Helen Pai
Gilmore Girls DER ERNST DES LEBENS
Roman
Aus dem Amerikanischen von Antje Görnig
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Bibliografische In...
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Helen Pai
Gilmore Girls DER ERNST DES LEBENS
Roman
Aus dem Amerikanischen von Antje Görnig
-1-
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Der Roman »Gilmore Girls – Der Ernst des Lebens« entstand auf der Basis der gleichnamigen Fernsehserie von Amy Sherman-Palladino, produziert von Warner Bros, ausgestrahlt bei Vox. Erstveröffentlichung bei Harper Collms Publishers, Inc. New York, 2002. Titel der amerikanischen Originalausgabe: Gilmore Girls. The Other Side of Summer. Copyright © 2004 Warner Bros. Entertainment Inc. GILMORE GIRLS and all related characters and elements are trademarks of and © Warner Bros. Entertainment Inc. WB SHIELD:TM ©Warner Bros. Entertainment Inc. (sO4)VGSC 1991 © der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft Köln, 2004 Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Ralf Schmitz Produktion: Elisabeth Hardenbicker Umschlaggestaltung: Sens, Köln Senderlogo: ©Vox 2004 Titelfoto: © 2004 Warner Bros. Satz: Hans Winkens, Wegberg Printed in Germany ISBN 3-8025-3262-7 Besuchen Sie unsere Homepage: www.vgs.de Scanner: crazy2001 K-Leser: klr Dieses E-Book ist nicht für den Verkauf bestimmt
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1 Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass es eine verstörende Vielzahl von Songs über das Ende der Schule und die Sommerferien gibt, aber nur sehr wenige über den Herbst und die Rückkehr in den Unterricht? Vertrauen Sie mir, ich weiß es, ich habe zusammen mit meinen besten Freundinnen recherchiert – Lane Kim, die alles über Musik weiß, und meiner Mom Lorelai Gilmore, die fast alles über alles weiß. Wir haben schließlich einen Song von den White Stripes gefunden, einer Band aus Detroit, die aus Jack und Meg White besteht. »We’re Going to Be Friends« ist schlicht, fast wie ein Beatles-Song, und er handelt von den Freuden der Kindheit und der aufregenden Zeit des Schulbeginns. Offenbar gibt es eine Kontroverse darüber, ob Jack und Meg Geschwister oder ein ehemaliges Ehepaar sind, aber für mich ist die Frage wichtiger, wie Detroit, die Automobilhauptstadt der Welt und eine Metropole, die uns Alice Cooper, Iggy Pop und Eminem geschenkt hat, eine Band hervorbringen konnte, die einen derart unschuldigen und eingängigen Song geschrieben hat? Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich mag den Sommer. Ich finde den Sommer toll. Ich liebe nur zufälligerweise die Schule, und ich spüre diese Aufregung, von der die White Stripes singen, jedes Mal, wenn ich an die Schule denke. So kam es, dass ich am ersten Tag des Herbstsemesters mit großer Erwartung im Luke’s Diner saß und mit meiner Mom frühstückte. Es gibt keinen besseren Ort als das Luke’s, um den Tag zu beginnen. Dort gibt es, Hand aufs Herz, den besten Kaffee der Welt, obwohl ich das natürlich nicht mit Sicherheit weiß, da ich meine Heimatstadt Stars Hollow, Connecticut, noch nicht oft verlassen habe. Aber das wird sich ändern, sobald ich die nächste Christiane Amanpour bin, um die Welt reise und berichte, was -3-
dort so los ist, und natürlich überall den Kaffee probiere, damit ich meine längst getroffene Entscheidung untermauern kann. Um dorthin zu kommen, muss ich natürlich erst mal die Highschool beenden und nach Harvard gehen, der Universität meiner Träume, aber das bedeutet, dass ich rechtzeitig zum Schulbeginn auf der Matte stehe. Also beendete ich mein Frühstück, sah zu, wie Mom ihres verzehrte und starrte sie ungeduldig an. »Wie sind die Eier?«, fragte ich schließlich in der Hoffnung, sie anzutreiben. »Gut«, antwortete Mom. »Das freut mich«, sagte ich. Mom aß unbeirrt weiter, und ich starrte sie an, während ich ungeduldig mit den Fingern trommelte. »Sie sind noch immer gut«, sagte Mom und warf mir einen Blick zu. »Das freut mich noch immer.« »Hör zu, Freak, wir werden uns nicht verspäten.« »Es ist der erste Schultag. Ich will früh genug dort sein.« »Wir werden früh genug dort sein. Versprochen.« »Ich habe in diesem Jahr andere Kurse. Meine Routen sind nicht mehr dieselben. Ich habe noch nicht den schnellsten Weg gefunden. Und mein Spind ist auch verlegt worden, sodass ich nicht einmal weiß, ob er in Ordnung ist, und vielleicht werde ich einen neuen bekommen, und Gott allein weiß, wie lange das dauern oder wo er sein wird, und das könnte den ganzen Tag ins Chaos stürzen.« Mom lächelte mich an. »Ich bin bloß aufgeregt«, schloss ich und erwiderte ihr Lächeln. Lane kam durch die Tür gestürmt. »Oh, Gott sei Dank, dass ihr noch nicht gegangen seid«, rief sie, eilte an unseren Tisch und setzte sich. »Nein… was ist los?«, fragte ich. »Ich habe den tollsten Plattenladen der Welt gefunden, er ist zehn Minuten von unserer Schule entfernt, und ich frage mich, -4-
wie sehr du mich liebst«, sagte Lana und nahm ihren Rucksack ab. Was war denn das für eine verrückte Frage? Schließlich ist sie abgesehen von Mom schon immer meine beste Freundin gewesen. Ich würde alles für sie tun. »Adresse«, sagte ich, als ich mich zur Seite beugte, um ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber aus meiner Tasche zu nehmen. »Record Breaker, Incorporated. 2453 Berlin Turnpike.« Ich schrieb es auf. »In Ordnung. Jetzt deine Bestellung.« »Ja«, sagte Lane aufgeregt. Sie brachte ihre zerlesene Ausgabe von The MOJO Collection zum Vorschein und schlug sie auf. The MOJO Collection, ein monströses Buch über die Geschichte des Popalbums, wird von den Leuten von MOJO herausgegeben, Englands führendem Rockmagazin. Die Zeitschrift beauftragte führende Musikjournalisten damit, die ihrer Meinung nach wichtigsten Alben zusammenzustellen, die jemals aufgenommen wurden, und ihre Bedeutung für die populäre Musik einzuschätzen. Lane hat ihre Anweisungen befolgt, ihre eigene CD-Sammlung eingeschätzt und für unzulänglich befunden, und versucht seitdem, sie zu verbessern. »Charles Mingus, The Black Saint and the Sinner Lady«, las Lane vor. »Richtig«, nickte ich und schrieb es auf. »The Sonics, Here Are the Sonics.« »Brenn mir eine Kopie. Weiter.« »MC5, Kick Out the jams, Fairport Convention, Liege and Lief, Bee Gees, Odessa…« »Bee Gees. Wirklich?«, fragte ich überrascht. Sie schlug das Buch zu und legte ehrfürchtig ihre Hand darauf. »Nun, MOJO sagt…« »Dann muss es wohl stimmen.« »Okay, das war’s. Jetzt muss ich nur noch eine Platte von Whistler, Chaucer, Detroit und Greenhill finden, dann bin ich -5-
endlich mit den Sechzigern durch«, fuhr Lane fort, während sie mir das Geld gab. »Ich werde heute noch vorbeischauen. Spätestens morgen«, versprach ich. »Ich liebe es, wenn du wieder zur Schule gehst«, erklärte sie mit einem breiten Lächeln. »Ich auch«, sagte ich und lächelte ebenfalls. Mom stand auf und wandte sich zum Tresen. »Hey!«, rief ich ihr zu. »Ich hole Donuts für später«, entgegnete sie. »Danach fahre ich dich zur Schule, und die netten Männer in den weißen Kitteln werden dich abholen.« Taylor Doose, Besitzer von Doose’s Market und selbst ernanntes Stadtoberhaupt, drängte sich mit seiner Pfadfindergruppe vorbei, und Mom trat zur Seite und wartete ungeduldig, während sie sich über ihre Bestellung stritten. Schließlich fiel sie ihnen ins Wort: »Hey, Donuts, bitte.« »Wir waren zuerst hier«, sagte eines der Kinder. »Auf dem Planeten?«, erwiderte Mom. »Hä?«, antwortete das verwirrte Kind. »Du hast verloren«, sagte Mom und wandte sich an Luke; »Schokolade, Zimt und Streusel.« Ehe Luke die Bestellung ausführen konnte, klingelte das Telefon, und alle stöhnten auf. »Komm schon!«, drängte Mom. »Haltet alle die Klappe!«, befahl Luke. Er nahm den Hörer ab, und wir alle sahen ihn ungeduldig an. Mom ging schließlich hinter den Tresen, nahm eine Tüte und steckte einige Donuts hinein. Ich stand auf und fühlte mich der Schule einen Schritt näher. »Das ist unglaublich!«, schrie Luke ins Telefon. Alle drehten sich um und starrten ihn an. »Du wirst dich nie ändern, nicht wahr? Okay, schön! Mach, was du willst! Triff die Vorbereitungen. Ich muss arbeiten. Wir reden später weiter!« Dann knallte er den Hörer auf die Gabel. -6-
»Alles okay?«, erkundigte sich Mom. »Hast du eine Schwester?«, wollte Luke wissen. »Äh… nein«, erwiderte Mom. »Ich aber«, warf eines der Kinder ein. »Du hast mein Mitgefühl«, sagte Luke und stapfte die Treppe zu seinem Büro hinauf. Mom sah ihm nach, bis ich sie daran erinnerte, dass die Zeit lief. Sie nahm ihre Tüte mit den Donuts, und endlich war ich auf dem Weg zur Schule. Mom setzte mich vor dem imposanten Tor der Chilton Prep School ab und ich ging hinein. Die Korridore waren voller uniformierter Kids, die ihre Spinde und Klassenzimmer suchten. An der Wand hing ein Banner mit der Aufschrift WILLKOMMEN ZURÜCK IN CHILTON. Mir blieben noch ein paar Minuten, also suchte ich meinen Spind, legte einige Bücher hinein und machte mich dann auf den Weg zu meiner ersten Unterrichtsstunde. Als ich mich dem Klassenzimmer näherte, kamen mir aus der anderen Richtung Paris Geller und ihre besten Freundinnen Madeline Lynn und Louise Grant entgegen. Paris starrte mich einen Moment eisig an, bevor sie den Raum betrat. »Okay, zweite Runde«, seufzte ich. Paris Geller verabscheut mich aus mancherlei Gründen, aber hauptsächlich, weil ich lebe. Im vergangenen Jahr kam sie an meinem ersten Tag in Chilton auf mich zu und wollte wissen, ob ich Lust hätte« für die Schülerzeitung The Franklin zu arbeiten. Dann erzählte sie mir, dass sie deren Herausgeberin werden würde, derzeit die Klassenbeste sei und nach ihrem Abschluss die Abschiedsrede bei der Schulentlassungsfeier halten wollte. Und von da an ging’s bergab. Es war extrem ermüdend, von Paris gehasst zu werden, sie war inzwischen tatsächlich die Herausgeberin von The Franklin, und ich gehörte zu ihrem Mitarbeiterstab. Ich ging ins Klassenzimmer und marschierte sofort zu Paris. »Fünf Sekunden?«, fragte ich. »Vier.« -7-
»Gut.« »Jetzt sind’s nur noch drei.« »Paris, so muss das nicht laufen.« »Nein?« »Du und ich werden zusammen eine Menge Zeit im Unterricht und bei der Arbeit an The Franklin verbringen.« »Schon klar.« »Wir werden in demselben Raum sitzen, uns den Sauerstoff teilen müssen, hin und wieder Blickkontakt haben…« »Das lässt sich vermeiden«, unterbrach sie mich. »Hör zu, ich sage nicht, dass wir Freundinnen sein sollten, ich will gar nicht mit dir befreundet sein. Ich sage nur, dass wir vielleicht so tun sollten, als spielten wir eine Rolle im richtigen Leben.« »Richtiges Leben?«, fragte Paris. »Ja. Im richtigen Leben gibt es immer Leute, die man nicht mag, mit denen man aber auskommen muss.« »Dessen bin ich mir durchaus bewusst.« »Deshalb schlage ich vor, dass wir miteinander auskommen.« Ich hielt das für einen vernünftigen Vorschlag, aber Paris war offenbar anderer Ansicht. »Du hast nur Angst, dass ich dir bei der Arbeit an The Franklin das Leben zur Hölle machen werde. Vor allem, da ich die Herausgeberin bin und du… oh, wie war noch mal das Wort?… nicht«, sagte Paris. »Wenn du die kostbare Energie, die du normalerweise in die Zeitung stecken solltest, lieber damit verschwenden willst, mir das Leben zu vermiesen, so ist das deine Entscheidung. Ich habe nur eine Alternative vorgeschlagen«, erklärte ich. Paris dachte einen Moment darüber nach. »Die Zeitung könnte in diesem Jahr richtig toll werden«, fuhr ich fort. »Ich weiß«, antwortete Paris ein wenig trotzig. »Können wir uns nicht einfach darauf einigen und alles ande-8-
re vergessen?«, fragte ich hoffnungsvoll. Louise und Madeline kamen herüber. »Alles okay?«, fragte Louise. »Ja, alles ist in Ordnung«, antwortete ich. »Wir unterhalten uns nur«, sagte Paris. »Unterhalten? Ihr beide?«, entfuhr es Madeline. »Über The Franklin«, fügte Paris hinzu. »Oh.« Madeline dachte einen Moment nach. »Nein, das kommt mir trotzdem seltsam vor.« »Hey, hör zu, wir alle arbeiten zusammen an der Zeitung, und es wird eine Menge langer Nachmittage und Wochenenden geben…«, sagte Paris. »Wochenenden?«, unterbrach Louise. »Wir müssen irgendwie miteinander auskommen«, erklärte Paris mit einem Blick zu mir. »Richtig?« »Richtig«, bestätigte ich ein wenig überrascht, dass mein Vortrag anscheinend doch von Erfolg gekrönt war. »Es tut mir Leid«, sagte Louise. »Aber zurück zu den Wochenenden.« »Okay, dann machen wir es so«, fuhr Paris fort, die Louise völlig ignorierte. »Nun, die erste Redaktionskonferenz von The Franklin findet heute statt.« »Ja, so ist es«, nickte ich. »Um vier Uhr«, sagte Paris. »Klingt gut«, meinte ich. Paris und ich sahen uns einen Moment an. Wie es schien, hatten wir einen Waffenstillstand geschlossen. Wir nahmen unsere Plätze ein und bereiteten uns auf den Unterricht vor. »Von Wochenenden war nie die Rede. Ich brauche meine Wochenenden. Ich erledige all das an den Wochenenden!«, beklagte sich Louise weiter und wies auf ihre Haare, ihr Gesicht und ihren Körper. Als der Unterricht begann, sah ich zu Paris hinüber und lächelte freundlich. -9-
Um zehn vor vier ging ich zum Redaktionsraum von The Franklin. Da ich früh dran war, setzte ich mich vor dem Redaktionsraum auf die Bank und nahm Selected Letters of Dawn Powell aus meinem Rucksack. Powell war eine erfolgreiche Schriftstellerin, die für ihren satirischen Humor bekannt war. Etwas satirischer Humor kann einem Mädchen nicht schaden, sagte ich mir und begann zu lesen, während ich auf das Eintreffen der anderen Redaktionsmitglieder wartete. Nach ein paar Minuten bemerkte ich, dass Stimmen aus dem Raum drangen, daher trat ich ein und stellte fest, dass die gesamte Redaktion bereits versammelt und die Konferenz in vollem Gang war. Paris saß am Kopfende des langen Konferenztisches und sprach zu der Gruppe, zu der auch Mrs O’Malley gehörte, die Beraterin der Zeitung. »Die Titelseite ist öde. Sie ist schlimmer als öde. Sie ist vollkommen meinungsfrei. Entscheidet euch für eine Partei, Leute«, sagte Paris gerade, als ich hereinkam. »Oh, Rory«, nickte sie und verstummte, damit auch ja alle mein verspätetes Erscheinen mitbekamen. »Hey«, murmelte ich verwirrt. »Nett von Ihnen, dass Sie auch noch zu uns stoßen, Ms Gilmore«, sagte Mrs O’Malley. »Ich… ich dachte, wir fangen um vier an«, stotterte ich. »Nein. Wir fangen um Punkt viertel nach drei an«, erwiderte Mrs O’Malley. Ich versuchte ihr die Umstände zu erklären, aber Paris unterbrach mich. »Hör zu, wir verschwenden nur unsere Zeit.« Ich funkelte Paris an. Offenbar war der Waffenstillstand schon wieder beendet. Mrs O’Malley bat mich, Platz zu nehmen, und Paris setzte die Konferenz fort. »Okay, wir waren gerade dabei, die Aufträge zu verteilen. Nun, Rory, da du so spät gekommen bist, sind die meisten interessanten Themen unglücklicherweise bereits vergeben.« »Oh, ich bin schockiert«, sagte ich. - 10 -
»Warte, warte, lass mich mal auf meiner Liste nachsehen. Vielleicht ist noch etwas für dich übrig.« Angesichts der unschuldigen Miene, die Paris jetzt aufsetzte, konnte ich nur den Kopf schütteln. »Okay, hier ist etwas«, erklärte sie. »Der neue Parkplatz wird gepflastert.« »Und?« »Und du kannst darüber berichten.« »Über was berichten?« »Den Fortschritt beim Pflastern.« »Ist das dein Ernst?« »Absolut. Ich bin sicher, dass es irgendwo einen Aufhänger gibt. Ist für den Umweltschutz gesorgt? Wie sieht der finanzielle Hintergrund aus? Hätte man vielleicht Ziegelstein nehmen können, vor allem, wenn man die Architektur des Gebäudes bedenkt…?« »Ja, ja, ich verstehe, was du meinst«, fiel ich ihr ins Wort. »Aber, hey«, fuhr Paris fort und sah mich direkt an, »wenn du es für unter deiner Würde hältst, kannst du auch bis zur nächsten Ausgabe warten und die Zeit für eine schöne Maniküre nutzen.« »Das ist schon okay«, sagte ich. »Oder für eine Massage.« »Ich mache es ja.« »Aromatherapie. Dann riechst du ein paar Tage wie ein Pfirsich.« »Ich sagte, ich mache es, okay? Ich schreibe über das Pflaster.« Ich schenkte Paris mein bestes falsches Lächeln. »Okay. Gut. Nun, ich schätze, das war’s dann.« Alle standen vom Tisch auf und gingen. Paris trat an einen der Computer, und ich folgte ihr. »Probleme, Ms Gilmore?«, fragte Paris, ohne vom Bildschirm aufzublicken. »Nein. Absolut keine Probleme. Ich liebe diesen Auftrag.« - 11 -
»Das freut mich.« »Ich werde den besten Artikel über Pflastersteine schreiben, den du je gelesen hast.« »Das hoffe ich.« »Und nächste Woche, wenn du mir den Knüller über die Installation der neuen Kupferrohre gibst, werde ich genauso begeistert sein.« »Ich steh auf Teamspieler.« »Und ganz gleich, wie verrückt, dumm und sinnlos die Aufträge sind, die du mir gibst, ich werde nicht kündigen, und ich werde nicht zurückstecken. Du kannst also heute Abend nach Hause gehen und über die Tatsache nachdenken, dass, ganz gleich, was du tust, und ganz gleich, wie böse du bist, am Ende des Jahres in meinem Highschool-Studienbuch stehen wird, dass ich für The Franklin gearbeitet habe. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss noch einen Text über die Entstehung von Beton lesen.« Ich wandte mich ab und marschierte davon. »Am Dienstag liegen tausend Worte auf meinem Schreibtisch!«, rief sie mir nach. Und es wurde noch schlimmer. Als ich den Korridor hinunterging, traf ich Max Medina, meinen Englischlehrer und den Ex-Verlobten meiner Mutter. Dies war das erste Mal, dass wir uns über den Weg liefen, seit sie die Hochzeit abgesagt hatte, und keiner von uns wusste, was er tun oder wie er reagieren sollte. Also handelten wir instinktiv. Max versuchte mich anzusprechen, und ich rannte in die andere Richtung davon, bevor er das erste Wort herausbekommen konnte. Während der Busfahrt nach Hause ließ der Schock nach, Max getroffen zu haben, und ich dachte daran, wie Paris mich ausgetrickst und dafür gesorgt hatte, dass ich zu spät zur ersten Redaktionskonferenz des neuen Schuljahrs kam. Als ich Mom im Luke’s traf, war ich richtig sauer. »Oh, mein Gott, ich hasse sie!«, sagte ich, als ich das Lokal betrat. - 12 -
»Oh, ich auch!«, stimmte meine Mom zu. »Du hast keine Ahnung, von wem ich rede.« »Solidarität, Schwester.« Ich nahm neben Mom Platz, trank einen Schluck Kaffee und erklärte dann: »Paris…« »Oh, nun ja, das hätte ich wissen müssen«, sagte Mom. »Sie denkt, sie kann mich von der Schülerzeitung vergraulen, aber das kann sie nicht«, fuhr ich fort. »Nein, kann sie nicht«, bekräftigte Mom. »Ich habe noch nie jemanden wie sie getroffen. Ihr beharrliches Festhalten an diesem dummen Groll, der völlig unbegründet ist und niemals enden wird, zeigt ein Maß an Entschlossenheit, das ich nie für möglich gehalten hätte. Ich fange allmählich an, sie zu bewundern.« »Der erste Tag war also Mist?«, fragte Mom. »Nur die Redaktionskonferenz war Mist. Der Rest war gut.« »Schön, ich bin froh, das zu hören.« Sie schwieg einen Moment, ehe sie fortfuhr. »Hast du… zufällig Max getroffen?« Jetzt war ich an der Reihe, einen Moment zu schweigen. »Eigentlich nicht.« »Nein?« Mom wirkte ein wenig überrascht. »Nein. Unsere Wege haben sich einfach nicht gekreuzt«, sagte ich vorsichtig. »Ist er nicht dein Literaturlehrer?«, fragte Mom. »Ja, aber vor mir sitzen sehr große Leute«, erwiderte ich. »Rory…« »Ich habe ihn auf dem Korridor gesehen und bin in die andere Richtung gegangen und…« »Warum?« »Ich weiß es nicht. Ich dachte, es ist das, was du willst.« »Nur weil Max nicht mehr ein Teil meines Lebens ist, heißt das nicht, dass er kein Teil deines Lebens sein kann. Er muss ein Teil deines Lebens sein. Du musst ihn sehen und mit ihm reden, und das ist okay. Es ist gut. Ich weiß, dass im Moment - 13 -
alles verkorkst zu sein scheint, aber ich will nicht, dass du ihm aus dem Weg gehst. Vor allem nicht wegen mir. Okay?« »In Ordnung.« »Es tut mir Leid, dass ich dich in diese Lage gebracht habe«, fügte Mom sanft hinzu. »Das ist schon okay. Ich setze es auf die Liste«, erwiderte ich. »Mein Gott, diese Liste wird ziemlich lang«, sagte Mom mit einem Lächeln. »Du hast ja keine Ahnung.« Ich lächelte zurück. »Nach Hause?« »Ich folge dir.« Wir wollten schon nach draußen gehen, als Mom eine ihrer weltberühmten beiläufigen Fragen stellte. »Hey, haben wir genug Pappteller?« »Ich weiß es nicht. Lass mich einen Blick in das extrem detaillierte Verzeichnis werfen, das ich über deinen monatlichen Verbrauch an Papptellern führe«, erwiderte ich. Was sollte man sonst auf eine derartige Frage antworten? »Okay, wenn du sarkastisch wirst, will ich meine blauen FlipFlops zurück«, sagte Mom. »Ich denke, „wir haben nur noch ein paar«, erklärte ich, als wir die Tür passierten. »Warum?« »Wir haben morgen Abend ein kleines Treffen«, erklärte Mom, während wir nach Hause gingen. »Was für eine Art Treffen?«, wollte ich wissen. »Nun, Lukes Neffe ist hier, und ich dachte, wir könnten vielleicht dafür sorgen, dass er sich etwas mehr zu Hause fühlt«, erklärte Mom. Ich war irgendwie überrascht. Ich hatte keine Ahnung, dass Luke einen Neffen hatte. Sie fügte hinzu, dass sein Neffe Jess nach Stars Hollow ziehen würde. »Hast du ihn schon kennen gelernt?«, fragte ich. »Ein wenig.« »Wie ist er so?« - 14 -
»Nun, ich will mal so sagen, er ist nicht gerade der ideale Ersatzmann für diesen neuen Trottel in der Show.« Wir gingen weiter die Straße hinunter Richtung Doose’s Market und passierten die Bücherei, was mich daran erinnerte, dass ich mich zwar gerne an den Vorbereitungen für das Willkommen-in-Stars-Hollow-Abendessen beteiligt hätte, mich aber auf die Recherche über Pflastersteine konzentrieren musste. Mom stimmte unter der Bedingung zu, dass diese Recherche die Band Pavement einschloss. Wir einigten uns schließlich darauf, dass ich bei meinen Nachforschungen Songs von Pavement hören würde. Ich betrat die Bücherei, um meinen Artikel zu beginnen, und Mom ging weiter nach Hause. Am nächsten Nachmittag kehrte ich in den Redaktionsraum von The Franklin zurück. Ich hatte meinen Artikel früher am Tag abgegeben, saß allein im Zimmer und las, als Paris hereinkam. »Oh, hallo«, sagte sie ein wenig überrascht, mich zu sehen. »Hi«, erwiderte ich. »Du bist früh dran.« »Nun ja, ich wollte nicht schon wieder zu spät kommen wie beim letzten Mal.« Ich lächelte sie süffisant an. »Das wird nicht noch mal passieren.« Paris nahm ihren Platz am Ende des Tisches ein, mir direkt gegenüber, während die anderen Redaktionsmitglieder hereinströmten. »Hey. Hast du schon gehört, dass Kimber Slately und Tristin das neue Megapaar sind?«, fragte Madeline, als sie mit Louise eintrat. »Ich dachte, Kimber und Sean Asher wären dieses Jahr John und Jackie«, erwiderte Louise. »Nein. Sean ist jetzt mit Deeds McGuire zusammen. Was Jeff Trainer in Dottie Lords Arme getrieben hat, sodass Madison Malins zum ersten Mal, seit er Kapitän des Lacrosse-Teams wurde, allein ist.« - 15 -
Louise war beeindruckt. »Du bist immer über alles auf dem Laufenden. Du hast anscheinend ein Händchen für so was.« »Ich weiß«, entgegnete Madeline. »Hey, Paris, was hältst du davon, wenn ich eine Klatschkolumne für The Franklin schreibe?« »Hm«, machte sie. »Ich weiß nicht. Das ist schwierig. Ich meine, es geht hier um The Franklin, eine Zeitung, die schon seit fast hundert Jahren existiert. Es gab mindestens zehn ehemalige Herausgeberinnen von The Franklin, die später für die New-York Times gearbeitet haben. Sechs sind zur Washington Post gegangen. Drei schreiben für den New Yorker. Ich glaube, eine hat sogar den Pulitzer-Preis gewonnen. Aber Schwamm drüber. Ich könnte die erste Herausgeberin in der Geschichte von The Franklin sein, die eine Kolumne bringt, in der es ausschließlich darum geht, wen Bifry zuletzt angebaggert hat. Ein Dilemma. Weißt du, ich werde später darauf zurückkommen.« Madeline musste eine Sekunde darüber nachdenken. »Okay«, sagte sie, noch immer nicht ganz sicher, was Paris meinte. Mrs O’Malley kam mit einem Stapel Unterlagen in den Raum und wandte sich an die Gruppe. »Oh, gut, wir sind alle hier. Und dazu noch pünktlich«, fügte sie mit einem Seitenblick auf mich hinzu. »Wunderbar. Nun, ich habe alle Artikel gelesen. Sie waren alle ausgezeichnet. Flott, informativ, gut recherchiert… Paris, Sie sollten sehr stolz auf das Team sein, dass Sie dieses Jahr zusammengestellt haben.« »Vielen Dank.« Paris lächelte geschmeichelt. »Ich meine, wenn Sie eine Reporterin haben, die ein unglaublich banales und scheinbar unwichtiges Thema wie die Pflasterung eines Fakultätsparkplatzes in einen bittersüßen Artikel über die Tatsache verwandeln kann, dass alles und jeder irgendwann veraltet sein wird, dann haben Sie wirklich etwas erreicht. Ms Gilmore, ich war gerührt.« Paris rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. - 16 -
»Das habe ich alles Paris zu verdanken«, sagte ich, als Paris mir ein falsches Lächeln schenkte. Mrs O’Malley wandte sich an Paris. »Ich rate Ihnen, Ms Gilmore beim nächsten Mal etwas zu geben, das etwas mehr Pep hat.« »Oh, ja. Tolle Idee«, gab Paris zurück. Mrs O’Malley forderte die Redaktionsmitglieder auf, am Layout zu arbeiten, und ich ging zu einem der Computer und nahm davor Platz. Paris marschierte umgehend hinter mir her. »Nun, gratuliere«, sagte sie. »Danke«, antwortete ich und blickte zu ihr auf. »Du musst sehr stolz auf dich sein«, fuhr sie fort. »Ich verstecke mich nicht, wenn ich an einem Spiegel vorbeigehe«, erwiderte ich. »Ich schätze, es gehört zu meinem Job als Herausgeberin, dafür zu sorgen, dass unsere besten Autorinnen unsere besten Artikel schreiben. Deshalb… werde ich dir eins unserer besten Themen geben.« Ich sah sie misstrauisch an. »Ahha…« »Titelseite. Titelstory. Obere Hälfte.« »Komm zum Haken, Paris.« »Kein Haken.« »Kein Haken«, wiederholte ich skeptisch. »Ich würde das Schuljahr gern mit einem Porträt des Lehrers beginnen, der im letzten Jahr zum beliebtesten Pädagogen gewählt wurde. Du weißt schon, ein tief schürfendes, rückhaltloses Interview. Alle wollen es. Du hast es«, sagte Paris aufrichtig. »Du machst Witze«, meinte ich, noch immer ein wenig argwöhnisch. »Nein.« Sie schien wirklich keine Witze zu machen. »Nun, danke«, sagte ich, als ich mich wieder dem Computer zuwandte. »Keine Ursache. Also mach dich an die Arbeit und beschaffe - 17 -
dir so schnell wie möglich einen Gesprächstermin bei Mr Medina.« »Was?« »Ich weiß, das kommt ein bisschen plötzlich, aber ich hätte es gern als Aufhänger für unsere erste Ausgabe.« »Mr Medina?« »Er hat einen Erdrutschsieg errungen.« »Aber…«. »Tut mir Leid, gibt es ein Problem?« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also schwieg ich. Paris flötete: »Ich meine, gibt es irgendeinen Grund, warum du ihn nicht interviewen willst? Schließlich solltest von allen Leuten du am besten in der Lage sein, eine echt tiefschürfende Story aus ihm herauszuholen, vor allem, da er mit deiner Mutter verlobt ist.« Ich schwieg weiter. »Sie sind doch noch immer verlobt, oder?«, fuhr Paris mit geheuchelter Besorgnis fort. »Halten wir das Privatleben meiner Mutter lieber da raus, okay?« »Oh, das klingt übel«, meinte Paris. »Es ist nicht übel, es geht dich bloß nichts an«, widersprach ich. »Schön. Willst du das Interview oder nicht?« Ich kämpfte einen Moment mit mir und antwortete schließlich: »Ja, ich will das Interview.« »Gut. Und hol mehr aus ihm heraus als nur seine Lieblingsfarbe, okay?« Paris marschierte extrem selbstzufrieden davon. Woher wusste sie, dass zwischen Max und meiner Mom etwas vorgefallen war? Sie musste gestern gesehen haben, wie ich ihm ausgewichen war, nachdem ich den Redaktionsraum verlassen hatte. Es war sicherlich nicht das erste Mal, dass Paris etwas sah, von dem ich nicht wollte, dass sie es sah. In meinen ersten Tagen in - 18 -
Chilton hatte sie beobachtet, wie meine Mom und Max in seinem Klassenzimmer geknutscht hatten. Klar, das war nicht gerade besonders schlau von ihnen gewesen, aber musste von allen Schülern in Chilton ausgerechnet Paris sie sehen? Aber dies war ein wichtiger Artikel, und ich musste nur einen Weg finden, ihn zu schreiben, ohne Max wirklich zu interviewen.
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2 An diesem Abend fand das große Abendessen statt. Und das meine ich wörtlich. Die beste Freundin meiner Mutter, Sookie St. James, plante ein Festmahl, auf das Heinrich der Achte stolz gewesen wäre. Sie wollte sichergehen, dass Lukes Neffe sich willkommen fühlte, und brachte ständig neue Einwände vor (»Was ist, wenn er keine Milchprodukte mag?«, hatte sie zum Beispiel einfühlsam gefragt). Also standen sie und ihr Freund Jackson in der Küche, wo sie Schmorbraten, Hähnchenflügel, Stampikartoffeln und vier verschiedene Sorten Salat zubereiteten, und ich glaube, ich habe sogar das Wort »Grillkäse« gehört. Während sie kochten, stellte ich meine Fragen für das Interview mit Max zusammen. Schließlich gelangte ich zu dem Schluss, dass eine gute Journalistin objektiv sein und ihre persönlichen Gefühle beiseite schieben sollte, und vereinbarte für den Nachmittag des folgenden Tages ein Treffen mit Max. Mom steckte ihren Kopf herein und fragte, ob ich an den Feierlichkeiten teilnehmen wollte. »In einer Sekunde«, erwiderte ich, während ich mich auf den Computermonitor konzentrierte. »Du klingst gereizt«, meinte Mom. »Ich konzentriere mich.« »Okay, konzentriere dich nicht zu sehr. Die Jungs mögen euch dumm. Richtig, Jackson?« »Wenn du um einen Baum biegen kannst, geh einfach weiter«, rief Jackson aus der Küche. Es klopfte an der Tür, und Mom verschwand um zu öffnen. Ein paar Minuten später kamen Luke und sein Neffe Tess in die Küche, und Mom stellte sie Sookie und Jackson vor. Ich saß noch immer an meinem Schreibtisch, drehte mich aber kurz um und sagte Hallo, um dann meine Sachen wegzuräumen und - 20 -
später zu ihnen zu stoßen. Jess sah aus, als wäre er etwa in meinem Alter, und er hatte dunkle Augen und dunkle Haare. Er kam in mein Zimmer. »Ich bin Rory.« »Ja, das dachte ich mir schon.« »Nett, dich kennen zu lernen.« Jess näherte sich meinem Schreibtisch, blieb aber stehen, als er all die Bücher in den Regalen bemerkte. »Wow, auf Platten stehst du wohl nicht gerade.« »Oh, ich lese viel«, erwiderte ich. »Liest du?« »Nicht viel.« Er schlug meine Ausgabe von Allen Ginsbergs Howl auf. »Ich könnte es dir leihen, wenn du willst. Es ist toll.« Jess klappte das Buch zu und legte es weg. »Nein, danke.« »Nun, falls du deine Meinung änderst…« Er näherte sich mir weiter, als meine Mutter mit zwei großen Schüsseln voller Essen hereinkam und erklärte, dass das Festmahl im Wohnzimmer serviert werden würde. »Bin sofort da«, sagte ich, als Sookie, Jackson und Luke vorbeikamen und ebenfalls Schüsseln und Teller mit Essen trugen. Jess schob die Spitzengardine vor dem Fenster zur Seite. »Kann man es öffnen?« »Oh, ja, du musst es nur entriegeln und dann drücken.« »Toll«, sagte er und entriegelte das Fenster. »Sollen wir?« »Sollen wir was?« »Abhauen.« »Nein«, sagte ich lachend. »Warum nicht?« »Weil es Dienstagabend in Stars Hollow ist. Wir könnten nirgendwo hin. Der rund um die Uhr geöffnete Minimarkt hat vor zwanzig Minuten geschlossen.« »Dann werden wir eben spazieren gehen oder uns auf eine Bank setzen und unsere Schuhe anstarren.« »Hör zu, Sookie hat eine Tonne richtig tolles Essen gekocht, - 21 -
und ich verhungere. Auch wenn es im Moment nicht danach aussieht, werden wir dabei eine Menge Spaß haben. Vertrau mir«, sagte ich mit einem Lächeln. »Ich kenne dich nicht mal.« »Sehe ich etwa nicht vertrauenswürdig aus?« »Kann sein.« »Okay, gut, gehen wir essen.« Ich verließ mein Zimmer und trat an den Kühlschrank. Jess folgte mir langsam. »Willst du ein Wasser?«, fragte ich. »Oh, ich hole es mir schon«, erwiderte er. »Okay.« Ich ging zu den anderen ins Wohnzimmer. In dei Mitte des Raumes war ein großer Tisch aufgestellt, und Sookie arrangierte gerade die Platten mit Essen. Ich setzte mich neben meine Mom. »Hey, Rory, wo ist Jess?«, fragte Luke. »Er holt sich ein Wasser«, erklärte ich. Mom gab Luke einen Teller, auf dem sich himmelhoch Essen türmte. »Hier.« »Es tut mir Leid, du musst mich mit dir verwechselt haben«, sagte Luke. »Oh, zu viel?« Mom nahm den Teller wieder an sich und fügte einen weiteren Schlag Stampfkartoffeln hinzu. »Ich habe das Knoblauchbrot vergessen«, rief Sookie. »Ich hole es schon«, sagte Mom, reichte Luke seinen noch volleren Teller und verschwand in der Küche. Mom war eine Weile fort, und Jess war noch immer nicht am Tisch aufgetaucht, daher stand Luke auf, um nach ihnen zu sehen. Eine kurze Weile später kehrte Mom mit dem Knoblauchbrot und einem wütenden Gesichtsausdruck an den Tisch zurück. Sie erzählte uns, dass Luke und Jess gegangen waren und nicht mit uns essen würden. Und dann waren wir zu viert und hatten genug zu essen, um ein kleines Land zu ernähren. Der nächste Morgen erwies sich als schwierig. Mom wich aus, als ich sie nach dem Streit am vergangenen Abend fragte, aber es reichte mir schon, dass sie sich weigerte, ins Luke’s zu - 22 -
gehen. Also standen wir vor der Tür des Lokals, während im Innern köstlicher Kaffee auf uns wartete. »Du bist total kindisch«, sagte ich zu ihr. »Bin ich nicht«, erwiderte sie kindisch. »Und jetzt werden wir nie wieder ins Luke’s gehen und einfach verhungern.« »Rory, wir haben uns furchtbar gestritten, okay? Nicht wie Nick und Nora. Sondern wie Sid und Nancy, und ich werde nicht hineingehen.« »Aber der Kaffee ist dort drinnen. Und es ist Teilchentag. Willst du mir allen Ernstes weismachen, dass du dir von einem dummen Streit den Teilchentag verderben lassen willst?«, appellierte ich an ihre Vernunft. »Nein, das werde ich nicht.« »Gut«, sagte ich erleichtert. »Also geh rein und bestell zwei Kaffee und zwei Teilchen zum Mitnehmen«, befahl Mom. »Du machst Witze?« »Vergiss die Servietten nicht.« »Mom, er wird wissen, was los ist. Er ist nicht dumm.« »Hey, er kann nicht beweisen, dass du das alles nicht für dich allein bestellst, oder? Nein. Also mach schon. Husch, husch. Mommy wartet hier.« Ich seufzte und betrat das Lokal. Luke stand hinter dem Tresen, und ich baute mich vor ihm auf. »Hey, Luke.« »Rory«, grüßte er. Er wirkte recht freundlich. »Ah, ich möchte zwei Kaffee und zwei Kirschteilchen zum Mitnehmen, bitte«, sagte ich. »Zwei Kaffee und zwei Kirschteilchen.« Er sah mich misstrauisch an. »Oh, und ein paar Servietten«, fügte ich hinzu. »Eins davon ist für sie, nicht wahr?« »Für wen? Oh, nein, nein, nein, die sind alle für mich. Ich bin heute superhungrig. Ich wollte schon drei bestellen, aber das - 23 -
entscheide ich erst, wenn ich eins gegessen habe.« »Ich sag dir was. Ich werde dir ein Teilchen und eine Tasse Kaffee geben. Du kannst dich dort drüben hinsetzen und essen, und wenn du fertig bist, dort drüben, wo ich dich sehen kann, bring ich dir das zweite.« »Du willst wirklich hier herumstehen und mir zusehen, wie ich ein Teilchen esse?« »Im Kabelfernsehen läuft nichts, und ich brauche dringend Unterhaltung.« »Okay, aber das ist verrückt. Ihr hattet also einen Streit? Große Sache. Du weißt, dass ihr euch sowieso wieder versöhnen werdet, und es gibt keinen besseren Tag zum Versöhnen als den Teilchen tag. Der glücklichste aller Tage. Der Tag, an dem wir alle bei einem leckeren Teilchen und einer Tasse Kaffee sagen: >Hey, lasst uns vergeben und vergessen.<« »Ein Teilchen, eine Tasse Kaffee. Nimm es oder geh.« Ich seufzte. »Ich nehme es.« Luke wandte sich ab, um das Teilchen und den Kaffee zu holen. »Ich denke noch immer, dass du dich albern benimmst«, sagte ich. »Danke für deinen Besuch. Beehre uns bald wieder.« Luke gab mir den Kaffee und eine Teilchentüte. Ich nahm die Sachen und ging nach draußen zu Mom. »Und?«, fragte sie ungeduldig. »Er wollte mir nur eins verkaufen.« »Hast du ihm nicht gesagt, dass beide für dich sind?« »Ja, habe ich. Aber er wusste, dass ich gelogen habe.« »Hast du geblinzelt? Du blinzelst immer, wenn du lügst.« »Ich musste nicht blinzeln. Er kennt dich gut genug, um zu wissen, dass du es keinen Tag ohne Kaffee und vor allem ohne Teilchen aushalten kannst. Warum gehst du jetzt nicht rein und versöhnst dich mit ihm?« »Warum… gibst du mir nicht die Hälfte von deinem Teilchen - 24 -
und den halben Kaffee?« »Ich gebe dir das ganze Teilchen«, sagte ich und reichte ihr die Tüte, »aber ich behalte den Kaffee.« »Was ist ein Teilchen ohne Kaffee?«, fragte sie. »Und wieder einmal erhebt sich die Frage nach den letzten Dingen.« »Es hat keinen Sinn, ein Teilchen ohne Kaffee zu essen.« »Ich gehe jetzt zur Schule.« »Armes Teilchen. Einsames Teilchen. Stiefteilchen.« »Wir sehen uns heute Abend.« Ich ließ meine Mom und das Teilchen stehen und ging zur Bushaltestelle, um zur Schule zu fahren. Ich wollte, dass meine Mom ihren Kaffee und ihr Teilchen bekam, aber heute stand mir eine Herausforderung bevor, mit der ich erst mal fertig werden musste. Heute sollte das Interview mit Max stattfinden. Ich fand mich zur vereinbarten Zeit vor Max’ Klassenzimmer ein, zögerte einen Moment und überlegte kurz, wieder zu verschwinden, aber schließlich drehte ich den Türknauf und trat ein. Max machte ebenfalls ein unbehagliches Gesicht, als ich hereinkam, und sprang auf, um mich zu begrüßen. »Rory. Hi.« »Komme ich zu früh?«, fragte ich. »Ich könnte ja auch…« »Nein. Nein«, unterbrach Max. »… ein anderes Mal wiederkommen«, beendete ich meinen Satz. »Es ist okay.« »Vielleicht morgen.« »Es passt mir gut jetzt.« Ich stand verlegen da. »Ist schon komisch.« »Ja, das ist es«, bestätigte Max. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich verhalten soll.« Wir standen beide weiter da und wussten nicht, was wir als Nächstes tun sollten. »Wir könnten uns setzen«, schlug Max vor. »Setzen. Sicher. Das ist gut«, nickte ich, als ich mich schließ- 25 -
lich von der Tür entfernte und ins Klassenzimmer trat. »Barbara Walters sitzt. Oder läuft manchmal herum, wenn die Person, mit der sie redet, ein Pferd oder eine Ranch oder einen großen Hinterhof hat, aber normalerweise… sitzt sie einfach nur da.« Max ließ sich hinter seinem Pult nieder, ich zog mir einen Stuhl heran und nahm ihm gegenüber Platz. »Okay, ich schätze, wir sollten anfangen.« »Gute Idee«, meinte Max. Ich öffnete meinen Rucksack, nahm einen Schreibblock, einen Kugelschreiber und einen kleinen Rekorder heraus. »Stört es dich, wenn ich unser Gespräch aufnehme?« »Oh, nein. Ganz und gar nicht«, versicherte Max. Ich stellte den Kassettenrekorder zwischen uns auf das Pult und schaltete ihn ein. »Nun, ich schätze, ich fange einfach mal an. Voller Name?« »Max Arturo Medina.« Das brachte mich zum Lächeln. »Du machst Witze.« »Nein, mache ich nicht.« »Wie kommst du zu diesem Namen?« »Der Metzger meines Vaters hieß Arturo.« »Wirklich?« »Als meine Mutter mit mir schwanger war, machte sie eine Phase durch, in der sie nur Lammgehacktes gegessen hat. Arturo gab ihr immer eine extragroße Portion Lammgehacktes und berechnete ihr nur die normale Portion, was ihn in meiner Familie zu einem Heiligen machte.« »Deshalb Arturo.« »So ist es.« »Nun, ich nehme an, dir ist bekannt, dass du im letzten Jahr von den Schülern mit überwältigender Mehrheit zum beliebtesten Lehrer gewählt wurdest.« »Ich unterrichte eine außergewöhnliche Gruppe junger Leute. Ich bin froh, dass sie mich ebenso sehr zu mögen scheinen wie ich sie«, erwiderte er. - 26 -
»Hast du je daran gedacht, etwas anderes als Lehrer zu werden?« »Nun, mein Vater wollte, dass ich Arzt werde, und meine Mutter wollte, dass ich Präsident werde, und ich wäre am liebsten… Clown geworden.« »Was?« »Als Kind ging ich gerne in den Zirkus, und da habe ich diesen Mann in seinem verrückten Kostüm gesehen. Der konnte jonglieren und auf einem Elefanten reiten, und die Leute liebten ihn, und ich dachte, das ist das Richtige für mich.« »Wie lange hat das gedauert?« »Bis zur Junior High. Dann wurde mir langsam klar, dass ich Lehrer werden wollte. Außerdem, wenn man den Leuten erzählt, dass man Clown werden will, neigen sie dazu, völlig verängstigt zu reagieren.« »Mom hat mich einmal mit in den Zirkus genommen, als ich noch ganz klein war, und dieser Clown rempelte mich an, und ich verlor meine Zuckerwatte, und wir hatten damals nicht viel Geld, sodass sie mir keine neue kaufen konnte, und ich fing an zu weinen. Mom hat den Clown buchstäblich über die Bühne gejagt, ihm die Perücke heruntergerissen und gesagt, dass sie sie ihm erst zurückgibt, wenn er mir eine neue Zuckerwatte kauft.« »Ich wette, das hat er getan.« »Sie war doppelt so groß wie die erste, und ich habe mich auf dem Heimweg ständig übergeben müssen.« »Ja… das klingt nach deiner Mom«, meinte Max und überließ sich einen Moment der liebevollen Erinnerung. Ich konzentrierte mich wieder auf das Interview. »Hast du je bedauert, dass du kein Clown geworden bist?«, fragte ich. »Ich habe für Bedauern nicht viel übrig. Ich glaube fest daran, dass all meine Erfahrungen, auch jene, die sich anders entwickelt haben, als ich dachte, es wert gewesen sind, sie zu ma- 27 -
chen.« Ich blickte zu Max auf, streckte dann die Hand aus und schaltete den Kassettenrekorder ab. Eine Sekunde später sagte ich leise: »Damit du es weißt, ich wollte wirklich, dass du mein Stiefvater wirst.« »Und damit du es weißt«, erwiderte Max ruhig und gleichermaßen aufrichtig, »ich wollte wirklich dein Stiefvater sein.« Wir sahen uns einen Moment an und lächelten, dann streckte ich die Hand aus und schaltete den Kassettenrekorder wieder ein, um das Interview fortzusetzen. Als ich nach Hause kam, setzte ich mich in die Küche und arbeitete an meinem Max-Artikel. Mom kam kurz darauf nach Hause, noch immer gereizt, weil es in Stars Hollow und Umgebung nirgendwo einen anständigen Kaffee gab. Vermutlich bedeutete dies, dass sie sich noch immer nicht mit Luke versöhnt hatte. Während sie sich beschwerte und Kaffeepulver in den Filter löffelte, stand ich auf und ging in mein Zimmer »Wo willst du hin?«, fragte sie. »Ich bin mit meinen Beschwerden noch nicht fertig.« »Ich muss mir nur noch ein paar Notizen machen«, erklärte ich. »Was ist das?«, rief Mom mir nach. »Was?« »Das. Diese Sache, an der du arbeitest«, sagte sie und griff nach dem Schreibblock mit meinen Entwürfen. Ich kam in die Küche zurück. »Das ist mein Interview mit Max«, eröffnete ich ihr. »Welches Interview mit Max?«, fragte Mom. »Die Zeitung will einen Artikel über den Lieblingslehrer des letzten Jahres bringen, und Paris hat mir den Auftrag gegeben, als sie Wind davon bekam, dass du und Max…« »Wow. Nettes Mädchen, diese Paris«, unterbrach mich Mom, während sie den Artikel überflog. »Ja, aber es war gar nicht so schlimm.« - 28 -
»Nein?« »Nein. Es lief eigentlich sogar ziemlich gut. So hatten wir die Chance, über ein paar Dinge zu reden«, sagte ich. »Schön.« Mom lächelte ein wenig und las weiter. »Ja, es „war gut. Ich muss mir noch einen Hefter dafür kaufen, ehe der Laden schließt«, rief ich und lief in mein Zimmer, um etwas Geld zu holen. »Okay«, ließ sich Mom von ihrer Lektüre ablenken. »Das ist ein ziemlich guter Artikel, Missy«, sagte sie nach einem Moment. »Ja?«, fragte ich, während ich mich zur Haustür wandte. »Wirklich gut.« »Er reicht noch nicht ganz an den Artikel über das Parkplatzpflaster heran, aber das schaffe ich schon noch.« »Junge, das liest sich, als wäre er ein echt toller Kerl, nicht wahr?«, sagte Mom ein wenig wehmütig. »Ja, so ist es.« Ich lächelte und ließ sie mit dem Artikel allein. Ich kaufte den Hefter und machte mich auf den Heimweg, als jemand nach mir rief. Ich drehte mich um und sah Jess. »Hey, du«, sagte ich. »Was machst du hier draußen?«, fragte Jess, als wir weitergingen. »Ich brauchte etwas für die Schule«, erwiderte ich. »Was ist mit dir?« »Oh, ja. Dasselbe.« »Ahha. Du bist gestern Abend ziemlich überstürzt verschwunden.« »Festessen und Tupperpartys sind wirklich nicht mein Ding.« »Zu cool für den Schmu, wie?« »Ja. So bin ich eben.« Wir gingen einen Moment schweigend weiter. Jess fummelte an etwas herum. »Was machst du da?«, fragte ich und blieb stehen. »Oh, das?«, sagte er und hielt eine Münze hoch. »Nichts.« Er - 29 -
schloss seine Hand um sie, öffnete sie wieder, und die Münze war weg. »Ich lass nur wieder was verschwinden.« »Willst du einen guten Rat?«, fragte ich. »Klar?« »Wenn du je wieder mit mir reden willst, zieh sie bloß nicht aus meinem Ohr.« »Ich schätze, dann ist die Nase auch eine verbotene Zone.« »Jede Stelle, wo man auf natürliche Weise keine Münze findet. Also belassen wir’s dabei.« Jess nickte, und wir gingen weiter. »Und was machst du jetzt?«, fragte er. »Ich habe noch Hausaufgaben zu erledigen«, erwiderte ich. »Okay. Dann werde ich dich nach diesem letzten kleinen Trick allein lassen.« Jess zog eine Ausgabe von Howl aus seiner Gesäßtasche. Ich war überrascht. »Du hast dir eine Ausgabe gekauft? Ich sagte doch, ich würde dir meine leihen«, erinnerte ich ihn. »Es ist deine«, erklärte er. Ich blieb stehen. »Du hast mein Buch gestohlen.« »Nein. Geborgt.« »Okay, hör zu, das ist kein Trick, das ist ein Verbrechen.« »Ich wollte für dich ein paar Anmerkungen an den Rand schreiben.« »Was?« Ich entriss ihm das Buch und blätterte. »Du hast es schon einmal gelesen«, dämmerte mir. »Etwa vierzigmal.« »Hattest du nicht gesagt, du liest nicht viel?« »Oh, nun ja, wie viel ist viel?« Jess lächelte und wandte sich ab, um zum Diner zurückzukehren. »Gute Nacht, Rory.« »Gute Nacht, Dodger«, erwiderte ich, während ich weiter die Anmerkungen las, die er in mein Buch geschrieben hatte. Jess verharrte. »Dodger?« Jetzt war ich an der Reihe zu lächeln und mich abzuwenden. - 30 -
»Find es selbst heraus«, forderte ich ihn auf. Jess blieb einen Moment auf der Straße stehen und rief dann: »Oliver Twist!« Ich nickte und setzte meinen Heimweg fort. Als ich dort ankam, hatte Mom zwei große Becher Eiskreme auf dem Küchentisch stehen – um die Rückkehr des Teilchentages zu feiern, erklärte sie. Und als wir uns setzten, um den leckeren Nachtisch zu essen, erzählte mir Mom endlich von dem Streit. Jess hatte bei dem Willkommen-in-Stars-HollowAbendessen auf der hinteren Veranda ein Bier getrunken. Als Mom ihn erwischt und zurechtgewiesen hatte, hatte er mit einigen unangemessenen Spekulationen über ihre Beziehung zu Luke reagiert und war dann gegangen. Als Luke herauskam, um sie zu suchen, hatte Mom ihm erzählt, was passiert war, und behauptet, dass er nicht in der Lage sei, mit einem Jungen wie Jess fertig zu werden. Luke war daraufhin wütend geworden und hatte Mom geraten, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Anschließend hatte er sich ebenfalls davongemacht. Aber an diesem Abend, kurz nachdem ich gegangen war, war Luke zurückgekehrt und hatte Mom erklärt, dass sie Recht gehabt hatte. Er war wegen Jess so frustriert gewesen, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Also hatte er ihn kurzerhand in den See gestoßen, und erst da war ihm klar geworden, dass ihm die Sache über den Kopf gewachsen war. Als Mom erfuhr, dass Jess schwimmen konnte, versicherte sie Luke, dass er es schon schaffen würde und dass Jess nur ein siebzehnjähriger Junge sei, der etwas Führung brauchte. Bevor er ging, hatte er Mom daran erinnert, am nächsten Tag ins Diner zu kommen und ihr Teilchen abzuholen. »Morgen ist kein Teilchentag«, hatte Mom geantwortet. »Dann komm einfach so.« Und so verwandelten sich Sid und Nancy wieder in Nick und Nora, und am nächsten Morgen saßen wir alle wieder glücklich im Luke’s bei Kaffee und Teilchen.
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3 Geben Sie mir einen Moment Zeit, meine Großeltern Richard und Emily Gilmore vorzustellen. Wir essen jeden Freitag mit ihnen zu Abend, obwohl diese Tradition noch recht neu ist. Mein Großvater hat Yale besucht und ist ein extrem erfolgreicher Geschäftsmann und Vizepräsident der Gehrman-Driscoll Insurance Corporation, einer der größten Versicherungsgesellschaften des Landes. Er leitet die internationale Abteilung, was ihn zu Orten auf der ganzen Welt geführt hat, und er teilt meine Liebe zur schöngeistigen Literatur. Meine Großmutter ist die perfekte Gesellschaftsdame und in vielen sozialen und wohltätigen Organisationen tätig. Sie ist außerdem ein extrem anspruchsvoller Boss und neigt dazu, ihre Bediensteten reihenweise zu verschleißen. Wir sehen dasselbe Hausmädchen selten länger als zwei Wochen. Moms Verhältnis zu den beiden ist ziemlich angespannt, seit sie mit sechzehn mit mir schwanger wurde und sich entschied, meinen Vater Christopher Haden, dessen Eltern ähnlich gestrickt sind, lieber nicht zu heiraten. Stattdessen zog sie kurz nach meiner Geburt aus dem Haus meiner Großeltern aus und kam nach Stars Hollow, wo sie heute die Managerin des hoch angesehenen Independence Inn ist. Als ich in Chilton aufgenommen wurde, musste Mom zu meinen Großeltern gehen und sie bitten, ihr das Geld für meine Ausbildung zu leihen. Sie waren einverstanden, aber nur unter der Bedingung jener wöchentlichen Abendessen. Die Entscheidung fiel meiner Mom extrem schwer, da sie so viele Jahre damit verbracht hatte, sich von ihnen abzunabeln, aber wir lebten in Chilton, was mich hoffentlich nach Harvard bringen würde, und so stimmte sie schließlich zu und akzeptierte ihre Bedingung. Ich persönlich genieße diese Abendessen am Freitag, und ich denke, ein kleiner Teil meiner Mutter er- 32 -
wärmt sich allmählich ebenfalls dafür. Also standen wir am Freitagabend wieder mal vor dem außerordentlich großen Haus meiner Großeltern in Hartford und warteten darauf, dass die Tür geöffnet wurde. Schließlich tauchte ein ziemlich nervöses Hausmädchen auf. »Ja?« »Hi«, sagte Mom. »Hallo«, antwortete das Hausmädchen, das anscheinend abgelenkt war und immer wieder über die Schulter sah. Mom und ich wechselten einen Blick. »Sie sind neu«, stellte Mom fest. »Ich habe gestern angefangen«, bestätigte das Hausmädchen. »Wie heißen Sie?«, fragte Mom. »Leisal«, antwortete das Hausmädchen. »Okay, Leisal, ich bin Brigitta, das ist Gretel, und ich glaube, dass Emily und Richard uns erwarten«, sagte Mom. »Oh. Tut mir Leid. Bitte, kommen Sie herein.« Leisal sah immer wieder nervös zur Treppe, als wir das Haus betraten. Der Grund dafür waren, wie wir schnell herausfanden, offenbar die lauten, streitenden Stimmen von oben. »Äh, kann ich, äh, Ihnen einen Drink anbieten?«, fragte Leisal. »Wissen Sie was? Das ist schon okay. Ich kann ihn mir selbst holen. Warum verstecken Sie sich nicht in der Küche?«, schlug Mom vor. Leisal war erleichtert. »Wirklich? Danke.« Und sie eilte davon. »Was ist hier los?«, wunderte ich mich. »Ich weiß es nicht. Ich denke, George und Martha sind auf dem Weg zum Abendessen«, erwiderte Mom, als Grandma und Grandpa die Treppe herunterkamen und auf dem Absatz stehen blieben, ohne uns zu bemerken. »Ohne mir etwas zu sagen!«, rief Grandma. »Ich wusste nicht, dass ich dir über jedes meiner Gespräche Bericht erstatten muss«, erwiderte Grandpa. - 33 -
»Ich bin seit acht Jahren die stellvertretende Vorsitzende der Starlight-Stiftung.« »Das weiß ich, Emily.« »Und der Schwarz-und-Weiß-Ball ist die wichtigste Spendenaktion der Saison.« »Es geht nur um dieses eine Jahr.« »Die stellvertretende Vorsitzende kann unmöglich die wichtigste Spendenaktion verpassen.« »Warum? Wird denn nicht die erste Vorsitzende dort sein?« »Findest du das komisch?« »Emily, ich habe im Büro zu viel um die Ohren. Ich habe wirklich keine Zeit für frivole Partys.« »Frivole Partys? Friv… ooh!«, ereiferte sich Grandma kochend. Wütend stürmte sie die Treppe wieder hinauf. Grandpa folgte ihr. »Wo willst du hin? Komm zurück!« »Wow. Das ist übel«, bemerkte ich. »Ich weiß. Ich wünschte, wir hätten Popcorn.« »Mom…« Die Stimmen wurden wieder lauter. »Pst. Sie kommen«, sagte Mom. Grandma und Grandpa tauchten wieder auf der Treppe auf, und Grandma ging eine Hand voll Einladungen durch. »Die Hartford-Auktion für den zoologischen Garten, das Wohltätigkeitsessen für die Restaurierung des Mark-Twain-Hauses, die Harriet-Beecher-Stowe-Literaturauktion…« »Ich kann selbst lesen, weißt du«, knurrte Grandpa. »Das ist die vierte Veranstaltung, die du eigenmächtig abgesagt hast. Und ich bin im Vorstand all dieser Stiftungen. Wie stehe ich deiner Meinung jetzt da?« »Als wäre dein Ehemann beschäftigt und hätte eine Menge Verpflichtungen.« »Nun, ich habe auch Verpflichtungen.« »Ich weiß, dass deine Wohltätigkeitsveranstaltungen wichtig - 34 -
für dich sind…« »Es sind nicht nur Wohltätigkeitsveranstaltungen.« »Alles, wo Tee serviert wird, ist eine Wohltätigkeitsveranstaltung.« »Das reicht! Ich werde mir einen Kassettenrekorder besorgen, damit du hören kannst, wie aufgeblasen und herablassend du klingst«, sagte Grandma und stürmte wieder die Treppe hinauf. »Emily!«, rief Grandpa ihr nach. »Nein, ich an deiner Stelle würde mich nicht beim Wort nehmen. Ich könnte von all dem Tee, den ich trinke, im Delirium sein«, sagte Grandma, als beide erneut am Ende der Treppe verschwanden. »Vielleicht sollten wir gehen«, sagte ich. »Machst du Witze? Uns wird hier zum Abendessen ein Theaterstück geboten.« »Aber Grandma und Grandpa streiten sich offenbar.« »Ja?« »Wahrscheinlich wollen sie nicht, dass wir ihnen dabei zusehen.« »Hey, wir sind hier völlig unschuldig reingestolpert. Wir, sind wie gewöhnlich zum Abendessen gekommen, auf ihre Bitte hin, und wir hatten keine Ahnung, dass wir in den, König der Löwen ohne Puppenköpfe hineingeraten.« Grandma tauchte wieder am Ende der Treppe auf, diesmal dicht gefolgt von Grandpa, der ihr einen kleinen Kassettenrekorder hinhielt. »Weg mit dem Ding«, fauchte Grandma. »Sag das mit dem Tee noch einmal«, verlangte Grandpa. »Du benimmst dich wie ein Kind«, erwiderte Grandma. »Würdest du dich bitte umdrehen, wenn du was zu sagen hast? Ich weiß nicht, wie gut dieses Mikrofon ist«, fuhr Grandpa fort. Dann entdeckte er uns. »Oh.« »Was?« Grandma drehte sich um und starrte uns an. Wir alle standen einen Moment da. Dann tat Mom, was sie - 35 -
am besten kann. Sie nahm einen unangenehmen Moment und machte ihn zu ihrem eigenen, klatschte Beifall und rief: »Bravo! Zugabe! Kennt Terrence McNally euch beide? Bringt mir das Telefon.« Grandma und Grandpa standen da und sahen sich ein bisschen verlegen an. Mom machte derweil weiter und riss jubelnd die Arme hoch. Schließlich brachte ich sie zur Vernunft, und wir setzten unseren Freitagabend fort, aber nachdem wir das Haus verlassen hatten, redeten wir nur noch über die Unterhaltungseinlage am frühen Abend. Auf dem ganzen Heimweg, dann im Haus und in meinem Zimmer tat Mom so, als hätte sie einen Kassettenrekorder, mit dem sie alles aufnahm, was ich sagte. Schließlich stoppte ich sie, indem ich mich an meine Hausaufgaben setzte, aber dann ging sie, um den Anrufbeantworter abzuhören, und wie es das Schicksal wollte, war eine Nachricht von Grandpa auf dem Band. Er hatte vergessen, mir ein Buch zu geben, und wenn ich Zeit hätte, sollte ich nach der Schule vorbeikommen und es abholen. Seine Stimme allein genügte natürlich, um Mom erneut zur Höchstform auflaufen zu lassen, doch nachdem sie mir die Nachricht ausgerichtet hatte, ging sie zu Bett. Und während ich an meinem Aufsatz arbeitete, hörte ich, wie sie oben Grandma und Grandpa nachäffte. Da Mom am Montagmorgen in aller Frühe eine Besprechung hatte, trafen wir uns im Luke’s zum Frühstück. Ich wollte, dass sie meinen Essay las, bevor ich ihn ablieferte, also gab ich ihn ihr und wartete. Und wartete. Die Sache mit dem Aufsatz machte mich richtig nervös, und ihre Nullreaktion machte es nicht gerade leichter für mich. Sie musste ihn hassen. Warum^ sagte sie nichts? Ich konnte es nicht länger ertragen. »Nun?«, fragte ich schließlich. »Einen Moment«, bat Mom, während sie weiterlas. »Er ist schlecht. Ich weiß, dass er schlecht ist. Sag mir, dass er schlecht ist«, rief ich. - 36 -
Mom legte den Aufsatz zur Seite und lächelte mich breit an. »Er ist großartig.« »Nein, ist er nicht.« »Es ist eine Eins.« »Lüg nicht.« »Eins plus.« »Du bist meine Mom.« »Gibt es eine bessere Note als Eins plus?« »Du musst das sagen.« »Es ist eine Eins plus mit einer Krone und einem Zepter.« »So erzieht man keine Kinder. Man schickt sie nicht mit einem falschen Gefühl des Stolzes in die Welt hinaus. Denn dort draußen in der wirklichen Welt wird dich niemand verhätscheln. Ich würde es lieber jetzt erfahren, ob ich dereinst für CNN arbeiten oder lediglich einen Korb mit Sandwiches durch die Büros schleppen werde.« »Rory!«, unterbrach Mom. »Ja?« »Er ist großartig«, wiederholte Mom aufrichtig. Ich lächelte. »Wirklich?« »Wirklich, wirklich«, erwiderte sie. »Danke.« Ich nahm Mom den Aufsatz ab, als Luke herbeieilte, um hastig unsere Kaffeetassen zu füllen. »Kaffee. Kaffee. Okay, was wollt ihr? Eier? Toast? Beides?«, sprudelte Luke hervor. »Wow. Wozu die Eile, Zippy?«, fragte Mom. »Ich stehe heute ziemlich unter Druck. Eigentlich sollte ich -« Luke blickte die Treppe zu seinem Apartment hinauf. »… Hilfe haben, aber daraus ist nichts geworden, also bestellt jetzt, oder ich bringe euch beiden ein Eiweißomelett mit einer Portion gedünstetem Spinat.« »Pfannkuchen«, sagte Mom rasch. »French Toast«, fügte ich ebenso schnell hinzu. »Danke.« Luke füllte weiter am Tresen die Kaffeetassen auf. - 37 -
Jess kam die Treppe herunter, und Luke ging zu ihm und sah auf seine Uhr. »Jess, du solltest bereits um…« Dann bemerkte er, was Jess anhatte – ein ziemlich grausiges Metallica-T-Shirt mit einem großen Totenschädel und gekreuzten Knochen. »Was zum Teufel ist das?« »Was?« »Das.« »Das ist ein T-Shirt.« »Zieh dich um.« »Was?« »Geh nach oben und zieh dir was anderes an.« »Ich mag dieses T-Shirt.« »Wie kannst du dieses T-Shirt mögen?« »Es betont meine Augen.« »Dies ist ein Lokal. Hier essen Leute.« »Okay, Moment, Moment…«Jess zog einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Gesäßtasche und begann zu schreiben. »Dies ist ein Lokal, hier essen Leute. Okay, gut zu wissen. Mach weiter.« Luke entriss Jess Notizblock und Kugelschreiber. »Hey! Wir haben vereinbart, dass du hier bleiben kannst, wenn du hier arbeitest, und wenn du hier arbeitest, wirst du anständige Arbeitskleidung tragen, und das ist keine anständige Arbeitskleidung. Jetzt geh nach oben, und zieh dir etwas an, das meine Gäste nicht zu Tode ängstigt.« »Ganz wie du willst, Onkel Luke«, sagte Jess, als er die Treppe hinaufstieg. »Tolles T-Shirt«, meinte Mom. »Ja«, bestätigte ich. »Gute Band«, bemerkte Mom. »Oh, ja«, stimmte ich zu, während wir unsere Kaffees schlürften und auf unser Frühstück warteten. Nach der Schule ging ich zu Grandma und Grandpa, um das Buch abzuholen. Ein neues Hausmädchen öffnete die Tür und - 38 -
führte mich auf die Terrasse, wo Grandma mit ihrer Gruppe der Daughters of the American Revolution saß. »Oh, Rory. Was für eine nette Überraschung«, sagte Grandma. »Hey, Grandma. Tut mir Leid, dass ich hier einfach so hereinplatze.« »Unsinn. Komm und begrüße meine Freundinnen. Ladys, ich möchte euch gerne meine Enkelin Rory vorstellen.« Ich schüttelte Vivian, Natalie und Sunny die Hand. »Meine Güte, was für ein hübsches Mädchen du bist«, sagte Natalie. »Sie sieht genau wie Lorelai aus, nicht wahr?«, fügte Sunny hinzu. »Die Augen…«, sagte Natalie. »Die Nase…«, meinte Vivian. »Beweg dich mal, Schätzchen«, bat Sunny. »Sunny, lass das Mädchen in Ruhe!«, befahl Grandma. »Ich wollte nur sehen, wie sie geht. Lorelai hatte einen ganz speziellen Gang«, fuhr Sunny fort. »Schnell«, fügte Vivian hinzu. »Genau«, nickte Sunny. »Komm, setz dich. Möchtest du Tee?«, fragte Grandma. »Oh, nein. Ich bin nur gekommen, um ein Buch abzuholen, das Grandma mir geben wollte.« »Sieh in seinem Arbeitszimmer nach. Es liegt vielleicht auf seinem Schreibtisch«, sagte Grandma. »Okay. Danke.« Ich ging wieder ins Haus, fand das Buch dort, wo Grandma es vermutet hatte, und kehrte auf die Terrasse zurück, um Auf Wiedersehen zu sagen. »Ich habe es gefunden«, erklärte ich und hielt das Buch hoch. Grandma und ihre DAR-Gruppe drehten sich um, starrten mich an und lächelten breit. Irgendwie flößte mir das unglaubliches Unbehagen ein. »Tja«, fügte ich verlegen hinzu. »Rory, würdest du bitte einen Moment hierher kommen?«, - 39 -
fragte Grandma. »Okay«, sagte ich ein wenig misstrauisch, als ich zu ihrem Tisch ging. Die Damen machten Platz für mich, und ich setzte mich. Dann erzählten sie mir von dem bevorstehenden Debütantinnenball der Daughters of the American Revolution und wie wichtig es sei, in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Grandma wurde immer aufgeregter, während sie sprach, und ich konnte nicht ablehnen, als sie mich fragte, ob ich daran teilnehmen wollte. Ich würde also eingeführt werden. Damit habe ich mich abgefunden. Meiner Mutter davon zu berichten würde ungleich schwieriger sein.
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4 Als ich heimkam, war Mom in der Küche und machte Hausaufgaben für den Betriebswirtschaftskurs, den sie einmal in der Woche besuchte. Auf der Heimfahrt hatte ich ein paar DAR-Broschüren durchgeblättert, die Grandma mir mitgegeben hatte, und mir war klar geworden, dass es keine schonende Möglichkeit gab, Mom diese Art von Neuigkeit beizubringen, also ging ich ins Haus und erklärte: »Ich werde eingeführt.« »In was?«, fragte Mom, ohne von ihren Büchern aufzublicken. »In die Gesellschaft«, gab ich zurück und trat an den Küchentisch. Mom las weiter. »Wovon redest du?« »Nun, nach der Schule habe ich Grandma besucht…«, begann ich, nahm meinen Rucksack ab und setzte mich neben Mom an den Tisch. Das brachte sie dazu, endlich den Kopf zu heben. »Okay, das fängt schon mal übel an«, meinte Mom. »Und all ihre DAR-Freundinnen waren da und redeten über den bevorstehenden Debütantinnenball…« »Oh, nein«, rief Mom mit unglücklichem Gesicht. »Und als ich aus Grandpas Büro zurückkam, haben sie mich alle auf die Terrasse gebeten…« »Nein, nein, nein!« Mom ergriff meine Hand. »Sag mir nicht, dass du die Terrasse betreten hast.« »Ich habe die Terrasse betreten«, erklärte ich. »Oh, Rory, das ist so, als würdest die Position als Drummer bei Spinal Tap akzeptieren.« »Ehe ich wusste, wie mir geschah, erzählte Grandma mir, wie wichtig es für ein Mädchen ist, auf angemessene Weise in die Gesellschaft eingeführt zu werden.« »Ohhh…«, stöhnte Mom und schnitt eine Grimasse. »Und dass jedes junge Mädchen von diesem Tag träumt…« - 41 -
»Ohhh…« »Und dass es dort Blumen gibt…« »Oh, Gott…« »Und Musik…« »Bitte…« »Und Kuchen…« »Oh, ja«, sagte Mom, plötzlich hellhörig, »der Kuchen ist wirklich gut.« »Und ehe ich wusste, wie mir geschah, holte Grandma ihr altes Kleid heraus, und ich probierte es an und…« Mom stand auf und wandte sich zum Telefon. »Was hast du vor?« »Ich werde dich da rausholen«, sagte sie, während sie wählte. »Mom, warte…« »Ich schwöre, nichts auf der Welt kann meine Mutter besser, als jemanden dazu zu bringen, sich mit etwas einverstanden zu erklären, das er in jedem anderen Universum nicht einmal in Erwägung gezogen hätte.« »Mom…« »Ich bin noch immer davon überzeugt, dass sie etwas damit zu tun hatte, dass Lily Tomlin diesen Film mit John Travolta gedreht hat.« Ich nahm ihr das Telefon ab. »Ich mache das.« »Warum?« »Weil du den Ausdruck auf Grandmas Gesicht hättest sehen müssen, als sie mich fragte. Es ist wirklich, wirklich wichtig für sie.« »Aber…« »Nein. Wenn es so wichtig für sie ist und nicht so unwichtig für mich, warum sollte ich es dann nicht tun?« »Rory, weißt du, was eine Debütantinnenparty bedeutet?« »Sie bedeutet, dass ich jetzt eine Frau bin.« »Nein, sie bedeutet: >Hi, ich bin Rory. Ich bin im fortpflanzungs- und heiratsfähigen Alter und werde jetzt vor jungen - 42 -
Männern herumstolzieren, die ebenfalls im fortpflanzungs- und heiratsfähigen Alter sind, damit sie mich alle genau in Augenschein nehmen können.<« »Du übertreibst.« »Nein, es ist wie bei der Viehauktion auf der Countymesse, nur dass Schafe keine Reifröcke tragen.« »Hör zu, ich habe es versprochen. Aber du musst dabei nicht mitmachen, wenn du nicht willst.« »Nein. Nein. Wenn du es tun willst, werde ich dir helfen. Es ist bloß seltsam. Das sind alles Dinge, vor denen ich damals weggelaufen bin. Ich habe einfach… angenommen, dass du mit mir zusammen weglaufen würdest.« »Nun, würde ich ja, aber ich habe gehört, dass Debütantinnen nicht laufen können. Das liegt wohl an den Absätzen oder so.« Mom lächelte mich an. »Bist du dir sicher?« »Ich denke, ich werde das Ganze einfach als soziologische Studie betrachten. Vielleicht kann ich sogar einen Artikel darüber für The Franklin schreiben.« »Also gut, wenn du dir sicher bist…Wo fangen wir an? Nun, mal sehen«, sagte Mom, als wir uns wieder an den Tisch setzten. »Du hast ein Kleid, du wirst eine Mitgift brauchen, schätze ich.« Sie gab mir einen Kaffeeweißer in Form einer Kuh. »Hier. Und du brauchst Schuhe, Strümpfe Handschuhe, ein paar Mäuse, einen Hund, einen Kürbis…« Wir nahmen eine Broschüre von dem Stapel, den Grandma mir mitgegeben hatte, und suchten nach Tipps. Und dann sah ich es. »Was ist los?«, fragte Mom, als sie meine Grimasse bemerkte. »Äh, nichts«, log ich. »Rory…« Ich zögerte einen Moment und sagte es ihr schließlich doch. »Hier steht nur, dass man bei der Zeremonie vom Vater begleitet werden sollte.« »Oh.« Mom schlug die Broschüre zu und sah mich an. - 43 -
»Egal. Es ist keine große Sache«, stotterte ich. »Ich kann jemand anderes bitten. Grandpa wahrscheinlich.« »Rory…« »Oder Taylor.« »Okay…« »Oder den Typ von der Kabelfernsehfirma. Er sah ziemlich freundlich aus. Vielleicht hat er einen Smoking.« »Gib mir das Telefon.« »Das mit dem Kabeltyp „war nur ein Witz«, erklärte ich, als ich ihr das Telefon reichte. Mom nahm es und wählte. »Was machst du?«, fragte ich. »Hör zu, Missy, es gibt eine Menge Dinge bei der Debütantinnenparty, die dir einen Schrecken einjagen sollten, aber deinen Vater einzuladen sollte auf keinen Fall dazu gehören.« Ich hörte aus dem Telefon die Tonfolge und die Bandansage mit der Mitteilung, dass sich die Nummer geändert hatte. »Oh… Kaugummipapier«, sagte Mom und wies auf den kleinen Papierfetzen, der neben mir auf dem Tisch lag. Ich gab ihn ihr. »Er wird nicht kommen«, murmelte ich. »Das wirst du erst wissen, wenn du ihn fragst«, erwiderte Mom und schrieb die Nummer mit dem Marker auf, den sie bei ihren Hausaufgaben benutzt hatte. Sie wählte die Nummer und hörte eine weitere Band ansage. »Serviette, Serviette«, drängte sie. Ich reichte ihr eine und sie notierte die neue Nummer, die sie dann wählte. »Vergiss es«, sagte ich. »Ich bin sicher, dass er beschäftig ist. Oder auf Reisen oder…« Mom hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen, als sich tatsächlich jemand meldete. »Oh, tut mir Leid«, sagte Mom in den Hörer. »Ich muss die falsche Nummer gewählt haben. Ich wollte Christopher Haden sprechen.« Sie schwieg einen Moment, und bevor sie fragen konnte, gab ich ihr einen großen Notizblock. »Sehr gut«, nickte sie, als sie ihn nahm und - 44 -
eine weitere Nummer aufschrieb. »Danke«, sagte sie in das Telefon und legte auf. Dann wählte sie wieder. Die Situation wurde allmählich ein wenig lächerlich. »Mom…« »Hör zu, wir rufen an, wir fragen, niemand wird verletzt. Vertrau mir. Der Kabeltyp kommt nicht infrage.« Sie hob den Kopf, als jemand am anderen Ende ans Telefon ging. »Ah, hü Wo zum Teufel bist du?« Sie stand vom Tisch auf und ging ins Wohnzimmer, um das Gespräch fortzusetzen. Ich blieb sitzen, nicht ganz sicher, wie ich mich fühlen würde, wenn Dad Nein sagte. Schließlich hörte ich Mom »Bye« sagen und ging ins Wohnzimmer, um das Urteil in Empfang zu nehmen. »Hey, Little Debbie«, sagte Mom und stand von der Couch auf, »dein Dad wird definitiv dabei sein.« »Du machst Witze.« »Nein, er wird dich die Treppe hinunterführen, eine Runde mit dir drehen, zusehen, wie du einen Knicks machst und erklären, dass Rory Gilmore offiziell geöffnet hat.« »Ich kann es nicht glauben. Und er hat definitiv >definitiv< gesagt?« »Definitiv«, bestätigte Mom mit einem Lächeln. »Also gibt es eine Fünfzig-zu-fünfzig-Chance.« Ich war echt aus dem Häuschen. »Ich weiß es nicht. Er klang ziemlich sicher. Ich würde sagen sechzig zu vierzig«, meinte Mom und legte ihren Arm um mich, während wir zurück in die Küche gingen. Der Debütantinnenball wurde schnell zum wichtigsten Punkt in unserem Leben, hauptsächlich, weil Grandma alle paar Sekunden deswegen anrief. Ihren Broschüren entnahm ich, dass ich nicht nur meinen Dad, sondern auch noch einen weiteren Begleiter für den Abend brauchte, und ich fand es passend, dass diese Person mein Freund Dean Forrester sein sollte. Zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, war der einfache Teil. Ihn davon zu überzeugen, an einer Veranstaltung teilzunehmen, bei - 45 -
der er einen Smoking tragen musste – nun, der Teil würde einige Mühe kosten. Nach einiger Überredung sagte er zu, und um ihm zu zeigen, was ihn erwartete, bat ich ihn und Lane, herzukommen und zusammen mit mir ein Video anzuschauen. Mom lief durchs Haus und telefonierte zum siebenundachtzigsten Mal an diesem Tag mit Grandma, und wir waren im Wohnzimmer und sahen uns das Band an. Ich saß auf der Armlehne, Dean neben mir auf der Couch und Lane an seiner Seite. Ich drehte mich zu Dean um. »Und?« »Und was?«, erwiderte Dean. »Es ist gut, nicht?«, fragte ich und zeigte auf den Fernseher. »Das ist die Rock-and-Roll-Hall-of-Fame-Aufnahmefeier«, erklärte er. »Ja. Und sieht Neil Young nicht cool aus?«, sagte ich begeistert. »Schon möglich«, erwiderte er halbherzig. »Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, er trägt einen Smoking«, fuhr ich fort. Es funktionierte nicht. »Neil Young sieht cool aus, weil er Neil Young ist, und nicht, weil er einen Smoking trägt«, konterte Dean. Mom kam ins Wohnzimmer zurück und telefonierte noch immer. »… Nein, ich muss sie nicht fragen, Mom, weil ich die Antwort bereits kenne. Ich kenne die Antwort, Mom, ich kenne die Antwort. Ja… Nein… Okay, nun, ich muss sie nicht fragen, Mom… Einen Moment.« Dann wandte sie sich an mich und fragte, ob ich wollte, dass Grandmas Coiffeur mir vor dem Ball die Haare machte. Ich sah sie entsetzt an, und sie sprach wieder in den Hörer. »Oh, ich habe sie nicht aufgehetzt, Mom. Unterhalten wir uns wieder über die Handschuhe…« Und sie ging wieder aus dem Raum. »Ich denke, du wirst in einem Smoking toll aussehen«, sagte ich zu Dean. »Smokingzwang«, fügte Lane hinzu, während sie in einer der - 46 -
DAR-Broschüren blätterte. Dean warf Lane einen kurzen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass sie nicht scherzte, und sah mich dann überrascht an. »Was?« »Ja«, fuhr Lane fort, »hier steht, dass alle Begleiter einen schwarzen Smoking, weißen Kummerbund und weiße Handschuhe tragen müssen.« »Was?«, wiederholte Dean, diesmal empört. »Ich bin sicher, dass die Handschuhe optional sind«, meinte ich, um ihn zu beruhigen. »Nach dem, was hier steht, nicht.« Lane hielt die Broschüre hoch. »Smokingzwang? Handschuhe?«, wiederholte Dean. »Denk an Neil Young«, mahnte ich. Dean starrte mich nur an. »Denk daran, dass du mich liebst.« Er starrte weiter und sagte nichts. »Denk daran, dass ich mir einen Monat lang mit dir Battlebots ansehen werde.« Dean seufzte. »Zeig mir noch einmal Neil Young«, bat er. Als ich das Band zurückspulte, hupte in der Einfahrt mehrmals ein Auto. »Dad!« Ich sprang auf und rannte zur Tür, dicht gefolgt von meiner Mom. »Dad!«, rief ich wieder, als ich die Treppe hinunter zu meinem Dad lief, der neben seinem Wagen stand. »Wow! Bleib sofort stehen«, sagte Dad. Ich erstarrte ein paar Schritte von ihm entfernt zur Salzsäule. »Eine Lady läuft niemals einem Gentleman entgegen, der nicht angemeldet wurde«, fuhr er fort. »Tut mir Leid. Wir haben meine wilde Seite noch nicht ganz gezähmt«, erwiderte ich und strahlte ihn an. »Nun, Gott sei Dank, dass ich jetzt hier bin«, erklärte er. Ich ging zu ihm und zog ihn an mich. »Ich habe dich vermisst.« »Ich dich auch«, gab er zurück. »Hey!«, sagte meine Mom und küsste meinen Dad auf die Wange. »Was ist das?« Sie trat an den nagelneuen Wagen mei- 47 -
nes Dads. »Was? Oh, mein Gott, wo ist der denn hergekommen?«, rief mein Dad und tat so, als wäre er überrascht, als er sich umdrehte und seinen Volvo betrachtete. »Was ist aus deinem Motorrad geworden?«, fragte Mom. »Es klingt verrückt, aber irgendwer in der Autowaschanlage hat die Schlüssel vertauscht«, entgegnete Dad mit einem Lächeln. »Das ist ein Auto«, erinnerte Mom. »Ja, das ist es.« »Es hat vier Räder und ein Dach und Airbags und Sicherheitsgurte, und, mein Gott, es riecht wie ein Wald«, sagte sie, als sie den Kopf in das offene Fenster auf der Fahrerseite steckte. Dad ging zum Heck des Wagens. »Na ja, ich brauchte mehr Platz, weil ich etwas Großes transportieren musste.« Er nahm ein schweres Päckchen aus dem Kofferraum und reichte es mir. »Ich glaube, das gehört dir.« »The Compact Oxford English Dictionary!«, rief ich aufgeregt, als ich das Päckchen an mich nahm. Dad lächelte bei meiner Reaktion. »Ich habe dir versprochen, dass ich dir eine Ausgabe besorge. Es tut mir nur Leid, dass es so lange gedauert hat.« »Schon okay«, sagte ich. Ich konnte meine Augen nicht von dem Wörterbuch wenden. »Die gute Nachricht ist, dass dies die neueste Ausgabe ist. Hätte ich dir die alte geschenkt, würde vermutlich das Wort >jiggy< fehlen«, fuhr Dad fort. »Danke! Ich liebe es! Ich werde sofort ein paar Dinge nachschlagen!« Ich wollte schon ins Haus rennen, als Dad mich zurückhielt und ein Vergrößerungsglas aus seiner Tasche zog und es mir gab. Ich rannte zurück ins Haus, um Lane und Dean mein neues Spielzeug zu zeigen. The Compact Oxford English Dictionary ist die einbändige - 48 -
Version des zwanzigbändigen Oxford English Dictionary (allgemein als das beste Wörterbuch der Welt bekannt). Es enthält nicht nur aktuelle Wörter und ihre Bedeutung, sondern auch längst veraltete. Neun Seiten der zwanzigbändigen Ausgabe sind in der einbändigen Version verkleinert und auf einer Seite abgedruckt. Man braucht ein Vergrößerungsglas, um die Einträge zu lesen. Alle richtigen Schriftsteller besitzen das OED. Während wir Wörter nachschlugen, dröhnte laute MetalMusik der Band Rammstein aus Dads Wagen. Ich nutzte die Gelegenheit, ein paar meiner neuen, ausgefallenen Wörter zu benutzen und bat sie, die Kakofonie zu mitigieren. Sie können die Begriffe gerne nachschlagen. Nachdem ich Dean dazu gebracht hatte, den Smoking zu akzeptieren, konzentrierten wir uns als Nächstes auf das Tanzen. Auf den Kotillon sollte ein formeller Tanz mit meinem Begleiter folgen, daher nahmen Dean und ich Tanzunterricht bei Miss Patty. Sie drückte die Abspieltaste ihres Kassettenrekorders, Frank Sinatras Aufnahme von »The Way You Look Tonight« ertönte, und wir versuchten unbeholfen, Walzer oder Foxtrott oder Twostepp zu tanzen, während Miss Patty uns Anweisungen zurief. »Zählt im Kopf die Schritte«, instruierte uns Miss Patty. »Seht euch in die Augen. Dean, führst du?« »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte er frustriert. »Okay, okay, stopp, stopp, stopp«, rief Miss Patty und stellte die Musik ab. »Merkt euch eins, zu den wichtigsten Dingen beim Ballsaaltanzen gehört, sich auf einen Punkt zu konzentrieren, damit euch nicht schwindlig wird. Ich möchte jetzt, dass ihr euch etwas aussucht, auf das ihr euch konzentriert. Ich habe früher gerne einen einsamen Seemann angesehen«, sagte sie und senkte die Stimme. »Wenn ihr euch dreht, dreht auch den Kopf und sucht euren Punkt.« Sie demonstrierte es, indem sie herumwirbelte und »Hallo, Matrose!« rief. »Hallo, Matrose. Hallo, Matrose. Jetzt versucht ihr es.« - 49 -
»Sie wollen mich auf den Arm nehmen«, murmelte Dean. »Ich denke, du schaffst es auch ohne >Hallo, Matrose< zu rufen«, ermutigte ich ihn. »Rory…« »Battlebots«, erinnerte ich ihn. »Für den Rest deines Lebens«, erklärte er. Miss Patty ließ die Musik weiterlaufen, Dean nahm mich in seine Arme, und wir fingen noch einmal von vorn an. »Hey, ihr werdet wirklich besser. Jetzt seht ihr euch sogar an«, sagte Mom, als sie und Dad mit Kaffee und Muffins in das Studio kamen. »Braucht jemand eine Pause?«, fragte Dad. Dean nickte hastig, und Miss Patty stimmte widerwillig zu. »Nun, wie läuft es?«, flüsterte Mom, als Miss Patty nach draußen ging, um eine Zigarette zu rauchen. »Eigentlich bin ich nicht besonders gut«, gestand ich. »Ja, was mich ziemlich bremst, denn ich bin ein Naturtalent«, fügte Dean hinzu. »Nun, vielleicht brauchst du nur einen Glitzerhandschuh und einen echt irren Gesichtsausdruck«, sagte Mom. »Einmal hat Miss Patty befürchtet, Dean könnte sich verletzen, und ich musste mich in die Ecke setzen und zusehen«, berichtete ich. »Hey, niemand stellt mein Baby in eine Ecke«, sagte Mom in gespielter Entrüstung. »Es ist nicht deine Schuld«, erklärte Dad in dem Versuch, mich zu trösten. »Ballsaaltanzen ist eine wundervoll sexistische Angelegenheit. Jede Frau kann es. Sie braucht nur einen starken männlichen Führer. Keine Beleidigung, Dean.« Er wirbelte spielerisch meine Mom herum, die nicht ganz mitkam, und sie gerieten ins Stolpern. »Na ja, fast jede Frau kann es.« »Ich war nicht vorbereitet, ich war nicht vorbereitet«, protestierte Mom. »Ich verlange eine zweite Chance.« »Schön.« Dad trat von Mom zurück, drehte die Musik auf - 50 -
und fragte sehr höflich: »Darf ich Sie um diesen Tanz bitten?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Mom, als Dad sie in die Arme nahm. »Haben Sie Treuhandvermögen?« Zu mir sagte sie: »Das musst du immer vorher klären.« Dad tanzte mit ihr zu den Walzerklängen durch den Raum. Beide lachten, aber sie fanden schnell ihren Rhythmus und führten eine wirklich wundervolle, perfekt choreografierte Sequenz von Schritten vor. Dean und ich wechselten einen erstaunten Blick. Miss Patty beobachtete alle von der Tür aus, wo sie ihre Zigarette zu Ende rauchte. Ich denke, selbst Mom und Dad waren ein wenig überrascht, und als sie ihren Tanz beendeten, klatschten wir alle Beifall. »Okay, ich bin adoptiert«, sagte ich. »Ja, das kriege ich nie hin«, nickte Dean. »Ach was, ihr braucht nur ein wenig Übung«, ermutigte Dad uns. »Hör auf deinen Vater, Rory. Deinen bewundernswerten, bewundernswerten Vater«, sagte Miss Patty. »Komm«, wandte sich Mom an meinen Dad, »verschwinden wir von hier, bevor du Pattys nächster Mann wirst.« »Bis später«, rief Dad uns zu. »Bye, Patty«, fügte er flirtend hinzu. Miss Patty seufzte tief. »Ohhh, wie Sie mit mir spielen.« Und dann setzten wir unseren Tanzunterricht fort. Als Dean und ich nach Hause kamen, hatte Mom eine obszöne Menge an chinesischem Essen bestellt, die Schachteln nahmen den ganzen Couchtisch ein. Sie murmelte etwas von einer »Henkersmahlzeit«. Als wir mit dem Essen fertig waren, versuchte Dad, Dean zu zeigen, wie man eine Fliege band, während Mom und ich den Tisch abräumten. Dann lackierte ich mir die Zehennägel, und Mom demonstrierte die Fähigkeiten, die sie in ihrer wohl behüteten Kindheit gelernt hatte, indem sie ein Buch auf dem Kopf balancierte, im Zimmer herumspazierte und gleichzeitig mit Stäbchen aus einer Schachtel aß. »Seht ihr, - 51 -
nur eine Lady kann anmutig mit einem Buch auf dem Kopf in einem Zimmer herumgehen und Hühnchen Kung Pao essen«, informierte sie uns. »Und eine wirkliche Lady kann sogar die Erdnüsse zurück in die Schachtel spucken, ohne dass jemand es bemerkt.« »Wow«, machte ich beeindruckt. »Nun ja, aber lass dich nicht einschüchtern. Du musst üben und nochmals üben, um mein Niveau zu erreichen.« Sie neigte den Kopf, und das Buch fiel in ihre Hand. »Möchte jemand die letzte Eierrolle?«, fragte ich. »Ah, nein«, erwiderte Dean. Ich griff danach. »Hey, was hast du vor?«, ging Mom dazwischen und streckte den Arm aus, um meine Hand zu blockieren. »Ich will mir die Eierrolle nehmen.« »Du willst dir selbst die Eierrolle nehmen?« »Ja.« »Nein«, wies sie mich zurecht. »Ladys nehmen sich nie selbst die Eierrolle. Ladys nehmen sich nie selbst irgendetwas. Sie nehmen sich nicht mal die Zeit für eigene Ideen«, sagte sie, als sie mir die Eierrolle gab. »Oh, Mann.« »Sie sitzen nur hilflos da und warten darauf, dass ein junger, starker Mann vorbeikommt und ihnen hilft. Sie treten nicht in Pfützen, sie steigen nicht über Pfützen. Sie können Pfützen nicht einmal ansehen. Sie müssen mit verbundenen Augen in einen Sack gesteckt und über Pfützen getragen werden.« »Gibt es nicht irgendeine Regelung, wie lange Ladys reden dürfen?«, fragte ich, während ich die Eierrolle verzehrte. »Ah… nein. Jetzt sprich mir nach: >Ich bin vollkommen hilflos.<« Dad hatte Dean inzwischen die Kunst des Fliegenbindens gezeigt. Da ich mich wegen meiner Zehennägel noch immer nicht bewegen konnte, kam Dean zur Couch herüber und gab mir - 52 -
zum Abschied einen Kuss. »Wir sehen uns um drei.« Er wandte sich ab, doch ich hielt ihn auf und gab ihm eine Schachtel. »Was ist das?« »Deine Handschuhe«, erklärte ich. »Ich dachte, du machst Witze«, sagte Dean. »Oh, nein. Ladys machen nie Witze«, klärte Mom ihn auf. Dean seufzte, nahm die Schachtel und verschwand durch die Tür. »Ich denke, ich gehe auch ins Bett«, sagte ich und Stand von der Couch auf. »Brauchst du Hilfe?«, fragte Mom. »Nein«, erwiderte ich. »Falsch. Die korrekte Antwort ist Ja! Ladys brauchen bei allem Hilfe!«, verkündete Mom. »Gute Nacht«, sagte ich und humpelte unbeholfen auf meinen Fersen nach draußen. Ich putzte mir die Zähne und schlüpfte ins Bett, wobei ich auf meine noch feuchten Nägel achtete. Mom kam kurz darauf herein, zog die Decke über mich und achtete sorgfältig darauf, dass meine lackierten Nägel frei lagen. »Hast du noch mal versucht, Grandma zu erreichen?«, fragte ich. Grandma „war ungewöhnlich still gewesen, wenn man bedachte, dass der Ball morgen stattfand. Sie hatte sogar an diesem Freitagabend auf unser gemeinsames Essen verzichtet. »Sie ist noch immer nicht da«, erwiderte sie. »Ich hoffe, alles ist okay.« »Ich bin sicher, dass alles in Ordnung ist. Du wirst sehen. Sie wird dort sein und dir zuschauen, und sie wird begeistert sein.« »Das hoffe ich.« »Okay, schlaf gut. Morgen bist du eine Frau. Sonntag fängst du eine Therapie an. Und Dienstag in einer Woche beginnt die Sauftour.« »Großartig. Du weißt, wie sehr ich ein geregeltes Leben mag.« - 53 -
»Gute Nacht.« Mom machte das Licht aus und ging hinauf in ihr Schlafzimmer. Ich war wirklich müde, und obwohl mich der Tanz ein wenig nervös machte, dauerte es nicht lange, bis ich eingeschlafen war.
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5 Der Debütantinnenball fand im Ballsaal eines prachtvollen historischen Gebäudes statt, das vor Energie knisterte. Als wir hineingingen, waren die Kellner und das übrige Personal noch mit den Vorbereitungen für den großen Abend beschäftigt. Mom war bereits zurechtgemacht, aber ich war in Jeans gekommen und trug mein weißes Kleid in einem Kleiderbeutel. Der Anblick des Saales flößte mir Ehrfurcht ein; er war atemberaubend. Und ein wenig einschüchternd. »Wow, dieser Laden ist riesig. Muss ich diese Treppe herunterkommen?«, fragte ich mit einem Blick zu der breiten Treppe, die in den ersten Stock führte. »Ich furchte ja. Sofern du nicht einen wirklich denkwürdigen Auftritt haben und das Geländer herunterrutschen willst, wozu ich dich nebenbei ausdrücklich ermutige«, erwiderte sie. Eine streng dreinblickende Frau mit einem Klemmbrett in der Hand trat auf uns zu. »Sie sind…?« »Lorelai Gilmore«, antwortete ich. »… spät dran«, beendete sie ihren Satz. »Tut mir Leid«, sagte Mom. »Meine Schuld. Es hat eine Weile gedauert, mich hübsch zu machen. Wir sind nicht alle sechzehn, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Die Frau starrte meine Mutter schweigend an. Offenbar verstand sie es nicht. Sie wandte sich wieder mir zu. »Sie müssen die Treppe hinauf. Der Vorbereitungsraum liegt rechts.« »Achte auf die giftige Wolke aus Chanel und Final Net«, wies Mom mich an. Ich folgte der strengen Dame und drehte mich nach meiner Mom um. Sie ließ ihre Hand von der Schulter abwärts über den Arm nach unten gleiten und formte mit dem Mund das Wort »Ruuutsch«, als ich zur Treppe ging. Der Vorbereitungsbereich war ein Umkleideraum voller - 55 -
Kleiderständer, Schminktische und beleuchteter Spiegel. In dem Zimmer wimmelte es bereits von Debütantinnen, die alle Hände voll damit zu tun hatten, sich herauszuputzen. Die Organisatorin zeigte mir alles. »Hängen Sie Ihr Kleid dort auf, schminken Sie sich dort drüben. Sie werden es an einem nicht beleuchteten Spiegel tun müssen. Die beleuchteten gingen an die Mädchen, die vor dem Morgengrauen hier waren.« Dann wandte sie sich an die Gruppe. »Hören Sie zu, Ladys. Alle müssen um halb acht fertig und wunderschön sein.« Mehrere Mädchen keuchten entsetzt und schminkten sich mit verstärkter Entschlossenheit weiter. Ich hängte mein Kleid auf, fand einen leeren Stuhl und setzte mich neben ein Mädchen, an dem sich gerade ein Coiffeur zu schaffen machte. Ich nahm Lipgloss aus meiner Jackentasche, trug es sorgfältig auf und verstaute es wieder. Dann betrachtete ich die Mädchen in meiner Nähe. Sie sahen alle so aus, als würden sie am MissAmerica-Wettbewerb teilnehmen. Ich wandte mich dem Mädchen neben mir zu. »Ich kann nicht glauben, dass wir anderthalb Stunden Zeit haben.« »Ich weiß«, erwiderte sie. »Ich werde nie rechtzeitig fertig. Gott allein weiß, ob sich die Schwellung an meiner Nase zurückbilden wird. Ich musste auch unbedingt die Nase meines Vaters erben.« Sie drehte den Kopf und sah mich an. »Ich bin Libby.« »Ror…« »Welchen soll ich auftragen?«, fiel mir Libby ins Wort und hielt zwei rote Lippenstifte hoch. »Ich habe den ganzen Monat überlegt und kann mich nicht entscheiden.« Ich musterte die Farben. Sie sahen genau gleich aus. »Oh nun ja… das ist eine schwierige Frage.« »Ich weiß. Das ist Rotrot und das ist Orangerot. Wenn ich die falsche nehme, werde ich wie eine Hure aussehen. Oder eine Lehrerin«, fügte sie düster hinzu. »Du stehst ganz schön unter Druck.« - 56 -
»Die zwei Minuten, die du heute Abend auf dieser Treppe stehst, werden für den Rest deines Lebens deinen gesellschaftlichen Rang bestimmen.« »Wow. Was ist, wenn du stolperst?«, scherzte ich leichthin. Libby starrte mich entgeistert an. »Ich meine, nicht dass du es tun wirst…Wirst du nicht… Ich könnte…. Wahrscheinlich werde ich sogar…Es könnte wirklich eine Art Cirque-du-Soleil-Abend werden«, stotterte ich. »Du solltest über derartige Dinge keine Witze machen«, sagte sie und wandte sich wieder dem Spiegel zu. »Au! Darunter ist ein Kopf, wissen Sie«, schnauzte sie ihren Coiffeur an. Ich entschied, dass dies wahrscheinlich ein guter Zeitpunkt war, in mein Kleid zu schlüpfen, drehte Libby und ihren Haarproblemen den Rücken zu und zog den Reißverschluss meines Kleiderbeutels auf. Ein paar Minuten später war ich angezogen und fertig. Ich beobachtete und belauschte die Mädchen in meiner Nähe noch eine Weile länger, verkrümelte mich dann in eine Ecke, nahm mein Handy heraus und rief Mom an. »Hier stehen alle furchtbar unter Stress«, sagte ich, nachdem sie sich gemeldet hatte. »Nun, wenn es zu schlimm wird, dann verdrück dich«, riet Mom. »Wusstest du, dass sie einen Scheinwerfer auf dich richten wenn du vorgestellt wirst?«, fragte ich. »Ja«, erwiderte sie. »Was bedeutet, dass der ganze Saal mitbekommen wird, wenn ich etwas Dummes oder Peinliches mache«, fuhr ich fort. »Ich werde versuchen, so viele Leute wie möglich zu blenden, aber vielleicht erwische ich nicht jeden«, sagte Mom. »Versuch dein Bestes«, bat ich. »Ich muss aufhören. Die Elektro- oder Velcro-Roller-Debatte kocht wieder hoch.« Als müsste darüber debattiert werden. »Velcro«, sagte Mom. »Ich weiß«, entgegnete ich. Ich hatte noch immer eine Menge Zeit, bis der Ball begann, und nachdem ich aufgelegt hatte, nahm ich das stets präsente Buch aus meiner Tasche und las. - 57 -
Ein paar Sekunden später kam Libby herüber und bot mir ihren Flachmann an. »Midori Sour?«, fragte sie. »Oh. Nein, danke.« »Mehr für mich«, sagte sie, setzte sich und trank einen Schluck. »Bei meiner letzten Debütantinnenparty habe ich das Zeug mit einem Mädchen geteilt, das keinen Schnaps vertrug. Danach war ihr weißes Kleid von oben bis unten mit neongrünem Erbrochenen bekleckert.« »Deine letzte Debütantinnenparty?«, fragte ich. »Oh, das ist meine fünfte in diesem Jahr«, informierte sie mich. »Wow.« »Weißt du«, fuhr sie fort, »es heißt, dass vier von fünf Debs ihren Begleiter heiraten. Also habe ich mir gesagt, fünf Debütantinnenpartys, fünf Begleiter, einer von ihnen wird schon hängen bleiben, richtig?« »Logisch.« »Nun, ist dein Begleiter derjenige?« »Derjenige was?« »Derjenige, den du heiraten wirst.« »Oh, nun…« »Ist er süß?« »Ja, er ist sehr süß, aber…« »Wo wollt ihr leben, wenn ihr geheiratet habt?« »Okay, warte mal einen Moment…« Ein hübsches Mädchen mit einem großen rosa Pflaster im Gesicht kam vorbei. »Katie, hü«, rief Libby. »Schade, das mit deinem Gesicht.« »Ist es sehr schlimm?«, fragte Katie. »Nein. Kaum zu erkennen«, versicherte Libby ihr, als sie aufstand und Katies Hand ergriff. »Geh einfach seitlich«, schlug sie flüsternd vor. Sie schlenderten davon, und ich konzentrierte mich wieder auf mein Buch. - 58 -
Schließlich wurden die Väter aufgefordert, sich in den Debütantinnenbereich zu begeben, und die strenge Organisatorin kam herein, um uns aus dem Umkleideraum in den Gang am Ende der Treppe zu scheuchen. »Okay, ich will die Väter auf der rechten Seite haben«, befahl sie, »die Debütantinnen auf der linken. Wenn Sie rechts und links nicht unterscheiden können, achten Sie auf die Person neben Ihnen.« Dean tauchte hinter mir auf und berührte meinen Arm. »Hey. Ich wollte dich nur sehen, bevor du eine anständige Dame der Gesellschaft wirst.« »Was denkst du?«, fragte ich. »Ich denke… du siehst wie ein Wattebausch aus.« »Was? Vielen Dank, Jeeves.« »Aber wie ein richtig süßer Wattebausch.« Libby, die vor mir gestanden und ein paar Schlucke von ihrem Midori Sour getrunken hatte, drehte sich um und trat zu uns. »Oh, mein Gott, ist das dein Begleiter?« »Ja, das ist er«, bestätigte ich. »Den wirst du garantiert heiraten«, kicherte sie eindeutig angesäuselt und ging davon. »Was hat sie gesagt?«, fragte Dean. »Oh, na ja…« Ich zögerte und suchte nach einer Erklärung. Glücklicherweise tauchte in diesem Moment Dad auf »Dad, toll. Gehen wir.« »Wir treffen uns unten«, sagte Dean und trollte sich. »Viel Glück.« »Okay«, nickte ich und winkte ihm mit meinem Fächer nach. Dad und ich nahmen unsere Positionen ein, als die Moderatorin alle bat, sich auf ihre Plätze zu begeben, damit die Veranstaltung beginnen konnte. »Letzte Chance, über das Abflussrohr zu verschwinden«, flüsterte Dad mir zu. »Tust du mir einen Gefallen?«, fragte ich. »Was du willst.« - 59 -
»Lass mich bloß nicht fallen.« »Ich bin bei dir.« Dad lächelte und bot mir seinen Arm an, und wir waren bereit. Die Lichter wurden gedämpft, und die Leute nahmen ihre Plätze ein. Eine ehemalige Debütantin betrat das Podium und leitete den Abend ein. Ich suchte den Saal ab und fand Mom allein an einem Tisch sitzend. Ich fragte mich, wo Grandma und Grandpa stecken mochten. »Das Wort >Debütantin< kommt von dem französischen Wort >debuter<, was >einführen< heißt«, fuhr die Moderatorin fort, »und wir hoffen, dass dieser Abend all diese außergewöhnlichen jungen Frauen in ein Leben bürgerlicher Gewissenhaftigkeit und sozialer Verantwortung einführen wird.« Mom blickte weiter zur Seite. Es war bei all den Lichtern schwer zu erkennen, aber es sah so aus, als hätte sie Grandma und Grandpa entdeckt. Schließlich stand sie auf und trat zu ihnen, nahm sie beim Arm und führte sie in den Nebenraum. Wo wollten sie hin? Das Orchester spielte »Thank Heaven for Little Girls«, und die Debütantinnen wurden vorgestellt. Ich sagte zu meinem Dad, dass ich Mom, Grandma und Grandpa holen würde, und marschierte los. Als ich die Tür erreichte, hörte ich Grandpa brüllen, aber ich hörte auch, wie die Moderatorin sich immer mehr »Gilmore« näherte. Dies war mein erster Debütantinnenball, aber ich vermutete, nicht an meinem Platz zu sein, wenn mein Name aufgerufen und der Scheinwerfer auf mich gerichtet wurde, würde mir von der Gesellschaft nicht als Vorteil angerechnet werden. Ich informierte die Familie, dass ich als Nächste dran war, und eilte zu meinem Dad zurück, als die Moderatorin »Elizabeth Doty, Tochter von George Edward Doty der Vierte und Eleanore Doty« ankündigte. Die leicht angesäuselte Libby schwankte ein wenig, aber ihr Vater stützte sie tapfer. »Lorelai Gilmore, Tochter von Christopher Haden und Lorelai Gilmore«, kam die Ankündigung. - 60 -
Der Scheinwerfer fiel auf meinen Dad und mich, und wir gingen die Treppe hinunter, die sich schier endlos vor mir zu erstrecken schien. Schließlich erreichten wir die unterste Stufe, und Dad küsste meine Hand. Ich machte einen kleinen Knicks, während mein Dad Dean ansah, der an der Seite wartete. Dean trat vor, nahm Dads Stelle ein und ergriff meine Hand. Er klemmte sie unter seinen Arm und führte mich zu meinem nächsten Ziel, dem Fächertanz. Ich hoffte, dass Mom, Grandma und Grandpa rechtzeitig zur Stelle sein würden, um mir dabei zuzusehen. Der offizielle Tanz mit Dean lief erstaunlich gut – ich denke, Miss Patty wäre stolz auf uns gewesen –, und irgendwann war der Abend dann auch schon zu Ende. Auf der Rückfahrt nach Stars Hollow erzählte Mom mir, dass Grandpa glaubte, aus seinem Unternehmen ausgebootet werden. Darüber hatten sich Grandma und Grandpa gestritten, als wir sie zum Abendessen in ihrem Haus besucht hatten, und deshalb hatte er an diesem Abend im Nebenraum gepoltert. Ich fühlte mich schrecklich. Grandpa war schon seit dreißig Jahren bei seinem Unternehmen, und er liebte seinen Job. Ich hoffte wirklich, dass er sich irrte. Als wir wieder in der Stadt waren und Dad und Dean trafen, gingen Dad und ich Seite an Seite durch die Straßen von Stars Hollow, gefolgt von Mom und Dean. »Wusstest du, dass man dich für einen heißen Dad hält?«, sagte ich. »Wirklich?«, fragte Dad. »Libby meinte, dass es zu schade ist, dass du mein richtiger Dad bist, denn wenn du mein Stiefvater wärst, könnte ich dich Mom ausspannen«, erklärte ich. »Diese Libby wird es zu was bringen«, erwiderte Dad. »Also, ich war sehr stolz auf euch«, sagte Mom. »Ihr alle habt die ganze Zeremonie durchgestanden, ohne eine Miene zu verziehen. Fast alle«, fügte sie an meinem Dad gewandt hinzu. »Es tut mir Leid, aber dieser Fächertanz war mehr, als ich er- 61 -
tragen konnte.« »Hey, ich brauche jetzt einen Burger«, erklärte Mom. »Ich auch«, sagte ich. »Dean?«: »Ehrlich gesagt, kann ich im Moment nur daran denken, aus diesem Smoking herauszukommen«, erwiderte Dean. »Hey, pass auf. Du sprichst jetzt mit einer Lady«, erinnerte Mom ihn. »Und wie wäre es, wenn ich mir das Ding zu Hause herunterreiße?«, fragte Dean. »Besser«, meinte Mom. »Danke, dass du mitgegangen bist«, sagte ich zu Dean. »Ab morgen wirst du dafür bezahlen.« Er küsste mich und machte sich dann auf den Heimweg. Da Dad früh am nächsten Morgen abreisen musste, beschloss er, ebenfalls zu Bett zu gehen. »Was? Noch nicht einmal Zeit für Pommes?«, fragte ich. »Ich sag dir was. Ich werde etwas früher aufstehen und Kaffee mit dir trinken, bevor ich fahre. Abgemacht?« »Abgemacht.« Ich zog ihn an mich. Mom bat mich, vorauszugehen und zu bestellen, also eilte ich zum Luke’s und ließ Mom und Dad allein zurück, damit sie reden konnten. Im Lokal war es ruhig, und Luke brachte mir sofort einen Burger mit Pommes. Ich wollte gerade in meinen Burger beißen, als Mom hereinkam. »Hey«, rief Mom. Ich erstarrte mit dem Burger in der Hand. »Was?« »Nach allem, was du heute Abend durchgemacht hast, komme ich hier herein und ertappe dich, wie du so isst?« Ich dachte einen Moment über das nach, was sie gesagt hatte, und spreizte dann meinen kleinen Finger ab. »So ist es richtig«, erklärte Mom stolz, als sie sich neben mich setzte. »Eine Lady zu sein ist schwer«, seufzte ich. - 62 -
»Nun, wie denkst du über diesen Abend?« »Der Fächertanz war demütigend. Ich werde nie wieder einen Knicks machen. Aber dass Dad da war, war toll«, sagte ich mit einem Lächeln. Mom blickte ein wenig wehmütig. »Ja, das war es.« »Er hat eine neue Freundin, weißt du?« »Sherry.« »Ja.« »Das arme Mädchen ist nach einem Journey-Song benannt worden. Das muss hart sein.« »Er scheint glücklich zu sein.« »Er ist es. Er ist es… wirklich.« »Das freut mich.« Mom zögerte eine Millisekunde, bevor sie mir zustimmte. »Aber Grandma tut mir irgendwie Leid. Sie hat sich so auf diesen Abend gefreut, und am Ende war sie so unglücklich…« »Keine Sorge. Sie wird sich beim nächsten Mal mehr amüsieren.« Ich starrte sie an. »Wie bitte?« »Ja. Wir haben dich für die nächsten sechs Bälle angemeldet.« »Das ist nicht witzig.« »Hey, das wird so lange gehen, bis du einen Preis nach Hause bringst.« »Ich ignoriere dich jetzt.« Luke brachte Moms Bestellung. »Na«, sagte er, als er den Teller vor ihr hinstellte, »vom Ball zurück?« »Ja«, nickte Mom. »Ich habe einen gläsernen Schuh und eine Visitenkarte hinterlassen für den Fall, dass der Prinz strohdumm ist.« »Eine gute und verzweifelte Idee«, lobte Luke. »Danke«, sagte Mom stolz. Sie bemerkte Jess, der gerade die Treppe hinter Luke heruntergekommen war. »Hm, Luke?« »Was?« Luke drehte sich um und sah Jess, der ein kariertes - 63 -
Hemd und eine verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappe trug und wie ein entschlossener Lokalinhaber aussah. Er wischte den Tresen, und Luke ging zu ihm. »Was denkst du eigentlich, was du da machst?« »Arbeiten«, erwiderte Jess. »Du hältst das also für witzig, ja?« »Es tut mir Leid«, antwortete Jess. Er wies auf seine Kleidung. »Ich dachte, das ist die übliche Uniform.« »Schön, weißt du was? Es ist okay. Amüsier dich ruhig. Das stört mich überhaupt nicht. Geh einfach da rüber und mach den Tisch sauber. Okay? Ich ignoriere dich einfach Du existierst gar nicht.« »Okay.« Jess ging zu dem Tisch und brachte ihn auf Vordermann, wobei er geschickt die Gegenstände hochhob, die auf der Platte standen, um unter ihnen sauber zu machen. Luke wischte über den Tresen und versuchte ihn zu ignorieren. »Das reicht! Geh nach oben und zieh dich um!«, explodierte Luke. Jess hörte auf zu arbeiten. »Was immer du sagst, Onkel Luke«, erklärte er und sah mich mit der Andeutung eines fast verschwörerischen Lächelns an. Es war irgendwie witzig. »Es heißt Luke! Einfach Luke! Mr Luke!«, sagte Luke, während er ihm folgte. »Sprich mich am besten überhaupt nicht mehr an!«, rief er Jess die Treppe hinauf nach, warf frustriert seinen Lappen hin und verschwand in der Küche. Dann waren nur noch wir beide da, elegante Ladys in ihrer eleganten Abendgarderobe, mit unseren Burgern und Pommes. Der Debütantinnenball stellte für Mom und mich einen Wendepunkt dar. Die Tage vor dem Ball waren für uns die Tagebevor-ich-es-besser-wusste, und nach dem Ball pflegte Mom auf alles, was ich sagte, mit den Worten zu reagieren: »Das ist die einzig richtige Antwort für eine Dame der Gesellschaft.« Aber schon bald kehrten die Schule und das Leben zu den Tagen-bevor-ich-es-besser-wusste zurück, und ich fand mich im - 64 -
Luke’s wieder und sang einen Barry-Manilow-Song. Bevor Sie den Stab über mich brechen, hören sie sich lieber zuerst den Grund dafür an. Wir waren einmal mehr zum Frühstück ins Luke’s gegangen. Ich hoffe wirklich, dass Ihnen inzwischen klar geworden ist, dass es kein besseres Lokal als das Luke’s gibt. Und dieses Mal war es erstaunlich gut besucht. »Wow«, rief Mom überrascht, als wir eintraten, »ziemlich viel los heute. Hat Luke in Reklame investiert oder so was?« »Er hat gute Mund-zu-Mund-Propaganda«, gab ich zurück, während wir den letzten freien Tisch ansteuerten. »Dann werden wir schlechte Mund-zu-Mund-Propaganda verbreiten müssen, wenn wir auch in Zukunft einen Tisch bekommen wollen.« »Das wäre nicht richtig, aber von mir aus. Ungeziefer?«, schlug ich vor, als wir uns setzten. »Oder kein trinkbares Wasser«, erwiderte Mom. »Oder kein trinkbares Ungeziefer«, fügte ich hinzu. »Das würde die Gäste vertreiben.« »Oder so verwirren, dass sie wegbleiben.« Wir sahen zu Luke hinüber, der mit einem älteren Bewohner von Stars Hollow plauderte. »Es ist unheimlich, ihn so reden zu sehen«, meinte Mom. »Wie meinst du das?«, fragte ich. »So betont freundlich. Normalerweise ringt er sich nur ein paar mürrische, einsilbige Bemerkungen ab und verschwindet wieder.« »Er ist der Meister der Einsilbigkeit«, stimmte ich zu. »Er flirtet nie mit den weiblichen Gästen. Ist dir das schon aufgefallen?« »Er hat oft mit dir geflirtet.« »Hör bloß auf.« »Hey, flirte jetzt mit ihm. Wir brauchen Kaffee.« »Oh, Luke!«, rief Mom und legte eine vollendete ScarlettO’Hara-Vorstellung hin, »wir verzehren uns nach Erfrischun- 65 -
gen!« Sie wedelte mit einer Serviette, als wäre sie ein Taschentuch, um ihre Worte zu unterstreichen. »Mach dir bloß nicht ins Hemd«, fauchte Luke sie mürrisch an. »Hu, er kann so schnell das Programm wechseln«, sagte Mom. »Hey, ich habe eine CD unter dem Fahrersitz unseres Wagens gefunden. Hast du eine verloren?«, fragte ich unschuldig. Normalerweise wird das Horten von Musik im Lorelai Gilmore-Haushalt streng missbilligt. Aber in diesem Fall hatte ich nichts dagegen. »Nicht, dass ich wüsste«, entgegnete Mom, »aber ich bin ziemlich schlampig, was CDs angeht.« »Du hast sie also nicht versteckt?« »Warum sollte ich eine CD verstecken?« »Ich weiß nicht. Bay City Rollers…« »Es ist keine Bay-City-Rollers-CD.« »Woher weißt du das?«, fragte ich schnell. »Weil ich weiß, was nicht unter diesem Sitz versteckt ist«, erklärte Mom ein wenig trotzig. »Ha! Weil du genau weißt, dass eine von Barry Manilow unter dem Sitz liegt.« »Oh.« Mom schnitt ertappt eine Grimasse. »Wo ist Barry Manilow?«, fragte Luke, als er mit der Kaffeekanne an unseren Tisch trat. »Unter Moms Sitz«, erwiderte ich. »Klar doch. Wo sollte er auch sonst sein?«, meinte Luke. »In Ordnung, ich gestehe, ich habe Barry Manilow versteckt.« »Du gestehst!« Ich war verblüfft. »Aber er war sehr groß, als ich sehr klein war. Und es ist die Liveversion eines Medleys mit sämtlichen Werbejingles, die er geschrieben hat«, erklärte Mom. »Keine Sorge. Jedem ist hin und wieder ein kleines schuldbe- 66 -
ladenes Vergnügen gestattet«, informierte ich sie. »Sehr diplomatisch von einem Mädchen, das zwei Jahre lang ein Bryan-Adams-Poster über seinem Bett hängen hatte«, sagte Mom. »Petze.« »Verheimlichst du auch ein schuldbeladenes Vergnügen, Luke?«, fragte Mom. »Nö«, sagte Luke. »Stehst du auf Musik?«, hakte Mom nach. »Sicher«, antwortete Luke. Mom sah mich an. »Der einsilbige Mann schlägt wieder zu.« »Wir nehmen zwei Muffins«, sagte ich zu Luke. »Kommt sofort.« Und er ging davon. Ich lachte leise. »Was ist?«, fragte Mom. Ich lachte weiter. »Oh, Barry Manilow…« »Hör auf«, befahl Mom. »Looks like you made it…«, sang ich. »Ach ja? Spice Girls…« »Duran Duran…« »Dido…« »Olivia Newton-John.« >»The Macarena<. Du und Lane. Stundenlang. Wochenlang«, konterte Mom. »Hey, wir haben uns nur darüber lustig gemacht! Du kannst dich nicht lustig machen über das Lustigmachen!«, ereiferte ich mich. »In Ordnung, das wird allmählich hässlich, also hören wir auf.« »Lass uns wieder Freundinnen sein.« »Einverstanden.« Wir nahmen unsere Kaffeetassen und stießen an, um die Versöhnung zu besiegeln. Aber ich konnte mich nicht beherrschen. Sobald mir »Copacabana« durch den Kopf geht, kann ich es nicht mehr loswerden. Doch wir hatten mit - 67 -
den heiligen Kaffeetassen angestoßen, also behielt ich alle Scherze über Barry Manilow für mich und lachte nur und lachte, während Mom mich giftig anfunkelte.
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6 Der Montag holte uns bald wieder ein, und ich war in der Küche und nahm mir einen Saft, bevor ich zur Bushaltestelle ging. Mom, die vor ein paar Minuten Auf Wiedersehen gesagt hatte, kam zurück in die Küche. »Aggggh«, sagte sie frustriert. »Was ist?«, fragte ich. »Der Wagen will nicht anspringen.« »Was ist passiert?« »Ich weiß nicht. Er ist einfach tot. Ich drehe den Schlüssel, und er macht dieses schreckliche Geräusch.« »Was für eine Art Geräusch?« Mom gab ihre Version einer Batterie von sich, die aus dem letzten Loch pfeift, und fügte hinzu: »So in etwa, aber nicht so weiblich.« »Dann ist es die Batterie«, erklärte ich, als ich an den Tisch trat und meine Bücher in meinem Rucksack verstaute. »Was habe ich getan, um meine Batterie wütend zu machen?« »Mal sehen… du hast die ganze Nacht das Radio angelassen und die Batterie geleert, du hast die ganze Nacht die Scheinwerfer angelassen und die Batterie geleert, du hast die Tür offen gelassen, „wodurch die ganze Nacht die Innenbeleuchtung brannte, und abermals die Batterie geleert…« »Okay, ich habe anscheinend eine Menge getan, um meine Batterie wütend zu machen.« »Wirst du zu Fuß gehen?«, fragte ich, als ich meinen Rucksack durchschüttelte, in der Hoffnung, dass der Inhalt zu Boden rutschen würde, damit ich noch mehr Sachen verstauen konnte. »Ich trage hochhackige Schuhe.« »Zieh andere Schuhe an.« »Dann müsste ich ein anderes Kleid anziehen.« »Zieh ein anderes Kleid an.« »Dann müsste ich nach oben gehen.« - 69 -
»Seit wann lebe ich mit Zsa Zsa Gabor zusammen?« »Ich werde Michel anrufen.« Mom nahm das Telefon und wählte die Nummer des Independence Inn, wo Michel als Koch arbeitete, während ich versuchte, ein weiteres Buch in meinen bereits prall gefüllten Rucksack zu stopfen. »Dieses Ding ist zu klein«, seufzte ich frustriert. Ich nahm ein paar Bücher heraus und versuchte es erneut. »Einen Moment, Michel«, sagte Mom ins Telefon. »Dieser Rucksack ist nicht zu klein«, versicherte sie mir. »Er ist winzig«, widersprach ich und probierte eine andere Anordnung aus, um zu sehen, ob so alles hineinpasste. »Nimm nur deine Schulbücher mit und lass ein paar von den anderen Büchern hier«, schlug Mom vor. »Ich brauche all meine anderen Bücher.« »Du brauchst sie nicht alle.« »Ich denke doch.« »Das von Edna St. Vincent Millay?«, fragte sie und hielt das Buch hoch. »Das ist mein Busbuch.« »Ahha.« Sie nahm ein anderes Buch vom Tisch. »Was ist mit dem von Faulkner?« »Mein anderes Busbuch.« »Dann nimm nur ein Busbuch mit.« »Das von Millay ist eine Biografie, und manchmal, wenn ich im Bus sitze und eine Biografie herausnehme, denke ich, dass ich im Moment eigentlich keine Lust habe, über das Leben eines anderen Menschen zu lesen, dann greife ich nach dem Roman, und wenn ich keine Lust auf den Roman habe, nehme ich wieder die Biografie.« Mom wies auf den nächsten Band. »Was ist mit dem von GoreVidal?« »Das ist mein Mittagspausenbuch.« »Ahha. Dann lass entweder das von Vidal oder das von Faulkner hier. Du brauchst nicht zwei Romane.« - 70 -
»Das von Vidal ist ein Essay.« »Aber das von Eudora Welty ist kein Essay«, erinnerte sie und hielt dieses Buch hoch. »Und keine Biografie.« »Richtig.« »Also ist es ein Roman. Lass es hier.« »Es sind Kurzgeschichten«, klärte ich sie auf, nahm es ihr ab und steckte es in meinen Rucksack. »Das ist eine Krankheit«, resignierte Mom. Sie telefonierte weiter und machte mit Michel aus, dass er sie abholen sollte, während ich weiter mit dem Rucksack kämpfte. Als sie auflegte, gelang es mir endlich, den Reißverschluss zuzuziehen. »Ha! Es passt alles rein«, sagte ich, während ich zufrieden den Rucksack tätschelte. »Edna, Bill, Gore und Eudora, alle gesund und wohlbehalten.« Ich hob den Rucksack vom Tisch und schulterte ihn. »Cool«, meinte Mom. Dann wies sie auf ein Regal hinter mir. »Das ist dein Französischbuch.« »Hm?« Ich drehte mich um und sah das Buch. »Oh, ich weiß«, sagte ich und nahm es. »Ich, äh, werde mein Französischbuch tragen«, erklärte ich, als ich mich zur Haustür wandte. »Du dachtest also, du hättest das Französischbuch schon eingesteckt«, stellte Mom fest, folgte mir und griff nach meiner Jacke. »Das dachte ich nicht.« »Du hast ein Problem.« »Nein, habe ich nicht«, wehrte ich ab, als ich ihr meine lacke abnahm und ihr eilig zu entkommen versuchte. »Du wirst unter dem Gewicht dieses Rucksacks nach hinten kippen«, fuhr sie fort. »Nein, das werde ich nicht«, widersprach ich und ging nach draußen. »Ich werde dir einen Gabelstapler kaufen müssen!«, rief sie mir nach. - 71 -
Hey, sie kann sagen, was sie will. Ein Mädchen braucht seine Optionen. Die morgendlichen Unterrichtsstunden vergingen wie im Flug, und bald war Mittagspause in Chilton. Ich ging mit meinem Essenstablett voller wichtiger Dinge – Sandwich, Mineralwasser, Buch und tragbarer CD-Player – in den Speisesaal. Ich trat an einen leeren Tisch und stellte meine Sachen ab. Dann nahm ich Platz, setzte meinen Kopfhörer auf und drückte die Abspieltaste. »Know Your Onion« von den Shins dröhnte durch meinen Kopf, als ich mein Mineralwasser öffnete und nach Gore Vidals Essays griff. Ich schlug das Buch auf, nahm mein Sandwich und begann glücklich zu lesen und zu essen. Eine Sekunde später klopfte mir jemand auf die Schulter und ließ mich überrascht zusammenzucken. Vor mir stand eine Frau. »Ich habe Sie erschreckt«, sagte sie. »Das wollte ich nicht.« »Das ist schon okay. Ich bin leicht zu erschrecken«, erklärte ich. »Ich bin Mrs Berdinis, die Vertrauenslehrerin. Ihr Name ist Rory, nicht wahr? Rory Gilmore?« »Ja. Hallo.« Verlegen streckte ich die Hand aus. »Hallo«, sagte Mrs Berdinis und schüttelte meine Hand. »Ich würde mich gern setzen und mit. „Ihnen reden. Geht das?« »Sicher«, nickte ich. »Jederzeit.« »Vielleicht wenn Sie zu Mittag gegessen haben?« »Oh. So bald?«, sagte ich verwirrt. »Ich denke, bald wäre gut.« »Okay. Worum geht es?« »Wir reden nachher darüber.« Ich lächelte sie an. »Nicht einmal ein Hinweis?« »Bis später«, sagte Mrs Berdinis und ging davon. »Ja.« Ich wandte mich wieder meinem Buch und dem Essen zu und setzte den Kopfhörer auf, aber es fiel mir schwer, mein - 72 -
Mittagessen zu genießen, ohne zu wissen, warum die Vertrauenslehrerin mit mir reden wollte. Ein wenig geistesabwesend verzehrte ich den Rest meines Sandwichs. Mom saß auf der Veranda und las eine Zeitschrift, als ich von der Schule nach Hause kam. Ich setzte mich deprimiert neben sie und erzählte ihr von Mrs Berdinis. Nach dem Mittagessen hatte ich mich wie verabredet in ihrem Büro eingefunden, wo sie mich beruhigte, ich sollte mir keine Sorgen machen, wenn ich zu spät zum Unterricht kommen würde, notfalls würde sie mir eine Entschuldigung ausstellen. Dann blätterte sie in einem Hefter und erzählte mir, dass sie meiner Akte entnommen hatte, wie peinlich genau ich es mit der Pünktlichkeit nahm. »Ich bin pünktlich, ja«, bestätigte ich. »Ich bin im letzten Jahr nur einmal zu spät gekommen. Da hatte ich ein Reh angefahren.« »Ein Reh?«, fragte sie. »Oder einen Hirsch. Eigentlich ist er nur vor den Wagen gerannt. Oder es. Aber dann ist er oder es weggelaufen. Ich denke, er war unverletzt. Ich habe ihn nicht wieder gesehen, deshalb kann ich es nicht mit Bestimmtheit sagen, doch ich habe nach ihm Ausschau gehalten.« Ich seufzte. »Das war eine große Geschichte für mich. Ich bin überrascht, dass ich sie nicht besser erzählen kann.« Mrs Berdinis informierte mich dann, warum sie mich in ihr Büro gebeten hatte. Direktor Charleston hatte sie vor ein paar Wochen auf mich aufmerksam gemacht. Er war besorgt, und sie war es auch, nachdem sie mich eine Weile beobachtet hatten. »Sie haben mich beobachtet?«, fragte ich. »Ihr Sozialverhalten hier in der Schule macht uns Sorgen«, erwiderte sie. »Was ist damit?« »Sie scheinen nicht viel mit den anderen Schülern zu inter- 73 -
agieren.« »Manchmal schon. Im Unterricht dauernd.« »Aber außerhalb des Unterrichts selten. Sie essen immer allein zu Mittag.« »Dann lese ich«, erklärte ich. »Und dieser Walkman. Er macht Sie völlig unerreichbar«, fuhr sie fort. »Sie haben mich erreicht«, erinnerte ich sie. »Und Sie sind nervös zusammengezuckt. Was sagt Ihnen das?« »Dass ich nervös bin«, erwiderte ich offen. »Am vierten Juli bin ich ein Wrack. Und wenn das Stars-Hollow-Orchester in der Gartenlaube spielt und der Kerl das Becken schlägt… macht mich das wahnsinnig.« »Ihr Problem zu leugnen, ist keine Lösung, Rory. Wenn sich nicht bald etwas ändert, könnte Ihre Zukunft davon betroffen sein.« »Aber ich verstehe das nicht. Ich bekomme gute Zensuren. Genügt das nicht?« Sie sagte, dass es nicht genügte, und erklärte mir, dass die sozialen Fähigkeiten eines Schülers bei der Empfehlung der die Universität eine wichtige Rolle spielen würden. Weder die Universitäten noch Chilton hatten etwas für Einzelgänger übrig. »Aber ich bin keine Einzelgängerin«, protestierte ich. »Einzelgänger sind Typen, die herumlaufen und, ich weiß nicht, altmodische Kleidung wie Schlaghosen tragen und einen Matchbeutel mit Gott weiß was drin herumschleppen. Das sind Einzelgänger.« »Einzelgänger gibt es in allen Formen und Größen«, entgegnete Mrs Berdinis. »Selbst in Gestalt hübscher Mädchen.« Ich seufzte. Mir fehlten die Worte. Dann forderte sie mich auf, mich zu bessern und unter die anderen zu mischen, am besten zunächst mal beim Mittagessen. »Ich schätze, es gibt keinen Mittagspause-Lese-Querstrich- 74 -
Walkmanhören-Klub, dem ich mich anschließen könnte, oder?«, scherzte ich. Sie fand das nicht komisch. Mom war über die ganze Sache verärgert. »Und was erwartet sie jetzt von dir?« »Sie sagte, ich soll mich >unter die anderen mischen<«, antwortete ich. »Unter die anderen mischen? Was soll das denn bedeuten?« »Ich schätze, das bedeutet, dass ich in der Schule zu fremden Kids gehe und sage >Hey, habt ihr was dagegen, wenn ich mich auf peinliche Weise aufdränge, obwohl ich nicht zu euch gehöre und auch nicht zu euch gehören will« »Das ist doch lächerlich. Chilton ist ein Kult.« »Lorelai?«, rief Kirk, der Alleskönner von Stars Hollow. »Warte mal einen Moment«, sagte Mom und ging zur Einfahrt, wo Kirks Beine unter dem Jeep hervorlugten. »Was ist los, Kirk?« »Großes Problem hier. Großes Problem.« »Toll. Was ist es?« »Ich stecke fest.« »Das ist das Problem?« »Ein sehr großes Problem. Meine Blutzirkulation stockt. Könntest du an mir ziehen?« Mom zerrte an seinen Beinen und befreite ihn, und er kam unter dem Jeep hervor. »Mann, echt krass da unten.« »Hast du den Fehler am Wagen schon gefunden, Kirk?« »Nein, aber ich komme der Sache näher.« Mom kehrte zurück, nahm neben mir Platz und setzte unsere Unterhaltung fort. »Du bekommst hervorragende Zensuren. Hast du ihr gesagt, dass du hervorragende Zensuren bekommst?« »Offenbar genügt das nicht«, entgegnete ich. »Hey, Lorelai«, unterbrach Kirk erneut. »Weißt du, was das ist?« Er hielt ein Autoteil hoch, an dem Kabel hingen. »Ah, nein«, rief sie zurück. - 75 -
»Verdammt.« Er wandte sich wieder der Arbeit an dem Wagen zu. »Ich weiß nicht«, sagte ich deprimiert. »Vielleicht stimmt mit mir etwas nicht.« »Oh, sag das nicht.« »Vielleicht bin ich eine Einzelgängerin. Ich meine, du hast dich heute über meinen Rucksack lustig gemacht. Ich bin vielleicht nur einen Schritt davon entfernt, einen mysteriösen Matchbeutel mit mir herumzuschleppen.« »Oh, nein. Nein, tu das nicht. Zweifle nicht daran, wer du bist oder wie du sein solltest. Wie kann es diese Frau wagen, dir das anzutun!«, rief Mom aufgebracht. »Es war nicht nur sie. Das Gespräch war Charlestons Vorschlag.« »Also schön, es wird anscheinend Zeit, dass ich den alten Snickelfritz Charleston anrufe und ihm sage, dass er mein Kind in Ruhe lassen soll.« »Mom…« »Nein, tut mir Leid. Mir gefällt das nicht. Schulen wie Chilton versuchen, jeden Hauch von Individualität zu unterdrücken, und ich werde das nicht zulassen.« »Es ist alles repariert«, sagte Kirk, als er die Veranda betrat. »Ich habe ein lockeres Kabel gefunden und an die Batterie angeschlossen. Jetzt läuft er wieder.« »Oh, danke, Kirk.« »Und ich werde dir die Zeit, die ich unter dem Wagen eingeklemmt war, nicht in Rechnung stellen.« »Das ist großartig, Kirk.« »Du sollst nur wissen, dass ich euer Gespräch mitgehört habe, und dass du völlig Recht hast. Ich habe meine ganze Schulzeit einen Matchbeutel getragen und allein zu Mittag gegessen, und aus mir ist auch etwas geworden«, sagte Kirk und schlenderte davon. Mom und ich wechselten einen Blick. »Ich gehe trotzdem - 76 -
hin«, erklärte sie mir, als wir ins Haus zurückkehrten. Ich sollte Mom nach ihrem Gespräch mit Direktor Charleston in Chilton treffen, aber sie tauchte nicht auf. Ich fragte in seinem Büro nach, doch seine Sekretärin Mrs Traiger sagte, dass Mom bereits fort sei. Das war seltsam. Ich fuhr mit dem Bus zurück nach Stars Hollow und ging nach Hause. Sie saß am Küchentisch, trank Kaffee und starrte auf ein Blatt Papier. Ich blieb in der Küchentür stehen. »Hey!« »Hey«, antwortete Mom geistesabwesend und starrte weiter das Blatt an. Ich war verblüfft. »Hey!«, sagte ich erneut, trat an den Tisch und nahm meinen Rucksack ab. »Ja, hör zu, Fat Albert, bring mir ein Mineralwasser, in Ordnung?« »Mom, was machst du hier? Du solltest mich nach dem Gespräch mit Direktor Charleston in meiner Lateinklasse treffen«, erinnerte ich sie, als ich mich zu ihr an den Tisch setzte. Mom sah mich an. »Oh, Gott, tatsächlich. Hab ich völlig vergessen. Tut mir schrecklich Leid.« »Mom, komm schon, was ist passiert? Hast du mit ihm gesprochen?« »Ja, habe ich. Ich habe ihm gesagt, dass ich absolut nicht damit einverstanden bin, wie er dich behandelt. Dass du keine Einzelgängerin bist, dass du eine Menge Freunde hast und keinen langen schwarzen Matrix-Ledermantel trägst und dass sie jeden Tag vor Dankbarkeit auf die Knie fallen sollten, weil du dich dazu herablässt, diese Verliererschule zu besuchen.« »Und?« »Und dann hat er mich angebrüllt.« »Er hat was?« »Er hat eine Akte herausgezogen und mir gesagt, dass ich eine schlechte Chilton-Mom bin.« »Das hat er nicht.« »Und dass ich mich nicht an den Schulaktivitäten beteilige.« - 77 -
»Aber du arbeitest.« »Und keine Poster male…« »Du bist künstlerisch völlig untalentiert.« »Und keine Tanzveranstaltungen in der Schule beaufsichtige.« »Weiß er, dass du mit sechzehn schwanger geworden bist?« »Und nicht den geringsten Teil dazu beitrage, deine schulische Zukunft zu fördern.« »Also sind wir beide erledigt.« »Ja.« »Toll.« »Jetzt muss ich mich einer Gruppe anschließen oder einen Klub sponsern oder so was in der Art…«, sagte und zeigte auf die Liste, die sie angestarrt hatte. »Das ist Mist.« Mom legte die Liste weg und lächelte mich an. »Aber hey, ich habe mir gedacht, wir ziehen diese ganze Chilton-Sache durch, um dich nach Harvard zu bringen, richtig?« »Richtig«, stimmte ich zögernd zu. »Und diese Fanatiker, die die Schule leiten, sind diejenigen, die die Briefe an die guten Colleges schreiben, in denen steht >Hey, sie ist schlau, seht sie euch an< oder >Habt ihr das tätowierte E auf ihrer Stirn gesehen, es ist wirklich groß<.« »Du willst also damit sagen, dass wir mitspielen sollen?« »Ja. Spiel mit. Rede mit ein paar Kids, ich werde mich mit ihren Moms abgeben, und wir werden dich nach Harvard bringen, die Welt übernehmen, Chilton kaufen und in einen Raveklub verwandeln. Was sagst du dazu? Abgemacht?« »Abgemacht«, stimmte ich zu. Wir lächelten uns resigniert an und betrachteten dann die Liste mit den potenziellen Klubs für Mom. »Oh, sieh mal«, sagte sie, »die Mitglieder der Chilton-CheerVereinigung tragen alle die gleichen Hüte. Eh?« Sie warf mir einen Blick zu. »Geh nach Harvard«, sagte sie niedergeschla- 78 -
gen und ließ die Liste fallen.
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7 Am nächsten Tag in der Mittagspause betrat ich den ziemlich vollen Chilton-Speisesaal und steuerte meinen üblichen Tisch an. Ich stellte mein Tablett ab, und im nächsten Moment fiel mir die Abmachung wieder ein. Ich sah mich um und entdeckte einen Tisch voller lebhaft plaudernder Mädchen. Ich holte tief Luft, nahm mein Tablett und ging zu ihnen hinüber. »Hey«, unterbrach ich ihr Gespräch. Alle Mädchen am Tisch drehten sich um und sahen mich an. »Hey«, antwortete das Mädchen, das mir am nächsten saß. Sie hatte kurze rote Locken. »Dort drüben, wo ich normalerweise sitze, zieht es ziemlich. Der Luftzug ist nicht direkt von der Toto-wir-sind-nicht-mehrin-Kansas-Sorte, pfeift einem aber verdammt ungemütlich durch die Knochen. Vor allem, wenn man sich gerade die Haare gemacht hat.« Die Mädchen warfen sich verwirrte und ein wenig amüsierte Blicke zu. »Also…«, fuhr ich fort, »kann ich hier sitzen?« »Ah…ja«, sagte dasselbe Mädchen. »Danke.« Ich stellte mein Tablett ab und setzte mich auf den freien Stuhl ihr gegenüber. Die anderen Mädchen musterten mich. »Netter Tisch«, bemerkte ich. »Es ist hier viel angenehmer als dort drüben.« »Dein Name ist Lorry«, sagte das Mädchen, das mit mir gesprochen hatte. »Rory«, korrigierte ich. »Richtig. Rory.« »Und deiner?«, fragte ich. »Francie«, antwortete das dunkelhaarige Mädchen, das neben ihr saß. »Du heißt Francie?«, fragte ich das dunkelhaarige Mädchen. - 80 -
»Nein. Sie ist Francie«, erwiderte sie und wies auf das rothaarige Mädchen. »Ich bin Ivy.« »Francies Sprecherin«, stellte ich fest. Francie lächelte mich an, bevor sie antwortete. »Nun, ich bin eine sehr wichtige Person. Und jeder weiß, dass sehr wichtige Leute niemals für sich selbst sprechen.« »Das wusste ich nicht. Aber jetzt weiß ich’s«, sagte ich zu ihr. Francie stellte den Rest der Mädchen vor. »Das sind Azure, Lily, Celine, Lana, Asia, Anna und Lern.« »Lern«, wiederholte ich und wandte mich an das Mädchen neben mir. »Kurzform von Lemon«, erklärte sie. »Ja, klar«, nickte ich. »Wir reden gerade über das Homecoming. Irgendeine Idee?«, sagte Francie. »Toller Film. Oh, wartet. Das war Coming Home. Tut mir Leid.« Die Mädchen lächelten, und ich tat es auch. Paris kam an unserem Tisch vorbei, als Francie sagte: »Ich glaube wirklich, man sollte das ganze Homecoming-Tanzritual einschlafen lassen.« »Oder wenigstens farblich neu gestalten«, fügte Ivy hinzu. Paris wich mit einem entsetzten Gesichtsausdruck zurück und eilte davon. »Rory, wie? Nennen dich deine Freunde Ror?«, fragte Francie. »Nur wenn ich sie provoziere«, erwiderte ich. »Kein Spitzname?«, wollte Ivy wissen. »Eigentlich ist Rory der Spitzname«, antwortete ich. »Mein voller Name ist Lorelai.« »Lorelai. Ein seltsamer Name«, bemerkte Lemon. Ich drehte mich zu ihr um. »Nun, Lern, was soll ich sagen?« »Er klingt, als wärst du aus den Südstaaten«, meinte Francie. - 81 -
»Bist du eine Südstaatenschönheit?« In diesem Moment klingelte es zum Ende der Mittagspause. »Nein, ich bin nur schön.« »Nun, bis später, Eure Hoheit«, sagte Francie, als die Mädchen aufstanden und sich zum Gehen wandten. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und lächelte. Das war okay. Ich nahm meine Sachen, brachte mein Tablett weg und machte mich auf den Weg zum Unterricht. Als ich mich durch den überfüllten Korridor drängte, tauchte plötzlich Paris auf. »Gott!«, rief ich erschrocken. »Du bist wie ein Ausklappbuch aus der Hölle!« »Du hast bei den Puffs gesessen! Wie hast du das geschafft?«, fragte Paris. »Bei wem?« »Den Puffs! Den Chilton-Puffs! Du warst an ihrem Tisch, und ich will wissen, wie du das geschafft hast!« Paris war fast hysterisch. »Ich weiß es nicht. Ich habe mich nur… hingesetzt«, erklärte ich ihr. »Niemand setzt sich einfach so zu ihnen. Man muss eingeladen werden.« »Paris, sie sind nicht die Cosa Nostra.« »Nein. Sie sind die Puffs! Die einflussreichste Studentinnenvereinigung von Chilton.« »Chilton hat Studentinnenvereinigungen?« »Nur zehn, die der Rede wert sind, und die Puffs! Sie sind seit mindestens fünfzig Jahren die Nummer eins. Meine Mutter war eine Puff. Meine Tante war eine Puff…« »Ich dachte, nur Colleges haben Studentinnenvereinigungen.« »Die Beziehungen, die man knüpft, wenn man zu den Puffs gehört, halten für den Rest deines Lebens. Meine Kusine Maddie bekam ihr Praktikum beim Obersten Gerichtshof durch Sandra Day O’Connor.« - 82 -
»Sandra Day O’Connor war eine Puff?« »Ja. Sie wurde 1946 bei den Puffs aufgenommen, ‘47 zur Präsidentin gewählt und ‘48 beanspruchte sie den Tisch, an dem du heute gesessen hast, für die Gruppe.« »Gott.« »Es war damals ein ziemlich umstrittener Schritt, aber sie war eben so einflussreich.« »Ich hatte keine Ahnung.« »Was hast du über mich gesagt?«, fragte Paris nervös. »Was?« »Hast du ihnen gesagt, dass du mich hasst?« »Ich habe dich gar nicht erwähnt.« »Ich habe nämlich alles Mögliche versucht, um aufgenommen zu werden. Ich habe das ganze letzte Jahr Francine Jorvis angeschleimt.« »Du meinst Francie?« Paris war am Boden zerstört. »Du nennst sie Francie?« »Oh, nein. Jemand anderes hat es getan.« Paris fuhr fort: »Ich habe ihr bei den Hausaufgaben geholfen, ihr den besten Parkplatz besorgt, ihren Spind aufgeräumt, die Plastikstreifen an ihren Pompons bearbeitet, damit sie flauschig werden… Davon abgesehen, dass ich ihr keine Maniküre verpasst habe, habe ich alles getan, und, bei Gott, könnte ich mit orangefarbenem Nagellack umgehen, hätte ich auch das gemacht!« »Ich weiß, dass ich nicht die Erste bin, die dir das sagt, aber du bist verrückt.« Paris seufzte und sagte dann leise: »Okay, hör zu, ich weiß, dass wir beide…« »… uns nicht bewaffnet gegenübertreten sollten«, beendete ich den Satz für sie. »Ja. Aber du musst verstehen… Ich muss in diese Gruppe aufgenommen werden. Ich… muss es einfach. Der Name und der Ruf meiner Familie, von meiner gesamten Zukunft ganz zu - 83 -
schweigen, alles hängt davon ab, dass ich in diese Gruppe komme.« »Es ist bloß eine Clique«, meinte ich. »Das ist alles.« »Hör zu, ich bitte dich nur, nichts Schreckliches über mich zu sagen. Sag ihnen nicht, dass du mich hasst«, flehte Paris. »Paris, komm schon. Ich gehöre nicht zu ihrer Gruppe. Ihnen ist es egal, was ich sage.« »Sie haben dich in der Mittagspause an ihrem Tisch sitzen lassen. Du gehörst dazu.« »Paris…«, begann ich in dem Versuch, sie wieder zurück auf die Erde zu holen. »Weißt du was? Vergiss es. Mach, was du willst. Mir ist es egal.« Und sie rauschte davon. Ich sah ihr nach, ohne ganz zu verstehen, warum sie so aufgebracht war. Mom holte mich nach der Schule ab, und ich erzählte ihr von Paris und den Puffs, während wir zu unserem wöchentlichen Abendessen zum Haus meiner Großeltern fuhren. »Wer zum Teufel nennt sein Kind Lemon?«, fragte Mom, als wir aus dem Wagen stiegen. »Jemand, der auf Zitrusfrüchte steht«, antwortete ich, als wir uns zur Haustür wandten. »Liebe Güte, verrückte, verrückte Leute«, sagte kopfschüttelnd. »Es ist nur so seltsam, dass der eine Tisch, an den ich mich setze, der Stammplatz dieser Geheimgesellschaft ist.« »Ich weiß. Es ist, als würde man eines Tages aufwachen und erkennen, dass alle in der Familie ihre Gesichter abnehmen können.« Mom klingelte. »Ja«, nickte ich. »Genauso ist es.« Mom ist wirklich die Einzige, die mich versteht. Ein Hausmädchen öffnete und informierte uns, dass wir an diesem Abend grillen würden und hinaus auf die Veranda gehen sollten. Mom und ich wechselten einen überraschten, erfreuten Blick. - 84 -
»Hat Grandma einen Grill?«, flüsterte ich, als wir das Haus betraten und die Veranda ansteuerten. »Ich weiß es nicht«, antwortete Mom leise. »Vielleicht bewahrt sie ihn in diesem geheimen Raum mit den Papierservietten und den nicht zueinander passenden Laken auf.« Ein Mann in voller Kochmontur stand am Rost und grillte. »Wow«, machte Mom verblüfft. »Sie grillt wirklich.« »Wie cool«, sagte ich. Wir gingen hinüber, um zu sehen, was auf dem Rost lag. »Was geht ab? Alles knackig und frisch?«, sagte Mom zu dem Koch, der den Grill bediente. Er lächelte sie an. »Ooh, Mais«, rief ich aufgeregt. »Nett«, stimmte Mom zu. Wir nahmen jeder einen Maiskolben vom Grill, setzten uns auf die Bank und aßen. Grandma kam auf die Veranda heraus und sah uns entsetzt an. »Was ist das, ein Flüchtlingslager? Kommt herein und esst am Tisch.« »Mom, beim Grillen geht es darum, dass man draußen isst«, erklärte meine Mom. »Tiere essen draußen. Menschen essen drinnen mit Servietten und Besteck. Wenn ihr draußen essen wollt, dann erlegt eine Gazelle. Es ist eure Entscheidung. Ich bin drinnen.« Und mit diesen Worten wandte Grandma sich ab und verschwand im Haus. Mom und ich sahen uns an. »Wie groß sind die Chancen, hier eine Gazelle zu finden?«, fragte Mom. »Äußerst gering«, erwiderte ich. »Okay. Gehen wir rein.« Wir standen auf und gesellten uns zu meiner Großmutter, die bereits an dem Tisch im Esszimmer saß. »Ich bin extrem enttäuscht von dir, Lorelai«, sagte Grandma, als wir den Raum betraten. »Einen Moment«, bat Mom, zog ihre Jacke aus, gab sie dem Hausmädchen, setzte sich an den Tisch, nahm ihre Serviette - 85 -
und legte sie auf ihren Schoß. »Okay, mach weiter.« Ich gab meine Jacke ebenfalls dem Hausmädchen, ging dann um den Tisch und setzte mich meiner Mom gegenüber. Grandma fuhr fort: »Ich habe heute mit Bitsy Charleston zu Mittag gegessen, und sie hat mir erzählt, was zwischen dir und dem Direktor vorgefallen ist.« »Was? Jesses, hat diese Frau nichts anderes zu tun, als sich den ganzen Tag mit einem Kassettenrekorder unter seinem Schreibtisch zu verstecken?«, entfuhr es Mom. »Nach allem, was wir durchgemacht haben, um Rory in diese Schule zu bekommen, demütigst du uns, indem du dich nicht engagierst? Das ist einfach nicht zu verstehen.« Mom zeigte anklagend auf mich. »Hey, sie hat sich auch nicht engagiert.« »Wow. Ich sitze nur hier«, sagte ich. »Du bist erwachsen. Du musst ein Vorbild sein. Wenn sie sich in der Schule nicht engagiert, hat sie es von dir gelernt«, wies Grandma sie zurecht. »Genau«, stimmte ich zu. »Was kostet es dich denn schon, hin und wieder mal auszuhelfen? Schließ dich einer Gruppe an, nimm an einem Treffen teil…«, fuhr Grandma fort. »Mom, hör auf. Bitte. Ich habe mich einer Gruppe angeschlossen, okay?« »Du hast?«, fragte Grandma überrascht. »Du hast?«, fragte ich gleichermaßen verblüfft. »Ja«, bestätigte Mom. »Welcher?«, wollte Grandma wissen. »Ich werde mich dem… Booster-Klub anschließen, okay? Dem Booster-Klub. Ich werde boosten.« Grandma musterte Mom einen Moment. »Nun, die Boosters sind eine sehr gute Organisation.« »Deshalb habe ich sie ausgewählt«, sagte Mom, zufrieden mit dem Einfall, den sie in letzter Sekunde gehabt hatte. - 86 -
»Sie leisten sehr gute Arbeit für die Schule«, fügte Grandma hinzu. »Das habe ich alles beim Auswahlverfahren berücksichtigt«, behauptete Mom. »Und sie tragen alle die gleichen Pullover, was einfach reizend ist«, schloss Grandma. Mom warf mir einen Blick zu, und ich versuchte nicht zu lachen. Sie sah resigniert auf ihren Teller. Mom ging ein paar Tage später zu ihrem ersten BoosterTreffen und spazierte in einen Raum voller Damen, die über eine Wohltätigkeitsmodenschau diskutierten. Mom erzählte ihnen, dass sie das Independence Inn managte und dass es vielleicht ein guter Ort für die Veranstaltung wäre, wobei sie hinzufugte, dass das Inn einen der besten Köche der Umgebung hatte. Die Frauen waren von der Idee begeistert und reagierten noch überschwänglicher, als Mom ihnen anbot, die Show zu organisieren. »Entschuldigung, aber hat Sie der Himmel geschickt?«, fragte eine der Boosters. Alles war perfekt, alle liebten sie, und Mom war sehr mit sich zufrieden. Und dann erzählten sie ihr, dass sie alle, sie eingeschlossen, die Models sein würden. Ich machte mich gnadenlos über sie lustig, als sie mir die Geschichte am nächsten Morgen auf dem Weg zum Frühstück erzählte. »Ha, ha, du bist schlimmer dran als ich«, sagte ich, als wir die Straße hinuntergingen. »Die haben mir diese Modelsache einfach untergejubelt«, ereiferte sich Mom. »Hm, meine Mom ist ein Model. Vielleicht wirst du jetzt mit Leonardo DiCaprio ausgehen«, fuhr ich fort. »Außerdem muss ich diese blödsinnige Veranstaltung auch noch selbst vorbereiten.« »Lorelai Gilmore«, sagte ich. »Nein. Das klingt nicht modelmäßig genug. Du brauchst etwas Auffälligeres. Wie wäre es mit Waffel? Du könntest dich Waffel nennen und behaupten, - 87 -
dass du aus Belgien kommst.« »Okay. Ich bin vergrätzt, und ich muss etwas dagegen tun.« Sie griff nach ihrem Handy und rief Grandma an. Sie erzählte ihr von dem Treffen mit den Boosters und dass sie sich freiwillig bereit erklärt hatte, die Modenschau zu organisieren. »Ja«, fuhr Mom fort, »und da ich weiß, dass du sehr besorgt um Rorys Ansehen in Chilton bist, war mir klar, dass du darauf bestehen würdest, deinen Teil beizutragen, deshalb wirst du eins der Models sein.« Mom sah mich selbstzufrieden an. Sie gab Grandma weitere Informationen, und obwohl sie sich zunächst ein wenig zierte, stimmte Grandma schließlich zu. »Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte ich, nachdem Mom das Gespräch beendet hatte. »Waffel ist sehr glücklich«, erwiderte Mom fröhlich, und wir setzten unseren Weg zum Luke’s fort. Später an diesem Tag betrat ich den Speisesaal von Chilton und begab mich an meinen üblichen Tisch. Ich stellte das Tablett ab, und als ich meinen Rucksack abnehmen wollte kam Francie zu mir herüber. »Setz dich bitte zu uns«, sagte sie und ging dann weg. »Ah… okay.« Ich nahm mein Tablett und ging zu Francies Tisch, stellte es ab und nahm erneut ihr gegenüber Platz. »Willkommen«, sagte Lern. »Wir haben uns unterhalten und finden dich faszinierend«, erklärte Francie. »Wie das Affenhabitat«, fügte Ivy hinzu. »Deshalb«, fuhr Francie fort, »haben wir uns entschlossen, eine Einladung auszusprechen. Du kannst hier essen, wann immer du willst.« »Wow. Das ist nett von euch. Danke«, antwortete ich. »Hey, kann ich euch eine Frage über eure Studentinnenvereinigung stellen?« Francie tat so, als wüsste sie nicht, wovon ich sprach. »Pardon?« - 88 -
»Studentinnen… was?«, fügte Ivy unschuldig hinzu. »Oh, nun ja, ich dachte, ihr wärt…«, begann ich. Lern unterbrach. »Wir haben keine Ahnung, wovon du redest.« »Das ist richtig«, nickte Francie. »Schließlich, was hat eine Geheimgesellschaft für einen Sinn, wenn sie nicht geheim ist?« »Offenbar weiß die ganze Schule davon«, erklärte ich und bemerkte, dass Paris näher kam und hinter unserem Tisch herumlungerte. »Niemand hat einen Beweis. Das sind alles bloß Märchen«, erwiderte Francie. »Wie Schneeweißchen und Rosenrot«, fügte Ivy hinzu. »Oder Mariah Careys Nervenzusammenbruch«, sagte Francie. »Habt ihr ihre neueste Mitteilung an die Fans gehört? Ihr geht es gut, und sie ist gerade damit beschäftigt, einen wirklich schönen Regenbogen anzustarren«, warf Lern ein. »Überleben ist alles, aber hallo«, sagte Ivy. Ich sah zu Paris hinüber, die jetzt an der Wand lehnte und vorgab zu lesen. »Eine Freundin von dir?«, fragte Francie, als sie meinem Blick folgte. »Paris? Oh, na ja…«, erwiderte ich. »Zu ernst«, meinte Ivy. »Viel zu ernst«, bekräftigte Lern. »Aber sie stammt von einer langen Reihe ChiltonAbsolventinnen ab«, stellte Francie fest. »Ich hasse Nepotismus«, sagte Ivy. »Er regiert allerdings die Welt«, bemerkte Francie. »Wisst ihr, Paris mag ein wenig ernst sein, aber sie ist auch sehr klug«, erklärte ich. »Wenn ich also eine Schachtel Streichhölzer auf den Boden werfe, kann sie sagen, wie viele es sind?«, fragte Francie. »Sie ist die Herausgeberin der Zeitung, eine hervorragende Autorin und sehr witzig«, fuhr ich fort. - 89 -
»Sie ist witzig«, wiederholte Ivy skeptisch. »Oh, ja. Urkomisch. Ich meine, wie oft haben wir schon zusammen gelacht… Das Mädchen ist eine echte Gary Muledeer«, sagte ich. »Sie hat dich gebeten, ein gutes Wort für sie einzulegen, nicht wahr?«, vermutete Francie. »Nein, überhaupt nicht«, widersprach ich. »Richtig«, sagte Ivy. »Nein. Ehrlich. Ich denke, in Wirklichkeit möchte sie einer anderen nichtexistenten Gruppe beitreten«, eröffnete ich ihnen. »Was?«, sagte Francie verstört. »Aber ihre Familie besteht nur aus Puffs«, erklärte Ivy. »Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich mich verhört, doch ich denke, das ist das, was sie gesagt hat.« »Eine freiwillige Überläuferin«, sagte Francie zu Ivy. »Francie…«, warnte Ivy mit gesenkter Stimme. »Ich weiß«, nickte Francie. Sie und Ivy drehten sich um »Paris?«, rief Francie. Paris sah Francie völlig verdutzt an. »Ja?« »Ich denke, die Wand kann alleine stehen, meinst du nicht auch?«, fragte Francie. »Was?«, erwiderte Paris. »Du solltest dich setzen«, schlug Francie vor. »Setzen?«, fragte Paris. »Hier«, antwortete Francie und klopfte auf den Tisch. »Dort sitzen?« Paris war verwirrt. »Oder hier«, flötete Ivy. »Oder sonst wo, was das angeht«, fügte Lern hinzu. »Nun…« Paris wusste nicht, was sie tun sollte. »Vorausgesetzt, du musst nicht woanders sein«, warf ich ein. »An einem anderen Tisch vielleicht?« Paris war jetzt völlig verwirrt. »Ein anderer Tisch?«, echote sie. »Nein, du setzt dich jetzt hierhin.« Francie stieß Ivy an, und - 90 -
alle in ihrer Reihe rutschten einen Platz weiter. »Komm, komm«, drängte sie, als sie ebenfalls den Stuhl wechselte. Paris sah mich an, und ich nickte ihr aufmunternd zu. »Ah… okay«, sagte Paris. »Ich schätze, ich kann mich setzen. Jedenfalls eine kleine Weile.« Sie nahm Francies alten Platz mir gegenüber ein. Sie war so glücklich, dass sie fast lächelte. »Was hast du gesagt?«, formte sie mit den Lippen. Ich lächelte nur, zuckte die Schultern und wandte mich wieder meiner Mahlzeit zu. Der Tisch redete weiter über das Homecoming und andere wichtige Themen, und ich beobachtete Paris, die sehr glücklich darüber war, dass sie endlich dazu gehörte. Schule und mein neues Gesellschaftsleben hielten mich in Atem, und Mom widmete ihre Zeit der bevorstehenden Modenschau. Bald kam ihr großer Tag, und sie fuhr früh am Nachmittag zum Inn, um dafür zu sorgen, dass alles glatt lief, wodurch ich das Haus für mich allein hatte. Ich wusch die Wäsche, bestellte Essen und hing den ganzen Tag in meinem alten, bequemen Pullover herum. Der perfekte Samstag. Es war großartig. Als Mom an diesem Abend heimkam, lag ich auf der Couch und las eins von Simone de Beauvoirs autobiografischen Büchern, Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Sie sah erschöpft, aber glücklich aus. »Wie war es?«, fragte ich. »Oh, schön«, antwortete Mom. »Alles lief glatt, und das Essen war hervorragend. Michel brachte nur drei Leute zum Weinen.« »Und wie war die Modenschau?« »Nun, du weißt schon, ich ging den Laufsteg rauf und runter, zog einen Schmollmund und sah sexy aus, und jetzt bin ich völlig erledigt«, antwortete Mom, als sie die Küche betrat. »Ich habe dir etwas von dem Booster-Kuchen mitgebracht«, rief sie. - 91 -
»Stell ihn bitte in den Kühlschrank.« »Okay.« »Wie war Grandma?« »Sie war… gut«, sagte Mom mit dem Mund voller Kuchen, als sie zu mir ins Wohnzimmer kam. »Ich nehme an, das ist dein Stück Kuchen, und meines ist sicher im Kühlschrank«, sagte ich mit einem Blick auf ihren Teller. »Du bist süß«, meinte Mom. »Jaah. Nun, was musstest du tragen?« »Oh, sieh mal, wie spät es schon ist. Ich gehe ins Bett«, sagte sie und stellte den Teller mit dem Kuchen vor mir auf den Tisch. »Niemand hat ein Foto von dir gemacht?« »Nein. Kannst du das glauben?« »Du hältst diese Handtasche ziemlich fest, Missy«, sagte ich, als ich bemerkte, wie sie ihre Tasche umklammerte. »Nun ja, ich liebe diese Handtasche«, erwiderte sie und tätschelte sie zärtlich. »Du hast Fotos da drin.« »Du nennst deine Mutter eine Lügnerin?«, fragte Mom anklagend. »Ja, das tue ich.« Mom gab nach und reichte sie mir. »Hm, nun ja, deshalb habe ich deinen Kuchen gegessen.« Ich öffnete die Tasche und nahm einen Stapel Polaroids heraus. »Oh, mein Gott.« »Sei nett«, warnte Mom. »Du siehst wie Nancy Reagan aus«, sagte ich kichernd. »Also wirklich, ist das nett?« »Ich glaub es nicht. Du siehst völlig verändert aus. Elegant, unaufdringlich…« »Nun ja, ich habe Unterwäsche mit Propellern drauf getragen, wenn du dich dadurch besser fühlst. Ich gehe ins Bett.« Mom - 92 -
streckte ihre Hand nach den Fotos aus. »Ich werde den Secret Service nach oben schicken«, sagte ich, legte die Fotos zurück in die Handtasche und gab sie meiner Mutter. »Oh, nebenbei«, sagte Mom und blieb auf dem Absatz stehen. »Ich an deiner Stelle würde deinen guten Pyjama anziehen, du weißt schon, den niedlichen mit den Kuchen drauf, und dein Haar kämmen und etwas Lipgloss auftragen.« »Warum?«, fragte ich. »Du wirst heute Nacht entführt«, sagte Mom hastig rannte die Treppe hinauf. »Wie bitte?« Ich stand von der Couch auf und folgte ihr. »Ich habe heute einen Anruf von Francie bekommen«, erklärte Mom, als ich in ihr Zimmer trat. »Was?« »Ja. Sie sagte, dass sie und ihre Freundinnen vorbeikommen, wenn du schläfst, dich wecken, entführen und in deinem Pyjama zum Frühstück mitnehmen werden.« »Warum sollten sie das tun?« »Offenbar ist es ein Spaß.« »Das klingt aber nicht spaßig.« »Sie hat mich gebeten, den Schlüssel unter die Matte und etwas Geld auf den Couchtisch zu legen.« »Und du hast Ja zu diesem Wahnsinn gesagt?« »Hey, ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht mit ihnen einlassen. Aber du wolltest nicht hören«, erklärte Mom, während sie den Inhalt ihrer Handtasche auskippte. »Ich kann nicht glauben, dass du eine Gruppe Fremder mitten in der Nacht hier reinlatschen und dein einziges Kind, dein kostbares kleines Mädchen, Gott weiß wohin entführen lässt.« »Wenn ihr irgendwohin geht, wo es Donuts gibt, bring mir einen mit, okay?«, bat Mom und nahm die Fotos aus ihrer Handtasche, um sie wegzulegen. »Schön.« Ich wollte ihr Zimmer verlassen, blieb dann aber - 93 -
stehen, ging zurück und riss ihr die Fotos aus der Hand. »Hey«, protestierte sie. »Weihnachtskarten«, sagte ich und stürmte aus ihrem Zimmer. »Du wirst deiner Großmutter mit jedem Tag ähnlicher!«, rief Mom mir nach. Ich zog einen niedlichen Pyjama an, kämmte mir die Haare, trug etwas Lipgloss auf und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück, um weiter mein Buch zu lesen. Nach einer Weile hörte ich, wie ein Wagen vor dem Haus hielt. Ich schloss mein Buch, stand auf und ging in mein Zimmer »Mom! Meine Kidnapper sind hier!«, rief ich die Treppe hinauf. Ich legte mich ins Bett und tat so, als würde ich schlafen. Ein paar Minuten später hörte ich, wie eine Gruppe kichernder Mädchen die Küchentür öffnete und dann in mein Zimmer geschlichen kam. »Mach Licht«, flüsterte Francie. »Ich kann den Schalter nicht finden«, flüsterte Ivy zurück. »Pst«, mahnte Francie. Dann flammte das Licht auf, und Francie, Ivy und Lern, alle in normaler Kleidung, und ein paar Mädchen in Pyjamas, darunter auch Paris, standen um mein Bett herum. »Überraschung!«, riefen sie alle. »Was ist los?«, fragte ich schläfrig, als wäre ich gerade erst aufgewacht. »Steh auf«, sagte Francie fröhlich. »Du kannst Schuhe anziehen, aber keine Strümpfe«, wies Ivy mich an. »Oh, wow, das kommt völlig unerwartet. Ich bin total überrascht«, erklärte ich. »So siehst du auch aus«, meinte Francie zufrieden. Ich stand auf und griff nach meinen Schuhen. »Okay, gehen wir«, sagte Ivy. »Wir müssen noch ein paar andere Mädchen abholen.« - 94 -
Ich zog meine Schuhe an, während die Mädchen mein Zimmer verließen. Paris blieb an der Tür stehen, ihre Haare zerzaust und mit einem breiten Stirnband zurückgebunden, ihr Gesicht von Pickelkreme gefleckt. Sie trug ein großes, unförmiges Nachthemd im Ebenezer-Scrooge-Stil. »So siehst du also aus, wenn du gerade aufgewacht bist?«, sagte sie zu mir. »Ah…ja«, log ich. »Nichts in meinem Leben ist fair«, murmelte Paris, sandte sich ab und ging hinaus. Ich folgte ihr. Wir stiegen in die Autos und fuhren los, um die anderen Anwärterinnen abzuholen. Als alle zusammen waren, verbanden die Puffs uns die Augen und brachten uns zu unserem Ziel. Sie ließen uns aussteigen und führten uns, die wir noch immer nichts sehen konnten, über einen Weg zu einer Tür. Die Tür wurde geöffnet, wir betraten das unsichtbare Gebäude und marschierten durch einen Korridor. »Okay. Das ist weit genug«, sagte Francie und befahl uns, stehen zu bleiben. »Ladys, hier an dieser Stelle, heute Nacht an diesem Ort, wo so viele andere vor euch gewesen sind, laden wir euch ein, euch uns anzuschließen.« »Ladys, nehmt eure Augenbinden ab«, befahl Ivy. Wir nahmen unsere Augenbinden ab und sahen uns um. »Wir sind in Chilton«, stellte ich fest. Francie wandte sich an Ivy. »Die Schlüssel bitte.« »Was machen wir in Chilton?«, fragte ich. »Wirst du bitte still sein! Wir werden gepufft«, zischte Paris mir zu. Ivy brachte einen Schlüsselbund zum Vorschein und gab ihn Francie. »Was ihr tun und was ihr sagen werdet, wird für immer ein Geheimnis der Puffs und der Mitglieder der Puffs bleiben«, erklärte Francie streng. Dann wandte sie sich ab und öffnete die Tür. Alle folgten ihr, als sie das Büro dahinter betrat. Als ich die Tür erreichte, sah ich das Namensschild, und blieb ab- 95 -
rupt stehen. Paris und Lisa, eine weitere Anwärterin, verharrten an meiner Seite. »Das ist das Büro des Direktors!«, sagte ich voller Panik. »Wie ist sie an die Schlüssel gekommen? Ich bin sicher, er hat sie ihr nicht gegeben.« »Hör auf!«, fauchte Paris aufgebracht. »Wir stellen hier sehr wichtige soziale Kontakte her.« »Hey, ich brauche keine sozialen Kontakte«, erwiderte ich. »Ich habe Freundinnen. Mir geht’s gut.« »Tja, es ist bestimmt sehr nett, du zu sein. Vielleicht werde ich eines Tages in einen Disney-Film stolpern, plötzlich in deinen Körper versetzt werden und nach einer Weile endlich meine innere Schönheit erkennen. Aber da es noch nicht so weit ist, werde ich dort hineingehen und eine Puff werden! Jetzt geh mir aus dem Weg!« Und Paris stürmte in Direktor Charlestons Büro. Lisa sah mich verlegen an und folgte dann Paris. Ich seufzte und schloss mich ihnen an. Francie befahl uns, einen Kreis zu bilden, und Ivy zündete eine Kerze an und trug sie mit ernstem Gesicht zu einer antiken Glocke auf dem Schreibtisch des Direktors. Dann begann Francie mit der Zeremonie. »Die historische Glocke von Chilton. Einhundertzwanzig Jahre alt. Jede Angehörige der Puffs muss hier im Schutz der Nacht stehen und uns ihre lebenslange Treue schwören.« Sie nahm die Kerze, legte ihre Hand auf die Glocke und rezitierte todernst den Eid der Puffs: Ich verpflichte mich den Puffs, Treu werde ich immer sein, Ein »P« am Anfang, zwei »f« am Ende, Und ein »u« dazwischen. Ich sah zu Paris hinüber, die die Worte leise nachsprach. »Anne Sexton, richtig?«, murmelte ich, als Francie fertig war. Paris funkelte mich an. »Wenn ihr mit dem Eid fertig seid, müsst ihr dreimal die Glocke läuten«, wies Francie uns an. - 96 -
Ivy drehte sich um und teilte mir mit, dass ich die Erste sei. Ich musterte die extrem ernsten Gesichter, die mich anstarrten. Für Harvard. Dann ging ich zu der Glocke und der Kerze. »Äh… Ich verpflichte mich den Puffs…«, begann ich hastig und leicht verlegen. »Du musst die Kerze halten«, erinnerte Ivy mich. Ich griff nach der Kerze und fing erneut an. »Ich verpflichte mich den Puffs, treu werde ich immer sein…« »Sing laut, Louise«, sagte Francie. Ich fuhr lauter fort, war aber noch immer ziemlich verlegen. »Ein >P< am Anfang, zwei >f< am Ende und ein >u< dazwischen.« Und dann läutete ich einmal die Glocke. Dann zum zweiten Mal. Ich wollte gerade ein drittes Mal die Glocke läuten, als eine Stimme warnte: »Ich würde das nicht noch einmal tun, Miss Gilmore.« Wir alle fuhren stumm vor Schreck zur Tür herum. Die Lichter gingen an und dort stand, von Wachmännern flankiert, Direktor Charleston und starrte uns an.
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8 Direktor Charleston ließ uns alle in einer Reihe sitzen, bat Mrs Traiger, unsere Eltern anzurufen und setzte zu seiner Strafpredigt an. »Enttäuschung? Desillusionierung? Frustration? Erstaunen?«, begann er, während er vor uns auf und ab ging. »Ich nehme an, man könnte sagen, dass ich augenblicklich all diese Gefühle habe. Dass ich einige der besten und klügsten Schülerinnen dabei ertappe, wie sie sich auf eine derart destruktive, unmoralische und illegale Weise verhalten, wird uns dazu zwingen, lange und gründlich darüber nachzudenken, wie wir euch Mädchen erziehen.« Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, wütend darüber, dass ich hier war. »Aber das liegt alles in der Zukunft«, fuhr Direktor Charleston fort. »Wie gehen wir jetzt damit um? Nun, ich werde mir eure Suspendierung vorbehalten. Außerdem werdet ihr nachsitzen müssen und einen Verweis bekommen.« »Das ist unglaublich«, murmelte ich. Charleston drehte sich zu mir um. »Was war das, Miss Gilmore?«, fragte er streng. »Nichts«, erwiderte ich. »Nein. Ich habe deutlich gehört, wie Sie etwas in einem recht mürrischen Ton gemurmelt haben. Ich würde gern wissen, was das war.« Ich stand von der Couch auf und sah ihn an. »Ich sagte, das ist unglaublich.« »Und warum genau ist es unglaublich, Miss Gilmore?« »Weil ich eigentlich gar nicht hier sein wollte.« »Oh, wirklich, Miss Gilmore…« Ich unterbrach ihn. »Alles war in bester Ordnung. Meine Zensuren waren gut, ich arbeitete bei der Zeitung mit, kam meinen - 98 -
Pflichten nach…« »Sie kamen Ihren…«, versuchte Direktor Charleston zu unterbrechen. »Und ich habe Freunde«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich habe einen festen Freund, und meine Mutter und ich verstehen uns prima, und Lane und ich sind seit dem Kindergarten die besten Freundinnen. Aber Sie sehen das nicht, weil ich nicht in dieser Stadt lebe, und wenn Sie es nicht sehen, dann kann es nicht wahr sein, und Sie haben mich hierher zitiert, um mich zurechtzuweisen, weil ich in der Mittagspause lieber lese als endlos über die Euthanasie des Homecoming zu diskutieren.« »Ihr Lesen hatte…« Aber ich hatte noch mehr zu sagen. »Sie haben mir und meiner Mutter erklärt, dass ich geselliger sein muss, und wenn nicht, wäre dies ein schlechtes Zeichen und würde mir schaden, wenn ich nach Harvard will.« »Nun ja, wir haben gesagt, dass…« »Also habe ich es getan. Ich habe mich an einen Tisch gesetzt. Irgendeinen Tisch.« »Irgendeinen!«, rief Francie gekränkt. »Und im nächsten Moment werde ich mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt und mit verbundenen Augen entführt, und bevor ich weiß, wie mir geschieht, lande ich hier bei den YaYa-Schwestern, die Gedichte rezitieren und Kerzen anzünden, und jetzt soll ich suspendiert werden? Weil ich versucht habe, das zu tun, was Sie mir gesagt haben? Was ist daran fair?« Mrs Traiger kam durch die Tür und verkündete, dass die Eltern eingetroffen seien. »Danke, Mrs Traiger.« Direktor Charleston wandte sich wieder an uns. »In Ordnung, Ladys. Wir werden diese Unterhaltung morgen und auch noch an vielen weiteren Tagen fortsetzen. Sie können jetzt gehen.« Alle standen auf und steuerten die Tür an. »Miss Gilmore«, hielt mich Direktor Charleston auf. Ich drehte mich um und sah - 99 -
ihn an. »Ich denke, dass wir beide uns noch ein wenig länger unterhalten sollten.« »Über was?« »Über die Tatsache, dass ich es zwar für wichtig halte, dass Schüler gesellig sind, wir in Ihrem Fall vielleicht aber etwas vorschnell geurteilt haben«, erwiderte er. »Wirklich? Bedeutet das, dass Sie meine Suspendierung überdenken werden?« »Sie sind eine ausgezeichnete Schülerin. Sie verdienen es, nach Harvard zu gehen. Ich möchte Ihnen nicht im Weg stehen. Wir reden morgen weiter.« »Vielen Dank.« Ich wandte mich ab und verließ sein Büro. Als ich auf den Korridor trat, fand ich eine Gruppe von Eltern vor, die mit ihren Kindern schimpften. Ich sah zu Paris hinüber, die von einem Hausmädchen weggeführt wurde, dass sie auf Portugiesisch anschrie. Meine Mom kam halb aufgelöst zu mir. »Was ist passiert?«, fragte sie und küsste mich auf die Stirn. »Die Telefonverbindung war so schlecht, dass ich nur >Rory< und >Chilton< und >Kommen Sie hierher< verstanden habe. Wem muss ich in den Hintern treten?« »Wir sind nicht frühstücken gegangen«, sagte ich. »Wovon redest du?« »Wir kamen hierher, und sie brachen in das Büro des Direktors ein, um uns aufzunehmen«, erklärte ich. »Pfui, diese dummen Gören.« »Hm-hm«, machte ich nickend. »Zur Aufnahmezeremonie gehörte das Läuten einer Glocke. Genau das habe ich gemacht, als der Sicherheitsdienst auftauchte und sie dich angerufen haben.« »Dabei hat man dich erwischt? Beim Läuten einer Glocke?« »Jaha.« »Mehr nicht? Glockenläuten?« »Ja«, wiederholte ich. - 100 -
»Hast du dabei wenigstens eine kubanische Zigarre geraucht?« »Mom…« »Nein. Ich meine, böses Mädchen. Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst keine Glocken läuten?« »Gehen wir«, seufzte ich. »Sie könnten eine Delle bekommen oder zerkratzt werden, und sie machen Hunde verrückt. Für wen hältst du dich, für den Buckligen von Notre-Dame? Bist du Französin? Bist du rund? Ich denke nicht…«, fuhr Mom fort. »Ich gehe jetzt zum Wagen.« Ich wandte mich von ihr ab und marschierte den Korridor hinunter. »Warte einen Moment«, rief Mom und hielt mich fest. »Wie viel Ärger hast du dir eingehandelt? Soll ich mit dem Direktor reden?«, fragte sie besorgt. »Nein, ich denke, alles wird gut.« »Okay. War es wenigstens eine große Glocke?«, fragte sie und legte ihren Arm um mich, als wir weitergingen. In der Mittagspause des nächsten Schultags betrat ich den Speisesaal mit meinem Tablett, Rucksack, Buch und tragbaren CD-Player. Ich ging an den Puffs vorbei zu meinem üblichen Tisch und stellte mein Tablett ab. Ich legte meinen Rucksack auf den Boden, nahm Platz und setzte den Kopfhörer auf. »It’s Alright, Baby« von Komeda dröhnte aus dem Kopfhörer, als ich die Abspieltaste drückte, mein Buch aufschlug und zu lesen begann. Dann dämmerte mir, dass wieder einmal jemand vor mir stand. Als ich aufblickte, sah ich Lisa, eins der anderen Mädchen, das bei der misslungenen Puffs-Zeremonie aufgenommen werden sollte. Ich nahm meinen Kopfhörer ab. »Hast du was dagegen?«, fragte sie und deutete auf den freien Stuhl auf der anderen Seite des Tischs. »Oh, nein«, antwortete ich. »Danke.« Lisa ließ sich nieder und stellte ihr Tablett auf den Tisch. Ich setzte meinen Kopfhörer wieder auf, als sie Mary - 101 -
McCarthys Eine katholische Kindheit. Erinnerungen von ihrem Tablett nahm und zu lesen anfing. Und zusammen, aber jede für sich, aßen wir zu Mittag.
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9 Ich wartete auf den Anruf von Grandma wegen meiner gerade noch abgewendeten Suspendierung, aber er kam nicht, daher war ich an diesem Freitag ein wenig nervös, als wir zum Abendessen zum Haus meiner Großeltern fuhren, nicht sicher, was mich erwartete. Mom meinte, wenn Grandma es wüsste, hätte ich schon längst von ihr gehört. Und sie hatte Recht. Meine Großmutter war bester Laune, als wir ankamen. Da mein Großvater geschäftlich unterwegs war, saßen nur wir drei am Esszimmertisch und aßen zu Abend. »Wie ist das Essen?«, fragte Grandma. »Lecker«, erwiderte ich. »Sehr lecker«, bestätigte Mom. »Neue Köchin?« »Ja«, nickte Grandma. »Marisela. Sie hat uns einige wundervolle Gerichte vorgestellt, die auf bezaubernde Weise typisch für ihr Heimatland sind.« »Aus welchem Land kommt sie?«, wollte Mom wissen. »Aus einem dieser kleinen, die an Mexiko grenzen«, erklärte Grandma. »Wie bezaubernd typisch.« Mom lächelte. »Schade, dass Grandpa auf Reisen ist. Er mag exotisches Essen«, bemerkte ich. »Ja, und wo nimmt er heute Abend sein exotisches Essen ein?«, fragte Mom. »Argentinien? Marokko?« Grandma zögerte kurz, bevor sie antwortete. »Akron.« »Ohio?«, fragte ich. »Ja«,bestätigte Grandma. »Ach, geh weg«, sagte Mom. »Ich werde nicht weggehen«, wies Grandma sie streng zurecht. »Nein. Ich meinte nicht, dass du weggehen sollst. Ich…« »Warum ist Grandpa in Akron?«, unterbrach ich. - 103 -
»Ich weiß es nicht«, gestand Grandma. »Das war nur so eine Redensart«, verteidigte sich Mom. Grandma ignorierte sie. »Sie haben ihn beauftragt, irgendein Problem mit ihrer lokalen Niederlassung zu lösen.« »Eine Redensart«, fuhr Mom fort. »Du weißt schon, wie >Ich fass es nicht< oder >Hol mich der Teufel<, so was in der Art.« Grandma wandte sich an Mom. »Lorelai, soll ich einen Spiegel holen, damit du dich betrachten kannst, während wir uns unterhalten?« »Tut mir Leid. Dad ist also in Akron…« »Ja. Der Mangel an Komfort dort ist erschreckend. Er musste gestern Abend in einem Cafe essen. Die ganze Sache ist überaus deprimierend. Er ist unglücklich«, erzählte Grandma uns. »Ich hasse es, dass er unglücklich ist«, sagte ich aufrichtig. »Ich auch«, erwiderte Grandma. »Wir sollten wirklich irgendetwas tun.« »Ja, ganz meine Meinung«, nickte ich. »Warnung, Warnung…«, flüsterte Mom mir zu. »Ich bin froh, dass du das sagst, Rory«, fuhr Grandma fort, »denn mir ist eine wundervolle Möglichkeit eingefallen, ihn aufzuheitern.« »Cool, welche?«, fragte ich Grandma. »Gefahr, Will Robinson. Gefahr«, warf Mom ein. Ich funkelte sie an. »Ein Ölporträt von dir für sein Arbeitszimmer«, sagte Grandma theatralisch. »Ein Ölporträt?« »Ich habe es versucht. Viel Spaß!«, sagte Mom zu mir. »Es könnte direkt über seinem Kamin hängen. Er wird es lieben«, fuhr Grandma aufgeregt fort. »Oh. Nun ja…« Ich zögerte. »Es würde ihn so glücklich machen«, fügte Grandma hinzu. »Nun, ich schätze, das wäre okay«, sagte ich. »Oh, Mom, bitte zwing sie nicht dazu.« - 104 -
»Sie hat gerade gesagt, dass sie einverstanden ist«, erwiderte Grandma mit einem Blick zu Mom. »Schön. Lass das Bild malen, aber zwing sie nicht, sich hinzusetzen und dafür zu posieren. Lass es nach einem Foto malen.« »Einem Foto?« Grandma war entsetzt. »So etwas macht man in den Einkaufszentren.« »Ich werde Modell sitzen. Es ist okay.« »Nur weil du es schrecklich fandest, für ein Porträt Modell zu sitzen, muss es Rory nicht auch schrecklich finden«, sagte Grandma. Ich wandte mich an meine Mom. »Von welchem Porträt redet sie? Ich habe es nie gesehen.« »Es ist nie fertig geworden«, erklärte Mom stolz. »Drei Maler haben angefangen, und alle haben gekündigt«, vertraute Grandma mir an. »Warum haben sie gekündigt?«, erkundigte ich mich. »Sie wollte nicht aufhören, finster dreinzuschauen«, antwortete Grandma, ohne meine Mom aus den Augen zu lassen. »Ich wollte wie Billy Idol aussehen«, sagte Mom zu mir. »Der Maler aus Italien hatte einen Nervenzusammenbruch«, fuhr Grandma fort. »Oh, mein Gott«, entfuhr es mir. »Hey, ich habe Van Gogh nichts getan. Der Kerl sollte mir danken«, verteidigte sich Mom. »Ich schwöre, dass ich ein Jahr später gesehen habe, wie er in unseren Mülltonnen wühlte«, fügte Grandma hinzu. »Nun, ich werde gern Modell sitzen«, sagte ich. »Es ist Grandpa, warum also nicht?« Grandma war erfreut. »Wundervoll. Ich werde mich gleich morgen darum kümmern.« »Psst, ich kann dir beibringen, ein Gesicht wie Billy Idof zu machen«, flüsterte Mom mir vernehmlich zu. »Die meisten Leute konzentrieren sich auf die Lippen, aber die Augen sind - 105 -
genauso wichtig…« Grandma hämmerte mit dem Salzstreuer auf den Tisch und brachte Mom damit zum Schweigen. Dann wandten wir uns wieder der bezaubernd typischen Mahlzeit vor uns zu. Da meine schulische Zukunft für den Moment gesichert war, widmete sich Mom mit neuerlichem Interesse dem Gasthof, den sie schon seit langer Zeit zusammen mit Sookie eröffnen wollte. Ihre Verlobung und die anschließende Trennung hatten sie davon abgelenkt, aber da das jetzt hinter ihr lag, konzentrierte sie sich erneut auf ihr ursprüngliches Ziel. Sie hatten bereits den perfekten Ort gefunden, ein altes, leer stehendes Gebäude, das früher das Dragonfly Bed and Breakfast gewesen war, und Mom stellte Nachforschungen an, wem das ehemalige Gasthaus gehörte. Es stellte sich heraus, dass Fran von Weston’s Bakery die Besitzerin war, aber als Sookie und Mom Fran fragten, ob sie verkaufen wollte, lehnte sie ab. Offenbar war das Haus schon seit einer Ewigkeit im Besitz ihrer Familie, und da sie die letzte Weston war, hatte sie das Gefühl, dass es das Einzige war, was ihr von ihrer Familie noch geblieben war. Das war natürlich nicht die Antwort, die sich Mom und Sookie erhofft hatten, und als Mom von ihrem Besuch bei Fran nach Hause kam, war sie völlig deprimiert. Ich hatte gerade zu frühstücken begonnen und bot ihr in der Hoffnung, sie so ein wenig aufmuntern zu können, an, im Inn vorbeizuschauen und ihr zu helfen, sobald ich fertig war. Sie lächelte mich an und sagte, das wäre toll, dann fuhr sie zur Arbeit. Ich frühstückte zu Ende, schlenderte dann zum Inn und traf unterwegs auf Lane. Sie war auf dem Heimweg und wollte direkt in ihr Zimmer gehen. Wenn sie erst dort ankam, nachdem die Bibelgruppe ihrer Mom eingetroffen war, würde sie für die Dauer des Treffens unten festsitzen. Und beim letzten Mal, als das passiert war, hatten drei Mitglieder der Gruppe erklärt, dass Lane die perfekte Frau für ihre Söhne sei, und sie hatte keine andere Wahl gehabt, als sich zu drei schrecklichen - 106 -
Rendezvous mit den unbekannten jungen Männern bereit zu erklären. Danach hatte sie geschworen, dass ihr das nicht noch einmal passieren würde. Sie erzählte mir weiter von ihrem Leben und dass Janie Fertman, eines der Cheerleader-Mädchen der Stars Hollow High, wieder ihre Freundin sein wollte. Dabei eignete sich Lane überhaupt nicht als Cheerleader. »Jesses«, sagte ich. »Was für Vibes gibst du ihr?« »Oh, meine patentierten Keith-Richards-1969er-Leg-dichnicht-mit-mir-an-Vibes, kombiniert mit einem asiatischen Blick, mit dem ich mir sonst jeden vom Leib halte«, antwortete sie. »Das sollte reichen«, meinte ich. Eine Sirene heulte, und als wir um die Ecke bogen, sahen wir, dass vor Doose’s Market eine Menschenmenge zusammengelaufen war. Ein Feuerwehrwagen stand bereits dort, und in diesem Augenblick fuhr ein Streifenwagen vor. »Was ist denn da los?« Wir überquerten die Straße und drängten uns durch die Menge. Gelbes Absperrband umgab den Laden, und auf den Asphalt vor dem Eingang war mit Kreide der Umriss eines Körpers gezeichnet. Taylor, der völlig aufgelöst wirkte, redete gerade mit Officer Scanion, einem der weiblichen Police Officer von Stars Hollow. Sie sagte ihm, er solle sich beruhigen, und ging einen Moment zu ihrem Partner. Wir kämpften uns zur ersten Reihe der Schaulustigen durch und trafen auf Dean. »Hi«, sagte ich. »Hey«, gab er zurück und trat zur Seite, damit wir besser sehen konnten. »Was ist passiert?«, fragte ich. »Ich weiß nicht. Ich kam hier an und fand alles so vor, wie es jetzt ist. Ich habe ihm gesagt, dass es getürkt aussieht] aber Taylor wollte mir nicht glauben«, erklärte Dean. »Und dabei hast du so ein ehrliches Gesicht«, meinte ich während ich zu ihm aufblickte. »Nun, er muss mich nicht so sehr lieben wie du«, entgegnete - 107 -
Dean und lächelte mich an. »Okay, ihr beide seid offiziell abscheulich«, sagte Lane, als sie sich abwandte, um sich durch die Menge zu drängen und in die Sicherheit ihres Zimmers zu fliehen. Officer Scanion kehrte zu Taylor zurück. »Es ist alles geklärt, Taylor. Es sieht aus, als hätte sich jemand einen schlechten Scherz erlaubt«, erklärte sie ihm. »Aber es sieht so echt aus«, erwiderte Taylor. »Wo haben sie nur das Absperrband her?« Officer Scanion zuckte die Schultern. »Jugendliche sind einfallsreich.« »Wer wäre verderbt genug, einen derart dummen Streich) zu spielen?«, fragte Taylor wütend. »Schwer zu sagen«, meinte die Polizistin. Ich drehte einen Moment den Kopf und sah Jess auf der anderen Straßenseite an einem Laternenpfahl lehnen. Er beobachtete das ganze Geschehen mit einem ziemlich amüsierten Gesichtsausdruck. Er bemerkte, dass ich ihn anstarrte, wandte sich dann ab und ging davon. Ich war ziemlich sicher, dass ich wusste, wer diese verderbte Person war. Ich ging weiter zum Inn und fand Mom und Sookie in der Küche. Ich setzte mich an Sookies Tisch, und Mom brachte mir einige Quittungen, die sortiert werden mussten. Ich blätterte darin, während Sookie das nächste Gericht zubereitete. »Mom, du notierst deine Einkäufe doch nicht auf den Rückseiten der Kreditkartenquittungen des Inns«, sagte ich. »Oh, nun ja, nur Ofenspray und… Schwämme«, erwiderte sie. »Okay, und wenn dich ein Buchprüfer fragt, warum du so große Mengen Ofenspray und Schwämme gekauft hast?« »Dann lass ich meinen Kugelschreiber fallen und setze den Pullover mit dem U-Ausschnitt ein, den ich von jetzt an tragen werde«, antwortete sie und kam mit einer frischen Tasse Kaffee zu mir. - 108 -
»Solange du einen derart guten, wohl durchdachten Plan hast«, sagte ich und wandte mich wieder den Quittungen zu. »Ich hatte gestern Nacht einen Traum«, sagte Sookie zu meiner Mom. »Über uns und Fran.« »Ohhh, und worum ging es?« »Nun, er spielte in der Zukunft und wir waren alle alt. Du und ich und Rory und Jackson und Michel, alle. Graue Haare und Spazierstöcke, und wir waren alle irgendwie gebrechlich, du weißt schon, wir hatten Brillen mit dicken Gläsern, waren schwerhörig und machten dauern >Hä, hä?<« »Wie berückend«, sagte Mom. »Ihr Kids mit eurem Rock and Roll«, bemerkte ich. Sookie fuhr fort: »Aber dann tauchte Fran auf, und weißt du was? Sie sah völlig unverändert aus. Sogar noch besser.« »Das ist nicht fair«, sagte Mom. »Diese Frau wird ewig leben«, prophezeite Sookie. »Nicht unbedingt«, erwiderte meine Mom. »Hey, hast du nachgeschlagen, was Angina ist? Ich habe es vergessen.« »Ja. Nichts Ernstes.« Sookie konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. »Ihr müsst aufhören, so zu reden«, ermahnte ich sie. »Wie denn?«, fragte Mom. »Wir lieben Fran, schon vergessen? Fran ist toll«, erinnerte ich sie. »Aber ja, Schätzchen, natürlich lieben wir Fran«, sagte Sookie, »wir wollen nur wissen, wie Gottes ultimativer Plan für sie aussieht, das ist alles.« »Es ist das perfekte Haus«, sagte Mom verträumt. »Es ist in jeder Hinsicht perfekt«, fügte Sookie hinzu. »Ich will nicht mal daran denken, woanders zu suchen«, führ Mom fort. »Es lohnt sich, darauf zu warten«, stellte Sookie fest. »Und ob es sich lohnt, darauf zu warten«, bekräftigte Mom. »Ich würde euch raten, wenigstens so zu tun, als wärt ihr be- 109 -
schäftigt«, unterbrach Michel, als er die Küche betrat. »Der Boss ist im Anmarsch.« Ich sah meine Mom aufgeregt an. »Mia!« »Machst du Witze?«, fragte meine ebenfalls begeisterte Mom. »Wann?« »Ich habe gerade gesehen, wie sie hereinkam«, erklärte Michel. »Gehen wir!« Und Mom und ich eilten hinaus in die Lobby.
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10 Mia gehört das Independence Inn, und sie hatte Mom ihren ersten Job verschafft, als sie kurz nach meiner Geburt das Haus meiner Großeltern verließ. Mia gehört zur Familie, aber sie ist häufig auf Reisen und vor ein paar Jahren nach Kalifornien gezogen, sodass wir sie nicht mehr so oft zu sehen bekommen, wie es uns gefallen würde. Sie redete gerade mit einem der Angestellten, als wir die Lobby betraten. »Mia!«, rief ich. Sie brach ihre Unterhaltung ab, als sie uns sah. »Meine Babys!« Mom und ich rannten zu ihr, wir umarmten einander und rissen uns dabei fast gegenseitig zu Boden. »Wussten wir, dass du kommst?«, fragte ich. »Ich wusste jedenfalls nicht, dass ich komme«, antwortete sie. »Das ist doch keine Überraschungsinspektion, oder?«, wollte Mom wissen. »Genau das ist es. Seid ihr bereit?« Mom und ich stellten uns kerzengerade hin, und Mia ging um uns herum und begutachtete uns. »Wie immer seid ihr zu dünn.« »Aber wir essen«, erwiderte ich. »Und ihr seid beide zu schön…«, fuhr Mia fort. »Ja, das stimmt«, erwiderte Mom. »Wir fühlen uns oft schuldig, weil wir unsere ganze Schönheit einfach für uns behalten.« »Und ich sehe euch nicht oft genug, was meine Schuld ist, sodass ihr beide bestanden habt«, schloss Mia und zog uns erneut an sich. Michel kam zu uns herüber, und Mia ging zu ihm. »Michel… oh, wie nett Sie aussehen. Und seht euch diesen Anzug an. Sie sind ein richtiger Dandy nicht wahr?« Mia drehte ihn herum, und Michel lächelte stolz. »Nun, ich hatte das Gefühl, dass heute eine schöne Frau zu Besuch kommen würde, also beschloss ich, so gut wie möglich für sie auszusehen«, erwiderte Michel mit seinem starken fran- 111 -
zösischen Akzent. Mia betrachtete ihn einen langen Moment. »Es tut mir Leid, Schatz, ich habe kein Wort verstanden.« »Er sagt, er hat dich vermisst«, erklärte ich. »Sie sind jetzt lange genug in den USA, Michel. Ihre Aussprache müsste inzwischen eigentlich besser sein«, meinte Mia. »Die Gäste scheinen mich gut zu verstehen«, erwiderte er. »Das habe ich auch nicht verstanden«, seufzte Mia und drehte sich zu uns um. Dann wandte sie sich wieder an Michel. »Haben Sie die Bänder bekommen, die ich Ihnen geschickt habe?« »Hey«, sagte Mom zu Michel, »vielleicht solltest du am Empfang nachsehen, da brauchen ein paar Leute Hilfe.« »Sofort«, sagte er zu meiner Mom. »Mia, ich…«, begann er, um es sich dann anders zu überlegen. Er hob grüßend die Hand und eilte von dannen. »Na, seid ihr zu beschäftigt, um mit mir einen Spaziergang zu machen?«, fragte Mia. »Nicht, wenn der Boss damit einverstanden ist«, erwiderte ich mit einem Lächeln. »Es ist ein Befehl«, sagte Mia. »Gehen wir.« Mom wandte sich dem Empfang zu. »Hey, Michel, hältst du die Stellung?« »Im Moment ist nicht viel los, also ist es kein Problem«, antwortete Michel. Mia sah mich Hilfe suchend an. »Er sagt, dass er dich nie gemocht hat und dass du eine Plage bist«, übersetzte ich. Michel war entsetzt. »Das habe ich nicht gesagt«, protestierte er. »Ich weiß nicht, woher diese Feindseligkeit kommt«, meinte Mia, auf das Spiel eingehend. »Können wir das nicht irgendwie klären?« »Es gibt nichts zu klären«, beharrte Michel. »Er sagt, du sollst verschwinden«, wandte ich mich an Mia. »Das sagte ich nicht!«, widersprach Michel. - 112 -
»Ich weiß nicht, was ich ihm angetan habe, dass er mich so hasst«, seufzte Mia, um Michel zu ärgern, ehe wir alle nach draußen gingen. Als wir Weston’s Bakery passierten, war Fran draußen und fegte den Bürgersteig. »Hallo, Mia. Hallo, Mädchen«, rief Fran, als wir sie passierten. »Frannie! Schätzchen! Mein Gott, du siehst wundervoll aus!«, rief Mia. »Ich fühle mich auch wundervoll! Als hätte ich eine Million Dollar, um genau zu sein«, sagte Fran mit einem breiten Lächeln. Mom setzte bei Frans Worten ein enttäuschtes Gesicht auf, und als sie mich ansah, bemerkte sie, dass ich sie anstarrte und missbilligend den Kopf schüttelte. »Böse«, flüsterte ich ihr zu, während sich Mia weiter mit Fran unterhielt. »Ich habe nichts gedacht«, verteidigte sich Mom. »Böse, und du wirst zur Hölle fahren«, fuhr ich fort. »Nur gut, dass mir Rot gut steht«, versetzte Mom. Mia bat Fran noch, ein paar von den leckeren schwarzweißen Keksen ins Inn zu schicken, dann setzten wir unseren Spaziergang fort. »Oh, Gott«, sagte Mia. »Ich habe das vermisst. Ich habe diese Stadt und die Leute und…« Sie warf meiner Mom einen Blick zu. »Du siehst schuldbewusst aus.« Mom stritt es ab, also wandte sich Mia an mich. »Was hat sie getan?« »Ich habe nichts getan«, beharrte Mom. Mia ignorierte sie und fragte mich: »War es wirklich so schlimm?« »Ich sage nichts«, erklärte ich. »Ach, du liebe Zeit«, seufzte Mia kopfschüttelnd. Mia wollte ins Luke’s, und als wir eintraten, stand Luke hinter dem Tresen und fummelte an einem defekten Toaster her- 113 -
um. Mia schaute sich im Lokal um. »Seht euch das an. Nichts hat sich verändert.« Luke blickte auf, und als er Mia entdeckte, eilte er zu ihr, um sie zu begrüßen. »Genau genommen habe ich ihn vor ein paar Monaten dazu gebracht, neu zu streichen«, sagte Mom stolz. »Mia, hey«, rief Luke und zog sie an sich. »Schön dich zu sehen, Lucas«, erwiderte sie liebevoll. »Du bist der einzige Mensch auf der Welt, der mich so nennen darf, Mia«, erklärte Luke. »Ich weiß«, nickte Mia. »Das war an andere gerichtet, die sonst planen könnten, es später auch zu versuchen«, fügte Luke mit einem Blick zu meiner Mom hinzu. »Ganz wie du meinst, Lucas«, entgegnete Mom. »Mia, verstehst du etwas von Toastern?«, fragte Luke. »Nicht das Geringste«, antwortete sie. »Dann setz dich, und ich bringe dir eine Tasse Kaffee.« Luke ging hinter den Tresen und machte eine frische Kanne Kaffee, während wir uns an einen Tisch setzten. »Also, redet mit mir, ihr zwei«, sagte Mia. »Erzählt mir alles. Wie geht es deinen Eltern, Lorelai?« »Meine Eltern sind… meine Eltern«, erwiderte Mom resigniert. »Denen geht’s gut«, antwortete ich für meine Mom. »Sie sind gut darin, das zu sein, was sie sind«, erklärte Mom. »Das heißt, sie sind liebevolle Menschen, die manchmal vergessen, das auch zu zeigen…« »So wie Haie, die ihre Artgenossen jagen, vergessen, es zu zeigen«, fügte Mom hinzu. »Und, wie ist das Leben in Santa Barbara?« »Schrecklich«, gestand Mia. »Wusstet ihr, dass dort ständig die verdammte Sonne scheint?« »Es gibt ein paar Songs darüber«, vertraute ich ihr an. »Niemand hat mir gesagt, dass es so ist. Die Hälfte meiner - 114 -
Garderobe ist überflüssig«, meinte Mia. »Oh, wirklich?«, sagte Mom. »Hey, weißt du, der schicke blaue Mantel…« »Den bekommst du nicht«, unterbrach Mia. »Schon klar«, seufzte Mom. Luke hantierte wieder an dem Toaster herum, während er auf den Kaffee wartete, und Jess kam aus dem Hinterzimmer und sah zu, wie er mit dem Gerät kämpfte. »Du machst es nur noch schlimmer«, sagte er dann. »Große Hilfe, danke.« »Lukes Neffe«, informierte Mom Mia. »Luke, das ist dein Neffe?«, fragte Mia. »Er ist Liz’ Junge«, erklärte er und kam mit der Kaffeekanne und den Tassen herüber. Jess folgte ihm. »Jess, das ist Mia. Ihr gehört das Independence Inn.« »Hey«, murmelte Jess. »Das heißt >Hallo, nett Sie kennen zu lernen< auf Bummelantisch«, wandte sich Luke an Mia. »Du brauchst mich nicht hier unten«, stellte Jess fest wandte sich ab und ging die Treppe hinauf. Luke entschuldigte sich für Jess, und Mia gab sich verständnisvoll. »Du warst in seinem Alter auch nicht gerade gesprächig«, erinnerte sie ihn. »Das stimmt, du kanntest Luke schon, als er noch ein Junge war«, sagte Mom strahlend. »Ich kann mir Luke gar nicht als Junge vorstellen«, wendete ich mich an Mia. »Er war diesem jungen Mann sehr ähnlich. Kurz angebunden, Dummheit war ihm ein Gräuel. Klugheit aber auch. Sehr verschlossen…«, berichtete Mia. »Können wir das Thema wechseln?«, fragte Luke. »Er hat den Leuten geholfen, ihre Einkäufe nach Hause zu tragen…«, fuhr Mia fort. »Wow, wow, sehr pfadfindermäßig«, sagte ich. - 115 -
»… für einen Vierteldollar pro Tasche«, fügte Mia hinzu. »Wow, wow, sehr John-Birch-Society-mäßig«, sagte Mom. »Er war nie ohne sein Skateboard unterwegs…« »Warst du gut?«, erkundigte sich Mom. »Ich kam zurecht«, erklärte Luke. »Das muss in dem Jahr gewesen sein, in dem du überall, wo du hingingst, dasselbe Hemd getragen hast.« »Ich erinnere mich nicht daran«, sagte Luke nervös. »Das muss ein Flanellhemd gewesen sein«, vermutete Mom. »Nein, es war ein T-Shirt dieser Fernsehserie, dieser… berühmten.« »Es ist nicht wichtig«, sagte Luke hastig. »Star Trek, genau.« Mom und ich brachen in Gelächter aus. »Oh, mein Gott! Oh, mein Gott!«, stöhnte Mom. »Hört auf«, befahl Luke. »Du warst ein Trekkie?«, fragte ich, unfähig, das breite Grinsen von meinem Gesicht zu vertreiben. »Ich war kein Trekkie.« »Oh-oh, ich glaube, zu leugnen, dass du ein Trekkie warst, verstößt gegen die Oberste Direktive«, erklärte Mom. »Zweifellos, Captain.« »Es war ein Geschenk von meiner Tante. Ich habe es getragen, um ihr eine Freude zu machen«, behauptete Luke. »Ich würde nie irgendeiner meiner Tanten eine derartige Freude machen«, entgegnete Mom. »Habe ich etwas gesagt, das ich nicht sagen sollte?«, fragte Mia. »Nein, nein, Mia. Ich „werde nur alle Termine für die nächsten drei Monate absagen müssen, weil ich mich totlache«, erwiderte Mom. Die Glöckchen an der Tür bimmelten, und mit wütendem Gesicht stürzte Taylor herein. »Luke, ich muss mit dir reden, und zwar sofort«, rief er. - 116 -
»Was ist los, Taylor?« »Ich habe eine gründliche Befragung aller Leute vorgenommen, die gestern Nacht zufälligerweise Zeuge des vorgetäuschten Mordes vor meinem Laden geworden sind.« »Es hat einen vorgetäuschten Mord gegeben?«, flüsterte Mia uns zu. »Ja, diese Stadt ist zu langweilig für einen echten Mord«, erwiderte Mom. »Aber du bist nur eine Beam-mich-hoch-Scotty-Bemerkung davon entfernt, das Opfer eines Mordes zu werden«, sagte ich zu Mom. Luke wandte sich von Taylor ab und ging hinter den Tresen. »Luke, wirst du mir wohl zuhören?«, sagte Taylor. »Was hat das alles mit mir zu tun?« »Drei Leute haben berichtet, dass sie Jess gestern Abend in dieser Gegend herumlungern gesehen haben. Als würde er auf irgendwas lauern.« »Gestern Abend waren eine Menge Leute unterwegs. Ich weiß das, weil ich einige davon bedient habe. Ich werde dir ihre Namen geben, und du kannst sie auf deine Liste der Verdächtigen setzen«, entgegnete Luke. »Eine weitere Person hat beobachtet, wie Jess vor zwei Tagen mit etwas, das Kreide zu sein schien, aus einem Künstlerbedarfsladen gekommen ist«, fuhr Taylor fort. »Du scheinst mich zu nerven, Taylor.« »Was wirst du unternehmen, Luke?« »Unternehmen?« »Jetzt, da du die Ergebnisse meiner Untersuchung kennst.« »Absolut nichts. Aber danke für die Info.« »Du musst etwas tun. Die Leute wollen Taten sehen.« »Mit den Leuten meinst du dich«, stellte Luke fest. »Es geht nicht nur um mich«, erklärte Taylor. »Ich spreche für die Stars Hollow Industrie- und Handelskammer, die Stars Hollow Tourismuszentrale, die Stars Hollow Nachbarschafts- 117 -
wache und die Stars Hollow Bürgervereinigung für ein sauberes Stars Hollow.« »Die alle mit dir identisch sind«, sagte Luke. Taylor wurde wieder wütend. »Wirst du jetzt etwas tun?«, wollte er wissen. »Ja, das werde ich«, erwiderte Luke. »Ich werde so tun, als wärest du nie hier gewesen.« »Schön. Wie du willst. Aber ich warne dich – es wird eine Menge unzufriedener Leute in der S.H.I.H.K. der S.H.T.A. der S.H.N.WO. und der S.H.B.S.S.H. geben.« »F.E.I.N.«, gab Luke zurück. »Ah, du bist unmöglich! Du bist unmöglich!«, schrie Taylor und wandte sich ab, um den Laden zu verlassen. Dann, herzlich und süß: »Oh, hi, Mia.« »Schön, dich zu sehen, Taylor«, grüßte Mia ihn. Taylor stürmte nach draußen, und Luke nahm seine Arbeit hinter dem Tresen wieder auf. »Junge, ich muss raus aus Santa Barbara«, seufzte Mia. »Ich vermisse das Kleinstadttheater.« Dann sah sie uns an und fügte hinzu: »Und ich vermisse euch. Hey, ist euch klar, dass es fast auf den Tag genau fünfzehn Jahre her ist?« Mom lächelte sie an. »Ja, das stimmt.« »Was?«, fragte ich. »Der Tag, an dem dieser dünne, kleine Teenager im Inn auftauchte«, erwiderte Mia. »Wie hast du uns gefunden?« »Der Stern von Bethlehem… und die Gelben Seiten«, antwortete Mom. »Sie hatte dieses winzig kleine Wesen in ihren Armen…«, erinnerte sich Mia. »Ein kleines Wesen namens Rory«, erklärte Mom und zwickte mir in die Wange. »Okay, keine körperlichen nostalgischen Anwandlungen«, wehrte ich ab. »Du bist zu mir marschiert, hast mir direkt in die Augen ge- 118 -
sehen und gesagt >Ich suche einen Job. Irgendeinen Job<.« »Nun, IBM hat mich abgelehnt, als ich mich für den Posten der Aufsichtsratsvorsitzenden beworben habe, ich war echt verzweifelt.« »Berufserfahrung? Keine. Empfehlungen? Keine. Fähigkeiten?« »Davon abgesehen, dass ich fehlerlos Mascara in einem fahrenden Auto auftragen konnte, keine«, antwortete Mom für sie. »Nicht eine Sache, die mich überzeugen konnte, sie einzustellen. Nur diesen, hm, wie soll ich es ausdrücken und eine Lady bleiben… diesen >Scheißegal<-Ausdruck in den Augen. Also habe ich ihr >irgendeinen Job< gegeben. Die anderen Zimmermädchen haben dich gehasst.« »Weil sie so langsam waren«, sagte Mom. »Du warst etwas Besonderes«, erklärte Mia liebevoll. »Mia, warum ziehst du nicht wieder hierher? Wir vermissen dich«, sagte ich. »Du solltest uns wenigstens öfter besuchen«, fügte Mom hinzu. »Du bleibst nicht einmal über Nacht. Früher bist du viel häufiger gekommen.« »Ich muss es nicht mehr. Du hast mich überflüssig gemacht«, sagte Mia zu Mom. »Das habe ich nicht«, protestierte Mom. »Sei nicht so bescheiden. Das Inn läuft großartig. Es wurde nie so gut geführt und war noch nie so erfolgreich«, erklärte Mia. Mom und ich wechselten einen Blick und sahen dann schuldbewusst auf den Tisch. »Es ist so, als würde das Inn jetzt dir gehören«, fuhr Mia fort, ohne unsere Reaktion zu bemerken. »Ohne dich wüsste ich nicht, was ich tun sollte. Ich wäre verloren.« »Verloren, ja…«, sagte Mom. »Ja…«, fügte ich hinzu. »Ihr seht traurig aus. Warum?«, fragte Mia. »Oh, nichts«, sagte Mom hastig und trank einen Schluck Kaf- 119 -
fee. Ich blickte auf und versuchte Mia beruhigend anzulächeln. Am nächsten Tag besuchte ich Grandma, um für mein Porträt Modell zu sitzen. Sie war aufgeregt, als ich ankam, ließ mich sofort ein Kleid anziehen, führte mich auf die Veranda und drückte mich in einen großen Sessel. Der Porträtmaler war bereits da und bereit. Grandma bat mich, einen Arm zu heben. Die Position war unglaublich unbequem, und ich rutschte ständig hin und her, was wiederum den Maler verärgerte. Schließlich war Grandma so frustriert, dass sie Mom anrief, um ihr zu sagen, wie unmöglich sich ihr Kind benahm. »Sie will nicht anständig posieren«, sagte Grandma in das Telefon. »Ich versuche es, Grandma, es ist bloß unbequem«, rief ich. Ich stellte mich nicht absichtlich an, aber mit einem Arm über meinem Kopf dazusitzen, fiel mir wirklich schwer. Außerdem wollte Grandma einen Schwan in dem Bild haben, und der Schwan machte mich richtig nervös. Schwäne sind gemein. Um genau zu sein, lief der Schwan die ganze Zeit auf der Veranda herum, während sein Halter ihn in eine Ecke zu treiben versuchte, aber wenig Erfolg damit hatte, da er ihm auch nicht zu nahe kommen wollte. Wäre ich nicht mittendrin gewesen, hätte ich diese Vorstellung wahrscheinlich sogar lustig gefunden. »Ich nehme an, du würdest sie einfach in einem Sessel sitzen und ein Buch lesen lassen«, sagte Grandma in das Telefon. Ich spitzte die Ohren. Das klang großartig. Mom musste zugestimmt haben, denn Grandmas Reaktion fiel nicht gerade begeistert aus. Doch Mom hatte Grandma offenbar von ihrer Idee überzeugt, denn Grandma forderte mich auf, meinen Arm herunterzunehmen, und wies den Halter an, den Schwan wegzuschaffen. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als ich meinen Arm senkte, während der Schwan ein unheimliches, lautes Kreischen von sich gab. Aus Protest? Oder aus Erleichterung? - 120 -
Dann gingen Grandma und ich in die Bibliothek und suchten ein passendes Buch für das Porträt aus. Walt Whitmans Grashalme. Ah, schon viel besser, dachte ich, als ich mich mit dem Buch hinsetzte und der Maler seine Arbeit begann. An diesem Abend fand eine Bürgerversammlung statt, also schauten Mom und ich im Inn vorbei, um Mia abzuholen, und zusammen gingen wir hinüber zu Miss Patty. »Wir kommen zu spät«, sagte ich besorgt zu meiner Mom. Ich hasse es, zu spät zu kommen. »Wir kommen nicht zu spät«, erwiderte Mom. »Als wir uns das letzte Mal verspätet haben, hat Taylor gesagt, das nächste Mal würde Konsequenzen haben«, erinnerte ich Mom. »Das hat er nicht. Er sagte, es würde ernste Konsequenzen haben«, korrigierte Mom mich. »Mia, wie viel Uhr ist es? Kommen wir zu spät?«, fragte ich. »Ich hoffe es«, erwiderte Mia. »Mia!«, mahnte meine Mom. »Es tut mir Leid, aber es ist zwei Jahre her, seit ich eine Bürgerversammlung besucht habe, und ich möchte, dass die Fetzen fliegen.« Luke war gerade aus seinem Lokal gekommen und schloss ab, als wir ihn passierten. »Aha!«, rief Mom und ließ Luke zusammenfahren. »Jesses. Schleicht euch nicht so an mich heran«, knurrte Luke. »Ja, Mann, da habe ich aber Glück, dass du deinen Phaser auf Betäubung gestellt hast, wie?«, scherzte Mom. Ich kicherte. »Wenigstens kommen wir nicht zu spät«, sagte ich. »Luke kommt nie zu spät.« »Eigentlich sind wir zwei Minuten zu früh dran«, informierte Luke uns. »Ja!«, rief Mom. »Wir sollten einen Preis kriegen, weil wir pünktlich kom- 121 -
men«, fügte ich hinzu. »Hey, Luke, geh zurück in dein Lokal und hole uns Kuchen als Belohnung dafür, dass wir pünktlich sind«, forderte Mom ihn auf. »Dann würdet ihr euch verspäten«, antwortete Luke. »Ein witziges Dilemma«, meinte Mom. »Aber ich will Kuchen!« »Du belästigst mich«, sagte Luke. »Ich belästige dich nicht. Wir sind deine Groupies«, sagte Mom. Dann fügte sie schmachtend hinzu: »Oh, Luke, du bist so wundervoll. Sei mein Mann.« »Nein, sei mein Mann«, sagte ich. »Ich werde auf der Bürgerversammlung mehr Polizeischutz beantragen«, erwiderte Luke trocken, als wir die Treppe zu Miss Pattys Studio hinaufgingen. Wir öffneten die Tür, traten ein und stellten überrascht fest, dass der Raum voll war und die Versammlung bereits begonnen hatte. Taylor war auf dem Podium, und Miss Patty saß neben ihm. Alle drehten sich um und starrten uns schuldbewusst an, als wir hereinkamen. Mia wandte sich entzückt an meine Mom. »Ich denke, wir kommen doch zu spät.« Luke wollte wissen, was vor sich ging. »Die Versammlung sollte um acht beginnen, Taylor«, sagte er mit einem Blick auf die Uhr. »Es ist eine Minute vor acht.« Taylor gab schließlich zu, dass sie früher angefangen hatten, um einen speziellen Punkt zu besprechen, der die Geschäftsleute der Stadt betraf. »Ich gehöre zu den Geschäftsleuten, aber mir hat man davon nichts gesagt«, protestierte Luke. Alle im Raum drehten die Köpfe und wechselten unbehagliche Blicke. Dann gab Taylor zu, dass Luke nicht eingeladen worden war, weil sie das Jess-Problem diskutierten. »Das Jess-Problem?« Luke kochte vor Wut. Er wandte sich von Taylor ab, um seine Selbstbeherrschung zurückzugewin- 122 -
nen. Mom und ich drängten uns an ihm vorbei und nahmen uns zwei Stühle in der hinteren Reihe, während Mia einen Platz am anderen Ende fand. »Oh-oh«, machte ich. »Wenn das der Wilde Westen wäre, würden wir jetzt die Pferde zur Seite schieben und in den Wassertrog springen«, flüsterte Mom, als wir uns niederließen. »Verdammt, Taylor!«, schrie Luke. »Luke, Schätzchen, beruhige dich«, ermahnte ihn Miss! Patty. »Schließlich«, fuhr Taylor fort, »ist es allein deine Schuld Hättest du die Angelegenheit nicht so kalt lächelnd abgetan müssten wir das jetzt nicht tun. Aber ich hatte Umsatzeinbußen durch die Tat deines Hooligan-Neffen.« »Wieso hattest du Einbußen, Taylor?«, fragte Luke. »Wenn du an jenem Tag etwas später aufgemacht hast, sind deine Kunden einfach später wiedergekommen.« »Eben nicht. Als Mrs Lanahan an jenem Morgen nicht den Kopfsalat für ihr Mittagessen kaufen konnte, ist sie direkt nach Woodbury gefahren, um den Salat bei der Konkurrenz zu kaufen«, erklärte Taylor. »Ist das nicht richtig, Miss Lanahan?« Vor uns saß die uralte Mrs Lanahan, die tief schlief. Taylor weckte sie, ehe er fortfuhr: »Außerdem hat sie anderen Doose’s Marfeet-Kunden erzählt, dass der Woodbury-Salat frischer ist. Damit kann ich dieses Geschäft abschreiben.« »Okay. Schön«, lenkte Luke ein. Dann stürmte er zur Frontseite des Raumes und zog seine Brieftasche aus der Gesäßtasche. »Wie viel kostet ein Kopfsalat, Taylor? Einen Dollar?« Er knallte einen Geldschein auf das Podium. »Gib mir fünf Köpfe.« »Hier geht es nicht nur um den Kopfsalat junger Mann. Es liegen zahlreiche Anklagen gegen deinen Neffen vor. Er hat das Geld für die Rettung der Brücke gestohlen.« »Er hat es zurückgegeben…«, erwiderte Luke. »Er hat einen Gartenzwerg aus Babettes Garten geklaut.« - 123 -
»Pierpont wurde ebenfalls zurückgegeben.« »Er hat einen meiner Tanzkurse gestört«, ergänzte Miss Patty. »Er hat einen Gartenschlauch von meinem Hof gestohlen«, warf Fran ein. »Mein Sohn sagte, er hat letzte Woche den Feueralarm in der Schule ausgelöst«, schimpfte Andrew, ein anderer Bürger. »Ich habe gehört, er kontrolliert das Wetter und hat das Drehbuch zu Glitter geschrieben!«, rief Mom übermütig. Dann stand Bootsy auf. Da heute offenbar der Tag der Bürgerversammlung war, an dem jeder über Luke herfallen konnte, warf er Luke Dinge vor, die bis zurück ins erste Schuljahr reichten. Taylor unterbrach die streitenden Männer und lenkte die Diskussion wieder auf die Gegenwart. »Jungs, bitte. Hier geht es um die einhellige Meinung der Bürgerschaft, dass Stars Hollow ein besserer Ort war, bevor Jess hier aufgetaucht ist.« »Also wird die Hälfte des Raumes den Teer besorgen und die andere die Federn?«, fragte Luke frustriert und stürmte in den hinteren Teil des Raumes. »Nun, von Teeren und Federn war nicht die Rede«, wehrte Taylor ab. »Obwohl…« »Hör zu, ich habe mein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht. Ich lebe länger hier als die meisten anderen«, begann Luke. Bootsy unterbrach ihn. »Das muss ich korrigieren. Ich bin fünf Wochen älter als du, was bedeutet, dass ich fünf Wochen länger hier lebe.« Luke ignorierte ihn und fuhr fort: »Ich habe nie jemanden belästigt, ich habe mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert, und ich habe immer getan, was ich konnte. Ich bezahle meine Steuern und helfe den Leuten, wo ich kann. Okay, ich habe mich nicht an der Verschönerung der Stadt beteiligt, weil es mir verrückt vorkam, aber ich habe sie auch nicht verhindert.« »Worauf willst du hinaus, Luke?«, wollte Taylor wissen. - 124 -
Mom stand auf. »Er will damit sagen…« Sie wandte sich an Luke. »Darf ich?« »Nur zu«, nickte er. Mom fuhr fort: »Er will damit sagen, wenn es ein Problem gibt…« »Und ich sage nicht, dass es ein Problem gibt«, unterbrach Luke. »Richtig. Er sagt nicht, dass es ein Problem gibt. Aber wenn, gebt ihm Zeit, es zu lösen, bevor ihr mit Fackeln und Mistgabeln sein Lokal stürmt«, beendete Mom ihrer Satz. »Richtig«, stimmte Luke zu. »Ich habe es hier mit einem Problem zu tun, von dem ich nicht unbedingt glaube, dass ich es habe.« Mom sah ihn an, nicht ganz sicher, was er gerade gesagt hatte. »Genau«, stimmte sie trotzdem zu. »Den letzten Teil habe ich nicht verstanden«, bemerkte Taylor verwirrt. Mom verdeutlichte es ihm. »Lasst ihn in Ruhe, denn was ihr macht, stinkt zum Himmel.« »Ich bin hier fertig«, erklärte Luke. »Ich bin mit euch allen fertig. Oh, eigentlich wollte ich länger öffnen für den Fall, dass einer von euch nach der Versammlung etwas essen will. Vergesst es.« Und Luke verließ den Raum, während die Leute enttäuscht murmelten, weil sie nach der Versammlung nichts mehr zu essen bekamen. »Seine Truthahn-Burger sind sehr trocken«, hörte ich Bootsy behaupten, als wir nach draußen gingen. »Nun, ich muss sagen, das war ziemlich aufregend«, meinte Mia, als wir die Treppe hinunterstiegen. »Und ein wenig verstörend«, fügte Mom hinzu. »Wie es aussieht, braucht die ganze Stadt eine Auszeit.« »Denkst du, Luke ist okay?«, fragte ich. »Ich denke schon«, sagte Mom. »Er muss sich nur wieder beruhigen.« - 125 -
Luke tat mir Leid. Er half seiner Schwester nach Kräften, und die Stadt stellte sich gegen ihn. Und Jess machte es ihm auch nicht leichter, was mich ebenfalls erboste. Und da mein Freund die letzten beiden Tage damit verbracht hatte, den Kreideumriss vom Pflaster zu kratzen, entschloss ich mich, Dean einen Besuch abzustatten. »Gute Idee. Nichts beschleunigt die Putzaktion mehr als dein Gesicht auf seinem«, nickte Mom. »Sie gehört dir, Mia«, sagte ich. »Ich übernehme sie«, erwiderte Mia und legte ihren Arm um Moms Schultern, während sie die Straße hinuntergingen. Mom schlief, als ich nach Hause kam, und war am nächsten Morgen, als ich zur Schule ging, ein wenig mürrisch. Sie arbeitete noch, als ich von der Schule heimkehrte, doch dann kam Dean vorbei, und wir gingen auf einen Kaffee ins Luke’s. »Hey, ich muss im Market vorbeischauen«, sagte er, als wir die Straße entlang schlenderten. »Aber es ist dein freier Tag.« »Ja, ich muss meinen Gehaltsscheck abholen. Wenn ich ihn nicht bis vier abhole, schließt Taylor ihn in einen Safe ein, der mit einer Schaltuhr gesichert ist, und wenn ich mich beschwere, hält er mir einen Vortrag darüber, dass man Schecks wegen des Zinseszinses sofort bei der Bank einreichen muss, und dann tut mir vom vielen Nicken der Kopf weh, auch wenn ich gar nicht zuhöre, und…« »Geh, geh«, sagte ich. »Ich bin gleich wieder da.« Er verschwand im Market, während ich draußen wartete. Nach einer Minute tauchte Jess auf. »Du solltest hier nicht allein herumstehen. Ich habe gehört, dies hier ist eine ziemlich gefährliche Ecke.« Ich war noch immer ein wenig vergrätzt wegen der Bürgerversammlung. »Mir geht’s gut«, erwiderte ich knapp. »Bist du heute kurz angebunden?«, fragte er. »Ziemlich.« - 126 -
»Hm.« Er schwieg einen Moment. »Habe ich dich irgendwie gekränkt?« »Mich?« »Ja.« »Nein.« »Gut.« »Aber du solltest diese Frage besser Luke stellen«, fügte ich hinzu. »Das heißt?« »Du hast die ganze Stadt gegen ihn aufgebracht.« »Wirklich? Womit?« »Du weißt, was du getan hast.« »Na ja, ich bin mit den Gesetzen in dieser Stadt nicht vertraut, also könntest du eine Menge Dinge meinen. Dass ich Kaugummipapier fallen gelassen habe. Dass ich an einem Sonntag Arm in Arm mit einer Angehörigen des anderen Geschlechts spazieren gegangen bin…« Ich wies auf den Boden, wo der Kreideumriss noch immer schwach zu erkennen war. »Ah…«, machte Jess. »Was ist damit?« »Du hast das getan. Die ganze Stadt weiß, dass du es getan hast. Es hat deswegen sogar eine Versammlung gegeben.« »Du bist also wirklich zu dieser bizarren Bürgerversammlung gegangen?« »Ja, das bin ich. Und Luke auch. Und als er dort ankam, sind alle über ihn hergefallen. Und alle wollen, dass du verschwindest.« »Wow. Hammer.« »Und er stand da und hat alle angebrüllt und dich verteidigt und Taylor seinen Salatverlust ersetzt…« »Seinen was?« »Und jetzt ist Luke ein Ausgestoßener, und alles wegen dir.« Jess antwortete nicht. »Was für ein Schock. Es scheint dich überhaupt nicht zu - 127 -
kümmern«, fauchte ich wütend. »Das habe ich nicht gesagt.« »Geh. Ich habe es satt, mit dir zu reden«, fügte ich hinzu. »Schön.« Er wandte sich ab und ging davon. »Luke und seine Gefühle sind dir völlig egal!«, schrie ich, sodass Jess stehen blieb. »Du hast den toten Punkt wohl überwunden, was?«, sagte er, drehte sich um und kam zu mir zurück. »Er sorgt für dich, und du machst ihm nur das Leben schwer. Ich schätze, das ist es, was man tun muss, wenn man versucht, Holden Caufield zu sein, aber ich finde, es stinkt. Luke hat eine Menge für meine Mom und mich getan, und es gefällt mir nicht, dass er angegriffen wird. Okay, jetzt ist ein neuer toter Punkt erreicht.« Ich wandte mich von ihm ab. Jess blieb einen Moment stehen. »Ich habe nicht gedacht, dass sie so über ihn herfallen würden«, sagte er schließlich. »Komisch. Ich habe dich nie für ahnungslos gehalten. Mein Fehler.« »Okay. Ich hab’s kapiert.« Ich drehte mich um und sah ihn an. »Wirklich«, beharrte er. »Ich hab’s kapiert.« Irgendwie glaubte ich ihm. »Hast du es wenigstens witzig gefunden?«, fragte Jess. Ich musste lächeln, obwohl ich es nicht wollte, als ich an den Umriss dachte. Ich unterdrückte das Lächeln. »Darum geht es nicht«, sagte ich. Jess lächelte. »Ja, ja, du hast es witzig gefunden«, nickte er. »Ich hab ihn«, sagte Dean, als er aus dem Laden kam. Er bemerkte Jess. »Oh, hey.« »Ah, Dean, ich denke nicht, dass ihr euch kennt. Das ist Jess«, stellte ich vor. Zu Jess sagte ich: »Das ist Dean.« »Dein Freund?«, fragte Jess. »Natürlich«, bestätigte ich. - 128 -
»Tut mir Leid, das hast du nicht gesagt«, meinte er zu mir. »Wie geht’s?«, fragte er Dean. »Gut. Gut«, antwortete Dean. »Okay«, sagte ich hastig, »wir sehen uns.« »Das scheint sich nicht vermeiden zu lassen, nicht wahr?«, erwiderte Jess und zog ab. Wir drehten uns um und machten uns auf den Weg zum Luke’s. An diesem Abend standen Mom und ich vor der Tür von Grandmas und Grandpas Haus. Mom hatte noch immer schlechte Laune. »Ich frage mich, ob Grandpa noch immer in Akron ist«, sagte ich, als sie klingelte. »Ich hoffe um Akrons willen, dass er nach Boise weitergefahren ist«, antwortete sie. Ein weiteres neues Hausmädchen öffnete die Tür. »Hi, wir sind die Tochter und die Enkelin«, sagte Mom schroff und drängte sich an dem Hausmädchen vorbei. Ich lächelte entschuldigend und folgte meiner Mom. »Du bist sehr unhöflich«, stellte ich fest, als wir das Haus betraten. »Ich habe nur Kopfschmerzen.« Grandma begrüßte uns. »Oh, gut, kommt, kommt, kommt, es ist fertig und es ist großartig«, sagte sie aufgeregt, als sie uns in Grandpas Arbeitszimmer führte und uns das Porträt zeigte. »Ta-taa«, sagte Grandma stolz. »Wow…«, machte ich. »Wie findest du es?«, fragte Grandma. »Es ist…Wahnsinn«, erwiderte ich. »Wahnsinn?« »Nun, mich zu sehen… hier… an der Wand… aber es gefällt mir. Es ist gut, schätze ich. Es ist bloß… Ich sollte wahrscheinlich nicht darüber urteilen.« »Ich denke, Richard wird es einfach lieben, es ist das perfekte Geschenk, meinst du nicht auch?«, fragte Grandma Mom. - 129 -
»Hm-hmm«, gab Mom brummig zurück. »Du musst doch zugeben«, sagte Grandma stolz, »es ist besser geworden, als du dachtest.« »Ja«, sagte Mom, noch immer kurz angebunden. »Nun, komm schon. Sag etwas mehr dazu«, ermutigte Grandma sie. »Es ist großartig, Mom. Es ist wundervoll. Es liegt nur eine Stufe unter Rembrandt«, antwortete Mom sarkastisch. »Du brauchst gar nicht so schnippisch zu tun«, sagte Grandma. »Was willst du von mir? Ich würde ein paar Wunderkerzen anzünden und auf und ab hüpfen und >Ein Hoch auf das Gemälde< rufen, aber mir sind die Wunderkerzen ausgegangen, und meine Füße tun zu weh, um zu hüpfen. Aber ich verspreche dir, dass ich nächste Woche, wenn ich mehr Energie habe, ein Liebeslied für den Kronleuchter schreiben werde.« Verletzt von diesem Ausbruch verließ Grandma das Zimmer. »Mom…« Ich zeigte auf meine hinausstürmende Grandma. Mom drehte sich um und folgte ihr in die Küche. Beide tauchten ein paar Minuten später wieder auf, und alles schien in Ordnung zu sein, aber das Abendessen verlief ungewöhnlich schweigsam. Als wir gingen, brachte ich Mom dazu, mir zu erzählen, was ihr so nachhaltig die Laune verdorben hatte. Nach der Bürgerversammlung hatte Mom Mia ihren Plan anvertraut, zusammen mit Sookie einen Gasthof zu eröffnen. Mia war erstaunt und unterstützend. Doch dann fragte sie Mom, ob sie ihr Vorhaben nicht so schnell wie möglich in die Tat umsetzen wollte, da sie bereits nach einem Grund gesucht hatte das Inn zu verkaufen. Monas emotionale Reaktion auf den Verkauf des Inns, das für sie eine Art Zuhause war, fiel derart heftig aus, dass sie unwillkürlich an ihrer Fähigkeit zu zweifeln begann, ein eigenes Lokal zu fuhren. Sie ließ ihre Laune an Sookie aus, kritisierte alles, was sie machte, und es kam zu einem heftigen Streit. Das - 130 -
war früher am Tag passiert. Seitdem musste sie immer wieder daran denken. Sie wusste, dass sie im Unrecht war, aber sie wusste nicht, wie sie sich mit Sookie wieder vertragen und ihr sagen sollte, dass sie an sie glaubte und fest von ihrem Erfolg als Leiterinnen eines Gasthofs überzeugt war. Die Sache deprimierte sie, und sie war sich nicht sicher, wie sie es Sookie beibringen sollte. Am nächsten Tag kam Luke vorbei, um den Chuppa, den er für Mom gebaut hatte, auf seine Wetterfestigkeit hin zu überprüfen. Er erwähnte, dass Sookie im Diner vorbeigeschaut hatte, und wechselte schnell das Thema, als er fragte wie sich ihre Pläne mit dem Gasthof entwickelten, und erfuhr, dass die Dinge im Moment nicht so gut liefen. Mom erzählte ihm, wie sie durchgedreht war, als Mia gesagt hatte dass sie das Inn verkaufen würde, und wie sie es an Sookie ausgelassen hatte. Luke versicherte ihr, dass sie nur Angst hatte, was jedem passierte, wenn man etwas Großes unternahm. Er erzählte ihr von dem Tag, an dem er das Diner eröffnet hatte. Er war so nervös gewesen, dass er ins Hinterzimmer rannte, sich übergab, seinen Kopf auf den Boden hämmerte und ohnmächtig wurde. Es dauerte ein Jahr, bis ihm das Diner Spaß gemacht hatte. Was sie fühlte, war demnach normal. Also ging Mom ins Inn, entschuldigte sich bei Sookie und erzählte ihr, dass sie noch immer den Gasthof mit ihr eröffnen wollte. Sookie war verständlicherweise zurückhaltend und ließ Mom versprechen, dass sie nicht noch einmal ausflippen würde, denn sie konnte es sich nicht leisten, auf einen Streich ihre Geschäftspartnerin und beste Freundin zu verlieren. Mom stimmte zu. Seitdem sind ihre Gasthofpläne wieder auf Kurs. »Oh, Mann, es ist so eine Erleichterung, diese Sookie-Sache geklärt zu haben«, sagte Mom, nachdem sie mir das Ende der Geschichte beim Frühstück im Luke’s erzählt hatte. »Ich weiß. Ich hasse es auch, mit Freunden zu streiten«, erwiderte ich. - 131 -
»Dafür sind Feinde da.« »Und Gott weiß, dass wir genug davon haben.« »Leute, die mit offenem Mund krümelige Dinge essen.« »Leute, die Leihbücher mit Eselsohren verschandeln.« »Leute, die beim Reden spucken.« Ich rieb mir das Gesicht. »Oh, verdammt, du hast mir ins Auge gespuckt.« »Das habe ich nicht.« »Hast du doch.« »Du bist voll davon.« »Luke, wo bleibt mein Toast?«, fragte ich. »Es wird eine Weile dauern«, erwiderte er. »Mein großer Toaster ist kaputt, deshalb muss ich mit diesem kleinen arbeiten.« Jess drehte sich um, drückte den Knopf an dem großen Toaster, sodass er einrastete, wandte sich wieder ab und wischte weiter den Tresen. »Wie hast du das gemacht?«, fragte Luke überrascht. Er drückte den Knopf, und er rastete erneut ein. Der Toaster funktionierte wieder. »Du wirst ihn noch kaputtmachen«, sagte Jess zu Luke. »Er war kaputt«, entgegnete Luke. »Dann muss er sich irgendwie erholt haben«, meinte Jess. »Unbelebte Objekte erholen sich normalerweise nicht einfach so«, erwiderte Luke. »Hast du ihn repariert?« »Bitte«, sagte Jess abweisend. »Jess…« »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Ich repariere keine Sachen.« »Aber gestern war er…« »Ich muss zur Schule.« Jess wandte sich zur Tür und griff unterwegs nach seinem Mantel. Als er die Tür öffnete, warf er mir einen Blick zu. Ich lächelte anerkennend, und er ging nach draußen. Vielleicht war er am Ende doch kein so schlechter - 132 -
Kerl.
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11 Aus egoistischen Gründen war ich heilfroh, dass sich Mom und Sookie wieder versöhnt hatten. Moms andere beste Freundin war nicht nur richtig süß, sondern auch eine unglaubliche Köchin, und manchmal half es, sie in der Nähe zu haben. An diesem Abend zum Beispiel waren Sookie und ich in der Küche und starrten ein großes Paket an. Sie war herübergekommen, und wir hatten beschlossen, uns einen Film anzusehen, sodass Mom zur Videothek aufgebrochen war, um ein paar Videos auszuleihen. Während sie weg war, wurde das Paket geliefert, adressiert an Mom und Max, offenbar von jemandem geschickt, der nicht mitbekommen hatte, dass die Hochzeit abgesagt worden war. Wir wollten unbedingt wissen, was in dem Paket war, also stellten wir es auf den Küchentisch und warteten darauf, dass Mom nach Hause kam. Dabei positionierten wir uns so, dass sie das Paket beim Hereinkommen nicht sofort entdecken würde. »Ich bin wieder da!«, rief Mom ein paar Minuten später von der Haustür. »Küche!«, rief ich zurück. »Okay, ich konnte mich nicht entscheiden, deshalb habe ich The Shining und Leoparden küsst man nicht mitgebracht«, sagte sie, als sie sich näherte. »Nun, ich weiß, dass ihr denkt, dass das erste Video ein Film über einen mörderischen Vater ist. Und das andere…« Sie betrat die Küche und verharrte, als sie uns dort stehen sah. Vermutlich machten wir ziemlich schuldbewusste Gesichter. »Hallo«, sagte sie misstrauisch. »Hi«, nickte Sookie. »Hi, Mom.« »Was habt ihr kaputtgemacht?«, fragte Mom. »Nichts. Nun, den Grill. Aber das ist für dich gekommen. Wie traten beiseite und enthüllten das große Geschenkpaket - 134 -
auf dem Tisch. »Und für Max«, fügte Sookie hinzu. Mom ging zu dem Paket. »Wir denken, dass es ein Hochzeitsgeschenk ist«, sagte ich. Mom las den Adressenaufkleber. »Lorelai Gilmore und Max Medina. Wow, ich schätze, Neuigkeiten verbreiten sich nicht immer schnell.« »Wirst du es aufmachen?«, fragte Sookie. »Nein«, erwiderte Mom. »Aber – bist du nicht neugierig?«, wollte Sookie wissen. »Lasst es einfach dort stehen. Ich werde es morgen zurückschicken«, sagte Mom. »Aber es ist ohne Absender«, erklärte ich. »Ist eine Karte dabei?«, »Nein«, sagte Sookie. »Vielleicht liegt drinnen eine«, sagte ich hoffnungsvoll. »Mit dem Absender«, fügte Sookie hinzu. »Natürlich bedeutet das, dass du es öffnen musst, um es herauszufinden«, schloss ich. »Schön, gib mir ein Messer«, bat Mom. Ich lief los, um eins zu holen. »Oh, das ist so aufregend…«, sagte Sookie. Mom warf ihr einen Blick zu. »Vielleicht auch nicht.« Ich gab ihr ein Messer, und als sie das Packpapier aufgeschnitten hatte, half ich ihr, den Rest des Pakets aufzureißen, und wir enthüllten eine große, verchromte Maschine. »Eine Eismaschine!«, rief ich aufgeregt. »Eine Musso Lussino 4080!« Natürlich kannte Sookie den Hersteller und das Modell. »Jemand hat mir eine faschistische Eismaschine geschickt?«, wollte Mom wissen. »Italienisches Design, rostfreier Stahlbehälter mit Chromverkleidung«, sagte Sookie ehrfürchtig. »Ich wusste nicht, dass sie in den Staaten erhältlich sind.« »Und keine Karte«, stellte Mom fest. »Perfekt.« »Sie hat ihre eigene Gefriereinheit, sodass du nicht vorkühlen - 135 -
musst.« Mom versuchte sie zu unterbrechen, aber Sookie war viel zu aufgeregt. »Und Jackson hat gerade seine Apfelernte eingebracht. Wir können Apfelweineiskreme machen!« »Ja, das können wir, wenn wir seine Eismaschine benutzen, aber II Duce hier wird zurückgeschickt«, sagte Mom nachdrücklich. »An wen? Vielleicht ist sie eine Waise«, meinte ich. »Das stimmt. Wir müssen ihr ein Zuhause geben«, fügte Sookie hinzu. »Okay, noch einmal – ich erinnere an die Tatsache, dass dies ein Hochzeitsgeschenk ist, und da ich nicht geheiratet habe, bin ich weder nach Gottes noch nach Emily Posts Gesetz berechtigt, sie zu behalten«, ereiferte sich Mom. »Aber gibt es nicht ein Gesetz über verspätete Geschenke?«, fragte ich. »Du meinst, wenn sie nach einem bestimmten Datum eintreffen, verwirkt der Schenkende jedes Recht auf Rückgabe?«, sagte Sookie. »Genau«, nickte ich. »Netter Versuch«, sagte Mom. »Es stimmt«, fuhr Sookie fort. »Ich habe es bei Martha Stewart gesehen. In einer ihrer Doppelsendungen. In der ersten Hälfte ging es um Hundemassagen, und es gab einen ChowChow, und sie rieb ihn…« »Sookie…«, fiel Mom ihr ins Wort. »Aber in der zweiten Hälfte ging es um Geschenke, und sie sagte, wenn es später als zehn Wochen…« »Acht«, korrigierte ich. »Acht Wochen eintrifft, dann muss man es nicht mehr zurückgeben.« Sookie und ich verschränkten sehr zufrieden mit unserem Argument die Arme. »Okay«, sagte Mom, »offenbar entwickelt sich dies zu einem der Momente, die St. Petrus auf einem großen Videomonitor - 136 -
zeigen wird, wenn ich sterbe, und ich für meinen Teil möchte nicht uns drei sehen, wie wir mit Apfelweineiskreme im Gesicht herumstolpern, während es um mein Seelenheil geht. Bis wir herausfinden, wer die Maschine geschickt hat, rührt niemand sie an. Und«, fügte sie hinzu, als sie nach einer Videokassette griff, »wir sehen uns The Shining an.« Sie machte kehrt und ging ins Wohnzimmer. Sookie und ich warfen der Eismaschine einen traurigen Blick zu. »Ich wette, Max hätte sie uns behalten lassen«, sagte Sookie bekümmert, als wir Mom in den anderen Raum folgten, um uns den Film anzusehen. Die Dinge in der Schule waren seit dem Puffs-Zwischenfall relativ normal verlaufen. Paris und ich hatten sogar ein System erarbeitet, das es ihr ermöglichte, mich nicht zu hassen, während wir zusammen an der Zeitung arbeiteten. Aber ich hätte wissen müssen, dass dieser Frieden nicht von langer Dauer sein würde, richtig? Ja, ich weiß. Aber ich wusste es nicht. Ich war in Professorin Andresens Shakespeare-Kurs und machte mir Notizen, während sie redete. »Ob Sie es nun glauben oder nicht, Shakespeare hat wahrscheinlich nie gewollt, dass seine Stücke von Schülern gelesen werden, die an Pulten sitzen und denen Einser-Zensuren wichtiger sind als das Schicksal von Macbeth. Seine Stücke sollten erfahren, erlebt werden. Wenn wir dies berücksichtigen…« Sie verteilte Unterlagen. »Ihr werdet euch in fünf Gruppen aufteilen, und jede Gruppe wird für einen Akt von Romeo und Julia verantwortlich sein. Das Stück wird Sonntag in einer Woche aufgeführt. Ihr werdet einen Regisseur benennen, die Rollen besetzen, die Szene proben und auf eure individuelle Weise interpretieren. Letztes Jahr haben wir Richard III. aufgeführt. Eine Gruppe hat ihre Szene als Mafiosi gespielt, eine andere hat ihre in der Zeit des Römischen Imperiums angesiedelt, aber mein Favorit war die dramatische letzte Szene, die in den letzten Tagen der Sonny and Cher Show spielte. Denkt immer dar- 137 -
an, ganz gleich, welche Interpretation ihr wählt, sie sollte unterstreichen, worum es eurer Meinung nach in der Szene geht.« Es klingelte und alle sprangen auf. »Und wenn die Liebe zur Sprache des Barden euch nicht inspiriert, dann denkt daran, dass dieses Projekt zu fünfzig Prozent eure Zensur bestimmen wird«, rief Professorin Andresen uns hinterher. Die Klasse strömte nach draußen, während Paris, Madeline, Louise und ich noch einen Moment sitzen blieben. Wir alle sahen auf unsere Unterlagen. »Fünfter Akt«, sagte Madeline fröhlich. »Fünfter Akt«, erklärte eine gleichgültige Louise. »Fünfter Akt?«, fragte Paris mich. »Fünfter Akt«, sagte ich resigniert. Paris seufzte. »Warum nähen sie uns nicht einfach zusammen und nennen uns Chang und Eng?« Wir standen auf und verließen den Klassenraum. Henry kam zu mir, als ich auf den Korridor trat. Henry Cho ist der koreanisch-amerikanische Junge mit dem strahlenden Lächeln, der letztes Jahr auf Madelines Party Lane angebaggert hat. Kaum war er durch die Tür gekommen, hatte er sich auch schon auf sie gestürzt, und obwohl sie zuerst zögerte, hält sie ihn mittlerweile für das total perfekte FesterFreund-Material. Wenn da nicht Mrs Kim wäre. Und Lane ist mit ihrer typischen Logik fest davon überzeugt, dass alles nur noch schlimmer werden könnte, wenn sie ihrer Mom erzählt, dass sie mit einem koreanischen Jungen geht, gegen den sie vermutlich nicht einmal etwas einzuwenden haben würde. Also ruft Henry mich an, und ich hole Lane ans Telefon, damit sie miteinander reden können. Das ist meine Pflicht als beste Freundin. Außerdem mag ich Henry. Und es ist amüsant zu sehen, wie Lane für einen koreanischen Jungen schwärmt, etwas, das sie ihr ganzes Leben lang vermieden hat. Henry hielt seine Unterlagen hoch. »Dritter Akt. Schwertkampf. Du?« - 138 -
»Fünfter Akt. Sterbeszene.« »Nett. Also heute Abend acht Uhr?« »Ich sag Lane Bescheid.« Paris kam zu mir und flötete zuckersüß: »Rory, tut mir Leid, dass ich störe, hi, Henry, aber sieh mal, wir alle stehen dort drüben und versuchen einen Spiel- und Probeplan zu erstellen, und ich bin sicher, dass das, worüber ihr beide euch hier unterhaltet, viel faszinierender und wichtiger und, nun ja, sagen wir spaßiger ist. Aber ich möchte eine Eins für diese Aufgabe bekommen, und deshalb müsst ihr, fürchte ich, ein anderes Mal über eure Sockenhalter und Feten diskutieren.« Sie lächelte uns an und ging davon. »Also, das war unheimlich«, sagte Henry. »Sie ist noch viel unheimlicher, wenn sie ein Megafon in die Hände bekommt«, prophezeite ich ihm. Henry wandte sich ab, und ich ging zu Paris, Madeline und Louise. »Ich sage, wir treffen uns in der Cafeteria«, erklärte Paris. »Die Akustik ist der im Großen Saal ähnlich und… oh, nun, seht mal, wer da kommt.« »Tut mir Leid.« »Spar dir das«, erwiderte Paris. »Hey, hey, hey, seht mal, wer nach der Suspendierung wieder da ist«, sagte Louise und zeigte an uns vorbei den Korridor hinunter. Wir alle drehten uns um und sahen Tristin zusammen mit Duncan und Bowman, zwei älteren Jungen. Tristin Dugray war der größte Fehler, den ich je gemacht habe. Seit meinem ersten Tag in Chilton hatte er sich mir gegenüber immer nur gemein verhalten und nannte mich »Maria« (wie in Jungfrau Maria), aber als Dean und ich uns im letzten Jahr für kurze Zeit getrennt hatten, habe ich ihn auf Madelines Party geküsst. Es war zuerst peinlich, doch Tristin und ich haben über den Kuss geredet und sind zu dem Schluss gelangt, dass es nur wegen unserer kürzlichen Trennungen passierte. - 139 -
Das war das erste Mal, dass er sich mir gegenüber als normaler Mensch zu erkennen gegeben hatte, und ich war danach so zufrieden, dass ich ihn überzeugte, dass es eine gute Idee wäre, Paris um eine Verabredung zu bitten. Er hatte gesagt, er würde darüber nachdenken, und ging am Ende tatsächlich mit ihr aus. Paris war überglücklich. Aber Tristin war nicht wirklich interessiert an ihr, und als sie herausfand, dass Tristin sich nur mit ihr verabredet hatte, weil ich es vorgeschlagen hatte, verabscheute sie mich noch mehr als vor diesem Date. Als müsste ich ihr noch einen weiteren Grund geben, mich zu hassen. Ich hatte Tristin seitdem kaum gesehen. Seit die Schule in diesem Herbst wieder begonnen hatte, war er häufiger suspendiert, als er am Unterricht teilgenommen hatte. »Tristin war schon wieder suspendiert?«, fragte ich. »Oh, als hättest du nicht bemerkt, dass er weg war«, sagte Paris schnippisch. »Was hat er diesmal angestellt?« »Er hat Mr Macafeers Wagen auseinander genommen und im Korridor des Wissenschaftsgebäudes wieder zusammengebaut«, informierte Madeline mich. »Du machst Witze«, sagte ich. »Naja, er hat es nicht allein getan. Duncan und Bowman haben ihm geholfen«, erklärte Louise. »Und die Mechaniker, die sie bezahlt haben, um die eigentliche Arbeit zu machen«, fügte Madeline hinzu. »Hey, jeder, der dumm genug ist, um mit Butch Cassidy und Sundance Kid herumzuhängen, verdient, was er bekommt«, meinte Paris. »Seit wann ist er mit diesen Kerlen zusammen?«, fragte ich. »Das neue Jahr begann, und sie waren da. Alle drei, Seite an Seite«, sagte Madeline. »Praktisch gleich angezogen«, erklärte Louise. »Sehr On-the-Town-mißig«, meinte Madeline. Paris ging davon, und Madeline und Louise folgten ihr. Ich - 140 -
sah zu Tristin hinüber, wandte mich dann ab und folgte ihnen den Korridor hinunter. Als ich an diesem Abend heimkam, war Mom im Wohnzimmer und telefonierte, mit einem Kugelschreiber und einer Liste in der Hand, um ihr Versprechen zu halten und herauszufinden, wer das Hochzeitsgeschenk geschickt hatte. Ich hatte unterwegs im Luke’s vorbeigeschaut und Kaffee gekauft. Mom nickte mir dankbar zu, als ich ihr den Becher gab, dann ging ich in mein Zimmer, um mein Schuljackett aufzuhängen. Schließlich kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und setzte mich zu ihr auf die Couch. Sie legte den Hörer auf und seufzte frustriert. »Ist es nicht unheimlich, dass sich meine Eltern als die Normalen in der Familie erweisen?«, sagte sie. »Kein Glück?« »Tja, ich habe die Pennsylvania-Gilmores noch nicht erreicht…Wie war dein Tag?«, fragte sie und legte ihre Liste beiseite. »Ich muss zusammen mit Paris, Madeline und Louise den fünften Akt von Romeo und Julia auffuhren«, erzählte ich ihr. »Wirklich.« »Paris hat sich selbst zur Regisseurin ernannt.« »Nett. Welche Rolle wirst du spielen?« »Ich bin mir noch nicht sicher. Sie brütet noch immer über den Probeaufnahmen, aber wir werden es morgen erfahren.« »Probeaufnahmen.« »Vierundzwanzig Takes.« »Ich hätte gern eine Kopie davon.« »Vergiss es.« »Ich würde sie übers Internet verkaufen. Ein Vermögen machen«, sagte sie, stand von der Couch auf und ging in die Küche. Wie eine Reklamesprecherin fuhr sie fort: »Zuerst haben wir Ihnen Pamela und Tommy Lee präsentiert. Jetzt bereiten Sie sich auf die verrückten Eskapaden von Rory und dem Bar- 141 -
den vor.« Ich nahm die Liste, die sie zurückgelassen hatte, und blätterte sie durch. »Oh, und ich habe Paris gesagt, dass du unsere Kostüme schneidern wirst, und du sollst morgen um drei zu einer Konzeptbesprechung kommen.« »Was?«, fragte Mom, als sie mit einem Becher Cool Whip und einem Löffel wieder in der Tür auftauchte. »Ja. Sie braucht einen Lebenslauf und Proben deiner früheren Arbeiten und Referenzen…« »Will sie auch noch meinen nackten Hintern küssen?«, fragte Mom, den Mund voller Cool Whip. »Wenn du meinst, dass es dich von den anderen Bewerbern abheben wird, ja. Hey«, sagte ich und wedelte mit der Liste, »ich wusste nicht, dass es jemand namens Bunny in unserer Familie gibt.« »Oh«, erwiderte Mom ernst, »die kannst du von der Liste streichen.« »Arme Bunny…« Das Telefon klingelte, und ich nahm den Hörer ab. »Hallo?« »Hey«, sagte Henry. »Henry, hi.« »Rufe ich zu spät an?«, fragte er. »Nein, genau rechtzeitig. Warte.« Ich drückte eine Taste am Telefon. »Hey, Schatz«, unterbrach mich Mom, während sie ihre Sachen einsammelte. »Ich muss zum Kurs. Auf dem Tisch liegt Geld für eine Pizza.« »Danke«, sagte ich, als ich die Taste für Lanes gespeicherte Nummer drückte und Mom wieder in der Küche verschwand, um ihre anderen Sachen zu holen. Mrs Kim nahm ab. »Hallo, Mrs Kim, hier ist Rory. Kann ich bitte mit Lane sprechen?«, sagte ich in den Hörer. »Lane lernt«, erwiderte Mrs Kim knapp. »Mama? Ist es für mich?«, hörte ich Lane im Hintergrund ru- 142 -
fen. »Warum?«, wollte Mrs Kim wissen. »Weil ich einen Anruf von Rory erwarte und…« »Hast du deine Matheaufgaben gemacht?«, fragte Mrs Kim. »Ja.« »Geschichte?« »Ja.« »Biologie?« »Nein.« »Warum nicht?« »Ich habe keine Biologie.« »Warum nicht?« »Weil ich letztes Jahr Biologie hatte.« »Und das genügt? Ein Jahr, und du weißt alles, was es zu wissen gibt?« »Nun, ich…« »Morgen suchen wir für dich eine Privatschule.« »Mama, bitte, das Telefon.« »Fünf Minuten. Ich zähle.« »Hallo?«, sagte Lane ins Telefon. »Lane, warte.« Ich drückte eine Taste und holte Henry in die Leitung. »Henry?« »Hier«, erwiderte er. »Lane?« »Hier«, antwortete sie. »Okay, Leute. Wir reden später weiter.« Ich lächelte und legte den Hörer auf, damit sie sich ungestört unterhalten konnten. Dann griff ich wieder nach Moms Liste. Mom kam ins Wohnzimmer zurück. Sie hatte ihre Jacke angezogen und hielt ihre Büchertasche in der Hand. »Okay. Ich bin weg. Hey, tust du mir einen Gefallen und erledigst einige dieser Anrufe für mich?« »Findest du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?« »Wie meinst du das?« - 143 -
»Ich meine, ich verstehe, dass du die Eismaschine zurückgeben willst, aber du hast dich ehrlich bemüht, dich mit der Person in Verbindung zu setzen, die sie geschickt hat, und…« »Ich will der Sache ein Ende machen. Ich muss das tun. Okay?« »Okay.« Ich nahm die Liste und gab mich ganz geschäftsmäßig. »Onkel Randolph…« Ich griff nach dem Telefon, als Mom nach draußen ging. »Oh, tut mir Leid, Leute«, sagte ich in den Hörer, als Mom sich umdrehte. »Sie sind gleich fertig«, erklärte ich ihr. »Okay, aber warte nicht zu lange. Ich glaube, Randolph ist Bunnys älterer Bruder.« »Verstanden.« Und Mom ging zu dem Kurs, während ich darauf wartete, dass Lane und Henry ihr Gespräch beendeten. Unsere Shakespeare-Gruppe traf sich am nächsten Tag nach der Schule in der Cafeteria. Ich ging hinein und traf auf Louise, die ihre Nägel feilte, und Madeline, die in einer Ausgabe des Jane-Magazins blätterte. Außerdem saß dort noch ein irgendwie verschüchtert wirkender Junge, der ein unbehagliches Gesicht machte und völlig fehl am Platz zu sein schien. Ich ging zum Tisch hinüber. »Hey.« »Hey«, erwiderte Madeline. »… we’re the Monkees«, sang Louise, den Gruß vervollständigend. »Wo ist Paris?«, fragte ich und setzte mich. »Sie wird in einer Minute hier sein«, antwortete Madeline. »Sie sagte, sie müsste noch etwas erledigen.« Ich sah den Jungen neben mir an. »Hi, ich bin Rory.« »Ich bin Brad. Ich bin aus dem Shakespeare-Kurs der dritten Stunde.« »Er ist die Antwort auf unseren Mangel an Jungs«, informierte mich Louise. »Ist das nicht super?« - 144 -
»Nun, vielleicht sollten wir schon mal anfangen«, schlug ich vor. Madeline blickte überrascht von ihrem Magazin auf. »Ohne Paris?« »Das könnte tödlich sein«, warnte Louise, während sie weiter ihre Nägel feilte. »Wir könnten wenigstens über das geplante Motiv reden«, sagte ich. »Wir machen es auf die traditionelle elisabethanische Art«, erklärte Paris, als sie mit einem großen Karton voller Requisiten hereinkam. »Elisabethanisch?«, fragte ich, als Paris den Karton abstellte. »Aber ich dachte, es geht darum…« »Es geht darum, eine Eins zu bekommen«, unterbrach Paris, »und nicht darum, Romeo und Julia zu einem Vegas-Stück umzufunktionieren. Außerdem haben wir die Sterbeszene. Die ist klassisch. Und berühmt.« Dann bemerkte sie den neuen Jungen und fragte: »Und wer bist du?« Brad zitterte fast, als er antwortete. »Ich bin, äh, Brad. Ich bin aus dem Shakespeare-Kurs der dritten Stunde, Ma’am.« »Okay«, sagte Paris, als sie eine fotokopierte Broschüre verteilte, »ich möchte jetzt, dass jeder von euch die Kapitel über die Schauspielerei liest, die ich heute aus Housemans Memoiren fotokopiert habe. Alle sind bis Freitag gebucht, und wenn ihr eine Probe versäumt, solltet ihr besser ein ärztliches Attest vorlegen.« Sie zog ein Schwert aus dem Karton. »Sag mir, dass du das nicht zu Hause herumliegen hast«, bat ich. Paris ignorierte mich und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Brad. »Wir sind knapp an Jungs. Das macht dich zu Romeo.« Brad war entsetzt. Paris fuhr fort: »Louise, du kannst Friar spielen.« »Wie bitte?«, protestierte Louise. »Sieh einer an, hier steckt die ganze Gang«, fiel ihr Tristin ins - 145 -
Wort, als er den Raum betrat. Er kam an den Tisch, drehte einen Stuhl um und ließ sich darauf nieder. »Wir sind mitten in einer Besprechung«, informierte Paris ihn. »Ja, tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe.« »Was denkst du, was du hier machst?«, sagte Paris. »Professorin Andresen hat mich vergessen, als sie die Gruppen einteilte«, erklärte Tristin, »und sie sagte mir, ich soll mir eine aussuchen.« »Schön, du hast vier andere Akte, die du auswählen kannst. Entscheide dich für einen davon.« »Nun ja, Summers ist im ersten Akt. Beth und Jessica sind im zweiten Akt. Kate ist im dritten Akt. Und Cläre, Kathy und Mary sind im vierten Akt, sodass dieser hier der einzige ist, der frei von Ex-Freundinnen ist«, erwiderte Tristin. »Werden wir damit für unseren guten Geschmack bestraft?«, fragte Paris sardonisch. »Oh, Paris, du kränkst mich. Brauchst du mich denn überhaupt nicht mehr?« »Doch, wir brauchen dich«, sagte Louise und beugte sich nach vorn. »Du kannst unser Romeo sein.« »Brad ist Romeo«, warf ich hastig ein. »Setz deine andere Kontaktlinse ein, Grandma. Tristin ist Romeo. Brad kann die zweite Wache links sein«, fuhr Louise fort. »Nein«, widersprach Paris nachdrücklich. Madeline blickte von ihrer Zeitschrift auf. »Aber sie hat irgendwie Recht, Paris. Tristin ist der geborene Romeo.« »Hey, ich bin die Regisseurin, und ich entscheide, wer für was geboren ist, und Brad ist Romeo«, beharrte Paris. »Nicht einmal die Hölle ist schlimmer als ein verschmähtes Weib«, raunte Louise nicht besonders leise Madeline zu. »Was hast du gesagt?«, fragte Paris. »Nur dass hier vielleicht jemand seine Führungsqualitäten - 146 -
von persönlichen Gefühlen beeinträchtigen lässt«, sagte Louise zu Paris. »Mein einziges Gefühl ist, dass ich die wichtigste Rolle nicht jemanden geben will, der es nicht einmal schafft, sich auf dieser Schule zu halten«, gab Paris zurück. »Ich sage nur eins.« Louise machte eine Pause. »Fünfzig Prozent unserer Zensur.« Paris war hin und her gerissen und stand kurz vor dem Überkochen. »Werdet ihr euch auch noch die Augen auskratzen, oder lasst ihr es bei einem verbalen Schlagabtausch bewenden?«, fragte Tristin, der den Streit, den er ausgelöst hatte, augenscheinlich genoss. Paris wandte sich an mich. »Wie denkst du darüber?« Alle Blicke richteten sich auf mich. »Nun…« Ich sah Brad an. »Wie gut kannst du vor vielen Leuten sprechen?« »Ich neige dazu, mich zu übergeben«, antwortete Brad schnell. Ich sah Paris an. Sie seufzte und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Tristin. »Schön! Aber ich schwöre, wenn du es verpatzt, wirst du beten, dass man dich suspendiert.« Tristins Pager piepte. Er warf einen Blick auf das Display und erklärte dann, dass er etwas zu erledigen hatte. »Sind wir hier fertig?«, fragte er, als er aufstand. »Morgen Abend wird geprobt«, rief Paris, als Tristin nach draußen ging. »Gut«, sagte Louise, mit dem Ergebnis zufrieden. »Dann kann Brad Friar Tuck und ich die Julia spielen.« »Falsch«, erwiderte Paris. »Hey«, protestierte Louise. »Von Julia wird erwartet, dass sie keusch ist.« »Oh.« Louise widmete sich wieder ihren Nägeln. Madeline beugte sich vor. »Dann…«, sagte sie hoffnungsvoll. »Und sie hat mehr als drei Sätze«, eröffnete Paris ihr. - 147 -
»Oh.« Madeline lehnte sich zurück und starrte wieder in ihre Zeitschrift. Paris wandte sich an mich. »Oh, nein«, protestierte ich. »Oh, ja«, bekräftigte Paris. »Nein.« »Zu spät«, informierte Paris mich. »Wie kann es zu spät sein? Wir haben, doch noch gar nicht angefangen.« »Du bist Julia. Du kannst am besten vor Leuten reden, du hast definitiv etwas von einem obdachlosen Kind an dir, und du wirst tot großartig aussehen. Nächster Punkt der Tagesordnung. Ich habe mich heute Morgen nach einer Location umgesehen, und ich denke, der hintere Schulhof…« Paris redete weiter, aber ich hörte ihr nicht mehr zu. Ich konnte nicht fassen, dass ich die Julia für Tristins Romeo spielen musste. Ich traf Mom nach der Schule auf einen Kaffee, dann gingen wir nach Hause. Sie war aufgeregt, weil sie sich entschlossen hatte, ihre erste Post-Max-Verabredung anzunehmen und mit einem Mann aus ihrem Betriebswirtschaftskurs auszugehen, der schon seit Wochen mit ihr flirtete. Offenbar hatte Mom immer den letzten Burrito aus dem Automaten genommen, und das führte irgendwie dazu, dass er sie um ein Date bat. Ich weiß, es ist verrückt, aber ich war wirklich froh und ermutigte sie zu ihrer Verabredung. Wir kamen nach Hause, und Mom setzte sich an den Küchentisch, um vor ihrem Rendezvous weiter an meinem Kostüm zu arbeiten. Ich zog meine Schuluniform aus, und als ich in die Küche zurückkam, rief Lane an. Ihre Mutter war ursprünglich anderer Meinung gewesen, aber jetzt hatte sie nichts mehr dagegen, dass sich Lane am Sonntag das Theaterstück ansah. »Das ist erstaunlich! Was hat ihre Meinung geändert?«, fragte ich, als ich ins Wohnzimmer ging. - 148 -
»Ich habe ihr Romeo und Julia mit Leo und Ciaire Danes gezeigt«, erklärte Lane. »Wirklich? Ich hätte erwartet, dass sie ihn hasst.« »Oh, sie hasst ihn auch. Aber du kannst darauf vertrauen, dass meine Mom in der größten Liebesgeschichte der Welt nur eine Warnung davor sieht, was passiert, wenn Kinder ihren Eltern nicht gehorchen.« »Nun, ich nehme an, du kannst deinen Eltern noch immer nicht von Henry erzählen«, sagte ich, als ich mich im Wohnzimmer setzte. Lane senkte ihre Stimme. »Ich meine, welche Möglichkeiten habe ich noch, wenn ich es ihnen erzähle? Wenn sie ihn hassen, ist es vorbei. Wenn sie ihn lieben, muss ich ihn scheußlich finden, und es ist auch vorbei. So, wie es jetzt ist, ist es toll.« »Du meinst, dass du ihn am Telefon Rory nennst, für den Fall, dass deine Mutter zuhört.« »Ich habe mich an meinen Käfig gewöhnt, Rory.« Dann rief Mrs Kim nach Lane, und sie verabschiedete sich hastig und legte auf. Mom kam herein und trug Julias prachtvollen Kopfschmuck. Sie drehte sich wie ein Model im Kreis. »Was dünkt meiner Lady?« »Dass du dich zum Turnier verspäten wirst?« »Ich meinte, was hältst du von dem lieblichen Kopfschmuck, den die kunstfertige Hand deiner Mutter genäht hat?« Sie deutete eine Verbeugung an. »Ich bin überaus zufrieden, aber hat meine holde Mutter mal auf die Uhr gesehen?« Ich wies auf die Uhr an der Wand hinter ihr. Sie drehte sich um. »Oh, Mist!« Sie nahm den Kopfschmuck ab und rannte die Treppe hinauf, um sich für ihr Date fertig zu machen, als das Telefon erneut klingelte. »Hallo?« Es war Paris, die mit ihrem Handy aus Chilton anrief. »Zwei andere Gruppen proben im Großen Saal der Schule, - 149 -
obwohl ich ihn ausdrücklich für uns reserviert habe und die Reservierung zweimal bestätigen ließ, aber umsonst. Jedenfalls werden sie dort sein, und ich will nicht, dass sie uns ausspionieren.« »Ich denke nicht, dass das Ende von Romeo und Julia ein großes Geheimnis ist.« »Hallo, ich meine natürlich unsere Interpretation.« »Oh, richtig.« »Ich bin ins Web gegangen und habe eine Site namens MissPatty.net gefunden. In deiner Stadt.« »Es gibt eine Site namens MissPatty.net?«, fragte ich überrascht. »Hast du schon davon gehört?« »Nun…« »Ist der Raum groß genug?«, unterbrach Paris. »Die Site spricht von hundertvierzig Quadratmetern.« »Weißt du, ich würde lieber woanders proben.« »Hör zu, ich habe schon genug Sorgen, auch ohne mir den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, dass es dir peinlich ist, wo du wohnst.« »Es ist mir nicht peinlich. Ich… will nur mein Schulleben von meinem Privatleben trennen. Du verstehst?« »Nein. Madeline und Louise sind bereits auf dem Weg. Ich sehe dich in einer halben Stunde.« Paris unterbrach die Verbindung. Ich legte den Hörer auf und wollte schon ins Zimmer meiner Mutter gehen, um ihr zu erzählen, was gerade passiert war, als sie die Treppe herunterkam und den Raum absuchte. »Hast du meine Tasche mit den Perlen und dem Pelz gesehen, die irgendwie an Stalins Kopf erinnert? Aha…«, rief sie, als sie sie entdeckte. »Wir proben jetzt hier«, brach es aus mir heraus. »Was?«, fragte Mom, als sie an den Schreibtisch trat und in ihrer Tasche kramte. - 150 -
»Unsere Shakespeare-Gruppe«, erklärte ich, während ich ihr folgte. »Paris wollte nicht, dass wir ausspioniert werden, und deshalb proben wir jetzt in Stars Hollow. Das ist Mist.« Ich konnte es nicht fassen. »Nun, wenigstens musst du nicht extra nach Hartford fahren. Warum machst du also so ein Gesicht?«, fragte sie, drehte sich zum Spiegel an der Wand um und trug Lippenstift auf. »Es ist bloß…Tristin ist in unserer Gruppe.« »Oh, ja, das hast du mir erzählt.« »Richtig, und Tristin… er ist in unserer Gruppe… was bedeutet, dass er dabei ist… und Dean lebt hier… deshalb ist es Mist.« Mom drehte sich um und sah mich an. »Okay, weißt du was, Vanna, ich brauche ein paar weitere Vokale.« »Ich muss es ihm sagen.« »Wem sagen?« »Dean.« »Dean was sagen?« »Dass…Tristin… und ich… dass wir uns… auf dieser blöden Party geküsst haben«, stieß ich schließlich hervor. »Ooh«, machte Mom ein wenig überrascht. »Ich habe keine Wahl.« »Nun…«, sagte Mom und puderte ihre Nase. »Denn wenn Tristin Dean sieht, dann wird er es ihm erzählen, und dann wird alles noch viel schlimmer sein, weil es dann so aussieht, als hätte ich es ihm verschwiegen.« »Okay, beruhige dich.« »Was auch der Fall ist. Ich habe es ihm verschwiegen! Ich kann es nicht glauben! Ich muss es ihm sagen.« Mom dachte einen Moment darüber nach. »Du hast Recht.« »Habe ich?«, fragte ich, überrascht, dass sie mir zustimmte. »Jaah. Ich denke, du solltest es ihm sagen«, meinte Mom ermutigend. »Natürlich, klar, ich muss es tun.« - 151 -
»Ja. Dann kann Dean während des Stücks, wenn Tristin auftritt und dich tot vorfindet und eine Giftphiole aus der Tasche zieht, um sich auch zu töten, aus dem Zuschauersaal springen und ihm den Kopf abreißen und ein Maß an Realismus beisteuern, wie es nur wenige Produktionen zuvor gesehen haben. Du wirst eine Eins bekommen, das Actors Studio wird durchdrehen und James Lipton wird dich nach deinem Lieblingsfluch fragen. Das ist ein toller Plan.« »Du bist mir keine Hilfe«, stellte ich fest, wandte mich ab und ging zur Couch. »Immerhin helfe ich, einen Mord zu verhindern.« Ich sank auf die Couch und legte mich hin. »Ich muss es ihm sagen, ich habe keine Wahl.« »Okay, schön«, sagte Mom und kam zu mir. »Probier es zuerst bei mir aus.« »Was?«, fragte ich, als Mom meine Beine hob und sich auf die Couch setzte. »Tu so, als wäre ich Dean. Wenn du es ihm erzählen willst, solltest du dir besser vorher überlegen, was du sagen wirst.« »Ernsthaft?« »Ernsthaft.« Ich setzte mich auf und sammelte mich. »Okay.« Ich sah meine Mom an. »Dean«, sagte ich. »Rory«, antwortete Mom mit tiefer Stimme. Ich warf ihr einen Blick zu. »Tut mir Leid. Jetzt ernsthaft.« Ich sammelte mich erneut und fing noch einmal von vorne an. »Okay, Dean. Weißt du noch letztes Jahr, als wir uns getrennt hatten… und wir nicht mehr zusammen waren, weil… wir uns getrennt hatten…« »Das ist gut. Erwähne es dreimal. Mach weiter«, ermunterte mich Mom. »Und da war diese Party, und ich ging hin. Und, äh, Tristin war da, und irgendwie, ich bin mir nicht ganz sicher wie, aber - 152 -
wir landeten schließlich in diesem Zimmer und wir… haben uns geküsst.« »Du und Tristin?«, hakte Mom/Dean nach. »Jaah.« »Auf die Hand?« »Nein.« »Wange?« »Nein.« »Hat er dich geküsst oder hast du ihn geküsst?« »Irgendwie… wir beide«, antwortete ich. »Du hast ihn also geküsst?« »Ja.« »Wann?« »Das habe ich dir bereits dreimal gesagt. Als wir uns getrennt hatten«, fauchte ich verärgert. »Okay, es ist keine gute Idee, ihn anzuschreien.« »Tut mir Leid.« Mom/Dean fuhr fort: »Wann während der Trennung?« »Wie meinst du das?« »Ich meine, wie lange waren wir getrennt, als du Tristin geküsst hast?« »Ah… nun… es war an dem Abend nach der Trennung.« »Du meinst, an dem Abend, nachdem ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe.« »Ja.« »Also an dem Abend, nachdem ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe, hast du Tristin geküsst?«, fragte Mom/Dean. »Ich bin ein schrecklicher Mensch!«, ging mir auf. »Warte…«, versuchte Mom mich zu beruhigen. »Er hat absolut Recht! Er hat mir gesagt, dass er mich liebt, und ich gehe los und küsse Tristin.« »Hey, das war ich, nicht Dean.« »Ich hasse mich!« »Du hast nichts Unrechtes getan! Du warst verletzt und verwirrt und von ihm getrennt. Du hast nichts Unrechtes getan.« - 153 -
»Sag das Dean.« »Nein, denn wir werden Dean gar nichts sagen.« »Mom…« »Hör mir zu. Ich weiß, du bist Miss Ehrlich, ich habe die Schärpe im Schrank gesehen, aber das ist die Art Ehrlichkeit, die nur dazu führt, dass du dich weniger schuldig fühlen wirst, während Dean zutiefst verletzt sein wird. Diese Art Ehrlichkeit wird möglicherweise die wirklich gute Beziehung zerstören, die ihr jetzt habt. Willst du das?« »Nein, das will ich nicht.« »Also gut. Entspann dich. Bleib ruhig. Alles wird gut.« Sie hatte Recht. »Okay.« »Ich muss gehen. Kann ich dir noch eine weitere Frage stellen?« Ich blickte zu ihr auf und nickte. Sie senkte die Stimme und wurde wieder zu Dean. »Findest du meine Frisur cool?« »Bye«, sagte ich. »Denn an manchen Tagen sehe ich sie an und denke cool, und an manchen Tagen denke ich, sie könnte cooler sein«, fuhr Mom/Dean unbeirrt fort. Ich stieß sie von der Couch und legte mich wieder hin. »Ich werde nicht auf dich warten.« »Heute dachte ich, die linke Seite ist cool und die rechte Seite nicht so cool«, fügte Mom/Dean noch hinzu, bevor sie von der Couch aufstand. Ich musste unwillkürlich lächeln. »Bye«, sagte ich noch einmal. »Bye«, wiederholte Mom, griff nach ihrer Handtasche und verschwand durch die Haustür. Als ich Miss Pattys Tanzstudio erreichte, traf ich dort auf Paris, die Miss Patty und ihren Senioren-Yogakurs mit wütenden Blicken bedachte. Madeline, Louise und Brad kamen hinter mir herein. - 154 -
»Ist das die Besetzung von Cocoon?«, fragte Louise. Paris sah die Gruppe an. »Wo ist Tristin?«, wollte sie wissen. »Er sagte, er wollte mit euch kommen.« »Oh, er ist hier. Er ist nur kurz zum Market gegangen«, erklärte Madeline. Ich riss meinen Kopf herum. »Was?« »Er brauchte Zigaretten. Nur für den Fall, dass wir noch nicht wissen, wie böse er ist«, erzählte Louise uns. »Ah… ich bin gleich wieder da«, sagte ich. »Wohin gehst du?«, wollte Paris wissen. »Es dauert nur eine Sekunde«, rief ich und lief die Treppe hinunter. Ich rannte hinüber zum Market und kam gerade rechtzeitig an, um zu sehen, wie Tristin Geld auf ein aufgeplatztes Päckchen Mehl warf, das er offenbar gerade absichtlich fallen gelassen hatte. Dean sah aus, als wollte er Tristin schlagen, aber ich packte ihn und zog ihn nach draußen. »In Ordnung! Ich bin draußen«, sagte Dean wütend. »Es tut mir wirklich Leid, dass ich es dir nicht schon früher gesagt habe, aber…Tristin…« »… spielt den Romeo für deine Julia. Ja, das habe ich gehört.« »Aber er war zuerst nicht mal in unserer Gruppe, und dann wollte ihn niemand haben, und dann hat Paris unsere Probe hierher verlegt, und zwar heute, und ich hatte keine Zeit, es dir zu sagen.« »Du und Tristin macht eine Menge zusammen in dieser Schule.« »Es ist nur ein Projekt. Mehr nicht.« »Du und Tristin spielt Romeo und Julia. Perfekt. Wirklich, wirklich hervorragend.« »Ich weiß, dass du es hasst.« »Oh, ja. Ich hasse es. Und wie ich es hasse.« »Aber wir spielen die Szene am Sonntag, und der ist vorbei. - 155 -
Und dann heißt es wieder >Tristin? Wer? Tut mir Leid, ich kenne keinen Tristin<.« »Du musst diesen Jungen meinen, der eines Abends auf mysteriöse Weise im Doose’s Market erwürgt wurde«, fügte Dean hinzu. »Ich habe davon gehört. Schrecklich. Es heißt, es wäre um Drogen gegangen.« Dean lächelte mich gezwungen an. »Sei bitte nicht böse. Es tut mir Leid. Es tut mir wirklich Leid.« »Was tut dir Leid? Du hast dich schließlich nicht freiwillig bereit erklärt, mit ihm zu spielen, richtig?« »Nein, das habe ich nicht.« »Also was tut dir dann Leid?« Ich sah ihn einen Moment an. Ich konnte ihm nicht sagen, was mir Leid tat. »Dass…«, begann ich, »dass ich dir nicht von der Probe erzählt habe. Und dass No Doubt zusammen mit U2 auf Tournee gehen. Ich weiß, dass du von Bono extrem enttäuscht bist.« Dean lächelte. »In Ordnung, also wann ist diese Sache vorbei?« »Sonntag«, erklärte ich. »Okay.« Er beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss. »Ich werde einen Spaziergang um den Block machen… sorge du dafür, dass er aus dem Market verschwindet.« »Sofort«, versicherte ich. Dean ging davon, und ich sah ihm einen Moment nach und fühlte mich ein wenig schuldig. Dann kehrte ich in den Laden zurück, um Tristin zu holen. Nach der Probe ging ich ins Luke’s, um dort zu Abend zu essen. Ich saß an einem Tisch und las Alexis de Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika, einen Burger und ChiliPommes vor mir, als meine Mom hereinkam, die immer noch für ihr Date herausgeputzt war. »Oh, Gott sei Dank, du hast bestellt. Ich bin am Verhungern«, - 156 -
seufzte Mom, als sie sich zu mir setzte. »Was machst du hier? Du wolltest doch essen gehen.« »Ich bin auch essen gegangen«, sagte sie und griff nach einer meiner Pommes. »Warum isst du dann meins?« »Na ja, er hat mich in sein Lieblingsrestaurant namens Minnie’s geführt. Sehr hip. Sehr schick. Sehr kleine Portionen.« »Und wie ist es gelaufen?« »Nun…« »Aha.« »Weißt du, wir haben über all die Dinge geredet, die wir gemeinsam haben, und dann kam der Salat.« »Keine Seelenverwandtschaft?« »Er hat noch nie Ab Fab gesehen.« »Definitiv keine Seelenverwandtschaft«, sagte ich und bohrte meine Gabel in meine Chili-Pommes. Mom erzählte mir weiter, wie verschieden sie waren, meinte aber, dass sie trotzdem froh sei, ihre Verabredung wahrgenommen zu haben. »Ja?«, fragte ich. »Ja«, bestätigte sie mit einem Lächeln. »Ich meine, es hat Spaß gemacht, mich aufzudonnern und mir von einem frisch gewaschenen Mann die Tür aufhalten zu lassen. Und das Beste daran war, dass es keine große Sache war. Wir haben gelacht und uns beim Abschied umarmt. Ich werde wohl nie wieder mit ihm ausgehen, aber ich glaube, die Sache mit den Burritos wird weitergehen. Es war ein total unverbindliches Date. Ich bin jetzt offiziell fähig zu unverbindlichen Verabredungen.« »Das ist toll. Wir könnten das mit einem eigenen Teller Pommes für dich feiern.« Doch Mom stibitzte ein paar weitere Pommes von meinem Teller, als ich mich umdrehte, um Luke zu rufen. »Hey, Luke, können wir noch eine Portion haben?« »Kommt sofort«, rief er zurück. »Jetzt erzähl mir von der großen Probe«, bat Mom, als sie nach meinem Mineralwasser griff, um die Pommes hinunterzu- 157 -
spülen. »Wir hatten einen etwas holperigen Start, und Louise führte sich auf, als wäre sie die Priesterin in einem Madonna-Video, aber am Ende waren wir gar nicht mal so schlecht.« »Gut. Gut«, sagte Mom und lächelte mich an. »Dean hat Tristin getroffen.« »Oh. Schlecht. Sehr schlecht.« »Aber das war okay, weil ich sie ohne Blutvergießen voneinander getrennt und Dean alles erklärt habe…« »Du hast Dean alles erklärt?«, fragte sie aufmunternd nickend. »Ich habe ihm gesagt, dass Tristin eigentlich nicht zu unserer Gruppe gehörte und dass Paris die Probe in letzter Minute in Miss Pattys Tanzstudio verlegt hat und dass er deshalb nichts davon wusste.« »Oh. Diese Version von >alles<.« »Aber Dean ist jetzt zufrieden.« »Er ist zufrieden?« »Er ist zufrieden.« Luke kam mit einem Teller Chili-Pommes an unseren Tisch und stellte ihn vor Mom ab. »Willst du auch einen Burger?« »Nein. Ich nehme einfach die Hälfte von ihrem«, erwiderte Mom. »Einen Burger bitte«, sagte ich. »Du siehst ziemlich aufgedonnert aus«, stellte Luke fest. »Wirklich? Ich fühle mich eigentlich sehr unverbindlich«, antwortete Mom. Sie lächelte mich an, und ich lachte kurz. Luke schüttelte den Kopf, er war daran gewöhnt, dass unsere Worte für ihn keinen Sinn ergaben, und ging, um Moms Burger zu holen. Die Türglocke bimmelte, und Dean kam herein. »Hey«, sagte er, als er an unseren Tisch trat. »Hi. Hast du Feierabend?«, fragte ich. »Ja«, bestätigte er. - 158 -
»Hey, Dean. Willst du ein paar Pommes?«, fragte Mom. »Nein«, erwiderte er. »Ich bin eigentlich auf dem Weg nach Hause, um zu Abend zu essen. Meine Mom hat heute Brathähnchen gemacht und mir etwas davon aufbewahrt.« Mom war beeindruckt. »Oh, du hast eine von diesen kochenden Müttern.« »Das ist so nett«, fügte ich hinzu. »Okay, sie kann Hähnchen zubereiten, aber ist sie auch fähig zu unverbindlichen Verabredungen?« Mom lächelte stolz. »Ich hoffe nicht. Sie ist verheiratet«, eröffnete ich ihr. »Will ich wissen, wovon ihr redet?«, fragte Dean. »Nein«, antwortete Luke, als er zu dem Tisch hinter uns ging. »Meine Mutter hat heute ein unverbindliches Date gehabt«, erklärte ich. »Gratuliere«, sagte Dean. »Danke. Vielen Dank«, nickte Mom selbstzufrieden. »Ich wollte nur wissen, wann ihr morgen probt«, fuhr Dean fort. »Um fünf. Warum?« »Nun, es ist mein freier Abend, und ich dachte, ich komme vielleicht vorbei und sehe es mir an«, sagte er. »Was ansehen?« »Dich.« »Während ich was mache?« »Proben.« »Oh.« Ich drehte den Kopf und starrte meine Mom an. »Dean, ich denke, es wird dich langweilen, mir bei den Proben zuzusehen.« »Ja«, warf Mom ein. »Ich bin eingedöst, während sie mir von den Proben erzählt hat.« »Ich werde mich nicht langweilen«, versicherte Dean. »Aber wir beherrschen noch nicht mal unseren Text. Du solltest einfach am Sonntag kommen.« »Das ist eine gute Idee. Schließlich ist Sonntag der Tag der - 159 -
Ruhe. Und das ist es, was du tun wirst. Ruhen. Denn es ist langweilig.« »Mom…« »Es ist nicht deine Schuld, Schatz. Du hast das verdammte Stück nicht geschrieben.« »Gut, am Sonntag komme ich auch«, sagte Dean. »Okay, aber wenn du am Sonntag kommst, solltest du dir nicht die Vorfreude verderben«, argumentierte ich. »Wieso? Jeder weiß, wie das Stück ausgeht.« »Okay, Dean, hör zu…« »Rory, komm schon. Ich werde im Hintergrund sitzen, du wirst sterben und anschließend werden wir nach Hause gehen. Das ist doch keine große Sache, oder?« »Nein.« »Na also. Ich sehe dich morgen.«? »Ja«, sagte ich, als Dean vom Tisch aufstand. »Das wirst du ganz sicher.« Dean beugte sich zu mir, um mich zu küssen, verabschiedete sich dann von meiner Mom und ging hinaus. Mom sah mich an. »Oh, ja. Er ist zufrieden.« Ich seufzte und wandte mich wieder meinem Burger zu. Ich kam dahinter, dass mir nur noch die Möglichkeit blieb, mit Tristin zu reden, und steuerte am nächsten Tag in der Schule auf ihn zu. Er lehnte an seinem Spind und unterhielt sich mit Bowman und Duncan, als ich näher kam. »Entschuldigung, Tristin. Kann ich einen Moment mit dir reden?« Tristin wandte sich an die anderen Jungen. »Wir sehen uns später, okay?« Duncan und Bowman gingen, und Tristin drehte sich wieder zu mir um. »Ich gehöre dir.« »Ich muss mit dir über etwas Ernstes reden.« »Etwas Ernstes. Hu. Da bin ich aber gespannt«, sagte Tristin, öffnete seinen Spind und nahm ein paar Bücher heraus. »Dean kommt heute Abend zur Probe«, erklärte ich. »Wow. Bist du sicher, dass er wirklich abkömmlich ist? Ich - 160 -
meine, was ist, wenn es einen Ansturm auf gebackene Bohnen gibt?« »Würdest du mal fünf Sekunden den Mund halten? Bitte?« Tristin hob die Hände, um mir zu bedeuten, dass er nichts mehr sagen würde. »Danke. Hör zu, wie ich schon sagte, Dean kommt heute Abend zur Probe, und ich möchte, dass du mir versprichst, dass du ihm nicht erzählen wirst, was passiert ist.« »Was passiert ist…?« »Auf der Party.« »Auf der Party…« »Tristin! Du und ich auf Madelines Party?« Tristin kratzte sich in scheinbarer Verwirrung am Kopf. »Summer hatte dich gerade abserviert, und ich fand dich schmollend auf einer Pianobank, ich setzte mich, wir redeten und dann… haben wir uns geküsst!« Tristin musterte mich einen Moment. »Das warst du?« »Was?« »Warst du damals blond, denn ich…« »Weißt du was, vergiss es.« Ich ließ ihn stehen. Aber Tristin folgte mir. »Hey, Rory«, sagte er und zog an meinem Arm. Ich blieb stehen und drehte mich frustriert zu ihm um. »Es hat keinen Sinn, mit dir zu reden«, sagte ich. »Ich wusste es, aber ich habe es trotzdem versucht. Es wird nicht noch einmal passieren.« »Du willst nicht, dass ich Dean erzähle, dass wir uns geküsst haben«, sagte Tristin ernst. »Bei George, ich schätze, er hat’s kapiert.« »Okay«, nickte er, »wenn es das ist, was du willst.« »Das ist es«, bestätigte ich. »Allerdings… wird er es sowieso herausfinden«, fügte Tristin hinzu. »Was?« »Komm schon, du weißt, wenn wir uns auf der Bühne küssen, - 161 -
wird jeder sehen, dass es nicht das erste Mal ist. Ich bin ein guter Schauspieler, aber ich kann diese Art von Leidenschaft nicht verbergen.« »Hör zu, im Moment läuft es für mich und Dean richtig gut, und ich will nicht, dass irgendwas dazwischenkommt. Vor allem nicht etwas, das mir überhaupt nichts bedeutet hat und von dem ich wünschte, es wäre gar nicht passiert!« Tristin sah mich einen Moment an. »Es läuft also gut für euch beide, wie?« »ja, so ist es.« »Gut«, sagte er strahlend. »Das ist gut.« Und er wandte sich ab und ging zurück zu seinem Spind. Mir dämmerte plötzlich, dass das, was ich gesagt hatte, ihn vielleicht verletzt hatte, und ich folgte ihm. »Also… was denkst du?«,fragte ich, als Tristin seinen Spind öffnete und seine Bücher wieder hineinlegte. »Die hast du gerade erst da rausgeholt«, erinnerte ich ihn, als er die Tür schloss. »Dann habe ich meine Meinung eben geändert«, sagte er schroff. »Geht es dir gut?« »Ja, ich schätze, ich werde mich irgendwie von der Neuigkeit über die große Romanze zwischen dir und Dean erholen.« »Du hast in der letzten Zeit eine Menge durchgemacht, oder?« »Du meinst?« »Du weißt schon, die Autosache, die Suspendierung… eine Menge Dramen.« »Nun, ich langweile mich schnell.« »Das sieht dir aber gar nicht ähnlich.« »Und du kennst mich jetzt, wie?« »Ich weiß, dass du früher nicht für Streiche suspendiert wurdest.« »Ich habe solche Sachen schon durchgezogen, bevor ich Duncan und Bowman kannte, in Ordnung?« - 162 -
»Wenn ja, hast du dich nicht erwischen lassen.« Tristin „wandte den Blick ab und antwortete nicht. »Du wirst oft erwischt«, fuhr ich fort. . »Willst du damit sagen…?« »Vielleicht sind Duncan und Bowman nicht der beste Umgang für dich. Sie sind nicht so klug wie du, Tristin. Sie sind nicht so talentiert wie du. Sie…« »Weißt du, ich werde wohl eine Gebühr entrichten müssen, bevor wir uns näher kommen.« Und diesmal ließ er mich stehen, als es zum Unterricht klingelte. »Und sag deinem Freund, er soll mir Bescheid geben, wenn Rabattmarkentag ist, okay?«, rief er mir zu. Ich sah ihm entmutigt nach und begab mich dann in meine Klasse. Ich versuchte mich von der aktuellen Situation abzulenken, aber ich konnte es nicht. Die Probe rückte rasch näher, und ich fürchtete mich davor. Ich traf mich mit Mom im Luke’s, aber als unsere Burger serviert wurden, war ich einfach nicht mehr hungrig, sodass ich meinen auf dem Tresen stehen ließ. »Lässt du deinen Frust an deinem Burger aus?«, fragte Mom. »Kein Hunger«, sagte ich zu ihr. »Schätzchen, du musst etwas essen. Du wirst in ein paar Stunden Selbstmord begehen. Du brauchst deine Kraft.« »Ha-ha.« »Vielleicht kommt Dean heute Abend gar nicht«, meinte Mom, um mich aufzuheitern. »Oh, er wird kommen. Es gibt nicht genug Monstertruckrennen auf der Welt, um ihn heute Abend von Miss Pattys Tanzstudio fern zu halten.« Die Tür des Lokals öffnete sich bimmelnd, und ein junger Bursche mit einer Baseballkappe, einem South-Park-T-Shirt, Jacke und Jeans kam herein, zusammen mit einem älteren Mann und einer Frau. Sie stellten sich neben uns an den Tresen. »Okay, das reicht«, sagte Mom. »Heute Nachmittag werden - 163 -
wir eine intensive Einzeltherapie beginnen, um dich aus dieser Stimmung zu holen.« »Nein, danke. Ich kann nicht. Ich habe Lane versprochen, ihr bei der Auswahl ihres Kleides für das Stück morgen zu helfen.« »Lorelai?«, sagte der junge Mann am Tresen zu Mom. Sie drehte den Kopf, um zu sehen, wer sie angesprochen hatte. »Ja?« »Hey, du bist es wirklich«, sagte er. Er wandte sich an das ältere Paar in seiner Begleitung und erklärte: »Das ist Lorelai. Sie ist das Mädchen, von dem ich euch erzählt habe.« »Oh, Paul!«, rief Mom, als ihr endlich aufging, wer er war. »Es tut mir Leid. Ich habe dich mit der Kappe gar nicht erkannt.« »Ja.« Paul lächelte breit. »Was machst du hier?«, fragte Mom. »Ich trinke Kaffee«, erwiderte Paul. »In Stars Hollow?« »Ja, weißt du, du hast mir gestern Abend so viel über die Stadt und vor allem das Luke’s erzählt… Und da meine Mom verrückt nach Kaffee ist, dachte ich mir, ich bringe sie zum Frühstück hierher.« »Gestern Abend?«, fragte ich leise. »Ja«, sagte Mom und drehte sich wieder zu mir um. »Paul ist mein Begleiter von gestern Abend, dem unverbindlichen Mittwoch.« »Ooh«, machte ich, als ich begriff, dass er Moms Date war. Mein Gott, er sah aus, als wäre er zwölf. Mom stellte mich Paul vor, und er stellte uns seinen Eltern vor. »Was kann ich Ihnen bringen?«, unterbrach Luke ungeduldig. »Luke…«, sagte Paul. »Sind Sie Luke?« Er wandte sich an Mom. »Ist das Luke?« »Ja. Das ist Luke«, bestätigte Mom. - 164 -
»Oh, Mann! Mom, Dad, das ist Luke!« »Wir haben so viel von Ihnen gehört«, sagte Pauls Mom. »Eine Schande, diese Sache mit Rachel«, fügte Pauls Dad hinzu. »Wer zum Teufel sind diese Leute?«, fragte Luke meine Mom. »Ah, Paul ist ein Freund. Von der Wirtschaftsschule«, erklärte Mom. »Ja, wir sind gestern Abend zusammen ausgegangen, und sie hat mir von ein paar Leuten in dieser Stadt erzählt, unter anderem von Ihnen. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Paul aufgeregt. »Ja«, knurrte Luke mürrisch. »Ah, okay, wir nehmen dreimal Kaffee.« Luke wandte sich ab, um ihre Bestellung zu holen, und ich sah grinsend meine Mom an. »Ist irgendwas komisch?«, fragte sie. »Nein«, erwiderte ich. »Du grinst also völlig grundlos.« »Ich bin ein fröhlicher Mensch.« Paul wandte sich mit dem Kaffeebecher in der Hand an uns. »Hey, ich muss los. Meine Mom will Antiquitäten kaufen. Es war nett, dich zu treffen. Wir sehen uns im Kurs, Lorelai.« Wir sagten alle Auf Wiedersehen, und Paul ging mit seinen Eltern hinaus auf die Straße. Mom sah mich an. »Was?« »Nichts«, erwiderte ich, während ich verzweifelt versuchte, nicht zu lachen. »Sag es.« »Ich wollte schon immer einen kleinen Bruder haben«, stieß ich kichernd hervor. »Er sah gestern Abend älter aus«, verteidigte sich Mom. »Wie viel älter könnte er schon ausgesehen haben?« »Viel älter. Er ist normalerweise ein wenig gammelig gekleidet, und die Baseballkappe verbirgt seine flotte Frisur.« - 165 -
»Er sollte ein Jo-Jo und einen Lutscher in den Händen halten und eine Mütze mit einem Propeller tragen.« »Er ist in den Zwanzigern.« »Er muss ein sehr braver Junge gewesen sein, dass er sich einen derart glücklichen Tag wie heute verdient hat«, sagte ich noch immer kichernd. »Ich wette, er darf heute noch auf einem Pony reiten.« »Okay, wolltest du nicht Lane helfen?« Ich stand vom Hocker auf und küsste meine Mom auf die Wange. »Danke, dass du mich aufgeheitert hast.« Ich hatte plötzlich Hunger, griff nach meinem Burger und verließ kauend das Lokal. Wie angekündigt tauchte Dean auf, lehnte lässig an der Wand und verfolgte die Probe. Ich lag auf dem Tisch, scheinbar tot, während Tristin mit einer Giftphiole neben mir stand. Paris stand vor uns und Madeline, Louise und Brad saßen an der Seite und sahen zu. »Dies meiner Lieben«, sagte Tristin als Romeo. Er trank den Inhalt der Phiole. »Oh, wackerer Apotheker! Dein Trank wirkt schnell.« Er verharrte einen Moment über mir, unterbrach dann die Probe und fragte nach seinem Text. >»Und so im Kusse sterb ich!<«, erklärte Paris ungeduldig. »Ist es so schwer, sich das zu merken?« »>Und so im Kusse sterb ich.< Richtig. Und dann küsse ich sie, richtig?« »Ja. Du sagst >Und so im Kusse sterb ich<, dann küsst du sie und stirbst!«, bestätigte Paris geduldig. Tristin sah an Paris vorbei und schenkte Dean ein kurzes, überlegenes Lächeln. »Was soll das Grinsen?«, fauchte Paris. »Hältst du das Ganze für einen Witz? Wir haben morgen unseren Auftritt!« »Warte, morgen!«, rief Tristin in gespielter Überraschung. »Oh, mein Gott, mir ist total entgangen, dass du mich schon siebenundvierzigmal daran erinnert hast.« - 166 -
»Ich habe dich gewarnt, ich werde nicht zulassen, dass du alles verdirbst. Ich werde dich in einer Sekunde durch Brad ersetzen.« »Oh, lieber Gott, nein«, rief Brad nervös. »Können wir jetzt endlich die Szene beenden?«, fragte ich, noch immer liegend. »Bitte«, drängte Madeline. »Schön«, sagte Paris. »Aber wenn du noch einmal >Text!< schreist, bist du draußen.« Sie wandte sich an Brad. »Lern schon mal deinen Text!« Brad griff hastig nach dem Textbuch und machte sich an die Arbeit. Wir begannen noch einmal von vorn. »Oh, wackerer Apotheker! Dein Trank wirkt schnell. Und so im Kusse sterb ich.« Tristin/Romeo beugte sich zu mir herab, um mich zu küssen, sah kurz zu Dean hinüber und wich zurück, ehe er sein Vorhaben in die Tat umgesetzt hatte. »Was ist?«, fragte Paris. »Es ist nur so, da das unser letzter Kuss ist, muss ich ständig an unseren ersten Kuss denken. Du weißt schon, auf der Party«, sinnierte Tristin. Ich setzte mich auf. »Was?« »Leg dich hin«, befahl Paris. »Du bist tot!« »Das sind wir alle«, murmelte Louise. Tristin wandte sich an mich. »Du erinnerst dich doch an den Kuss… im ersten Akt, auf Capulets Maskenparty?« »Was ist damit?«, wollte Paris ungeduldig wissen. »Nun, ich habe nur versucht, mir etwas auszudenken, das diesen Kuss zu etwas Besonderem macht.« »Tristin…«, warnte ich. »Ich denke, sie sollte weinen«, sagte Tristin. »Was?«, rief ich entsetzt. »Sie ist tot! Du bist tot! Leg dich hin!«, befahl Paris. »Aber das ist ja das Schöne daran. Niemand wird erwarten, dass sie weint«, erklärte Tristin. »Ich schon«, warf Dean ein. - 167 -
»Weißt du, es ist komisch, dass du das sagst«, meinte Tristin und zeigte auf Dean. Ich stand hastig auf. »Ich brauche fünf Minuten.« »Wisst ihr was? Machen wir fünf Minuten Pause. Auf diese Weise könnt ihr alle eure Termine für heute Abend absagen, denn wir bleiben so lange hier, bis alles stimmt!« Paris stürmte aus Miss Pattys Tanzstudio. Madeline folgte ihr. Louise zog ein Handy aus der Tasche, wählte und bemerkte dann, dass Brad ebenfalls nach seinem Handy griff und es aufklappte. »Wen könntest du schon anrufen?«, fragte sie, als sie an ihm vorbei zur Tür ging. Ich schlenderte zu Dean, während Tristin zur Seite trat und so tat, als würde er seinen Text lernen. »Er ist unglaublich«, fauchte Dean verärgert. »Dean, ich möchte wirklich, dass du gehst«, sagte ich. »Was?« »Die Vorstellung morgen bestimmt zu fünfzig Prozent über meine Zensur, und du stehst hier herum und starrst Tristin an, als wolltest du ihn herausfordern oder so was.« »Mir gefällt nicht, wie er mit dir umgeht.« »Mir gefällt es auch nicht, aber wir müssen mit der Szene fertig werden, und das können wir nicht, solange du hier herumstehst…Dean, bitte!« Dean seufzte frustriert. »Schön. Ruf mich später an.« Er beugte sich zu mir, um mich zu küssen, funkelte Tristin hinter mir an und ging dann hinaus. »Weißt du, mir ist aufgefallen, dass du nicht geweint hast, als du ihn geküsst hast«, sagte Tristin und baute sich vor mir auf. »Das macht mich ein bisschen unsicher.« Ich starrte ihn an. »Was ist los mit dir?«, fragte ich wütend. »Wow! Ich glaube, im Koma hast du mir besser gefallen.« »Ich dachte, du wolltest nichts sagen!« »Habe ich das gesagt?« »Du machst es jedem unmöglich, nett zu dir zu sein! Kein - 168 -
Wunder, dass du in unsere Gruppe kommen musstest! Jeder, der einmal mit dir ausgegangen ist, hätte es besser gewusst!« Tristins Pager piepte. Er warf einen Blick auf das Display und sagte dann: »Schade, ich wünschte wirklich, ich könnte mir weiter anhören, wie erbärmlich ich bin. Unglücklicherweise muss ich ein paar Freunde treffen.« Tristin griff nach seiner Jacke und ging, als Paris hinter mir zurück in das Studio kam. »Wohin gehst du? Wohin gehst du?«, fragte sie und stürmte an mir vorbei, um Tristin aufzuhalten. »Wir sind noch nicht fertig! Hey! Ich bin die Regisseurin hier! Tristin!« Brad folgte Paris. »Tristin«, rief er. »Komm zurück! Bitte!« Ich stand da und starrte die Tür an. Wie hatte es nur so weit kommen können?
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12 Mom, Sookie, Lane und Dean standen in der letzten Reihe des Publikums, das überwiegend aus Chilton-Eltern und Schülern bestand und gebannt die von einem HöhlenmenschenRomeo und einer Höhlenmenschen-Julia aufgeführte Balkonszene im zweiten Akt verfolgte. Ich rannte in meinem JuliaKostüm mit dem prächtigen Kopfschmuck zu ihnen. »Oh, sieh dich an, du siehst wie eine Prinzessin aus«, sagte Sookie stolz. »Sieht sie nicht wie eine Prinzessin aus?« »Ja«, stimmte Dean zu, »sie sieht wunderschön aus.« »Mom hat das Kleid gemacht«, berichtete ich. »Von dem Mädchen darin ganz zu schweigen«, fügte Mom hinzu. »Hallo, das muss jetzt nicht sein«, ermahnte ich sie. »Ich wollte es nur erwähnen«, sagte Mom. »Ich bin ein wenig nervös«, gestand ich. »Oh, du wirst großartig sein«, versicherte Lane. Die Menge geriet in Bewegung. »Ich glaube, der dritte Akt fängt an«, sagte ich zu Lane. »Henrys Akt!«, rief Lane aufgeregt. »Wie sehe ich aus?« »Du solltest dir vielleicht ein Telefon vor das Gesicht halten, damit dich niemand erkennt«, erwiderte ich. Lane lächelte mich an. »Bye.« Sie rannte davon und drängte sich durch die Menge, als Paris auftauchte und meinen Arm ergriff. »Ich brauche dich!« Sie zog mich auf den Korridor. »Er ist nicht hier!«, sagte sie verzweifelt. »Wer ist nicht hier?«, fragte ich. »Tristin! Ich habe überall nachgesehen! Ich habe ihn zu Hause angerufen! Auf seinem Handy! Ich habe drei Mädchen angerufen, von denen ich weiß, dass er mit ihnen geht.« »Paris, beruhige dich.« Sie starrte mich an. »Hast du nicht zugehört? Er ist nicht hier! - 170 -
Wir sind in zwanzig Minuten dran, und wir haben keinen Romeo! Wir werden versagen!« »Wir werden nicht versagen.« »Denkst du, Harvard nimmt Leute, die bei Shakespeare versagen? Auf keinen Fall! Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin ziemlich sicher, wenn man bei Shakespeare versagt, kommt man nicht nach Harvard!« »Okay, vielleicht ist er in einer der Toiletten und raucht eine Zigarette«, spekulierte ich. »Gute Idee«, sagte Paris. »Du siehst in der östlichen Herrentoilette nach! Ich übernehme die westliche!« Paris rannte in eine Richtung, während ich die andere nahm. Ein paar Minuten später trafen wir uns in einem Korridor auf der anderen Seite des Gebäudes. Ohne Tristin. Paris war noch verzweifelter als zuvor. »Ich wusste, dass er das tun würde! Aber niemand wollte auf mich hören! Es hieß nur >Macht Tristin zu Romeo, er ist heiß
»Ich bin in Schwierigkeiten geraten.« »Schwierigkeiten…wodurch…?« »Durch Duncan und Bowman. Und… den Safe von Bowmans Dad.« »Oh, nein.« »Ich meine, Bowman hatte einen Schlüssel, es sollte keine große Sache sein, aber dann ist dieser stumme Alarm losgegangen…« »Du hast den Safe von Bowmans Dad ausgeraubt«, sagte ich und verzog voller Abscheu das Gesicht. »Ja.« »Dumm.« »Ja«, wiederholte er leise. »Nun, okay, du könntest dich entschuldigen, richtig? Und das Geld zurückgeben, und du könntest erklären, dass du, ich weiß nicht, unter großem Druck gestanden hast.« »Das habe ich auch. Als ich seinen Safe ausgeraubt habe.« »Warum hast du das getan?« »Keine Ahnung. Aber ich schätze, das ist etwas, über das ich nachdenken kann, wenn ich in der Militärschule bin.« »Militärschule?« »Die Polizei lässt unsere Eltern die Sache unter sich regeln, und in meinem Fall bedeutet das die Militärschule in North Carolina.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Ich schätze, du bist vor Erleichterung überwältigt, dass ich bald weg sein werde.« Ich sah ihn einen Moment an. »Nein, es tut mir schrecklich Leid«, sagte ich ehrlich. »Ich bin ein großer Junge«, meinte er. »Ich komm schon damit klar.« »Gibt es nichts, das du…« »Nein. Mein Dad ist deswegen extra von den Fidschis nach Hause gekommen. Er kommt normalerweise nicht von den - 172 -
Fidschis nach Hause.« Ein Mann tauchte am Ende des Korridors auf. »Tristin«, rief er. »Komm jetzt.« »Ich muss gehen«, sagte Tristin. Er beugte sich zu mir. »Nun… ich würde dich zum Abschied küssen, aber, na ja…« Er wies zur Tür. »Dein Freund beobachtet uns.« Ich sah hin und entdeckte Dean, der jede Bewegung von Tristin misstrauisch beäugte. Tristin sah mich an. »Pass gut auf dich auf…« Er schwieg einen Moment, lächelte dann und fügte hinzu: »Maria.« Die Erinnerung ließ mich ebenfalls lächeln. Ich sah zu, wie er den Korridor hinunter zu seinem Vater ging. Es war irgendwie traurig, ihn gehen zu sehen, vor allem auf diese Weise. Dann tauchte Paris auf. Als Romeo verkleidet. »Warum stehst du hier noch herum? Lass uns gehen! Und du solltest besser ein Pfefferminzbonbon lutschen!« Ich folgte ihr in den Großen Saal, um unseren Akt aufzuführen. Trotz aller Behinderungen spielten wir gut, und Harvard ist fürs Erste gesichert. Aber es war eine große Erleichterung, als ich das hinter mir hatte. Ich rannte in die Garderobe, um Mom und Sookie abzuholen. Dann schnappten wir uns Dean und Lane und kehrten nach Stars Hollow zurück. Lane musste nach Hause, aber Mom, Sookie, Dean und ich gingen ins Luke’s, um zu feiern. »Hey, hast du Paris wirklich geküsst, oder war das nur Theater?«, fragte Dean, als wir das Diner betraten. »Eine Lady küsst und schweigt«, erklärte ich ihm. Wir setzten uns an einen Tisch, während Mom an den Tresen trat, um zur Feier des Tages Burger und Chili-Pommes zu bestellen. Da außer uns niemand da war, überredete Mom Luke kurz darauf, sich zu uns zu setzen. Selbst Jess schien zu vergessen, dass er alle Welt hasste, und brachte uns Kuchen, bevor er nach oben verschwand. Ein paar Minuten später dröhnte »Lovefool« von den Cardigans durch das Diner. Luke stand auf, um Jess zu sagen, dass er die Musik ausmachen sollte, aber Mom hielt ihn - 173 -
zurück und bat ihn, noch mehr Tee zu holen. Als Nächstes erklang »#1 Crash« von Garbage, und ich kapierte, dass Jess Songs aus Romeo und Julia von Baz Luhrmann spielte. Als wir unsere Sachen einsammelten, um zu gehen, folgten die Butthole Surfers mit »Whatever (I Had a Dream)«. Wir verabschiedeten uns und wandten uns zur Tür. Luke schloss hinter uns ab, und ich hörte, wie Jess den letzten Song des Abends auflegte, der nicht aus dem Soundtrack stammte, und als wir nach Hause gingen, sangen die Vandals »So Long, Farewell« durch das offene Fenster von Lukes Apartment.
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