Roger Häußling (Hrsg.) Grenzen von Netzwerken
Netzwerkforschung Band 3 Herausgegeben von Roger Häußling Christian Ste...
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Roger Häußling (Hrsg.) Grenzen von Netzwerken
Netzwerkforschung Band 3 Herausgegeben von Roger Häußling Christian Stegbauer
In der deutschsprachigen Soziologie ist das Paradigma der Netzwerkforschung noch nicht so weit verbreitet wie in den angelsächsischen Ländern. Die Reihe „Netzwerkforschung“ möchte Veröffentlichungen in dem Themenkreis bündeln und damit dieses Forschungsgebiet stärken. Obwohl die Netzwerkforschung nicht eine einheitliche theoretische Ausrichtung und Methode besitzt, ist mit ihr ein Denken in Relationen verbunden, das zu neuen Einsichten in die Wirkungsweise des Sozialen führt. In der Reihe sollen sowohl eher theoretisch ausgerichtete Arbeiten, als auch Methodenbücher im Umkreis der quantitativen und qualitativen Netzwerkforschung erscheinen.
Roger Häußling (Hrsg.)
Grenzen von Netzwerken
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16308-6
Inhalt
Einleitung ...............................................................................................................................7 Roger Häußling Praktikable vs. tatsächliche Grenzen von sozialen Netzwerken. Eine Diskussion zur Validität von Schulklassen als komplette Netzwerke...........................................................15 Thomas N. Friemel und Andrea Knecht Die räumlichen Grenzen persönlicher Netzwerke ................................................................33 Jan Mewes Lässt sich die Netzwerkforschung besser mit der Feldtheorie oder der Systemtheorie verknüpfen? ..........................................................................................................................55 Jan Fuhse Zur Bedeutung von Emotionen für soziale Beziehungen. Möglichkeiten und Grenzen der Netzwerkforschung ........................................................................................................81 Roger Häußling Entkopplung und Kopplung - Wie die Netzwerktheorie zur Bestimmung sozialer Grenzen beitragen kann ......................................................................................................105 Athanasios Karafillidis Grenzen der Erfassung = Grenzen von Netzwerken? Schnittmengeninduzierte Bestimmung von Positionen...............................................................................................133 Christian Stegbauer und Alexander Rausch Aus den Augen, aus dem Sinn? Zum Verhältnis von Clustertheorie und Clusterpraxis ....155 Martin Wrobel und Matthias Kiese Selektivitäten des Netzwerkes im Kontext hybrider Strukturen und systemischer Effekte – illustriert am Beispielen regionaler Kooperation.................................................183 Jens Aderhold Netzwerkforschung auf einem Auge blind? Ein Beitrag zur Rolle von Netzwerken bei Stellenbesetzungsprozessen ...............................................................................................209 Anja Kettner und Martina Rebien Verzeichnis der Autorinnen und Autoren...........................................................................225
Einleitung Roger Häußling
„A social network consists of a finite set or sets of actors and the relation or relations defined on them.” Gemäß dieser Aussage von WASSERMANN und FAUST (1994: 20) sind Netzwerke von methodologischer Seite her eindeutig definiert. Häufig gehen Forscher so vor, dass sie ein „network in a box“ untersuchen. Die Mehrzahl an Beziehungsnetzen ist jedoch nicht derart abgrenzbar, dass sie sich der methodologischen Annahme entsprechend aus einer eindeutigen und endlichen Zahl an Teilnehmern zusammensetzt. Ein Internetforum einer bestimmten Subkultur hat beispielsweise sichtbare Nutzer, die sich rege an der Diskussion mit eigenen Beiträgen beteiligen, und andere Nutzer, die sich nur sporadisch zu Wort melden, und dann noch das Heer der so genannten ‚Lurker’, die in den Diskussionen nicht sichtbar auftauchen, von denen also am wenigsten gesagt werden kann, ob sie der Subkultur überhaupt angehören oder nur aus Neugierde die Website besucht haben (vgl. STEGBAUER/RAUSCH 2001). Netzwerke können also an ihren Rändern Elemente mit sich führen, die nur sehr bedingt von den Netzwerkprozessen tangiert werden. Noch komplexer wird das Grenzziehungsproblem, wenn man ein multiplexes1 Netzwerk zum Untersuchungsgegenstand hat. Ja, die „small world“-Studien (vgl. BUCHANAN 2002; WATTS 1999; WATTS/STROGATZ 1998; BARABÁSI/ALBERT 1999) legen sogar den Schluss nahe, dass das soziale Beziehungsgefüge über indirekte und heterogene Verbindungen eigentlich grenzenlos ist. Sind also Netzwerkgrenzen das Produkt einer Vernachlässigung der Multiplexität eines globalen sozialen Beziehungsgefüges? Für DIRK BAECKER hat diese grenzbezogene Unschärfe von Netzwerken weit reichende Konsequenzen. Denn Netzwerke müssen deshalb nach einem anderen Prinzip operieren als Systeme. Während die Selbstorganisation von Systemen über „Grenzziehung“ bzw. genauer über das Prozessieren einer System-Umweltgrenze erfolge, sind Netzwerke aufgrund ihrer größeren Heterogenität und von außen kommender und nach innen sich fortsetzender Turbulenzen auf eine „interne Kontrollstruktur“ angewiesen (BAECKER 2006: 45). Unter Berufung auf WHITE sieht BAECKER darin die einzige Möglichkeit, ‚trotzdem’ eine Identität aufzubauen. Aber wie man schon aus der Identitätsphilosophie weiß, ist eine Identität nur in Abgrenzung zu einem Umfeld identifizierbar (vgl. HEIDEGGER 1957). Und dieser Unterschied wird nun in das kontrollbezogene Prozessieren verlagert, wobei die peripheren Bereiche des Netzwerks immer weniger von diesen Kontrollbemühungen tangiert werden (wie z.B. die oben genannten ‚Lurker’ im Internetforum). Die Peripherien von Netzwerken sind – wie auch STEPHAN FUCHS konstatiert – stärker den Einflüssen von außen unterworfen, während der Netzwerkkern (bzw. die Netzwerkkerne) den eigenen Einflüssen unterliegt (bzw. unterliegen) (FUCHS 2001: 273f. und 281ff.). Es lassen sich demzufolge Zonen des Netzwerks ausmachen, in denen eine Verdichtung von relationalen Strukturen und damit netzwerkadäquaten Prozessen vorliegen, und 1
Mit „Multiplexität“ ist die Vielfalt sozialer Beziehungsformen, die gleichzeitig bei einer Netzwerkanalyse be-
trachtet werden, gemeint (also z.B. Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen).
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‚äußere’ Bereiche des Netzwerks, in denen eine Ausdünnung von Beziehungen zu konstatieren ist (vgl. ebd.: 191f.). In der Netzwerkanalyse spricht man in Bezug auf die dichten Zonen von Cliquen und Clustern. In seiner Metaphorik der Gele spricht WHITE von Zonen, in denen eine Aushärtung stattgefunden hat, sodass sie im Inneren ein homogenisierendes Arrangement von Kontrollprojekten institutionalisiert und sich damit eine eigene ‚kollektive’ Identität verschafft haben, um sich nach außen hin, also gegenüber dem Umfeld, abzuheben. ANDREW ABBOTT bringt diese Sichtweise in seinem programmatischen Aufsatz „Things of boundaries – Defining the Boundaries of Social Inquiry“ gleich zu Beginn auf den Punkt: „In this paper, I shall argue that it is wrong to look for boundaries between preexisting social entities. Rather we should start with boundaries and investigate how people create entities by linking those boundaries into units. We should not look for boundaries of things but for things of boundaries.” (ABBOTT 1995: 857). Eine wesentliche Funktion spielt dabei für ABBOTT der narrative Aspekt im Sinne der WHITEschen „Story“-Produktion. Denn zu Beginn ergeben sich zufällige Differenzen im sozialen Raum, was Praktiken und Sinnsetzungen anlangt. Durch die Bezeichnung dieser Differenzen werden – ABBOTT zufolge – „proto-boundaries“ (ebd.: 867) erzeugt, die zunächst einmal nur auf der semantischen Ebene Grenzen darstellen. Da diese für ABBOTT wieder in das Intervenieren und die Interaktionen einfließen, verfestigen sich diese Differenzen auch auf der operativen und strukturellen Ebene. Nun begreift sich beispielsweise eine Jugendgruppe nicht nur anders als die anderen, sondern sie gibt sich ein anderes Outfit, verhält sich anders, präferiert anderes etc.2 Dies kann zu faktischen sozialen Schließungsvorgängen führen. Die Identität wurde dabei zunächst nur semantisch instanziiert, auf die sich die Interventionen der Beteiligten beziehen, sodass durch die daraus sich ergebenden Interaktionsdynamiken und -strukturen faktische Grenzen herausbilden. Jetzt wird nicht nur postuliert, dass man anders ist, jetzt ist man anders, aufgrund des handlungs- und kommunikationsleitenden Aspekts dieser Postulate. Selbst derartige in sich abgekapselte Netzwerke wie Jugendsubkulturen sind aber nie in dem Sinn hermetisch geschlossen, dass es für die Akteure nur diese soziale Wirklichkeit gäbe. Vielmehr zeichnet sich die Identität der Akteure gerade durch die Teilhabe an verschiedenen Netzwerken aus (vgl. SIMMELs „Kreuzung sozialer Kreise“ und WHITE 1992: 106f.). Die Frage nach der Offenheit von Netzwerkgrenzen stellt sich dann in zweifacher Weise: Zum einen in Bezug auf die Peripherien, deren Kennzeichen ja ein erhöhtes Maß an Einflussnahmen von Außen bildet. Zum anderen geht es um Relationen zwischen Netzwerken, die durchaus auch gerade vom Kern eines Netzwerks gepflegt werden können, durch Mehrfachmitgliedschaften der Partizipanten. Man denke zum Beispiel an einen Abteilungsleiter, der gute Kontakte zur Unternehmensleitung besitzt. In der Netzwerkforschung im Unternehmenskontext wurde dabei insbesondere die Kooperation zwischen Unternehmen sowie der Zusammenschluss von Unternehmen zu so genannten Unternehmensnetzwerken untersucht (vgl. z.B. SYDOW/WINDELER 2000). Dabei werden in der Regel eine Aggregationsstufe höher ganze Unternehmen als Knotenpunkte eines – wenn man so will – intermediären Netzwerks konzipiert. Dies ist auch eine sinnvolle Aggregierung, wenn man dabei 2
ABBOTT selbst wählt das Beispiel verschiedener Berufe, die sich über Berufsvereinigungen und professionsspezi-
fische Bestimmungen unterscheiden.
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nicht vergisst, dass die Knotenpunkte als black boxes zu behandeln sind, die selbst wieder Netzwerke darstellen, bei denen intern zu klären ist, welcher Stelleninhaber für welche Aufgaben die Kontaktpflege zum Unternehmen Y betreibt. Grenzen von Netzwerken können aber auch im Sinne der Grenzen ihrer Integrationsund Leistungsfähigkeit verstanden werden. Wer fällt gleichsam durch das Netz, das eigentlich für ihr Auffangen sorgen sollte? Zu denken wäre hier an Familien-, Verwandtschafts-, Freundschaftsnetzwerke, solidarische Gemeinschaften etc. Aus den bisherigen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, dass Grenzen bei Netzwerken eine andere Bedeutung haben als bei Systemen, aber es ist unter Netzwerkforschern noch keineswegs eine Einigkeit erzielt, was Netzwerkgrenzen bedeuten und welchen Status man ihnen zusprechen muss. Es liegt allerdings nahe, dass aus diesem anderen, neuen, noch zu bestimmenden Grenzverständnis eine Profilierung der Netzwerkforschung selbst zu erwarten ist. Zurzeit koexistieren jedoch noch verschiedene Verständnisse, die kaum in eine integrative Sichtweise integrierbar zu sein scheinen. Auch die hier versammelten Beiträge zeugen von den verschiedenen Grenzverständnissen unter Netzwerkforschern. So lassen sich hier die Positionen wiederfinden, dass die Grenzen von Netzwerken forschungspraktische Artefakte sind (z.B. FRIEMEL/KNECHT), dass Netzwerke überhaupt keine Grenzen besitzen (z.B. MEWES), dass Netzwerke selbst Grenzen sind (KARAFILLIDIS) sowie dass Netzwerke über unscharfe Grenzen verfügen (z.B. HÄUßLING). Als ein erster Systematisierungsvorschlag dieser vermeintlich disparaten Grenzverständnisse könnte man die gängigen Netzwerkperspektiven heranziehen: die Perspektive auf die Knoten eines Netzwerkes, die Perspektive auf seine Relationen bzw. Kanten sowie die Perspektive auf das gesamte Netzwerk als Strukturgebilde. (A) Bislang habe ich weitgehend die Grenzthematik auf der Netzwerkebene entfaltet. Demgemäß werden Netzwerkgrenzen durch Kontrollprojekte von Netzwerkkernen erzeugt. Zu diesen Kontrollprojekten sind auch „stories“, also identitätsstiftende und damit abgrenzende Geschichten gemeint. Führt man diese Gedanken ABBOTTS, WHITES und FUCHS weiter, so kann man sagen, dass Netzwerke durchaus Grenzen ziehen und damit Geschlossenheit produzieren können. Diese Grenzen müssen allerdings sowohl semantisch als auch interaktiv erzeugte sein, damit soziale Schließungsprozesse stattfinden können. Solche selbstinaugurierten Grenzen sind gleichwohl störanfälliger gegenüber äußeren Einflüssen als die Umweltgrenzen in LUHMANNs Systemtheorie. Eine gewisse Schließung ist auch in Netzwerken nötig, damit sie überhaupt eine gewisse Gebildeidentität erlangen können, und nicht einfach alles in ihnen passieren kann. In diesem Sinn ist Geschlossenheit eines Netzwerks zunächst einmal keine wertende Kennzeichnung, sondern eine Frage der Sichtbarkeit des Gebildes nach außen und der Kohäsionsfähigkeit nach innen hin. Netzwerkkerne können dann im Sinn von Attraktoren begriffen werden, die eine Sogwirkung auf das Umfeld ausüben können. Die meisten der hier versammelten Beiträge betrachten Grenzen auf dieser Aggregationsstufe von Netzwerken. Dies soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich noch zwei andere Grenzdiskussionen innerhalb der Netzwerkforschung ausmachen lassen. (B) So stellt sich in Bezug auf Knoten die Frage, was als Knotenpunkt in einem sozialen Netzwerk gelten kann? Hier hat vor allem die Actor Network Theory (ANT) für Verunsicherung gesorgt, erscheinen doch aus ihrer Sichtweise nicht nur Menschen son9
dern auch technische Artefakte sowie Naturphänomene als prinzipiell relevante Netzwerkaktanten (vgl. z.B. Latour 1998; Callon 1986).3 Durch die damit postulierte Hybridisierung von Prozessen werden Begriffe wie „Soziales“, Gesellschaft und (soziales) Handeln entgrenzt. Die damit eingehandelten Probleme werden gegenwärtig breit diskutiert und verdeutlichen, dass ein anything goes bei der Modellierung von Netzwerkknoten eine umfassende Aufweichung soziologischer Grundbegriffe nach sich zöge. Die Grenzen bisheriger Soziologie würden damit bei weitem überschritten. Will die ANT quasi alles prinzipiell als Knotenpunkt in einem Netzwerk modellieren können, tun sich demgegenüber systemtheoretisch geprägte Zugänge zur Netzwerkthematik schwer, Knotenpunkte überhaupt akteursspezifisch zu fassen. An ihre Stelle treten Adressen, Positionen, Systeme (z.B. Organisationen). Der methodologische Individualismus wiederum favorisiert in mehr oder weniger expliziter Form eine Vorstellung von Netzwerkgrenzen als Resultate individueller Entscheidungen. Diese Vorstellung steht im diametralen Gegensatz zu der bereits erwähnten These ABBOTTs, dass es die Grenzen sind, die Identitäten erzeugen und nicht umgekehrt. Mit anderen Worten wird wohl die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung nicht über den Weg der Knotenpunkte sich Klarheit darüber verschaffen können, wie man Grenzen von Netzwerken bestimmen kann. (C) Ein dritter Fokus würde den Relationen bzw. Kanten von Netzwerken gelten. Bereits erwähnt wurde, dass sich Netzwerkgrenzen je nach gleichzeitig betrachteten Beziehungsformen („Multiplexität“) anders gestalten. Ebenso verhält es sich mit Beziehungsketten. Wo sind die Grenzen zu ziehen bei der Frage, mit wem man indirekt in Beziehung steht. Die „small world“-Studien (s.o.) legen den Schluss nahe, dass bei einer vollständigen Betrachtung indirekter Beziehungen zwar strukturelle Löcher aber keine Grenzen mehr ausmachen lassen. Sturkturelle Löcher weisen zudem auf die zentrale Bedeutung von nicht existierenden Beziehungen für die Netzwerkforschung hin. Die Nicht-Beziehung als ein konstitutiver Grenzfall einer netzwerkforscherisch zu berücksichtigenden Beziehung! Denn sie besitzen Aussagegehalt. Insofern kommt man auch über die Klärung der Frage, was als soziale Beziehung gelten kann, nicht an ein allgemeinverbindliches Verständnis für Netzwerkgrenzen. Auf der Ebene des Gesamtnetzwerks ist mit anderen Worten am ehesten damit zu rechnen, dass sich die Netzwerkforschung bezüglich der Grenzthematik auf eine die Netzwerkforschung instruierende und explizierende Sichtweise einigt. In diesem Sinn lassen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes lesen. Dazu ist einerseits nötig, Netzwerkgrenzen von regionalen Grenzen zu differenzieren (vgl. die Beiträge von MEWES und WROBEL/KIESE in diesem Band), andererseits ist auf theoretischem Feld die Mesoebene als die oftmals angeführte Betrachtungsebene der Netzwerkforschung an ihren „Rändern“/(Grenzen) zu explizieren: hin zu Makrostrukturen (vgl. den Beitrag von FUHSE in diesem Band) und hin zu Interaktionen (vgl. den Beitrag von ADERHOLD in diesem Band). Als empirisch ausgerichtetes Paradigma hat die Netzwerkforschung aber auch Grenzen als forschungspraktische Artefakte (vgl. die Beiträge von STEGBAUER/RAUSCH und FRIEMEL/KNECHT in diesem 3
Bereits bei ALFRED SCHÜTZ findet sich in Grundzügen diese radikale Sichtweise: Mit Bedeutungen versehene
Artefakte stehen – gemäß Schütz – für indirekte soziale Beziehungen. Diese Objekte verbinden den Wahrnehmenden mit einer Deutungsgemeinschaft und mit denjenigen, die diese Artefakte mit Bedeutungen versehen haben. Vgl. SCHÜTZ/LUCKMANN 1975.
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Band) bzw. durch Forschungstraditionen erzeugte Selbstbeschränkungen der Sichtweise (vgl. Beitrag von KETTNER/REBIEN in diesem Band) zu thematisieren. Denn Grenzen können durch die Art und Weise der Erhebung (egozentrierte vs. ‚ganze’ Netzwerke), durch die Analyse (z.B. Blockmodellanalyse) und durch die Darstellung von Netzwerken (Visualisierung) zumindest miterzeugt werden. CHRISTIAN STEGBAUER und ALEXANDER RAUSCH befassen sich in ihrem Beitrag mit der Frage, ob Grenzen von Netzwerken forschungspraktischen Umständen geschuldet sind und was sich ändert, wenn man die Forschungspraxis ändert. Dazu analysieren sie drei unterschiedliche Aktivitätsfelder von Wikipedia-Aktivisten gleichzeitig, um Führungspositionen innerhalb der Wikipedia-community ausfindig zu machen. Gegenüber der konventionellerweise üblichen attributiven Vorgehensweise (bei dem mittels Fragebogen ein Verhaltensmuster erfasst wird) liefert das von den Autoren favorisierte relationale Vorgehen (bei dem der tatsächliche Kontakt zwischen Akteuren herangezogen wird) Aufklärung in Bezug auf den harten Kern der Wikipedia-Akteure. Für STEGBAUER und RAUSCH stehen diese Ergebnisse auch für die Überlegenheit relationaler Betrachtungsweisen gegenüber einer individualisierenden Betrachtung, um von Verhaltensmustern auf Positionen zu schließen. Damit wären auch bisherige Grenzen der Umfrageforschung ausgemacht. Der Beitrag von THOMAS FRIEMEL und ANDREA KNECHT hinterfragt ebenfalls Netzwerkgrenzen unter dem Aspekt forschungspraktischer Gegebenheiten. Sie nehmen zu diesem Zweck Schulklassen in den Fokus ihrer Betrachtung, die gemeinhin als komplette Netzwerke aufgefasst werden. An diese Sichtweise knüpfen die beiden Autoren ein großes Fragezeichen und schlagen ein Validierungskonzept vor, um getätigte Grenzziehungen auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Einerseits wird dabei das zu prüfende Primärnetzwerk in Bezug zum umfassenderen Sekundärnetzwerk gebracht, in das das Primärnetzwerk eingebettet ist. Andererseits schlagen die Autoren vor, stets eine Kombination von Erhebungsinstrumenten einzusetzen (z.B. eine Listenfrage und eine offene Frage), um nach gleichen Beziehungsformen zu fragen. Anhand zweier Fallbeispiele aus der Schweiz und den Niederlanden zeigen die Autoren auf, dass zwar die Schulklasse eine bedeutsame Bezugsgruppe für die Schüler darstellt, aber bei weitem nicht die einzige ist, an denen sie sich orientieren. Entsprechend entscheidet die konkrete Forschungsfrage, ob Schulklassen eine geeignete Erhebungseinheit bildet oder ob die Grenzen weiter zu setzen sind. ANJA KETTNER und MARTINA REBIEN befassen sich mit der Frage, welche Rolle sozialen Netzwerken bei Stellenbesetzungsprozessen zukommt. Die beiden Autorinnen nehmen entgegen der gängigen Praxis allerdings nicht die Arbeitssuchenden sondern die suchenden Betriebe in den Fokus ihrer Betrachtung. Ihre Ergebnisse verdeutlichen, dass es nicht ausreicht nur die eine Gruppe in diesem Matchingprozess zu betrachten. Sie sehen hier eine nicht nachvollziehbare Selbstbegrenzung der bisherigen Netzwerkforschung in diesem Themenfeld. Zur Plausibilisierung ihrer These können KETTNER und REBIEN auf die repräsentative IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots zurückgreifen. Auf Basis dieser Ergebnisse wird nachvollziehbar, warum welche Unternehmen Suchstrategien über Netzwerke verfolgen und welche Vorteile diese Suchstrategie gegenüber anderen (z.B. Ausschreibung) besitzt. Sie plädieren also für die Aufhebung der von der Forschungstradition geschuldeten Grenzen. JAN MEWES befasst sich in seinem Beitrag mit dem „Verhältnis von räumlicher Nähe und Distanz innerhalb persönlicher Netzwerke“. Hierbei interessieren ihn vor allem fernräumliche Beziehungen, die er in den Diskussionszusammenhang der „Transnationalisie11
rung von unten“ und des „methodologischen Kosmopolitismus“ rückt. Dabei macht MEWES vor allem den beruflichen Status und das Bildungsniveau aus, die darüber entscheiden, ob die Spannweite des jeweiligen egozentrierten Netzwerkes nationalstaatliche Grenzen überschreitet. Diese These plausibilisiert er anhand des Familiensurveys 2000 und des Surveys Transnationalisierung 2006. Entsprechend sei die Netzwerkforschung herausgefordert, das wachsende Maß an herausgehobenen Sozialbeziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen von Akteuren besser analytisch und theoretisch in den Blick zu rücken. Regionale Grenzen korrespondieren mit anderen Worten immer weniger mit den Netzwerkgrenzen von einzelnen Akteuren. MARTIN WROBEL und MATTHIAS KIESE befassen sich in ihrem Beitrag mit regionalen Clustern und Netzwerken, die in Politik und Wirtschaft normativ besetzt sind. Denn von derartigen Clustern und Netzwerken werden Prosperität, Innovation und umfassende Synergien erwartet. Die beiden Autoren widmen sich den Fragen, welche Grenzen der Gestaltbarkeit dabei gegeben sind und inwieweit die diesbezüglichen Vorstellungen in Wissenschaft und Politik bzw. Praxis voneinander differieren. Wie ihre Befragung von Clusterund Netzwerkmanagern zeigt, wird vorzugsweise mit best practice-Modellen bei der Etablierung derartiger regionaler Cluster und Netzwerke gearbeitet, deren Übertragung auf den je individuellen Fall von wissenschaftlicher Seite als ausgesprochen problematisch angesehen wird. Gleichzeitig sei zu verbuchen, dass die Wissenschaft Gefahr laufe, den Anschluss an die aktuellen Entwicklungen, die durch euphorische Sichtweisen und technokratische Umsetzungen bezüglich regionalen Clustern und Netzwerken geprägt seien, zu verschlafen. Dabei böten die wissenschaftlichen Methoden, und hier besonders die Netzwerkanalyse, nicht zu unterschätzende Hilfsmittel für die Strukturpolitik. Diese Potentiale sollten nach WROBEL und KIESE erschlossen werden. Mit einer anders gelagerten Grenze befasst sich mein Beitrag: Er geht von der mehrfach von Netzwerkforschern (so etwa von SIMMEL und WHITE) vertretenen These aus, dass Soziales auf Nicht-Sozialem aufruhe und von ihm beeinflusst ist. Dies gilt – so meine These – auch für einen Grundbegriff der Netzwerkforschung selbst. Nämlich den sozialen Beziehungen. Es sind insbesondere die Emotionen, die aus bloßen Abhängigkeiten den Facettenreichtum unterschiedlichster und feingranular differenzierbarer sozialer Beziehungen machen. Zur Fundierung eines, wenn nicht gar des Grundbegriffs der Netzwerkforschung ist es also notwendig, sich mit emotionssoziologischen Fragestellungen zu befassen und in diesem Themenfeld Grenzen einer analytischen Betrachtung zu markieren. In diesem Sinn wird ein relationalistisches Konzept der Emotionen entworfen. In seinem Beitrag diskutiert JAN FUHSE die Frage, welche Modellierung von Makrostrukturen geeigneter ist für die Netzwerkforschung, die sich hauptsächlich auf Phänomene der Meso-Ebene konzentriere. Dabei vergleicht er zwei prominente Makrotheorien: Feldtheorien (vorzugsweise diejenigen von KURT LEWIN und JOHN LEVI MARTIN) und die LUHMANNsche Systemtheorie. Neben einer Reihe anderer grundsätzlicher Unterschiede differieren diese beiden Makrotheorien in der Behandlung von Grenzen. Während die Systemtheorie bekanntlich als Differenztheorie die System-Umwelt-Grenze als zentral für die Konstitution von Systemen und diese Grenze als vom System festgelegt erachtet, werden Grenzen von Feldern auf analytischem Weg vom Forscher gezogen. Zwar diagnostiziert FUHSE eine leichtere Ankoppelbarkeit der Feldtheorien an die Netzwerkforschung, aber für perspektivenreicher erachtet er die Verknüpfung der Netzwerkforschung mit der Systemtheorie. 12
Bei systemtheoretisch ausgerichteten Forschern ist ohnedies eine besondere Sensibilität bezüglich der Thematik Grenzen von Netzwerken zu beobachten. Dies dokumentiert sich auch in diesem Sammelband. Denn zwei weitere Beiträge sind systemtheoretisch ausgerichtet. ATHANASIOS KARAFILLIDIS argumentiert in seinem Beitrag, dass Netzwerke selbst Grenzen sind. Zur Plausibilisierung seiner These hebt er einerseits auf SPENCER-BROWNs Formkalkül ab. Andererseits sieht er in den netzwerktheoretischen Grenztheorien von ABBOTT und TILLYs eine solche Betrachtungsweise von Netzwerken ebenfalls angelegt. In einer mehrstufigen Verwebung dieser theoretischen Einsichten kommt er zu dem allgemeinen Grenzformalismus der Entkopplung und Kopplung, der in seiner Umkehrung eben nichts anderes repräsentiert als die Grundoperation von Netzwerken. Für JENS ADERHOLD sind Netzwerke einerseits dem Umstand geschuldet, dass durch die Grenzbildungsmuster einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft polikontexturale Adressen entstehen. Durch diese Struktureffekte von Netzwerken ist –wenn man so will – die Bedingung der Möglichkeit für die Kontaktstruktur sozialer Netzwerke gegeben. Andererseits rücken nun für ADERHOLD die Interaktionen in den Mittelpunkt der Betrachtung, da sie über die konkreten Kontaktchancen disponieren. Hier würden erst die bindungswirksamen Strukturen erzeugt, indem wiederholte Interaktionen Formen der Verbindlichkeit und Geselligkeit zwischen den an Interaktionen beteiligten Personen entstehen lassen. Auf dieser Basis bilden sich dann Erwartungen und Erwartungserwartungen. Zur Illustration seiner Thesen zieht ADERHOLD das Beispiel regionaler Kooperationen heran. Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung der Arbeitsgruppe „Netzwerkforschung“ innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) im Mai 2008 in Karlsruhe zurück. Den Teilnehmern sei für ihre rege Beteiligung nochmals an dieser Stelle herzlich gedankt, motivierte sie mich doch, eine Publikation der Beiträge anzustreben. Einen besonderen Dank möchte ich HEIKE EGGERS und AMELIE KÜHN aussprechen, die für das Lektorat des vorliegenden Bandes zuständig waren. Literatur Abbott, Andrew (1995): Things of boundaries – Defining the Boundaries of Social Inquiry. In: Social Research, Jg.62: 857-882. Baecker, Dirk (2005): Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Baecker, Dirk (2006): Wirtschaftssoziologie, Bielefeld: transcript Verlag. Barabási, Albert-László; Albert, Réka (1999): Emergence of Scaling in Random Networks. In: Science 286: 509-512 Buchanan, Mark (2002): Small worlds: Das Universum ist zu klein für Zufälle, Frankfurt/New York: Campus. Callon, Michel (1986): Some Elements of a Sociology of Translation. Domestication of the Scallops and the Fishermen of St. Brieuc Bay. In: Low, John (Hrsg.): Power, Action and Belief. A New Sociology of Knowledge?, London et al.: Routledge, 196-229. Fuchs, Stephan (2001): Against Essentialism: A Theory of Culture and Society, Cambridge (Mass.): Harvard University Press. Heidegger, Martin (1957): Identität und Differenz, Pfullingen: Neske. Latour, Bruno (1998): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt/M.: Fischer.
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Latour, Bruno; Wollgar, Steve (1979): Laboratory life: the social construction of scientific facts, Beverly Hills et al.: Sage. Schütz, Alferd; Luckmann, Thomas (1975): Strukturen der Lebenswelt, Band 1, Neuwied: Luchterhand. Stegbauer, C.; Rausch, A. (2006): Strukturalistische Internetforschung. Netzwerkanalysen internetbasierter Kommunikationsräume, Wiesbaden: VS Verlag. Sydow, Jörg; Windeler, Arnold (Hrsg.) (2000): Steuerung von Netzwerken. Konzepte und Praktiken. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Wasserman, Stanley; Faust, Katherine (1994): Social Network Analysis. Methods and Applications, Cambridge (UK): Cambridge University Press. Watts, Duncan J. (1999): Small worlds: the dynamics of networks between order and randomness, Princeton (N.J.) et al.: Princeton Univerity Press. Watts, Duncan J.; Strogatz, Steven H. (1998): Collective Dynamics of ‚Small World’ Networks. In: Nature 393/4: 440-442. White, Harrison C. (1992): Identity and Control. A structural theory of social action. Princeton/New Jersey: Princeton University Press.
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Praktikable vs. tatsächliche Grenzen von sozialen Netzwerken. Eine Diskussion zur Validität von Schulklassen als komplette Netzwerke Thomas N. Friemel und Andrea Knecht
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Einleitung
Für die Konzeptionalisierung sozialer Netzwerke muss stets eine erhebliche Komplexitätsreduktion erfolgen, denn nur so wird die Realität erfass- und analysierbar. Basierend auf der Definition von sozialen Netzwerken1 kann die Reduktion der Komplexität zum einen anhand der Beschränkung auf bestimmte Akteure und zum anderen durch die Fokussierung auf spezifische Verbindungen erfolgen. In aller Regel bedarf es einer Reduktion bezüglich beider Aspekte, indem eine klar umrissene Gruppe von Akteurstypen und einige wenige Beziehungsdimensionen betrachtet werden. Dies findet auch seinen Niederschlag im Grundvokabular der Netzwerkanalyse, indem bei der Anzahl Akteurstypen zwischen Oneund two-mode Netzwerken und bei der Anzahl Beziehungstypen zwischen uni- und multiplexen Netzwerken unterschieden wird (Wasserman/Faust 1994). Wenig akkurat erscheinen hingegen in vielen Fällen die Begriffe „Gesamtnetzwerke“ oder „komplette Netzwerke“. Diese Begriffe suggerieren die Berücksichtigung aller relevanten Akteure und Beziehungen, was faktisch in den wenigsten Fällen möglich ist. Empirische Studien, welche die sozialen Netzwerke von Kindern und Jugendlichen untersuchen, betrachten vielfach Schulklassen als komplette Netzwerke. Dies lässt sich zum einen inhaltlich begründen, da Schüler einen großen Teil des Tages in der Schule und somit im Klassenverband verbringen. Auf der anderen Seite kann aber vermutet werden, dass nicht zuletzt forschungspraktische Gründe ausschlaggebend sind für die Wahl eines solchen Untersuchungssettings. Eines der wesentlichsten (forschungspraktischen) Argumente für die Wahl von Schulklassen dürfte wohl die klare Abgrenzbarkeit sein. Es liegt deshalb die Vermutung nahe, dass Grenzen von untersuchten sozialen Netzwerken vielfach durch die Grenzen der Praktikabilität gezogen werden und nicht tatsächliche Grenzen widerspiegeln. Die Auswahl und Anzahl betrachteter Akteurstypen und Beziehungsdimensionen werden dabei durch Faktoren wie Zugänglichkeit, Ressourcen und Analysemethoden eingeschränkt. Die Diskrepanz zwischen praktisch möglichen und tatsächlich bestehenden bzw. theoretisch sinnvollen Grenzen lässt sich aufgrund dieser Hindernisse in der Forschungspraxis kaum vollständig überwinden. Basierend auf der Einsicht, dass sich das geschilderte Problem nicht lösen, sondern höchstens minimieren lässt, wird hier vorgeschlagen, dass zumindest ein möglichst bewusster und kritischer Umgang damit erfolgen soll. Das Bestreben muss demnach darin bestehen, die Validität von Grenzziehungen zu hinterfragen, Diskrepanzen transparent zu machen und mögliche Auswirkungen davon zu berücksichtigen (beispielsweise eine eingeschränkte Generalisierbarkeit der Ergebnisse). 1
Soziale Netzwerke lassen sich als eine Mehrzahl von Akteuren (Knoten) und ihren Verbindungen (Kanten)
untereinander definieren.
Im nachfolgenden Abschnitt (2) werden zunächst die bestehenden Vorarbeiten zur Grenzziehung bei sozialen Netzwerken aufgearbeitet. Abschnitt 3 stellt sodann ein Validierungskonzept für empirische Studien vor, das aus zwei Stufen besteht, wobei die erste Stufe zwei unterschiedliche Methoden umfasst. In einem ersten Schritt wird die Relevanz des erhobenen Primärnetzwerks mit der potentiellen Bedeutung eines umfassenderen Sekundärnetzwerks verglichen. Der Begriff des Primärnetzwerks bringt zum Ausdruck, dass es sich hierbei um dasjenige Netzwerk handelt, auf dem das Hauptaugenmerk der Untersuchung liegt. Das Sekundärnetzwerk umfasst demgegenüber zusätzliche Akteure oder Verbindungstypen, welche von untergeordnetem Interesse sind, bzw. vor allem für die Abschätzung der Validität der Grenzziehung erhoben werden. Eine Möglichkeit, die Diskrepanz zwischen Primär- und Sekundärnetzwerk zu erheben, besteht darin, dass die betroffenen Akteure durch Selbsteinschätzung die Relevanz ihrer eigenen Beziehungen innerhalb des untersuchten Netwerks ins Verhältnis zu ihren Beziehungen in anderen Kontexten bringen. Eine zweite Möglichkeit, die Validität der Netzwerkgrenzen zu überprüfen, besteht in der Kombination mehrerer Erhebungsinstrumente wie z.B. einer Listenabfrage mit einer offenen Abfrage. Dies bietet sich insbesondere bei der Untersuchung von mehreren Subpopulationen an, die potentiell miteinander in Verbindung stehen. Die Befunde aus diesem ersten Schritt dienen sodann als Basis für den zweiten Schritt der Validitätsprüfung. Dabei wird geprüft, ob die Befunde aus dem ersten Schritt in einem systematischen Zusammenhang mit den inhaltlichen Forschungsfragen stehen und potentiell zu einer Verzerrung der Befunde führen. Illustriert wird die vorgeschlagene Methodik anhand von zwei Fallbeispielen (Abschnitt 4). Mittels Daten von 36 Schweizer sowie 120 niederländischen Schulklassen wird diskutiert, inwiefern Schulklassen als komplette Netzwerke betrachtet werden können. Den Abschluss dieses Beitrages bildet ein Fazit sowie ein Ausblick auf ausstehende Forschungsbereiche der vorliegenden Thematik (Abschnitt 5). 2
Relevanz von Netzwerkgrenzen
Die Sichtung der bestehenden Literatur bezüglich Grenzen von Sozialen Netzwerken lässt erkennen, dass der Thematik bislang, abgesehen von der Betonung der Wichtigkeit einer sinnvollen Grenzziehung und der praktischen Herangehensweise (siehe beispielsweise Marsden 2005), nur geringe Aufmerksamkeit bezüglich der Validierung der Grenzen zugekommen ist. Im Rahmen der theoretischen Aufarbeitung sollen die folgenden Fragen kurz diskutiert werden: Wieso wurden die Netzwerkgrenzen bisher wenig beachtet? Weshalb ist die Grenzziehung bei der sozialen Netzwerkanalyse (SNA) von besonderer Bedeutung? Wie können Grenzen definiert werden?
2.1 Wieso wurden die Netzwerkgrenzen bisher wenig beachtet? Die geringe Aufmerksamkeit, welcher der Validierung der Grenzziehung bei sozialen Netzwerken bislang zugekommen ist, lässt sich möglicherweise mit der historischen Entwicklung der SNA erklären. Das zentrale theoretische Argument der SNA ist, dass es für das Verständnis von sozialen Phänomenen nicht ausreicht, einzelne (isolierte) Akteure zu betrachten. Es bedarf der Berücksichtigung des sozialen Kontexts um das Handeln einzel16
ner Akteure zu verstehen. Dieser Gedanke steht im fundamentalen Gegensatz zur weit verbreiteten impliziten Annahme, dass alle handlungsrelevanten Determinanten akteursimmanent sind bzw. zumindest als Akteursattribute operationalisiert werden können. Das theoretische Argumentarium der SNA spezifizierte sich in Folge dessen insbesondere dahingehend aus, dass Begründungen für den Einbezug des handlungsrelevanten Kontexts entwickelt wurden. In Abhängigkeit der Forschungstradition, welche auf einzelne Akteure fokussierte, musste man sich also zunächst Gedanken über die Inklusion des Kontexts machen, bevor eine Exklusion überhaupt relevant wurde.
2.2 Weshalb ist die Grenzziehung bei der SNA von besonderer Bedeutung? Dem theoretischen Anspruch, den handlungsrelevanten Kontext möglichst ganzheitlich zu erfassen, stehen i.d.R. forschungsökonomische Restriktionen gegenüber. Dies gilt nicht nur für die SNA, sondern für die empirische Sozialforschung im Allgemeinen. Während in der klassischen quantitativen Forschung der Einsatz von Zufallsstichproben zur Standardlösung für die Komplexitäts- und Mengenreduktion wurde, ist dies in der SNA aus theoretischen Überlegungen nur bedingt vertretbar. Durch das Ziehen einer Zufallsstichprobe würden einzelne Akteure aus ihrem sozialen Kontext herausgelöst, welcher, wie oben beschrieben, als bedeutsam angesehen wird (Barton 1968: 1; Friemel 2008b).2 Beim Einsatz von Zufallsstichproben kann die Grundgesamtheit relativ großzügig definiert werden. Durch die Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeiten, mit denen ein Akteur in die Stichprobe gelangt, können danach ausreichend viele Akteure aus der Grundgesamtheit gezogen werden. „Fehler“ in der Abgrenzung der Grundgesamtheit führen vielfach „nur“ zu Verzerrungen und nicht zu fundamental falschen Schlüssen. Im Gegensatz dazu kann es bei der Analyse von sozialen Netzwerken zu grundlegend anderen Schlüssen kommen, wenn gewisse Akteure berücksichtigt bzw. nicht berücksichtigt werden. Eine besonders akkurate Abgrenzung des Netzwerks (der Grundgesamtheit) ist also für die SNA von größerer Bedeutung als bei der Anwendung von Zufallsstichproben. Eine beliebige Ausweitung der Grundgesamtheit, um alle Akteure zu erfassen, welche möglicherweise relevant sind, ist in vielen Fällen jedoch auch nicht möglich. Da die Komplexität von Netzwerken mit zunehmender Größe nicht linear sondern exponentiell zunimmt, gilt es das Netzwerk möglichst überschaubar zu halten. Dies ist insbesondere für Netzwerke gültig, die mittels Abfrage von Akteurslisten erhoben werden, da zu lange Listen in Fragebögen vermieden werden sollten.
2.3 Wie können Grenzen definiert werden? Im vorliegenden Beitrag wird der Standpunkt vertreten, dass die meisten tatsächlichen sozialen Netzwerke über keine klaren Netzwerkgrenzen verfügen oder diese zu weit gefasst sind, als dass sie eine empirische Analyse zulassen würden. Für die theoretische Aufarbei2
Genau genommen ist die Anwendung von Zufallsstichproben im Zusammenhang mit SNA nicht gänzlich ausge-
schlossen. Sie ist aber nur dann vertretbar, wenn die einzelnen Akteure als Ausgangspunkt für die Erhebung von Ego-Netzwerken verwendet werden.
17
tung der Thematik gilt es deshalb zu klären, welche Möglichkeiten grundsätzlich bestehen, um Grenzen von sozialen Netzwerken zu bestimmen. Wie einleitend erwähnt, lassen sich alle Methoden zur Bestimmung von sozialen Netzwerken auf die beiden definitorischen Elemente der Knoten und ihren Verbindungen reduzieren. Die Identifikation von Akteuren anhand ihrer Zugehörigkeit zu Organisation, Schulklasse oder Wohnort basiert auf den Akteursattributen – also den Knoten. Diese Variante ist insbesondere bei der Erhebung von Gesamtnetzwerken von Bedeutung. Da die meisten bestehenden Datensammlungen auf Akteursattributen basieren (Einwohnerzahlen, Handelsregister, Schülerlisten, etc.), werden diese Attribute als Auswahlkriterium verwendet, um danach die dazugehörigen Verbindungen zu erheben. Die Erhebung von ego-zentrierten Netzwerken baut demgegenüber zumeist auf den Verbindungen auf, in dem nach Akteuren gefragt wird, zu welchen eine spezifische Verbindung besteht oder die eine gewisse Position einnehmen. Erfolgt eine wiederholte Ermittlung von ego-zentrierten Netzwerken im Sinne eines Schneeball-Verfahrens, können auf der Basis der Verbindungen auch sehr umfangreiche Netzwerke erhoben werden.3
2.4 Theorie vs. Empirie bzw. tatsächliche vs. praktikable Netzwerkgrenzen Die obigen Ausführungen machen deutlich, dass beim Thema der Netzwerkgrenzen die teilweise widersprüchlichen Interessen von Theorie und Empirie aufeinander treffen. Während aus theoretischer Sicht argumentiert wird, dass alle handlungsrelevanten Kontextfaktoren Berücksichtigung finden müssen, sind der konkreten Umsetzung vielfach enge Grenzen der Praktikabilität gesetzt. Der Titel des Beitrages bringt dies mit der Gegenüberstellung von tatsächlichen Netzwerkgrenzen (theoretischer Anspruch) vs. praktikablen Netzwerkgrenzen (empirische Möglichkeiten) zum Ausdruck. Scott weist zu Recht darauf hin, dass das Ziehen von Netzwerkgrenzen nicht einfach durch die Identifikation von offensichtlichen Merkmalen erfolgen sollte. Auch wenn solche natürlichen Grenzen bestehen mögen, muss aus wissenschaftlicher Sicht eingefordert werden, dass die Grenzziehung eine „theoriebasierte Entscheidung“ sein sollte (Scott 1991: 58). Auch Laumann et al. kritisieren diesen Umstand: “Oftentimes the sole justification for selecting a particular portion of the ‘total network’ (...) for empirical focus of an investigation has been an apparent appeal to common sense” (1983: 19). Laumann et al. schlagen die Unterscheidung zwischen „realistischer“ und „nominalistischer“ Strategie für die Netzwerkabgrenzung vor. Bei einem „realistischen“ Ansatz basiert die Abgrenzung auf der Wahrnehmung durch die Akteure selbst. “The realist strategy of setting network boundaries by definition assumes the proposition that a social entity exists as a collectively shared subjective awareness of all, or at least most, of the actors who are members” (Laumann et al. 1983: 21). Es kann argumentiert werden, dass diese Annahme des „realistischen” Ansatzes wohl nur in relativ kleinen und überschaubaren oder aber formal definierten Gruppen wie Vereinen, Organisationen, Schulklassen gegeben ist. Im Gegensatz zum „realistischen“ Ansatz basiert der „nominalistische“ Ansatz nicht auf der 3
Two-mode-Netzwerke, welche vereinzelt als weitere Variante aufgeführt werden (Laumann et al. 1983, Lau-
mann et al. 1989), lassen sich beiden obigen Varianten zuordnen. So kann z.B. die Teilnahme an einem gemeinsamen Event sowohl als Akteursattribut oder als Verbindung abgebildet werden (in dem das two-mode-Netzwerk auf ein One-Mode-Netzwerk der Akteure reduziert wird).
18
Wahrnehmung der Gruppenmitglieder, sondern einzig auf der Definition durch den Forscher. Beide von Laumann et al. vorgeschlagenen Varianten können sowohl zu tatsächlichen wie auch zu praktikablen Netzwerken führen. Es handelt sich dabei also nicht um eine qualitative Bewertung der beiden Vorgehensweisen, was der Begriff der „realistischen“ Strategie unglücklicherweise impliziert. Für die Bestimmung der Validität von Netzwerkgrenzen bietet diese Unterscheidung aber dennoch eine hilfreiche Anregung, da die Validität entweder durch die Forscher oder die Akteure bestimmt werden kann. Es geht hier also nicht nur um die Differenzen zwischen realistischen und nominalistischen Grenzen, sondern zusätzlich um die Unterscheidung zwischen effektiven und praktikablen Netzwerkgrenzen.
2.5 Schulklassen als komplette Netzwerke Jansen sieht ein Problem bei Grenzziehungen nur dann gegeben, wenn keine klaren Gruppen wie z.B. Schulklassen bestehen (Jansen 2003: 69). Der vorliegende Beitrag teilt diese Auffassung nicht uneingeschränkt und mahnt in Anlehnung an Scott und Laumann et al. im Gegenteil zu besonderer Vorsicht, wenn vermeintlich klare Netzwerkgrenzen bestehen (Laumann et al. 1983: 19; Scott 1991: 58). Bezüglich der Validität von Schulen und Schulklassen als relevante soziale Netzwerke von Jugendlichen liegen bislang nur vereinzelt Hinweise vor. Eine erwähnenswerte Beobachtung stammt von Brown und O’Leary (1971: 101), welche mit einer offenen Frage nach besonders beliebten Personen gefragt haben. Dabei stellten sie fest, dass die große Mehrheit („vast majority“) der Nominationen Schüler und Schülerinnen innerhalb der drei ausgewählten Sekundarschulen betrafen. Leider fehlen detailliertere Angaben dazu, ob die Nominationen innerhalb der einzelnen Klassen erfolgten. Snijders und Baerveldt (2003: 140) berücksichtigen die Relevanz der Schulklasse als Kontrollvariable in ihrer Netzwerkanalyse zu delinquentem Verhalten. Hierfür stützen sie sich auf die Frage, ob die Freunde in der Schule oder Freunde außerhalb der Schule wichtiger seien. Bei 62% der Befragten waren beide Freundschaftsgruppen gleich wichtig, für 10% waren die Freunde in der Schule wichtiger und für 28% die Freunde außerhalb der Schule. Die beiden erwähnten Studien zeigen zwei unterschiedliche Strategien, um das Setting von Schulklassen und Schulen zu validieren. Zum einen kann die Frage wie bei Brown und O’Leary soziometrisch angegangen werden oder man wählt eine Art subjektive Validierung durch die befragten Personen selbst, wie dies bei Snijders und Baerveldt zur Anwendung kommt. Im nachfolgenden Abschnitt werden die beiden Möglichkeiten allgemeiner dargestellt und mit der Nomenklatur von Laumann et al. in Verbindung gebracht (1983). 3
Validierungskonzept für Netzwerkgrenzen
Die bisherige Forschung zu sozialen Netzwerken hat deutlich gemacht, dass es sich zumeist um multiplexe Netzwerke handelt (Mollenhorst 2008), in denen nicht zuletzt die Abwesenheit von Verbindungen (Burt 1992) und schwache Verbindungen (Granovetter 1973) von besonderer Bedeutung sind. Ein Fokus auf kleine, uniplexe Netzwerke, die unter Umständen noch über das Vorhandensein von Verbindungen erhoben werden, muss deshalb kri19
tisch beurteilt werden. Gleichzeitig ist es aus forschungspraktischen Gründen vielfach die einzig gangbare Möglichkeit, soziale Netzwerke in der beschriebenen Form zu erheben. Das Bestreben kann deshalb nicht nur darin bestehen, sich den effektiven Gesamtnetzwerken möglichst gut anzunähern. Vielmehr muss es um einen bewussten Umgang mit den Netzwerkgrenzen gehen. Es bedarf der Einsicht, dass es sich bei Gesamtnetzwerken kaum je um „tatsächliche Gesamtnetzwerke“ handelt, sondern stets nur um praktikable Ausschnitte davon. Im Folgenden werden deshalb Möglichkeiten diskutiert, wie die Validität von Netzwerkgrenzen überprüft werden kann. Praktikables Primärnetzwerk
Nominalistisches Sekundärnetzwerk Soziometrische Methodenkombination
Realistisches Sekundärnetzwerk Salienz /Pauschalfrage
Abgleich mit Forschungsfrage (komparativ)
Tatsächliches Netzwerk
Abbildung 1: Validierungskonzept für Netzwerkgrenzen Der Begriff der Validierung wird hier verwendet, da es darum geht, zu prüfen, inwiefern das empirisch erhobene Netzwerk auch das umfasst, was man zu erheben vorgibt. Es geht also um den Abgleich zwischen dem „praktizierten“ und dem „tatsächlichen“ Netzwerk und der Frage, ob dabei systematische und bedeutsame Abweichungen vorhanden sind. Das hier vorgeschlagene Validierungskonzept sieht ein zweistufiges Vorgehen vor (Abbildung 1). In einem ersten Schritt wird untersucht, welche Bedeutung das untersuchte Primärnetzwerk im Verhältnis zur Relevanz des nicht untersuchten Sekundärnetzwerks besitzt. Hierfür werden zwei unterschiedliche Vorgehensweisen vorgeschlagen, welche auf unterschiedliche Weise das Vergleichsnetzwerk (Sekundärnetzwerk) bzw. dessen Bedeutung ermitteln. Auf der Basis dieser Befunde können die einzelnen Akteure bezüglich ihrer Bezugsgruppenorientierung unterschieden werden. Die einfachste Variante sieht eine Dichotomisierung vor, wobei zwischen Akteuren unterschieden wird, welche ihre primäre Bezugsgruppe innerhalb des praktizierten Netzwerks haben und solchen, deren Bezugsgruppenfokus außerhalb des Netzwerks liegt. In einem zweiten (komparativen) Schritt kann sodann geprüft werden, ob für Personen mit unterschiedlicher Bezugsgruppenorientierung abweichende Befunde bezüglich der substanziellen Forschungsfrage ausgemacht werden können.
20
3.1 Nominalistisches Sekundärnetzwerk Der Begriff des nominalistischen Netzwerks lehnt sich an der Begriffsverwendung von Laumann et al. (1983) an und unterstreicht, dass die Bewertung der Relevanz des Sekundärnetzwerks durch den Forscher erfolgt. Neben der Erhebung des Primärnetzwerks müssen hierfür weitere Netzwerkdaten des Sekundärnetzwerks erhoben werden.4 Aus forschungsökonomischen Gründen bedarf es zumeist einer Fokussierung auf das primär interessierende Netzwerk und das Sekundärnetzwerk (Vergleichsnetzwerk) kann nur mit einer reduzierten Präzision erhoben werden. Vielfach ist das potentielle Sekundärnetzwerk zudem umfassender, weshalb sich eine soziometrische Methodenkombination anbietet. Wird das Primärnetzwerk etwa mittels einer Listenabfrage erhoben, in der für jeden Akteur die Beziehungsstärke angegeben werden muss, kann es für die Erhebung des Sekundärnetzwerks ausreichen, eine Auswahlliste vorzulegen, aus der die wichtigsten Akteure ausgewählt werden. Falls das Sekundärnetzwerk zu umfassend ist, um Auswahllisten einzusetzen oder falls die Akteure zuvor gar nicht bekannt sind, ist auch die Erhebung von Ego-Netzwerken mit offenen Fragen möglich, wie dies im obigen Beispiel von Brown und O’Leary (1971) der Fall ist.
3.2 Realistisches Sekundärnetzwerk Bei der Ermittlung des realistischen Sekundärnetzwerks basiert die Einschätzung der Validität auf dem Urteil der befragten Person. Da hierbei vielfach mit „pauschalen“ Fragen nach der Bedeutung ganzer Personengruppen gefragt wird, bezeichnen wir die dazugehörige Methodik auch als Pauschalfragen. Als Beispiel aus der bisherigen Forschung ist die oben erwähnte Studie von Snijders und Baerveldt (2003) zu nennen, welche zwischen der Bedeutung von Freunden in der Schule (Primärnetzwerk) und außerhalb der Schule (Sekundärnetzwerk) unterscheidet.
3.3 Komparative Stufe der Validierung Die oben beschriebene erste Stufe der Validierung beschränkt sich auf den Vergleich zwischen praktizierten und tatsächlichen Netzwerkgrenzen. An diese erste Stufe kann optional eine zweite Stufe angeschlossen werden, welche die Validität auf einer spezifischeren, da inhaltsbezogenen Ebene prüft. So kann zum Beispiel geprüft werden, ob für Personen mit unterschiedlicher Bezugsgruppenorientierung auch unterschiedliche Befunde bezüglich der substanziellen Forschungsfrage feststellbar sind. Sofern solche Unterschiede festgestellt werden und diese nicht selbst Gegenstand der Untersuchung sind, gilt es diese soweit möglich zu vermeiden (Anpassung der Grenzen) oder in der Auswertung und Interpretation zu berücksichtigen.
4
“It is usually possible to learn how many and with whom these links are made outside the system of interest
without directly interviewing them” (Rogers und Kincaid 1981: 105).
21
4
Schulklassen als soziale Netzwerke
Im Verlauf des folgenden Abschnitts werden die skizzierten Arten der Validierung an zwei Beispielen veranschaulicht. Bei den gewählten Beispieldatensätzen handelt es sich um Netzwerkerhebungen innerhalb von Schulklassen. Das Akteursmerkmal der Zugehörigkeit eines Schülers oder einer Schülerin zu einer Schulklasse ist die Grundlage der Grenzziehung. Zahlreiche netzwerkanalytische Studien untersuchen Schulklassen als komplette soziale Netzwerke, da diese eine ganze Fülle wichtiger Kriterien erfüllen. Insbesondere für die Erhebung von Längsschnittdaten und die Analyse von Selektions- und Beeinflussungsprozessen sind sie von besonderem Interesse, da die Klassenzugehörigkeit nicht auf einer freien Wahl der Schüler basiert, die Gruppe zu einem klar definierten Zeitpunkt gebildet wird und über eine gewisse Stabilität verfügt (Friemel 2008a; Knecht 2008: 36).
4.1 Fallbeispiel Niederlande Der Datensatz umfasst 120 Schulklassen der 1. Jahrgangsstufe an 14 weiterführenden Schulen in den Niederlanden. Insgesamt wurden ca. 3000 Schüler und Schülerinnen zu vier Zeitpunkten mit jeweils drei Monaten Abstand nach ihren Akteursmerkmalen, wie zum Beispiel ihrem Verhalten und ihren Beziehungen zu Mitschülern befragt (Knecht 2006). In unserem Beispiel gehen wir insbesondere auf die Freundschaftsbeziehungen ein.
4.2 Pauschalfragen Die Untersuchung zielt auf die Beziehungen innerhalb der Klassen ab. Um zu überprüfen, inwieweit dieser Fokus gerechtfertigt ist, wurden den Respondenten zwei Pauschalfragen vorgelegt. Es wurde gefragt, wo der Schüler /die Schülerin die meisten Freunde hat und wo die wichtigsten Freunde. Dadurch wird sowohl die Quantität als auch die Qualität von Kontakten berücksichtigt. Als Antwortmöglichkeiten gab es folgende Optionen: in der Klasse, außerhalb der Klasse, aber innerhalb der Schule, außerhalb der Schule und habe keine Freunde. Trotz der Aufforderung, sich auf eine Antwortkategorie zu beschränken, kam es zu einigen Mehrfachnennungen. Tabelle 1 informiert über den Kontext, in dem sich die meisten Freunde finden. A, B, C und D markieren die vier Erhebungswellen. Tabelle 1: Kontext mit den meisten Freunden (Angaben in Prozent, N=2.646-2.855) Kontext Klasse Schule (nicht Klasse) Außerhalb der Schule Keine Freunde Mehrfachnennungen
A 39.4 24.3 30.4 .2 5.7
B 49.1 21.1 25.3 .3 4.1
C 52.5 18.3 23.7 .7 4.8
D 52.7 18.9 26.9 1.2 .4
Die Ergebnisse zeigen, dass die Klasse ein wichtiger sozialer Fokus für diese Altersgruppe ist. Sind es zu Beginn des Schuljahres 39.4% der Befragten, die angeben, dass sie die meis22
ten Freunde innerhalb der Klasse haben, wächst dies auf 52.7% der Befragten gegen Ende des Schuljahres an. Etwa die Hälfte hat die meisten Freunde außerhalb der Klasse. Dort konkurrieren allerdings mehrere Foci miteinander, beispielsweise Nachbarschaft, Sportverein oder andere Treffpunkte. Tabelle 2 bestätigt die Bedeutung der Schulklasse. Die präsentierten Häufigkeiten geben Auskunft über die Kontexte mit den wichtigsten Freunden. Tabelle 2: Kontext mit den wichtigsten Freunden (Angaben in Prozent, N=2.534-2827) Kontext Klasse Schule (nicht Klasse) Außerhalb der Schule Mehrfachnennungen
A 54.4 14.6 25.3 5.8
B 59.3 15.1 25.6 -
C 57.9 13.8 23.7 4.5
D 57.5 14.9 27.4 .2
Es zeigt sich auch hier, dass der Klassenverband eine besondere Rolle als sozialer Kontext spielt. Jeweils deutlich mehr als 50% haben die wichtigsten Freunde dort. Auch hier gibt es jedoch eine hohe Anzahl derjenigen, die diese außerhalb der Klasse haben. Zusammenfassend stellt sich also heraus, dass die Klasse wichtig für Schüler und Schülerinnen ist, aber – wie zu erwarten war – nicht der alleinige Kontext für Freundschaften. Die praktikable Netzwerkgrenze „Schulklasse“ ist zwar ein Stück weit deckungsgleich, aber nicht identisch mit der tatsächlichen Netzwerkgrenze für Freundschaften.
4.3 Komparative Stufe der Validierung Aufgrund der Antworten auf die Pauschalfragen lassen sich nun zwei Gruppen bilden. Eine Gruppe enthält diejenigen, die die wichtigsten Freunde innerhalb der Klasse haben. Hier stimmt die praktikable weitestgehend mit der tatsächlichen Netzwerkabgrenzung überein. Die zweite Gruppe enthält diejenigen, die angeben, dass die wichtigsten Freunde in einem anderen Kontext als der Schulklasse zu finden sind. Die praktikable Netzwerkabgrenzung stimmt nicht mit der tatsächlichen überein. Es stellt sich nun die Frage, ob sich diese Gruppen auch hinsichtlich anderer Merkmale unterscheiden. Die Unterschiede können sich auf relationale Merkmale und Akteursmerkmale beziehen. Die folgenden Ergebnisse beziehen sich lediglich auf den Zeitpunkt der ersten Erhebung. Für den vorliegenden Datensatz aus den Niederlanden wurde das relationale Merkmal „Anzahl der Freunde in der Klasse“ zwischen den beiden Gruppen verglichen. Der T-Test für Mittelwertsvergleiche zeigt, dass es zu allen vier Zeitpunkten signifikante Unterschiede in der Anzahl der Freunde zwischen den beiden Gruppen gibt (mindestens p<.005). Die Gruppe, die angab, ihre wichtigsten Freunde innerhalb der Klasse zu haben, ist, verglichen mit der zweiten Gruppe, mit mehr Mitschülern befreundet. Die Differenz liegt bei moderaten 0.33 Freunden. Unterschiede in Akteursmerkmalen wurden für Geschlecht und Ethnizität analysiert. Die ethnische Zugehörigkeit bestimmt sich durch das Geburtsland der Eltern und der Sprache, die Zuhause am häufigsten verwendet wird. Es finden sich signifikante Gruppenunterschiede (Chi-Quadrat p < .05). Ein fast identischer Anteil an Mädchen (59%) verglichen mit den Jungens (57%) hat die wichtigsten Freunde oder Freundinnen innerhalb der besuch-
23
ten Schulklasse. Mehr niederländische (60%) als nicht-niederländische (48%) Schüler bezeichnen die Klasse als bedeutendsten Kontext für ihre wichtigsten Freundschaften. Kontext mit den wichtigsten Freunden (D)
70%
in der Klasse außerhalb der Klasse
60%
Prozent
50% 40% 30% 20% 10% 0% nie
einmal
2-4
5-10
>10
Abbildung 2: Alkoholkonsum aufgeteilt nach Kontext mit den wichtigsten Freunden Der Vergleich der beiden Gruppen – Personen mit den wichtigsten Freunden innerhalb der Klasse (Kategorie I) und Personen mit den wichtigsten Freunden außerhalb der Klasse (Kategorie II) lässt sich erweitern auf Verhaltens- und Einstellungsmerkmale. Welche dieser Merkmale berücksichtigt werden, sollte in Abstimmung mit der jeweiligen Forschungsthematik festgelegt werden. Beispielhaft werden hier die Unterschiede im Alkoholkonsum, delinquentem Verhalten und in der Einstellung zum Schulverhalten zum Zeitpunkt der vierten Erhebung, also gegen Ende des Schuljahres, untersucht. Ein ähnliches Bild zeichnet sich für delinquentes Verhalten ab. Delinquenz wurde dabei mittels vier Items erhoben: Häufigkeit des Vorkommens von Diebstahl, Vandalismus, Schmierereien und körperliche Auseinandersetzungen in den vergangenen drei Monaten. Aus diesen Items wurde eine Skala gebildet, wobei höhere Werte für ein stärkeres Maß an Delinquenz stehen. Abbildung 3 zeigt, dass mehr Personen der ersten Kategorie auf delinquentes Verhalten verzichten. Dieses Verhalten zeigt sich häufiger bei Personen der zweiten Kategorie, diejenigen mit den wichtigsten Freunden außerhalb der Klasse. Auch dieser Unterschied lässt sich statistisch nachweisen und ist höchst signifikant (p = .000).
24
Kontext mit den wichtigsten Freunden (D)
70%
in der Klasse außerhalb der Klasse
60%
Prozent
50% 40% 30% 20% 10% 0% nie
häufig
Abbildung 3: Delinquentes Verhalten aufgeteilt nach Kontext mit den wichtigsten Freunden Im Gegensatz zu Alkoholkonsum und delinquentem Verhalten ist kein Unterschied zwischen den Personengruppen mit den wichtigsten Freunden innerhalb und außerhalb des Klassenraums bei der Einstellungsvariablen bezüglich Schulverhalten zu erkennen (Abbildung 4).
25
Kontext mit den wichtigsten Freunden (D)
70%
in der Klasse außerhalb der Klasse
60%
Prozent
50% 40% 30% 20% 10% 0% positiv
negativ
Abbildung 4: Einstellung zu Schulverhalten aufgeteilt nach Kontext mit den wichtigsten Freunden Die Einstellung zu Schulverhalten entspricht dabei einer Skala gebildet aus fünf Items. Die Schüler und Schülerinnen wurden nach ihrer Haltung zu den folgenden schulrelevanten Verhalten befragt: Aufmerksamsein im Unterricht, gute Noten erreichen, Hausaufgaben machen, pünktlich zum Unterrichtsbeginn erscheinen und stets den Unterricht besuchen. Niedrige Werte auf der Skala zeigen eine positive Haltung an, wogegen hohe Werte eine ablehnende Haltung repräsentieren. Wie bereits Abbildung 4 graphisch verdeutlicht und wie sich auch statistisch berechnen lässt (p = .735), besteht nahezu kein Unterschied zwischen den Personengruppen. Unser Vergleich zeigt, dass es für manche Merkmale keinen Zusammenhang mit der jeweiligen Bezugsgruppenorientierung gibt.5 Dies ist der Fall bei Geschlecht und bei der Einstellung zu schulbezogenem Verhalten. Hier können unter Umständen die Unterschiede zwischen der Schulklasse als praktikabler Netzwerkgrenze und als tatsächlicher vernachlässigt werden. Bei anderen Merkmalen zeigen sich jedoch Differenzen. Die Anzahl der Freundschaften, Verteilung der Ethnizität, Häufigkeiten des Alkoholkonsums und delinquentes Verhalten variieren zwischen den Gruppen. Für Forschungsgegenstände, die in engem Zusammenhang mit variierenden Variablen stehen, beispielsweise bei der Untersuchung des sozialen Einflusses von Freundschaftsbeziehungen auf die entsprechenden Formen von Verhalten, müssen diese Differenzen bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtig werden. 5
Die Ergebnisse für die Einteilung in Personen mit den meisten Freunden innerhalb und außerhalb der Klasse
wurden nicht berichtet, entsprechen aber den dargestellten Ergebnissen für die Personen mit den wichtigsten Freunden innerhalb und außerhalb der Klasse.
26
4.4 Fallbeispiel Schweiz Das Fallbeispiel aus der Schweiz basiert auf einem Datensatz von 36 Schulklassen mit rund 895 Schülern im Alter von 13-14 bzw. 15-16 Jahren. Die Klassen gehören fünf öffentlichen Schulen an, wobei darauf geachtet wurde, dass sowohl ländliche wie auch städtische Regionen berücksichtigt wurden (Friemel 2008a). Die nachfolgenden Auswertungen beschränken sich auf zwei der vier Panelwellen, welche am Anfang und am Ende eines Schuljahres durchgeführt wurden und ca. 9 Monate auseinander liegen.
4.5 Pauschalfragen Da die Untersuchung davon ausgeht, dass Einstellung und Handeln von Individuen stark durch das Streben nach Konsistenz geprägt sind, wurden die Schüler gebeten, auf einer fünfstufigen Skala zu bewerten, wie wichtig es ihnen ist, mit den verschiedenen Referenzgruppen „gut auszukommen” (1= gar nicht wichtig; 5 = sehr wichtig). Der Mittelwertvergleich in Tabelle 3 zeigt, dass die Unterschiede zwischen den beiden Panelwellen zwar statistisch signifikant sind, die absoluten Veränderungen jedoch eher minimal. Weiter wird deutlich, dass für die untersuchte Altersgruppe zu beiden Zeitpunkten die Kolleginnen und Kollegen außerhalb der Schulklasse wichtiger sind als die Klassenkameraden. Der paarweise Wilcoxon-Test zwischen den Kategorien Klassenkameraden vs. KollegInnen außerhalb der Klasse sowie Klassenkameraden vs. Geschwister weist für beide Befragungszeitpunkte höchst signifikante Unterschiede aus (p<0.001). Der Bezugsgruppe der Schulklasse kommt somit nicht die größte Bedeutung zu, ist im Vergleich mit den übrigen Bezugsgruppen (Geschwister, Eltern, Lehrer) aber dennoch als sehr bedeutsam einzustufen. Tabelle 3: Mittelwerte der Bedeutung von verschiedenen Bezugsgruppen Bezugsgruppe Klasse KollegInnen Geschwister Eltern Lehrer N
Mean W1 4.42 4.66 4.01 4.28 3.34 812-839
SD W1 .82 .64 1.11 .89 1.10
Mean W4 4.32 4.59 4.08 4.20 3.25 718-736
SD W4 .89 .73 1.12 1.01 1.20
Wilcoxon-Test .006 .080 .016 .028 .008
Wie in der Beschreibung des Datensatzes erwähnt wurde, umfasst das Untersuchungssetting zwei verschiedene Altersgruppen. Aufgrund der sich stark verändernden Umfeldorientierung in der Pubertät, erscheint es sinnvoll, die Analyse zusätzlich nach dem Alter zu differenzieren. Dabei zeigt sich, dass für die jüngeren Schüler im Alter zwischen 13 und 14 Jahren keine signifikanten Unterschiede in der Bedeutung von Klasse und KollegInnen außerhalb der Klasse bestehen. Erst in der Altersgruppe der 15-16 Jährigen wird es für die Jugendlichen wichtiger, mit den KollegInnen außerhalb der Schulklasse gut auszukommen als mit Personen aus der Schulklasse. Die Analyse der drei Peergruppen der KlassenkameradInnen, Geschwister und KollegInnen außerhalb der Schulklasse kann nach Schultyp und Geschlecht weiter unterteilt werden, 27
wobei sich zeigt, dass im Alter der 13-14 Jährigen keine signifikanten Unterschiede in der Bedeutung von Klasse und KollegInnen bestehen. Erst in der Altersgruppe der 15-16jährigen wird es für die Jugendlichen wichtiger, mit den KollegInnen außerhalb der Schulklasse gut auszukommen als mit Personen aus der Schulklasse (Tabelle 4). In den meisten Zellen sind zudem signifikante Unterschiede zwischen Klasse und Geschwistern feststellbar und dies ausnahmslos in der Richtung, dass das Verhältnis zur Klasse von größerer Bedeutung ist. Eine detailliertere Analyse, in der neben dem Alter und dem Schultyp auch noch die fünf Schulen unterschieden wurden, zeigte keine Anomalien einzelner Schulen. Die wesentlichen Unterschiede scheinen somit bezüglich der beiden Altersgruppen zu bestehen. Tabelle 4: Signifikante Unterschiede zwischen Referenzgruppen nach Personengruppe und Befragungswelle (Wilcoxon Test) Wilcoxon Alter 13-14 m
15-16
Schulniveau Nicht-Gymnasial Klasse > Geschwister W4*
Gymnasial Klasse > Geschwister W1***, W4**
F
Klasse > Geschwister W1***, W4**
Klasse > Geschwister W1***, W4**
m
Klasse > Geschwister W1* KollegInnen > Klasse W1***, W4*** KollegInnen > Klasse W1***, W4***
Klasse > Geschwister W1***, W4** KollegInnen > Klasse W1***, W4*** Klasse > Geschwister W1* KollegInnen > Klasse W1***, W4***
F
p<0.05, ** p<0.01, *** p<0.001
Abschließend soll noch die bivariate Analyse der Daten Aufschluss darüber liefern, inwiefern die fünf Referenzgruppen in Zusammenhang stehen. Hierfür wird die Pearson Korrelation berechnet, da die erhobenen Daten intervallskaliert sind und die Streuungsdiagramme auf lineare Zusammenhänge hindeuten. Tabelle 5: Zusammenhang der Bedeutung von Bezugsgruppen in W1 und W4 Korrelation (Pearson) NW1 = (809-839) NW4 = (713-735) KollegInnen außerhalb Schule Geschwister Eltern Lehrer *** p<0.001
28
Klassenkameraden .279*** .321*** .204*** .200*** .212*** .234*** .257*** .233***
KollegInnen außerhalb Schule
Geschwister
Eltern
.275*** .352*** .133*** .274*** .130*** .153***
.471*** .579*** .251*** .319***
.455*** .520***
Tabelle 5 zeigt, dass die Bewertung der verschiedenen Bezugsgruppen ausnahmslos positiv und höchst signifikant ist (dargestellt sind jeweils die Werte für W1 und W4). Dies deutet an, dass es Personen gibt, die stärker umfeldorientiert sind als andere. Je wichtiger die Klassenkameraden für eine Person sind, desto wichtiger sind auch die Geschwister, Eltern und Lehrer. Die Substitution einer Bezugsgruppe durch eine andere Gruppe scheint somit nicht die Regel zu sein. Dies ist ein wichtiger Befund für die Überprüfung der Validität der gewählten Netzwerkgrenzen. Personen, welche sich stärker an Personengruppen orientieren, welche in die Untersuchung nicht einbezogen wurden (KollegInnen außerhalb der Schule, Geschwister, Eltern, Lehrer), orientieren sich gleichzeitig auch stark innerhalb der Gruppe. Es kann somit argumentiert werden, dass die relative Bedeutung der verschiedenen Bezugsgruppen relativ stabil zu sein scheint. Auf Einflussprozesse übertragen, bedeutet dies, dass Personen, welche stark von ihrem nichtschulischen Umfeld beeinflusst werden, vermutlich auch stark von ihrem schulischen Umfeld beeinflusst werden. Die Plausibilität dieser Annahme ist direkt abhängig von der Stärke der Korrelation. Bemerkenswert sind hier insbesondere die hohen Werte bei der Korrelation zwischen Geschwistern und Eltern (0.471***) sowie Eltern und Lehrern (0.455***). Der erste Wert verweist auf die Familienorientierung der Jugendlich hin, während die zweite Korrelation auf die Hintergrundvariable der „Erwachsenen” schließen lässt. Weiter kann festgestellt werden, dass die Werte zwischen den beiden Befragungszeitpunkten fast ausnahmslos ansteigen. Dies zeigt, dass die Konsistenz der Bewertung der verschiedenen Bezugsgruppen im Untersuchungszeitraum zunahm.
4.6 Soziometrische Validierung In der Schweizer Studie wurde neben der Pauschalfrage auch eine soziometrische Validierung vorgenommen. Die Beziehungen innerhalb und außerhalb der Schulklasse wurden dabei nicht mit der identischen aber dennoch vergleichbaren Methode erhoben. Bei den Beziehungen innerhalb der Klasse erfolgte eine Listenabfrage, bei der abgefragt wurde, wie häufig man Zeit mit den verschiedenen KlassenkameradInnen verbringt. Dies erfolgte auf einer dreistufigen Skala (nie, gelegentlich, häufig), wobei in den nachfolgenden Analysen nur diejenigen Beziehungen berücksichtigt werden, welche einen „häufigen” Kontakt repräsentieren. Am Anfang des Schuljahres waren dies durchschnittlich 4.28 Personen (SD = 3.62) und am Ende 4.56 (SD = 4.10). Die Beziehungen zu Schülern aus den Parallelklassen wurden mittels einer Auswahlliste erhoben, wobei maximal zehn Personen angegeben werden konnten, mit denen man häufig Kontakt hat. Die durchschnittliche Anzahl lag hierbei deutlich tiefer (M1 = 2.09; SD1 = 2.70 bzw. M2 = 2.94; SD2 = 3.36), was die Validität der Schulklasse als Netzwerkgrenze stützt. Der Vergleich der Mittelwerte ist eine starke Vereinfachung, weshalb in einem weiteren Schritt für jede Personen einzeln geprüft wird, ob ihr sozialer Fokus in der eigenen Schulklasse liegt, mehr Beziehungen zu Schülern aus anderen Klassen bestehen oder beide Bezugsgruppen gleich wichtig sind (~). Die Befunde werden für die fünf Schulen (A-E) und die beiden Altersgruppen (14 und 16) einzeln ausgewiesen (Tabelle 6). Die Befunde zeigen, dass die Foci in den meisten Fällen innerhalb der Klassen liegen. Entgegen den Befunden aus der Pauschalfrage lässt sich der deutliche Altersunterschied hier nicht replizieren. Vielmehr scheint es in der ersten Welle einen Stadt-Land-Unterschied zu geben. 29
Während die Stadtschulen (B-E) alle einen deutlichen Klassenfokus aufweisen, orientieren sich die Schüler der Landschule A eher an den SchülerInnen aus den Parallelklassen. Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen ist beim Schulweg zu suchen. Aufgrund der ländlichen Geografie des Kantons sind die Schüler auf ein paar wenige Transportmittel (insb. Autobusse) angewiesen, deren Fahrplan auf den Stundenplan der Schule abgestimmt ist. Es ist deshalb anzunehmen, dass die Verbindungen über die Klassengrenzen hinweg insbesondere durch die geografische Nähe des Wohnorts moderiert werden. Einen wesentlichen Einfluss scheint auch der gemeinsame Unterricht mehrerer Klassen zu haben. In den meisten Schulen erfolgt der Sportunterricht geschlechtergetrennt, wobei jeweils Knaben und Mädchen mehrerer Parallelklassen gemeinsam unterrichtet werden. Ähnlich verhält es sich an den meisten Schulen mit Freifächern wie z.B. Italienisch und Latein. Einzig in der Schule E erfolgt keinerlei klassenübergreifender Unterricht. Dies widerspiegelt sich auch in der geringen Vernetzung über die Klassengrenzen hinweg (E16). Im Zeitverlauf ist tendenziell eine Verschiebung des Fokus von der Klasse hin zu der Schule feststellbar, wobei die Schule (mit der oben erwähnten Ausnahme) nie zum dominierenden Fokus wird. Vielmehr scheint sich ein Gleichgewicht zwischen der Bedeutung der Klasse und der Schule einzustellen. Tabelle 6: Bezugsgruppen Fokus gemäß soziometrischer Erhebung
Zeilen % A14 A16 B14 B16 C16 D16 E16
5
Klasse 21.4 50.8 82.5 69.2 67.0 61.8 84.8
Fokus W1 ~ 14.3 16.4 12.3 23.1 18.8 20.2 10.6
Schule 64.3 32.8 5.3 7.7 14.1 17.9 4.5
Klasse 17.1 53.1 50.9 57.7 58.1 57.2 66.7
Fokus W4 ~ 15.7 15.3 32.5 34.6 19.4 26.6 31.8
Schule 67.1 31.6 16.7 7.7 22.5 16.2 1.5
Zusammenfassung und Fazit
Der erste Teil dieses Beitrages befasste sich mit der Relevanz von Netzwerkgrenzen und der Aufarbeitung der theoretischen und empirischen Forschung hierzu. Die begriffliche Unterscheidung zwischen tatsächlichen und praktikablen Netzwerken brachte zum Ausdruck, dass es bezüglich der Grenzziehung einer Validierung bedarf, die jedoch bislang wenig beachtet wurde. Das vorgeschlagene Validierungskonzept umfasst zwei Stufen. In einem ersten Schritt wird geprüft, inwiefern sich das praktizierte Primärnetzwerk von dem Sekundärnetzwerk unterscheidet bzw. welche Bedeutung dem Sekundärnetzwerk zukommt. Der Begriff des Primärnetzwerks bezeichnet dabei dasjenige Netzwerk, auf dem das Hauptaugenmerk der Untersuchung liegt. Das Sekundärnetzwerk umfasst demgegenüber ein weiter gefasstes Netzwerk, wobei dieses zusätzliche Akteure, Akteursmerkmale und Verbindungen beinhalten kann. Das Sekundärnetzwerk bzw. dessen Bedeutung lässt sich entweder mittels einer erweiterten soziometrischen Erhebung oder aber mit Pauschalfragen
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ermitteln. In Anlehnung an Laumann et al. (1983) werden die dabei erhobenen Sekundärnetzwerke entweder als nominalistisch oder realistisch bezeichnet. Die beiden Fallbeispiele aus der Schweiz und den Niederlanden veranschaulichten beide Varianten. Dabei konnte festgestellt werden, dass die Schulklasse für Jugendliche im untersuchten Alter zwar eine sehr bedeutende Bezugsgruppe darstellt, allerdings erwartungsgemäß nicht die einzige ist. Dies macht eine nähere Betrachtung notwendig. Es konnte gezeigt werden, dass die Bedeutung nicht stabil ist und sich im Zeitverlauf ändern kann. Weiterhin zeigte sich, dass die Relevanz der Schulklasse als sozialer Kontext durch weitere Variablen wie Alter, Geschlecht, klassenübergreifender Unterricht und Urbanität bzw. dem daraus resultierenden Schulweg beeinflusst wird. Die Analyse der bivariaten Zusammenhänge zwischen der Bedeutung unterschiedlicher Bezugsgruppen (Schweizer Setting) zeigte zudem deutlich, dass die Bedeutung der verschiedenen Bezugsgruppen stark miteinander korreliert. Schüler, welche sich stark an ihren Mitschülern orientieren, weisen auch eine größere Bezugsgruppenorientierung gegenüber KollegInnen außerhalb der Schulklasse und gegenüber Geschwistern auf. Es kann deshalb argumentiert werden, dass die Nichtbeachtung des außerschulischen Kontexts im vorliegenden Setting zu keiner systematischen Verzerrung der Ergebnisse führt, da die relative Relevanz des untersuchten bzw. nichtuntersuchten Kontexts für die Schüler eines Alters- und Schultypus identisch ist. Das Validierungskonzept sieht eine zweite Stufe vor, welche auf der ersten Stufe aufbaut. Diese wird als komparative Stufe bezeichnet, wobei geprüft wird, ob sich Akteure mit unterschiedlicher Bezugsgruppenorientierung bezüglich der inhaltlichen Befunde systematisch unterschieden. Das Fallbeispiel aus den Niederlanden zeigte hier, dass es unter Umständen keine Unterschiede zwischen den Akteuren unterschiedlicher Bezugsgruppenorientierung gibt, beispielsweise beim Geschlecht und der Einstellung der Schüler und Schülerinnen zu schulbezogenem Verhalten. Dies wäre ein Hinweis, dass diese Merkmale unproblematisch bezüglich unserer gewählten Netzwerkgrenze sind. Eine mögliche Erklärung für den fehlenden Unterschied bei der Einstellung zu Schulverhalten liegt möglicherweise daran, dass es sich dabei um ein Merkmal handelt, dass weniger durch sozialen Einfluss geprägt ist, sondern wesentlich von den individuellen Schulerfahrungen und dem Einfluss der Eltern. Für das relationale Merkmal (Outdegree) und die anderen Akteursmerkmalen (Ethnizität, Alkoholkonsum, Delinquenz) wurden Unterschiede gefunden. Inhaltlich lassen sich diese Ergebnisse für die Häufigkeit des Alkoholkonsums und des delinquenten Verhaltens der Schüler und Schülerinnen auf die besondere Bedeutung der Freundschaftsbeziehungen außerhalb der Klasse beziehen. Die gefundenen Unterschiede sprechen nicht für die Validität der Grenzziehung. Dies bedeutet, dass offensichtlich eine Diskrepanz zwischen praktikablem und tatsächlichem Netzwerk vorliegt. Diese Unterschiede sollten in der weiteren Analyse und in der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden, insbesondere, wenn die Inhalte der Forschungsfragen damit verbunden sind. Wie einleitend erwähnt, lässt sich die Problematik der Grenzziehung bei sozialen Netzwerken und deren Validierung nicht abschließend lösen. Es ist lediglich ein bewussterer Umgang mit den potentiellen Fehlinterpretationen möglich. Das vorgeschlagene Validierungskonzept kann somit lediglich einige Anhaltspunkte zur Bewertung eines Untersuchungssettings bieten. Neben der Anwendung des hier skizzierten Instrumentariums auf weitere Anwendungsgebiete, besteht aber weiterhin ein theoretischer wie auch methodischer Entwicklungsbedarf. Dabei gilt es insbesondere die Methoden zur Erhebung der Sekundärnetzwerke
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zu testen und weiter zu entwickeln. Im Weiteren bedarf es einer kritischen Prüfung, inwiefern dieses Validierungskonzept auch für two-mode Netzwerke anwendbar ist. 6
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Die räumlichen Grenzen persönlicher Netzwerke Jan Mewes
1
Einleitung
In der Pionierzeit der soziologischen Netzwerkforschung war der Untersuchungsschwerpunkt auf communities im traditionellen Sinn gerichtet. Der empirische Fokus lag dementsprechend auf nahräumliche Verwandtschafts- und Nachbarschaftsverhältnisse (z.B. Barnes 1954; Bott 1957). Mit der zentralen konzeptuellen Weichenstellung, nicht mehr ausschließlich abgegrenzte soziale Einheiten wie Schulklassen, Dörfer oder Organisationen zu untersuchen, sondern vielmehr personal communities1 ohne räumlich präjudizierte Grenzen in den Blickpunkt der Netzwerkforschung zu rücken (Wellman 1979; 1982), gewann die Soziologie zunehmend Überblick über Formen sozialer Integration abseits von nahräumlichen Interaktionszusammenhängen. Gleichwohl lässt sich aber auch im Bereich der Netzwerkforschung die der Soziologie attestierte „Raumvergessenheit“ (Schroer 2006: 17) ausmachen. Insbesondere das Verhältnis von räumlicher Nähe und Distanz innerhalb persönlicher Netzwerke blieb sowohl aus theoretischer wie auch aus empirischer Perspektive weitgehend ungeklärt. Dieser Leerstelle nimmt sich der vorliegende Beitrag aus einer empirischen Perspektive an. Die theoretische Blickrichtung entfaltet sich dabei zunächst aus eher allgemeinen Thesen der Literatur sozialer Netzwerke. Des Weiteren betrachte ich das Phänomen fernräumlicher Sozialbeziehungen auch aus einer Perspektive der ‚Transnationalisierung von unten’ (vgl. Smith/Guarnizo 1998; Mau 2007; Mau/Mewes 2007): Meinen Untersuchungsgegenstand bilden in diesem Zusammenhang nationalstaatliche Grenzen überschreitende persönliche Beziehungen. Dabei werde ich der Aufforderung zu einem methodologischen Kosmopolitismus’ (Wimmer/Glick-Schiller 2002; Beck/Sznaider 2006) folgen, und zunächst weniger das besondere Moment der Überschreitung nationalstaatlicher Grenzen in den Vordergrund der Betrachtung rücken, als vielmehr transnationale Beziehungen als nur einen von verschiedenen denkbaren Typen fernräumlicher Sozialbeziehungen betrachten.2
1
Im Hinblick auf die Bezeichnung informeller Netzwerke hat sich besonders in der angelsächsischen Fachliteratur
der Begriff der personal community etabliert (siehe Wellman 1982; Wellman et al. 1988; Pahl/Spencer 2004). Da die Verwendung dieses Begriffs aus forschungslogischer Hinsicht Vorteile verspricht, werde ich im Folgenden von ‚persönlichen Netzwerken’ sprechen, darauf hoffend, dass sich auch im deutschen Sprachraum ein zum Englischen analoger Begriff durchsetzen wird (vgl. auch FN 4) 2
Mir ist bewusst, dass die Kategorie ‚transnationale Beziehungen’ nur eine grobe Annäherung an Fernbeziehun-
gen sein kann, da Beziehungen innerhalb nationaler Grenzen zuweilen größere Distanzen überbrücken als solche, die eine Brücke zwischen Individuen unterschiedlicher staatlicher Herkunft schlagen (z.B. München-Flensburg vs. Aachen-Maastricht). Des Weiteren verwischt das bloße Moment der Grenzüberquerung einer Beziehung die Tatsache, dass es räumlich betrachtet eine große Rolle spielt, ob ich als Deutscher eine Bindung zu einer Person in den Niederlanden oder aber in Indien aufbaue und pflege.
Anhand von in Deutschland erhobenen Bevölkerungsdaten (Familiensurvey 2000; Survey Transnationalisierung 2006) werde ich zeigen, wie weit sich persönliche Netzwerke3 räumlich ausdehnen und wie bedeutsam fernräumliche Beziehungen im Kontext ‚vollständiger’ ego-zentrierter Netzwerke sind. Überdies werde ich der Frage nachgehen, inwieweit die räumliche Dispersität dieser Netzwerke durch die Schichtindikatoren ‚Bildung’ und ‚sozioökonomischer Status’ beeinflusst wird. Zunächst werde ich jedoch erörtern, welche Rolle dem Raum in der soziologischen Netzwerkforschung zugebilligt wird. 2
Theoretische Diskussion
2.1 Soziale Netzwerke: Ortsmonogam oder ortspolygam? Empirische Studien über persönliche Netzwerke haben sich in der Vergangenheit oft – implizit oder explizit – als Antwort auf die Community Lost-These verstanden (z.B. Wellman 1979; Diewald 1991). Im Kern sollten die Ergebnisse der betreffenden Arbeiten Aufschluss darüber geben, ob die These der zunehmenden Aushöhlung menschlicher Solidarität als Konsequenz von Modernisierungsprozessen gerechtfertigt ist. Die Raumdimension galt in der Soziologie als zu vernachlässigende Größe, solange Gemeinschaft als lokale, dichte und in sich geschlossene Einheit von mehreren Individuen verstanden wurde. Diese, von theoretischer Seite aus präjudizierte, Verankerung des Sozialen im Lokalen geht vor allem auf die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft von Tönnies (2001 [1935]) zurück. „Während Gemeinschaft [in der Tönnies’schen Lesart, J.M.] als ursprüngliche Form des Sozialen gilt, die auf affektive Nähe beruht, wird Gesellschaft als Verfallsform eingestuft, in der Zweckrationalität, Anonymität, Indifferenz, Distanzierung und Entfremdung vorherrschen. Gemeinschaft strahlt Wärme aus, Gesellschaft Kälte.“ (Schroer 2006: 26) Derart pessimistischen, auf einen nicht durch andere Beziehungstypen kompensierten Bedeutungsverlust nahräumlicher Bindungen bezogenen Zukunftsprognosen (siehe z. B. auch Putnam 2000) erwuchs jedoch in jüngerer Vergangenheit starke Kritik. Der behauptete Verlust von Gemeinschaft spiegele lediglich den sozialen Wandel in Bezug auf die zeitgenössischen Formen der Gesellung wider, so der Gegentenor (z. B. Spencer/Pahl 2006). Die Debatte entzündete sich vor allem an der Frage, ob der vermeintlichen ‚Erosion’ traditioneller Bindungen neue Formen des Bindungskapitals gegenüber getreten 3
Mit persönlichen Netzwerken meine ich im Folgenden ego-zentrierte Netzwerke persönlicher Beziehungen,
wobei ich mich auf Wellmans Definition ego-zentrierter Netzwerke berufe: “An ego-centered network is like a planetary system in which a host of network members surrounds a focal person. Membership in such a network is defined by the ties of interest that each has with the focal person, be they relations of kinship, social closeness, or frequent contact.” (Wellman/Potter 1999: 52). Mit dem Begriff ‚persönliche Beziehung’ meine ich wiederum einen zwischen zwei Individuen periodisch oder unregelmäßig wiederkehrenden ‚Interaktionszusammenhang’ (Kieserling 1999), wobei die Inhalte sowie die situationalen Kontexte der Kommunikationen nicht (ausschließlich) durch die Mitgliedschaft in einer Organisation bestimmt werden. Persönliche Beziehungen können in Anschluss an Parsons als diffuse, auf ‚ganze Personen’ gerichtete Beziehungen, in denen das Beziehungshandeln sich nicht an Rollenvorgaben bemisst, verstanden werden. Kennzeichnend für solcherlei Beziehungen ist, dass in ihnen „prinzipiell alles thematisierbar“ ist (Wagner 2004: 155).
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seien, oder ob der moderne Mensch den Weg zum individualisierten Einzelgänger angetreten habe.4 Die Intensität, mit der diese Debatte geführt wurde, spiegelt sich meines Erachtens auch stark in dem Instrumentarium der quantitativen Netzwerkforschung wider. Sowohl die verwendeten Namensgeneratoren als auch die Informationen über die genannten Alteri beantworten fast immer die Frage, welche konkreten, traditionell durch die Familie erbrachten Unterstützungsleistungen (Geld verleihen, konkret-pragmatische Hilfe im Krankheitsfall, starke emotionale Gebundenheit etc.) durch welchen Typ von persönlichen Beziehungen (Verwandte vs. Nicht-Verwandte) erbracht werden. Aufgrund dieses fast schon als klassisch zu bezeichnenden methodischen Zugriffs auf persönliche Netzwerkstrukturen weist die soziologische Netzwerkforschung ein klares Defizit im Hinblick auf die Erforschung räumlicher Strukturmuster von Beziehungsgefügen auf. So lassen sich eine Vielzahl der abgefragten Leistungen nämlich nur ‚vor Ort’ erbringen, ganz gleich, ob es sich dabei um die Pflege im Krankheitsfall, das persönliche Gespräch unter vier Augen oder um das Hüten von eigenen oder fremden Kindern geht. Im Fazit zeigen sich die Standardinstrumente zur Erhebung von persönlichen Beziehungen (z.B. Wellman 1979; Fischer 1982; Burt 1984) zwar als robust und zuverlässig, doch sind die so erhobenen Netzwerke eher klein und aufgrund ihres Fokus’ auf recht vertrauensvolle und intime strong ties räumlich recht konzentriert (vorausgesetzt, die Entfernung zu den Alteri wird überhaupt erhoben, was in vielen Fällen jedoch unterlassen wird). Gleichzeitig sehen einige Globalisierungsforscher die Menschheit in der Entstehung einer globalen ‚Netzwerkgesellschaft’ (Castells 2000) begriffen und beschwören den ‚Death of Distance’ (Cairncross 1997). Die Möglichkeit der Erreichbarkeit aller von allen ist heute, bis auf wenige Ausnahmen, jedenfalls bereits gegeben, wodurch die Weltgesellschaft in der Terminologie der Systemtheorie Luhmanns bereits realisiert ist (Stichweh 2000). Es ist jedoch Aufgabe der soziologischen Netzwerkforschung zu zeigen, inwieweit reale persönliche Netzwerke den sich bietenden Raum tatsächlich für sich vereinnahmen. Einen ersten Eindruck hiervon vermittelt die Small-World-Forschung: So konnten zunächst Milgram (1967) und darauf aufbauend Watts (2003) zeigen, dass es im Median nur 5 bis 7 Zwischenschritte bedarf, um einen Kontakt zwischen zwei beliebigen Individuen herzustellen, ganz gleich, wo auf der Welt diese sich befinden. Auf den ersten Blick impliziert dieser Befund ein gleichmäßiges, über alle Teile der Weltbevölkerung recht dicht verknüpftes Netz interpersonaler Beziehungen. Doch bei genauerer Betrachtung mutet das Ergebnis weniger erstaunlich an: „Mit durchschnittlich hundert Bekannten pro Person käme man bereits im zweiten [Zwischen-]Schritt auf zehntausend Bekannte von Bekannten; spätestens nach fünf Stationen hätte man einen Kontaktpool, der größer wäre als die Erdbevölkerung“ (Holzer 2005: 316; 2006).5 In diesem Lichte erscheinen die sprichwörtlichen six 4
Übersehen wird jedoch häufig, dass auch die Familie entgegen pessimistischer Prognosen immer noch als Dreh-
und Angelpunkt für das Leben abseits der Mitgliedschaft in formalen Organisationen gilt (Huinink 1995). 5
Diese Simulation unterschätzt freilich den hohen Grad von Redundanz, den personale Netzwerke mit Blick auf
den möglichen Fluss von Informationen mit sich bringen. Insbesondere informelle soziale Netzwerke weisen in der Regel einen hohen Dichtegrad auf, d.h. die Mehrzahl der genannten Alteri in ego-zentrierten Netzwerken ist nicht nur mit Ego, sondern auch untereinander bekannt. In dichten Netzwerken ist es daher eher unwahrscheinlich, dass die mit Ego gut befreundete Person A Neuigkeiten zu erzählen hat, welche Ego nicht schon durch die sowohl mit Ego als auch mit A gut bekannte Person B geläufig ist. Bestes Beispiel dürfte hierfür auch der berühmtberüchtigte Klatsch in kleinen Gemeinden und Dörfern sein. Geht es in dichten Netzwerken um Kontakte in die
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degrees of separation dann sogar als verhältnismäßig viel, um eine Information von Person A zu einer beliebigen Person B weiterzubefördern. Gemeinsam mit Stichweh (2004: 5f.) ist daher zu vermuten, dass reale soziale Netzwerke ähnlich konfiguriert sind wie die Modelle der so genannten scale-free networks. Übertragen auf das Beispiel interpersonaler Netzwerke hieße das: nur wenige zentrale Personen stehen in Kontakt zu sehr vielen und räumlich weit entfernten Personen, während die Mehrheit der Individuen in räumlich konzentrierte ‚Cliquen’ eingebettet ist. Die Minderheit der eher zentralen Knoten fungiert dann als gatekeeper, stellt mithin das Bindeglied zu weiteren Clustern von Beziehungen dar. Die Realisierung eines Kontakts über Zwischenschritte ist somit nur durch die Aktivierung immer derselben ‚Stars’ innerhalb von Netzwerkstrukturen möglich. Die Small World Forschung kann jedoch nur einen Eindruck von der Erreichbarkeit in Netzwerken vermitteln. Inwieweit die sich bietenden Beziehungspotenziale tatsächlich ausgeschöpft werden, ist hingegen kaum erforscht. So begründet sich die These der zunehmenden weltweiten Interkonnektivität in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand sozialer Netzwerke also weniger auf vorhandenem empirischem Datenmaterial als vielmehr auf der Betrachtung der sich zugunsten von Fernbeziehungen verändernden Kontaktopportunitäten sowie auf die verbesserten und kostengünstigeren Möglichkeiten der Pflege von auf Distanz geführten Beziehungen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich mit der Entwicklung moderner Kommunikationsmedien – hier sei vor allem das Internet genannt – ganz neue Chancen der Herausbildung interpersonaler Beziehungen ergeben haben. Aus der Freundschaftsforschung ist bekannt, dass Personen vor allem solche Alteri als Adressaten freundschaftlicher Gefühle in Betracht ziehen, die ihnen selber ähnlich sind. Wie auch immer - ‚Gleichgesinnte’ lassen sich heute schnell in den verschiedensten Diskussionsforen, Online-Spielewelten und Chats kennen lernen (siehe z.B. Matzat 2004). Ebenso sinken auch die Barrieren der physischen Mobilität: Ganz gleich ob es im eigenen Auto oder per Ticket für Bahn, Bus, Schiff oder Flugzeug ist, seit den 1960er Jahren haben sich sowohl die Zahl der Transportwege als auch die Transportkosten stark zugunsten der Reisenden entwickelt (Axhausen 2007; Mok/Wellman 2007). Vor allem aus individualisierungstheoretischer Perspektive wäre daher von einer zunehmenden räumlichen Auffächerung sozialer Beziehungen auszugehen: „Da nicht mehr hauptsächlich der Ort sozialisiert, sondern zunehmend die Interessen, führt dies zu einer Ausweitung der Möglichkeitsräume“ (Ohnmacht et al. 2008: 158). Der bisweilen geäußerten Befürchtung, dass dieses Überangebot von Kontaktmöglichkeiten womöglich zu einem Verlust von lokalem oder überhaupt von außerhalb virtueller Welten existierendem Sozialkapital führe, konnten einschlägige empirische Studien (z. B. Boase et al. 2006) jedoch den Befund entgegen halten, dass fernräumliche Beziehungen bestehende nahräumliche Beziehungen weniger ersetzen, als dass sie diese ergänzen.6
Welt außerhalb des Netzwerks, so erweisen sich die weak ties daher als besonders bedeutsam (Granovetter 1973; Burt 1992). Eine ähnlich wichtige Rolle dürften die weak ties in den Small World Experimenten gespielt haben. 6
Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Menschen auch schon vor dem Zeitalter des Internets nur einen
kleinen Ausschnitt ihrer sozialen Beziehungen aus ihrem geographischen Nahfeld rekrutierten. So zeigt eine retrospektiv angelegte Studie von Mok und Wellman (2007), dass die Personen der untersuchten kanadischen Stichprobe bereits in den 1970er Jahren über zahlreiche Fernkontakte verfügten. Im Unterschied zu heute zeichneten sich diese Kontakte jedoch durch eine seltenere Aktualisierung aus, d.h. medial vermittelter Kontakt zu in der Ferne lebenden Bekannten und Verwandten findet heute offenbar häufiger statt.
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2.2 Soziale Ungleichheit und Netzwerkgeographien Die Frage, wie und auf welche Distanz die Menschen ihre persönlichen Netzwerke aufbauen und pflegen, hängt zunächst von den individuellen Dispositionen der interessierenden Personen ab. Vor allem im Hinblick auf nicht-verwandtschaftliche Beziehungen ergeben sich für die Individuen unzählige Möglichkeiten der Gesellung. Ob und wenn ja, mit wie vielen Anderen sich jemand außerhalb der Arbeitszeit umgibt, ist mithin zu einem großen Teil persönlichen Interessen der fokalen Personen geschuldet. Daher ist es nicht verwunderlich, dass z.B. die Freundschaftsforschung ein Hauptstandbein in der Disziplin der (Sozial)Psychologie hat. Ebenso hat sich die Sozialpsychologie der Aufgabe verschrieben, zu erklären, warum manche Personen bestimmte Individuen als mögliche Freundinnen bzw. Freunde in Betracht ziehen, während andere Personen als nicht attraktiv für eine solche Beziehung empfunden werden (z. B. Fehr 1996). Gleichwohl sind soziale Netzwerke aber auch immer ein Produkt der sich darbietenden Gelegenheitsstrukturen persönlicher Beziehungen. Konkret bedeutet das: die soziostrukturelle Lage der Individuen strukturiert Handlungssituationen und -optionen, in deren Kontext sich erst die Chancen zur Gesellung mit bestimmten Personen bieten. Mit den Bedingungen der Entfaltung persönlicher Beziehungen geraten die Entstehungszusammenhänge interpersonaler Beziehungen ins Visier. Bedeutsame Entstehungskonzepte persönlicher Beziehungen stellen meines Erachtens 1) Verwandtschaft, 2) bereits bestehende Beziehungen (Transitivitätsprinzip sozialer Beziehungen) und 3) Foci (im Sinne von Feld 1981) dar. Ad 1) Die ‚latenten’ Verwandtschaftsstrukturen sind über alle sozialen Schichten hinweg gleich: Jede und jeder ist mit irgendjemandem verwandt, ob den Individuen dieser Fakt ausreicht, um die gegebenen latenten Beziehungsstrukturen in manifeste Bindungen umzuwandeln – Kontakte, die zumindest auf unregelmäßiger Aktualisierung beruhen –, steht dagegen auf einem ganz anderen Blatt. Nach Allan (1979) ist zum Beispiel davon auszugehen, dass Verwandte in den Netzwerken der niedrig Gebildeten einen dominanteren Part einnehmen als in den Reihen Personen mit höheren Bildungsabschlüssen. Ad 2) Das in der Netzwerkforschung mit regem Interesse diskutierte Prinzip der ‚Transitivität’ besagt, dass in einer Situation, in der A sowohl mit B als auch mit C befreundet ist, die Chance steigt, dass auch B und C sich kennen lernen und Freundschaft miteinander schließen (z.B. Louch 2000; Kossinets/Watts 2006). In diesem Zusammenhang gehe ich von einem indirekten Schichteinfluss auf den Mechanismus der Transitivität aus, dergestalt, dass die Zugehörigkeit zu höheren sozialen Schichten als Katalysator für residentielle Mobilität in Erscheinung tritt. Hierbei ist insbesondere in Rechnung zu stellen, dass Bildung einen positiven Effekt auf Umzugsmobilität aufweist (Wagner 1989). Hochwertige Bildungsabschlüsse legitimieren der Migrationstheorie von Hoffmann-Nowotny (1970) zufolge höhere Ansprüche auf die Verfügbarkeit begehrter und knapper sozialer Ressourcen. Um diesen Ansprüchen Genüge leisten zu können, so die Annahme, sind die höher Gebildeten eher bereit, ihren Wohnort zu wechseln. Unter der Voraussetzung, dass am alten Wohnort bestehende Beziehungen nicht gleich aufgekündigt werden, sobald Ego an einen neuen Ort zieht, vermehrt sich damit die Anzahl der fernräumlichen Beziehungen innerhalb von Egos Netzwerk. Da ein vergleichsweise hoher Anteil der Netzwerkpartner nach dem Abschluss der Sekundarstufe den Wohnort wechselt und diese Beziehungen (vorerst) oftmals aufrechterhalten werden, vergrößert sich gleichzeitig auch die räumliche
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Spannweite der Netzwerke auf Seiten der höher Gebildeten, die selbst nicht umzugsmobil sind. Ad 3) Bildung und sozioökonomischer Status strukturieren die Teilhabe an ‚Foci’ (Feld 1981). „A focus is defined as a social, psychological, legal, or physical entity around which joint activities are organized […] As a consequence of interaction associated with their joint activities, individuals whose activities are organized around the same focus will tend to become interpersonally tied and form a cluster” (Feld 1981: 1016). Ich greife an dieser Stelle auf den Vorschlag von Hirschle (2007) zurück und unterscheide zwischen ‚offenen’ und ‚geschlossenen Foci’. Als geschlossen können all solche Foci bezeichnet werden, vor deren Hintergrund die mit Anderen geteilten und gemeinsam ausgeübten Aktivitäten mehr oder minder streng am proklamierten Ziel ausgerichtet sind. Beispiele hierfür finden sich in den Aktivitäten im Rahmen von Schule und Arbeitsstätte; aber auch Sportvereine und Theater-AGs sind Kontexte, in denen die durch den Fokus verbundenen Individuen einem bestimmten Ziel nachgehen. Demgegenüber wird davon ausgegangen, dass das Verfolgen gemeinsamer Ziele im Kontext offener Foci, wie etwa Diskotheken oder Gaststätten, keine besondere Rolle spielt. Sowohl aus netzwerk- als auch aus ungleichheitssoziologischer Perspektive kommt den geschlossenen Foci eine besondere Rolle im Entstehungsprozess persönlicher Beziehungen zu. Zum einen, weil sie in besonderem Maße die Entstehung von persönlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten fördern (auch aufgrund der sich immer wiederholenden Interaktion mit denselben Personen)7, zum anderen, weil der Eintritt in sie ressourcenabhängig ist. Der nur für eine exklusive Gruppe (AbiturientInnen, Personen mit Fachhochschulreife) zugängliche tertiäre Bildungssektor, mit seinem deutlichen Fokus auf die Bedeutung von Mobilität und Auslandserfahrung, kann in dieser Lesart als besonders prägend für die Etablierung eines mobilen Lebensstils und, damit verbunden, eines in Bezug auf fernräumliche Beziehungen sensibilisierten Gesellungsstils verstanden werden. Des Weiteren steht zu vermuten, dass nicht nur der Zugriff auf die Quellen persönlicher Beziehungen eine schichtspezifische Dynamik aufweist, sondern auch die Chancen der Pflege bereits vorhandener Beziehungen davon abhängig sind, welche kulturellen und insbesondere ökonomischen Ressourcen die Individuen in die Waagschale legen können. Unter dem Stichwort motility haben Kaufmann et al. (2004) auf das Phänomen aufmerksam gemacht, dass es zentrale, sich entlang sozialstruktureller Kriterien orientierende Ungleichheiten in Bezug auf die Opportunitäten von Mobilität jedwerter Art gibt. Während die Kosten der Kommunikation unter Abwesenheit dramatisch gesunken sind (insbesondere die der internetbasierten Kommunikationsformen wie Email oder Voice-over-IP, kurz: VoIP), stellen die Kosten der physischen Mobilität oft immer noch eine hohe Hürde für die Mit-
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So ist aus der Sozialpsychologie bekannt, dass die fortwährende Interaktion zwischen zwei Individuen die Ent-
stehung wechselseitiger Sympathie begünstigt, unabhängig von deren persönlichen Vorlieben und Eigenheiten (Insko/Wilson 1977). Mehr noch: Der von Zajonc (1968; siehe auch Baker 1983; Bornstein 1989; Rhodes et al. 2001) in die Fachliteratur eingeführte mere exposure-Effekt verweist darauf, dass „allein die mehrmalige Kopräsenz zweier Personen (ohne Interaktion) im gleichen Kontext zu einer Steigerung gegenseitiger Beurteilungen im Hinblick auf Attraktivität führt“ (vgl. auch Esser 2000: 273; Hirschle 2007: 93).
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glieder einkommensschwacher Haushalte dar.8 Sei es das fehlende Geld für ein Automobil bzw. einen Führerschein, seien es unerschwingliche Tickets für die Bahnreise zu weit entfernt lebenden Freunden: Das Mobilitätskapital, eben die motility, stellt sich für die unteren sozialen Schichten diesbezüglich als vergleichsweise limitiert dar. Auch wenn das so genannte ‚Digitale Zeitalter’ vielfältige Möglichkeiten der Kommunikation unter Abwesenheit ermöglicht: Ganz ohne, zumindest gelegentliche, leibhaftige Begegnungen scheinen persönliche Beziehungen über längere Zeit nicht zu überleben (Urry 2003; 2007). Mit Blick auf die Ausgangsfrage nach sozial differenzierten Netzwerkgeographien lässt sich im Fazit folgende Arbeitshypothese formulieren: Je höher das Bildungsniveau und je höher der berufliche Status, desto größer ist die räumliche Spannweite ego-zentrierter persönlicher Netzwerke. 3
Empirischer Abschnitt
3.1 Feldzugang und Daten Um die These der sozial differenzierten Netzwerkgeographien empirisch überprüfen zu können, greife ich zunächst auf Daten des Familiensurvey 2000 zurück. Hierbei handelt es sich um die dritte Welle einer Umfrage in der deutschen Wohnbevölkerung innerhalb der alten Bundesländer (N=8000). Der Vorteil dieser Studie ist das umfangreiche Netzwerkmodul, in dem bis zu 20 Alteri mit Hilfe von Namensgeneratoren erhoben wurden. 9 Somit kann ein recht umfassendes Bild der räumlichen Struktur persönlicher Netzwerke gezeichnet werden. Gleichwohl sind die Angaben in Bezug auf den Wohnort der Alteri im Familiensurvey 2000 nicht besonders aussagekräftig, da die diesbezügliche Maximalkategorie „wohnt eine Stunde oder weiter entfernt“ lautet. Daher berücksichtige ich in einem zweiten Schritt die Daten des Survey Transnationalisierung 2006. Dabei handelt es sich um eine Befragung von in Deutschland lebenden deutschen Staatsbürgern ab 16 Jahren mit telefonischem Festnetzanschluss (N=2700). Im Netzwerkmodul wurden insbesondere Kontakte zu im Ausland lebenden Personen erhoben, wobei für die Kategorien Verwandte, Bekannte und Deutsche im Ausland je eine eigene Itembatterie eingeschaltet war, in der jeweils bis zu vier Personen benannt werden konnten. 8
Gleichwohl zeigt Axhausen (2007), dass sich die Kosten der pyhsischen Mobilität seit den 1960er Jahren deut-
lich zugunsten der Reisenden entwickelt haben. Klar ist aber auch, dass die finanzstärkeren Gruppen stärker von dieser Entwicklung profitieren konnten. 9
Für meine Analysen der Daten des Familiensurvey habe ich ausschließlich solche Beziehungen berücksichtigt,
die als Reaktion auf mindestens einen der folgenden drei Stimuli genannt wurden: 1. „Mit wem besprechen Sie Dinge, die Ihnen persönlich wichtig sind?“; 2. „Mit wem haben Sie eine sehr enge gefühlsmäßige Bindung?“; 3. „Mit wem verbringen Sie hauptsächlich Ihre Freizeit? Denken Sie nur an Menschen, mit denen Sie einen großen Teil der Freizeit verbringen“. Die Item-Formulierungen machen bereits deutlich, wie sehr das Netzwerkmodul nahräumliche Beziehungen in den Mittelpunkt rückt. Zudem wird auch im Einleitungstext eher explizit zur Nennung von Personen aufgefordert, zu denen regelmäßige Kontakte unter Anwesenheit stattfinden: „Mit den folgenden Fragen möchten wir erfahren, welche Menschen derzeit in ihrem Leben eine besonders wichtige Rolle spielen. Ich nenne Ihnen dafür eine Reihe von Tätigkeiten oder Situationen, die im täglichen Leben immer wieder vorkommen.“ [Herv. J.M.]
39
Mit Hilfe dieser Daten lässt sich das durch den Familiensurvey gewonnene empirische Bild eher kleinräumiger Beziehungsmuster also gut ergänzen. Für die Analysen der beiden Datensätze habe ich aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit auf eine Gewichtung der Daten verzichtet. Zur Abbildung der Schichtzugehörigkeit greife ich auf zwei Indikatoren zurück, welche zwei der drei Eckpfeiler der so genannten ‚meritokratischen Triade’ (Kreckel 1992) der sozial ungleichen Gesellschaft bilden, namentlich ‚Bildung’ und ‚sozioökonomischer Status’. Dabei wurde Bildung anhand der CASMIN-Klassifikation10 klassifiziert, während sozioökonomischer Status anhand des Index’ zur Autonomie des beruflichen Handelns (Hoffmeyer-Zlotnik 1993) operationalisiert wurde.
3.2 Ergebnisse Zunächst richtet sich der Blick auf die räumliche Verteilung persönlicher Beziehungen ohne besonderes Augenmerk auf transnationale (= nationalstaatliche Grenzen überschreitende) Bindungen. Als wichtigste Ansprechpartner fungieren in diesem Zusammenhang nach wie vor die in räumlicher Nähe lebenden Personen, wobei insbesondere Familienangehörige zu dieser personalen Auslese zählen (Abbildung 1). Mehr als ein Viertel der im Familiensurvey 2000 benannten Alteri sind Haushaltsangehörige. Insgesamt machen lokale Bindungen (d.h. Beziehungen zu Kontaktpartnern, die in maximal 15 Minuten aufgesucht werden können), knapp die Hälfte aller genannten Beziehungen aus. Dabei zeigen sich große Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen (Tabelle 1), wobei der Trend dahingehend zeigt, dass mit dem Bildungsgrad die durchschnittliche räumliche Entfernung zu den Alteri anwächst.
10
Die CASMIN-Klassifikation umfasst die folgenden 9 Unterkategorien, welche eine Kombination aus schuli-
scher und beruflicher Ausbildung darstellen: Ia: kein Abschluss; Ib: Hauptschulabschluss ohne berufliche Ausbildung; Ic: Hauptschulabschluss und berufliche Ausbildung; IIb: Mittlere Reife ohne berufliche Ausbildung; IIa: Mittlere Reife und berufliche Ausbildung; IIc_gen: Fachhochschulreife/Abitur ohne berufliche Ausbildung; IIc_voc Fachhochschulreife/Abitur mit beruflicher Ausbildung; IIIa Fachhochschulabschluss; IIIb Universitätsabschluss
40
Abbildung 1: Räumliche Verteilung persönlicher Beziehungen im Familiensurvey 2000 Prozent 0
5
10
15
20
25
30
Haushaltsmitglied
im gleichen Haus unmittelbare Nachbarschaft gleicher Ortsteil
im Ort >15 min Anderer Ort bis 1 Stunde weiter entfernt
Anmerkungen: Die Prozentangaben beziehen sich auf den Anteil der einzelnen Entfernungskategorie an der Gesamtanzahl der erhobenen Beziehungen (berücksichtigt wurden ausschließlich vermittels Namensgeneratoren erhobene Bindungen) Quelle: Familiensurvey 2000, Befragte mit deutscher Staatsbürgerschaft (ohne Panelteilnehmer), n=63451 (Beziehungen)
41
Tabelle 1: Die durchschnittliche Reichweite persönlicher Netzwerke (nach Bildungsniveau)
CASMIN
Mittelwert
n
Ia Ib Ic
2,52 2,92 3,01
90 581 1962
IIb IIa IIc_gen IIc_voc
3,05 3,16 3,31 3,25
857 1900 403 415
IIIa IIIb
3,56 3,83
341 843
Anmerkungen: Die Variable ‚Reichweite’ hat einen Wertebereich von 1 bis 7: niedrige Werte zeigen geringe durchschnittliche Distanzen zwischen Ego und dessen Alteri an, während hohe Werte größere Distanzen repräsentieren. Die Zielpersonen wurden nach der Dauer gefragt, die sie zum entsprechenden Netzwerkmitglied zurücklegen müssen. Die Ausprägungen lauten: 1: Haushaltsmitglied; 2: im selben Haus, 3: unmittelbare Nachbarschaft; 4: gleicher Ortsteil; 5: im Ort >15 Minuten; 6: anderer Ort bis 1 Stunde; 7: mehr als 1 Stunde Quelle: Familiensurvey, Hauptbefragung (ohne Panelteilnehmer), nur deutsche Staatsangehörige, n=7392 In Tabelle 2 wird mit Hilfe einer OLS-Regression der Einfluss des Bildungsniveaus auf die durchschnittliche räumliche Entfernung zu Personen außerhalb des Haushalts geschätzt (Modell I). In Modell II wird mit dem beruflichen Status ein weiterer Schichtindikator als unabhängige Variable verwendet. Modell III überprüft neben den Effekten der beiden Schichtindikatoren auch die von zusätzlichen soziodemographischen Kontrollvariablen, von denen bekannt ist, dass sie im Hinblick auf die Strukturierung sozialer Netzwerke eine wichtige Rolle spielen können: Alter, Geschlecht, Gemeindegröße sowie das Vorhandensein von Partnerschaft und Kindern (siehe z.B. Hollstein 2001). Die Ergebnisse des ersten Modells zeigen den Einfluss der Bildungsvariablen: Gegenüber der Referenzgruppe der niedrig Gebildeten (CASMIN I) weichen einzig die Fachhochschul- und Universitätsabsolventen signifikant positiv ab (CASMIN III). Personen mit tertiärer Bildung verfügen nach diesem Modell also über räumlich weiter aufgespannte Netzwerke als niedriger Gebildete. Außerdem steigt die räumliche Spannweite der Netz42
werke mit dem sozioökonomischen Status der Befragten. Wie der Blick auf den niedrigen Anteil der erklärten Varianz (R²-Wert) zeigt, kann das lineare Regressionsmodell keine hohe Prognosekraft für sich beanspruchen. Modell II (Tabelle 2) schätzt den Effekt des beruflichen Status. Getreu den Erwartungen geht vom beruflichen Status ein signifikant positiver Effekt auf die räumliche Spannweite persönlicher Netzwerke aus. Wie verändern sich nun die Effekte der beiden Schichtungsvariablen ‚Bildung’ und ‚sozioökonomischer Status’, wenn gleichzeitig nach weiteren soziodemographischen Merkmalen kontrolliert wird? Modell III zeigt, dass der positive Einfluss der Zugehörigkeit zur Gruppe der höher Gebildeten auch in diesem Fall bestehen bleibt. Ebenso konstant bleibt der prägende Einfluss des beruflichen Status. Vergleicht man nun die Effektstärken (Beta-Gewichte), so rücken insbesondere zwei Kovariaten in den Mittelpunkt: Dies ist zum einen die Zugehörigkeit zur höchsten Bildungskategorie sowie der eher grobe Mobilitätsindikator (Umzug in ein anderes Bundesland seit der Geburt). Da residentielle Mobilität jedoch auch in hohem Maße durch Bildung erklärt werden kann, lässt sich aus sozialstruktureller Perspektive also vor allem Bildung als eine wichtige soziodemographische Determinante der Netzwerkspannweite hervorheben. Insgesamt klärt das Gesamtmodell (Modell III) rund 8 Prozent der Varianz in Bezug auf die Spannweite persönlicher Netzwerke auf. Da die Modelle weder Persönlichkeitsmerkmale der Befragten, Angaben zur Beziehungsqualität noch weitere wichtige Netzwerkdimensionen wie etwa Netzwerkgröße oder „Komposition“ (Verwandte/Freunde/Bekannte/Nachbarn) berücksichtigt haben, kann die statistische Aussagekraft als zufrieden stellend erachtet werden.
43
Tabelle 2: Regression auf die durchschnittliche Reichweite zu Alteri, die außerhalb des Haushalts leben
I
Sig.
Modell II Sig.
III
Sig.
Bildungsniveau niedrig mittel hoch
Ref. 0,03 0,17 ***
Ref. 0,00 0,15 ***
Ref. 0,03 0,15 ***
Sozioökonomischer Status
0,08 ***
0,08 ***
0,06 **
0,04 *
0,04 **
Vater: Abitur (Ref. =nein) Mutter: Abitur (Ref. =nein)
0,02
x
Vater Abitur*Mutter Abitur
-0,01
x
Umzug in anderes Bundesland seit dem 15. Lebensjahr (Ref. = nein)
0,15 ***
Alter (metr.)
0,10 ***
Frau (Ref. : Mann)
0,02
eigene und/oder (Stief/Adoptiv)Kinder vorhanden (Ref. = nein)
-0,02
lebt in einer festen Partnerschaft (Ref. = nein)
0,06 ***
Gemeindegröße: 500.000+ (Ref. : <500.000) R-Quadrat (korr.)
44
-0,01 0,05
0,05
0,08
Anmerkungen: Die abhängige Variable hat einen Wertebereich von 1 bis 6,wobei hohe Werte mit einer großen durchschnittlichen räumlichen Distanz einhergehen (s. Anmerkungen zu Tabelle 1). Alteri, die denselben Haushalt wie Ego teilen (EhepartnerInnen, Kinder etc.), wurden nicht berücksichtigt. Dargestellt sind die standardisierten Regressionskoeffizienten sowie das entsprechende Signifikanzniveau. Sig.: *** p<0,001; ** p<0,01; * p<0,05 Quelle: Familiensurvey 2000, Deutsche Befragte ab 18 Jahren (ohne Panelteilnehmer), n=4378 Während der Familiensurvey nur eine grobe Kategorisierung von fernräumlichen Beziehungen zulässt, bietet der Survey Transnationalisierung 2006 die Möglichkeit, die Strukturierung persönliche Auslandsnetzwerke entlang der beiden zentralen Achsen ‚Bildung’ und ‚beruflicher Status’ zu untersuchen. So enthält der Datensatz Angaben über das Vorhandensein und die Zahl transnationaler Beziehungen zu Bekannten, Freunden und Verwandten sowohl nicht-deutscher als auch deutscher Staatsangehörigkeit. Diese Kontakte wurden global erhoben, d. h. es wurde direkt danach gefragt, ob die Interviewten über derlei Beziehungen verfügen und wenn ja, über wie viele dieser Beziehungen die Befragten jeweils verfügen. Rund 47 Prozent der Befragten haben zu mindestens einer im Ausland lebenden Person regelmäßigen privaten Kontakt (siehe Mau/ Mewes 2007). Auch wenn die Ergebnisse in Bezug auf die Bildungsspezifik transnationaler Netzwerke die Vermutung nahe legen, dass hier Ausreißer die Mittelwerte nach oben verzerren, so lässt sich doch ein klarer Trend erkennen (Tabelle 3): Mit zunehmendem Bildungsgrad nimmt auch die Zahl der Kontakte zu Personen im Ausland deutlich zu. So sind es insbesondere Personen mit höherem Bildungsniveau, die eine vergleichsweise hohe Zahl von Kontakten angeben. Im Durchschnitt verfügen Fachhochschul- und Universitätsabsolventen über mehr als 5 regelmäßig aktualisierte Beziehungen zu Personen im Ausland (worunter allerdings auch im Ausland lebende Deutsche fallen). Die Bildungsunterschiede fallen hier sogar noch größer aus als bei der Erhebung allgemeiner, räumlich nicht festgelegter persönlicher Netzwerke. Dies ist wahrscheinlich auch dem Untersuchungsdesign geschuldet, da angenommen werden kann, dass die globale Abfrage nach der Zahl von bestimmten Kontakten die Probanden eher dazu verleitet, auch weniger häufig aktualisierte Beziehungen zu berücksichtigen. In Granovetters berühmter Studie The Strength of Weak Ties (1973) wurde die Beziehungsstärke anhand der Kontaktfrequenz operationalisiert, eine Vorgehensweise, die heute angezweifelt wird (siehe z.B.Wellman et al. 1997; Wellman/Potter 1999; Spencer/Pahl 2006: 47). Am Beispiel der Kontakte zu Nicht-Verwandten habe ich ausgewertet, wie die Befragten ihre im Ausland lebenden Beziehungspartner bezeichnen.11
11
Um eine eventuelle Verzerrung durch Befragte mit Migrationshintergrund auszuschließen, habe ich all solche
Befragten von der Analyse ausgeschlossen, von denen mindestens ein Elternteil mit einer nicht-deutschen Muttersprache aufgewachsen ist.
45
Tabelle 3: Anzahl der Beziehungen zu Peronen im Ausland nach Bildungsniveau (Mittelwert)
Bildung niedrig mittel hoch
Mittelwert 1,58 2,35 5,16
SD 4,47 5,91 12,09
n 520 1294 521
Anmerkungen: Die Bildungsgruppen sind nach dem CASMIN-Schema kodiert, wobei die neun CASMIN-Stufen zu den drei Oberkategorien I, II und III zusammengefasst wurden. Der Mittelwert bezieht sich auf die Gesamtsumme zu der pauschal abgefragten Zahl von im Ausland lebender Personen, mit denen die Zielpersonen in regelmäßigem privaten Kontakt stehen. Quelle: Survey Transnationalisierung 2006, n=2326 Abbildung 2: Labels von transnationalen Beziehungen zu Nicht-Verwandten (in Prozent)
100 90 80
Prozent
70 60 50 40 30 20 10 0 Gute/r Freund/in
Gute/r Bekannte/r
Flüchtige/r Bekannte/r
sonstiges
Anmerkungen: Dargestellt ist der prozentuale Anteil der einzelnen Labels an allen genannten Beziehungen zu Personen nicht-deutscher Staatsangehörigkeit im Ausland. An 100 Prozent fehlende Angaben: weiß nicht oder keine Angabe. Quelle: Survey Transnationalisierung 2006, ohne Befragte mit Migrationshintergrund, n (Beziehungen): 1051 (Anzahl Befragte: 419 von 2700). Die deskriptiven Ergebnisse zeigen, dass es sich bei Auslandskontakten keineswegs nur um ‚schwache’ Beziehungen handeln muss (Abbildung 2). Im Gegenteil: Mehr als 40 Prozent der grenzüberschreitenden Kontakte zu im Ausland lebenden Nicht-Verwandten nicht46
deutscher Staatsbürgerschaft werden von den Befragten sogar mit dem Label „Gute/r Freund/in“ versehen. Nur 11 Prozent der Befragten umschreiben ihre Kontaktpartner dagegen als flüchtige Bekannte. Demgegenüber werden die Kontakte zwar regelmäßig aktualisiert (dies war auch im Fragebogen-Einleitungstext als Auswahlkriterium gefordert), doch pflegt nur eine Minderheit von rund 16 Prozent mindestens einmal die Woche Kontakt zu einer bekannten Person im Ausland (Abbildung 3). Im Fazit unterstreichen die Ergebnisse also die Notwendigkeit, die Qualität einer Beziehung losgelöst von ihrer Kontaktfrequenz zu betrachten. Abbildung 3: Häufigkeit der Aktualisierung transnationaler Kontakte zu Nicht-Verwandten ohne deutsche Staatsbürgerschaft (in Prozent) Proze nt 0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
täglich mindestens einmal jede Woche mindestens einmal im Monat ein paar mal pro Jahr
seltener
Quelle: Survey Transnationalisierung 2006, n (Beziehungen): 1051, basierend auf den Angaben von 419 Befragten ohne Migrationshintergrund. Fehlende Angaben wurden nicht berücksichtigt. Auch im Hinblick auf die Frage nach schichtspezifischen Einflüssen auf die Herausbildung transnationaler Beziehungen habe ich eine multivariate Regression durchgeführt (Tabelle 4). Als abhängige Variable fungiert dabei die Gesamtzahl der Beziehungen zu Personen im Ausland, was bedeutet, dass auch Deutsche unter den genannten Alteri sind. Zentral ist im Zusammenhang transnationaler Netzwerke freilich die Frage, ob die betreffenden Personen zur autochthonen Bevölkerung gezählt werden können oder ob diese über einen Migrationshintergrund verfügen. Zu diesem Zweck wurde der Migrationsstatus der Eltern anhand der Muttersprache der beiden Eltern operationalisiert.
47
Tabelle 4: OLS- Regression auf die Gesamtzahl transnationaler Beziehungen Modell I
II
III
IV
Bildungsniveau niedrig
Ref.
mittel
0,05
0,02
0,20 ***
0,10 **
hoch Sozioökonomischer Status
Ref.
0,13 ***
Ref.
0,09 ***
Migrationshintergrund beide Elternteile sprechen Deutsch als Muttersprache
Ref.
Ref.
0,06 **
0,07 **
beide Elternteile sprechen eine andere Sprache als Muttersprache
0,24 ***
0,25 ***
Befragte/r spricht… keine Fremdsprache eine Fremdsprache zwei oder mehr Fremdsprachen
Ref. 0,05 0,20 ***
Ref. 0,00 0,13 ***
Alter
0,04
0,00
Geschlecht: weiblich (Ref.: männlich)
-0,03
-0,02
ZP wohnt in den neuen Bundesländern (Gebiet der ehem. DDR) (Ref.: alte Bundesländer)
-0,02
-0,03
Gemeindegröße unter 100.000 Einwohner
Ref.
Ref.
100.000 bis 499.999 Einwohner
0,02
0,01
0,06 **
0,05 *
0,11
0,13
ein Elternteil spricht eine andere Sprache als Muttersprache
500.000+ Einwohner R² (korr.)
0,03
0,02
Anmerkungen: Die abhängige Variable setzt sich zusammen aus der Summe aller regelmäßigen privaten Kontakte zu im Ausland lebenden Personen (pauschale Abfrage). 48
Signifikanzniveaus: *** p<0,001; **p<0,01; * p<0,05 Quelle: Survey Transnationalisierung 2006, Deutsche Befragte ab 16 Jahren (n=2131) Modell I und Modell II schätzen jeweils den eigenständigen Einfluss der beiden Indikatoren zur Schichtzugehörigkeit: ‚Bildung’ (Modell I) und ‚sozioökonomischer Status’ (Modell II). In Modell III wird der Einfluss der hinzugezogenen Kontrollvariablen zusammenfassend dargestellt, während Modell IV alle eingeführten Kovariaten enthält. Von beiden Variablen zur Messung der Schichtzugehörigkeit geht ein signifikanter und positiver Effekt auf die Zahl der grenzüberschreitenden informellen Kontakte aus. Auch unter Hinzuziehung anderer Merkmale der sozialstrukturellen Lage der Befragten bleibt dieser Effekt konstant, wenn auch Effektstärke und Signifikanzniveau im Gesamtmodell etwas geringer sind als in den ersten beiden Modellen. Komplementär zur Analyse der Daten des Familiensurveys 2000 zeichnet sich jedoch auch hier kein linearer Bildungseffekt ab. So weichen nur die Fachhochschul- und Universitätsabsolventen signifikant von der Referenzgruppe der Personen mit dem niedrigsten Bildungsniveau ab. Überdies wird der starke Einfluss der Fremdsprachenkenntnisse deutlich, eine Ressource zur Pflege transnationaler Beziehungen, die wiederum selbst stark vom Bildungsniveau der Befragten abhängt. So weist eine Kreuztabellenanalyse der Bildungsabhängigkeit von Fremdsprachenkenntnissen einen relativ starken Zusammenhang von ,36 (Kendall-Tau-c) auf.12 Mit Blick auf die Frage nach der Schichtspezifik fernräumlicher Beziehungsmuster ist also vor allem die besondere Bedeutung des Faktors ‚Bildung’ hervorzuheben. Dabei ist weniger der direkte Effekt der Bildung als vielmehr der Katalysatoreffekt in Bezug auf die Aneignung von Fremdsprachen entscheidend. Sobald die Befragten mindestens zwei Fremdsprachen beherrschen, steigt die Zahl der grenzüberschreitenden Kontakte deutlich. Mit dieser besonderen Betonung der sprachlichen Kompetenz, eine der zentralen ‚transnationalen Kompetenzen’ im Sinne von Koehn und Rosenau (2002), verbindet sich jedoch auch ein Stückweit Kritik am methodologischen Kosmopolitismus, ist mit dem Aufdecken sprachlicher Barrieren doch ein Anzeichen dafür gegeben, dass nationalstaatliche Grenzen – so sie denn auch sprachliche Grenzen bilden – mit Blick auf alltägliche Kommunikationsmuster durchaus noch als ernstzunehmende Interdependenzunterbrecher für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung anzusehen sind.
3.3 Fazit Die These des zunehmenden Heraushebens sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen (Giddens 1995: 33) fordert auch die soziologische Netzwerkforschung dazu heraus, Stellung zum Verhältnis von Nähe und Distanz in persönlichen Netzwerken zu nehmen. Die Globalisierungsforschung stellt die zunehmende Verbesserung der Erreichbarkeit aller von allen in den Mittelpunkt ihrer Argumentation. Inwieweit sich jedoch reale Netzwerke aus einem Personenkreis rekrutieren, der weniger körperlich greif-
12
Da eine weitergehende Diskussion den dargebotenen Rahmen sprengen würden, verzichte in an dieser Stelle auf
eine eingehende Analyse der Effekte der weiteren in den Modellen verwendeten ‚klassischen’ soziodemographischen Kontrollvariablen.
49
bar als vielmehr virtuell adressierbar ist, war dagegen bislang kaum erforscht. Dieser Frage bin ich im vorliegenden Beitrag aus einer empirischen Perspektive nachgegangen. Im theoretischen Teil habe ich argumentiert, dass die soziologische Netzwerkforschung mit ihrer starken Verwurzelung in den traditionellen community studies immer noch eine große Affinität zu nahräumlichen Interaktionszusammenhängen aufweist. Netzwerkstudien, in denen klassischen Namensgeneratoren wie etwa die Burt- oder Fischerinstrumente (Burt 1984; Fischer 1982) eingesetzt werden, liefern daher nur ein ungenaues Bild von der tatsächlichen Reichweite persönlicher Beziehungen. Im empirischen Abschnitt wurde daher auf zwei Datensätze zurückgegriffen, die durch eine unterschiedliche Art und Weise der Erhebung von interpersonalen Beziehungen gekennzeichnet sind: der mit einem modifizierten Fischer-Instrument operierende ‚Familiensurvey 2000’ zeichnet mit Blick auf eher intime und vertrauensvolle Bindungen das Bild relativ kleinräumiger Beziehungsgefüge: Fast die Hälfte aller signifikanter Anderen kann innerhalb von einer Viertelstunde aufgesucht werden. Nur eine Minderheit von 17 Prozent aller im ‚Familiensurvey’ genannten Beziehungspartner lebt dagegen mehr als eine Stunde entfernt. Im ‚Survey Transnationalisierung’ erfolgte dagegen eine globale Abfrage von Beziehungen zu im Ausland lebenden Personen. In diesem Zusammenhang gibt bereits fast jeder zweite Befragte eine Beziehung zu einer Person im Ausland an. Ein weiteres Augenmerk lag auf dem schichtspezifischen Moment von Netzwerkgeographien. In diesem Zusammenhang wurde argumentiert, dass schichtspezifisch ungleich verteilte Handlungsressourcen zu sozial differenzierten räumlichen Strukturen persönlicher Netzwerke führen. Die Ergebnisse meiner Analyse unterstützen diese Hypothese: Die räumlichen Grenzen ego-zentrierter Netzwerke dehnen sich mit wachsendem sozioökonomischem Status und vor allem mit steigendem Bildungsgrad zunehmend weiter aus. Insgesamt betrachtet verdeutlichen die Befunde den Vorteil, die räumlichen Grenzen von Gemeinschaft nicht bereits im Vorfeld einer Untersuchung festzulegen: Gegenseitiges Vertrauen und Intimität sind in persönlichen Beziehungen auch auf Distanz möglich, wie es Millionen von Menschen, die romantische Fernbeziehungen führen, tagtäglich vorleben. Dennoch spielt sich das Verwandtschafts- und Freundschaftsleben immer noch ganz überwiegend ‚vor Ort’ ab. Überspitzt gesagt: Keineswegs entlassen die Individuen das in der Nähe lebende ‚Personal’ ihrer persönlichen Netzwerke zugunsten nie leibhaftig gesehener global verstreuter Mitglieder von Online-Communities. Eine relativ starke Herauslösung aus nahräumlichen Beziehungsgefügen ist hingegen in den Reihen der höher Gebildeten zu beobachten. Dieser Trend kann auch als ein Ausdruck der besonderen Qualität persönlicher Beziehungen gesehen werden. Die bezogen auf residentielle Mobilität (Umzugsmobilität) relativ aktiven Personen mit (Fach-)Hochschulabschluss kündigen ihre am ursprünglichen Wohnort geschlossenen Bindungen nicht einfach auf, sondern pflegen diese oftmals mit viel Freude und Energie am nächsten Lebensmittelpunkt weiter. 4
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Lässt sich die Netzwerkforschung besser mit der Feldtheorie oder der Systemtheorie verknüpfen? Jan Fuhse
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Einleitung13
Die Netzwerkforschung untersucht in erster Linie Strukturen und Prozesse auf der MesoEbene des Sozialen. Netzwerke sind überpersönliche Strukturen oberhalb von einzelnen Handlungen oder Interaktionen auf der Mikro-Ebene, aber unterhalb von gesellschaftlichen Makro-Strukturen wie der Wirtschaft oder der Politik. Auch die empirisch orientierte Netzwerkforschung kommt aber nicht ohne theoretische Annahmen über Prozesse auf der Mikro-Ebene oder Strukturen auf der Makro-Ebene aus. So werden Mikro-Prozesse meist als rational motivierte individuelle Handlungen oder als zumindest teilweise selbstläufige Interaktionsketten beschrieben. Der vorliegende Essay nimmt dagegen die Makro-Ebene in den Blick. Mit welcher theoretischen Modellierung von Makro-Strukturen ist Netzwerkforschung kompatibel? Welche Probleme oder auch Verknüpfungschancen ergeben sich dabei? Und welche methodologischen Konsequenzen ergeben sich aus unterschiedlichen theoretischen Modellierungen von Makro-Strukturen für die Netzwerkforschung? Mit der Systemtheorie und der Feldtheorie werden dabei zwei der wichtigsten Modelle für die Makro-Ebene gegenübergestellt und auf ihre theoretische und methodologische Passfähigkeit mit der Netzwerkforschung überprüft. Einerseits werden vor allem Theoriefiguren aus den Arbeiten von Talcott Parsons und Niklas Luhmann als ausgefeilteste Versionen einer systemischen Modellierung des Sozialen diskutiert. Die Verknüpfung von Netzwerkforschung mit der Luhmannschen Systemtheorie wird derzeit auch verschiedentlich diskutiert (Fuchs 2001; Baecker 2005: 226ff; White et al. 2007; Holzer 2008; Fuhse 2009). Andererseits liefert sicherlich Pierre Bourdieu die prominenteste Feldtheorie (Bourdieu/Wacquant 1992: 71ff). Diese wird auch öfter mit Netzwerkforschung verknüpft (Anheier et al. 1995; Mützel 2006), ähnelt aber insgesamt stark einer systemtheoretischen Modellierung von funktional ausdifferenzierten Sphären in der Gesellschaft (Kieserling 2008). Deswegen soll für eine idealtypische Gegenüberstellung zur Systemtheorie vor allem der Feldbegriff von Kurt Lewin und John Levi Martin diskutiert werden, aus dem sich auch grundlegend andere methodologische Konsequenzen für die Netzwerkforschung ergeben (Lewin 1951; Martin 2005). Zunächst soll aber die Relevanz der theoretischen Modellierung von Makro-Strukturen für die Netzwerkforschung aufgezeigt werden (2). Anschließend werden erst die feldtheoretische (3), dann die systemtheoretische Tradition (4) mit Hinblick auf ihre Kompatibilität mit der Netzwerkforschung beleuchtet. 13
Diese Arbeit wurde durch ein Feodor Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung zunächst am
Paul F. Lazarsfeld Center for the Social Sciences der Columbia University (New York) und später am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart ermöglicht. Ich danke Larissa Buchholz, Roger Häußling und vor allem John Levi Martin für wertvolle Hinweise und Kritik.
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Relevanz für die Netzwerkforschung
Eine theoriefreie Analyse von Netzwerken ist prinzipiell unmöglich. Wie Barry Wellman und Bruno Trezzini gezeigt haben, ist Netzwerkanalyse immer schon mit theoretischen Annahmen über den Zusammenhang von Elementen und deren Beziehungen untereinander verknüpft (Wellman 1983; Trezzini 1998). Allerdings sind diese theoretischen Hintergrundannahmen der Netzwerkforschung nahezu ausschließlich auf der Meso-Ebene angesiedelt. Genau genommen ist eine der Annahmen der Netzwerkforschung, dass die Struktur von Netzwerken für die Erklärung von sozialen Phänomenen wichtiger ist als individuelle Motive oder Handlungen einerseits oder gesellschaftliche Strukturen andererseits. Netzwerkforschung beginnt also mit dem Postulat, dass die Mikro- und die Makro-Ebene gegenüber der Meso-Ebene von nachgeordneter Bedeutung sind. Damit sind natürlich auch Annahmen über individuelle Handlungen und über gesellschaftliche Strukturen impliziert. Einerseits geht die Netzwerkforschung meist davon aus, dass individuelle Handlungen in erster Linie der in Netzwerken angelegten Struktur und Dynamik folgen (Fuhse 2008a). Seltener wird formuliert, dass Netzwerke aus den Handlungen von Akteuren aufgebaut sind, dass also die Struktur und Dynamik von Netzwerken den individuellen Handlungen folgen und damit an Prinzipien wie Nutzenorientierung o.ä. ausgerichtet sind (Coleman 1990; Schweizer 1996: 36, 146ff.). Andererseits nimmt die Netzwerkforschung an, dass soziale Beziehungen und deren Struktur nicht schon durch gesellschaftliche Strukturen vorgegeben sind – dass also Sozialbeziehungen ein hohes Maß an Freiheitsgraden gegenüber der Gesellschaftsstruktur haben (Tacke 2000; Holzer 2008). In der Extremform einer Netzwerktheorie des Sozialen werden sogar soziale Phänomene auf der Makro-Ebene (wie Staaten, soziale Bewegungen, Märkte etc.) als Resultate von Prozessen auf der Meso-Ebene von Netzwerken gesehen (White 1981; Tilly 2002; Martin i.V.). Unabhängig von solchen Überlegungen über die relationale Konstitution von MakroStrukturen hat man es in der Forschungspraxis aber meist mit ‚unmittelbar gegebenen’ gesellschaftlichen Strukturen zu tun. Etwa wenn man sich mit Fragestellungen im ökonomischen oder im politischen Bereich beschäftigt, beginnt die Netzwerkanalyse mit der unvermeidlichen Frage der Eingrenzung des Analysegegenstands: Welche Akteure sollen betrachtet werden? Welche Beziehungen? Schon diese Eingrenzung des Forschungsobjekts kommt nicht ohne theoretische Vorannahmen aus. Meist startet man von einer gründlichen und breiten qualitativen Betrachtung des Forschungsfeldes, um von dort zu einer mehr oder weniger theoretisch begründeten und empirisch gesättigten Einschränkung des Blickwinkels zu gelangen. Selbst wenn man dabei die vordergründig relativ voraussetzungslose Forschungsstrategie der ‚Grounded Theory’ ansetzt, kommt man nicht vollkommen ohne theoretische Annahmen aus – etwa in den Fragen, wer überhaupt befragt werden soll, und wonach. Die ‚Grounded Theory’ liefert mithin keine Begründung dafür, von einer theoretischen Modellierung seines Forschungsfeldes erst einmal abzusehen. Neben der Frage nach der Eingrenzung des Forschungsobjektes wird Theorie natürlich auch für die Bestimmung der Forschungsfrage, der Interpretation der Ergebnisse, sowie für die grundsätzliche anzustrebende Entwicklung von Hypothesen relevant. Zumindest bisher hat die Netzwerkforschung keine Alternative zu dem positivistischen Wissenschaftsmodell 56
entwickelt, demzufolge Forschung theoretische Erwartungen hinsichtlich ihres Gegenstandes formulieren sollte, um diese anschließend empirisch zumindest auf Plausibilität zu überprüfen.14 Betrachten wir als Beispiel die Forschung zu Netzwerken in der Politik. Eine typische Fragestellung zielt etwa auf die Netzwerkstrukturen, die bei einer bestimmten Entscheidung in der Energiepolitik beteiligt waren (z.B. dem Atomkonsens). Ein nahe liegender Startpunkt sind die Interaktionen der Regierungsparteien miteinander, sowie mit Lobbygruppen von Stromkonzernen. Aber auch die Oppositionsparteien könnten in einem solchen Netzwerk wichtig werden – genauso wie die Massenmedien, die über das politische Wechselspiel berichten. Auch soziale Bewegungen mit ihrer Mobilisierung von öffentlicher Meinung spielen wohl eine Rolle. Schließlich kann man theoretisch erwarten, dass die Bürger als Mediennutzer, als Wähler von Parteien, als Kunden von Stromkonzernen und als potenzielle Mitglieder in sozialen Bewegungen in einem solchen Policy-Netzwerk auftauchen. Doch wie sollte man die Bürger mit ihren unterschiedlichen Rollen in eine Netzwerkanalyse aufnehmen? Spielen die Gewerkschaften in einem solchen Konflikt eine Rolle? Sie können sicherlich öffentliche Meinung mobilisieren, haben aber möglicherweise ein Interesse daran, dies in einem solchen Konflikt außerhalb ihres Kernarbeitsbereiches nicht zu tun. Entscheidend ist hier erstens, dass alle diese Akteure (Parteien, Stromkonzerne, soziale Bewegungen, Massenmedien) ihre Rolle bzw. Identität in einem solchen Konflikt erst in der Auseinandersetzung miteinander erhalten – also im Netzwerk mit den anderen beteiligten Akteuren (White 1992: 197; Pizzorno 1993: 26f., 174f.; Tilly 2002). Zweitens ist genau dieses politische Wechselspiel von institutionell vorgeformten Erwartungen durchzogen. Das bedeutet, dass sich die Rollenbeziehungen zwischen diesen Akteuren nicht erst aus deren Interaktionsprozessen ergeben, sondern von einem vorgängig existierenden Rahmengefüge abgeleitet sind. Entsprechend kann man davon ausgehen, dass die Parteien – vor allem Regierungsparteien – das Zentrum eines solchen Netzwerkes bilden, und dass die anderen Akteursgruppen jeweils strukturell äquivalente Positionen um diesen Kern der Politik herum einnehmen. Aber anders als etwa in dem von Klaus Anheier, Jürgen Gerhards und Frank Romo untersuchten Netzwerk von Künstlern in Köln (1995) sind diese Unterschiede zwischen Akteursgruppen in dem politischen Feld bzw. System bereits angelegt (Luhmann 2000a: 215ff., 244ff.). Eine soziale Bewegung kann nicht plötzlich zum Adressat von Forderungen der Lobbygruppen werden, genau so wenig wie Massenmedien mit den Stromkonzernen verhandeln können. Der ‚anti-kategorische Imperativ’ der Netzwerkforschung (Emirbayer/Goodwin 1994: 1414) stößt damit in solchen institutionell vorgeformten Bereichen an seine Grenzen: Kategorien wie ‚soziale Bewegung’, ‚Lobbygruppe’ oder ‚Partei’ prägen das Zusammenspiel der politischen Akteure. Und eine netzwerkanalytische Rekonstruktion dieser Kategorien aus der Beziehungsstruktur ist weniger aufschlussreich als Fragen wie: Welche Lobbygruppen finden Gehör bei der Regierung? Welche sozialen Bewegungen tauchen in den Massenmedien auf oder sind in der Lage, Bürger zu mobilisieren? Aber nicht nur die Eingrenzung der Akteure, auch diese Art von Fragestellungen setzt voraus, dass man das Sprach14
Als prominente Beispiele für eine positivistische Netzwerkforschung lassen sich etwa die Arbeiten von Roger
Gould und John Levi Martin anführen. Gould und Martin gehören zu den besten Beispielen einer gelungenen Verbindung aus Theorie und Empirie in der Netzwerkforschung. Andrew Abbott nimmt dagegen eine eher kritische Haltung zum positivistischen Wissenschaftsmodell ein (1997).
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spiel der Politik kennt und in seinen Analysen berücksichtigt. Feld- und Systemtheorie sind zwei konzeptionelle Zugänge zu diesem Sprachspiel, zu den institutionell vorgeformten Erwartungen, mit denen Akteure in gesellschaftlichen Bereichen konstituiert und konfrontiert werden. Inwiefern diese beiden Begriffsarchitekturen geeignet sind für eine Verknüpfung mit netzwerkanalytischen Methoden und den mit ihnen verknüpften netzwerktheoretischen Annahmen, soll in den nächsten Abschnitten diskutiert werden. 3
Netzwerke in Feldern
3.1 Kurt Lewin und die Begründung der Feldtheorie Sowohl der Begriff des sozialen Systems als auch der des sozialen Feldes entstanden in der Mitte des 20. Jahrhunderts aus dem Bemühen heraus, soziale Phänomene in einen allgemeinen und abstrakten Begriffsapparat einzuordnen (Lewin 1951; Müller 1996). Die entscheidende Arbeit für die Feldtheorie war Kurt Lewins Field Theory in the Social Sciences von 1951. Lewin, ein in die USA immigrierter österreichischer Gestaltpsychologe, betont in seinen Arbeiten die Rolle des sozialen Umfelds für die Psyche von Individuen. So bildet eine Schulklasse das ‚soziale Feld’, aus dem heraus das Verhalten eines Schülers verständlich wird. Den Feldbegriff übernimmt Lewin aus der Physik, wo Teilchen in einem Feld bestimmten feldspezifischen Kräften unterworfen sind. Die Grundannahme ist, dass individuelles Verhalten aus der Beschreibung eines solchen Feldes ableitbar ist: „Jedes Verhalten oder jede sonstige Veränderung innerhalb eines psychologischen Feldes ist einzig und allein vom psychologischen Feld zu dieser Zeit abhängig.“ (1951: 88 Hervorhebung im Original)
Das Feld ist mithin ein analytischer Ausschnitt aus der sozialen Realität. Und die Dynamik des Feldes sowie das Verhalten der Elemente sollen einzig aus Eigenschaften des Feldes erklärt werden – nicht mit Rekurs auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale oder auf andere Felder. Dabei sind individuelle Unterschiede natürlich nicht unwichtig. Aber sie müssen sich im sozialen (oder psychologischen) Feld widerspiegeln und nicht allein auf einer latenten (psychischen) Ebene darunter angesiedelt sein. Andererseits spielen diesem Postulat zufolge andere Felder (etwa die Familie oder der Staatsapparat) für die Dynamik eines Feldes zunächst einmal keine Rolle – außer sie sind Bestandteil der Konstellation und der Kräfte in einem Feld wie der Schulklasse. Diese Eigenschaften eines Feldes spezifiziert Lewin folgendermaßen: „Die Beschreibung einer solchen Situation muss 1. die relative Stellung der Teile des Feldes zu diesem Zeitpunkt und 2. die Richtung und Geschwindigkeit der zu diesem Zeitpunkt vor sich gehenden Veränderungen einschließen.“ (1951: 92)
Kurt Lewin denkt damit als Psychologe das Feld von seinen Elementen her – und diese Elemente sind in seinen Überlegungen Individuen. So ist das Feld zu jedem Zeitpunkt in jedem der Individuen auf der psychischen Ebene präsent – und prägt so ihr Verhalten. Es ist aber leicht zu sehen, wie seine eigentlich psychologischen Überlegungen schnell zu einer soziologischen Perspektive führen. Denn schließlich werden nicht individuelle Eigenschaf58
ten, sondern die Eigenschaften des Feldes für dessen Dynamik verantwortlich gemacht. Damit geht Lewin noch über die sozialpsychologische Perspektive von George Herbert Mead hinaus, der immer noch die psychische Prägung des Individuums als abhängige Variable betrachtet (1934). Lewins Ziel ist es hingegen, die Veränderungen eines Feldes von Individuen aus dem Zustand des Feldes zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erklären – wenn auch über individuelles Verhalten. Dies entspricht in der Zielrichtung dem Postulat von Emile Durkheim für die Soziologie, diese solle Soziales aus Sozialem erklären (1896). Die wesentlichen Eigenschaften eines Feldes sieht Lewin in der Konstellation der Elemente (und in den gerade beobachtbaren Veränderungen derselben). Dieser Fokus auf die relative Stellung der Elemente ist das bestimmende Merkmal aller folgenden Feldtheorien (auch bei Pierre Bourdieu, dessen Feldtheorie in anderen Aspekten deutlich von Lewins abweicht). Und er entspricht sehr stark den Annahmen der Netzwerkforschung. Auch diese interessiert sich in erster Linie für die Relationen zwischen Elementen – und weniger für deren Eigenschaften (Trezzini 1998: 516ff). Deswegen wird Lewin heute teilweise als einer der ‚Klassiker’ der Netzwerkforschung eingestuft (Freeman 2004: 66ff). Insbesondere in der Sozialanthropologie wurden anfangs die Begriffe ‚Feld’ und ‚Netzwerk’ sogar teilweise synonym benutzt (Jay 1964). Zudem sieht Lewins Feldtheorie eine Konzentration auf die Meso-Ebene vor, wie sie ebenfalls in der Netzwerkforschung zu finden ist. Alleine die Konstellation der Elemente sollen die Entwicklung des Feldes erklären – und nicht übergeordnete Makro-Strukturen oder individuelle Eigenschaften oder Entscheidungen. Dieses Postulat würde sicher von anderen Theorieperspektiven (wie Rational Choice oder Systemtheorie) angezweifelt – aber sie liefert eine hilfreiche, vielleicht auch bequeme Begründung für die analytische Konzentration auf ein Netzwerk etwa in einer Schule, in einer Marktkonstellation oder in sozialen Bewegungen.
3.2 Pierre Bourdieus Felder als Makro-Strukturen In der Folge sind Kurt Lewins feldtheoretische Überlegungen weniger aufgegriffen worden als etwa die sich gleichzeitig entwickelnde Systembegrifflichkeit. Der zentrale Autor für die neuere Rezeption der Feldtheorie in der Soziologie ist Pierre Bourdieu. Dessen Arbeiten nehmen den Feldbegriff auf, formulieren ihn aber grundlegend um und führen ihn weg von einigen der Festlegungen Lewins. Damit ist in erster Linie ein Schritt weg von begrenzten analytischen Wirklichkeitsausschnitten auf der Meso-Ebene hin zu einer Theorie gesellschaflicher Felde verknüpft. Dies sorgt dafür, dass die unmittelbare Passfähigkeit des Feldbegriffs mit der Netzwerkforschung bei Bourdieu verloren geht – zugunsten einer stärker theoriegeleiteten Beschreibung von Feldern auf der Makro-Ebene. Pierre Bourdieu beschreibt in einer Reihe von Publikationen die Wirtschaft, die Politik, die Wissenschaft und die Kunst als gesellschaftliche Felder. Diese Felder zeichnen sich durch eine gewisse Schließung gegenüber der Außenwelt aus, weil in ihnen die Individuen um feldspezifisches Kapital konkurrieren (Bourdieu/Wacquant 1992: 72ff; Fröhlich 1994: 41ff). Bourdieu bezeichnet solche Felder als Mikrokosmen, in denen eigene Regeln herrschen. Wie in Lewins Feldtheorie – und anders als in Luhmanns Systemen – geht es hier um die Konstellation von Individuen in einem solchen Feld: „un champ peut être défini comme un réseau, ou une configuration de relations objectives entre des positions. Ces positions sont définies objectivement dans leur existence et dans les détermi-
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nations qu’elles imposent à leur occupants, agents ou institutions, par leur situation (situs) actuelle et potentielle dans la structure de la distribution des différentes espèces de pouvoir (ou de capital) dont la possession commande l’accès aux profits spécifiques qui sont en jeu dans le champ, et, du même coup, par leur relations objectives aux autres positions (domination, subordination, homologie, etc.).“ (Bourdieu/Wacquant 1992: 72f.)
Bourdieu betont hier – wie an anderen Stellen – die Rolle von Relationen zwischen Individuen oder Gruppen und spricht sogar von ‚réseaux des relations’ (Netzwerken von Beziehungen): „Le réel est relationnel“ (1994: 17ff.; 1980: 202f.). Allerdings grenzt er sich an anderer Stelle von der formalen Analyse dieser Netzwerke ab. Dieser ‚fühlt’ er sich zwar nah, aber sie konzentriere sich zu sehr auf die tatsächlich beobachtbaren Beziehungen – anstatt die dahinter liegenden ‚objektiven Relationen’ in einem solchen Feld zu betrachten (Bourdieu/Wacquant 1992: 88f.; Trezzini 1998: 532f.). Bourdieu geht es um die hinter den manifesten Interaktionen liegenden Strukturen der Konkurrenz und der Kapitalverteilung, die ihm zufolge das Verhalten der Individuen in Feldern weitgehend determinieren. Entsprechend bezieht sich sein Begriff der ‚relation’ nicht auf die empirisch beobachtbaren Sozialbeziehungen der Netzwerkforschung, sondern auf Verhältnisse des ‚mehr-oderweniger’ in der Verteilung von feldspezifischem Kapital (Lash 1993: 201). Außerdem setzt der Bourdieusche Feldbegriff nicht auf der Meso-Ebene an, um die es Kurt Lewin und der Netzwerkforschung geht. Er grenzt sich bewusst von den ‚Theorien mittlerer Reichweite’ ab, indem er eine Makro-Struktur aus verschiedenen Feldern formuliert (Bourdieu/Wacquant 1992: 72). André Kieserling sieht denn auch in Bourdieus Gesellschaftstheorie eine Theorie von funktional differenzierten Wertsphären ähnlich der Systemtheorie Niklas Luhmanns (Kieserling 2008). Gesellschaftliche Felder entstehen mithin durch eine relative Loslösung (fermeture) von Teilbereichen der Gesellschaft um eine feldspezifische Kapitalsorte. Bei Bourdieu finden sich natürlich auch Ansätze einer Klassentheorie des Sozialen. So sieht er in der Sozialstruktur einen ‚Kampf’ von Gruppen um gesellschaftliche Definitionsmacht (symbolisches Kapital; 1979; 1985). Allerdings verortet er diese Auseinandersetzungen in der Sozialstruktur wohl auf einer Ebene unterhalb der Felder von Ökonomie, Politik, Wissenschaft, Kunst etc. (Kieserling 2008: 12ff). Denn diese sollen ja relativ autonome Mikrokosmen bilden – hier gilt wieder das Postulat von Lewin, dass einzig die Konstellation in einem Feld ursächlich für dessen Entwicklung sein soll. Sozialstruktur und Felder bleiben also bei Pierre Bourdieu getrennt voneinander. Auf der Ebene der Sozialstruktur – also außerhalb der Felder – wäre denn auch in erster Linie das Sozialkapital bei Pierre Bourdieu einzuordnen. Ökonomisches, kulturelles, politisches und ästhetisches Kapital werden jeweils in einem Feld erzeugt und verteilt (Bourdieu/Wacquant 1992: 77, 83). Das soziale Kapital ordnet Bourdieu aber keinem Feld zu (1983). Sozialkapital besteht laut Bourdieu in dem Wert der Ressourcen, die Akteure über ihre Sozialbeziehungen aktivieren können. Man kann davon ausgehen, dass es sich hier um tatsächlich beobachtbare Sozialbeziehungen handelt – und nicht um die in den Feldern vorherrschenden ‚Relationen’ in der Kapitalausstattung. Diese Fassung des Sozialkapitalbegriffs hat in soziologischer Theorie, in der Sozialstrukturanalyse und in der Netzwerkforschung viel Aufmerksamkeit erlangt, weil er die Bedeutung von Netzwerken für soziale Ungleichheit betont (Portes 1998; Lin 2001; Lüdicke/Diewald 2007). Hier muss allerdings festgehalten werden, dass Bourdieu seinen Feldbegriff nicht mit seinem Konzept des Sozialkapitals verknüpft. 60
Insgesamt liefert Pierre Bourdieu eine ausgefeilte Gesellschaftstheorie, in der Individuen in funktional abgegrenzten Feldern um jeweils feldspezifisches Kapital konkurrieren. Wie bei Kurt Lewin geht es in diesen Feldern um die Relationen zwischen den Elementen des Feldes. Allerdings sind diese Relationen prinzipiell in der Verteilung des feldspezifischen Kapitals zu finden – und nicht in tatsächlich netzwerkanalytisch beobachtbaren Sozialbeziehungen. Eine solche netzwerkanalytische Untersuchung von Feldern müsste prinzipiell möglich sein, ist aber bei Bourdieu nicht vorgesehen (Mützel 2006). Außerdem sind Bourdieus Felder – anders als in der Theorie Kurt Lewins – auf der Makro-Ebene der Gesellschaft angesiedelt. Eine offene Frage bleibt dabei die Rolle von Bereichen, in denen mehrere Felder eine Rolle spielen können – gewissermaßen der Bereiche zwischen Feldern (Eyal 2006). So spielen in dem oben angeführten Beispiel Akteure aus unterschiedlichen Feldern – der Politik, den Massenmedien, der Wirtschaft – eine Rolle. Solche Zwischenbereiche bleiben bei Pierre Bourdieu unterbelichtet, da er sich auf die Mechanismen innerhalb von klar abgrenzbaren Feldern konzentriert. Bourdieus Theorie markiert damit in dem hier betrachteten Spannungsfeld eine Zwischenposition, die sowohl Aspekte der Feldtheorie von Kurt Lewin (und der späteren Netzwerkforschung) aufnimmt, als auch schon in Richtung der Theorie funktional differenzierter Systeme bei Niklas Luhmann weist.
3.3 Felder im Neo-Institutionalismus In der neueren amerikanischen Soziologie ist die Feldtheorie von Kurt Lewin (mit einigen Anregungen von Pierre Bourdieu) vor allem im Neo-Institutionalismus aufgenommen worden. Während Autoren wie Paul Hirsch, Richard Scott und John Meyer zunächst von ‚industry systems’ oder ‚societal sectors’ sprachen, brachten Paul DiMaggio und Walter Powell 1983 den Feldbegriff in den Neo-Institutionalismus (Becker-Ritterspach/BeckerRitterspach 2006: 120ff; Scott 2008: 86). Die Elemente, deren Verhalten beschrieben werden soll, sind hier Organisationen (meist Firmen). Und die Felder sind Marktsektoren, in denen diese Organisationen miteinander in Austausch- oder Konkurrenzbeziehungen treten: „By organizational field, we mean those organizations that, in the aggregate, constitute a recognized area of institutional life: key suppliers, resource and product consumers, regulatory agencies, and other organizations that produce similar services or products.“ (DiMaggio/Powell 1983: 148)
DiMaggio und Powell zufolge entstehen solche Felder in einem Prozess aus vier Teilen: Eine zunehmende Interaktion zwischen den Organisationen in einem Feld (1) führt zu Dominanz- und Allianzstrukturen zwischen diesen Organisationen (2). Die Komplexität dieser Struktur sorgt für eine Zunahme von Informationen, mit denen Organisationen im Feld umgehen müssen (3). Schließlich entwickelt ein Set an Organisationen ein Bewusstsein einer gemeinsamen Unternehmung (4). Insgesamt – so das Argument von DiMaggio und Powell (1983: 148) – bringt dieser Prozess der Institutionalisierung von Feldern in den betroffenen Wirtschaftszweigen größere Unsicherheit, eine zunehmende Orientierung von Organisationen aneinander und dadurch tendenziell eine wechselseitige Imitation von Strukturen (‚Iso-Morphismus’) hervor. Das systematische Argument von DiMaggio und Powell ist also, dass durch zunehmende Interaktion zwischen Akteuren in einem Feld eine starke wechselseitige Beobach61
tung und Orientierung entsteht. Wie bei Kurt Lewin ist die Konstellation im Feld verantwortlich für seine Entwicklung. Allerdings geben DiMaggio und Powell zusätzlich Kriterien dafür an, in welchem Maße solche Felder tatsächlich bestehen. Denn erst die erhöhte Interaktion miteinander führt eben zu der gegenseitigen Orientierung und zu der Emergenz von ‚powerful forces’ im Feld, denen die Akteure unterworfen sind.15 Felder und die mit ihnen verknüpften Kräfte entstehen also erst im Austausch von Akteuren – nicht jede Akteurskonstellation kann als ‚Feld’ modelliert werden. Erst die wechselseitige Beobachtung und die Kristallisation von Allianz- und Dominanzkonstellationen im Feld sorgt dafür, dass ein solches Feld durch die ‚Emergenz’ von spezifischen Kräften zu ‚mehr als die Summe seiner Teile’ wird. Wie bei Bourdieu ist der Feldbegriff im Neo-Institutionalismus nicht rein analytisch angelegt, sondern umreißt ganz bestimmte empirisch beobachtbare Strukturen. In der weiteren Entwicklung hat der Neo-Institutionalismus den Feldbegriff zu einem Kernkonzept gemacht und allgemein akzeptiert, dass das Feld (und nicht ein einzelnes Unternehmen oder eine spezifische Institution) als Analyseeinheit fungieren soll. W. Richard Scott hat neben der relationalen Komponente vor allem den kulturellen Aspekt von Feldern betont: „The notion of field connotes the existence of a community of organizations that partakes of a common meaning system and whose participants interact more frequently and fatefully with one another than with actors outside of the field. (…) Organization fields are defined and shaped by the presence of particular belief systems that guide and orient the behaviour of field participants.“ (1994: 207f.)
Die Grundannahme ist, dass die erhöhte Interaktionsdichte in einem Feld bestimmte kulturelle Sichtweisen hervorbringt, in denen sich das Feld von seiner Umwelt unterscheidet (Shibutani 1955). Dies bedeutet, dass die Grenzen von Feldern sowohl auf der Netzwerkebene (Interaktionsdichte) als auch kulturell (Glaubenssystem) zu identifizieren sind. Felder wären dementsprechend – wie bei Bourdieu – reale soziale Strukturen, deren Grenzen vom Forscher zu rekonstruieren wären, bevor er oder sie die Konstellation im Feld analysiert. In diesem Sinne argumentiert auch Andrew Hoffman, für den Felder um ‚issues’ herum strukturiert sind. Er beschreibt in seiner Analyse der Umweltorientierung der amerikanischen chemischen Industrie „an organizational field whose membership and bounds were not externally imposed by the experimenter but emerged from the data“ (Hoffman 1999: 264). Außerdem betonen Scott und Hoffman einmal mehr die strukturelle und kulturelle Natur von Feldern, in deren Analyse die relationale Struktur der Akteure mit der Phänomenologie ihrer Glaubenssysteme und Sichtweisen verknüpft werden müsste. Ein Feld wird den beiden Autoren zufolge weniger durch die Interaktion oder die Konkurrenz zusammengehalten als durch die geteilten kulturellen Formen bzw. den thematischen Fokus, mit denen sich ein Feld von seiner Umwelt unterscheidet. Insgesamt zeigen die Arbeiten des Neo-Institutionalismus damit eine deutliche Nähe des Feldbegriffs mit der Netzwerkforschung. Nicht die Eigenschaften der Akteure, sondern deren Relationen untereinander seien verantwortlich für die Entwicklung des gesamten 15
Paul DiMaggio ist ein Schüler von Harrison White, dessen Markttheorie ebenfalls eine starke gegenseitige
Beobachtung als zentrales Merkmal hat (1981). Zudem erklärt sich hieraus wohl die Nähe der Gedanken vor allem von Paul DiMaggio zur Phänomenologischen Netzwerktheorie um Harrison White (Fuhse 2008b).
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Feldes (und auch für das Verhalten von einzelnen Akteuren). Einzelne Autoren – wie etwa Neil Fligstein (2001) – geben den Akteuren dabei eine größere Handlungsfreiheit. Insgesamt wird aber die kausale Wirkung der relationalen Struktur betont – was sehr im Sinne der Netzwerkforschung ist. Schon der klassische Aufsatz von Paul DiMaggio und Walter Powell verweist auf Konzepte der Netzwerkanalyse (‚connectedness’ und strukturelle Äquivalenz; 1983: 148) zur Beschreibung von institutionellen Feldern. Vor allem DiMaggio hat auf eine Verknüpfung von Feldbegriff und Netzwerkanalyse in der Institutionenforschung hingearbeitet (1986). Während sich der Feldbegriff im Neo-Institutionalismus weitgehend durchgesetzt hat, kommen hier die meisten Arbeiten ohne die Konzepte und Methoden der Netzwerkforschung aus. Trotzdem weist der Feldbegriff im Neo-Institutionalismus eine deutliche Nähe zur Netzwerkforschung auf. Neben der Konzentration auf die relationale Struktur eines Feldes gehört dazu das prinzipielle Ausblenden von Umwelteinflüssen – die allerdings oft wieder in den Arbeiten als ‚externe Schocks’ auftauchen. Hinzu kommt ein Fokus auf die ‚phänomenologische’ Ebene von Regeln, Issues und Sichtweisen von Akteuren. Dies liegt durchaus im Sinne der neueren Netzwerktheorie von Harrison White (1992; DiMaggio 1992; Fuhse 2008b). Die Akteure selbst sind im Neo-Institutionalismus meist Organisationen, die in einem Feld um Marktchancen (und damit auch um Relationen) konkurrieren. Wie oft in der Netzwerkforschung wird die unitäre Verfasstheit solcher korporativer Akteure selten problematisiert (DiMaggio 1986: 362; Hindess 1986). Dabei fehlt es an einer Theorie, inwiefern Organisationen überhaupt als Knoten in Netzwerken analog zu Individuen fungieren können – die einfachste Antwort hierfür käme wohl aus der Systemtheorie: Organisationen sind durch ihre interne Verfasstheit (auf der Basis von Entscheidungen und klaren Zuständigkeiten) zu koordiniertem Handeln in der Lage (Luhmann 2000b s.u.). Zudem geht der Neo-Institutionalismus nicht mehr von einem rein analytischen Feldbegriff aus: Ein Feld wäre gegeben durch die Orientierung an Issues, durch die Konkurrenz um Ressourcen und/oder durch das Entstehen von gemeinsamen Orientierungen zwischen Akteuren. Die Grenze eines Feldes wäre also theoriegeleitet empirisch zu identifizieren – und nicht rein analytisch durch den Forscher festzulegen. Damit weicht der NeoInstitutionalismus wie zuvor Bourdieu im Feldbegriff deutlich von der Feldtheorie Kurt Lewins ab. Felder bleiben aber hier – anders als bei Bourdieu – stark empirisch orientierte Konzepte, deren Struktur und Dynamik zwar theoretisch beschrieben werden, aber eben auch empirisch mit Blick auf die Relationen zwischen Akteuren untersucht werden. Anders als bei Bourdieu bleibt der Feldbegriff also von den empirisch beobachtbaren Relationen her gedacht – und eben dadurch kompatibel mit Netzwerkforschung.
3.4 Felder in der Netzwerkforschung Über den Neo-Institutionalismus gelangte der Feldbegriff denn auch in die Netzwerkforschung. Der entscheidende Autor hierfür war zunächst Paul DiMaggio, der auch auf der Netzwerkebene an der Schnittstelle zwischen den beiden Ansätzen steht. Wie bereits angedeutet, hat DiMaggio für die Nutzung von Konzepten und Methoden der Netzwerkforschung – insbesondere des strukturellen Äquivalenzbegriffs und der Blockmodellanalyse – in den Neo-Institutionalismus argumentiert (1986). Systematisch betont DiMaggio hier einmal mehr die Rolle von Relationen in einem Feld und die Fokusverschiebung von Um63
weltbedingungen hin zur internen Struktur eines Feldes als erklärenden Variablen (1986: 336f., 341ff.). Anhand von Relationen zwischen amerikanischen non-profit-Theatern weist DiMaggio nach, dass die Blockmodellanalyse sowohl kohäsive Subgruppen als auch Hierarchierelationen identifizieren kann. Dabei geht es um Rollen, die die Relationen zwischen den Theatern ausmachen. Die Grenze eines Feldes wird also um eine Kategorie von Organisationen (non-profit-Theater) herum gezogen. In der Analyse geht es dann darum, diese relativ ähnlichen Akteure hinsichtlich ihrer Relationen untereinander zu klassifizieren – also Unähnlichkeit in der Ähnlichkeit aufzuspüren. Die Ursachen dieser Unähnlichkeit werden bei DiMaggio wiederum in Attributen der Theater vermutet (regionale Verteilung, Größe der Budgets, artistische Ausrichtung, sogar Alter und Werdegang der befragten Manager der Theater; 1986: 354ff.). Das Feld und seine interne Struktur werden hier zu einem rein analytischen Instrumentarium zur Klassifikation von Akteuren ohne erklärende Funktion auf der theoretischen Ebene. Auch bleiben bei DiMaggio die Mechanismen der Entstehung der internen Struktur des Feldes unterbelichtet. Die Rolle der Netzwerkforschung beschränkt sich dann darauf, lediglich die Unähnlichkeit der Akteure – die abhängige Variable – zu identifizieren. Stärker um die Mechanismen der Entstehung solcher Ungleichheit geht es der Arbeit von Helmut Anheier, Jürgen Gerhards und Frank Romo über die Netzwerke zwischen Literaten in Köln (1995). Anheier et al. beziehen sich auf der Theorieebene explizit auf Pierre Bourdieus Feldtheorie und seine Konzeption von verschiedenen Kapitalsorten (1995: 860ff.). Ein Feld definieren die Autoren wie folgt: „fields encompass the relations among the totality of relevant individual and organizational actors in functionally differentiated parts of society, such as education, health, and politics, or, as in the case examined here, in art and literature.“ (Anheier et al. 1995: 860)
Das Feld ist also wie bei Bourdieu ein funktional abgegrenzter Bereich in der Gesellschaft (der theoretisch zu bestimmen wäre). Analytisch ziehen die Autoren zudem die Grenze regional, indem sie nur die Literaten in Köln untersuchen (unter denen sie ein höheres Maß an gegenseitiger Orientierung vermuten). Anheier et al. gehen aber über Bourdieu hinaus, indem sie die Rolle von verschiedenen Kapitalsorten in einem Feld untersuchen – während bei Bourdieu Felder immer durch eine spezifische Kapitalsorte strukturiert sind (s.o.). Insofern kann das Feld nicht mehr über die Verbreitung von Kapitalsorten definiert werden wie bei Bourdieu, sondern müsste im Rahmen einer anderen Theorie funktionaler Differenzierung von Feldern eingegrenzt werden. Insbesondere untersuchen sie die Rolle des sozialen Kapitals im literarischen Feld (während Bourdieus Sozialkapital außerhalb von Feldern wohl eher in der Sozialstruktur fungiert). Dabei operationalisieren Anheier et al. soziales Kapital über Mitgliedschaft in professionellen Assoziationen und in informellen literarischen Zirkeln (Anheier et al. 1995: 883f) und nicht über die beobachtbaren Netzwerke – denn diese werden zur Klassifikation der Autoren genutzt. Wie DiMaggio (Anheier hat bei DiMaggio an der Yale University studiert) benutzen die Autoren hierfür die Blockmodellanalyse und betonen die Rolle von struktureller Äquivalenz. Wie bei DiMaggio wird das Feld also über eine vorgegebene Kategorie von Akteuren abgegrenzt. Allerdings sind die Akteure hier Individuen und nicht Organisationen. Die Untersuchung des Feldes erfolgt über die relationale Klassifikation dieser Akteure mittels einer quantitativen Netzwerkanalyse. Und die verschiedenen Positionen im Feld korrelieren Anheier et al. zufolge mit der Ausstattung der Akteure mit verschiedenen Kapitalsorten. 64
Von diesen sind einige (Ausbildung als kulturelles Kapital) wohl als unabhängige Variablen zu sehen, während andere (Prestige als symbolisches Kapital, Mitgliedschaften als soziales Kapital und Einkommen als ökonomisches Kapital) wohl eher im Wechselverhältnis mit den Positionen im Feld stehen. Die diesbezüglichen Ausführungen der Autoren bleiben eher vage. Anheier et al. liefern mit ihrer Arbeit eine beeindruckende empirische Anwendung der Netzwerkforschung und diskutieren insbesondere die Rolle von Kapitalsorten bei der Konstitution der Sozialstruktur von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit in Feldern. Die systematische Begründung des Feldbegriffs bleibt aber eher dünn – und die methodologischen Implikationen der Verknüpfung von Feldbegriff und Netzwerkforschung werden hier wenig thematisiert.
3.5 Die Feldtheorie von John Levi Martin Im Anschluss an Kurt Lewin, aber auch an die Netzwerkforschung hat John Levi Martin 2003 eine eigene theoretische und methodologische Konzeption des Feldbegriffs vorgelegt. Martin – allgemein wie Paul DiMaggio in die Relationale Soziologie mit der Phänomenologischen Netzwerktheorie um Harrison White einzuordnen (Fuhse 2008b) – sieht den Feldbegriff als eine Möglichkeit, eine der von ihm bevorzugten ‚weak theories’ des Sozialen zu entwickeln. Martin lobt die vom Subjektiven ausgehenden ‚schwachen Theorien’ von Georg Simmel, Anthony Giddens und Pierre Bourdieu dafür, dass sie im Gegensatz zu den positivistischen Theorien (unter die er neben Auguste Comte auch die Ansätze von Harrison White und Niklas Luhmann einordnet) oder den ‚strong theories’ von Durkheim, Parsons und Coleman anschaulich bleiben und ihre Leser nicht in überpersönliche Theoriearchitekturen ‚irreführen’ (2001: 192ff., 216f.). Der Feldbegriff erlaubt es nach Martin nicht nur, eine solche am Subjekt und an empirischer Forschung ausgerichtete Theorie zu entwickeln. Sondern er sorgt auch für eine Überwindung der wenig fruchtbaren Gegenüberstellung von ‚structure’ und ‚agency’ (2003: 2). Felder bestehen immer aus Wechselwirkungen zwischen ihren Elementen. Insofern betont die Feldtheorie sowohl die Rolle des Individuums als Element in einem Feld, als auch die der Struktur des Feldes. Martin nimmt dabei viele Anregungen aus der feldtheoretischen Tradition von den Ansätzen in der Physik bis hin zu Bourdieu und den NeoInstitutionalisten auf. Obwohl er selbst derzeit einer der wichtigsten Netzwerkforscher in den USA ist, bleibt der Bezug zu Netzwerken hier eher implizit. Martin beschreibt Felder im Sinne eines ‚Spiels mit Regeln’ (2003: 31).16 Die Akteure in einem Feld orientieren sich an diesen (prinzipiell veränderbaren) Regeln, um die vom Feld definierten Ziele zu erreichen. Insofern liegt der Feldtheorie auch bei Martin keine Vorstellung von prinzipiell unabhängigen Akteuren zugrunde. ‚Agency’ wird vielmehr darin gesehen, dass sich die Akteure aneinander und am Feld orientieren – dass also das Feld aus den Mustern von Orientierungen und Positionen besteht (2003: 37). In diesem Sinne plädiert Martin für eine ‚Phänomenologie des Intersubjektiven’ (2003: 38). Diese fokussiert zwar – wie die Handlungstheorie oder die Verstehende Soziologie – auf die Mo16
Martin setzt sich hier von der Spieltheorie ab, die ja von rational handelnden Akteuren ausgeht und nicht die
Regeln von Spielen betont. Ähnlich nutzt auch Norbert Elias die Metapher des Spiels zwischen Akteuren, in dem sich die Figurationen zwischen ihnen bilden und verändern (1970).
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tive von Individuen, versucht diese aber immer in einen Kontext von anderen Individuen in einem Feld einzuordnen. Damit geht es in der Analyse von Feldern darum, die netzwerkbezogenen Orientierungen von Akteuren zu ‚verstehen’ (Hollstein 2003) und zueinander in Beziehung zu setzen. Nach John Levi Martin sollen also in einem Feld immer die Orientierungen von Akteuren, deren Positionen im Verhältnis zueinander, sowie die impliziten und expliziten Regeln und die im Feld definierten Ziele im Zusammenhang gesehen werden. Die Nähe dieser Position zur Netzwerkforschung ist deutlich, bleibt aber eher implizit. So formuliert Martin, dass die Feldtheorie prinzipiell zu einem „relational thinking“ führt, da die Akteure immer in Relation zueinander betrachtet werden (2003: 29). Auch betont er die Nähe zum Rollenbegriff, der – wie etwa bei Siegfried Nadel – die Position in einem Feld beschreibt (und die Beziehungen zu anderen Akteuren im Feld strukturiert; Martin 2003: 22, 28). In dem Aufsatz legt Martin sich nicht fest, mit welchem methodischen Instrumentarium denn diese Relationen in einem Feld und die ‚intersubjektive Phänomenologie’ untersucht werden sollen. Allerdings lässt sich vermuten, dass hier sowohl die quantitativen Methoden der Netzwerkanalyse wie auch eher qualitativ ansetzende Methoden eingesetzt werden können (Hollstein/Straus 2006). Martin selbst hat in seinen eigenen Arbeiten immer auf die Quantifizierung der Orientierungen von Befragten gesetzt. Etwa in seinen Arbeiten zum Communes-Datensatz von Benjamin Zablocki geht es insbesondere um den Zusammenhang zwischen persönlichen Orientierungen und den Positionen der Akteure (in Netzwerken) zueinander (2002; 2005). Dabei kann Martin auch einem relativ wichtigen Theorieproblem aus dem Weg gehen: Bei den von ihm untersuchten Kommunen handelt es sich um relativ abgeschlossene und umfassende soziale Welten. Die Frage der Grenze eines Netzwerks bzw. eines zu untersuchenden Feldes beantwortet sich dabei von selbst – wer immer Mitglied der Kommune ist und in ihr lebt, gehört dazu. Abstrakt müsste man formulieren, dass ein Feld die Bereiche umfasst, in denen die Regeln und Ziele des Feldes gelten. Insofern muss auch hier wieder eine mehr oder weniger theoriegeleitete Eingrenzung vorgenommen werden, bevor etwa eine Befragung von Akteuren in einem Feld stattfindet. Möglicherweise ließe sich dies auch im Sinne einer ‚intersubjektiven Phänomenologie’ feststellen: Nur die Akteure mit der Orientierung an den Zielen eines Feldes gehören auch dazu. Aber natürlich stellt sich auch dann die Frage, ob man denn wirklich alle relevanten Akteure nach ihren Zielen (und ihren Relationen) gefragt hat. Zum Beispiel in den Communes von Zablocki spielen oft auch abwesende charismatische Führer eine wichtige Rolle für die Strukturierung der internen Beziehungen (Martin 2003: 883ff.). Mit der Frage der Grenzen ist der theoretisch-methodologische Status von Feldern verknüpft. Nach John Levi Martin bildet der Feldbegriff zunächst eine analytische Kategorie (2003: 24). Einen Bereich des sozialen Lebens als Feld zu beschreiben, dient dann der Rekonstruktion von in diesem Bereich geltenden Regeln. An diesen Regeln orientieren sich die Akteure und differenzieren sich entsprechend. Die Differenzierung der Akteure wäre dann der objektiv beobachtbare Gegenstand, den man zum Beispiel mit den Mitteln der Netzwerkanalyse untersuchen kann. Und aus dieser sozialen Differenzierung in einem Feld ließen sich dann die Regeln des Feldes ableiten. Andererseits sollen diese Regeln ja keine reinen Konstruktionen des wissenschaftlichen Beobachters sein. Vielmehr müssten sie ja als manifeste Orientierungsregeln in einer ‚intersubjektiven Phänomenologie’ auch empirisch fassbar sein – sei es als subjektive Orientierungen oder als soziale Praktiken im Sinne 66
von Bourdieu. Möglicherweise lassen sich nun diese Regeln aus der Differenzierung einer Netzwerkstruktur ableiten, auch wenn einzelne Knoten zu viel oder auch zu wenig in das Feld eingeordnet werden. Wenn man das Feld als analytische Kategorie ernst nimmt, müsste man mit einer empirischen Analyse eines Ausschnitts aus der sozialen Welt vielleicht sogar feststellen können, dass Regeln in einem bestimmten Teil dieses Ausschnitts gelten, in einem anderen vielleicht nicht. So ließe sich etwa konstatieren, dass für Frauen in Organisationen andere Mobilitätsmechanismen gelten als für Männer (Burt 1998).
3.6 Zwischenrésumé Auch bei John Levi Martin wird also deutlich, dass der Feldbegriff einem ambivalenten wissenschaftstheoretischen Status hat: Einerseits sollen Felder – wie bei Bourdieu – durch tatsächlich geltende Ordnungsstrukturen gekennzeichnet sein. Insofern wären sie Bereiche der sozialen Wirklichkeit mit spezifischen Regeln, die durch den oder die Forscherin rekonstruiert werden. Andererseits sind sie zunächst analytische Konstrukte, bei deren Konstruktion (hier vor allem: der Auswahl der Knoten für eine Netzwerkanalyse) der oder die Forscherin auch Fehler machen kann – um anschließend empirisch geltende Regeln in einem Feld auszumachen. Gerade in dieser Nähe zu methodologischen Fragestellungen und zur empirischen Forschung unterscheidet sich der Feldbegriff vom im Folgenden diskutierten Systembegriff. Insofern soll hier der analytisch angelegte Feldbegriff, wie wir ihn vor allem bei Kurt Lewin und teilweise bei John Levi Martin finden, mit der Systemtheorie von Talcott Parsons und Niklas Luhmann kontrastiert werden. Dieser analytische Feldbegriff hat folgende Eigenschaften: - Eine Feldanalyse versucht grundsätzlich theoriegeleitet und objektorientiert einen Ausschnitt der sozialen Realität einzugrenzen, in dem Akteure konkurrierend nach bestimmten Zielen streben und dabei spezifischen Regeln folgen. - Grundsätzlich erfolgt die Eingrenzung eines Feldes aber zunächst analytisch. Denn es ist gar nicht nötig, dass alle Akteure im Feld den gleichen Wirkungen (‚Kräften’) ausgesetzt sind. - Prinzipiell wird davon ausgegangen, dass die Kräfte und Regeln (‚Institutionen’) in einem Feld aus der Interaktion zwischen den Akteuren entstehen. Diese sind nicht als isolierte Individuen mit festen Präferenzen zu sehen – denn sowohl die Ziele als auch die Mittel ihres Handelns werden durch das Feld definiert. - Die Struktur eines Feldes spiegelt sich in der sozialen Differenzierung der beteiligten Akteure wider. Diese kann vor allem mit den Mitteln der Netzwerkanalyse rekonstruiert werden. Wie vor allem Paul DiMaggio betont hat, eignet sich hierfür die Blockmodellanalyse, die Akteure mit einer ähnlichen Position im sozialen Feld zu einer Kategorie zusammenfasst. - Im Anschluss an Siegfried Nadel werden Akteure in einem Feld als Träger von Rollen gesehen, die durch ihre Position im Feld (relativ und in Relation zu anderen Akteuren) mit bestimmten Erwartungen konfrontiert werden. Um die Rekonstruktion dieser Rollenkategorien geht es in der Blockmodellanalyse, die nicht von empirisch vorfindlichen Kategorien ausgeht, sondern diese aus dem Netz von Beziehungen ableitet. - Im Sinne von John Levi Martin geht es in einer Feldanalyse über die reine Untersuchung der Netzwerkstruktur hinaus um eine ‚intersubjektive Phänomenologie’, in der 67
die kulturellen Formen (Regeln), Praktiken und auch subjektiven Orientierungen identifiziert werden sollen. Insgesamt liefert die Feldtheorie damit einen an empirischer Forschung ausgerichteten Rahmen, der insbesondere gut mit der Netzwerkforschung kompatibel ist. Sie bildet insofern eine Theorie ‚mittlerer Reichweite’ bzw. liefert einen sehr allgemeinen Rahmen für objektbezogene Theorien mittlerer Reichweite. Allerdings bleibt sie in ihren theoretischen Aussagen auch relativ flexibel, ist also selten in der Lage, theoretische Erwartungen für die empirische Forschung zu liefern. Zudem dominiert in den Sozialwissenschaften Konfusion über den Feldbegriff. Wenn der Feldbegriff in Anschlag gebracht wird, verbirgt sich dahinter eins der vier folgenden Grunverständnisse: (1) dass Felder Effekte haben, die sich sozialwissenschaftlich untersuchen lassen; (2) dass ein bestimmtes Feld untersucht werden soll; (3) dass Felder die wichtigsten Strukturen der sozialen Realität sind; (4) dass die Gesellschaft als ein Feld oder als eine Menge von Feldern verstanden werden kann.17 Von diesen vier Grundverwendungen ist (2) die voraussetzungsloseste, weil sie lediglich eine Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands aber keine feldtheoretischen Argumente impliziert. Pierre Bourdieu geht in seiner Feldtheorie am weitesten und macht nicht nur Aussagen über Feldeffekte (1). Sondern er sieht Felder auch als die wichtigsten sozialen Strukturen (3), die insbesondere die gesellschaftliche Realität prägen (4). Demgegenüber formulieren Kurt Lewin, der Neo-Institutionalismus und John Levi Martin in erster Linie Aussagen über Feld-Effekte (1). In Martins Aufsatz (aber nicht unbedingt in seinen anderen Arbeiten) finden wir Hinweise auf die Position (3), aber insgesamt bleiben er und die anderen Autoren der Feldtheorie (Lewin, DiMaggio und ANheier) eher zurückhalten darin, dass soziale oder gar gesellschaftliche Dtrukturen tatsächlich Felder sind. ‚Felder’ werden hier eher als analytische Konstruktionen, als Hilfsmittel oder gewissermaßen als ‚Krücken’ für die sozialwissenschaftliche Forschung. Damit ist die Feldtheorie fast ‚zu empiriennah’ gebaut, weil sie nicht eine theoriegleitete Beschreibung von sozialen Strukturen erlaubt (außer in der Variante von Pierre Bourdieu) und sich auch kaum Hypothesen aus ihr ergeben. Demgegenüber leidet die Systemtheorie genau unter dem umgekehrten Problem: einer zu starken Konzentration auf die reine Theoriearchitektur und damit einhergehend einer relativen Empirieferne. 4
Systeme aus Netzwerken
Wie oben angeführt, sind der Feld- und der Systembegriff etwa gleichzeitig in die Sozialwissenschaften eingeführt worden, um dort eine stärkere theoretische Durchdringung der sozialen Welt anhand allgemeiner und abstrakter Begriffe aus anderen Wissenschaften zu realisieren. Insbesondere in der Folge der Arbeiten von Talcott Parsons wurde der Systembegriff wesentlich prominenter als der Feldbegriff – möglicherweise auch, weil er weitergehende Theorieannahmen mit sich bringt und eine ausgefeiltere theoretische Modellierung erlaubt als der Feldbegriff, der näher an einer analytischen Logik liegt (s.o.). Mittlerweile bevölkert eine Vielzahl von unterschiedlichen Systembegriffen die Sozialwissenschaften, 17
Ich übernehme die Klassifikation aus einem längeren Kommentar von John Levi Martin.
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von denen derzeit die Variante von Niklas Luhmann die wichtigste ist. In jüngster Zeit sind in Deutschland mögliche Verknüpfungen von Netzwerkforschung und Luhmannscher Systemtheorie ausführlich diskutiert worden (Kämper/Schmidt 2000; Tacke 2000; Holzer 2008; Fuhse 2009). Ich will deswegen hier keine ausführliche Rekonstruktion analog zur obigen Behandlung der Feldtheorie vornehmen, sondern nur exemplarisch einige Gedanken zur systemtheoretischen Modellierung von sozialen und gesellschaftlichen Strukturen entwickeln, in denen Netzwerke untersucht werden können. Dabei soll es weniger um eine systemtheoretische Fassung von sozialen Netzwerken gehen als um die Frage, welche systemtheoretischen Erwartungen mit der Netzwerkforschung untersucht werden können.
4.1 Definition und Grenzen von Systemen Allgemein zielt der Systembegriff darauf, eine Menge von Elementen holistisch in einer neutralen Außenperspektive zu beschreiben. Damit verknüpft ist insbesondere eine Vergleichsperspektive: Teilweise sehr unterschiedliche soziale Phänomene werden als Systeme mit bestimmten je nach Theorie unterschiedlichen Eigenschaften beschrieben und darin miteinander verglichen. Auf diese Weise können eine Gesellschaft, die Wirtschaft, ein Gespräch, eine Organisation oder eine soziale Bewegung als System beschrieben und analysiert werden. Anschließend geht es dann darum, allgemeine Eigenschaften von Systemen an den jeweiligen Beispielen nachzuweisen. Beispiele für solche allgemeinen Systemeigenschaften sind: operative Geschlossenheit, ein dem System eigenes Austauschmedium und Funktionalität für ein übergeordnetes System. Eine solche Vergleichsperspektive mit der Zuordnung von theoretisch angenommenen allgemeinen Eigenschaften zu spezifischen Phänomenen findet sich prinzipiell auch beim Feldbegriff, vor allem in der Fassung von Pierre Bourdieu. Unterschiedlich sind die Eigenschaften, die mit diesen Begriffen verknüpft sind. Im Sinne der allgemeinen Systemtheorie lässt sich ein System definieren als eine interdependente Ordnung von Prozessen bzw. Relationen zwischen Einheiten (Müller 1996: 199ff.). Diese allgemeine Definition träfe auch auf andere Begriffe für soziale Strukturen zu, wie zum Beispiel ‚Figuration’ bei Norbert Elias, das ‚soziale Gebilde’ bei Leopold von Wiese oder eben den Feldbegriff. In den Sozialwissenschaften hat sich aber ein stärker eingeschränktes Verständnis von Systemen durchgesetzt. Soziale Systeme bestehen demnach in einer interdependenten Ordnung von Interaktions- oder Kommunikationsprozessen zwischen (korporativen oder individuellen) Akteuren, wenn diese interdependente Ordnung eigenen Gesetzen folgt, darin von ihrer Umwelt ausdifferenziert und relativ stabil ist. Wohlgemerkt geht es hier nicht um die Stabilität von Relationen oder einzelnen Prozessen, sondern darum, dass deren Ordnung stabil ist. Das bedeutet nicht zuletzt, dass zwischen einem solchen System und seiner Umwelt eine klare Grenze gezogen ist – und das nicht nur in der systemischen Analyse, sondern in der sozialen Welt selbst. Wenn also die Wirtschaft als System beschrieben wird, dann wird davon ausgegangen, dass die Prozesse in der Wirtschaft eigenen Gesetzen folgen – und dass sie genau dadurch von Prozessen außerhalb der Wirtschaft unterschieden und unterscheidbar sind. Die Grenze zwischen System und Umwelt ist nicht nur sinnhaft bestimmbar (durch einen wissenschaftlichen Beobachter), sondern selbst sinnhaft bestimmt (in der sozialen Welt und den in ihr versammelten Beobachtern). Analytische Grenzen sollen also in eins mit den in der Realität 69
vorfindlichen Objektgrenzen fallen. Aber wie kann sichergestellt werden, dass die systemische Analyse tatsächlich die richtigen Grenzen zieht? Dies geschieht, indem die Objektgrenzen aus den theoretischen Annahmen über die Art der Ordnung von Prozessen abgeleitet werden. Wenn man also das Wirtschaftssystem über den Prozess der Zahlung und den mit ihm verknüpften Regeln bestimmt (wie Niklas Luhmann dies tut; 1988), dann fallen damit die konkreten Prozesse der Produktion von Gütern oder auch der Hausarbeit aus dem Analyserahmen – mit der Begründung, dass hier eben die Regeln der Geldwirtschaft nicht greifen.
4.2 Persistenz, Funktion und Medium Welches sind nun die Eigenschaften von sozialen Systemen, die für deren Differenzierung von ihrer Umwelt sorgen? Allgemein lässt sich feststellen, dass Systeme ‚persistent’ sein müssen – also für ihren eigenen Fortbestand sorgen (Easton 1965a: 77ff., 88). Persistenz bezieht sich – wie angedeutet – nicht auf eine Stabilität von Strukturen, sondern auf eine relative Kontinuität von Strukturen, die sich unter Umständen auch veränderten Umweltbedingungen anpassen können. Für eine solche Persistenz gibt es tendenziell zwei Erklärungsstrategien: Die erste ist funktionalistisch und postuliert (wie vor allem bei Talcott Parsons), dass Systeme bestimmte interne Subsysteme bereit halten müssen, die spezifische Funktionen erfüllen müssen. Die Funktion von Systemen für ein übergeordnetes System erklärt also deren Persistenz. Bei Parsons bedeutet dies, dass ein fest vorgegebener Funktionenkatalog (adaption, goal-attainment, integration, latent pattern-maintenance) in jedem System erfüllt werden muss (1961; Parsons/Smelser 1956). Eine solche rein funktionalistische Erklärungsstrategie für soziale Strukturen stößt jedoch an Grenzen, weil sie die Existenz und Persistenz von funktionalen Systemen nur theoretisch postulieren kann. Die Mechanismen einer Persistenz von systemischen Strukturen bleiben dabei prinzipiell unbeachtet (oder zumindest nachgeordnet). Wegen dieser Probleme findet sich schon bei Parsons, stärker aber noch bei Luhmann und auch bei Easton eine zweite Erklärungsstrategie. Diese nimmt die genauen Persistenzmechanismen in den Blick: Es werden Eigenschaften von Transaktions- oder Kommunikationsprozessen identifiziert, die diese als zugehörig zum System ausweisen und für eine fortlaufende Reproduktion von systemischen Strukturen sorgen. Hierbei kann wiederum die Funktionalität als Bezugspunkt von Prozessen im System ausgemacht werden. In diesem Sinne hat etwa David Easton das politische System als die Gesamtheit der Prozesse und Strukturen definiert, die sich am Ziel des kollektiv bindenden Entscheidens orientieren (1965b: 384ff.). Ähnlich sieht auch Luhmann die Rolle von Funktionen in Systemen. Die Funktion ist hier Teil der sinnhaften Orientierung von Handlungen oder Kommunikationsprozessen (je nach theoretischer Ausrichtung) und müsste wie bei John Levi Martin im Sinne einer ‚intersubjektiven Phänomenologie’ identifiziert werden (s.o.). Die Orientierung an der Funktion sorgt für die Einheit eines (Funktions-)Systems. Zugleich ist die Grenze des Systems dann dort zu finden, wo Handlungen oder Kommunikationen nicht mehr an der Funktion orientiert sind. Abgesehen von dieser funktionalen Orientierung können Transaktionsprozesse aber auch durch die Nutzung eines systemspezifischen Mediums als zugehörig zu einem System gekennzeichnet werden. Sowohl bei Talcott Parsons als auch bei Niklas Luhmann ist aller 70
Geldaustausch dem Wirtschaftssystem zuzurechnen, und alle Ausübung politischer Macht wäre im politischen Subsystem der Gesellschaft zu finden (Parsons 1969: 352ff.; Luhmann 1997: 332ff.). Beide Systemtheoretiker sehen noch weitere Medien von anderen Funktionssystemen, unterscheiden sich aber in den Fragen, ob etwa Recht ein eigenes Funktionssystem ist oder die gesellschaftliche Gemeinschaft, die Wissenschaft, die Kunst, Erziehung etc. Auch hier geht es jedoch um eine sinnhafte Spezifikation der Außengrenzen von Systemen. Wenn also – wie bei dem eingangs formulierten Beispiel – Austauschprozesse zwischen unterschiedlichen Akteuren in der Energiepolitik analysiert werden sollen, könnte die Systemtheorie Erwartungen darüber liefern, welche Akteure sich an welchen Zielen (politischen, wirtschaftlichen, massenmedialen) orientieren, und welche Medien in den Beziehungen zwischen diesen Akteuren eine Rolle spielen. Dies entspricht prinzipiell dem Feldbegriff von Bourdieu, demzufolge verschiedene Felder ja durch spezifische Ziele und Kapitalsorten gekennzeichnet sind. Für die Netzwerkforschung bedeutet dies, dass Funktionssysteme mit Blick auf die ‚types of tie’ und auf die in Sozialbeziehungen identifizierbaren Transaktionsprozesse rekonstruiert werden könnten. Wo etwa im eingangs formulierten Beispiel finanzielle Transaktionen vorherrschen, wäre die Logik des ökonomischen Systems dominierend – so wie politische Macht in Sozialbeziehungen ein Indikator für das politische System wäre. Eine genaue Operationalisierung und Zuordnung von Sozialbeziehungen und Transaktionen zu solchen funktionssystemischen Kommunikationstypen müsste im Einzelfall ausgearbeitet werden.
4.3 Rollenstrukturen Damit ist aber immer noch wenig darüber gesagt, welche Beziehungsstrukturen sich in einem solchen Forschungsfeld mit Akteuren aus verschiedenen Systemen ausbilden müssten. Hier kann der Rollenbegriff weiterhelfen. Rollen spielen sowohl in der Netzwerkforschung als auch in der Systemtheorie eine wichtige Rolle. So hat Talcott Parsons formuliert, dass die an Rollen gebundenen Handlungserwartungen Teil der Lösung des Problem doppelter Kontingenz sind (1961: 41ff.; 1968: 167ff.). Solche Rollenerwartungen können sich im Verlauf von Interaktionsprozessen herausbilden. Sie können aber auch vom institutionellen Kontext – von sozialen Systemen höherer Ordnung wie Organisationen oder Funktionssystemen – vorgegeben werden (Turner 1962; Leifer 1988). In diesem Sinne hat David Easton formuliert, dass sich die Strukturen und auch die Außengrenze des politischen Systems auf der Ebene von Rollen wie Wähler, Autoritäten etc. finden lassen (1965a: 39ff., 56f.). Auch Niklas Luhmann hat früh eine funktionale Differenzierung des politischen Systems in Publikum, Verwaltung und Politik im engeren Sinne auf der Basis einer Rollenstruktur diagnostiziert (1968). In späteren Arbeiten taucht bei Luhmann der Rollenbegriff selten auf – wohl weil er ihm zu sehr an individuellen Akteuren ansetzt, die er spätestens nach der Einführung des Autopoiesis-Konzepts als zweitrangig sieht.18 Rudolf Stichweh sieht dagegen die meisten 18
In Soziale Systeme findet sich noch eine Diskussion der Unterscheidung von ‚Person’ und ‚Rolle’ (1984: 426ff.).
In den Neunzigern formuliert Luhmann in Die Politik der Gesellschaft, dass die politische Rollendifferenzierung in Autoritäten und Untertanen der Vormoderne in der funktional differenzierten Gesellschaft durch eine ‚Differen-
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Funktionssysteme in Leistungsrollen (wie zum Beispiel Berufspolitiker) und Publikumsrollen (etwa Wähler) differenziert (1988). Im Sinne dieser rollentheoretischen Tradition in der Systemtheorie müssten sich verschiedene Differenzierungen (funktional, Zentrum /Peripherie, segmentär, stratifikatorisch) in der Gesellschaft auf der Ebene von Rollenstrukturen nachweisen lassen – und auf diese Weise könnte man eventuell mit Hilfe der Netzwerkforschung die von der Systemtheorie nur postulierten Systemdifferenzierungen empirisch überprüfen. Neben Funktionssystemen bauen auch Organisationen auf der Etablierung von klaren Rollenstrukturen auf, die in konkreten Netzwerken nachweisbar sein müssten. In der Netzwerkforschung ist der Rollenbegriff schon früh eine wichtige Bedeutung zugekommen, konzeptionell zunächst in der Arbeit von Siegfried Nadel (1957). Auch die Blockmodellanalyse soll Rollenkategorien identifizieren, die in einer Netzwerkpopulation die Sozialbeziehungen ordnen (White et al. 1976; Boorman/White 1976). Im Rollenbegriff sind kulturelle und relationale Aspekte von sozialen Strukturen miteinander verknüpft: Rollen beruhen auf der kulturellen Formung von zwischenmenschlichen Erwartungen, die die Beziehungen zwischen den Rollenträgern ausmachen (DiMaggio 1992). Wenn soziale Systeme (wie Funktionssysteme oder Organisationen) die Beziehungen zwischen den Beteiligten prägen, dann muss dies prinzipiell auf der Ebene von Netzwerkstrukturen nachweisbar sein – etwa mit der Blockmodellanalyse. Dazu gehört natürlich auch, dass eventuell auf der Basis von solchen Analysen systemtheoretische Aussagen hinsichtlich der Differenzierung von systemischen Strukturen revidiert werden können.
4.4 Systemkonformität oder Abweichung Aber der Netzwerkbegriff wird nur selten auf Rollenbeziehungen angewandt, die den Vorgaben von Systemen folgen. Stattdessen geht es um Phänomene wie Korruption über Systemgrenzen hinweg, über informelle Einflussbeziehungen in Funktions- und Organisationssystemen (Ledeneva 1997; Krackhardt 1999; Tacke 2000). Insofern zielt der Netzwerkbegriff zumindest bisher auf die Abweichung von systemischen Erwartungen. Trotzdem ist die (quantitative und qualitative) Analyse von systemisch geordneten Rollenbeziehungen in der Netzwerkforschung natürlich möglich und sinnvoll. Denn erst beim Vergleich von Netzwerkstrukturen mit einem Idealtypus von perfekt systemisch geordneten Rollen wird die Abweichung als solche sichtbar. Und da Netzwerkstrukturen nie perfekt geordnet sind, müssen auch verschiedene Kontexte auf den Grad der Ordnung durch systemische Rollenkategorien hin verglichen werden. Dabei könnte zumindest idealiter auch ein Vergleich von systemischen Rollenkategorien und spezifisch relationalen Mechanismen (wie Transitivität, Sozialkapital etc.) hinsichtlich ihrer Erklärungskraft für konkrete Netzwerkstrukturen und auch für die Ausstattung mit Ressourcen erreicht werden. Erst mit einem solchen Vergleich kann diagnostiziert werden, ob wir inzwischen tatsächlich auf dem Weg aus der primär funktional differenzierten Gesellschaft hin zur ‚Netzwerkgesellschaft’ sind, wie Dirk Baecker vermutet (2007:
zierung organisierter sozialer Systeme innerhalb des politischen Systems überformt’ wird (2000a: 115f., 348). Ein Hinweis darauf, dass solche Systemdifferenzierung auf der Ebene von Rollenstrukturen nachgewiesen werden könnte, findet sich hier nicht.
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21ff.). Zu erwarten ist allerdings eher ein differenzierter Befund: In manchen Bereichen werden eher systemische, in anderen eher relationale Mechanismen vorherrschen. Besonderes Augenmerk verdienen dabei Bereiche, in denen verschiedene systemische Logiken aufeinander treffen – also etwa das eingangs skizzierte Policy-Feld zwischen Politik, Massenmedien, Energieunternehmen und Verbänden. Dies betrifft den Bereich ‚zwischen den Feldern’, dem es Gil Eyal in seinen Ausführungen ging (s.o., 2006). Talcott Parsons hat hier Zonen der ‚Interpenetration’ zwischen verschiedenen Funktionssystemen ausgemacht. Nach Niklas Luhmann finden sich zwischen Funktionssystemen ‚strukturelle Kopplungen’. Dazu gehören etwa Steuern als Vermittlung zwischen Politik und Wirtschaft oder Verfassung und Gesetzgebung zwischen Recht und Politik (Luhmann 1997: 778ff.; Fuhse 2005: 88ff.). Dabei umreißt der Begriff ‚strukturelle Kopplung’ ganz unterschiedliche Phänomene, deren Gemeinsamkeit wohl allein in ihrer Funktion der Abstimmung zwischen verschiedenen Bereichen besteht – und weniger in strukturellen Ähnlichkeiten. Einige – wie die Kopplung über Verbände oder über Organisationen (z.B. Universitäten) – müssten sich auf der Ebene von Netzwerkstrukturen nachweisen und analysieren lassen. Andere sind eher auf der Ebene von unpersönlichen Erwartungsstrukturen zu finden, wie etwa Steuern oder die Verfassung. Hier geht es nicht um die Strukturierung von sozialen Netzwerken, sondern gewissermaßen um die allgemeine ‚Färbung’ von Transaktionen über ganz unterschiedliche Sozialbeziehungen hinweg. Auch hier lässt sich mit einem Fokus auf Transaktionen und ‚Types of Tie’ mit der Netzwerkforschung ein empirischer Zugang zu solchen strukturellen Kopplungen herstellen. Wie bei so vielen anderen theoretischen Vorschlägen kann man den Ertrag dieses Zugangs erst richtig einschätzen, wenn man ihn in empirischer Forschung austestet.
4.5 Mehrebenenarchitektur von Systemen und Netzwerken Bei den Betrachtungen zur strukturellen Kopplung wird auch deutlich, dass Netzwerke nicht nur in, sondern auch zwischen Systeme zu finden sein können. Soziale Systeme können sogar selbst zu Knoten in Netzwerken werden (Fuhse 2003: 23f.). Relativ offensichtlich ist dies am Beispiel von Organisationen. So können Parteien, Verbände und Firmen miteinander interagieren, ohne dass man deren Status als Einheiten infrage stellt (Hindess 1986). Dabei ist deren korporative Einheit selbst eine relativ unwahrscheinliche Errungenschaft, die im Austausch in Netzwerken erst realisiert werden muss. So sind Organisationen beständig mit Grenzziehungen – was gehört dazu und was nicht? – beschäftigt und mit der Herstellung von Entscheidungsfähigkeit als Organisation. In Organisationen wird dies auf der Basis von internen Entscheidungen und von formaler Mitgliedschaft hergestellt (Luhmann 2000b). Damit wird einerseits eine Rollenverteilung erlangt, in der die Spitze der Hierarchie, aber manchmal auch relativ untergeordnete Spezialisten wie z.B. Pressesprecher für die Organisation als Ganze sprechen dürfen. Andererseits wird auf der Basis von Mitgliedschaftsregeln und von alltäglichen Grenzziehungen festgelegt, welche Personen und auch welche Aspekte von Personen in der Organisation relevant werden. So ist der Vorstandschef etwa beim Frühstück in der Familie noch Privatmensch, während er beim halbformalen Treffen mit einer Politikerin durchaus Vertreter der Organisation sein kann. Ähnliches gilt für soziale Bewegungen: Auch diese sind zu einem gewissen Grad kollektive Einheiten, die mit Sprechern und eher diffusen Mitgliedschaften und an diese ge73
koppelte informellen Erwartungen als Knoten in Netzwerken auftauchen können – etwa in Policy-Netzwerken. Entscheidend scheint zu sein, dass auf solche Einheiten Entscheidungen und Handeln zugeschrieben warden kann und dementsprechend Sozialbeziehungen in Form von Handlungserwartungen an ihnen anknüpfen können (Fuhse 2009b). Die Kriterien für eine solche Zuschreibung oder ‚Adressabilität’ werden am deutlichsten von Personen und von Organisationen erfüllt (Fuchs 1997). Aber auch soziale Bewegungen oder informelle Gruppen (wie zum Beispiel Gangs) werden oft als Urheber von Handlungen gesehen, in denen aber die Suche nach entscheidungsbefugten Ansprechpartnern schwerer fällt als etwa in Organisationen. In einem konkreten Netzwerk mit verschiedenen Ebenen können natürlich die Grenzen von solchen Organisationen genau so wie die Verbindungen zwischen den Organisationen und auch von deren Mitgliedern relevant werden. Das heißt, dass die verschiedenen Systemreferenzen von Kommunikation auch in der empirischen Forschung berücksichtigt werden müssen, um etwa Rollenkonflikte oder komplexe Interaktionsbeziehungen zu rekonstruieren. Die Netzwerkforschung hat es dann nicht mit abgeschlossenen Einheiten zu tun, sondern mit vielschichtigen sozialen Phänomenen, in denen sich individuelle und korporative Aspekte überschneiden. Ohne den Systembegriff sind solche komplexen Architekturen nur schwer grundbegrifflich in den Griff zu kriegen – etwa der Feldbegriff bleibt diesbezüglich eher blass. Die große Stärke des Systembegriffs liegt also in dieser allgemeinen und konsistenten Theoriearchitektur, in der ganz unterschiedliche Phänomene verortet und begrifflich gefasst werden können – während der Feldbegriff eine eher diffuse Beschreibung dieser Zusammenhänge liefert. 5
Résumé
Wie ist nun die Verknüpfbarkeit der Netzwerkforschung mit der Feldtheorie und der Systemtheorie zu bewerten? Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass die beiden Theorieangebote unterschiedliche Stoßrichtungen haben. Der Feldbegriff setzt an Akteuren und deren Relationen untereinander an und erlaubt es, aus diesen die dem Feld zugrunde liegenden Kräfte zu rekonstruieren. Diese liegen unter anderem in den Regeln (Institutionen), die die Relationen der Akteure untereinander prägen. Aber auch eine Reihe von Ansätzen hat die Konkurrenz in einem Feld um knappe Güter (Neo-Institutionalismus) oder um feldspezifisches Kapital (Bourdieu) betont. In diesem Sinne haben auch Felder sinnhafte Außengrenzen dort, wo die Konkurrenz aufhört und keine wechselseitige Wahrnehmung der Akteure zu beobachten ist. Dies müsste etwa in einer ‚intersubjektiven Phänomenologie’ untersucht werden, wie John Levi Martin fordert. Auch in der Systemtheorie geht es um Sinnstrukturen, die in der Kommunikation eingeschrieben sind und diese anleiten – und nicht alleine in der subjektiven Wahrnehmung der Akteure. Allerdings sieht die Systemtheorie die Triebkraft der Kommunikation in von Akteuren abgelösten systemischen Strukturen, vor allem in Organisationen und Funktionssystemen. Diese sollen gemäß der Luhmannschen Systemtheorie der Eigenlogik ihrer Operationen folgen und dabei Erwartungsstrukturen ausbilden, die vom Einzelnen weitgehend unabhängig sind. Während Akteure und ihre Relationen die Ausgangspunkte der Feldtheorie sind, können diese in der Systemtheorie lediglich als Ergebnisse von überpersönlichen Strukturen und Prozessen gesehen werden. Genau dies erlaubt es aber, aus einer Theorie 74
der Systemdifferenzierung theoretische Erwartungen hinsichtlich der Platzierung von Akteuren und ihrer Beziehungen untereinander abzuleiten. Dies wurde oben als systemisch definierte Rollenbeziehungen diskutiert. Während die frühe Systemtheorie Rollen als integralen Bestandteil von Systemen konzipierte, hat Luhmann in seiner Theorieentwicklung den Rollenbegriff fallen gelassen (um die überpersönliche Natur von systemischen Strukturen zu betonen). Aber gerade der Rollenbegriff erlaubt eine Verbindung von Systemtheorie und Netzwerkforschung. Dabei müsste nicht nur die Differenzierung sozialer Systeme, sondern auch die Abweichung davon in Phänomenen wie Korruption oder informellen Einflussstrukturen bei der Betrachtung von konkreten Netzwerken sichtbar werden. Dieses Spannungsfeld wurde oben kurz mit der Gegenüberstellung von systemischen Erwartungsstrukturen und relationalen Mechanismen gekennzeichnet. Interessant sind die unterschiedlichen methodologischen Implikationen der beiden Theoriestränge für die Netzwerkforschung. Der Systembegriff geht grundsätzlich davon aus, dass die wichtigsten Strukturmerkmale von sozialen Phänomenen theoretisch abgeleitet werden. Insofern sind etwa die Grenzen von Systemen theoretisch festgelegt und auch die Frage, welche Transaktionsprozesse und Aspekte von Sozialbeziehungen untersucht werden sollen. Der Netzwerkbegriff liegt dagegen näher an einer empirisch angelegten Forschungslogik: In einer ‚intersubjektiven Phänomenologie’ (Martin) sollen die Grenzen der wechselseitigen Beobachtung und Orientierung von Akteuren in einem Feld ausgelotet werden. Und aus den empirisch beobachtbaren Beziehungsstrukturen sollen (etwa mit der Blockmodellanalyse) die dem Feld zugrunde liegenden Ordnungsprinzipien (Kräfte, Institutionen) rekonstruiert werden – und nicht schon theoretisch festgelegt, wie in der Systemtheorie. Tabelle 1: Architektur von Feldtheorie und Systemtheorie im Vergleich
Blickrichtung Orientierung Grundbaustein Theoriegegenstand Verknüpfung mit Netzwerkforschung Reichweite Grenze
Feldtheorie Von Einheiten her empiriegeleitet Akteur Feld Relativ einfach
Systemtheorie Vom System her (Außenperspektive) Theoriegeleitet Transaktion /Kommunikation System /Umwelt-Beziehung Theoriekonstruktion
Mittlere Reichweite, objektbezogen Analytisch (?)
Universaltheorie, Gesellschaftstheorie Vom System bestimmt
In Tabelle 1 sind einige Aspekte der beiden Theorieangebote und deren möglicher Verknüpfung mit der Netzwerkforschung zusammenfassend aufgeführt. Während die Feldtheorie von den Einheiten (Akteuren) ausgeht, versucht die Systemtheorie immer eine Außenperspektive auf soziale Phänomene einzunehmen. Während die Feldtheorie einen starken Empiriebezug hat, werden in der Systemtheorie theoretische Erwartungen aus einer allgemeinen Begriffsarchitektur abgeleitet. Der Grundbaustein eines Felds ist der Akteur – mit seinen Orientierungen an anderen Akteuren. Hingegen sieht die Luhmannsche Systemtheorie Kommunikation als die Grundoperation von sozialen Systemen. Infolge dessen ist die 75
Verknüpfung der Systemtheorie mit der Netzwerkforschung relativ anspruchsvoll und verlangt eine weitergehende Theoriearbeit. Die Feldtheorie lässt sich dagegen – insbesondere in den Fassungen von Kurt Lewin, Paul DiMaggio und John Levi Martin – relativ einfach mit der Netzwerkforschung verknüpfen. Durch ihre analytische Vorgehensweise, relationale Konstruktion und Empirienähe erscheint der Bezug zu sozialen Netzwerken geradezu zwingend. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Feldtheorie (außer in der Fassung von Pierre Bourdieu) stark objektbezogene Aussagen macht und weitgehend auf der Ebene von ‚Theorien mittlerer Reichweite’ bleibt. Schließlich unterscheiden sich die beiden Theorieangebote in ihrer Behandlung des Themas dieses Bandes: Die Systemtheorie sieht die Grenze von Systemen als durch das System festgelegt. Insofern ist das Verhältnis von System und Umwelt der eigentliche Gegenstand der Theorie – denn jedes System muss sich durch eigene Operationen von seiner Umwelt ausdifferenzieren, diese aber auch beständig beobachten um auf Umweltveränderungen zu reagieren. In der Feldtheorie hingegen wird der Grundforderung von Lewin gemäß alleine das Feld (in seinem gegenwärtigen Zustand) als ursächlich für das Verhalten der Akteure und für die zukünftige Entwicklung des Feldes gesehen. Die Grenze eines Feldes wird dabei prinzipiell analytisch vom Forscher gezogen. Allerdings wird er sich darum bemühen müssen, dabei die prinzipiellen Verhältnisse der gegenseitigen Beobachtung von Akteuren in Feldern zu beachten. Auch Felder scheinen damit von einer Sinngrenze umzogen, die die Reichweite von Regeln bzw. Kräften im Feld markiert. Und diese Sinngrenze muss ein Forscher identifizieren, wenn er oder sie Aussagen über die Struktur und die Prozesse im Feld machen möchte. Die vorangegangenen Überlegungen dienten in erster Linie dazu, die Implikationen einer Verknüpfung der Netzwerkforschung mit den beiden Theoriesträngen zu diskutieren und zu vergleichen. Die Vorteile der beiden Theorieangebote dürften dabei deutlich geworden sein: Der Feldbegriff mit seinem Blick auf die Relationen zwischen Akteuren und auf deren intersubjektive Orientierung erlaubt eine relativ einfache und direkte Übersetzung in die quantitativen und qualitativen Methoden der Netzwerkforschung. Die Systemtheorie ist hingegen anspruchsvoller und verlangt eine weitergehende Theoriearbeit für eine Verknüpfung mit der Netzwerkanalyse. Dafür ist sie – bei einer entsprechenden Übersetzung von Systemdifferenzierung und Rollenbegriff – in der Lage, theoretische Erwartungen zu formulieren, die es in empirischer Forschung zu explorieren und eventuell sogar zu testen gilt. Außerdem liefert die Systemtheorie eine Mehrebenenarchitektur des Sozialen, in der etwa Akteure in Organisationen, aber auch Organisationen als Akteure zugleich sichtbar werden. Wenngleich die vorangegangenen Überlegungen eine eher neutrale Sicht auf diese unterschiedlichen Verknüpfungsmöglichkeiten einnahmen, dürfte doch eine gewisse Präferenz für das anspruchsvollere Angebot der Systemtheorie deutlich geworden sein. Diese verlangt zwar eine weitergehende begriffliche Arbeit, könnte aber der Netzwerkforschung über die oft betriebene reine Beschreibung ihres Gegenstandes hinaus helfen. Möglich wäre auch eine Verknüpfung aller drei Stränge miteinander: Etwa in dem eingangs formulierten Beispiele treffen Akteure aus unterschiedlichen Systembereichen (Politik, Wirtschaft etc.) aufeinander. Diese orientieren sich natürlich auch über Systemgrenzen hinweg aneinander, solange sie gemeinsame Bezugspunkte und eventuell auch eine Konkurrenz um knappe Güter zeigen. Insofern bilden diese durch ihre Rolle in den jeweiligen Systemen definierten Akteure ein Feld der wechselseitigen Orientierung miteinander, in dem bestimmte Kräfte herrschen, die es mit Mitteln der Netzwerkanalyse zu rekonstruie76
ren gilt. Dabei bilden diese Akteure selbst soziale Systeme (von den Typen ‚Organisation’ und ‚soziale Bewegung’), in denen wiederum Akteure mit spezifischem Rollenprofil miteinander vernetzt sind und unter Umständen auch über die Grenzen ihrer eigenen Organisation oder sozialen Bewegungen auch auf der Individualebene miteinander interagieren. Eine solche Verknüpfung verspricht – unter Inkaufnahme eines gewissen methodologischen Eklektizismus – eine komplexe Theoriearchitektur, in deren Rahmen Netzwerkforschung mit Bezug auf Makro-Phänomene durchgeführt werden könnte. Der vorliegende Aufsatz kann an dieser Stelle die Möglichkeit einer solchen Verknüpfung nur andeuten, die sowohl theoretisch noch einiger Übersetzung von Konzepten und Argumenten bedarf, als auch an empirischen Beispielen ausgetestet werden müsste. 6
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Zur Bedeutung von Emotionen für soziale Beziehungen. Möglichkeiten und Grenzen der Netzwerkforschung Roger Häußling
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Einleitung
Der Facettenreichtum von sozialen Beziehungen ist so groß, dass er Soziologen vor besonderen Herausforderungen stellt, ihm kategorial oder analytisch gerecht zu werden. So lassen sich enge von lockeren Freundschaften unterscheiden, diese wiederum von Bekanntschaften oder Liebesbeziehungen, Hassbeziehungen, Feindschaften, aber auch Nachbarschaftsbeziehungen, Geschäftsbeziehungen, indirekte Beziehungen über Dritte, computervermittelte Beziehungen und viele Beziehungsformen mehr. Alle genannten Beziehungen können wiederum in ihren spezifischen Ausprägungen nuancenreich untergliedert werden. Bei der Charakterisierung dieser Beziehungen spielen Emotionen eine entscheidende Rolle. Zuneigung, Abneigung, Bewunderung, Verachtung und eine Fülle anderer Gefühle grundieren die jeweiligen Beziehungen und machen sie zu dem, was sie sind. Auf dieser Basis werden dann bestimmte soziale Prozesse zwischen den Menschen möglich und andere bleiben ausgeschlossen. Eine relationalistische Soziologie nimmt den Beziehungsbegriff als Grundbegriff. Entsprechend steht sie vor der Herausforderung, sich über die konstitutiven Elemente ihres Grundbegriffs Klarheit zu verschaffen. Doch der Soziologie sind im Bezug auf Emotionen klare Grenzen gesetzt, handelt es sich doch bei ihnen um innerpsychische Vorgänge, gleichviel ob ihre Ursachen und/oder ihre Wirkungen sozial sein können. Unter Rückgriff auf GEORG SIMMEL soll hier diese Abhängigkeit des Sozialen von Nicht-Sozialem relational gedeutet werden: Für SIMMEL steht der nicht-vergesellschaftete Teil des Individuums in Wechselwirkung mit dem vergesellschafteten Teil. So weist SIMMEL darauf hin, dass wir vom Beamten stets wissen, dass er nicht nur Beamter ist; und dieses Außersoziale, sein Temperament und sein Lebenslauf prägen sein soziales Bild mit außersozialen unberechenbaren Aspekten. Der ganze Verkehr der Menschen innerhalb der gesellschaftlichen Kategorien – so SIMMEL – wäre ein anderer, würden sich die Menschen nur entsprechend ihrer jeweilig eingenommenen Rolle gegenübertreten. Der nicht-vergesellschaftete Teil der Menschen hinterlässt also Spuren in den sozialen Prozessen, an denen sie beteiligt sind. Ja, viele der sozialen Prozesse würden gar nicht zustande kommen ohne dieses Außersoziale. Dies gilt insbesondere für Beziehungen: Denn Beziehungen wären tot, wenn sie nicht emotional unterfüttert wären. In jüngerer Zeit sind vielfältige Bestrebungen zu beobachten, eine Soziologie der Emotionen auszuarbeiten.1 Und in der Tat dürfte kaum bestreitbar sein, dass Emotionen weit reichenden Einfluss auf soziale Prozesse besitzen, die auf allen Aggregationsebenen der Gesellschaft stattfinden. Bezüglich der Makroebene denke man an die Gleichschaltung der Gefühle bei Massenveranstaltungen (wie zum Beispiel Demonstratio1
Vgl. in Auswahl: BAECKER (2004); CIOMPI (2004, 1988, 1982); EMRICH (2004); SIMON (2004); STAUBMANN
(2004); STENNER (2004); FLAM (2002); KLEIN/NULLMEIER (1999); VESTER (1991); FIEHLER (1990); GERHARDS (1988); HOCHSCHILD (1979); KEMPER (1978).
nen, Volksmärsche etc.) – und, nicht zu vergessen, deren politische Instrumentalisierung durch Demagogie, wie sie das Dritte Reich in besonders perfider Form praktiziert hat. In diesem Zusammenhang sind auch die sozialpsychologische „Entdeckung“ der Masse und ihre emotionale Manipulierbarkeit zu nennen (vgl. LE BON 151982; CANETTI 1996). Auch FERDINAND TÖNNIES’ Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft ließe sich letztlich auf unterschiedliche emotionale Dispositionen zurückführen. In der Gemeinschaft herrsche ein Gefühl der Verbundenheit und Unmittelbarkeit, das in der Gesellschaft (in Umkehrung von EMILE DURKHEIMs These) in mechanische Solidarität und mit den damit verknüpften versachlichten Gefühlen wechsle. Ferner sind Mode, Reklame, Sport und Politik in massenmedialen Zeiten hoch emotionalisierte Bereiche, die tief in den mikrosozialen Alltag eingreifen. Neben diesen Makrowirkungen von Gefühlen auf soziale Prozesse muss auch ihre konstitutive Funktion für Interaktionen auf der Mikroebene hervorgehoben werden. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man konstatiert, dass die meisten Alltagsinteraktionen überhaupt erst durch das Vorhandensein von Emotionen (z.B. Sympathie vs. Antipathie) zustande kommen, ganz zu schweigen davon, dass sie wesentlichen Einfluss auf den Interaktionsverlauf nehmen. Insofern kann man mit FRITZ SIMON feststellen, „dass Personen ohne das Erleben und die Unterstellung von Emotionen weniger wahrscheinlich miteinander in Interaktion träten“ (SIMON 2004: 122). Den Emotionen muss also eine zentrale Bedeutung für das Zustandekommen sozialer Beziehungen und damit auch sozialer Prozesse, insbesondere Interaktionen, zugesprochen werden. Umso verwunderlicher scheint es zu sein, dass die Soziologie über weite Strecken des 20. Jahrhunderts diese Bedeutung weitgehend ausgeblendet hat. Dabei hätte ein Blick in die Geschichte des Fachs darüber belehren können, dass bereits die frühen Klassiker sich mit diesem Themengebiet befasst haben (zu nennen wären: DURKHEIM, SIMMEL, MAX WEBER, TÖNNIES, ELIAS, PARETO, COOLEY, SOROKIN). Erst Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts kommt es zu einer Revitalisierung einer Soziologie der Emotionen, die seitdem zunehmend an Bedeutung und Aufmerksamkeit gewonnen hat. Im Grunde war in der Organisationssoziologie die Thematisierung von Emotionen nie ganz ausgeblendet und insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Wiederbelebung der Emotionssoziologie von der so genannten Meso-Ebene ihren Ausgang nahm. Es waren Organisationssoziologen wie GOULDNER, KANTER, WEICK und JACKALL, die eher beiläufig auf die Bedeutung von Emotionen bei Managern und deren Entscheidungen aufmerksam machten (GOULDNER 1981: 280-302; KANTER 1975: 395-424; WEICK 1981: 265-280; JACKALL 1988). Auf unterschiedlichen Argumentationslinien kommen sie zu der in Zeiten der Rationalitätsgläubigkeit sehr provozierenden These, dass insbesondere Angst und Furcht eine dominierende Rolle bei Entscheidungen von Managern spielen.2 Daraus lässt sich verallgemeinernd schlussfolgern, dass es weniger die formalen, auf Rationalität und Effizienz beruhenden Reglements sind, welche die fokalen organisationalen Prozesse prägen, als vielmehr a-rationale, auf Gefühle und deren Äußerung bzw. Sublimation beruhende Dimensionen. Die Crux liegt dann darin, dass die formalen Regelwerke 2
So schließen Manager in der Regel eine ganze Palette von Handlungsalternativen von vorne herein aus, weil sie
befürchten, dabei versagen zu können (vgl. WEICK 1981). JACKALL sieht in diesen Gefühlen der Angst und Furcht auch den Grund dafür, dass Manager ihr Berufsethos und ihren Arbeitseinsatz demonstrativ zur Schau stellen, indem sie beispielsweise viel länger als nötig im Büro bleiben (vgl. JACKALL 1988: 35, 59, 79).
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gar nicht auf die zentralen Aspekte organisationaler Alltagspraxis zugeschnitten sind und regelmäßig entweder mit dieser kollidieren oder aber zu ‚emotionalen Dissonanzen’ führen. Typische Fälle von Kollision liegen zum Beispiel bei der Besetzung vakanter Stellen nicht mit den kompetentesten, sondern mit den loyalsten bzw. sympathischsten Kandidaten vor. Typische Fälle von ‚emotionaler Dissonanz’ liegen in der beobachtbaren „Rollendistanz“ (GOFFMAN 1973: 93-171) von Mitarbeitern vor, die zwar die Reglements zum Beispiel bezüglich Regelkommunikation einhalten, dabei aber deutlich zu erkennen geben, dass sie wenig von diesen Reglements halten.3 Die Netzwerktheorie ist in der Lage, diese bislang weitgehend unverbundenen emotionssoziologischen Gedankengänge auf der Makro-, Meso- und Mikroebene zu verknüpfen und ihnen ein theoretisches Fundament mit dem Beziehungsbegriff zu liefern. Dabei wird auch klar, wo die soziologische Beschäftigung mit Emotionen ihre Grenzen hat. Diese bilden zugleich die Grenzen der Netzwerkforschung, sich über die außersozialen Voraussetzungen ihres sozialen Gegen-stands Klarheit zu verschaffen. In einem ersten Schritt wird makrosoziologisch der Zusammenhang zwischen der entstehenden „Netzwerkgesellschaft“ und der gestiegenen Bedeutung von Emotionen herausgearbeitet (Abschnitt 2). Dabei greife ich auf Überlegungen von Dirk Baecker zur „Next Society“ zurück. In Abschnitt 4 soll das hier vertretene relationalistische Konzept von Emotionen dargestellt werden. Da sich dieses auf kursorische Überlegungen von Georg Simmel zu Gefühlen und ihrer Bedeutung für soziale Beziehungen gründet, sollen diese Überlegungen in Abschnitt 3 ausführlicher dargelegt werden. In den Abschnitten 5 und 6 werden noch für die meso- und mikrosoziologische Ebene die Konsequenzen dieses Konzepts ausbuchstabiert. Bei der mikrosoziologischen Ebene werden zudem die Medien, über die Emotionen in Soziales intervenieren, dargelegt. Diese Medien wären dann auch der vornehmliche Untersuchungsgegenstand für empirische Studien, die soziale Beziehungen unter Einbezug des Emotionsaspekts erforschen. Der Beitrag endet mit der Zusammenführung dieser verschiedenen Gedankenstränge.
3
Weitere organisationssoziologische Emotionsstudien liegen mit folgenden Arbeiten (in Auswahl) vor: NEWMAN
(1988) untersucht die Gefühlslagen von entlassenen Managern. Die vorher zelebrierte Orientierung an Effizienz, Rationalität und Routine ist durch die Entlassung dem Gefühl der Scham und Frustration gewichen, insofern sie sich durchweg selbst die Schuld für ihre Entlassung geben. Eine andere Studie befasst sich mit der Rolle von Sekretärinnen als emotionale Stütze ihres Chefs (vgl. PRINGLE 1989). HÖPFL und LINSTEAD untersuchen Unternehmen mit einer „strong culture“. Ihr Forschungsinteresse gilt den Fragen, was die ausgeprägten Erwartungen an hoher Identifizierung emotional für ihre Angestellten bedeuten und auf welche Typen von Angestellten bevorzugt bei der Rekrutierung zurückgegriffen wird (vgl. HÖPFL/LINSTEAD 1993: 76-93). Des Weiteren gibt es mittlerweile eine Fülle von Untersuchungen zu einzelnen emotionalen Aspekten im organisationalen Kontext: So zum Beispiel zu der kompensatorischen Funktion von Humor (vgl. RODRIGUES/COLLINSON 1995: 739-768), zu Nostalgie (insbesondere bezüglich verlorener Arbeitskollegen) (vgl. GABRIEL 1993: 118-141) sowie zu Opposition und Protest (vgl. JACKALL 1988; SCOTT 1990).
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2
Gesellschaft und Gefühle
In seinem Buch „Studien zur nächsten Gesellschaft“ skizziert DIRK BAECKER eine sich abzeichnende neue Gesellschaft, die jenseits hierarchischer oder funktionaler Ordnungsprinzipien aufgebaut ist, da sie sich zunehmend durch Netzwerke leiten lässt. Die Bezeichnung „Next Society“ selbst geht auf PETER F. DRUCKER zurück, die eine kommunikationsmediendeterministische Perspektive verfolgt: „Die Einführung der Sprache konstituierte die Stammesgesellschaft, die Einführung der Schrift die antike Hochkultur, die Einführung des Buchdrucks die moderne Gesellschaft und die Einführung des Computers die nächste Gesellschaft.“ (BAECKER 2007: 7) Dabei erzeuge jedes neue Verbreitungsmedium „überschüssige Möglichkeiten der Kommunikation“ (ebd.), denen die bisherigen gesellschaftlichen Strukturen nicht gewachsen sind. BAECKER spricht deshalb in Bezug auf das neue Verbreitungsmedium von einem Attraktor der gesellschaftlichen Entwicklung (vgl. ebd.). Die dabei neu entstehenden Struktur- und Kulturformen sind entsprechend Erweiterungen, welche die hinzugewonnenen Möglichkeiten produktiv auffangen. Bei der „nächsten Gesellschaft“ verschwimmen nun – so BAECKER – die Grenzen gesellschaftlicher Teilbereiche und machen einer „Temporalordnung“ Platz, in der heterogene Bereiche wechselseitig Eingriffe und Kontrollversuche vornehmen. Beispielsweise versucht die Wirtschaft in das Ausbildungssystem der Hochschulen einzugreifen, religiöse Symbole tauchen im Bereich der Politik auf, die Massenmedien werden von der Politik unterlaufen. Sinnbild dafür ist das Internet, das vorab mehr oder weniger isolierte Bereiche mit einem Netzwerk überzieht, sodass Ereignisse eines Bereichs direkt in andere Bereiche diffundieren und dort Effekte auslösen können. Jedes einzelne Ereignis in dieser neuen Gesellschaftsformation ist dann als ein „nächster Schritt in einem prinzipiell unsicheren Gelände“ (vgl. Baecker 2007: 8) definiert. BAECKER spricht von einer „ökologischen Ordnung“ (ebd.: 9), in der Nachbarschaftsverhältnisse zwischen heterogenen Bereichen vorherrschen, die weniger in einer prästabilierten Harmonie koexistieren, als vielmehr ein Arrangement von Kontrollprojekten bilden, bei dem – ganz im Sinn von HARRISON WHITE - jederzeit benachbarte Bereiche auf Kollisionskurs zueinander geraten können (vgl. ebd.). Ökologische Ordnung heißt dann auch, dass jeder Bereich in grundlegender Weise von den anderen Bereichen seiner Nachbarschaft abhängig wird. „Die gesellschaftliche Form sozialer Ordnung [hat] immer etwas mit Identität und Kontrolle zu tun […]“ (ebd.: 22). Wir haben es „in Wirtschaft und Politk, Wissenschaft und Erziehung, Kunst und Religion und zwischen allen diesen Bereichen mit Netzwerken zu tun […], in denen Leute, Ideen, Geschichten und Institutionen um ihre Identität kämpfen, indem sie mal sanft, mal rücksichtslos all jene zu kontrollieren versuchen, von denen sie abhängig sind“ (ebd.). „[D]as Netzwerk ist von vorne herein als ein Modus der Verknüpfung zu verstehen, in dem jede Beziehung nicht nur als austauschbar, sondern als unberechenbar austauschbar gelten muss“ (ebd.: 23).
Dies muss – so lassen sich BAECKERs Gedanken weiterführen – auch für die Intervention von Gefühlen (und damit für etwas Psychisches) in Soziales gelten. Denn durch die wechselseitigen Eingriffe der in unmittelbarer Nachbarschaft gerückten Bereiche kommen psychische Dimensionen immer stärker im Sozialen zum Zug. Insofern ist in der „nächsten Gesellschaft“ auch mit einer Reemotionalisierung der gesellschaftlichen Prozesse zu rechnen. In der Emotion steckt eine „gesellschaftliche Intelligenz“ (ebd.: 185): Emotion gelingt
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es, die Komplexität der Wechselbeziehungen innerhalb der Gesellschaft greifbar zu machen (vgl. ebd.: 186). Aber es ist auch die umgekehrte Wirkungsrichtung zu beachten. Hierzu findet man Andeutungen in BAECKERs organisations- und wirtschaftsoziologischen Ausführungen der o.g. Schrift. Für ihn dreht sich das „Design der ‚nächsten’ Organisation“ um den Menschen „in seiner einzigartigen Konstitution der Kombination mentaler und sozialer Aufmerksamkeit“ (ebd.: 49f.) Er greift hierbei auf KARL WEICKs Begriff der „mindfullness“ zurück. Denn nur der Mensch sei in der Lage, in komplexen Situationen Entscheidungen zu treffen, zu lernen, kreative Lösungen zu entwerfen und ein Gespür für Situationen zu besitzen, um nur einige Alleinstellungsmerkmale des Menschen herauszustreichen. Bei der ‚Hereinnahme’ des Menschen in die Organisation muss damit gerechnet werden, dass Sympathie und Antipathie die vokalen Organisationsprozesse prägen. In Anspielung an GEORG SIMMEL spitzt BAECKER diese Überlegung in der These zu, „dass die Art des Organisiertseins des Individuums als Mitglied eines Netzwerks bestimmt oder mitbestimmt ist durch die Art seines Nicht-Organisiertseins“ (ebd.: 50f.). Dann können ganz im Sinne von HARRISON WHITE (1992) Emotionen als Kontrollprojekte begriffen werden, und zwar in zweifacher Weise: einerseits als Kontrollprojekte, um Identitäten (Personen, Gruppen, Organisationen etc.) in der Nachbarschaft zu taxieren, zu beeinflussen und/oder auf Distanz zu halten, andererseits als Kontrollprojekte, um Abhängigkeiten mit nachdrücklichen Anforderungen zu versehen. Da eine Kontrolle nach WHITE nur wirkungsvoll sein kann, wenn man sich auch kontrollieren lässt, können auch Emotionen als reziprok angelegte Kontrollprojekte verstanden werden. Weiterführend soll der Körper als das Design einer über Emotionen gesteuerten Kommunikation verstanden werden. Das hier zu erarbeitende relationale Konzept von Emotionen begreift dann Emotionen als Schnittstelle zwischen Kommunikation, Bewusstsein und Körper. Bevor dieses Konzept dargelegt wird (Abschnitt 4), soll an SIMMELs Ausführungen zu Gefühlen angeknüpft werden, ist er doch eine, wenn nicht die zentrale Bezugsfigur relationalistischen Denkens. 3
Georg Simmel als Bezugspunkt
Auch wenn GEORG SIMMEL keine systematische Soziologie der Emotionen entworfen hat, finden sich bei ihm eine Fülle von Hinweisen, dass er ihnen eine zentrale Stellung innerhalb seiner Soziologie eingeräumt hat. Für ihn treten Akteure nämlich vorzugsweise über Gefühle miteinander in Beziehung. Und das besagt, dass man in fast jeder Wechselwirkung auch auf Emotionen stößt. Aber diese Gefühle sind für SIMMEL nicht nur Beiwerk, sondern prägen die betreffende Wechselwirkung entscheidend. Hierbei macht er zwei prinzipielle Formen emotionaler Prägung aus: Einerseits untersucht er, auf Basis welcher Gefühle Akteure in Wechselwirkung treten. Andererseits analysiert er, bei welchen Gruppierungen welche Emotionen dominieren. Im ersten Fall sind Emotionen Veranlasser von Wechselwirkungen. Hierbei handelt es sich um „primäre Gefühle“ (vgl. NEDELMANN 1983: 182ff.; GERHARDS 1988: 46ff.). Im zweitgenannten Fall sind Emotionen Produkte von Wechselwirkungen. Diesen „sekundären Gefühlen“ (GERHARDS 1988: 43ff.) kommen allerdings bestimmte Aufgaben für die ‚Unterfütterung’ und Gestaltung der betreffenden Wechselwirkung zu. 85
„Primäre Gefühle übernehmen die Funktion einer basalen Konstruktionsform, indem sie die Welt in Wichtiges und Unwichtiges, in nah und fern, in Dazugehöriges und Nichtdazugehöriges, in Solidargemeinschaft und Fremdes trennen“ (GERHARDS 1988: 46).4 Diese „primären Gefühle“, „wie Liebe und Glaube, Sehnsucht und Hingebung, knüpfen von dem Subjekt, als dessen Triebe sie auftreten, Verbindungsfäden zu anderen Subjekten, das Netzwerk der Gesellschaft webt sich aus ihren unzähligen Differenzierungen zusammen […]“ (SIMMEL 1995: 76).
Am Beispiel der Liebe soll die Stellung „primärer Gefühle“ in Bezug auf Wechselwirkungen diskutiert werden: In dem Fragment „Über die Liebe“ (1921; wiederabgedruckt in: SIMMEL 2004: 116-175) macht SIMMEL sechs Merkmale reiner Liebe aus: 1) Liebe setze sich nicht aus (emotionalen) Elementen zusammen, sondern sie sei ein nicht zerlegbarer seelischer Akt (vgl. SIMMEL 2004: 124f.). 2) Die Liebe komme ohne Gründe und Zwecke aus – auch in diesem Sinn ist sie ein „primäres Gefühl“ (vgl. ebd.). 3) Liebe sei eine produktive Kraft, insofern sie sich erst den Gegenstand der Liebe schaffe (ebd.: 126 und 172).5 4) Primär sei Liebe als Gefühl aber auch in dem Sinn, dass die Beziehung zwischen Liebendem und geliebten Objekt eine nicht mehr zu steigernde Unmittelbarkeit besitze (vgl. ebd.: 127f.). 5) Da sich die Liebe nur selbst gehorche, gebe es in dieser Gefühlslage starke Schwankungen und Unbeständigkeiten. Deshalb bedürfe die Liebe institutioneller Stützen6 sowie emotionaler Ergänzungen – wie zum Beispiel das Gefühl der Treue (vgl. NEDELMANN 1983: 182). Nur so könne die durch Liebe erzeugte Wechselwirkung eine Beständigkeit erhalten (vgl. SIMMEL 2004: 168).
4
Diese fundamentale Konstruktionsfunktion von sozialer Wirklichkeit überhaupt schreibt SIMMEL neben den
Gefühlen noch dem Intellekt und dem Geld zu. Dabei sind für SIMMEL Gefühl, Intellekt und Geld in genau dieser Reihenfolge evolutionär entstanden (vgl. SIMMEL 1999: 97ff.). Wie GERHARDS betont, haben sie aber ganz unterschiedliche Geltungsansprüche. „Intellektuelle und geldmäßige Weltkonstruktion haben eine universelle und objektive Geltung, während das Gefühl subjektbehaftet bleibt.“ (GERHARDS 1988: 47) 5
Damit hebt SIMMEL in origineller und richtungsweisender Form die Ambivalenz starker Bezogenheit auf einen
anderen Menschen und auf sich selbst ab. Denn der Andere werde in der Vorstellung des Liebenden idealisiert und dadurch überhaupt erst zu dem gemacht, dem „seine Liebe“ gilt (ebd.: 123f.). 6
Für SIMMEL gibt es drei Typen von Liebe: die allgemeine Menschenliebe, die christliche Nächstenliebe und die
erotische Liebe (vgl. ebd.: 145ff.). Für jeden Typ macht SIMMEL spezifische Gründe für die Instabilität und deren institutioneller ‚Heilung’ aus. Beim Gefühl allgemeiner Menschenliebe würden lose Beziehungen zu einer Vielzahl heterogener Individuen aufgebaut, wobei die Handlungsorientierungen immer abstrakt und diffus (da mit universellem Anspruch) blieben. Diese Liebesform könne man durch ihre Umwandlung in einen Zweckverband institutionalisieren. Die christliche Nächstenliebe hingegen löse Wechselwirkungen aus, bei denen die ausgetauschten Werte ungleich seien: Liebe werde gegen Dankbarkeit getauscht. Bei der modernen erotischen Liebe liege die Ursache für deren Instabilität in der Zweizahl, also in dem Problem, die Rhythmik des Lebens zweier Individuen dauerhaft synchronisieren zu wollen. Deshalb suchten Liebende im Verhalten des Anderen nach drei Formen eines Liebesbeweises, der im letzten jedoch uneinlösbar ist: nach Initiative, nach Wunscherfüllung und nach Opferbereitschaft (ebd.).
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Das Gegenteil von Liebe ist für SIMMEL nicht etwa Hass, sondern Gleichgültigkeit (vgl. ebd.: 127f., Fußnote 1). Am Beispiel der Liebe wird sichtbar, dass für SIMMEL „primäre Gefühle“ Wechselwirkungen verursachen, diesen einen ganz bestimmten Charakter verleihen und damit das Miteinander der Menschen entscheidend gestalten. Da sie von keiner anderen (emotionalen) Größe bedingt sind, können „primäre Gefühle“ schwanken, sich steigern, abebben oder gar ganz erlöschen. Sie sind mit anderen Worten unzuverlässig. Damit die durch sie erzeugten Wechselwirkungen trotzdem gesichert sind, müssen Institutionen und/oder weitere, nun „sekundäre Gefühle“, als Ergänzung hinzutreten. Zwar kommt „primären Gefühlen“ die Begründung sozialer Beziehungen zu und den „sekundären Gefühlen“ die Stabilisierung und Aufrechterhaltung von bereits bestehenden Beziehungen. Damit ist aber nicht gesagt, dass sekundäre Gefühle weniger wichtig für die Gesellschaft wären, was gerade bei SIMMELs Kennzeichnung der Treue deutlich wird: „Ohne die Erscheinung, die wir Treue nennen, würde die Gesellschaft überhaupt nicht in der tatsächlich gegebenen Weise irgendeine Zeit hindurch existieren können“ (SIMMEL 1992: 652). Dabei richtet sich das Gefühl der Treue nicht auf andere Individuen, sondern „auf den Bestand des Verhältnisses als solchen“ (ebd.: 655). Dies ist für SIMMEL auch der Grund dafür, dass durch die Treue Wechselwirkungen in ihrem Verlauf nicht nur dauerhafter, sondern auch gleichmäßiger werden. Entgegen dem „primären Gefühl“ der Liebe ist die Treue einer Moral, Werten und Normen zugänglich, sodass Verhaltensabweichungen nicht nur von anderen, sondern vor allem von dem Abweichler selbst als Normverletzungen wahrgenommen und geahndet werden können. Damit wird gleichzeitig aber auch ein psychischer Druck beim Handelnden selbst aufgebaut, der es wahrscheinlicher macht, dass er normkonform handelt. Der Treue kommt – nach SIMMEL – eine „vereinende Rolle“ (ebd.: 659) zwischen der vorwärtstreibenden Kraft der Liebe und der „verharrenden Festigkeit“ (ebd.: 660) ihrer kulturellen Formen (wie z.B. Ehe) zu – im Sinn einer gefühlsmäßigen Synthese. Am Beispiel der Treue lässt sich also ableiten, was SIMMEL unter „sekundären Gefühlen“ verstanden wissen wollte. Sie beziehen sich auf bestehende Wechselwirkungen, die mitunter durch „primäre Gefühle“ hervorgerufen werden. Diese sozialen (genauer: sozialrelationalen) Gegebenheiten mit ihren spezifischen Dynamiken und sozialen Erwartungskonstellationen stehen – nach SIMMEL – in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den psychischen Bedürfnissen und Orientierungen bzw. können zumindest in ein solches Spannungsverhältnis geraten. „Sekundäre Gefühle“ fungieren – gemäß SIMMEL – genau dazu, dieses mögliche Spannungsverhältnis abzufedern. So federe das Gefühl der Treue die Wankelmütigkeit der eigenen Liebe ab. Oder das Gefühl der Dankbarkeit stelle eine innere Verpflichtung dar, die Balance zwischen Geben und Nehmen wiederherzustellen (vgl. SIMMEL 1992: 661). Beim Ehrgefühl werde die Verpflichtung gegen andere zur Selbstverpflichtung (vgl. ebd.: 485; 601). Zu „sekundären Gefühlen“ seien aber auch Hass, Eifersucht, Neid und Missgunst zu rechnen.7 Sie sind für SIMMEL keineswegs destruktiv, was die Wechselwirkung angeht, sondern stellen eine Beziehung zwischen Rivalen auf Dauer. Hass 6)
7
Eifersucht, Neid und Missgunst beziehen sich – gemäß SIMMEL – auf die Verfügungsgewalt über ein begehrtes
Objekt. Während es bei Neid um das Erlangen eines solchen Objekts gehe, ziele die Eifersucht auf den Schutz der bereits erlangten Verfügungsgewalt ab (vgl. ebd.: 319). Bei der Missgunst begehre man ein Objekt, da man es dem anderen nicht gönne.
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komme als „regulatives Gefühl“ insbesondere dann auf, wenn neben Trennendem auch Gemeinsames zwischen Individuen oder Gruppen identifiziert werde (vgl. ebd.: 311ff.).8 Und es sei gerade das Gemeinsame, das die eigene Identität gefährde. Zu deren Schutz entstehe Hass. Auch das Schamgefühl als weiteres „sekundäres Gefühl“ hebt – nach SIMMEL – auf das Spannungsverhältnis ab: Das Schamgefühl entsteht immer dann, wenn ein Akteur den Eindruck gewinnt, eine Norm verletzt zu haben (vgl. auch NECKEL 1991: 81106). Dieses Gefühl kann auch ganz ohne die Gegenwart Anderer entstehen, da sie als ein sozialer Erwartungszusammenhang im Bewusstsein des Normverletzers erscheine: „Wie vermittels einer parlamentarischen Repräsentation der sozialen Gruppe in uns selbst, empfinden wir uns selbst gegenüber so, wie wir von vornherein nur anderen gegenüber empfinden. Daher können wir die innere Lage, die sonst durch die Aufmerksamkeit Anderer in uns zustande kommt, rein immanent zum Anklingen bringen und uns so vor uns selbst schämen.“ (SIMMEL 1983: 145) Entsprechend bewegt sich das Schamgefühl für Simmel in dem kognitiven Spannungsdreieck: des Selbstideals – das sich schon an den Verhaltensstandards anderer anlehnt –, des Selbsturteils über eigene Gedanken und Gefühle im Lichte dieses Ideals sowie des antizipierten Urteils Anderer über mich.9 „Sekundäre Gefühle“ – wie beispielsweise Scham – werden also weitgehend von den Bewusstseinsstrukturen Egos und von dem sozialen Erwartungszusammenhang seines Umfelds geprägt. Hierbei macht SIMMEL nun drei Strukturprinzipien aus, die beides – Bewertung und Erwartung – determinieren: die soziale Distanz zwischen Ego und Alter, der Grad der Eingebundenheit Egos in eine (Referenz) Gruppe sowie die Dauer der bestehenden Wechselwirkung (vgl. auch NEDELMANN 1980: 559ff.) – dahinter verbergen sich im Grunde die drei Sinndimensionen: nämlich die Sozial-, die Sach- und die Zeitdimension.10 4
Relationales Konzept von Emotionen
Das Henne-Ei-Problem bezüglich Emotionen und sozialer Beziehungen – wie es GEORG SIMMEL prototypisch mit der Differenzierung in primäre und sekundäre Gefühle markiert hat – lässt sich durch eine strikt relationale Argumentation umgehen. Demgemäß sind in einem sozialen Raum Positionen beziehbar, die ebenso in Bezug auf das Spektrum an möglichen Gefühlsäußerungen wie bezüglich der Knüpfung sozialer Beziehungen gerahmt sind. Diese Positionen sind demnach in unterschiedlichem Maße vorbestimmt (wie z.B. die Rolle eines Abteilungsleiters in einem Unternehmen), aber auch Ergebnis der Dynamiken und 8
In ihm drückt sich also sowohl die gegenseitige Anerkennung der Beteiligten, da sie sich nicht gleichgültig sind,
als auch ihre antagonistische ‚Einheit’ aus. 9
In bahnbrechender Weise wird damit das Soziale in die Bewusstseinsprozesse des Individuums hereingeholt.
Darauf kann an dieser Stelle leider nicht näher eingegangen werden. Hierbei ist eine direkte Parallele zu MEADs „generalisiertem Anderen“ zu erkennen (vgl. MEAD 111998). 10
Damit hat SIMMEL bereits ein anspruchvolleres Untersuchungstableau formuliert, als 70 Jahre nach ihm THEO-
DORE
D. KEMPER. Zum einen vereinseitigt KEMPER die Sichtweise auf Emotionen: Sie kommen nicht mehr als
Ursache von sozialen Beziehungen in Betracht, sondern nur noch als Wirkung realer bzw. antizipierter Beziehungen (vgl. KEMPER 1978: 43). Insofern erscheint es für ihn möglich, bei Kenntnis des sozialen Beziehungsgefüges Aussagen über die dort vorherrschenden Emotionen treffen zu können. Zum anderen macht KEMPER auf Seiten der Sozialstruktur ‚nur’ die beiden Dimensionen Macht und Status aus.
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Konstellationen der Interaktionsebene, auf die wiederum einzelne Beiträge (zu denen auch die Gefühlsäußerungen zu rechnen sind) der Beteiligten einwirken. Positionen werden dann durch die Ebene der faktischen Gefühlsäußerungen hochgradig aufgeladen und zu schicksalhaften Realitäten gesteigert. Die eigene Position hat einen bestimmten ‚Gefühlshaushalt’ und sie ist einem bestimmten Spektrum an Gefühlsäußerungen anderer ausgesetzt – je nachdem, mit welchen anderen Akteuren die betreffende Position in direkter oder indirekter Form verknüpft ist. Dies ist gerade bei Interaktionen in Organisationen besonders anschaulich der Fall, da man ja dort mit Personen in Kontakt tritt, denen man anderweitig nicht begegnet wäre (weil man beispielsweise unterschiedlichen Milieus, Alterskohorten etc. angehört) und die mit organisational gerahmten Erwartungsund Anspruchshaltungen in Interaktion treten. Relational gewendet heißt dies, dass durch die Anwendung mehr oder weniger positionsspezifisch vorstrukturierter Gefühlsäußerungen sich eine je konkret benennbare soziale Beziehung und eine (positiv bzw. negativ aufgeladene, sprich: erwünschte oder erlittene) Bindung zwischen Akteuren ergibt. Auf diesem Weg beeinflussen Gefühlsäußerungen in entscheidender Weise die Folgeinteraktionen zwischen diesen Akteuren. Dies lässt sich auch von einer noch so weit reichenden formalen bzw. organisationalen Verpflichtung zur Regelkommunikation nicht ausschalten. Demgemäß lässt sich schlussfolgern: Weder sind Emotionen das Resultat einer konkret vorherrschenden Relation, noch ist diese Relation durch Emotionen verursacht, sondern vorgängig ist nur das Beziehungsgefüge mit seinen Dynamiken, in das man als Akteur (hinein) positioniert wird. Durch diese Positionierung ergeben sich bestimmte Möglichkeiten, aber auch Restriktionen im Aufbau von Beziehungen und im Aussenden von Gefühlsäußerungen. Und je nach Positionierung ist man – ob man will, oder nicht – unterschiedlichen Einflussnahmen seitens benachbarter Akteure und deren Gefühlsäußerungen ausgesetzt. Entsprechend gestalten sich die Abhängigkeitensbeziehungen und Gefühlsäußerungen, in die man eingebettet ist, wechselseitig – und dies oftmals ‚unter den Augen’ formaler Vorgaben.11 Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass Gefühlsäußerungen den Kitt bilden, der aus Abhängigkeiten soziale Beziehungen, oder aus Zufallsbegegnungen Bindungen und soziale Netzwerke macht. Dieser Kitt schlägt sich seinerseits in Geschichten über diese Abhängigkeiten, Bindungen und Netzwerke nieder, sodass dann beispielsweise von ‚langjähriger Freundschaft’ gesprochen wird. Auf diese Weise erhält der Akteur auch eine gewisse Orientierung und Zuversicht im Netz der Abhängigkeiten und Einflussnahmen und kann letztere besser taxieren. Wie eine Beziehung wird, was sie ist, hängt jedoch nicht nur von einem Akteur ab, welchen Gefühlen er Ausdruck verleiht, sondern stets wie sie vom Gegenüber aufgefasst und durch korrespondierende oder heilende Gefühlsäußerungen beantwortet werden – also, mit anderen Worten, von dem, was auf der Interaktionsebene stattfindet. Hierbei ist natürlich von Relevanz, ob das Abhängigkeitsverhältnis symmetrisch oder asymmetrisch ist.12 11
So ist im Berufsalltag bei unklarer Kompetenzverteilung den Akteuren kaum möglich, nicht in Rivalität und
Kompetenzstreitigkeiten zu geraten. 12
Ein Vorgesetzter beispielsweise kann sich immer ein breiteres Spektrum an Gefühlsäußerungen leisten als sein
Untergebener, wie PONGRATZ (2002: 276ff.) detailliert herausarbeitet. Typische nonverbale Dominanzsignale von (Führungs-)Personen seien: die Beanspruchung großer Bewegungsfreiheit im Raum, ungezwungene Körperhal-
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Mit anderen Worten legt dann die sich etablierende Beziehung die Grenze der legitimen Gefühlsäußerungen fest – und diese sind im hohen Maß richtungsabhängig. Entscheidend ist nur, dass sie korrespondieren: Der Großzügige erwartet das Gefühl der Dankbarkeit vom Gegenüber. Entsprechend führen das Ausbleiben einer erwarteten Gefühlsäußerung oder die nicht-korrespondierende Gefühlsäußerung – wie zum Beispiel statt Dankbarkeit Dreistigkeit – zur Gefährdung der Beziehung in der gerade vorliegenden Ausprägung. Die Beziehung wird normalerweise – wenn auch immer nur in labiler Weise – von Akteuren austariert, eben vorzugsweise nonverbal (z.B. durch Respekt- oder Freundschaftsbekundungen). Mit der gefühlsmäßigen Unterfütterung einer sozialen Abhängigkeitsbeziehung kommt es zu einer gewissen Festlegung der Intensität und Bandbreite der Beziehung, was wiederum Erwartungen und Erwartungserwartungen bei beiden Akteuren produziert.13 Im Folgenden soll nun dieses relationalistische Konzept von Emotionen zu der mesound mikrosoziologischen Ebene in Bezug gebracht werden. 5
Organisationale Regeln und Gefühle
ARLIE HOCHSCHILD macht in „The Managed Heart“ (1983) die Vorherrschaft von organisationalen Gefühlsregeln und die dadurch ausgelöste Gefühlsarbeit zum Dreh- und Angelpunkt ihrer soziologischen Untersuchung. Anhand der beiden Berufsgruppen Flugbegleiter und Geldeintreiber zeigt sie sehr anschaulich, wie die Berufsposition Personen dazu zwingt, eine bestimmte Gefühlsarbeit („emotional labor“14) an den Tag zu legen. Diese Gefühlsarbeit orientiere sich an im Organisationskontext vorherrschenden Gefühlsregeln. Diese Re-
tung, eine ernste Mimik, ein fixierender Blick sowie lautes, selbstsicheres und ausgiebiges Sprechen. Demgegenüber bilde die Negativfolie davon, also zurückhaltende Bewegungen, Anerkennung entlockendes Lächeln, ausweichende Blicke sowie die Bereitwilligkeit, zu warten und sich unterbrechen zu lassen, typische Zeichen der Fügsamkeit. PONGRATZ räumt ein, dass Führungspersonen bzw. Untergebene nicht notwendigerweise alle diese Signale interaktionsbegleitend aussenden. Gleichwohl ließen sich im Führungsalltag doch eindeutige Verteilungen der Signale ausmachen, die es erlauben würden, Subordinationsgebahren „als Indikator für unterschiedliche Ausprägungen von Herrschaft“ (PONGRATZ 2002: 267) heranzuziehen. All diese Signale werden handlungsbegleitend von Vorgesetzten und Untergebenen wechselseitig zur Darstellung gebracht, um die Legitimität der bestehenden asymmetrischen Beziehung zur Geltung zu bringen. Die permanent erfolgenden Signalisierungen garantieren, dass zwischen Vorgesetzten und Untergebenen stattfindende inhaltliche Kontroversen im Arbeitsalltag nicht desaströs oder für den Untergebenen ruinös enden, sondern – da auf anderer Ebene gleichsam die Fronten geklärt sind – diese Meinungsverschiedenheiten von beiden Seiten rein sachlich im Sinne einer Aushandlung der besten Lösung gesehen werden. Des Weiteren räumt PONGRATZ ein (vgl. ebd.: 269f.), dass die empirische Analyse nonverbaler Symbolik weitere Probleme aufwirft. Zwar gebe es speziell dafür entwickelte Methoden, allerdings lassen diese jenes Maß an Exaktheit und Objektivität vermissen, das zu der Bestimmung dieser Symbolik notwendig wäre. 13
So führt das erwiderte Liebesgefühl möglicherweise zu einer Intimbeziehung und bindet damit die Liebenden in
besonders enger Weise aneinander. 14
Von „emotional labor“ grenzt HOCHSCHILD noch „emotion work“ ab, die im privaten Bereich vorherrsche. Sie
besäße Gebrauchswertcharakter, wohingegen der „emotional labor“ am Arbeitsplatz Tauschwertcharakter zukomme. Zur Debatte über Emotionsarbeit vgl. auch: RASTETTER 1999: 374-388.
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geln legen – so HOCHSCHILD – fest, was und wie in welcher Situation gefühlt („feeling norms“) und was zum Ausdruck gebracht werden soll („expression norms“). Es handle sich dabei um implizite Erwartungen, die legitime Gefühle bzw. angebrachte emotionale Expressionen nach Richtung, Intensität und Dauer spezifizieren. Während bei Flugbegleitern die Gefühle der Freundlichkeit, Herzlichkeit, des Mitgefühls und keine anderen Gefühle erwartet würden, hätten Geldeintreiber gerade gegenteilige Gefühle an den Tag zu legen: nämlich Einschüchterung, Aggression und Verachtung. Kommen anderweitige Gefühle bei den Positionsinhabern auf, so seien sie zu unterdrücken. Diese zu leistende Gefühlsarbeit soll das eigene Empfinden bzw. die Gefühlsäußerungen an die geltenden Gefühlsregeln anpassen. Für HOCHSCHILD bildet diese Anpassung eine Form des „deep acting“.15 Wie Kritiker HOCHSCHILD vorwarfen, handelt es sich bei den beiden von ihr untersuchten Berufsgruppen um besonders restriktiv reglementierte Jobs, die nicht verallgemeinerungsfähig seien. Im Normalfall beinhalten Berufspositionen eine weitaus höhere individuelle emotionale Ausgestaltungsmöglichkeit und die Inhaber sind eher in der Lage, Kontrollversuche bezüglich Ihrer Gefühlsäußerungen zu umgehen (vgl. TAYLOR 1998: 84-103). Trotz dieser berechtigten Kritik ist aber ebenso wenig bestreitbar, dass es auch bei geringer reglementierten Berufen Gefühlsregeln gibt, die ein Spektrum an legitimen Gefühlsäußerungen situationsspezifisch vorgeben.16 Von größerer Tragweite ist folgende Kritik an HOCHSCHILDs Ansatz: Die Differenzierung in authentische und oberflächliche Gefühle sei weder theoretisch noch empirisch tragfähig (vgl. TAYLOR 1998: 99). Dieser Kritik wird hier beigepflichtet, das Problem aber grundlegender darin gesehen, dass überhaupt ein konzeptueller und empirisch-methodischer Zugriff auf Emotionen selbst gesucht wurde. Eine konzeptuelle und analytische Selbstbeschränkung auf Gefühlsäußerungen, wie sie in dem vorliegenden Konzept getroffen wird, umgeht dieses Problem, über den authentischen Status der betreffenden Äußerungen spekulieren zu müssen. Denn prozesssoziologisch-relationalistisch betrachtet ist es zunächst nur von Bedeutung, wie sozial wahrnehmbare Gefühlsäußerungen wirken und zu welchen Reaktionen sie Anlass geben. Die Frage nach deren Authentizität ist dabei solange unerheblich, solange sie in der Interaktion selbst ungestellt bleibt, oder der Akteur nicht den Eindruck gewinnt, die ausgesandten Gefühlsäußerungen revidieren zu müssen (aufgrund von ‚emotionaler Dissonanz’, einem Stimmungswandel, des Widerstands seines Umfelds oder dergleichen). In neueren Arbeiten rückt HOCHSCHILD stärker den aktiven Part der Berufsinhaber hervor und spricht von „emotional entrepreneurs“, die ihr „emotionales Kapital“ gezielt bei der Arbeit und bei der zwischenmenschlichen Beziehungspflege investieren, um ihre soziale Wertschätzung („soziales Kapital“) zu steigern (vgl. HOCHSCHILD 1998: 10ff.).17
15
Eine andere Möglichkeit von „deep acting“ bestünde darin, die Verhaltensweise den inneren Gefühlen anzupas-
sen – was im Arbeitskontext in der Regel zu Konflikten führen würde. 16
Für HOCHSCHILD wirken sich insbesondere eine hohe Arbeitslosenquote sowie Furcht vor Autorität (also ein
Gefühl) darauf aus, in welchem Ausmaß man den Gefühlsregeln, die mit der Ausübung eines Berufs verknüpft sind, folgt und nicht-legitime Gefühle mit sich selbst ausmacht (vgl. HOCHSCHILD 1983: 102; 116-117). 17
Sighard Neckel sieht in diesem Richtungswechsel Hochschilds einen besonders hervorstechenden Fall eines
generellen Trends aktueller Emotionssoziologie, der in der Hinwendung zur Individualisierungsdebatte des „flexiblen Kapitalismus“ bestehe (vgl. Neckel 2005: 421f.).
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Als zentrale Einsicht bezüglich Gefühlsregeln soll in das vorliegende Konzept übernommen werden, dass es „expression norms“ in Form impliziter, an bestimmte Positionen geknüpfter Erwartungen gibt, welche die Gefühlsäußerungen des Positionsinhabers – je nach konkreter Position – mehr oder weniger einschränken. Und da dieser Positionsinhaber in Beziehung steht mit anderen Positionsinhabern des betreffenden Netzwerks, für die natürlich entsprechende „expression norms“ gelten, ist er auch einem ganz bestimmten Spektrum an Gefühlsäußerungen seines Umfelds ausgesetzt, denen er mittels „Gefühlsmanagement“ zu begegnen hat. Dies gilt natürlich in besonders verschärfter Form in Organisationen. 6
Interaktionen und Gefühle
Betrachtet man die Mikroebene sozialer Prozesse, also Interaktionen, können Gefühlsäußerungen auf vier verschiedene analytisch voneinander zu trennende Ebenen Bezug nehmen: (a) Dem Interaktionskontext, der über (kulturelle) Bedeutungsstrukturen (Semantiken) in die Interaktion einwirkt (b) den Interaktionsdynamiken und –strukturen selbst (c) den Beiträgen einzelner Akteure (d) den Emotionen anderer (aber auch der eigenen). Es lässt sich folglich eine Semantik distinkter Gefühle ausmachen, die in einem Sozialkontext vorherrscht, wie zum Beispiel eine bestimmte „Kultur“ der Trauer oder der Freude. Darunter fallen natürlich auch die aufgrund eines bestimmten organisationalen Kontexts vorgegebenen Regeln, Ver- und Gebote bezüglich bekundbarer Gefühle. Auch die Gefühlsäußerungen, die sich auf die „Legitimitätsgeltung“ (WEBER 51980: 124) des je vorherrschenden Kontextes beziehen, werden hier als Zugehörigkeitsbekundungen bezeichnet, wobei darunter auch die ‚negativen’ Ausprägungen also (nonverbale) Torpedierungen und Distanzierungsversuche zu subsumieren sind. Des Weiteren (re)agieren Gefühlsäußerungen in Bezug auf die fokalen Prozesse und Konstellationen der Interaktionsebene, wie zum Beispiel auf einen gerade ablaufenden Streit oder auf sichtbar werdende Machtasymmetrien zwischen Akteuren. Sie bilden damit nonverbale Kommentare und Stellungnahmen eines Akteurs zum ablaufenden Interaktionsgeschehen. Diesen Interaktionskommentaren geht folglich die Deutung des Geschehens voraus. Sie (re)agieren insbesondere auch auf Interaktionsbeiträge anderer, wie z.B. ein zustimmendes Nicken als Reaktion auf den Redebeitrag eines anderen Akteurs. Damit wird die eigene Deutung fremder Beiträge zu einer Stellungnahme. Und diese Stellungnahme kann ihrerseits als Beitrag in den fokalen Interaktionsprozess eingehen und Richtungsänderungen herbeiführen.18 Gefühlsäußerungen beziehen sich aber auch auf eigene Beiträge zur Interaktion in Form von Präzisierungen oder Kaschierungen, also – kurz gesagt – im Sinn von ‚Ausflaggungen’ der eigenen Handlungen und Kommunikationen. So kann beispielsweise ausschließlich ein schelmischer Blick auf die Doppelbödigkeit des Gesagten hinweisen. Eine 18
So wird in differenzierter Weise erklärbar, dass ein verärgerter Blick Egos Alter dazu veranlasst, seine gerade
getätigte Aussage zu präzisieren und dabei mit der Einleitung beginnt: ‚Er habe es anders gemeint’, ohne dass ein einziges Wort von Ego gefallen wäre.
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Ausflaggung kann dann sowohl für Klarheit als auch für Unklarheit sorgen, wie eine Handlung gemeint ist. Und beide Strategien werden auch von den Akteuren bewusst im Sinne gezielter Präzisierung oder Täuschung eingesetzt. Affekte werden normalerweise als das erruptive und (scheinbar) unkontrollierte Äußern von Gefühlen gedeutet, wie das plötzliche Erröten des Gesichts von Ego bei einer Anschuldigung von Alter oder das unvermittelte Weinen, das die eigene Schilderung eines traumatischen Erlebnisses unterbricht.19 Nach dem hier dargelegten Konzept handelt es sich bei Affekten um Gefühlsäußerungen, die auf sich selbst als Gefühle Bezug nehmen. In Tabelle 1 sind die vier Typen von Gefühlsäußerungen nochmals mit Angabe der Bezugsebene und ihrer Funktionen dargestellt.
19
Zu Therapiezwecken wird ja gerade mit diesem ‚Hochheben’ eines brisanten Erlebnisses auf eine Interaktions-
ebene gearbeitet: Dass dieses Erlebnis zum fokalen Reflektionsprozess eines Gesprächs zwischen Traumatisierten und Therapeuten wird, das ersterer es – das Unfassbare – in Worte fasst, einem anderen mitteilt und sich selbst dabei als Erzählenden erlebt, der darüber sprechen kann, sind schon entscheidende Schritte einer Distanznahme vom Trauma, welche die Voraussetzung eines konstruktiven Umgangs damit bildet. Darauf wies schon NIETZSCHE
hin: „Unsre eigentlichen Erlebnisse sind ganz und gar nicht geschwätzig. Sie könnten sich selbst nicht mitt-
heilen, wenn sie wollten. […] Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus.“ (NIETZSCHE ²1988: 128).
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Tabelle 1: Typologie der Gefühlsäußerungen nach der Bezugsebene Gefühlsäußerung
Bezugsebene
Funktion
Zugehörigkeitsbekundung
Interaktionskontext
- Legitimitätsgeltung des Interaktionsrahmens, der vorherrschenden Abläufe und Semantiken (z.B. Hierarchien) - Reproduktion von emotionalen Semantiken („Emotionskultur“)
Interaktionskommentar
Interaktionsnetzwerk
- Legitimität von ‚Positionen’ und Rollenmustern’ - Organisation von Interaktionssequenzen
Ausflaggung
(eigene) Interaktionsbeitrag
- Bedeutungsanreicherung getätigter Interaktionsbeiträge
Affekt
Bezug auf sich selbst als
- soziale Zuschreibung
Gefühl
von Authentizität - emotionale Lösungsversuche von anderweitig nicht lösbaren Handlungsproblemen
Auf welche Medien greifen Akteure zurück, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen? Sicherlich steht dazu auch die Sprache zur Verfügung, die zum Beispiel bei einer Liebeserklärung herangezogen wird. Entscheidender ist aber, dass Akteure ihren Körper zum Äußern von Gefühlen bevorzugt einsetzen – und dies nicht nur, weil man körperlichen Bekundungen eine höhere Authentizität – da weniger bewusst kontrollierbar – und eine stärkere Bezogenheit auf das jeweilige Gegenüber attestiert.
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Zu diesem Körperaspekt von Emotionen gibt es – wie die jüngsten Bemühungen um eine Soziologie des Körpers aufzeigen (vgl. z.B. GUGUTZER 2004; SCHROER 2005) – eine Fülle von Anknüpfungspunkten bei den soziologischen Klassikern, die zumindest implizit eine Körpertheorie verfolgten. Sie setzten sich insbesondere mit der Körperlichkeit und ihrer Wahrnehmung bzw. Deutung unter dem Aspekt auseinander, welche Bedeutung ihnen bei der Stabilisierung und Fortschreibung von Interaktionen zukommt. GEORG SIMMEL begriff den menschlichen Körper als das primäre Deutungsobjekt im Fremdverstehen. Nach ALFRED SCHÜTZ – und ihm folgend nach BERGER und LUCKMANN – bildet die körperliche Kopräsenz die Bedingung der Möglichkeit gemeinsamer Erfahrung und Intersubjektivität schlechthin. Für NORBERT ELIAS und MICHEL FOUCAULT findet mit dem Beginn der Moderne eine zunehmende Disziplinierung des Körpers statt.20 Für die Berücksichtigung des Körpers im Rahmen einer Interaktionstheorie ragt ERVING GOFFMAN heraus, der den menschlichen Körper als Medium der Selbstdarstellung und als Folie der Situationsdefinition auffasste. Wie fundamental er dabei den Körper ansetzt, belegt das folgende Zitat: „Ein Mensch kann aufhören zu sprechen, er kann aber nicht aufhören, mit seinem Körper zu kommunizieren“ (GOFFMAN 1971a: 43). Neben dieser grundlegenden kommunikativen Bedeutung des Körpers betrachtet GOFFMAN insbesondere den strategischen Einsatz des Körpers durch Akteure, nämlich in Form dramaturgischer Inszenierungen. Zum einen seien die Beteiligten dazu angehalten, ihren Körper in einer erwartbaren Weise einzubringen. Es handelt sich also um konventionelle Muster bzw. um Semantiken, die sich in Körperkontrolle und – um mit HOCHSCHILD zu sprechen – in „Gefühlsarbeit“21 bekunden. Zum anderen bergen Gestik, Mimik, Stimme, Körperhaltung, Bewegung, Benehmen und Auftreten Möglichkeiten der pointierten Herstellung bzw. Manipulation eines Eindrucks. Hier tritt der Körper als strategisch einsetzbares Medium von Gefühlsäußerungen in Erscheinung. GOFFMAN hat damit den Zusammenhang zwischen Körper und Gefühlsäußerungen für die Welt der Interaktionen präzise identifiziert: „Gefühle, Stimmungen, Wissen, Körperhaltungen und Muskelbewegungen sind im sozialen Handeln innig miteinander verknüpft […]“ (GOFFMAN ²2001: 57). Diesen Gedanken GOFFMANs aufgreifend fordern RAAB und SOFFNER ein neues Forschungsfeld aktueller Körpersoziologie: „Sie muss sich auch richten auf die mit dem Körper und auf seiner Oberfläche sich der Deutung darbietenden Zeichen: auf die von der aktuellen Körpersoziologie bislang vernachlässigten Frage nach dem Entwerfen und Darstellen, Deuten und Verstehen von Körperbildern in Interaktionssituationen.“ (RAAB/SOEFFNER 2005: 168) Dabei greifen die beiden Autoren auf SIMMEL zurück, für den der Körper die höchste Verdichtung der Ausdrucksmöglichkeiten eines Individuums bilde (vgl. ebd.: 178), da er die Gefühlslage und Stimmung des betreffenden Individuums in einer Gesamterscheinung dem unmittelbaren Umfeld vermittle. Insofern rückt der Zusammenhang zwischen physischen Dispositionen und Emotionen in den Mittelpunkt einer empirisch ausgerichteten Emotionssoziologie. JACK KATZ (1999) hat dazu einen mustergültigen Vorstoß geliefert. Auf Basis von Videoanalysen versuchte er empirisch genau das zu erfassen, was hier mit 20
Weitere Anknüpfungspunkte für eine aktuelle Körpersoziologie bieten selbstverständlich auch die Anthropolo-
gien ARNOLD GEHLENs (z.B. sein Begriff des „Handlungskreises“) und HELMUTH PLESSNERs (z.B. seine Unterscheidung in „Körperhaben“ und „Körpersein“). 21
Den Zusammenhang zwischen GOFFMANs Bild vom Menschen und seinen Emotionen einerseits und HOCH-
SCHILDs
emotionssoziologischem Ansatz andererseits hat FRANKS (1987: 93-105) herausgearbeitet.
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Gefühlsäußerungen umrissen wird. Diese äußern sich auch für KATZ primär in körperlichen Aspekten des menschlichen Verhaltens. Entsprechend fokussiert er ganz auf die Analyse der physischen Dispositionen. Zur Begründung einer solchen auf die körperlichen Aspekte von Gefühlen konzentrierten emotionssoziologischen Forschung führt KATZ zwei Argumente an: Zum einen kenne man aus der eigenen Erfahrungswelt, dass Gefühle körperlich gespürt werden. So äußert sich das Gefühl der Verlegenheit im Erröten des Gesichts oder das Gefühl der Angst in Herzrasen und ‚weichen Knien’. Dies gilt im Grunde für alle Gefühle in mehr oder weniger körperlich ausgeprägter Form. Aber auch die Umkehrung gilt: Körperliche Dispositionen erzeugen bestimmte Gefühle. Dabei sind für eine soziologische Interaktionstheorie weniger die körperlichen Gebrechen von Relevanz, als vielmehr körperliche Positionierungen in einem sozialen Raum, die Gefühle auslösen. So hat GESA LINDEMANN (1992: 330-346) darauf hingewiesen, dass bei face-to-face-Situationen die körperliche Kopräsenz als physische Nähe spürbar ist, die entsprechende Gefühle bei den Beteiligten auslösten. Zum anderen – so das zweite Argument von KATZ für eine Fokussierung auf körperliche Aspekte von Gefühlen – sind Akteure in der Lage, bestimmte Gefühle durch den Körper zum Ausdruck zu bringen, was für die Bewältigung alltäglicher Interaktionen von grundlegender Bedeutung ist. So kann ein Akteur nur durch seinen Körper zum Ausdruck bringen, dass er über einen Redebeitrag eines anderen verärgert ist. Bis zu einem gewissen Grad ist der Körper – ganz im Sinn GOFFMANs – ein formbares und manipulierbares Medium für den Akteur, der darüber gezielt bestimmte Gefühlslagen zum Ausdruck bringen bzw. nicht passende Gefühle unterdrücken kann, sodass bestimmte Eindrücke bei den Interaktionsbeteiligten entstehen. In diesem Sinn spricht KARIN TRITT (1992: 155f.) von physischen Anzeichen, die bei den Beteiligten Emotionszuschreibungen auslösen. Der Körper wird dabei von ihr als „Informationsträger“ (ebd.: 157) bezeichnet, der den anderen Akteuren zur Deutung vorliegender Gefühlslagen fungiere. Dabei werde bei der Deutung auf Typologien von Ausdrucksformen zurückgegriffen, die gleichzeitig als Erfahrungsschemata fungierten (ebd.: 155). Genau an diesen Bemühungen von SIMMEL, GOFFMAN, RAAB und SOEFFNER, LINDEMANN, TRITT sowie KATZ, die Emotionssoziologie mit einer Körpersoziologie (im Rahmen einer Interaktionstheorie) zu verknüpfen, soll nun konstruktiv angeschlossen werden. Als Medium emotionaler Sinnvermittlung tritt der Körper in mehrfacher Form in Erscheinung, sodass auch mehrere Gefühle gleichzeitig zum Ausdruck gebracht werden können. ROBERT G. HARPER (1985: 29-48) und ihm folgend HANS J. PONGRATZ (2003: 173ff.) haben dabei folgende fünf körperliche Dimensionen als zentral erachtet: die Bewegung im Raum („proxemics“), die Körperhaltung („kinesics“), der Gesichtsausdruck („facial expressions“), der Blickkontakt („visual behavior“) und nonverbale Aspekte des Sprechens („paralanguage“). TRITT erweitert diese Einteilung um zwei weitere Dimensionen: „(…)der Raum zwischen einer Person und dem emotionsbezogenen Gegenstand (z.B. einem Mitmenschen)“ sowie „spezielle Handlungsweisen gegenüber einer Person“ (TRITT 1992: 158f.). Unter dem Zweitgenannten sind emotional aufgeladene Handlungsweisen zu verstehen, wie z.B. körperliche Übergriffe. Solche Handlungsweisen lassen sich in der hier verwendeten Systematik (vgl. Tabelle1) dem Affektuellen zurechnen. Die Dimension des
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Zwischenraums22 hingegen kann bei Interaktionssequenzanalysen durchaus wichtige Informationen über die vorherrschenden Beziehungen liefern. Dass Sprache ein Medium für Kommunikation ist, gehört mittlerweile zum Kanon gesicherten soziologischen Wissens. Die Einsicht, dass unser Körper ebenfalls ein zentrales Medium für Interaktionen bildet, muss erst noch in der etablierten Soziologie Platz greifen (vgl. GUGUTZER 2004; SCHROER 2005). In dem Maß jedoch, wie die Emotions- und Körpersoziologie empirisch werden und zu den nonverbalen Signalisierungen vorstoßen, wächst auch die theoretische Einsicht, dass Sprache, Gestik, Mimik und Körperhaltung formal (auf keinen Fall aber inhaltlich) äquivalente soziale Sachverhalte, nämlich Vermittler von Informationen bilden. Dass diese Einsicht noch nicht zum soziologischen Kanon gehört, bedeutet auch, dass diese sozialen Medien nur sehr stiefmütterlich von soziologischer Seite erforscht und konzeptualisiert worden sind. Entsprechend muss hier auf die Linguistik, Verhaltensforschung, Psychologie und Sozialpsychologie ausgewichen werden (vgl. SCHERER 1982; SCHERER/WALLBOTT ²1984). 7
Verknüpfung der Argumentationslinien
Wie ist nun das eingangs formulierte Postulat – Emotionen und Gefühlsäußerungen machen aus Abhängigkeiten soziale Beziehungen – zu verstehen? Zur Erörterung soll ein Beispiel gegeben werden: Das Gefühl freundschaftlicher Zuneigung muss in irgendeiner Form – sei es verbal oder nonverbal – demjenigen, dem dieses Gefühl gilt, signalisiert werden, sodass bei Erwiderung bzw. vermeintlicher Erwiderung des Gefühls eine Freundschaft entstehen kann. Was geht dabei soziologisch Relevantes vonstatten? Auch zur Beantwortung dieser Frage hat GEORG SIMMEL den entscheidenden Fingerzeig geliefert: Emotionen und Gefühlsäußerungen fungieren hierbei als „Regulative“, um das so genannte Grenzziehungsproblem jeglicher Wechselwirkung oder – moderner formuliert – Interdependenz zu lösen (vgl. auch NEDELMANN 1983: 184-192). Denn jede zwischenmenschliche Begegnung ist geprägt von zwei antagonistischen Prozessen: Zum einen muss jedem Beteiligten ein „soziale[s] Recht […] auf Eindringen in den Andern“ (SIMMEL 1992: 698) gewährt werden. Jeder komplettiert die Einblicke, die der Andere in solchen Begegnungen verbal und nonverbal gewährt, zu einem ganzen Bild des Gegenübers. Dies geschieht allein schon dadurch, dass er Hypothesen über die nicht mitkommunizierten Motive einer Intervention aufstellt.23 Und das Gegenüber weiß auch stets, dass solche Bilder von ihm bzw. Geschichten über ihn von den anderen Beteiligten angefertigt werden. Zum anderen muss jeder Beteiligte dem Anderen auch ein „Recht auf Diskretion“ (ebd.) einräumen.24 22
LEIPOLD (1963) war einer der ersten, der den empirischen Nachweis erbrachte, dass man zu unsympathischeren
Personen eine größere Distanz hält. 23
An dieser Stelle könnte man einen Bezug zum ethnomethodologischen Begriff der „Indexikalität“ herstellen.
24
Für SIMMEL ist der „soziale Raum“ eine relational aufgeladene Topographie der Nähe und Ferne, des Zu- und
Gegeneinanders, sowie der Lücken ganz im Sinne von RONALD BURTs „strukturellen Löchern“: „Die Wechselwirkung unter Menschen wird […] auch als Raumerfüllung empfunden. Wenn eine Anzahl von Personen innerhalb bestimmter Raumgrenzen isoliert nebeneinander hausen, so erfüllt eben jede […] den ihr unmittelbar eigenen Platz, und zwischen diesem und dem Platz der nächsten ist unerfüllter Raum, praktisch gesprochen: Nichts. In dem
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Damit wird aber gleichzeitig eine „Grenze zwischen dem Teil seiner Persönlichkeit, mit dem es hineingehört, und dem Teil, der außerhalb der ganzen Beziehung bleibt“ (ebd.: 699f.), gezogen. Die Respektierung der Grenze Egos wird zu einem Interventionsproblem Alters: Einerseits soll er Distanz gegenüber Ego wahren und dessen Recht auf Privatsphäre respektieren. Andererseits hat er Signale der Wertschätzung und „Ehrerbietung“ (GOFFMAN) auszusenden, will Alter nicht den Fortgang der Interaktion gefährden. Gerade diese stelle aber ein „Eindringen in den Andern“ dar, da man mit diesen Signalisierungen stets auf die gesamte Persönlichkeit abziele, also dokumentiere, dass man „Schlüsse, Deutungen und Interpolationen“ gezogen hat, „bis ein soweit ganzer Mensch herauskommt, wie wir ihn innerlich und für die Lebenspraxis brauchen“ (SIMMEL 1992: 698). Diese Gradwanderung des Aussendens solch widersprüchlicher Signalisierungen wird nun aber gerade auf der Ebene der Gefühlsäußerungen vollzogen, ist sie doch in hochgradig subtiler und differenzierter Weise in der Lage, auch zeitgleich den unterschiedlichen Anforderungen den erwarteten Ausdruck zu verleihen. Das Interventionsproblem durch die Grenzziehung stellt sich jedoch noch einmal, nun auf Seiten Egos: Was gibt er preis, und was soll außen vor bleiben? Diese Fragen müssen immer wieder neu beantwortet werden, sodass – wie SIMMEL es formuliert – nicht „Gefühle von Indiskretion gegen uns selbst und direkte Schädigungen“ entstehen (ebd.: 752). Dieses ‚Management der eigenen Interventionen’ wird – nach SIMMEL – leidvoll erlernt, indem Akteure durch die erlittenen Konsequenzen, zu viel offenbart zu haben, entsprechend restriktive Grenzziehungen der Mitteilungen über sich selbst ableiten. Diese Grenzen existieren nicht von sich aus, sondern müssen eigenaktiv als Schutzmaßnahme festgelegt werden, weil „die seelische Sphäre des Individuums [insbesondere unser Gefühlsleben, R.H.] überhaupt nicht gegen die der anderen von vornherein so sicher abgegrenzt ist, wie die seines Körpers“ (SIMMEL 1992: 752). Mit anderen Worten muss Ego stets abwägen, welchen seiner Gefühle er Ausdruck verleihen möchte (oder allgemeiner: welche persönlichen Informationen er preisgeben möchte) und welche er ausblendet. Nach SIMMEL kommt es darauf an, dass wir als Akteure durch das jeweils geeignete Maß des Preisgebens und des Ausblendens „das rechte Bild unser Persönlichkeit in Andern erzeugen und erhalten“ (ebd.: 753).25 Auch hier weiß das Gegenüber stets, dass bei den Handlungen Egos mit gezielten Ausblendungen gearbeitet wird, um einen bestimmten Eindruck zu erzeugen. Dies bedeutet beobachtungspraktisch, dass das Gegenüber besonders auf die Zwischentöne der Gefühlsäußerungen Egos seine Aufmerksamkeit richtet. Die Gefühlsäußerungen, welche auf Anerkennung der persönlichen Sphäre des anderen und gleichzeitig auf Anteilnahme (z.B. durch Signalisierung von Respekt und Sympathie) abzielen bzw. der unterschiedlich ausgeprägte Mangel an diesen Gefühlsäußerungen, sind es, die den sozialen Relationen ein je besonderes Gepräge verleihen. Sie werden Augenblick, in dem diese beiden in Wechselwirkung treten, erscheint der Raum zwischen ihnen erfüllt und belebt. Natürlich ruht dies nur auf dem Doppelsinn des Zwischen: dass eine Beziehung zwischen zwei Elementen, die doch nur eine, in dem einen und in dem andern immanent stattfindende Begegnung oder Modifikation ist, zwischen ihnen, im Sinne des räumlichen Dazwischentretens stattfinde.“ (ebd.: 689) 25
Die Nähe zu GOFFMANs Konzept der „Interaktionsordnung“ ist frappant (vgl. GOFFMAN ²2001: 50-104). SIM-
MEL
nimmt hier wesentliche Theorieelemente vorweg: GOFFMANs Idee der Vorder- und Hinterbühne, die Selbst-
Darstellung als „Impression-Management“ sowie der tiefere Grund für das Spiel zwischen Sich-Offenbaren und Verheimlichen als Selbstschutz eines „verletzlichen Selbst“ (vgl. HETTLAGE 1999: 198f.).
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gleichsam emotional zu sozialen Beziehungen aufgeladen. Die dabei zum Einsatz kommenden Gefühlsäußerungen besitzen weitreichende Konsequenzen bezüglich der wechselseitigen Verortung der Akteure und somit bezüglich der (sozialräumlichen) Abstände zwischen ihnen, was seinerseits die Festlegung der Intensität der Relationen und der Umfang und die Heterogenität des Austauschs an Wissen über den Anderen sowie an Folgeemotionen nach sich zieht. In diesem Sinn kann bei einer auf wechselseitig signalisierter Sympathie beruhenden Abhängigkeitsbeziehung von einer Freundschaft gesprochen werden. Die Freunde heben in ihren Begegnungen in vielfältiger Form genau auf die zwei zentralen Achsen ab – der Anerkennung und der Anteilnahme –, die bestimmen, wie mit dem „verletzlichen Selbst“ (GOFFMAN, vgl. HETTLAGE 1999: 198f.) des Gegenübers umgegangen werden soll und welche Zugänge zu ihm legitim sind.26 Wenn man so will, kommt es damit zu einer Qualifizierung der sozialen Relationen: Sympathie, Antipathie oder Neu-tralität27 sind dann erste Bestimmungsmöglichkeiten einer auf Basis von Gefühlsäußerungen sich etablierenden sozialen Wechselwirkung. Genau in diesem Sinn – um die Eingangsfrage zu beantworten – machen Gefühlsäußerungen aus sozialen Abhängigkeiten Beziehungen. Und netzwerktheoretisch gewendet bedeutet dies, dass vor allem in nonverbaler Form die Gültigkeit der positionsbezogenen Konstellationen der Interaktionsebene zum Ausdruck gebracht wird: Es geht um die Anerkenntnis von Positionen anderer, ihrer Rollen und ihrer zur Anwendung gebrachten Rollenmuster, aber auch um die Akzeptanz der eigenen Position und der als legitim geltenden wechselseitigen Eingriffe, oder – formal ausgedrückt – um die Knoten und Kanten des jeweils vorherrschenden Netzwerks.28 Denn die emotionale Unterfütterung des sozialen Relationengefüges zu einem aufgeladenen Beziehungsnetz sorgt auch für die inhaltliche Spezifizierung der jeweiligen Beziehung – also, was vom Gegenüber gewusst werden darf, worüber man Sprechen und welche gemeinsamen Aktivitäten man vollführen kann, aber auch in welcher Weise und Bandbreite man den Anderen in Anspruch oder gar in die Pflicht nehmen kann. Ziel dieses Aufsatzes war es, den Wechselbezug zwischen Emotionen und Sozialem aus einer relationalistischen Perspektive herauszuarbeiten. Dabei wurde auch die Grenze identifiziert, bis zu der man sich bei der Beschäftigung mit sozialen Beziehungen emotionssoziologisch vortasten kann. Dies wurde mit der begrifflichen Verschiebung weg von Gefühlen hin zu Gefühlsäußerungen markiert. Emotionen können nur beziehungsrelevant werden, wenn sie kommuniziert werden, und damit eine emotionale Unterfütterung für die Beteiligten direkt erlebbar wird. Mit dem Begriff der Gefühlsäußerung29 soll der Mittei-
26
Strukturell betrachtet, findet bei Feindschaftsbeziehungen das Gleiche mit umgekehrten Vorzeichen statt: Auch
hier wird das Gegenüber im Gegensatz zur Gleichgültigkeit zunächst als relevanter Interaktionspartner anerkannt, nur die Zugänge zu ihm sind durchweg auf Konfrontationskurs ausgerichtet. 27
Für SIMMEL ist es ein Kennzeichen der Moderne, dass es überhaupt neutrale Abhängigkeitsrelationen zwischen
Akteuren geben kann. 28
Mit HARRISON C. WHITE gesprochen, liegt hier das handlungspraktische Problem vor, inwieweit man den
anderen kontrolliert und in welchem Maß man ihm eine Kontrolle über einen selbst gewährt. Der Nebeneffekt ist bekannt: der Gewinn einer (fragilen) Identität. 29
THEODOR LITT (³1928) spricht in diesem Zusammenhang von „Ausdrucksbewegung“, an der sich zeige, „dass
das Individuum […] so geschaffen oder so beschaffen ist, dass es ein ‚Etwas’ aus sich heraussetzen kann – eine Bewegung, eine Geste ein Wort -, das zwar einerseits ihm selbst zugehört, das aber andererseits, als Geäußertes,
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lungsaspekt hervorgehoben – und gleichzeitig der für wenig ergiebig erachteten Frage nach Authentizität der vermittelten Gefühle entgangen werden.30 Gefühle selbst sind im Bewusstsein eines Individuums verankert. Sie bleiben damit eine subjekt- bzw. akteursbehaftete Kategorie (vgl. auch: GERHARDS 1988: 47). Demgegenüber lenkt der Begriff der Gefühlsäußerungen den Forschungsfokus auf das Zwischenmenschliche, auf die Relationen. Auch Empirisch-Methodisch sind bei der Behandlungen von Emotionen Grenzen gesetzt, was von Seiten der Soziologie erforschbar ist: nämlich einerseits Narrationen und andererseits kommunikativ gewertete körperliche und paraverbale Verhaltensweisen. Das hier vorgestellte relationalistische Konzept fasst Emotionen als Schnittstelle zwischen Kommunikation, Psyche und Körper auf. Die sich daraus ergebenden Wechselbezüge zwischen den einzelnen Komponenten sollen abschließend dargestellt werden:
7.1 Emotionssoziologischer Wechselbezug zwischen Körper – Psyche Wie bei den erwähnten Konzepten von KATZ und HOCHSCHILD, erzeugen körperliche Dispositionen (wie zum Beispiel Schmerz) bestimmte Gefühle, wie umgekehrt Gefühle (wie zum Beispiel Angst) körperlich gespürt werden. Des Weiteren kommt es auch zu einer bewussten Unterdrückung bzw. Erzeugung von körperbezogenen Gefühlsäußerungen in konkreten Situationen, was Hochschild mit „Gefühlsarbeit“ bezeichnet hat. Entscheidender als das Wechselverhältnis zwischen Körper und Psyche dürfte für die Soziologie allerdings das Verhältnis der Kommunikation zum Körper und zum Bewusstsein sein.
7.2 Emotionssoziologischer Wechselbezug zwischen Körper – Kommunikation Beim Wechselbezug zwischen Körper und Kommunikation lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: Einerseits werden körperliche Verhaltensweisen auf ihren Kommunikationsgehalt hin gedeutet. Gefühlsäußerungen dienen dann als Schluss auf den ganzen Menschen (vgl. SIMMEL 1992: 699ff.). Andererseits gibt es eine Semantik der Gefühlsäußerungen, die unter sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht variabel ist. Wie Freude, Schmerz, Trauer etc. in der Kultur einer Gesellschaft zum Ausdruck gebracht wird, muss dann erlernt werden.
7.3 Emotionssoziologischer Wechselbezug zwischen Bewußtsein – Kommunikation Emotionen wurden hier als Kontrollprojekte verstanden, Identitäten in der Nachbarschaft zu taxieren, zu beeinflussen und/oder auf Distanz zu halten. Sie dienen auch als Regulative, ihm selber gegenüber-steht und das als diese Äußerung eben zugleich in der Perspektive des anderen Individuums erscheint und Bedeutung hat“ (HUSCHKE-RHEIN 1982: 29-47). 30
Für SIMMEL sind die Emotionen viel zu unbeständig und schwankend, als dass sie einer aussagekräftigen Unter-
suchung zugänglich wären. Demgegenüber sind Gefühlsäußerungen in viel stärkerem Maß kontrollierter und damit für eine Untersuchung relevant. „[U]nsere tatsächlichen, psychologischen Prozesse sind in viel geringerem Grade logisch reguliert, als es nach ihren Äußerungen scheint.“ (SIMMEL 1992: 387)
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welche Nähe man zulässt und was man von seinen Gefühlen preisgibt. Gefühle anderer können damit als Verpflichtungsversuche verstanden werden. Mit einem solchen Verständnis könnte die Netzwerkforschung einen eigenständigen Beitrag auch zur Emotionssoziologie leisten. Denn der Zugang über soziale Beziehungen zu Emotionen – wofür relationale Ansätze prädestiniert sind – ermöglicht eine dynamische, interpretative und kulturbezogene Aspekte vermittelnde Betrachtungsweise von Emotionen. Sie knüpft am Zwischenmenschlichen an und macht es zum Dreh- und Angelpunkt der Argumentation, das auch alltagspraktisch – selbst bei scheinbar formalen Kontakten – hochgradig aufgeladen ist und als schicksalhafte Realität erlebt wird. Darüber hinaus lässt sich mit einem relationalistischen Konzept von Emotionen ein tiefgreifenderes Verständnis der Voraussetzungen der Netzwerktheorie, mit denen ihr Gegenstand in Wechselwirkung steht, erhalten. Nur über ein solches Konzept wäre es beispielsweise möglich, „types of ties“ in überzeugender Weise zu differenzieren. Theoretisch und auch empirisch würde man mit der weiteren Ausarbeitung eines solchen Konzeptes über bestehende Grenzen der bisherigen Netzwerkforschung hinaus gelangen. 8
Literatur
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Entkopplung und Kopplung Wie die Netzwerktheorie zur Bestimmung sozialer Grenzen beitragen kann* Athanasios Karafillidis
1
Ein Netzwerkbegriff und seine Folgen für die soziologische Grenzforschung
Die soziologische Netzwerkforschung plagt seit ihrer Etablierung Ende der 1970er Jahre das Problem der Bestimmung von Netzwerkgrenzen. Das liegt zum großen Teil daran, dass dieses Problem letztlich für Fragen der Datenerhebung im Rahmen von Netzwerkanalysen von zentraler Bedeutung ist (Knoke und Yang 2008: 15 ff., Laumann, Marsden und Prensky 1983, Scott 2000: 53 ff., Wasserman und Faust 1994: 30 ff.). Aber auch theoretisch orientierte Beiträge sehen darin ein für die Zukunft der Netzwerktheorie entscheidendes Forschungsthema, denn wie es empirisch zu abgegrenzten, bezeichenbaren Einheiten kommt, ist eines der dringlichsten Probleme jedes relationalen Ansatzes (Emirbayer 1997). Sowohl methodisch als auch theoretisch fragt man dabei üblicherweise einfach nach den Grenzen von Netzwerken.1 Wenn man jedoch in Rechnung stellt, dass ein theoretisch (aber auch empirisch) entscheidendes Merkmal des Netzwerkbegriffs darin besteht, Grenzfragen zu vermeiden oder zumindest einklammern zu können (Wellman 1988: 37, White 2008), dann kann man die Frage so nicht mehr stellen. Eine Untersuchung, die mit der Frage nach den Grenzen von Netzwerken beginnt, muss unter diesen Umständen mit entsprechend großen Schwierigkeiten rechnen. Doch was könnte dann ein Ansatzpunkt sein? Eine radikale und deshalb eindeutige Aussage zum empirischen Verhältnis von Netzwerken und Grenzen inklusive eines beobachterabhängigen Netzwerkbegriffs2 findet sich *
Für hilfreiche Kommentare und Anregungen danke ich Dirk Baecker, Roger Häußling, Thomas Kron und Lars
Winter. 1
Das heißt man stellt die Frage im Prinzip so, als ob man es mit Systemen zu tun hätte. Dabei liegt in der Grenz-
frage der wohl markanteste Unterschied zum Systembegriff. Netzwerke einfach wie Systeme zu behandeln (vgl. Fuchs 2001, Teubner 1992) verspielt vorzeitig die Chance, aus der differentiellen Bezugnahme der beiden Begriffe Überraschungspotenzial zu gewinnen. Die Verknüpfung, und nicht Substitution, von System- und Netzwerktheorie könnte sich für eine Grenztheorie als äußerst hilfreich herausstellen – auch wenn es hier nur bei ein paar Hinweisen dazu bleibt, weil erst einmal netzwerktheoretische Ansatzpunkte für die soziologische Grenzforschung ausgelotet werden sollen. 2
Siehe zum Beobachter in der Netzwerktheorie auch den Prolog in White 2008. Diesbezüglich erwähnt werden
muss ferner der klassische Vorschlag der empirischen Netzwerkforschung, nominalistische von realistischen Grenzdefinitionen zu unterscheiden (Laumann, Marsden und Prensky 1983), weil es dem systemtheoretisch viel diskutierten Problem entspricht, ob Systemgrenzen analytisch (also durch wissenschaftliche Beobachter) oder empirisch (also durch die wissenschaftlich beobachteten Beobachter) bestimmt sind/werden (sollen) (vgl. u.a. Luhmann 1984: 246 f. und passim). Bekanntlich hat die Kybernetik zweiter Ordnung hier eine Entscheidung für die empirische Bestimmung erzwungen, indem sie die Systemtheorie von einer Untersuchung beobachteter auf
bei Harrison C. White: „It is an empirical matter how many and which of the ties are activated before, during, and after a switch between network-domains. These activations depend on the scope of involvements among talkers and the interests among observers rather than on any pre-existing ‚boundaries‘ of such networks. Although any given event, or observation, may seize part of a network as being a separate distinct group, networks do not have boundaries.“ (1995a: 1039; Hervorhebung im Original) Diese konsequente Begriffsentscheidung ist ein markanter und vor allem robuster netzwerktheoretischer Ausgangspunkt, der dazu zwingt, das Grenzproblem anders anzugehen. Eine tiefgreifende Konsequenz besteht vor allem darin, dass man sich nun beim Versuch einer Bestimmung von Netzwerkgrenzen wohl oder übel auf eine Paradoxie einlassen muss: Wenn man irgendetwas über die Grenzen von Netzwerken in Erfahrung bringen will, muss man davon ausgehen, dass Netzwerke keine Grenzen haben. Als Alternative zu dieser Paradoxie steht immerhin eine Tautologie zur Verfügung: die Grenzen von Netzwerken sind Netzwerke. Das deutet bereits eine mögliche Suchrichtung an und entspricht dem Hinweis von Ronald Breiger, dass sich das netzwerktheoretische Problem der Grenze womöglich nur dann lösen lässt, wenn man es innerhalb der relationalen Analyse reflexiv wendet, das heißt Grenzen über und als Relationen definiert (Emirbayer 1997: 303, Fn. 36). Doch wenn man infolgedessen einfach „normale“ Netzwerke von Grenznetzwerken unterscheidet, würde sich das Problem nur auf die Frage nach der Grenze zwischen diesen Netzwerktypen verschieben. Wir wählen deshalb zunächst einen anderen Weg, um diese Paradoxie zu entfalten und gehen versuchsweise davon aus, dass jedes Netzwerk nichts anderes als eine Grenze ist. Netzwerke haben keine Grenzen, sie sind Grenzen.3 In der Netzwerkforschung finden sich Evidenzen für diese Annahme, aber um sie identifizieren zu können, müssen wir einen Umweg einschlagen und uns dem Problem gleichsam von der anderen Seite, das heißt von Seiten der Diskussion um Grenzen her, nähern. In der sozialwissenschaftlichen Grenzforschung lassen sich Indizien oder gar Belege dafür finden, dass man es bei Grenzen empirisch mit Netzwerken zu tun hat. An die Stelle der Frage, was die Grenzen von Netzwerken sind, rückt dementsprechend erst einmal eine andere Fragestellung: Inwiefern hat das, was wir über soziale Grenzen und Grenzziehung wissen (können), mit Netzwerken zu tun? Oder anders: Wie kann die Netzwerktheorie zur Bestimmung sozialer Grenzen beitragen? Ich werde versuchen zu zeigen, dass die Netzwerktheorie letztlich selbst eine Bestimmung sozialer Grenzen ist, denn Netzwerke, so die These, sind Grenzen – und wenn man nun berechtigterweise fragt: die Grenzen wovon, dann lautet eine erste Antwort, die wir an dieser Stelle jedoch nicht weiter werden vertiefen eine Untersuchung beobachtender Systeme umgestellt hat (von Foerster 1993). Diese Umstellung führte zu der Einsicht, dass selbst eine analytische/nominale Grenzbestimmung nur empirisch/real erfolgen kann. Legt man dies zu Grunde, kann auch für Netzwerke die Alternative nominalistisch versus realistisch nicht mehr maßgebend sein und wird ersetzt durch die Anweisung, (wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche) Beobachter dabei zu beobachten, wie sie Grenzen ziehen – und beobachten (vgl. auch Vobruba 2006). 3
So bereits explizit Bruno Latour (1996: 372). Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) teilt also diese Annahme.
Doch genauso wie die Systemtheorie bleibt auch die ANT hier zunächst ausgeblendet. Der Text konzentriert sich also genauer auf die Möglichkeiten einer Untersuchung sozialer Grenzen durch eine „phänomenologische Netzwerktheorie“ (vgl. Fuhse 2008) – auch wenn diese beiden netzwerktheoretischen Optionen weit mehr verbindet, als das eigentümliche wechselseitige Nichterwähnen vermuten ließe. Siehe jedoch neuerdings White 2008 mit einigen Hinweisen auf die ANT.
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können: Netzwerke sind die Grenzen der Gesellschaft (als System). Netzwerke haben keine Grenzen, weil sie selbst Grenzen sind. Sie sind diejenigen gesellschaftlichen Formen, auf die wir stoßen, wenn wir soziale Grenzen arrangieren und/oder beobachten. Diese These verweist auf ein mögliches Forschungsprogramm, das weitaus umfangreicher angelegt werden müsste, als ein Beitrag wie dieser auffangen kann. Das Vorhaben ist deshalb stark eingegrenzt und widmet sich ausschließlich dem Versuch, die Relationalität von Grenzen zu veranschaulichen, also gleichsam nachzuweisen, dass in der Soziologie Grenzen Netzwerken gleichen (und umgekehrt). Dazu werde ich diese kontraintuitiv anmutende These zunächst durch Sichtung einiger Theoreme aus unterschiedlichen Forschungsbereichen (Entstehung von Gruppenidentitäten, Kontrolle territorialer Grenzen, Grenzen von Organisationen) untermauern. Davon ausgehend wird dann in Form der Unterscheidung von Entkopplung und Kopplung ein Grenzformalismus gewonnen, der eine weitere theoretische und empirische Suche nach Möglichkeiten der Grenzbestimmung anleiten kann. Abschließend werden Harrison Whites Disziplinen (vgl. White 1992: 22 ff.) als erstes Ergebnis einer solchen Suchbewegung und das soziale System der Gesellschaft als notwendige Systemreferenz der Untersuchung von Grenzen als Ansatzpunkte für weitere Forschung vorgestellt. Der Beitrag arbeitet dabei zugleich in drei Richtungen. Erstens geht es darum, der soziologischen Grenzforschung einen möglichen theoretischen Ausgangspunkt anzubieten; zweitens geht es um das Selbstverständnis einer Netzwerktheorie und ihre mögliche Einordnung im Rahmen soziologischer Problemstellungen; und drittens geht es um die Vorstellung der Möglichkeiten eines formtheoretischen Vorgehens (vgl. Baecker 2005) – auch als mögliches Terrain, auf dem in Zukunft ein Versuch der Bezugnahme von System- und Netzwerktheorie gewagt werden kann. Ziel dieses Beitrags ist die Präsentation eines Formalismus, der weitere Forschung anleiten kann. Einerseits sind „Anwendungen“ also durchaus geplant, andererseits muss man aber auch sehen, dass die hier vorgenommene Bewegung von zahlreichen empirischen Untersuchungen zu Gruppenidentitäten, neuen Mustern der Grenzkontrolle und vor allem Organisationsgrenzen ihren Ausgang nimmt und von dort aus auf eine mögliche soziologische Theorie der Grenze verweist. Man hätte die Studien, aus denen der letztlich angebotene Formalismus von Entkopplung und Kopplung durch formale Transformation gewonnen wird, freilich ausführlicher darstellen können, um die empirische Basis, auf denen dieser Vorschlag ruht, stärker herauszustellen. Aber ich habe es vorgezogen, den damit verbundenen theoretischen Gedanken vollständig zu entfalten – wie lückenhaft dies für andere Beobachter auch immer erscheinen mag. 2
Grenzforschung und Komplexität
Das Problematische an der Frage danach, was die Grenzen von Netzwerken sind, liegt nicht nur in einem Netzwerkbegriff begründet, der davon ausgeht, dass Netzwerke keine Grenzen haben, sondern ist auch einer als selbstverständlich vorausgesetzten Hintergrundannahme geschuldet. Eine derartige Fragestellung impliziert nämlich, dass man bereits wisse, wonach man suchen müsse. Obwohl Georg Simmel (1908: 694 ff.) bereits entscheidende Wegmarken für eine Soziologie der Grenze gesetzt hat, sind theoretische Auseinandersetzungen mit Grenzen, die zur Klärung dieses Punkts beitragen könnten, noch immer die Ausnahme. Allerdings wird diesem Thema seit kurzem wieder mehr theoretische Aufmerk107
samkeit geschenkt (Abbott 1995, Eigmüller/Vobruba 2006, Lamont/Molnár 2002, Tilly 2005). Wenn wir mit dem Argument, dass Grenzen als Netzwerke begriffen werden können, auf dem richtigen Weg sind, müsste sich das zumindest in Ansätzen aus Sicht der soziologischen Grenzforschung stützen lassen. In ihrem Überblicksaufsatz zur soziologischen Grenzforschung schlagen Michèle Lamont und Virág Molnár (2002) vor, zwei Typen von Grenzen zu unterscheiden: symbolische und soziale Grenzen. Symbolische Grenzen sind jede Form von Unterscheidung zum Zwecke der Kategorisierung oder Klassifikation. Soziale Grenzen hingegen sind objektivierte Formen von Unterscheidungen und äußern sich durch ungleich verteilten Zugang zu Ressourcen und Gelegenheiten (Lamont/Molnár 2002: 168 f.). Auf Grundlage dieser Unterscheidung sehen sie die zentrale Problemstellung für eine Soziologie der Grenze nun darin, den Prozess und die Umstände der Manifestierung von symbolischen zu sozialen Grenzen nachzeichnen zu können, denn nicht jede symbolische Grenze verhärtet sich zu einer sozialen Grenze. Diese auf den ersten Blick forschungstechnisch sehr brauchbare Unterscheidung offenbart auf den zweiten Blick jedoch gewisse Schwierigkeiten, denn ihre typologische Verwendung lässt unklar, was eine Grenze als Grenze ausmacht. Der Weg zu einem Grenzbegriff kann nicht über Typologien führen, weil sie eine Bestimmung von Grenzen voraussetzen4 – abgesehen davon, dass die von Lamont und Molnár vorgeschlagene Unterscheidung dem in der Ökonomie mittlerweile seit längerem als gescheitert geltenden Versuch ähnelt, eine reale von einer symbolischen Ökonomie zu unterscheiden.5 Der entscheidende Beitrag von Lamont und Molnár zu einer Theorie der Grenzen ist dann auch nicht diese Typologie, sondern die Behauptung, dass man es mit einem relationalen Phänomen zu tun hat: Die Untersuchung von Grenzen ist deswegen von größtem Interesse, weil sich dadurch Einblicke in den Prozess der Relationalität gewinnen lassen (Lamont/Molnár 2002: 169). Ohne Grenzen also keine Relationen und natürlich erst recht kein Verständnis von Relationierung. Genau an diesem Punkt setzt Charles Tillys Beitrag zur soziologischen Grenzforschung an und arbeitet ihn weiter aus (Tilly 2004a, 2005). Sein Interesse an der Entstehung von (politisch streitbaren) Gruppenidentitäten führt ihn zum Problem der Abgrenzung und zur Entdeckung, dass eine entsprechende Grenzsetzung zahlreiche Relationen entstehen lässt, die letztendlich so verdichtet werden, dass abgrenzbare Identitäten entstehen. Grup4
Denn ganz gleich ob symbolische oder soziale Grenzen: beide sind Grenzen und die typologische Unterschei-
dung kann uns nicht sagen, was sie zu Grenzen macht. Dass Typologien in Bezug auf unser Problem nicht weiterhelfen, wird besonders deutlich bei den zahlreichen Grenztypologien der Organisationsforschung (Adams 1980, Hernes 2004, Hirschhorn und Gilmore 1992, Oliver 1993, Santos und Eisenhardt 2005). Sie führen nur zu Aufzählungen derart, dass Organisationen mehrere Grenzen haben, also politische, wirtschaftliche und rechtliche Grenzen oder Grenzen der Autorität, der Identität und der Kompetenz. Das verschiebt das Problem aber nur auf die Frage danach, wie eine Organisation diese Grenzen in jeder einzelnen Operation realisiert, also mitunter auf die Frage, wie sie diese Grenzen so gegeneinander abgrenzt, dass sie als eine bestimmte Organisation erkennbar wird. 5
Siehe zur Abkehr von dieser Unterscheidung in der Ökonomie Gurley und Shaw (1960: 123) und Baecker (2006:
80). Die Unterscheidung sozial/symbolisch geht auf die alte amerikanische Tradition in der Soziologie zurück, soziale und kulturelle Phänomene (wenn auch nur: analytisch) zu trennen. Aber eine soziale Grenze kulturlos beziehungsweise eine kulturelle Grenze nicht-sozial zu begreifen, macht theoretisch keinen Sinn (vgl. Baecker 2000). Aber auch empirische Fallstudien machen das deutlich. Vgl. insbesondere die Studien in Eigmüller und Vobruba (2006: 75 ff.) und auch in Horn, Kaufmann und Bröckling (2002).
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penidentitäten sind nicht einfach da, sondern mehr oder weniger Ergebnis eines Relationierungsprozesses, der durch eine Grenze in Gang gesetzt wird. Um der Relationalität von Grenzen genauer auf die Spur zu kommen, bestimmt Tilly Grenzen als vierstellige Komplexe: Grenzsetzung erzeugt erstens Relationen zwischen Einheiten auf der einen Seite der Grenze, zweitens Relationen zwischen Einheiten auf der anderen Seite, drittens Relationen zwischen diesen beiden Seiten und viertens Selbst- und Fremdbeschreibungen dieser Grenze und ihrer Relationen auf beiden Seiten, und zwar in Form von Geschichten. Damit gewinnen wir einen Begriff der Grenze als vierstellige Relationierung von durch die Grenze konstituierten Einheiten (Tilly spricht nicht von Einheiten, sondern von sites). Genau genommen haben wir es sogar mit einer vierstelligen Relationierung von Relationen zu tun, denn in den Geschichten über die Grenze und ihren Relationen wird auf beiden Seiten diese vierstellige Relationierung reflektiert und ineinander verflochten. Für Tillys Fall der Differenz von zwei Bevölkerungsgruppen heißt das, dass beide Gruppen auf unterschiedliche Weise ihre eigenen Beziehungen beobachten, ihre eigenen Beziehungen in Relation zur anderen Gruppe und zu den Beziehungen innerhalb der anderen Gruppe setzen und nicht zuletzt Geschichten über die Geschichten der anderen Gruppe in die eigenen Geschichten einbauen. Hierbei ist noch nicht einmal der Umstand berücksichtigt, dass dies wiederum meist durch nicht unmittelbar involvierte Beobachter beobachtet wird, die Grenze also in weitere Netzwerke eingebettet ist, was die Lage nicht gerade übersichtlicher macht. Dieses Geflecht von Relationen modifiziert nicht zuletzt immerfort das, was über die entsprechenden Bindungen gesagt werden kann und wie dieser Zusammenhang jeweils erlebt beziehungsweise behandelt wird. Auf diese Weise kommen dann Identitäten, Konflikte, Freundschaften, Liebschaften, Transaktionen und wechselseitige Kontrollmuster zustande – also all das, was man als grundlegende Gegenstände der Netzwerkforschung kennt. Diese vierstelligen Strukturkomplexe, die eine Grenze ausmachen, verweisen also auf einen Prozess der Netzwerkkonstitution. Wenn man nun mit Tilly davon ausgeht, dass jede Grenze diese Form von Komplexität (also ein Netzwerk) produziert, weil das ihr konstitutives Strukturmerkmal ist und sie sonst schlicht und ergreifend nicht als Grenze beobachtet werden könnte, findet sich hier ein erstes Indiz für unsere Annahme, dass man es bei Grenzen sehr wahrscheinlich mit Netzwerken zu tun hat. Weitere Bestätigung bekommt man von der eher politologisch orientierten Grenzforschung. Dort spricht man mittlerweile offen von networked borders (Rumford 2006; Walters 2006). Zwar liegt der Fokus dort vornehmlich auf territorialen Grenzen, aber die Konfrontation von an sich als eindeutig, feststehend und materialisiert geltenden Grenzen mit neu entstandenen Formen der Grenzpolitik lässt besonders deutlich hervortreten, dass man beginnen muss, Grenzen anders zu theoretisieren, weil daran ihre Ambivalenz, Verzweigtheit oder gar Liquidität sichtbar wird.6 Ausgangspunkt der Schlussfolgerung, 6
Liquidität schlägt bekanntlich Zygmunt Bauman (2000) als Kennzeichen der Moderne vor. Insofern sind auch
Grenzen davon betroffen. Gegenwartsdiagnosen laufen jedoch eher auf die Behauptung einer Verflüssigung von Grenzen oder einer Entgrenzung hinaus, um eine Differenz zu Grenzen zu markieren, die zuvor fest und rigide waren und nun zum Gegenstand von im weitesten Sinne politischen Auseinandersetzungen werden (vgl. Beck und Lau 2004). Ob eine Liquidität von Grenzen typisch für die (zweite) Moderne ist, können wir offen lassen, und ersetzen diese Annahme, im Sinne von Lamont und Molnár (2002), durch die Unterscheidung zwischen Grenzziehung und ihrer Institutionalisierung. Damit kann man nicht nur Gegenwartsdiagnose betreiben, sondern sich darüber hinaus auch auf die (historisch) vergleichende Suche nach Mechanismen machen, die die Alltagspraxis
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dass bisherige Grenzvorstellungen inadäquat sind, ist die empirische Beobachtung eines Wandels der Kontrolle von Grenzen, gerade auch vor dem Hintergrund einer vor allem angesichts der internationalen Terrorgefahr veränderten Weltsicherheitslage. Bekanntlich werden die Grenzen westlicher Nationalstaaten überall auf dem Globus verteidigt – verteilt, punktuell, territorial unabhängig. Grenzen sind keine einheitlichen Linien mehr und Kontrolle erfolgt im Prinzip losgelöst von Grenzstellen als Örtlichkeiten. Die Betonung der Trennung in ein Diesseits und ein Jenseits der Grenze weicht der Beobachtung, dass Grenzen nicht einfach nur absperren und Zugang reglementieren, sondern gestaltet werden, und zwar gerade um bestimmte Mobilitätsformen zu ermutigen und zu fördern, zum Beispiel im Bildungsbereich (vor allem Studierende), auf dem Arbeitsmarkt (man denke an die Diskussion zur Blue Card für die EU) oder in der Ressourcenbeschaffung (Technologietransfer, Energie). Sie verlaufen deshalb auch nicht um Territorien herum, sondern durch sie hindurch und sind hoch differenziert. Illustrieren lässt sich dieser Gesichtspunkt durch das Verkehrsnetz, und zwar trotz seines infrastrukturellen, das heißt recht fixierten, technologischen Charakters, der eine Analogie zu sozialen Netzwerken eigentlich erschwert. Schaut man auf Karten, die das deutsche oder europäische Verkehrsnetz (oder Teile davon wie Schienennetz oder Autobahnnetz) darstellen, so kann man sich zumindest die Veränderung in der Phänomenologie der Grenze vor Augen führen, auf die diese Vorschläge hinauslaufen. Grenzen werden zu einem „grid ranging over the new social space“ (Walters 2006: 199) und diese Tatsache findet ihre Entsprechung in anderen Formen von Grenzoperationen, zum Beispiel der sogenannten Schleierfahndung. Schleierfahndung bezeichnet verdachtsunabhängige Routinekontrollen innerhalb mehrerer Fahndungsgürtel nach der Schengen-Öffnung, die bis zu 200 km von den ehemaligen Zollhäuschen entfernt in beide Richtungen in die jeweiligen Länder hineinreichen (Hilberth 2007). Diese Beispiele entstammen zwar einer gänzlich anderen Domäne als der Problemzusammenhang von Tilly, aber die Ähnlichkeit der Konzeption trotz der Heterogenität des Anwendungsfelds und trotz der Unabhängigkeit der Entwicklung verweist auf die Möglichkeit, eine allgemeine sozialwissenschaftliche Grenztheorie konstruieren zu können, in der der Begriff des Netzwerks eine entscheidende Rolle spielt. 3
Die Operation der Grenze
Wir haben nun einzelne Elemente zur Hand, die einen Zusammenhang von Grenzen und Netzwerken nahelegen. Für Ansätze zu einer Theorie der Grenze bedarf es jedoch ferner einer Spezifikation der Operation der Grenze. Außerdem fehlt noch ein eher formalistischer Nachweis, dass unsere Behauptung von Grenzen als Netzwerken gerechtfertigt ist (Abschnitte 4 und 5). Diese beiden offenen Punkte lassen sich durch eine Sichtung einer weiteren Richtung der Grenzforschung erhellen. Die Organisationssoziologie ist wohl die einzige Teildisziplin der Soziologie, in der ein Versuch der Bestimmung von Grenzen eine gewisse Tradition hat. Die Grenzen von flüchtiger Grenzziehungen institutionalisieren, so dass anschließend weitgehend Konsens über die Festigkeit und Selbstverständlichkeit bestimmter Grenzen besteht. Ein solches Vorgehen wird vermutlich nicht nur gegenwartsdiagnostische Unterschiede zwischen Vormoderne und Moderne oder zwischen erster und zweiter Moderne feststellen, sondern auch Unterschiede innerhalb einer modernen (vielleicht auch multiplen) Gegenwart.
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Organisationen zur Gesellschaft und all die damit zusammenhängenden Probleme sind in gewissem Sinne für die Organisationssoziologie, etwa im Gegensatz zur interdisziplinär angelegten Organisationstheorie, sogar konstitutiv. Die Versuche einer solchen Bestimmung von Organisationsgrenzen sind zahlreich, doch sie lassen sich im Wesentlichen in drei Resultate zusammenfassen: Grenztypologien, Mitgliedschaft und die Unterscheidung von Trennung und Verbindung. Als Bestimmung einer Operation der Grenze eignet sich besonders die Unterscheidung Trennung/Verbindung, denn die Frage nach einer Grenzoperation entspricht der Frage danach, welchen Sinnzusammenhang Grenzsetzung als Ereignis produziert. Grenztypologien können uns aus bereits genannten Gründen nicht weiterhelfen (siehe oben Fußnote 4). Die Grenzen von Organisationen als Mitgliedschaftsgrenzen zu bestimmen (Aldrich 1971; Baecker 2005; 113 ff.; Galal/Nolan 1995; Luhmann 1964, 2000; March/Simon 1958: 108 f.; Oliver 1993; Smith 1972; Tacke 1997), sagt viel über die Distinktheit der sozialen Form Organisation aus und spannt auch einen Sinnzusammenhang auf, führt uns aber noch nicht an die Stelle, die es zu identifizieren gilt, wenn Grenzoperationen selbst, das heißt unabhängig von den Grenzen eines bestimmten Gegenstands, bestimmt werden sollen.7 Die Unterscheidung von Trennung und Verbindung liefert hingegen genau das, wonach wir suchen, weil sie nicht nur einen Sinnraum öffnet und schließt, sondern auch entsprechend generalisierbar ist. Sie taucht organisationssoziologisch in unterschiedlichen semantischen Formen auf: als barrier und conduit (Arrow/McGrath 1995), separation und joining (Cooper 1986), segregation und blending (Hannan/Freeman 1989) oder klassisch buffering und spanning (Thompson 1967; Yan/Louis 1999). Getrennt und verbunden wird in diesen Grenzstudien immer wieder Unterschiedliches, zum Beispiel Arbeitsgruppen von und mit der Organisation, in die sie eingebettet sind oder verschiedene Organisationspopulationen von- und miteinander, so dass entsprechend neue organisationale Formen entstehen. Daraus haben sich ferner Klassifikationsversuche entwickelt, etwa in der Art, dass rational operierende Organisationen ihren technologischen Kern eher abpuffern, während Organisationen als natürliche Systeme sich eher durch grenzüberspannende Aktivitäten auszeichnen (vgl. Thompson 1967). Ich verzichte an dieser Stelle drauf, die einzelnen Implikationen und Ausarbeitungen der jeweiligen Autoren zu dieser Problematik auszuführen, denn es geht hier einzig und allein darum, diese Unterscheidung als Konstante der organisationssoziologischen Grenzforschung hervorzuheben.8 Man beachte, dass die Betonung auf Unterscheidung liegt, das heißt, dass eine Grenzoperation beides gleichzeitig leistet. Eine Sequentialisierung der Unterscheidung (zum Beispiel vorher Trennung, dann Verbindung) ist genauso wie Kategorisierung (zum Beispiel hier Trennung, dort Verbindung) oder Rollendifferenzierung (zum Beispiel der eine trennt, der andere verbin7
Dass für eine soziologische Theorie der Grenze zunächst eine Abkehr der Untersuchung der Grenzen von etwas
notwendig ist, macht Andrew Abbott (1995) deutlich. 8
Bei weitem nicht so konzentriert, aber dennoch markant, tritt diese Unterscheidung von Entkopplung und Kopp-
lung in vielen anderen Bereichen auf, die sich dem Problem der Grenze und Grenzziehung widmen: „Boundary objects“ erlauben Kommunikation gerade dort, wo sie aufgrund unterschiedlicher Sprachregister unwahrscheinlich ist (Star/Griesemer 1989) und ethnische Grenzen ermöglichen über Einschränkungen auf Rollenebene eine laufende Separation und Artikulation einzelner wiedererkennbarer Gruppen (Barth 1969). Nicht zu vergessen die allgemeine Systemtheorie, die die Funktion von Systemgrenzen darin sieht, dass sie System und Umwelt nicht nur trennen, sondern auch vernetzen, also verantwortlich sind für die Fähigkeit von Systemen, sich zugleich schließen und öffnen zu können (Luhmann 1984: 52 ff.; Zeleny 1996).
111
det) bereits eine mögliche Form der Entfaltung der zugrunde liegenden Paradoxie, dass jede Trennung verbindet und jede Verbindung trennt. Um Möglichkeiten der Generalisierung voll ausschöpfen zu können und auch um semantische und übersetzungstechnische Differenzen zu minimieren, bietet es sich an, die Operation der Grenze als Form von Entkopplung und Kopplung zu bestimmen.9 Ausgehend von dieser Unterscheidung lässt sich nun jedes interessierende Phänomen und jeder Untersuchungsgegenstand im Hinblick auf seine Grenze beobachten, und zwar auch dann, wenn die entsprechende Grenze gerade nicht offensichtlich ist oder nicht thematisiert wird. Überdies verfügen wir damit über eine Unterscheidung, um die vierstellige Relationalität, auf die wir zuvor bei Charles Tillys Grenzen gestoßen sind, in ersten Ansätzen operationalisierbar zu machen. Wie wird eine Entkopplung vollzogen und dabei so konditioniert, dass sie im selben Zuge bestimmte Kopplungen erlaubt? So wird womöglich nachvollziehbar, was Mitgliedschaft als Organisationsgrenze für die Organisationssoziologie so attraktiv macht, nämlich die Beobachtung, dass sie eine Entkopplung von Kommunikation und Handlung von bestimmten Sinnzusammenhängen des Alltagsverhaltens über unterschiedliche (zum Beispiel professionelle, monetäre, emotionale) Anreizmotive erlaubt und dabei so konditioniert, dass wiederum Kopplungen zu im Einzelfall konkret bestimmbaren Nicht-Mitgliedern (die dann zum Beispiel zu Kunden, Insassen, Klienten, Lieferanten, Berufskollegen, Experten werden) und zu Ideologien, Ressourcen oder anderen Organisationen gefördert werden. Oder anders: Über Mitgliedschaft werden einige Handlungen als auf die Organisation bezogene Elemente wiedererkennbar und andere fallen heraus (Entkopplung), während zugleich immer die Möglichkeit mitläuft und selektiv aufgegriffen wird, sie in die Reproduktion der Organisation auch wieder einzuschließen (Kopplung). 4
Grenzformalismen
Zur Zusammenfassung, Zuspitzung, Abrundung und Erweiterung des soeben dargelegten Arguments ist eine Formalisierung hilfreich. Eine formale Verknüpfung der Grenzen konstituierenden Unterscheidung von Entkopplung und Kopplung mit Tillys Überlegungen zur Relationalität von Grenzen ist über eine Mathematik der Form erreichbar (Spencer-Brown 1969), zu der bereits einige Untersuchungen in Bezug auf ihre Möglichkeiten im Rahmen der soziologischen Theoriebildung vorliegen (Baecker 1993a, 2005; Luhmann 1997b). Sie fasst den bisherigen Gedankengang durch das Angebot einer Notation in einer wünschenswerten Prägnanz zusammen, liefert aber darüber hinaus noch eine zusätzliche Bestätigung der Überlegungen. Für die vorliegende Problemstellung sind vor allem der von SpencerBrown eingeführte Formbegriff und die in diesem Rahmen verwendete Notation von Nutzen.
9
Was hier allgemein Kopplung heißt, entspricht im Prinzip dem Begriff der Einbettung. Die jeweilige Verwen-
dung variiert je nach Forschungsinteresse. In Bezug auf eine allgemeine Netzwerktheorie bezeichnet Einbettung eine spezifisch soziale Form der Kopplung während sich Kopplung und Einbettung innerhalb einer soziologischen Theorie so unterscheiden lassen, dass Einbettung eher handlungs- und strukturbezogen ist, während Kopplung eine operative Formulierung ist, die auf Kommunikation verweist. Nicht nur trotz, sondern auch wegen dieser möglichen Nuancierung verwende ich die Begriffe Kopplung und Einbettung hier synonym.
112
Form wird als Form einer Unterscheidung begriffen und entsteht durch das Setzen einer Grenze, die mindestens zwei bezeichenbare Seiten und den Raum erzeugt, in dem sie gesetzt wird (Spencer-Brown 1969: 1ff.). Form wird genannt: der beobachtete Zusammenhang der einen Seite, der anderen Seite, der Grenze zwischen ihnen und des entsprechend erzeugten Raums. Die Äquivalenz zu Charles Tillys weiter oben dargestellter Relationalität von Grenzen ist mehr als offensichtlich. Aber auch die Bestimmung der Grenzoperation als Unterscheidung von Entkopplung und Kopplung wird im selben Zuge mitgeliefert, denn Unterscheidung ist definiert als „perfect continence“, also als vollkommener Zusammenhang (vgl. Schönwälder; Wille/Hölscher 2004: 69f.). Die Grenze einer Form trennt zwei Seiten, um ihren untrennbaren Zusammenhang zu verdeutlichen. So gesehen, dürfte sich eine Entlehnung dieser Mathematik und ihres Notationsangebots für eine Soziologie der Grenze bezahlt machen. Zur Markierung von Unterscheidungen verwendet Spencer-Brown ein Zeichen, das es im Anschluss ermöglicht, die Operation der Grenze als Formalismus zu notieren:
Dieser Haken steht für eine empirisch vollzogene Operation, die eine Unterscheidung simultan produziert und verwendet. Die Beobachtung dieses Hakens beziehungsweise der durch ihn notierbaren empirischen Operationen markiert die Differenz und den Zusammenhang von Grenze, Innenseite, Außenseite und Raum einer Unterscheidung oder in einem Wort: die Form einer Unterscheidung. Zur Illustration lassen sich die einzelnen Elemente dieser einfachen Notation benennen: Abbildung 1: Notation für die Form einer Unterscheidung
i Raum Grenze
Form (der Unterscheidung {i | }) Diese Abbildung liefert nur eine Ausbuchstabierung dessen, was der zuvor eingeführte Haken in seiner soziologischen Interpretation immer impliziert. Einige Punkte müssen zur weiteren Verdeutlichung noch hervorgehoben werden: Abbildung 1 zeigt nur die einfachste Form einer Unterscheidung, das heißt, eine Form muss keinesfalls nur zwei Seiten haben, sondern kann aus mehreren, ineinander verschachtelten Unterscheidungen bestehen (vgl. Wille 2007). 113
Die empirische Bezeichnung einer Identität (hier beispielhaft: der Variable i) entspricht der Grenzsetzung. Das setzt eine Unterscheidung (voraus), doch bleibt dabei sowohl die andere Seite als auch die Grenze zunächst unbestimmt. Beide können nicht durch die Bezeichnung selbst zugleich mitbezeichnet werden, sind also Produkt der Beobachtung einer Bezeichnung im Kontext ihrer Unterscheidung – also Produkt einer weiteren Operation. Deshalb ist die Form einer Unterscheidung letztlich ebenfalls immer nur das Produkt einer Beobachtung, und zwar einer Unterscheidung (Grenze, mindestens zwei Seiten) im Raum, den sie erzeugt. Die unbestimmte Seite einer Unterscheidung gehört ebenfalls zur Unterscheidung. Bleibt die Seite rechts vom Haken unbezeichnet bedeutet das also nicht, dass sie nicht dazugehört. Sie ist unentbehrlich für die Bestimmung einer Form. Die Notation berücksichtigt also das Etcetera-Problem des Sozialen, für das die Ethnomethodologie sensibilisiert hat (Garfinkel 1967; Sacks 1963). Die Notation ist eine topologische Notation (vgl. Kauffman 2005), weil sie die Art der Beziehung dieser Elemente untereinander nicht weiter spezifiziert, sondern nur ihre Nachbarschaft postuliert und dabei unterstellt, dass zumindest diese Form der Nachbarschaft auch unter Transformationsbedingungen invariant bleibt (vgl. Basieux 2000). Nehmen wir als Beispiel die Unterscheidung Mitglied/Nicht-Mitglied in Bezug auf Organisation: ganz gleich wie diese Unterscheidung in welchen unterschiedlichen Organisationsformen interpretiert wird, wer jeweils wie ein- oder austritt, unter welche Bedingungen und Restriktionen sie gesetzt wird und wie sehr sie in Bezug auf all diese Aspekte mit dem Zeitverlauf variabel gehandhabt wird: als Form organisierter Kommunikation bleibt sie invariant. Der Raum der Unterscheidung ist ein topologischer Raum in dem Sinne, dass die Elemente einer Form untereinander und die Form insgesamt zu anderen Formen in Nachbarschaftsbeziehungen zueinander stehen, die durch Beobachter empirisch bestimmt werden. Es ist folglich ein Raum von Bestimmungsmöglichkeiten der Unterscheidung, der in der Notation selbst jedoch unbestimmt bleibt. Raum in dieser rudimentären Form meint einfach, dass die operative Verwendung einer Form die Verwendung bestimmbarer anderer Formen nahelegt, auf sie verweist – schließlich handelt es sich ausschließlich um Formen im Medium des Sinns (Luhmann 1984). Der Rückgriff auf eine soziologische Formtheorie erscheint schon deshalb angebracht, weil im Wesentlichen in der Literatur zu Grenzen zumindest darüber Einigkeit besteht, dass jeder Akt der Grenzziehung etwas mit Unterscheidungen zu tun hat. Grenzen sind sowohl Produkt als auch Voraussetzung jeder Unterscheidung, ihres Raums und ihrer Seiten. Soziologisch ausgedrückt: Grenzen sind Produkt und Produzent spezifischer institutioneller Ordnungsmuster der Gesellschaft (vgl. Eigmüller 2006). Dass diese Notation und ihre begrifflichen Grundlagen soziologisch anschlussfähig sind, zeigt nicht nur ein Blick auf den späten Niklas Luhmann (1997a, 1997b, 2002) und die Forschung von Dirk Baecker (1999, 2005), sondern wird, wie ich zeigen möchte, besonders am soziologischen Gegenstand „Grenze“ deutlich. Diesbezüglich sind insbesondere Andrew Abbott (1995) und der bereits ausführlicher behandelte Charles Tilly (2004a) maßgebend. Abbott definiert Grenzen ausgehend von einer Modifikation der Grenzdefinition der algebraischen Topologie als sites of difference. Unmittelbar davor heißt es: „I shall define a point x as boundary point in space S if every neighborhood of x contains at least
114
two points that differ in some respect.“ (Abbott 1995: 862).10 Übertragen wir diese Defintion in unsere Notation, so erhalten wir: Abbildung 2: Abbotts Grenzen
p1
p2
S x Einfacher, weil wir dann die Notation voll ausnutzen (und uns den Titel „Abbildung. n“ sparen können), ist eine Darstellung als Gleichung:
Grenzpunk t x =
p1
p2
Der Raum S muss nun nicht mehr eigens ausgezeichnet werden. Die Punkte p1 und p2 können selbst Unterscheidungen sein, denn alles, was man semantisch oder algebraisch unter oder neben einen Haken notiert, ist prinzipiell in weitere Unterscheidungen auflösbar. Die Stoppregel für eine solche weitere Auflösung in Unterscheidungen kann nur empirisch ermittelt werden. Das heißt, insofern eine weitere Auflösung von p1 oder p2 empirisch beobachtbar ist und sich entsprechend plausibilisieren lässt, wird man sie als Unterscheidung notieren. „Religionszugehörigkeit“ ist beispielsweise ein Grenzpunkt (x) im Konflikt (S) um den Bau einer Moschee in Köln gewesen, weil dabei immer wieder eine Unterscheidung zwischen dem Christentum (p1) und dem Islam (p2) aktualisiert wird. Sollte man im Laufe der Untersuchung feststellen, dass es empirisch differenzierter zugeht, dann wird man p1 („Christentum“) womöglich in die Unterscheidung von „Katholiken“ und „Protestanten“ weiter auflösen müssen. Ferner ist zu beachten, dass in einem anderen Raum, zum Beispiel „Religionsunterricht“, Religionszugehörigkeit vermutlich noch nicht einmal ein Grenzpunkt ist, weil dort eher die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen verläuft, um Notengebung zu ermöglichen. Grenzpunkte stehen also nicht ein für alle mal fest, sondern sind abhängig von der verwendeten Unterscheidung und ihrem Raum. Sie sind, mit anderen Worten, abhängig vom Beobachter. Das ist ein entscheidender Punkt der Formtheorie und ihrer Notation: es handelt sich nicht um eine analytische, sondern um eine, wenn man so will, synthetische Theorie. Sie fordert also dazu auf, Grenzen zu notieren, die in bestimmten Zusammenhängen als Gren10
Die Implikationen dieses Aufsatzes von Abbott sind zahlreich und weitläufig. Ich greife hier nur diesen einen
Gedanken auf. Die soziologisch wohl am stärksten irritierende Aussage von Abbott ist, dass soziale Einheiten (in seinem Anwendungsfall: Sozialarbeit) ausnahmslos ein Ergebnis von Grenzziehung sind. „Boundaries come first, then entities.“ (Abbott 1995: 860). Man kommt deshalb nicht umhin, Grenzen unabhängig von irgendwelchen zuvor konstituierten Einheiten zu untersuchen. Die Grenzen von sind in dieser grundlegenden Phase der theoretischen Überlegungen zunächst irrelevant. Denken wir an den Anfang dieser Überlegungen zurück, so sieht man, dass hier dieselbe eigentümliche, weil paradoxe Bewegung zu Tage tritt, der wir zuvor schon begegnet sind: die Frage nach den Grenzen von Netzwerken taugt nicht als Ausgangspunkt für das Problem der Bestimmung der Grenzen von Netzwerken.
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zen die Kommunikation aktuell orientieren. Diese Grenzen können in anderen Kontexten und für andere Beobachter irrelevant sein. In diesem Fall rutscht man aber nicht in die Grenzenlosigkeit hinein, sondern es werden andere Grenzen gesetzt. Kommunikation impliziert immer irgendeine Grenzsetzung. Das stellt hohe Ansprüche an die soziologische Beobachtung, denn in den meisten Fällen werden die aktuell relevanten Grenzen nicht thematisiert, sondern einfach vorausgesetzt. Wenn in einer Talkshow über die Grenzen zwischen Christen und Moslems debattiert wird, dann muss dies noch lange nicht die Grenze der Talkshow-Kommunikation selbst sein, denn die kann das Thema wechseln. Man kann also durchaus Unterscheidungen und Grenzen beobachten, die die jeweils empirisch involvierten Beobachter aktuell nicht beobachten, die aber dennoch das Geschehen mitbestimmen. Kommunikative Grenzen empirisch zu untersuchen heißt also, nicht nur darauf zu achten, was die jeweiligen Akteure über Grenzen sagen, sondern zusätzlich auch zu beobachten, was sie nicht sagen, das heißt man muss für Unterscheidungen sensibilisiert sein, die nicht weiter in Frage gestellt werden, aber ohne die die zu beobachtende Selektivität der Kommunikation nicht möglich wäre. Die Formtheorie erweist sich in dieser Hinsicht auch als eine methodische Handreiche für die sozialwissenschaftliche Technik der Beobachtung, die seit jeher mit dem Problem zu kämpfen hat, dass die relevanten Daten meistens gerade nicht unmittelbar beobachtbar sind und trotzdem irgendwie bestimmt und aufgezeichnet werden müssen (vgl. König 1973: 10f.). Doch nicht nur Andrew Abbotts Rückführung der Untersuchung von Grenzen bis auf „sites of difference“ verdeutlicht, dass sich eine intensivere soziologische Auseinandersetzung mit den Ideen von George Spencer-Brown lohnen könnte. Auch Tillys Grenzdefinition als „contiguous zone of contrasting density“ (2004a: 214)11 deckt sich geradezu mit Spencer-Browns Definition von Unterscheidung als „perfect continence“. Kontrastierende Dichte ist gleichsam ein anderer Ausdruck für das, was Spencer-Brown als vollständigen Zusammenhang (Dichte) des Getrennten (Kontrast) bezeichnet. Wir haben diese Definition von Tilly bislang ausgespart, weil erst durch die Einführung formtheoretischer Aspekte richtig deutlich wird, wie exakt Tilly mit dieser Definition den Startpunkt für eine Theorie der Grenze festlegt. Man kann diese Definition und ihren Zusammenhang mit der Notation von Spencer-Brown graphisch folgendermaßen veranschaulichen:
11
Vollständig heißt es an dieser Stelle bei Tilly: „We might (...) define a social boundary minimally as any
contiguous zone of contrasting density, rapid transition, or separation between internally connected clusters of population and/or activity.“ Die Grenze lässt sich jedoch noch sparsamer definieren. Schließlich kann man die soeben vorgestellte Grenztheorie von Abbott, die er an der Entstehung von Professionen empirisch ausführlich belegt, nicht einfach wieder unter den Tisch fallen lassen. Die „cluster“, zwischen denen eine Grenze verläuft, lassen sich nicht einfach voraussetzen. Die „cluster“ sind das Problem, denn zuerst sind Grenzen da und erst anschließend „cluster“.
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contrast
density contiguous zone Abbildung 3: Elemente von Tillys Definition von Grenzen und Spencer-Browns Notation Von der kontrastierenden Dichte einer Grenze zu sprechen, markiert ihre paradoxe Grundlage. Es ist nicht einfach ein Widerspruch zwischen Kontrast und Dichte (zwischen Gruppen, politischen Identitäten, Einstellungen, Werten, Menschen etc.) gemeint, sondern vielmehr wird damit das Problem angezeigt, und deshalb Paradoxie, dass die Erhöhung des Kontrasts zugleich die Dichte erhöht, so dass die Bedingung der Möglichkeit eines angemessenen Kontrasts zugleich die Bedingung seiner Unmöglichkeit ist. Dasselbe gilt für die Verdichtung von Beziehungen, die den Kontrast nicht verschwinden lässt, sondern umso stärker macht. Wann immer also mehr Austausch oder mehr Kommunikation gefordert wird (was in Organisationen und in der Politik üblich ist), stecken Grenzen dahinter, die sich gerade nicht überschreiten, sondern durch solche Forderungen nur bestätigen lassen. Die Grenze verweist nur auf sich selbst. Systemtheoretisch spricht man von Selbstreferenz, Schließung oder Autonomie (von Foerster 1997; Varela 1975). Besonders interessant ist auch die „contiguous zone“. Erstens ist „contiguity“ nur ein anderes Wort für Nachbarschaft und verrät somit erneut, dass ein Bezug zur Topologie hilfreich sein kann, zweitens macht „zone“ darauf aufmerksam, dass Grenzen nicht einfach nur Linien sind (auch wenn man sich davor hüten muss, sie als Räume mit euklidischen Dimensionen zu begreifen) und drittens ist „contiguous zone“ eine nautisch-politische Metapher, die den Bereich bezeichnet, der an die ersten Seemeilen anschließt, die zur Küste eines Nationalstaats zählen. Letzteres veranschaulicht, dass Grenzen ein Zwischengebiet sind, das zu einem Staat gehört und auch nicht gehört. Die staatlichen Eingriffsrechte sind dort jedenfalls durch internationale vertragliche Reglementierung extrem eingeschränkt. Was diese Metapher nun interessant macht, ist nicht ihre Nähe zu territorialen Grenzen, sondern die Tatsache, dass Grenzen ein Bereich des Weder-Noch sind beziehungsweise, was für Fragen der Integration nicht zu unterschätzen sein dürfte, Bereiche des Sowohl-als-Auch.12 Grenzen bezeichnen als „contiguous zone“ einen Zustand der Indifferenz von Defensive und Offensive (Simmel 1908: 695). Sie gehören weder zur einen Seite der Grenze noch zur anderen und sind deshalb zum einen Bereiche mit einer ihnen eigenen Form von Selektivität (vgl. Luhmann 1984: 52ff.) und zum anderen Orte, die eine fundamentale Ungewissheit produzieren: Sie sind fuzzy (Arrow/McGrath 1995: 384; White 1995b: 71) und geprägt von Ambiguität und Unreinheit, die von Angstgefühlen begleitet ist, Gefährlichkeit signalisiert und deshalb mit Tabus belegt wird (Douglas 1966: 150ff.; Leach 1976: 33ff.; Turner 1969: 95ff.). 12
Hier drängen sich mögliche Bezüge zur Fuzzy-Logik auf. Zu den Möglichkeiten einer Verwendung von Fuzzy-
Logik für die Soziologie siehe Kron 2005a: 180ff., 2005b und Kron und Winter 2005.
117
Grenzen als Kontiguitätszonen kontrastierender Dichte lassen sich folgendermaßen notieren:
Grenze
=
Man sieht hier im Zusammenhang mit Abbildung 1 nicht nur die Nähe von Tillys Definition zur Formtheorie, sondern auch die Sparsamkeit der Notation, die sie zu einem eleganten Werkzeug für die extrem verdichtete Darstellung sozialer Operationen macht. Diese Gleichung zeigt ferner aber auch, dass wir uns im Hinblick auf eine Bestimmung von Grenzoperationen nicht damit zufrieden geben können. Mit der Unterscheidung von Entkopplung und Kopplung haben wir dieses Problem bereits behandelt und notieren als Form der Grenze deshalb:
=
Entkopplung Kopplung
= Grenze
Wir sind damit über gewisse Umwege zu einem Formalismus der Grenze gelangt.13 Man beachte, dass der Haken auf der linken Seite dieser Gleichung nur als Grenze interpretiert wird, das heißt so wie er in Abbildung 1 bezeichnet wird.14 Außerdem wird hier eine Erweiterung der Notation um den re-entry-Haken vorgenommen. Ein re-entry ist formal gesprochen die Wiedereinführung einer Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene (Baecker 1993b; Spencer-Brown 1969: 54ff.). Wir brauchen ihn, um damit die soeben erwähnten Tatbestände mitführen zu können, dass Grenzen grundsätzlich von Ungewissheit geprägt sind, Autonomie implizieren und eine eigene Selektivität prozessieren. Das re-entry hebt in dieser Gleichung hervor, dass Grenzen grundsätzlich unbestimmt, aber durch Beobachter bestimmbar sind, diese Bestimmung jedoch von anderen Beobachtern, zu anderen Zeitpunkten und im Hinblick auf andere Sachverhalte immer anders vorgenommen werden kann. Die durch ein re-entry eingeführte Unbestimmtheit lässt sich also nicht tilgen, sie ist „unresolvable“.
13
Ein Formalismus im Sinne von Tilly (2004b) ist eine explizite Repräsentation einer Menge sozialer Elemente
und ihrer Relationen, wobei zunächst offen bleiben kann, wie die Relationen bestimmt werden. Zwar sind Kausalrelationen soziologisch wohl am weitesten verbreitet, aber es lässt sich zum Beispiel auch an Relationen der Nähe, der Gleichzeitigkeit, der Sequenz oder der Ähnlichkeit denken. 14
Diese Fußnote und die Gleichung, auf die sie sich bezieht, sind entscheidend für das Verständnis des Arguments
und aller Grenzformen, die ich hier vorstelle. Ich notiere hier den als Grenze interpretierten Haken von SpencerBrown als Form. Die Grenze einer Form ist selbst als Form bestimmbar. Dass sie dabei selbst eine Grenze setzt, für die dasselbe gilt, versteht sich von selbst. Ranulph Glanville (1979) spricht in diesem Fall des „nackten“ Hakens der nur auf sich selbst verweist und als Grundlage seiner selbst fungiert von einer one-sided boundary. Diese Gleichung zeigt allerdings, dass auch die Grenze einer Form eine zweiseitige Angelegenheit ist – insofern man sie beobachtet.
118
Da wir nun auch das re-entry in seinen Grundzügen eingeführt haben, lässt sich noch einmal an einem Schaubild, in dem Tilly seine weiter oben diskutierte Komplexität von Grenzen zusammenfasst, demonstrieren, wie diese Notation arbeitet.
Abbildung 4: Der Komplexitätsformalismus der Grenze (Tilly 2005: 8) Übersetzt in die Notation für Unterscheidungen erhält man folgende Form für die Komplexität der Grenze:
Grenze Komplexität
=
X
Y
stories
Zwei Dinge fallen sofort auf. Erstens ist die Grenze als Linie zwischen X und Y in dieser Form nicht mehr eindeutig identifizierbar. Zwar lässt sich der senkrechte Strich zwischen X und Y so verstehen, aber es sind nun schließlich zwei weitere senkrechte Striche dazugekommen. Nicht nur einer dieser Striche repräsentiert die Grenze, sondern die gesamte Form
119
ist die Grenze,15 was wiederum bedeutet: Grenzen sind differenziert. Zweitens fällt auf, dass die Bezeichnungen der einzelnen Relationen nicht mehr auftauchen. Das ist nicht mehr notwendig, weil jeder einzelne Haken genau das leistet, nämlich eine Relationierung der dadurch separierten Seiten. Alle Variablen auf der rechten Seite der Gleichung (X, Y, stories) sind in der Form relationiert und die Wiedereintritte markieren, dass jede von ihnen Relationen zu sich selbst und zu den jeweils anderen Variablen pflegt und diese Relationen wiederum zu relationieren versteht. Die Übertragung von Tillys Schaubild in die Notation von Unterscheidungen von Spencer-Brown muss jedoch vor dem bisher gezeichneten Hintergrund modifiziert werden. Man kann sie konsistent mit der bisherigen Argumentation verknüpfen, wenn man den Vorschlag Andrew Abbotts mitberücksichtigt, dass jegliche Entitäten erst im Kontext einer Grenze entstehen und vorher einfach nicht als Einheiten bezeichenbar sind (Abbott 1995; s.o. Fn. 10). Ferner bauen wir einen Verweis darauf ein, dass die Konstitution von ties über Geschichten läuft und wir auch nur durch Geschichten überhaupt etwas von solchen ties wissen können (White 1992: 13f., 65 ff.).
Grenze Komplexität =
stories
X
Y
Durch diese Form wird die Grenzsetzung selbst, also die Markierung einer Grenze als Grenze, in den Vordergrund gerückt. Über die Grenze und ihre Setzung kursieren stets Geschichten, die im Kontext der Grenze bestimmte Entitäten (hier: X und Y) als weitere Kontexte aufrufen und verdichten. Die Erzählungen und Entitäten werden jeweils so in die Grenze wiedereingeführt, dass die Grenze als spezifische Grenze erscheint, die zwischen diesen Einheiten verläuft. Diese Form, so die These, verweist auf die Komplexität jeder Grenze. Obwohl es um Verhältnisse der Gleichzeitigkeit geht, kann man die obige Form der Einfachheit halber als Sequenz folgendermaßen ausdrücken: Eine Unterscheidung treffen sie mithilfe von Geschichten als Grenze beobachten und dabei mindestens zwei Identitäten unterscheiden, zwischen denen die Grenze verläuft. Zwei in Opposition stehende Einheiten sind nur das Minimum an Entitäten /Identitäten, die in der Form einer Grenze produziert werden. Je nach Anwendungsfall wird man hier mehrere Einheiten (beziehungsweise: Unterscheidungen) unterscheiden müssen. Auch eine Oppositionsbeziehung 15
Auch wenn ich mich wiederhole (siehe die vorangehende Fußnote): Hier ist eine gewisse Vorsicht und Sorgfalt
geboten, sonst kommt es leicht zu Missverständnissen. Zur Gewinnung einer Theorie der Grenze wird die Formtheorie auf sich selbst angewendet. In Abbildung 1 sieht man einen allgemeinen Formbegriff, in dem die Grenze nur ein Aspekt des Begriffs ausmacht. Ich greife nun diesen einen Aspekt der Form heraus und bestimme mit Hilfe soziologischer Überlegungen seine Form, das heißt ich beobachte und notiere die Grenze einer Form (vgl. Abbildung 1) als Form.
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zwischen den Identitäten ist nicht zwingend. Es kommt auf die Geschichten an. In Griechenland erzählt man sich zum Beispiel immer wieder Geschichten über die Befreiung von der türkischen Herrschaft, in denen letztlich nur zwei Identitäten vorkommen, die dazu noch in Opposition stehen: Griechen und Türken. Deshalb hat sich diese Grenze etabliert und ihr Konflikt über die Jahre verfestigt (auch wenn die Grenze in dieser Form im Prinzip nur noch für das Militär oder vielleicht noch bei Fragen nach der „griechischen Identität“ eine Rolle spielt). Verfeinert man die Beobachtung jedoch, zum Beispiel auf wissenschaftliche Art und Weise, geraten auch andere Geschichten in den Blick, die mehr als nur zwei in Opposition stehende Identitäten hervorbringen (vgl. Karakasidou 1997). Dann sieht man, dass die lokalen Geschichten über die Markierung der Grenze einer griechischen Nation mindestens auch die Slawen ins Spiel bringt, ebenso wie das orthodoxe Patriarchat, das Schulsystem und vor allem die tsorbadjidhes, griechisch sprechende Besitzer großer Ländereien, die (genauso wie die orthodoxe Kirche) von dem Verwaltungssystem der Osmanen profitiert haben und deshalb keinesfalls in Opposition zu ihnen, sondern eher zur regionalen, verarmten Bevölkerung standen. Das ist damit gemeint, wenn es heißt, dass es auf die Geschichten über Grenzziehungen ankomme, um bestimmen zu können, wie viele Identitäten erzeugt und verdichtet werden und wie diese Identitäten letztlich zueinander stehen. Die Form der Grenzkomplexität mit dieser Notation zu notieren ist nicht bloß eine eins-zu-eins Übersetzung von Tillys Formalismus, sondern geht darüber hinaus, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil die unmarkiert bleibende Außenseite (jeweils rechts vom letzten Haken) ebenfalls zur Form gehört und somit augenfällig den Verweis auf weitere Netzwerke und Beobachter mitführt, in die diese Struktur eingebettet ist. Der Eindruck, dass dieses Vorgehen Tillys Modell verkompliziert, ist nicht falsch. Aber man gewinnt dadurch ein noch höheres Auflösungsvermögen, ohne auf die Einfachheit von Tillys Modell letztlich verzichten zu müssen. Nicht zuletzt ist diese Notation auch ein Vorschlag für eine vollkommen andere Art der Visualisierung von Netzwerken, die eben nicht graphentheoretisch, sondern topologisch orientiert ist, und darum in der Lage ist, Netzwerke nicht nur als „pipes“, sondern auch als „prisms“ darzustellen (vgl. Podolny 2001). 5
Netzwerke und Grenzen
Dieser Umweg, der uns zu einer Bestimmung sozialer Grenzen geführt hat, erlaubt es nun, unsere anfangs aufgestellte These, nämlich das Grenzen Netzwerken gleichen, wieder aufzugreifen und formalistisch zu begründen. Unser Weg führt zu diesem Zweck zurück zu Harrison White. Er hat der Netzwerktheorie zwei zentrale Ausgangsunterscheidungen mitgegeben: Kopplung/Entkopplung und Identität/Kontrolle. Diese beiden Unterscheidungen stehen quer zueinander, das heißt Identitäten und Kontrollprofile können beide jeweils Kopplungen und Entkopplungen hervorrufen (White 1992: 9ff. und passim). Auch die Unterscheidung Kontrolle/Identität und ihre Beziehung zu Entkopplung/Kopplung lässt sich formal darstellen. Darauf muss jedoch an dieser Stelle verzichtet werden, um die hier gewählte Darstellung nicht unnötig zu überladen. Festhalten sollte man allerdings, dass Kontrolle/Identität eher ein Formalismus für die Modellierung von social organization ist, während Kopplung/Entkopplung sich konkreter auf Netzwerke als eine Form sozialer Organisation bezieht, die sich von anderen Formen sozialer Organisation, wie zum Beispiel Disziplin, Institution oder Stil unterscheidet. 121
Nichtsdestotrotz bleibt Netzwerk der Grundbegriff, der Harrison Whites Überlegungen leitet (was insbesondere in der Neuauflage von „Identity and Control“ deutlich wird, siehe White 2008), so dass es berechtigt und vielleicht sogar ratsam ist, Kontrolle/Identität als Netzwerkformalismus zu begreifen und mit der Unterscheidung Kopplung/Entkopplung zu verknüpfen. Ich werde mich im Folgenden allerdings aus Gründen der Sparsamkeit und Anschaulichkeit auf die letztere Unterscheidung konzentrieren. In dem frühen Arbeitspapier „Notes on Coupling-Decoupling“ (1966) skizziert White bereits grundlegende Elemente für eine Netzwerktheorie, die sich im Nachhinein als Grundlegung eines Forschungsprogramms entpuppen, das in seinem 26 Jahre später erschienenen Hauptwerk „Identity and Control“ (1992) das erste Mal ausgearbeitet vorliegt. Dort unterscheidet White noch networks und frameworks, erstere über kategoriale Unterscheidungen auf Sinn und Kultur, letztere als „frameworks of positions“ eher auf soziale Struktur bezogen.16 Den größten Nutzen der Unterscheidung von Kopplung und Entkopplung sieht er in Bezug auf frameworks. Allerdings hält er damals schon diese Differenzierung in Netze und Rahmen nicht sauber durch, denn er wendet Kopplung/Entkopplung sowohl auf Netzwerke als auch auf Rahmenwerke an. Vermutlich haben ihn diese Abgrenzungsprobleme dazu gedrängt, in späteren Publikation beide im Begriff des Netzwerks aufgehen zu lassen und den Unterschied zwischen Kultur und Sozialität in sein damals schon in Grundzügen entwickeltes Ungewissheitskalkül (ambiguity/ambage) zu verschieben (White 1992). Whites Gedankengang aus diesem frühen Aufsatz kann in der Proposition zusammengefasst werden, dass Netzwerke sich über die Unterscheidung von Kopplung und Entkopplung bilden und entfalten.17 Die verwendete Notation gestattet eine Abkürzung der weiteren Argumentation.
Netzwerk
= Kopplung Entkopp lung
Ein Netzwerk, so lässt sich diese Gleichung lesen, ist ein fortlaufender, unabschließbarer Prozess von Kopplung und Entkopplung in einem zunächst unbestimmten, aber in diesem 16
Heute pflegt White sogar eine eher gegenteilige Begriffsverwendung: networks als (strukturelle) Beziehungs-
muster und domains als (sprachliche) Sinnzusammenhänge, was ihn dann auch in Bezug auf die stets verwobene Einheit der beiden zu der Wortschöpfung netdom veranlasst (White 1995a). Da Netzwerke für White jedoch letztlich immer „networks of meaning“ sind (1992: 67, vgl. auch Fuhse 2008), kann man sie auch direkt als differenzierte Einheiten von Struktur/Kultur begreifen, was nicht gleichzusetzen ist mit einem Verwerfen von netdoms, denn sie liefern andere Vorteile, zum Beispiel ein Einfallstor für soziolinguistische Theorieentwicklungen. 17
Vor diesem Hintergrund erscheint vieles von dem, was heutzutage als Netzwerktheorie firmiert als halbierte
Form von Netzwerktheorie, denn man konzentriert sich vornehmlich auf ties oder auf embeddedness, das heißt auf Kopplungen und daraus entstehende Strukturmuster. Der empirischen Netzwerkanalyse kann man in dieser Hinsicht nichts vorwerfen, denn während sich Kopplungen in Form von ties recht gut operationalisieren lassen, kann man Entkopplungen nur schwerlich erheben. Jedoch lassen sie sich womöglich als zero-blocks modellieren (vgl. White, Boorman/Breiger 1976).
122
Prozess bestimmbaren Kontext (die unmarkierte Außenseite der Form). Das heißt jede Kopplung kann nur im Kontext von Entkopplungen vorgenommen werden und ist nur so möglich und jede Entkopplung setzt Kopplungen voraus, um überhaupt Sinn zu machen und durchgeführt werden zu können.18 Darüber hinaus ist mit dem re-entry unter anderem angezeigt, dass stets unbestimmt bleibt, und somit ungewiss ist, welche Entkopplung vorgenommene Kopplungen nach sich ziehen und welche Kopplung zu welchen Entkopplungen führt. Das Resultat des Umgangs mit diesen Umständen ist ein Netzwerk als uncertainty trade-off. Das ist offensichtlich dieselbe Unterscheidung, die wir auf vollkommen anderem Wege für Grenzen herausgearbeitet haben. Dazu passt auch die erste empirische Illustration, die White in seinem Aufsatz wählt, um die Brauchbarkeit der Unterscheidung zu demonstrieren. Er verweist beispielhaft auf zwei Gruppen von Jägern eines Nomadenstammes, die sich hinsichtlich der Teilung eines Jagdgebiets einigen und damit eine Grenze etablieren, die sie aneinander koppelt, weil sie sie von der Kontingenz der Umweltveränderungen im Jagdgebiet der anderen entkoppelt (White 1966: 3). Selbst wenn die Beute bei der Jagd die Grenze kreuzt, eröffnet die Grenze (weil sie da ist) für die aktuellen Jäger die Alternative weiter zu jagen oder sich zurückzuziehen. Wird weitergejagt und wird dies von der anderen Gruppe registriert, dann wird die Grenze keinesfalls obsolet. Ganz im Gegenteil: Die Beziehung zwischen den beiden Gruppen von Jägern kann sich auf die Grenze beziehen und entlastet somit von der Möglichkeit eines unkontrollierbaren Konflikts. Grenzen kanalisieren Ungewissheit. Sie halten in diesem Fall die Gruppen auf Distanz und ermöglichen deshalb eine hochselektive Beziehung, über die man freilich je nach Situation streiten kann. Dieses Beispiel zeigt, dass die formale Äquivalenz von Grenzen und Netzwerken bei White von vornherein angelegt ist.19 Nur wusste man zu jenem Zeitpunkt einerseits zu wenig über Grenzen, um das bestätigen zu können und andererseits hat der Netzwerkbegriff immer (und gerade auch) hervorragend ohne Grenzen funktioniert. Zusammenfassend erhält man folgende Gleichung: Ne tzw erk =
Kopp lung Entkopp lung
=
Entkopp lung Kopp lung
= G renz e
Hält man sich vor Augen, dass Spencer-Brown das Gleichheitszeichen mitunter als „wird verwechselt mit“ interpretiert (1969: 69), wird ein wenig klarer, wie diese Gleichungen zu lesen sind, nämlich nicht ontologisch, sondern beobachterabhängig. Eine Nuance in der Art 18
Gekoppelt und entkoppelt werden mitunter vollkommen heterogene Elemente, also zum Beispiel materielle,
körperliche, psychische (Wahrnehmungen, Schemata) und soziale. Dasselbe gilt innerhalb des Sozialen, wenn zum Beispiel Personen, Ideologien und Hierarchien miteinander gekoppelt werden, wie offensichtlich im Fall von Organisationen oder Sekten. 19
Es ist hier der Einwand formuliert worden, dass White die Unterscheidung von Entkopplung und Kopplung ganz
anders verwendet, nämlich um Einbettungsverhältnisse zwischen verschiedenen Aggregationsstufen des Sozialen zu beschreiben, inklusive der Frage der Einbettung des Individuums. Aber inwiefern ist das ein Einwand? Der Witz ist doch, dass man damit offensichtlich Aggregationsstufen voneinander oder Individuen vom Sozialen abgrenzt. Ich bin für diesen Einwand dankbar, denn er zeigt eindrücklich, dass die hier angestellten Überlegungen dringend notwendig sind (vgl. auch Breiger 2008).
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der Notation des jeweiligen Begriffs macht den haarfeinen Unterschied zwischen Grenzen und Netzwerken deutlich. Beobachtet man Kopplungen (Relationen, Bindungen, Einbettungen), wie sie sich als Verkettungen abkoppeln von anderen Relationen, so sieht man Netzwerke. Beobachtet man hingegen, wie Entkopplung (Erzeugung von Unbestimmtheit) zu alten oder neuen Kopplungen führt, so sieht man Grenzen. Deshalb liegt eine Verwechslung (im Sinne von: Austauschbarkeit für Beobachter) der beiden nahe, und zwar nicht nur im Rahmen theoretischer Erwägungen, sondern gerade auch empirisch.20 Denn wie anders werden soziale Grenzen erlebt, wenn nicht in Form von Netzwerken? Ganz gleich ob mit dem Auto an der Grenze, im lockeren Gespräch oder bei einer wissenschaftlichen Tagung: man spielt immer damit, was aktuell gesagt und getan werden kann und was nicht; beziehungsweise was wem wie lange aktuell zumutbar ist und was nicht; und man rechnet dabei immerzu auf, was das für potentielle Handlungsmöglichkeiten bedeutet. Mit anderen Worten: Man laviert sich durch Netzwerke, aktiviert bestimmte (semantische, sprachliche, menschliche, ideologische, materielle) Beziehungen und löst dabei zwangsläufig andere auf, hält sie aber dennoch potentiell verfügbar, um möglicherweise auf sie zurückkommen zu können. Insofern ist Niklas Luhmann zuzustimmen, dass Grenzen immer Sinngrenzen sind, das heißt in Form sinnhafter Schematisierungen in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht auftauchen, um das aktuell aufgerufene Verhältnis von Aktualität und Potentialität zu strukturieren (vgl. Luhmann 1984). Grenzen realisieren sich in jeder einzelnen Operation immer zugleich in allen Sinndimensionen und sind deshalb fortwährend in Veränderung begriffen, zeit- und beziehungsabhängig und räumlich und sachlich verteilt (Tilly 2004a). Selbst territorial manifestierte Grenzen sind nichts anderes als verfestigte Derivate sinnhafter Unterscheidungszusammenhänge21: verfügbare/nicht verfügbare Ressourcen, hier/dort, vorher/nachher, Wir/die Anderen. 6
Ausblick: Disziplinen und Gesellschaft
In Konsequenz dieser Betrachtungen erweist sich die Netzwerktheorie als eine soziologische Erfindung, die soziale Grenzen zu bestimmen erlaubt. Ihr Beitrag zur Untersuchung sozialer Grenzen ist demnach sie selbst. Das lässt selbstverständlich viele Fragen offen, allerdings Fragen, die ohne diese Behauptung gar nicht erst gestellt werden könnten. Dieses Ergebnis ist deshalb kein Endpunkt, sondern ein Ausgangspunkt für weitere Forschung zu Grenzen, gerade auch zu Grenzen von Netzwerken. Zwei Implikationen dieses Resultats seien abschließend genannt, um anzudeuten in welche Richtung weitergearbeitet werden kann. Die eine betrifft die Rolle, die Disziplinen als soziale Molekularstrukturen (vgl. White 1992, 2008) im Rahmen der Suche nach den Grenzen von Netzwerken spielen können und die andere betrifft die Rolle der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1997a). Die Gesellschaft als soziales System ins Spiel zu bringen, wirft zudem die noch immer offene Frage der Beziehung von Systemen und Netzwerken auf, deren Beantwortung in Bezug auf das Problem sozialer Grenzen von entscheidender Bedeutung sein könnte.
20
Hier lassen sich womöglich Analysen zu der Frage anschließen, in welchen Kontexten, unter welchen Bedin-
gungen und mit welchen beobachteten Konsequenzen jeweils eine Netzwerk- oder Grenzsemantik benutzt wird. 21
Das behauptet im Grunde genommen bereits Georg Simmel (1908), siehe insbesondere S. 696ff.
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Die unplausible Evidenz der Annahme, dass Grenzen Netzwerke sind (oder sogar: dass Netzwerke nichts anderes als Grenzen sind), und der daraus entwickelte Grenzformalismus können dabei helfen, eine Suchbewegung zu starten, um Theorieelemente und Modellierungsversuche zu identifizieren, die womöglich in Bezug auf die Frage nach den Grenzen von Netzwerken weiterhelfen können. Die naheliegendste, auf diesen Prämissen aufbauende Annahme ist, dass die Grenzen von Netzwerken selbst Netzwerke sind, so dass es sich anbietet, dort genauer hinzuschauen, wo wir uns die ganze Zeit schon aufgehalten haben. Man wird rasch fündig. Der spezifische Beitrag der Netzwerktheorie zur Grenzforschung sind Disziplinen (White 1992: 22ff.).22 Disziplinen sind eine Art soziale Moleküle, also Strukturen, in denen bestimmte Identitäten und Kontrollformen auf wiedererkennbare Weise gekoppelt sind und reproduziert werden, so dass sie sich von den weiteren Netzwerken, in die sie immer eingebettet sind und bleiben, entkoppeln. Es sind Produktionseinheiten im weitesten Sinn, also Netzwerke, die auf die Produktion von Resultaten gleich welcher Form hin orientiert sind. Als Beispiele für Disziplinen nennt White so unterschiedliche Phänomene wie die Routinen der Essenszubereitung, -lieferung und -verteilung in einer Cafeteria, Produktions- und Tauschmärkte, Gremien, Seminardiskussionen, Theatergruppen, Nachbarschaften, Professionen, der Römische Senat, Abstammungslinien, der Ständestaat oder Filmproduktion. Obwohl White Grenzen im Rahmen seiner Netzwerktheorie generell eher skeptisch gegenübersteht, haben/sind Disziplinen für ihn klare Grenzen (White 1992: 66). Das wird insbesondere an einem bestimmten Typus von Disziplin, nämlich den Interfaces, deutlich, und zwar sowohl semantisch als auch konzeptionell.23 White selbst schlägt diesen Begriff sogar als Substitut für den Begriff der Grenze vor: „A boundary is a social ‘act’, an act hard to keep together and sustain; it is not a skin. I propose that we throw out the term altogether in social systems analysis because it is so misleading, such an inappropriate borrowing from natural science. ‘Interface’ is a term with appropriate connotations, especially that any ‘dividing line’ in a social system is a two-sided affair which must be actively created, perceived and reproduced on each side, in order that there be a demarcation.“ (White 1982: 11) Wenn Disziplinen Grenzen entsprechen, wie White es hier am Typ der „Interface“Disziplin darstellt, müssen sie im Kontext des hier gewonnenen Formalismus interpretiert werden können. White konstatiert, dass Interfaces, zum Beispiel Produktionsmärkte oder Arbeitsgruppen, nur dann zustande kommen und sich reproduzieren können, wenn es, allgemein ausgedrückt, zu stabilen Kommunikationsbedingungen (für Märkte: „terms of trade“) kommt (White 1981, 2002). Das ist in Märkten dann der Fall, wenn sich die einzelnen 22
Institutionen sind eine weitere soziale Formation, die diese Möglichkeit der Grenzbestimmung von Netzwerken
mit sich bringt. Institutionen lassen sich jedoch netzwerktheoretisch als Disziplinen von Disziplinen, also als Disziplinen höherer Ordnung modellieren (White 1992: 116ff.), so dass Überlegungen zu Disziplinen Institutionen mit einschließen, auch wenn man sie an anderen Stellen unterscheiden muss. 23
White unterscheidet drei Typen von Disziplinen: Interfaces, Arenas und Councils. Ausgearbeitet und mathema-
tisch modelliert hat er bislang jedoch nur Interfaces, insbesondere in seinen Studien zu Produktionsmärkten (White 1981, 2002). Tauschmärkte sind im Gegensatz dazu keine Interfaces, sondern Arenen (ebenso wie Professionen). Eine typische Council-Disziplin sind für ihn Parlamente, aber auch Filmproduktion gehört dazu. Wie man sieht, schafft sich White damit ein Setting, in dem er vollkommen verschiedenartige Phänomene vergleichbar machen kann.
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Produzenten über wechselseitige Beobachtung ihre jeweilige Selbstverpflichtung (commitment) signalisieren, eine bestimmte Menge für einen bestimmten Ertrag zu produzieren, so dass sie von Seiten der Zulieferer (upstream), in anderen Märkten (cross-stream) und von Seiten der Käufer (downstream) nach einem Qualitätskriterium verglichen, das heißt geordnet und bewertet werden können. Mathematisch gesprochen muss sich der Zusammenhang der einzelnen Commitments als Funktion beschreiben lassen, wenn es zu einem stabilen Marktprofil kommen soll. Diese Reproduktion von für alle Beteiligten wiedererkennbaren Kommunikationsbedingungen (= Marktprofil oder Interface) entkoppelt den Markt von anderen Netzwerken (zum Beispiel der Wirtschaft, anderen Märkten, Produzenten, Konsumenten oder Institutionen). Aber Entkopplung heißt eben nicht vollständige Ablösung oder Isolation, sondern ist nur vor dem Hintergrund einer hochselektiven Einbettung möglich. Um Disziplinen nun angemessen, das heißt kontextabhängig, modellieren zu können, führt White „embedding ratios“ ein (vgl. White 1992: 34ff.) – und hier kommt nun eine mögliche Interpretation unseres Grenzformalismus‘ ins Spiel. Diese Einbettungsverhältnisse sind nämlich eine Möglichkeit, wie man die im Grenzformalismus unbestimmte, offen gelassene Relation von Entkopplung und Kopplung näher bestimmen kann: als „embedding over decoupling“, also in Form eines Quotienten (ratio).24 Aber das ist eben nur eine Möglichkeit und es müsste noch Arbeit investiert werden, um hier weiterzukommen, zumal eine mögliche Operationalisierung zahlreiche Hürden zu nehmen hätte. Eine dieser Hürden besteht darin, dass noch offen ist beziehungsweise sehr unterschiedlich gehandhabt wird, wie Entkopplung und Kopplung jeweils zu begreifen sind und wie sie vollzogen werden. Was wird eigentlich gekoppelt/entkoppelt und vor allem, wie wird das empirisch gemacht? Über welche Operation laufen derartige Kopplungsentkopplungen? Eine theoretisch angemessene Antwort wird dazu die Systemtheorie ins Boot holen müssen, um sie gemeinsam mit der Netzwerktheorie darauf ansetzen zu können. Die soziologische Systemtheorie verfügt über einen operativen Differenzbegriff der Gesellschaft (Luhmann 1997a), den man braucht, wenn man wissen will, was letztlich das Bezugsproblem von Grenzen ist und sie verfügt über einen Kommunikationsbegriff, den man benötigt,
24
Das lässt sich einfach als Bruch darstellen:
White operationalisiert Kopplung als Kaufbedürfnis und Entkopplung als Produktionskosten, und zwar jeweils einmal für die entsprechend wahrgenommene Produktionsmenge und einmal für die wahrgenommene Qualität. Das Ganze ist gepaart mit zwei Annahmen: 1. das Kaufbedürfnis ist das eines aggregierten Käufers, sonst würde abgesehen von der Unmöglichkeit entsprechende Daten zu beschaffen nicht deutlich, dass es um eine Einbettung in weitere Netzwerke geht; und 2. liegen die Produktionskosten individualisiert vor, weil über sie innerhalb der entsprechenden Clique einer Handvoll von Produzenten gegenseitig die Entkopplungsbedingungen angezeigt werden (vgl. White 2002: 35ff. und 49ff.). Die Marktgrenze (market interface) in unserem Sinne ist nun der Eigenwert (vgl. von Foerster 1997), der durch die laufende Unterscheidung von Bedürfnis und Kosten jeweils in Bezug auf Menge und Qualität von beiden Seiten erzeugt wird. Es handelt sich um eine Grenze insofern, als der Zugang von anderen Produzenten zum Markt an die entsprechend von Konsumenten und Produzenten beobachteten und reproduzierten Bedingungen (Menge/Qualität/Vergleichbarkeit) gebunden ist. Entweder man ist als Produzent in der Lage, sich auf die Grenze einzulassen, das heißt gleichsam ein Teil von ihr zu werden oder der Markteintritt wird zum Problem. Auch hier sieht man: Was den einen (Produzenten, Konkurrenten, Konsumenten) als Grenze erscheint, erscheint anderen (oder denselben zu anderen Zeitpunkten) als Netzwerk.
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um herausfinden zu können, wie Grenzen reproduziert, signalisiert und in Szene gesetzt werden. Das Problem der Grenze (oder allgemeiner: das Problem der Form) erweist sich somit auch als entscheidender Artikulationspunkt von Systemen und Netzwerken. Will man etwas über die Reproduktion einer Grenze wissen, ist es ratsam, auf die Systemtheorie zurückzugreifen, weil Systeme nichts anderes als eben diese Reproduktion sind, will man hingegen eine Grenze als Grenze erkunden, ist die Netzwerktheorie maßgebend. Die soziologische Systemtheorie bietet mit dem Begriff der Gesellschaft einen Anker, der notwendig ist, um die Annahme auffangen zu können, dass Netzwerke nichts anderes als Grenzen sind. Dass dies notwendig ist, zeigt das obige White-Zitat zu Interfaces als Grenzen, in dem er ohne weitere Erläuterung einfach ein „social system“ einführt – ein Manöver, dass sich in netzwerktheoretischen Zusammenhängen sehr oft wiederfindet (vgl. exemplarisch auch Wellman 1988). Die Systemreferenz für die Untersuchung von Grenzen ist also die Gesellschaft als soziales System und das Bezugsproblem von Grenzziehung ihre kommunikative Selbstreproduktion im Kontext mitlaufender Wahrnehmung und psychischer Befindlichkeiten. Das löst mitunter das Problem, welche Operation überhaupt Kopplungen und Entkopplungen von heterogenen Identitäten/Kontrollen realisiert. Es ist die Operation der Kommunikation als Eröffnung und Konditionierung von Freiheitsgraden (Baecker 2005). Ohne Kommunikation ist die Form der Beobachtung, die für die Reproduktion einer White‘schen Disziplin und für das Knüpfen und Abbrechen von Bindungen generell notwendig ist, nicht zu haben. Von daher rührt wohl auch Whites Faszination für die „signaling dynamics“ des Ökonomen Michael Spence (1974), die bei der Entwicklung seiner Disziplinen Pate standen. Aber der Kommunikationsbegriff scheint mir durch seine Verbindung mit dem sozialen System der Gesellschaft, dem Medium Sinn und mit Beobachtung zweiter Ordnung in diesem Zusammenhang mehr Potenzial zu haben. Eine Kombination der Einsichten von Netzwerk- und Systemtheorie ist nicht in Form von Analogien zu leisten. Gerade in Bezug auf Grenzen ist es besonders wichtig, Systeme und Netzwerke strikt voneinander zu unterscheiden. Bisherige Versuche der theoretischen Bezugnahme von Netzwerk- und Systemtheorie laufen über einen zweistelligen beziehungsweise direkten Vergleich und gehen deshalb entweder auf Kosten des Systembegriffs (vgl. Fuchs 2001) oder auf Kosten des Netzwerkbegriffs (vgl. Teubner 1992). Es wird daher ein Kombinations- und Vergleichsgesichtspunkt gebraucht, der eine wechselseitige Generalisierungs- und Respezifikationsbewegung in Gang setzen kann. Es bedarf also mindestens eines dreistelligen Vergleichs. Die hier in Grundzügen vorgestellte Formtheorie ist dafür mehr als nur ein interessanter Kandidat. Wenn eine solche Kombination von Netzwerk- und Sytemtheorie über das Problem der Grenze gelingt, lässt sich auch Luhmanns Vermutung wieder aufgreifen, dass Grenzen weder zum System noch zur Umwelt gehören, sondern etwas Drittes sind (Luhmann 1984: 53f.). Nur fehlte ihm damals noch ein Netzwerkbegriff, der nötig ist, um diesen Gedanken weiter verfolgen und ausarbeiten zu können.
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Grenzen der Erfassung = Grenzen von Netzwerken? Schnittmengeninduzierte Bestimmung von Positionen Christian Stegbauer und Alexander Rausch
In diesem Beitrag wird eine Vorgehensweise zur Bestimmung von Positionen vorgestellt und diskutiert. Diese wird mit einem in der Umfrageforschung üblichen Verfahren, Kombinationen von Attributen als Positionen zu interpretieren, verglichen. Der Vergleich offenbart den Mehrwert des netzwerkanalytischen Vorgehens. Die Frage der Grenzen wird insofern gestellt, als im konventionellen netzwerkanalytischen Vorgehen die Untersuchung meist auf ein einziges Feld beschränkt bleibt. Was wir hier tun, ist eine Grenzüberschreitung, indem wir drei unterschiedliche Aktivitätsfelder miteinander kombinieren. Mit dieser Überschreitung sind wir in der Lage eine Metaposition zu bestimmen. In der Untersuchung werden dazu die Schnittmengen dreier voneinander unabhängiger Bereiche in der Wikipedia (Beteiligung an der Erstellung einer Anzahl an Artikeln, Mitarbeit in mindestens einem von drei ausgewählten Portalen und Teilnahme an Treffen zwischen Wikipedianern) bestimmt. Wenn wir Umfragedaten hätten, könnten wir danach fragen, an welchen der interessierenden Aktivitäten die Befragten teilgenommen haben und dadurch den einzelnen Teilnehmern Aktivitätsbereiche zuordnen. Mit diesen Daten wäre es möglich, zu bestimmen, wer sich in wie vielen Bereichen beteiligt. Diesem konventionellen Vorgehen stellen wir Netzwerkdaten, die aus der Aufbereitung von zweimodalen Beziehungsnetzen entstanden sind, gegenüber. Hierdurch zeigt sich, dass den Aktivitäten nicht einfach individuelle Beteiligung unterliegt – die Beteiligung ist sozial strukturiert und diese Struktur ist bedeutsam. Bei der netzwerkanalytischen Variante beziehen wir uns also nicht nur auf die Schnittmengen (befragungsanaloges Vorgehen) der Aktivitätsbereiche, wir untersuchen nur diejenigen Akteure, die miteinander in den verschiedenen Bereichen in Kontakt standen. Die Idee, die hinter dieser Auswertung steht, ist, dass es durch die Kombination von Aktivitätsbereichen möglich sein müsste, Metapositionen innerhalb der Wikipedia zu bestimmen. Mit Hilfe einer solchen Positionsbestimmung müsste sich eine Führungsposition abbilden lassen, die in allen Bereichen von Bedeutung ist. Bei diesem Vorgehen fließen nicht nur unterschiedliche „Types of Ties“ ein, es werden auch simultan drei voneinander weitgehend „unabhängige“ Teilnetzwerke aufeinander bezogen und damit die Grenzen üblicher Netzwerkstudien, die sich auf ein einzelnes „network in a box“ (Wassermann/Faust 1994) beziehen, überschritten.
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Beziehungsdimensionen
Die Teilnehmer von Wikipedia haben verschiedene Möglichkeiten der Beteiligung. Die Beteiligung lässt sich in Dimensionen aufteilen. Im Anschluss an Leopold von Wiese
(1968) würden wir etwas diffuser von „Sozialräumen“ sprechen oder mit Blick auf die Überlegungen von Feld (1981) von Foci sozialer Beziehungen. Wir nehmen hier folgende analytische Aufteilung vor: den Bereich der Artikel, der Organisation (hier etwas unscharf durch drei Wikipedia-Portale repräsentiert) und die Gemeinschaft (die durch gemeinsame Beteiligung an Face-to-face-Treffen operationalisiert wird). Klar, dass eine Einteilung in diese Bereiche Unschärfen aufweisen wird, denn es gibt zahlreiche Überschneidungen. Damit ist gemeint, dass, wenn wir Portale untersuchen, wir gleichzeitig die dort gesammelte Artikelproduktion einbeziehen. Allerdings haben wir die Portalprojekt- und Organisationsseiten ebenfalls eingeschlossen. Man sieht also, dass unsere Möglichkeiten der empirischen Messung begrenzt sind. Jedoch nehmen wir an, dass sich Positionen mit Hilfe einer simultanen Betrachtung von drei unterschiedlichen Dimensionen (Artikel, Organisation und Gemeinschaft) bestimmen lassen. Teilnehmer, die nur an Artikeln mitarbeiten, aber keinen weitergehenden Kontakt zur sog. „Wikipediacommunity“ und „Organisation“ haben, werden eher die Außensicht auf Wikipedia teilen. Solche Teilnehmer, die mit der Organisation in Kontakt kommen, lernen die Schwachstellen kennen, wissen um die Probleme mit sog. „Trollen“ und „Vandalen“, die Beantwortung von Anfragen von Menschen, die das Wikiprinzip nicht verstanden haben, werden zu Experten in Urheberrechtsfragen und kümmern sich um die Außendarstellung des Projekts. Dort behandelte Probleme sind beispielsweise Fragen dazu, wie die Qualität der Artikel sichergestellt werden kann oder wie konventionell ein Artikel aufgebaut sein soll. Häufig werden diese Teilnehmer auch auf Treffen der Gemeinschaft zu finden sein, aber die Treffen haben die Funktion, eine soziale Bande zwischen den Aktivisten herzustellen. Zum Teil finden solche Diskussionen auch auf den Mailinglisten oder im Chat statt. Auf den Treffen wird viel mehr über das soziale Projekt Wikipedia gesprochen, hier werden Erfolge gefeiert und das Projekt wird verglichen mit gedruckten Lexika, es wird über Journalisten gewettert, die aus Wikipedia zitieren ohne dies kenntlich zu machen. In beiden Bereichen, mehr noch vielleicht in der Community als in der Organisation findet Ideologieproduktion statt. Auf Treffen werden aber auch Personalien wie die Nominierung neuer Administratoren ausgehandelt. Unsere Überlegung ist, dass keiner der Bereiche alleine Auskunft über die Struktur der Mesoebene geben kann. Erst eine Kombination von unterschiedlichen Bereichen, wie den hier beschriebenen, ermöglicht es, ein genaueres Bild der Beteiligung zu erlangen. Wir sind in der Lage, mittels Daten über Treffen von Wikipedianern, den Freizeitbereich zu betrachten. Für die Mitarbeit an der Bearbeitung von Artikeln stehen 31 zufällig ausgewählte Artikel. Die Organisation wird im hier ausgewählten Beispiel durch die Bearbeitung eines zu einem von drei ausgewählten Portalen repräsentiert. Zwar sind Portalartikel in einem strengen Sinne nicht zur Organisation selbst zugehörig. Da wir aber die Koordinierungsseiten der Portale in unsere Betrachtung mit einbeziehen, ist die organisatorische Ebene an dieser Stelle ebenfalls berücksichtigt. Da keiner dieser drei Bereiche alleine ausreichend ist, um die Beteiligung am Enzyklopädieprojekt zu beschreiben, soll hier eine Perspektive eingenommen werden, mit der alle drei Bereiche simultan mit ihren Überschneidungen analysiert werden können. Untersucht werden kann, inwieweit durch Teilnehmer die Grenzen unterschiedlicher Bereiche überschritten werden. Mit dieser Untersuchung wird relatives Neuland in der Netzwerkforschung betreten, da eine solche synoptische Betrachtung unterschiedlicher Bereiche bislang kaum vorgenommen wurde. 134
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Die Bedeutsamkeit bimodaler Netzwerke
Theoretisch lässt sich ein solches Vorgehen durch eine Orientierung an Giddens (1988)1 Überlegungen zu einer Strukturierung der Gesellschaft begründen. Für Giddens ist einer der entscheidenden Marksteine, dass die Strukturierung durch Raum-Zeit-Bezüge erfolgt. In einer ähnlichen Weise erzwingen Routinen, Tagesabläufe, die Art und Weise, wie und wo jemand arbeitet und wohnt und also auch die Positionen, die jemand in den gesellschaftlichen Teilsystemen zugeordnet bekommen hat (Blau/Schwartz 1984), die Grenzen der Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme. Man kann sagen, dass auch hier die unterliegende Struktur von Beziehungen, die Bedingungen der Möglichkeit, in gegenseitigen Kontakt zu kommen, bestimmt. Dies ist unabhängig von Handlungstheorien. Es handelt sich um objektive Begrenzungen, welche die Möglichkeiten zu Handeln einschränken und viele der scheinbar vorhandenen Optionen (Gross 1994) jenseits der individuellen Fähigkeiten von vornherein ausschließen. Nur innerhalb der sozialen Kreise sind Kontaktmöglichkeiten gegeben. Kontakte sind dort wahrscheinlich, wo sich die sozialen Kreise tatsächlich überschneiden. Innerhalb der Schnittflächen ist eine höhere Chance (Anzahl der Überschneidungen zwischen mehreren Personen) gegeben, eine Beziehung herzustellen, weil dort mehr als eine Chance zu einem Kontakt besteht. Es lässt sich die Überlegung anstellen, dass je mehr Überschneidungen sozialer Kreise zwei Personen teilen, um so eher die Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass es zu einem realen Kontakt kommt. In der Netzwerkforschung wird die Chance, gegenseitig in Kontakt zu kommen, durch zweimodale Netzwerke abgebildet. Die klassische Studie hierzu von Davis und anderen (1941), stellt die Teilnahme an Kaffeekränzchen zwischen Frauen in den Vordergrund. Nur wer am Treffen auch wirklich teilgenommen hat, besaß die Chance in Kontakt mit den anderen zu kommen. Natürlich schließt dies die Möglichkeit nicht aus, über andere Wege Beziehungen untereinander aufzubauen, aber hinsichtlich der Teilnahme an dem Event ist die Chance tatsächlich messbar. So wie nun das Kaffeetrinken eine Möglichkeit ist, sich über andere Dinge auszutauschen, kann man annehmen, dass auch die Teilnahme an der Bearbeitung eines Artikels in der Wikipedia eine Gelegenheit darstellt, Beziehungen zu etablieren. Man könnte sagen, dass die gemeinsame Bearbeitung (inkl. der Diskussion zu einem Artikel) eine Mindestvoraussetzung dazu ist, um in diesem Feld eine Beziehung aufzunehmen. Allerdings gilt auch hier, die durch Giddens (1988) stark gemachte RaumZeitliche Verschränkung wiederum als begrenzender Faktor. Man kann morgens auf dem Weg zur Arbeit die gleiche U-Bahn-Linie benutzen und hat dennoch nicht den Hauch einer Chance miteinander in Kontakt zu kommen, wenn nicht außer der Anwesenheit im selben Raum noch eine zeitliche Übereinstimmung gegeben ist. Die Schriftlichkeit im Internetmedium dehnt zwar an dieser Stelle die Zeit ein Stück weit und verlagert den Raum in eine Vorstellungswelt der Beteiligten (bzw. physisch auf einen Server, der irgendwo stehen kann), das bedeutet jedoch nicht, dass diese Dimensionen bedeutungslos geworden wären. Die Artikelbearbeitung erfolgt sequenziell und häufig sind diejenigen, die den Artikel anlegten, nach einer Zeit nicht mehr damit beschäftigt. Die Diskussionen, die einmal geführt 1
Siehe auch Stegbauer (2008).
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wurden, müssen die damaligen Diskutanten nach einer Weile nicht mehr interessieren, vielleicht verschwinden die Diskurse auch in einem Archiv. Dies ist das Problem der zeitversetzten (asynchronen) Diskussion. Die Beiträge bleiben zwar erhalten, aber nicht unbedingt die Diskutanten, die notwendig wären, um eine gegenseitige Beziehung einzugehen. Übertragen auf das Beispiel im Giddens’schen Sinne bedeutet dies, dass diejenigen, die morgens früh mit der Bahn fuhren, bereits die Bahn verlassen haben, wenn die später Kommenden in dieselbe Linie einsteigen. Die Nutzung derselben Linie ist also nur eine Bedingung, die für einen Kontakt auf der Fahrt notwendig ist. Die Überschneidung der zeitlichen Nutzungskreise ist die zweite Bedingung, die gegeben sein muss. Mit unserem hier vorgestellten Vorgehen, können wir, so lange wir die Nutzung der Bahn (die Beteiligung an einem Portal, an Treffen oder an den 31 näher untersuchten Artikeln) betrachten, zunächst nur die eine Bedingung erfüllen. Über die Gleichzeitigkeit wissen wir nichts. Wir können aber die Wahrscheinlichkeit eines "Kontakts" erhöhen, wenn wir unter der Menge der Beteiligten in diesen drei Teilbereichen nur diejenigen betrachten, die an mehreren dieser „Events“ teilgenommen haben. Die Trefferquote lässt sich noch weiter erhöhen, wenn wir nicht nur die Events als Ganzes betrachten, sondern tatsächlich schauen, ob Personen, sowohl an Treffen teilgenommen haben, als auch an Artikeln gemeinsam mitgearbeitet haben und dies in unserer Stichprobe von 31 Artikeln, als auch in einem der drei untersuchten Portale (Näheres hierzu, siehe unten). Wir schauen also nach Überschneidungen von Aktivitäten in unterschiedlichen Bereichen der Wikipedia. Eine solche Betrachtung von Überschneidungen kann theoretisch durch einen Bezug auf Ronald Burts (1992) Überlegungen zu strukturellen Löchern gerechtfertigt werden. Man kann annehmen, dass es in den unterschiedlichen Bereichen Spezialisten gibt. Diese werden im hier gebrauchten Zusammenhang als Akteure definiert, die nur in einem Bereich tätig werden/geworden sind. Neben diesen „Spezialisten“ dürften auch Akteure zu finden sein, die in mehreren unterschiedlichen Feldern gleichzeitig engagiert sind. Die Spezialisten dürften nur relativ wenig von den organisatorischen Entwicklungen mitbekommen, zumindest gegenüber denjenigen, die über ihre Aktivitäten mehrere Bereiche miteinander verbinden. Letztere hingegen, dürften über Kenntnisse aus den unterschiedlichen Bereichen verfügen. Durch ihre Position kommen sie mit mehr Menschen und unterschiedlichen Personenkreisen in Kontakt. Burt (1992) orientiert sich in seiner Analyse sehr stark am Informationsaustausch und an für Manager zu erzielenden „Gewinnen“, wenn sie Informationslücken zwischen schwach verbundenen Gruppen überbrücken. Die Idee von Burt ist es, dass der Einzelne über die Mitgliedschaft in verschiedenen Cliquen, Kleingruppen etc. an eine höhere Diversität von Informationen gelangt. Diese Informationen stellen für ihn eine Handlungsressource dar, die zum eigenen Vorteil genutzt werden kann. Ein Beispiel wäre der Kaufmann, der weiß, wo er bestimmte Dinge günstig einkauft, um sie auf einem anderen Markt, teurer weiter zu verkaufen. Burt, fundiert seine Überlegungen in der klassischen Arbeit Granovetters zur Stärke schwacher Beziehungen (1973). Wenn man in einer starken Beziehung zu jemand Anderem steht, dann bedeutet dies, so das Argument in diesem Zusammenhang, dass man oft miteinander kommuniziert. Dies wiederum führt dazu, dass sich der Informationsstand aneinander angleicht. Bei schwachen Beziehungen ist die Informationsredundanz geringer, sodass ein Akteur durch schwache Kontakte eher an solche Informationen gelangen kann, die innerhalb seiner „starken“ Beziehungen nicht vorhanden sind. Diese wiederum kann ein Akteur dann zu seinen Gunsten verwenden. 136
Obgleich wir höchstens partiell dem bei Burt mitschwingenden methodologischen Individualismus folgen können, halten wir die darin steckenden strukturtheoretischen Überlegungen für gehaltvoll. Das bedeutet, dass Teilnehmer, die Spezialisten sind, vor allem mit anderen Spezialisten ihres Faches in Berührung kommen werden, aber eher selten in allen drei untersuchten Bereichen aktiv sein werden. Admins hingegen dürften überrepräsentiert sein, weil ihre formale Position ein viel breiteres Aufgabenfeld definiert, etwa wenn sie als Streitschlichter, Artikel- oder Teilnehmersperrer oder aktiv an der Organisationsgestaltung mitwirken. Ein anderes Argument, welches unser Vorgehen rechtfertigt, ist das individualisierungstheoretische Muster, welches Georg Simmel (1908) mit seiner Kennzeichnung des Menschen als Schnittpunkt sozialer Kreise auf den Punkt brachte. Man kann argumentieren, dass Simmel 1908 (wie White 1992) davon überzeugt war, dass Identitäten im Kontakt mit anderen Menschen entstehen. Die spezifischen Schnittflächen der sozialen Kreise sind für jeden Menschen jeweils unterschiedlich. Unsere Überlegungen greifen solche Denkmuster auf, wir interpretieren den Zusammenhang aber in Verbindung mit unserem positionalen Vorgehen. Das, was bei Burt als individuelle Eigenschaften gedeutet wird, die der Einzelne verbessern kann, leitet sich bei unserer Sichtweise von der Position ab. Das bedeutet, dass ein Manager allein schon aufgrund seiner Position mit mehr und unterschiedlicheren Akteuren in Kontakt tritt. Die dadurch im Zusammenhang mit seiner Position gewonnenen Informationen bestätigen wiederum seine Stellung innerhalb des Beziehungssystems einer Organisation. Ein Teilnehmer, der in Wikipedia zur formalen Position der Administratoren gehört, kommt aufgrund dieser Stellung mit ganz anderen Kreisen der Wikipedia in Kontakt als ein spezialisierter Artikelschreiber oder jemand, der nur gelegentlich teilnimmt. Das trifft auch auf Teilnehmer zu, die Treffen an verschiedenen Orten besuchten. Die folgenden Analysen sind also zum einen theoretisch motiviert, zum anderen methodologisch. Wir untersuchen nun also inwieweit Akteure in verschiedenen Bereichen der Wikipedia Aktivitäten entfalten.
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Die Bedeutung der Position: Lebensgeschichte und (situative) Identität
Handlung wird von der Identität bestimmt. Die Identität setzt sich aus mindestens den beiden folgenden Komponenten zusammen, einer Lebensgeschichte und der Situativität.
3.1 Lebensgeschichtliche Prägung der Identität aufgrund von Positionierungen in unterschiedlichen sozialen Kreisen Nach Simmel (1908) ist der Mensch folgendermaßen konstituiert – seine Individualität besitzt er nicht aufgrund der Einzigartigkeit seiner typischen Genausstattung, seiner speziellen Psyche oder was auch sonst. Die Einzigartigkeit beruht auf dem je eigenen sozialisatorischen Mischungsverhältnis der sozialen Kreise, in denen jemand im Laufe seines Lebens verkehrt. Es sind aber nicht nur die Kreise, mit denen jemand in Berührung kam, die die lebensgeschichtliche Identität prägen, es sind auch die Positionierungen in den 137
verschiedenen Kreisen, die hinsichtlich der lebensgeschichtlichen Identitätsausprägung eine wesentliche Rolle spielen. Durch die Unterschiedlichkeit der Schnittflächen entstehen erst die Individuen. Im Einklang mit zahlreichen in der Soziologie angestellten Experimenten und Untersuchungen können wir behaupten, dass die jeweilige Situation mit ihrer spezifischen Positionierung2 entscheidender ist, als die lebensgeschichtlich hergestellte personale Identität, die im Sinne Simmels durch die Abfolge von Kontakten zu unterschiedlichen sozialen Kreisen (und ihrer Posititionierung darin) entsteht. Die Teilnahme an unterschiedlichen Kreisen, so können wir Simmel weiterführen, sorgt für die Herausbildung unterschiedlicher Positionen. Aus den verschiedenen Positionen heraus werden Probleme und Anforderungen je eigen wahrgenommen. Es entstehen auch unterschiedliche Motivationen und soziale Beziehungen in den Kontaktflächen, die spezifisch für die Bereiche zur Verfügung stehen.
3.2 Situative Prägung der Identität. Anknüpfend an die bereits oben angestellten Überlegungen folgen wir der Hypothese, dass diejenigen, die in heterogenen Kreisen aktiv sind, über eine andere Identität verfügen, als diejenigen, die sich nur in einem Kreis bewegen. Da die klassische Netzwerkanalyse sich in der Regel auf einen kleinen lebensgeschichtlichen Abschnitt in einem einzigen sozialen Kreis beschränkt, kann diesem in der Netzwerkforschung nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt werden. In der Regel ist dieser Aspekt überhaupt nicht analysierbar, vor allem, weil die Daten fehlen. Damit ist nicht gesagt, dass nicht auch Möglichkeiten in diesem Bereich zu forschen, denkbar wären. Dies müsste vor allem die qualitative Netzwerkforschung leisten. Positionale Bestimmungen befassen sich aber vor allem mit dem Aspekt der situativen Identität. „Situativität“ umfasst nach dieser Anschauung nicht nur eine einzige konkrete Situation, sie bezieht sich auf in Organisationen geronnene (also formelle) und durch die Interaktion mit anderen erworbene, eher als informell zu bezeichnende Positionen, die relativ stabil sein mögen. Es wird argumentiert, dass das Positionensystem die Handlungsweisen der Akteure abhängig von ihren Stellungen erst hervorbringt. Das bedeutet, dass einerseits das Muster der Beziehung zwischen unterschiedlichen Positionen bedeutsam ist, andererseits auch die Verhältnisse innerhalb einer Position (Konkurrenz/Pecking Order nach innen und Verteidigung der Position nach außen (White 1992)) die Handlungen prägen. Hinzu kommen die nicht beeinflussbaren Beschränkungen (wie die von Giddens 1988 angesprochenen RaumZeitlichen-Beschränkungen), die als Bedingungen der Möglichkeit Beziehungen einzugehen, angesehen werden müssen. Bei der situativen Hervorbringung von Handlungsmustern können weitere Beschränkungen der Möglichkeiten für Handlungen angenommen werden: Handlungen orientieren sich auch hier vorwiegend an Normen und Konventionen, die in Teilen für alle gelten und in anderen Teilen spezifisch für die jeweilige Position sind, in der man sich befindet. Während für alle gültigen Normen nur sehr schwer einer Aushandlung in einer sozialen Situation zugänglich sind, ist derjenige Teil der Handlungskonventionen, 2
Siehe beispielsweise die klassischen Experimente und Untersuchungen von Milgram (1974), Sherif (1955),
LaPiere (1934) und Zimbardo (1972).
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der an eine Position gebunden ist, einer Infragestellung in den jeweiligen Situationen ausgesetzt. Solche Handlungsmuster müssen flexibel an die Situation anpassbar sein. Sie können daher nicht so stabil sein, wie solche, die als gesellschaftliche Normen vielfach durch Erwartungs-Erwartungen abgesichert sind. In der Position selbst kommt das Wechselverhältnis zwischen Gesellschaft und Personen zum Ausdruck. Allerdings sind Positionen meist nicht auf bestimmte Personen angewiesen. Positionen verleihen auch nicht nur einer Person eine Identität, es entwickelt sich gleichermaßen eine positionale Identität. Die positionale Identität ist gleichsam eine Identitätsfacette der Position selbst. Man kann sagen, dass soziale Gebilde und Menschen mit einem Vorrat an Identitäten ausgestattet werden, die situativ aktualisiert werden. Manchmal scheinen solche unterschiedlichen Identitäten im Alltag für jedermann wahrnehmbar auf, etwa wenn ein Parteifunktionär sagt, dass er als Privatmann diese oder jene Meinung vertrete, als Mitarbeiter der Partei aber eine andere Haltung zu repräsentieren habe. Kommen wir zurück auf die Probleme der empirischen Forschung bei der Bestimmung und der Messung von Positionen.
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Das Konzept der strukturellen Äquivalenz und seine Abschwächung
Da wir die Positionen als die wirkungsmächtigen kleinsten sozialen Einheiten ansehen, beschäftigen wir uns immer wieder mit der Frage, wie sich Positionen empirisch bestimmen lassen. Die Frage nach der Bedeutung von Positionen und damit sowohl deren theoretische, wie auch deren methodische Behandlung sind Zentralfragen der Netzwerkforschung. Überlegungen dazu sind notwendig, um den zugehörigen Standpunkt empirisch überprüfen bzw. untermauern zu können. Da nach unserer Vorstellung in Positionen strukturelle Äquivalenzen aufscheinen, müssten sich solche strukturellen Äquivalenzen über ein gemeinsames Handlungsmuster, hier durch Beteiligung an unterschiedlichen Wikipediabereichen bestimmen lassen. Positionen sind Aggregate von Akteuren, die untereinander und zu anderen Positionen in gleichen oder ähnlichen Beziehungen stehen. Man kann also sagen, dass Positionen innerhalb der Netzwerkforschung meist so definiert werden, dass innerhalb von einer Position äquivalente (man könnte sagen, gegeneinander austauschbare) Akteure zu einem Block (Blockmodellanalyse) zusammengefasst werden. Man unterscheidet unterschiedliche „Stärken“ der Äquivalenzforderung: Die stärkste Äquivalenzforderung ist die nach „struktureller Äquivalenz“. Hier sollen alle Akteure, die dieselbe Position einnehmen, untereinander und zu den anderen Akteuren anderer Positionen jeweils in derselben Beziehung (bzw. Nichtbeziehung) stehen (vergl. Kappelhoff 1992; Hanneman/Riddle 2005; Wassermann/Faust 1994; Stegbauer 2001). Das Problem dieser konzeptionellen Forderung ist nun, dass strikte strukturelle Äquivalenz kaum empirisch aufgefunden werden kann. In dieser Situation ist die Reaktion der Forscher geteilt: Die einen bleiben grundsätzlich bei diesem Konzept und schwächen die Forderung ab, indem aus der Forschungspraxis gewonnene Abschwächungen erfolgen (z.B., indem die Blockimagematrix nach durchschnittlichen Dichten (overall density) in bedeutsame und vernachlässigbare Bezüge geteilt wird), die anderen führen theoretische und methodische Konzepte ein, die aber letztenendes ebenfalls auf eine Abschwächung dieser Forderung hinauslaufen. Solche Konzepte sind die automorphe und die reguläre Äquivalenz. Formales Kriterium der automorphen Äquivalenz 139
ist, dass sich zwei Akteure im Netzwerk vertauschen lassen müssen, ohne dass sich die Struktur ändert (Kappelhoff 1992: 253; Hannemann/Riddle 2005). Dagegen sind zwei Akteure dann regulär äquivalent, wenn sie eine gleichartige Beziehung zu äquivalenten Anderen unterhalten. Üblicherweise werden Positionen durch Umsortierung und Partitionierung einer oder mehrerer Netzwerkmatrizen bestimmt. Hierzu gibt es neben kombinatorischen Verfahren auch solche, bei denen das Untersuchungskollektiv hierarchisch geclustert wird, z.B. das CONCOR-Verfahren. Diese Herangehensweise hat aber den entscheidenden Nachteil, dass man zwischen verschiedenen Lösungsmöglichkeiten zu wählen hat – auch hierzu gibt es natürlich statistische Hilfsmittel. Gleichwohl bleibt einem aber nichts anderes übrig als die Auswahl einer Lösung, inhaltlich zu begründen. Solche Gründe kann man in „Vorzügen“ eines Algorithmus suchen (von denen einer vielleicht besser zur Fragestellung passt) oder man bedient sich empirischer Merkmale. Ein solches Vorgehen kann sich beispielsweise an der Verteilung von attributiven Merkmalen der einbezogenen Akteure orientieren. Eine solche Zusammenschau zur Interpretation der Ergebnisse nannte Thomas Schweizer das „flesh and bone“ - Verfahren. Auch wenn hiermit eine inhaltlich geprägte Entscheidung für die eine oder andere algorithmisch erzeugte Lösung des Problems der Zerlegung eines Netzwerkes in Positionen möglich ist, bleibt auch dieses Verfahren unbefriedigend, da zu leicht die Theorie der einen oder anderen Lösung angepasst wird. Ein weiteres Problem bei der Bestimmung von Positionen ist, dass man nicht mit dem ganzen Netzwerk Analysen durchführen kann. Zudem haben wir es mit unterschiedlich konstruierbaren Teilnetzwerken zu tun. Im hier dargestellten Beispiel war zu überlegen, wie die Flut an Daten reduzierbar ist, ohne Wesentliches dabei über Bord zu werfen. Das Netzwerk der Teilnehmer des Wikipedia-Projekts ist zu groß, um mit den gängigen Verfahren Positionen bestimmen zu können. Dies ist der Fall, weil weder kombinatorische noch numerische Blockmodellverfahren anwendbar sind. Diese Beschränkung greift einerseits aufgrund der Größe des Netzes, andererseits aufgrund der Heterogenität der unterschiedlichen einzubeziehenden Teilnetzwerke.
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Ein neues Konzept der Äquivalenzbestimmung: schnittmengeninduzierte (qualitative) Äquivalenz
Abschwächungen der Äquivalenzforderung lassen sich empirisch auch dann erreichen, wenn man die Beziehungsdefinition lockert und verschiedene Beziehungsdimensionen miteinander kombiniert. Auf diese Weise lassen sich Ähnlichkeiten in den Verhaltensmustern der Teilnehmer aufdecken. White und andere (1976) haben das Verfahren der Blockmodellanalyse ausdrücklich mit der Idee, simultan unterschiedliche Types of Tie zu untersuchen, verknüpft. Dies ist für die Bestimmung von Positionen eine zentrale Forderung, da erst durch die Verknüpfung unterschiedlicher Tietypen, die Positionierung aufgedeckt werden könne. Am Beispiel der von Sampson (1969) erhobenen Daten, bei denen er in einem Kloster die Beziehungen von Novizen untersuchte, wurde dies eindringlich aufgezeigt. Hier wurden allerdings nicht Kontakte, sondern (subjektive und reaktive) Befragungsdaten hinsichtlich, „Mögen“, „Nicht-Mögen“, „Vertrauen“ etc. erhoben. Hier haben wir es aber nicht 140
mit solchen für Situationseffekte anfälligen Befragungsdaten, sondern mit nichtreaktiven Verhaltensdaten zu tun. Die Forderung nach einem, verschiedene Beziehungsaspekte abbildenden Spektrum der Types of Tie kann man aber auch als eine Forderung danach verstehen, dass bei der Untersuchung einer Organisation verschiedene Organisationsaspekte (etwa deren Bereiche) gleichzeitig untersucht werden sollen. Im Unterschied zu den „emotionsanfälligeren“ Sampson-Daten,3 handelt es sich bei den von uns einbezogenen nichtreaktiven Daten um „Eventnetzwerke“, also zweimodale Daten. Hier entscheidet nicht die momentane Stimmung über die Zuordnung zu einer Beziehungskategorie, sondern die Teilnahme an verschiedenen Klassen von Events, zu welcher Position jemand gerechnet werden kann. Dennoch kann man hoffen, bei der Erhebung von Daten über Emotionen, zumal wenn man ein konsistentes Bild der Beziehungen bekommt, auf das Verhalten zurückschließen zu können. Im Falle der Reanalyse der Sampson-Daten durch Breiger et al. (1975) ist dies auch weitgehend gelungen, denn mit Hilfe der Blockmodellanalyse war es möglich, vorherzusagen, wer von den Novizen im Kloster verbleiben würde. Wie anfällig solche Daten allerdings sind, ist in der Geschichte der Methodenforschung vielfach nachgewiesen worden (z.B. Steinert 1984; Kiesler/Sproull 1986; Noelle-Neumann/Petersen 1996). Die Idee, der Ausklammerung der sozialen Situation „Interview“, mit dem Hintergrund, es handele sich bei Befragungen um ein Reiz-Reaktionsexperiment, bei dem der Reiz, die Stimulation, von der genauen Fragestellung ausgehe, macht diese Form der Erhebung anfällig für Erwünschtheitseffekte, Interaktionseffekte und unkontrollierbarer Interviewerfehler unterschiedlichster Art. Zudem weiß man aus der Motivationsforschung, dass etwa die Abfrage von Kaufmotiven sehr leicht in die Irre führen mag. Es kommt also häufig vor, dass das Abfragen von Einstellungen auf Verhalten zurückgeschlossen werden soll. Die Einstellung steht in diesem Zusammenhang für Verhalten oder Erwartungen über Verhalten. Der Rückschluss von Einstellungen auf Positionen wird eher selten vorgenommen, eher gelten attributive Merkmale als Gradmesser für Positionen (in der Umfrageforschung jedoch ist dieser Rückschluss üblich). So werden in der umfragegestützten Sozialstrukturanalyse die Strukturmerkmale: Geschlecht, Einkommen, Bildung, z.T. auch Land oder Stadt als Hinweise auf Positionen behandelt.4 Durch die Auswertung von Verhaltensdaten kann man dieses Problem umgehen. Allerdings ist es möglich, von Positionen in einem weitesten Sinn auch auf Käuferverhalten zu schließen, dies wird beispielsweise vom Marktforschungsinstitut Sinus bei ihrer Milieuanalyse getan.
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Ist ein Rückschluss von Personenattributen auf Positionen möglich?
Gingen wir so vor, wie es in der Umfrageforschung üblich ist, dann müsste man von gemeinsamen Verhaltensmustern auf Positionen schließen können. Dann müssten diese nach 3
Siehe Sampson (1969) und die Reanalyse, die als eines der ersten Beispiele für die Blockmodellanalyse durchge-
führt wurde (Breiger et al. 1975). 4
Man denke etwa an die Kunstfigur der „katholischen Arbeitertochter vom Lande“, die in den 1960er Jahren, bei
der unterschiedliche Attribute in der Vorstellung der Beteiligten zu einer Position verschmolzen (Geißler 2005; Peisert 1967; Dahrendorf 1966).
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den Überlegungen der Wirkungen strukturell äquivalenter Beziehungen aufgrund einer gemeinsamen Position zustande gekommen sein. Wenn dieser Schluss zulässig wäre, dann eröffnete sich von der Netzwerktheorie inspiriert, ein neues Universum, dass bislang noch nicht beachtet wurde. Netzwerkanalyse und Umfrageforschung würden in ein neues Wechselverhältnis treten (vom „Fleischlieferanten“ für das „Knochengerüst“), hin zu der Möglichkeit, im Sinne der Netzwerktheorie Verhaltensdaten als „Struktur“ (also Knochen) zu interpretieren. Die Netzwerkforschung definiert ihre Bedeutung sehr stark durch die Abgrenzung zu der teilweise als „Variablensoziologie“ bezeichneten Umfrageforschung. Dort werden Attribute zur Aggregation und Kombination verwendet, die dann als „Sozialstrukturanalyse“ bezeichnet wird. Wenn es stimmt, dass die Zugehörigkeit zu einer Position mit bestimmten Handlungs-/Verhaltensmustern einhergeht, dann müsste man von den Verhaltensmustern eben auch auf die Position zurückschließen können. Ein solcher Rückschluss wird im Alltag häufig vorgenommen, er fällt uns als Beobachtern aber immer erst dann auf, wenn das Handeln und die Position nicht übereinstimmen. Ein Beispiel ist, dass jemand ein „professorales Gehabe“ an den Tag legt, obgleich es sich bei ihm erst um einen Promovenden handelt. Es lässt sich an vielen Beispielen belegen „Er will gerne mit den großen Hunden pinkeln (meist ergänzt: aber kriegt das Bein nicht hoch).“ Es besteht also eine gewisse Evidenz, von Handlungsmustern auf die Position zurückzuschließen. Wir können behaupten, dass wenn aus einer Position bestimmte Verhaltensweisen resultieren, die den in dieser Position zusammengefassten strukturell äquivalenten Akteuren eigen ist, man von einem Verhaltensmuster auf die Position zurückschließen können müsste. Eine Position repräsentiert die Stellung in einem Netzwerk – die Position kommt durch Handlungen zur Geltung – die Handlungen in diesem Zusammenhang nennt man Rollenhandlungen (Parsons 1951; Nadel 1957; Goffman 1973). Das bedeutet, dass mit jeder Position ein typisches Handlungsmuster verbunden ist. Bei bimodalen Analysen von Netzwerken wird von einem Verhalten, etwa dem Muster der Teilnahme an Kaffeekränzchen (Davis et al. 1941) auf eine Position geschlossen (zahlreiche Reanalysen, etwa Freeman/White 1993). Bei der Teilnahme an einem Event ist aber nicht nur der direkte Kontakt, bei dem die Möglichkeit einer sozialen Integration oder einem Ausschluss besteht, von Bedeutung. Ein Event stellt ein Ereignis dar, bei dem kulturelle Muster, Verhaltensmuster, Konventionen offenbar werden. Es wird ein Verhaltensrepertoire gezeigt, dass sich dann auf andere Bereiche übertragen lassen (Kieserling 1999). Umgangsformen werden erlernt, die in anderen ähnlichen Situationen von Bedeutung sein können, und denjenigen, die solche Situationen bereits erlebt haben, eine Verhaltenssicherheit geben. Mit Harrison White (1992) könnte man davon sprechen, dass alleine schon durch Teilnahme im Sinne der Möglichkeit, sich nach den Erwartungen der Anderen verhalten zu können, ein gewisses Maß an „Control“ hervorbringt. Wäre jedoch der Rückschluss von Verhaltensattributen auf die Position nicht ohne weiteres möglich, dann würde das bedeuten, dass man die unterliegenden Netzwerke nicht vernachlässigen darf. Die Konstruktion der Positionen und nicht nur das, wären ein Nachweis darüber, dass Beziehungen (Beziehungsstrukturen) zur Erklärung von Verhalten von essentieller Bedeutung sind. Um eine Aussage zu dieser Frage oder nennen wir es Hypothese, treffen zu können, wird ein vergleichendes Vorgehen gewählt: Es werden zwei unter142
schiedliche Positionsindikatoren, die sich auf dieselben Daten beziehen, miteinander verglichen. Einerseits die Überschneidung von Eventnetzwerken (bimodale Netzwerke) mit hoher Wahrscheinlichkeit eines gegenseitigen Kontakts und andererseits allein die Teilnahme an verschiedenen Bereichen der Wikipedia, die attributiven Daten der Umfrageforschung ähneln. Die Einbeziehung von bimodalen Netzwerken kann als eine Erhöhung der Chance, eine Beziehungswirkung festzustellen, angesehen werden, denn dies ist auch bei diesem Vorgehen keineswegs sicher. Solche bimodalen Netzwerke vergleichen wir mit einer Kombination verschiedener Verhaltensattribute, nämlich der Teilnahme an verschiedenen Bereichen der Wikipedia. Die Kombination von Verhaltensattributen könnte man in einem allerweitesten Sinne ebenfalls als zweimodale Netzwerke betrachten, wobei die gegenseitige Kontaktmöglichkeit nicht ausgeschlossen ist. Sie ist aber wesentlich unwahrscheinlicher. Dies lässt sich allerdings nur behaupten, wenn man mit einer sehr großen Toleranz hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, eine Beziehung zu anderen Teilnehmern einzugehen, auskommt. Mit dem hier „bimodale Netzwerke“ genannten Vorgehen, wird die Wahrscheinlichkeit, dass unterliegende Beziehungen vorhanden sind, wesentlich erhöht (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Vergleich attributives Vorgehen (wer hat an ... teilgenommen?) vs. relationales Vorgehen (wer hat mit wem gleichzeitig an ... teilgenommen?)
Treffen
Attributives Vorgehen Mindestens ein Treffen besucht
3 Portale
Mindestens eine Bearbeitung an einem Artikel oder Diskussion, der zum Portal gehört
31 Artikel + 31 Diskussionen5
Mindestens eine Bearbeitung an einem Artikel oder der Diskussion dieser 31 Artikel
relationales Vorgehen Beziehung besteht, wenn ein Teilnehmer mit einem anderen mindestens ein Treffen gleichzeitig besucht hat Beziehung besteht, wenn ein Teilnehmer mit einem anderen am selben Artikel mitgearbeitet hat (im Diskussionsbereich teilgenommen) Beziehung besteht, wenn ein Teilnehmer mit einem anderen am selben Artikel mitgearbeitet hat (im Diskussionsbereich teilgenommen)
An dieser Stelle ist also festzuhalten: Beim attributiven Vorgehen wird lediglich ein Verhaltensmuster erfasst, welches prinzipiell auch durch einen Fragebogen ermittelt werden könnte (vorausgesetzt, die Teilnehmer erinnerten sich genau an deren Teilnahme an Treffen
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Bei den 31 Artikeln handelt es sich um zufällig ausgewählte Artikel mit Diskussionen. Im Unterschied dazu
bestehen Portale zwar zu einem großen Teil ebenfalls aus Artikeln und Diskussionen (hier aber in einem thematisch kohärenten Zusammenhang) und zusätzlich aus Projekt- und Koordinierungsseiten (die aber ähnlich wie Artikel organisiert sind).
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und an die von ihnen (mit-)bearbeiteten Artikeln)6. Und – durch das attributive Vorgehen wird ein Verhaltensmuster offenbar, mit dem sich ebenfalls Engagement messen lässt. Beim relationalen Vorgehen kommt zusätzlich als Voraussetzung hinzu, dass die Teilnehmer mit anderen in den betrachteten Bereichen in Kontakt gekommen sein müssten (bzw. dass eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit hierzu besteht). Bei der relationalen Komponente wird also die soziale Einbettung berücksichtigt.
7
Kann man von einem Handlungsmuster auf die Position rückschließen?
Wenn man sich mit dem Entstehen von Wikipedia beschäftigt und nicht nur das Produkt, die Enzyklopädie selbst anschaut, sondern gelegentlich die Versionsgeschichte oder die zu den Artikeln zugehörenden Diskussionsseiten betrachtet, bekommt man schon nach kurzer Zeit den Eindruck, dass immer wieder dieselben Akteure beteiligt sind. Bei der Menge an Artikeln und Daten verwundert dies, es gibt in der deutschsprachigen Wikipedia (05.03.08) 718.082 Artikel, mehr als 2 Mio Seiten in der Datenbank, über 45 Mio Seitenbearbeitungen und 526.000 registrierte Teilnehmer (wobei diese Zahl aufgrund von Mehrfachanmeldungen nur begrenzt aussagefähig ist).7 Wir fragen danach, ob es einen Kern von Wikipedia gibt, zumal sich aufgrund unserer Untersuchungen, aber auch aufgrund des subjektiven Eindrucks bei einer Sichtung von Artikeln, die Frage stellt, ob nicht die Schicht der Aktivisten relativ klein ist. Aktivisten in diesem Sinne sind diejenigen, die dem Beobachter immer wieder auffallen, wenn danach geschaut wird, wer Artikel in einem Bereich geschrieben oder mitgeschrieben hat. Die Frage ist, ob es die gleichen Personen sind, die sich auch in der Freizeit zu Treffen verabreden oder an Treffen teilnehmen und ob die Teilnehmer als „Generalisten“ in verschiedenen Bereichen auch der Artikelkonstruktion immer wieder auftreten. Wir fragen, ob man aufgrund von Überlappungen von Teilnetzwerken auf eine Gesamtstruktur des Netzwerks schließen kann; wir vergleichen ein attributives Vorgehen, wie wir es beispielsweise aus der Umfrageforschung kennen mit bimodalen unterliegenden Netzwerken und fragen danach, welches Vorgehen mehr Relevanz hat. Wir verbinden also die inhaltliche Frage mit einer methodologischen Frage. Aufgrund der fehlenden Wiederidentifizierbarkeit werden bei dieser Auswertung nicht angemeldete Teilnehmer ausgeschlossen. Wir untersuchen die Teilnahme an Treffen, den drei untersuchten Portalen (Olympische Spiele, Philosophie und Bildende Kunst) und die 30 näher untersuchten Artikel, die über einen Diskussionsbereich verfügen. Aus den bimodalen Netzwerken werden Beziehungsnetzwerke erzeugt.
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Dass solche Erinnerungen zweifelhaft sind wurde mehrfach gezeigt, etwa von Killworth/Bernard (1976; 1979)
und Bernard et al. (1984). 7
http://de.wikipedia.org/wiki/Spezial:Statistik (05.03.2008, 14:57)
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Tabelle 2: Kennzahlen für die bimodalen Netzwerke Treffen
Artikel
Portale
240 Ereignisse 765 Teilnehmer 62 Ereignisse 790 Teilnehmer 711 Ereignisse 5699 Teilnehmer
Das resultierende bimodale Netzwerk ist unbewertet.
Der Umfang der Beteiligung wird nicht ausgewertet. Das resultierende bimodale Netzwerk ist unbewertet.
Die Portal-Daten wurden zunächst für jedes Portal getrennt bearbeitet. Dabei ergaben sich die folgenden Kennzahlen. Bildende Kunst 240 Ereignisse, 2521 Teilnehmer Olympische Spiele 274 Ereignisse, 2848 Teilnehmer Philosophie 197 Ereignisse, 2451 Teilnehmer
Bei den Treffen handelt es sich in der Mehrzahl um die Form der so genannten Stammtische. Es sind aber auch gemeinsame Messebeteiligungen, Ausflüge, Grillfeste oder Wikipedianerpartys darunter. Die Zahl der Beteiligten schwankt zwischen 1 und 77 mit einem Mittelwert von 11 und einem Modalwert von 6. Es handelt sich um ein bimodales unbewertetes Netzwerk. Man kann sich vorstellen, dass, wenn man gemeinsam mit anderen ein Treffen besucht, die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass die Teilnehmer tatsächlich in gegenseitigen Kontakt gekommen sind. Das zweite Netzwerk, welches simultan in die Analyse miteinbezogen wird, ist ein Beziehungsnetzwerk, welches durch 31 Artikel und die dazugehörende Diskussion erzeugt wird. Die 31 Artikel wurden im Projekt näher untersucht und zunächst unter denjenigen, die mindestens 20 Diskussionsbeiträge hatten, als Zufallssample gezogen. Auf diese Weise stehen 62 Ereignisse zur Verfügung. Eine Beziehung wird dann als konstitutiert betrachtet, wenn zwei Personen sich an einem Artikel oder einer Diskussion beteiligt haben. Dabei ist es ganz egal, ob sie in Kontakt gekommen sind oder nicht. Man kann diese Art der Konstruktion eines Netzwerkes als eine Erhöhung der Chance ansehen, dass die unterliegenden Kontakte tatsächlich zustande gekommen sind. Möglich ist beispielsweise, dass ein Teilnehmer vor Jahren an einem Artikel eine kleine Änderung unternahm und ein zweiter erst kurz vor Ende des Beobachtungszeitraumes einen inhaltlichen Beitrag leistete. D.h. die beiden Teilnehmer, die über diesen Type of Tie verbunden werden, müssen gar nicht wirklich miteinander in Kontakt gekommen sein. Insgesamt können wir 790 Teilnehmer (ohne IPs) unterscheiden. Das dritte beachtete Netzwerk setzt sich aus Beziehungen zusammen, die aus Artikeln der Portale „Bildende Kunst“, „Olympische Spiele“ und „Philosophie“ konstruiert werden. Das Kriterium für die Anwesenheit einer Beziehung ist die gemeinsame Mitarbeit an einem Artikel, sei es an der Diskussion oder dem Artikel selbst. Beim hier verwendeten Type of 145
Tie ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Teilnehmer miteinander in Kontakt gekommen sind, etwas geringer als bei der Mitarbeit an einem der ausgewählten 31 Artikel, da hier nicht zwischen Diskussion und Artikel unterschieden wird. So wird beispielsweise auch dann eine Beziehung zwischen zwei Teilnehmern konstruiert, wenn der eine einen Diskussionsbeitrag leistete und der andere im zugehörigen Artikel einen Kommafehler verbesserte. Die Portale haben jeweils zwischen 7.000 und 10.000 Teilnehmer (mit IPs, die Zahl der angemeldeten Teilnehmer ist geringer und liegt insgesamt für alle die Portale bei 5.699). Die Portale verfügen über einen Umfang von 309 beim kleinsten und 405 Seiten beim größten untersuchten (in der Seitenzahl sind Artikel, Artikel-Diskussionsseiten und Portal- und Projektseiten eingeschlossen). Im Unterschied zu den 31 zufällig ausgewählten Artikeln sind die Portale, obgleich es sich darunter auch um Artikel handelt, für sich selbst eine Struktur, d.h. es gibt ein „Portalprojekt“, bei dem es einen thematischen und organisatorischen Zusammenhang gibt (Gruppe und Koordinator). Aktivisten kommen auf jeden Fall über die Portaldiskussion, Projektdiskussionsseiten miteinander in Kontakt. Man kann feststellen, dass die untersuchten einzelnen Bereiche über ähnliche Teilnehmerzahlen verfügen. Bei den 15 Teilnehmern, die in keinem der unterschiedlichen Bereiche aktiv waren, handelt es sich um Administratoren.
Befragungsanaloge Sichtweise: Ein Bezug wird allein durch Überschneidungen zwischen Aktivitäten in den Bereichen der Artikel, der Treffen und der Portale hergestellt.
Netzwerkanalytische Sichtweise: Eine Beziehung in einem Bereich wird nur dann als konstituiert angesehen, wenn tatsächlich mit dem Anderen an denselben Artikeln mitgearbeitet wurde oder wenn die Teilnehmer dasselbe Treffen besucht und an Artikeln oder dem Organisationsbereich desselben Portals gearbeitet haben.
Abbildung 1: Darstellung der beiden miteinander verglichenen Modelle zur Bestimmung von Positionen Datenbasis sind also sehr heterogene „Netzwerke“, von denen eines auf Artikelbasis konstruiert wurde, ein weiteres auf einer Zusammenfassung der Mitarbeit in Artikeln auf Portalbasis erfolgte und ein letztere aus der "Realwelt" der Stammtische und Treffen auf Messen u.ä. beruht. 146
Abbildung 2: Sitzplan eines Treffens in München.8 Von einem Treffen in München im Jahre 2005 findet sich ein Sitzplan, in dem sogar der Platzwechsel verzeichnet ist. Man kann annehmen, dass die meisten Teilnehmer an diesem Abend einander wahrgenommen haben und miteinander in Kontakt gekommen sind. Es soll nun einerseits untersucht werden, ob die beschriebene schnittmengeninduzierte Positionenbestimmung ein gangbarer Weg ist, und ob eine kombinierte Betrachtung dieser heterogenen „Netzwerke“ ein „mehr“ an Aufklärung vor allem hinsichtlich der Positionen innerhalb der Wikipedia bringt. Grenzen werden dabei zum einen hinsichtlich der Verwertbarkeit von konstruierten Netzwerken ausgelotet, zum anderen hinsichtlich des Problems, inwiefern einzelne Netzwerke in der Lage sind, Beziehungsstrukturen in der „Gesamtheit“ von Wikipedia aufzuklären. Es wird die Frage angerissen, inwieweit sich Erkenntnisse aus dieser „Einzelfallstudie“ auf andere Netzwerkkonstrukte übertragen lassen. Wir erwarten, abgestufte Beteiligungen für die untersuchten Arbeitsbereiche. Um die Breite von Aktivitäten von Teilnehmern zu erfassen, haben wir unsere Hauptuntersuchungsgebiete zusammengefasst. Dort wollen wir betrachten, inwiefern es zu Überschneidungen zwischen den unterschiedlichen Gebieten kommt. Dabei verfolgen wir die Überlegung, dass sich hierdurch unterschiedliche Typen von Teilnehmern identifizieren lassen. Unterschiedliche Typen bedeutet, dass diese auf differenzierte Weise in den Sozialraum Wikipedia eingebunden sind. So erwarten wir, dass wir in Spezialabteilungen, etwa bei Teilnahme an nur einem Portal oder einem Artikel und einem Portal eine fachliche Spezialisierung vorliegt. Demgegenüber stehen "Generalisten", die in allen Feldern aktiv sind. Das bedeutet, dass wir im Sinne einer von uns in unserer Forschungsperspektive angestrebten positionalen Analyse, die Teilnahme an "unterschiedlichen" Netzwerken und deren Überschneidung/Nichtüberschneidung als Indikatoren für die Position der Teilnehmer in der gesamten Wikipedia betrachten können. 8
http://www.biologie.de/w/images/0/08/Wikipedia_2005-02_m%C3%BCnchen_sitzplan.jpg (27.05.2008).
147
Das was wir hier als Beziehungen definieren, so können wir fragen, besitzt das überhaupt eine reale Bedeutung? Am Beispiel des Münchener Treffens (Abbildung 2) zeigt sich, dass wir mit einer hohen Wahrscheinlichkeit mit der Aufnahme von Beziehungen bei einem solchen Event rechnen können. Mit Hilfe eines bimodal erzeugten Types of Tie kann man in der Regel keine Gewissheit über das tatsächliche Zustandekommen eines Kontakts erlangen. Und – man kann sagen, dass die Beziehungen, die so konstruiert werden, in einigen Fällen real gar nicht vorhanden sind. Was wir tatsächlich messen ist eine Wahrscheinlichkeit dafür – und mit Hilfe einer kleinteiligeren Analyse der Ereignisse, kann die Wahrscheinlichkeit für die Existenz eines Kontakts erhöht werden. Unser Vergleich des attributiven Vorgehens mit dem eines verfeinerten Vorgehens durch bimodale Netzwerke soll zeigen, ob dieser Forschungsansatz ein „mehr“ an Aufklärung bietet als das rein attributive Vorgehen. Tabelle 3: Quantitative Verteilung der Teilnehmer auf die einzelnen Überschneidungsklassen Bereich
Anzahl Teilnehmer
Treffen Artikel
bei Durchschnitt über Teilnehmer (attributiv) 102
bei Durchschnitt über Beziehungen (relational) 44
Treffen Portale
437
376
Artikel Portale
431
390
Treffen Artikel Portale
96
33
Mit „Durchschnitt über Teilnehmer“ ist das beschriebene attributive Vorgehen gemeint. Es wird nur danach gefragt, ob ein Teilnehmer sich gleichzeitig an Treffen und Artikel (102), an Treffen und Portalen (437) beteiligt hat usw. Beim „Durchschnitt über Beziehungen“ wird danach gefragt, ob zwei Teilnehmer auf ein und demselben Treffen waren und an ein und demselben Artikel mitgearbeitet haben (44), ob sie an ein und demselben Artikel in einem der drei Portale mitgearbeitet haben und an ein und demselben Artikel mitgearbeitet haben. Die 33 Akteure, die sich im Schnittpunkt der Treffen, Artikel und Portale befinden, haben also mit jeweils einem anderen an mindestens einem Treffen gemeinsam teilgenommen, an mindestens einem der 31 zufällig ausgewählten Artikel mitgeschrieben und an einem Artikel aus einem der drei untersuchten Portale gemeinsam editiert. Das bedeutet, dass hier die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, dass diese Teilnehmer ein gewisses Maß an sozialer Beziehung untereinander aufweisen. Die Teilnehmer, die beim Durchschnitt über Beziehungen auftauchen, sind jeweils eine Teilmenge der Gesamtzahl der Überschneidungen, sofern man nur die Attribute berücksichtigt. Das bedeutet, dass diese die hier definierten Attribute ebenfalls teilen, es kommt aber noch eine „nähere“ Beziehung (als Überschneidungen von bimodalen Netzwerken zwischen anderen definiert) zu anderen hinzu.
148
Subnetzwerk: Durchschnitt über Teilnehmer an Treffen, Artikeln und Portalen.
Subnetzwerk: Durchschnitt über Beziehungen an Treffen, Artikeln und Portalen. Janneman
Penta
Martin-vogel
Zinnmann
Saperaud
Aka Geos
Martinroell Dundak UW
Elian
Henriette_Fiebig JakobVoss Kolja21
D
Stefan64 Philipendula
Jonathan_Groß
Felix_Stember
Southpark Jesusfreund ElRaki
Michail
A PPER
Berlin-Jurist
BLueFiSH.as Kurt_Jansson Karl_Gruber Griensteidl
Popie
Stefan_h
Crux Karl-Henner
Abbildung 3: Die Ergebnisse aus beiden Vorgehensweisen lassen sich graphisch darstellen Aufgrund der Definition des Durchschnitts über die Teilnehmer, lassen sich auf der linken Seite der Tabelle kaum Beziehungen erkennen. Auf der rechten Seite hingegen ist eine klare Beziehungsstruktur vorhanden. Man kann nun fragen, ob sich die als Durchschnitte über Beziehungen definierten Netzwerke von den Durchschnitten über die Teilnehmer (reine Beteiligung) unterscheiden. Hierzu haben wir die Möglichkeit, quantitative Attribute zu vergleichen.
149
Tabelle 4: Ein Vergleich zwischen attributivem und relationalen Vorgehen nach Aktivität in unterschiedlichen Wikipedia-Namensräumen Edits insgesamt
Artikeledits /Monat
Artikeldiskussion /Monat
Durc n hAttri- Rela- Attri- Relati- Attrischnit bute tionen bute onen bute te 350 18* Tref- 104 16306 23949 282 * * fen Artikel Tref- 431 4878* 11840 95*** 187** 8** ** *** * fen Portal Arti- 431 4795* 12717 90** 239** 12 * ** kel Portal Tref- 96 16743 28207 280* 419* 19* ** ** fen Artikel Portal Signifikanzen: *** - 1%; ** - 5%; * - 10%
Wikipedia /Monat
Wikipediadiskussion /Monat
Relati- Attri- Relati- Attri- Relationen bute onen bute onen 31*
48**
76**
4*
7*
15**
22**
44**
1**
4**
17
16**
35**
1*
3*
34*
54*
80*
5**
8**
Die Unterschiede zwischen dem attributiven Vorgehen ( Attribute) und netzwerkanalytischen Vorgehen ( Relationen) sind klar ersichtlich. In Tabelle 4 werden Kontrastgruppen verglichen. Damit ist gemeint, dass obgleich der der Beziehungen eigentlich eine Teilmenge der unter dem Teilnehmer zusammengefassten Akteure bildet, hier die beiden Gruppen getrennt betrachtet werden. Es zeigt sich, dass über alle verglichenen Kategorien die messbaren Zahlen für das Engagement bei denjenigen, für die wir durch unsere bimodale Analyse eine Beziehung unterstellten, wesentlich höher sind. Die Differenz ist bei den meisten verglichenen Indikatoren signifikant.
150
Anteil in %
Anteile Administratoren nach Durchschnitt mit oder ohne Beachtung der unterliegenden Beziehungen 80 60 40 20 0
Anteile Admins Attribute Anteile Admins Relationen TA
TP
AP
TPA
Durchschnitte
TA TP AP TPA -
Treffen Artikel Treffen Portale Artikel Portale Treffen Portale Artikel
Abbildung 4: Vergleich des Administratoranteils bei attributivem Vorgehen gegenüber relationalem Vorgehen Wir sehen, dass der Anteil der Admins unter den relational konstruierten Schnittmengen größer ist, als wenn man die Kategorien alleine betrachtet.
8
Resümee
Es ist möglich, eine Position des Wikipedia-Kerns mit Hilfe dieses Vorgehens zum Vorschein zu bringen. Hierbei handelt es sich sicherlich nicht um den gesamten Kern, da in dieser Analyse eine starke Restriktion durch die gemeinsame Teilnahme am Verfassen eines von 31 zufällig ausgewählten Artikels mit Diskussion abhängig war. Die Tatsache jedoch, dass es trotz dieser Restriktion möglich ist, einen Kern zu finden weist darauf hin, dass tatsächlich ein Zentrum existiert. Würde man eine größere Anzahl an Artikeln in die Analyse einfließen lassen, würde der Kern etwas größer werden. An der Analyse ist von besonderer Bedeutung, dass durch den Vergleich des unterliegenden Beziehungsnetzes mit einem rein attributiven Vorgehen, in dem lediglich die Teilnahme eine Rolle spielt, nicht aber unterliegende Beziehungen berücksichtigt wird eine viel genauere Bestimmung des Zentrums der Aktivisten möglich ist. Dieses Ergebnis zeigt den Wert der Netzwerkanalyse auf. Es kann auch als Kritik an den Möglichkeiten der Umfrageforschung verstanden werden, bei der bestenfalls Kombinationen von Kategorien (in Umfragedaten beispielsweise stehen keine anderen Informationen zur Verfügung) betrachtet werden können. Häufig werden Variablenkombinationen, etwa bei Clusteranalysen als Indikatoren für eine Zugehörigkeit zu einem Milieu betrachtet. Wenn die Teilnehmer aus ihren sozialen Zusammenhängen herausgerissen betrachtet wer151
den, sind die Ergebnisse weniger differenziert, als unter Berücksichtigung des Zusammenhangs. Dies bedeutet nicht, dass Umfrageforschung nicht in der Lage wäre, interessante und gehaltvolle Ergebnisse herauszubekommen. Die Ergebnisse sind jedoch nicht so zielgenau, wie sie sein könnten, wenn die Methoden kombiniert würden. Es wird implizit mit dem einem Kontakt- oder Netzwerkargument umgegangen, ohne dass dies explizit verwendet wird.9 Das relationale Vorgehen, mit dem unterliegende Beziehungen berücksichtigt werden, bestätigt aber auch die Wirksamkeit des Netzwerkes vor notwendig individualisierenden Betrachtungen in der Umfrageforschung. Die tatsächlich vorhandenen Beziehungen müssen eine starke Wirkung entfalten! Besäße das unterliegende Beziehungsmuster keine Wirksamkeit, müssten die beiden betrachteten Teilgruppen ob mit oder ohne zweimodalem Netz verglichen, ungefähr die gleichen Merkmale aufweisen. Wir können behaupten, dass dort, wo Beziehungen im Spiel sind, ein stärkeres Engagement der Teilnehmer zu verzeichnen ist. Eine andere Erkenntnis, die sich aus der vorliegenden Analyse gewinnen lässt, ist, dass Netzwerke emergente Eigenschaften besitzen müssen. Das bedeutet, dass ein Schluss allein von Verhaltensmustern auf Positionen, nicht ohne Abstriche möglich ist. Dies wird offenbar an der wesentlichen Verbesserung der Charakterisierung des Kerns durch Einbeziehung der Beziehungsstruktur. Die unterliegenden Beziehungen sind offenbar so bedeutungsvoll, dass man aus dem sich überschneidenden Engagement nicht ohne die Betrachtung der unterliegenden Beziehungen zurückschließen kann, bzw. sich mit viel schlechteren Ergebnissen zufrieden geben müsste. Es wurde behauptet, dass eine bimodale Tie-Konstruktion nicht wirklich Beziehung misst, sondern immer nur für eine Chance für eine Beziehung steht. Die hier durchgeführte Untersuchung zeigt, dass eine Verbesserung der Ergebnisse möglich ist, auch wenn in einigen Fällen ein „Streuverlust“ zu verzeichnen ist. Dieser ist dem Umstand geschuldet, dass die Anzahl der tatsächlichen Beziehungen mit diesem Verfahren überschätzt wird. Das heißt, dass es sinnvoll ist, leicht zugängliche zweimodale Netzwerke in die Bestimmung von Positionen einzubeziehen. Durch die Kombination dreier heterogener Ursprünge von Netzwerken werden Grenzen/Begrenzungen klassischer Netzwerkanalyse überschritten. Auf diese Weise ist es möglich, eine Metaposition zu bestimmen. Diese entsteht mit der Zeit unabhängig von einzelnen Situationen. Man kann vermuten, dass mit dieser Position eine wichtige vermittelnde und überbrückende Funktion zusammenhängt. Solche Funktionen sind typisch für Managementaufgaben – und nicht umsonst sind nicht wenige der als Kern identifizierten Teilnehmer in solchen Positionen innerhalb der Wikipedia. Darüber hinaus werden auf diese Weise Informationen zwischen ansonsten relativ unabhängigen Einheiten übertragen. Das bedeutet aber auch, dass diejenigen, die dieser Position angehören, diesbezüglich einen Vorsprung vor den Spezialisten besitzen. Festzuhalten bleibt, dass eine im hier praktizierten Sinne grenzüberschreitende Netzwerkanalyse zusätzliche Erkenntnisse über die positionale Verfassung einer Organisation wie Wikipedia bringt.
9
Beispielsweise bei den Untersuchungen zu sog. „Konsumentenmilieus“, siehe Sinus Milieus (2006).
152
9
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154
Aus den Augen, aus dem Sinn? Zum Verhältnis von Clustertheorie und Clusterpraxis Martin Wrobel und Matthias Kiese
1
Einleitung
Regionale Cluster und Netzwerke – für weite Teile der Politik und Wirtschaft Synonyme für Innovationen, Wachstum und Prosperität. Das starke Interesse vieler politischer und wirtschaftlicher Akteure an Cluster- und Netzwerkkonzepten, welches nach der Publikation „The Competitive Advantage of Nations“ von Porter (1990) aufkam, hat sich mittlerweile geradezu zu einer Euphorie entwickelt. Zu spektakulär sind die wirtschaftlichen Erfolge namhafter Clusterregionen und -unternehmen, als dass sie sich der weltweiten Aufmerksamkeit entziehen könnten. Stellvertretend wird im wissenschaftlichen und politischen Diskurs gern die überaus erfolgreiche Entwicklung des „Silicon Valley“ (Kalifornien) als Mutter aller Cluster angeführt, was Robert Metcalfe, Erfinder des Ethernets und Gründer des Unternehmens 3Com, Ende der 1990er Jahre zu dem Ausspruch „Silicon Valley is probably the only place on earth not trying to copy Silicon Valley“ verleitete (zitiert nach Sternberg 2008: 2). Einen Hinweis auf das weltweit zunehmende Interesse am Konzept regionaler Cluster und Netzwerke vermitteln die Zahlen des ersten (2003) und zweiten (2005) Global Cluster Initiative Survey: Allein im vergleichsweise kurzen Zeitraum von zwei Jahren zwischen 1 beiden Erhebungen stieg die Zahl der weltweit identifizierten Clusterinitiativen um 175 % von 509 auf 1.400 (vgl. Sölvell et al. 2003; Ketels et al. 2006). Hierbei dürfte es sich allein aufgrund der vorhandenen Abgrenzungs- und Erfassungsprobleme im Zuge einer bis heute fehlenden, allgemeingültigen Clusterdefinition jedoch nur um die bekannte „Spitze des Eisbergs“ handeln. In Deutschland kann die Vielzahl der immer neuen, auf allen räumlichen Maßstabsebenen zu findenden Programme und Maßnahmen zur Förderung regionaler Cluster- und Netzwerkstrukturen leicht den Eindruck erwecken, dass nahezu jede Region ihr eigenes Cluster aufbauen und etablieren möchte (vgl. Sautter 2004). Nebenbei bemerkt, ist dies vor dem Hintergrund der seit 2007 verstärkten finanziellen Förderung von Clusterund Netzwerkvorhaben seitens der EU kaum verwunderlich (vgl. BMWi 2007; Lageman/Schmidt 2007; Europäische Kommission 2006). Die Ansicht, regionale Cluster und Netzwerke seien ein „Wundermittel“ zur Kurierung jedweder (wirtschafts-)struktureller Defizite, ist in Politik und Politikberatung (noch immer) weit verbreitet (vgl. Blien/Maier 2008: 2) und das, obschon es wissenschaftlich als erwiesen angesehen werden kann, dass die Umsetzung von Clusterkonzepten in Politik und Praxis komplex, selektiv und äußerst voraussetzungsvoll ist. Schon vor Jahren haben Wissenschaftler (z.B. Rehfeld 2005b; Bergman/Feser 1999) darauf aufmerksam gemacht, dass „(…) regionale Cluster 1
Unter einer Clusterinitiative verstehen die Autoren „(…) organised efforts to increase growth and competitive-
ness of clusters within a region, involving cluster firms, government and/or the research community.” (Sölvell et al. 2003: 9)
eher eine Ausnahmeerscheinung der geographischen ökonomischen Landschaft darstellen“ und „(…) in puncto regionalpolitischer Praktikabilität des Ansatzes mehr Realismus angebracht“ wäre (Hellmer 2004: 35 in Bezugnahme auf Dybe/Kujath 2000). Nichtsdestotrotz ist der politische Wille zur Initiierung und Etablierung einer Clusterformation vielerorts so groß, dass – frei nach dem Motto „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ – Potenziale für diese Vorhaben gesucht und auch gefunden werden. Bereits um die Jahrtausendwende, zu einem Zeitpunkt, an dem das Interesse von Staat und Wirtschaft am Konzept regionaler Cluster spürbar zunimmt (Sölvell et al. 2003: 34), machen einige Wissenschaftler auf das aufkeimende Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis ob der politischen Gestaltungsmöglichkeiten aufmerksam. So liefert die Auswertung einer im Jahr 1999 von Enright durchgeführten Befragung von Clusterexperten das seinerzeit überraschende Ergebnis, dass unterschiedlichste Maßnahmen seitens der Politik zur Förderung der Clusterentwicklung allesamt von den Befragten einhellig als vergleichsweise unbedeutend eingestuft wurden (2000: 17-19). Neben anderen potenziellen Erklärungen, führt Enright auch die Möglichkeit an, dass politischen Maßnahmen im Vergleich zu anderen Faktoren in dieser Hinsicht schlicht eine geringere Bedeutung zukommt als gemeinhin angenommen wird (Enright 2003: 122). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine, ein paar Jahre später an der Harvard Business School durchgeführte ClusterMetastudie (van der Linde 2003). Auch hier konnte im Zuge einer Analyse eines umfangreichen Datensatzes zu knapp 800 Clustern keine auffällig positive Kopplung zwischen staatlicher Einflussnahme und Clusterbildung festgestellt werden (van der Linde 2005: 29). Im gesamten Sample konnte nur ein Cluster identifiziert werden, welches aufgrund einer staatlichen Initiative gegründet wurde und zum Zeitpunkt der Untersuchung noch wettbewerbsfähig war. Auf Basis seiner Erkenntnisse rät Enright dazu, Aussagen, die einer politischen Einflussnahme auf die Entwicklung regionaler Clusterformationen eine hohe Bedeutung beimessen, mit einem gesunden Maß an Skepsis zu begegnen (Enright 2003: 122). Er betont die aus wissenschaftlicher Sichtweise bestehende Notwendigkeit, den Einfluss der Politik auf die Clusterentwicklung von anderen Faktoren zu isolieren (ebenda) – nur auf diese Weise scheint es gegenwärtig möglich, die vielfach überhöhte Erwartungshaltung der Politik in Verbindung mit dem Clusterkonzept auf ein realistischeres Niveau des Machbaren zurückzuführen. Vor dem Hintergrund dieser und ähnlich gelagerter Erkenntnisse aus der Wissenschaft drängt sich die Frage auf, wie es in den letzten Jahren zu einer solch ungleichen Wahrnehmung der politischen Einflussmöglichkeiten auf Clusterbildungs- und -entstehungsprozesse kommen konnte. Die gelieferte Antwort scheint im ersten Moment gleichermaßen einfach wie überzeugend: Den gegenwärtig verfügbaren, theoretischen Erklärungsansätzen, die der Politik im Hinblick auf die Genese regionaler Cluster eher die Rolle eines Randakteurs (mit bedingten Einfußmöglichkeiten) zuweisen, mangelt es am Verständnis der determinieren2 den Prozesse, Zwänge und Rationalitäten, die hinter (cluster) politischen Entscheidungen stehen (vgl. Kiese 2008b: 132). Für die Wissenschaft ergibt sich hieraus die Aufgabe, die bestehenden konvergenten Bausteine der Clustertheorie um eine Theorie der Clusterpolitik zu ergänzen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist der Versuch, die Interpretation und 2
Unter Clusterpolitik sind grundsätzlich alle staatlichen Maßnahmen zur Förderung der Entstehung und der Ent-
wicklung von Clustern zu verstehen (Hospers/Beugelsdijk 2002: 382).
156
Umsetzung des Clusterkonzeptes in Politik und Praxis mit Hilfe der Neuen Politischen Ökonomie zu erklären (vgl. Kiese 2008b). Das hieraus resultierende Modell versucht die Unterschiede im Clusterverständnis und die Veränderungen von Clusterkonzepten durch den politischen Prozess und die praktische Umsetzung mit Hilfe der systematischen Unterschiede zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis zu erklären. Das Modell stellt jedoch lediglich eine „Vorstufe“ zur Entwicklung einer Theorie der Clusterpolitik dar und versteht sich als Anstoß für das emergente interdisziplinäre Feld der Clusterpolitikforschung. Der vorliegende Aufsatz setzt an der Erkenntnis an, dass es der Clusterforschung im Bereich der Clusterpolitik an wesentlichen Einsichten fehle. Dies ist ein wesentlicher, wenn auch nicht der einzige Aspekt, der den Prozess einer zunehmenden Entkoppelung von Wissenschaft auf der einen und Politik und Praxis auf der anderen Seite begünstigt. Während eine solche Entwicklung offenkundig kaum Vorteile bieten dürfte, treten die Nachteile deutlich in Erscheinung: So ist beispielsweise zu erwarten, dass die zunehmende Entfremdung einen kontinuierlichen Austausch, der erhebliche Lerneffekte auf allen Seiten verspricht, zumindest erschwert, wenn nicht gar ganz blockiert. Um dieser unvorteilhaften Entwicklung zu begegnen und hier gegenzusteuern bedarf es seitens der Wissenschaft einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Clusterpolitik und -praxis. Hierzu möchte der vorliegende Aufsatz mit einer im Herbst 2008 postalisch durchgeführten Befragung von 3 Cluster- und Netzwerkmanagern in Deutschland beitragen, deren Ergebnisse einen tieferen Einblick in das Clusterverständnis der Akteure erlauben.
2
Alles eine Frage der Sichtweise: Der Blickwinkel der Cluster-/Netzwerkmanager in Deutschland
Für die im Prinzip bisher unbeantwortete Frage, wieso sich das Konzept regionaler Cluster und Netzwerke gegenwärtig in der Praxis einer solch hohen Beliebtheit erfreut, obwohl sich die kritischen Stimmen vor allem aus der Wissenschaft mehren (z.B. Wrobel 2009; Fromhold-Eisebith/Eisebith 2008; Taylor 2006), liefert das politisch-ökonomische Modell der Clusterförderung von Kiese (2008b, vgl. Abbildung 1) einen ersten, theoretisch fundierten Erklärungsansatz. So zeigt das Modell, dass das Clusterkonzept in der Sphäre von Politik und Praxis in seinen verschiedenen Phasen, d.h. von der Konzeption über die politische Entscheidung der Realisierung bis hin zur Umsetzung, den Filter unterschiedlicher Rationalitäten durchlaufen muss, die alle Einfluss auf das Konzept nehmen und dieses verändern.
2.1 Clusterförderung aus Sicht der Neuen Politischen Ökonomie Aufbauend auf Konzepten der Neuen Politischen Ökonomie (z.B. Kirsch 2004; Behrends 2001), lassen sich drei aufeinander folgende Handlungsräume unterscheiden, in denen die Akteure einer jeweils spezifischen Rationalität folgend agieren. Im konzeptionellen Handlungsraum entwerfen wissenschaftliche und professionelle Berater mit Hilfe von Cluster3
Zur besseren Lesbarkeit des Textes wird auch im weiteren Verlauf mit Blick auf die Schreibweise ausschließlich
die männlichen Form (das sogenannte „generische Maskulinum“) verwendet.
157
theorien und dem vorhandenen methodischen Instrumentarium zur Clusteridentifizierung und -potenzialanalyse das Clusterkonzept. In ihrer Arbeit orientieren sie sich am Gemeinwohl und folgen damit einer ökonomischen Rationalität der Maximierung der sozialen Wohlfahrt.4 Abbildung 1: Handlungsräume und Rationalitäten der Clusterförderung Clustertheorie Methoden der Clusteridentifizierung
Ökonomische
Konzeptioneller Handlungsraum
Wissenschaft
Beratung A
Rationalität Politische P P
Politischer Handlungsraum
A
Prinzipal-AgentProblem
Implementierung P
A
Rationalität Bürokratische Rationalität P
Wähler
A
Praktischer Handlungsraum Erfahrungswissen
Quelle:
Kiese 2008b: 133
Das erarbeitete Konzept wird daraufhin in den politischen Handlungsraum weitergereicht, in welchem Politiker darüber entscheiden, ob überhaupt, und wenn ja, in welcher Form, das Konzept zur Umsetzung kommen soll. Dem zugrunde liegenden Konzept der Neuen Politischen Ökonomie folgend, handeln die politischen Akteure jedoch eigennutzorientiert, mit anderen Worten werden sie in der Regel Entscheidungen treffen, die in erster Linie ihrer politischen Karriere zuträglich sind. Ausdruck dieser politischen Rationalität sind häufig Maßnahmen, die, mit Blick auf Wahlzyklen, vergleichsweise zeitnah umsetzbar sind und zugleich eine gleichsam hohe wie positive Außenwirkung haben (vgl. FromholdEisebith/Eisebith 2008: 87-88). Fällt das Votum letztlich positiv aus, wird das Konzept in den praktischen Handlungsraum, d.h. in die Hände von Organisationen, die mit der Realisierung beauftragt werden, gegeben. Das Handeln dieser Ämter, Behörden und/oder Fördereinrichtungen unterliegt wiederum einer bürokratischen Rationalität. Die bürokratische Rationalität findet laut der Ökonomischen Theorie der Bürokratie (ein Teilgebiet der Neuen Politischen Ökonomie) Ausdruck im Bestreben der Akteure, ihren eigenen Verantwortungs- und Kompetenzbereich zu bewahren oder, wo möglich, (auch gegen Widerstände) auszubauen (z.B. Niskanen 1971, 1975). Letzteres führt dazu, dass bevorzugt solche Projekte durch die Akteure gefördert werden, die die jeweils eigene Bedeutung unterstreichen, das eigene Prestige erhöhen, d.h. mit anderen Worten ganz allgemein Vorteile im andauernden Kampf um Kompetenzen und Zuständigkeiten gewähren. Dass im Zuge dieser Lo4
Diese grundlegende Annahme ist sicherlich kritisch zu hinterfragen (vgl. Kiese 2008b: 132-133).
158
gik auch Vorhaben gefördert werden (können), die unter Umständen gar nicht dem Gemeinwohl dienen sondern gegebenenfalls ausschließlich im Interesse kleiner, gut organisierter Gruppen liegen, ist unstrittig (Kiese 2008b: 134; Olson 1965). Vorausgesetzt, die These, dass es sich bei vielen der zur Zeit in Deutschland geförderten Clusterprojekte ausschließlich um politisch forcierte, sogenannte „Wunschdenken-Cluster“ (Enright 2003: 104) handelt, denen in der Region jegliche Grundlage für eine organische Entwicklung fehlt, bestätigt sich, dann läßt sich der Boom des Clusterkonzeptes in Politik und Praxis durchaus mit Hilfe der Ökonomische Theorie der Bürokratie erklären. Der durchaus hohe Anreiz der Akteure zu opportunistischem Verhalten lässt sich als mehrstufiges Prinzipal-Agent-Problem an den Schnittstellen zwischen den verschiedenen Handlungsräumen erklären, welches sich jeweils aus den vorhandenen Informationsasymmetrien zwischen den Akteuren der unterschiedlichen Sphären ergibt. So verfügen die (ausführenden) Agenten aufgrund ihrer Sachkompetenz immer über mehr Informationen als der (beauftragende) Prinzipal, woraus sich für den Prinzipal im Prinzip nicht auflösbare Kontrollprobleme ergeben (vgl. Richter/Furubotn 2003: 173-182). Im politisch-ökonomischen Modell der Clusterförderung verfügt die Politik über Informationsdefizite und Kontrollprobleme sowohl gegenüber den Beratern im konzeptionellen als auch gegenüber der Umsetzung im praktischen Handlungsraum. Lediglich gegenüber dem Wähler verfügen sie über einen Informationsvorsprung, den sie ihrer politischen Rationalität folgend opportunistisch nutzen kann. Die im Modell vorgenommene Aufspaltung des politisch-administrativen Systems in zwei separate Handlungsräume dient vor allem der Verdeutlichung der vorhandenen Unterschiede zwischen beiden Rationalitäten. Im Großen und Ganzen muss aber attestiert werden, dass die Gemeinsamkeiten beider Rationalitäten deutlich überwiegen. Der Erklärungsgehalt des Modells hängt außerdem vom Ausmaß der politischen Steuerung ab; für privat gesteuerte Cluster- und Netzwerkinitiativen ohne direkten politischen Einfluss ist es naturgemäß weniger geeignet. In der Praxis sind jedoch viele Initiativen als Public-PrivatePartnerships in der Grauzone zwischen den Polen einer rein öffentlichen und einer rein privaten Steuerung angesiedelt (vgl. Kiese 2008b: 131; Sölvell et al. 2003: 54). Eine Personengruppe, die aufgrund ihrer Funktion als Moderator und Mediator oft an der Schnittstelle zwischen politischem und praktischem Handlungsraum agiert, ist die der Cluster- und Netzwerkmanager. Häufig direkt durch oder zumindest unter Mitwirkung (regional-)politischer Entscheidungsträger eingesetzt und diesen rechenschaftspflichtig, sind sie damit betraut, den Umsetzungs- und Entwicklungsprozess des Clusterkonzeptes in der Region mit zu gestalten und Stagnationen desselben entgegenzuwirken, ohne jedoch über umfassende (Weisungs-)Befugnisse ähnlich denen einer Behörde oder eines Amtes zu verfügen. Die in einer Befragung an die Cluster- und Netzwerkmanager gestellten Fragen zu ihrem Selbstverständnis sowie ihrem Verständnis von regionalen Cluster und Netzwerken sollen helfen, einen tieferen Einblick in die Handlungsstrukturen und Verhaltensweisen der Akteure innerhalb des politisch-administrativen Systems zu bekommen.
159
2.2 Eckdaten der Befragung Anfang September 2008 wurden insgesamt 333 in Deutschland arbeitende Cluster/Netzwerkmanager mit einem standardisierten Fragebogen angeschrieben.5 Die Adressdatei basierte hierbei auf einer vorangegangenen, umfassenden Internetrecherche. Die Zusammenstellung der Adressdatei erfolgte willkürlich anhand naheliegender Schlagworte wie z.B. Clustermanager, Netzwerkkoordinator und Kompetenzzentrumsleiter. Einzige Auswahlkriterien waren, dass sich der jeweilige Verbund – zumindest in Teilen – in Deutschland befinden musste und es sich um ein Produktions- und kein (ausschließliches) Forschungsnetzwerk handeln sollte. Die Befragung wurde Ende September, im Anschluss an eine telefonische Nachfassaktion, abgeschlossen. Zum 30. September 2008 lagen insgesamt 123 auswertbare Fragebögen vor, was einer bereinigten Rücklaufquote von 37,7% entspricht.
2.3 Empirische Ergebnisse Ein erstes Ergebnis aus der Befragung ist die Bestätigung, dass das Konzept regionaler Cluster in Deutschland flächendeckend zum Einsatz kommt. Es liegen Rückantworten aus jedem Bundesland vor, wobei die Rücklaufquote aus jenen Ländern besonders hoch ist, die bereits seit vielen Jahren Clusterstrategien in ihre politische Agenda mit aufgenommen haben. In diesem Zusammenhang seien vor allem die Länder Bayern und NordrheinWestfalen genannt. Die überwiegende Mehrheit der befragten Cluster- und Netzwerkmanaer (92,4%) blickt auf bis zu 10 Berufsjahre in dieser Tätigkeit zurück. Dieses Ergebnis passt zur Erkenntnis von Sölvell et al., dass der Boom des Clusterkonzeptes in der Praxis nicht, wie häufig angenommen, direkt durch Porters Arbeiten Anfang der 1990er Jahre ausgelöst wurde. Vielmehr rückte das Konzept erst Jahre später, am Ende jener Dekade, verstärkt in den Fokus der Strategieabteilungen in den Unternehmen, der Wirtschaftsförderer und politischen Entscheidungsträger (Sölvell et al. 2003: 34). Einen Hinweis darauf, welch weite Kreise das Clusterkonzept gezogen hat, liefert die branchenspezifische Zuordnung der über die Befragung erfassten Clusterformationen (Tabelle 1).
5
Im Fragebogen wurden die Begriffe „Cluster“ und „Netzwerk“ aus Gründen der Vereinfachung und trotz der sich
dadurch ergebenden Unschärfen synonym verwendet, was den Befragten kenntlich gemacht wurde (vgl. Kiese 2009: 5-6).
160
Branchenzusammensetzung des Sample Branche
Anzahl
Anteil
Life Science Logistik Optische Technologien, Sensorik Chemie/Kunststoffe Fahrzeug-/Verkehrstechnik (inkl. Luft- und Raumfahrt) Informations- und Kommunikationstechnik Nano- und Mikrotechnologie Produktionstechnik (inkl. Werkstoff-, Oberflächen-, Mess- und Automatisierungstechnik, u.a. ) Sonstige
25 9 11 8 17 12 8
20,8 % 7,4 % 9,1 % 6,6 % 14,0 % 9,9 % 6,6 %
16
13,2 %
15
12,4 %
Gesamt*
121
100,0 %
*: Zwei Cluster konnten aufgrund fehlender Angaben nicht zugeordnet werden. Trotz des hohen Aggregationsniveaus wird deutlich, dass mit den im Sample enthaltenen Clusterformationen nahezu das komplette Spektrum an Schlüsseltechnologien abgedeckt wird. Besonders der weit gefasste Bereich „Life Science“, der unter anderem die Branchen Gesundheitswirtschaft, Biotechnologie und Medizintechnik beinhaltet, sowie die Bereiche Fahrzeug-/Verkehrstechnik (inklusive Luft- und Raumfahrt) und Produktionstechnik mitsamt ihrer breiten Palette verwandter Technologiefelder sind stark vertreten. Dieses Ergebnis ist Ausdruck eines in Deutschland stattfindenden, intensiven Wettbewerbs zwischen den Regionen um die Ausbildung von regionalen Clusterformationen in jenen (Mode)Branchen, die gemeinhin als besonders innovativ, wachstumsstark und damit zukunftsträchtig gelten. Es muss davon ausgegangen werden, dass dieses Herdenverhalten in der Wahl der zu fördernden Clustervorhaben die Zahl jener Cluster, die sich innerhalb der einzelnen Branchen im internationalen Wettbewerb behaupten können, zum Teil deutlich übersteigt (vgl. Schätzl/Kiese 2008: 270; Fromhold-Eisebith/Eisebith 2008: 87; Rehfeld 2005b: 4). Überdies haben sich selbst in den jüngeren Branchen wie z.B. der Biotechnologie bereits weltweit Cluster als „hot spots“ mit hoher Strahlkraft etabliert, deren Entwicklungsvorsprung auch von äußerst ambitionierten Regionen, die über eine ausbaufähige wirtschaftsstrukturelle Basis in diesem Bereich verfügen, nicht mehr aufzuholen sein dürfte. Zu Beginn der Umsetzungsphase von Clustervorhaben wird regelmäßig ein Clustermanagement eingesetzt. Dies geschieht vor allem dann, wenn das Vorhaben top-down unter Mitwirkung politischer Akteure initiiert worden ist und seitens der Politik (teil-)finanziert wird, z.B. in Form einer Anschubfinanzierung. Die Hauptaufgabe des Managements in dieser frühen Phase (aber auch darüber hinaus) besteht vor allem darin, Anreize für eine Teilnahme am Clusterverbund zu kommunizieren und hierüber wirtschaftliche und institutionelle Akteure zu einem Engagement im Verbund zu animieren (vgl. Schätzl/Kiese 2008: 272). Erst hiernach kommen flankierend verstärkt Organisations-, Moderations- und Koordinierungsaufgaben hinzu. 161
2.3.1 Zum Selbstverständnis der Cluster-/Netzwerkmanager Interessant ist in diesem Zusammenhang das von den Cluster- und Netzwerkmanagern mit Blick auf ihren Aufgabenbereich geäußerte Selbstverständnis. Mit Ausnahme von vier Befragten pflichteten alle der Aussage bei, dass ein qualifiziertes Cluster/Netzwerkmanagement unabdingbare Voraussetzung dafür sei, dass Cluster- und Netzwerke ihre anspruchsvollen Aufgaben bzw. Ziele realisieren können. Diese Einstellung reflektiert – mit Einschränkungen – nicht nur eine Rechtfertigung für die grundsätzliche Existenz eines Clustermanagements, sondern deutet auch darauf hin, dass sich die Manager in der Rolle der zentralen, treibenden Kraft im Prozess der Clustergenese sehen. Sie verstehen sich vornehmlich als Impuls- und Ideengeber sowie als Stifter von Kooperationen, die ohne ihr Handeln, d.h. rein auf Basis der Selbstorganisation durch Marktkräfte, nicht entstehen würden. Ohne ein Clustermanagement bestünde – so der Tenor der befragten Manager – die reale Gefahr, dass vorhandene Wachstumspotenziale möglicherweise nur in unzureichendem Maße ausgeschöpft werden würden. Aus der Praxis und aus politischen Kreisen sind immer wieder Behauptungen zu hören, die implizieren, dass die Initiierung eines regionalen Clustervorhabens nahezu überall möglich ist und die Umsetzung nur eine Frage der „richtigen“ Maßnahmen sei. Ein plakatives Beispiel hierfür ist das Auftreten der bekannten und weltweit agierenden Managementberatung McKinsey & Company, die das Clusterkonzept schon früh in ihr Portfolio integrierte und es aktiv mit Slogans wie „Silicon Valley ist überall“ (Stein/Stuchtey 2003) oder „Do-it-yourself Silicon Valley“ (Dodt/Stein/Strack 1999: 61) bewarben. Was aber, wenn überhaupt, sind die „richtigen“ Maßnahmen? Mit anderen Worten, wo sollte ein Clustermanagement in seiner Arbeit überhaupt ansetzen? Auffallend ist, dass die Beantwortung dieser Frage durch die Cluster- und Netzwerkmanager keinen Hinweis auf die Existenz einiger, von allgemeinen Managementaufgaben abgesehen, vorrangiger Ansatzpunkte liefert (Abbildung 2). Das Ergebnis deutet darauf hin, dass eine ganze Reihe von Themenfeldern von den Befragten als mehr oder weniger gleichbedeutend für die Clustergenese angesehen wird. Dies ist jedoch nicht unbedingt ein Ausdruck von Richtungslosigkeit bei den befragten Managern sondern spiegelt vielmehr die Vielschichtigkeit der (potenziellen) Bedarfe einer aufkeimenden, wachsenden Clusterformation wider.
162
Abbildung 2: Ansatzpunkte für ein Cluster-/Netzwerkmanagement* sehr leicht steuer-/ beeinflussbar
leicht steuer-/ beeinflussbar
mäßig steuer-/ beeinflussbar
schwer steuer-/ beeinflussbar
sehr schwer steuer-/ beeinflussbar
120
100
Nennungen
80
60
40
Regelverstöße im Netz sanktionieren
Kooperationsregeln im Netz festlegen und überwachen
Produktportfolio für das Netz entwickeln
Kompatible Interessenslage herstellen
Förderung von Kooperation und Wettbewerb im Netz
Gemeinsame Vermarktungsstrategien
Überregionale Ausweitung des Netzes
SWOT-Analyse für die Region erstellen
Aufbau gemeinsamer Netzwerkinfrastruktur
Informationen bündeln und weitergeben
Politische Unterstützung forcieren
Zahl der regionalen Netzakteure erweitern
Imagebildung / Standortmarketing
Leitbild / Vision für das Netz entwickeln
Finanzierung des Verbundes sichern
Vertrauensvolle Atmosphäre schaffen
0
Förderung der Kommunikation im Netz
20
*: Kategorie „Sonstiges“ (nicht dargestellt): 24 Nennungen auf 11 weitere Ansatzpunkte. Unter den überdurchschnittlich häufig genannten Ansatzpunkten sind viele, die mit dem typischen Rollenverständnis der Clustermanager als Ideen-/Impulsgeber und Kooperationsstifter konform gehen. Explizit zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor allem die aus der Perspektive der Manager bedeutenden Aspekte der Entwicklung eines Leitbildes/einer Vision für das Netz sowie die Schaffung einer vertrauensvollen Atmosphäre und die Förderung der Kommunikation im Netz. Die Überzeugung der Cluster- und Netzwerkmanager, dass sie in der Lage sind, die Clustergenese auf vielfältige Art und Weise zu beeinflussen, spiegelt sich in ihrer Beurteilung der Steuer- bzw. Beeinflussbarkeit vieler Aspekte wider. Nahezu alle Dimensionen werden im Durchschnitt aller Beurteilungen als zumindest mäßig steuer- bzw. beeinflussbar eingestuft, häufig fällt die Bewertung positiver aus. Vor allem in der Gruppe jener zehn Gesichtspunkte, die überdurchschnittlich häufig von den Befragten als Ansatzpunkte für ihre Arbeit genannt wurden, überwog die Einschätzung, dass über diese Bereiche besonders leicht gestalterisch auf die Clusterentwicklung eingewirkt werden kann. Ausnahmen hiervon bilden insbesondere die beiden Aspekte „Finanzierung des Verbundes sichern“ und „Politische Unterstützung forcieren“. Als durchaus wichtige Aspekte im Aufgabenspektrum eines Clustermanagers eingestuft, stoßen viele der befragten Akteure in ihrer Arbeit an diesen Punkten augenscheinlich auf größere Widerstände, die ein Erreichen der gesteckten Ziele erschweren. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass beide Aspekte inhaltlich in Teilen miteinander verwoben sind, da der Staat zunehmend die Rolle des Financiers von Clustervorhaben einnimmt. Wurden etwa bis Mitte der 1990er Jahre Clusterinitiativen noch zu 163
gleichen Teilen von Wirtschaft, Staat oder gemeinschaftlich (als Public Privat Partnership organisiert) finanziert, verschob sich das Verhältnis in den Folgejahren deutlich. Bereits 2002/2003 lag der Anteil der in jenen Jahren initiierten Clusterinitiativen, die allein durch die Wirtschaft finanziert wurden, nur noch bei 17%, jener der öffentlichen Hand bei 71% (Sölvell et al. 2003: 54). Vor dem Hintergrund der stetig steigenden Zahl an Clusterinitiativen, die sich vermutlich aufgrund geringerer Mittelzuflüsse aus der Wirtschaft in ihrer Finanzierung mehrheitlich um stattliche Unterstützung bemühen (werden), ist die Annahme, dass sich das Einwerben von Mitteln für jede einzelne Initiative schwieriger gestaltet, nicht sonderlich abwegig (vgl. Rehfeld 2005b: 6). Hieran dürfte auch der Umstand, dass die finanziellen Handlungsspielräume zur Förderung des Aufbaus von Netzwerkstrukturen im Zuge der Neuausrichtung der Strukturpolitik der Europäischen Union für die Förderperiode von 2007 bis 2013 ausgeweitet wurden, nichts ändern. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass viele Politiker in ihren Entscheidungen einer politischen Rationalität folgen, kann gemutmaßt werden, dass vor allem kleiner dimensionierte und/oder weniger prestigeträchtige Clusterprojekte im Wettbewerb um die Verteilung der Fördermittel einen vergleichsweise schweren Stand haben dürften. Die befragten Cluster- und Netzwerkmanager sehen sich als eine im Entwicklungsund Umsetzungsprozess von Clusterkonzepten maßgebliche (zum Teil erfolgskritische) Größe: Über 60% der befragten Akteure halten ihre Einbindung bereits in der frühen Phase der Vorabplanung eines Clusterprojektes für notwendig, d.h. während der Prüfung, ob embryonale, förderwürdige Netzstrukturen in der Region vorhanden sind. Nur 5% hielten es für ausreichend, ein Clustermanagement erst im Zuge der Etablierung einer Clusterformation einzurichten, d.h. in der Phase des Ausbaus der Wettbewerbsfähigkeit von in der Region bereits gewachsener Strukturen. Die Auffassung, in der eigenen Arbeit weitreichende Möglichkeiten zu besitzen, die Clusterentstehungs- und -wachstumsprozesse nachhaltig beeinflussen oder gar steuern zu können, spricht in der Tendenz für ein eher technokratisches Clusterverständnis. Dieses Bild deckt sich weitestgehend mit einer Befragung von 134 Praktikern, Beratern und Beobachtern regionaler Clusterpolitik, die zwischen August 2007 und August 2008 in Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen durchgeführt wurde (vgl. Kiese 2008d). Auch hier spiegelte sich im Antwortverhalten der überwiegenden Zahl der befragten Akteure die Auffassung wider, dass Cluster und Netzwerke „gemacht“ bzw. gemanagt werden. Eine solche Ansicht widerspricht dem in der wissenschaftlichen Literatur vertretenen Verständnis von Clustern. So betont die Wissenschaft, dass es sich bei Clustern vielmehr um organisch entstehende und nicht methodisch konstruierte Strukturen handele, die unter anderem stark von regionalen Entwicklungslinien beeinflusst und damit letztlich pfadabhängig sind. Ein technokratisches Clusterverständnis blendet wichtige, im Grunde von außen nur begrenzt steuerbare ökonomische Prozesse wie beispielsweise Wissensspillover aus, welche jedoch elementar für die Funktionslogik des Konzeptes sind. Überdies neigt eine solche Sichtweise auf die Dinge dazu, die zeitliche Dimension von Clusterprozessen zu unterschätzen. In der Regel entwickeln sich Clusterstrukturen sehr langsam, so dass es oft Jahrzehnte dauern kann, bis diese derart ausgebildet sind, dass sie weithin sichtbar werden. Sowohl Politikern als auch den mit der Umsetzung eines Clusterkonzeptes betrauten Akteuren fehlt jedoch häufig ein solch „langer Atem“, was in den jeweiligen, ihrem Handeln zugrunde liegenden Rationalitäten begründet liegt.
164
2.3.2 Die Region im Fokus: Hoffnungen und Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Clusterkonzept Nach den Chancen gefragt, die eine Cluster-/Netzwerkformation für die Region eröffnet, ergibt sich auf den ersten Blick ein relativ diffuses Bild. Die 103 Akteure, die diese offen formulierte Frage beantworteten, nannten im Durchschnitt jeweils vier Aspekte, die ihrer Ansicht nach über die Umsetzung eines Clustervorhabens zur Stabilisierung und Aufwertung der wirtschaftsstrukturellen Situation der Region beitragen. Eine erste Auszählung zeigt, dass sich die 412 Nennungen insgesamt auf über 40 verschiedene Aspekte verteilen. Das breite Spektrum an Antworten ist Ausdruck der gegenwärtig mit dem Konzept verbundenen vielfältigen Hoffnungen und Erwartungen. Dass sich bei den Akteuren in Praxis und Politik überhaupt eine solch vielschichtige Erwartenshaltung an die Potenziale des Clusterkonzeptes entwickeln konnte, ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass es bisher weder gelungen ist, den Clusterbegriff eindeutig zu definieren noch eine allgemein akzeptierte Clustertheorie zu entwickeln. Letzteres bedeutet jedoch nicht, dass es sich um ein theoriefreies Konzept handelt, wie Kiese zeigen kann (vgl. Kiese 2008a: 14-22). Die Fülle der existierenden Definitionen und Erklärungsansätze erzeugt eine Dehnbarkeit des Clusterbegriffs und -konzeptes, welche einen weiträumigen Interpretationsspielraum gewährt. Letzterer ermöglicht es, den Gebrauch des Konzeptes als universell einsetzbares Instrument der Strukturentwicklung in nahezu jeder Situation zu rechtfertigen (vgl. Wrobel 2008; Mar6 tin/Sunley 2003). Erst nach einer Zusammenführung der zahlreichen Einzelaspekte in inhaltlich übergeordnete Kategorien lässt sich so etwas wie ein Schwerpunkt im Meinungsbild der Befragten erkennen (Abbildung 3). Die Clustermanager sehen die größten, mit der Umsetzung eines Clusterkonzeptes verbundenen Chancen für die Region in der „Bündelung von Kompetenzen“ mit einem deutlichen Schwerpunkt auf einer Intensivierung des Wissenstransfers zwischen den Akteuren und damit letztlich der Erhöhung der Innovationsfähigkeit. Des Weiteren werden als bedeutende Chancen die „Steigerung der nationalen/internationalen Sichtbarkeit der Region“ (z.B. über ein speziell entwickeltes Standort- und/oder Branchenmarketing) sowie die „Förderung des Wachstums der (Cluster-)Unternehmen“, vor allem auch über die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen, genannt. Dass gerade diese Aspekte im Fokus der Manager stehen, ist wenig überraschend, stellen sie, laut Clustertheorie, letztlich die wesentlichen Elemente zur Erreichung des übergeordneten Ziels dar: Die Sicherung und den Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit sowohl der Clusterregion als auch der Clusterunternehmen.
6
Kiese hierzu pointiert: „Dank seiner Unschärfe gibt das Clusterkonzept regionalen Entscheidungsträgern wie eine
Droge ein Stück durch Globalisierung und leere Kassen verloren geglaubten Steuerungsoptimismus zurück …“ (2008a: 46).
165
5,0
80
4,5
70
4,0 3,5
60
3,0
50
2,5 40
2,0
30
1,5
Standortverbundenheit der Akteure erhöhen
Regionaler Pool spezialisierter Arbeitskräfte
Fördermittel aquirieren
Firmengründungen und -neuansiedlungen fördern und begleiten
Politik als Gestalter und Förderer einbinden
Kommunikationsstrukturen ausbauen
0,0
Sicherung und Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit*
0,5
0
Wachstum der Unternehmen fördern; Arbeitsplätze sichern/schaffen
1,0
10 Nationale / internationale Sichtbarkeit ; Standort-/ Branchenmarketing
20
gewichtete, durchschnittl. Bewertung
90
Bündelung von Kompetenzen; Wissenstransfers (Innovationsfähigkeit )
Nennungen
Abbildung 3: Clusterinduzierte Chancen für die Region7
Bewertungsskala: 1 = unbedeutend bis 5 = sehr bedeutend; gestrichelte Linie: Durchschnitt über alle Bewertungen; in die Abbildung aufgenommen wurden nur jene Aspekte mit mindestens 4 Nennungen (abgebildet sind 261 der 412 Nennungen) Der aus politischer Sicht zentrale Anreiz zur Nutzung des Clusterkonzeptes liegt in der Hoffnung, dass die der Region über die Umsetzung des Clusterkonzeptes verliehenen Impulse einen sich selbst verstärkenden Wachstumsprozess initiieren, der sich ab einem bestimmten Zeitpunkt eigendynamisch, d.h. ohne Eingreifen von außen, spiralförmig fortsetzt (Porter 1998: 84; Rehfeld 2005b: 3). In stark vereinfachter Form lassen sich die hinter dem Clusterkonzept stehenden kausalen Zusammenhänge, die diese hohen Erwartungen bei den Akteuren aus Politik und Praxis wecken, wie folgt darstellen8: In einer Region, in der sich eine kritische Masse9 an Know-how eines Wertschöpfungszusammenhangs in Form von 7
Aufgrund seines übergeordneten Charakters in der Aussage ließ sich der Aspekt „Sicherung und Ausbau der
Wettbewerbsfähigkeit“ nicht eindeutig unter einen der anderen Aspekte subsumieren. 8
Ein ausführlicherer Überblick findet sich u.a. bei Wrobel 2009.
9
Im Allgemeinen wird in der Theorie regionaler Cluster davon ausgegangen, dass eine kritische Masse bzw.
Dichte an Akteuren erreicht sein muss, um erfolgreich ein clustertypisches Wachstum, welches die Eigenart aufweist, sich eigendynamisch weiterzuentwickeln, anzustoßen (vgl. Döring 2004: 124; Iwer et al. 2002: 35; Tichy 2001: 193). Eine verlässliche Maßzahl oder eine erprobte Methode zur Bestimmung dieser „kritischen Masse“ existiert bisher nicht (vgl. Döring 2004: 125). Arbeiten zu Clustern in Amerika gehen davon aus, dass zumindest 5.000 bis 10.000 Beschäftigte vorhanden sein müssen, um überhaupt von einem Clusteransatz bzw. einem clusterfähigen regionalwirtschaftlichen Schwerpunkt sprechen zu können (Swann 1998: 84-92). Ein gut funktionierendes Cluster bedarf hingegen nach Schätzungen einer zehnfachen Menge an Beschäftigten (ebenda).
166
Produktions- und spezialisierten Dienstleistungsunternehmen sowie institutionellen Akteuren konzentriert hat, bildet sich auf Grundlage vielfältiger Verflechtungen zwischen diesen Akteure eine lokale Atmosphäre heraus, in der Wissen mit hoher Geschwindigkeit zirkulieren kann (Nachum /Keeble 1999: 31).10 Das Auftreten von Wissensspillovern11 wird von einer solchen Atmosphäre begünstigt. Daneben erleichtert die räumliche Nähe zwischen den Akteuren ein kontinuierliches Benchmarking, d.h. einen ständigen Vergleich ihrer Wettbewerbspositionen und innovativen Aktivitäten (vgl. Porter 2003; Tichy 2001; Glaeser et al. 1992). Diese Konkurrenzsituation erzeugt einen lebhaften, anregenden Wettbewerb und trägt zu einer lokalen Atmosphäre bei, die die privatwirtschaftlichen Akteure dazu ermutigt, in angemessener Weise zu investieren und anhaltend zu modernisieren und aufzurüsten. Ein Zusammenspiel all dieser Faktoren begünstigt einen „(…) ubiquitären, kumulativen Prozess des Lernens, Suchens und Erforschens“ (Koschatzky 2001: 56) an dessen Ende im besten Fall eine Innovation steht. Innovationen, häufig als Motor wirtschaftlicher Entwicklung bezeichnet (vgl. z.B. Koschatzky 2001; Grupp 1997; Pleschak/Sabisch 1996), ermöglichen es den Unternehmen des Clusters (beispielsweise über die Erschließung komplett neuer Märkte) zu wachsen und langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Auch Neu- und Ausgründungen sind als Resultat erfolgreicher Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten nicht selten und tragen letztlich zum Wachstum(-spotenzial) der Clusterformation bei (vgl. Feldman 2001). Erfolgreiche Innovationen fördern das Image der Region und hierüber ihre nationale oder gar internationale Sichtbarkeit. Die zunehmende Strahlkraft der Region zieht die Aufmerksamkeit von Unternehmen, die sich außerhalb der Region befinden, an. Über Ansiedlungen in der Region oder (intensiveren) Kontakten zu Clusterunternehmen, versuchen sie an den (regionsgebundenen) Vorteilen, die das Cluster generiert, zu partizipieren. In jedem Fall speisen sie die lokale Atmosphäre mit „frischem“ Wissen, was für alle beteiligten Akteure das Potenzial birgt, über die Neukombination bereits vorhandenen und neuen, komplementären Wissens Lerneffekte zu realisieren. Diese Prozesse sind die Keimzellen, aus denen innovative Produkte und Organisationsformen hervorgehen (Tichy 2001: 185; Oinas 2000: 63; Malmberg/Maskell 1999: 170), die ihrerseits den Kreislauf aus Clusterwachstum (Gründungen, Expansion), Imageverbesserung, Erhöhung der Strahlkraft, Ausweitung der Zahl der Cluster- bzw. auch mit dem Cluster verbundener Unternehmen, Belebung der Wissensatmosphäre und letztlich wieder neuer Innovationen in Gang halten. Darüber hinaus bestätigt das aus der Befragung gewonnene Bild in weiten Teilen Ergebnisse aus früheren Evaluationen, beispielsweise dem – bereits mehrfach erwähnten – Global Cluster Initiative Survey von Sölvell et al. (2003: 10). Mit Ausnahme des übergeordneten Aspekts „Sicherung und Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit“ sowie der „Erhöhung der Standortverbundenheit der Akteure“ finden sich alle Aspekte in den Ergebnissen der im Survey ähnlich gestellten Frage nach den Zielen der Clusterinitiativen wieder. So findet sich, geordnet nach der Häufigkeit der Nennungen, auf Platz 1 „Netzwerke von Individuen“, auf Platz 2 das „Wachstum bestehender Unternehmen“, auf Platz 3 „Netzwerke von Unternehmen“, auf Platz 4 die „Förderung der Innovationsfähigkeit“, auf Platz 5 die „Innovationsförderung“, auf Platz 6 die „Ansiedlung von Unternehmen und Humankapital“ und 10
Diese Atmosphäre wird in der Clusterliteratur auch als „local buzz“ bezeichnet (vgl. Bathelt et al. 2004).
11
Eine relativ eingängige Definition von Wissensspillovern liefert Griliches: „(…)working on similar things and
hence benefiting much from each other’s research” (1992: 36-37).
167
auf Platz 7 die „Schaffung einer Marke für die Region“, um nur die Aspekte zu nennen, die die vordersten Ränge einnehmen. Ein Aspekt, der seinerzeit im Global Cluster Initiative Survey nicht näher betrachtet wurde, ist das Risiko, das für Politik und Praxis mit dem Gebrauch des Clusterkonzeptes in der Regionalentwicklung verbunden ist. Typischerweise nennt die Literatur in dieser Hinsicht immer die Herausbildung von Monostrukturen mit den daraus resultierenden Abhängigkeiten bzw. Anfälligkeiten vor allem gegenüber globalen, konjunkturellen Schwankungen. Auch wird vor der Gefahr der Ausbildung zunehmend sklerotischer Strukturen, die in lock-in-Situationen münden können, gewarnt (Tichy 2001: 187), sowie auf die Möglichkeit der feindlichen Übernahme zentraler Clusterunternehmen (shooting stars) z.B. durch Investmentfirmen hingewiesen, die bei großem Erfolg der Formation auf diese aufmerksam werden (vgl. Harrison 1994: 81-89). Aus der Befragung ließ sich ein diffuser Eindruck von den mit Clustern verbundenen Chancen gewinnen. Bezüglich der mit einem Cluster verbundenen Risiken für die Region zeigt sich ein noch uneinheitlicheres Bild: Die 94 Akteure, die auf die offen formulierte Frage nach den Risiken eine Antwort gaben, nannten im Durchschnitt jeweils etwa zweieinhalb Aspekte, mithin deutlich weniger als auf die Frage nach den Chancen, wo noch durchschnittlich vier Aspekte genannt wurden. Ein weiterer Unterschied ist, dass sich die etwa 40 Einzelaspekte, die sich auf Basis der Auswertung der 231 Nennungen ergaben, deutlich schwieriger zu inhaltlich übergeordneten Kategorien zusammenfassen lassen. Schlussendlich ergibt sich ein Bild, das den Eindruck eines weitgehend unvollständig ausgeprägten Risikobewusstseins im Umgang mit dem Clusterkonzept vermittelt (Abbildung 4). Abbildung 4: Clusterinduzierte Risiken für die Region
4,5 4,0
20
Nennungen
3,5 3,0
15
2,5 2,0
10
1,5 5
1,0 0,5
Image- und/oder Vertrauensverlust beim Scheitern
Qualität des Cluster-/ Netzwerkmanagements
Zu hohe Erwartungen; schwindendes Interesse bei Mißerfolgen
Wissensabfluß
Instrumentalisierung der Formation
Dominanz einiger weniger Akteure in der Formation
Cluster/Netzwerk als reiner Selbstzweck (zu hohe Unverbindlichkeit)
Sicherung der Finanzierung der Formation
Vernachlässigung anderer (potenter) Wirtschaftsbereiche
Hohe(r) Kosten / Aufwand für die Mitglieder (Ressourcenknappheit)
Abschottung nach außen ("closed shops"); Gefahr einer lock-in-Situation
Über- und/oder Fehlspezialisierung (Fehlinvestitionen)
0,0
Divergierende Interessen; gegenseitige Befindlichkeiten
0
gewichtete, durchschnittl. Bedeutung
5,0
25
Bewertungsskala: 1 = unbedeutend bis 5 = sehr bedeutend; gestrichelte Linie: Durchschnitt über alle Bewertungen; in die Abbildung aufgenommen wurden nur jene Aspekte mit mindestens 4 Nennungen (abgebildet sind 153 der 231 Nennungen) 168
Der Aspekt der Blockade von regionalen Entwicklungsprozessen durch „divergierende Interessen und gegenseitige Befindlichkeiten“ wurde mit 24 Nennungen von den befragten Cluster- und Netzwerkmanager so häufig wie kein anderes Risiko angeführt. Die Gefahr der Über- und/oder Fehlspezialisierung in der Region durch die Umsetzung des Clusterkonzeptes nannten immerhin noch 21 der Befragten. Alle nachfolgenden Aspekte wurden von noch nicht einmal einem Fünftel der auf diese Frage antwortenden Akteure angegeben. Nicht in Abbildung 3 enthalten, aber dennoch mit Blick auf das allgemeine Antwortverhalten und den sich daraus ableitbaren Schlussfolgerungen richtungweisend, ist die Antwort von vier Cluster- und Netzwerkmanagern, die alle angaben, dass mit der Umsetzung des Clusterkonzeptes aus ihrer Sicht keinerlei Risiken verbunden seien. Werden die Aussagen zu den clusterinduzierten Risiken in Verbindung mit jenen zu den Ansatzpunkten für die Arbeit der Cluster- und Netzwerkmanager gesetzt, fällt eine interessante Antwortkonstellation auf. So stellen die Folgen divergierender Interessenslagen und gegenseitiger Befindlichkeiten aus Sicht der Befragten ein erhebliches Risiko für die wirtschaftsstrukturelle Entwicklung der Region dar. Gleichzeitig stufen sie die Aufgabe, eine kompatible Interessenslage im Clusterverbund herzustellen, als in der Umsetzung überdurchschnittlich schwierig ein (vgl. Abbildung 2). Mit aller Vorsicht interpretiert könnte dies als ein Hinweis darauf gedeutet werden, dass mindestens einem Teil der befragten Cluster- und Netzwerkmanager durchaus bewusst ist, dass ihre eigenen Möglichkeiten bezüglich des Aufbaus und der Ausweitung von Clusterstrukturen stark limitiert sind insofern als die eigentliche Clusterentwicklung von den Unternehmen in der Region ausgeht und von diesen getragen wird (vgl. Mossig 2008: 53-55; Wolfe/Gertler 2007: 250). Sollte es unter den Unternehmen nicht einen Minimalkonsens im Sinne einer allgemeinen Bereitschaft zum Aufbau regionaler Netzstrukturen geben, wird eine Clusterinitiative, egal wie 12 diese geartet ist, bereits in ihren Anfängen kaum eine Chance auf Erfolg haben. Resümierend kann festgehalten werden, dass die Cluster- und Netzwerkmanager überwiegend der Überzeugung sind, mit dem Clusterkonzept aktiv Einfluss auf die regionale Strukturentwicklung nehmen zu können. Sie verbinden mit dem Konzept vornehmlich Chancen für die Region und weniger die in der wissenschaftlichen Literatur diskutierten Risiken der Umsetzung eines Clusterprojekts. Das mag mit der Kluft zwischen Theorie und Praxis im Clustermanagement zusammenhängen, in dem die Befragung von Kiese (2008d) kaum mehr als einen oberflächlichen Theoriebezug feststellen konnte. Auf der einen Seite, so die Aussage der Experten, fehle es in der Praxis an Zeit, um sich eingehend mit den Theorien auseinanderzusetzen. Auf der anderen Seite fehle aber auch die Überzeugung, dass mit einer solchen Arbeit ein praktischer Nutzen verbunden sei. Diese Ansicht geht sogar so weit, dass einige Experten die Meinung vertraten, ein zu starker Theoriebezug der eigenen Arbeit sei mit Blick auf das Erreichen bestimmter Ziele, speziell der Gewinnung und Einbindung neuer Mitglieder, kontraproduktiv (vgl. Kiese 2008b: 137).
2.3.3 Von der Praxis nicht wahrgenommen: Die evolutorische Perspektive Das im Zuge der Entwicklung unterschiedlicher Clustertheorien kumulierte Wissen könnte dazu beitragen, die Praxis für vorhandene Risiken, die mit einem Clusterprojekt verbunde12
Reine „Symbolpolitik“ wird in dieser Hinsicht nicht als Erfolg gewertet.
169
nen sind, zu sensibilisieren. In einer solchen Auseinandersetzung läge auch das Potenzial, den Blick der Praxis für die Pfadabhängigkeit von clusterspezifischen Entwicklungsprozessen zu schärfen. So gilt es wissenschaftlich als erwiesen, dass „nicht alles clustert, schon gar nicht überall“ (Stuchtey 2002: 51). Cluster können nicht aus dem Nichts geschaffen werden. Bruch-Krumbein und Hochmuth bringen es mit der Feststellung „(…)wenn nicht auf vorhandene wirtschaftsstrukturelle Bedingungen aufgebaut werden kann, lässt sich ein Cluster nicht induzieren“ auf den Punkt (Bruch-Krumbein/Hochmuth 2000: 15; Feldman/Braunerhjelm 2007: 1). Neben der Tatsache, dass sich im Prinzip branchenbezogen nur an einigen wenigen Standorten Cluster herausbilden können, die das Potenzial haben auch langfristig national oder gar international wettbewerbsfähige zu sein, ist allein der Wunsch vieler Politiker, in ihrer Region ein Cluster aufzubauen, nicht ausreichend. Dies gilt umso mehr, wenn es sich hierbei um ein Clusterprojekt in einer als besonders zukunftsträchtig geltenden (Mode-)Branche handelt, die heutzutage scheinbar in keinem Portfolio mehr fehlen darf (vgl. Kiese 2009). Wie die Aussage von Bruch-Krumbein und Hochmuth impliziert, bedarf es immer eines bereits vorhandenen regionalwirtschaftlichen Schwerpunktes, d.h. im besten Fall bereits embryonaler Clusterstrukturen, an denen ein Clustervorhaben ansetzen kann. In welchen Regionen sich die Schwerpunkte eines neuen, schnell wachsenden Industriezweiges herausbilden, kann häufig auf zufällige Ereignisse und/oder Entscheidungen, die von Einzelnen vor dem Hintergrund ihrer aktuellen Lebenssituation getroffen werden, zurückgeführt werden. So ist beispielsweise die Konzentration der Optischen Industrie im Raum Wetzlar im Kern auf Carl Keller (1826-1855), dem Erfinder des orthoskopischen Okulars, zurückzuführen, der seinerzeit den Stantort Wetzlar aufgrund familiärer Verbindungen nicht verlassen wollte (Mossig 2008: 55). Ein weiteres Beispiel ist die Ballung der Halbleiter-, Computer- und Softwareindustrie im Santa Clara County, genauer gesagt im Silicon Valley, die in der Hauptsache auf das Engagement zweier Männer, Frederick Terman und William B. Shockley zurückgeht (vgl. Moore/Davis 2004). Letzterer entschied sich Mitte der 1950er Jahre unter anderem auch deshalb für einen Umzug von der Ost- an die Westküste der USA, weil er den Wunsch hatte, wieder in der Nähe seiner alternden Mutter zu leben (ebenda). Mit anderen Worten können politische Akteure im Prinzip kaum beeinflussen bzw. planen, wo sich Keimzellen für eine zukünftige (erfolgreiche) Clusterentwicklung herausbilden (vgl. Kiese 2008a: 19; Wolfe/Gertler 2007: 244-246; Sautter 2004: 67). Ist in einer Region ein wirtschaftlicher Schwerpunkt vorhanden (und identifiziert), stellt sich der Clusterpolitik und den mit der Umsetzung des Konzeptes beauftragten Akteuren vermutlich die Frage, wie Maßnahmen und/oder Programme ausgestaltet sein sollten, um das Ziel einer möglichst schnellen und nachhaltigen Clusterentwicklung zu erreichen. Die Ergebnisse der Befragung deuten darauf hin, dass die Akteure die Antworten auf diese Frage häufig in Studien über erfolgreiche regionale Clusterformationen bzw. den hieraus 13 hervorgehenden Clusterhandbüchern für die Praxis suchen. So gaben über 70% der befragten Cluster- und Netzwerkmanager an, dass sie in ihrer Arbeit zumindest „manchmal“ auf identifizierte Erfolgsfaktoren etablierter, wettbewerbsfähiger Clusterformationen zurückgreifen; knapp 20% dieser Akteure orientieren sich in ihrer Arbeit sogar deutlich häufiger an derartigen Erkenntnissen. Dieser Ansatz muss jedoch aus wissenschaftlicher Sicht 13
Eine Auflistung von Handbüchern und praktischer Anleitungen zur Clusterentwicklung findet sich bei Kiese
(2008a: 47).
170
als defizitär bezeichnet werden (Wrobel 2009: 99-100; Schätzl/Kiese 2008: 270). Weil jede Region und jede Branche spezifische Merkmale aufweist, auf welche die Fördermaßnahmen idealerweise präzise abgestimmt sein müssen (Fromhold-Eisebith/Eisebith 2008), kann eine Orientierung an best practice-Beispielen, wenn überhaupt, nur in den seltensten Fällen zum Erfolg führen (Hospers/Beugelsdijk 2002: 397; Hassink/Lagendijk 2001: 65). Zudem betonen Wolfe und Gertler: „There is a strong element of serendipity (…) and any policy analyst or cluster consultant that would try to design a formula for cluster growth (…) would be wildly optimistic, to say the least” (2007: 262) [Kursivsetzung durch die Verfasser]. Eine weitere, die individuelle Clusterkonstellation bestimmende Dimension ist die der jeweiligen Phase, in welcher sich die Formation innerhalb des Lebenszyklus befindet. Abgeleitet vom Produktlebenszyklus auf das Konzept regionaler Cluster, durchläuft auch ein Cluster in der Regel einen Zyklus aus Entwicklungs-, Wachstums- Reife- und, Degenerationsphase, an dessen Ende die Auflösung der Formation stehen kann, aber nicht wie bei biologischen Lebenszyklen zwangsläufig stehen muss (Kiese 2008c: 61-62; Tichy 2001; Kremer et al. 2000: 87). Da jede Phase, vor allem mit Blick auf die Produktionsfaktoren, durch ganz spezifische Bedarfe charakterisiert ist (vgl. z.B. Schätzl 2003), sehen z.B. Menzel und Fornahl die Notwendigkeit einer phasenspezifischen Förderstrategie (Menzel/Fornahl 2005: 147; Sautter 2004: 70). Zusammengenommen machen die genannten Aspekte, die maßgeblich die individuelle Clusterkonstellation prägen, deutlich, dass ein Rückgriff auf best practice-Beispiele in der Praxis nur sehr bedingt von Nutzen sein kann. Dies gilt insbesondere für die Anfangsphase eines Clusterprojektes, in der der Fokus der Akteure auf der Gründung von Clusterstrukturen und nicht so sehr auf deren Wachstum liegt. Da nahezu alle Clusterhandbücher, auf die die Praxis in ihrer Arbeit derzeit zurückgreifen kann, auf Studien basieren, die vornehmlich die Wachstumsphase einer erfolgreichen Formation fokussieren, enthalten sie in der Regel keine Informationen, die zur Planbarkeit der Clusterentstehung beitragen könnten (vgl. Moore/Davis 2004: 8-9). Die in den Clusterhandbüchern häufig genannten Vorteile, die aus der räumlichen Konzentration ökonomischer Aktivitäten hervorgehen und das Wachstum der Formation erklären, können nicht für die eigentliche Konzentration (d.h. die Entstehungsprozesse) ursächlich verantwortlich sein, da sie ja erst aus dieser hervorgehen (Mossig 2008: 51; Sternberg 2008: 2; Feldman et al. 2005: 137-139; Bresnahan/ Gambardella 2004: 332-333). „Our understanding of the origins of industrial clusters needs to move beyond suggestions of a list of ingredients that, once in place, result in economic development. It is as if in the current conceptualisation clusters emerge full grown, like Athena from the head of Zeus, without passage through defining developmental stages. Lists of attributes of successful clusters tell us little about how these clusters get started and what differentiates successful clusters from places where investments yield no significant benefits for the local economy.” (Feldman/Braunerhjelm 2007: 1-2).
Im Ergebnis bedeutet dies für Politik und Praxis, dass, wollen sie für die eigene Arbeit Erkenntnisse zur bestmöglichen Förderung der Entstehungsprozesse von Clusterstrukturen gewinnen, eine Abkehr von gängigen best practice-Erfahrungen erfolgreicher Fallbeispiele erfolgen muss. Vielmehr ist aus evolutorischer Perspektive ein dezidierter Blick auf die Entstehungsfaktoren regionaler Cluster vorzunehmen, welche sich wesentlich von jenen 171
Faktoren, die das Wachstum und Fortbestehen der Formation unterstützen, unterscheiden (vgl. Sternberg 2008, 1998, 1995; Bresnahan/Gambardella 2004). Ein Blick auf die Entstehungsfaktoren zu werfen, dürfte sich jedoch in den allermeisten Fällen als schwierig erweisen. Der Ursprung vieler erfolgreicher, weltweit bekannter Cluster liegt, so dieser im Einzelfall überhaupt auszumachen ist, Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte, zurück. Aufgrund fehlender wissenschaftlicher Aufzeichnungen bleibt eine Rekonstruktion der Anfänge zumeist lückenhaft. Vielfach deuten die Ergebnisse der Studien, die sich trotz aller damit verbundener Schwierigkeiten mit einer systematischen Identifizierung von Entstehungsfaktoren regionaler Cluster befassen (z.B. Sternberg 2008; Scott 2007; Owen-Smith/Powell 2007; Moore/Davis 2004), darauf hin, dass keine universelle „Bauanleitung“ existiert, deren Umsetzung die Entstehung erfolgreicher, regionaler Clusterstrukturen garantiert. So kommt beispielsweise Sternberg in seiner Analyse der Entstehungsphase von zehn weltweit bekannten High-tech Clustern zu dem Schluss, dass „(…) no single determinant constitutes a necessary or sufficient precondition for the genesis of a knowledge-intensive regional cluster“ (Sternberg 2008: 1). In ähnlicher Weise wie schon Bresnahan und Gambardella (2004: 355) appelliert Sternberg an die Politik, Abstand zu nehmen von dem häufig vertretenen Standpunkt, mit einem geschnürten Maßnahmenpaket direkt und unmittelbar neue High-tech Cluster in der Region erschaffen zu können (Sternberg 2008: 28). Dass sich die in der wissenschaftlichen Literatur vertretenen Ansichten zu den politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Clustergenese in der Praxis in dieser Form nicht wiederfinden lassen, zeigt wiederum die eigene Befragung der Cluster- und Netzwerkmanager. So wurden die Cluster- und Netzwerkmanager gebeten, auf Grundlage ihrer Erfahrungen verschiedene Aspekte hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Entstehung und das nachfolgende Wachstum regionaler Cluster- und Netzwerkformationen zu bewerten (Tabelle 2). Die Bewertung erfolgte anhand einer Skala von 1 bis 6, wobei die Befragten mit der Vergabe einer 1 einen Aspekt als „sehr bedeutend“ und mit der Vergabe einer 6 als „völlig unbedeutend“ für die Entstehung bzw. das Wachstum von Clusterstrukturen einstuften. Die befragten Akteure sehen die Bedeutung der einzelnen Aspekte bzw. Einflussfaktoren sowohl für die Clusterentstehungs- als auch für die Clusterwachstumsphase durchaus differenziert. Die Mittelwerte reichen von 1,52 bzw. 1,75 für die „aktive Rolle von Schlüsselpersonen (Promotoren) in der Region“ bis zu 5,18 bzw. 5,19 für den Aspekt der „Dezentralisierung (…)“ und decken damit fasst die gesamte Spannbreite der Bewertungsskala ab. Mit Blick auf das Ranking, das sich auf Basis der arithmetischen Mittel ergibt, fällt auf, dass die hinteren Ränge zumeist von solchen Einflussfaktoren eingenommen werden, die gar nicht oder nur schwer durch die Arbeit der Manager beeinflusst werden können, etwa der „Regionstyp (…)“ oder das „Lohnniveau in der Region“. Auf den vorderen Rängen hingegen finden sich vor allem jene Aspekte, mit denen die Cluster- und Netzwerkmanager vermutlich aufgrund ihrer einschlägigen Ausbildung (häufig als Regionalplaner, Ökonomen oder Wirtschaftsgeographen) und/oder ihrer bisher in der Arbeit gesammelten Erfahrung, z.B. im Bereich der Wirtschaftsförderung, vertraut sind (vgl. Kiese 2008b: 137). Es handelt sich freilich bei diesen Aspekten auch um solche, die im Zusammenhang mit dem Clusterkonzept besonders häufig zur Sprache kommen und damit eine gewisse „Sichtbarkeit“ und Prominenz erlangt haben: „Vorhandener regionalwirtschaftlicher Schwerpunkt“ (vgl. Bruch-Krumbein/Hochmuth 2000: 15), „Gute Forschungs- und Bildungsinfrastruktur (…)“ (vgl. Audretsch/Feldman 2004: 2727; Brenner/Mühlig 2007: 21; Sternberg 1998: 292-294), „Netzwerkorientierte Leit-/Großunternehmen in der Region“ (vgl. Wolfe/Gertler 2007: 250; 172
Brenner/Mühlig 2007: 22) und „Innovationsförderliche Atmosphäre (…)“ (vgl. Porter 1998: 83). Die Befragungsergebnisse deuten auf ein von den wissenschaftlichen Erkenntnissen abweichendes Verständnis der Clustergenese auf Seiten der Cluster- und Netzwerkmanager hin. So beurteilen diese zwar den Einfluss der einzelnen Aspekte sehr differenziert, der Rangfolgenvergleich zeigt aber, dass die Befragten die Bedeutung eines Faktors sowohl für Clusterentstehung als auch für Clusterwachstum häufig sehr ähnlich einschätzen. Selten weicht die Platzierung eines Aspektes um mehr als zwei Ränge ab. Eine diesbezüglich nennenswerte Ausnahme stellen die Aspekte „Historische Prägung der Region (…)“ und „Hohe Lebensqualität in der Region“ dar. Während dem Aspekt der „Historischen Prägung (…)“ nach Meinung der Befragten ein deutlich höherer Stellenwert innerhalb der Phase der Clusterentstehung zukommt, kann eine hohe Lebensqualität in der Region den Befragungsergebnissen nach primär zum Wachstum einer Formation beitragen. Die insgesamt stark gleichförmige Beurteilung findet Ausdruck in den relativ geringen Mittelwertdifferenzen sowie den damit in Einklang stehenden, höchst signifikanten Korrelationskoeffizienten. Liegt zwischen den Bewertungen der Aspekte auf den oberen Rangplätzen eine mittlere bis hohe Korrelation vor, ist mit Blick auf die unteren Plätze eine hohe bis sehr hohe Korrelation festzustellen. Dieses Ergebnis macht deutlich, dass die Beurteilungen der befragten Cluster- und Netzwerkmanager in der Summe zunehmend undifferenzierter ausfiel, je unbedeutender sie den jeweiligen Aspekt für die Clustergenese einstuften. 14 Ein ergänzend durchgeführter (Wilcoxon) Vorzeichen-Test kann darüber hinaus zeigen, dass die Nullhypothese (H0) – „Cluster- und Netzwerkmanager unterscheiden in der Beurteilung der Bedeutung der Aspekte nicht zwischen Clusterentstehung und Clusterwachstum“ in zwölf Fällen nicht abgelehnt werden kann.15 Mit anderen Worten lassen sich die Mittelwertunterschiede in der Beurteilung bei 12 der 22 Aspekte mit zufälligen statistischen Schwankungen erklären.
14
Mit Hilfe eins Kolmogorov-Smirnov-Tests konnte festgestellt werden, dass die vorgenommene Beurteilung bei
jedem Aspekt signifikant von der Normalverteilung abwich, weshalb bei der vorliegenden Konstellation der Daten (gepaarte Stichproben) zur Überprüfung der H0-Hypothese anstatt eines T-Test der Wilcoxon-Vorzeichen-(Rang)Test zur Anwendung kam. 15
Begründung für das Ausweisen sowohl der asymptotischen als auch der exakten Signifikanz in Tabelle 2: „Un-
ter der Hypothese H0 (…) ist zu erwarten, dass die Fallzahlen mit positiven und negativen Vorzeichen etwa gleich sein werden. Für n < 25 kann die Wahrscheinlichkeit für die Häufigkeit der Vorzeichen mit Hilfe der Binominalverteilung berechnet werden. (…) Für große Fallzahlen (n > 25) wird die Binominalverteilung durch die Normalverteilung approximiert.“ (Janssen/Laatz 2007: 586). Mit anderen Worten rechnet SPSS den (genaueren) exakten Test nur über die von Null verschiedenen Differenzen und reduziert die Wertepaare np um die Anzahl der Nulldifferenzen. Die Anzahl der Wertpaare darf bei der Berechnung der asymptotischen Signifikanz (Wilcoxon) nicht unter 25 Paare fallen.
173
Tabelle 2: Einflussnahme unterschiedlicher Faktoren auf die Genese regionaler Cluster N=116
Einflussfaktoren Aktive Rolle von Schlüsselpersonen (Promotoren) der Region Vorhandener regionalwirtschaftlicher Schwerpunkt Regionalpolitik (mit Cluster-/Netzwerkfokus) Gute Forschungs- und Bildungsinfrastruktur (Universitäten und öffentliche Forschungseinrichtungen etc.) Netzwerkorientierte Leit-/Großunternehmen in der Region Bundes-/Landespolitik (mit regionalem Fokus) Innovationsförderliche Atmosphäre (Kooperation und Wettbewerb bzw. „positive“ Innovationskonkurrenz) Erfolgreiche Innovation in der Region Innovationszentren und/oder Technologieparks in der Region Pool qualifizierter Arbeitskräfte Gute Verkehrsinfrastruktur Spezialisierte private/öffentliche Nachfrage (Innovationsdruck)
Differenz Mittelwert
0,23 0,30 0,11 0,30 0,15 0,05 0,24 0,34 0,18 0,60 0,37 0,03
174
Mittelwert: Entstehung
Rang1
1,52
1/1
1,91 2,11
2/3 ¾
2,12
4/2
2,37 2,51
5/6 6/7
2,66
7/5
2,97 3,19 3,23 3,87 3,90
8/8 9/10 10/(8) 11/12 12/14
Wilcoxon-Vorzeichen-Test Mittelwert: Wachstum
Korrelation
1,75 2,21 2,22 1,82 2,52 2,56 2,42 2,63 3,01 2,63 3,50 3,87
0,579*** 0,608*** 0,568*** 0,684*** 0,682*** 0,694*** 0,748*** 0,767*** 0,703*** 0,581*** 0,870*** 0,773***
Asymptotische Signifikanz (2-seitig) 0,000 0,006 0,233 0,012 0,332 0,391 0,112 0,000 1,000 0,000 0,000 0,728
Exakte Signifikanz (2-seitig)2
N=116
Einflussfaktoren Erhöhte (Aus-)Gründungsaktivitäten (Spin-off, Split-off, Start-up) Verfügbarkeit von Wagniskapital in der Region Historische Prägung der Region: Netzstrukturen sind nichts Ungewöhnliches oder Neues (geschichtlicher Aspekt) Geographische Lage der Region (natürl. Ressourcenquelle etc.) Einstellung der Bevölkerung in der Region zu netzwerkorientierter/vernetzter Arbeit (kultureller Aspekt) Regionstyp (städtisch vs. ländlich) Hohe Lebensqualität in der Region Lohnniveau in der Region Zufälliges Ereignis Dezentralisation: Verlagerungsprozesse aus den Städten heraus
Differenz Mittelwert
0,59 0,66 0,23 0,03 0,13 0,04 0,44 0,20 0,02 0,01
Mittelwert: Entstehung
Rang1
3,93 4,16
13/11 14/(12)
4,24
15/19
4,25
16/17
4,30
17/16
4,47 4,56 4,66 4,97 5,18
18/20 19/15 20/18 21/21 22/22
Wilcoxon-Vorzeichen-Test Mittelwert: Wachstum
Korrelation
3,34 3,50 4,47 4,28 4,17 4,51 4,12 4,46 4,95 5,19
0,762*** 0,742*** 0,866*** 0,885*** 0,936*** 0,836*** 0,810*** 0,841*** 0,827*** 0,963***
Asymptotische Signifikanz (2-seitig)
Exakte Signifikanz (2-seitig)2
0,000 0,000 0,001 0,839 0,143 0,824 0,000 0,078 0,629 1,000
1
: Ranking auf der Basis Mittelwert-Entstehung/Mittelwert-Wachstum; 2: Verwendete Binominalverteilung; ***: (2-seitig) signifikant auf dem Niveau von 0,1 %
Auffällig ist, dass die Hälfte all jener Aspekte, bei denen H0 nicht abgelehnt werden kann, sich im letzten Drittel des Rankings, d.h. auf den Rängen 15 bis 22, befinden. Eine mögliche Deutungsrichtung ist, hierin den Ausdruck einer fehlenden Vertrautheit im „Umgang“ mit diesen Aspekten zu sehen – obschon diese Aspekte nachweislich die Clustergenese beeinflussen können, wenn auch nicht müssen (vgl. Sternberg 2008). Die Annahme, dass diese Aspekte aufgrund einer weitgehend fehlenden Beeinflussbarkeit über die Arbeit der 175
Cluster- und Netzwerkmanagern von diesen im Arbeitsalltag mehr oder weniger ausgeblendet werden, erscheint vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses durchaus plausibel.
3
Cluster und Netzwerke: Grenzen der Gestaltbarkeit, Grenzen zwischen Wissenschaft und Praxis
Was kann anhand der Ergebnisse der Befragung festgehalten werden? Sicher die Erkenntnis, dass die eingangs erwähnte These, der Wissenschaft und der Politik und Praxis mangele es an gegenseitigem Verständnis, durchaus zutrifft. Die Ansichten, die die Wissenschaft auf der einen und Politik und Praxis auf der anderen Seite bezüglich der Grenzen des vorhandenen Gestaltungsspielraumes in der Clustergenese haben, gehen weit auseinander. Steht hinter den wissenschaftlichen Anschauungen zumeist ein organisches, evolutorisches Verständnis der Clusterentstehung und -entwicklung, sind diese in Politik und Praxis eher durch eine technokratische Grundhaltung geprägt. Den Eindruck, dass es im Laufe der letzten Jahre sukzessive zu einer Entkopplung von Wissenschaft und Praxis gekommen ist und ein kontinuierlicher Austausch kaum mehr erfolgt, spiegeln die Befragungsergebnissen durchaus wider. Nur so lässt sich erklären, wieso über 70% der befragten Cluster- und Netzwerkmanager in ihrer Arbeit immer noch auf best practice-Beispiele zurückgreifen, obschon es wissenschaftlich als erwiesen gilt, dass ein solches Vorgehen aufgrund der jeweils individuellen regionalen Gegebenheiten defizitär ist. Als Resultat einer solchen Entfremdung muss der Wissenschaft attestiert werden, dass sie in puncto Cluster mittlerweile auf dem besten Wege ist, sich gänzlich in ihren Elfenbeinturm zurückzuziehen. Der Einschätzung von Rehfeld (2005a: 136) ist unbedingt beizupflichten, dass die Wissenschaft mit dem Aufkommen der Cluster- und Netzwerkeuphorie „erst die Orientierung und dann den Anschluss in dieser Phase der Strukturpolitik verloren hat.“ Die Rolle der politischen Ratgeber haben in den letzten Jahren zunehmend professionelle Management- und Politikberatungen übernommen. Auf der anderen Seite wiederum erweckt das gegenwärtig zu beobachtende, allgemeine Gebaren von Politik und Praxis im Zusammenhang mit dem Clusterkonzept den Anschein, auf jeglichen methodologischen Pluralismus zugunsten der Verwirklichung des „Abenteuers Cluster“ verzichten zu wollen; ungeachtet fehlender Kenntnisse und daraus möglicherweise resultierender, gravierender Fehlinvestitionen von Steuergeldern. Hierbei, und das sei ausdrücklich erwähnt, geht es nicht in erster Linie um einen unzulänglichen oder gar fehlenden Theoriebezug einer Clusterstrategie und deren praktischer Umsetzung. Daraus lassen sich noch keine zwingenden Rückschlüsse auf die Qualität oder den Erfolg von Cluster- bzw. Netzwerkinitiativen ableiten. Sind die Kenntnisse bei den Akteuren aus Politik und Praxis nur in unzureichendem Maße theoretisch fundiert, d.h. beruhen sie hauptsächlich auf unterstellten Wirkungszusammenhängen und impliziten The1 orien , führt dies, vereinfacht dargestellt, allenfalls zu der zu beobachtenden Fehleinschätzung der eigenen Möglichkeiten der Beeinflussung und Steuerung der Clustergenese. Gefahren bergen in der Folge vielmehr die fehlenden methodischen Kenntnisse (vgl. Sautter 2004: 70). Wie die Ergebnisse aus den Expertengesprächen von Kiese (2008d) zeigen, vermag es die Praxis in der Regel weder die vorhandenen Methoden zur Clusteridentifizie1
Zu impliziten Theorien in der Politik vgl. Hofmann 1993, Behrendt 1999 sowie Betz 1999.
176
rung (etc.) handwerklich fehlerfrei anzuwenden, noch nutzt sie das volle Spektrum der methodischen Möglichkeiten. Letzteres gilt vor allem für aufwändigere Verfahren wie z.B. Funktions- und Netzwerkanalysen. Gerechtfertigt wird eine solche Unterlassung zumeist mit konkreten Zeit- und Budgetrestriktionen. Hier kann ein erster Anknüpfungspunkt für eine erneute Annäherung von Wissenschaft und Praxis gesehen werden. So kann – wird bewusst eine etwas naive Sichtweise eingenommen – durchaus davon ausgegangen werden, dass die Wissenschaft, vornehmlich geleitet vom akademischen Erkenntnisinteresse, in der Lage ist, über die Anwendung der von ihr entwickelten Methoden der Identifizierung regionaler Cluster, zu objektiven Beurteilungen von Clusterpotenzialen zu kommen. Eine solchermaßen realisierte Politikberatung könnte mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu beitragen, die Finanzierung bzw. Realisierung zahlreicher, ausschließlich politisch motivierter Clustervorhaben („Wunschcluster“) in weiten Teilen zu unterbinden. In der Folge würden weniger Clusterprojekte scheitern, was einer im Laufe der Zeit zu erwartenden, ungerechtfertigten Diskreditierung des Konzeptes entgegenwirken könnte (vgl. Kiese 2008b: 141). Die Realität ist jedoch, wie bereits angedeutet, naturgemäß viel komplexer. Die Wissenschaft kann jedoch nicht nur bei der Identifikation von regionalen Clusterpotenzialen, die den Keim für eine zukünftige Clusterformation bergen, fachlich unterstützen. Eine systematische Analyse bestehender Clusterstrukturen kann beispielsweise aufzeigen, in welcher Phase im Lebenszyklus sich eine Formation derzeit befindet, was das Erarbeiten von Förderstrategien, die auf die jeweils spezifischen Bedarfe abgestimmt sind, erleichtert (vgl. Kiese 2008c: 61; Neffke et al. 2007). Aber auch aus Sicht der Wissenschaft erscheint eine Annäherung beider Sphären durchaus vielversprechend. Sie könnte die zur Weiterentwicklung des Clusteransatzes dringend benötigten Einsichten liefern, die die Erarbeitung einer Ökonomischen Theorie der Clusterpolitik gestatten. Ein besseres Verständnis der den Entscheidungen in Politik und Praxis zugrunde liegenden Beweggründe und Rationalitäten, könnte der Wissenschaft die Möglichkeit eröffnen, mittelfristig wieder Anschluss an den sowohl intellektuell wie auch politisch bedeutenden Diskurs um regionale Cluster und Netzwerke zu finden. Zudem bietet das aufstrebende Feld der Clusterpolitikforschung die Chance, Grenzen zwischen Wissenschaftsdisziplinen wie (Regional-)Ökonomik, (Wirtschafts-)Geographie, Politischen Wissenschaften und Soziologie zu überwinden und die gesellschaftliche Relevanz der aktuell stark gebeutelten Geisteswissenschaften zu stärken. So verhält es sich letztlich wie im japanischen Sprichwort umschrieben: „Hebt man den Blick, so sieht man keine Grenzen“. Eine zu starke Fokussierung auf die eigenen Belange verengt das Sichtfeld, schränkt die Wahrnehmung ein, blockiert den Dialog und verhindert letztendlich erfolgskritische Lernprozesse. Die Autoren danken Stefan Fuchs für seine wertvollen Kommentare und Anregungen zu einer früheren Version dieser Arbeit und übernehmen die uneingeschränkte Verantwortung für verbleibende Unzulänglichkeiten.
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4
Literatur
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182
Selektivitäten des Netzwerkes im Kontext hybrider Strukturen und systemischer Effekte – illustriert am Beispielen regionaler Kooperation Jens Aderhold
1
Einleitung1
Netzwerke sind aus unserem modernen Leben nicht mehr wegzudenken. Umso verwunderlicher mag es erscheinen, dass wir noch immer recht wenig über ihren Aufbau und ihre Wirkungsweise in Erfahrung bringen konnten. Vertraut man spontanen Assoziationen, fallen sofort die vielen Vorteile auf. Netzwerke sind positiv besetzt und ermutigende Vorurteile sind bei weitem nicht die schlechtesten: Netzwerke stehen zunächst für Offenheit, für Vertrauen, für unzensierten Informationsfluss, für Synergieeffekte, für Partizipation und Identitätsstiftung. In all diesen Bezügen artikuliert sich die Hoffnung auf aktuell angemessene, wenn nicht gar überlegene Problemlösestrategien. Die mitgeführten Erwartungen sind bekanntlich außerordentlich hoch angesetzt. Bei all der aktuellen Wertschätzung muss die Feststellung überraschen, dass Netzwerke nicht besonders neu sind. Sie gab es eigentlich schon immer und sie treten nahezu in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen auf. Die Spannweite möglicher Aufzählungen reicht von römischen Patronagestrukturen, dem globalen Industrie- und Handelsimperium des Hauses Fugger, der deutschen Hanse, sozialen Unterstützungsnetzwerken, strategisch geführten Unternehmensnetzwerken, Verhandlungssystemen der Politik über persönliche Kontaktnetze bis hin zu inoffiziellen Austauschsystemen von Informationen oder Ressourcen. Die Netzwerkforschung, die zugleich die universelle Verbreitung vernetzter Gebilde als auch deren Spezifik einfangen möchte, lässt sich bisher von drei Perspektiven leiten. Einmal ist es die Methode der soziologischen Netzwerkanalyse, die, von der Annahme besonders fasziniert, dass Handelnde sich in ihrem (Tausch- oder Wahl-)Handeln stets auf konkrete andere beziehen, darauf abzielt, die dem Alltagshandeln verborgen bleibenden (informellen) Strukturen aufzudecken. Orientiert an der Relation von Akteur und Beziehung bleibt bisher ungeklärt, in welchen Hinsichten sich Netzwerke von anderen sozialen Strukturen (oder Systemen) unterscheiden, ob die methodisch angeleitete Auswahl der Akteure mit der Grenze des Netzwerkes korreliert, in welchen Hinsichten die vom Forscher gefundenen Strukturen tatsächlich relevant sind und auch bleibt im Verborgenen, wie die aufgefundenen Strukturen überhaupt zustande kommen, d.h. unbeantwortet ist die Frage, wie Netzwerke faktisch funktionieren. Die zweite Perspektive sucht ihren Startpunkt in den Strukturen der funktional differenzierten Moderne. Gesellschaftliche Ausdifferenzierung besagt, dass Systeme sich über spezifische Problemstellungen konstituieren. Sie suchen unter diesen Vorzeichen Zurechnungspunkte für Kommunikation. Handlungen, Handelnde, also sozial definierte Adressen werden ausgewiesen und entsprechend systemisch konditioniert für Netzwerkbildung rele1
Ich danke Roger Häußling für seine konstruktiven und hilfreichen Hinweise.
vant. Während eine Funktion sozialer Netzwerke – also das Kreieren neuer Möglichkeiten durch Verknüpfung heterogener Möglichkeiten – gut beschrieben wird, wird die Konstitution sozialer Netzwerke als Sozialstruktur der Gesellschaft ausschließlich in kommunikativ gefertigten Adressstrukturen gesucht. Überbewertet wird die Ebene der Gesellschaft und unterwertet bleiben die Prozesse der Netzwerkkonstitution, deren selektive Relevanz vor allem bei einer Berücksichtigung interaktiven Geschehens und personaler Orientierungsprozesse besonders auffällt. Die dritte Perspektive rückt nun Organisationen ins Zentrum der Aufmerksamkeit und vor allem diejenigen, die ein symbiotisches Verhältnis zu anderen Organisationen suchen, um die für sie relevante, aber letztlich unberechenbare Umwelt in eine überschaubare Fassung bringen zu können. An dieser Stelle nutzt die Netzwerkforschung bisher die Bezeichnung Hybrid, die zum Ausdruck bringen soll, dass Unterschiedliches verbunden wird und dabei etwas Neues, Abgegrenztes mit neuen Möglichkeiten entsteht. Es geht also darum, durch eine Verdichtung der wechselseitigen Abhängigkeiten anzapfbares und verwertbares ‚soziales Kapital’ zu akkumulieren. Netzwerke erscheinen hiernach als ein neues Emergenzphänomen jenseits von Vertrag und Organisation. Während die akteurstheoretisch informierte Netzwerkanalyse in den gefundenen Strukturen, d.h. in den Verdichtungen und Asymmetrien sozial relevante Netzwerkeffekte sieht, der systemtheoretische, an der Theorie der funktionalen Differenzierung orientierte Netzwerkansatz auf die reflexiven Struktureffekte der polykontextural figurierten Adressstrukturen verweist, sieht die dritte Perspektive Netzwerke als Produzenten eines neuen Systemtypus, der aus einer Verschachtelung zweier Systemlogiken (Organisation und Vertrag) hervorgeht. Netzwerke werden in allen drei Fällen als Wirkungsgrößen gefasst, die bestehende Innen/Außenverhältnisse (Grenzziehungen) variieren oder gar neue generieren. Bezogen auf die Effekte des Netzwerkes regeln Tauschnetzwerke Ressourcenverteilung und –zugriffschancen. Die mit der funktionalen Differenzierung einhergehenden Adresskonstellationen verändern die Mechanismen der Inklusions- und Exklusionsverhältnisse während im dritten Fall das Netzwerk Produzent, Resultat und Nutznießer seiner selbst ist. Trotz all der Einsichten, die mit den drei dominierenden Perspektiven verbunden sind, bleiben die für Selektivität und Grenzbildung relevanten Co-Prozesse von Netzwerk und System sowie die hierbei ablaufenden Dynamiken unklar. Um diese nachzeichnen zu können, könnte es hilfreich sein, die drei Konstitutionskonzepte (Tausch, Gesellschaft und Organisation/Markt) durch die Berücksichtigung der bisher nur ungenügend beachteten Ebene der Interaktion zu ergänzen. Eine wichtige Umdisposition besteht hier darin, nicht individuelle oder kollektive Akteure, Gesellschaft oder Organisation primär (oder gar allein) als diejenigen Instanzen anzusehen, in und an denen sich Verknüpfungen vollziehen. Vielmehr ist Interaktion als ein bedeutsamer sozialer Ort anzusetzen, in und an dem über erfolgreiche Vernetzungen disponiert und entschieden wird. Mit dieser Erweiterung sind sozialtheoretische und pragmatische Konsequenzen verbunden, die über die Kreation eines ‚Wir‘, über Formen von Geselligkeit und über die reflexive Wahrnehmung von Anwesenheit hinausgehen. Hinzu kommt die Einsicht, dass in Interaktionssystemen auch die für andere Systemzusammenhänge relevanten Orientierungs- und Beschreibungsmuster angelegt, strukturell und materiell ausgeformt werden (siehe hierzu Aderhold/Kranz 2007; Kranz 2009; Markowitz 1986; 2006). 184
Die Aufgabe des Beitrages besteht nun darin, diejenigen Anhaltpunkte herauszuarbeiten, die dazu dienen können, einen Einblick in diejenigen Strukturierungsprozesse mit selektiver und grenzverändernder oder -bildender Wirkung zu bekommen. Hierzu wird auf die Unterscheidung von Kooperation und Netzwerk zurückzugreifen sein (Aderhold 2005). Hieran anschließend wird ein auf den wirtschaftlichen Kontext bezogenes Konzept regionaler und unternehmerischer Vernetzung genutzt. Gezeigt wird, dass Kooperationsbildung einen mobilisierbaren Pool von Partnern voraussetzt. Bedeutsam werden Netzwerke vor dem Hintergrund der durch sie erst realisierbaren Möglichkeiten: Indem sie die Resultate und Ressourcen sozialer Systeme abgreifen, diesen Vorgang mit Struktureffekten interaktiver Prozesse kombinieren, sind sie in der Lage, weitreichende Einflussmöglichkeiten in Form systemverändernder ‚Grenzüberschreitungen’ bereitzustellen.
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Grenzkonfusion der Netzwerkanalyse
Einer der wichtigsten wissenschaftlichen Zugänge, Netzwerke in ihrer Struktur und Wirkungsweise verstehen zu lernen, kann in der sozialen Netzwerkanalyse2 gesehen werden. Ein soziales Netzwerk wird hier durch eine benennbare Menge von Akteuren und den zwischen diesen bestehenden sozialen Beziehungsverhältnissen definiert (vgl. Barnes 1972; Kappelhoff 2000: 31; Mitchel 1969; Trezzini 1998: 379; Windeler 2001: 91). Orientiert an den Überlegungen der mathematischen Graphentheorie, geht man davon aus, die Konturen sozialer Strukturen3 angemessen abbilden zu können. Soziale (Netzwerk-)Strukturen werden als Beziehungsmuster zwischen empirisch anzugebenden Akteuren gedeutet. Die besondere Stärke der Netzwerkanalyse wird nun in der Ausarbeitung eines breit angelegten methodischen Instrumentariums gesehen (vgl. unter anderem Burt 1980; Trezzini 1998; Jansen 1999; Wasserman/Faust 1994), wobei die ‚leicht‘ auffallende theoretische Unschärfe4 der verwendeten Netzwerkbegrifflichkeit immer wieder in die Kritik gerät (so schon Granovetter 1979: 501). Vier wesentliche Schwierigkeiten sind besonders hervorzuheben: (1) Ein erstes Problem zeigt sich daran, dass den sozialen Konstruktionsprozessen sozialer (Interaktion, Gruppe, Organisation, Gemeinschaft, Gesellschaft) und psychischer Sys-
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Der netzwerkanalytische Ansatz umfasst Theorien, Modelle und Anwendungen. Hervorgehoben werden relatio-
nale Aspekte sozialer Strukturen (vgl. etwa Barnes 1972: 2; Jansen 1999; Wassermann/Faust 1994: 4f.; Wellman 1983: 155ff.). 3
Die Netzwerkanalyse benutzt vorwiegend quantitativ ansetzende Verfahren, welche die strukturelle Differenzie-
rung eines Netzwerkes erfassen sollen (Dichte, Cliquen- beziehungsweise Clusterbildung). Zudem lassen sich „mathematisch-logische Eigenschaften, wie zum Beispiel Asymmetrie, Hierarchien, Transitivität und Balance“ überprüfen (Schenk 1983: 91). 4
Innerhalb der Netzwerkanalyse sind „kaum mehr als ein paar einfache Prämissen hinsichtlich der konstitutiven
Bedeutung sozialer Beziehungen respektive Interaktionen für die Bildung sozialer Strukturen und die Erklärung individueller Einstellungen und Handlungen entstanden“ (Trezzini 1998: 378). Insofern muss die implizit mitlaufende Hoffnung der eingesetzten Methoden tragen, dass der jeweils zum Einsatz gelangende fachspezifische Hintergrund der jeweiligen Analyse genügend theoretische Anhaltspunkte bereitstellen kann.
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teme5 kaum Beachtung geschenkt wird. Diese sind vor allem deshalb von Interesse, da es nicht im Ermessen der wissenschaftlichen Beobachter liegt, den systemisch determinierten Prozessen die Bestimmung relevanter Strukturmuster abzunehmen. Das aktive Moment wird übersehen. Man weiß demzufolge nicht, ob die analytisch ermittelten Strukturmuster in der sozialen Realität überhaupt irgendeinen Effekt haben (oder welchen). Zudem wird der in der Netzwerkanalyse liegende Vorteil, stärker auf das Zusammenspiel sozialer Beziehungen bei der Produktion sozialer Phänomene zu achten, auf zweierlei Weise leichtfertig aufs Spiel gesetzt. (2) Zum einen ist methodisch das Problem der Berücksichtigung historischer und dynamischer Zustände sozialer Systeme nicht gelöst (Jansen 2000: 257; Windeler 2001: 120). (3) Zum anderen – und dieser Kritikpunkt dürfte schwerer als der erste wiegen – wird unterstellt, dass Akteure, Interaktionen und Beziehungen als gegeben, als konstant angenommen werden können. Man reduziert methodenpragmatisch eine Vielzahl kommunikativer oder interaktiver Ereignisse auf sehr wenige Beziehungstypen6. Vereinfachung erfolgt ebenfalls auf der Seite konstruierter Akteure.7 Diese werden konzipiert als Merkmalsträger mit konstanten Eigenschaften. Zugleich nimmt man sie als Ausgangspunkt für graphentheoretisch nachzuzeichnende soziale Netzwerke in Anspruch. Weiterhin wird unterstellt, Akteure (Menschen, Gruppen, Organisationen) könnten einem der Analyse zugänglichen System zugeordnet werden. Ausgeblendet werden die spezifischen Kontexte und Verhältnisse, die erst den Unterschied systemischer und vernetzender Prozesse sichtbar machen. (4) Schließlich ergibt sich aus diesen Schwierigkeiten die noch immer ungelöste Frage nach der Grenze des Netzwerkes. Die Vorgehensweise folgt auch hier vor allem for-
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Denn: „Netzwerke haben auch immer etwas mit den Beobachtungen der Akteure zu tun. Sie verweisen auf
bestimmte “kognitive Musterkarten“, die oft ein bestimmtes Beziehungskapital der Akteure widerspiegeln. In diesem Sinne impliziert die Untersuchung industrieller Netzwerke“ einen strategischen Netzwerkbegriff, denn Strategie bedeutet „nichts anderes als die Beobachtung und die daraus folgende Gestaltung von Märkten.“ (Hessinger 1995: 161) Leider finden sich sowohl in der sozialen Netzwerkanalyse als auch in der betriebswirtschaftlich orientierten Netzwerkdiskussion kaum Anstrengungen oder Ergebnisse, die in dieser Hinsicht Hoffnung auf weiterführende Erkenntnisse verbreiten könnten. Siehe hierzu u.a. Meyer/Aderhold/Teich (2003a; 2003b) sowie Aderhold/Meyer (2004). 6
An dieser Stelle müsste eigentlich auch der merkwürdige Umgang mit einem nicht reflektierten Be-
ziehungsbegriff breiter diskutiert werden (siehe Aderhold 2004). 7
Im Alltag wird der Status des Akteurs mit dem Handlungsverständnis verknüpft. Nicht nur hier hat sich die
Vorstellung etabliert, dass nur Akteure handeln könnten, was zu der leichtfertigen Annahme verführt, soziales Handeln oder gar soziale Strukturbildung auf objektiv angebbare (und damit von sozialen Prozessen losgelöste) Akteure zurückführen zu müssen (Kopp/Schnell/Wolf 1989; Schimank 1985; 1989). Die Soziologie verfängt sich leider immer wieder in selbst erzeugten und wenig brauchbaren Missverständnissen, so als ob entweder nur System oder nur Handlung als erklärende Variable fungieren darf. Längst ist bekannt, dass wir es nicht mit einem Gegensatz zu tun haben, der nur zwei Theorienentscheidungen zulässt (Giddens 1984; Luhmann 1991; 1993b; Nolte 1999). Vielmehr sind theoretische Entwürfe danach zu beurteilen, in welcher Weise es ihnen gelingt, Handlung und System so aufeinander zu beziehen, „um das Problem der Möglichkeit sozialer Ordnung zu lösen“ (Luhmann 1991: 52).
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schungs- und methodenpragmatischen Erwägungen. Ein wissenschaftlich tragfähiges Kriterium liefert die Netzwerkanalyse nicht. Was man bekommt, sind Detailinformationen über bestimmte „Ausschnitte“ der sozialen Wirklichkeit, die zuweilen auch beeindrucken.
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Gesellschaft und Netzwerk
Die Systemtheorie, die erst spät auf Netzwerkfragen aufmerksam wird, löst das mit der Grenzfrage aufgeworfene Zuordnungsproblem, indem sie einen operativen Ansatz wählt. Ein derartiges Vorgehen bedeutet nichts anderes, als die Frage zu stellen, ob nicht nur ein einziges Element dafür verantwortlich ist, dass Systeme entstehen. Die These lautet: Systeme sind es, die mittels ihrer Operativität Grenzen ziehen. Jede gezogene Sinngrenze unterscheidet ein Innen (das System) und ein Außen (die Umwelt des Systems). Diese Trennung ist nun aber nicht so zu verstehen, dass es hier um eine räumliche Differenzierung – hier System, dort Umwelt – geht. Vielmehr wird die Unterscheidung im System selbst produziert, die in der Gesellschaft einen sinnhaften Unterschied hervorruft. Für das hier zu diskutierende Netzwerkthema folgt daraus, dass es zunächst die von sozialen Systemen produzierten Strukturen und Prozesse sind und nicht die handelnden Akteure, die für die Bereitstellung und Konfiguration der netzwerkbildenden Bestandteile verantwortlich zeichnen. Vor allem sind die drei Systeme Interaktion, Organisation und Gesellschaft auf je unterschiedliche Weise daran beteiligt. Die weitere Diskussion wird sich zudem von der Vorstellung leiten lassen, dass ein soziales Netzwerk kein soziales System ist, obwohl es Systeme voraussetzt und zu verändern in der Lage ist. Weiterhin wird die Annahme zugrunde gelegt, dass Netzwerke von ihrer Funktion her auf der Ebene der Weltgesellschaft angesiedelt werden müssen (vgl. Aderhold 2004; Aderhold/Roth 2005; Tacke 2001). Das bedeutet, dass Netzwerke im Unterschied zu sozialen Systemen keine (sozialen) Grenzen aufweisen. Jedoch wird nicht unterstellt, dass diese selektionsfrei funktionieren würden. Wie im Weiteren zu zeigen ist, verändern sie die etablierten Formen gesellschaftlicher Erreichbarkeit, vor allem dadurch, dass neue Zugänge durch die Verknüpfung neuer Kontakte eröffnet werden können. Soziale Netzwerke entstehen dann, wenn Kontakte, die bestimmte ansprechbare Möglichkeiten repräsentieren (soziale Adressen), auf andere Kontaktpartner beziehungsweise ihre Potenziale bezogen werden, „und zwar im Hinblick auf die mit ihrer Kombination erzeugten Potentiale“ (Tacke 2000: 306). Netzwerke werden folglich über die noch näher auszuführende Unterscheidung von Erreichbarkeit und Zugänglichkeit konstituiert.
3.1 Modifikation moderner Inklusions- und Exklusionsverhältnisse durch quer liegende Netzwerkstrukturen Um das sich wechselseitig verstärkende Verhältnis von Netzwerk und Gesellschaft analysieren zu können, wird in einem ersten Schritt die These Luhmanns von den weltgesellschaftlich ausdifferenzierten Kommunikationsverhältnissen aufgenommen. Er betont, dass in jeder Kommunikation Weltgesellschaft impliziert ist und zwar unabhängig von der je187
weilig genutzten Problematik, Thematik oder räumlichen Distanz zwischen den Teilnehmern (Luhmann 1997: 150). Es kommt nicht unbedingt darauf an, ob es zu einer faktischen Vermehrung globaler Kommunikationsereignisse kommt. Vielmehr konstituiert sich die Weltgesellschaft schon dadurch, dass jede Interaktion – genauer: jede Kommunikation – ein „Und so weiter“ anderer Kontakte und Sinnofferten aufbereitet (Luhmann 1991: 54).8 In diesem Zusammenhang sind zwei bisher unverbunden gebliebene Aspekte auffällig: erstens die kaum zu übersehende Vielschichtigkeit, in der Netzwerke gesellschaftlich wirksam werden, sowie zweitens der neuartige Doppelcharakter der Gesellschaft. Gesellschaft tritt zugleich in zwei Versionen auf: einmal als Weltsystem und als systemspezifisch ausgebildeter Verweisungshorizont.9 Weltgesellschaft bezeichnet demzufolge nicht nur die Institutionalisierung funktional zu differenzierender Kommunikationsmedien (Luhmann 1997). Hinzuzufügen ist die Feststellung, dass jede stattfindende Kommunikation weitere Anschlüsse und damit weitere Kontakte impliziert, die – und darauf soll es nun ankommen – sich nicht in jedem Fall an die funktionale Differenzierung oder an organisatorisch eingerichtete Vorgaben halten müssen (Aderhold 2004; Luhmann 1995a). Ein Modus der gesellschaftlichen Regulierung von Erreichbarkeit ist in der Differenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien zu sehen. Diese Medien zeichnen sich dadurch aus, dass Kommunikationen, die auf nur ein Medium setzen, erleichtert, und die sozialen Vorgänge, die auf die Kopplung verschiedener Medien setzen, unwahrscheinlich werden. Die Medien tragen im Normalfall dazu bei, soziale Beziehungen nicht direkt, sondern durch spezifische Abhängigkeiten innerhalb und zwischen unterschiedlichen sozialen Systemen zu regulieren. Diese durch zunehmende Systemdifferenzierung der Gesellschaft ausgebildete Eigenschaft reguliert auf diese Weise systemische Innen- und Außenbeziehungen, die über Prozesse des Ad-hoc-Tausches beziehungsweise einer unmittelbar sichergestellten wechselseitigen Bedürfnisbefriedigung hinausgehen (Luhmann 2001: 33). Dieser insbesondere für die Anforderungen lose gekoppelter Sozialbeziehungen (Netzwerk) bedeutsame Zusammenhang, in dem investive Akte nicht sofort auf entsprechende Tauschäquivalente im Sinne einer Bedürfnisbefriedigung hoffen dürfen, stellt auf Prinzipien der Erwartungsbildung ab, in denen es nicht ausschließlich um Reziprozität, „sondern um Sicherstellung der erfolgreichen Abnahme von Kommunikation“ geht (ebenda: 35).
8
An den gesellschaftlichen Materialisierungen und Struktureffekten orientiert, registriert vor allem Manuel
Castells (2000: 528) global wirksame Netzwerkprozesse, die die moderne Gesellschaft nachhaltig verändern werden. 9
Leider wird die Sprengkraft dieses Gedankens von der Netzwerkanalyse nicht gesehen und theoretisch genutzt.
Schon 1954 deutet Barnes an, dass Netzwerkbeziehungen auf gesellschaftlich verfügbare, das heißt weltweite Erreichbarkeit hinauslaufen: „I have my cousins and sometimes we all act together; but they have their own cousins who are not mine and so on indefinitely. Each individual generates his own set of cognatic kin and in general the set he and his siblings generate is not the same as that generated by anyone else. Each person is, as it were, in touch with a number of other people, some of whom are directly in touch with each other and some of whom are not. Similarly each person has a number of friends, and these friends have their own friends; some of any one person’s friends know each other, others do not. I find it convenient to talk of a social field of this kind as a network.” (Barnes 1954: 43)
188
Die Funktion symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien besteht insbesondere darin, reduzierte Komplexität anschlussfähig zu machen. Die Form der differenzierten Gesellschaft beschränkt die Übertragungsleistung der Medien auf ein spezielles Funktionssystem. Anders ausgedrückt: die Medien arbeiten überschneidungsfrei, was aber nicht heißt, dass Kopplungen ausgeschlossen sind. Aber der über mehrere Medien hinausgreifende zielgerichtete Einfluss ist hoch voraussetzungsvoll und vor dem Hintergrund differenziert arbeitender Medien erklärungsbedürftig. Zumal die Medienwirkung von dem Geschehen im jeweiligen Teilsystem abhängt. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass soziale Netzwerke, die auf der Basis reziproker Tauschstrukturen operieren, unter den Verhältnissen einer funktional differenzierten Gesellschaft unwahrscheinlich sind und das heißt, diese müssen sich gegenüber den funktionalen Strukturen erfolgreich behaupten. Eine über Vernetzung dauerhaft eingerichtete Integration der Funktionssysteme scheint folglich ausgeschlossen. Und doch finden sich extreme Ungleichheiten in der Verteilung öffentlicher und privater Güter sowie verfestigte regionale Disparitäten, die mit der Funktion sozialer Netzwerkstrukturen, gesellschaftliche Teilsysteme fallweise und zum Teil dauerhaft zu integrieren, in Verbindung zu bringen sind. Wir stoßen somit auf den irritierenden Befund, dass sich in der modernen Weltgesellschaft Kommunikationsbereiche finden, in denen die funktionale Differenzierung Einzug gehalten hat, die sich aber durch ihre faktischen Vollzüge ihren ‚modernen Segnungen’ auf besondere Weise entziehen. Funktionale Differenzierung ist folglich nicht so zu verstehen, dass an allen Orten der Welt die gleichen Zustände vorherrschen beziehungsweise alle Ereignisse durch diese Differenzierung gleichermaßen beeinflusst werden. Der von Luhmann (1995a) diskutierte Fall Süditaliens10 ist folglich exemplarisch angelegt. Nicht nur hier ist es gelungen, ansprechbare Ressourcen von Stratifikation auf Organisation zu überführen. Die netzwerkbildende Ansprechbarkeit11 findet ihre Anhaltspunkte nicht mehr nur in traditional verankerten Institutionen, wie im Eigentum, im Prestige der Familie oder in der Verpflichtung durch Herkunft. Vielmehr werden Ressourcen abgefragt, die an den von Organisationen ausgewiesenen Positionen abgelesen werden können. Das soziale System der Organisation kann anscheinend Signale zur Verfügung stellen, „die als Symbole für allgemeine soziale Kompetenzen verwendet werden können“ (ebenda: 22). Diese Art der von der Organisation kaum gewollten Bereitstellung versteht sich nicht von selbst. Entsprechende Voraussetzungen für die Öffnung der Organisation sowie für nicht vorgesehene Zugänge müssen im Netzwerk selbst durch ständige Bereitschaft des „Nehmens und Gebens“ erarbeitet, „verdient“ und reproduziert werden. Angriffspunkte bieten die in allen kommunikativen Prozessen mitlaufenden sinnhaften Verweisungsmöglichkeiten auf entsprechende Adressaten (ressourcenverwaltende Personen). Zugleich wird vorausgesetzt, dass Zugänge zur Person und nicht zum Amt in irgendeiner Form hergestellt werden können; häufig über „friends of friends“-Konstellationen, über Brokerage, über verwandtschaftliche oder außerberuflich etablierte Verbindungen. 10
Dieser Befund, wonach sich Auswirkungen struktureller Kopplungen von Funktionssystemen aufgrund regiona-
ler Bedingungen zu höchst unterschiedlichen Musterlösungen verketten, kann hier nur konstatiert, aber nicht weiter ausgeführt werden (siehe Braczyk/Heidenreich 1998; Luhmann 1997: 807). 11
Je verbreiteter die Erwartungslage ist, dass eine Bitte um eine kleine Gefälligkeit kaum abgelehnt werden kann,
desto eher sind Netzwerke dieser Art in der Lage, selbst mit Exklusion zu drohen (Luhmann 1995b: 252). Man kann nicht ablehnen, wenn man selbst noch dazugehören möchte.
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Ihre Stabilität gewinnen die auf Vermittlerdienste und Gefälligkeiten angewiesenen Netzwerkstrukturen, indem sie eigene Mechanismen der Inklusion und Exklusion etablieren und querliegend zu den Strukturen der funktionalen Differenzierung auf Dauer stellen können. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Ausbildung sozialer Adressen zu.
3.2 Adressen in der Weltgesellschaft Sozial konfigurierte Adressen sind eine wichtige Voraussetzung für die Ausbildung ansprechbarer Kontakte (vgl. Tacke 2000; 2001). Über persönliche Kontakte, genauer über das Zusammenspiel positional oder individuell ausformulierter Adressen bilden sich soziale Netzwerke, wobei je nach Verwendungszusammenhang und Systemkontext unterschiedlichste Formen entstehen können. Funktionssysteme bestimmen bisher über den Modus, wie Menschen bezeichnet und sozial berücksichtigt werden. Je nachdem, wie das Verhältnis von Inklusion und Exklusion – bisher durch das Medium organisierter Kommunikation – ausgestaltet wird, wird mitgeregelt, wie Individuen über adressierende Kommunikationen personalisiert werden. Adressen sind Resultat von Zurechnungen, die zwei Verweisungsrichtungen implizie12 ren. Einerseits stellen Adressen ein mehr oder weniger ausgearbeitetes Profil von Eigenschaften und Verhaltensweisen dar, die auf eine bestimmte Person13 oder Organisation zugerechnet werden. Namen bilden das Fundament der Adressbildung. So paradox es klingen mag, Eigennamen helfen zwar bei der Unterscheidung von Personen, ohne aber auf Basis weitergehender identifizierende Hinweise zu arbeiten. Obwohl man sich nicht selten für die Ursprünge des Eigennamens interessiert, in der täglichen Kommunikation spielt er – was die sinnhafte Aufladung der personalen Adresse anbelangt – keine Rolle. Wichtiger sind individuelle Teilnahmemöglichkeiten und -erfahrungen. Adressen verweisen somit auf ihre soziale Verankerung, d.h. auf jeweilige Inklusionslagen, die als Information bewertet, Anhaltspunkte für Anschlussverhalten bereithalten können. Auf dieser Grundlage kann auf beiden Seiten (Gesellschaft und Individuum) die schon angesprochene strukturelle Komplexität aufgebaut werden (Stichweh 2000: 221). Man kommt folglich nicht umhin, sich gerade in der Netzwerktheorie mit der Frage zu beschäftigen, in welcher Weise über Adressabilität sozial disponiert wird. Inklusion bezeichnet einen Vorgang, in welcher Weise Systeme (psychische und soziale) in sozialen Zusammenhängen für relevant befunden, das heißt für bedeutsam gehalten werden. Inklusion befindet zugleich mit darüber, welche Möglichkeiten hinsichtlich Zugänglichkeit und damit an Partizipation eingeräumt werden. Partizipationschancen hängen unmittelbar davon ab, inwiefern es gelingt, vorliegende Leistungen anderer Systeme – in Form von Komplexi12
Abstrakt formuliert bezeichnen Adressen das „re-entry der Unterscheidung von Kommunikation und Bewusst-
sein auf der Seite der Kommunikation (...), und zwar in der Form der sozialen Bezeichnung des Bewusstseins, mithin der Bezeichnung von Selbstreferenz: als Mitteilungsinstanz“ (Fuchs 1997: 73). 13
Unser Eigenname dient eigentlich nur als Identifikationsanker. An Eigennamen lagern sich dann vermittelt über
soziale Beziehungen und Kommunikationsprozesse weitere Verweisungen an. Aus einfachen Adressen werden komplexe Adressen.
190
tät, Selektivität und Risiko – in Anspruch nehmen zu können. Handelnde Akteure sind angehalten, im diskriminierenden Kontext von Inklusion und Adressbildung darüber nachzudenken, in welcher Weise es möglich ist, die Inklusionserfordernisse erkennen und in brauchbare Handlungsbeiträge zu überführen. Die Überlegung, Netzwerke über die reflexive Kombination der mit polykontexturalen Adressen einhergehenden Möglichkeiten zu bestimmen, veranlasst nun Veronika Tacke (2000: 299), funktionale Differenzierung als (primäre) Voraussetzung für Netzwerkbildung anzusehen. Ein Netzwerkbegriff, der auf der Basis polykontextural gebauter Adressenstrukturen operiert, legt eine solche Einschätzung nahe. Wir können dieser Einschätzung nur bedingt folgen, vor allem aus zweierlei Gründen: zum einen, weil Netzwerke nicht nur auf der Ebene der Gesellschaft entstehen bzw. durch diese konstituiert werden und zum anderen, weil soziale Netzwerke als eine universelle Begleiterscheinung sozialer Systeme anzusehen sind, die nicht nur mit einer Form gesellschaftlicher Differenzierung ko-variiert. Wir teilen aber die Einschätzung, dass Netzwerke über die Verschiebung des Verhältnisses von Erreichbarkeit und Zugänglichkeit konstituiert werden. Die Gesellschaft stellt eine Vielzahl potenzieller Anschlüsse bereit, die nicht nur von den weltweit ausdifferenzierten Funktionssystemen produziert werden, sondern über deren Rationalitätsmuster hinausgehen. Wirtschaftliche Beziehungsnetze eröffnen beispielsweise strategische Optionen, bisherige Geschäfte durch die Nutzung mobilisierbarer Potenziale auszubauen oder neu auszurichten. In diesem Sinne lassen sich fallweise soziale Struktur- und Beziehungsmuster aufgrei14 fen, die quasi als Nebenprodukt anderer sozialer Handlungszusammenhänge entstehen. Obwohl Netzwerke prinzipiell als Aktivierungsstrukturen verstanden werden können, darf nicht übersehen werden, dass es sich um reflexiv gestellte, das heißt auf relative Dauer angelegte Strukturmuster handelt, die von den handelnden Akteuren auch so beobachtet, das heißt in die Aktivitäten der Attention und Intention integriert werden müssen. Wir kommen auf dieses Erfordernis später zurück, stellen aber zunächst das Verhältnis von Organisation und Netzwerk in den Mittelpunkt.
4
Organisation und Netzwerk
Die moderne Gesellschaft verfügt mittlerweile über verschiedenste Infrastrukturen, die nicht nur weltweite Erreichbarkeiten etablieren, sondern auch Optionen bereitstellen, auf deren Basis sich Netzwerke ausdifferenzieren können. Hierbei kommen nicht selten interaktive und gesellige, aber gerade auch organisierte Sozialkontakte zur Geltung, die für die beteiligten Personen die Infrastruktur ihrer jeweiligen Beziehungsnetzwerke bereithalten. Netzwerkbildende Effekte entstehen dann, wenn in der Interaktion eigenständige, an der adressförmig erfahrbaren Individualität der Personen ausgerichtete Gesichtspunkte in den Vordergrund rücken. Die Entscheidungsprämissen der beteiligten Organisation werden folglich in den Hintergrund gestellt. Mit anderen Worten: die von der Organisation absor-
14
Wie Dirk Baecker (1999: 191) treffend vermerkt, liegt die Pointe von sozialen Netzwerken gerade „darin, daß
jeder Kontakt unkalkulierbare andere Kontakte, sei es eigene, sei es die des Geschäftspartners, mitzurepräsentieren erlaubt“, auch die, über die man (noch) nichts weiß.
191
bierte Unsicherheit, das heißt die über Entscheidungen außer Kraft gesetzte (doppelte) Kontingenz wird (wieder) zugelassen. Organisationen müssen nun nach Wegen suchen, die informalen, „hilfreichen“ Sozialkontakte im Zaum zu halten, zu kontrollieren oder gar für ihre Interessen zu nutzen. Für die Bearbeitung der Frage, bei welchen Gelegenheiten die Organisation für die formale und bei welchen für die informale Seite optiert, bietet der Begriff des Netzwerkes einen brauchbaren Ausgangspunkt. Der Vorteil des Netzwerkbegriffes ist an dieser Stelle vor allem darin zu sehen, dass er nicht schon vorweg durch formale Organisation festgelegt oder definiert ist, „sondern eher durch eine Art Vertrauen, das sich auf erkennbare Interessen und wiederholte Bewährung stützt“ (Luhmann 2000: 25). Die formale Kommunikation zu fordern oder zu nutzen ist bekanntlich eine Möglichkeit, Vertrauenstests zu vermeiden, mit dem Ergebnis, dass mehr Sicherheit produziert wird. Auf diese Weise schränkt man den Spielraum des Netzwerkes der informalen Organisation ein. Man könnte es auch so ausdrücken: Organisation und Netzwerk behindern oder schaden sich wechselseitig. Sofern man auf formale Strukturen setzt, wird das Netzwerk überflüssig, es wird nicht benötigt. Nicht ganz so eindeutig scheint es zu sein, wenn man sich zunächst für den Weg der informalen Kommunikation entscheidet. Explizite formale Kommunikation wird zwar (im Moment) vermieden, aber man schließt diesen Weg nicht prinzipiell aus, vielmehr hält man sich die Option offen, formal oder informal fortzusetzen und reproduziert auf diesem Wege die Unterscheidung.
4.1 Das Wechselspiel zwischen formaler und informaler Organisation Das Netzwerk wird darüber hinausgehend sichtbar, wenn es um gesellschaftliche Relevanz der Organisation geht. Dirk Baecker (2006a; 2006b) sieht die besondere Bedeutung des Netzwerks in der Frage nach Veränderungen in den Voraussetzungen der Organisation. Grundsätzlich taucht der Bezug auf Netzwerke dann auf, wenn es um die Entdeckung struktureller Ähnlichkeiten (also keineswegs funktionaler Äquivalente) im Hintergrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Kontexte geht. Ob in spezifischen Interaktionsmomenten wie Dinner-Partie, Kaffeekränzchen, Fußballspiel oder generell bei Organisationssystemen, selbst bei inneren Umwelten wie Märkten oder Öffentlichkeiten spielen Strukturen im Hintergrund eine wichtige Sortierungs- und Selektionsrolle. Sie unterstützen bei der – in einer durch White (1992) geprägten Diktion – rekursiven Identitäts- und Kontrollentwicklung. Und dies geschieht nach Baecker (2006a; 2006b) über Netzwerke. Das Kennzeichnende für Netzwerke lässt sich dabei zunächst mit dem Term der Selbstähnlichkeit bestimmen (Abbott 2001). Systeme greifen auf selbst-ähnliche, aber nicht zwingend systemische Muster zurück. Diese Ähnlichkeiten finden sie in internen oder externen Netzwerken, die ihnen helfen, sich beobachtbar zu machen, Ansätze für Fortsetzbarkeiten zu finden und ihrerseits Strukturalität annehmen zu können. In Organisationen etwa finden sich wieder erkennbare Muster von Positionen sowohl in formellen, informellen oder auch lateralen Bezügen. Das zweite hier anzusetzende Merkmal von Netzwerken liegt in der Referenz von Aktuellem auf ein Drittes, auf einen impliziten Bezug auf etwas außerhalb einer unmittelbaren Kommunikation. Netzwerke beziehen sich auf ein Jenseits der Dyade. Ob Hierarchien oder 192
Hochzeiten, sie kommen nur zur Geltung in Bezug auf Etwas außerhalb ihrer selbst liegendes, eben eines je spezifischen Netzwerks, was die jeweilige Kommunikation selbst wieder referenzierbar macht, um diese mit Stabilität und Fluidität gleichermaßen zu versorgen. Netzwerke sind damit innere oder äußere Umwelten, die aber nicht Systeme sein können. Der Befund, von dem hier ausgehend argumentiert wird, liegt vor allem darin, dass die Motivation zur Beteiligung an Organisation mehr (nur) durch Autorität oder Bürokratie, also durch die klassischen organisationalen Determinanten reguliert wird (Baecker 2006a: 17). Hiervon abweichend geht es zunehmend um die Regulation von Motivation zur Mitgliedschaft in Organisation, die in übergreifenden Netzwerken verteilt ist und anders gelagerte Instrumentarien des Aufspürens und der Kontrolle bedarf.15 Entscheidend für die Kreation des Unterschiedes ist, dass Netzwerke sich an anderen formgebenden Prämissen orientieren als es Organisationen tun. Ein zentraler Unterschied kommt darin zum Ausdruck, dass in Netzwerken die Entscheidungsprämissen der formalisierten Mitgliedschaft, die Institutionalisierung von Stellen und Personalauswahl sowie vorgeschriebene Kommunikationswege fehlen, beziehungsweise die in Organisationen geltenden Entscheidungsprämissen explizit außer Kraft gesetzt werden. Auch ist davon auszugehen, dass in Netzwerken keine Prozesse der Grenzbildung anzutreffen sind. Dagegen zeichnen sie sich durch ein Offenhalten bestimmter Entscheidungskomplexe aus (Mitgliedschaft, Stellen, Kommunikationswege, Technik). Ihre Rationalität besteht in der Wiedereinführung von konditionierter Unsicherheit. Zudem wird das von der Organisation absorbierte Problem der doppelten Kontingenz wieder zugelassen, sodass Lösungen des Problems (Systembildung) wieder neu gefunden werden müssen. Netzwerke eröffnen und erfordern damit eine neue Stufe der Komplexitätsverarbeitung, die mit neuen Problemen des individuellen und kollektiven Scheiterns behaftet ist. Obwohl Netzwerke primär auf der Basis von Vertrauen laufen, so setzen diese doch funktionierende oder wenigstens ausbeutbare Organisationen voraus. Netzwerke, die sich von den durch Organisationen bereitgestellten Ressourcen (als Parasiten) ‚ernähren’, leben folglich von Organisationen und „wachsen an ihnen, ohne sich durch sie kontrollieren zu lassen“ (Luhmann 2000: 386). Die rechtlichen Voraussetzungen mit in die Analyse einbeziehend, lassen sich folglich legale und illegale Varianten unterscheiden: Illegale Netzwerke (Korruption, Mafia, Terrornetzwerke) bilden sich, wenn das Vertrauen stark personalisiert wird und die Leistungen von Organisationen fast ausschließlich nur über persönliche Kontakte zu erreichen sind und von diesen zweckentfremdet ‚ausgebeutet’ werden. In legaler Hinsicht kommt es zu horizontalen Verknüpfungen verschiedener Organisationen, die sich miteinander vernetzen (policy-networks, Unternehmensverbünde, regionale Großprojekte).
15
Baecker bedient dabei ein recht elementares Verständnis von Element und Relation, welches den Versuch nahe
legt, rasch unmittelbare Beziehungen zwischen Akteuren zu beobachten und zu gestalten. Die Auswahl von Elementen und bezugsfähigen Relationen erscheint vielfach als beliebig und prüfungsbedürftig und verführt zu einem unkontrollierten Abweichen vom eigentlichen Benefit: dem Rekurs auf das Potenzielle, das jenseits der aktuellen Beziehung wirkt und arbeitet.
193
4.2 Netzwerk als wiederholte Differenz von Organisation und Vertrag Im folgenden Abschnitt verlassen wir die Binnenwelt der Organisation, um die Gestaltung der Außenverhältnisse in den Blick nehmen zu können. Vor allem in dieser Hinsicht wird die zunehmende Bedeutung sich vernetzender Organisationssysteme besonders deutlich. Auslöser der Netzwerkbildung sind diejenigen Umweltturbulenzen, die durch andere Organisationen erzeugt werden. Die Frage ist dann nur, wie es zwei oder mehreren Organisationen gelingt, ihre Beziehungen netzwerkförmig anzulegen und auszutarieren. Für die Beschreibung derartiger Interorganisationsverhältnisse nutzt die Netzwerkforschung bisher die Bezeichnung „Hybrid“, die zum Ausdruck bringen soll, dass Unterschiedliches verbunden wird und dabei etwas Neues entsteht. Netzwerke als Hybridbildungen kombinieren für die Bearbeitung von Umweltturbulenzen unterschiedliche Handlungstypen. Gunter Teubner (1996) hat hierfür die von der Transaktionskostentheorie präferierte Begriffsfassung, Netzwerke zwischen Markt und Hierarchie (Organisation) zu verorten, mit der Theorie der Differenzierung sozialer Systeme kombiniert. Den Ausgangspunkt seiner Analyse bildet die These, dass autopoietische Sozialsysteme nach dem Grad ihrer Ordnungsbildung unterschieden werden können. Die Gesellschaft bezeichnet er als Kommunikationssystem erster Ordnung16. Sobald sich auf dieser Ordnungsebene spezielle Kommunikationsverhältnisse ausdifferenzieren und verketten, bilden diese Spezialkommunikationen Sozialysteme zweiter Ordnung. Dieser Prozess der Systemdifferenzierung kann sich durch Differenzierung weiterer Kommunikationsbeziehungen fortsetzen, mit der Folge, dass Systeme dritter Ordnung17 etabliert werden. Teubner formuliert zwei zentrale Thesen: Netzwerke sind erstens ein neues Emergenzphänomen jenseits von Vertrag und Organisation. Sie produzieren neben den Vorteilen, die sich aus einer intelligenten Kombination hierarchischer und marktlicher Organisation ergeben, immer auch spezifische Transaktionsrisiken. Zweitens sind soziale Netzwerke selbst als „corporate actors“ anzusehen und nicht wie ursprünglich angenommen „bloße Hierarchien“ zwischen autonomen Akteuren. Sie sind als „polykorporative Kollektive“ in der Tat personifizierte Beziehungsgeflechte zwischen den Knoten des Netzes. Die im Anschluss an die Transaktionskostentheorie aufgebaute Position, Netzwerke begrifflich zwischen Vertrag und Organisation anzusiedeln, ist für Teubner (1996: 540) unangemessen, denn Netzwerke lassen sich nicht als Zwischen-, sondern als Steigerungs16
Bei Luhmann selbst findet man die Unterscheidung dieser Systemtypen (erster bis dritter Ordnung) nicht. Viel-
mehr unterscheidet er zum einen die Systemtypen Gesellschaft, Organisation und Interaktion. Zum anderen geht er vom Unterschied von Ausdifferenzierung und Systemdifferenzierung aus. Ausdifferenzierung bezeichnet den gesellschaftskonstituierenden Vorgang, in dem sich auf der Basis von Sinn eine operativ erzeugte Differenz von System und Umwelt vollzieht (Luhmann 1997: 597). Systemdifferenzierung findet immer in schon existenten Systemen statt. Sie ist nichts anderes als „die Anwendung von Systembildung auf ihr eigenes Resultat“ (ebenda). Mit anderen Worten können sich innerhalb sozialer Systeme durch Differenzierung von Spezialkommunikation Teilsysteme bilden, die wiederum Ausgangspunkt für weitere Teilsystembildung sein können. 17
Zu erwähnen ist noch, dass Teubner vor dem Hintergrund eines von Luhmann abweichenden Autopoiesis- und
auch Emergenzkonzeptes argumentiert. Teubner (1987: 431) sieht in der Herausbildung einer Autopoiese höherer Ordnung nicht ein Alles-oder-nichts-Phänomen. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen graduellen Prozess, der viele Zwischenschritte beinhalten kann.
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form besonderer Art begreifen. Vertrag und Organisation sind zunächst autopoietische Systeme zweiter Ordnung, die unterschiedlichen Handlungstypen folgen: Tausch und Kooperation. Organisationen bilden sich durch die Formalisierung von sozialen Kooperationsbeziehungen und Verträge stellen die Formalisierung von sozialen Tauschbeziehungen dar (ebenda: 541). Unternehmensnetzwerke als soziale Systeme dritter Ordnung resultieren nun aus einem re-entry der Unterscheidung von Markt und Hierarchie (Organisation). Auf beiden Seiten kann die Unterscheidung von Markt und Vertrag nochmals bemüht werden, mit dem Effekt, dass Verträge organisatorische Elemente und Organisationen marktliche Elemente in sich aufnehmen (ebenda: 543). Die Differenz von Vertrag und Organisation wirkt netzwerkbildend, sofern diese entweder auf der Marktseite oder jener der Organisation (wieder) zur Geltung gebracht wird. Organisationsnetzwerke (dezentrale Konzerne) entstehen, wenn Unternehmensorganisationen interne Beziehungen durch Einbau marktlicher Elemente verändern. Marktnetzwerke (Vertriebssysteme) bilden sich durch den Einbezug organisatorischer Komponenten in vertragliche Arrangements. Netzwerke18 sind folglich in der Lage, „institutionell zwischen der Sprache der Organisation und der des Vertrages zu unterscheiden“ (ebenda: 544). Teubner spricht in diesem Zusammenhang von einer Doppelkonstitution19 des institutionellen Arrangements Netzwerk. Das neue Element, welches das System Netzwerk produziert, verdankt sich dann der etablierten Doppelzurechnung. Ein Ereignis wird zugleich einem autonomen Vertragspartner (Vertragsbezug) und der Gesamtorganisation (Organisationsbezug) zugerechnet (zum Beispiel Franchise bei McDonalds). Obwohl diese Argumentation auf den ersten Blick faszinierende Einsichten eröffnet, sind doch einige Ungereimtheiten20 in der Argumentation nicht zu übersehen. Die von Teubner zentral gesetzte Unterscheidung von Markt und Organisation ist vor dem Hinter-
18
Die Netzwerktheorie wird nun selbst als Theorie einer spezifischen Systemdifferenzierung vorgestellt. Soziale
Netzwerke werden als eigenständiger Systemtyp konzipiert, der durch die Konstitution eines neuen Systemelements charakterisiert ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich dann (nur noch) die Frage, welche sinnhafte Operation soziale Netzwerke als eine besondere Emergenzebene sozialer Systembildung konstituiert. Emergenz lässt sich seiner Meinung nach schlüssig mit einer systemtheoretisch inspirierten Selbstorganisationstheorie erklären. Gemäß dieser programmatischen Entscheidung wird die klassische Vorstellung der „Emergenz von unten“ zurückgewiesen. Eigenschaften der Elemente und die Interaktion der Elemente sind nicht trennbar. Das Phänomen Emergenz entsteht der Theorie der Selbstorganisation dann, wenn selbstreferenzielle Zirkel „sich in einer Weise miteinander verketten, dass sie die Elemente eines neuen Systems bilden“ (Teubner 1996: 538). Das bedeutet: Neue Systembildungen führen auch zu einer Neubildung von Elementen. 19
Der empirische Test, wann von einem Netzwerk gesprochen werden kann, ist durch zwei zu beantwortende
Fragen vorzunehmen (Teubner 1996: 548): 1. Lässt sich eine Doppelattribution der Handlungen auf Organisation und Vertragspartner in concreto nachweisen? 2. Unterliegt das Handeln den doppelten Anforderungen der Gesamtorganisation und der einzelnen Vertragsbeziehung? 20
Am Rande sei nur erwähnt, dass der von Teubner unternommene Versuch, einen Netzwerkbegriff zu generieren,
im Kontext der Wirtschaft vorgenommen wird. Ungeachtet der thematisierten begrifflichen Schwierigkeiten bleibt offen, ob auf der Grundlage der Unterscheidung von Markt und Vertrag die Herleitung eines allgemein gültigen Netzwerkbegriffes beabsichtigt ist, der mit einigen Modifikationen auch auf andere soziale Kontexte anwendbar wäre.
195
grund des Doppelcharakters der Wirtschaft als Teilsystem und als Umwelt (Markt) zumindest zu hinterfragen. Zudem ist eine weitere begriffliche Schwierigkeit zu berücksichtigen. Vertrag und Organisation werden als soziale Systeme verstanden, wobei erstens der Systemstatus (Markt) und zweitens die implizierte Referenzebene des Vertrages (Recht, Organisation) ungeklärt bleiben. Teubner kritisiert nun aber vor allem die durch die Transaktionskostentheorie vorgenommene Einebnung des Unterschiedes von Organisation und Vertrag. Seiner Meinung nach handelt es sich bei Organisation und Vertrag um zwei Systeme, um unterschiedliche, ja gegensätzliche Typen (vgl. Kämper/Schmidt 2000, 221). Mischformen seien auf der Ebene zweiter Ordnung ausgeschlossen. Dabei zeigt nicht nur die Transaktionskostentheorie, dass Organisationen ohne Verträge gar nicht zu Stande kommen können. Die praktizierte Formalisierung von Verhaltenserwartungen, die zur grenzbildenden Differenz von Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft führt, wird durch einen geschlossenen Arbeitsvertrag mehr als nur symbolisch untermauert. Organisationen sind auf Verträge angewiesen. Dieser Befund hieße, dass jede Organisation (als Mischform von Organisation und Vertrag) als Netzwerk anzusehen wäre. Der Netzwerkbegriff wäre dann aber sinnlos, er könnte nicht mehr erklären, als was mit dem Begriff der Organisation selbst schon zeigbar wäre. Festzuhalten ist der von Teubner angeführte Befund, Netzwerke als Hybridbildungen zu konzipieren, die auf diese Weise besonders gut für die Bearbeitung von Umweltturbulenzen geeignet sind. Umzuarbeiten ist aber der Vorschlag, den Unterschied von Vertrag und Organisation als netzwerkbildend anzusetzen.
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Netzwerkeffekte im Sinnmedium von Aktualität und Potentialität
Um die Spezifik des hier auszuarbeitenden Netzwerkverständnisses besser verdeutlichen und plausibilisieren zu können, nehme ich eine Diskussion auf, die sich auf das Konzept kompetenzzellenbasierter Produktionsnetzwerke konzentriert (Enderlein 2002; Wirth 2001). Dieser Ansatz verdeutlicht die Möglichkeiten, aber auch die zu bearbeitende Besonderheit, um die anvisierte Vernetzung vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) zu gewährleisten. Über diese konzeptionell gehaltenen Überlegungen hinausgehend greife ich zur Veranschaulichung von Struktur und Funktionalität sozialer Netzwerke auf die Unterscheidung von Netzwerk und Kooperation zurück. Kleine und mittlere Unternehmen können im Regelfall nur Teilsequenzen von Prozessketten bearbeiten. Um trotzdem komplex und dynamisch konfigurierte Leistungserstellungsprozesse sowie die Entwicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen vorantreiben zu können, müssen entweder fehlende Kompetenzen angelagert oder durch Kooperation vervollständigt werden. Die derzeitig favorisierten Kooperationsformen setzen auf hierarchische Strukturen in und zwischen Unternehmen. Diese Kooperationsbeziehung wird nicht selten von einem einzelnen Großunternehmen weitgehend technisch-organisatorisch sowie wirtschaftlich dominiert. Oft werden im Rahmen von Outsourcing-Konzepten spezifische Kernkompetenzen eingekauft, um entlang der Wertschöpfungskette segmentierte Produktions- oder Dienstleistungsaufgaben zu übernehmen. Dem hierbei errungenen Vorteil relativer Stabilität stehen Nachteile der einseitigen Abhängigkeit und des nicht vorhandenen unmittelbaren Kontaktes zum Endkunden gegen196
über. Während die Abhängigkeiten für regional bereits etablierte Unternehmen als Restriktionen wirken, entstehen insbesondere für Neugründungen innovativer Unternehmen nicht zu unterschätzende Markteintrittsbarrieren. Im Ergebnis kommt es dazu, dass regionale Potenziale und Kompetenzen nicht sinnvoll genutzt werden und damit eine regional oder volkswirtschaftlich gewünschte Dynamik in der Gründung und Entwicklung kleiner Unternehmen sogar behindert wird.
Wertschöpfungsprojekte im Produktionsnetzwerk
Partnerselektion aus • Partnerselektion dem Kompetenzpool
Projekte Kooperation
(aus dem Kompetenznetzwerk) Kompetenzzellennetzwerk
Partnerauswahl bspw. • Partnerauswahl (ausder der Region) aus Region
Weiterentwicklung durch Feedback- und Lernprozesse im Kompetenz-Pool Produktionsnetz, Kompetenznetzwerk und im regionalen Netzwerk
Netzwerk Region und regionale Vernetzung
Abbildung 1: Unterscheidung von Region, regionaler Vernetzung, Kompetenzzellen- und Produktionsnetzwerk (vgl. Enderlein 2002: 18) Insofern liegt es nahe, dass gegenwärtige und zukünftige Anstrengungen stärker auf die Gestaltung vernetzter Produktions- und Organisationsstrukturen für KMU abzielen (Wirth 2001: 2). Diese können jedoch aus Gründen ihrer Struktur und ihrer Ressourcensituation an dieser Entwicklung in der Regel nicht oder nur unvollständig partizipieren. Vor allem fehlen passende Gestaltungsprinzipien, um derart komplexe und dynamische Kooperationsformen hinreichend betreiben zu können. Das Konzept kompetenzzellenbasierter Produktionsnetzwerke greift den in der Betriebswirtschaft und Managementlehre angedachten Kernkompetenzansatz auf (Duschek 1998: 235; Freitag 2001; Hinterhuber et al. 1996: 99ff.). Hiervon ausgehend wird Netzwerken die Fähigkeit zugesprochen, die Kernkompetenzen der beteiligten Unternehmen im Verbund angemessen kombinieren und ggf. optimieren zu können (Hamel/Prahalad 1994; Picot et al. 1996: 264ff.). Kooperationsbildung setzt zunächst einen mobilisierbaren Pool von Partnern voraus. Die einzige Voraussetzung für die wirtschaftliche Vernetzung liegt in der rechtlich abgestützten Geschäfts- und Entscheidungsfähigkeit. Wirtschaftlich Kooperationen sind aus Geschäftsbeziehungen und den damit verbundenen Interaktionen und Kommunikationen zusammengesetzt, wobei mehr als zwei geschäftsfähige Einheiten den netzwerkförmig konstituierten, auf Dauer angelegten Beziehungszusammenhang reflexiv koordinieren müssen (Windeler 2001: 232). Diese Idee eröffnet den Rahmen für das Modell vernetzter Kompetenzeinheiten, die sich nicht nur aus Unternehmen, sondern gerade aus analytisch geschnittenen Unternehmenseinheiten rekrutieren können (Kompetenzzellen als Leistungs197
einheiten), die auf der Grundlage ihrer vernetzten Beziehungen (Potenziale) miteinander kooperieren. Unterscheidung von Region, regionaler Vernetzung, Kompetenzzellen- und Produktionsnetzwerk (vgl. Enderlein 2002: 18) Netzwerke können hiernach als systemübergreifende Strukturen aufgefasst werden. Das netzwerkbildende Medium ist Potenzialität im Sinne aktivierbarer Kontakte, wobei das Kernproblem nicht selten in der Herstellung der Aktivierbarkeit besteht (siehe ausführlich zur theoretischen Begründung Aderhold 2004). Wertschöpfungsprozess
Kundenbedürfnis
Produkt
Geschäftsprozesse Marketing/ Vertrieb
Kompetenzrahmen Marketing/ Vertrieb
Produktentwicklung
Kompetenzrahmen Produktentwicklung
Funktionsorientierte Kompetenzzelle
Arbeitsplanung
Fertigung
Montage
Logistik
Qualitätssicherung/Service
Kompetenzrahmen Fertigung
Prozessorientierte Kompetenzzelle
Produktionsnetz aus KPZ
Kompetenzrahmen Kompetenzkomponente Kompetenzzelle angepasste Kompetenzkomponente der KPZ
Abbildung 2: Konzeptionelle Vernetzung und Zusammenführung der Kompetenzzellen im Wertschöpfungsprozess (Wirth 2001: 12) Das hier skizzierte Modell des Kompetenzzellennetzwerkes geht davon aus, „dass in einer Region eine Vielzahl durch Erfahrung geprägte Kompetenzeinheiten vorhanden sind“, die sich als Kompetenzzellen21 interpretieren lassen (Wirth 2001: 8; Ackermann et al. 2001). Mit anderen Worten ausgedrückt: Die Region wird nach potenziellen Vernetzungspartnern durchsucht, die durch spezifische Maßnahmen in die Form von Kompetenzzellen zu bringen sind. Aus diesem regionalen Vernetzungspotenzial heraus können sich unterschiedlich angelegte Kompetenznetze entwickeln, wobei ein Mindestmaß an institutionalisierten Be-
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Die Kompetenzzelle als kleinste (Leistungs-)Einheit der Wertschöpfung setzt sich aus einer Kombination unter-
schiedlichster Kompetenzkomponenten zusammen (Neugebauer et al. 2001).
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ziehungen (zum Beispiel einheitliche Informationsplattformen, übergreifende Geschäftsbedingungen, Qualitätsmaßstäbe) zu etablieren sind (Enderlein 2002: 18). Auf dieser Grundlage können sich je nach Kundenwunsch zu konfigurierende, temporär angelegte Produktionsnetze bilden, wobei in problem-, auftrags-, produkt- und prozessbezogener Hinsicht eine direkte Vernetzung von Kompetenzzellen erfolgen kann. Vorhandene Unternehmensformen werden ignoriert, um optimierte Leistungserstellungseinheiten (Kompetenzzellen22) bilden zu können. Systeme und Netzwerke sind folglich in der Tat nicht dasselbe. Netzwerke können hiernach als systemübergreifende Strukturen aufgefasst werden. Das netzwerkbildende Medium ist Potenzialität im Sinne aktivierbarer oder – wie eben gesehen – aktiver Kontakte (siehe ausführlich zur theoretischen Begründung Aderhold 2004). Und diese Potenzialität ist in jeder sozialen und damit auch ökonomischen Beziehung vorhanden, ob und in welcher Weise diese Potenzialität aktiviert wird, steht auf einem anderen Blatt
Projekt ProjektYY
Organisation Kooperation
Projekt ProjektXX
Kooperationsbasis
Netzwerk
Abbildung 3: Zusammenhang zwischen Netzwerk und Kooperation
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Aus der Synthese von Kompetenzkomponenten eines bzw. verschiedener Kompetenzrahmen entstehen Kompe-
tenzzellen (KPZ). Im ersten Fall sind dies funktionsorientierte KPZ (zum Beispiel für Kompetenzkomponenten im Kompetenzrahmen Marketing/Vertrieb), im zweiten Fall prozessorientierte (zum Beispiel Kompetenzkomponenten aus den Kompetenzrahmen Fertigung, Produktentwicklung und Marketing/Vertrieb). Ausgehend von der Zerlegung von Wertschöpfungs- beziehungsweise Geschäftsprozessen wird ein Kompetenzrahmen definiert, der wiederum vielfältige Kompetenzkomponenten beinhaltet (Enderlein 2002: 16ff.).
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Das Netzwerk bildet folglich das soziale Potenzial zukünftiger Zusammenarbeit. Personenbezogene Beziehungen fungieren als tragende Infrastruktur, die Funktion und Position der beteiligten Individuen, potenzielle wie aktuelle Beziehungen in Organisationen und darüber hinaus definieren (Aderhold/Meyer/Ziegenhorn 2001: 139; Boos/Exner/Heitger 1992: 59). Eine sich auf der Basis von Potenzialität bildende und wieder vergehende Koordinationsform ist Kooperation. Potenzialität bezeichnet demnach das Netzwerk der latent angelegten sozialen Beziehungen, Aktualisierung die darauf aufbauende manifestierte Form der aktiven zweckorientierten Zusammenarbeit, die Kooperation (Schwarz 1979: 83ff.). Im Kontext wirtschaftlicher Netzwerkbildung geht es folglich die Fähigkeit Kontakte aufzubauen und die Kontaktpartner zugänglich zu machen. In der Organisation sind sowohl Anzahl der Adressaten als auch die Form der Ansprache weitestgehend formalisiert, das heißt festgelegt, auch wenn sich der Alltag seine eigenen Bahnen bauen mag. Im Netzwerk ist beides unbestimmt und auch unbestimmbar, was zum einen den Reiz sowie die Leistungsfähigkeit ausmacht, was aber zum anderen auch die neuartigen Probleme vernetzten Arbeitens mit sich bringt. Ein Netzwerk ist erst einmal nichts anderes als eine soziale Infrastruktur, die aber ohne angemessene Aktivitäten wenig einbringt. Ist sie aber einmal aufgebaut, wird auf ihrer Grundlage einiges möglich. Festzuhalten ist, dass Netzwerke jederzeit, aber nur als Latenz im Sinne potenzieller Kontakte vorhanden sind. Sie werden erst beobachtbar und damit handlungsleitend, wenn Personen in Form einer konkreten Kooperationsmitteilung darauf Bezug nehmen. Oder bezogen auf wirtschaftliche Verhältnisse ausgedrückt: Netzwerkunternehmen ‚materialisieren’ sich im Idealfall auf der Basis vernetzter Kontakte in einer im Wirtschaftskontext geschäftlich organisierten Kooperationsbeziehung. Das Netzwerk bildet ein Potenzial zukünftiger Zusammenarbeit (Aderhold 2005). Netzwerke stellen in diesem Sinne „Optionen auf Kooperation“ dar (Heitger 1997: 7). Netzwerke und organisierte Kooperationen bedingen einander. Organisationen und organisierte Kooperationen haben Grenzen, bieten Stabilität und damit Sicherheit über einen längeren Zeitraum. Das Netzwerk dient der Flexibilität, es ist Medium der Anpassungsfähigkeit von Organisation und organisationsübergreifender Kooperation. Netzwerke bilden die variablen Brücken über die (starren) organisationalen 23 Grenzen . Sie setzen Grenzen, das heißt sie setzen (andere) Systeme voraus, um dann mit den beiden Mechanismen des „blocking action“ und des „getting action“ auf bestimme Beziehungen zurückzugreifen, mit der gleichzeitig vollzogenen momentanen Ausblendung anderer Möglichkeiten, um auf der Basis realisierter Verknüpfungen Dinge zu erreichen, die auf anderem Weg nicht möglich wären (White 1992: 147f.; 254f.).
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Konklusion: Interaktive Konstitution sozialer Netzwerke
Wie sich gezeigt hat, nutzt die Kontaktstruktur sozialer Netzwerke die Struktureffekte der funktional separierten Kommunikationsmedien, der polykontexturalen Adressbildung so23
Grenzen sind nicht räumlich, sondern sinntechnisch (Kommentar: Was ist mit sinntechnisch gemeint????) zu
verstehen. Dahinter steckt die von Unternehmen – strategisch und emergent – erzeugte Option, u. a. dann durch Externalisierung Netzwerkbildung zu befördern, sofern bei internen Strukturänderungsversuchen mit erheblichem Widerstand bzw. geringer Erfolgswahrscheinlichkeit des Veränderns gerechnet wird. Ergebnis: Man gründet aus.
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wie der Binnen- und Außenvariation der Organisation. Netzwerke konstituieren sich demnach u.a. über gesellschaftlich angefertigte Adressen, genauer über die reflexive Kombination der mit Adressen verbundenen Optionen. Sie scheinen somit ihren Ausgang in den polykontextural konfigurierten Adressen der funktional differenzierten Gesellschaft oder der Verschachtelung von Organisation und Kooperation zu nehmen. Diese begrifflichen Zuschnitte erfassen jedoch nur die mit Kommunikation einhergehenden Strukturierungen. Die Funktionalität des Netzwerkes lässt sich aber nicht allein auf die Logiken und Grenzbildungsmuster der beteiligten (Kommunikations-)Systeme und ihrer Strukturen zurückführen. Zu ergänzen sind die Prozesse der Adressbildung im Kontext eines interaktiv geführten Geschehens, in dem zugleich über bekannte wie noch unbekannte Kontaktchancen disponiert wird (siehe ausführlich zu der hier herangezogenen Interaktionstheorie Kranz: 2007; 2009; Markowitz 1986). Eine wichtige begriffliche Umdisposition besteht folglich künftig darin, nicht nur individuelle Akteure, Organisationen oder die funktional differenzierte Gesellschaft als diejenigen Instanzen anzusehen, in und an denen sich Verknüpfungen vollziehen. Vielmehr wird zu fragen sein, inwiefern Interaktion zum sozialen Ort wird, in dem über erfolgreiche Vernetzungen (mit) disponiert und entschieden wird. Vor allem wiederkehrende Kontakte bringen es mit sich, dass sich an unpersönlichen Beziehungen persönliche Verweisungsstrukturen anlagern können, die unter Umständen zu gut funktionierenden Netzwerken ausdifferenziert werden können. Der soziale Reproduktionsort für die bindungwirksamen Strukturen findet sich folglich in wiederholten Interaktionen zwischen bekannten Personen und diese können je nach Lage und Problemstellung an weitere Interaktionssysteme angekoppelt werden. Wie für viele andere Fertigkeiten auch, können Individuen auf ein breites Spektrum sozialer Kontexte zurückgreifen, in denen probiert und gelernt werden kann, Beziehungen zu unterhalten, Kontakte aufzubauen, sich bisher unzugängliche Bekanntschaftskreise zu erschließen oder im Kontakt mit geschätzten Personen das eigene Geschick im Umgang mit anderen zu trainieren. Am einfachsten und damit am häufigsten dürfte das im Kontext gesellig strukturierter Treffen zu bewerkstelligen sein. Geselligkeit, die gerade dafür geschätzt wird, dass sie keinerlei äußerlicher Zwecksetzung folgt, bietet aufgrund ihrer weiten Verbreitung und einer gesellschaftlich institutionalisierten Pflege hierfür beste Voraussetzungen. Im Laufe der letzten Jahrhunderte haben sich vielfältigste Geselligkeitsformen herausgebildet: zu erwähnen ist der small talk in Restaurants und Cafés, die zuweilen noch zelebrierten sonntäglichen Familienzusammenkünfte, Veranstaltungen aller Art, wie Bälle, Empfänge, Tanzabende, Banketts, Partys, Sportmeetings, Wohltätigkeitsfeste, Aufführungen im Theater oder in der Oper, Spaziergänge oder zuweilen die Bierbüchsen verzehrenden Treffen an Tankstellen oder in Parkanlagen. Weiterhin sind natürlich die berühmten großbürgerlichen Salons, Geheimgesellschaften, Freimaurerlogen, Lesegesellschaften, Akademien des 18. Jahrhunderts oder das auf die Spitze getriebene deutsche Vereinswesen zu erwähnen. Bemerkenswert ist, dass das gesellige Miteinander nicht nur eine gewisse Ähnlichkeit mit sozialen Netzwerken aufweist, sondern häufig Ausgangspunkt und Treibmittel für Vernetzungsvorgänge ist. Interaktive Geselligkeit kann als eine Sozialform angesehen werden, bei der es sich nicht nur für den Moment lohnt, beiwohnen zu dürfen. Sie kann vielmehr als Ausgangspunkt für weit reichende Kooperationsbeziehungen angesehen werden, wobei nicht uner201
wähnt bleiben darf, dass der Kreis der potenziellen Kooperationspartner zunächst auf diejenigen beschränkt bleibt, die miteinander das gesellige Beisammensein gesucht und gefunden haben. In dieser Hinsicht wird ein Unterschied zum Netzwerk deutlich. Obwohl Geselligkeit als ein bedeutender Ausgangspunkt für Vernetzungsvorgänge anzusehen ist, bleiben die im System selbst gesuchten und etablierten Beziehungen auf jeweils ausgewählte Personen beschränkt. Nicht selten wiesen und weisen sie exklusive oder gar elitäre Züge auf, wobei elitär hier so zu verstehen ist, dass die von den Teilnehmern geschätzte Herausgehobenheit in der Interaktion produziert und zelebriert wird. Die zwischenmenschlichen Verkehrskreise schließen sich. Auf der Grundlage einengender Verhaltensstandards verkehrt man häufig nur unter Seinesgleichen. Abgesehen davon, in welchen Formen sie sich ausprägt, welche besonderen Verhaltensweisen partizipierender Individuen vorausgesetzt werden, weist Geselligkeit eine weitere Funktionalität auf. Neben der Genusserfahrung, der Entbindung von externen Zwecksetzungen wird dem Individuum die Bearbeitung des Problems der „Inkommunikabilität der Icherfahrung“ ermöglicht (Luhmann 1993a: 254). Über die Teilnahme an geselliger Beziehungsarbeit wird es möglich, sich als Individuum zu erfahren. Man wird in die Lage versetzt, sich eine auch anderenorts durchzuhaltende Identität aufzubauen. Das gelingt nur, wenn eine Reduktion in zweierlei Hinsicht erfolgt, auf Seiten der Menschen wie auf Seiten der Kommunikation. Obwohl die Betonung der Person möglich und wichtig ist, wird eine gewisse Zurücknahme von Individualität zur Schonung des ungestörten Beisammenseins benötigt. Der Einsatz von Takt und Diskretion wird notwendig, denn die gesellige Interaktion, die nur intern über die Beiträge der Beteiligten zu regulieren ist, erfordert „die Herabsetzung der persönlichen Zugespitztheit und Selbstherrlichkeit“ (Simmel 1911: 4). Gesellige Interaktion gelingt demzufolge nur, wenn äußere und innere Bedingungen auf spezifische Weise ein Wechselwirkungsverhältnis eingehen. Geselligkeit als „Spielform der Vergesellschaftung“ (Simmel 1984) forciert auf diese Weise die Stimulierung von Zugänglichkeit. Erstens kann die eigene Persönlichkeit von der Interaktion mit hoch geschätzten Gesprächspartnern profitieren: in der konkreten Wechselbeziehung selbst und dadurch, dass man innerhalb eines exklusiven Personenkreises verkehrt, was durchaus auch von Außenstehenden gesehen und geschätzt werden kann. Zweitens bietet die gesellige Kommunikation reichhaltige Chancen für separat laufende Interaktionskarrieren an. Drittens können sich derartige Zusammenkünfte als Fundament weit reichender Beziehungsnetze erweisen. Nicht zufällig wird networking zu einem relevanten Bestandteil moderner Geselligkeit. Eine methodisch und systematisch angeleitete Kontaktund Beziehungspflege findet immer häufiger Eingang in Beratungs-, Coaching- und Seminarveranstaltungen. Angeraten wird, verstärkt auf die eigene Vorgehensweise zu achten: hinsichtlich der Kontaktsuche, -aufnahme, bei der Informationsaufnahme, -sammlung und systematischen Aufbereitung (Mackay 1997; Scheler 2000: 22ff.). Auch fehlt es nicht an Hinweisen, kommunikativ wirksame Stilmittel zu kreieren und zu nutzen, die in der Interaktion strategisch eingesetzt werden sollen. Networking setzt aber mehr voraus als das Sammeln und Auswerten von Visitenkarten. Unabhängig davon, ob jeder Ratschlag zu erwünschten Effekten führt, ist nicht mehr zu übersehen, dass verstärkt auf den systematischen Einsatz von networking hingearbeitet wird, mittlerweile weit über „Lions“, „Rotary“ oder exklusive Golf-Clubs hinausgehend (siehe weiterführend Burt/Hogarth/Michaud 2000; Inoguchi 2001; Lin/Fu/Hsung 2001; Putnam 2001) 202
In sozialen Arrangements, die sich selbst unter den Vorzeichen instrumenteller Sozialkapitalverwertung beobachten, wird man damit rechnen können, von anderen als Person verstärkt daraufhin beobachtet zu werden, ob man in gewissen Hinsichten strategisch nutzbar und einsetzbar eingeschätzt wird, das heißt nichts anderes, als dass man daraufhin beobachtet werden kann, ob man als personale Adresse aktuell oder künftig interessant erscheint. Diese stark auf Beobachtungen durch und Bewertungen über Personen bezogene Orientierung übersieht aber ein sozialpragmatisches Erfordernis für soziale Netzwerke. Nicht auf der Basis von Einzelakteuren, die sich für besonders relevant halten, sondern in der Interaktion müssen die Funktionsvoraussetzungen von sozialen Netzwerken erarbeitet und reproduziert werden.24 Vor allem kommt es auf die im Normalfall intransparent bleibende Konstruktion der Referenten an. Vor allem sind es attentionale Aktivitäten (und nicht allein Kommunikation) der beteiligten Psychen sowie der hierbei wirksamen Interaktionen unter Anwesenheit, die Bezugspunkte für soziale Orientierungsprozesse produzieren. In diesem komplizierten Geschehen entstehen Adressaten der Zurechnung, die in eine vereinfachte Form gebracht werden müssen (grundlegend Markowitz 1986). Objekte oder personale Referenten werden immer in Beziehung zu anderen Bezugspunkten gesetzt. Personen, als ein Resultat identifizierende und konstituierender Prozesse werden auf diese Weise zu Bezugspunkten sinnhafter Orientierung. Die das Handeln beeinflussenden Ordnungsmuster beinhalten folglich sowohl Hinweise auf personale Referenten, markierte Zugänge als auch unterstellte Relationen zwischen den Referenten. Dieses interaktiv gefertigte Orientierungsgefüge ordnet den beteiligten Referenten (Personen) zugleich spezifische Zugänglichkeiten zu, die in der Interaktion auf Praktikabilität hin getestet werden können (Markowitz 1987: 484). Wie bei allen attentionalen Aktivitäten ist von einer selektiven Konstruktion von Bezugspunkten auszugehen. Ein Individuum (oder ein Netzwerk) wird nie in seinem, der sinnlichen Orientierung zugänglichen, Umfang – das heißt in seiner gesamten Persönlichkeit (Struktur) – erfasst, angesprochen oder deponiert. Auch hier wird vereinfacht. Das Konstrukt des Akteurs bzw. der Person ist folglich nicht als Voraussetzung, sondern als Ergebnis des Zusammenspiels von Interaktion und Kommunikation anzusehen. Und erst aus denjenigen Erfahrungen, die in einem System anfallen und personenkonstituierend zugerechnet werden, entstehen jene systemtranszendierenden Erwartungen, die zwar als Material der Netzwerkbildung fungieren, aber nicht schon von vornherein Netzwerke sind. Zu Netzwerken fügen sich diese Erwartungen erst, wenn sie überformt und gekoppelt werden. Erforderlich ist ein Gefüge von Referenten, das den Teilnehmern signalisiert, „mit welchem Kreis von Teilnehmern zu rechnen ist, welche Verweilformen für die Dauer des Dazugehörens als legitim gelten und welche nicht, ob die Kriterien der Zugehörigkeit auf bestimmte Intentionen (Verhältnis) oder auf bestimmte Personen (Beziehung) abzielen“ (Markowitz 1987: 496). Hoch bedeutsam ist also die interaktiv hergestellte Matrix, die das intransparente Geschehen sozialer Systeme für die Beteiligten in eine handhabbare Form zu überführen er24
Dringend geboten wäre an dieser Stelle die interaktionstheoretische Ausarbeitung des Verhältnisses von Wahr-
nehmung und Kommunikation sowie auf dieser Grundlage die Reflexion der Relationen von Interaktion und Organisation sowie von Interaktion und Gesellschaft. Leider weist die Soziologie hier mehr als nur eine Leerstelle auf.
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laubt. Dieses Gefüge aus Referenten und Relationen kann als das strukturelle Korrelat interaktiver Prozesse angesehen werden. Der zunächst individuell vorgenommene Entwurf des Anderen, in dem über das eigene Selbst und die Identität des anderen disponiert wird, verlagert sich sehr schnell in das Interaktionsgeschehen selbst hinein und dieses wird durch Akte des sich interaktiv vollziehenden Referierens bestimmt. Die schon erwähnten Adressen, vor allem Namen von Personen, aber auch die von Organisationen fungieren als Orte der Sinnbildung, an ihnen lagern sich Erfahrungen mit Kommunikation, resp. Interaktion an, die in künftigen, d.h. anderen Zusammenhängen auf die eine oder andere Art genutzt werden können (Stichweh 2000: 221). Netzwerkbildung setzt zwar Zuweisung eines Namens und komplexe Adressbildung voraus, sie kommt aber erst dann in Gang, wenn weitere Prozesse der Erwartungsbildung hinzutreten. Erforderlich wird u.a. die Personalisierung des Anderen, also die Überführung von flüchtigen Kontakten in näher bestimmbare Bekanntschaften. Der Andere wird hier mit Eigenschaften und Verhaltensweisen ausgestattet, die es erlauben, diesen auch unter anderen Umständen auf der Basis persönlicher Vertrautheit ansprechen zu können. Die Matrix25 als Gefüge von Interaktionspartnern bildet sich somit auf der Basis interaktiver Prozesse von Intention, Attention und Identifikation (Markowitz 1986). Netzwerke können dann an der Matrix interaktiven Geschehens abgegriffen werden, aber zugleich entziehen sich Netzwerke dem lebensweltlich eingestellten Beobachter. Netzwerke liefern also selbst Anhaltspunkte, die bei der Orientierung helfen können, sie vermitteln darüber hinaus, in dem sie die Komplexitätszumutungen sozialer Systeme lebensweltlich anschlussfähig machen. Zum Abschluss kann festgehalten werden, dass eine Stabilisierung dann wahrscheinlich ist, wenn es gelingt, im Beziehungsnetzwerk tragfähige, das heißt wechselseitig geteilte Erwartungen auszubilden. Vertrautheit und Vertrauen sind hier Funktionsvoraussetzung. Ihr Fungieren muss auf der Basis von Interaktion sichergestellt werden, genauer im Kontext wiederkehrender Interaktionen sind Vertrautheit und Vertrauen aufzubauen und zu reproduzieren. Netzwerkbildende Effekte sind dann zu erwarten, wenn in der Interaktion eigenständige, an der Individualität der Personen orientierte Gesichtspunkte in den Vordergrund rücken, was auch heißt, die Rationalität der Teilsysteme oder auch die Entscheidungsprämissen der Organisation in den Hintergrund zu stellen beziehungsweise ganz außer Acht zu lassen.
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Genau genommen erhebt die Netzwerkanalyse die soziale Matrix und übersieht hierbei mit einer unnachahmli-
chen Ignoranz die vielfältigen Voraussetzungen, die diese Matrix in ein soziales Netzwerk transformiert.
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Netzwerkforschung auf einem Auge blind? Ein Beitrag zur Rolle von Netzwerken bei Stellenbesetzungsprozessen Anja Kettner und Martina Rebien
1
Abstract
Die bereits publizierten empirischen Studien zur Bedeutung Sozialer Netzwerke am Arbeitsmarkt befassen sich überwiegend mit der Perspektive von Arbeitssuchenden, die Arbeitgeber werden selten in den Fokus genommen. So liegt bislang auch für Deutschland keine repräsentative Untersuchung über die Bedeutung der Netzwerke aus Sicht der Betriebe vor, die offene Stellen besetzen wollen. Diese Forschungslücke soll mit den hier vorgestellten Analysen verringert werden. Verwendet werden gesamtwirtschaftlich repräsentative Daten der IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots. Sie zeigen, welche Firmen Netzwerkinformationen nutzen, um Stellen zu besetzen, welche Stellen auf diesem Wege besetzt werden und welche Vorteile sich aus dem Nutzen sozialer Netzwerke ergeben. Zwar agieren auch wir auf einem Auge blind, da wir ausschließlich die betriebliche Sichtweise abbilden. Dennoch betrachten wir unsere Untersuchung als einen ersten Schritt hin zu Analysen, die alle Akteure in die Betrachtung einschließt.
2
Einleitung
Die informelle Suche nach Personal hat in vielen Unternehmen in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen (vgl. Kettner/Spitznagel 2008). Das ist wenig überraschend, bedeutet die Suche über persönliche Kontakte und Netzwerke im Vergleich zu den klassischen Wegen, wie beispielsweise die Suche über Inserate, doch einerseits geringere Kosten und andererseits eine möglicherweise passendere Auswahl an Bewerbern. Die ökonomische und die soziologische Netzwerkforschung legen bislang ihren Fokus vor allem auf die Seite der Arbeitsuchenden, wenn es um die Rolle von Netzwerken bei Stellenbesetzungen geht. Es mag dem Mangel an Daten geschuldet sein, dass die Perspektive der Arbeitgeber bis dato wenig untersucht ist. So liegt beispielsweise für Deutschland keine repräsentative Studie vor, die die Rolle sozialer Netzwerke aus Sicht von Betrieben analysiert. Um die Rolle sozialer Netzwerke bei der Stellensuche und bei Stellenbesetzungen zu erfassen, ist es unerlässlich, alle Akteure in diesen Netzwerken zu betrachten: Arbeitsuchende, Unternehmen und Personen, die Informationen über offene Stellen oder Informationen über potentielle Bewerber weitergeben. Netzwerke von Arbeitsuchenden, die auch diese Mittelspersonen einschließen können, wurden bereits umfänglich untersucht. Die Kontakte sind vor allem dann hilfreich, wenn die Personalverantwortlichen in Betrieben mit offenen Stellen bereit sind, über Netzwerke nach Personal zu suchen bzw. bereit sind, Empfehlungen Dritter über potentielle Kandidaten zu berücksichtigen. Denkbar sind aber auch
Fälle, in denen Personalverantwortliche persönlichen Empfehlungen bewusst nicht folgen wollen. Die Entscheidung über die Nutzung von Netzwerkkontakten wird von strategischen Überlegungen eines Betriebes bestimmt, ebenso von der Art der zu besetzenden Stelle und der allgemeinen Bewerberlage am Arbeitsmarkt. Wie Montgomerys Homophilie-Argument zeigt, empfehlen Beschäftigte in ihrem Betrieb häufig Personen, die ihrem eigenen Charakter ähnlich sind (Montgomery 1991). Dies kann für das personalsuchende Unternehmen einerseits von Vorteil sein, weil es davon ausgehen kann, dass die empfohlene Person in Hinblick auf ihre Kenntnisse, Erfahrungen und Arbeitseinstellungen gut zum Unternehmen passt. Andererseits werden mitunter Personen gesucht, die von den bestehenden Denk- und Handlungsmustern abweichen, z.B. weil sich das Unternehmen durch erhöhten Marktdruck verändern und in neue Marktsegmente vordringen muss. In diesem Fall wird es Suchstrategien bevorzugen, die ihm eine Auswahl an Kandidaten mit anderem oder ungewöhnlichem Background versprechen, was eher bei der Bewerbersuche über Zeitungsanzeigen oder das Internet der Fall sein dürfte, weil über sie eine größere Zahl potentieller Kandidaten erreicht werden kann. Die unternehmerische Entscheidung über die Nutzung von sozialen Netzwerken beeinflusst sowohl die Stellenbesetzung selbst als auch den möglichen Erfolg von Arbeitssuchenden, die in den relevanten Netzwerken agieren. Die Interessen der Akteure sind unterschiedlich, aber ihre Handlungen und vor allem der Erfolg ihrer Handlungen (Finden eines Arbeitsplatzes aus Sicht des Arbeitsuchenden und Besetzung einer offenen Stelle aus Sicht von Unternehmen) sind davon abhängig, welche Akteure über das Netzwerk erreicht werden können und wie diese Akteure sich verhalten. Ohne gleichzeitige Berücksichtigung aller Akteure muss Netzwerkforschung beim Thema Stellenbesetzungen auf einem Auge blind bleiben. Studien, die nur Arbeitsuchende in den Fokus nehmen, sind ebenso Grenzen gesetzt wie den Studien, die nur die betriebliche Perspektive auf soziale Netzwerke beschreiben. Auch der hier vorgestellten Untersuchung bleiben diese Grenzen auferlegt, dennoch können wir mit ihr die Netzwerkforschung für den deutschen Arbeitsmarkt entscheidend bereichern. Erstmals werden repräsentative Betriebsdaten über die Bedeutung Sozialer Netzwerke bei Stellenbesetzungen vorgestellt und analysiert. Grundlage dafür sind Auswertungen der IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots, einer repräsentativen Befragung von Betrieben und Verwaltungen aller Wirtschaftssektoren und Größen zum Verlauf von Stellenbesetzungsprozessen. Unsere Ergebnisse verdeutlichen die hohe Relevanz und den Nutzen der Netzwerke aus der unternehmerischen Perspektive. Teilweise widersprechen unsere Ergebnisse bereits vorliegenden Hypothesen der Netzwerkforschung, was in Zusammenhang mit der Vielzahl der vorliegenden Studien nur erneut darauf hinweist, wie wichtig die Einbeziehung aller Akteure eines Netzwerkes ist, will man belastbare Aussagen über seine Form und seine Wirkungsweise ableiten. Unsere Untersuchung beleuchtet die Seite der Arbeitgeber auf Basis von Informationen über tatsächlich erfolgte Neueinstellungen. Zwar agieren auch wir auf einem Auge blind, da wir ausschließlich die betriebliche Sicht darstellen. Dennoch betrachten wir unsere Untersuchung als einen ersten Schritt hin zu Analysen, die tatsächlich alle Akteure in die Betrachtung der Sozialen Netzwerke einbeziehen können. Bevor wir unsere Forschungsergebnisse vorstellen, beschreiben wir im folgenden Abschnitt 2 den Stand der Netzwerkforschung in Hinblick auf die Arbeitsuchenden und in
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Hinblick auf Unternehmen. Unser Hauptaugenmerk liegt dabei auf Aspekten, über die in der Forschung bislang keine Einigkeit besteht. In Abschnitt 3 stellen wir die IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots und die verwendeten Daten vor. Es folgen Analysen darüber, welche Unternehmen Netzwerkkontakte nutzen, für welche Stellen über Netzwerkkontakte nach Personal gesucht wird, welche Personen eingestellt werden, wenn diese Suchstrategie gewählt wird und welche Vorteile sich aus dieser Form der Personalsuche für die Unternehmen abzeichnen. Mit Vorlage unserer Ergebnisse hoffen wir auf eine Bereicherung der Diskussion um den Nutzen sozialer Netzwerke bei Stellenbesetzungen. In Abschnitt 5 geben wir eine Zusammenfassung unserer Studie und einen Ausblick auf notwendige weitere Forschungsschritte.
3
Stellenbesetzung über soziale Netzwerke – ein selektiver Überblick
3.1 Die Perspektive der Arbeitsuchenden Soziale Netzwerke beeinflussen die Suche nach einem Arbeitsplatz ganz wesentlich. Abhängig von den daraus zu erwartenden Kosten und Nutzen wählen Arbeitsuchende unterschiedliche Suchstrategien und eine unterschiedliche Suchdauer (Layard/Jackman 2005). Franzen und Hangartner (2006) konnten auf Basis einer Stichprobe von 8.000 Schweizer Hochschulabsolventen zeigen, dass sich die Suchzeit beim Einsatz sozialer Netzwerke um etwa zwei Wochen verringert. Die Zahl der Bewerbungen war geringer und die Arbeitsuchenden haben eine geringere Anzahl von Vorstellungsgesprächen durchlaufen. Die Nutzung von Netzwerkkontakten zeigt sich also als kostengünstige Alternative zu anderen Suchwegen, vorausgesetzt, dass diese Kontakte bestehen und genutzt werden können. Arbeitsuchende mit unterschiedlichem Qualifikationshintergrund setzen soziale Netzwerke erfolgreich bei der Arbeitsplatzsuche ein. Dies zeigen z.B. Granovetter (1995) und Holzer (1996) für jeweils unterschiedliche Regionen in den USA. Laut Granovetter konnten in der Region Boston rund 56 Prozent aller Facharbeiter, Techniker und Manager einen neuen Arbeitsplatz über persönliche Kontakte finden. Holzer nahm in seiner Untersuchung Arbeiter ohne College-Abschluss in mehreren Regionen der USA in den Fokus und fand heraus, dass etwa 30 bis 40 Prozent von ihnen ihren Job über Netzwerkkontakte bekommen haben. Zahlreiche Studien beschäftigen sich mit der Frage, ob Arbeitsuchende, die soziale Netzwerke nutzen, eine höhere oder geringere Qualifikation haben, als Arbeitsuchende, die andere Wege der Stellensuche nutzen. Lin (1999) bewertet die berufliche Position der Kontaktperson in einem Netzwerk als soziales Kapital des Suchenden. Besser ausgebildete Kontaktpersonen verfügen über ein höheres soziales Kapital und dürften somit Einfluss darauf haben, dass sich der Arbeitsuchende in seinem neuen Job beruflich verbessert. Folgt man Lins Argumentation, so dürften vor allem hochgebildete Personen mit einer Menge an höherem Sozialkapital ihre neue Stelle über soziale Netzwerke finden. Er geht weiterhin davon aus, dass soziales Kapital vor allem dann wichtig ist, wenn es um Positionen geht, für die soziale Kompetenzen und Kontakte eine wichtige Rolle spielen. Im Gegensatz dazu fanden Ioannides und Loury (2004) in ihrer Panel-Studie zu Einkommensdynamiken für das Jahr 1993 heraus, dass es eher die geringqualifizierten Arbeitslosen sind, die ihre sozialen Netzwerke zur Arbeitsuche nutzen. Eine mögliche Hypothese 211
könnte darin bestehen, dass höher qualifizierte Personen über höheres Sozialkapital verfügen und so Informationen über offene Stellen häufig auch passiv erhalten. Sie nutzen Netzwerkkontakte seltener aktiv, während Geringqualifizierte bestehende Kontakte häufiger bewusst aktivieren und auch in Befragungen durch die Forschung entsprechend hervorheben. Eng damit verbunden ist die Frage, ob es eher die Arbeitslosen oder eher die Beschäftigten sind, die eine neue Stelle über soziale Netzwerke finden. Heutzutage scheint die Hypothese allgemein anerkannt zu sein, dass Beschäftigte einen besseren Zugang zu für die Jobsuche hilfreichem Sozialkapital besitzen als Arbeitslose, die vom Arbeitsleben weiter entfernt sind. Bramoulle und Saint-Paul (2004) kreierten ein Minimalmodell in dem sie Akteure mit ähnlichen Charakteristiken und ähnlichen Jobwünschen beobachteten. Sie fanden heraus, dass eine Verbindung zu beschäftigten Personen für arbeitslose Personen die Chancen erhöht, einen neuen Arbeitsplatz zu finden und dass sich die Dauer der Arbeitslosigkeit negativ auf die Zahl der Verbindungen zu Beschäftigten auswirkt. Die Möglichkeiten einen Job über soziale Netzwerke zu finden, nehmen für Arbeitslose also mit der Zeit ab. Darüber hinaus ist es offensichtlich, dass nicht nur die Zahl der sozialen Kontakte, über die ein Arbeitsloser verfügt, von Bedeutung für die Arbeitsuche ist, sondern auch die Position der Kontaktpersonen am Arbeitsmarkt. Ob soziale Netzwerke einen positiven oder negativen Einfluss auf Verdienst und Prestige der neuen Stelle haben, ist bislang offen. De Graaf und Flap (1988) nutzen amtliche Statistikdaten aus Deutschland, den Niederlanden und den USA, um zu zeigen, dass die Nutzung sozialer Netzwerke nicht automatisch zu besseren Positionen und höheren Verdiensten führt. Pellizzari (2004) nutzte das European Community Household Panel (ECHP) und das National Longitudinal Survey of Youth (NLSY), um Belege zu diesem Thema zu finden. Sie kam zu den gleichen Ergebnissen und erklärte, dass “(…) informal search channels not always lead to significantly better paid jobs (…)” (Pellizzari 2004:24). Andere Autoren argumentieren, dass aus unterschiedlichen Gründen nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob soziale Netzwerke einen Effekt auf den Verdienst haben, und falls es einen Effekt gibt, ob dieser positiv oder negativ ist. Mit Hilfe suchtheoretischer Modelle fand Montgomery (1992) heraus, dass nicht die sozialen Netzwerke selbst unbedingt zu einem höheren Einkommen führen müssen, sondern vielmehr die Zahl der Stellenangebote, über die ein Arbeitsuchender Informationen erhält. Er verweist besonders auf Granovetters Arbeiten zu den Vorteilen der “schwachen Beziehungen” am Arbeitsmarkt1 und argumentiert, dass jemand umso mehr Informationen über offene Stellen erhält, je größer sein soziales Netzwerk ist. Dabei bleibt stets zu berücksichtigen: Nicht die Netzwerkkontakte selbst, sondern die Zahl der geeigneten offenen Stellen, über die Informationen vorliegen, entscheidet über den Anspruchslohn und damit über Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz eines konkreten Angebots. Während vergleichsweise viele Studien über Nutzung und Erfolg Sozialer Netzwerke bei Arbeitsuchenden vorliegen, von denen hier nur einige selektiv zitiert wurden, gibt es nur wenige Studien über die zweite Gruppe der wichtigsten Akteure der hier relevanten Netzwerke: Arbeitgeber bzw. personalsuchende Unternehmen. 1
Granovetter argumentiert in seiner Arbeit „The Strength of Weak Ties: A Network Theory Revisited”, dass
schwache Kontakte einen besseren und reicheren Informationsfluss für die Akteure in Netzwerken gewährleisten und somit zu mehr Informationen über offene Stellen zugänglich sind (1983).
212
3.2 Die betriebliche Perspektive Nicht nur für Arbeitsuchende, sondern auch für personalsuchende Betriebe können Netzwerkkontakte von Vorteil sein. Genau wie die Entscheidungen über Produktionsprozesse unterliegen auch die Entscheidungen über die Strategien der Personalsuche einer KostenNutzen-Analyse der möglichen Alternativen. Betriebe dürften sich dann für die Personalsuche über Soziale Netzwerke entscheiden, wenn sie damit schneller und billiger Personal finden und/oder wenn sie darüber eine bessere/passendere Auswahl an Bewerbern erhalten. Kostenersparnisse durch eine Reduktion der administrativen Kosten ermittelte Marsden (2001) unter Verwendung von Daten des National Organizations Study (NOS). Firmen, die Mitarbeiter über Netzwerke suchen, sind demnach weniger auf Beschäftigte in der Personalverwaltung angewiesen, haben geringere monetäre Aufwände bei der Personalsuche und sie sparen Arbeitszeit in der Personalverwaltung. Gerade für kleinere Firmen dürfte die Personalsuche über Netzwerke also attraktiv sein, denn die relativen Kosten der traditionellen Suchwege, wie z.B. über Zeitungsanzeigen, gefolgt von zum Teil aufwändigen Verfahren zur Auswahl der geeigneten Person unter allen Bewerbungen, sind für sie besonders hoch. Marsden konnte außerdem zeigen, dass Firmen oftmals hochqualifizierte Personen über soziale Netzwerke rekrutieren (Marsden 2001). Dem gegenüber stehen die Ergebnisse von Holzer aus dem Jahr 1996. Er fand mit der Multi-City Study of Urban Inequality (MCSUI) heraus, dass soziale Netzwerke für Firmen besonders dann von Vorteil sind, wenn sie Personal rekrutieren wollen, das über keine besonderen kognitiven oder sozialen Fähigkeiten verfügen muss (Holzer 1996). Ob eher hoch- oder geringqualifizierte Personen auf diesem Weg gesucht werden bzw. eine Stelle finden, ist noch nicht abschließend geklärt, weder aus Perspektive der Arbeitsuchenden, noch aus einer betrieblichen Perspektive. Eine andere offene Frage betrifft die Matchingqualität von Arbeitsuchenden und offenen Stellen bei der Nutzung sozialer Netzwerke. Als Matching bezeichnet man in der Ökonomie das erfolgreiche Zusammentreffen einer offenen Stelle mit einem Arbeitsuchenden, so dass es zu einer Einstellung kommt. Zahlreiche Studien beschäftigen sich mit der Frage, was dieses Matching (die Zahl der Einstellungen) und die Matchingqualität (wie gut passen offene Stellen und Bewerber bzw. eingestellte Personen zueinander) positiv beeinflusst (Petrongolo/Pissarides 2001). Die Strategien der Personalsuche, wozu auch die Nutzung von Netzwerkkontakten gehört, sind in diesem Zusammenhang allerdings noch nicht hinreichend untersucht. Erste Studien aus der Soziologie liegen jedoch vor, beispielsweise von Fernandez et al. (2000). Sie evaluierten die Besetzungsprozesse in einem Call Center und stellten drei Hypothesen über die Vorteile von Netzwerken auf: (a) Soziale Netzwerke eröffnen einen reichhaltigeren Pool an Kandidaten, (b) Stellen und Bewerber passen besser zusammen und (c) neue Mitarbeiter, die über soziale Kontakte gefunden wurden, bedeuten eine soziale Bereicherung, da sie von vornherein eine bessere Verbindung zu (Teilen) der Belegschaft haben. Die Forscher konnten lediglich Beweise für Hypothese (a), einen reichhaltigeren Kandidatenpool, finden; die beiden anderen Hypothesen konnten sie in dieser Untersuchung nicht bestätigen (Fernandez et al. 2000). Montgomery (1991) argumentiert, dass hoch motivierte und qualifizierte Personen vor allem Kontakt zu solchen Personen haben, die ihnen in diesen Eigenschaften ähneln. Folglich werden Firmen mit einem hohen Anteil motivierter und qualifizierter Mitarbeiter aus dem Gebrauch ihrer Netzwerke einen hohen Nutzen ziehen können, da die Wahrscheinlich213
keit eines besseren Matches von Arbeitsuchendem und offener Stelle erhöht wird. Auch aus Sicht der Arbeitsuchenden fanden Franzen und Hangartner (2006) heraus, dass die Nutzung sozialer Netzwerke bei der Stellenbesetzung zu besseren Matches führt, da Anforderungen der Stelle und Kenntnisse der eingestellten Person in Bezug auf den (Aus-) Bildungsstand besser zueinander passen. Einige Autoren haben sich aus der betrieblichen Perspektive heraus der Frage gewidmet, ob sich der Nutzen sozialer Netzwerke bei der Personalrekrutierung in besser bezahlten Stellen und einem höheren Prestige der Stelle niederschlägt. De Varo (2008) verwendete die gleichen Daten wie Holzer in Jahr 1996 und konzentrierte sich dabei auf Angestellte. Er schlussfolgerte: “(…) secretaries hired via informal methods are hired faster and at lower starting wages than those hired via formal methods (…)” (De Varo 2008 :309). Marsden (2001) fand heraus, dass nicht der Nutzen irgendeines Netzwerkes für Firmen von Interesse ist, sondern dass sie besondere Netzwerke brauchen, die ihnen qualitativ hochwertige Informationen über einen geeigneten Pool an Bewerbern anbieten. So können soziale Netzwerke Informationslücken schließen, die durch formale Methoden der Rekrutierung nicht geschlossen würden. Das führt Marsden zu der Überlegung, dass das Prestige einer Stelle, die über Netzwerke besetzt wurde, nicht unbedingt höher ist. Entscheidend ist der Status des Jobs selbst, nicht das soziale Netzwerk, das aktiviert wurde. Bis jetzt gibt es in der Literatur keine Einigkeit darüber, welche Art von Firmen verstärkt Netzwerke nutzen und welche nicht. Hohn und Windolf (1985) sowie Boxman (1992) fanden heraus, dass vor allem große Firmen bei der Stellenbesetzung von Netzwerkkontakten Gebrauch machen. Sie argumentieren, dass der Pool von Arbeitsuchenden, die in das Netzwerk eines großen Betriebes und seiner Beschäftigten einbezogen sind, größer ist, als bei kleinen Firmen (beide zitiert in Runia 2002). Die Ergebnisse von Sehringer zeigen das Gegenteil. In einer qualitativen Studie mit 23 Personalmanagern in Deutschland kam sie zu dem Ergebnis, dass vor allem kleine Firmen soziale Netzwerke nutzen, um Personal zu rekrutieren (Sehringer 1989). Sehringer nimmt an, dass kleine Firmen ihr Sozialkapital besser pflegen und engere Verbindungen zu Innungen, Kammern und untereinander haben (zitiert in Runia 2002). Innerhalb kleinerer Betrieben gibt es deutlich kürzere Informationswege. Die Informationsweitergabe kann dadurch schneller und gezielter erfolgen, was die Nutzung von Netzwerken erleichtert und attraktiver machen kann. Zur Frage, in welchen Wirtschaftssektoren soziale Netzwerke besonders oft genutzt werden, um offene Stellen zu besetzen, liegen nur wenige Ergebnisse vor. Mehrere überwiegend qualitative Studien deuten darauf hin, dass es vor allem Unternehmen im industriellen Sektor sind, weniger Betriebe im öffentlichen Sektor (vgl. Hartl et al. 1998; Runia 2002; Marsden 2001). Dies ist insofern plausibel, als dass Bewerbungsverfahren im öffentlichen Sektor häufig formalisiert sind. Abseits einer Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberperspektive verwendet White (1970) Daten über offene Stellen dazu, Netzwerke am Arbeitsmarkt zu identifizieren: „(…) Vacancy chains, over a period of years, could be used to map the network of jobs in the mobility neighborhood of a given arbitrary set (…)“ (White 1970:304). Hinweise auf Netzwerkverbindungen ergeben sich seiner Auffassung nach beispielsweise aus einer unterdurchschnittlichen Länge der Vakanz einer Stelle. Dies deutet auf eine vorbereitende Planung zur Besetzung der Stelle hin, was nahe legt, dass mögliche Kandidaten bereits zur Auswahl stehen. Jedoch gibt es eine Vielzahl anderer Faktoren, wie Charakteristika des Arbeitgebers, Charakteristika des regionalen Arbeitsmarktes oder der Stelle selbst, die die Dauer der 214
Stellenbesetzung beeinflussen. Verlässlichere Informationen über die Bedeutung von Netzwerken bei Stellenbesetzungen erhält man sicherlich durch direkte Befragungen der Akteure. Dieser kurze und selektive Überblick über den Stand der Literatur zeigt eine Zahl von Forschungsfragen, die in Hinblick auf die Rolle sozialer Netzwerke bei Stellenbesetzungen noch nicht vollständig geklärt sind. Im Folgenden wollen wir einen Beitrag zur laufenden Forschungsdiskussion leisten und Licht auf die Fragen werfen, welche Arten von Firmen soziale Netzwerke als Suchweg nach geeigneten Kandidaten nutzen. Wir untersuchen auch welche Positionen auf diesem Wege besetzt werden und welche Charakteristika (Geschlecht, berufliche Qualifikation etc.) die eingestellte Person hat.
4
Zur Datenbasis: Die IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots
Unsere Ergebnisse basieren auf Daten der Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) für die Jahre 2004 bis 2007. Ziel dieser Erhebung ist die Ermittlung von Informationen über Höhe und Struktur des Arbeitskräftebedarfs und über den Verlauf von Stellenbesetzungsprozessen. Dazu wird jeweils im vierten Quartal eines Jahres eine repräsentative Stichprobe von Betrieben und Verwaltungen aller Wirtschaftszweige und Größenklassen aus der Beschäftigtendatei der Bundesagentur für Arbeit gezogen. Unter anderem werden die kontaktierten Betriebe in der schriftlichen Befragung darum gebeten, den letzten Fall einer Einstellung innerhalb der vorangegangenen zwölf Monate im Detail zu beschreiben: Was für eine Stelle sollte besetzt werden? Auf welchen Wegen wurde nach potenziellen Kandidaten gesucht (eine Antwortkategorie betrifft die Nutzung sozialer Netzwerke)? Wie lange war die zu besetzende Stelle vakant? Gab es Schwierigkeiten bei der Besetzung der Stelle? Was für eine Person wurde eingestellt? Unterschied sie sich vom ursprünglich gewünschten Profil? Jährlich beantworten rund 8.000 Betriebe und Verwaltungen mit Neueinstellungen diese Fragen. Ihre Antworten werden in einem iterativen Verfahren auf die Gesamtwirtschaft hochgerechnet und sind repräsentativ für den Verlauf von Stellenbesetzungsprozessen in Deutschland.
5
Ergebnisse
5.1 Wie viele Neueinstellungen kommen über soziale Netzwerke zustande? Tabelle 1 zeigt die Bedeutung sozialer Netzwerke für die Besetzung offener Stellen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. In den Jahren 2004 bis 2007 haben Betriebe für etwa 40 Prozent aller Neueinstellungen potenzielle Kandidaten über Netzwerke gesucht.2 Damit gehörten Netzwerke neben den Anzeigen in Zeitungen zu den wichtigsten Suchwegen. Zwischen 27 Prozent (2007) und 34 Prozent (2006) aller Neueinstellungen kamen letztlich genau aufgrund dieser Kontakte zustande.
2
In der Erhebung werden soziale Netzwerke als „persönliche Kontakte und Mitarbeiterkontakte“ definiert.
215
Die wichtigsten Wege zur Stellenbesetzung in Deutschland 2004 Suchwege* (Auswahl) 35 Stellenanzeigen in Zeitungen, Zeitschriften etc. 32 Stellenanzeigen im Internet 35 Stellenanzeige bei der Bundesagentur für Arbeit 19 Interne Stellenausschreibungen 27 Auswahl aus einem Bewerberpool 41 Nutzung sozialer Kontakte über Mitarbeiter und Bekannte Besetzungswege (Auswahl) 18 Stellenanzeigen in Zeitungen, Zeitschriften etc. 8 Stellenanzeigen im Internet 15 Stellenanzeige bei der Bundesagentur für Arbeit 3 Interne Stellenausschreibungen 17 Auswahl aus einem Bewerberpool 28 Nutzung sozialer Kontakte über Mitarbeiter und Bekannte
2005
2006
2007
33 32 33 19 23 40
41 29 33 20 27 40
45 39 39 20 31 40
19 9 15 2 9 33
22 9 12 2 12 34
24 13 12 2 14 27
Quelle: IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots 2004 – 2007, Anteile an allen Neueinstellungen in den letzten 12 Monaten, * Mehrfachantworten möglich
5.2 Welche Betriebe suchen Bewerber über soziale Netzwerke? Etwa die Hälfte aller Firmen nutzt Netzwerkkontakte (siehe Tabelle 2) 3. Rund ein Drittel sucht ausschließlich über soziale Netzwerke nach geeigneten Kandidaten, ein Fünftel nutzt soziale Netzwerke parallel zu anderen Suchwegen, wie Anzeigen in Zeitungen oder die Meldung bei der Bundesagentur für Arbeit. Alles in allem können in den Jahren 2004 bis 2007 etwa 30 Prozent der Betriebe ihre offenen Stellen auf diesem Wege besetzen, was bedeutet, dass Betriebe bei Nutzung von Netzwerken damit auch recht erfolgreich sind.
3
Die Anteile sind jeweils berechnet als Summe der Betriebe, die ausschließlich Netzwerke nutzen, und Summe
der Betriebe, die Netzwerke parallel zu anderen Suchwegen nutzen.
216
Tabelle 2: Betriebe, die soziale Netzwerke nutzen, nach Betriebsgrößenklasse und Wirtschaftszweigen 2007 Westdeutschland Ostdeutschland Suche Suche Suüber Suüber Suche sozia- che sozia- che Suche nur le nur le nur nur über über Netz- über Netz- über soziale soziwerke andewerke andeNetzale und re und re werke Netz ande- Weande- Wewerre ge re ge ke Wege Wege Betriebsgrößenklasse: Bis 10 Beschäftigte 10 bis 49 Beschäftigte 50 bis 199 Beschäftigte Mehr als 200 Beschäftigte Wirtschaftszweige: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei Verarbeitendes Gewerbe, Energie Baugewerbe Handel, Gastgewerbe, Verkehr, Nachrichtenübermittlung Wirtschaftliche Dienstleistungen Private, soziale und öffentliche Dienstleistungen
32 25 8 5
20 24 30 27
48 51 62 68
40 27 9 3
25 27 30 24
35 47 61 73
36 33 34
17 20 17
43 46 46
43 29 46
20 24 19
36 45 32
27
23
46
38
20
37
21 24
24 21
54 52
24 24
33 30
38 45
Quelle: IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots 2007, Anteile an allen Neueinstellungen in den letzten 12 Monaten Sehr kleine Betriebe mit weniger als 10 Beschäftigten nutzen soziale Netzwerke als einzigen Suchweg deutlich häufiger als größere Betriebe (siehe Tabelle 2). Das trifft vor allem in Ostdeutschland zu, wo im Jahr 2007 etwa 40 Prozent dieser Betriebe ausschließlich Netzwerke zur Personalsuche nutzten und nur 35 Prozent gar nicht auf Netzwerke zurückgriffen. Gerade in kleinen Betrieben müssen neu eingestellte Personen gut zur Belegschaft und der Arbeitsweise des Betriebes passen, denn der unternehmerische Erfolg hängt von jedem Einzelnen und einer effizienten Teamarbeit ab. Die Personalverantwortlichen (häufig die Eigentümer) können in solch kleinen Betrieben die Leistungen der Einzelnen gut einschätzen und wissen, dass ein „guter“ Beschäftigter nur eine Person für eine offene Stelle vorschlagen wird, die gut in den Betrieb passt. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Matches (siehe das Homophilie-Argument von Montgomery 1991). Überraschend ist der hohe Anteil unter den Betrieben mit mehr als 200 Beschäftigten, die Netzwerke bewusst nicht als Rekrutierungsstrategie einsetzen (68 Prozent in Westdeutschland und 73 Prozent in Ostdeutschland), sondern die formalen Suchwege bevorzugen. Ein Blick auf die unterschiedlichen Wirtschaftszweige zeigt keine Bestätigung der Hypothese, dass Netzwerke vor allem im industriellen Sektor für die Personalrekrutierung 217
genutzt werden (siehe Abschnitt 2.2). Netzwerke sind in allen Sektoren von Bedeutung, im Osten noch mehr als im Westen, mit Ausnahme des Verarbeitenden Gewerbes, wo der Anteil der Betriebe, die diesen Weg nutzen, mit 55 Prozent sogar niedriger liegt als im Bau (68 Prozent) oder Handel/Gastgewerbe/Verkehr, Nachrichtenübermittlung (63 Prozent)4. Inwiefern die Gewinnsituation in den Betrieben und die allgemeine Arbeitsmarktlage, die sich zwischen Ost- und Westdeutschland noch immer beträchtlich unterscheiden, Erklärungsbeiträge für die Unterschiede in der Netzwerknutzung liefern, bedarf weiterer Analysen. Unsere Ergebnisse stützen teilweise die Ergebnisse von Marsden (2001), der eine häufige Nutzung sozialer Netzwerke im Bereich der Landwirtschaft und Fischerei mit dem eher geringen erforderlichen Qualifikationsniveau begründet. Die Betriebe sind bei diesen Stellen nicht bereit, viel Zeit und Geld in die Besetzung zu investieren, denn sie haben nur eine geringe Produktivität. Netzwerke versprechen hier eine kostengünstige Personalsuche. Dieses Argument mag auch für die Bereiche Handel/Gastronomie/Verkehr und das Baugewerbe von Bedeutung sein, seine Bestätigung bedarf jedoch weitergehender Analysen.
5.3 Für welche Positionen nutzen Betriebe soziale Netzwerke? In Abhängigkeit von der zu besetzenden Stelle wählen Betriebe unterschiedliche Wege, um nach Personal zu suchen. Anzeigen in Zeitungen und das Internet werden häufiger für Positionen genutzt, die eine hohe Qualifikation verlangen, während die Arbeitsagenturen und soziale Netzwerke öfter für Stellen eingesetzt werden, die geringere Qualifikationen verlangen. Für mehr als die Hälfte der Positionen, die keine Berufsausbildung verlangen, suchten Betriebe im Jahr 2007 über soziale Netzwerke (11 Prozent nutzten ausschließlich Netzwerke, 42 Prozent nutzten Netzwerke und andere Wege; siehe Tabelle 3), bei Stellen mit höheren Qualifikationsanforderungen waren die Anteile deutlich geringer. Betrachtet man, über welchen Rekrutierungsweg die neue Person letztlich gefunden wurde, so waren es laut Aussagen der Betriebe rund 36 Prozent der Neueinstellungen, für die kein Berufsabschluss notwendig war, die über Netzwerkkontakte zustande kamen. Bei Stellen, die einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss verlangen, lag der Anteil nur bei 18 Prozent. Die Studien von Holzer (1996) und Marsden (2001) kamen diesbezüglich zu voneinander abweichenden Ergebnissen. Unsere Daten unterstützen Holzers Aussagen. Allerdings können die Ergebnisse solcher Studien in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich ausfallen, da sich nicht nur die Arbeitsmärkte unterscheiden, sondern auch kulturelle Besonderheiten einen Einfluss auf die Art und Weise der Rekrutierung haben können. Je höher die formale Qualifikationsanforderung einer offenen Stelle ist, desto häufiger erwarten Betriebe Fähigkeiten wie soziale Kompetenz, Teamfähigkeit, Kommunikationsund Führungskompetenzen. Wenn eine oder mehrere dieser Kompetenzen verlangt werden, nutzen Betriebe häufiger soziale Netzwerke um einen Kandidaten zu finden, bei 63 Prozent solcher Positionen haben Firmen auf diesem Wege gesucht. Bewerbungsunterlagen und -gespräche bieten vielleicht nicht alle nötigen Informationen, ob ein Bewerber über diese Eigenschaften verfügt. Stattdessen können diese Informationen eher von einer Person be4
Die Anteile sind jeweils berechnet als Summe der Betriebe, die ausschließlich Netzwerke nutzen, und Summe
der Betriebe, die Netzwerke parallel zu anderen Suchwegen nutzen.
218
reitgestellt werden, die mit dem Kandidaten bekannt ist. Das gleiche gilt für Positionen, die eine längere Berufserfahrung verlangen, bei 62 Prozent solcher Stellen nutzten die Betriebe soziale Netzwerke. Darüber hinaus kann angenommen werden, dass Personen, die über längere Arbeitserfahrungen verfügen, älter sind und über eine große Anzahl von Kontakten zu anderen Beschäftigten, aber auch zu (früheren) Arbeitgebern verfügen. Tabelle 3: Die Nutzung sozialer Netzwerke nach Qualifikationsanforderungen der offenen Stelle 2007
Un-/angelernt Berufsabschluss Fachhochschulabschluss Hochschulabschluss
Suche nur über soziale Netzwerke
Suche über soziale Netzwerke und andere Wege
Suche nur über andere Wege
11 13 12 8
42 24 32 22
46 63 56 70
Quelle: IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots 2007, Anteile an allen Neueinstellungen in den letzten 12 Monaten
5.4 Welche Vorteile hat die Nutzung von Netzwerken für Betriebe? Soziale Netzwerke, die aktiviert werden, um einen neuen Job zu finden oder eine offene Stelle zu besetzen, können Suchkosten auf beiden Seiten des Arbeitsmarktes reduzieren. Für den Arbeitgeber bieten Netzwerkkontakte Informationen über den Bewerber, die aus den Bewerbungsunterlagen so nicht hervorgehen. Je mehr Informationen über einen Kandidaten verfügbar sind, desto besser kann ein Arbeitgeber dessen Fähigkeiten beurteilen und desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit der richtigen Bewerberauswahl. Für die Betriebe kann die Nutzung von Netzwerken nicht nur geringere Kosten bedeuten, sondern auch eine höhere Produktivität des neuen Mitarbeiters, wenn er gut zur Stelle passt. Diese Überlegungen werden von den Daten unserer Erhebung bestätigt: So vergingen bei der Personalsuche zwischen Beginn des Suchprozesses und der Entscheidung für einen Kandidaten in den Jahren 2004, 2006 und 2007 deutlich weniger Zeit, wenn die Stelle mit Hilfe von Netzwerkkontakten besetzt wurde (siehe Tabelle 4). Das Jahr 2005 war in Deutschland von einer sehr schlechten wirtschaftlichen Lage und hohen Arbeitslosenquoten geprägt. Im Durchschnitt benötigten die Betriebe ab Beginn der Suche nur 43 Tage für ihre Entscheidung für einen Kandidaten, bei einer Besetzung über Netzwerke waren es 45 Tage. Die beiden Folgejahre 2006 und 2007 waren von einem stark steigenden Arbeitskräftebedarf bestimmt, in denen die Firmen größere Schwierigkeiten hatten geeignete Bewerber zu finden. Die durchschnittliche Suchzeit stieg auf 49 Tage im Jahr 2006 (längste Suchdauer seit 2000), im Jahr 2007 betrug sie 48 Tage. Demgegenüber hat sich in diesen beiden Jah-
219
ren die Dauer der Stellenbesetzung über Netzwerke sogar verringert und lief damit dem allgemeinen Trend einer deutlichen Verlängerung der Besetzungsdauer entgegen. Tabelle 4: Dauer vom Beginn der Suche bis zur Entscheidung für einen Kandidaten
Besetzung über soziale Netzwerke Anderweitige Besetzung Gesamtdurchschnitt
2004 45 47 45
2005 45 42 43
2006 38 55 49
2007 41 49 48
Quelle: IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots 2004 - 2007, in Tagen Während sich in den Jahren 2006 und 2007 der Anteil der Neueinstellungen, die mit Schwierigkeiten verbunden waren, deutlich erhöhte, war dies bei Stellenbesetzungen über Netzwerke keineswegs der Fall. Wurde dieser Suchweg gewählt, war die Besetzung seltener problematisch. Tabelle 5: Neueinstellungen, die mit Schwierigkeiten verbunden waren
Besetzung über soziale Netzwerke Anderweitige Besetzung Gesamtdurchschnitt
2004 16 19 18
2005 16 20 19
2006 18 29 25
2007 16 33 27
Quelle: IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots 2004 – 2007, Anteile an allen Neueinstellungen in den letzten 12 Monaten Der Hauptgrund für Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung ist ein Mangel an der benötigten Qualifikation bei den Bewerbern (73 Prozent aller Schwierigkeiten im Jahr 2007). Mit 15 Prozent ist dieser Anteil erheblich geringer, wenn Netzwerkkontakte genutzt wurden, gegenüber anderen Besetzungswegen (83 Prozent). Ein weiterer Grund für Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung ist die Uneinigkeit von Arbeitsuchenden und Arbeitgebern über die Entlohnung (30 Prozent im Durchschnitt). Auch hier ist der Anteil geringer, wenn über Netzwerke eingestellt wurde (16 Prozent vs. 76 Prozent). Einen dritten wichtigen Punkt stellt die mangelnde Bereitschaft der Bewerber dar, die allgemeinen Arbeitsbedingungen der Stelle zu akzeptieren. Von diesem Problem waren die Betriebe in 25 Prozent aller Neueinstellungen, die Schwierigkeiten bereiteten, betroffen, deutlich öfter als bei Stellenbesetzungen, die über Netzwerkkontakte erfolgten. Ob sich Betriebe für eine Kandidatensuche über Netzwerke entschieden haben, weil sie von vornherein Schwierigkeiten bei der Personalsuche auf üblichen Wegen antizipiert haben oder ob eine Suche über Netzwerke dazu führt, dass kaum Schwierigkeiten bei der Personalsuche auftreten, muss an dieser Stelle ungeklärt bleiben. Die Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass Betriebe dahingehend von sozialen Netzwerken profitieren, weil sie kostengünstig sind, die Stellenbesetzung schneller geht als über andere Suchwege und weil es eine höhere Wahrscheinlichkeit gibt, dass der ausgewählte Kandidat zu den Anforderun220
gen der Stelle passt und mit den jeweiligen Arbeits- und Entlohnungsbedingungen einverstanden ist. So war es laut Aussagen der Betriebe bei neu eingestellten Personen, die über Netzwerke gefunden wurden, seltener notwendig, mehr Gehalt zu zahlen als ursprünglich geplant war. Tabelle 6: Vom Betrieb eingeplante Dauer der Personalsuche (vom Beginn der Suche bis zur Entscheidung für einen Kandidaten)
Suche nur über Netzwerke Suche über andere Wege und Netzwerke Suche nur auf anderen Wegen
2004 52 54 55
2005 52 62 49
2006 50 55 60
2007 47 51 55
Quelle: IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots 2004 - 2007, in Tagen Auswertungen der geplanten Zeit der Stellenbesetzung (vgl. Tabelle 6) liefern Argumente dafür, dass Betriebe Netzwerkkontakte vor allem dann nutzen, wenn sie eine Stelle besonders schnell besetzen wollen. So betrug in 2007 die geplante Dauer der Personalsuche vom Beginn der Suche bis zur Entscheidung für einen Bewerber rund 47 Tage, wenn ausschließlich über Netzwerke gesucht wurde. Es dauerte 51 Tage, wenn neben den Netzwerken noch andere Suchwege eingeschlagen wurden und 55 Tage, wenn nur über andere Wege gesucht wird.
5.5 Welche Personen werden über soziale Netzwerke eingestellt? Die Literatur zu Stellenfindung über soziale Netzwerke aus Sicht der Arbeitsuchenden kommt zu dem Ergebnis, dass vor allem Männer auf diesem Wege eingestellt werden (z.B. Ioannides/Loury 2004). Unsere Daten über alle Neueinstellungen in Deutschland weisen diesbezüglich keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen auf. So waren im Jahr 2007 rund 40 Prozent aller Neueinstellungen Frauen und rund 60 Prozent waren Männer. Letztere sind auf dem Arbeitsmarkt generell stärker repräsentiert. Unter den neu eingestellten Frauen wurden 26 Prozent über soziale Netzwerke eingestellt, bei Männern war der Anteil mit 27 Prozent etwa gleich hoch (siehe Abbildung 1). Aus Sicht der Arbeitsuchenden scheinen also beide Geschlechter gleichermaßen erfolgreich bei der Jobsuche über Netzwerke zu sein, ungeachtet der Tatsache, dass sich die Art der Netzwerke, in denen sich Männer und Frauen bewegen, voneinander unterscheiden dürften.
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Tabelle 7: Neueinstellungen über soziale Netzwerke nach Geschlecht
weiblich männlich
2004 27 29
2005 30 36
2006 35 33
2007 26 27
Quelle: IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots 2004 – 2007, Anteile an allen Neueinstellungen in den letzten 12 Monaten Häufig wird in der Literatur argumentiert, dass die Netzwerke Arbeitsloser weniger erfolgversprechend bei der Jobsuche sind, als die Netzwerke von Beschäftigten, und dass sich dies mit der Dauer der Arbeitslosigkeit noch verstärkt (Calvó-Armengol/Jackson 2004). Wie unsere Daten in Abbildung 2 zeigen, wurden im Jahr 2007 etwa 27 Prozent aus beiden Personengruppen mit Hilfe von sozialen Netzwerken eingestellt. In den Jahren davor unterschieden sich die Anteile geringfügig. Die genannte Hypothese kann damit nicht eindeutig gestützt werden. Arbeitslose mögen sich in anderen Netzwerken bewegen als Beschäftigte, aber der Anteil der Einstellungen über soziale Netzwerke unterscheidet sich nicht nennenswert zwischen den Gruppen. Allgemein zeigt die Bedeutung dieses Suchweges bei Stellen, die ein geringes Qualifikationsniveau voraussetzen, die hohe Bedeutung von Netzwerken für Arbeitslose, denn ein beträchtlicher Teil von ihnen ist gering qualifiziert. Die Erhaltung von Kontakten in die Arbeitswelt und die Schaffung neuer Kontakte, die am Arbeitsmarkt hilfreich sein können, könnten unter Umständen wichtiger sein als Trainingmaßnahmen, zumal soziale Netzwerke mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit an Wirkung verlieren (Bramoulle/Saint-Paul 2004). Tabelle 8: Neueinstellungen über soziale Netzwerke nach Staus vor der Einstellung
Vorher arbeitslos Vorher beschäftigt
2004 25 29
2005 36 32
2006 29 37
2007 27 27
Quelle: IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots 2004 – 2007, Anteile an allen Neueinstellungen in den letzten 12 Monaten.
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Fazit und Ausblick auf weitere Forschungsschritte
Die vorgestellte Untersuchung bietet nach unserem Kenntnisstand erstmalig gesamtwirtschaftlich repräsentative Informationen über die Nutzung sozialer Netzwerke aus der betrieblichen Perspektive für Deutschland. Sie zeigen einerseits die hohe Relevanz von Netzwerkkontakten für Arbeitgeber, die eine offene Stelle zu besetzen haben und nach passenden Kandidaten dafür suchen. Andererseits geben sie deutliche Hinweise darauf, dass die Nutzung von Netzwerken Stellenbesetzung erleichtern und zu einer besseren Auswahl eines passenden neuen Mitarbeiters führen kann.
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Unsere Analysen zeigen, dass vor allem kleine Firmen diesen Weg der Stellenbesetzung nutzen. Insbesondere werden Netzwerkkontakte eingesetzt, wenn es sich entweder um Positionen handelt, die ein geringes Qualifikationsniveau verlangen, oder aber um Positionen, die höhere Qualifikationen und gleichzeitig soziale Kompetenzen und/oder längerer Berufserfahrung erfordern. Wenn Firmen ihre Stellen über Netzwerkkontakte besetzen, so ist der Suchprozess kürzer als im Durchschnitt und bringt seltener Schwierigkeiten mit sich. Dies gilt sowohl für Schwierigkeiten aufgrund mangelnder Qualifikation der Bewerber, als auch hinsichtlich Unstimmigkeiten in Bezug auf die Entlohnung oder die allgemeinen Arbeitsbedingungen. Die Suche über Netzwerke ist damit im Durchschnitt weniger kostenaufwendig als die Suche über andere Wege und die Firmen profitieren mehr von der neu eingestellten Person, weil er oder sie besser passt. Diese Ergebnisse werfen etwas mehr Licht auf die Frage, welche Rolle die sozialen Netzwerke für Arbeitgeber mit offenen Stellen spielen können. Auf Seiten der Arbeitsuchenden mögen Netzwerke umfangreich und theoretisch sehr hilfreich sein wenn es darum geht, Informationen über eine offene Stelle oder eine Empfehlung von einer Person zu erhalten, die direkten Kontakt zu einem Arbeitgeber hat. Aber: so lange Arbeitgeber nicht gewillt sind, bei Stellenbesetzungen Netzwerkkontakte und Informationen von Seiten ihrer Mitarbeiter zu nutzen, sind die Netzwerke der Arbeitssuchenden unter Umständen praktisch wenig hilfreich, um einen neuen Arbeitsplatz zu finden. In einem zukünftigen Schritt sollen die hier vorgestellten deskriptiven Analysen mit multivariaten Verfahren vertieft werden. Forschung zu sozialen Netzwerken am Arbeitsmarkt muss alle Akteure berücksichtigen, denn die verschiedenen Akteure haben unterschiedliche Interessen und beeinflussen sich in ihrem Verhalten gegenseitig. Analysen, die nur einen Teil der Akteure in den Fokus nehmen, können auch Aussagen über diese Akteure treffen, Aussagen über die Funktionsweise des Netzwerkes insgesamt sind daraus noch nicht ableitbar. Der nächste Schritt der Netzwerkforschung zu diesem Thema muss in Studien liegen, die alle beteiligten Akteure gleichzeitig berücksichtigen und damit ihre Interaktionen und Abhängigkeiten einbeziehen können. Dies würde zugleich eine Überschreitung bisheriger Forschungsgrenzen darstellen.
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Literatur
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Jens Aderhold, Dr. phil., Projektleiter im TP A4 „Professionalisierung lokaler Eliten“ im SFB 580 am Institut für Soziologie der Universität Halle; zudem Vorstand ISInova e.V. Arbeitsgebiete: Elitenforschung, Professionalisierung, Netzwerktheorie und Kooperationsentwicklung, Innovations- und Organisationsforschung. (2005) Modernes Netzwerkmanagement: Anforderungen – Methoden – Anwendungsfelder. Gabler. (zus. hrsg. mit Meyer/Wetzel); (2007): Intention und Funktion: Probleme der Vermittlung psychischer und sozialer Systeme. VS-Verlag. (gem. hrsg. mit O. Kranz). (2009) Die Organisation in unruhigen Zeiten. C.-Auer-Verlag (gem. hrsg. mit R. Wetzel und J. Rückert-John). Thomas N. Friemel ist Oberassistent am IPMZ - Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Sein Forschungsinteresse gilt der An-wendung der sozialen Netzwerkanalyse in der Kommunikationswissenschaft mit speziellem Fokus auf die Mediennutzung im sozialen Kontext und der interpersona-len Kommunikation über massenmediale Inhalte. Publikationen im Bereich der sozialen Netzwerkanalyse umfassen u.a. zwei Herausgeberbände: „Applications of Social Network Analysis“ (UVK 2007) und „Why Context Matters“ (VS 2008). Weitere Informationen zum Autor und dem hier berichteten Projekt sind auf www.friemel.com verfügbar. Jan Fuhse promovierte 2007 in Soziologie an der Universität Stuttgart mit einer Arbeit über Ethnizität, Akkulturation und persönliche Netzwerke von italienischen Migranten (Barbara Budrich 2008). Anschließend ging er mit einem Feodor Lynen-Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung für ein Jahr an die Columbia University (New York). Zurzeit ist er – mit einem Rückkehrstipendium – als Research Associate am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart tätig. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit der Theorie sozialer Netzwerke und mit deren Übertragung auf die Ungleichheitsforschung. Roger Häußling, Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Technik- und Organisationssoziologie an der RWTH Aachen, Promotion (2001) und Habilitation (2007) an der Universität Karlsruhe (TH), Doppelstudium des Wirtschaftsingenieurwesens und der Soziologie in Mannheim, Siegen und Karlsruhe. Arbeitsgebiete: Netzwerkforschung, Techniksoziologie, Interaktionsanalyse, Organisationsforschung. Athanasios Karafillidis, Studium der Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Arbeit und Organisation an der Bergischen Universität Wuppertal, Diplom 2002 zur Frage der Medialisierung von Organisation in der modernen Gesellschaft, 2009 Einreichung der Dissertation zur Frage der Möglichkeit einer methodologischen Verankerung des Formbegriffs in der Soziologie und ihrer Konsequenzen für eine Theorie der Differenzierung. Von 2002-2007 Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Witten/Herdecke, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der RWTH Aachen (seit 2009 Mitarbeiter am Lehrstuhl für Techniksoziologie). Forschungsschwerpunkte: Organisation, Netzwerke, Systeme, Formtheorie, Management, Grenzen Anja Kettner, Dipl.-Volkswirtin, leitet am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) die Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots. Sie forscht über die Determinanten der Arbeitskräftenachfrage und zum Verlauf von Stellenbesetzungsprozessen. Matthias Kiese studierte von 1991 bis 1997 Geographie sowie Betriebs- und Volkswirtschaftslehre an der Universität Hannover und an der London School of Economics and Political Science. Nach ein-
jährigem Forschungsaufenthalt an der National University of Singapore und anschließender Promotion über regionale Innovationspotenziale in Südostasien ist er seit 2002 als Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Wirtschafts- und Kulturgeographie der Leibniz Universität Hannover tätig, wo er sich 2008 mit einer Arbeit zur regionalen Clusterpolitik in Deutschland im Fach Geographie habilitierte. Von April 2008 bis März 2009 vertrat Dr. Kiese eine Professur für Wirtschaftsgeographie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und übernimmt im September 2009 eine Professur für Strategisches Management und Clusterentwicklung an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen Cluster und Clusterpolitik sowie wissens- und innovationsbasierte Regionalentwicklung. Andrea Knecht, Studium der Soziologie und Kulturwissenschaft an der Universität Leipzig. Sie promovierte am ICS an der Universität Utrecht zum Thema Freundschaftsnetzwerke bei Jugendlichen. Seit 2007 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie und Empirische Sozialforschung der Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Forschungsinteressen beinhalten dynamische Netzwerkanalysen, die Entstehung und Effekte von Netzwerken. Jan Mewes, Dipl.-Soziologe, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Ethnic Diversity and Welfare State Solidarity“ an der Universität Bremen. In seiner Dissertation, die er im Frühjahr 2009 eingereicht hat, befasst er sich mit dem Einfluss sozialer Ungleichheit auf die Struktur persönlicher Netzwerke. Publikationen: Diesseits und jenseits nationaler Grenzen. Intergruppenkontakte und xenophile Einstellungen, Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 34(3) (zus. mit S. Mau und A. Zimmermann), Cosmopolitan attitudes through transnational social practices?, Global Networks 8(1) (zus. mit S. Mau); Transnationale soziale Beziehungen, Soziale Welt 58(2) (mit S. Mau). Alexander Rausch hat Mathematik und Physik an der Goethe-Universität in Frankfurt studiert und arbeitet dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hochschulrechenzentrum. Seine Spezialgebiete sind die statistische Methodenlehre und die Analyse sozialer Netzwerke. Ihn verbindet eine langjährige Kooperation mit Christian Stegbauer, die in gemeinsamen Publikationen, Kongressbeiträgen und Lehrveranstaltungen ihren Niederschlag fand. Das gemeinsame Interesse liegt dabei insbesondere auf der positionalen Analyse in Anschuss an den Blockmodell-Ansatz von Harrison White. Martina Rebien, Soziologin M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der IAB-Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots. Sie untersucht die Rolle von Netzwerken bei Stellenbesetzungsprozessen sowie die betrieblichen Auswirkungen der Hartz IV-Reform. Christian Stegbauer, PD Dr., Studium der Soziologie, Sozialpsychologie, Wirtschaftsgeografie und Statistik. Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt Veröffentlichungen zur Konstitution von Gruppen, Internetsoziologie. Interessen: Netzwerkforschung, Herstellung von Sozialität in Medien, die Herstellung von Handlungsmustern über soziale Positionen, Mikrosoziologie. Martin Wrobe studierte von 1996-2001 Wirtschaftsgeographie an der Universität Bremen. Von 19992000 war er Gutachter für die Flughafen Bremen GmbH und von 2001-2003 zuständig für die Projektkoordination und -durchführung im Bereich regional angewandter Cluster- und Netzwerkforschung und Logistik am Lehrstuhl für Wirtschaftsstrukturforschung und Wirtschaftspolitik der Universität Bremen. Dort promovierte er 2004 mit einer Arbeit über „Die Logistik als Motor regionaler Strukturentwicklung - Sektorale Clusterstrukturen und Netzwerkpotentiale am Beispiel Bremen und Hamburg“ und übernahm anschließend eine Projektleiter-Tätigkeit in einem Trend- und Marktforschungsinstitut. Seit Dezember 2004 ist Dr. Wrobel wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Niedersachsen-Bremen, nebenbei nimmt er einen Lehrauftrag an der Universität Bremen wahr.
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