlya 416 - Samothrake 423 - und Erde 269 f -. Meter
NAMEN- UND SACHREGISTER
Gymnasion 244. 317. 322 Gymnopaidia 162.335.393 Haaropfer 94. 112 f. 147. 322,28. 393 Hades 213. 246.248. 299-304.306 - und Dionysos 460 Halbiertes Opfer 131 Haloa 332. 397 Harrison, J. E. 13 f Hausheiligtümer, minoisch 53-56 Heilige Hochzeit 139. 169-171. - Dionysos 252 f. 361. 364 - Eleusis? 170 - Kreta 46 - Patara 180 - Sibylle 183 - Zeus und Hera 76. 199. 207 f. 211,107 Hekademos --t Akademos Hekate 106. 173. 187. 263 f. 306 f. 334. 338. 423 - Lagina 154. 263 - und Persephone 247. 338 Helena, Geburt 284 - Entführung 233. 238. 325 - Kult 202. 311. 313 - Tod 137,28. 267 Helios 35. 138. 141. 190. 270 f. 349 Hephaistos 257-259. 334. - Aphrodite 238 - Geburt 210 - Lemnos 420 - und Athena 221. 258. 334. 349 Hera 206-212 - "kuhäugig" 105. 206 - Akraia 136. 206. 394 - bei Homer 194. 207. 209 - Heilige Hochzeit 76. 199. 207 f. 211,107 - Hephaistos 210 - Herakles 192. 209.322.473 - in Lesbos 76,247. 166. 208. 340 - Lakinia 206 - mykenisch 75. 80 - Olympia 206. 208. 340 - Paestum 209 - Parthenos 209
- Tiryns 128. 206. 137. 144. 164. 206. 210. 253 - und Dionysos 166. 340 - Wahnsinn 173. 210. 265 --t Argos, Daidala, Samos Herakles 319-324 - Alexikakos 120. 323 - Aparchai 109 - Epheben 322. 378. 393 - Geburt 202 - Gymnasien 244. 322 - Hera 192. 209. 322. 473 - Heros-Gott 303.314.319.439,49 - in Eleusis 126. 130. 324 - Katabasis 299. 300 f. 438. 441 - Kindermord 210. 322. 473 - Kos 322. 388,144 - Kyknos 260 - Kynosarges 323 - Name 21,19. 322,21 - Omphale 322 - Tarsos 52. 321 - Thasos 139,45. 322 - Tod 52. 103. 189.321 - und Athena 220 Heraklit 129. 145. 182 f. 226. 279. 460. 487 Herd, Lerna 30 - im Tempel 83. 100. 142 - mykenisch 58 - Opfer 100. 127. 383 --t Hestia Hermaphroditos 336 f Herme 143.241. 339. 423 Hermes 194. 196.241-245 - Argeiphontes 210. 243 - Chthonios 252. 283.307.332.339.363 - Dieb 242. 260. 373. 410 - Dionysos 254. 339 - Hirten 244 - Kranaios 49 - mykenisch 75. 77. 241 - Nymphen 233. 243 - Opfer 109. 114.332.404 - Psychopompos 243. 247. 283. 300 - und Aphrodite 242. 332. 336 Hermotimos 174
526
NAMEN- UND SACHREGISTER
Herodot 18 f. 195.467 Heroen 303.311-318. - Agon 298 - Grab im Heiligtum 139. 309 - Kampfhelfer 287. 316 - Opfer104. 109. 114 Herr der Tiere 69. 73. 266 Herrin der Tiere 48,58.69. 72 f. 190. 231. 238. 266 Herrscherkult 389 Hesiod 18.21. 95. 190. 194. 200. 204. 239. 264.266.278.288.295.303. 312. 371. 374 f. 379. 396. 459 f Hestia 100. 262. 378 Hethitische Mythen 194.441 Hippolytos 232. 308. 331. 337. 410 Hochzeit 126. 208. 209,88. 234. 383. 388 ---. Heilige Hochzeit Höhen-Heiligtümer 42.44.46.50-52.69. 70.103 Höhle, neolithisch 28 - Minoisch 42. 44. 46. 47-50. 69. 72 - Mysterien 433 ---. Ida "Hörner"-Symbol47. 51. 53. 55. 61. 63. 65f, 73.82.87. Holokaust 104 Homer 18. 23. 190-194. 280. 286. 371. 459 f. 462 f Honig 56.64.75.79. 110. 116.296 Horai 268 Huhn-Opfer 93. 131. 270 Hyakinthia, Hyakinthos 38. 168. 224. 225. 288.309.385 Hyakinthiden 399 Hyampols, Elaphebolia 103 Hybristika, Argos 388,144 Hygieia 329 Hymnen 194 Hyperboreer 173. 227. 286. - Hyperboreische Jungfrauen 85. 227. 312 Iakchos 119.428.429 f Iamiden 175 Iambe 165 lasion 46. 170.336.424 527
Ida-Höhle, Kulte 49. 83 f. 136. 162. 200. 392. 418. 449 Idole, neolithisch 27 -29.32,40 - dunkle Jahrhunderte 88. 143 - in Gräbern 294 - kykladisch 31 - minoisch-mykenisch 45.55.57-57.61. 71. 73.80.83 Ikarios 252. 360 Indogermanen 26. 33. - Religion 12. 33-39. 198.324 Initiation 48. 93. 84. 122. 126. 130. 134. 155 f. 162. 167. 171. 200. 225. 233 f. 254. 265.317 f. 325. 390-395. 414 Inkubation 179 f. 329. 400 Ino 340. 439,49 ---. Leukothea Insel der Seligen 303 10 105. 202. 210. 243 Iodama 288. 309 Iphigeneia 98. 134,87. 155. 234. 288. 309 Iris 271 Isis, in Athen 276. 380 - Tithorea 52. 190 Isthmia 167. 214 Jagd und Opfer 64 f. 96 f. 107. 351. 398 - Artemis 231 f - Herakles 319 f - Karneia 356 f Jungfrauen, Sonderstatus 125. 155 f. 190. 395 - jungfräuliche Göttinnen 209. 232 f. 282. 337 - Opfer 248. 399 Kabarnoi 369.419 Kabiren 257.267.268.324.419-424 Kadmilos 423. 425 Kalamaia 397 Kalapodi 20,14. 86 f Kalaureia 155. 213. 338. 385 Kalender 19. 75. 79,269. 331 f. 344-346. 384 Kalligeneia 367 Kallisto 233 Kallynteria 347
NAMEN- UND SACHREGISTER
Kamares, Höhle 48. 72 Karneia 168. 224. 346. 354-358 Karphi 83. 87 Kastration und Große Göttin 29,24. 154. 231. 263. 275 - Eidopfer 378 - Mythos 194. 239 - Symbolik 430 Kentauren 163. 267. 320. 328. 353 Keos, Ayia Irini 57.61. 78. 84. 143. 250. 364 - Sirius-Opfer 270. 398 - Totenbrauch 127. 297,48 Kerastai 106 Kerenyi, K. 15 f. 369. Kernos 31. 63,160. 83 Kinder, Tempeldienst 155 f - Choes 359. - Gräber 293. 317 Kirke 242 f Klage, rituell 166. 305. 309. 314 --t Totenklage Klaros 175,19. 180. 183. 224 Kleider-Weihe 113. 147.234.469 --t Peplos Knidos, Apollon-Poseidon 338. 385 - Aphrodite 240 - Demeter 366 - Karneia 355 f Knossos, minoisch 40. 42. 54. 74 - Heilige Hochzeit 170. 208 - mykenische Götter 74-80 König, minoisch 67 f - Kontinuität 86 - mykenisch 860 - Sparta 386 f Korinth 135. 149,111. 256. 329. 369.394. 432 Korybanten 128 f. 173. 190. 266,42. 275. 418. 443 Kosmos und Kulthandlung 71 - als Gott 484-487. 488 - Eid 377 - philosopischer Begriff 456 Kotyto 276 Kranz 93. 116. 158. 293. 399 - keine Kränze 305.367
n.
Kreta, neolithisch 26 - frühminoisch 30. 34 - Initiationen 391 f - Kontinuität 83 f - minoisch 40-80. Krieg 98 f. 112. 131. 399 f Kritias 372,13. 467 f Kronia 352 Kronos 194. 200. 239.303.352.371 Kultbild, minoisch 45. 57. 73 - griechisch 87. 140-146 - Reinigung 126f, Kumarbi 221 Kureten 162. 200. 392. - Ephesos 267 - Lykosura 418 - Messene 103 Kyane-Quelle, Versenkungsopfer 108,5. 246 Kybele 154. 231. 238. 250. 274. 285 --t Meter Kydonia 75 Kypris 237 Kyrbantes 425 Kyrene, Karneia 100. 354-358 - Sakralgesetz 130,60. 182 - Thesmophoria 368 Labyaden 154 Labyrinth 46. 48. n 162 Laphria 51. 102 f. 155. 190 Leberschau 89. 176 f Lefkandi 294,22 Lemnos, prähistorisch 29,25 - Feuerfest 101. 134 - Hephaistos 257.420 - Kabiren 420 "Lenäenvasen" 256,429. 362 Lenaia 151. 251. 345. 406. 433 Lerna, helladisch 30. 34 - Amymone 216 - Mysterien 32 - Opfer 108,5. 269 Leto 169.202.227. 232. 265. 282. 335. 391 Leukas, Felsensturz 132 Leukippiden 163.325 Leukothea 210. 265. 309. 399
528
NAMEN- UND SACHREGISTER
Levi-Strauss, C. 16,31 Libation, frühheHadisch 73 - beim Opfer 95. 97 - Eid 377 - Erde 117. 270 - Gelübde 398 f - griechisch 113-118 - Heroen 313 - Hestia 262 - minoisch/mykenisch 43.48- 53. 62-65. 67. 73. 79 - Totenkult 100. 117.294.296 Linear A 43.49. 245,359 Linear B 40. 42. 43 f. 64. 74-80. 212 Lobeck, C. A. 12 Löwe, minoich-mykenisch 45.53.62.69. 73 - Artemis 231 - bei ApoHon 225 - Grabfigur 296 - Herakles 319 f - Meter 274 Lokrer, Mädchenweihe 134. 156,45 Lokroi, Italien, Ktisis 134,88 - Aias 316 - Aphrodite 236,298. 239. 395 - Dioskuren 326 Lorbeer 128. 137. 142. 155. 180. 196. 228. 400.417 ~ Daphnephoria Los 174. 182 Lusoi 128. 340 Lyder, und Artemis 231 - Dionysos 250 - Herakliden 322 Lykaion 375,35 - Lykaia 271 f. 385 ~ Zeus Lykaios Lykien, Doppelaxt 67 - ApoHon 178. 224. 227. - Artemis 231 - Leto 265 Lykosura 51. 140,49. 163.418.429
n.
Mänaden 253-256.267.339.342.432 Männerbund 324.369.390.417 Magie 185-187. 395
529
Fruchtbarkeit 36. 166. 368 Kritik 372 Reinigung 122. 130 f Wetter 117. 198 f. 270. 398 ~ Defixio Magier 185 Mannhardt, W. 12,8.245,359.247.398 Mantik 89.99.174-184 Marxismus 14 f. 16 Maske 163-166 - Dionysisch 249. 255 f. 339. 360. 362 - GötterdarsteHung 285 f - Hekate 263 - minoisch? 62 - neolithisch 29. 32 - Ortheia 164.233.393 - Zypern 88. 106 Matriarchat 37,22.68 Medeia 263. 394 Meilichios 190.307.407,40 Meineid 302. 379. 381. 405. 410 Melampus 123. 128. 175.253.340 Melikertes ~ Palaimon Men 271 Menekrates-Zeus 286 Menschenopfer 375 - Karthago 104 - Pharmakos 131-134 - Totenkult 99.294 - und Tieropfer 107 - vor der Schlacht 99 - Zeus Laphystios 356 Menschenschöpfung 264.288.443 Meter 143. 145,85. 159. 173. 240. 258. 273-275.341 - in Pylos 77. 80 Meuli, K. 15.96. 160. 167. 173 f. 351 Milch 115. 287. 296 Minos 48 f. 105. 202. Minotaurus 46. 105 Mohn 196 Monate 79,269. 346 Mond-Beschwörung 263 - sublunar/translunar 489. 492 ~ Men, Selene Mopsos 175. 178. 180. 182.224 -
n.
NAMEN- UND SACHREGISTER
Moral der Götter 371-376. 459 - Delphi 229 f Mord, Reinigung 125. 129 f. 229. 360 f. 404.
428 Musaios, Orakel 184 Muse 174. 228. 268. 342. 494 Mykale, Poseidon-Heiligtum 212. 338. 385 Mykene 42 f. 69. 74 - Kultzentrum 58. 87. 128. 164 Mysterien 12.22.46. 126.338.390.413-439 - Mysterienfrevel 469 - und Jenseits 303. 306. 310. 415. 430. 476 - t Andania, Eleusis, Ida, Kabiren, Lykosura, Phlya, Samothrake Mythos 11,2. 24. 191. 457. 465 - Ritual und Mythos 13 f - mykenisch 32. 45 f Neid der Götter 289.481 Nemea, Spiele 167.317.334 Nemesis 284 Neoptolemos ---+ Pyrrhos Nereiden 265. 267 Nestor-Ring 44.69,197 Neue Götter 385 Nietzsche, F. 12. 166.249 f. 340 Nike 222. 260. 284 - des Paionios 112,28. 166, n - von Samthrake 425 Nilsson, M. P. 13. 22. 32. 56. 68. 72. 84,22. 85. 217. 247. 312. 345 f Nymphen, Tänze 162. 211-233. 243 f. 267.
339 -
Bakis 184 "Ergriffenheit" 173 Höhle 49 Opfer 109. 160. 243 Quellen 269
Nyx 271. 441 Odysseus, Totenbeschwörung 100. 115. 179.
216. 298-302. 218. -
Athena 220 f Kirke 242 f Samothrake 399. 423 und Palladion 218
Ölbaum 40 f. 65. 86. 137. 155. 196. 219 f.
349 - Zweig 18. 116. 160. 168. 208. 400 Öl-Libation 68. 76. 100. 110. 114. 116. 296 Oidipus 317. 403,5 Okeaniden 267 Okeanos 271 Olbia 433. 450 Olympia 23. 167 f. 203. - Altar 101. 139 - Altis 137 - Anathemata 147 f - Anfänge 22. 85.143. - Elis 151 - Hera 206. 208. 334 - Iamiden 175 - Ölbaum 137. 168. 196 - Zeus 145. 196 - Zwölfgötter 242 Olympos, Berg 199 - Erdfeuer 258 Omphalos 117. 136. 181. 342 Onchestos 215. 338. 385 Onomakritos 183.442 Opfer, neolithisch 28 - Agon 167 - Anathemata 147 f - Eidopfer 377 - Gabenopfer 108-113 - Gelübde 111 - Götter 123 - griechisch 87.90 - helladisch 30. 32. 58 - Hermes 242 - Heroen 314 - indogermanisch 36 - Libation 113-115 - Mantik 176 f - minoisch-mykenisch 48. 62. 64.79 - Opfertische 110 - Priester 151 f. 153 - Prometheus 264 - Reinigung 123 f - Tieropfer 93-107 - Totenopfer 60.294 Orakel 178-184. 228 f
530
NAMEN- UND SACHREGISTER
Orestes, Reinigung 98. 124. 129. 360. 380 - Gebeine 315 Orpheus 440-446 - All-Zeus 205 - bei Aischylos 342 - Bios 449 f - Bücher 18.438.438.441 f - Derveni-Papyrus 438. 440 f. 477 - Eleusis 441 - Jenseitslehren 299. 302,32. 438. 479 - Orakel 184 - Phlya 416 - Theogonie 486 - und Euridike 243 Ortheia 85. 135,6. 190. 282 - Geißelung 98. 235. 335. 392 - Masken 164. 233. 393 - Statue 143. 146,91 Oschophoria 384 Osiris-Dionysos 251. 444 Otto, W. F. 12. 15. 22. 96. 220. 250 Paian 119. 128. 162.215.225.270.341. 399. 400 - Paiaon 75. 77. 190. 225 Palaikastto 73. 392 Palaimon 214. 265. 317 Palladion 127. 145. 152. 218 Pallas 219. 222 -. Athena, Palladion Palme 53. 137 Pamboiotia 385 Pan 107. 109. 163. 173.266.389.418 Panathenäen 101. 145 f. 151. 158. 162. 167. 219.345.347.352 f. 386 Pandora 264. 277 Pandrosos 86. 121. 137. 348 f Paphos, Aphrodite 81. 88. 157. 237 f Parmenides 461 f Parthenon 145. 196. 222. 352 f Patara 178. 180. 183.224 Pattai 102 f. 143. 155. 190. 339 f Pausanias 19. 21. 102 Pelops 139,42. 140,51. 151. 167. 208. 309. 313 Pentheus 137.254 531
Peplos 141. 145. 158. 190.208.219.222. 349.353.387 Perachora, Heratempel142. 206 Perati 292 Pergamon, Asklepios 328. 400 Persephone 187. 243. 246-248. 263. 268. 300-302 - mykenisch? 74. 78 - Schweineopfer 366 - Strafmacht 302. 376 - und Adonis 273 - und Dionysos 190.306.443 - und Mysterien 430.438 f. 443 f Personifikation 283-285 Pessinus 275 Pfeilerkult 54.68 Pferd, und Poseidon 215 f - Göttin 77. 105. 338 - Pferdeopfer 29. 60. 99. 216. 294 Phaethon 270 Phaistos, minoisch 41. 43. 54. 73 - Ekdysia 391 Phallos, neolithisch 28. 32, 90 - Artemis 165. 233 - Dionysisch 163. 251. 255 f. 386. 432. 435 - Haloa 397 - Herme 143. 164 f. 241. 243 f - Pan 266 - Thesmophoria 365 f Pharmakos 131-134.397 Pheidias 145. 196. 203. 222 Philodamos 342 Philosophie 23. 372. 452-498 Phlya 341. 416 f. 441,55 Phoiba 325.393 Phrattie 377. 383. 394 Phrygische Göttin 273 f -. Meter, Kybele Pindar 274.278.285.287.319.371. 466 - über Jenseits 436. 444. 447 Pithoigia 359 Plataiai 35. 211. - Schlacht und Totenfest 101. 109.201 -. Daidala Platon 411. 478-488 - Dämonen 277 f. 49lf
NAMEN- UND SACHREGISTER
- Definition der Frömmigkeit 108 - Dualismus 309. 351. 487. 495 - gegen Dichter 371. 482. 494 - gegen Riruall24. 376. 380. 494 - Gesetze 374,26. 381 f. 385. 390. 493-498 - Mythos 304. 478. 494 - Orphiker 441 - Seelenlehre 304. 447. 480 f. 484 f Plutarch 19. 21. 181,63. 435 Pluton 306. 351. 428 Plutos 170.245.430 Plynteria 126. 152. 345. 347 f Polytheismus 112. 189.331-343.374.379 - minoisch-mykenisch 68. n f. 80 Poseidon 212-217. 334 - Asphaleios 215. 283 - Athena 220. 337 - Basileus 213 - Delphi 216. 338 - Eleusis 332. 428 - Ephesos 163 - Erechtheus 190. 213. 349 - Hippios 105 f. 215 - in Delos 338 - mykenisch 75 f. 79. 212 - Petraios 215 - Soter 214 - Taureos 215 - Thunfischopfer 93,4. 214 - und Apollon 196. 338 - Versenkungsopfer 132. 216 -t Isthmia, Kalaureia, Mykale Praxidikai 164. 267 Priapos 109 Priester 110. 125. 151-156 - minoisch-mykenisch 64.75.78 Prodikos 467 Prometheus 95 f. 242. 264 f. 288.420 - Kabir 420 Prostirution, sakral 170. 236. 240 Protagroas 380. 411. 464. 466 f Prozession 93.115 f. 145 f. 157-159.349 - minoisch-mykenisch 58. 61. 64. 67. 70 - Mysterien 427 f Psychro, Höhle 48. 72. 106,81 Ptoion 173,8. 183
Pyanopsia 160 Pylos, mykenisch 42 f. 66.74 f. 80 - Götter 75-80 - Heiligrum 54. 77 - Herd 57 f - Libation 64 - Poseidon 75 f. 79. 212 - Ursprung der Ionier 212 Pyrrhos-Neoptolemos 139,42. 140,51. 228. 309.313 Pyrhagoras, Pythagoreer, Seelenwanderung 444-446.476 - Apollon 286 - Bios 450 f - Mnemosyne 437 - "Timaios" 485 - über Daimon 278 Quellen 138 - heiße 136 - Kult 269 Räucher-Opfer 63. 79. 93. 122. 236. 452 -t Weihrauch Reinheit, beim Opfer 93.98.125 - Inkubation 400 - Innerlich 124 - Mysterien 126. 428. 449 Reinigung 122-134. 173.228 f. 376. 427 - Kritik 129 Rhegion, Ktisis 134,87 Rind als Opfertier 29. 48.66.93 f. 99. 110. 148. 152. 189. 206 - in Zypern 87. 90,62 -t Stier Rirual14 f. 18-21. 23 f. 91 f Sabazios 275 f Salaminioi 384 Samos, Heraion 89. 137. 206 f. 140. 142. 149 - Bettelumzug 160 - Festrirual146. 170. 209. 210 f - helladisch 32 Samothrake, Mysterien 170.324.399.422425.449.470 Sappho 102. 135,3. 208. 239 f. 272. 287 532
NAMEN- UND SACHREGISTER
Satyrn 163 f. 255 f. 267 Satyrspiel 107. 164.255,427.432 Schaf als Opfertier 29. 48. 93. 99 -'Widder Schamanen 174. 320. 447 Schaukel 363 Scheinkampf 130 f SchicksilJ 203 f Schiffswagen 158. 159. 251. 255 Schild-Göttin, mykenisch 58,70. 217 Schlange, in minoisch-mykenischen Heiligümern 56. 58. 83 - Agathos Daimon 278 - Akropolis 86. 349 - Asklepios 327 - Dioskuren 326 - Hermes-Stab 244 - Mysterien 413 - Thesmophoria 365 - Tote 298. 316 - Typhon 201 - Zeus als Schlange 190. 204. 307. 407. 443 Schlangengöttin, Knossos 45. 54.69. 72. 73. 80.83.217 Schmiede, und HeiligtUm 49.81. 237. 257
n.
- basileus 86 - Daktylen 267 - Hephaistos 257 - Kabiren 420 Schönheits-Wettkampf 166. 208. 394 Schrift, Heilige 18. 184.442 Schweigen 94. 118. 129 f. 317. 451 Schwein als Opfertier 29. 48. 93. 129.248. 329.365.400.426 Seefahrt, und Kult 111. 114.399.424 f Seelenwanderung 303. 444-446. 476 Selene 271 Selinus 130. 279,148 Semeie 190. 199. 210. 250 f. 254. 340. 439,49 Sexualität, der Götter 139. 282. 235. - Aphrodite 235. 239. - Enthalmng 133. 156. 167. 368. 400 - Homosexualtät 202. 391 - im Rima1163. 165 - Monogamie 451 533
- Mysterien 170.413. f. 427.435 - unrein 125. 127. 139. 156 -. Heilige Hochzeit, Phallos Sibylle 182-184 Silen 163. 255,427 Sintflut 117. 154. 362 f. 424 Skira 345.349 Sklaven, beim Ausnahmefest 352. 359 - als Pharmakos 132 - ausgeschlossen 365. 382. 388 - Eigenmm von Göttern und Heiligtümern 78. 111. 236,298 Smith, W. R. 13 Sokrates, Daimonion 279. 471 - bei Aristophanes 470 - Delphi 182 - Gebet 120,85 - Prozeß 411. 471 f - Sorge um die Seele 479 Solon, Dike-Idee 375 - gegen Dichter 371 - Gesetze zum Totenkult 294. 297 Sonne, Gruß am Morgen 120. 271 --+ Helios Sophokles, über kosmisches Gesetz 474 - Asklepios 327 - Libation 36. 116 Sparta, Agoge 392 f - Rhetra 182 -. Ortheia, Dioskuren, Leukippiden, Amyklai Steine, unbehauen 29.136 - salben 68. 116 - wälzen 61 Stenia 165. 365 Stier, als Opfertier 27. 60. 64. 99. 103.200. 255 - Gott als Stier 40.69. 105 - Stier-Maske 87 f. 106. 163 - Stierspiel 69 -. Buphonia Suovitaurilia 79. 380 Sura,Orakel178 Symposion 114. 314 Synoikia 352
NAMEN- UND SACHREGISTER
Tainaron 216 Tanz 129. 161-163 - minoisch 53. 57. 59. 61. 70 Tarent, Ktisis l34,88 Tartaros 302 Tauben, Göttin Knossos 54.70 - Aphrodite 106. 236 - Dodona 179 - Mykene, Schachtgrab 236 Telchinen 268 Telipinu 247 Telmessos 178. 180. 182.224 Tempel 19. 85. 140-146 - Besitz 111 - minoisch-mykenisch 51. 55. 56-59. 78. 84-86 - neolithisch? 28 - Reinigung 126 f - Tempeldienst 111. 155 f. 390. 394 f --+ Keos, Cypern, Samos, Gortyn, Dreros, Hera Tempelgrab Knossos 59.308 Thales 462 Thargelia l32. l34. 160. 345. 397 "theattical areas" l39 f Theben, mykenisch 42.74.77. f - Kabirion 419-421 - Meter 274 --+ Alkeidai, Alkmene, Amphion, Apollon Ismenios, Daphnephoria, Dionysos Kadmeios Thelpusa 77. 105. 215 Themis 284. 332. 400 Theophore Namen 20 f Thera, Vulkankatasttophe 41 - Karneia 355 - Opfergesetz 110 Therapne 325 Thermopylen 386 Thermos, Apollontempel142. 225. 385 Theseus 156. 162. 171. 2l3. 252. 299. 315. 320. 350. 352. 391 f. 394 Thesmophoria 29. 165. 168. 248. 345. 364-370.396 Thetis 192.201. 259. 265. 313 Thyiaden 267
n.
Thyrsos 250. 255 Tiergestalt von Göttern 46. 69. 104-107 Tindaridai/Tyndaridai 201. 324 Tiryns, mykenisch 42.59 - Heratempel85 f. 128. 144. 210 Titanen, Kampf 37. 194. 200. 268. 302. 306 - und Dionysos 105 f. 288.443.450 Tod, befleckt 125. 127. l38 f. 156 - im Opfer 94.107 Totemismus 14. 104 Totenklage 293 Totenbeschwörung 100. 115. 121. 298 --+ Ephyra, Odysseus Totenkult 291-297 - minoisch-mykenisch 59 f -Agon 167 - Bad 117 - Beschränkung 294. 297. 3l3. - "Daimon" 279 - Demeter 248 - Hermes 244 - Libation 115 f - Schlachtopfer 99 Tragödie 14. 18. 22. 96. 107. 129. 161. 252. 284.432 Traum 176. 180 -+ Inkubation Triptolemos 110. 431. 449 Triton 214 Troia 29. 34. 43. 192 - Troianisches Pferd l33,80 Tropaion 201. 399 f Trophonios l36. 179 f. 307. 314 Tyche 285. 395. 400 Tyndariden --+ Tindaridai Typhoeus, Typhaon 194. 201. 210 Umkreisen 94. l31. l32. l33 Unschuldskomödie 96. 351 Unsterblichkeit 431. 447.476. 480. 485 Unterwelt 243. 298-304. - Mysterien 430.436.441. 445 Upis 154 Vegetarismus 419. 441. 449
534
NAMEN- UND SACHREGISTER
Versenkungsopfer 48. 108. 135. 216. 246. 269 Vogel, Epiphanie 70. - Göttin 31. 55 - Mantik 176 - Opfer 93 -. Tauben Voodoo-Puppen 186 Votivgaben 20. 43. 50. 53. 61. 62 f. 111-113. 146-149.399.470 Waffentanz 162.324 - Waffen-Weihe 112. 148 Wahnsinn 123 f - Dionysisch 143. 249. 251. 253. 339 f. 433f, - Meter 275 - Platon 481 - Reinigung 128 f. 172-174 Wasser, beim Opfer 93 f. 97 - Libation 114. 117 - Reinigung 122. 124 f. 127. 138 Weihrauch 88 f. 93. 102. 236. 272 Wein, beim Opfer 95. 97. 100. 114 f - Agathos Daimon 114. 278 - Dionysos 78. 249. 252. 255.434 - Enthaltung 449 - Kabiren 420 - Weinwunder 287 -. Anthesteria Weltseele 485 f Wettergott 38. 198. 207 Widder, Opfer 79. 356. 423 - Hermes 106 - Totenbeschwörung 100 - Widderfell 79. 107. 126.426 f Winde 75. 78. 270. 398 Wolle als Opfer 110. 116 Xenokrates 277. 331. 443. 482. 488 f. 492 Xenophanes309.371.459.468.477 Xenophon 109. 176. 182. 263. 389. 475 Zagreus 419. 443,69 Zerstückelung 51. 253. 254. 378. 418. 434 Zeus 198-205 - Agamemnon 314 535
- Agetor 386 - Allgott 205. 467 f. 474. 477. 483 - als Stier 46. 105 f - am Palladion 152 - Anruf 120 - Areios 259 - Basileus 182 - Bulaios 204 - Chthonios 300. 307. 309. 396 - Daidala 103 - Dike 375 - Diktaios 75. 162.200.392 - Dionysos 75. 250. 254 - Eleutherios 201 - Epopetes 104,70 - Eubuleus 336. 366. 438 - Geburt 46. 190.200. 268. 392. 418 f - Grab 46. 50. 200. 308. 392 - Hellanios 199.205 - Hera 170.207.334 - Heraios 208 - Herkeios 204. 283. 374. 383 - Hikesios 205. 283. 374 - Holokaust 104 - Homarios (Hamarios) 386 - Horkios 205. 377 - Hyetios 199,7.283.398 - Hypatos 111 - Hypsistos 309 - in Lesbos 166. 340 - indogermanisch 35. 198. 280 - Kallisto 233 - Kappotas 136,15 - Karneios 358 - Kataibates 199 - Ktesios 204. 283. 416 - Laphystios 356 - Libation 114 - Lykaios 136,7. 190. 199. 398 - mykenisch 75 f. 80 - Nemea 167 - Olbios 105,77 - Philios 168. 190 - Polieus 104. 204. 283. 350 f - Prometheus 264 - Teleios 114
NAMEN- UND SACHREGISTER
- Trophonios 314 - und Adler 106. 196. 202 - Xenios 205. 283. 374 ---. Dodona, Ida, Meilichios, Olympia Ziege als Opfertier 29. 48. 51. 65. 93. 147. 219.234.349.394.399 ---. Aigis, Bock Zweige tragen 158. 421 - als Lager 168 - niederlegen 36. 116.375 Zwölfgötter 198. 333
536
GRIECHISCHE WÖRTER
liyuA)lU 106. 145. 149. 286 liytO~ 36. 402. 404 ayvEla 125. 156. 405 ayv6~, Ii~Ecr9at 36. 98. 125. 129,56. 232. 248.368. 404f. 408. 417 liyo~ 129. 405. 410 liOu'tOv 144. u9uvu't0~ 308. 447 1i9EO~ 411 U9E6't1]~ 489 ui9ijp 474-476. 489 Ul)lUKOUPlu 100. 298 ul)lucrcrElV 94. 98 utcru 204. 337 uicrXPoAoYlu 165. 367. 373. 421 uirov 486. 490 uAcicr'toop 279 UA1'tScr9ut 411 IiAcro~ 137 UVUYK1] 487 uvu91])lu 112. 146-150 avUK'tOPOV 422f. 429 livu~ 67. 86. 200. 324 livoöo~ 74. 247. 365 uv6crtO~ 404 U1tuPXEcr9u1 94 U1tUPXUl 108. 149 U1tSAAU1224 u1tEAAuiu 384 U1toßu'tijpta 398 U1toßu't1]~ 353 U1tOAU)lU1VEcr9u1 128 U1tO )lU't'tElV 126 u1t6pp1]'tov 413
UPP1]cp6p01 348 IiPXEcr9u194.97.99 UPX1EPEU~, apX1spEOO~ 151,2.496 UcrSßE1U 411. 470 Iicr1tOVÖ01 9ucrlat 115,43 uCP1]POO1~ElV 315
ßUKXE1U, ßUKXEUElV 434. 437 ßUKxo~249.419.428.434.436 ßUcrtAEu~ 86. 151. 171. 200. 364. 387 ßUA1A1wu 171. 252. 361 ßsß1]AOV 138. 403 ßAucrCP1])llU 118 ß69po~ 99f. 305 ßOUAl)lOU E~sAucrt~ 132 ßpsm~ 142 ßpuAA1X1crml 164 ßoo)l6~ 139 YU1ijOXO~
214,132 YU)lijA1U, YU)l1]AOV 345. 384 YEvscrtu296 YSPU1PU 267. 361 yspuvo~ 162 yspu~ 153. 409 YECPUP1cr)l01 165,66. 428 yvro91 cruU't6v 229f. Ö~ÖOßXO~ 152. 426 Öat)l6V10V 279. 471 Ö(1)lOOV 123. 266f. 276-279. 317,50. 408. 451. 462. 487. 491f. ÖE1crtÖ(1)lOOV 408 ÖEKU't1] 109. 112. 149. 400 ÖScr1t01VU 418 öEcr1t6't1]~ 289. 409 öSXEcr9ut 178,37 Ö1])ltOupy6~ 485f. ölKutO~, Ö1K1] 204. 284. 404 ß10~ Kro1ÖtOv 107,84. 350 B6KuVU 326
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upu, UP1]'tijp 119 IipY)lu'tu 109 upyoi 1..1901 136 uPScrucr9U1409 IiPK't01 156. 163.234 Iipp1]'tov 248.403.413
537
GRIECHISCHE WÖRTER
OpmllEVIl 18 ooni'jpE<; Eumv 36 BOa<; 147 ElomAov 299. 468 EipECHmVl] 160 EKIl'tOIlßl] 36. 345. 351 SKIl't0<;,EKIl'tl]ßOAO<;,EKl]ßOAO<;227 EK(HIlCH<; 172 EKCPOPU 293 EMcr'tEPO<; 279,148 EIlßIl'tEUElV 180,61 EIlßIl'tTJPlll 398 EIl'l'UXOV 446. 449 EVIlYTJ<; 129. 405 EVllyt~elV 296. 305f. 307. 314. 405 SVIl'tll 296,38 Ev8eu~Elv, SV8EO<;, Ev80UCHllcrll0<; 172. 175. 178.180.407 EVlllUCHIl 296,38 EV'tEIlVElV 306 E1tllymYTJ 186,10 E1tIlK'tOC 186 E1tl]Aucrll] 186 E1tlIlEAElil 409 E1tlIlEAl]'t1l1 152 E1tl'tUCPlO<; aymv 167 E1t01t'tl]<; 423. 428. 481 EPIlIl, EPlllllOV 241. 244 EPPl]cpOPOl 348,26 EcrcrfjVE<; 154 Ecr'tlll 100. 181. 262 Ecr'tlll'tOPlOV 149 EcrXUPIl 77,261. 305 EUIlYTJ<; 405 Euollillmv 278 Eu8E'tI~ElV 95,1 EuMßElll 408 EUO! 119. 342 EUcrEßElll 408-411. 463. 474. 498 EUCPl]1l11l 118. 305. 373. 408f. EÜXEcr81ll, EUXTJ 36,18. 111. 118-120. 399 'ECPECHIl YPUIlIlIl't1l 187 ECPOOO<; Ttpmmv 316,40 81lAUCHil 109. 245,360. 397
8Eiov 458. 471. 8Elll<; 204. 408 8EOYUIllil 170 8EOOlliCHil 168,82 8EOAOYIll 197. 455. 482 8EO~EVlll 168. 326 8E01tP01t0<; 175 8EO<; 35. 175. 220.276.281. 406f. 8EOI 23. 276f. 406 8EOUOTJ<; 408 8EOCPOPEtcr81ll 275 8EPIl1tEUElV 409 8Ecr1l0<; 211. 367,145. 370 8Ecr1tI~ElV 173,8 8Ecr1tlml06<; 175,19. 180 8EcrCPIl'tOV 175 8Empol422 8l]crllupo<; 59. 110. 149. 153. 245 811lcrO<; 267. 433 8Pl]crKElIl 409 8pt1l1lßO<; 119 8UElV 102. 306 8Ulllll'tTJplOV 102 8UOcrKOO<; 102,52. 176,30 8ucrtll 102,52. 118 1IlKXO<; 119 lllllßo<; 165. 367 lOPUE1V 141 lEpu 157. 177 lEpa 606<; 157. 427. 436 lEPUcr81ll 154 lEPEuElV 305. 307 lEPEu<;, lEPElll 78. 152 lEPOKTJPU~ 152. 426 lEP01tOlOt, lEPO'tlllltlll 152 lEpo<; 36. 402f. 417 lEpo<; YUIlO<; 169 iEPO<; AOYo<; 414 iEPOCPUV'tl]<; 152. 155. 426. 428 lEPOCPIlV'tt<; 155 lEpffiv IlE'tEXElV 382 iSUCPIlAAOl 165 lKEcrtll 118 lKEcrlOC 186 lAUcrKEcr81ll298.409 538
GRIECHISCHE WÖRTER
Ka9aYll,;EtV 405 Ka9alpEtv 122 Ka9apll6~ 133. 434 Ka9upcrtov 132 Ka9ap't~~ 124 KaKOÖatIlOVtO"'tIll 469
IlEAtO"O"a 163. 368,160 Il~Vtlla 124. 316 IlTj'tpayup'tTj~ 161.274 Iltll1vE0"9m 127. 293. 297 Iltllpa TtIlEpa 359 1l1aO"Ila 125. 228. 405 Ilo'ipa 204. 268. 374 1l0A7tOl 161 f. IlUTjcrt~ 180. 413. 423. 426. 481 llu90~ 447. 465 lluO"o~ 125 lluO"'tayroy6~ 428 lluO"'t~pta248. 413 lluO"'tTj~ 413.418.423
KUAa90~158.427 KavTjlp6po~ 93f. 157. 387 Kavouv 94,9. 118 Ka'tußacrt~ 180 Ka'tllyroy~, Ka'tllyooyta 248. 251 Ka'tUöEcrt~, Ka'tUöEO"Il0~ 121. 186 Ka'tllxuO"lla'ta 123,8 Ka'tEXEtV 172 K~P 277. 360 KlO"'tTj, KtO"'tTjlp6po~ 158. 349.413.418.427 KATIÖOUXO~ 154 KATjÖOOV 176,23 Kopayol 248 K60"1l0~ 457 KOUPEtoV 383 KOUPO~,KOUPTj'tE~ 162.200.392 Koupo'tp6lpo~ 28. 7lf. 127. 283. 348,26 i]pro~ K'tiO"'tTj~ 315 KUKEOOV 401. 427 Kupt't't01164 K&1l0~ 284
va6~, vTj6~ 140. 144.305.311,3 vEKucrta 296 VEroK6po~ 156 VTjlpUAta 114,35 vOllll,;EtV 9EOU~ 411 v61l0~ 408. 411. 466. 494 vou~ 459. 474. 476. 481. 485. 487. 490
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256. 286
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77,253. 143,73. 305 94. 116. 119. 387 öpyta251. 257. 413. 416. 434 6pytuI,;EtV 413.498 6pEtßaO"la 434. 436 öcrtOt 154. 342 öcrto~ 402. 403f. 431. 442. 449 oUAal, OUAoxu'tat 94.97.14 ou Ipopu 95,3 6AOAUY~
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539
GRIECHISCHE WÖRTER
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Die Religionen der Menschheit Begründet von Christel Matthias Schröder Fortgeführt und herausgegeben von Peter Antes, Burkhard Gladigow, Martin Greschat undJörg Rüpke ErscheinungsforlDen und Wesen der Religion von Friedrich Heiler 1961. 21979. XVI und 605 Seiten 2 Die Religionen in vorgeschichtlicher Zeit von Ina Wunn 2005. X und 498 Seiten 3 Die Religionen Nordeurasiens und der aIDerikanischen Arktis von Ivar Paulson, Ake Hultkrantz, KarlJettmar 1962. XI und 425 Seiten
4.1 Die Religionen des Hindukusch von KarlJettmar mit Beiträgen von SchuylerJones, Max Klimburg 1975. 525 Seiten 4.2 Die Religionen des HiIDalaya von Bernhard Kölver, Alexander W. Macdonald u. a. 4.3 Die vorislaJDischen Religionen Mittelasiens von KarlJettmar, Ellen Kattner, Boris A. Litvinskij, Markus Mode, Jakob Taube 2003. 348 Seiten 4.4 Die Religionen des Kaukasus von Georges Charachidze 5.1 Die Religionen Indonesiens von Waldemar Stöhr, Piet Zoetmulder 1965. VIII und 354 Seiten 5.2 Die Religionen der Südsee und Australiens von Hans Nevermann, Ernest A. Worms, Helmut Petri 1968. VII und 329 Seiten
7 Die Religionen des alten Amerika von Walter Krickeberg, Hermann Trimborn, Werner Müller, Dtto Zerries 1961. XII und 397 Seiten 8 Die Religionen des Alten Ägypten von Fran~oise Dunand, Christiane Zivie-Coche 9 Religionsgeschichte Mesopotamiens von Beate Pongratz-Leisten 10.1 Die Religionen des alten Kleinasien 11 Die Religionen Indiens I. Veda und älterer Hinduismus von Jan Gonda 1960. 2 1978. XVI und 409 Seiten 15 Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche von Walter Burkert 1977. 22011. 544 Seiten 16,1 Die nichtrömischen Religionen des alten Italien von Burkhard Gladigow 16,2 Römische Religion von Burkhard Gladigow 17 Die Religionen des Hellenismus in Griechenland und Vorderasien bis zum Ausgang der Antike 19,1 Germanische und Baltische Religion von Ake V. Ström, Haralds Biezais 1975. 391 Seiten 19,2 Slawische Religion
21 Die Religionen Chinas von Werner Eichhorn 1973.424 Seiten 22,1 Die Religionen Koreas von Frits Vos 1977. 264 Seiten 22,2 ·Die Religionen Japans von Michael Pye 23 Die Religionen Südostasiens von Andras Höfer u. a. 1975. 578 Seiten 24,1 Der Buddhismus I: von Heinz Bechert, Johannes Bronkhorst, Jacob Ensink, Jens-Uwe Hartmann, Petra Kieffer-Pülz, HansJoachim Klimkeit, Siegfried Lienhard, William Mabbett 2000. 524 Seiten 24,2 Der Buddhismus 11: Theravada und tibetischer Buddhismus von den Anfängen bis zur Gegenwart von Karenina Kollmar-Paulenz (Hrsg.) 24,3 Der Buddhismus 111: Buddhismus in Ostasien und im Westen von Karenina Kollmar-Paulenz (Hrsg.)
27 Das Judentum von Günter Mayer (Hrsg.) 1994. 526 Seiten 28 Christentum I: Von den Anfängen bis zur Konstantinischen Wende von Dieter Zeller (Hrsg.) 2002. X und 474 Seiten 29,1 Christentum 11,1: Die Entfaltung nationaler christlicher Kirchen (4.-5. Jahrhundert) von Horst Callies 29,2 Christentum 11,2: Das orientalische Christentum von Wolfgang Hage 2007. 548 Seiten 30,1 Christentum 111,1: Europäisches Mittelalter und christliche Kultur (6.-13. Jahrhundert) von Raphaela Averkorn
30,2 Christentum 111,2: Orthodoxes Christentum von Radu Preda 31 Christentum IV: Zwischen Mittelalter und Neuzeit (1378-1552) von Francis Rapp 2006. VIII und 476 Seiten
32 Christentum V: Die frühe Neuzeit 25,2 Der Islam 11: Politische Entwicklungen und theologische Konzepte von W. Montgomery Watt, Michael Marmura 1985. XXI und 502 Seiten 25,3 Der Islam 111: Islamische KulturZeitgenössische Strömungen Volksfrömmigkeit von Annemarie Schimmel u. a. 1990. XII und 487 Seiten 26 Israelitische Religion von Helmer Ringgren 1963. 21982. XII und 346 Seiten
33 Christentum VI: Die Europäisierung der Welt und das Ende der europäischen Hegemonie
34 Christentum VII: Das Christentum seit 1945 35,1-5 Neue religiöse Bewegungen
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