GORDON R. DICKSON
GEWALT
ZWISCHEN DEN
STERNEN
Science Fiction – Utopischer Roman Deutsche Erstveröffentlichung
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GORDON R. DICKSON
GEWALT
ZWISCHEN DEN
STERNEN
Science Fiction – Utopischer Roman Deutsche Erstveröffentlichung
WINTHER VERLAG KG.
HAMBURG – ZÜRICH – WIEN
WINTHER-BUCH Nr. 2002
im Winther Verlag KG. Hamburg
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
NAKED TO THE STARS
Ins Deutsche übertragen von:
KARL OTTO PAKLEPPA
Genehmigte Taschenbuchausgabe
© Copyright 1966 by Pyramid Publications, Inc.
Scan by Brrazo 04/2006
gesetzt in Aphont
Umschlaggestaltung: Atelier Biehler, Hamburg
Satz: Karl Heinz Löding KG, Hamburg
Gesamtherstellung: UNIPRINT, Kopenhagen
Published in Germany
ERSTES KAPITEL
Die Stimme in der tiefschwarzen Nacht des dritten Planeten der Sonne Arcturus erklang unter einem fremdartigen Baum, der sich im ruhelosen Wehen des Windes beugte. »Also, Gentleman«, sprach sie und schien dann den Faden zu verlieren. Sie verstummte, fand dann aber doch zu ihrer alten Kraft zu rück. »… so verhält sich das mit dem Militär. Ein Soldat unterscheidet sich von einem gewöhnli chen Mörder nur durch den Grund, aus dem er tötet …« Die Stimme brach abermals ab und schien an irgendetwas Warmem und Flüssigem beinahe zu ersticken. »Blödsinn!« sagte eine andere Stimme aus der vom unablässigen Wehen des Windes er füllten Dunkelheit. »In einem Krieg«, fuhr die erste Stimme fort, »in dem man Heim und Familie verteidigt, in einem Kreuzzug also, der eine bestimmte Zeit dauert, handelt der Soldat nach klaren 5
Richtlinien und hat das Gefühl, rein und sauber zu bleiben. Aber Soldaten auf Zeit werden ent lassen …« »Ja, manche schaffen’s«, antwortete die zweite Stimme. »… werden entlassen. Dann versuchen sie, Berufssoldaten zu werden. Während vorher der Feind zuerst angriff, zieht der Soldat nun als erster in den Krieg. Der Schild der Ehrenhaf tigkeit wird befleckt, und …« Die Stimme zö gerte, und der unpersönliche Ton des Vortrags verlor sich in einem zusammenhanglosen Stammeln. »Gib ihm noch einen Psychoblock, Joby«, be fahl Korporal Calvin Truant vom Vierten An griffsflügel des 91. Pionier-Bataillons. Er nahm an der terranischen Strafexpedition gegen die Lehaunan teil. »Wenn ich das tue«, antwortete die Stimme, die schon ein paarmal Zwischenbemerkungen gemacht hatte, »werde ich ihm die Wirbelsäule brechen. Es ist gefährlich, Cal.« »Mach es trotzdem«, befahl Cal. Man hörte ein Rascheln, und das Murmeln wurde von einem lauten Keuchen abgelöst. Es 6
folgte ein Augenblick unnatürlicher Ruhe, dann fuhr die Stimme mit neugewonnener Kraft in ihrem Vortrag fort. »… im Hinblick auf die gegenwärtige Lage der Expedition kann ich nur meine Ansicht als Kontaktoffizier wiedergeben. Normalerweise würde man bei einem Waffenstillstand erwar ten, daß wir friedliche Kulturkontakte aufzu nehmen versuchten. Nun, es ist jedenfalls un klar, ob die Lehaunan unser Wort ›Waffenstill stand‹ begreifen …« »Erklär’s ihnen mal«, unterbrach eine ande re, jüngere Stimme. »Sie haben dir ja gezeigt, was sie unter Waffenstillstand verstehen, nicht wahr, Runyon?« »Genug davon, Tack«, sagte Cal scharf. »Geh ans Feldtelefon zurück und höre, ob die Divisi on neue Befehle für uns hat.« »In Ordnung«, gab die jüngere Stimme zu rück. Cal hörte, wie sich Füße über Sand und Kies längs der Vertiefung am Rand des Hügels zu der Stelle bewegten, wo die restlichen drei undachtzig Mann lagen, die mit ihnen zusam men das bildeten, was sich so hochtrabend Vierter Angriffsflügel nannte. In der anderen 7
Richtung, oberhalb der Flanke des Hügels, lag ein schwacher Lichtschimmer. Es war der Wi derschein der Lichter vom nächsten Tal, wo die Lehaunanstadt mit der Kraftstation lag. Der Schimmer konnte nur von jemand wahr genommen werden, der keinerlei andere Be leuchtung in all den Stunden gesehen hatte, seit der große gelbrote Ball des Arcturus am Horizont versunken war. »… und sie verbinden auch nicht mit dem Wort ›Krieg‹ den gleichen Sinn wie wir. Ob wohl sie sich sehr wirkungsvoll gegen einen bewaffneten Angriff verteidigen können, schei nen die Lehaunan keinen persönlichen Groll oder gar Haß zu kennen. Sie sehen die Waffe, die sie tötet, so als hätte sie gar nichts mit dem Soldaten am Drücker zu tun. Unter ande ren Bedingungen und zu anderen Zeiten wären sie sicher ein freundliches und naives Volk …« »Prima, schreib’s am besten auf, du halbto ter …« Die heisere, erschöpfte Stimme von Jo by brach verwirrt ab, wie jemand, der sich plötzlich dabei ertappt, daß er bei einer Beer digung viel zu laut spricht. Am Abhang rollten Steine hinab. 8
»Korporal?« fragte die junge Stimme des Soldaten, den Cal vorhin Tack genannt hatte. »Ja?« antwortete Cal. »Kein Befehl.« Einen Moment lang herrschte Schweigen. Sogar Kontaktoffizier Leutnant Harry Runyon hielt in seinem von Fieberschauern unterbro chenen Bericht inne. »Und was ist mit der anderen Geschichte?« fragte Cal. »Haben Sie den Medizinmännern gesagt, daß wir hier einen Fall für ihre Messer haben?« »Sicher, Sir. Aber sie sagen, sie könnten niemand schicken, auch keinen Krankenwagen. Sie haben Angst vor Feindbeschuß.« Joby spuckte verächtlich aus. »Ich dachte, du könntest Kontaktoffiziere nicht leiden, Joby?« höhnte Tack. »Genau so wenig, wie deine Schwester«, gab Joby bissig zurück. »Aber er gehört zu unseren Leuten!« »Schluck’s runter«, empfahl Cal. Seine Worte klangen in seinen eigenen Oh ren fremd und unwirklich. Er war überrascht, sie zu hören. Es war, als ob jemand anders 9
spräche. Er fühlte sich von seinem Körper los gelöst – der fehlende Schlaf war daran schuld. Das ging schon zwei Tage so, seit Leutnant Ja mes, der letzte Offizier mit einem wirklichen Leutnantspatent, von der Ambulanz geholt worden war und ihm, Cal, dem einfachen Un teroffizier, den Befehl über den Vierten An griffsflügel übertragen hatte. Runyon zählte natürlich nicht, weil er als Kontaktoffizier nicht am Kampf teilnehmen durfte. »Tack«, befahl Cal, »klettere hoch und halte mal Umschau.« Die Geräusche von leise gleitenden Schritten verloren sich in der Richtung auf die Hügel kuppe. »Der Waffenstillstand war bei Sonnenunter gang abgelaufen«, sagte Joby. »Hol’ Walker her!« ordnete Cal an. Joby verschwand in Richtung auf das Feldte lefon, wo die restlichen dreiundachtzig Mann lagerten. Für einen Moment wäre Cal am lieb sten liegen geblieben und eingeschlafen. Er kämpfte dieses Verlangen mühsam nieder. Dann hörte er, wie Joby zurückkam. »Hier sind wir.« 10
»Was ist los Cal?« Die zweite Stimme gehör te Korporal Walker Lee Blye und klang genauso erschöpft wie Cals Stimme. Sie war zwar tiefer und klang härter, aber Cal schien es so, als spräche seine eigene Stimme durch die Dun kelheit zu ihm. Er riß sich zusammen und ver scheuchte die verworrenen Gedanken. »Ich sag’s euch, sobald Tack zurück ist«, antwortete er dem Korporal. Sie lagen in der Dunkelheit, drei kampferprobte Soldaten, und versuchten, ihre Erschöpfung niederzukämp fen. Harry Runyon murmelte vor sich hin, aber niemand konnte ihn verstehen. Joby fragte: »Habt ihr niemals Sehnsucht verspürt?« »Du meinst, nach der Erde?« überlegte Walk. »Wieder Zivilist zu werden?« »So ungefähr«, erwiderte Joby. »Ich hab daran gedacht«, gab Walk zu. »Je desmal, wenn eine Expedition zu Ende war. Aber das ist vorbei. Wenn sie mich begraben, werden Trommeln und Trompeten dabei sein und keine einzige verdammte Zivilistenstim me.« Cal hörte zu und schwieg. 11
»Lanson ist heimgekehrt«, sagte Joby. »Ihm hat es gereicht.« »Ich weiß.« »Er sitzt jetzt im Kongreß und vertritt South McMurdo.« »Kerr ist auch zurückgekehrt und macht fet te Geschäfte. Tiefseefarmen in der Nähe von Brasilien. Der liegt bestimmt richtig.« »Stimmt nicht!« verbesserte Joby. »Er trägt eine andere Uniform, 127. PanzersturmGruppe. Ich weiß es von der BallistikAbteilung. « »Well, und es gefällt ihm. Ich habe einen Brief bekommen …« »Ich nehme an, nach einiger Zeit …« »… wir müssen unterscheiden!« sprach Ru nyon plötzlich wieder laut und fest. »Den einen vom anderen. Den Unschuldigen vom Schuldi gen. Den Verteidiger von den Angreifern. Das …« Seine Stimme wurde wieder zu unver ständlichem Gemurmel. »Viele kehrten in die Heimat zurück«, nahm Walk das unterbrochene Gespräch wieder auf. Cal schreckte aus seinem Dämmerzustand em por und sah in Walks Richtung. Er konnte den 12
anderen nicht sehen, aber er konnte sich das plötzliche Aufblitzen der weißen Zähne in Walks ledernem Gesicht vorstellen und den fragenden Blick, der auf ihn gerichtet war. »Du meinst Runyon?«, fragte Joby. »Genau.« »Ich weiß nicht, warum die altgedienten Mili tärs in der Regierung der Entwicklung nicht Einhalt gebieten. All die guten Männer und Frauen, die wir gegen die Griella verloren ha ben! Und jetzt gegen die Lehaunan! Und jetzt stecken sie die Soziologen, diese Weichlinge, in Uniformen und werten uns damit ab. Sie sollen den Frieden wieder herstellen und möchten am liebsten alles, was wir mühsam erobert haben, zurückgeben. Wer, zur Hölle, hat es denn nö tig, intergalaktische Rassen zu Freunden zu machen? Wir können doch gut auf sie verzich ten. Mehr noch, wir können sie schlagen, oder etwa nicht?« »Zivilisten!« schnaubte Walk verächtlich. »Wir haben doch keine Hohlköpfe in der Re gierung. Was ist bloß los mit denen?!« »Das kann ich dir sagen«, antwortete Walk, und wieder meinte Cal das Aufblitzen seiner 13
weißen Zähne in der Dunkelheit zu sehen. »Sie heiraten Zivilistenmädchen, sie haben normale Bürger als Verwandte. Das beeinflußt ihr Ur teil.« »Eines Tages wird irgendeine Gruppe von uns zurückkehren, aber mit einem bewaffneten Raumer.« »Und – gegen das Hauptquartier kämpfen?« fragte Joby. »Das Hauptquartier ist auf unserer Seite.« »Warum schicken sie uns dann nicht zu rück?« wollte Joby wissen. »Was würde denn geschehen, wenn du, ich und wir alle einfach zurückgehen?« »… nur junge Männer sollten in den Krieg ziehen«, ließ sich plötzlich die Stimme von Ru nyon wieder laut und deutlich vernehmen, »damit die Staatskasse nicht allzu sehr belastet wird und …« »Ich denke, ich kehre zurück«, fuhr Joby fort und erhob dabei seine Stimme, um das Gerede von Runyon zu übertönen. »Na schön, ich habe einen guten Ruf als alter Kämpfer. Ich be komme meine Pension und dazu ein Stück Land. Warum sollte ich noch kämpfen? Ich 14
sollte wirklich hier Schluß machen.« Es entstand eine kleine Pause, während der nur Runyon etwas von der Ehre murmelte, als Soldat zu sterben. »Nein«, setzte Joby wieder ein, und seine Stimme klang fest. »Nein, ich glaube nicht, daß ich’s tue. Wir können den Gedanken an ei nen geruhsamen Lebensabend getrost fallen lassen.« »Richtig. Denk nicht mehr daran«, stimmte Walk zu. Das Geräusch von Schritten kam den Ab hang herunter. »Korp?« »Hier«, antwortete Cal. »Well, es geht weiter«, hörte man Tack sa gen, der wieder in ihrer Mitte angelangt war. »Ich habe da oben bei Djarali gesessen und selbst so einen Wagen beobachtet. Es ist ein Lastwagen. Er kommt aus einem Stollen im Hügel, fährt dann in die befestigte Stadt, und zwar bis ans andere Ende. Alle zwölf Minuten kommt ein Wagen. Djar sagt, er hätte weitere neun gezählt, seit er da oben ist. Und er hat keinen gesehen, der zurückkommt.« 15
»Und der Waffenstillstand endete bei Son nenuntergang«, warf Joby ein. Cal stand auf. Er blickte durch die Finsternis zurück, dahin, wo die anderen dreiundachtzig Männer warteten. Er sah vor seinem geistigen Auge die schweren Waffen und das Material da unten im Schutz einer kleinen Bodensenke. »Walk«, sagte er dann, »geh zurück an den Fernsprecher und sage ihnen, daß ich Instruk tionen verlange, und wenn sie vom General persönlich kommen. Und sage ihnen, wenn sie schon keinen Krankenwagen schicken wollen, dann sollen sie wenigstens einen Boten mit Ver bandsmaterial schicken. Joby kann ihm nicht immer die Nervenleitung blockieren. Tack!« »Hier, Cal!« »Hast du deine Zeichenmappe und den übri gen Kram bei dir?« »Ich habe eine Taschenausrüstung.« »All right, nimm sie mit.« Cal begann, seine Uniform aufzuknöpfen und die Waffen abzule gen. »Wir beide machen jetzt einen Spazier gang in die Stadt.« »Mitten zwischen den Lehaunan?« fragte Walk. 16
»Ganz recht. Du übernimmst hier den Be fehl, bis wir zurück sind. Ich will versuchen, herauszufinden, was diese Lastwagen in die Stadt bringen. Fertig, Tack?« Man hörte aus Tacks Richtung etwas klirren, und dann fiel dessen Schutzanzug auf den Bo den. »Fertig. Aber Korporal, Sir …« Tacks Stimme kletterte nach oben, als wolle sie den hohen Tonfall eines Rekruten nachahmen, »ich meine … ist das nicht ein freiwilliger Auftrag?« »Halt den Mund«, befahl Cal, »du hast zu gehorchen. Hier werden keine Spielchen ge macht. Walk, gib uns drei Stunden. Danach kannst du machen, was du willst.« »In Ordnung. Viel Vergnügen.« »Wir werden schon auf unsere Kosten kom men.« Cal ging am Fuß des Hügels entlang und hörte hinter sich die Schritte von Tack. ZWEITES KAPITEL In der Stadt der Lehaunan gab es eine Fülle von Licht. Das Licht kam von großen, glühen 17
den Säulen, die die Straßenbeleuchtung bilde ten. Es sollte eine milde Beleuchtung sein, aber für menschliche Augen war das Licht grell und blendend. Es strahlte die kugelförmigen Häu ser und die eigenartigen Auswüchse an, die wie Halbzylinder aussahen und zwischen den Ge bäuden aus dem Boden ragten. Es gab keine richtigen Straßen, sondern ein fach nur freie Plätze zwischen den Häusern. Cal mußte seinen Weg auf gut Glück suchen, denn er hatte nicht gewagt, auch nur so ein einfaches mechanisches Instrument wie einen Kompaß mitzunehmen, nachdem die Lehaunan kurz zuvor so heftig auf Runyons Tonbandge rät reagiert hatten. Cal kannte aber die Rich tung, und so ging er so gerade wie möglich auf den befestigten Teil der Stadt zu, wo die Last wagen verschwunden waren. Nachdem er sich eine Viertelstunde lang an den Häusern vorbei gewunden hatte, setzte er sich auf einen der Halbzylinder und wartete darauf, daß Tack wieder zu ihm aufschließen würde. Es gab hier auf dem freien Platz vor ihm zwei von den Leuchtsäulen. Eine war fünf Me ter hoch und maß einen Meter im Durchmes 18
ser, die andere war vielleicht zwei Meter fünf zig hoch, hatte aber nur einen Durchmesser von einem halben Meter. Beide glühten in ei nem intensiv hellgelben Licht. Das Licht tat den Augen weh, aber die runden Mauern in zwanzig Meter Entfernung waren nur undeut lich zu erkennen. Während Cal dasaß, kamen einige erwachsene Lehaunan in ihrem schwar zen Pelz vorüber, aber alle warfen ihm nur ei nen gelegentlichen Blick zu. Trotzdem schienen sie sofort das Fehlen seiner Waffen zu bemer ken. Was Tack zurückgehalten hatte, war ein jun ger Lehaunan, der wie ein metergroßer Wasch bär mit schwarzem Fell aussah. Tacks Zeichen block und Stifte hatten ihn anscheinend faszi niert, und nun folgte er dem Soldaten neugie rig. In dem unwirklichen Licht der Leuchtsäu len gaben sie ein merkwürdiges, zum Lachen reizendes Paar ab. Tack schien sogar Bilder für seinen kleinen Verfolger zu zeichnen. »Beeil dich«, sagte Cal – ein klein wenig verwundert. »Bin schon da, Korp«, antwortete Tack. Er machte einige Schritte auf Cal zu, dann blieb 19
er wieder stehen, um ein paar weitere Striche der Zeichnung zuzufügen, die keine zehn Zen timeter von der neugierigen gelben Nase seines Begleiters entfernt war. »Er ist ein nettes Kerl chen, weißt du?« »Das seh ich«, antwortete Cal, und dabei schweiften seine Gedanken zu Walk Blye ab. Der Mann begann eine Gefahr zu werden. Walk hatte etwas gegen ihn. Er war wie der Wolf, den die Gruppe einmal als verlassenes Jungtier gefunden und als Maskottchen mitge nommen hatte, bis er tollwütig wurde und er schossen werden mußte. Er preßte sich an die Knie und schob seinen Kopf nach vorne, wenn man ihn streichelte. Und dann plötzlich spürte man einen leichten Schlag gegen die Hand, und das Blut quoll aus einem dünnen Riß in der Haut, wo das Tier einen verletzt hatte. Was Walk betraf, so verletzte er nur durch Worte. »In Ordnung«, hatte er gesagt, als Cal und Tack aufbrachen, »viel Vergnügen«. Cal war schon einige Meter den Abhang hi naufgestiegen, als ihm bewußt wurde, daß die se Worte nicht in dem üblichen Tonfall freund licher Ironie gesprochen worden waren, son 20
dern voll höhnischer Verachtung. Als ob Cal nicht zu einem riskanten Unternehmen aufbre chen würde, sondern sich nur vor einer unan genehmen Aufgabe drücken wollte, die nun für Walk zurückblieb. Genau wie der Wolf hatte Walk ohne eine Warnung zugeschlagen. Und Cal wurde klar, daß mit dem Mann etwas nicht stimmte. Das Bittere daran war nur, daß Walk gleichzeitig Cals ältester Freund war. Sie wa ren zusammen zum Militär gekommen und hatten sich schon oftmals gegenseitig das Le ben gerettet … Cal sah ungeduldig hoch. Tack und der junge Lehaunan waren gute sechs Meter von ihm entfernt und immer noch in ihre Zeichnung verrieft. Cal stand schwerfällig auf und stakte zu ihnen hinüber. »… Kaninchen, siehst du?« Tack deutete auf eine Zeichnung, die er gemacht und dem jun gen Lehaunan in die Hand gedrückt hatte. »Siehst du die Ohren, die Löffel? Ein Kanin chen. Sag mal Kaninchen.« »Kan …« versuchte der Lehaunan, »Kanch … Kachch …« »All right«, sagte Cal. »Das reicht.« Er warf 21
schnell einen Blick in die Runde, ob kein er wachsener Lehaunan zu sehen war, aber die Luft war rein. »Weg!« Er machte noch zwei Schritte vorwärts und schubste den Kleinen weg. »Scher dich weg!« Der Lehaunan schrie auf und wich ein paar Schritte zurück, hielt aber immer noch die Zeichnung Tacks fest gepackt. Er wimmerte leise und sah Tack an. »Korp!« sagte Tack. »Sei still!« forderte Cal abrupt. Er machte noch einen Schritt auf den Jungen zu. Der zö gerte, dann hielt er Cal scheu das Papier mit der Zeichnung entgegen. »Kanchch …«, sagte der junge Lehaunan un sicher. »Los!« fauchte Cal und schob sich weiter vorwärts. Der Lehaunan schrie auf und flüchte te in die Dämmerung zwischen zwei entfernte ren Gebäuden. Cal sah sich schwitzend um. Aber es waren noch immer keine Erwachsenen zu sehen. Er seufzte erleichtert. Gerade war er noch vor Er schöpfung wie ausgelaugt gewesen, und jetzt, von einem Augenblick zum anderen, fühlte er 22
sich wieder so stark, als könne er Bäume aus reißen. Es wurde ihm wieder einmal klar, daß er ein Soldat mit Autorität und Verantwortung war. Er war jetzt hellwach. Cal wandte sich um und übernahm die Führung. Tack folgte ihm. Cal konnte den Ärger des jüngeren Soldaten im Nacken spüren. »Hör zu!« sagte Cal, ohne seine Schritte zu verlangsamen oder sich umzudrehen. »Du hast den Zeichenblock, um militärische Informatio nen über diese Stadt festzuhalten. Und nicht zum Privatvergnügen. Gerade weil die Lehau nan uns hier herumlaufen lassen, wenn wir keine Waffen tragen, bedeutet das noch lange nicht, daß sie harmlos sind. Du hast ja gese hen, was mit Runyon passierte, als er einen der Erwachsenen mit einem Tonbandgerät aufsu chen wollte – und zu der Zeit war sogar noch Waffenstillstand.« Cal machte eine Pause. »Hörst du zu?« »Ich höre«, erwiderte Tack hinter ihm. »Na schön.« Sie gingen weiter. »Und wenn es dich stört, daß ich den Kleinen so hart an gepackt habe, dann denk dran, daß die richtige militärische Praxis noch was ganz anderes ver 23
langt hätte. Wir hätten ihm den Kopf ab schneiden und den Leichnam irgendwo ver stecken müssen, damit er nicht verraten kann, was wir hier tun.« Tack sagte irgendetwas, das Cal nicht ver stand. »Was ist?« »Ich sagte«, murmelte Tack, »daß ich ihn hätte wegschicken können, ohne ihn so hart anzupacken. Du hättest nur etwas zu sagen brauchen.« »Ich habe keinen Grund, dir vorher was zu sagen.« Sie gingen weiter. Nach fünf Minuten kamen sie an die Mauer, hinter der die Wagen ver schwunden waren. Sie gingen außen ganz her um, sahen aber keine Möglichkeit, über die Mauer zu klettern oder wenigstens einen Blick hinüberzuwerfen. Es gab keine Möglichkeit, auf die andere Seite zu kommen – mit Ausnahme eines hohen schwarzen Tores. Tack machte ei ne Reihe von Skizzen, aber schließlich mußten sie doch unverrichteter Sache wieder abziehen. »Wir können es von hinten herum versu chen, von dem Hügel aus«, meinte Tack. 24
»Keine Zeit«, gab Cal zurück. Er sah auf das Zifferblatt seines Chronometers. »Noch fünf Stunden bis zur Dämmerung. Machen wir uns auf den Rückweg.« Auf ihrem zweiten Gang durch die nächtliche Stadt der Lehaunan sahen sie den jungen Fremdling nicht wieder. »Korporal?« fragte Jobys Stimme, als Cal und Tack den Abhang des Hügels wieder he runterkamen und den Platz erreichten, wo der Feldfernsprecher installiert war und die restli chen Männer warteten. »Joby?« fragte Cal zurück. »Wie kommst du hierher? Hat Runyon es nicht mehr durch gehalten?« »Doch, er lebt noch. Eine Sanitätshelferin hat den Weg bis hierhin zu Fuß gemacht. Sie erinnern sich sicher an Leutnant Anita Warro ad; sie kam letzten Monat mit der Ablösung. Die kleine Brünette.« »Nein«, erwiderte Cal kurz. »Hat sie Medi kamente mitgebracht?« »Ja. Sie hat ihm fürs erste geholfen.« »Neuigkeiten vom Hauptquartier?« »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kom 25
men«, berichtete Joby weiter. »Es wurde ein Befehl von General Harmon an alle Einheiten ausgegeben: Bis auf weiteres soll jeder Grup penführer nach eigenem Ermessen handeln, aber die Stellungen müssen gehalten werden.« »So«, machte Cal gedehnt. Er überlegte ei nen Augenblick. »All right«, entschied er dann. »Ruf die Leu te zusammen, damit ich zu ihnen sprechenkann, Joby. Wo ist Walk?« »Hier«, antwortete dessen Stimme aus sol cher Nähe, daß Cal zusammenfuhr. »Möchte mit dir reden.« Cal ging ein paar Schritte abseits in die Dun kelheit hinein und hörte, wie Walk ihm folgte. Als er stoppte, blieb Walk auch stehen. »Dieser Befehl«, sagte Cal, »überläßt alles mir.« »Stimmt«, antwortete Walk mit ausdruckslo ser Stimme. Cal wartete einen Moment, aber Walk sprach nicht weiter. »Hast du eine Idee?« »Es ist deine Sache.« »Ja – ich glaube, du hast recht. Es ist meine 26
Angelegenheit. Na schön!« Er drehte sich um und ging wieder zurück. Er hörte die Schritte Walks hinter sich, die ihn zu verhöhnen schie nen, Cal zählte ein Dutzend Schritte, dann blieb er stehen. »Joby?« fragte er in die Dunkelheit. »Alle angetreten«, antwortete Joby. »In Ordnung, Leute. Zählen wir ab. Eins?« »Hier«, antwortete eine Stimme aus der Nacht. »Zwei?« »Hier.« »Drei?« »Ja.« Er ging die ganze Liste seiner Abteilung durch – alle waren da; dreiundachtzig harte Kämpfer, dazu noch Tack, Joby und Walk, die auf seine Befehle warteten. »Morituri te salutant!« hörte er plötzlich laut und deutlich die Stimme seines Vaters durch die Nacht schallen. »Ave, Caesar!« Von abergläubischem Schrecken gepackt, klappte er hart seinen Mund zu und merkte dabei, daß er selbst gesprochen hatte – haar genau mit dem Akzent seines Vaters. 27
Er stand einen Moment wie erstarrt da und wartete auf Fragen; aber keiner sagte etwas, keine Stimme stellte Fragen. Er atmete auf. »Wahrscheinlich«, dachte er bei sich, »ist kei ner unter ihnen, der den uralten Gruß der rö mischen Gladiatoren kennt, zumal auf latei nisch. ›Jene, die dem Tode geweiht sind …‹« Er scheuchte die Gedanken mit einer heftigen Kopfbewegung von sich und räusperte sich. »Also dann«, begann er und räusperte sich erneut. Er sprach jetzt lauter. »Ihr alle kennt unsere Lage. Der Waffenstillstand war bei Son nenuntergang zu Ende. Wenn es erst zu däm mern beginnt, werden die Lehaunan da unten in der Stadt versuchen, uns zu schlagen, zumal sie anscheinend Nachschub aus den Bergen er halten. Ihr wißt ja von den Lastwagen, die in das befestigte Gelände der Kraftstation seit ge stern abend einfahren. Wenn wir also bis zur Morgendämmerung warten, schnappen sie uns. Wenn wir aber jetzt schon losschlagen, haben wir eine wirkliche Chance, da sie nachts nicht kämpfen.« Er hielt inne. Keiner sagte etwas. »Und deshalb werden wir so handeln«, fuhr 28
Cal fort. »Wir schlagen gleich los. Nehmt eure Waffen, am besten nur Gewehre. In fünf Minu ten ziehen wir in einer langen Schützenkette los. Wenn wir die Stadt erreicht haben und ich das Signal gebe, dann schlagen wir uns schie ßend und kämpfend einen Weg durch die Stadt bis zum Kraftwerk. Das ist alles! Unter führer zu mir!« Die restlichen Unterführer – die Gruppe war schon sehr zusammengeschmolzen, versam melten sich um ihn. Sie bekamen ihre speziel len Befehle. Sobald Cal die Befehle ausgegeben hatte, suchte er die Sanitäterin auf, die Runyon betreute. Er fand sie in derselben undurch dringlichen Finsternis, in der er den Kontaktof fizier zurückgelassen hatte. »Schwester?« fragte er und starrte in die Dunkelheit. »Wir sind hier drüben, Korporal«, antwortete ihm die Stimme einer jungen Frau. Sie klang in Cals Ohren heimatlich und vertraut. »Sie kennen mich? Habe ich Sie schon mal getroffen, Leutnant?« fragte Cal. »Sie kamen letzte Woche in die Krankensta tion wegen der Verwundeten«, antwortete sie. 29
Cal nickte. Er erinnerte sich jetzt an sie, ein zierliches Mädchen mit unergründlichen dunk len Augen. Man hatte die Einteilung der Kran kenwagen neu organisiert, und sie hatte Cal geholfen, den neuen Mann zu finden. »Ah, ich erinnere mich«, sagte Cal. »Leut nant, wir brechen jetzt alle auf«, fuhr er dann fort. »Wir müssen Sie mit dem Kontaktoffizier allein lassen. Ich kann Ihnen nicht mal einen Mann zur Bedienung des Feldtelefons zurück lassen. Aber wenn Sie sich hier ruhig verhal ten, passiert Ihnen nichts. Beim Morgengrauen wird bestimmt ein Wagen geschickt.« »Cal …« Es war Runyons Stimme, schwach, aber nicht länger vom Fieber verwirrt. »Du darfst die Stadt nicht angreifen.« »Wenn Sie möchten, Schwester, können wir Sie und Leutnant Runyon zu unserem Lager platz bringen.« »Cal«, versuchte es Runyon noch einmal, »Cal, hörst du? Sie denken anders als wir, diese Lehaunan. Ich bin sicher, daß sie glauben, der Waffenstill stand gelte noch bis zur Dämmerung. Ver stehst du nicht, was es dann bedeutet, wenn 30
du jetzt angreifst? Sie würden es als Beweis dafür nehmen, daß wir den Waffenstillstand brechen …« »Tut mir leid«, unterbrach ihn Cal, »wir wol len nur einem Angriff von ihrer Seite vorbeu gen, Leutnant. Und jetzt, Schwester …« »Du kannst das nicht tun«, protestierte Ru nyon, »es ist Mord.« »Was verstehst du denn davon, Feigling?« ex plodierte Cal plötzlich. »Du hattest eine Theorie über unsere Lage. Na wenn schon, werde selig damit. Zum Teufel mit deiner Ethik. Kannst ja sehen, ob sie dir dein Rückgrat ersetzt …« »Korporal!« Cal wurde von der kleinen, in der Dunkelheit unsichtbaren Hand der Schwe ster heftig beiseite gezogen. »Dieser Mann ist schwer verwundet. Und er steht im Offiziers rang. Sie können doch nicht …« »Ich befehle hier!« Cal befreite sich mit ei nem heftigen Ruck. »Denkt daran, beide! Wir sind im Krieg, und ich habe die Verantwortung. Tun Sie also, was ich sage!« Er drehte sich brüsk um und ging. »Cal!« Es war Runyons Stimme, die hinter ihm herrief. »Cal …« 31
»Walk?« fragte Cal, als er die Truppe wieder erreicht hatte. »Unterführer?« »Hier!« antwortete Walk, und auch die Un terführer meldeten sich. Zwischen den Geräu schen konnte er noch immer die Stimme von Runyon rufen hören, der sich gegen die Versu che von Schwester Anita, ihn zu beruhigen, wehrte. »Vorwärts, los, Leute!« Cal schritt voran und führte seine Leute am Fuß des Hügels der fer nen Stadt zu, deren Lichter sich am Himmel widerspiegelten. Hier setzte sein Erinnerungsvermögen aus. Später konnte er sich nur an unzusammen hängende Bruchstücke, wie in einem schlecht gedrehten Film, erinnern: Sie hatten sich aufgefächert und gingen in einer langen Schützenkette die andere Seite des Hügels hinab. Die Stadt lag vor ihnen, aber sie war noch weit weg und klein, von bern steinfarbenem Licht überstrahlt. Der Abhang war steil, und Cal hörte, wie einige der Männer strauchelten, weil ihre Ausrüstung zu schwer war, wie sie durch Kies und Steine ein Stück weit hinunterrutschten, bis sie in der Finsternis 32
wieder richtig Fuß gefaßt hatten. »Anschluß halten! Aufrücken, Leute!« mußte Cal immer wieder rufen. Schließlich antwortete ihm eine keuchende Stimme: »Verflucht noch mal, wie können wir denn zusammenbleiben, wenn ich mich selbst kaum auf den Beinen halten kann?« Ein hysterisches Lachen ertönte neben Cal – und brach ebenso schnell wieder ab, als hätte der Mann gemerkt, daß der Tod ihr Begleiter war. Sie waren zu einer weiten Schützenkette ausgeschwärmt und bewegten sich nun über den flachen Boden der bebauten Felder in Richtung auf den beleuchteten Rand der Stadt zu. Dort warteten sie darauf, daß Cal das Si gnal zum Angriff gab. »Cal?« Es war Walks Stimme, die urplötzlich und unheimlich nahe neben ihm ertönte. »Was tust du hier? Du sollst uns doch den Rücken decken!« zischte Cal. »Jawohl. Und ich gehe sofort wieder zu rück«, erwiderte Walk. »Wollte nur sehen, ob wir dich immer noch an der Spitze haben – das ist alles.« 33
Cal fühlte, wie ihn die Wut packte. Er atmete erst einmal tief ein, ehe er beherrscht sagte: »Mach, daß du auf deinen Platz kommst!« Walk lachte spöttisch, und das Lachen verlor sich langsam hinter Cal in der Nacht. Cal ging in gleicher Gangart weiter. Als er nur noch ein paar Meter von dem äußeren Ring der Lichter entfernt war, nahm er seine Signalpfeife in den Mund und gab das vereinbarte Signal. Mit gellendem Geschrei stürmten die terrani schen Soldaten vorwärts. Das grelle Licht machte sie zu schwarzen Schatten. Ihre Kampfanzüge wirkten plump und unbeweglich, aber sie wichen geschickt den kuppelförmigen Gebäuden und den anderen Auswüchsen auf den freien Plätzen aus. Ihre Waffen spieen kleine, blasse Flämmchen, und bei jedem Schuß hörte man einen trockenen Knall – wie das Brechen dürren Holzes. Cal brüllte auf und rannte vorwärts. Die Waffe in seiner Hand feuerte unaufhörlich. Es war eigentlich nur ein Tontaubenschießen, wie beim Schützenfest. Gegenwehr gab es kaum. Die Terraner rannten zwischen den Ge bäuden weiter und ermunterten sich dabei ge 34
genseitig durch Zurufe. Schwarzbepelzte tote Körper lagen zwischen den Gebäuden umher, manchmal halb zwi schen die dreieckigen Eingangstüren ge klemmt. Die Leuchtsäulen schienen gnadenlos auf sie herab und beleuchteten die ganze Sze ne mit ihrem grellen Licht. Auch die Häuser waren beschädigt worden. Schließlich kamen sie zu den hohen schwar zen Toren, hinter denen Cal das große Ge heimnis vermutete. Sie hatten die Schlösser zerschossen, aber die Tore selbst ließen sich immer noch nicht öffnen. Einer der Männer faßte sich ein Herz und begann an einer der schmaleren Leuchtsäulen zu wippen. Sie neigte sich nach vorn und fiel schließlich. Als sie den Boden berührte, prallte sie wieder zurück wie eine Feder. Als sie dann endgültig fiel, erwischte sie einen Soldaten, der nicht rechtzeitig zur Seite gesprungen war, am Bein. Der Soldat stürzte und blieb liegen. Sein Bein sah unterhalb des Knies seltsam verrenkt aus. Der Mann brach in schrille Schreie aus. Joby, der neben ihm stand, packte die Wut. »Warum paßt du nicht auf, wo du stehst?« 35
brüllte er den Mann mit dem gebrochenen Bein an. Der Verwundete verstummte urplötzlich. Walk feuerte die anderen an, die Säule hoch zunehmen. Zwanzig von ihnen packten zu. Cal fand sich an der Spitze der Männer wie der. Sie hielten die Säule wie einen Ramm block vor sich und rannten auf das Tor zu. Es dröhnte und bebte in seinen Fugen, und die Leuchtsäule prallte so heftig zurück, daß die Soldaten sie beinahe fallen gelassen hätten. »Noch mal!« brüllte Cal. Sie rannten wieder auf das Tor zu, und diesmal brach es auf und flog nach innen. Dort hatten sich einige Lehau nan mit Handwaffen versammelt und began nen sofort zu feuern. Sie hatten die Lehaunan überrannt. Es war nur eine Handvoll gewesen. Die Terraner schwärmten aus und liefen auf eins der last wagenähnlichen Fahrzeuge zu. Unter Einsatz aller Kräfte wurde eine Plane von dem Wagen gezogen. Darunter zeigte sich eine Ladung Ge steinsbrocken. »Erz!« rief irgendjemand. »Erzwagen!« Die Männer schrien vor Enttäuschung. Cal erstarrte. 36
Es war ihm, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen, als bräche das ganze Universum über ihm zusammen … Er saß auf einem der halbzylinderförmigen Auswüchse, mitten auf einem freien Platz zwi schen den kugeligen Häusern. Es dämmerte, und ein schwaches, rosagelbliches Licht über zog die Häuser. Ein kalter Wind war aufge kommen und spielte in dem Fell eines toten Lehaunan, der in unmittelbarer Nähe lag. Er wehte weiter und strich über die schwarzen Haare einer Lehaunanfrau, die in einen der dreieckigen Eingänge gefallen und dort liegen geblieben war. Ein junger Lehaunan – ähnlich dem, den Cal bei seinem ersten Besuch in der Stadt vertrie ben hatte – versuchte die Tote in das Haus zu ziehen und murmelte dabei vor sich hin. Er entdeckte Cal, und für einen kurzen Augen blick steckte er seine gelbe Nase forschend in Cals Richtung. Dann verschwand er. Cal saß da und sah zu, wie der Wind in dem Fell des Toten spielte, der in seiner Nähe lag. Er dachte an den Kleinen, den er gerade gese hen hatte, und seine Finger umkrampften die 37
Waffe, die auf seinen Knien lag. Das war alles. Er hatte das vage Gefühl, daß er vor einer be deutenden Entscheidung stand, aber es hatte keine Eile damit. Er sah wieder auf die Figuren, die der Wind in den schwarzen Lehaunanpelz zeichnete. Da war ein Geräusch direkt neben ihm, eine Stimme. Er sah sich langsam um. Es war der junge Lehaunan von eben. So aus der Nähe sah er noch vertrauter aus. Er hielt Cal ein schmutzi ges Stück Papier entgegen. »Kanchch …« sagte der Junge schüchtern. Cal starrte auf die kaum wiedererkennbare Zeichnung eines langohrigen Kaninchens. »Kanchch … chen?« fragte der Kleine. In dem wehenden Wind spürte Cal etwas Kaltes in seinem Gesicht. Er fuhr mit seiner Hand über das Kinn und die Backen, und sie kam naß zurück. Er weinte. »Kannechch… chen?« fragte der junge Le haunan hoffnungsvoll.
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DRITTES KAPITEL Das nächste, woran Cal sich erinnerte, war, daß er sich in einem weißen Bett wiederfand, fest verschnallt, damit er während des schwerelo sen Flugs nicht wegschweben konnte. Über sich sah er den Rahmen und die Federn eines anderen Bettes. Durch eine Menge solcher Bet ten hindurch konnte er ein Stückchen der Dek ke sehen, eine weiß lackierte Metallfläche. Er hatte einen dicken Verband um sein linkes Bein, und auch unterhalb des Brustkorbs waren weiße Bandagen. Er hörte das Stöhnen von Männern, deren Schmerzen nur unvollkommen von Betäubungsmitteln unterdrückt wurden. Schließlich kam ein junger Mann mit einer Hochdruckspritze zu ihm. »Wohin werde ich gebracht?« fragte Cal mühsam. »Zum HQ-Hospital, zurück zur Erde«, ant wortete ihm der Bursche. Er war sauber rasiert und hatte ein unbewegtes Gesicht. Er fand Cals Arm unter den Befestigungsriemen und zog ihn heraus. 39
»Was ist mit mir los?« »Nichts Schlimmes. Bein verbrannt«, ant wortete der Bursche kurz und drückte dabei die Spritze gegen Cals Arm. »Und ’nen kleinen Kratzer an der Seite.« Sein ausdrucksloser Blick traf Cals Augen. »Von einem Strahler, sagt der Bericht.« Er drückte auf den Knopf an der Spritze, und Cal versank wieder in Bewußt losigkeit. Danach begann ein Zeitraum, an den er sich nur verschwommen erinnern konnte. Das Bein begann zu schmerzen. Zwischen den Beruhi gungsspritzen, nach denen er immer sofort in tiefe Bewußtlosigkeit versank, merkte er nur dunkel, daß sie das Hospital des Hauptquartiers erreichten – es lag bei Denver, auf Terra – und daß man sein Bein operierte. Dann gab es eine kurze Zeitspanne, in der es ihm schien, als sei sein Geist vom Körper ge trennt. Plötzlich, ohne irgendeinen Übergang, fand er sich in dem Buchladen seines Vaters wieder. Sie waren in dem abgegrenzten Privat raum, in dem seines Vaters Sammlungen un tergebracht waren, keine Mikrofilme, sondern richtige, gebundene Bücher, die viele Regale 40
füllten. Cal stand vor seinem Vater, der hinter dem Schreibtisch saß, und sah ihn an. Ober dem Kopf seines Vaters sah er in einem ver goldeten Spiegel sein eigenes Gesicht – als Siebzehnjähriger. Und auf einem kleinen Bü cherbord darunter stand eine Schnitzerei, die Bellerophon zeigte, wie er das geflügelte Roß Pegasus raubte. Flankiert war sie zu beiden Seiten von weiteren Büchern, links die Werke von Spengler, rechts die von Churchill. Der starke Arm des griechischen Sagenhelden um schlang den Nacken eines geflügelten Wesens und zwang es zu Boden. Die Flügel waren aus gebreitet, wie um den Widerstand zu verstär ken, und der edelgezeichnete Pferdekopf war dem Gegner zugewandt. Die mächtigen Schul tern des Tieres krümmten sich vor Anstren gung, und nur ein Vorderbein war unter dem Druck des Mannes eingeknickt. »Natürlich kannst du mich daran hindern«, hörte sich Cal sagen, so wie er vor acht Jahren wirklich gesprochen hatte. »Ich bin noch keine achtzehn. Du kannst anrufen und sagen, ich hätte nicht deine Erlaubnis, mich freiwillig zu melden.« 41
Er sah auf seinen Vater herunter, der in sei nem alten Arbeitsstuhl mit den geschnitzten Armlehnen saß und seine sehnigen Arme auf den Schreibtisch gestützt hatte. Sein ruhiges, grobknochiges Gesicht blickte zu seinem Sohn empor. »Möchtest du, daß ich anrufe?« fragte er. »Du weißt, was ich möchte«, war Cals Ant wort. »Ja«, gab Leland Truant zu, »du möchtest zusammen mit anderen zu fremden Sternen aufbrechen, neue Welten unterwerfen …« Er unterbrach sich. »Nein, das ist unfair von mir. Du willst, wie einst Siegfried, den Drachen er schlagen, das ist alles. Es wundert mich nicht sehr.« »Und du …« Cal sah wieder im Spiegel sein weißes Gesicht, »möchtest, daß ich hier bleibe und zu den Partys deiner verweichlichten Freunde gehe.« »Jetzt bist du unfair«, erwiderte sein Vater. »Ich habe nie versucht, dich von meiner Le bensauffassung zu überzeugen.« »Nein! Das wäre nicht richtig, nicht wahr? Das wäre nicht der sanfte Weg, das wäre Ver 42
gewaltigung eines freien Geistes.« »Nicht ganz«, verbesserte der alte Truant. »Was heißt das: nicht ganz?« Cals Stimme überschlug sich. »Es wäre einfach nicht anständig – deshalb habe ich immer versucht, es zu vermeiden, dich von meinen Anschauungen zu überzeu gen. Ein Mann hat viel zu viel Gelegenheiten, seinen Sohn zu beeinflussen, auch unbewußt, ohne daß er es will.« Leland sah einen Augen blick seinen Sohn an. »Wenn du aufhörst, dir etwas vorzumachen, wirst du einsehen, daß ich recht habe. Das einzige, was ich immer getan habe, war, dir ein Beispiel zu geben. Bei deiner toten Mutter – ich glaube nicht, daß ich jemals etwas anderes getan habe.« »Aber du wolltest, daß ich so werde wie du, nicht wahr? Wolltest du das nicht?« »Natürlich«, erwiderte Cals Vater, »jeder, der einen Sohn hat …« »Du gibst es zu, siehst du? Du hattest vor …« »Nein! Ich habe nur gehofft. Und ich hoffe immer noch. Wenn du einmal älter bist, wirst du sicher auch zu einer anderen Lebensauffas sung kommen, die nicht das Kämpfen und Tö 43
ten als alleinseligmachend preist, egal wie man es rechtfertigt.« Er seufzte und rieb sich über die Augen mit einer Geste, die nur ein alter Mensch fertigbringt. »Ich gebe zu, daß ich ge hofft hatte, du würdest nicht zur Wehrmacht gehen, bis du reifer geworden bist. Aber ich habe vergebens gehofft. Wenn du also so fest überzeugt bist, dann solltest du deiner Über zeugung folgen.« »Du redest, als wäre es Mord«, gab Cal wü tend zur Antwort. »Es ist nicht Mord, wenn ein Soldat tötet!« »Nein?« fragte sein Vater. »Nie? Wenn ein Soldat tötet, ist das immer richtig?« »Ja.« »Wie kannst du nur so sicher sein?« Cal reckte sein Kinn herausfordernd: »Weil das Soldatentum etwas lehrt, nämlich Verant wortung. Jemand, der Verantwortung trägt, läßt sich nicht zu einem ungerechten Töten hinreißen, wie zu einem Mord.« Leland Truant schüttelte langsam seinen Kopf. »Ja, ich begreife, wie kristallklar und richtig das alles für dich klingt.« Er rieb sich wieder 44
über die Augen. »Aber du wirst bald lernen, daß das Leben verwickelter ist, als du jetzt meinst. Wir alle sind potentielle Mörder, Cal. Man braucht nur unsere Gefühle anzustacheln, und wir alle können dazu gebracht werden, zu morden. Und das nicht nur aus einer momen tanen Aufwallung heraus, sondern bewußt, grausam, ja sogar grundlos.« »Worte!« rief Cal. »Worte, Worte, Worte! Das ist alles, was du mir immer mitgegeben hast. Was hättest du getan, wenn Mutter noch lebte und irgendein Fremdling, vielleicht eine schuppige Echse, hier eingebrochen wäre, um sie zu töten?« »Ich hätte natürlich gekämpft«, antwortete sein Vater. »Ich hätte die nächstbeste Waffe ergriffen und versucht, ihn aufzuhalten, ihm den Garaus zu machen. Und wenn es mir ge lungen wäre«, seine Stimme bekam einen iro nischen Klang, »dann hätte ich zunächst mal wilden Triumph empfunden – ich war schließ lich damals, als deine Mutter noch lebte, ein gut Teil jünger –; und dann hätte ich mich vielleicht ein wenig vor mir selbst und meiner Fähigkeit gefürchtet, einen bewaffneten Ein 45
dringling zu erschießen. Später hätte sich dar aus langsam ein Gefühl der Überlegenheit ent wickelt und der Wunsch, damit zu prahlen.« »Dann hättest du dich also genauso verhal ten wie ich! Was ist dann so falsch an meinem Entschluß? Was?« »Nichts«, erwiderte ein Vater. »Du bist eben noch zu jung.« Er seufzte. »Außerdem ist es vor allem mein Fehler.« Cal starrte den alten Herrn an. »Deiner?« »Ja.« Leland nickte zu den Büchern, die ihn umgaben. »Ich habe geglaubt, die beste Art, einen jungen Mann auf den rechten Weg zu bringen, wäre, ihm so viel Wissen wie nur eben möglich zugänglich zu machen. Ich habe dich mit Bücherwissen vollgestopft, das mir Ver ständnis und Toleranz nahegebracht hat. Aber ich hatte vergessen, daß es ganz natürlich ist, wenn sich ein Sohn gegen den Standpunkt sei nes Vaters wehrt. Wo ich Tragödien sah, hast du nur Waffenklirren und Peitschenknallen ge hört. Doch du hast die wesentlichen Probleme des Lebens gar nicht begriffen. Und anderes ging einfach zu einem Ohr hinein und zum an deren wieder hinaus.« 46
Sein Vater beugte sich vor und spreizte bei de Hände auf die Tischplatte. Cal sah, wie die Adern auf den Handrücken dick hervortraten. »Ich weiß es«, fuhr sein Vater fort. »Ich weiß es, denn mit mir war dasselbe los, als ich jung war. Ich suchte auch nach dem rechten Glauben, schaute aus nach einem Banner, un ter dessen Schutz ich mich stellen konnte. Und das war gut so. So sollte man es machen. Aber dann, als ich das Symbol gefunden hatte, machte ich den Fehler, meinen Verstand nicht mehr zu benutzen. Ich dachte, wenn ich mich erst einmal einer guten Sache verschrieben hätte, daß dann alles, was ich täte, automa tisch gut wäre.« Er sah seinen Sohn lange und nachdenklich an. »Es ist nichts Unrechtes am Soldatentum, Cal, solange du dir deine eigenen Ideale bewahren kannst. Aber Gott helfe dir, mein Sohn, wenn du sie aufgibst.« Cal öffnete den Mund, um zu sprechen, aber seine Kehle war ausgetrocknet. »Ich tadle dich nicht, weil du dich meiner schämst«, sprach Cals Vater weiter. »Bei dei nem Alter muß es für dich doppelt hart sein, einen Vater zu haben, der nicht nur in seiner 47
Jugend gegen die jetzige Regierung opponierte, sondern der auch reuelos genug ist, immer noch an die Gleichberechtigung der Rassen zu glauben und an das friedliche Nebeneinander leben mit anderen Wesen oder Rassen.« Die Hände seines Vaters kamen plötzlich zur Ruhe, nun waren es die Hände eines alten und mü den Mannes. »Nein, ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst. Und ich täte es nicht, selbst wenn ich es könnte. Wir müssen jeder unseren eigenen Weg gehen – auch wenn es verschie dene Wege sind.« Der Raum schien über Cal zusammenzubre chen. Er glaubte innerlich zu explodieren. Der ganze angestaute Druck der letzten Jahre schwoll an, und Cal platzte mit den grausam sten Worten heraus, die er finden konnte. »Du hast sie immer gehaßt, weil sie dich nicht haben wollten! Deshalb ist sie umge bracht worden! Deinetwegen!« Vor Wut bebend sah er auf den Klumpfuß seines Vaters herab, der unter dem Schreib tisch hervorsah. Dann sah er wieder auf das Gesicht des alten Mannes und stellte fest, daß sich dessen Ausdruck nicht geändert hatte. Er 48
sah ihn traurig an. Cal fühlte, wie seine Wut dahinschmolz. Er verzweifelte. Er hatte das Schlimmste getan, er hatte in den tiefsten Wunden gebohrt. Aber sein Vater saß nur da und weigerte sich, einzusehen, daß er falsch gehandelt hatte. »Alexander der Große und Jesus von Naza reth haben beide große Reiche gegründet«, gab ihm sein Vater zur Antwort. »Wo sind die Anhänger Alexanders heute, Cal?« Cal wandte sich um und stürzte aus dem Raum, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Nebel lichteten sich. Er lag wieder in dem Krankenbett; diesmal in einem langen Raum mit einer ganzen Reihe von Betten an beiden Seiten. Drähte reichten von der Robot schwester, die neben seinem Bett stand, bis zu ihm hin und hielten ihn mit metallischer Un nachgiebigkeit fest. »Wie fühlen Sie sich, Korporal?« fragte die unartikulierte Stimme des Roboters vertrau lich. »Ganz gut«, murmelte Cal. Ein weißer, durchscheinender Plastikschlauch tauchte aus dem Körper des Roboters auf und 49
berührte sachte Cals Lippen. »Bleiben Sie schön ruhig, Korporal«, ertönte die Stimme wieder. »Schön ruhig bleiben. Trinken Sie das jetzt!« Es bereitete ihm Mühe, die Lippen zu öffnen und den Schlauch in den Mund zu nehmen. Dann aber floß eine kühle, nach Pfefferminz schmeckende Flüssigkeit über seine Lippen und erlöste seine trockene Kehle. Er schloß die Au gen, erschöpft von der kleinen Anstrengung. Das Bewußtsein, in einem Krankenhaus zu lie gen, verließ ihn erneut. Walk hatte damals draußen vor dem Rekru tierungsgebäude auf ihn gewartet. Cal sah, wie Walk unruhig auf und ab ging, während er langsam näher kam. Mit siebzehn war Walk dünn wie eine Bohnenstange gewesen. Und unter seinem glatten schwarzen Haar und den dunklen Brauen glühten zwei Augen in einem Feuer, das Fanatismus verriet. »Hast du mit ihm gesprochen?« überfiel er Cal. »Was sagt er?« »Es ist alles in Ordnung«, erwiderte Cal ton los. »Du bist also frei?« 50
Cal nickte. Er gab sich einen Ruck. »Und du?« Walk lachte. »Ich bin jetzt schon seit Monaten frei. Mein Alter ist froh, daß er mich los ist. Beinahe so froh, wie sie es ist.« Damit erinnerte er an sei ne Stiefmutter, die zehn Jahre älter als sein Vater war und diesen völlig unterdrückte. Bei Walk hatte sie es immer vergeblich versucht. »Ich werde überhaupt nicht mehr zurückge hen. Und du?« Cal schüttelte den Kopf. »Dann komm!« sagte Walk. »Willst du ewig leben?« Und er wandte sich um und steuerte auf den Eingang des Rekrutierungsbüros zu … VIERTES KAPITEL Cal erholte sich langsam und wurde in eine Ab teilung für Genesende verlegt. Diese Abteilung stand unter der Leitung von Anita Warroad, der zierlichen Schwester, die die Medikamente für Runyon, den Kontaktoffizier, gebracht hat te. Cal fragte sie nach Runyon, und sie sagte ihm, daß er gestorben sei. Es überraschte ihn, 51
daß sie sich deswegen Vorwürfe machte. Sie dachte, man hätte Runyon vielleicht retten können, wenn sie nur schneller gekommen wä re. Als die Tage vergingen und Cal wieder zu Kräften kam, merkte er, daß sie ihn auch als Frau anzog. Aber er durfte mit ihr keine Freundschaft schließen, denn sie stand ja im Offiziersrang. Aber dann, kurz bevor er entlas sen wurde, kam eine Kommission durch und beförderte ihn zum Leutnant. Walk – inzwischen auch Leutnant – und Jo by. besuchten ihm am nächsten Tag. Um die beiden Beförderungen zu begießen, hatten sie eine Flasche hereingeschmuggelt. Sie nahmen ein paar unerlaubte Drinks und ließen Cal dann die noch dreiviertel volle Flasche zurück. In je ner Nacht, nachdem das Licht aus war, begann er, selbst daraus zu trinken. Ehe er überhaupt etwas merkte, war die Flasche leer. Es war eine Ein-Liter-Flasche hochprozentigen, echten Whis kys gewesen, und er war ziemlich betrunken. Er legte sich flach auf den Rücken und hielt sich fest, damit der Raum aufhören sollte, sich wie ein Kreisel zu drehen. Nach einiger Zeit 52
ließ es auch wirklich nach, und er schlief ein. In der letzten Dunkelheit, so gegen vier Uhr morgens, wachte er wieder auf, schwitzend und mit völlig ausgetrocknetem Mund. Er trank Wasser aus dem Getränkeautomat auf seinem Nachttisch und legte sich wieder zu rück. Er fühlte sich hundeelend, er fürchtete sich und empfand seine eigene Nutzlosigkeit. Cal hoffte auf neuen Schlaf, aber alles, was er tun konnte, war, dazuliegen und die Vergan genheit an sich vorüberziehen zu lassen. Szene auf Szene trat in unnatürlicher Schärfe vor seine Augen. Er erinnerte sich an den letzten Streit mit seinem Vater, er machte nochmal die harte Grundausbildung als Rekrut mit, er dachte an die erste Prügelstrafe, die er miter lebt hatte … Der Soldat, den es erwischt hatte, war ein Anwärter aus seiner eigenen Kompanie. Er war siebzehn, genau wie Cal. Der Junge war be trunken gewesen, zum erstenmal in seinem Leben und auf seinem ersten freien Wochen ende. Er hatte einen Copter gestohlen und ei nen Unfall damit gebaut. Die Militärpolizei war als erste am Unfallort erschienen und hatte ihn 53
ins Militärgefängnis gebracht. Dann hatte sich das Oberkommando geweigert, ihn den zivilen Behörden zu übergeben. Den übrigen Anwär tern wurde gesagt, daß das Militär seine Ange legenheiten selbst regeln würde. Man hatte al len angerichteten Schaden wieder gutgemacht, dann mußte die Kompanie antreten, dem Sün der wurden zwanzig Stockschläge verabreicht, und schließlich wurde er mit Schimpf und Schande entlassen. Der arme Bursche war in seine Heimatstadt zurückgekehrt, fand dort aber die Tür seiner Eltern für ihn verschlossen – die Zeitungen hatten alles gehörig ausge schlachtet. Ein anderer Soldat aus derselben Stadt erzählte ihnen später, wie die Geschichte ausgegangen war. Eine Tante und ein Onkel hatten den armen Burschen endlich aufgenommen. Er bekam ei nen anständigen Job in der Reparaturwerkstatt seines Onkels. Die anderen Angestellten wag ten nicht, ihn allzu sehr wegen der Geschehnis se mit dem Copter zu hänseln, weil ja sein On kel der Chef war. Trotzdem aber – gute drei Monate später – hatte er sich auf dem Dach boden seines Onkels aufgehängt. Genau eine 54
Woche später wäre er achtzehn geworden. Cal selbst wurde es bei der Prügelstrafe kei neswegs schlecht, wie einigen anderen der An wärter. Aber immerhin lag er später doch auf seiner Koje und starrte leer vor sich hin. Jetzt, wo es vorüber war, begannen einige der weni ger empfindlichen Soldaten schon laut über die ganze Szene herzuziehen. Cal hörte sie schwatzen, und nach einiger Zeit erklang eine Stimme neben seinem Ohr. »He, Truant! Willst du den ganzen Tag da liegen?« »Und?« antwortete die Stimme Walks von der anderen Seite. »Was dagegen, Sturm?« »Nun«, antwortete Sturm unsicher. Nach sieben Wochen kannten inzwischen alle Anwär ter Walk, und niemand wollte Streit mit ihm. Er war bekannt als wilder Raufbold. »Es ist doch nicht sein Bruder gewesen, der die zwan zig Hiebe erhalten hat.« »Nein«, antwortete Walk, »aber er hat als Sechsjähriger gesehen, wie sein Vater sie be kommen hat.« »Sein Vater?« fragte Sturm. »Er hat’s gese hen? Seit wann läßt man denn Kinder …« 55
»Es war nicht beim Militär«, erklärte ihm Walk. In seinem Bett preßte Cal verzweifelt seine Augen zu. »Erzähl es nicht!« versuchte er lei denschaftlich Walk zu beeinflussen, »Sei still!« Aber Sturm fragte schon weiter. »Nein! Wie kam es denn dazu?« »Es war damals während der Unruhen für die Freien Wahlen. Man sandte eine bewaffnete Abordnung in unsere Stadt, um den Aufruhr niederzuwerfen. Der Reserveoffizier dieser Gruppe träumte anscheinend von Ruhm und ähnlichen Dingen. Er ließ eine Reihe der Auf rührer festnehmen und bearbeitete sie, um ih ren Anführer in der Stadt zu finden. Es gab gar keinen Anführer, aber schließlich erfuhr er den Namen des bedeutendsten Vertreters für die Freien Wahlen. Es war Cals Vater.« »Well, zur Hölle, wenn er einer von jenen …« »Einer von jenen!« spottete Walk. »Der alte Truant hatte seine Nase nie vor die Tür ge steckt. Seine Frau war in anderen Umstanden, und er wartete bei ihr, um sie jeden Augenblick ins Krankenhaus bringen zu können. Der Cap tain sandte einen Trupp, um Cals Vater zu ver 56
haften. Der sagte seiner Frau, es wäre nichts, und er wäre bald zurück. Aber von ihrem Fen ster auf der ersten Etage konnte sie den Platz vor ihrem Haus beobachten. Fünfzehn Minuten später konnte sie sehen, wie eine Menschen menge zusammen mit den Soldaten Cals Vater zu einem Pfahl schleppte. Sie sandte Cal vor aus, um ihnen zu sagen, sie möchten warten, sie würde versuchen zu kommen. Aber sie fiel die Treppe hinunter, hatte eine Fehlgeburt und verblutete. Nun, hast du immer noch schlaue Fragen an Cal?« Ein drückendes Schweigen folgte. »Well«, sprach schließlich die Stimme von Sturm wieder, »wie kam es, daß der Captain das Recht hatte, so mit einem Zivilisten zu ver fahren?« »Er hatte es gar nicht«, antwortete Walk. »Es scheint, als hätte man ihn danach ausge bootet. Der alte Truant hat später ein Ent schuldigungsschreiben von der Regierung er halten, mit dem Angebot, alles wieder gutzu machen. Aber bis dahin war seine Frau bereits unter der Erde und die fünfzig Hiebe waren verschmerzt. Außerdem – er ist ein sehr de 57
mütiger Mensch, er will allen Menschen ein gu tes Beispiel und Vorbild sein.« Es trat eine Gesprächspause ein, die sich länger und länger ausdehnte; dann hörte man Sturms Schritte, die sich entfernten. Das Ge spräch wurde in einem entfernteren Teil des Raumes leise wieder aufgenommen. Nach einer Weile ertönte der Gong zum Essen, und die Stimmen verloren sich nach draußen und lie ßen eine wohltuende Stille hinter sich zurück. In diese Stille sprach plötzlich Walks Stimme, ganz nah an Cals Ohr. »Du bist nicht der einzige, der es nicht so gut hat. Denk mal dran.« Dann verließ auch Walk den Raum. Sechs Wochen später – sie waren inzwischen befördert worden und hatten ihren ersten zehntägigen Urlaub – fuhren Cal und Walk nach New Orleans und verbrachten dort ihre freie Zeit. Cal ging nicht mehr nach Hause zu rück, auch später nicht. Anderthalb Jahre da nach – er war gerade für den Feldzug gegen die Griella eingeschifft worden – erhielt er von einer Kusine die Nachricht, daß sein Vater ge storben war… 58
Endlich dämmerte es. Nach dem Frühstück teilte man Cal mit, daß er sich in der Untersu chungs-Abteilung zu einer letzten Untersu chung zu melden hätte. Er hatte das frühe stens in der nächsten Woche erwartet und be fürchtete jetzt, daß man seinen Kater merken und Fragen stellen würde. Aber er passierte alle Abteilungen, ohne daß die untersuchenden Ärzte irgendwelche Fragen stellten. Schließlich fand er sich in der Psychiatrischen Abteilung wieder. »Nehmen Sie Platz, Leutnant«, sagte der Psycho-Offizier, ein kleiner Mann im Rang eines Majors, mit einem freundlichen Gesicht und ei nem großen, dunklen Schnurrbart. Er war kaum älter als Cal. »Wollen mal sehen …« Der Offizier durch blätterte etliche Akten und Diagramme von den verschiedensten Untersuchungsmaschinen. »Wie fühlen Sie sich, Leutnant?« »Gut«, antwortete Cal. »Mein Bein ist nicht steif, und man kann kaum die Narbe sehen.« »Sie hatten auch eine Strahlenverbrennung an der Seite?« Sein Gegenüber studierte die Papiere. 59
»Ein kleiner Kratzer. Ist schon vor langer Zeit verheilt.« »Ja. Ziemlich eigenartig, daß es eine Strahl verletzung war. Sie haben nicht eine Idee, wie das passieren konnte?« »Nein, Sir«, antwortete Cal. »Ich war damals ziemlich am Ende meiner Kräfte, weil mir der Schlaf einer ganzen Woche fehlte. Ich kann mich an die Geschehnisse nur verschwommen erinnern.« »Ja, ich verstehe«, antwortete der Major und prüfte dabei eines der Diagramme. »Es fehlen gut sechzehn Stunden in Ihrem Gedächtnis bis zu dem Zeitpunkt, als Sie auf das Lazarett schiff kamen. Und offenbar hat man Sie in der Zeit irgendwo mit einem Strahler erwischt. Hmm. « Er runzelte die Stirn. »Es wäre keine schlechte Idee, Leutnant, wenn wir eine volle Psycho-Untersuchung machten und uns die Tatsachen aus Ihrem Unterbewußtsein heraus holten. Tatsächlich würde ich das begrüßen.« Cal fühlte die Kälte des Raumes in sich ein dringen. Langsam krampfte sich sein Magen zusammen, und er spürte eine bange Furcht. »Sir«, begann er langsam, »muß ich dem zu 60
stimmen?« »Nein«, antwortete der Psycho-Offizier und sah ihn dabei an, »natürlich nicht. Es ist Ihnen vollkommen freigestellt, ob Sie zustimmen wollen oder nicht. Ganz wie Sie wünschen. Aber ich könnte mir vorstellen, daß Sie sicher selbst gern wüßten, ob in der aus Ihrem Ge dächtnis entschwundenen Zeitspanne nicht ir gendetwas geschehen ist, das Ihnen später Är ger bereiten könnte.« Er machte eine Pause. »Wir brauchen Ihre Entlassung deswegen nicht aufzuschieben. Sie können gehen und dann für einen Drei-Tage-Test wiederkommen, wann es Ihnen am besten paßt.« »Ich glaube nicht, daß es den Aufwand lohnt, Major.« »Wie Sie meinen, Leutnant.« Der Major machte einige Notizen auf seinen Papieren, schrieb ein, zwei Zeilen und unterzeichnete dann. »Das ist alles.« Cal stand auf. »Danke, Sir.« »Keine Ursache, das ist ja mein Beruf. Viel Glück, und amüsieren Sie sich gut.« »Das werde ich, Sir.« Cal verließ den Raum. 61
Er kam in die Genesungs-Abteilung zurück und fand dort Anni Warroad als diensthabende Schwester. Sie sah ihn seltsam an und ging in ihr Büro. Er folgte ihr. »Was ist los?« fragte er. Sie stand hinter ihrem Schreibtisch. Als Antwort zog sie ein Schubfach auf und zeigte ihm die leere Whiskyflasche. »Well, du kennst die Vorschriften«, sagte er. »Frag mich aus.« »Du weißt, daß ich das nicht tue«, erwiderte sie und schloß das Fach wieder. »Ich werde sie hinausschaffen. Es ist nur …« Sie brach plötz lich ab und biß sich ärgerlich auf die Unterlip pe. Er war überrascht, als er merkte, wie nahe sie den Tränen war. »Es ist dieser Walk«, platzte sie dann heraus. »Er ist ein Schwächling. Aber wenn du mit ihm zusammen bist …« Sie biß sich wieder auf die Lippen, wandte sich um und verließ schnell das Büro. »Schwach!« wiederholte er ihre Worte. »Walk schwach?« Er öffnete seinen Mund, um über diese lächerliche Vorstellung zu lachen, aber er fand, daß er nicht lachen konnte. Das 62
Gefühl der Wertlosigkeit, das ihn diese Nacht gepackt hatte, kam wieder auf. Er ging aus dem Raum, um Annie zu suchen. Sie war da bei, energisch die Bestände des Labors aufzu füllen. Sie wandte sich ab, als sie sah, daß er hereinschaute. Cal ging zurück zu seinem Bett. Dann legte er sich hin und starrte die weiße Decke an. FÜNFTES KAPITEL Nach drei Tagen wurde er entlassen. Annie fand schnell wieder zu ihrer alten Freundlich keit zurück. An dem folgenden Wochenende nahm Annie drei Tage Urlaub, und sie fuhren zusammen nach Mexico City. Sie hatten sich vorgenommen, die Stadt auf den Kopf zu stel len. Aber sie landeten schließlich in den Ber gen, in dem kleinen Ort Texco, wo man Silber und Obsidian schürfte. Dort saßen sie auf einer offenen Terrasse im Sonnenschein, eine Flasche Wein vor sich auf dem Tisch, glücklich und oh ne das Bedürfnis, viel zu sprechen. Zum er stenmal, solange Cal zurückdenken konnte, spürte er Frieden in seiner Seele, und er merk 63
te, daß er zu Annie offener sprechen konnte, als zu irgendjemand anderem zuvor. Manchmal kamen ihm Dinge über die Lippen, über die er selbst am meisten überrascht war. Am näch sten Morgen, als Annie von demselben Frieden in ihrer Seele gesprochen hatte, der auch ihn erfüllte, brachte er es über seine Lippen. »›So kam der Frieden‹«, er brach schnell ab. »Nichts«, antwortete er auf Annies fragenden Blick. »Nur ein Gedicht, an das ich gerade den ken mußte.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, warum. Es paßt nicht mal.« Aber sie wollte es hören, und so zitierte er zwei Zeilen aus ›Das letzte Turnier‹ von Ten nyson: »›So kam der Frieden ins Land herein, aber im Herzen Arthurs herrschte die Pein.‹« Während er die Verse sprach, runzelte er die Stirn und versuchte zu begreifen, warum von allen Gedichten ausgerechnet dieses ihm hier, in der Morgensonne von Texco, in den Sinn kam. Als er aufblickte, sah er, daß Annie ihn mit einem seltsamen Blick betrachtete. »Ist was?« fragte er. »Ich wundere mich nur, weil ich dich eigent 64
lich nie viel lesen sah«, antwortete sie. »Be sonders keine Gedichte.« Er lachte. »Das ist auch nur etwas für Leute, die nichts besseres zu tun haben. Wie wär’s, wenn wir heute nachmittag nach Acapulco hi nunterführen, um zu schwimmen?« Und so vergingen die drei Tage. Annie mußte zum HQ-Hospital nach Denver zurück, und für Cal begann eine Zeit, in der er nichts anderes tat, als die Stunden totzuschlagen und seine angehäuften Ersparnisse auf den Kopf zu hau en. Das dauerte vier Monate; in der Zeit erhielt er auch noch den Sternen-Orden, den er der Liste seiner Auszeichnungen hinzufügte. Dann drangen die Gerüchte über eine neue Expediti on zu ihm und brachten ihn zum Rekrutie rungsbüro nach Denver zurück. Es war inzwi schen März geworden. Cal ging geradeswegs in das für ihn zuständige Büro. Der Chinook, ein warmer, trockener Wind von den umliegenden Bergen, strich über die Straße und schmolz den letzten Rest eines ver späteten Schneefalls weg. Der Wind wehte kühl über Hände und Gesicht, aber der plötzli che Temperaturumschwung ließ ihn in der Uni 65
formjacke schwitzen. Das Kleidungsstück fühlte sich für ihn nach all den Monaten in ziviler Kleidung ungewohnt an. Sein Kopf war noch benebelt von den Nachwirkungen eines Katers. Er betastete mit den Fingerspitzen die Medaillen spangen an seiner Brust, dann ging er hinein. Der Abteilungsleiter, der sein Gesuch entge gennahm, verlangte von der Zentrale Cals Pa piere. Als sie auf dem Videoschirm vor ihm er schienen, sah er sie sorgfältig durch. »Es tut mir leid, Leutnant«, sagte er schließ lich, »ich kann Sie noch nicht einteilen.« »Noch nicht?« fragte Cal. Während er den Abteilungsleiter ansah, ent deckte er plötzlich in dessen Augen den glei chen seltsamen Blick, den er schon bei dem Psycho-Offizier bemerkt hatte, und davor schon im Gesicht des jungen Burschen auf dem Hospitalschiff. Er hatte ihn auch bei Annie ge sehen – er erinnerte sich jetzt – , als er die beiden Zeilen aus dem Gedicht von Tennyson zitiert hatte. Und nun entdeckte er ihn wieder, in dem höflichen aber verschlossenen Gesicht dieses Unteroffiziers. 66
»Sie können mich noch nicht einteilen?« fragte Cal noch einmal. »Es tut mir leid, Sir, Sie haben Ihre PsychoUntersuchung noch nicht machen lassen.« »Das wurde auch nicht verlangt.« »Ja, ich weiß, Sir. Aber in Ihrem Fall hier scheint es so, als hätte der Psycho-Offizier es als Bedingung für eine Wiederverwendung ver langt.« »Hören Sie«, erwidert Cal, »da muß auf meinen Originalpapieren ein Fehler sein, viel leicht ist es im Hospital passiert. Glauben Sie, daß ich für einen Moment mit Ihrem komman dierenden Offizier sprechen könnte?« »Ich werde sehen, ob es sich machen läßt, Leutnant.« Der Abteilungsleiter verschwand. Ein paar Minuten später kam er zurück und führte Cal in das Büro Oberst Haga Alts, von dem Cal wußte, daß er General Harmons rechte Hand in dem Feldzug gegen die Lehaunan gewesen war. »Es tut mir leid, Sie zu stören, Sir«, sagte Cal. »Ich warte gerade auf General Harmon – wir wollen die Ausrüstung auf den neuesten Stand 67
bringen. Ich habe ein paar Minuten Zeit für Sie, Leutnant.« Alt war ein dunkelhaariger, drahtiger Mann Anfang der Vierzig, ein wenig kleiner als Cal. »Sie waren Pionier im Lehau nan-Feldzug?« »Jawohl, Sir.« Cal merkte, daß er sehr ner vös war. Er riß sich zusammen. »Vierter An griffsflügel.« »Ich erinnere mich. Sie bekamen den Ster nen-Orden für die Eroberung jener Stadt mit der Kraftstation. Das war eine gute Leistung.« »Vielen Dank, Oberst. Es war ja eigentlich nicht nötig …« »Dinge, die ›nicht nötig‹ sind, betrachten wir gewöhnlich als unsere Hauptaufgabe, Leutnant. Ein altgedienter Soldat wie Sie sollte das wis sen. Zigarette?« »Nein, danke, Sir.« Cal beobachtete, wie der Oberst sich eine ansteckte. »Der Abteilungslei ter draußen …« »Ja?« Alt nahm die Zigarette aus dem Mund, stäubte die Asche ab und beugte sich in sei nem Stuhl vorwärts, um auf seinen Video schirm zu sehen. Er beobachtete den Schirm eine Sekunde lang. »Ja.« 68
Er lehnte sich wieder zurück, der Stuhl sprang sofort in eine bequemere Stellung. »Es gibt keinen Grund, wie die Katze um den hei ßen Brei herumzuschleichen, Leutnant. Der Psycho-Offizier des Entlassungs-Komitees ver mutete offenbar, daß Sie irgendeinen psycho logischen Defekt davongetragen haben, der Sie für Ihre Weiterverwendung untauglich macht. Es ist selbstverständlich nur eine Vermutung. Warum gehen Sie nicht zu den Seelendoktoren ’rüber und lassen sich untersuchen? Dann gel ten Sie als geheilt.« Alt lehnte bequem in seinem Stuhl. Seine Augen waren weder kalt noch warm. Cal wurde plötzlich bewußt, daß eins seiner Beine so weit ausgestreckt war, daß der schwere Stiefel auf der anderen Seite unter dem Schreibtisch her vorschauen mußte, wo Alt ihn sehen konnte, wenn er herunterblickte. Das mußte ungehörig aussehen. Schnell zog Cal das Bein zu sich her an. Sein Herz begann zu klopfen. Alt wartete immer noch auf seine Antwort. Der Raum schien vor seinen Augen zu verschwimmen. »Alexander der Große …« begann Cal. »Bitte?« Der Oberst runzelte die Stirn. 69
»Entschuldigung, Sir.« Cal packte mit festem Griff die Armlehnen seines Stuhls. Der Raum nahm vor seinen Augen wieder Gestalt an. »Ich glaube, ich kann die Sache nicht gut er klären. Was ich meine, ist … Ich fürchte, daß eine Psycho-Untersuchung irgendetwas ans Tageslicht bringt, das vielleicht besser nie …« »Die Chancen dafür stehen eins zu ein paar hundert«, gab Alt trocken zurück. »Aber wenn es passiert, wäre meine Karriere zu Ende.« »Richtig«, gab Alt zu. »Die Untersuchung wird entweder zeigen, daß in Ihrem Gedächt nis auf der Lehaunan-Welt nicht Schlimmes geschehen ist, oder aber die Ärzte werden et was Wichtiges ausgraben, und das können sie am besten, solange es noch frisch im Unterbe wußtsein ist. Und das kann dann bereinigt werden. In jedem Fall werden Sie zum Schluß wieder für den Dienst fit sein.« »Jawohl, Sir.« Cal atmete tief ein. »Aber würden Sie, Oberst, nur auf diese Wahrschein lichkeit hin Ihre Karriere aufs Spiel setzen, wenn Sie selbst wüßten, daß das überhaupt nicht notwendig ist?« 70
»Ich würde es nicht tun, Leutnant«, erwider te Alt. »Aber was hat das mit dieser Situation zu tun?« »Nichts, glaube ich«, sagte Cal niederge schlagen. Er wartete darauf, daß der Oberst ihn entlassen würde, aber der saß nur da und blickte ihn forschend an. »Zur Hölle!« sagte Alt schließlich und schob seine halb gerauchte Zigarette in den Ascher. »Wollen Sie mir Ihre Version erzählen, warum diese Psycho-Untersuchung in Ihren Papieren angeordnet wurde?« »Jawohl, Sir.« Cal sah einen Moment lang aus dem Fenster auf die majestätischen Berge. Die Worte kamen ihm leicht von den Lippen, als hätte er sie vorher geprobt. »Ich habe eine Amnesie, die die Zeit während und kurz nach dem Angriff auf die Lehaunan-Stadt betrifft, vor allem aber die Zeit nach meiner Verwun dung. Aber zu der Zeit war ich ununterbrochen seit ungefähr sechzig Stunden allein verant wortlich für den Vierten Angriffsflügel, und ich habe während der Zeit kein einziges Mal ein Auge zutun können. Wir waren in einer schwierigen Lage und standen unter dem 71
Druck des Gegners. Die Wahrheit ist, daß ich während der ganzen Zeit völlig übermüdet war. Deshalb kann ich mich nicht mehr erin nern.« »Verstehe.« Alt sah ihn einen Moment lang aufmerksam an, dann stand er auf. »Warten Sie hier einen Moment, Leutnant!« Er verließ den Raum. Cal blieb ungefähr zehn Minuten lang allein in dem sauberen, hellen Büro des Oberst. Dann kam Alt zurück, gefolgt von einem großen, mageren Mann, der mit ihm Schritt hielt, als müßten sie zu Trommelklängen exerzieren. Drei goldene Sterne prangten an seinem Rockauf schlag. Cal sprang auf und nahm Haltung an. »Hier ist er«, sagte Alt zu dem großen Mann. »Leutnant!« wandte er sich an Cal. »General Harmon möchte mit Ihnen sprechen.« »Vielen Dank, Sir.« Eisgraue Augen schauten Cal forschend an, als sie einander die Hände schüttelten. »Sie haben diesen Sternen-Orden verdient, Leutnant … Truant, nicht wahr? Der Oberst hier hat mir berichtet, daß Sie wieder mit Ihrer alten Truppe fliegen möchten.« 72
»Jawohl, General.« Harmon wandte sich um und ging auf die Wand links von ihm zu. Er drückte auf einen Knopf, und die Oberfläche wurde transparent und zeigte einen schwarzen Hintergrund, auf dem eine weiße Zeichnung erschien. »Erkennen Sie das, Leutnant?« »Jawohl, Sir. Ein Raum-Plan. Unser Territo rium im Orion-Gebiet.« »Richtig. Sie haben eine gute OffiziersSchule besucht.« »Keine Offiziers-Schule, Sir. Nur N.C.O. für die niederen Dienstgrade.« Harmon hob seine Augenbrauen. »Wir unterrichten Raumtaktik jetzt auch schon in der N.C.O.?« »Nein, Sir. Ich … habe es mir selbst beige bracht.« »Sehr tüchtig. Nun, schauen Sie her.« Har mon drückte einen anderen Knopf, und eine rote Linie entsprang von einem Zentralpunkt und bewegte sich durch das Diagramm. »Wo für halten Sie das?« Cal überlegte einen Moment. »Ein Plan unseres Vormarsches in jenes Ge 73
biet, Sir. Seit dem allerersten Anfang; seit der Einigung der Völker – Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Bis zu der Linie, die wir im Kampf mit den Lehaunan erreicht haben.« »Und bis auf vierzig Lichtjahre an das näch ste Sternsystem der Oriongruppe.« Harmon sah zur Seite und auf Cal herab. »Leutnant, warum sind wir interessiert an – sagen wir mal«, er deutete mit dem Zeigefin ger auf einen der Orion-Sterne, »an Bellatrix?« »Nun«, antwortete Cal, »er ist eben der nächste auf der Liste.« »Liste?« »Sir?« »Ich fragte, welche Liste?« wiederholte Har mon gelassen. »Welche Liste meinen Sie?« Cal straffte sich in seiner Uniform. Der Raum schien auf einmal wie mit Elektrizität geladen zu sein. »Keine Liste, Sir«, antwortete er dem Gene ral. »Ich meinte, Bellatrix ist das nächste Sy stem, auf das wir im Verlauf unserer normalen Expansion in den Raum stoßen werden.« »Und wenn wir unsere normale Expansion abstoppen würden?« 74
Cal sah überrascht auf. Aber Harmon stand bloß da und wartete auf Antwort. »Das können wir uns gar nicht leisten, Sir«, sagte Cal langsam. »Die Bevölkerung wächst immer weiter – dazu kommt das natürliche Verlangen nach Eroberung; wir würden rassi schen Selbstmord begehen, wenn wir die Ex pansion in den Weltraum nicht fortsetzen.« »Wirklich, Leutnant? Warum?« »Warum …« Cal suchte nach Worten und Re dewendungen, die er schon lange nicht mehr benutzt hatte. »Das Anhalten unseres natürli chen Expansionsdranges würde einer Selbst verstümmelung gleichkommen, es würde das Ende unserer Rasse bedeuten. Wir würden un sere Rohstoffquellen aussaugen, und wir wür den der ersten Fremdrasse, die sich in unsere Richtung ausbreitet und sich einen praktische ren Sinn bewahrt hat, zum Opfer fallen.« »Sehr richtig«, gab Harmon zur Antwort. »Aber ich habe Sie nicht nach dem gefragt, was jeder schon in der Schule lernt.« Er wand te sich jetzt Cal voll zu. »Ihre eigenen Gefühle interessieren mich. Sie sind ein altgedienter Soldat. Sie haben den Waffen der Griella und 75
Lehaunan gegenübergestanden. Was denken Sie?« »Wir müssen weitermachen«, antwortete Cal, »wir müssen.« Er sah Harmon gerade in die Augen. »Wir müssen gewinnen und die Stärkeren bleiben. Jedesmal, wenn irgendje mand an das bessere Ich eines anderen appel liert, trägt jemand den Schaden davon. Wir hatten einen Kontaktoffizier bei unserer Trup pe, als es gegen die Lehaunan ging. Es war noch Waffenstillstand, und er ging über ihre Linien, um mit ihnen zu sprechen – nur um mit ihnen zu sprechen. Er trug ein Tonbandge rät bei sich … und sie schossen auf ihn … sie schossen auf ihn …« Cal versagte die Stimme. Er brach ab. »Der einzig sichere Weg ist, im mer an der Spitze zu sein. Immer an der Spit ze. Dann kann man sicher sein, daß niemand auf einen schießt. Man muß immer der Gewin ner sein!« Er hielt inne. Für einen Moment stand eine seltsame Stille im Raum, und dann pfiff Alt zweimal leise durch die Zähne, während er auf den Raum-Plan sah. Er hob seine Brauen. Harmon legte seine Hand auf Cals Arm. 76
»Sie sind ein guter Mann, Leutnant«, sagte er. »Ich wünschte, nur die Hälfte der Männer in der Regierung dächten so wie Sie.« Er ließ Cals Arm wieder los. »Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen«, fuhr er fort und wandte sich dem Plan auf der Bildscheibe wieder zu. Sein Finger deutete auf einen hellen, weißen Punkt, jenseits der entferntesten Stelle, die die rote Linie erreicht hatte. »Bellatrix«, sagte er. Er sah wieder auf Cal. »Das System ist unser nächstes Ziel, Leut nant. Es gibt dort zwei Planeten, die wir benö tigen. Einer von ihnen stünde uns sofort zur Verfügung, aber auf dem anderen lebt eine Rasse, die sich Paumons nennt. Ein rothäuti ges, haarloses Volk von Humanoiden, die uns ähnlicher sind als jede andere Rasse, der wir bisher begegneten. Sie werden uns einen Emp fang bereiten, daß wir denken werden, die Griellas und Lehaunan und all die anderen wä ren nette alte Damen, die zum Kaffeeklatsch zusammenkommen. Wir bereiten gerade den Feldzug gegen diese Paumons vor, und Ihre al te Truppe wird auch dabei sein, wenn wir los 77
ziehen.« Harmon machte eine Pause und sah Cal direkt in die Augen. »Aber ich fürchte, Leutnant, Sie werden nicht auf der Liste ste hen.« Er machte wieder eine Pause. »Es tut mir leid«, fügte er dann hinzu. »Jawohl, Sir«, antwortete Cal automatisch. »Sehen Sie«, sprach der General langsam weiter. »Ich habe nicht das Recht, das Leben der Männer, die unter Ihnen dienen würden, zu riskieren, indem ich jetzt die Ärzte auffordere, bei Ihnen eine Ausnahme zu machen.« »Ja, ich verstehe, Sir.« »Andererseits …« Harmon drückte den Knopf unter dem Bildschirm mit der Faust ein, und das Bild verblaßte. An seine Stelle trat die blanke Wand. Harmon wandte sich wieder an Cal. »Da ist der Vorschlag, den der Oberst mir gegenüber soeben erwähnte.« »Sir?« Cal hörte kaum mehr zu. »General Walt Scoby, der Führer der Kon takt-Abteilung – sicher kennen Sie ihn – , wird persönlich an dem Feldzug gegen die Paumons teilnehmen. Er fragte mich gestern noch, ob ich nicht irgendeinen guten Mann wüßte, der 78
als Kontakt-Offizier in Frage käme.« Harmon lächelte ein wenig. »Er hat schon seine Mühe, erfahrene Soldaten für seine Ableitung zu be kommen. Natürlich betrifft der Einwand der Psycho-Abteilung gegen Sie nur Ihre Teilnah me am Kampf. Wenn Sie unter General Scoby dienen wollen, werden Sie mit uns anderen kommen können, wenn auch unbewaffnet.« »Kontakt-Dienst?« Cal hob seinen Kopf. »Ich weiß, was Sie denken, Leutnant. Auf der anderen Seite aber brauchen wir Leute wie Sie dringend.« Harmon lächelte. »Ich kann Ih nen ruhig sagen, daß ich gar nichts dagegen hätte, wenn ich einen Mann wie Sie in General Scobys Mannschaft: wüßte. Sie müssen das so sehen: Sie würden gewissermaßen immer noch für die kämpfende Truppe arbeiten, indem Sie eine Brücke zwischen uns und dem KontaktDienst schlagen könnten.« Er machte eine Pause. »Well, es liegt allein bei Ihnen, Leutnant. Ich möchte Sie nicht zu etwas überreden, das Sie später bedauern würden.« Er streckte seine Hand aus, und Cal schüttel te sie, ehe er sich versah. 79
»Und viel Glück, Leutnant Truant. Calvin Truant, nicht wahr?« »Jawohl, Sir.« »Viel Glück, Cal.« Dann wandte er sich von Cal ab und war ver schwunden. Einige Zeit später fand sich Cal auf dem Ge lände der Terranischen Militär-Organisation wieder. Er stand auf dem schmalen Weg, der das Gebäude für die Einstellung von dem alten Gemäuer trennte, in dem die erst zehn Jahre alte Kontakt-Organisation untergebracht war. Er hatte zwei Wochen gebraucht, um festzu stellen, daß irgendein Dienst für ihn immer noch besser wäre als gar keiner. Er stieg die Steintreppe hinauf und trat ein. Die Büros sahen überfüllt aus, und eine Menge Zivilisten arbeitete zwischen den Soldaten. Cal fand die Anmeldung und nannte der Frau im Büro seinen Namen. Er hatte am Tag vorher sein Stellungsgesuch auf normalem Weg einge reicht, und überraschenderweise war noch am selben Abend die Antwort gekommen, daß Ge neral Scoby ihn gerne persönlich gesprochen hätte; am besten, gleich am folgenden Tag ge 80
gen vierzehn Uhr. Cal war das recht, er hatte keinerlei andere Verpflichtungen. Eigentlich war es ihm egal. Und nun war er hier, und es kam ihm wie ein Gang zum Friseur vor. Die Empfangsdame – eine Zivilistin – ließ ihn nicht lange warten. Dann rief sie ihn und brachte ihn persönlich zu General Scoby. Als er durch die Tür trat, bemerkte er im hellen Sonnenlicht, das durch zwei hohe Fen ster hereinfiel, zwei Wesen. Einen älteren Mann, der hinter seinem Schreibtisch saß, und dann ein hochbeiniges, katzenartiges Tier von der Größe eines Leoparden und mit einem blassen, glänzenden Fell, das von schwarzen Flecken durchsetzt war. Das Tier trug einen ledernen Maulkorb, von dem ein Handgriff steif nach oben führte. Die große Katze lag in einer Ecke des Raums und ruhte sich aus. Sie hob ihren Kopf, als Cal eintrat, und die gelben, prü fenden Augen trafen für einen Moment Cals Blick. In diesem Sekundenbruchteil spannte sich Cal, dann aber ging er weiter, als wäre nichts geschehen. »Gute Reaktionen«, sagte der Mann hinter 81
dem Schreibtisch und hob dabei seinen Kopf, den eine wirre Mähne grauen Haares bedeckte. »Setzen Sie sich, Leutnant.« Cal setzte sich vor den Schreibtisch, während das Tier sich geschmeidig wieder zurücksinken ließ. Dann blickte er General Scoby erwar tungsvoll an. Er sah einen schon älteren DreiSterne-General mit buschigen Brauen und Haaren, etwas zur Fülle neigend, eine Pfeife im Mund und die Uniformjacke am Hals aufge knöpft. Eine Krawatte trug der General nicht. Völlig unpassend zu dieser lässigen Bekleidung wirkte die schwarz-weiße Borte des Stoßtrupp kommandos, die an seinem Hemdkragen prangte. Seine Stimme klang rauh und heiser, mit einem Unterton chronischer Verbitterung. Er nahm seine Pfeife aus dem Mund und deutete mit ihr auf die Katze in der Ecke. »Eine Cheetah«, sagte er, »heißt Limpari. Mein wachsames Auge.« Cal versuchte, an nichts zu denken, während er den General ansah. »Meine Augen sind nämlich nicht mehr viel wert. Ich leide unter periodischen Sehstörun gen.« Scoby klopfte mit dem Pfeifenstil gegen 82
seinen Kopf. »Ich habe einen Schädel aus Sil ber, der größte Teil auf dieser Seite ist aus Me tall. Welche besondere Verwundung haben Sie davongetragen, Leutnant.« Er runzelte die Stirn und blickte auf den Videoschirm vor sich. »… Truant, Cal. Warum sind Sie untauglich?« »Sir«, erwiderte Cal und hielt inne. Er holte tief Atem. »Einspruch der Psycho-Abteilung«, sagte er dann kurz. »Ha, das stimmt«, murmelte Scoby und blickte auf das Schirmbild. »Erinnere mich – so viele Dinge platzen hier immer herein.« Er sah Cal an. »Tatsächlich habe ich mir Ihre Akten schon kommen lassen. Wieso haben Sie so lan ge auf eine Beförderung gewartet?« »Sir?« fragte Cal steif. »Sie brauchen mir nichts vorzumachen. Ich bin auch herumgekommen. Sie wissen, was ich hören möchte.« Er wies mit seiner Pfeife auf den Videoschirm. »Sie haben sieben Jahre Zeit gehabt. Sie hatten die Befähigung, weiterzu kommen. Sie hatten einen guten Ruf, und ein oder zwei Ihrer Auszeichnungen bedeuten wirk lich etwas. Wieso haben Sie sich niemals vor der Lehaunan-Expedition um Beförderung bemüht?« 83
Cal sah den anderen voll an. »Ich glaube, die Verantwortung war zu schwer, General.« »Ein Soldat braucht nicht zu denken. Alles, was er tun muß, ist gehorchen. Ist es das?« »Genau, General.« »Ein Unteroffizier muß früher oder später Befehle geben, die ihm mißfallen. Unter Um ständen fordert man von ihm Dinge, mit denen er nicht übereinstimmt?« »So ungefähr, Sir«, antwortete Cal. »Viel leicht.« »Aber ein Soldat hat keine andere Wahl, so daß ihn sein Gewissen nicht stören darf, nicht wahr? Wie kommt es dann«, fragte Scoby, lehnte sich zurück und steckte die Pfeife wie der zwischen die Zähne, »wie kommt es, daß Sie in der Schlacht die Befehlsgewalt ange nommen haben, als sie Ihnen übertragen wur de? Was hat Sie nach all den Jahren umge stimmt?« Cal zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, Sir.« »Nein«, erwiderte Scoby nachdenklich und biß auf seiner Pfeife herum, »nein, ich glaube, 84
Sie wissen es nicht. Well, ich habe mich auch um Ihre zivile Vergangenheit gekümmert.« Er stöberte zwischen den Papieren auf seinem Tisch. »Ich hatte schon von Ihrem Vater ge hört. Tatsächlich war ich damals bei der Kom mission, die die Vorgänge in Ihrer Heimatstadt während der Unruhen überprüfte. Ich habe später auch einige der Aufsätze Ihres Vaters über die Gleichberechtigung der Rassen gele sen. Sehr interessant.« »Wir hatten nicht dieselbe Meinung«, sagte Cal tonlos. »Das habe ich mir gedacht. Well…« Der Ge neral lehnte sich wieder einmal in seinen Sessel zurück. »Wir kommen wohl besser zur Sache. Ich kann Sie brauchen. Mir fehlt ein Mann mit Kampferfahrung. Mehr noch, ich brauche je mand, der mit den Mannschaften genau so gut auskommt, wie mit den Offizieren, und der die Aufträge, die man ihm übergibt, ebenso gut bearbeitet wie ich selbst.« Er machte eine Pause und lehnte sich vorwärts, um Cal genauer anzu sehen. »Er muß Vertrauen zu sich haben, außer Verstand und Mut. Sie haben zumindest zwei von diesen Eigenschaften. Wollen Sie den Job?« 85
»Sir«, erwiderte Cal, ohne eine Miene zu ver ziehen, und sein Blick starrte auf einen imagi nären Punkt hinter des Generals Rücken, »würden Sie mir raten, den Job anzunehmen?« »Zur Hölle, natürlich!« explodierte Scoby. »Ich habe ihn eingerichtet und bin stolz darauf – und Sie werden es auch sein. Das ist eine verdammt große Gunst, die Ihnen gewährt wird.« »Jawohl, Sir«, antwortete Cal. Er zögerte ei nen Moment. »Es ist mir eine Ehre, den Posten annehmen zu dürfen, General.« »Fein«, erwiderte Scoby. »Fein. Sie können beginnen, indem Sie das da abmachen.« Cals Hände machten eine instinktive Bewe gung zu seinen Leutnantsabzeichen. »Meine Rangabzeichen, Sir?« »Ganz recht.« Die Stimme des Generals klang sardonisch. »Das ist einer der Knüppel, die man mir dauernd zwischen die Beine wirft. Alle Kontaktoffiziere, ungeachtet ihrer Qualifi kationen, müssen den regulären Ausbildungs weg durchmachen. Wissen Sie, was das bedeu tet? Sie klettern wieder in Ihr altes Arbeits zeug und beginnen ganz unten.« 86
Cal starrte den alten Mann an. »Ganz unten?« »Eine Art Fußtritt, nicht wahr, Leutnant?« erwiderte Scoby. »Zusammen mit den Rekru ten, die noch naß hinter den Ohren sind, müs sen Sie noch mal durch die alte Schule, die aus Ihnen einen ganzen Mann und Soldaten ma chen will. Sehen Sie mich nicht so an. Ich weiß, daß kein Sinn darin steckt. Die Generalität weiß auch, daß es bei einem Mann wie Ihnen unsin nig ist. Es ist nicht Vorschrift, weil es einen Sinn hat, sondern um mich zu ärgern. Well, wie ist es, Cal? Meinen Sie, Sie könnten noch Betten nach Vorschrift bauen? Oder möchten Sie doch noch zurücktreten?« Ein scharfes, wachsames Glitzern war in Sco bys Augen. »Nein, Sir«, antwortete Cal. »Kam etwas langsam, die Antwort, nicht?« »Nein, Sir«, wiederholte Cal. »Ich versuchte nur, diese Vorschriften damit in Einklang zu bringen, was General Harmon mir gesagt hat te.« »General Harmon! Sie sind ein etwas vorwit 87
ziger Leutnant, Cal. Sie sollen sich keine Ge danken über Dinge machen, für die Generale da sind. Wenn Sie das nächste Mal in eine Bü cherei kommen, lesen Sie mal was über die Be lagerung von Troja.« Er wandte sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu. »Das ist alles. Sie können gehen, Leutnant. Wenn Sie die Kontakt-Schulung hinter sich haben, melden Sie sich wieder bei mir.« Cal stand auf. Scoby war dabei, einige der Papiere zusammenzuraffen. »Troja, General?« fragte er. Der General grunzte etwas vor sich hin, ohne aufzusehen. »Guten Tag, Leutnant.« Cal wartet noch einen Moment, aber General Scoby schien vergessen zu haben, daß er einen Besucher im Raum hatte. Er war in seine Ar beit vertieft und glich einem Buchhändler, der in seinen Schätzen wühlt. Die große Katze in der Ecke hatte sich auf die Seite gelegt und die Beine steif von sich gestreckt. Sie schien ihren Mittagsschlaf zu halten. Cal drehte sich um und ging in das vordere Büro. Die Empfangsdame, die ihn zu Scoby ge führt hatte, war mit seinen Papieren fertig. Er 88
unterzeichnete, und dann wurde ihm mitge teilt, daß er sich in fünf Tagen bereitzuhalten habe, um seine Grundausbildung anzutreten. Er verließ das Gebäude des Kontaktdienstes und schritt über die Treppenstufen hinab. Die Sonne schien immer noch. Auch der warme Wind blies kräftig. Ein Oberst mit einem wohl gerundeten Bauch streute Brotkrumen an eine Horde lärmender Spatzen, die sich zankend und tschilpend um ihre Beute stritten. SECHSTES KAPITEL Vier Tage später lag Cal an dem hellen Sand strand von Hornos Beach bei Acapulco und beobachtete Annie, die in Höhe der ersten Brandungswellen schwamm. Es war früh am Morgen, und sie hatten den Strand beinahe al lein für sich. Um diese Zeit kamen zwar auch die Haie dicht an den Strand, aber die Delphine patrouillierten längs der Küste, und außerdem hatte sie eine Harpune bei sich. Trotzdem hielt Cal ein wachsames Auge auf Annie, und die Delphin-Pfeife hatte er griffbe reit neben sich. Annie schwamm mit kräftigen 89
Zügen und schnurgerade längs der Küste. Ihre hellen Arme blitzten ab und zu in dem son nenüberstrahlten blauen Wasser auf. »Sie hat Mut«, kam es ihm plötzlich in den Sinn, »mehr als für sie gut ist, wenn sie mal in Schwierig keiten gerät«. Und dann empfand er wieder die eigenartige Beklemmung, als er an sie dachte; irgendwie kam er sich hilflos und ver loren vor. Er langte nach der Delphin-Pfeife, hielt sie an die Lippen und blies einmal lang und zweimal kurz. Einer der patrouillierenden Delphine schwenkte zur Seite, glitt unter die Wasser oberfläche, tauchte gleich darauf neben Annie wieder auf und schubste sie in Richtung Strand. Ihre Arme kamen aus dem Rhythmus, sie stoppte und blickte in Cals Richtung. Er stand auf, signalisierte ihr »keine Haie« und winkte sie dann heran. Sie wandte sich in seine Richtung, und ihre schlanken Arme begannen wieder das Wasser zu teilen. Cal legte sich nieder; die plötzliche Ge fühlsaufwallung in ihm erstarb langsam. Nach ein paar Minuten hatte sie den Strand erreicht und kam gischtübersprüht auf ihre Füße. Sie 90
wusch sich den Sand von den Beinen, nahm ihre Badekappe ab und schüttelte die kurzen Locken. Dann trat sie lächelnd auf ihn zu. Ein eigenartiges Gefühl durchflutete ihn und ließ ihn zittern. »Zur Hölle damit«, dachte er, »ich liebe dich«. Er öffnete seinen Mund, um es auszusprechen. Aber als sie ihn erreicht hatte, schwieg er. Er erhob sich. Als er stand, konnte er sehen, wie klein und zierlich sie war. »Was gibt’s?« fragte sie, wobei sie immer noch ihre Locken schüttelte. Sie sah ihn fra gend an. »Wir wollen was trinken.« Zwei Tage später fand er sich frühmorgens – nach etlichen Tests und dem Empfang der Aus rüstung – zusammen mit vierhundertachtund sechzig Rekruten auf einem Militärtransporter. Der Transporter war eine Kontinentalrakete von einer Größe, die bei normalen Passagier flügen höchstens hundertfünfzig Personen auf nahm. Sie hatte einen zusätzlichen Antriebs motor und auf jeder Seite des Ganges eine Doppelreihe von schwenkbar aufgehängten Sitzen. Cal hatte es geschafft, einen der Sitze 91
am Fenster zu erwischen, und starrte auf Sta pledon Field hinab. Er versuchte an Annie zu denken und seine Umgebung zu vergessen. Es würde nicht besonders schlimm sein, noch mal die Grundausbildung mitzumachen, hatte er sich gesagt. Er durfte nur die Nase nicht zu hoch tragen und mußte seine Gefühle unter drücken. Es war ihm im Grunde genommen alles ziemlich egal. Er war ja neutral zwischen den Kontakt-Leuten und der kämpfenden Truppe. Wenn man ihn in Ruhe ließ, würde auch er alle in Ruhe lassen. Wenn ihm aller dings jemand auf die Zehen treten wollte, wür de er schon wissen, wie er sich dagegen zu wehren hatte. Er hatte Annie in der Nacht zuvor ganz offen gesagt, was er von der Kontakt-Abteilung und ihren Leuten hielt. Er verachtete diese Solda ten. »Vielleicht änderst du deine Meinung«, hatte sie gesagt. »Es wird nicht leicht sein, mit Leu ten zusammenzuarbeiten, von denen man so denkt.« »Du kennst den Militärdienst nicht. Es ist ei ne Arbeit wie jede andere. Es ist unwichtig, 92
was man von den einzelnen Leuten hält.« Einen Moment hatte sie ausgesehen, als wolle sie etwas antworten, aber sie tat es nicht. Und nun saß Cal hier in dem engen Sitz, starrte nach draußen und wartete darauf, daß die Rakete abheben würde. Um ihn herum sa ßen Männer in neuen, tannengrünen Unifor men. Das Geräusch ihrer Unterhaltung, die Wärme ihrer Körper versetzten ihn in eine un gewohnte Stimmung; er fühlte sich fast zu frieden. Was ging ihn das alles im Grunde schon an? »He, Dad! Dad!« Zuerst verband Cal den Ruf gar nicht mit seiner Person. »Dad«, so hatten sie damals bei ihrer ersten Ausbildung die älteren Männer ge nannt. Er sah auf. Das grinsende Gesicht eines jungen Burschen blickte ihn von einem Platz zwei Reihen weiter an. »Was?« »Hast du Feuer?« Der Transporter war noch am Boden. Das Schild »Rauchen verboten!« leuchtete über ih ren Köpfen. Aber Cal sah keinen Grund, seinen Atem deswegen zu verschwenden, nachdem er 93
sich gerade entschlossen hatte, ganz neutral zu bleiben. Sein Feuerzeug war in der Tasche, die zwischen die Sitze geklemmt war. So griff er in die Brusttasche, nahm eine der selbstzün denden Zigaretten heraus und gab sie dem Burschen. »He, eine Feldzigarette«, sagte der Bursche. »Vielen Dank, Dad.« Das Gesicht und die Ziga rette verschwanden wieder. Ein paar Sekunden später zog Rauch über die Sitzreihen hinweg. Eine Minute danach näherten sich Schritte über den Zwischengang. Sie stoppten neben dem Raucher. »Hast du eine Zigarette, Soldat?« fragte eine ältere Stimme. »Sicher, Chef«, antwortete die Stimme, die Cal um Feuer gebeten hatte. »Keine Feldziga retten. Aber hier, nehmen Sie sich eine.« »Mach’ ich. Sind das alle, die du hast?« »Nanu – he! Was machen Sie? Das ist mein ganzer Vorrat, bis wir das Fort erreicht haben. Ich dachte, Sie wollten eine?« »Mach dir nichts draus, Soldat. So lange du in der Kaserne bist, ist nichts mehr mit Rau chen. Und das sind mindestens drei Monate. 94
Ich werde es deinem Ausbilder melden, wenn wir da sind. Vielleicht hat er noch eine kleine Extra-Aufgabe für dich, die dich daran erin nert, daß man Schilder beachtet.« Die Schritte entfernten sich wieder. Cal ver suchte, wieder an Annie zu denken. »Das ist etwas übertrieben, nicht wahr?« er klang eine Stimme an Cals rechtem Ohr. Cal wandte sich zu dem Rekruten neben ihm um, einem bleichen jungen Mann, der trotz seiner Jugend ziemlich ernst dreinsah. »Auf den mei sten Zivilschiffen sind die ›Rauchen-VerbotenSchilder‹ schon lange abgeschafft worden.« »Es ist Vorschrift«, antwortete Cal kurz an gebunden. Aber der andere sprach weiter. »Sie gehören zum Kontakt-Dienst – wie ich, nicht wahr?« fragte er. »Ich habe den Farbco de auf dem A3-Formular bemerkt, das Sie bei sich haben. Ich bin Harvey Washun.« »Cal Truant«, grunzte Cal. »Das ist eine der Sachen, auf die wir achten müssen, wenn wir erst mal das Offizierspatent haben. Unsinniger Zwang durch Vorschriften wie diese, nicht wahr? Man hat doch eine Ver antwortung gegenüber dem Landsmann, aber 95
auch gegenüber dem Fremden, gegenüber jedem Lebewesen, glaube ich.« »Das hab’ ich schon mal gehört«, murmelte Cal. Dann zog er seine Kappe über die Augen, rekelte sich in dem Sitz zurecht und tat so, als wolle er schlafen. Er hörte das Quietschen der Sicherheitsgurte, als sich sein Nachbar verär gert zurechtsetzte. Achtundvierzig Minuten später starteten sie, und nach weiteren dreiundachtzig Minuten landeten sie auf dem Flughafen von Fort Nor man, Cota in Missouri. Die Feldwebel und Un teroffiziere erwarteten sie schon und jagten die ganze Mannschaft im Eiltempo über die volle Distanz zum Trainingslager für Pioniere. Es lag an der Westseite des Forts, gute sechs Kilome ter entfernt. Der Tag war herrlich. Hier und da sah man ein Wölkchen durch das Geäst der Pappeln und Fichten, manchmal spiegelte es sich auch in den Pfützen, durch die man die Soldaten jagte. Die Luft war warm und von süßem Duft erfüllt. Um sich herum konnte Cal das Ächzen und Stöhnen seiner Leidensgenossen hören, die vor Anstrengung keuchten. Cal selbst atmete tief 96
und gleichmäßig, und es fiel ihm plötzlich ein, daß er nach dem monatelangen Aufenthalt im Krankenhaus kaum in einer besseren Verfas sung war als die meisten anderen. Was den Lauf für ihn erträglicher machte, war seine Haltung. Er teilte sich seinen Atem ein, er war Herr über seine Gefühle, und der Gedanke dar an befriedigte ihn sehr. Er wollte auch weiter hin für sich bleiben, neutral und frei von Ver pflichtungen. »Aufschließen! Zusammenbleiben!« brüllten die Führer. Dabei rannten sie an der langen Reihe von Männern entlang, die unter der Last ihrer Ausrüstung stöhnten. »In Marschordnung bleiben, ihr Butterbäuche! Haltet euch ’ran!« Das Gebrüll erinnerte Cal an die Tage seiner eigenen Ausbildung. Es war die Hölle gewesen, aber er hatte sie unverändert überstanden. Oder wenigstens hatte er sich das in all den Jahren gesagt. Er wischte die Gedanken daran weg und dachte bei sich, daß es jetzt wieder einmal hieß, eine Weile zu überleben. Für einen Augenblick übermannte ihn das Gefühl des Heimwehs, dann war es wieder vorüber. Sie kamen an einigen Kasernen vorbei, wo 97
sich die Anwärter aufhielten, die schon die Hälfte ihrer Ausbildung hinter sich hatten. Sie waren gerade dabei, »Klar Schiff« zu machen, und man konnte ihnen ansehen, daß sie schon einige Zeit hier waren. Sie hatten eine gesün dere und dunklere Gesichtsfarbe als die Neu ankömmlinge. Rufe wie »Es wird euch noch leid tun!« oder »Wohin sollen wir eure Leichen schicken?« erklangen. Aus irgendeinem Grund fegte das die leichte Unbehaglichkeit in Cal weg, diesen Anflug von Heimweh. Er konzen trierte sich wieder auf den Lauf und bemühte sich, an nichts zu denken. Ungefähr ein Drittel der Neuankömmlinge hatte den ganzen Weg geschafft, ohne zurück zufallen. Sie langten keuchend und nach Atem schnappend vor dem zweistöckigen Gebäude des Ausbildungslagers an. Ein Mann in Cals Alter, mit scharfen Ge sichtszügen und dem Diamantzeichen des Pio nierkorps auf den Rockaufschlägen, trat aus einem kleinen, abseits gelegenen Bürogebäude und blieb oben auf der Treppe stehen. Dabei sah er mißbilligend auf die jämmerlichen Ge stalten vor ihm. 98
»Sie sollten sie eigentlich nicht vor dem Lunch herbringen«, erteilte er dem BegleitUnteroffizier eine Rüge. »Der Anblick dieser dreckigen Gesichter schlägt mir immer auf den Magen.« Plötzlich brüllte er: »Aachtungggk! Was ist los mit euch? Könnt ihr nicht stillste hen?« »Natürlich nicht«, antwortete der Unteroffi zier. »Die Gruppe kommt vom Rekrutierungs büro in Denver.« »Well, bring die Grünschnäbel aus meinen Augen, oder ich schicke sie alle auf einen Marsch rund um die Berge. Zeig ihnen ihre Quartiere. Und paß auf, daß sie die Räume nicht dreckig machen.« Es wurde still, und Cal sah, wie die Männer um ihn herum in das weiß gestrichene Kaser nengebäude geführt wurden. Er spürte ihre Niedergeschlagenheit, als sie die langen Reihen von Betten sahen, die mit mathematischer Präzision gemacht waren. Er merkte ihre Ver zweiflung, als man ihnen befahl, ihre Sachen zu verstauen und ihre eigenen Betten zu ma chen. Und dann wandelte sich die Verzweiflung in stille Wut, als man befahl, alle Sachen wie 99
der herauszuholen und jede Spur von Schmutz oder Staub, die sie hereingebracht hatten, aufs Sorgfältigste zu entfernen. Dann wurden sie nach draußen beordert, wo ihnen Feldwebel Ortmann eröffnete: »Diese Kasernen sind für Soldaten gebaut, nicht für Schweine. Wir lassen euch da ’rein, aber ihr werdet jeden Sonntagmorgen das Vergnügen einer Inspektion haben.« Dann zog er mit seinem Angeberstock, den er sonst unter dem Arm geklemmt hielt, eine imaginäre Linie in die Luft und informierte sie, daß das die magische Grenze sei, drei Meter von der Kaserne. Er wolle niemand diese Linie überschreiten sehen, es sei denn, man hätte es ihm befohlen. Ortmann war klein, breit gebaut und dun kelhaarig. Er trug die Bänder des LehaunanFeldzuges an seiner Paradejacke und verzog nie die Miene zu einem Lächeln, wenn er sprach. Cal dachte zuerst oft an Annie. Aber sechs Wochen später – zu der Zeit war man soweit für den zweiten Teil der Ausbildung – dachte er nur noch selten an sie. Genau wie damals vor sieben Jahren, als er das erste Mal durch 100
die Grundausbildung gegangen war. Wieder war sein ganzes Denken von Verbitterung er füllt. Zum erstenmal in all den Jahren beim Militär hatte er nicht das eigenartige Gefühl empfun den, das einen Soldaten zu den anderen Män nern seiner Abteilung hinzieht. Er war ein Ein zelgänger. Für die anderen war er ein alter Ha se – die Tatsache stand in seinen Papieren und war nicht lange verborgen geblieben. Für die Ausbilder war er ein Unikum, weder ein richti ger Rekrut noch ein richtiger Soldat. Für die anderen Kadetten des Kontakt-Dienstes war er ein Rätsel, das nicht in ihre Vorstellungen und Theorien paßte. Washun, sein Platznachbar auf dem Flug von Denver zum Fort, hatte versucht, eine Brücke zu schlagen. »Ich habe mit einigen der anderen Kadetten gesprochen«, sagte er eines Tages nach dem Essen zu Cal. »Wir würden uns freuen, wenn Sie uns etwas von Ihren Erfahrungen erzähl ten; vielleicht könnten Sie uns ein wenig hel fen.« »Erzählen? Worüber?« Cal war gerade dabei, 101
seine Stiefel auf Hochglanz zu bringen. Er sah hoch. »Über das Soldat-Sein«, sagte Washun. Cal sah ihn lange an, aber der Bursche sprach ganz im Ernst. »Geh an die Front und laß dir ein paar La dungen draufknallen – dann weißt du’s.« Cal wandte sich wieder dem Stiefelputzen zu. Er hörte, wie Washun sich entfernte. Washun war einer von denen, die zum Solda ten nicht taugten. Ganz anders als Tommy Malewski, der neunzehnjährige Bursche, der ihn damals auf dem Herflug um Feuer gebeten hatte. Ihn hatte man jetzt, nach sechs Wochen, völlig von seinen Extratouren geheilt. Er hatte ursprünglich gedroht, er würde abhauen, wenn er das erste Mal zu früh geweckt würde. Aber er hatte nichts dergleichen getan, und jetzt war er schon zum Gefreiten befördert worden. Washun hatte hart an sich gearbeitet, aber es war klar, daß er das alles haßte. Dazu sprach er auch viel zu viel von Ethik und Verantwortlich keit und ähnlichen nebelhaften Dingen. Die Zurufe wie »Feige Memmen«, die er und die anderen – ausgenommen Cal – dauernd zu hö 102
ren bekamen, verletzten ihn tief. Im Gegensatz zu den anderen hatte er auch schon mal einen harten Kampf mit Lie, einem anderen Kadetten aus der Sektion A, wegen dieses Ausdrucks ausgefochten. Er hatte verbissen gekämpft und war zum Schluß ein knapper Sieger gewe sen. Und dies auch nur, weil Ortmann und ein anderer Ausbilder die beiden Kämpfenden ent deckt hatten und befahlen, daß sie weiter machten, bis schließlich der andere zusam menbrach, hauptsächlich wohl vor Erschöp fung. Als Ergebnis dieses Kampfes war Washun zu einem kleinen Helden gestempelt worden und galt als Anführer der Gruppe. Obwohl er alle Verantwortlichkeit von sich wies, kamen sie doch alle mit ihren kleinen und großen Sorgen zu ihm. Und das wieder gefiel Ortmann kei neswegs, der das für eine gefährliche Situation hielt. »Wieder mal Gericht gehalten?« pflegte er einmal zu fragen, als sie angetreten waren, und Cal, der neben Washun stand, sah aus den Au genwinkeln, wie dieser blaß wurde – genau wie damals, als er mit Lie gekämpft hatte. 103
»Jawohl, Feldwebel«, antwortete er automa tisch, sah dabei starr vor sich hin und versuch te, Ausflüchte zu ersinnen. »Washun«, sagte Ortmann eines Tages müde zu ihm, »glaubst du, daß du diesen Männern einen Gefallen tust? Glaubst du, daß du ihnen hilfst, wenn du sie in dem Glauben läßt, daß sie jemand haben, der alle ihre Dummheiten wie der ausbügelt? Antworte – nein, laß es!« Ort mann seufzte müde. »Ich will mir heute mor gen keine Philosophien anhören – Leute!« brüllte er dann. »Wenn ich irgendwann noch mal jemand erwische, der bei einem anderen sein Herz ausschüttet, der bekommt beim nächsten Nachtmarsch das doppelte Gepäck zu schleppen. Und wenn ich ihn noch mal erwi sche, das dreifache. Steckt euch das hinter die Ohren, ihr Milchbabys!« Er wandte sich wieder an Washun. »Putz deine Stiefel!« schnappte er. »Kannst du hier zum Dienst nicht in sauberen Sachen erscheinen? Wenn du zuviel Zeit für die Bauch schmerzen dieser Würstchen verschwendest, verlange ich Meldung. Du brauchst noch eine ganze Menge, um ein ordentlicher Soldat zu 104
werden, Washun. Das gilt übrigens für euch alle!« Er schritt die Front entlang und blieb vor Cal stehen. Für einen Augenblick trafen sich ihre Augen. Cal blickte ihn an, als hätte er eine Steinmauer vor sich. Sein Gesicht blieb unbe wegt. Ortmann ging weiter. »Sterr, zieh die Decke glatt; das ist eine Schlamperei! Jacks, wasch dein Arbeitszeug und bügle es anständig, Drecksack! Malewski…« An jenem Abend nach dem Essen kam eine Abordnung der Kadetten, die zum KontaktDienst sollten, zu Cal, der gerade den Eßraum verlassen wollte. Washun war nicht dabei. Sie zogen Cal beiseite. »Sie sollten etwas dagegen tun«, sagten sie ihm. »Ich?« Cal starrte sie an. »Was sollte ich tun?« »Mit Ortmann sprechen«, sagte ein hochge wachsener Bursche mit dem Akzent eines Man nes aus den Südstaaten. »Er hackt auf Washun herum, obwohl dieser alles genau so gut macht wie die anderen. Das ist ungerecht.« 105
»So?« machte Cal. »Sag’s doch Ortmann selbst.« »Er wird uns gar nicht zuhören. Aber Sie mag er.« »Mich mag er?« »Er beschimpft Sie nie wie uns andere. Sie müssen nie Sonderdienst machen. Er ist mit Ihnen immer einverstanden, weil er weiß, daß Sie das Ganze schon mal geschafft haben.« »Nein«, antwortete Cal. »Die Tatsache, daß ich alles richtig mache, ist der Grund dafür. Nach meiner Meinung verfährt Ortmann mit Washun und euch allen ganz ordentlich.« »Sicher«, sagte ein kleiner schwarzhaariger Bursche voll Bitterkeit. »Sie wollen für uns nichts tun. Sie denken wohl, Sie wären einer von ihnen, ein Kumpel von Ortmann und den anderen.« Cal sah sie alle der Reihe nach an. Sie be wegten sich unruhig. »Legen Sie uns keine Steine in den Weg, Truant«, sprach der Große wieder. »Wir fürch ten Sie nicht.« Cal schnaubte verächtlich und ging weiter. Die erste Hälfte der Grundausbildung hatte 106
aus Lehrfilmen, Lektüre, theoretischem Unter richt, Drill und Ausbildung an leichten Waffen bestanden. Mit Beginn der zweiten Hälfte zo gen sie ins Feld hinaus; das Training zum Überleben begann: Gewaltmärsche, Nacht übungen, taktische Probleme, die in Flucht übungen gipfelten, und ähnliches mehr. Die Gruppe war von ursprünglich dreihundert Mann auf nahezu die Hälfte zusammenge schmolzen. Die durchgefallenen Kadetten wa ren natürlich nicht ins Zivilleben zurückge kehrt. Sie wurden zum Stubendienst abkom mandiert, hatten für die Verpflegung zu sorgen und waren für die Beschaffung von Ersatzteilen verantwortlich. Unter ihnen waren alle, die zum Kontakt-Dienst kommen sollten, abgese hen von Cal, dem großen Burschen mit dem südländischen Akzent und Washun. Und damit ergab sich für Cal ein neues Problem. Jetzt, da alle Schwächlinge gegangen waren, mußte Cal feststellen, daß Ortmann Washun tatsächlich unfair behandelte. Sie hätten na türlich beide nachgeben können, aber auch Ortmann war nur ein Mensch. Und wo Ort mann legale Autorität auf seiner Seite hatte, 107
hatte Washun die Waffe der Überlegenheit des Gemarterten für sich. Es war ein Kampf des Geistes, wobei jeder versuchte, den anderen ins Unrecht zu setzen. Und Washun schien zu gewinnen, das däm merte Cal jetzt langsam mit erschreckender Deutlichkeit. Schon hatte Washun die Kadetten auf seiner Seite. Jetzt war er dabei, Cal umzu stimmen. Und eines Tages würde er auch Ort mann brechen, wenn dieser nicht vorher seine Niederlage zugeben würde. Das war alles falsch, sagte sich Cal. Das Recht lag auf der Seite von Ortmann, es mußte auf seiner Seite liegen. Ortmann tat jeden Tag sein bestes, um allen beizubringen, wie man einen Kampf gewinnen und wie man überleben konnte. Und Washun, der sich nur auf eine Handvoll halbgarer Theorien stützte, nahm sich das Recht, dieses von Ortmann vermittelte Können als etwas Unsauberes, sogar Schlechtes hinzustellen. Cal merkte, daß er Washun zu hassen be gann. Washun hatte Cal aus seiner Isolierung gerissen. Washun war, genau wie Cals Vater, einer von denen, die mit Beharrlichkeit darauf 108
bestanden, nur Gutes zu tun, und dabei doch nur Tragödien und Leid hervorriefen. Cal konn te ihn geradezu deklamieren hören, wie einst seinen Vater: »Sozialethik: eine Philosophie, die besagt, daß die Menschheit nur weiter existieren kann, wenn sie sich dazu bekennt, daß die erste Pflicht jedes Individuums die Fürsorge für die anderen ist und man erst an zweiter Stelle für sich selbst sorgen darf.« Cal wartete ungeduldig auf den Tag, an dem Ortmann die Geduld verlieren und Washun endlich den Kopf gerade setzen würde. Es dauerte nicht lange, bis das geschah. Sie hatten schon ein paarmal das Anschleichen an den Feind geübt. Dabei mußten sie mit voller Ausrüstung auf dem Bauch über den felsigen Boden rutschen, während ein paar Meter über ihnen Granaten und Strahlschüsse hinweggin gen. Eines Tages wurden sie während eines nachmittäglichen Unwetters wieder einmal über den Exerzierplatz gejagt. Die Kadetten, die sich wegen des Wetters schon beschweren wollten, fanden schnell heraus, daß sie in dem plötzlich entstandenen Matsch so leicht wie auf 109
einer Schlittschuhbahn vorankamen. Sie be gannen schon, darüber Witze zu machen, und einer – er hieß Wackell – hatte entweder dabei seinen Kopf zu hoch gehoben oder ein Geschoß war einfach zu tief gehalten worden. Jedenfalls passierte es. Ein Stahlsplitter von einem Explo sivgeschoß traf ihn an der Schulter und am Oberschenkel. Er begann zu brüllen, und Was hun, der in seiner Nähe war, lief zu ihm. »Nur Ruhe«, sagte Ortmann grimmig, als sie wieder vor ihrem Quartier angetreten waren, noch tropfend vom Wasser und von dem Schlamm, durch den sie gekrochen waren. »Ihr habt es alle gehört; ihr habt es fünfzigmal ge hört. Im Kampf darf ein Soldat nicht anhalten und einem anderen helfen. Er hat weiter zu kämpfen. Hast du irgendetwas dazu zu sagen, Washun?« »Nein, Feldwebel«, antwortete Washun, starr geradeausblickend. Ortmann hatte ihn schließ lich doch so weit gebracht, daß er nicht mehr argumentierte, wenn sie angetreten waren. »Nun komm!« gab Ortmann zurück. »Ich bin sicher, daß du etwas zu sagen hast. Laß hören!« 110
»Ganz einfach«, sagte Washun und starrte mit weißem Gesicht auf die Wand gegenüber. »Das wird mal meine Aufgabe sein: FlügelHelfer bei einem Angriff im Feld. Jeder weiß das. Ich werde keine Waffen tragen, ich werde Leuten wie Wackell helfen.« »Fein«, gab Ortmann sarkastisch zurück. »Du wirst ihnen helfen. Du wirst ihnen helfen, wenn die Zeit dazu gekommen ist! Aber jetzt wirst du hier zu einem Soldaten ausgebildet, nicht zu einem oberschlauen Kontakt-Mann. Und du hast zu lernen, daß ein Soldat nicht aufhört zu kämpfen, um irgendjemand zu hel fen! Malewski! Jones! An die Nord- und Südek ke der Kaserne! Paßt auf den Mann auf! Volle Ausrüstung, Washun! Los! Um die Kaserne herum!« Washun trat einen Schritt aus der Reihe vor und begann, im Dauerlauf um die Gebäude herum zu laufen. Malewski versetzte ihm einen Hieb mit seinem Stab, als er an ihm vorbeitrot tete. »Abtreten! Duschen, Essen – und saubere Kleider!« bellte Ortmann den Rest der Gruppe an. »Und macht die Räume nicht dreckig!« 111
Zwanzig Minuten später trat Cal aus dem Eßsaal heraus. Er war gewaschen, frisch rasiert, hatte eine reine Uniform an und rauchte jetzt in der kühlen Abendluft. In einiger Entfernung sah er Washun um die Kaserne herumtraben. Zwei andere Kadetten paßten jetzt auf ihn auf, damit Malewski und Jones sich auch waschen und essen konnten. Washun lief nicht schnell und atmete nur etwas heftiger als vorhin. Aber seine Augen zeigten schon einen glasigen Blick. Es war nichts Ungewöhnliches für einen Mann in guter Verfassung, eine Stunde und länger um die Gebäude herumzulaufen, bevor er aufgab. Er wurde nicht gezwungen, schnell zu rennen, er mußte bloß immer weiter laufen. Die Gebäude standen weit genug auseinander, so daß ihm nicht schwindlig werden konnte. Die Strafe war überhaupt keine körperliche, sondern eine geistige. Nach einem Dutzend Umrundungen begann man langsam, das Zäh len zu vergessen; die Bauten um einen herum nahmen eine unwirkliche Gestalt an, und man fühlte sich wie in einer Tretmühle. Es schien, als sei man schon immer so gelaufen und als würde niemals ein Ende kommen. Es war wie 112
eine Vorhölle, während der Geist darauf warte te, daß der vorzüglich trainierte Körper aufge ben würde. Die Beine aber bewegten sich au tomatisch. Schwitzend unter der schweren Ausrüstung und nach Atem schnappend, rann te der Mann weiter und kämpfte mit sich, um seine eigenen Leiden zu verlängern. Ortmann hätte das natürlich stoppen kön nen. Aber er würde es nicht tun. Cal beobachtete den laufenden Mann. Er fand immer noch kein Mitgefühl für ihn, und von seinem Standpunkt aus war nichts Un rechtes dabei, einen Mann um die Kaserne zu jagen. Was ihn störte – wie ihm jetzt langsam aufging – wurzelte in der Frage nach Recht und Unrecht im Leben eines normalen Solda ten. Was ihn ferner störte, war die Tatsache, daß die Bestrafung ein Fehlgriff war. Einen Mann um die Kaserne zu jagen, war die letzte Mög lichkeit; es war zum Beispiel das beste Mittel für einen Kadetten, der sich weigerte, sich zu waschen. Es war für jemand gedacht, der ein ewiger Quertreiber war und den man anders nicht heilen konnte. 113
Aber das war Washun nicht. Innerhalb ge wisser Grenzen war er so gut wie jeder andere Kadett. Und er war auch nicht mehr zu retten, weil er schon für den Kontakt-Dienst verloren war. Schließlich konnte die Strafe auch nicht ein Exempel für die anderen sein, die gar nicht in Washuns Fußstapfen traten. In Cals Augen hatte Ortmann die Befähigung zur Ausbildung von Kadetten verloren, da er sich dazu hinreißen ließ, ohne Grund über Washun so eine Strafe zu verhängen. Ortmann hatte verloren. Und Washun, der schon ganz außer Atem war und mit leerem Blick vor sich hinstarrte, während er die nicht endenwollenden weißen Wände der Kasernengebäude um rundete, hatte gewonnen. »Truant!« Cal wandte sich scharf um. Es war Ortmann, der aus der Richtung seines Dienstzimmers kam. »Geh in den Raum des Wachhabenden«, sag te Ortmann. »Es ist nicht ganz nach den Vor schriften – aber du hast Besuch.«
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SIEBTES KAPITEL Die Besucher waren der junge Tack, Joby Loyt und Walk Blye von seiner alten Mannschaft. Joby und Tack trugen Korporalspangen und Walk steckte in der grauen Uniform der Offi ziere. Sie hatten alle schon getrunken, und Walk war drauf und dran, umzukippen, obwohl das nur jemand sehen konnte, der ihn gut kannte. Der Alkohol in ihm zeigte sich bis jetzt nur dadurch, daß er sich ein wenig schneller bewegte und seine Augen etwas mehr als sonst glitzerten. Ein Fremder hätte sich gesagt, daß Walk eben ein sehr lebhafter Mensch sei, aber für die, die ihn kannten, war es ein Zeichen der Gefahr. »Wie ist es, Korporal?« fragte Walk den diensthabenden Offizier. Es war derselbe, der damals Cal und seine Gruppe abgeholt hatte. »Können wir ihn ein wenig mitnehmen?« Walk – als Leutnant – stand zwar nur einein halb Stufen im Rang über dem Korporal, aber das erlaubte ihm, etwas vertraulicher mit ihm zu sprechen, als sei er ein hoher Offizier. Der 115
Korporal überlegte eine Sekunde, dann sagte er: »Er darf das Gelände nicht verlassen. Aber in dem Wald da drüben, jenseits der Straße, ist ein Schützengraben, mit einem Unterstand. Nehmen Sie ihn mit, aber bringen Sie ihn vor dem Zapfenstreich und in gutem Zustand zu rück.« »Mein Wort darauf«, erwiderte Walk. Dann verließen die vier den Raum und trollten sich in Richtung Wald. Etwa fünfzig Meter weiter fanden sie den Unterstand, im Schatten einer Gruppe gelber Pappeln. Sie machten es sich bequem. Flache Flaschen mit echtem Bourbon erschienen, und Cal erfuhr, daß sein alter Angriffsflügel – der Vierte – ganz in der Nähe ein Lager aufge schlagen hatte, um sich auf den nächsten Feld zug gegen die Paumons vorzubereiten. »Trink«, ermunterte ihn Walk. Und Cal trank durstig, beinahe gierig. Aber es lag etwas Un ausgesprochenes zwischen ihnen, das auch der Alkohol nicht aus dem Weg räumen konnte. Und Cal bemerkte, daß Tack und Joby genau so merkwürdig davon berührt waren wie er. Walk selbst war ein Rätsel. Man konnte beim besten 116
Willen nicht sagen, was er fühlte. Er saß im Dämmerlicht zwischen ihnen und trank nur halb soviel wie die anderen. Er schien gelang weilt. Als Walk keinen Whisky mehr hatte und er eine neue Flasche holen ging – er hatte sie in der Nähe versteckt; das war ihm sicherer ge wesen, als sie mit in das Trainingslager zu bringen – fragte Cal die anderen: »War es sehr schwer, ihn zum Mitkommen zu überreden?« »Aber nein!« erwiderte Tack. »Es war Walks Idee. Wir hätten auch nicht geglaubt, daß man dich gehen lassen würde. Walk hat das alles arrangiert.« Cal schüttelte verwundert den Kopf. Walk kam mit der neuen Flasche zurück, während langsam die Dämmerung hereinbrach. Das un gewohnte Trinken aus der Flasche zeigte bei allen erste Wirkungen. Für einen Moment stand die Zeit still und alte Erinnerungen ka men zurück. Walk saß zwischen den Mauern des Unterstandes und leerte seine Flasche, da bei summte er vor sich hin: » – Ich – hab – keine – Ma-ma …« Sein rau 117
her Tenor ging ihnen zu Herzen. »Keine Frau – kein Baby – und keine …« »… Liebste«, fielen sie alle automatisch ein. Es war der »Trauergesang der Pioniere«, und sie hatten ihn schon bei hundert anderen Trinkgelagen gesungen. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne waren schon verschwunden, als sie ihren Gesang beendeten. Cal merkte, wie sich die Nebel des Alkohols in seinem Gehirn verdichte ten. Und er erinnerte sich an seine schmutzi gen Sachen im Lager. Er kam mühsam und etwas schwankend auf die Beine. »Muß gehen«, sagte er mit schwerer Zunge. »Danke für alles. Bis später einmal.« »So long, Leutnant«, antwortete Jobys Stimme. »Sicher!« Das war Walks Stimme, die hart und klar aus der Finsternis kam. »Bis später einmal, feige Memme.« Ein eiskalter Schock durchfuhr Cal. Er fror. Über ihnen erschien der erste blasse Schimmer des Nachthimmels zwischen den schwarzen Ästen der Bäume. Aber hier unten in dem Graben war alles in Finsternis getaucht. In der 118
Ferne zwitscherte noch ein Vogel. Für einen Moment hing eine schwere Stille zwischen ihnen, und dann begann Tack unsi cher zu lachen. Eine Sekunde später fiel auch Joby ein. Dann lachte auch Walk und schließ lich sogar Cal. Aber das Lachen klang nicht echt. Cal merk te, wie seine Finger zitterten, als er sich eine Zigarette herausnahm. Obwohl es eine der selbstzündenden war, holte er auch noch sein Gasfeuerzeug aus der Tasche. Mit der Zigarette und dem Feuerzeug in der Hand tat er einen Schritt vorwärts zu Walk hin. Er steckte die Zigarette in den Mund und ließ das Feuerzeug schnappen. Die Flamme, die so urplötzlich in die Dunkel heit einbrach, zeigte Walks Gesicht – anschei nend allein in der Finsternis schwebend – , der Mund stand weit offen, und seine Gesichtszüge waren vom Lachen verzogen. Dann verlöschte die Flamme. »Muß gehen«, sagte Cal noch einmal. Er wandte sich um, kletterte den Graben hoch und schritt in Richtung auf die Kaserne davon. Das Lachen verstummte hinter ihm im Dunkeln. 119
In der Kaserne waren bereits alle Lichter aus, nur in dem Raum, wo Ortmann schlief, brannte noch eine Lampe. Die Tür stand offen, und als er vorbeiging, konnte er sehen, daß der Feld webel noch an seinem Schreibtisch saß und an seinen Berichten arbeitete. Ortmann hob den Kopf, als er Cal hörte, und für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Dann ging Cal in den dunklen Raum, an dessen Wänden sich die doppelstöckigen Schlafkojen reihten. Washuns Koje war leer. In dem unteren Bett daneben lag der große Bursche, der auch in den Kontakt-Dienst wollte; er las in dem Dämmerlicht, das von Ortmanns Raum herein drang. Er sah auf, als Cal vorbei kam, und sein Blick heftete sich böse an dessen Fersen, wäh rend Cal zu seiner Koje weiterging, die sich am Ende des Raumes befand. Seine Sachen hingen noch immer schmutzig am Fußende des Bettes, aber Cal beachtete sie nicht. Er schlüpfte aus seiner Kleidung und kroch unter die Decke. Vor seinen geschlossenen Augen tauchte Walks Ge sicht auf, so wie er es in dem Licht des Feuer zeugs gesehen hatte. Sie hatten sich so nahe gestanden, wie sich 120
nur Soldaten im Kampf nahe stehen können. Sie waren jetzt keine Freunde mehr. Sie muß ten einander so weit wie möglich aus dem We ge gehen, oder sie würden einander eines Ta ges umbringen. Walk hatte das Wort nicht ge sagt, weil er betrunken gewesen war, nein, es war jener Teufel in ihm gewesen, der ihn im mer in solche Situationen trieb. Und er hatte es mit vollem Bewußtsein ge tan. Aber in dem kurzen Lichtblitz hatte Cal auch gesehen, daß hinter den glitzernden Au gen Walks Einsamkeit und Kummer standen. ACHTES KAPITEL Drei Wochen später hatte Cal seine Ausbildung bestanden. Mit Washun, dem anderen KontaktMann, und etwa vierzig weiteren Männern von anderen Gruppen wurden sie zur Schule des Kontakt-Dienstes zurück nach Denver geflo gen. Dort bekamen sie die graue Offiziersuni form, wie Walk eine getragen hatte, und wur den nun wieder von den einfachen Soldaten und den Offizieren im gleichen Rang mit »Mi ster« angesprochen. Schon am ersten Tag fan 121
den sie sich in einem Klassenraum sitzend, der nach Art eines Amphitheaters halbrund mit an steigenden Sitzreihen angelegt war. Vorne war eine erhöhte Plattform, auf der das Pult des Vortragenden stand. »Aach-tungggü« brüllte jemand. Die Klasse erhob sich. Eine Tür hinter der Plattform öffne te sich, und ein kleiner Mann in Offiziersuni form – mit den Insignien eines Obersten – trat ein. Die Papiere, die er in der Hand hielt, legte er vor sich auf das Rednerpult. Der Oberst sah sich um, nickte und wandte sich seinen Papieren zu. Die Männer standen immer noch. Offenbar hatte der Oberst ver gessen, sie zum Sitzen aufzufordern. Nachdem er seine Papiere geordnet hatte, beugte er sich vorwärts, stützte die Ellenbogen auf und sah sie an. Jetzt erst bemerkten sie, daß das nicht die Augen eines kleinen, schwachen Mannes waren, für den sie den Oberst beim ersten An blick gehalten hatten. »Ich hoffe«, begann er in ruhigem Ton, »daß niemand von Ihnen glaubt, die Grundausbil dung wäre hart gewesen. Denn Sie werden sehen, daß wir jetzt erst 122
richtig anfangen.« Er ließ seinen Blick über die Reihen schwei fen. »Einige von Ihnen haben sicher gemerkt, daß der Körper sich dem Training, wie Sie es in Fort Norman Cota kennengelernt haben, an paßt. Hier besteht unsere Aufgabe darin, einen anderen Teil von Ihnen abzuhärten. Während der nächsten zehn Wochen werden wir versu chen, Ihren Geist zu brechen – ohne natürlich die Vorschriften zu vergessen, nach denen man mit Offizieren umgehen muß.« Er machte eine Pause, öffnete ein Fach in seinem Pult, holte ein Glas Wasser hervor und trank einen Schluck. Dann stellte er das Glas wieder weg. »Nach unserer bisherigen Erfahrung kann ich Ihnen sagen, daß uns das bei neun von zehn Männern gelingt. Und die meisten von diesen neun stammen aus jener Gruppe, die einen grundlegenden Fehler machen, indem sie glau ben, wir meinten es nicht ernst.« Er machte wieder eine Pause und ließ seine Blicke in der Runde schweifen. »Und gleichzeitig«, fuhr er dann fort, »wer den Sie die drei Übungskurse absolvieren müs 123
sen, die notwendig sind, damit ein Kontaktoffi zier vollwertig wird. Diese drei Pflichten sind …« – er hielt drei Finger in die Luft, wäh rend er aufzählte – »… Adjutant für jeden An griffsflügel beim ersten Angriff beziehungswei se bei jeder Landung, dann Übersetzer und Verwaltungsbeamter für Kriegsgefangene wäh rend des Kampfes, und danach drittens schließlich Kontakt-Mann mit der Aufgabe, Freundschaft mit den Wesen zu schließen, de ren Verwandte wir gerade getötet, deren Hei me wir vernichtet und deren Stolz wir zutiefst getroffen haben.« Er unterbrach sich. Auf eine verteufelt freundliche Art ließ er seine Blicke über die Klasse schweifen. »Wenn Sie das alles gelernt und verstanden haben – und vor allem, wenn Sie durch das Training gekommen sind – , dann wird man Sie zur Bewährung in den Fronteinsatz schicken. Und dann werden Sie merken, daß alle gegen Sie sind. Die Besiegten werden Ihnen mißtrau en, selbst wenn sie nicht direkt mit Haß erfüllt sind. Die einfachen Soldaten halten Sie für Leute, die sich bei den Fremden einschmei 124
cheln wollen, indem Sie ihnen das zurückge ben, was die Soldaten gerade für den Preis ih res eigenen Blutes erworben haben. Und die Offiziere schließlich sehen in Ihnen lästige Spione, die ihnen Hindernisse in den Weg le gen.« Er straffte sich. »Unter diesen Umständen erwartet man von Ihnen, daß Sie Ihren Pflichten nachkommen, daß Sie alle Widrigkeiten und Intrigen unbe achtet lassen und dabei ruhig, beherrscht und freundlich bleiben, ferner, daß Sie niemals um eine Antwort, ein Argument verlegen sind und daß Sie niemals Ihre Augen vor einer Situation verschließen, die Ihr Eingreifen erfordert. Wenn Sie das alles schaffen … ich sage, wenn«, der Oberst hielt inne und sah freundlich in die Runde, »nun, wenn Sie das schaffen, dann zweifle ich nicht daran, daß es immer neue Aufgaben für Sie geben wird.« Er schob seine Papiere zusammen und nahm sie auf. Er hatte kein einziges Mal darauf ge blickt. »Das wäre dann alles«, sagte er freundlich. »Das war der Stoff der heutigen Stunde. Sie 125
können alle für den Rest der Stunde hierblei ben und darüber nachdenken, diejenigen, die lieber vorher aufgeben möchten, finden das Verwaltungsbüro den ganzen Tag geöffnet. Für die restlichen zehn Prozent jedoch, die es bis zum Ende schaffen«, er trat von dem Redner pult zurück, so daß seine kleine Figur mit dem steifen Bein wieder sichtbar wurde, »gilt der Ruf: Willkommen, feige Memmen!« Er wandte sich um und verließ den Raum, während die Klasse stehen bleiben mußte. So etwas nannte man »jemanden schlau chen«, erinnerte sich Cal. Die Methode war schon seit undenklichen Zeiten von vielen Or ganisationen und Kulturen praktiziert worden, und immer mit der gleichen Absicht: festzu stellen, ob jemand die benötigte Spannkraft hatte, die Fähigkeit, durchzuhalten, eine Fä higkeit, die vielleicht später einmal von ihm gefordert wurde. Es war ausschließlich eine seelische Tortur. Und Cal glaubte jetzt zu ver stehen, daß es die Fortsetzung dessen war, womit man in Fort Norman Cota aufgehört hatte. Es war genau so, wie der kleine Oberst mit dem steifen Bein gesagt hatte. Hier war 126
man wirklich hart. Man war hart, und zwar auf übelste Weise. Am zweiten Unterrichtstag – diesmal durften sie sitzen – informierte sie der Oberst mit sichtlicher Befriedigung, daß es unter ihnen ei ne bestimmte Anzahl falscher Kadetten gäbe; die Aufgabe dieser Männer wäre es, auf jede nur denkbare Art provozierend zu wirken. »Sie sollen Sie aufstacheln«, sagte der Oberst, »Sie aufhetzen …« Er brach plötzlich ab und ließ seine Augen wie ein beutegieriger Vo gel auf einem Kadetten in der ersten Reihe ru hen. »Paßt Ihnen mein Vortrag nicht?« wollte er wissen und begann sofort intensiv und aus dauernd zu fluchen. Die anderen reckten sich, um den Ärmsten sehen zu können und merk ten, wie dieser sich verkrampfte, erst blaß und dann rot wurde. Nach einer Minute wandte sich der Oberst wieder der Klasse zu. »Es lohnt die Worte gar nicht mehr. Ich habe einen Blick in seine Per sonalakte geworfen. Seine Familie, als er so etwa sieben Jahre alt war …« Er fuhr in freund lich plauderndem Ton fort, einen Katalog von Perversionen, Grausamkeiten und anderen 127
Schimpflichkeiten aufzuzählen, die in Zusam menhang mit der Familie des Kadetten stan den, deren einzelne Mitglieder der Oberst alle beim Vornamen nannte. »… Jetzt zu seiner äl teren Schwester Myra …« Plötzlich sprang der Junge hoch und brüllte zurück. Der Oberst brach ab, stützte seine Ell bogen auf und lauschte interessiert, bis der Kadett schließlich abbrach, sich umdrehte und aus dem Raum stürzte. »Sehen Sie«, sagte der Oberst erfreut, »dann sind wir für heute schon einen losge worden.« Er machte eine Notiz in seinen Papie ren. Während er das tat, fing sein Blick den von Cal auf, der ebenfalls in der vordersten Reihe saß. »War sehr empfindlich, nicht wahr?« fragte er Cal vertraulich. »Sir?« antwortete Cal mit unbewegter Mie ne. »Ah«, rief der Oberst und winkte der Klasse. »Hier ist einer von den Charakteren, die sich mit einer Betonmauer umgeben. Paßt über haupt nicht auf. Ein Elfenbeinturm-Typ.« Er lächelte. »Natürlich hat er es raus, wie man Meinungen übergeht. Ich habe auch seine 128
Personalpapiere studiert, genau wie die von Ih nen allen. Dem Vater dieses Mannes wurden einmal im Stadtpark fünfzig Hiebe verpaßt, weil er ein paar junge Männer in Schwierigkei ten gebracht hat. Nicht wahr?« wandte er sich an Cal. Und dann wurde seine Stimme messer scharf. »Antworten Sie mit Ja oder Nein.« »Sir …« versuchte es Cal. »Ja oder Nein?« Für einen Moment war Cal blind vor Wut. Dann aber gab er sich einen Ruck. »Jawohl, Sir«, sagte er, ohne seinen Tonfall zu verändern. »Sehen Sie?« sagte der Oberst, zur Klasse gewandt. »Er gibt es zu. Und Sie können se hen, daß es ihm gar nichts ausmacht. Wenn ich Sie wäre, würde ich mich in respektabler Ent fernung von ihm halten. Er macht auf mich den Eindruck, als hätte er die Ansichten seines Vaters übernommen.« Ein anderer schien die Aufmerksamkeit des Oberst erregt zu haben. »Sie billigen meine Methoden nicht?« fragte er jemand hinter Cal. Cal wandte sich um, als eine Stimme »Nein, Sir« antwortete. Es war Washun, wie Cal sah. Washun war 129
genau so blaß wie immer, wenn er vor Ort mann gestanden hatte. Aber seine Stimme klang fest und bestimmt. »Bitte machen Sie einen anderen Vorschlag«, forderte ihn der Oberst auf. »Ich habe jetzt keinen anderen Vorschlag zur Hand, Sir.« Washun wurde noch blasser. »Aber eines Tages wird man eine bessere Methode ausarbeiten.« »Genug!« unterbrach der Oberst. »Ihr Ein wand ist ein leerer Protest und hat keinen praktischen Wert.« Er nahm einen Bleistift auf und fuhr damit über ein Schriftstück vor sich. »Ich gebe Ihnen eine Chance, und nur eine, Ih re Bemerkung zurückzuziehen. Nehmen Sie sie zurück?« Washun zögerte für den Bruchteil einer Se kunde. »Nein, Sir«, sagte er dann mit Bestimmtheit. »Sie haben mich gefragt und …« »Das genügt. Stehen Sie auf!« unterbrach der Oberst. Er machte sich eine Notiz. »Sie haben die Ehre, den ersten Pluspunkt zu erhal ten, den ich in dieser Klasse ausgebe. Sie alle werden sich das hinter die Ohren schreiben. 130
Sie sollen immer sagen, was Sie denken, ob das nun für Sie gut ist oder nicht. Im übrigen aber, Mr. Washun, wollen wir uns hier nicht gegen seitig beweihräuchern. Ein Tadel ist häufiger. Und deshalb werden Sie für den Rest der Stunde stehen bleiben. Als Mahnung für sich selbst und für die anderen.« Damit wandte er seine Aufmerksamkeit von Washun weg und begann einen anderen Schü ler in der zweiten Reihe zu quälen. Bis zum Ende der Stunde hatte er es geschafft, die Klasse um zwei weitere Mitglieder zu verklei nern. Als Cal zum nächsten Unterricht erschien, merkte er, daß jemand seine Notizen von der vorigen Stunde gestohlen hatte. So waren die Lebensbedingungen für die Kontaktdienst-Anwärter. Die Kandidaten wur den zu viert in einem Raum untergebracht, in dem sie ihre Aufgaben machen konnten. Essen gab es in einer Mensa. Die Mahlzeiten und die Betten waren gut. Aber es ging vieles schief, erst das eine, dann das andere. Das Bettzeug, das sie bekamen, erwies sich als zu kurz für die Betten. Der für die Ausrüstung verantwortliche 131
Offizier gab an, daß er ohne besondere Ge nehmigung die Sachen nicht umtauschen dür fe. Manchmal wurde das Essen ohne Grund verzögert, oder es wurde schlecht serviert. Fe ste Speisen waren zu Brei gekocht; Suppen, die heiß sein sollten, waren eiskalt. Die einfachen Rekruten, die nicht zu ihnen gehörten, beschimpften die Kandidaten. Wenn sie jemand in schlechten Ruf bringen konnten, taten sie es. Langsam merkten Cal und die an deren, daß es keinen einfachen, bequemen Weg gab, durch die Kontaktschule zu kommen. Es gab nur einen beschwerlichen Weg. Dann kam die Feindschaft hinzu, die ihnen die übrigen Referenten entgegenbrachten. Es schien beinahe so, als ob in dem Moment, in dem ein Kandidat einen Pluspunkt erworben hatte – wie Washun zu Anfang –, alle anderen Lehrer wetteiferten, ihm das zu versauern. Be schimpfungen und falsch zensierte Arbeiten gehörten noch zu den mildesten Waffen der Referenten. Cal war zusammen mit Washun und einem halben Dutzend anderer schon frühzeitig ausgesondert worden, um mit diesen Schikanen gepiesackt zu werden. 132
Aber Cal, der nicht die philosophische Kühle wie Washun besaß, hatte doch eine tiefe ange borene Sturheit in sich entdeckt, die ihn nicht nachgeben ließ. Genau wie damals, als er in der Rakete saß, um zu der zweiten Grundaus bildung gebracht zu werden, so sagte er sich auch jetzt, daß man einfach nur den Kopf ge beugt halten, dabei aber doch vorwärtsgehen mußte, und im übrigen den Instruktoren ihre Freude an dem häßlichen Spiel lassen sollte. Und das tat er. Aber als die Zeit voranschritt und der seelische Druck immer schlimmer wurde, merkte er, daß er bald explodieren würde. Daß der Moment kommen würde, wo der empfindsamere Teil seines Verstandes und seiner Seele revoltieren mußte. Dann bestand Gefahr, daß sein Temperament durchging. Und so kam die Nacht, in der er wußte, daß der nächste Tag sein letzter in der Klasse sein würde. Während er so in der Dunkelheit lag und auf die Matratze über sich starrte, kam ihm eine überraschende Lösung in den Sinn. Leise stand er auf, schlüpfte auf nackten Füßen und in Shorts und Unterhemd aus dem Raum und 133
schlich zu der kleinen Plattform nach draußen, wo die Feuerleiter begann. Sechs Etagen unter ihm, in der Nacht nicht sichtbar, war der Be tonboden des Exerzierplatzes. Wenn es zum Schlimmsten kam, dachte er, würde ein Sturz hier über das Geländer bei Nacht, während er gerade eine Zigarette rauchte, die Tatsache vertuschen, daß sie ihn gebrochen hatten. Eine wilde, wütende Freude überkam ihn bei dem Gedanken. Er würde sich nicht ergeben. Was auch immer passierte, er würde immer bis zum Abend warten können. Und in der Nacht, in der er den nächsten Tag nicht mehr erleben wollte, in der Nacht würde er das tun, was ihm als einzige Lösung er schien. Und plötzlich kam sein gesunder Menschen verstand wieder durch. Er erwachte aus seinen quälenden Träumen. Es war, als hätte jemand ein schmutziges Fenster reingewaschen, so daß er auf einmal deutlich hindurchsehen konnte. Der wilde Gedanke an Selbstmord verschwand wie der Schmutz, der das Fenster vorher un durchsichtig gemacht hatte. Der Druck, den die Schulung auf ihn ausübte, schrumpfte zu 134
den üblichen Sorgen zusammen, denen man immer und überall ausgesetzt war. Plötzlich sah er, wie hilflos eigentlich solche Methoden wie die hier ausgeübten, waren. Es gibt doch nichts, dachte er verwundert, das sie mir antun können. Mir kann niemand etwas anhaben. Der Tod war die einzige und ultimate Waffe, mit der man jemand bedrohen konnte. Und wer sich sein Leben lang nichts zuschulden kommen ließ, dem konnte man auch damit nicht imponieren. Zum ersten Mal spürte Cal ein wenig von der großen Kraft, die einen gläubigen Menschen bewegt, gleich wel chen Glaubens er auch sein mochte. Und zum ersten Mal dachte er auch an die acht Prozent der Menschheit, die an dasselbe glaubten, an das sein Vater geglaubt hatte. Ein Hauch von Ehrfurcht bewegte ihn, als er an die Macht dachte, die diese Menschen verkörpern könn ten. Nachdenklich ging er zu seinem Bett zu rück. Am nächsten Tag wachte er mit klarem Kopf auf. Als er zum Unterricht ging, merkte er, daß ein kleines Wunder geschehen sein mußte. Bis jetzt hatte er immer so getan, als ob ihn die 135
Worte und Handlungen, die ihn zum Aufgeben anstacheln sollten, nicht berührten. Jetzt auf einmal merkte er, daß es ihm wirklich nichts mehr ausmachte. Die Angriffe auf ihn waren zu Schattenwaffen geworden, die von Schatten geführt wurden. Sein Blick sah hinter ihnen wichtigere Dinge. Einmal, als sie an der Glastür zum Eßsaal vorbeimarschierten, sah er sein Spiegelbild. Er lächelte. NEUNTES KAPITEL Am Ende der zehn Wochen hatten Cal, Washun und die restlichen zehn Prozent es geschafft – ganz wie es der Oberst am Anfang vorherge sagt hatte. Während die anderen ihre neuen Leutnantsabzeichen mit auf einen achttägigen Urlaub nahmen, ersuchte Cal am nächsten Tag um eine Unterredung mit General Scoby. Die blasse, aber klare Septembersonne schien auf die Papiere auf General Scobys Schreibtisch, als Cal zum zweiten Mal dessen Dienstraum betrat. Seit sie sich damals getrof fen hatten, war die Zeit nicht stehen geblie 136
ben; die Bergwelt um Denver herum war in herbstliche Farben getaucht. Und der Ort jener ersten Begegnung lag viele Millionen Kilometer hinter ihnen auf dem Weg, den die Erde durch Raum und Zeit zurückgelegt hatte. Scoby saß genau so da wie damals, aber die Cheetah mit Namen Limpari lag diesmal quer über dem Schreibtisch mit ausgestreckten Pfoten, so daß sie die Ärmel von Scobys Hemd berührten, und hatte den Katzenkopf darauf gelegt. Die Augen des Tieres wandten sich Cal zu, als er eintrat, sonst machte Limpari keine Bewegung. Scoby sah auf. »Nun, Leutnant«, sagte er, »nehmen Sie Platz.« Cal setzte sich. »Sie sagten, ich sollte wiederkommen, wenn ich durch die Kontaktschulung durch wäre, General.« »Richtig.« Scoby langte nach seiner Pfeife und begann sie zu stopfen, während er Cal kühl betrachtete. »Sie haben es also geschafft.« Irgendetwas an dieser Frage schreckte Cal aus dem Frieden auf, den er in den letzten Ta 137
gen in der Kontakt-Schule gefunden hatte. Seine alte Wachsamkeit und Verteidigungsbe reitschaft kam wieder, gleichsam wie ein schar fes Schwert, das aus der Scheide gezogen wurde. »Sie haben das nicht erwartet?« »Naja«, sagte Scoby, hielt dabei sein Feuer zeug an seine Pfeife und stieß dicke Qualm wölken aus, »ich möchte Sie für den Dienst einsetzen, den ich im Auge habe, aber zur glei chen Zeit fürchte ich mich auch davor.« »Sir?« »Sie sind aus gutem Holz geschnitzt«, sagte Scoby. »Ich möchte Sie so hoch wie möglich in meine Organisation einreihen. Aber ich möchte nicht, daß Sie schneller dort hinkommen, als für Sie gut ist. Sie müssen erst seelisch aufge schlossen sein. Erzählen Sie mir etwas über die Paumons. Was haben Sie über sie in der Kon takt-Schule gelernt?« Cal runzelte die Stirn. »Sehr menschenähnlich«, antwortete er. »Beinahe menschlich genug, um in einer gro ßen Menge untertauchen zu können. In nack tem Zustand würde man natürlich den Unter 138
schied merken. Aber in Kleidern sehen sie aus wie ein Eskimo mit Sonnenbrand.« »Ah …« Scoby schloß seine Augen. »Wie nennt man sie?« »Sir?« »Die Soldaten und alle anderen, die von ih nen wissen. Welchen Namen haben sie für die Paumons?« »Oh«, erwiderte Cal, »Progs.« »Und was bedeutet das? Wie nennen Sie sie?« »Was das bedeutet?« echote Cal. »Ich weiß nicht, Sir. Ich selbst nenne sie manchmal Pau mons und manchmal Progs, je nach dem, mit wem ich spreche.« »Hm«, brummte Scoby. »Sie werden’s noch ’rausfinden. Wie steht es mit ihrer Kultur?« »Industrie. Sie gewinnen Energie aus Vulka nen.« »Kunst? Philosophie?« Cal sah den älteren Mann an. »Kunst?« fragte er gedehnt. »Philosophie? Darüber wurde in der Schule nichts gesagt.« »Und Sie haben sich natürlich auch nicht selbst darum gekümmert. Was ist die Aufgabe 139
des Kontakt-Dienstes? Können Sie mir das sa gen?« »Jawohl, Sir«, antwortete Cal. »So wie die Aufgabe der bewaffneten Truppe das Fernhal ten des Feindes von der menschlichen Rasse ist, so ist es Aufgabe des Kontakt-Dienstes, die Grundlage für eine friedliche zukünftige Zu sammenarbeit mit den früheren Feinden zu le gen!« »Sie sind wirklich groß im Hersagen von er lernten Sprüchen, Leutnant. Nun sagen Sie mir auch, wie Sie das anpacken wollen!« »Indem ich brauchbare Beziehungen mit den Führern der Paumons anknüpfe und indem ich mit ihnen die Bedingungen für eine zukünftige Zusammenarbeit ausarbeite.« »Verdammt noch mal«, brüllte Scoby plötz lich und hieb mit der Faust auf den Tisch. Lim paris Kopf kam hoch wie der einer Kobra. »Ich habe nicht nach Kapiteln und Versen gefragt. Ich habe gefragt, was Sie tun würden?« »Meinen Dienst«, erwiderte Cal und blickte in die Augen seines Gegenübers. »Das, was man mir aufträgt.« »Und ich sage Ihnen«, schnarrte der General 140
und lehnte sich nach vorne, »daß niemand Ih nen etwas aufträgt. Sie werden so handeln müssen, wie Sie es für richtig halten!« Er stu dierte Cal. »Wissen Sie, warum nichts über die Kunst und Philosophie der Paumons im Kursus gesagt wurde? Weil ich gesagt habe, sie sollten es nicht. Wenn Sie etwas darüber wissen wol len, dann finden Sie es selbst heraus. So weit es die Kampftruppe angeht, sind Sie ein ver dammter Adjutant und ein verdammter Dol metscher, der denen Kopfschmerzen macht. So weit es mich betrifft, sind Sie ein verdammter Stellvertreter, der nach christlichen Grundsät zen handelt, und ich erwarte, daß Sie etwas Vernünftiges zustande bringen.« Er sah lange auf Cal. Der erwiderte den Blick, ohne eine Miene zu verziehen. »Na schön«, sagte Scoby dann ruhiger, wäh rend Limpari ihren Kopf wieder sinken ließ, »wie ich schon sagte, erwarte ich von Ihnen mehr, als ich für gewöhnlich von meinen Un tergebenen verlange. Ich habe eine besondere Aufgabe für Sie: Kontaktoffizier – bei Ihrer alten Truppe.« Cal versetzte es einen Schock. Er war ähnlich 141
wie vor drei Monaten nach den bösen letzten Worten von Walk. »Wollen Sie noch abspringen?« wollte Scoby wissen und fixierte ihn dabei aus allernächster Nähe. »Nein, Sir«, erwiderte Cal. »Dann brechen Sie auf.« Scoby wandte sich wieder seinen Papieren zu. Cal erhob sich und verließ den General. Er wollte einen mehrwöchigen Kurs bei den Sanitätsabteilungen absolvieren, um fit für sei ne Pflichten als Sanitätsoffizier zu sein. Er hat te geplant, Annie am gleichen Abend noch vom Hospital abzuholen. Und er hatte auch in die Bibliothek gehen wollen, um sich noch ausführ licher mit den Paumons zu beschäftigen, nach dem Scoby ihm das nahegelegt hatte. Alles das blieb liegen. Noch an jenem Nachmittag gaben die Nach richten durch, daß der Streit mit den Paumons seinen Höhepunkt erreicht hatte. Das Weltka binett war außerplanmäßig zusammengerufen worden. Sechs Stunden später wurde Cal von einer Militär-Patrouille aufgegriffen und auf Grund eines allgemeinen Erlasses gemeinsam 142
mit allen anderen Uniformierten einkaserniert. Achtundsiebzig Stunden danach war er mit dem ganzen Geschwader bereits im Raum auf dem Flug zu den Paumons im System Bellatrix. Die Einquartierung auf ihrem Schiff war wie bei allen Schiffen der Angriffsflotte denkbar eng. Die erfahrenen Soldaten taten daher ihr Bestes, zu allen anderen äußerst freundlich zu sein. Cal traf die anderen Offiziere seines Flü gels. Walk, der einzige, der schon früher dazu gehört hatte, war Führer der Sektion A des Vierten Angriffsflügels und außerdem Adjutant beim Oberbefehlshaber des Flügels, Captain Anders Kaluba, der diesen Posten jetzt beklei dete. Kaluba war ein freundlicher, braunge brannter Mann, der bei den Zweiundsiebzig sten Kampfpionieren gegen die Lehaunan Leutnant gewesen war. Er schien nicht ausge sprochen voreingenommen gegen Kontaktoffi ziere zu sein. Und Walk benahm sich beinahe unterwürfig, als er Cal sah. Er sagte kaum et was. Joby Loyt war Korporal unter Walk. Tack war zum Unterführer aufgestiegen und redete und handelte etwas gereifter als früher. Die Kampfflotte war jetzt seit neun Tagen 143
unterwegs und nur noch vierzehn Stunden von ihrem Ziel entfernt. Ein Befehl war ausgegeben worden, daß General Harmon, der Geschwa derkommandeur, eine kurze Botschaft an alle Offiziere und Mannschaften richten wolle, und zwar zur Zeit X minus 12 Stunden. Auf Cals Schiff hatte man die Hängematten aus dem Hauptraum entfernt, und alle waren hereinge kommen und saßen jetzt mit übereinanderge schlagenen Beinen zusammengepfercht auf dem kalten Metallboden. Am anderen Ende des Raumes war ein kleiner Podest errichtet wor den. Punkt zwölf Uhr erschien über dem Podest das dreidimensionale Abbild der Zentrale des Flaggschiffs. Man sah ein Pult, eine Wandkarte von der Paumonwelt und eine Tür. Ein paar Minuten später öffnete sich die Tür, und das Abbild von General Harmon erschien vor den versammelten Leuten. Er trug eine leichte Kampfkombination und darüber einen Strah lenschutzanzug, aber keine Waffen. Er nickte in die Kamera hinein; ein Raunen lief durch die Menge. Harmon sah leicht ermüdet aus, aber zuversichtlich. 144
»Ich will Sie nicht aufhalten«, begann er. »Ich möchte, daß Sie alle, sobald ich fertig bin, sich hinlegen und so viel wie möglich Schlaf noch mitnehmen.« Er nahm einen Zeigestock auf und ging zu der Wandkarte. »Hier«, sagte er und zeigte auf einen qua dratischen Kontinent, der sich vom Äquator aus nach Süden und Westen erstreckte, »ist das zentrale Hochplateau, das unser Geheimdienst für den vielversprechendsten Landeplatz hält. Das Wetter dort ist zu dieser Jahreszeit gleichmäßig gut. Das Gelände ist sowohl leicht wegen seiner Rauhheit zu verteidigen als auch ausgezeichnet geeignet für unsere Überland transporte. Außerdem ragt es über die Indu striezentren dieses Schlüsselkontinents hin weg. Sie werden alle noch die nötigen Einzel heiten von Ihren Kommandanten erhalten.« Er legte den Zeigestock beiseite und ging wieder an das Pult, von wo er seine Blicke über alle schweifen zu lassen schien. Einen Moment war es in dem großen Raum mit den Soldaten vollkommen ruhig. Dann hustete irgendje mand, und einige andere husteten mit. Um Cal 145
herum war die Luft schwer und erfüllt von dem Geruch vieler Menschen, die zusammen gepfercht waren. Stiefel scharrten über den Boden, wenn sich jemand bequemer zu setzen versuchte. Harmon räusperte sich. »Die Rasse, der wir in wenigen Stunden ge genüberstehen werden, ist ein zähes Volk. Wir brauchen das nicht zu beschönigen. Aber, da es Fremde sind, sind sie natürlich nicht so zäh wie wir. Die Progs werden feststellen, daß sie in etwas gebissen haben, das sie nicht schluk ken können.« Harmon verschränkte die Hände hinter dem Rücken und trat etwas zurück. »Wenn ein Mensch kämpft, weiß er wofür. Das ist ein Grund, weshalb wir den Fremden immer überlegen waren. Alles, was die wissen, ist nur, daß irgendein Fremder ihnen an den Kragen will, oder vielleicht meinen sie auch, es wäre eine gute Möglichkeit, an einige Dinge heranzukommen. Aber des Menschen Pflicht ist es, zu wissen, warum er kämpft. Und deshalb bin ich hier, um Ihnen zu sagen, was in der letzten Zeit passiert ist und warum dieser 146
Feldzug nötig ist.« Cals linker Fuß begann einzuschlafen. Er streckte leise seine Beine. »Wie Sie alle wissen«, fuhr Harmon fort, »breitet sich unsere Rasse und Kultur aus und verlangt, daß wir ständig nach neuem Lebens raum Ausschau halten. Vor drei Jahren kamen wir zum ersten Mal mit dem System Bellatrix in Berührung und legten auf zwei der unbe wohnten, weniger brauchbaren Planeten Ab schnittsbasen an. Zur gleichen Zeit nahmen wir mit den Progs Kontakt auf und erklärten ihnen, daß wir nur an etwas interessiert wären, das ihnen doch nicht gehörte, und daß wir nicht beabsichtigten, sie in irgendeiner Weise zu belästigen.« »Rück mal etwas zur Seite!« verlangte ein Mann schräg hinter Cal. »Du sitzt ja bald auf meinem Knie.« »Dann nimm dein Knie weg!« wisperte eine andere Stimme. »Ich hab nicht mehr Platz als du.« »Nun«, fuhr der General fort, »sie zögerten ihr offizielles Einverständnis hinaus. Und kurze Zeit später, vor weniger als sechs Monaten, er 147
hoben sie offizielle Anklage wegen – wie sie es nannten – militärischer Einrichtungen in ihrem Hoheitsgebiet. Wir versuchten zu verhandeln, aber vor einem Monat übergab man uns ein Ul timatum, ihr System zu verlassen. Vor zehn Tagen griffen die Paumons ohne Warnung an und übernahmen unsere Leute und unser Ei gentum. In zwölf Stunden werden Sie unsere Antwort darauf erhalten.« Harmons Blick ging von rechts nach links. »Das war es, Soldaten. Legt euch jetzt hin und versucht noch eine Mütze voll Schlaf zu nehmen. Und morgen werden wir ihnen die Hölle heiß machen!« Er gab einen leichten Wink mit der Hand, drehte sich um und verschwand durch die imaginäre Tür aus dem Bild. Die Bühne wirkte leer und blank. Die sitzenden Männer erhoben und streckten sich, und der Raum war plötzlich überfüllt. In geordneten Massen verließen sie ihn und fluteten durch die Korridore des Raumschiffes zu ihren Quartieren. Einge zwängt in die Massen, hörte Cal auf einmal seinen Namen. Es war Captain Kaluba. Cal ging auf die Ecke 148
der Kabine zu, wo Kaluba auf ihn wartete. Dieser hatte auf Grund seines Ranges und wegen seiner Pflichten keine Hängematte, son dern eine Koje und ein zusammenklappbares Tischchen. Kaluba saß auf seiner Koje vor dem Tischchen, als Cal zwei volle Hängematten bei seite schob, um zu ihm zu gelangen. »Sir?« fragte er. Kaluba ordnete gerade seine Berichte zu ei nem sauberen Stoß. Er sah auf, als er Cals Stimme hörte. »Ach, Sie sind es, Leutnant. Sie brauchen nicht mit dem ersten Stoßtrupp an Land zu gehen. Sie können später mit den Sanitätern nachkommen.« Cal runzelte die Stirn. »Sir«, sagte er, »ich bin Adjutant und Sani tätshelfer dieses Angriffsflügels.« »Ich weiß«, erwiderte Kaluba. »Ich habe ein paar von den älteren Männern für diesen Po sten ausgewählt.« Es entstand eine verlegene Pause. »Darf ich fragen, warum?« sagte schließlich Cal. »Ich denke schon«, erwiderte der Captain. 149
Sein dunkles Gesicht sah müde aus. »Sie wa ren früher Soldat. Und es geht auf meine Kap pe, wenn Sie aktiv in den Kampf eingreifen sollten – Sie kennen die Vorschriften. Ich den ke, es wäre besser, wenn Sie nicht direkt von Anfang an dabei sind.« »Sie vertrauen mir also nicht?« wollte Cal wissen. »Ich vertraue Ihren Reflexen nicht.« Kaluba senkte seine Stimme. »In fünfzehn Stunden oder weniger werden einige dieser Männer schwer verletzt sein, andere werden sterben. Sind Sie vollkommen sicher, daß Sie dabei ste hen und bloß zusehen können?« »Jawohl, Sir.« »Well, ich bin es nicht.« »Captain«, sprach Cal weiter, »ich glaube, Sie haben sich da in etwas verrannt. Ich bin Adjutant und Helfer, und Sie werden mich bei dem Angriff brauchen.« Er sah Kaluba scharf an. »Sie werden jeden Mann brauchen.« Kaluba kaute ärgerlich auf seiner Unterlippe. »Ich bin trainiert und habe Erfahrungen«, sagte Cal. »Wenn Sie mich hier zurücklassen, werde ich einen Bericht machen und Sie ankla 150
gen, persönliche Vorurteile gegen mich zu ha ben. Ich glaube nicht, daß das Bordgericht Ihre Gründe für berechtigt halten wird.« Kalubas Augen flackerten, als sie Cal ansa hen. Dann blickte der Captain auf seine Papiere und fluchte. »All right«, sagte er schließlich. »Schlafen Sie noch etwas.« Cal ging zurück zu seiner Hängematte und kletterte hinein. Neben ihm lag Leutnant Wa jeck, der Sektion B führte, in seiner Matte und hielt mit seinen behaarten Händen die Seilen den gepackt. »Denk an ein hübsches Mädchen«, riet ihm Cal. »Ich bin schon in Ordnung«, erwiderte Wa jeck, ohne seine Augen von der Decke über sich zu nehmen, »ich kann nur nicht schlafen.« Die erste Landungswelle ging dreizehn Stun den später nieder. Der Kampfgleiter, der Cal zusammen mit Sektion A und B trug, schwebte in zweihundert Meter Höhe und setzte nach rechts und links die Soldaten ab. Es sah aus, als ob jemand Popcorn ausgestreut hätte. Cal bediente kurz die Raketen auf seinem Rücken 151
und landete in einem weiten Bogen unter ei nem Baum, der ihn so sehr an einen Baum wollbaum erinnerte, daß er nur schwer einen Unterschied entdecken konnte. Die Bäume in der stürmischen Hügellandschaft auf Lehaunan waren zerzaust gewesen und hatten nur ent fernt an terranische Nadelbäume erinnert. Auf der Welt der Griella hatte es überhaupt keine richtigen Bäume gegeben, sondern nur Büsche. Aber hier waren die Bäume wie richtige Bäu me, das Felsenland ringsum war grün von ech tem Gras. Cal warf seine Raketen ab und überprüfte das Armbandradio. Alle Männer der beiden Sektionen waren heil heruntergekommen und bewegten sich schon in Richtung des roten Fleckens, der den Standplatz des Sektionsfüh rers anzeigte. Das würde Walk sein. Cal orien tierte sich kurz und machte sich dann auch auf den Weg. Er hatte drei Viertel seines Weges zu dem zehn Meter hohen Felsbrocken mit dem roten Markierungspunkt zurückgelegt, als der erste Suchtorpedo der Paumons über den niedrigen Hügel zu seiner Linken kam. Er blinkte schwarz 152
in seinem Gesichtsfeld auf, wie eine Mücke, die einem ins Auge fliegt. Dann flog der Felsen, auf den er zugehalten hatte, in einem Inferno von brauner Erde und Felstrümmern in die Luft. »Ausschwärmen! Ausschwärmen!« gellte Cals Stimme automatisch los. »Torpedos!« Er hatte sich bei dem Aufblinken ohne zu überlegen hingeworfen. Jetzt erhob er sich wieder und rannte in die Richtung auf die Fel sen zu. Als er dort ankam, fand er einen Kra ter, fünf tote Männer, einen Jungen mit einem abgerissenen Bein und Leutnant Wajeck. Wa jeck saß gegen einen Felsen gelehnt und schien unverletzt. Allerdings saß er zusammengekau ert da, als fröre er. »Bist du in Ordnung?« fragte ihn Cal. Er be kam keine Antwort. Darauf ging Cal zu dem jungen Burschen, dessen Bein abgeschossen war, und gab ihm eine Spritze. Danach machte er ihm einen Druckverband am Oberschenkel und band eine Kompresse auf den Beinstumpf, die er so anlegte, daß sie alle fünfzehn Minuten gewechselt werden konnte. Cal wandte sich wieder an Wajeck. »Was fehlt dir denn?« fragte er und zog an 153
dessen Armen. »Oh, Gott«, sagte Wajeck, »ich habe es ge wußt. Mitten in den Leib. Ich habe es gewußt, ich habe es gewußt.« Cal zog die Arme zur Seite und sah, daß die Uniformjacke des Leutnants in der Magenge gend über und über mit Blut verschmiert war. In der Jacke war ein Riß, durch den man auf die Verletzung sehen konnte. Es war ein häßli ches Loch. Er legte auch hier einen Verband an und gab Wajeck ebenfalls eine Spritze, aber dessen Miene sah schon verfallen und fremd aus. Ein weiterer Suchtorpedo kam plötzlich über die Hügel, und Cal zog Wajeck mit sich in Deckung. Die Explosion war keine fünfzig Me ter von ihnen entfernt. »Oh, Gott«, sagte Wajeck mit tonloser aber klarer Stimme neben Cals Ohr, als sie in Dek kung lagen. »Ich habe es gewußt. Ich war ganz sicher. Ich habe es gewußt.« »Wo ist Walk?« fragte Cal. Wieder ging rechts von ihnen ein Torpedo nieder. »Er ist im letzten Moment in Kalubas Gleiter befohlen worden. Er ist nicht mit uns gelandet. Oh, Gott …« 154
»Wo sind deine Korporale?« »Da. Da, und die Unterführer auch …« Wa jeck hob schwerfällig eine Hand und zeigte auf die Toten, die der erste Torpedo zurückgelas sen hatte. »Ich hatte ihnen befohlen zusam menzubleiben, als wir abgesetzt wurden, damit wir alles besser organisieren könnten.« Cal starrte auf das nur wenige Zentimeter neben ihm liegende Profil Wajecks, der mit lee ren Augen in den wolkenlosen Himmel blickte. »Hast du nicht gelernt …« Cal brach ab. »Ir gendjemand muß die Männer von hier weg bringen. Du mußt doch noch irgendeinen Offi zier hier haben.« »Nein, keinen. Keinen einzigen«, murmelten Wajecks Lippen in den Himmel über ihm. Plötzlich verstummte er. Mühsam wandte er seinen Kopf zur Seite. Wie aus weiter Ferne blickte er Cal direkt in die Augen. »Du!« sagte er. »Du weißt, was zu tun ist. Übernimm das Kommando, um Gottes willen. Übernimm es Cal, jetzt sofort!« Es gab ein lautes Krachen und Dröhnen. Ein Torpedo detonierte so nahe bei ihnen, daß Erde und Steine auf sie herabregneten. Der Bursche 155
mit dem abgerissenen Bein war gerade zu sich gekommen und schon wieder getroffen wor den. Er begann zu schreien. ZEHNTES KAPITEL Die Männer lagen im Sterben, und einer wein te. Cal sah sich unter dem Donner und Beben der in der Nähe niedergehenden Torpedos um und sah, daß es der junge Mann mit dem abge rissenen Bein war. Er lag auf seinem Rücken, und große Tränen rannen aus seinen Augen und liefen ihm über das Gesicht. Cal sah wie der auf Wajeck, der versuchte, sein Komman doradio vom Handgelenk zu kriegen. Aber sei ne Finger waren schon zu schwach, um das fe dernde Stahlband abzubekommen; es rutschte wieder zurück. »Nimm es.« »Ich kann nicht«, antwortete Cal. »Kaluba wollte mich gar nicht mitgehen lassen, weil er fürchtete, daß ich so etwas Ähnliches tun wür de. Ich habe meine Vorschriften.« »Du Feigling«, sagte Wajeck und arbeitete immer noch wie ein eigensinniges Kind an sei 156
nem Armbandfunkgerät. »Du kümmerst dich nicht um diese Männer, dein einziger Gedanke ist deine Uniform. Niemand lebt immer nur nach Vorschriften, das weißt du auch. Aber ich werde dich doch dazu bringen, du lausiger Feigling.« »Bemüh dich nicht«, erwiderte Cal. Er zog den Arm mit dem Funkgerät aus dem schwa chen Griff von Wajecks anderer Hand und hielt es an seine Lippen. Dann drückte er den Sprechknopf. »Herhören, Leute«, sprach er hinein. »Hier spricht Leutnant Truant. Leut nant Wajeck ist handlungsunfähig und ebenso alle anderen Führer. Ich bin Kontaktoffizier, und ihr wißt, daß ich den Befehl nicht über nehmen darf. Wir brauchen jemand hier, der das Kommandogerät nimmt. Aber es eilt. In weiteren zehn Minuten haben uns die Torpedos alle erwischt, wenn jetzt nicht jemand seine Bedenken über Bord wirft und sich freiwillig meldet. Es muß sich jemand ganz schnell entschließen und sofort herkommen.« Einen Moment lang hatten die Explosionen aufgehört. In der unwirklichen Stille, die folg te, sah sich Cal hastig um. Es waren zwei oder 157
drei größere Trichter in der Nähe zu sehen, aber die Granaten schienen weiter keinen gro ßen Schaden angerichtet zu haben. Cal mußte sich erst wieder in Erinnerung rufen, daß der Suchmechanismus der Torpedos mit an Si cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überall dort wenigstens einen Mann gefunden hatte, wo ein Loch im Boden gähnte. Ein Soldat erschien hinter einem Baum in ei ner Entfernung von etwa achtzig Metern und begann auf die Felsen zuzurennen, hinter de nen Cal lag. Zur gleichen Zeit tauchte links von Cal ein anderer Mann auf, der aber sogleich wieder in Deckung ging, als er den ersten ren nen sah. Cal zählte die Sekunden, während er den heranrasenden Mann beobachtete. Aber nichts geschah. Erst zwei Sekunden, nachdem er ne ben Cal und Wajeck in Deckung gegangen war, erschien wieder ein Suchtorpedo und explo dierte links von ihnen. Der Mann war in den Dreißigern, klein und mit einem haselnußbraunem Gesicht. Cal such te in seiner Erinnerung. »Mahauni?« fragte er. 158
»Jawohl, Sir«, antwortete Mahauni. »Was muß ich tun?« »Was du meinst, das getan werden muß«, erwiderte Cal. »Es ist deine Sache.« »Jawohl, Sir. Was würden Sie tun?« »Die Männer auf Trab bringen. Jeden minde stens fünfzig Meter vom nächsten entfernt hal ten.« Cal deutete auf das Funkgerät an Wa jecks Handgelenk. Die beiden Sektionen unter Wajeck waren in einem Gebiet mit einem fla chen Hügel im Westen und dichten Wald im Osten heruntergekommen. Jenseits des Waldes, etwa fünf Kilometer entfernt, war das Ba taillonskommando. »Die Grenzlinie unserer Stellungen ist drei Kilometer entfernt«, sagte Cal. »Als ich Soldat war, hatte man Torpedo-Abwehrstrahlen um das Hauptquartier. Also machen wir uns dahin auf. Ich nehme den Leutnant. Du nimmst den Jungen da.« »Okay«, sagte Mahauni. Er bewegte sich wie ein alter Hase, streifte Wajeck das Funkgerät vom Arm und begann hineinzusprechen. Er gab Kommandos, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. 159
»Fertig; es kann losgehen«, sagte er schließ lich zu Cal. Das Funksprechgerät war jetzt an seinem eigenen brauen Handgelenk. Sie rannten los. Der Rest war einfach nichts als eine schreckliche, harte Schinderei; vor wärtsstürmen mit einem verwundeten Mann auf dem Rücken, dazwischen Kommandos an die restlichen Männer der beiden Sektionen geben und immer wieder aufatmen, wenn die Torpedos sie verfehlt hatten. Aber sie schafften es schließlich und kamen über die Verteidi gungslinien der Kommandobasis, zusammen mit noch dreiundfünfzig Männern, die von hunderteinundachtzig übrig geblieben waren. Bis zum Abend des ersten Tages hatten die erste, zweite und dritte Landungswelle auf der Welt der Paumons Fuß gefaßt und sich neu gruppiert. Sie formierten sich zu einer halb runden Angriffsfront, die drei Paumon-Städte und mehrere hundert kleinere Ansiedlungen einschloß. Die Ansiedlungen waren zur Haupt sache Wohnplätze, während die Städte nur In dustriegebiete waren, die hier ihre Energie aus Vulkanschloten gewannen. Cal, der sich bei Kaluba zurückgemeldet hat 160
te, bekam die Erlaubnis, für einige Stunden seinen Angriffsflügel zu verlassen, um den Kontakt mit seiner eigenen Abteilung aufzu nehmen und sich Instruktionen zu holen. Sein eigentlicher Grund war aber, daß er seine Ge schichte von der Landung gern jemand wie Scoby (der auch mitgekommen war und zu den Führern des Kontakt-Dienstes gehörte) er zählen wollte, ehe ihm irgendeine andere Ver sion zu Ohren käme. Er hatte keine Ahnung, wo das KD-Hauptquartier sein könnte, und so machte er sich auf den Weg zur ExpeditionsLeitung, wo man ihm sicher Bescheid geben konnte. Er fand sie kurz vor Sonnenuntergang – eine getarnte Ansammlung von Kuppeln in einer kleinen Lichtung, umgeben von den baumwollähnlichen Bäumen. »Kontakt-Dienst-Hauptquartier?« fragte er einen Korporal, der zwischen den Kuppeln auf und ab ging. »Fragen Sie bei dem Verbindungsoffizier, Kuppel acht«, bekam Cal eine kurz angebun dene Antwort. Der Korporal sah nur auf die Abzeichen an Cals Rockaufschlag, sah ihm aber nicht ins Gesicht. 161
Cal fand die Kuppel acht schnell. Er schritt vor dem Eingang durch den Schutzschirm und fand sich in einem leeren Büro, in dem einige Tische und Stühle standen. Eine Tür an der Hinterwand führte zu einem weiteren Raum, aus dem Wortfetzen eines Gespräches dran gen. Jetzt fiel Cal ein, daß eigentlich Zeit zum Abendessen war. Die Leute aus dem äußeren Büro saßen vermutlich jetzt da drinnen zu sammen mit dem Verbindungsoffizier und lie ßen es sich schmecken. Er ging auf die Tür zu, hielt dann aber inne, als er General Harmons Stimme erkannte; eine andere gehörte Oberst Alt. Es würde wohl kaum das richtige sein, den Kommandierenden General des Feldzuges um eine Auskunft zu bitten. Cal zog sich einen Stuhl an die Wand heran, um auf die Rückkehr des Verbindungsoffiziers zu warten. »… Wismut.« Die Stimme des Generals klang dünn durch die Trennwand. »Ihr Nachrichten system beruht auf diesen Thermosäulen. Wir riegeln einfach das Industriegebiet ab, dann müssen sie zu uns kommen. Darauf setzen wir weitere Truppen ab. Hier schlagen wir zu, in Zone fünf. Und Zone drei. Und auf der anderen 162
Seite des Planeten, in Zone elf, dem Bergland. Nebenbei, wir müssen das Gebiet noch vor En de des Feldzuges säubern, Hag. Es ist für eine Partisanentätigkeit wie geschaffen. Setze vor den Bergen eine starke Abteilung ab, die von einem Mann mit Erfahrung geleitet wird. Aber gib ihm nicht zu viele Leute …« Cal verbannte die Stimmen aus seinem Ge hör und ließ seine Gedanken zu Annie schwei fen. Sie mußte bei der Sanitätseinheit sein, und deren Quartier würde der Verbindungsof fizier auch kennen. Aber wahrscheinlich würde er, Cal, keine Zeit mehr haben, wenn er erst das KD-Quartier gefunden hatte und seine Ge schichte losgeworden war. »… Vierter Angriffsflügel, Einundneunzigste Pionierabteilung«, sagte Alt gerade. Cal kam aus seinen Gedanken wieder zu sich, als er die Bezeichnung seiner eigenen Abteilung hörte. »Ein paar Sektionen, ich verstehe.« »Ja«, hörte Cal jetzt Harmons Stimme ant worten. »Aber von einigen Verlusten abgese hen war es eine nahezu perfekte Landung. Beinahe zu perfekt. Wir haben einen Vor sprung in der Entwicklung von Waffen von gut 163
fünfzig Jahren vor den Paumons, und das be deutet leicht zuviel Selbstgefälligkeit auf unse rer Seite.« »Die Männer werden sich schon zusammen reißen, wenn sie mehr zu tun bekommen«, er widerte Alt. »Zweifelsohne. Aber wird das reichen? Sol daten sollen den Feind nicht mit wohlwollender Verachtung betrachten. Sie sollen ihn hassen, sie sollen ihn fürchten. Alles andere hat schon in der ersten Nacht eine Reihe von durch schnittenen Kehlen zur Folge.« »Ich werde einen entsprechenden Tagesbe fehl ausgeben.« »Hat keinen Zweck, Hag. Die Progs sind teil weise schuld daran. Sie behandeln uns, als wa ren wir Halbwilde, und tun so, als würden wir dasselbe von ihnen denken. Jeder vergißt, daß ihre Streitmacht die unsere im Verhältnis sechshundert zu eins übertrifft, wenn man es einmal mathematisch ausdrücken will. Eines Tages wachen wir auf und sind umzingelt und besiegt.« Harmon brach plötzlich ab. »Ich hab’s!« »Ja?« 164
»Wir haben doch hier so ungefähr fünfhun dert Gefangene, nicht wahr?« »Stimmt, General.« »Wir suchen uns eine Stadt hinter unserer Front, sagen wir, diese hier. Wie nennen die Progs sie? Manaha? Dann nimm dir einen brauchbaren Mann und schicke ihn mit den Gefangenen dahin. Du verstehst, Hag?« Es entstand eine kurze Pause. Cal hatte sich plötzlich aufgesetzt und lauschte gespannt. »Ich glaube ja, Sir«, kam Alts Antwort. »Ich werden keine ins einzelne gehenden Be fehle geben. Tu du das auch nicht. Nimm nur den richtigen Mann.« »Gut. Ich denke, ich weiß schon, wen ich nehme.« »Mach’ die Sache richtig, und es wird sich schnell herumsprechen. Die Paumons werden sich …« Schnell und leise stand Cal auf und verließ den Raum. Er war schon in der Dunkelheit der Bäume in der Umgebung des Hauptquartiers untergetaucht, ehe er seine Schritte verlang samte. Eine kleine Brise war aufgekommen und strich ihm kühl über die Stirn. 165
Er ging weiter. Sein Bericht von der Landung mußte warten. Abrupt blieb er stehen. Er war weggelaufen, ohne auf die Richtung zu achten. Er mußte wenigstens bis an den Rand des Hauptquartiers zurück, um sich orientieren zu können. Aber er hatte nicht die Absicht, noch mal in die Nähe von Kuppel acht zu kommen. Er wandte sich nach links und begann das Ge lände mit den Kuppeln zu umrunden. Einige Augenblicke später kam er an einen hohen Stahlzaun. Er bog ab und ging daran entlang. Bald kam er aus dem Wald heraus und sah Paumons hinter den Drahtmaschen des Zaunes stehen. Das mußten die Gefange nen sein, von denen Harmon gesprochen hatte. Sie standen schweigend in kleinen Gruppen zusammen. Die Sonne Bellatrix war inzwischen untergegangen, aber der Westhimmel war noch ziemlich hell. In der Dämmerung sah man hier und da hellere Flecken bei den Ge fangenen aufleuchten. Es waren Verbände, die den Verwundeten angelegt worden waren und für die man die Uniformen der Gefangenen verwendet hatte. Die Uniformen waren außen dunkel- und innen hellgrün. Für die Notver 166
bände hatte man die Innenseiten nach außen verwandt, und das war Cal aufgefallen. Sie standen schweigend da, aber Cal sah, daß sie ihn beobachteten, als er vorbeiging. In dem Zwielicht sah er nur noch Umrisse; es konnten genauso gut Lehaunan sein wie Menschen. Cal ging weiter. »Kannechch … chen« sagte eine bekannte Stimme in seinem Innern. Die Welt schwankte plötzlich um Cal. Für ei nen kurzen Augenblick. Dann stand sie wieder still, und alles war so, wie zuvor. Cal merkte, daß er stehen geblieben war und nach seinem Strahlenanzug faßte. Den er nicht trug! Es lief ihm kalt über den Rücken. Cal wandte sich scharf um. Die dunklen Gestalten waren immer noch da. Sie schienen sich nicht bewegt zu haben. Ein einzelner stand besonders nahe, keine fünf Me ter entfernt, aber natürlich hinter dem Zaun. Cal ging zurück und trat an den Zaun, um das Wesen aus größerer Nähe zu sehen. Es war ein Paumon mit einem großen Verband, der sein halbes Gesicht bedeckte. Es sah so aus, als wä re er ziemlich böse an der Kinnpartie verwun 167
det. Cal sah, wie die hellen Partien in den Au gen des Paumon ihm entgegenleuchteten. Der Paumon sagte etwas. Cal hatte die Spra che gelernt. Wenn das, was der Mann gesagt hatte, zu verstehen gewesen wäre, hätte Cal es verstanden. Aber es war nicht zu verstehen gewesen. Der Kiefer oder die Zunge des ande ren mußte verletzt sein, so daß man ihn nicht verstehen konnte. Es war ein harter, rollender Laut gewesen, der keinen Sinn ergab. Aber er war an Cal gerichtet gewesen, und er hatte ein Gefühl ausgedrückt, das sich in dem Glitzern der Augen widerspiegelte. Cals Ohren und sein Unterbewußtsein hatten daraus ein verständli ches Wort gemacht. Cal wandte sich ab und ging weiter. Nach ei nem Moment stoppte er und kehrte wieder zu rück, aber der Gefangene, der ihn angespro chen hatte, war nicht mehr in der Nähe des Zaunes. Cal sah einen Augenblick auf die ande ren bewegungslosen Gestalten, dann wandte er sich endgültig ab und stieg den Hügel hinauf. Der äußere Raum in Kuppel acht war leer, wofür Cal dankbar war. Harmon und Alt unter hielten sich immer noch hinter der Trennwand. 168
Cal ging zu der Tür und klopfte. Innen gab es eine Pause. »Wer ist da? Kommen Sie ’rein!« sagte Alt. Cal öffnete die Tür und machte einen halben Schritt in den Raum hinein. Es gab einen Schreibtisch, an dem Harmon saß, und Alt stand, halb zur Tür gewandt, davor. Auf der anderen Seite des Raumes war noch eine Tür, und an den Wänden hingen zahlreiche Landkarten. »Leutnant Truant, Sir«, meldete Cal sich. »Kontakt-Dienst. Ich dachte, es wäre besser, mit dem Oberst zu sprechen. Es handelt sich um die Paumon-Gefangenen.« Alt drehte seinen Kopf noch ein wenig mehr herum und sah Cal direkt an. »Gefangene?« »Jawohl, Sir.« »Was ist mit den Gefangenen?« »Ich kam zufällig an dem Gelände vorbei, wo man sie eingesperrt hat, Sir«, erwiderte Cal. »Und einer sprach mich an. Sie wissen ja, man hat uns auf der Kontaktschule ihre Sprache beigebracht.« »Ich weiß«, nickte Alt. »Was ist nun mit den Gefangenen?« 169
»Ich dachte, ich sollte es Ihnen sagen, Colo nel.« Cal sah den Colonel offen an. »Die Ge fangenen scheinen zu glauben, daß irgendet was mit ihnen geschehen wird. Daß sie besei tigt würden oder so etwas. Ich dachte, daß ich mir als Kontaktoffizier die Erlaubnis holen soll te, um den Gefangenen in Ihrem Namen zu sagen, daß ihnen nichts Schlimmes passieren wird, daß wir sie gut behandeln werden.« Alt starrte ihn einen Moment lang an. »Das dachten Sie?« »Jawohl, Sir.« Cal konnte sehen, wie auch General Harmon ihn anblickte. Der General saß zurückgelehnt in seinem Stuhl und hatte ihn die ganze Zeit ohne eine Miene zu verziehen angesehen. »Sagen Sie mir, Leutnant«, fragte Alt, »sind Sie gerade in den Vorderraum gekommen?« »Jawohl, Sir«, antwortete Cal. »Es war nie mand da, und so klopfte ich. Ich hatte nicht gedacht, daß Sie eine Besprechung hatten.« »Geht schon in Ordnung«, sagte Harmon. Cal wandte sich ihm zu. Harmon fragte weiter: »Sagen Sie, sind Sie nicht der Offizier, den ich damals in Denver zu 170
General Scoby geschickt habe?« »Ganz recht, General.« »Dachte ich mir das doch. Ich habe ein ganz gutes Gedächtnis für solche Dinge. Well, Oberst«, wandte er sich dann an Alt, »ich den ke, der Leutnant sollte seine Absicht ausführen, nicht wahr? Wir wollen so früh wie möglich mit den Paumons in guten Kontakt kommen. War ten Sie draußen, Leutnant, ja? Der Oberst wird Ihnen ein paar spezielle Befehle geben, wenn wir fertig sind.« Cal ging zurück und nahm sich einen Stuhl, der weit weg von der Trennwand war. Er hör te, wie die Unterhaltung zwischen Alt und Harmon wieder begann. Jetzt aber waren die Stimmen so gedämpft, daß man die einzelnen Worte nicht unterscheiden konnte. Nach ein paar Minuten kamen die Leute, die den Raum vorher verlassen hatten, zurück. »Wollten Sie mich sprechen, Leutnant?« fragte der Verbindungsoffizier – ein hochge wachsener junger Mann mit blonden Haaren, die am Stirnansatz schon dünn wurden – , als er sich setzte. »Ich war auf der Suche nach dem KD 171
Hauptquartier«, erwiderte Cal. »Aber Oberst Alt ließ mich noch wegen einer anderen Sache warten.« »Ah, so«, gab der Captain zurück. »Well, KD ist bei den Ärzten, zwei Kilometer westlich, in Schutzzone vier-fünf-sieben-null. Ich nehme an, der Oberst wird Sie bald rufen.« Die Lichter wurden jetzt alle wieder ange macht, und die vier Soldaten und drei Offiziere machten sich emsig an ihre Arbeit. Über diese Geräusche hinweg hörte Cal, wie nebenan eine Tür ging. Ein, zwei Minuten später steckte Alt seinen Kopf in den Raum. »Truant!« rief er. Cal stand auf und ging in den Nebenraum. Alt studierte ihn eine Weile. »Leutnant«, sagte er dann. »Wir haben eini ge Befehle für Sie. Sie brauchen nicht zurück zu Ihrer eigenen Abteilung. Diese Gefangenen, die Sie gesehen haben, sollen in ein Kriegsge fangenen-Lager gebracht werden, das wir drei ßig Kilometer von hier in einer Stadt namens Manaha errichten wollen. General Harmon meinte – und ich stimme mit ihm überein – , daß Sie der richtige Mann dafür wären, den 172
Gefangenentransport zu übernehmen, da das ja eine Angelegenheit des Kontaktdienstes ist. Der General möchte, daß sie bis morgen abend dort sind. Wir geben Ihnen vier bewaffnete Soldaten mit. Sie können bei Dämmerungsbe ginn aufbrechen.« ELFTES KAPITEL Es wurde nichts übereilt. Cals Abteilung mußte benachrichtig werden, außerdem auch das Kontakt-Dienst-Hauptquartier, dann mußten die Befehle schriftlich festgehalten werden. Darüber vergingen einige Stunden. Schließlich sorgte der Verbindungs-Offizier, der nicht die allgemeine Voreingenommenheit gegen Kon takt-Dienst-Leute zu teilen schien, dafür, daß Cal etwas zu essen bekam und dann im Offi ziersheim ein Nachtquartier erhielt. Cal wurde eine Schlafkoje zugewiesen und bekam eine Ration des Abendessens zusammen mit einem Kännchen Kaffee. Der Versorgungschef, ein junger Leutnant, kam in den Eßraum und trank mit Cal eine Tasse Kaffee. »Wir werden diese Progs in drei Monaten be 173
siegt haben«, sagte er zu Cal. »Sie sind bisher noch nie so geschlagen worden; es betäubt sie regelrecht. Ich habe gesehen, wie immer neue Gefangene den ganzen Tag in das Lager ge bracht wurden.« Der Leutnant trug die Streifen des Verwal tungsdienstes. »Stimmt«, sagte Cal. »Kann ich noch etwas Kaffee bekommen?« Sobald Cal seinen schriftlichen Befehl hatte, ging er zu dem Gelände zurück, wo die Gefan genen waren. Er zeigte seine Papiere dem wachhabenden Offizier. »Ich möchte mit dem Führer der Gefange nen sprechen«, sagte Cal. Der Offizier schloß das Tor auf und ließ ihn ein. Es gab im Innern des umzäunten Gebietes keinerlei Beleuchtung, aber man hatte außen längs des Zauns Lampen aufgestellt, und diese warfen ein schwaches Licht auf die Paumons, die in Gruppen herum standen. In dem Lampenlicht konnte Cal jetzt auch die Ausmaße des Lagers abschätzen; es maß an jeder Seite gute dreihundert Meter. Man hatte nur zwei kleine Zelte errichtet, eins für die Kranken und eins für die Verwaltung. 174
»Ich möchte mit eurem ranghöchsten Offi zier sprechen«, sagte Cal zu den ihm am näch sten stehenden Paumons in deren eigener Sprache. Ohne zu warten ging er dann in das eine Zelt, in dem ein Tisch und ein paar Stühle standen. Cal setzte sich hinter den Tisch. Nach wenigen Augenblicken öffnete sich die Tür. Zwei unverletzte Paumons kamen herein und stellten sich vor den Tisch. Auf den ersten Blick sahen sie genauso aus wie alle anderen. Aber Cal, der angestrengt nach Unterschei dungsmerkmalen suchte, bemerkte, daß der rechte größer war und strammer stand. Der linke, der keine besonderen äußeren Merkmale aufwies, schien älter zu sein. Beide trugen die Borte an ihren Hosen und Dienstjacken, die sie als Offiziere auswiesen. »Setzen Sie sich«, sagte Cal und wies dabei auf zwei Stühle, die er vor den Tisch gestellt hatte. »Nein«, antwortete der rechte Offizier. »Ich bin Kommandierender General Wantaki, das ist mein Adjutant, Hauptmann Ola Tain.« »Na schön«, sagte Cal, »ich bin der Offizier, der für Ihren morgigen Marsch in feste Quar 175
tiere verantwortlich ist. Bei Morgengrauen werden wir alle aufbrechen.« »Alle?« fragte Wantaki. »Ein Viertel der Männer hier ist an den Beinen verwundet, und mindestens vierzig können überhaupt nicht laufen.« »Deshalb bin ich heute abend noch zu Ihnen gekommen. Es ist ein langer Tagesmarsch bis zu unserem Ziel, sogar für die Gesunden. Aber ich habe meine Befehle und muß sie ausfüh ren. Ich werde mein möglichstes tun, aber alle müssen mit.« »Wofür soll das gut sein?« fragte Wantaki heiser. »Ich schlage vor, daß Sie sich vorbereiten«, sagte Cal. »Machen Sie Bahren und wählen Sie die aus, die fähig sind, den Verwundeten zu helfen. Ich habe bereits befohlen, daß Stangen und Stoff für die Bahren bereitgestellt werden. Man wird es Ihnen bald bringen.« »Sie zeigen außergewöhnlichen Mut, daß Sie sich hier hereinwagen, ohne wenigstens eine Handwaffe mitzubringen«, sagte Wantaki. »Ei nige meiner Leute – und ich schließe mich selbst da gar nicht aus – könnten vielleicht der 176
Versuchung nicht widerstehen.« »Ich gehöre einer Abteilung der Terranischen Streitkräfte an, die als Kontakt-Dienst bekannt ist«, klärte ihn Cal auf. »Kontakt-Dienstler tra gen niemals Waffen und beteiligen sich nicht an Kämpfen.« »Sie würden gut beraten sein, in Kürze ihre Ansichten zu ändern«, sagte Wantaki höh nisch. »Wenn Sie uns Stangen und Tücher ge ben, werden wir sie benutzen. Ist das alles?« »Das ist alles.« Sie gingen wieder. Auch Cal erhob sich und ging zu dem Tor zurück. Der Wachoffizier ließ ihn hinaus. »Ich habe einige Anordnungen mit dem Quartiermeister getroffen«, informierte ihn Cal. »Es wird Material für Bahren gebracht. Wenn die Lieferung kommt, lassen Sie sie bitte durch.« Dann ging Cal zu seiner Schlafkoje zurück und war schnell eingeschlafen. Schon nach ein paar Stunden wurde er aber von dem Versor gungsoffizier wieder geweckt. »Was ist los?« fragte Cal verschlafen. Die Reste eines häßlichen Traumes spukten noch in seinem Gehirn herum. 177
»Sie riefen im Schlaf«, bekam er zur Ant wort. »Irgendwas von Kaninchen oder so; si cher ein Albtraum.« Im fahlen Licht der Morgendämmerung konnte Cal in der Nähe des Zauns die vier be waffneten Soldaten sehen, die man ihm mitge ben wollte, um die fünfhundert Gefangenen zu bewachen. Er nahm an, daß Alt sie extra für ihn ausgewählt hatte. Zwei waren noch ganz junge Burschen. Einer hatte einen millimeter kurzen Bürstenhaarschnitt und einen großen, aber zusammengekniffenen Mund in einem ha geren Gesicht. Der andere war klein und blick te mit großen Kinderaugen in die Welt. Ein dritter Mann war vom selben Schlag wie Ma hauni, der den Befehl über Sektion A über nommen hatte, als die Torpedos ihnen die Hölle heiß machten. Diese drei waren einfache Infan teristen. Dann war noch ein Unteroffizier dabei, ein Zugführer. Er war hochgewachsen und hat te schütteres, schwarzes Haar. Er sagte nichts, als Cal herankam, sondern stand nur da und beobachtete interessiert die Gefangenen hinter dem Gitter, während die anderen im Gras sa ßen. Sie trugen alle Strahlenschutzanzüge und 178
waren voll bewaffnet. »Seid Ihr die Gefangenen-Wache?« fragte Cal, als er heran gekommen war. »Das sind wir«, brummte der Unteroffizier, ohne seine bequeme Stellung zu verändern, und starrte dabei auf Cals Kontakt-DienstStreifen. »Wie ist Ihr Name?« fragte Cal ihn. »Meine Freunde nennen mich Buck«, erwi derte der Zug-Führer. Cal wartete. »Allen«, fügte er dann hinzu. »In Ordnung, Allen«, sagte Cal im selben Tonfall. »Du kannst zu deiner Truppe zurück gehen und ihnen sagen, sie sollten einen ande ren schicken. Sag ihnen, daß ich den Eindruck hätte, daß du schlampig, unzuverlässig und widersetzlich bist, und daß ich gesagt hätte, daß ich dich nicht brauchen kann.« Allen straffte sich mit einem Ruck. »He, warten Sie einen Moment …« begann er. Aber Cal wandte sich an die anderen drei. »Aufstehen!« Sie sprangen auf. Hinter sich hörte Cal den Unteroffizier weitersprechen. »… Offizier des Kontakt-Dienstes Anweisun gen im Feld gibt. Sie haben mir nichts …« 179
Cal sah sich um. »Ich dachte, ich hätte dir einen Befehl gegeben«, sagte er. »Hören Sie zu, Leutnant, ich …« »Hör auf.« Cal wandte sich wieder an die drei. »Fangt damit an, die Gefangenen zu zählen und seht zu, daß die Verwundeten, die nicht selbst laufen können, Bahren bekommen.« Die drei Soldaten zogen ab. Cal beobachtete, wie sie auf das vergitterte Gelände zugingen, durch das Tor schritten und außer Hörweite kamen. »Hör zu!« sagte Cal und hielt seine Stimme gedämpft. Er merkte, wie seine Arme zu zit tern begannen und er sich zusammenreißen mußte. »Hör zu, Soldat! Du bist hier, um zu tun, was ich sage. Um genau das zu tun, was ich dir sage; um diese Gefangenen nach Mana ha zu schaffen. Alles andere kannst du verges sen. Du brauchst gar nicht an die Kontaktoffi ziere zu denken, mit denen du bisher in Berüh rung gekommen bist. Denk nur an den schrift lichen Befehl, nämlich daß du es jetzt mit mir zu tun hast, bis wir in Manaha sind. Und wenn du meinst, deine beiden Winkel könnten es mit 180
meinen Streifen aufnehmen …«, Cal tippte mit seinen Fingern an seine Leutnantsabzeichen auf dem Rockaufschlag, »dann versuch es nur. Dann werde ich dir den Hintern vollhauen, Boy. Mir passiert nichts dabei, aber wenn sich der Staub lichtet, wirst du dich vor einem langen Tisch finden, hinter dem fünf Offiziere im Rang eines Majors oder noch höher sitzen und Ge richt halten.« Cal beendete seine Rede. Er zitterte vor Er regung. Allen konnte es sehen, aber er wagte nicht mehr zu fluchen. »Nun?« fragte Cal. Allen machte keine Be wegung. Er stand stramm und blickte gerade vor sich. »Gut, gut«, beendete Cal das Geplänkel, bei nahe flüsternd. »Ich werde dich mitnehmen, und du siehst zu, daß alle vier den Job bestens verrichten. Und nun mach dich fort und orga nisiere alles.« Allen machte eine Kehrtwendung und ging. Cal sah hinter ihm drein. Langsam begann er sich wieder zu beruhigen. Sie schafften es tatsächlich, die Gefangenen 181
schon eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang in Marsch zu setzen. Das war mehr, als Cal er hofft hatte. Er hatte sich ausgerechnet, daß es mindestens eine Stunde dauern würde, ehe sie aufbrechen könnten. Was ihm geholfen hatte, war die Autorität von Wantaki und Ola Tain. Sie hatten das interne Kommando für den Marsch übernommen. Und Cal ließ sie kluger weise gewähren. Cal und seine vier Soldaten trugen Sprunggürtel. Er hatte seine Männer verteilt, an jeder Seite der langen Reihe einen und einen hinten. Vorne war Allen postiert. Cal selbst sprang mal nach hinten, mal nach vorne. Sie hatten einen Tag mit herrlichem Wetter erwischt. Sie waren in den südlichen Breiten der Nordhalbkugel des Planeten, und das Pla teau lag ziemlich hoch. Die Luft war trocken. Jetzt zu Beginn schaffte die Marschkolonne et wa vier Kilometer in der Stunde. Aber das würde sicher nicht so bleiben, dachte Cal. Er inspizierte die marschierenden Gefangenen immer wieder von allen Seiten. Die Paumons liefen gleichmäßig; sie hatten sich zu Vierer gruppen zusammengeschlossen. Je zwei trugen 182
einen Verwundeten, zwei andere gingen als Ablösung nebenher. Ihre brauenlosen, platten Gesichter schienen keines Ausdrucks fähig. Sie sprachen nur wenig miteinander. Cal begann sich über sie zu wundern. Die Paumon-Gefangenen verbreiteten eine Atmosphäre von Niedergeschlagenheit und bleierner Müdigkeit um sich. Sie marschierten, als wären sie Schlafwandler oder als verrichte ten sie eine stumpfsinnige Fließbandarbeit. Nur vorne an der Spitze der Gruppe konnte man ein paar Ausnahmen finden. Dort ging Wantaki mit schweren Schritten, nach vorne gebeugt wie ein Ringkämpfer. Neben ihm ging Ola Tain, gleichmäßig und ruhig. Jetzt, als Cal Muße hatte, die beiden Pau mon-Führer zu studieren, kam ihm Ola Tain rätselhaft vor. Wantaki konnte er bis zu einem gewissen Grad verstehen, der General strahlte reines Soldatentum aus. Aber Ola Tain schien gar nicht zum Militär zu passen. Er hätte viel eher ein Priester sein können. Sie machten auf Cals Befehl hin jede Stunde zehn Minuten Pause. Auch zur Mittagszeit hiel ten sie an. Niemand hatte etwas über die Ver 183
pflegung der Paumons gewußt, als Cal gefragt hatte. Man hatte überhaupt nicht gewußt, was die Bewohner dieses Planeten aßen. So hatte Cal auch keine Rationen mitnehmen können. Die Gefangenen beklagten sich nicht, sie setz ten sich nur ruhig in das gleißende Licht der hellen Sonne Bellatrix. Schon ein kurzer Blick in dieses Licht tat den Augen weh, und man sah bei geschlossenen Lidern noch lange ein dunkles Nachbild. Als der Befehl zum Weitermarsch kam, setz te sich die Kolonne wieder in Bewegung, jetzt aber merklich langsamer. Es waren die Ver wundeten, die die anderen aufhielten. Sie ka men durch einige kleine Ortschaften, aber die weißen, kleinen Gebäude auf beiden Seiten der schmalen, sich windenden Straßen waren fest verriegelt. Kein Paumon ließ sich sehen. Am Nachmittag sah sich Cal gezwungen, wieder eine Pause einzulegen. Die Gefangenen, beson ders die mit den Bahren, sanken dort, wo sie standen, zu Boden, als wären sie mit einer Sense umgemäht worden. Cal saß auf einer kleinen Erhöhung am Rande der Straße und ließ sie liegen. Nach zwanzig 184
Minuten kam Allen zu ihm. »Wie lange wollen wir die hier noch liegen lassen, Leutnant?« wollte er wissen. Cal sah ihn an, ohne zu antworten. Allen kniff den Mund zusammen und ging wieder an seinen Platz. Es ging Cal durch den Sinn, daß er gar keine Ahnung hatte, wie ausdauernd diese Paumons waren. Er erhob sich und ging an die Spitze der Kolonne. Wantaki saß am Straßenrand und sah über seine Leute hinweg. Seine schmutzi ge, rostfarbene Hand lag auf seinem Knie, zur Faust zusammengeballt. Sein Gesicht war so hart und glatt wie ein Kieselstein im dahinflie ßenden Wasser eines Gebirgsbaches. Er saß al lein. Ola Tain saß etwas abseits auf einem Stein; auch er war allein. Cal ging auf ihn zu. Sie waren zu einer großen Lichtung auf dem Plateau gekommen, wo nur noch vereinzelt Bäume standen. Zwischen den Bäumen und Felsen wuchs überall grünes Moos. Es lag ein leichter, süßer Duft wie von Lavendel in der Luft. Das Moos erstickte die Geräusche von Cals Schritten, und Ola Tain hörte ihn deshalb nicht 185
herankommen. Der Paumon lag auf einem Ell bogen aufgestützt, und mit dem Zeigefinger deutete er auf den federartigen Stengel einer der Moospflanzen. Er schien geistesabwesend. Cals Schritte verlangsamten sich, während er den anderen beobachtete. Jetzt zum ersten Male sah er, daß an jedem der kelchförmigen Blätter der Pflanzen kleine gelbe Blüten ver steckt waren. Ola Tain schien sie zu zählen. Cal fühlte sich ungemütlich in seiner Haut. Es kam ihm plötzlich die Frage in den Sinn, was für Gefühle wohl das Lebewesen vor ihm jetzt bewegen mochte. Er wollte etwas sagen, aber es kam nur ein heiserer Ton heraus. Ola Tain sah auf. »Ich brauche eine Information«, sagte Cal in der Paumonsprache. »Ich nehme an, daß jetzt keine geeignete Zeit ist, um den General zu fragen?« Ola Tains Blick wanderte von Cal zu Wantaki und wieder zu Cal zurück. »Nein«, gab er zur Antwort. »Ich möchte wissen«, fragte Cal weiter, »wie Ihre Leute den Marsch überstehen. Wir haben noch über die Hälfte des Weges vor uns.« 186
»Sie sehen es ja«, erwiderte Ola Tain und nickte zu den zusammengesunkenen Männern hin. »Können Sie uns sagen, wohin wir ge hen?« »Nach Manaha. Ich kann mich nicht um Nachzügler kümmern.« »Ich habe es gemerkt.« Ola Tain sah ihn ei nen Moment an. »Sie tun das Beste für uns, was sich noch mit Ihren Befehlen vereinbaren läßt?« »Jawohl.« »Ich habe es mir schon gedacht. Soweit ich kann, will ich Ihnen helfen.« »Wenn ich anordne: bis morgen in der Dämmerung, werden das alle schaffen?« »Wir wollen darum beten.« Cal zögerte und sah auf den Paumon hinab. »Sie beten?« fragte er dann. »Manchmal«, bekam er zur Antwort. »Und heute bete ich.« »Weswegen?« »Ist das nicht gleich?« erwiderte Ola Tain. »Vielleicht.« Cal blickte über die Leute hin weg. Darm sah er wieder auf Ola Tain. »Sie sind ein seltsamer Soldat.« 187
»Ich bin kein richtiger Soldat. Ich lehre …« Das Wort, das er gebrauchte, ließ sich schlecht übersetzen; es war irgendetwas zwischen Phi losophie und Anthropologie im Sinne der Pau mons. »Er ist ein Soldat«, nickte Cal in Richtung zu Wantaki. »Er haßt uns, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte Ola Tain. »Hassen Sie uns auch?« »Ich versuche, es nicht zu tun. Haß stört das klare Denken. Aber …« Ola Tain zögerte, »ja, ich hasse euch auch.« Er blickte wieder zurück auf den Boden und die Blüten an dem Moos. »Gut«, sagte Cal nach ein paar Sekunden. »Sie wissen, daß wir nur hier sind, um unsere Stützpunkte und unsere Leute zu sichern.« »Bitte!« Ola Tain sah nicht auf. »Machen Sie es mir nicht noch schwerer, Sie nicht zu has sen.« Cal ging zurück zu Allen. »Es geht weiter«, sagte er. Mit der sinkenden Sonne begann sich die Luft abzukühlen. Zuerst schien es gut für die Ge fangenen zu sein, und es kam wieder Leben in 188
die Kolonne. Aber als Bellatrix sich dem Hori zont näherte und dann langsam untertauchte, wurde aus der angenehmen Kühle schnell eine fühlbare Kälte. Mit der langen Nacht vor Augen war sich Cal im klaren darüber, daß er die Pau mons nur dann in Bewegung halten konnte, wenn er für sie etwas zum Essen und Trinken besorgte. Er nahm Ola Tain und ging zum nächsten Dorf voraus. Als die beiden dort ankamen, er regten sie ziemliches Aufsehen. Licht flammte in den Fenstern auf, und Frauen und Kinder der Paumons liefen auf die Straße. Sie starrten für einen Augenblick auf Cals fremde Erschei nung, dann verschwanden sie in den Häusern. Ola Tain verließ Cal und ging allein weiter. Nach kurzer Zeit kam er schon wieder zu rück, begleitet von einer Frau, die einen Trans portkarren mit riesigen Ballonreifen lenkte. Der Karren war beladen mit Nahrungsmitteln und Getränken der Paumons. »Schön, Sie haben es also bekommen«, sagte Cal zu Ola Tain, als sie wieder auf dem Weg zur Kolonne zurück waren. Der Wagen fuhr voraus. »Sie wollten eigentlich nichts herausgeben«, 189
erwiderte der Paumon, und nach einem kurzen Zögern setzte er hinzu: »Es war nicht leicht. Ich mußte mit euch Terranern drohen.« Sie kamen zu den Gefangenen zurück, die inzwischen Feuer gemacht hatten. Nach dem Essen sahen die Paumons wieder kräftiger aus. Aber beim nächsten Halt kam Allen zu Cal. »Fünf von ihnen sind tot«, meldete er. »Sie haben sie die ganze Zeit auf den Bahren getra gen, damit wir denken sollten, sie wären nur verwundet.« »Wenn sie sie tragen können, dann ist es in Ordnung.« Aber während der langen Nacht begann die Kolonne langsamer zu werden. Cal befahl, daß die Toten zurückgelassen würden, und es stell te sich heraus, daß die Paumons jetzt schon zwölf Leichen mit sich schleppten. Sie ließen sie zurück und marschierten weiter; die leich ter Verwundeten halfen sich selbst, und die Bahren wurden jetzt von vier Mann getragen. Cal legte jede halbe Stunde eine Haltepause ein. Beim ersten Morgengrauen befanden sie sich auf dem Durchmarsch durch eine weitere der 190
Paumon-Ansiedlungen. Die Kunde von der Ver legung der Gefangenen war ihnen über das zi vile Nachrichtennetz der Paumons, das noch arbeitete, vorausgeeilt. Sie waren jetzt nur noch wenig mehr als drei Kilometer von ihrem Ziel Manaha entfernt, und die Paumons waren hier schon mutiger geworden und zeigten mehr Sympathie mit den Gefangenen. Sie sag ten nichts, aber sie schauten neugierig aus den Fenstern und von den Dächern und hatten sich in den Seitenstraßen zusammengefunden. Als sie aus dem letzten Ort vor Manaha he rauskamen, fanden sie die Straße rechts und links von Frauen, Alten und Kindern gesäumt. Sie wichen zurück, als Allen, der vorausging, näher kam, aber sie schoben sich wieder nach vorn, als er vorbei war und die sich mühsam bewegenden Gefangenen an ihnen vorbeistol perten. Weit voraus konnte Cal das Glitzern von Fensterscheiben sehen, die schon zu Ma naha gehörten. Dann sah er wieder auf die un bewegliche Menge, die sich nach vorne lehnte, als würde sie von einem unsichtbaren Seil gehalten. Wantaki und Ola Tain gingen immer noch an der Spitze. 191
Die Straße machte jetzt einen leichten Bo gen, und als Allen herankam, wichen die Pau monkinder, die sich versammelt hatten, zu rück. Aber als er vorbei war, traten sie wieder vor. Plötzlich gab es eine Verwirrung in ihren Reihen, und ein kleiner Junge lief zu Ola Tain, der ihm am nächsten war. Der junge Soldat mit dem verkniffenen Mund hob seine Maschinenpistole. »Laß sie!« rief Cal, während der Junge in die Sicherheit der Menge zurückeilte und Ola Tain mit einem grünen Zweig von einem der baum wollähnlichen Bäume zurückließ. Einen Mo ment lang sah Ola Tain darauf, dann mar schierte er weiter, wobei er den Zweig aufrecht trug. Einen Augenblick später sprang ein anderes Kind, diesmal ein etwas älterer Junge, vor und gab Wantaki einen Zweig. Und alsbald wurden überall den Gefangenen solche Zweige gereicht. Allen kam zu Cal. »Sir?« sagte er mit fragendem Blick. »Laß sie in Ruhe«, gab ihm Cal in rauhem Ton zur Antwort. Allen ging wieder an die Spitze der Kolonne. 192
Bald hatten alle Gefangenen ihren Zweig. Jeder trug den seinen aufrecht vor sich hin, ihre Schultern hatten sich gestrafft, und sie schrit ten wieder fester aus. Als sie schließlich in Ma naha einrückten, sahen sie aus wie ein in Be wegung geratener Wald. Und sie marschierten wie Soldaten. ZWÖLFTES KAPITEL Cal kam nach dieser Aufgabe wieder zu seiner alten Truppe zurück. In den nächsten sechs Monaten arbeitete er als Dolmetscher für das Bataillon und fragte Gefangene aus. Der Feld zug machte große Fortschritte, man hatte den größten Teil des Planeten erobert. Es war ge nau so, wie General Harmon es vorhergesagt hatte. Die Paumons mußten zu dem Plateau kommen, wenn sie kämpfen wollten. Und die Terraner setzten überall auf der Paumonwelt Kampftruppen ab. Aber es war keine gewaltlose Eroberung. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Paumons ge lernt hatten, daß sie gegen die weit stärker bewaffneten Terraner nicht mit dem Kopf vor 193
an kämpfen konnten, weil sie dann jedesmal entsetzliche Verluste einstecken mußten. Am Ende der sechs Monate waren dreimal Ersatz truppen gekommen; die Kampftruppen hatten fünfundsiebzigtausend Mann verloren. Aber die Verluste der Paumons wurden auf über zwei Millionen Tote und Verwundete geschätzt. Cal war zweimal befördert worden, jetzt war er Captain. Er sollte wieder die Leitung über das Gefangenen-Lager übernehmen, das in der Nä he des Hauptquartiers bei Manaha lag. Auch das Hospital der Erdtruppen war dort einge richtet worden. Das gab Cal Gelegenheit, bei Annie zu sein, die dort stationiert war. Gele gentlich hörte er auch von Walk, der sich einen Namen als Kommandant einer neu geschaffe nen Partisanentruppe gemacht hatte. Bei den Kampftruppen gab es schnellere Beförderun gen, und Walk war inzwischen Major. Eines Tages rief Annie Cal an, um ihm zu sa gen, daß man Walk gerade mit schrecklichen Wunden an Armen und Beinen eingeliefert hätte, vermutlich von einem Paumon-Mörser. Cal änderte seine Pläne für den Tag und ging hinüber ins Hospital. Man hatte Walk schon in 194
ein Einzelzimmer gebracht. In dem Vorraum fand er Annie, die gerade die Aufzeichnungen über die erste vorläufige Untersuchung Walks in ein Diagramm übertrug. Außerdem war noch ein Nachrichtenoffizier da, der die Nach richt von Walks Verwundung für die Erdzei tung freigeben wollte. »Kann ich hinein und ihn sehen?« fragte Cal Annie. »Gleich«, sagte sie, während ihre Finger über die Tasten der Codiermaschine eilten. »Ich bring’ dich hinein. Ich habe mich als Pflege schwester für ihn einteilen lassen.« »Sind Sie ein Kamerad von ihm?« fragte der Nachrichtenmann, ein strammer Leutnant mit einem großen Schnurrbart. »Die Offiziere und Männer seiner Truppe gehen für ihn durchs Feuer, habe ich mir sagen lassen. Und für die Paumons ist er beinahe eine Sagengestalt, mit der sie ihre Kinder erschrecken, wenn die nicht gehorchen. Vielleicht können wir ein paar Auf nahmen von Ihnen beiden machen. Seine Ge schichte ist eine einzige Liste von Heldentaten. Man sagt, selbst die Außerirdischen respektie ren ihn.« 195
»Du kannst jetzt mit reinkommen«, sagte Annie zu Cal. Sie gingen zusammen hinein. Walk lag auf einem der Feldbetten und war mit einem dünnen Laken zugedeckt. Er war von der Sonne dunkelbraun gebrannt, und sein braunes Gesicht hob sich scharf gegen die wei ßen Bettücher ab. »Cal …« murmelte er. »Was machst du hier? Geh … geh zum Stützpunkt zurück!« »Er phantasiert«, sagte Annie. Sie winkelte Walks Arm an und drückte eine Hochdruck spritze dagegen. Nach einem kurzen Augen blick klärte sich Walks Blick. Er erkannte Cal, und seine Lippen öffneten sich zu einem schmalen Spalt. »Captain Truant«, sagte er. »Wie fühlst du dich?« fragte Cal. »Prächtig«, sagte Walk, »ganz prächtig.« Er wollte sich auf sein Kissen hochziehen. »Schwester …« Dann erkannte er Annie. »An nie, gibt es hier irgendwo einen Schnaps für die Sterbenden?« »Tut mir leid«, erwiderte Annie, »man will dich gleich operieren.« »… Sie«, sagte Walk. Seine Zunge begann zu 196
erlahmen. Annie hatte ihm anscheinend ein schnell wirkendes Beruhigungsmittel gegeben. »… du auch. Ihr alle … das ganze Universum. Alles ist nur gut für …« Seine Augen fielen zu; er war bewußtlos ge worden. Annie legte sacht ihre Hand auf Cals Arm. »Das ist schon in Ordnung«, sagte Cal. »Es macht nichts. Ich hatte ja so etwas Ähnliches erwartet.« Er ging in sein Büro zurück. Dort fand er ei ne Nachricht von General Scoby vor, der ihn sehen wollte. Außerdem wartete Ola Tain schon seit einer halben Stunde auf ihn. In dem weiten Lager, das nun ungefähr achtzigtausend gefangene Paumons aufgenommen hatte, war Ola Tain Cals wertvollste Stütze. Es war so, wie es Scoby damals in dem Gespräch in Denver vorausgesagt hatte. Es gab keine Regeln, nach denen man eine Basis für die Koexistenz mit denen, die man besiegt hatte, festlegen konn te. Man konnte den Weg nur ahnen. Cal erahnte ihn hauptsächlich durch Ola Tain. Wantaki war schon früh geflohen. Er und fünf seiner Offiziere waren schon in der zwei 197
ten Woche nach ihrer Internierung in Manaha ausgebrochen und heil davongekommen. Cal war davon überzeugt, daß Ola Tain damals hätte mitgehen können, wenn er gewollt hätte. Aber er hatte sich zum Bleiben entschieden, um für die anderen Gefangenen zu sprechen. Diese schienen ihn alle zu respektieren, nah men ihn aber nicht in ihre Gemeinschaft auf. Es war, als ob auch er für sie ein Fremdwesen wäre. Cal hatte ihn mal gefragt, ob er nie ein sam sei. »Nein«, hatte Ola Tain geantwortet. »Man kann nur innerhalb von Mauern einsam sein. Und ich habe nie eine Mauer errichtet.« Jetzt hielt Cal in dem äußeren Büro an, um zu sagen, daß er auf dem Weg zu General Sco by wäre. »Meine Angelegenheit eilt nicht«, sagte Ola Tain. »Ich habe nur fragen wollen, ob das La ger nicht vergrößert werden könnte.« »Ich werde General Scoby fragen«, antwor tete ihm Cal. Er ging zu dessen Büro. Scoby war wieder an seinem Schreibtisch beschäftigt, als Cal he reinkam. Es sah aus, als hätte man sein Büro 198
und Limpari, die Cheetah-Katze, alles zusam men verpackt und von Denver nach hier ge schafft, ohne daß auch nur die Papiere auf dem Tisch durcheinander gekommen wären. Cal wiederholte Ola Tains Bitte. »Nein«, sagte Scoby. Er lehnte sich in sei nem Stuhl zurück und blickte auf Cal, der ihm gegenüber saß. »Sie wollen in Wirklichkeit gar nicht mehr Platz. Sie wollen nur herausfinden, ob an dem Gerücht etwas Wahres ist.« »Welches Gerücht?« »Daß sie alle entlassen werden, wenn näch sten Monat der Friedensvertrag unterzeichnet würde.« »Davon habe ich noch nichts gehört.« »Ein Gerücht«, sagte Scoby. »Was, meinen Sie, sollten wir dagegen übernehmen?« »Unternehmen? « »Ja. Das habe ich gefragt.« »Nichts. Das ganze ist ja Blödsinn. Zunächst einmal sind wir noch eine ganze Menge Monate von der Unterzeichnung entfernt. Wantaki ist noch in jenem Bergland, mit mehr als dreißig tausend Mann.« »Dreißigtausend ist nicht viel«, sagte Scoby 199
in einem seiner plötzlichen Anfälle von Milde, »sie können ignoriert werden. Die höchsten zi vilen Vertreter der Paumons sind bereit, sie zu ignorieren und zu unterzeichnen.« »Sie meinen, daß man ihn als Gesetzlosen brandmarken will, ihn, den Befehlshaber, der härter für sie gekämpft hat als irgendein ande rer? Ihn und dreißigtausend Mann, ohne die zahllosen anderen Guerillatruppen zu nennen?« »Sie haben viel Gemeinsames mit uns«, antwortete Scoby. »Oder haben Sie das noch nicht bemerkt?« »Doch«, antwortete Cal bitter. Scoby sah ihn einen Moment nachdenklich an. »Das Ärgerliche mit Ihnen, Cal, ist, daß Sie von allen Leuten Wunder erwarten«, sagte er dann, »und ich meine Leute aller Rassen, Le haunan, Griella, Paumons und ebensogut Men schen. Das ist das Dumme mit den meisten von uns. Wenn wir nicht mehr das Schlimmste von jemand erwarten müssen, dann kehren wir unsere Meinung gleich ganz um und erwarten nur noch Gutes von ihm.« »Wenn Sie erlauben, versuche ich das näch 200
ste Mal, es besser zu machen.« »Werden Sie nicht sarkastisch. Sie haben in diesem letzten Jahr eine Menge gelernt, aber noch weiß ich ein bißchen mehr. Eins davon ist, wie ganz besonders wichtig ausgerechnet diese Rasse für uns ist. Oder können Sie mir das auch sagen?« Cal überlegte einen Moment. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, ich glau be, nicht.« »Sie sind wichtig, weil sie uns so verdammt ähnlich sind. So lange die Rassen, die wir be kämpften, ein Fell tragen oder Greifnasen hat ten, konnten wir sie immer Pelzmäuse oder Rüsselträger nennen. Wir konnten unsere Au gen vor der Tatsache verschließen, daß sie den gleichen oder wenigstens ungefähr gleichen Verstand hatten wie wir, daß sie vielleicht auch eine ebenso fühlende Seele hatten. Aber einen Fremden, den wir Prog nennen, das ist ein biß chen so, als wenn wir bloß ›Nigger‹ sagen. Man muß sich anstrengen, den Unterschied heraus zufinden. Und doch versteht es sich von selbst. So lange wir auf immer neue Rassen zwischen den Sternen stoßen, so lange mußten wir da 201
mit rechnen, früher oder später auf eine zu stoßen, die ganz menschenähnlich ist.« Er hielt inne und wartete auf eine Reaktion von Cal. »Ich glaube, Sie haben recht.« »Natürlich«, sagte Scoby. »Ich habe das Wort ›menschenähnlich‹ im umfassendsten Sinn gebraucht.« »Ich habe Sie auch so verstanden«, erwider te Cal. »Diese Menschenähnlichkeit ist es also, die die Paumons so wichtig macht?« »Ganz recht«, antwortete Scoby. »Was wür den Sie machen, wenn Sie ein Paumon wären und das hier wäre die Erde und Sie hätten achtzigtausend Gefangene hinter jenen Gittern, wenn man einen Friedensvertrag unterzeich nen will? Würden Sie sie gern loslassen?« Cal straffte sich in seinem Stuhl. »Zur Hölle, nein!« sagte er. »Ich beginne, Sie zu verste hen.« »Nicht, wenn Sie nicht wollen, daß die ganze Eroberung von neuem beginnen soll, ist das rich tig?« fragte Scoby. »Wie weit, glauben Sie, sind diese Leute davon entfernt, umerzogen zu wer den, um mit uns friedlich zusammen zu leben?« 202
»Zwanzig Jahre«, meinte Cal. »Vielleicht die nächste Generation.« »Machen Sie sich doch nichts vor. Fünf Gene rationen lang wird hart darum gekämpft werden müssen, um die Tatsache, daß wir angefangen haben, aus ihrem Gedächtnis zu bannen.« »Können Sie es General Harmon ausreden, die Gefangenen freizulassen?« »Nein.« »Dann können wir nichts machen«, sagte Cal. »Wir geben ihnen ja eine Armee zurück. Das Lager hier und die anderen drei – und sie haben in einem halben Jahr wieder eine Million Mann unter Waffen. Und wir können nichts dagegen machen.« »Nicht ganz«, erwiderte Scoby. »Wenn der Friedensvertrag erst einmal unterzeichnet ist, Dann kann der Kontakt-Dienst jeden Schritt untersagen, der zu einem erneuten Bruch füh ren könnte.« »Autsch«, machte Cal. »Aber Sie würden das sicher General Harmon nicht antun wollen.« »Nein. Aber wenn es soweit ist, brauche ich es auch nicht«, sagte Scoby. »Sie, Cal, werden es tun.« 203
»Ich?« fragte Cal. Er war mehr als über rascht. »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Besonderes mit Ihnen vorhabe«, erklärte ihm Scoby. »Ich habe hier Leute, die schon sechzehn Jahre bei mir sind. Aber Sie, Cal, haben die Kampferfah rung und Sie haben den nötigen Schneid. Sie haben auch sonst noch einiges aufzuweisen.« »Aber ich …« Cal brach ab. »Bei jedem Feldzug sprechen die Soldaten davon, wie sie zusammenhalten wollen und wie sie die ehemaligen Krieger, die jetzt in der Re gierung sind, unterstützen wollen, wenn sie zu rückkehren. Der einfache Mann denkt immer, er wüßte den richtigen Weg für alles, und die Regierung mache alles falsch. Das ist zwar nur zum Teil richtig, aber jetzt soll etwas gesche hen, Boy. Jetzt ist die Zeit gekommen, daß ich mich einschalte. Ich werde zur Erde zurück kehren und für unsere Sache kämpfen.« »Ich bin nicht sicher, daß ich Sie vertreten kann«, sagte Cal langsam. »Aber ich bin dessen sicher, Junge«, antwor tete ihm Scoby. »Ich habe bereits alles veran laßt. Sie werden zwei Rangstufen weiter zum 204
Oberstleutnant befördert. Sie werden die glei che Autorität hier haben, wie ich sie hätte, es wird höchstens noch an Ansehen fehlen. Dafür müssen Sie selbst sorgen.« Scoby grinste. »Mach’s gut, Junge. Du wirst deinen Weg ma chen.« DREIZEHNTES KAPITEL Cal verabschiedete Scoby auf dem Landefeld bei Manaha. Der Platz war erst vor sechs Mona ten planiert und betoniert worden. Aber das grüne Moos konnte anscheinend überall wach sen, und wo es nicht täglich aufs Neue von den startenden Raumschiffen verbrannt wurde, hatte es lange Arme durch die Betondecke ge streckt und sich ausgebreitet. Es konnte durch einen Flammenstoß aus den Düsen oder den Fuß einen Menschen zerstört werden, aber es grünte über Nacht erneut. Cal stand neben Scoby. Sie warteten darauf, daß der Ältere an Bord der schlanken Kurierra kete gerufen würde, die ihn zurück zur Erde bringen sollte. Keine fünfzig Meter entfernt konnte Cal den mächtigen Leib des Flaggschiffs 205
der Expedition sehen, der den Morgenhimmel verdunkelte. Es hatte sich nicht wieder be wegt, seit es elf Tage nach der ersten Landung – bei der Cal mit Wajeck und den anderen sei nen Einsatz hatte – hier niedergegangen war. Es trug in sich das mächtige und alles vernich tende Schwert nuklearer Bomben, mit denen es von dem Platz aus, wo es stand, das Land im Umkreis von tausend Kilometern verwüsten konnte. Es konnte einem Planeten schwere Wunden schlagen, und der einzelne Wachsoldat in dem Beobachtungsraum, einhundertdreißig Meter über Cal und Scoby, konnte alles über blicken. Auf dem Hauptbildschirm konnte er all die kleineren Raumschiffe unter sich, das Lan defeld und auch Manaha mit der ganzen aus gebreiteten Macht der Terraner überblicken, als hätte er eine Spielzeugstadt vor sich. Und auch an diesem mächtigen Herrn über Raum und Krieg begann das Moos schon mit schlanken, grünen Fingern emporzukriechen. Der Lautsprecher ertönte und forderte die Passagiere auf, an Bord zu gehen. »Halt den Nacken steif, Cal«, sagte Scoby, während er mit einer Hand die Leine von Lim 206
pari hielt. Er streckte seine Hand aus, und Cal nahm sie. In letzter Minute hatte Scoby einen seiner Anfälle bekommen, und er konnte nicht sehen. Sie schüttelten sich die Hände. »Los, Mädchen«, sagte Scoby dann zu der großen Katze. Und geschmeidig und kraftvoll führte diese ihn von Cal fort und auf das Raumschiff zu. Cal ging zum Kontakt-Hauptquartier zurück. Ein arbeitsreicher Tag lag vor ihm, der sich in den nächsten Wochen zu täglich mehr als elf Stunden Routinearbeit ausweitete. Er hatte so gar wenig Zeit, Annie zu sehen. Er sehnte sich sehr nach ihr, aber als sie eine Andeutung über eine Heirat machte – er hatte nie von so etwas gesprochen – hatte er so heftig abgewehrt, daß er hinterher darüber selbst erschrocken war. »Nein!« hatte er gerufen. »Nicht jetzt! Kannst du das nicht verstehen? Nicht jetzt!« Er hatte sich umgedreht und drei lange Schritte von ihr weg gemacht, von ihrem Schreibtisch weg, hinter dem sie Wache hielt, als sie das Wort »heiraten« erwähnt hatte. Un ten in der Halle hatte sich ein wartender Pati ent erstaunt umgedreht und nach oben ge 207
blickt. Plötzlich ging Cal beschämt zu ihr zu rück. Immer noch erregt sagte er: »Jetzt nicht. Jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür, Annie. Kannst du das nicht verstehen?« Sie schwieg. Der Friedensvertrag wurde unterzeichnet. Wantaki war jetzt ein Gesetzloser, draußen in Zone elf, und mit ihm waren es ungefähr zwanzigtausend Paumons. Auch Walk war wie der genesen und beunruhigte den Führer der Partisanen von einer Reihe von starken Posten aus, die das Bergland umzingelt hielten. Har mon unterzeichnete den Befehl für die Freilas sung der Gefangenen, und Cal sah, wie diese in Wellen aus dem großen Tor strömten, wobei sie Tor und Umzäunungen niederrissen und als Andenken mitnahmen. Für einen Tag und eine Nacht gab es ziemlichen Aufruhr in Manaha und Umgebung. Drei Bataillone wurden her beibeordert, um das Gebiet zu sichern. Darauf hin machten sich die ehemaligen Kriegsgefan genen auf, um in ihre Heimatorte zurückzu kehren. Drei Tage später – Cal sah gerade aus dem Fenster auf die jetzt leer stehenden Ge bäude in dem Lager – begann der Regen. 208
Die Terraner hatten den Feldzug zum frü hestmöglichen Termin nach der Winterzeit auf dem Hochplateau geplant. Jetzt war es wieder Winter, genauer gesagt, es war Regenzeit auf dem sonst so trockenen Hochland. Tagein und tagaus hüllten dicke Regenwolken die Land schaft in düsteres Grau, während Cal zwischen Kontakt-Dienst-Hauptquartier, Heeresleitung und Hospital hin und hereilte. Zwei Monate lang dauerte die Regenzeit. Mittlerweile war überall die Saat aufgegangen, die die zurückgekehrten Paumons, die gegen die Menschen gekämpft hatten, legten. Die zi vilen Behörden machten offensichtlich ehrliche Anstrengungen, um den Plan für den Wieder aufbau und die Umerziehung ihres Volkes zu erfüllen. Aber der ganze Planet begann unter unerwarteten Ausbrüchen und Erhebungen zu beben. Das Volk der Paumons hatte sich ge spalten und war erregt. Auf der einen Seite gab es in jedem Ort Gruppen von Rebellen, die von terranischen Soldaten und ihrer eigenen Polizei gleichzeitig gejagt wurden. Auf der an deren Seite kommandierte Walk in Zone elf ei ne ganze Einheit von ehemaligen Paumon 209
Soldaten. Häßliche Geschichten begannen von dort an jedermanns Ohren zu dringen, Ge schichten von den Widerstandsgruppen, die sich dort eingenistet hatten. Gefangene wur den nicht oft gemacht; und die das Pech hat ten, mußten damit rechnen, daß sie später als Leichen wieder auftauchten. Beide Seiten machten das so. Cal, der in einem Wust von Papierkrieg zu ersticken drohte, sah eine Krise kommen. Obendrein mußte er gegen den Widerstand je ner Kontaktoffiziere kämpfen, die sich über gangen fühlten, da Scoby ihn über ihre Köpfe hinweg befördert hatte. Er benachrichtigte Scoby auf Terra, daß dessen Autorität hier ge braucht würde. Scoby antwortete, daß er wahrscheinlich nicht vor Ablauf von sechs Wo chen kommen könnte. Er riet, mit Harmon zu sprechen. Cal machte einen Versuch, das zu tun, aber seine Verabredungen mit dem Kom mandanten der Expedition waren in letzter Zeit immer kurz vor dem Termin abgesagt worden. Harmon ließ mitteilen, daß er seinem Büro Anweisung gegeben habe, bei erster Ge legenheit einen Termin für ihn freizuhalten. 210
Die Zeit verging. Die sechs Wochen gingen vorüber, aber es geschah nichts. Harmon war weiterhin nicht zu sprechen. Scoby war nicht gekommen und hatte auch keine Nachricht gesandt. Eines Abends saß Cal in seinem Büro bei der tägli chen Arbeit – er verstand jetzt besser, warum Scobys Schreibtisch immer mit Papieren bela den gewesen war – , als er unter seinem Fen ster das scharfe Schnappen eines Strahlge wehrs hörte. Dann wurde zweimal geschossen. In seinem Vorraum gab es Bewegung. Seine Tür sprang auf, und ein Paumon, den er sofort als Ola Tain erkannte, fiel halb in den Raum hinein. In dem Vorzimmer ertönten sich strei tende Stimmen, als Cal aufsprang und dem anderen in den Stuhl half. Ola Tain hatte zwei Durchschüsse durch seinen Körper. Er starb. Die Bürotür schwang wieder auf, und Cal sah einen Mann mit harten Zügen und einer Ver letzung an der Schulter im Eingang stehen. Zuerst erkannte er ihn nicht, dann aber kam ihm die Erinnerung. Der Mann sah wie Walk aus, aber es war Washun, der Kadett, der bei 211
Cals zweitem Weg durch die Grundausbildung dabei gewesen war, damals in Fort Cota. Die Schulterklappen auf seiner Jacke waren jetzt befleckt und zerrissen. »Es geht um Walk Blye, in Zone elf«, sagte Washun. »Er plant ein Massaker!« VIERZEHNTES KAPITEL Der Zwei-Mann-Atmosphärengleiter flog in ei ner Höhe von zwölftausend Meter westwärts. Er holte die untergehende Sonne ein, überholte sie und landete nach einem Flug um den hal ben Planeten am Nachmittag in Garnison Nummer drei von Zone elf, dem Hauptquartier von Walk. In der Garnison gab es nur wenige Soldaten. Ihr Sprecher war ein Korporal; es war Tack. Er und Cal sahen sich an wie Verwandte, die weit voneinander entfernt und unter anderen Sitten und Gebräuchen groß geworden sind. Cal frag te ihn nach Walk. »Er ist vor sechs Stunden abgezogen«, berich tete Tack. »Er hat dreitausend Mann und eine umfassende Ausrüstung mit in die Berge ge 212
nommen. Zu einem Ort, den man hier ›Tal der drei Städte‹ nennt … Woher wußtest du das?« »Von einem Paumon namens Ola Tain«, er widerte Cal. »Wantaki weiß von Walks Plan. Ist Walk wahnsinnig geworden? Er könnte dafür zum Tode verurteilt werden.« »Er ist wahnsinnig«, bekam Cal zur Antwort, wobei Tack seine Stimme senkte und auf Was hun sah, der mit Cal gekommen war und jetzt am anderen Ende des Büros außer Hörweite stand. »Er kümmert sich um nichts. Und er ist jetzt immer betrunken. Aber du sagst, daß Wantaki ihm eine Falle stellen will?« »Genau das«, erwiderte Cal. Er fühlte sich müde und alt. »Tain kam zu eurem Kontaktof fizier hier«, Cal deutete auf Washun, »um zu versuchen, die ganze, Sache aufzuhalten. Aber eure zahmen Paumons fingen ihn ab und schossen auf ihn. Washun rettete ihn und brachte ihn zu mir. Aber er konnte mir nichts mehr sagen.« Cal fühlte eine bittere Leere in sich. »Er wurde vor meinem Büro von irgend einem Narren nochmal niedergeschossen.« »Kannst du noch rechtzeitig zu Walk kom men?« 213
»Gib mir einen Geländewagen. Ich versuche es.« Nochmal erlebte Cal einen Sonnenunter gang an diesem Tag, als er allein in dem Ge ländewagen über den buckligen Weg fuhr, der ihn in das rauhe und wilde Bergland von Zone elf führte. In der Dunkelheit sahen die Bäume noch irdischer aus, der Weg konnte eine Straße in irgendeinem Hinterland zu Hause auf der Erde sein. Der Wagen, der ein paar Zentimeter über dem unebenen Boden des Weges flog, schien sich von selbst in die Dunkelheit der Nacht hineinzubohren. Er gab ständig ein rau schendes Geräusch von sich, das von den zahl losen Raketenstößen aus seinen Düsen stamm te. Und dann überkam Cal plötzlich eine jener seltsamen Gefühlsanwandlungen, die er als kleiner Junge ab und zu gehabt hatte, als seine Mutter noch lebte. Zum ersten Mal merkte er, daß er das nie mehr gefühlt hatte, seit seine Mutter tot war. Aber jetzt war es wieder da, und er sah sich selbst klar in einer gewissen Entfernung, von außerhalb seines Körpers. Und was er sah, schien ihm sinnlos. Was tat er hier in diesem schweren, erwach senen Körper? In einem komplizierten Wagen, 214
in dieser fremden Welt, auf diesem Boden, der nicht zur Erde gehörte? Zu welch gefährlicher Tat trieb ihn das Schicksal? Er war verpflichtet, Leben zu retten, ein Unglück abzuwenden. Aber war das wirklich der Grund, weshalb er jetzt hier war? Einen Augenblick lang kam er sich vor, wie vom Sturm geschüttelt, mitten in einem Ozean von Geheimnissen. Und dann machte die Straße plötzlich einen Bogen, und während seine Hände den Wagen automatisch herumzwangen, sah er auf einmal alles in kri stallklarer Schärfe. Es war nicht eine schattenhafte Pflicht, die ihn hierher gebracht hatte, sondern das Gefühl seiner eigenen Schuld. Es waren nicht die Paumon-Städte, sondern Walk, den er retten wollte. Denn es war Walk, sein unwissender Bruder, sein zweites Ich, für den er verantwortlich war, für den er immer verantwortlich gewesen war. Annie hatte es verstanden, als sie damals auf der Erde nach dem Lehaunan-Feldzug im Hos pital gesagt hatte, daß Walk der schwächere war. Nicht im gewöhnlichen Sinn war er schwach. Als sie beide – zwei mutterlose Jun 215
gen – sich instinktiv zusammengefunden hat ten, war Walk es gewesen, dem es an Phantasie gefehlt und der sie nötig gebraucht hatte. Cal hatte das Soldatentum als Rache gegenüber seinem Vater gewählt, dem er die Schuld am Tod seiner Mutter gab. Walk, der Cals Phanta sievorstellungen vom geliebten Soldatentum folgte und nichts davon wußte, daß das für Cal nun ein Schlag gegen seinen Vater war, war ihm willig gefolgt. Er hatte es geglaubt. Er war dem Ruf der Trompeten gefolgt und hatte da hinter das Heim und die Familie gesucht, die ihm fehlten. Und Cal, der von Anfang an zuin nerst gewußt hatte, daß er Walk über das Sol datentum belogen hatte, war vor seiner eigenen Täuschung geflohen, hatte aber Walk einsam in einer grauenhaft leeren Wüste zurückgelassen. Walk hatte weiter nach dem vorgegaukelten Heim gesucht, und da er es nicht finden konn te, war er immer wilder und mörderischer ge worden. Er wollte seine Wünsche zwingen, wahr zu werden. Er wollte es erzwingen, daß seine Gründe gerecht, sein Kämpfen edel, sein Leben, wenn es einmal zu Ende sein würde, wertvoll gewesen war. Und in all der Zeit, in 216
der er das versuchte, wuchs in ihm die unleug bare Gewißheit, daß sein Gott nur eine leere Schale war, daß seine Gründe falsch waren, und er fand keinen anderen Ausweg, als zu ei nem tollwütigen, reißenden Wolf zu werden. Und die Schuld für all das lag bei ihm, kam es Cal jetzt zu Bewußtsein. Wenn er sich auf das berufen wollte, was er für die Paumons ge tan hatte, auf die Gefangenen, die er auf dem langen Marsch nach Manaha gerettet hatte, auf die, die er bei den Verhören geschützt hatte, auf die kleinen Erleichterungen, die er ihnen gewährt hatte, wenn er sich auf das alles beru fen wollte, um sich damit zu rechtfertigen, dann mußte er auch seinen Anteil an dem auf zählen, was Walk den Paumons antat, an den Grausamkeiten und dem unbegründeten Töten der Gefangenen, die in Walks Hand fielen. Wenn Walk heute nacht ein Blutbad anrichtete, dann tat es auch Cal. Cals Hände, die auf dem Lenkrad ruhten, wa ren schweißnaß. Die Nacht war jetzt endgültig hereingebrochen. So rücksichtslos gegen sich selbst wie Walk zwang Cal den Wagen um die Kurven einer unbekannten Straße, deren 217
schmaler Pfad ihn zu seinem Ziel führte. Er flog durch die Dunkelheit, nur der schma le Kegel seiner Scheinwerfer erhellte den Weg. Schließlich kam er über eine kleine Anhöhe herab und sah plötzlich in ein Tal, wo Brände durch die Nacht lohten. Sie ballten sich an drei Stellen besonders zusammen. Er fuhr auf sie zu. Als er die erste erreichte, stellte er fest, daß die Flammen durch die zerbrochenen Fen ster eines zerstörten Gebäudes schlugen. Schutt und Trümmer lagen auf der Straße, aber kein Lebenszeichen war zu entdecken. Als er endlich auf dem Platz in der Mitte des Ortes anhielt, tauchten von allen Seiten dunkle Ge stalten auf. Er stieg aus. Es waren Paumons, die schwer bewaffnet waren. »Kommen Sie«, sagte einer von ihnen. Cal folgte ihm. Sie gingen quer über den Platz, und Cals Führer trat beiseite, als sie an der Tür eines kleinen Gebäudes ankamen. Cal stieß die Tür auf und trat ein. Er befand sich in einem niedrigen Raum, dessen Boden arg ver schmutzt war. Innen gab es einen hölzernen Tisch, zwei schmale Betten, ein paar einfache 218
Stühle und mehrere schwere Balken, die das Dach stützten. Wantaki stand neben dem Tisch, und zwischen zwei Pfeilern hing Walk. Seine Hände waren mit einem Seil zusammen gebunden, das man an den Balken festgemacht hatte, und das allein hielt Walk noch aufrecht. Sein Hemd war heruntergerissen. »Ola Tain?« fragte Wantaki. Cal, der schon auf Walk zugehen wollte, stoppte seine Schrit te. Er hatte geglaubt, Walk sei bewußtlos, als er die Hütte betreten hatte, aber jetzt sah er, daß seine Augen offen waren und ihn beobach teten, obwohl sein Kopf hilflos hin und her baumelte. Sein Körper zeigte eine häßliche Wunde am Unterleib. »Tot«, antwortete Cal. »Er starb, als er mich erreichte.« »Ja«, sagte Wantaki, mehr nicht. Dann: »Ich hätte ihn gern gerettet, aber … So geht es nun mal Leuten wie ihm.« Cal kam zu dem Tisch. Wantaki sah ihn ernst an. »Ich kann Ihnen nichts Gutes sagen«, be gann Wantaki wieder. »Menschen wie Sie sind …« Den Paumon-Ausdruck, den er ge 219
brauchte, konnte man nicht übersetzen. »Mit ihm«, er benutzte eine Wortform, die es klar machte, daß er Walk meinte, »ist es etwas an deres. Er ist ein Mann wie er sein sollte. Wenn ihr alle so wie er gewesen wäret, hättet ihr uns vernichtet, so wie ihr es vorgehabt hattet. Ich würde ihn auch nicht so gebunden haben, aber einige meiner Soldaten hassen ihn so, daß et was geschehen mußte.« Er wartete. Cal wartete auch, sagte aber nichts. »Ich bin ein Soldat«, fuhr Wantaki fort. »Das ist nur der Anfang. Eine Zeitlang gaben eure Waffen euch einen Vorteil. Aber wir haben ei nige gestohlen und nachgebaut. Heute war der Anfang. Wir werden uns überall auf unserer Welt erheben. Wir werden euch alle fortjagen. Und dann werden wir euch auf eurem eigenen Planeten jagen.« »Nein«, antwortete ihm Cal. »Jeder Aufstand wird jämmerlich enden. Wir besitzen Waffen, die wir noch gar nicht benutzt haben.« »Ich glaube Ihnen nicht«, erwiderte Wanta ki. Er starrte Cal einen langen Moment an. »Außerdem macht es nichts. Waffen können 220
nachgebaut werden. Wenn es uns diesmal nicht gelingt, dann bestimmt beim nächsten Mal. Wir Paumons werden uns niemals damit abfinden, nur gezähmte Haustiere zu sein. Und das Recht ist auf unserer Seite.« »Das kann nur in einem Patt enden«, meinte Cal. »Wie kann es in einem Unentschieden enden, wenn wir der Stärkere sind?« fragte Wantaki. »Wenn wir gleiche Waffen haben, dann werden wir siegen – ich weiß gar nicht, warum ich mit Ihnen darüber spreche.« »Ich weiß es«, erwiderte Cal. »Sie denken an all die Paumons, die sterben müssen, ehe Sie Ihren Krieg gewonnen haben.« Er trat bis an die Kante des Tisches vor. »Wenn die Men schen mit Ihnen von Mann zu Mann verhan deln würden, als Gleichgestellte, nicht als Sie ger zu dem Besiegten, würden Sie den Auf stand aufhalten?« Wantaki sagte nichts. »Wenn Sie in unser Hauptquartier ziehen könnten, mit genügend Leuten, um sich sicher zu fühlen, und dort verhandeln könnten, täten Sie es?« 221
»Sie können das nicht zuwegebringen.« »Ich kann. Geben Sie mir drei Tage Zeit.« Cal sah zu Walk hinüber. »Und ihn.« »Er liegt im Sterben.« »Trotzdem.« Wantaki trat von dem Tisch zurück. »Ich trage eine Verantwortung für das Leben anderer, wie Sie sagten«, meinte er dann. »Ich glaube Ihnen nicht, aber ich will es trotzdem versuchen.« Er ging zur Tür. »Wenn Sie fertig sind, können Sie gehen.« Er verließ den Raum. Cal wandte sich schnell zu Walk um und band ihn los. Walk sank ihm schwer in die Arme. Cal legte ihn auf eins der Betten. Walks Lider flatterten, und er sah Cal ins Gesicht. Seine Lippen bewegten sich, aber er schien nichts zu sagen. Dann merkte Cal, daß Walk flüsterte. Cal beugte sein Ohr zu Walks Mund herab. »Cal«, flüsterte Walk, » … glück … glücklich, recht-zeitig … her-aus … gekom-men …« »Du wirst schon wieder in Ordnung kom men«, sagte Cal. Dann merkte er an dem Schatten in Walks Augen, daß er ihn falsch ver standen hatte. Walk sprach gar nicht von jetzt. 222
»Lügen …«, erklang das Flüstern wieder. »… Trompeten … Trommeln … alles Lügen …« »Bleib ruhig liegen«, sagte Cal. »Ruhe dich etwas aus. Dann bring ich dich nach Osten ins Hospital.« Walk seufzte und schloß die Augen. Cal setz te sich still neben ihn. Eine halbe Stunde war vergangen, als er merkte, daß Walk die Augen wieder geöffnet hatte und ihn ansah. »Was ist?« fragte Cal. Er beugte sich hinab, um zu hören. Walks schwaches Atmen streifte sein Ohr. »Annie«, wisperte der Verletzte, »… haßt mich?« »Nein«, antwortete Cal, »zur Hölle, nein! Annie mag dich. Wir beide mögen dich sehr. Und auch Tack. Und alle anderen.« »Gut«, flüsterte Walk, »… weiß … jemanden. Du … niemals …?« »Zur Hölle, nein!« »Versprachen … mir … edles … Gefühl. Feine Lügner. Fühle … mich lausig … so … zu … ster ben. Nichts … als … verdammte … Kommiß …« »He, Boy«, sagte Cal, aber seine Kehle war dabei wie zugeschnürt. Er nahm eine Hand 223
Walks und hielt sie. »Du hast doch deine Fami lie. Annie und mich und die anderen. Wovon sprichst du denn?« »Lausig … wußte … Lügner, schon … lange. Nicht … recht-zeitig … heraus … gekom-men.« Er schloß seine Augen und lag still da. Cal wachte weiter bei ihm. Etwa eine Stunde später sprach Walk noch einmal. »War … ihr Recht, … mich … töten.« Cal hatte sein Ohr ganz nah an den blassen Lippen und konnte trotzdem das Wispern kaum noch ver stehen. »Nur … möchte nicht … sterben.« Ein wenig später, als Cal ein Augenlid anhob, blickte ihn darunter ein gebrochenes Auge starr an. FÜNFZEHNTES KAPITEL Cal brachte den toten Walk zur Aufnahmestati on des HQ-Hospitals. »Aber der Mann ist doch tot, Oberst«, meinte der zuständige Leutnant überrascht. »Was sol len wir denn mit ihm machen?« »Geben Sie ihm ein Ehren-Begräbnis«, sagte Cal. Dann machte er sich auf die Suche nach 224
Annie. »Ich bin auf dem Weg zu Harmon«, sagte er zu ihr, als er sie gefunden hatte. »Ich möchte, daß du deinen Posten hier jetzt verläßt und für mich etwas tust. Kannst du das?« »Ja«, sagte sie. »Was soll ich tun, Cal?« »Nimm einen Geländewagen und folge mir zum HQ. Warte bis ich hineingehe, dann parke den Wagen um die Ecke an dem Seitenein gang, in der Nähe der Mannschaftsbüros. Laß den Motor laufen und gehe schnell weg. Kannst du das machen?« »Ja, Cal, aber …« »Mehr werde ich dir nicht sagen«, unter brach Cal sie. »Wenn du Fragen hast, stelle sie bitte nicht.« »In Ordnung«, erwiderte sie. »Gib mir eine Minute, damit ich jemand finden kann, der mich hier vertritt.« Cal fuhr in seinem eigenen Wagen zur Hee resleitung. Im Rückspiegel konnte er sehen, wie ihm Annie folgte. Er fuhr auf den offiziellen Parkplatz und ging hinein. »Oberst?« fragte der Sektionsführer hinter der Absperrung, die die dort Beschäftigten von 225
den Besuchern trennte. »Kontakt-Dienst«, sagte Cal, »Oberst Truant. Ich muß mit General Harmon sprechen.« Und ohne zu warten stieß er die kleine Tür in der Absperrung auf und schritt hindurch. »Aber Oberst, eine Minute. Oberst!« Er hörte Schritte hinter sich, ging aber wei ter. Er kam durch eine Tür in einen weiteren Raum, wo ein Captain hinter einem Schreib tisch aufsah. »Oberst Truant!« sagte Cal und ging schnell weiter. Die gegenüberliegende Tür in diesem Raum war geschlossen. Cal öffnete sie und trat ein. Harmon und Alt standen zusammen an ei nem Schreibtisch und waren in ein Gespräch vertieft. Sie wandten sich beide um, während der Captain und weitere Untergebene hinter Cal die Tür erreichten. »General«, sagte Cal, »ich denke, es ist Zeit für Ihr Gespräch mit dem Kontakt-Dienst.« »Es tut mir leid, Sir«, sagte der Captain hin ter Cals Rücken, »er ist einfach durchgegan gen …« 226
»Schon gut«, beruhigte ihn Harmon. »Schließen Sie die Tür.« »Allein«, verdeutlichte Cal sein Begehren. Oberst Haga Alt kam um den Tisch herum. Er schritt auf Zehenspitzen wie ein Boxer. »Truant«, zischte er, »ich habe verdammt lange gewartet, bis …« »Hag«, unterbrach ihn der General. Alt stoppte. Er sah Harmon fragend an. »Es ist schon gut, Hag«, sagte Harmon beruhigend. »Du kannst uns allein lassen.« Alts Nasenflügel weiteten sich. »Zu Befehl, Sir«, sagte er dann. Er ging weiter, sah Cal fest ins Gesicht, ging an ihm vorbei, und Cal hörte zum zweiten Mal, wie die Tür hinter ihm zu schlug. »Nun, Truant«, fuhr Harmon im gleichen freundlichen Ton fort. »Was gibt’s?« »Die Paumons planen einen Aufstand.« »Ich weiß.« »Ich weiß, daß Sie’s wissen«, erwiderte Cal. »Ich weiß, daß Sie es so geplant haben. Es gab einmal eine Zeit, da habe ich geglaubt, daß Sie es gar nicht wüßten. Aber ich habe das Gegen teil herausgefunden.« 227
Harmon kam hinter dem Schreibtisch hervor und stellte sich vor Cal hin. Sie waren nur ein paar Schritte voneinander entfernt. Harmon verschränkte die Hände hinter seinem Rücken wie ein Lehrer. »Damals in Denver«, begann er, »habe ich Sie zu General Scoby gesandt, weil ich gedacht hatte, daß Sie ein echter Soldat wären, was immer auch mit Ihnen bei den Lehaunan pas siert war.« »Das war ich auch. Sogar einer der besten.« »Aber Sie sind es nicht mehr?« »Doch«, erwiderte Cal. »Ich bin ein Soldat. Ich bin mit Leib und Seele Soldat. Aber viel leicht verstehen Sie die Sorte von Soldatentum nicht, die ich repräsentiere.« »Doch, Sie irren sich. Tatsächlich verstehe ich Sie sogar gut. Deshalb spreche ich jetzt auch mit Ihnen, statt Sie hinauswerfen zu las sen.« Er setzte sich auf eine Ecke des Schreib tisches. »Sie gehören zur besten Art, Cal. Des halb sandte ich Sie damals zu Scoby. Weil Sie zu denen gehören, die aus Überzeugung kämpfen. Männer wie Sie sind zu schade, um für uns verloren zu gehen.« 228
»Nur, ich habe unrecht?« »Stimmt«, gab ihm Harmon zur Antwort. »Sie sind unter Leute wie General Scoby gera ten, die von Frieden und Verständnis und ähn lichen Dingen faseln. Es hat Sie beeindruckt. Sie haben wahrscheinlich vergessen, daß solche Dinge nicht normal sind. Sie müssen von einer starken Hand geführt werden.« Er sah auf Cal, und seine Stimme klang entschuldigend. »Ich möchte, daß Sie mich verstehen. Verdammt noch mal, Sie gehören zu Männern, die das verstehen sollten.« »Sollte ich wirklich?« »Allerdings. Weil Sie beide Seiten gesehen haben. Sie gehören nicht zu jenen Schönspre chern, die glauben, daß wir ab nächsten Diens tag Frieden haben. Ich sage Ihnen, Cal, Ich kann mit einem Wesen wie Wantaki mehr an fangen, als mit jenen Friedenspredigern.« »Das beruht wohl zweifelsohne auf Gegensei tigkeit«, meinte Cal. »Sie beide sind Generä le.« Harmon runzelte die Stirn. »Irgendetwas scheint Sie besonders aufge bracht zu haben«, sagte er. 229
»Major Blye ist tot – Sie wissen, Zone elf. Ich habe den Toten mitgebracht.« »Das wußte Ich nicht. Das ist schlimm«, er widerte Harmon. »Er war ein Soldat durch und durch. Ich wette, daß er auch wie ein Soldat starb.« »Sicher.« »Ich möchte hören, wie es geschah. Aber im Moment geht es um etwas anderes: um Sie und nicht um Major Blye, wenn es auch ein gu ter Mann war. Ich kämpfe um Ihre Seele, Cal. Glauben Sie, daß ich ein anständiger Mensch bin? Sagen Sie es mir ruhig.« »Ja«, antwortete ihm Cal. »Ich glaube, daß Sie ehrenwert sind. Daß Sie es ehrlich meinen. Ich glaube, daß Sie jedes Wort, das Sie sagen, selbst glauben.« »Dann glauben Sie mir auch, wenn ich Ihnen sage, daß niemand den Frieden so sehr wünscht wie Ich. Daß ich mit Scoby hundert prozentig darin übereinstimme, daß diese Paumons uns von allen Rassen, die wir bisher kennenlernten, am nächsten stehen, körper lich, geistig und seelisch. Er hat Ihnen das ge sagt? Ich sehe, er hat. Aber von dem Punkt an 230
sieht er alles vom idealistischen Standpunkt und Ich vom praktischen. Er glaubt, das stem ple sie zu großen Freunden. Ich weiß, daß es sie zu gefährlichen Feinden stempelt. Es ist ei ne leichte Sache, aus einem Hund einen Haus freund zu machen; aber versuchen Sie es nie mit einem Wolf.« »Oder mit einer Cheetah?« Harmon hielt inne, seine Augen blitzten är gerlich auf. »Ich spreche im Ernst«, sagte er. »Ich auch«, erwiderte Cal ihm. »Wissen Sie nicht, warum diese Cheetah bei Scoby ist?« »Ich weiß es nicht, und ich will es auch gar nicht wissen«, sagte Harmon verärgert. »Mich beschäftigt die Zukunft von zwei Rassen, nicht ein hirnloses Tier. Ich versuche, Ihnen begreif lich zu machen, daß wir diesen Paumons, gera de weil sie uns so ähnlich sind, niemals ver trauen können. Wir haben etwas angefangen und wir können nicht mehr zurück. Jetzt müs sen wir sie in die Knie zwingen. Wir müssen ihnen mit einem Blutbad, an das sie sich noch nach Generationen erinnern, zeigen, daß die Menschen die Herren sind. Wir können nicht 231
mehr zurück.« »Warum haben wir angefangen?« »Die Geschichte hat uns gezwungen«, er klärte der General weiter. »Unsere Rasse brei tet sich aus.« Harmon stand auf. »Cal«, sagte ei, »können Sie nicht sehen, daß das, was ich in die Wege geleitet habe, nicht nur richtig, sondern auch menschlich ist? Wir haben die Paumons beim ersten Mal menschlich behan delt. Das hat sie zu falschen Schlüssen verlei tet. Sie bestehen darauf, daß wir ihnen eine richtige Lektion erteilen. Und wie ein guter Chirurg rette ich Leben, indem ich sofort schneide, statt zu warten bis später, wenn eine tiefere Operation nötig wäre. Sie können sogar sagen, daß ich die Paumons rette. Denn wenn sie zu einer wirklichen Bedrohung für uns he ranwachsen würden, dann wären wir gezwun gen, sie auszurotten.« »Stimmt«, sagte Cal. »Ich hoffe, Sie verstehen jetzt«, fuhr der General fort. »Glauben Sie mir, Cal. Sie sind einer von denen, von denen ich gehofft habe, daß sie mich verstehen.« »Nein«, antwortete Cal fest. »Setzen Sie 232
mich auf eine Stufe mit General Scoby. Nein, setzten Sie mich noch tiefer. Denn ich bin im mer noch bereit, zu kämpfen und zu töten, wenn es sein muß, trotz dieser Schulterstrei fen. Aber ich kann nicht zugeben, daß irgend eine Notwendigkeit dafür besteht. Daß es rich tig und großartig ist.« Harmon seufzte und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Cal«, sagte er. »Mir auch«, erwiderte Cal. »Ich habe gerade mit Wantaki gesprochen. Ich habe ihm gesagt, er könne hierher mit einer ausreichenden Rük kendeckung kommen, um sich sicher zu füh len. Dann könnte er über die Situation bei den Paumons sprechen, nicht als Besiegter zum Sieger, sondern von Mensch zu Mensch, besser von Paumon zu Mensch, wobei beide den Wil len haben, weiteres Blutvergießen zu vermei den.« »Das war närrisch«, erwiderte Harmon. »Es war sogar lächerlich.« »Nein«, parierte Cal. »Denn als Leiter des Kontakt-Dienstes auf diesem Planeten untersa ge ich jede militärische Aktion während dieser Unterredung.« 233
»Ich verstehe«, sagte Harmon. Er stand ei nen Moment da, dann wandte er sich um und drückte auf einen Knopf auf seinem Schreib tisch. Er sprach in ein Mikrophon: »Würden Sie zwei Militärpolizisten hereinschicken?« Er ließ den Knopf los und wandte sich an Cal. »Wie ich schon sagte, es tut mir leid. Ich hätte Sie lie ber als Verbündeten gesehen, als Sie jetzt fest nehmen zu lassen.« »Jawohl«, sagte Cal. Er versetzte dem General urplötzlich einen Haken in den Magen und, als der andere auf ihn fiel, schlug er ihm noch die Handkante hin ter das Ohr. Harmon fiel zu Boden und blieb liegen. Cal ging durch die Hintertür hinaus, stieg ein paar Stufen hinab und kam durch ei nen Raum, der mit Kassetten für Mikrofilme angefüllt war. »Bleibt sitzen! Bleibt sitzen!« sagte er zu den Soldaten, die erstaunt aufsahen. »Ich nehme nur den kürzesten Weg zu meinem Wagen.« Durch eine weitere Tür gelangte er schließ lich nach draußen. Der Wagen, den Annie für ihn gelenkt hatte, stand genau vor dem Aus 234
gang. Er lief darauf zu. Als er hineinsprang und sich hinter die Lenksäule zwängte, hörte er, wie hinter ihm eine Stimme etwas rief. Er trat aufs Gas, und der Wagen schoß da von. Cal raste durch die Straßen, bog auf den Weg zum Raumhafen ein und bremste vor den Stützbeinen des Flaggschiffs. Zehn Meter über der Rampe war die rückwärtige Schleuse offen, um die Belüftung des Schiffes an diesem war men Tag zu unterstützen. Er war schon durch die Luke und an den Handkontrollen für den Schließmechanismus, als er hinter sich jemand heftig atmen hörte. Er wirbelte herum. Es war Annie. »Du Närrin«, schimpfte er. Die Luke schwang zu. Einen Moment später schloß sich auch die innere Schleusentür mit einem dumpfen Plop. SECHZEHNTES KAPITEL »Du mußt hier raus«, sagte Cal. »Du weißt nicht, in was du dich da eingelassen hast.« »Ich gehe nicht«, antwortete Annie. »Ich ver stehe sehr gut. Du kannst mich auch nicht he 235
rauslassen, ohne die Kontrollen hier außer acht zu lassen. Und das kannst du nicht riskieren.« »Ich werde es schon schaffen!« »Nein«, sagte Annie. Sie war sehr blaß. »Ich lasse dich nicht. Ich werde mich wehren.« Sie waren oben im Beobachtungsraum, wo die Hilfskontrollen waren. Der Wachoffizier war im Kartenzimmer nebenan eingesperrt worden. Cal hatte die Hilfsgeneratoren angelassen. Da zu brauchte man keinen Ingenieur; und der Stromfluß, den Cal dadurch bekam, genügte für seine Zwecke vollauf. Draußen am Schiff leuchteten über allen drei Eingängen die roten Warnlampen, die jeden warnten, näher als hundert Meter heranzukommen. Auf dem Au ßenbildschirm konnte Cal die anderen Raumer wie Spielzeuge sehen, er sah die kleinen Ge bäude am Rand des Feldes, das Hauptquartier, das Hospital und weiter hinten die Grenzen von Manaha. Noch weiter in der Ferne sah er die offenen grünen Hügel und dazwischen die dunkelgrünen Flecken der Baumgruppe. Der Bildfernsprecher ertönte. Cal antwortete, und der Schirm erhellte sich. Das Gesicht von Oberst Alt erschien. 236
»Truant«, sagte er, »kommen Sie aus dem Schiff heraus, ehe ich die Militärpolizei hinein schicken muß, um Sie zu holen.« »Wenn ich Sie wäre, würde ich das nicht versuchen«, antwortete Cal. »Ich bin darauf vorbereitet, dieses Schiff und mit ihm alles im Umkreis in die Luft zu jagen.« Alt zögerte. Er sah für einen Moment zur Seite, dann schaute er wieder auf den Bild schirm. »Nehmen Sie Vernunft an«, sagte er dann. »Ich wäre im Recht gewesen, wenn ich Sie er schossen hätte, als Sie Harmon zusammen schlugen und ihn damit töteten.« »Lügen Sie mich doch nicht an, Oberst. Ich weiß, wann ich einen Mann töte. Sagen Sie dem General, daß ich mit ihm sprechen will, sobald er wieder fit ist.« Cal unterbrach die Verbindung. Er setzte sich in den Sessel des Funkers, der an einem kleinen Pult vor den Bildschirmen stand. Sein Kopf summte, und sein Körper schien ihm blei schwer zu sein. Er legte seinen Kopf für einen Moment auf die Arme und fühlte sofort, daß er Fieber haben mußte. 237
»Leg dich hin«, sagte Annie. »In der Zentra le steht eine Liege. Komm!« Sie zog ihn hoch. »Du brauchst Ruhe. Wann hast du zum letzten Mal geschlafen?« »Nein …«, sagte er protestierend und spürte dabei, wie sein willenloser Körper von Annie auf die Liege geschoben wurde. »Harmon wird zurückrufen …« »Laß ihn rufen. Ich werde ihm antworten.« »Nein. Du bleibst da raus …« Die Worte ka men nur noch mühsam über seine Lippen. Eine Ecke der Liege stieß gegen seine Knie, und er fiel darauf. Die Welt drehte sich um ihn, als wäre er betrunken. Dann war plötzlich alles um ihn in Dunkelheit. Sein Kopf schmerzte. Es war das blendende, gleißende Licht der Leuchtsäulen, der Straßen beleuchtung in der Lehaunan-Stadt, das ihm Kopfschmerzen verursachte. Und er war noch nie so müde gewesen. Er wanderte durch die Stadt, das Strahlengewehr in seiner Hand, und ließ seine Füße sich selbst einen Weg zwischen den kuppelartigen Häusern suchen. Hier und da schoß er nachlässig auf etwas, das ein Le haunan sein konnte. Er war so müde, daß er 238
gar nicht genau merkte, was er da tat. Irgen detwas hatte nicht richtig geklappt, und er hatte entschieden, daß etwas anderes gesche hen müsse. Aber im Moment konnte er sich nicht richtig erinnern, was das gewesen war. Er war müde und sah sich nach etwas um, worauf er sich setzen konnte. Schließlich kam er auf einen kleinen freien Platz zwischen den Gebäuden, und dort ragte einer der halbzylindrischen Auswüchse aus dem Boden auf. Er setzte sich darauf und legte seinen Strahler über die Knie. Etwas links von ihm stand ein Gebäude und weiter zur Rechten erhob sich ein weiteres. Unmittelbar vor ihm, keine zehn Meter ent fernt, stand ein drittes. Eine Leuchtsäule neben dem Gebäude links von ihm beleuchtete unbe teiligt die ganze Szene. Er saß da, ohne an etwas zu denken, und nach einer kleinen Weile rannte ein Lehaunan über den offenen Platz, sah ihn, zögerte und rannte weiter. Etwas später sah er noch einen, der zwischen zwei weiter entfernten Gebäuden hindurchrannte, die Cal nur undeutlich sehen konnte. 239
Er machte keine Bewegung. Er fühlte eine merkwürdige dumpfe Verbundenheit mit sei ner Umgebung, gerade, als ob er mit dem Auswuchs, auf dem er saß, fest verwachsen sei. Der Gedanke, der unablässig in seinem Gehirn herumspukte wie der Vorspann für einen Film, war, daß er sich entschließen könne, wenn er nur lange genug sitzenblieb. Er saß ruhig und unbeweglich. Einige Zeit später kam eine dreiköpfige Fa milie der Lehaunan aus dem dreieckigen Ein gang des Hauses direkt vor ihm. Es waren ein Mann, eine etwas kleinere Frau und ein kleiner Junge. Er saß so still, daß sie bis auf wenige Schritte an ihn herankamen, ehe sie ihn be merkten. Sie blieben stehen. Sie trugen einige kleine Pakete. Cal und die Lehaunan machten keine Bewe gung und starrten einander an. »Es ist schon gut«, dachte Cal in seiner Sprache, »geht weiter! Ich tue euch nichts.« Es war ihm viel zu mühsam, die Worte laut auszusprechen. So hatte er sie eben nur ge dacht und blieb einfach da sitzen. Die weibliche Lehaunan stieß einen kurzen 240
Ton aus und gab dem Kleinen einen sanften Stupser. Der zögerte; sie schubste ihn noch mal. Widerstrebend rannte der Junge nun los, an Cal vorbei, und verschwand hinter dem nächsten Gebäude. Die beiden Erwachsenen blieben stehen und sahen Cal unverwandt an. »Es ist gut«, sagte er in Gedanken, »Ihr könnt auch gehen. Ihr seid offensichtlich Zivili sten. Außerdem, ich habe eure Stadt erobert. Ich brauche nicht mehr auf euch zu schießen.« Einen Moment lang blieben sie noch stehen. Dann, als hätten sie seine Gedanken verstan den, begannen sie vorsichtig, sich zurückzuzie hen. »Seht ihr?« dachte Cal, »Ihr seid vollkom men sicher. Ich werde euch nichts tun.« – Sie waren wie Ameisen, dachte er; sie hatten Angst, daß man sie zertreten könnte. Er beo bachtete sie, wie sie langsam zurückwichen. Sie sahen mit ihrem schönen schwarzen Fell sehr possierlich aus. Er mußte für sie wie ein Monster ausschauen. Ein Monster, das man nicht verstehen konnte. Das tötete oder auch nicht, je nach Laune, ohne ersichtlichen Grund. Sie hielten noch immer ihre Pakete, während 241
sie sich zu dem Gebäude zurückzogen, aus dem sie gekommen waren. Mitleid überkam Cal. »Geht unbesorgt«, dachte er. »Geht in Frie den!« Sie hatten jetzt die Hälfte des Weges über den freien Platz bis zu ihrem Haus hinter sich gebracht. Der Mann drehte sich um und zog die Frau mit sich, dabei versuchte er aber, sie vor sich herzuschieben. Dann begannen sie, auf das Haus zuzurennen. Sie fliehen, dachte Cal plötzlich. Er hob eine Waffe und schoß den Mann nie der, der sofort hinfiel. Die Frau ließ ihre Pakete fallen und vergrößerte ihre Geschwindigkeit. Cals zweiter Schuß warf sie innerhalb des Ein gangs zu Boden. Er konnte sie da liegen sehen. Die Pakete lagen verstreut auf dem Platz herum. Cal überlegte, was wohl Wertvolles darin sein mochte. Sie sollten sichergestellt werden, so daß der Junge sie eines Tages wie derbekommen könnte … Annie schüttelte ihn. Es war ziemlich schwer, richtig wach zu werden. Er mühte sich, hoch zukommen, aber er war nur halb bei sich. Die 242
andere Hälfte seines Geistes war noch mit sei nem Traum beschäftigt. »… General Harmon«, sagte Annie. »Er will mit dir sprechen. Ich wollte dich nicht wecken, aber du hast beinahe neun Stunden geschla fen.« »Neun Stunden!« Er taumelte auf seine Füße und schwankte in den Beobachtungsraum hin über. Annie wollte ihn zum Bildsprecher fuh ren, aber er schüttelte den Kopf. »Er kann warten!« Er legte seine noch steifen Hände auf die Kontrollen des Außenbildschirms. Es war spä ter Nachmittag, und das Licht der untergehen den Sonne Bellatrix hatte das Moos auf den fernen Bergen in ein dunkles Grün verwandelt, und die Wälder sahen beinahe schwarz aus. Er schraubte die Vergrößerung auf maximale Stärke und sah, wie aus einer Entfernung von scheinbar nur wenigen Schritten in der Ferne unter den Bäumen Paumon-Soldaten standen. »Wantaki«, sagte er. »Er hat’s geschafft.« »Was?« fragte Annie. Er antwortete nicht, sondern ging zu dem Bildsprechgerät zurück. Er drückte auf den 243
Empfangsknopf, und sofort erschien das Bild von General Harmon auf dem Schirm. Er stand mit halb abgewandtem Gesicht, aber der Summer am anderen Ende hatte wohl ange schlagen, denn Harmon wandte sich sofort um und kam auf das Gerät zu. Er sah ruhig und sorglos wie immer aus. »Oberst Truant«, sagte er in ruhigem Ton, »ich befehle Ihnen, aus dem Schiff herauszu kommen.« »Nein!« antwortete Cal. Seine Beine waren noch schwach vom Schlaf. Er setzte sich vor dem Bildschirm hin. »Ich bleibe hier, bis Sie sich zu einem Gespräch mit Wantaki bereit finden, bis Sie ihn in das Hauptquartier mit genügend Männern hereinlassen, um sich eventuell verteidigen zu können.« »Ich gehöre nicht zu den Männern, die man erpressen kann«, erwiderte der General. »Ich erpresse Sie nicht. Ich halte Ihnen eine geladene Pistole ins Genick. Wenn ich dieses Raumschiff in die Luft jage, dann müssen Sie, Wantaki und alle anderen dran glauben. Es wird nichts von unseren Streitkräften auf die sem Planeten zurückbleiben als ein paar zer 244
störte Garnisonen. Man wird keine vierund zwanzig Stunden brauchen, um die letzten Re ste von unseren Truppen zu vernichten.« »Eine ziemlich seltsame Art, um Leben zu retten, nicht wahr?« fragte Harmon mit bei ßendem Spott. »Haben Sie sich überlegt, wie viele Leute – und auch wieviele Paumons – sterben müssen, wenn Sie das Schiff mit all seinen Waffen in die Luft jagen?« »Sie verstehen mich nicht«, antwortete Cal. »Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie mich nicht mit General Scoby verwechseln sollten. Ich weiß, was ich tue, wenn ich den Raumer in die Luft jage. Aber wenn ich es tun muß, dann werden die Paumons besser wegkommen, als wenn ich es nicht muß. Der einzige Weg, um Sie dazu zu bringen, mit ihnen richtig zu ver handeln, ist meine Drohung, Ihr Flaggschiff zu sprengen. Und ich kann nicht damit drohen, wenn ich es in Wirklichkeit gar nicht vorhabe. Aber ich werde es tun, General!« Cal sah in die Augen des Generals, aber was er sah, war ein kleines schwarzbepelztes Wesen, das ein gefal lenes größeres Wesen seiner Art in den dreiek kigen Eingang eines Gebäudes hineinzuziehen 245
versuchte. »Es ist besser für Sie, wenn Sie glauben, daß ich es ernst meine.« »Ich gebe Ihnen dreißig Minuten«, erwiderte Harmon darauf. »Wenn Sie bis dahin keine An stalten gemacht haben, herauszukommen, werde ich den anderen Schiffen befehlen, das Feuer auf Sie zu eröffnen.« »Sie wissen genau, daß Sie dieses Raum schiff hier nicht zerstören können, ohne daß ich es vorher in die Luft gejagt habe. Und Sie sind in jedem Fall für die Vernichtung verant wortlich. Ich gebe Ihnen noch bis zum Son nenuntergang Zeit, ungefähr zwei Stunden. Wenn Wantaki und seine Leute nicht bis dahin hereingelassen worden sind, sprenge ich das Raumschiff.« »Dreißig Minuten«, sagte Harmon noch ein mal. »Leben Sie wohl«, antwortete Cal, dann un terbrach er die Verbindung. Er stand auf, dreh te sich um und sah Annie ruhig an. »Annie«, sagte er, »es gibt einen Ein-MannSchleudersitz in der Spitze des Schiffes, der dich fünfzig Kilometer hoch und sechshundert Kilometer weit weg katapultiert. Geh da hinein 246
und fliehe.« »Nein«, erwiderte Annie. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich nicht gehe.« »Ich bin zu müde, um mit dir zu streiten. Begreifst du denn nicht? In zwei Stunden wer de ich auf diesen Auslöseknopf drücken und alles Leben im Umkreis von fünfhundert Kilo metern vernichten. Kannst du das nicht in dei nen Schädel hineinbekommen? Ich werde es tun müssen.« »Der General wird nachgeben.« »Nein, das wird er nicht«, widersprach ihr Cal. Er blickte grimmig auf den leeren Bild schirm des Sprechgeräts. »Er kann nicht. Nicht, weil es doch eine Chance geben könnte, daß ich nicht auf den Knopf drücke. Und wenn er Gewißheit hat, daß es eine solche Chance nicht gibt, ist es bereits zu spät.« »Ich werde bis zur letzten Minute warten«, sagte Annie darauf. »Ich werde nicht eine Se kunde früher gehen.« Cal fühlte sich auf einmal ganz elend und schwach. Er merkte, daß er alle Fasern seiner Muskeln angespannt hatte, so als hätte er sich mit aller Kraft gegen die Möglichkeit wehren 247
müssen, daß sie nicht gehen wollte, daß er sie nicht früh genug herausbekommen würde. Er atmete erleichtert aus und ließ sich in ei nen Stuhl sinken. »Gut«, sagte er. »Gut.« Sie kam schnell zu ihm herüber. »Cal?« fragte sie. »Bist du in Ordnung?« »Ja«, gab er zur Antwort. Sie hatte ihre Ar me um seinen Nacken geschlungen. Er lächelte ein wenig unsicher, dann tätschelte er unbe holfen einen ihrer Arme. »Es ist nur, weil ich dich liebe.« Die Worte kamen ihm ganz leicht über die Lippen. Er war früher nie fähig gewe sen, ihr das zu sagen. Er sagte es noch einmal. »Ich liebe dich.« Sie umarmte ihn noch fester. Es gab nicht viel zu sagen. Nach einer Weile entschuldigte sie sich und ging für ein paar Sekunden aus dem Raum. Und dann kam sie zurück, und sie saßen beisammen und beobachteten, wie die Sonne den Horizont berührte. »Es ist Zeit«, sagte er. Sie bewegte sich nicht. »Du mußt jetzt gehen.« »Ich habe dich angelogen«, antwortete sie. 248
»Ich habe nie gehen wollen. Als ich eben weg war, bin ich zu dem Schleudersitz gegangen und habe die Kontrollen zerstört. Ich könnte nicht mal mehr weg, selbst wenn ich wollte.« Er konnte sie nur anschauen. »Verstehst du denn nicht?« fragte sie ganz gefaßt. »Ich will bei dir bleiben.« Er sagte mit zusammengepreßten Lippen: »Ich kann das Schiff nicht sprengen, wenn du an Bord bist.« »Doch, du kannst«, war ihre Antwort. Ihre Stimme war sehr ruhig und fest. Es war, als wenn sie von einem tiefen Frieden erfüllt war, aus dem sie weder Tod noch Not aufschrecken konnte. »Ich weiß, daß du es kannst.« Er stand schwerfällig auf und warf noch ei nen Blick auf die fernen Hügel. Das Licht der untergehenden Sonne ruhte jetzt auf ihnen und hüllte sie in einen herrlichen Strahlen kranz. Er ging langsam hinüber zu dem Waf fenknopf. Er warf ihr noch einen letzten Blick zu, dann legte er seine Hand auf den Knopf. »Einen Moment, Cal«, ertönte eine Stimme von irgendwoher über ihm. »Du hast gewon nen.« 249
Es war Harmons Stimme. Cal sah sich ver wundert um. Einen Moment lang erwartete er sogar, daß der General jetzt persönlich herein käme. »Wir haben euch belauscht«, sagte Harmons Stimme. »Wir haben vor acht Stunden ein Lauschmikrophon in die Außenwand des Schif fes geschossen. Wenn Sie den Raum nur für fünf Minuten verlassen haben würden, hätten wir Sie gehabt. Sehen Sie nach draußen zu den Hügeln. Ich habe Alt dorthin geschickt, um Wantaki Bescheid zu geben. Sie können sehen, daß die Progs schon kommen.« Cal sah nach draußen. Gegen die Strahlen der untergehenden Sonne mußte er seine Au gen beschatten. Aber als er das tat, sah er dunkle Massen in Bewegung auf Manaha. Sie waren schon hinter der Linie der schweren Waffen, die das Hauptquartier umgaben. »Schön«, sagte Cal. »Ich komme heraus.« Er wartete, bis die näherkommenden Pau mons wirklich in der Stadt waren, dann ging er zum Ausgang hinunter, Annie an seiner Seite. Als sie durch die Schleuse traten, sah er, daß schon eine kleine Versammlung auf sie warte 250
te. Es waren Militärpolizisten da, männliche und weibliche, Oberst Harry Adom von der Mi litärpolizei und Cals eigener Stellvertreter beim Kontakt-Dienst, Major Kaj. Major Kaj war fünf zehn Jahre älter als Cal und sah aus wie ein Bankbeamter. Er repräsentierte die alte Garde, über deren Köpfe hinweg Cal von Scoby beför dert worden war. Kaj sah verlegen und un glücklich drein, aber Cal war froh, ihn hier zu sehen. »Major«, sagte er, »sie vertreten mich, bis General Scoby neue Befehle erlassen hat. Er wird …« »Er ist selbst hier«, unterbrach ihn Kaj. »Oder besser, er kommt gerade an.« Er deute te nach oben, wo Cal plötzlich den Widerschein von einem Körper aufblitzen sah, der noch hoch genug war, um die Sonnenstrahlen aufzu fangen. »Wann hat er denn gefunkt, daß er käme?« fragte Cal. »Gestern«, antwortete Kaj unglücklich. »Als die Nachricht kam, konnten wir Sie nicht mehr aufhalten.« Cal hatte inzwischen den Rand der Rampe 251
erreicht. Die Polizisten, die ihn dort erwarteten, umringten ihn, und er sah, daß die weiblichen MPs Annie in ihre Mitte nahmen. »Einen Augenblick!« rief er. »Sie hat über haupt nichts damit zu tun. Ich …« Man schenkte ihm keinerlei Beachtung. Er wurde nach Waffen durchsucht. »Alles in Ordnung«, sagte einer. Am anderen Ende des Landefeldes war jetzt die Kurierrakete niedergegangen, die Scoby brachte. Ein Empfangskomitee hatte sich ein gefunden, und als die Schleuse sich öffnete und eine Gestalt, geführt von einer CheetahKatze heraustrat, sah Cal eine andere kleine Gestalt, die Harmon ähnlich sah, vortreten und dem Ankömmling die Hand schütteln. »Cal«, rief Annies Stimme. Er sah zu ihr hinüber, als das kalte Metall der Handschellen seine Gelenke umschloß. Man tat mit ihr das gleiche. Für einen Augenblick konn ten sie sich noch einmal ansehen. Dann schlossen sich die MPs um sie zusammen, und Cal und Annie wurden in verschiedene Rich tungen abgeführt.
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SIEBZEHNTES KAPITEL Die Militärpolizei brachte Cal in das SoldatenGefängnis und schloß ihn in eine Einzelzelle in einem leerstehenden Teil des Gebäudes ein. Es war so ruhig und abgelegen dort, daß man eher glauben konnte, in einem Hospital zu sein statt in einem Gefängnis. Nach Ablauf von vier Tagen wurde er in einem geschlossenen Wagen abgeholt und zum Raumhafen gebracht. Dort kam er auf ein Schiff, dessen Ziel die Erde war. Es war unmöglich zu erfahren, was seit seiner Verhaftung geschehen war. Es konnte sein, daß der Kampf wieder aufgeflammt war, ohne daß er etwas davon erfahren hatte. Und man schien es auch darauf abgesehen zu haben, ihm nichts mitzuteilen. Scoby war auch nicht gekommen, um nach ihm zu sehen. Wieder auf der Erde, brachte man ihn im Mi litärgefängnis von Fort Shuttleworth in der Nähe von Denver unter. Er bekam ein separa tes Quartier, das etwas besser als seine Zelle war; es bestand aus eineinhalb Räumen und war ein kleines Appartement. Durch die vergit terten Fenster konnte er auf einen sorgfältig 253
gepflegten Rasen, ein paar hohe Fichten und dahinter auf den schneebedeckten Gipfel eines Berges sehen. Er nahm an, daß es der Longs Peak war, aber er war nicht ganz sicher, und ein gewisser Eigensinn erlaubte ihm auch nicht zu fragen. So blieb er im ungewissen. Kurz nachdem er hier eingeliefert worden war, kam ein Captain vom Generalstab mit ei nem Berg von Papieren. Er wies sich als Cals gesetzlicher Vertreter aus. Er erklärte irgen detwas, das darauf hinauslief, daß man Cal an klagen wolle. Wahrscheinlich würde es eher als Verrat denn als Verbrechen angesehen, aber bis jetzt wäre noch nichts entschieden. Aus ir gendeinem Grund wäre die Rechtsprechung ein Problem. Der Captain nahm sich und seine Arbeit sehr wichtig, und das meiste, was er sagte, fand Cal ziemlich nichtssagend. Er wollte einen Bericht in Cals eigenen Worten über das, was zu seiner Verhaftung geführt hatte, und nahm das nicht nur auf Tonband auf, sondern brachte es auch gleich zu Papier. Es würde schwer sein, die Anklagepunkte zu leugnen, befand er schließlich. Das Beste wäre wohl, auf einen vorübergehenden Zustand der Unzu 254
rechnungsfähigkeit zu plädieren. Darüber ließ Cal natürlich nicht mit sich re den. Er würde nie eine zeitweise geistige Ver wirrung zugeben. Andererseits aber schenkte er dem Redeschwall des Captains nur wenig Beachtung. Er war mehr daran interessiert, aus dem anderen Neuigkeiten herauszuholen. Annie wäre irgendwo unter Arrest, sagte der Cap tain. Er wußte nicht genau, wo. Er selbst war nicht zu ihrer Verteidigung bestellt. Über die Paumons hatte er nur sehr wenig Information zu bieten. Die Streitkräfte der Terraner und der Paumons hielten momentan Frieden, aber die Situation war gespannt wie immer. Ja, so viel er wüßte, hätten die Befehlshaber der Paumorts mit der Generalität ein Gespräch ge führt, aber das wäre in den Nachrichten nur ganz kurz erwähnt worden; offizielle Berichte darüber hätte es nicht gegeben. »Es ist ein weiter Weg von da, wissen Sie«, meinte er zu Cal. Nach dem Besuch des Captains erlaubte man Cal, Zeitungen zu lesen, und er bekam plötz lich eine Menge Post, die sich angesammelt hatte. Es war aber nichts von Scoby dabei, nur 255
eine Handvoll Briefe von Annie – und die waren bis zur Unkenntlichkeit von der Zensur zu sammengestrichen worden. Cal schrieb ihr eine Antwort, hatte aber keine große Hoffnung, daß diese besser behandelt würde. Es war Juli. Nur selten gab es Wolken um den Gipfel des Berges, den Cal von seinem Fenster aus sehen konnte. Er las viel, grübelte und schritt in seinen verschlossenen Räumen auf und ab. Der Captain kam gelegentlich zu ihm und brachte Formulare, die ausgefüllt oder unterschrieben werden mußten. Aus dem Juli wurde August, und der August wurde vom September abgelöst. Er empfand schmerzlich, wie die wertvollsten Tage seines Lebens dahin schwanden. Er hatte wieder den Ernst und Frieden in sich gefunden, der ihn in den letzten Tagen auf der Kontakt-Schule erfüllt hatte. Er sorgte sich nicht ernstlich um das, was eventu ell mit ihm geschehen könnte. Es war eine merkwürdige Sache, daß die Militärbehörden für gewisse Verbrechen die Todesstrafe wieder eingeführt hatten, während die zivilen Gerichte sie schon lange abgeschafft hatten. Was aber ihn selbst betraf, so war sein Bewußtsein klar, 256
und sein Ende konnte bestimmt nicht schlim mer sein als das von Walk. Aber er sorgte sich um das, was wohl mit Annie geschehen sein konnte. Dann – es war in der dritten Septemberwo che – teilte ihm der Captain mit, daß man Annie, ohne Anklage zu erheben, freigelassen hat te. Er empfand große Erleichterung und hoffte, daß sie ihn besuchen könnte. Aber sie kam nicht, und sie schrieb auch keine Briefe mehr. Er versuchte, sich einzureden, daß das gut sei, und daß sie aus allem heraus sei. Er konnte jetzt auch der Tatsache ins Auge sehen, daß er sie liebte, und er verstand, war um er früher unfähig gewesen war, ihr das zu sagen. Er war in Gedanken davor zurückge schreckt, noch einmal den schrecklichen Tod seiner Mutter miterleben zu müssen, diesmal mit Annie in der Rolle seiner Mutter. Und er wußte jetzt auch, daß er immer so wie sein Va ter hätte werden wollen, daß er sich nur aus Trotz dagegen gewehrt hatte, weil er seinem Vater die Schuld am Tod der Mutter zugescho ben hatte. Damals – mit den Augen eines Kin des – hatte er nicht verstanden, daß eigentlich 257
andere die Schuld traf. Er hatte geglaubt, sein Vater hätte sich um seine Frau nicht geküm mert. Heute, wo sein Vater tot war, wußte er, daß sein Vater in Wirklichkeit sehr um seine Frau besorgt gewesen war. Nicht nur besorgt, er hatte sie geliebt. Und er hatte in so vielen Dingen recht gehabt. Er hatte recht gehabt, als er von dem schmalen Pfad gesprochen hatte, der einen Soldaten vom Mörder trennt. Cal verstand das jetzt alles, und er wußte, daß er bei den Lehaunan in jener Stadt den Pfad überschritten hatte und auf die falsche Seite geraten war. Ein Mann, sagte er sich, kann töten und trotzdem weiterleben. Aber wenn er mordet, errichtet er eine Barriere zwischen sich und dem Leben ringsum; eine Barriere, hinter der er ganz allein sterben muß. Und ein Mann beginnt zu morden, überlegte Cal weiter, wenn er anfängt, sich selbst zu überreden, daß es richtig ist, zu töten; daß es praktische oder moralische Rechtfertigungen dafür gibt. Denn es gibt in Wirklichkeit keine. Manchmal glückt es vielleicht, und danach wird etwas besser als zuvor. Aber es ist niemals gut, es ist immer schlecht. Es würde immer einen 258
besseren Weg geben, wenn man nur klug ge nug war, ihn zu finden. Cal lehnte sich gegen seine Fensterbank und sah hinaus auf den Rasen, sah durch das Gitter auf die Fichten, die in dem Wind schwankten, der unablässig wehte, und er sah auf den fer nen Berggipfel, neben dem eine weiße Wolke schwebte. Vermutlich, dachte er, muß man das soweit treiben, daß man selbst Insekten und Mikroben schonen muß, daß man das Wasser nicht mehr trinken darf. Nein, überlegte Cal weiter, das ist falsch. Und es ist auch nicht richtig zu sagen, man wäre besser tot. Es gibt immer Wunder, und es gibt immer Hoffnung. Wenn man die Wunder und die Hoffnung leugnet, heißt das, Gott versu chen. Wenn ich nicht hundertprozentig spielen kann, gehe ich gar nicht erst in einen GolfClub? Falsch! Man muß sich an das halten, was man glaubt und man muß weiter auf seine ei gene, unvollkommene Art versuchen, dem Himmel näher zu kommen, auch wenn prak tisch veranlagte Menschen wie Harmon sicher sind, daß man es nicht kann. Und verdammt noch mal, man mußte dann einfach ab und zu 259
einen Fortschritt machen. Bei Gott, ja, dachte Cal. Wenn das nicht so wäre, dann hätten wir auch weiterhin in Affen herden leben können, umherstreifend und jedem Lebewesen, das einem unter die Hände kam, die Kehle durchbeißend. Man durfte sich eben nur nicht selbst täuschen. Es bedeutet nicht eine gute Sache, einen Menschen aufzu schneiden, nur weil es auch gut ist, ihn aufzu schneiden, wenn sein Blinddarm entzündet ist. Man mußte immer wieder versuchen, sich selbst zu erziehen. Und eines Tages würde man dann sicher auch einen Weg finden, das Leben anderer Wesen zu retten, ohne dafür ein Mes ser zu benützen. Und das ist unser Fehler, überlegte Cal wei ter. Wir dürfen nicht die Tatsache aus den Au gen verlieren, daß es falsch ist, gegen jede neu entdeckte Rasse aus allen Waffen feuernd an zugehen. Der einzig richtige Weg wird schließ lich sein, nackt und unbewaffnet zu den Ster nen zu gehen. Es durfte keine Gewalt zwischen den Sternen mehr geben. Ohne Waffen müßte der Mensch gehen, weil er sie nicht brauchte – aber wenn man es nicht versuchte, konnte 260
man nie einen Weg finden. Und man versuchte es so lange nicht, wie man sich der Täuschung hingab, daß es in Ordnung war, zu … Das Geräusch einer sich öffnenden Tür un terbrach Cals Gedankenflug. Es war einer sei ner Wächter mit dem Mittagessen auf einem Servierbrett. »Keine Post heute«, sagte der Mann und setzte das Tablett ab. »Man scheint deine Adresse in den letzten Wochen verloren zu ha ben.« Zwei Wochen später brachte man Cal aus seiner Zelle zum Büro des Direktors, wo ein Verwaltungsoffizier ihm mitteilte, daß er ent lassen sei. Man gab ihm keine weitere Erklä rung. Er erhielt eine kleine Plastiktasche mit seinen Habseligkeiten zurück, dazu bekam er noch einen versiegelten Umschlag und wurde dann zu dem Gefängnistor eskortiert. Auf dem Weg dahin öffnete er den Umschlag und zog ein Blatt Papier hervor. Er wurde ehr los aus dem Dienst ausgestoßen, las er, und ei ne Wiedereinstellung würde es nicht mehr ge ben. Das Tor öffnete sich vor ihm, und er trat auf den weiten Platz hinaus. 261
Er mußte zweimal hinsehen, um zu glauben, was er sah. Dort standen Annie und Scoby mit seiner Limpari und hinter ihnen ein Mietgleiter. Annie rannte los und schlang ihre Arme um seinen Nacken, Scoby rührte sich nicht und stand da, mit einem Fuß auf dem Trittbrett zur offenen Tür des Gleiters. »Oh, Cal!« rief Annie und hielt ihn ganz fest. »Cal, wirst du uns jemals vergeben? Wir konn ten nicht anders! Wir konnten einfach nicht!« »Kommt, kommt«, sagte Scoby ruhig. Sie stiegen ein, und Scoby setzte sich hinter die Kontrollen, während Annie und Cal hinter ihm in den bequemen Sesseln Platz nahmen. Annie wollte Cal gar nicht mehr loslassen; sie schmiegte sich ganz eng an ihn. »Oh, Cal«, sagte sie und bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen. Scoby betätigte die Kontrollen, und der Glei ter stieg steil bis in dreitausend Meter Höhe und schlug die Richtung nach Osten ein. Cal erhaschte einen letzten Blick auf den Berggip fel, den er so lange aus dem Fenster seines Ge fängniszimmers hatte sehen können. Ihm zu Ehren schienen heute alle Wolken verschwun 262
den zu sein. Der Gipfel stach klar und weiß ge gen den azurblauen Himmel ab. »Wohin fliegen wir?« fragte Cal. »Washington«, brummte Scoby. »Darling«, sagte Annie, »wir konnten dir nicht mal mehr schreiben. Wir mußten alle im Glauben lassen, daß du überhaupt nicht mehr wichtig wärst; daß wir dich ganz vergessen hätten.« Cal schüttelte den Kopf. Das war jetzt alles so schnell gekommen, daß es ihm noch immer schien, als wäre es nur ein ganz großer Trick. »Aber was ist denn überhaupt geschehen?« wollte er endlich wissen. »Politik«, antwortete Scoby, ohne den Kopf zu wenden. Limpari drehte ihre Katzenaugen zum Fenster, um hinauszusehen, dann gähnte sie Scoby an. »Er mußte warten. Ich mußte auch warten. Bis es aussah, als ob sich niemand mehr dafür interessiere, was mit dir weiter geschah. Des halb hörte ich auf, dir zu schreiben. Aber ich habe gar nicht aufgehört zu schreiben, Cal. Ich habe jeden Tag geschrieben. Ich habe die Brie fe nur nicht an dich abgeschickt. Ich habe sie 263
alle für dich verwahrt.« Der Gleiter stieg weiter hoch und flog nach Westen. Sie waren jetzt schon dreißigtausend Meter hoch, und über ihnen wölbte sich der schwarze Himmel. Ihre Geschwindigkeit betrug jetzt ungefähr dreitausend Kilometer in der Stunde. Cal las das automatisch von den In strumenten ab. Nachdem er so viele Monate still gesessen hatte, war es ein seltsames Ge fühl für ihn, Flügel unter sich ausgebreitet zu sehen und einem fernen Ziel entgegenzu schweben. Unter sich konnte er die Grenze des Tageslichtes ausmachen, die auf der Erde ent langkroch. Er fühlte, wie er langsam wieder zu sich kam und Mensch wurde, gleichsam wie ein Bein, das eingeschlafen ist, und nun beginnt, wieder lebendig zu werden. »Ich dachte, du wärst es leid gewesen«, sag te Cal. »Oh, nein«, widersprach sie. »Du solltest doch wissen, daß ich dich niemals verlassen hätte. Und du solltest auch wissen, daß Walt dich nicht aufgeben würde.« »Walt?« fragte er verständnislos. Und dann erinnerte er sich, daß das Scobys Vorname 264
war. Es war ein kleiner Schock nach allem, sich zu vergegenwärtigen, daß Scoby einen Vorna men hatte. »Ich begreife es nicht. Ich begreife nichts«, sagte Cal. »Dieser Captain, der mich verteidigen sollte, sagte mir, daß die Anklage auf Verrat lauten würde.« Er blickte auf Scoby. »Und jetzt bin ich hier.« »Es war eine Frage der Gerichtsbarkeit«, antwortete Scoby. Der Gleiter hatte jetzt seine höchste Höhe erreicht, und Scoby konnte den Autopiloten einschalten. Dann drehte der alte General seinen Sitz zu Cal herum und zog sei ne Pfeife heraus. »Deshalb kam ich damals auch zurück. Es war gerade die richtige Zeit gewesen, um unsere Regierung ein wenig un ter Druck zu setzen, und das habe ich getan.« Er steckte seine Pfeife an. »Ich habe den Kon takt-Dienst zu einem zivilen Verwaltungssektor gemacht, der nicht mehr unter dem Befehl der Militärs steht.« »So hast du in Wirklichkeit mit ziviler Autori tät gehandelt, als du Harmon jede militärische Handlung untersagtest und ihn zwangst, mit Wantaki zu verhandeln«, erklärte Annie. »Auch wenn du es nicht gewußt hast und Harmon 265
auch nicht.« Cal sah von einem zum anderen. »Was für einen Unterschied macht das denn?« »Nur einen«, erwiderte Scoby, während er dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife ausstieß, »Harmon hatte nicht das Recht, dich zu ver haften. Seit der Friede mit den Paumons un terzeichnet war, warst du als Leiter des Kon takt-Ministeriums sein Vorgesetzter und nicht er der deine.« Scoby lehnte sich zu dem Autopiloten zurück und stellte die Uhr ein. »Natürlich«, fuhr Scoby fort und schwang sei nen Sitz wieder zu den beiden herum, »konnte er einwenden, daß er von nichts wußte; die An weisungen waren ja noch nicht eingetroffen. Und du bedrohtest die Leben von Menschen und Paumons und so weiter. So ließ ich die Dinge einfach laufen und wartete, bis sich die Gemüter abgekühlt hatten. Anfang dieser Woche habe ich deine Entlassungspapiere einfach zwischen eine Reihe anderer, weniger wichtiger Papiere gelegt, die ich an die Heeresleitung zu schicken hatte. Und so bist du jetzt hier.« 266
Cal seufzte. Er fühlte sich klein und unbe deutend. »Keine Bedeutung«, sagte Scoby, »oder war es das nicht, woran du gerade gedacht hast?« »Nicht ganz«, antwortete Cal. Er blickte aus dem Bugfenster des Gleiters. Sie hatten beina he die Schattengrenze erreicht, die über das unter ihnen ausgebreitete Land lief. Dahinter sah er nur noch Dunkelheit. »Ich habe gerade über alles noch einmal nachgedacht.« »Nachgedacht?« fragte Scoby. »Es ist aus. Alles vorbei.« »Aus? Was ist aus? Der Krieg? Du meinst, du hättest den Paumons ewigen Frieden gebracht, weil Wantaki und Harmon beide den Schneid des anderen hassen?« »Nein«, erwiderte Cal. »Sie bewundern ein ander.« »Einander hassen und bewundern, wo ist da ein Unterschied?« meinte Scoby. »Glaubst du, wenn sie sich an einem Tisch gegenüber sitzen, dann ist alles gut? Meinst du, die Lehaunan wären alle zum Frieden bekehrt? Oder daß mit den Griella jetzt alles in Ordnung ist? War es das, woran du dachtest?« 267
»Nein«, erwiderte Cal. Eine große Müdigkeit überkam ihn. Er sah nach draußen auf die rasch näher kommende Dunkelheit – und er überlegte. Es schien, als wäre für ihn immer nur die Finsternis da. Es war Nacht gewesen, als er in den Hügeln der Lehaunan-Welt gele gen hatte und aufgebrochen war, die Stadt zu erobern. Es war finster gewesen, als Walk ihn eine feige Memme genannt hatte. Und in der Dunkelheit der Paumon-Welt war Walk gestor ben. Nacht war es gewesen, als er bereit war, auf den Waffenauslöseknopf des irdischen Flaggschiffs zu drücken, und Nacht wurde es auch jetzt wieder. »Glaubst du nicht, daß es noch weiterhin viel zu tun gibt?« fragte Scoby. »Warum, glaubst du, habe ich mich so sehr bemüht, dich frei zu bekommen? Dafür habe ich doch von Anfang an gekämpft: für mein eigenes Ministerium, das unabhängig ist, und wohin ich mir die Leu te holen kann, die ich haben will und die ich mir so ziehen kann, wie ich mir das vorstelle. Meinst du, ich wollte immer weiter gute Leute verlieren, bloß weil sie das körperliche Training nicht durchstehen, oder mit jenem obskuren 268
Marterkurs auf der Kontakt-Schule nicht fer tigwerden?« Er starrte Cal fragend an. »Was glaubst du, woran ich schon so lange ar beite? An nichts anderem als meiner eigenen kleinen Armee, einer Armee von Kontakt-Leuten, die immer besser und stärker wird, bis die Mili tärverwaltung gar nicht mehr ohne uns aus kommt. Bis wir schließlich so gut sind, daß man uns zuerst gehen läßt, um zu erforschen, ob man nicht ohne Kampf auskommen kann. Dafür plage ich mich seit all den Jahren ab, in denen ich den Kontakt-Dienst leite. Deshalb brauche ich tüchtige Männer. Deshalb brauche ich dich als meine rechte Hand, damit du mein Werk ei nes Tages fortführst. So habe ich es geplant, vom ersten Augenblick an, wo ich dich sah.« Sie hatten die Dunkelgrenze inzwischen überflogen, und es war jetzt überall finster um sie herum. »Es hat keinen Zweck«, antwortete Cal. Er beugte sich vor und reichte Scoby den Um schlag mit seinem Entlassungsschreiben. »Ich bin unehrenhaft entlassen. Für Wiederverwen dung nicht geeignet.« Scoby warf den Umschlag auf den Boden. 269
»Dummkopf!« platzte er heraus. »Ministeri um sagte ich. Bist du so dumm zu glauben, wenn du aus dem Militärdienst entlassen bist, daß dich dann ein ziviles Ministerium nicht ein stellen kann?« Cal hob seinen Kopf und schaute Scoby ver ständnislos an. »Aber ich dachte – die Regierung – « begann Cal, dann brach er verwirrt ab. »Oh, man liebt diese entlassenen Militärs nicht? Man mag auch keine entwöhnten Alko holiker und keine umgeschulten Soldaten. Aber ich kann in meinem Ministerium anstellen, was ich will. Und ich sage, du bist eingestellt. Du bist eingestellt!« Cal saß da und versuchte, die Neuigkeit zu verdauen. »Ich brauche Männer«, fuhr Scoby erregt fort. »Männer und keine Empfehlungen auf dem Papier.« Er redete sich jetzt seinen gan zen in langen Jahren aufgestauten Ärger von der Seele. »Gott noch mal, es ist wirklich hart, die Dinge richtig anzufassen. Und es ist hart, eine solche Aufgabe zu erfüllen, wie ich es tun muß. Und es ist doppelt so viel, wie ich in mei 270
nem Alter tun sollte. Abgesehen von …« Cal sah aus dem Bugfenster in die Dunkel heit. Annie saß eng an ihn geschmiegt und hatte sich bei ihm eingehakt. Er spürte ihre le bendige Wärme ganz nah. Eine Hoffnung be gann in ihm aufzusteigen. Das unablässige summende Vibrieren des Fluggleiters durch drang ihn bis zu den Fingerspitzen. Er glaubte zu spüren, wie die Maschine ihre Flügel weit ausgespannt hatte und adlergleich durch die Lüfte schoß. Auf diesen Schwingen flogen sie jetzt hier durch die Nacht, mit einer Geschwin digkeit, von der die Höhlenmenschen mit ihren Steinäxten nicht einmal geträumt hätten. Weit voraus, am dunklen Horizont, tauchten funkelnde Lichter über dem Rand des Erdballs auf. Sie wuchsen und breiteten sich aus, als der Gleiter auf sie zufiel, bis sie schließlich wie bunte Edelsteine vor dem schwarzen Samttuch der Nacht aussahen. Es waren die Lichter jener Stadt, die auf sie und ihre neue Aufgabe wartete. Die Lichter wurden größer. Sie stießen auf Washington herab. ENDE
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POUL ANDERSON & MICHAEL KURLAND
DIE DROHUNG
AUS DEM ALL
Jenseits des Kraters, immer wieder von Dampf und Rauch verdeckt, stand ein langes, schlankes Raumschiff. „Wenn auf Terra seit unserer Abreise nicht ganz neue Typen entwickelt wurden, haben wir es hier mit einer vollkommen fremden Bauart zu tun“, bemerkte Ansgar. Plötzlich gab es ein scharfes, knirschendes Geräusch. Im nächsten Augenblick waren die vorderen Reihen der anmarschierenden Truppen verschwunden. Die übrigen Einheiten schwärmten sofort aus und suchten Deckung im Gehölz. Strahltechniker bemühten sich, ihr schweres Ge schütz so rasch wie möglich in Stellung zu bringen. Abermals zischte es hart und knirschend. Ein Dutzend Lastwagen verschwand. Endlich war eines der Strahlengeschütze montiert. Die Techniker stellten die Waffe auf das ferne Raumschiff ein und begannen zu feuern. Die Spitze des fremden Raumers wurde kirschrot, dann weiß und löste sich schließlich in Dampf auf… So beginnt ein atemberaubender Abschnitt in unserem Science Fiction Roman Nr. 2001, der an Ihrem Kiosk oder In Ihrer Buchhandlung erhältlich ist. Sollte er jedoch dort bereits vergriffen sein, wenden Sie sich direkt an uns oder bestellen Sie ihn durch Ihren Buch- oder Zeitschriften händler.
H. BEAM PIPER
DER MANN,
DER DIE ZEIT BETROG
Das Raum-Zeit-Gefüge ist ein kompliziertes Gebilde. Die Parazeit-Patrouille kontrolliert scharf, daß es keine Überschneidungen der verschiedenen Zeitebenen gibt. Zu oft ist es vorgekommen, daß sich Verbrecher in den ver schiedenen Ebenen bewegten, um dem Gesetz zu entge hen. Auch dafür ist die Parazeit-Patrouille da. Dann gerät Cal Morris in den Zeitstrudel. Morris ist ein Mann der Patrouille, er weiß von den erstaunlichen Zu sammenhängen, und doch verblüfft auch ihn das phanta stische Geschehen, in das er hineingerät. Die unwiderlegliche Logik der Zeitebenen verwandelt seine Persönlichkeit, und Cal Morris wird zu Lord Calvan, zum Herrscher über eine Welt. Das ist die erregende Thematik unseres nächsten Science Fiction Romans Nr. 2003. Demnächst überall im Buch handel, Zeltschriften- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich.