Als Theodor Herzl 1897 den Ersten Zionistischen Kongreß einberief, wurde er von Juden und Nichtjuden als Träumer verspo...
28 downloads
875 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Als Theodor Herzl 1897 den Ersten Zionistischen Kongreß einberief, wurde er von Juden und Nichtjuden als Träumer verspottet. Ein halbes Jahrhundert später, 1948, wurde der Staat Israel gegründet. Dieses Buch beschreibt knapp und anschaulich die politische Bewegung, die seit dem Ende des 19.Jahrhunderts die Rückkehr der Juden auf ihren historischen Boden und in die staatliche Souveränität bewirkte. Es informiert über die Vorgeschichte des Zionismus im frühen 19.Jahrhundert, die wichtigsten europäischen Zentren und Positionen des frühen Zionismus, die Herausbildung unterschiedlicher zionistischer Parteien, die wachsende Einwanderung von Juden nach Palästina sowie den sich zuspitzenden Konflikt zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung. Dabei zeigt sich, daß der Zionismus in hohem Maße von Ereignissen wie der Dreyfus-Affäre, dem Ersten Weltkrieg, dem Übergang Palästinas von türkischer in britische Herrschaft und der Ermordung des Großteils der europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs geprägt wurde. Ein abschließendes Kapitel fragt nach dem Weiterwirken des Zionismus in Israel von der Staatsgründung bis zur Gegenwart. Michael Brenner, geboren 1964, ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bei C.H.Beck erschienen von ihm „Nach dem Holocaust“ (1995), „Zionistische Utopie, israelische Realität“ (Hrsg. mit Y. Weiss, 1999), „Jüdische Kultur in der Weimarer Republik“ (2000) sowie „Jüdische Geschichtsschreibung heute“ (Hrsg. mit D.N.Myers, 2002). Er ist Mitherausgeber und Autor der vierbändigen „Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit“ (1996/97).
Michael Brenner
GESCHICHTE DES ZIONISMUS
Verlag C.H.Beck
Mit 3 Abbildungen und 3 Karten
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Brenner, Michael: Geschichte des Zionismus / Michael Brenner. Orig.-Ausg. – München : Beck, 2002 (C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe ; 2184) ISBN 3 406 47984 7
Originalausgabe © Verlag C. H. Beck oHG, München 2002 Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Umschlagbild: Ausschnitt aus einer nach einem Gemälde von S.Rohonovsky gestalteten Neujahrskarte, Deutschland 1909 (The Gross Family Collection, Tel Aviv) Umschlagentwurf: Uwe Göbel, München Printed in Germany ISBN 3 406 47984 7 www.beck.de
Inhalt 1. Jüdische Gesellschaft im Umbruch: Die Vorgeschichte des politischen Zionismus............ Religiöse Ursprünge ...................................................... Amerikanische Utopien ................................................ Zionismus und europäischer Nationalismus .................. Aufbruch in Rußland ..................................................... Die Politisierung der jüdischen Gesellschaft ................. Der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ ..................................................... Autonomisten, Bundisten und Agudisten in Osteuropa...................................................................
7 7 9 10 15 16 17 18
2. Ein internationaler Nationalismus: Die Topographie des frühen Zionismus.....................
21
Wien .............................................................................. Paris ............................................................................... München ........................................................................ Basel .............................................................................. Odessa ........................................................................... Tel Aviv.........................................................................
23 29 37 40 43 47
3. Von der Vision zur Realität: Die jüdische Einwanderung nach Palästina ..............
51
Der „Alte Jischuw“........................................................ Die beiden Einwanderungswellen vor dem Ersten Weltkrieg ............................................................ Neue Lebensformen: Landarbeit und hebräische Sprache .......................................................................... Auf dem Weg zu einer bürgerlichen Gesellschaft ......... Gründermythen..............................................................
52 55 59 64 68
4. Ein Zionismus oder viele Zionismen? Die Formierung zionistischer Parteien ......................
76
Anfänge der Aufsplitterung ...........................................
76
Juden und Araber .......................................................... Unterschiedliche Wege zum jüdischen Staat................. Die Rolle der Religion................................................... Wirtschaftsordnung .......................................................
80 85 89 92
5. Der lange Weg zum jüdischen Staat: Palästina als britisches Mandatsgebiet ......................
93
Zionismus in der Diaspora............................................. Palästina unter den Briten.............................................. Teilungspläne ................................................................
95 100 108
6. Zionismus oder Postzionismus? Die zionistische Idee nach der Staatsgründung.........
113
Staat ohne Frieden ......................................................... Pluralismus oder Zerrissenheit?..................................... Israel ohne Zionismus? ..................................................
114 118 122
Weiterführende Literatur ...............................................
124
Zeittafel .............................................................................
124
Personenregister...............................................................
127
1. Jüdische Gesellschaft im Umbruch: Die Vorgeschichte des politischen Zionismus Nur wenige nationale Bewegungen haben den historischen Gang eines Volkes so radikal verändert wie der Zionismus die jüdische Geschichte während des letzten Jahrhunderts. Anfangs auch von vielen Juden verlacht oder bekämpft und nur eine von mehreren politischen Bewegungen im modernen Judentum darstellend, wurde der Zionismus nach der Katastrophe des europäischen Judentums für nahezu alle Juden zum Symbol der Hoffnung auf ein Weiterleben. Für die einen wurde der 1948 gegründete Staat Israel zur neuen Heimstätte, für die anderen ein wichtiger Orientierungspunkt ihrer jüdischen Identität in der Diaspora, also außerhalb Israels. Gleichzeitig muß kaum eine nationale Bewegung bis heute so sehr um ihr Existenzrecht streiten wie der Zionismus, der 1975 von der UNO-Vollversammlung als eine Form des Rassismus gebrandmarkt wurde. Und obwohl dieselbe Versammlung diesen Beschluß später wieder aufhob, wird der Begriff Zionismus in vielen ihrer Mitgliedsstaaten wenig freundlich behandelt. In Israel selbst ist längst eine Debatte darüber ausgebrochen, welches ideologische Lager den „wahren“ Zionismus verkörpert oder ob man sich nicht in einer post-zionistischen Gesellschaft befinde. So bleibt auch über ein halbes Jahrhundert nach Gründung eines jüdischen Staates der Zionismus ein vieldiskutierter und politisch aktueller Begriff. Religiöse Ursprünge Die Ursprünge der Idee einer Rückkehr der Juden in das Land, das seit römischer Zeit Palästina hieß, im jüdischen Sprachgebrauch aber immer Eretz Israel (das Land Israel) blieb und häufig mit dem Berg Zion in Jerusalem identifiziert wurde, sind ebenso alt wie ihr Exil, für das die Zerstörung der beiden Tempel in Jerusalem in den Jahren 586 v.u.Z. und 70 n.u.Z. nur als symbolische Wendepunkte genannt werden können. 7
Die Trauer um Jerusalem und die Klage über das Exil reichen viele Jahrhunderte weiter zurück und sind vielleicht am bekanntesten im Psalm 137 ausgedrückt, in dem es heißt: „Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren. Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich an dich nicht mehr denke, wenn ich Jerusalem nicht zu meiner höchsten Freude erhebe.“ Während vieler Jahrhunderte haben Juden immer wieder für die Rückkehr nach Zion gebetet, Gedichte darüber verfaßt und sich tatsächlich auf den Weg ins Heilige Land aufgemacht. Im drei Mal täglich aufgesagten „Achtzehngebet“ wie auch im ständig wiederkehrenden Tischsegen etwa ist vom raschen Wiederaufbau Jerusalems die Rede. Zu den bewegendsten Zeugnissen mittelalterlicher jüdischer Dichtkunst zählen die Verse des Jehuda Halevi aus dem 12.Jahrhundert, „Zion ha-lo tischali ...“ (O Zion, willst du nicht nach dem Wohlergehen deiner Gefangenen fragen). Der Dichter selbst machte sich aus seinem Geburtsland Spanien auf den Weg nach Zion und erreichte zumindest Ägypten. Wohl nur der Legende nach ist er in Jerusalem gestorben. Gewiß angekommen sind einige Mitglieder jener Gruppe von jüdischen Mystikern aus Osteuropa, die im Jahre 1700 unter Führung des Rabbiners Jehuda He-Chassid aufbrachen. Die zionistisch geprägte Geschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts unter dem späteren israelischen Erziehungsminister Benzion Dinur (Dünaburg) wollte in dieser ersten modernen Rückkehrbewegung gar den Beginn der neueren jüdischen Geschichte ausmachen. Der polnisch-jüdische Historiker Nathan M. Gelber hat in seiner Vorgeschichte des Zionismus diese und andere Judenstaatsprojekte zwischen 1695 und 1845 genau untersucht. Darunter waren spektakuläre Vorschläge von christlicher Seite, wie etwa der des dänischen Kaufmanns Öliger Paulli zu Beginn des 18.Jahrhunderts: Er wollte die europäischen Juden in einem jüdischen Königreich ansiedeln, das zwischen Schwarzem und Rotem Meer errichtet werden und dem alle benachbarten Staaten als Lehen unterstellt sein sollten. Etwa ein Jahrhundert später erwog Napoleon ein Judenstaatspro8
jekt, mit dem er die orientalischen Juden für seine Sache gewinnen wollte. Amerikanische Utopien Der aufsehenerregendste Versuch jüdischerseits stammte von Mordecai Manuel Noah (1785-1851), ehemals Konsul der amerikanischen Regierung in Tunis und High Sheriff in New York, der 1825 („im 50. Jahr der amerikanischen Unabhängigkeit“, wie es am Ende des Manifests heißt) eine Proklamation an die Juden ergehen ließ, in der es u. a. hieß: „Ich erkläre den Juden der ganzen Welt, daß ihnen ein Zufluchtsort bereitet und somit eröffnet wird, wo sie jenen Frieden, Trost und Glück genießen können, welche ihnen durch die Unduldsamkeit und die Irrtümer früherer Jahrhunderte versagt waren; ein Zufluchtsort in einem mächtigen Lande, wo ihrer Person, ihrem Eigentume und ihren religiösen Gebräuchen die größte Sicherheit zugesagt wird ..., ein Land voll Milch und Honig, wo Israel in Frieden wohnen kann unter seinem Weinstock und Feigenbaum, und wo unser Volk sich vertraut machen kann mit der Regierungswissenschaft und den Einsichten der Wissenschaft und Zivilisation, so daß sie befähigt werden zu jenem großen und endlichen Wiedereintritt in ihr altes Erbteil.“ Dieses Land liegt nicht etwa, wo man es auf den ersten Blick aufgrund der biblischen Anspielungen vermuten würde, sondern recht weit entfernt von Weinstöcken und Feigenbäumen, denn, so fährt Noah seine Beschreibung fort: „Der gewünschte Ort in dem Staate New York, dahin ich mein liebes Volk aus der ganzen Welt (so wie auch Leute aus anderen Religionen) einlade, wird Grand Island genannt, wo ich die Grundlage zu einer Stadt, genannt Ararat, zu legen gesonnen bin.“ (N.M.Gelber, Zur Vorgeschichte des Zionismus. Judenstaatsprojekte in den Jahren 1695-1845, 1927, S. 241 f.) Im Schatten des Niagara-Falles gelegen, hat Grand Island eine Länge von zwölf Meilen und eine Breite von drei bis sieben Meilen. Noah schlug vor, „eine Zählung der Juden in der Welt“ durchzuführen und von allen Juden ein jährliches Kopf9
geld von drei Schekel Silber zu erheben, um das Judenstaatsprojekt zu finanzieren. Offen ließ er, wer genau zu zählen sei, denn gemäß seinen Theorien gehörten etwa die amerikanischen Indianer zu den verlorenen zehn Stämmen. Am 1. Adar 5586 (1826) sollte der Judenstaat auf Grand Island feierlich proklamiert werden. Noah blieb durchaus nicht tatenlos, er selbst siedelte nach Buffalo um, wo er – mangels einer Synagoge – am 15. September 1825 in der St. Pauls-Kirche den symbolischen Grundstein für sein Projekt legte. Bei dem feierlichen Einzug in die Kirche vor den örtlichen Würdenträgern ertönte der Marsch des Judas Maccabäus aus der kurz vorher uraufgeführten Oper Jacques Halevys, während auf dem Kommunionstisch der Grundstein mit hebräischer Inschrift zu sehen war. Noahs Aktion wurde zwar in der internationalen Presse und in der jüdischen Welt durchaus wahrgenommen, aber als ein unrealistisches Abenteuer von vornherein abgelehnt. Den Tenor späterer Absagen religiöser Führer an den politischen Zionismus vorwegnehmend, erklärte der Oberrabiner von Paris, daß „nur Gott den Zeitpunkt der israelitischen Rückkehr kennt“ (N. M. Gelber, Zur Vorgeschichte des Zionismus, S. 71). Noah wartete also vergebens und trat zwei Jahrzehnte später mit der Idee einer Rückkehr der Juden nach Palästina auf den Plan. Zionismus und europäischer Nationalismus Gestalt annehmen konnte der Zionismus als eine Nationalbewegung erst im Zeitalter des europäischen Nationalismus. Es überrascht nicht, daß die ersten modernen – wenngleich noch stark religiös geprägten – Pläne für eine Rückkehrbewegung ins Heilige Land aus Regionen stammen, die bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts von nationalen Konflikten geprägt waren: dem Balkan und den preußischen Ostgebieten. Im serbischen Semlin verfaßte der in Sarajevo gebürtige Rabbiner Jehuda Alkalai (1798-1878) eine Reihe von Schriften, die die Juden zur Rückkehr nach Palästina aufforderten. Gleichzeitig wirkte im ostpreußischen Thorn der aus Posen 10
stammende Rabbiner Zwi Hirsch Kalischer (1795-1874), der in seiner 1862 erschienenen Schrift Drischat Zion (Die Suche nach Zion) – gestützt auf biblische und rabbinische Texte – darlegte, daß die Errettung der Juden durchaus mit menschlicher Hand und nicht nur durch Gottes Fügung im messianischen Zeitalter erfolgen darf und daß die Kolonisierung Palästinas sofort beginnen könne. Bemerkenswert ist, daß beide so traditionalistisch denkenden und argumentierenden Rabbiner – der eine sephardischer (d.h. aus dem spanisch-portugiesischen Judentum stammend), der andere aschkenasischer (d.h. aus dem mitteleuropäischen Judentum stammend) Herkunft – von den zeitgenössischen politischen Entwicklungen ganz deutlich beeinflußt waren. So bezog Alkalai die traditionelle jüdische Vorstellung von einem ersten, temporären Messias aus dem Hause Joseph nicht auf ein Individuum, sondern auf eine Art jüdischer Nationalversammlung. Und Kalischer hat die europäischen Ereignisse um die Jahrhundertmitte vor Augen, wenn er die Juden auffordert, sich in ihrem nationalen Freiheitskampfe ein Beispiel an den Italienern, Polen und Ungarn zu nehmen. Alkalai und Kalischer lebten und wirkten nicht nur in Zentren der Konflikte verschiedener Nationen, sie befanden sich auch an der Schnittstelle jüdischen Lebens zwischen West und Ost. In Mittel- und Westeuropa hatte sich seit der Französischen Revolution und der beginnenden Emanzipation eine Neudefinierung jüdischer Existenz auf rein konfessioneller Grundlage angebahnt. „Man gewähre den Juden alles als Individuen – nichts aber als Nation“, dieses Schlagwort des Fürsten Clermont-Tonnerre aus der Französischen Nationalversammlung 1789 umschrieb knapp und prägnant den sogenannten „Emanzipationsvertrag“ der Juden in allen Ländern West- und Mitteleuropas. Sie könnten sehr wohl französische, später auch deutsche oder italienische Bürger werden, müßten aber dafür alle nationalen Merkmale über Bord werfen und sich nur aufgrund ihrer individuell praktizierten (oder nicht praktizierten) Religion von ihren christlichen Mitbürgern unterscheiden. 11
Ganz anders dagegen war die Situation in Osteuropa, wo der weitaus größte Teil der Juden lebte. Hier war der Staat nur bedingt an einer Integration der Juden als religiöse Minderheit interessiert, fehlten doch die staatlichen Voraussetzungen für einen Prozeß der Emanzipation wie er weiter westlich praktiziert wurde. So behielten bis ins 20. Jahrhundert hinein die meisten osteuropäischen Juden kollektive Strukturen weit über den religiösen Bereich hinaus. Hierzu gehörten etwa die gemeinsame Sprache (Jiddisch), Erziehung und Kultur, häufig auch noch die sich von der Umwelt unterscheidende Kleidung und die Konzentration in bestimmten Wohnvierteln – sowie eben auch die ausgesprochene oder unausgesprochene Sehnsucht nach der Rückkehr in das Land ihrer Vorväter. Kaum jemand wäre in Polen oder Rußland, Rumänien oder der Ukraine auf die Idee gekommen, von Staatsbürgern jüdischen Glaubens zu sprechen. In diesen Gesellschaften, in denen die gesellschaftliche Modernisierung viel langsamer voranging als in Mittel- und Westeuropa, blieb eine in vielerlei Hinsicht autonome jüdische Gemeinschaft bestehen. Allerdings war diese am Ende des 19. Jahrhunderts auch von den geistigen, sozialen und politischen Bewegungen ihrer Umgebung stark beeinflußt worden. Posen bzw. Ostpreußen und Serbien lagen an den Schnittstellen dieser beiden jüdischen Welten. Die zwei wichtigsten zionistischen Schriften in den Jahrzehnten vor Herzl sollten von beiden Seiten dieser Schnittstelle kommen. Rom und Jerusalem hieß ein 1862 von Moses Heß veröffentlichtes Büchlein; zwei Jahrzehnte später schrieb der russisch-jüdische Arzt Leon Pinsker unter dem direkten Eindruck der russischen Pogrome seine Schrift Auto-Emancipation. Theodor Herzl übrigens kannte, als er 1896 seinen „Judenstaat“ verfaßte, weder die Schrift von Moses Heß noch diejenige von Leon Pinsker. Moses Heß (1812-1875) war in der intellektuellen Szene kein Unbekannter, als er Rom und Jerusalem verfaßte. Die Inschrift auf seinem Grabstein im Rheinland lautet nicht ganz unzutreffend: „Vater der deutschen Sozialdemokratie“. Der 12
frühere Weggefährte von Karl Marx machte sich zunächst als politischer Schriftsteller einen Namen. Seine 1837 anonym veröffentlichte Heilige Geschichte der Menschheit gehört zu den frühsozialistischen Schriften, in denen sowohl der junghegelianische Hintergrund des Autors wie auch der Einfluß der Saint-Simonisten erkennbar ist. Heß war Teil jener Zionisten, die sich – wie später Herzl, Nordau und Jabotinsky – von einer universalistischen Weltanschauung wieder in Richtung Partikularismus bewegen sollten, die – anders ausgedrückt – ihr Judentum, das sie schon hinter sich geglaubt hatten, erst wieder entdecken mußten. So beginnt der erste Brief des in Briefform geschriebenen Rom und Jerusalem mit den Worten: „Da steh’ ich wieder nach einer zwanzigjährigen Entfremdung in der Mitte meines Volkes und nehme Anteil an seinen Freuden- und Trauerfesten, an seinen Erinnerungen und Hoffnungen, an seinen geistigen Kämpfen im eigenen Hause und mit den Kulturvölkern, in deren Mitte es lebt, mit welchen es aber, trotz eines zweitausendjährigen Zusammenlebens und Strebens nicht organisch verwachsen kann. Ein Gedanke, den ich für immer in der Brust erstickt zu haben glaubte, steht wieder lebendig vor mir: Der Gedanke an meine Nationalität, unzertrennlich vom Erbteil meiner Väter.“ (1862, S. 12) Die wesentlichen Elemente der Antriebskraft für die späteren Begründer der zionistischen Bewegung sind hier bereits vorweggenommen: die Wiederentdeckung ihres Judentums, die Definition des Judentums als Nationalität und nicht als Religion, der lange und dennoch vergebliche Kampf um Anerkennung und Integration in der Gesellschaft ihrer Umwelt sowie die emotionale Bindung an die Traditionen und die Heimat im „Land der Väter“. Darüber hinaus stand Heß’ Hinwendung zur „Judenfrage“ zweifellos im Zusammenhang mit den Nationalitätenkonflikten um die Jahrhundertmitte. So wählte er für Rom und Jerusalem den bezeichnenden Untertitel „Die letzte Nationalitätenfrage“ und schrieb im Vorwort: „Mit der Befreiung der ewigen Stadt an der (!) Tiber beginnt auch jene der ewigen Stadt auf Moria, mit der Wiedergeburt Italiens beginnt auch 13
die Auferstehung Judäas. Auch Jerusalems verwaiste Kinder werden Teil nehmen dürfen an der Völkerpalingenesis, an der Auferstehung aus dem toten-ähnlichen Winterschlaf des Mittelalters mit seinen bösen Träumen.“ (S. 5) Bei dem Titel Rom und Jerusalem dachten die meisten Leser wohl eher an eine religiöse Schrift, vielleicht eine Auseinandersetzung zwischen den Zentren von Katholizismus und Judentum. Doch nicht der Papst und nicht die jüdische Religion sind gemeint – Heß verstand früher als seine meisten Zeitgenossen, daß die sogenannte „Judenfrage“ kein religiöses Problem, sondern ein nationales darstellte: Nicht mehr Konflikte zwischen Christen und Juden, sondern zwischen Franzosen und Deutschen, Juden und Deutschen etc. prägten sein Zeitalter. Und er übersah nicht den sich immer stärker Bahn brechenden Rassismus: „Die Deutschen hassen weniger die Religion der Juden, als ihre Rasse, weniger ihren eigentümlichen Glauben, als ihre eigentümlichen Nasen.“ (Rom und Jerusalem, S. 25) Die Zeitumstände allerdings waren einer Verbreitung seiner Schrift nicht gerade dienlich. Heß’ ehemalige sozialistische Weggefährten belächelten seinen Plan als den eines abtrünnigen Träumers. Die Mehrzahl der um Integration und Akkulturation bemühten Juden in den deutschen Staaten sahen gerade in den sechziger Jahren einen Silberstreif am Horizont. Nachdem das Scheitern der Revolution von 1848 auch ihre kurzfristig errungene rechtliche Gleichstellung zunichte gemacht hatte, schloß nun ein Staat nach dem anderen den ein halbes Jahrhundert zuvor eingeleiteten Prozeß der Emanzipation ab. Die orthodoxen Juden auf der anderen Seite wehrten sich, von Ausnahmen wie Kalischer und Alkalai abgesehen, noch strikt gegen eine Vorwegnahme der dem messianischen Zeitalter vorbehaltenen Taten. Die große Masse der Juden Osteuropas schließlich war noch zu sehr in ihrer eigenen Welt verschlossen, aus der sie die jüdische Aufklärungsbewegung von innen und die Pogromwelle von außen erst in den achtziger Jahren aufschrecken sollten. 14
Aufbruch in Rußland Das Signal für die Pogrome gab die Ermordung des Zaren Alexander II. im Jahre 1881. Die ohnehin von zahlreichen Diskriminierungen und einer prekären wirtschaftlichen Lage gekennzeichneten jüdischen Gemeinden des Zarenreiches waren nun auch physischer Gewalt ausgesetzt, der die Behörden zumindest gleichgültig, oft gar wohlwollend oder fördernd gegenüberstanden. Leon Pinsker (1821-1891), ein jüdischer Arzt aus Odessa, der Hauptstadt der jüdischen Aufklärungsbewegung, reagierte sofort mit einer theoretischen Schrift. Für den Aufklärungsdrang der russisch-jüdischen Intelligenzija ist es bezeichnend, daß sein Pamphlet Auto-Emancipation (1882) in deutscher Sprache verfaßt war. Eine Biographie wie jene Pinskers wäre in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits für viele Juden charakteristisch gewesen, blieb in Rußland aber eine Ausnahmeerscheinung. Mit der Landessprache (aber auch mit dem Hebräischen!) aufzuwachsen, in der Hauptstadt Moskau Medizin zu studieren und schließlich als anerkannter Arzt seiner gewünschten beruflichen Laufbahn nachzugehen – dies waren alles Ausnahmestationen auf dem Bildungsweg eines russischen Juden. Um so schmerzhafter muß Pinsker den Schock des Jahres 1881 empfunden haben. Wie der Titel seiner Schrift bereits verkündet, sieht er den Weg der Emanzipation als gescheitert an und fordert stattdessen die Selbstemanzipation der Juden als Nation – und diese könne nur außerhalb des europäischen Kontinents erfolgen. Wo genau allerdings, läßt Pinsker zunächst offen, und denkt anfänglich ebenso an Argentinien wie an Palästina. In der Tat sollte der große Strom der über zwei Millionen russischen Juden, die in den vier Jahrzehnten nach 1881 ihre Heimat verließen, sich nicht in Richtung Orient, sondern nach Nordamerika ergießen. Doch war nun auch ein zumindest symbolischer Anfangspunkt der modernen jüdischen Besiedlung Palästinas gesetzt.
15
Die Politisierung der jüdischen Gesellschaft Die Neuansiedlung in Palästina war nur einer von zahlreichen Faktoren, die am Ende des Jahrhunderts den beispiellosen Wandel der jüdischen Gesellschaft deutlich machten. Eine noch zu Beginn des Jahrhunderts überall am Rande der Gesellschaft und zumeist auf dem Lande wohnhafte Bevölkerungsgruppe hatte sich in Mittel- und Westeuropa in kürzester Zeit zu einer mittelständischen städtischen Gruppierung umgeformt, deren Vertreter in manchen Bereichen des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens, aber auch in bestimmten Berufsgruppen wie denen der Ärzte und Rechtsanwälte deutlich sichtbar waren. In Osteuropa wurde dieser Prozeß nur durch staatliche Restriktionen künstlich aufgehalten. Überall jedoch galt, daß das jüdische Ghetto, sowohl was die eigene Lebensweise wie auch die Abschließung von der Umwelt betraf, nicht mehr bestand oder in Auflösung begriffen war. Der Zionismus war Teil einer allgemeinen Politisierung des europäischen Judentums am Ausgang des 19.Jahrhunderts. Aufgrund seines langfristigen politischen Erfolgs und der Katastrophe des europäischen Judentums wird heute häufig vergessen, daß fast gleichzeitig andere spezifisch jüdische politische Richtungen entstanden, wie etwa der sozialistische „Bund“ („Algemeyner yidisher Arbeter Bund in Lite, Poyln un Rusland“), die jüdische Autonomiebewegung und die Territorialisten sowie liberale, auf Integration als Staatsbürger jüdischen Glaubens bedachte neue Organisationen. Diese Politisierung des europäischen Judentums begann bereits 1860. Als Reaktion auf die sogenannte Damaskus-Affäre von 1840 und den Mortara-Fall von 1858 wurde 1860 die „Alliance Israelite Universelle“ gegründet, die es sich zum Ziel setzte, in Not geratenen Juden weltweit mit Unterstützung zur Seite zu stehen. Bei der Damaskus-Affäre handelte es sich um die aus dem christlichen Europa in den muslimischen Orient importierte Beschuldigung, Juden in Damaskus hätten ein Christenkind getötet und dessen Blut zu rituellen Zwecken benutzt. Diese für überholt geglaubte Legende des Mittelalters 16
hatte nicht nur zu schweren Ausschreitungen gegen syrische Juden geführt, sondern wurde selbst von französischen Diplomaten anfangs für bare Münze genommen. Angesehene britische und französische Juden wie Sir Moses Montefiore und der französische Justizminister Adolphe Cremieux beeilten sich, den Irrsinn derartiger Anschuldigungen nachzuweisen und den bedrohten Juden zu Hilfe zu eilen. Beim Mortara-Fall ging es um die Zwangstaufe eines jüdischen Jungen in Italien, die von der katholischen Kirche gutgeheißen wurde. Mit der Gründung der Alliance, die bei ähnlichen Fällen Beistand leisten sollte und letztlich vor allem dazu diente, mit Hilfe eines weitverbreiteten französischsprachigen Schulsystems den Bildungsstand der vorderasiatischen und nordafrikanischen Juden zu heben, war erstmals ein moderner internationaler Rahmen für jüdische politische Betätigung geschaffen. Der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts schlug nicht nur die Geburtsstunde des politischen Zionismus. In dieser Zeit wurden eine Reihe weiterer Organisationen gegründet, die sich in erster Linie dem Kampf gegen den Antisemitismus widmeten, sich aber gleichzeitig mit der zukünftigen Position der Juden in einer nichtjüdischen Umwelt auseinandersetzen mußten. Bestes Beispiel hierfür ist der 1893 gegründete „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, der bald zur größten deutsch-jüdischen Vereinigung überhaupt werden sollte. Bereits im Namen war die Botschaft enthalten: Die mit der Reichsgründung zu gleichberechtigten Staatsbürgern gewordenen deutschen Juden unterschieden sich lediglich in ihrer Konfession von ihren christlichen Mitbürgern. Wozu, so mag man aber fragen, gründeten sie dann eine eigene Vereinigung, die ja nichts mit Synagogenbesuch oder Friedhofsstatuten, Religionsunterricht oder Rabbinerausbildung zu tun hatte? Die Antwort muß in dem gerade um 1893 aufflackernden neuartigen politischen Antisemitismus gesucht werden. Der Central17
verein verstand sich ursprünglich als ein „Abwehrverein“ gegen den Antisemitismus, der 1893 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, als 16 antisemitische Abgeordnete in den Reichstag gewählt wurden; er fand Eingang in das Parteiprogramm der Deutschkonservativen von 1892 (sog. Tivoli-Programm) wie auch in die neugegründeten Massenorganisationen vom „Bund deutscher Landwirte“ über den „Alldeutschen Verband“ bis hin zum „Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband“. Es ließ sich also nicht vermeiden, daß eine sich als religiöse Gemeinschaft verstehende Gruppe aufgrund der Sichtweise von außen eine eigentlich politische Organisation gründete. Daß während der nächsten Jahrzehnte zunehmend Fragen jüdischer Identität und nicht ausschließlich der Abwehr gegen die äußeren Feinde in den Vordergrund rückten, gehört zur inneren Dynamik einer solchen Organisation. Ob sie dies bezweckt hatten oder nicht, die deutschen Juden hatten mit Beginn des 20. Jahrhunderts im Centralverein ihre eigene Massenorganisation, die sie nach außen hin auch auf politischer Ebene vertrat. Autonomisten, Bundisten und Agudisten in Osteuropa In Osteuropa hatte die Säkularisierung zur Formierung einer stetig wachsenden intellektuellen Schicht geführt, die ebenfalls auf der Suche nach einer Neudefinition ihrer jüdischen Identität war. Die gemeinsame Sprache und Kultur vereinte sie ebenso wie die Ablehnung der Umwelt. Die jüdische Aufklärungsbewegung (Haskala) führte in Osteuropa zur Wiederbelebung der hebräischen Sprache als neuem Medium einer säkularen jiddischen Kultur, die sich in Zeitschriften, Verlagen und Intellektuellenzirkeln ihre ersten Ausdrucksformen schuf. Im Zuge der Politisierung des jüdischen Lebens erhielt der Sprachenkampf nun auch eine politische Dimension. Die „Hebraisten“ waren sich mit den assimilierten Juden zumindest in einer Sache einig: Beide verdammten den „Jargon“, wie sie das von den osteuropäischen jüdischen Massen gesprochene Jiddisch nannten, und plädierten – wie bereits zu 18
Beginn der jüdischen Aufklärungsbewegung Moses Mendelssohn – für die Pflege „reiner“ Sprachen. Als Reaktion auf diese Entwicklung entstand jedoch eine Bewegung, die sich der jiddischen Sprache als Kultursprache der Juden annahm. Die Vertreter dieser Richtung kritisierten die hebräisch schreibenden Aufklärer als Vorreiter einer kleinen Elite. Wie die „Hebraisten“ hielten auch die „Jiddischisten“ ihre eigenen Sprachkonferenzen ab, die zugleich politische Ereignisse waren. Waren die Hebraisten in der Regel politisch im Lager des Zionismus einzuordnen, so optierten die Jiddischisten eher für mehr Autonomie in den Ländern, in denen sie lebten. Eng mit dieser Vorstellung verbunden, begründete der Historiker Simon Dubnow eine Autonomiebewegung, die sich für eine Anerkennung der Juden als nationale Minderheit mit dementsprechendem Rechtsschutz einsetzte. Während für die klassischen Vertreter einer nationalen Minderheitenlösung, wie die österreichischen Sozialdemokraten, die Juden keine nationale Minderheit verkörperten, da ihnen ein eigenes Territorium fehlte, war dies für Dubnow eine um so stärkere Begründung für eine Autonomielösung. Die Juden, so führte er aus, verkörperten eine höhere Stufe des Nationalismus, da sie als älteste bestehende Nation die frühe Stufe des territorialen Nationalismus bereits überwunden und ihre Nationalität jahrhundertelang in der Zerstreuung bewahrt hätten. Dubnows „Folkspartey“ gehörte zwar zu den kleineren jüdischen politischen Gruppierungen, ihre Forderungen hatten aber nach dem Ersten Weltkrieg in den neugegründeten Staaten Ostmitteleuropas Erfolg. In Polen und den baltischen Staaten wurde der jüdische Minderheitenstatus gesetzlich verankert. Größeres Gewicht innerhalb der jüdischen Parteienlandschaft hatten die sogenannten Bundisten, die im Sozialismus die Lösung für die jüdische Frage sahen. Der „Bund“ wurde 1897 in Riga gegründet, noch vor der russischen Sozialdemokratie, und ist damit die älteste sozialistische Partei Rußlands. Für seine Anhänger war die jiddische Sprache anfangs nur das Vehikel zur Vermittlung des Sozialismus. Sehr bald aber for19
derten sie die Anerkennung der jiddischen Sprache und Kultur als der legitimen Ausdrucksform der Juden, so wie die Polen polnisch und die Ukrainer ukrainisch sprachen. Mit dieser Forderung stießen sie allerdings auf taube Ohren bei der sozialistischen Bewegung, für deren Vertreter nur Nationen mit eigenem Territorium ein nationaler Minderheitenstatus gewährt werden sollte. Eine weitere politische Bewegung, die sich um die Jahrhundertwende formierte, und zwar als Abspaltung des jungen Zionismus, war der sogenannte Territorialismus. Seine Vertreter, angeführt von dem in England lebenden Schriftsteller Israel Zangwill, forderten eine nationale Heimstätte für die Juden, wobei gleichgültig war, wo diese sein sollte. Der Antisemitismus und die mit ihm einhergehende Bedrohung erlegten den Juden auf, jedes Territorium zu akzeptieren, das ihnen angeboten werde, und sei es in Australien oder Südamerika. Schließlich muß auch erwähnt werden, daß selbst die religiöse Orthodoxie in diesem Klima zunehmender Politisierung 1912 ihre eigene Organisation gründete, die „Agudat Israel“. Wie Zionisten und Bundisten trat auch sie als eigene politische Partei während der Zwischenkriegsjahre in Polen an und entsandte ihre eigenen Abgeordneten in das Parlament, den Sejm. Die „Agudat Israel“ war eindeutig antizionistisch ausgerichtet, und ihre Gründung muß auch als Reaktion auf die wenige Jahre vorher erfolgte Herausbildung einer religiös orientierten Fraktion innerhalb des zionistischen Lagers, des sogenannten „Misrachi“, verstanden werden. So betrat der Zionismus also als eine unter mehreren jüdischen Gruppierungen am Ausgang des 19. Jahrhunderts die politische Bühne. Daß er sich innerhalb weniger Jahrzehnte als einzige jener Parteien durchsetzen sollte, war um 1900 keineswegs abzusehen. Wie in den beiden folgenden Kapiteln gezeigt wird, kann der Zionismus zwar nicht ohne Bezug auf die nationalen und kolonialen Projekte des späten 19. und 20. Jahrhunderts verstanden werden, läßt sich aber auch nicht problemlos in eine dieser beiden Schubladen stecken. Gewiß lassen sich Anklänge an den nationalen Aufbruch der Grie20
chen, Italiener und Polen finden, doch lebten die meisten Juden nun einmal nicht in einem klar umrissenen Territorium und fühlten sich häufig auch nicht als Teil einer jüdischen Nation. Auch wiesen der Ankauf von Land, dessen Bearbeitung und Besiedlung zweifellos Parallelen zu kolonialen Bewegungen auf, doch fehlte im Falle des Zionismus ein wesentliches Element: die Kolonialmacht, in deren Namen und zu deren Nutzen ein fremdes Land ausgebeutet werden sollte. Ohne diese Besonderheiten ist der Zionismus als modernes politisches Phänomen nicht zu verstehen.
2. Ein internationaler Nationalismus: Die Topographie des frühen Zionismus Den Zionismus nur als Spätgeburt des europäischen Nationalismus wahrzunehmen, wäre zu einfach und würde bedeuten, die internationalen und kosmopolitischen Komponenten seiner Anfänge zu ignorieren. Es ermangelte den Juden nicht nur an einem Staatswesen und einem Territorium, in dem sie sich mehrheitlich konzentrierten. Es war darüber hinaus auch umstritten, wo sich der Sitz der Bewegung befinden sollte, welche Sprache auf ihren Kongressen gesprochen wurde und wo politische Verbündete zu finden waren. Die Landkarte des frühen Zionismus führt uns durch zahlreiche Städte Europas. Fragt man nach dem Geburtsort des Zionismus, so wird man in der Regel Basel als Antwort erhalten. Hier, so schrieb der Begründer des politischen Zionismus, Theodor Herzl (1860-1904), in sein Tagebuch, habe er den jüdischen Staat gegründet. In Basel fanden die ersten Zionistenkongresse statt, und hier erhielt die junge Bewegung ihre internationale Legitimation. Doch bildet Basel nur den topographischen Abschluß in einer langen Reihe von Orten, die für die konstitutive Phase des Zionismus jeweils ihre eigene Rolle spielten. So sollte man gewiß Wien nicht vergessen, jenen Ort, an dem der in Budapest geborene Herzl aufwuchs, 21
wo er die erste Zentrale der Zionistischen Bewegung errichtete und auch die erste repräsentative zionistische Zeitung, Die Welt, herausgab. Paris spielte nicht nur in Herzls Biographie wegen der von ihm für die Neue Freie Presse übermittelten Berichte über den Dreyfus-Prozeß eine Rolle, sondern auch als Wahlheimat seines langjährigen Sekundanten, des Schriftstellers Max Nordau, der unter den führenden Zionisten um die Jahrhundertwende wohl den größten Bekanntheitsgrad hatte. Paris wurde aber auch zu einer Stadt der Desillusionierung für den frühen Zionismus. In die beiden dort ansässigen Philanthropen, die Barone Hirsch und Rothschild, hatte Theodor Herzl seine größten Hoffnungen bei der Finanzierung seines Projekts gesetzt. Von beiden mußte er eine herbe Ablehnung erfahren. Obwohl sie sehr wohl die Bedrohung für die Juden Osteuropas erkannten und sich für deren Umsiedlung nach Argentinien bzw. Palästina einsetzten, wollten sie nichts mit politischen Plänen zu tun haben, die zu einem jüdischen Staat führten. In der langen Reihe der politischen Enttäuschungen Herzls kommt München eine besondere Ehrenrolle zu, hatte es doch im Sommer 1897 nicht nur der „Allgemeine Deutsche Rabbinerverband“, sondern auch der Vorstand der „Israelitischen Kultusgemeinde München“ strikt abgelehnt, den ersten Zionistischen Kongreß in der bayerischen Hauptstadt stattfinden zu lassen. Diese Konzentration auf Orte in West- und Mitteleuropa läßt die enorme Bedeutung Osteuropas für die Herausbildung einer Massenbewegung außer Acht. Zumindest Odessa als Metropole eines aufgeklärten osteuropäischen Judentums und Heimat von Leon Pinsker, von Herzls internem Widersacher Achad Ha’am wie auch vom späteren Begründer des revisionistischen Zionismus, Vladimir Jabotinsky, darf daher in einer zionistischen Topographie nicht fehlen. Unsere Reise über Wien, Paris, München, Basel und Odessa endet an einem Ort, der damals noch gar nicht existierte, außer in der Phantasie Herzls: Sein utopischer Roman Altneuland (1902) wurde unter dem Namen „Tel Aviv“ (Frühlingshügel) ins Hebräische übersetzt. Dieser Titel wiederum verlieh der ersten jüdischen 22
Stadt in Palästina ihren Namen. Bis dahin sollte es zu Herzls Lebzeiten allerdings noch ein langer Weg sein, den wir anhand der vorgegebenen Stationen kurz beschreiten wollen. Wien Beginnen wir die Reise im Jahre 1878, als der achtzehnjährige Theodor Herzl mit seinen Eltern seine Geburtsstadt Budapest nach dem plötzlichen Tod seiner Schwester Pauline verließ. Für die Familie Herzl bedeutete der Umzug nach Wien eine bewußte Überquerung der Grenze zwischen den seit 1867 formal getrennten Reichshälften des Habsburgerstaates von der kulturell zunehmend magyarisierten Hauptstadt des transleithanischen Reichsteils in die deutschsprachige Hauptstadt Cisleithaniens. Theodor Herzl war das klassische Beispiel dessen, was man heute unter einem assimilierten Juden verstehen würde. Aufgewachsen mit nur rudimentären Kenntnissen jüdischer Religion und Kultur, fühlte er sich, im Gegensatz zu vielen seiner sich mit der Magyarisierung identifizierenden jüdischen Zeitgenossen in Budapest, ganz in die deutsche Kultur eingebunden und hatte in Wien vor allem das Ziel, erfolgreicher Bühnenautor am Burgtheater zu werden, nachdem er zunächst dem Wunsch seiner Eltern gefolgt war und das Studium der Rechtswissenschaften aufgenommen hatte. Mit jüdischen Traditionen hatte er wenig am Hut. Bereits seine Eltern hatten sich verweigert, zu seiner religiösen Volljährigkeit im Alter von 13 Jahren eine Bar-Mitzva-Zeremonie in der Synagoge zu veranstalten; er selbst ließ später seinen Sohn nicht beschneiden. Sein Tagebuch berichtet von seinen ursprünglichen Plänen der Lösung der Judenfrage durch die Massentaufe der jüngeren Generation aller Wiener Juden, und als er im Dezember 1895 seine zionistischen Grundgedanken dem Wiener Oberrabiner Moritz Güdemann schmackhaft machen wollte, schreckte dieser bereits an der Haustür zurück, als er den Weihnachtsbaum im Hause Herzl erblickte. Der Wechsel von Budapest nach Wien brachte Herzl in ein neues jüdisches Milieu, in dem es allerdings auch eine Reihe 23
von Gemeinsamkeiten gab, so etwa die 1867 im Zusammenhang mit dem „Ausgleich“ erfolgte Emanzipation der Juden in beiden Reichshälften, zwei rapide anwachsende jüdische Gemeinden (in Budapest von 45 000 im Jahre 1869 auf 100 000 im Jahre 1890 und über 200 000 im Jahre 1910; in Wien von 40 000 über 120000 auf 175 000 im gleichen Zeitraum), die einen nicht unbeträchtlichen Bevölkerungsanteil ausmachten (1890 in Budapest etwa 20 Prozent, in Wien 8,7 Prozent). Auffallend war um die Jahrhundertwende in beiden Städten der hohe Anteil jüdischer Studenten (in Wien 1890: 33 Prozent, in Budapest um die 50 Prozent), Ärzte und Rechtsanwälte (in Wien und Budapest jeweils über 50 Prozent). Auch dem Antisemitismus ließ sich in keiner der beiden Städte entkommen. Seine erste Begegnung damit hatte Herzl, so erinnerte er sich später, im Alter von sieben Jahren in Budapest. In Wien sollte er allerdings bald massivere Erfahrungen sammeln. Um den doppelten Makel seiner Herkunft als Ungar und Jude auszugleichen, schloß er sich in Wien der deutschgesinnten Burschenschaft „Albia“ an. Herzl war unter den letzten drei jüdischen Mitgliedern, die die „Albia“ aufnahm; ab 1881 gab es keine Neuaufnahmen von Juden mehr. Zwei Jahre später verließ der dreiundzwanzigjährige Herzl die Burschenschaft, nachdem sie sich auf einer Wagner-Feier als offen antisemitisch zu erkennen gegeben hatte. Erst kurz zuvor, 1879, war das Wort „Antisemitismus“ im Deutschen Reich geprägt und von dem Journalisten Wilhelm Marr verbreitet worden. Im sogenannten Berliner Antisemitismusstreit des gleichen Jahres machten der Hofprediger Kaiser Wilhelms Adolf Stoecker sowie der Historiker Heinrich von Treitschke nicht nur jene neue Wortprägung, sondern auch deren Inhalt salonfähig. Es war allerdings in Wien und nicht Berlin, wo der politische Antisemitismus im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts seine größten Erfolge feiern sollte. Georg Ritter von Schönerers deutschnationaler Antisemitismus lieferte sich dabei einen Wettstreit mit dem christlich-sozialen Antisemitismus Karl Luegers, aus dem letzterer erfolgreich hervorgehen sollte. Nach seinen ersten Wahlerfolgen 1891 erreichte er im Mai 1895 bei 24
den Wiener Wahlen erstmals die absolute Mehrheit der Stimmen (eines komplizierten Klassenwahlsystems) und wurde 1897 schließlich Bürgermeister, nachdem sich Kaiser Franz Joseph zwei Jahre lang geweigert hatte, ihn zu ernennen. Der Ausschluß aus bestimmten gesellschaftlichen Kreisen und das antisemitischer werdende allgemeine politische Klima in Wien waren zweifellos die entscheidenden Motive für Herzls Hinwendung zum Zionismus. Als drittes Element kam die wachsende Distanz hinzu, mit der er dem gehobenen jüdischen Bürgertum in Wien gegenüberstand. Dieses war Gegenstand seiner literarischen Produkte, recht seichter Komödien mit Titeln wie Muttersöhnchen (1885), Wilddiebe (1888) oder Was wird man sagen? (1889). Nach dem Austritt aus der „Albia“ und den ersten Wahlerfolgen Luegers nahm zunehmend auch der Antisemitismus seinen Platz in Herzls literarischem Schaffen ein. Den entscheidenden Durchbruch bedeutete hierbei sein im Oktober 1894 verfaßtes Stück Das Neue Ghetto. Das Neue Ghetto war die Kritik eines assimilierten Juden an der Assimilation. Herzls jüdisches Bürgertum umfaßt Aufsteiger und Neureiche, Börsenmakler und Spekulanten, denen jegliche Selbstachtung fehlt und die an äußeren Traditionen festhalten, die von innen längst ausgehöhlt sind. Sie haben ihr Judentum längst aufgegeben, sind aber auch noch nicht Deutsche oder Österreicher geworden. Die Verinnerlichung antisemitischer Stereotypen spielt hier ebenso eine Rolle wie eine deutliche Kritik am Prozeß der Emanzipation und Assimilation. Diese Charakterisierung des assimilierten Juden durch Theodor Herzl war unter jüdischen Intellektuellen seiner Zeit verbreitet. Herzls langjähriger Stellvertreter an der Spitze der zionistischen Bewegung, Max Nordau, schrieb mit seinem bürgerlichen Trauerspiel Doktor Kohn 1899 ein ganz ähnliches Stück. Und klaffte zwischen der Kritik, wie sie Herzl und Nordau an der bürgerlichen jüdischen Gesellschaft übten, und dem, was Theodor Lessing in seiner Schrift von 1930 Der jüdische Selbsthaß nennen sollte, eine solch große Kluft? Das Neue Ghetto ist nicht zu verstehen, wenn man nicht die um 25
dieselbe Zeit geäußerten (und später nicht mehr gerne von ihm zitierten) Worte des späteren deutschen Außenministers Walther Rathenau daneben stellt, der in „Höre Israel!“ 1897 schrieb: „Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffällig staffirt, von heißblütig beweglichem Gebahren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde ... so leben sie in einem halb freiwilligen, unsichtbaren Ghetto, kein lebendes Glied des Volkes, sondern ein fremder Organismus in seinem Leibe.“ Und der deutsche Jude Rathenau fragt: „Was also muß geschehen?“ Wie Herzl schlägt auch er vor: „Ein Ereignis ohne geschichtlichen Vorgang.“ Allerdings sieht seine Vision ganz anders aus als die Herzls: „die bewußte Selbsterziehung einer Rasse zur Anpassung nicht im Sinne der ,mimicry’ Darwins ..., sondern eine Anartung in dem Sinne, daß Stammeseigenschaften, gleichviel ob gute oder schlechte, von denen es erwiesen ist, daß sie den Landesgenossen verhaßt sind, abgelegt und durch geeignetere ersetzt werden.“ (W. Rathenau, Höre, Israel!, in: Impressionen, 1902, S. 4, 10) Ein Patriziertum deutsch gearteter Juden ist es, was Walther Rathenau im selben Jahr vorschwebt, in dem Theodor Herzl vom Judenstaat träumt. Mag ein solcher Text ins klassische Repertoire der Gattung „jüdischer Selbsthaß“ fallen, so sah sein Autor dies anders. Gegen den Vorwurf seines Freundes Alfred Kerr, daß er sich „ahnungslos antisemitisch“ verhielt, wehrte Rathenau sich empört. Es war im übrigen wohl auch mehr als nur ein Zufall, daß sein Aufsatz – zunächst anonym – ausgerechnet in der von Maximilian Harden herausgegebenen Zeitschrift Zukunft erschien. Harden, der unter dem Namen Felix Ernst Witkowski geboren wurde, wird in Theodor Lessings Schrift als eines der sechs Fallbeispiele für jüdischen Selbsthaß beschrieben. Er konnte es sich erlauben, in seiner Zeitschrift den deutschen Juden zuzurufen: „Was wollt Ihr denn eigentlich? Sagt doch klar, wessen Geschäfte besorgt Ihr, die Geschäfte Deutschlands oder die Geschäfte Zions?“ In Wien trifft man die klassischen Vertreter des Genres „jüdischer Selbsthaß“ an, und zwar als Theodor Herzls unmit26
telbare Zeitgenossen. Auf Karl Kraus kommen wir später zu sprechen. Tragischer war gewiß der Fall von Kraus’ Landsmann Otto Weininger, der sich 1903 kurz nach Veröffentlichung seiner aufsehenerregenden Dissertation „Geschlecht und Charakter“ im Alter von 23 Jahren in Beethovens Sterbezimmer begab und sich dort eine Kugel durch die Brust jagte. Frauen und Juden verkörperten für ihn das Übel seiner Zeit, und während er den ersteren aus dem Weg gehen konnte, so ließ sich doch sein Geburtsmakel als Jude auch durch die Taufe nicht abwaschen. Tief im Herzen wollte Herzl noch bis in die Anfänge seiner zionistischen Erweckung vor allem eines: „dazugehören“. Sein zionistisches Tagebuch beginnt mit einem Rückblick auf das Jahr 1893, als er „die Judenfrage mit Hilfe der katholischen Kirche wenigstens in Österreich lösen“ wollte. In einer bis ins kleinste Detail geschilderten Zeremonie sollte die jüngere Generation der Wiener Juden in den Stephansdom geführt und getauft werden: „Am hellichten Tage, an Sonntagen um zwölf Uhr, sollte in feierlichen Aufzügen unter Glockengeläute der Übertritt stattfinden in der Stefanskirche. Nicht verschämt, wie es Einzelne bisher getan, sondern mit stolzen Gebärden.“ Was auch seine späteren Pläne charakterisieren sollte, die wichtige eigene Rolle wie auch die Liebe zum Detail, war hier bereits sichtbar: „Ich hatte mir das alles wie gewöhnlich bis ins Geästel der Einzelheiten ausgedacht, sah mich auch schon im Verkehr mit dem Erzbischof von Wien, stand in Gedanken vor dem Papst – die sehr bedauerten, daß ich nur zur Grenzgeneration gehören wollte – und ließ dieses Schlagwort der Rassenvermischung durch die Welt fliegen.“ Die Konversionspläne gab er bald auf, da er einsah, daß gegen einen rassisch definierten Antisemitismus der Religionswechsel nicht viel helfen konnte. Diesem zufolge könnten die Juden wohl Christen werden, aber nicht Deutsche oder Österreicher. Doch noch später, als er bereits an seinem Judenstaat arbeitete, wollte er zur Mehrheitsgesellschaft gehören, und zwar zu ihrer obersten Schicht. So notierte er am 5. Juli 1895 in sein Tagebuch: „Übrigens, wenn ich etwas sein möchte, wär’s ein 27
preußischer Altadeliger.“ Man stelle sich einen Moment lang vor, Herzl wäre ein Jahrzehnt früher gestorben und er hätte kurz vor seinem Tode den Plan der Massentaufe der Wiener Juden in die Tat umgesetzt. Womöglich hätte dann auch ein Herzl Aufnahme in jene unrühmliche Galerie gefunden, die Theodor Lessing – der selbst vom jüdischen Selbsthaß zum Zionismus gelangte – drei Jahrzehnte später zusammenstellte. So ließ Herzl in einem Brief an Harden erkennen, daß er mit Rathenaus Diagnose übereinstimmte, wenngleich er dessen Heilmittel ablehnte: „Wenn er den Juden räth, sich einen anderen Knochenbau anzugewöhnen, so begleite ich ihn heiter in diese Zuchtwahlfernen. Ich spöttle darüber nicht, wie es jeder Durchschnittsjude thun wird, sondern will ihm beipflichten. Nur meine ich, daß die Juden den Phosphor für die neuen Knochen aus einem einzigen Boden ziehen können, nämlich aus ihrem eigenen.“ (Herzl an Harden, 16.3.1897, in: Th. Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. 4, 1990, S. 205) Nicht in der Diagnose, sondern im Heilmittel also unterschied sich Herzl von Rathenau und Harden, Kraus und Weininger. Im Gegensatz zu den Vorgenannten hatte er mit seinem Drama nun endgültig mit dem Traum gebrochen, aus dem Judentum in die christliche und damit die europäische Gesellschaft zu flüchten. Stattdessen bedeutete Das Neue Ghetto seinen Abschied vom Traum der Assimilation. Herzl kam also 1894 zu einer Erkenntnis, zu der sich viele assimilierte deutsche Juden vierzig Jahre später durchringen sollten. Ihre Tragik kommt vielleicht am deutlichsten eine Generation später und unter völlig veränderten Umständen in einem Brief Max Liebermanns vom 6. Juni 1933 an den hebräischen Nationaldichter Chaim Nachman Bialik und den Tel Aviver Bürgermeister Meir Dizengoff zum Ausdruck: „Wie ein furchtbarer Alpdruck lastet die Aufhebung der Gleichberechtigung auf uns allen, besonders aber auf den Juden, die wie ich, sich im Traume der Assimilation hingegeben hatten ... So schwer es mir auch wurde, ich bin aus dem Traume, den ich mein langes Leben geträumt habe, erwacht.“ (Museum der Geschichte Tel Avivs, Dizengoff Archiv) 28
Um Herzls Erwachen aus dem Traum der Assimilation richtig zu beurteilen, muß man zunächst seinen tiefen Schmerz über ihr Scheitern verstehen: „Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren“, schreibt er im Judenstaat. „Man läßt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwengliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften, ihren Reichtum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In unseren Vaterländern, in denen wir ja auch schon seit Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrieen ... Wenn man uns in Ruhe ließe ... Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen.“ (Herzl, Gesammelte Zionistische Werke, Bd. 1,31934, S. 26) Paris Das Neue Ghetto spielt zwar in Wien, doch seit Oktober 1891 lebte Herzl als Korrespondent der Wiener Neuen Freien Presse in Paris. Es ist viel darüber diskutiert worden, ob Herzl in Wien oder in Paris die entscheidenden Erfahrungen für seine zionistische Bekehrung gesammelt hat, aber eines scheint klar: Erst die Kombination des Triumphes von Karl Lueger in Wien bei den Wahlen im Mai 1895 und der Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen Hochverrats sowie der damit einhergehenden antisemitischen Straßenkrawalle in Paris vom Dezember 1894 ließ Herzl endgültig klar werden, wohin der Weg zu führen habe, den sein Held Jakob im Schlußsatz seines Dramas mit dem Ausruf meinte: „Hinaus aus dem Ghetto!“ Dabei ist nicht ganz unwichtig, die Chronologie der Ereignisse im Auge zu behalten. Herzl beendete Das Neue Ghetto am 8. November 1894. Über die Verhaftung von Dreyfus hatte Edouard Drumonts antisemitische Zeitschrift Libre Parole zwar schon am 1. November berichtet, doch der Dreyfus-Pro29
zeß begann erst am 19. Dezember. So ist denn seine später öfters gemachte Bemerkung, erst der Dreyfus-Prozeß habe ihn zum Zionisten gemacht und sein Stück sei unter dem Eindruck des Prozesses zu lesen, nur mit Vorbehalt zu interpretieren. Außer Zweifel steht jedoch, daß Herzls vierjähriger Aufenthalt in Paris bis zum Juli 1895 tatsächlich einen entscheidenden Einschnitt in seiner Entwicklung zum Zionismus bildete. Frankreich war das Mutterland nicht nur von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, sondern auch der Judenemanzipation in Europa. Während den Juden in den deutschsprachigen Staaten die Emanzipation sozusagen als Belohnung für ihre erfolgreiche Anpassung an die christliche Mehrheitsgesellschaft am Ende eines nahezu hundertjährigen Prozesses (in Österreich 1867, im Deutschen Reich 1871) gewährt wurde, verlief die Emanzipation in Frankreich umgekehrt. Als Folge der Revolution erhielten sie zunächst (1790/91) dieselben Rechte wie ihre christlichen Mitbürger und sollten im Gegenzug später nachweisen, daß sie diese auch verdienten. Selbst nachdem die deutschen Juden ihre vollständige rechtliche Gleichstellung auf dem Papier erlangt hatten, waren sie in der Realität davon noch weit entfernt. So hätte der Dreyfus-Skandal gar nicht in Berlin passieren können, da Juden (ohne vorherige Taufe) vor dem Ersten Weltkrieg nicht Offiziere in der preußischen Armee werden konnten. Diese unterschiedliche Entwicklung bedeutete gewiß nicht, daß der Antisemitismus in Frankreich eine unbekannte Erscheinung blieb. Er war allerdings anders angelegt als in Deutschland. In Frankreich wurde die Infragestellung der Rechte der Juden auch zu einer Infragestellung der bestehenden Ordnung. Es mag auch an dieser Konstellation gelegen haben, daß in Frankreich während der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts der linke Antisemitismus besondere Blüten trieb. Frühsozialisten wie Charles Fourier, Alphonse Toussenel oder Pierre Joseph Proudhon identifizierten die Juden mit dem Kapital, ähnlich wie in Deutschland Karl Marx in seiner frühen Schrift Zur Judenfrage. Auch im letzten Viertel des 30
19. Jahrhunderts waren antisemitische Parolen, Schmähschriften und politische Pamphlete in beiden Ländern keineswegs Mangelware. In Frankreich ist hierbei die ungeheure Verbreitung von Edouard Drumonts antisemitischem Machwerk La France juive (1886) unübertroffen, das 1887 als Volksausgabe und 1892 in illustrierter Version erschien. Hiermit konnte auch die beträchtliche Verbreitung von August Rohlings Der Talmudjude (1871) im deutschsprachigen Raum nicht mithalten. Theodor Herzl berichtete bereits 1892 in einem Beitrag für die Neue Freie Presse über französischen Antisemitismus. Gewiß war er nicht so naiv zu glauben, im Mutterland der Emanzipation existiere kein Antisemitismus. Dennoch haben ihn die Ereignisse im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre in ihrer ganzen Gewalt sichtlich überrascht. Er war nicht der einzige Beobachter in Paris, dem es am Ende des Jahres 1894 so erging. Der französische Publizist Bernard Lazare war wie Herzl ein assimilierter Jude, der mit Selbstkritik an seinen Glaubensbrüdern, oder wie man in seinem Falle eher sagen sollte, Unglaubensbrüdern, nicht sparte. So versuchte er ursprünglich, deutsche und osteuropäische „Juden“ von den französischen „Israeliten“ zu scheiden. Während er sich nur mit letzteren identifizieren wollte, distanzierte er sich von den „Frankfurter Geldwechslern, russischen Wucherern, polnischen Gastwirten und galizischen Pfandleihern“. Unter dem Eindruck des Antisemitismus wandelte auch er seine Meinung und wandte sich dem Schicksal der Juden mit zunehmender Sympathie zu. In seiner 1894 veröffentlichten Studie über den Antisemitismus bewegte er sich bereits auf eine nationaljüdische Lösung zu. Am 17. November 1894, also nur wenige Tage, nachdem Theodor Herzl sein Neues Ghetto beendet hatte, publizierte er in der linksgerichteten Pariser Wochenzeitung La Justice einen Aufsatz mit dem Titel „Le Nouveau Ghetto“. Obgleich die beiden ihre Arbeiten völlig unabhängig voneinander unternahmen, kamen sie zu auffallend ähnlichen Ergebnissen. So schreibt Lazare bereits unter dem Einfluß der Verhaftung von Dreyfus: „Die Juden sind nicht länger in 31
ihren eigenen Wohnbezirk eingesperrt..., aber sie sind gefangen in einer feindlichen Atmosphäre von Mißtrauen, latentem Haß und Vorurteilen, die um so schlimmer sind, als sie nicht ausgesprochen werden, ein Ghetto, das um so schrecklicher ist, als das, aus dem man durch Auswanderung oder Revolte ausbrechen konnte. Diese Feindschaft ist in der Regel versteckt, aber ein intelligenter Jude wird kein Problem haben, sie zu entdecken.“ (Zitiert in E.Pawel, The Labyrinth of Exile. A Life of Theodor Herzl, 1989, S. 205) Wenige Wochen später sollte vieles von dieser verdeckten Feindschaft offen zutage treten, als nach der öffentlichen Degradierung von Dreyfus nicht nur der – wie sich später herausstellen sollte, zu Unrecht – Verurteilte dem Zorn der Massen ausgesetzt war, sondern, wie Herzl in seinen Berichten aus Paris übermittelte, der Mob auf der Straße „Mort aux juifs“ grölte (was die assimilierten jüdischen Herausgeber der Neuen Freien Presse sanfter als „Tod dem Judas“ übersetzten). Für Herzl wie auch für Lazare war bald klar, daß mit Dreyfus ein jüdischer Sündenbock für die Verbrechen anderer gefunden war. Über die Begnadigung von Dreyfus (1899) hinaus sollte sich die intellektuelle Gesellschaft in die Dreyfusianer und Anti-Dreyfusianer spalten, wobei sich nicht nur Lazare und Dreyfus’ Familienangehörige, sondern zahlreiche nichtjüdische Franzosen – allen voran Emile Zola – den Kampf ums Recht auf ihre Fahnen schrieben. Unter dem Eindruck des Dreyfus-Prozesses, aber wohl auch des ersten Wahlerfolgs von Luegers Christsozialen bei den Wiener Wahlen vom 2. April 1895 beschloß Herzl, nicht länger tatenlos der sich verschlechternden Situation für die Juden Europas zuzusehen, sondern ein Konzept zum Handeln zu entwerfen. Auf der Suche nach einem Financier hierfür wandte er sich am 20. Mai 1895 an den bekannten, in München gebürtigen und in Paris lebenden Philanthropen Baron Maurice de Hirsch. Diese Entscheidung war alles andere als zufällig, hatte Hirsch, von dessen Unternehmungen der Bau der Bahnlinie in die Türkei die wohl spektakulärste war, sich doch bereits als Förderer jüdischer Neuansiedlungspläne außerhalb 32
Europas erwiesen. Um die Juden außerhalb Europas in Sicherheit zu bringen und sie von Händlern zu Bauern umzuformen, kaufte er für seine „Jewish Colonization Association“ Land in Argentinien und anderen Staaten Amerikas an. Sein grandioser Plan, insgesamt 3 Millionen osteuropäische Juden in Argentinien anzusiedeln, hatte freilich bis zu seinem Tod 1896 nicht mehr als 3000 Menschen angezogen. In einer langen Unterredung mit Hirsch versuchte Herzl, ihn davon zu überzeugen, daß seine eigenen Pläne zum Scheitern verurteilt seien und daß nur die Errichtung eines jüdischen Staates Erfolg versprechen könnte. Während Hirsch nur Schnorrer heranziehen würde, die von dem Großmut des Barons lebten, ging es Herzl um die Heranbildung eines „neuen Juden“ nach dem Muster eines Gedichtes aus seinem Nachlaß: „Wann erscheint mir als gelungen – Mein Bemüh’n auf dieser Erden? – Wenn aus armen Judenjungen – Stolze junge Juden werden!“ Viele der Grundgedanken, die er wenig später im Judenstaat aufschreiben sollte, finden sich bereits in seinen „Notizen zur Unterredung mit Baron Hirsch“, darunter auch seine Idee, daß man Europa nicht aufgeben müsse, wenn man in den Orient auswandere: „Ihr hängt an Eurer grausamen Heimat? Wir geben sie Euch verschönert wieder ... Wir bauen uns Paris, Rom, Florenz, Genua, was wir wollen. Herrliche Städte mit Benutzung aller modernen Erfindungen. Asphaleia-Staat.“ (Herzl, Gesammelte Zionistische Werke, Bd. 5, S. 463) Wie im Theaterstück hat Herzl sich genau notiert, was er vorzutragen hat, hat dies einstudiert und geübt und schließlich bei seinem Besuch am 2. Juni 1895 aufgesagt. Am Ende stand der eindringliche Appell an den Baron: „So aber können Sie der gute Pharao werden, unsterblich in der Geschichte, der dieses unglückliche Volk (das man doch nicht mehr verbrennen kann) erlöst hat.“ Es sollte wenig nützen. Das Gespräch endete wenig harmonisch, und die beiden sollten sich nicht wieder sprechen. Bereits am nächsten Tag schickte er dem Baron einen langen Brief, in dem die ganze Verärgerung über sein Scheitern sichtbar wird und in dem er ihm vorwirft, 33
„nicht einmal die Geduld“ gehabt zu haben, seine Ideen bis zu Ende anzuhören. Am 7. Juni ist für Herzl dieses Kapitel seines Unternehmens bereits abgeschlossen: „Hirsch – heute vor 8 Tagen noch der Angelpunkt meines Planes, ist heute schon, zur quantite absolument negligeable herabgesunken – gegen die ich sogar bereits großmüthig bin – in Gedanken.“ (Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. 2, 1989, S. 71) Als neues Ziel für die Finanzierung seiner Pläne kam nur noch eine Quelle in Frage: die Rothschilds. Diesmal freilich wollte er seinem Gegenüber zunächst ein sorgfältig ausgearbeitetes schriftliches Konzept vorlegen. Die so am 17. Juni 1895 vollendeten Notizen waren die erste Fassung seines Judenstaat, der 1896 gedruckt erschien und die Grundlage des politischen Zionismus bildete. Seine Bemerkungen „An den Familienrat“ wuchsen zu einem umfangreichen Konzept heran, in dem er auch vor dem Vergleich mit dem Auszug aus Ägypten nicht zurückschreckte. Wenn Hirsch – oder später Rothschild – den guten Pharao abgeben sollte, so war klar, wem in diesem Plan die Rolle des Moses zukam, und diese war noch viel gewaltiger als die beim biblischen Exodus: „Mosis Auszug verhält sich dazu wie ein Fastnachtsspiel von Hans Sachs zu einer Wagner’schen Oper.“ (Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. 2, 1989, S. 74) Nicht ganz zufällig muß hier ausgerechnet der Antisemit Wagner als Maß des Großartigen für Herzl herhalten. Auf die Begegnung mit den Rothschilds wartete er jedoch vergeblich. Der Wiener Oberrabiner Moritz Güdemann, über den er den Kontakt zu dem Wiener Vertreter der Rothschilds, Albert Rothschild, herstellen wollte, war alles andere als enthusiastisch und verfaßte später eine ablehnende Schrift gegen Herzls Zionismus. Sein Freund Friedrich Schiff schließlich brachte Herzl in eine noch größere Krise. Als dieser an ihm die Reaktion auf sein Konzept testen wollte, meinte Schiff nur, seine Ausführungen seien wohl die Reaktionen eines Nervenzusammenbruchs, und er solle sich dringend eine Erholung gönnen, um wieder zu sich zu kommen. Ähnlich ablehnende Reaktionen erhielt Herzl von anderen ihm Nahe34
stehenden. Die einzige bedeutende Ausnahme bildete Max Nordau, der wie Herzl in Budapest geboren war und als erfolgreicher und populärer Schriftsteller in Paris lebte. Nach seiner Rückkehr aus Paris publizierte Herzl im Februar 1896 in Wien seine erweiterte und nie gehaltene Ansprache an die Rothschilds unter dem Titel Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der jüdischen Frage. Im Gegensatz zu seinem späteren utopischen Roman Altneuland liest sich Der Judenstaat wie eine nüchterne Gebrauchsanleitung zum Aufbau einer nationalen Heimstätte. Nach einer knappen Analyse der Vergeblichkeit aller Assimilationsbemühungen sowie von Ursache und Wirkung des Antisemitismus beginnt er mit der Beschreibung seines Plans, zu dessen politischer Durchführung eine „Society of Jews“ und zu dessen wirtschaftlicher Umsetzung eine „Jewish Company“ gegründet werden sollen. Wo diese den Judenstaat errichten soll, ob in Palästina oder Argentinien, bleibt dabei noch offen: „Die Society wird nehmen, was man ihr gibt und wofür sich die öffentliche Meinung des Judenvolkes erklärt.“ (Herzl, Gesammelte Zionistische Werke, Bd. 1, S. 45) Die meisten Kapitelüberschriften zeugen vom pragmatischen Charakter der Schrift. Sie tragen Namen wie „Immobiliengeschäft“, „Der Landkauf“, „Arbeiterwohnungen“, „Die Arbeitshilfe“, „Bürgschaften der Company“, „Industrielle Ansiedlungen“ oder „Die Geldbeschaffung“. Herzl stellte sich Palästina als ein „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ vor. Im Gegensatz zu Achad Ha’am, dem Kulturzionisten aus Odessa, hat er die arabischen Einwohner Palästinas nie wirklich wahrgenommen und konnte sich eine spätere Konfrontation mit ihnen als das Haupthindernis seines Unternehmens nicht vorstellen. Zu unwichtig erschienen dem im Zeitalter des Kolonialismus aufgewachsenen Herzl die Ansprüche der eingesessenen Bevölkerung. Andererseits hatte er durchaus kein chauvinistisches oder gar rassistisches Konzept im Sinne, sondern eine tolerante Form des Zusammenlebens zwischen Juden und Arabern. Im Judenstaat klingt dies folgendermaßen: „Und fügt es sich, daß auch Anders35
gläubige, Andersnationale unter uns wohnen, so werden wir ihnen einen ehrenvollen Schutz und die Rechtsfreiheit gewähren. Wir haben die Toleranz in Europa gelernt.“ (Herzl, Gesammelte Zionistische Werke, Bd. 1, S. 95) Seine „Society“ beruht keineswegs auf dem Modell des klassischen Nationalstaats. Sie ist vielmehr ein freiwilliger Zusammenschluß daran interessierter Personen. Wie aus seinen späteren Schriften deutlich wird, gehören dazu auch Araber, während manche Juden – vor allem die von ihm als fanatisch eingestuften Ultraorthodoxen – in Palästina leben können, ohne Mitglied der „Society“ zu werden. Das Sprachenproblem löste Herzl ganz europäisch, nach dem Schweizer Modell. Hebräisch kam für ihn nicht in Frage, denn, so bemerkte er ironisch, wer könnte denn eine Bahnkarte auf Hebräisch bestellen. Alle westlichen Sprachen sollten daher in Palästina akzeptiert werden, wobei dem Deutschen, das – auch wegen seiner Nähe zu dem von den osteuropäischen Juden gesprochenen Jiddisch – offizielle Sprache der zionistischen Kongresse wurde, eine zentrale Bedeutung zufallen sollte. Herzls Judenstaat ist das Modell einer fortschrittlichen und in sozialer Hinsicht utopischen Gesellschaft. Die Reaktionen auf das kleine Büchlein, das in einer Auflage von 3000 Exemplaren gedruckt wurde, waren zunächst alles andere als ermutigend. Als nach der ausführlichen Besprechung des Buches im Londoner Jewish Chronicle Anfragen aus England kamen, ob es sich bei dem Autor der Schrift um den bekannten Wiener Journalisten handelte, konnte sich dies der Sekretär der Wiener jüdischen Kultusgemeinde gar nicht vorstellen, da er jenen als eine eigentlich sehr vernünftige Person kannte. An Spott mangelte es nicht in Herzls Heimat. Karl Kraus äußerte sich mit bitterem Sarkasmus. In einer scharfen Polemik gegen Theodor Herzl und den Zionismus griff er den Vorwurf der doppelten Loyalität auf, um ihn ironisch zu zerlegen. Kraus warf den Zionisten vor, den antisemitischen Schlachtruf „Hinaus mit Euch, Juden!“ mit der Antwort „Jawohl, hinaus mit uns Juden!“ zu erwidern. Kraus zufolge wollte Herzl die europäischen Juden aus ihrer 36
Verwurzelung in ihren jeweiligen Heimatländern herauslösen. Er widersprach heftig dem, was er als Herzls Theorie karikierte, nämlich, „daß die Juden nur zur Hebung des Fremdenverkehrs sich zeitweise in Europa aufhalten“, und stellte Herzls Theorie des einen jüdischen Volkes in Abrede: „Welches gemeinsame Band soll jedoch die Interessen der deutschen, englischen, französischen, slavischen und türkischen Juden zu einem Staatsganzen zusammenhalten?“ (K.Kraus, Eine Krone für Zion, in: Frühe Schriften, 1892-1900. Hg. von J.J.Braakenburg, Bd. 2, 1897-1900, 1979, S. 303, 308) Die beiden jüdischen Herausgeber von Herzls Zeitung, der Neuen Freien Presse, reagierten mit Totschweigen. Kein Wort über jene Schrift und ihren Autor sollte in ihrer Zeitung erscheinen. Beifall dagegen erhielt Herzl von ungewünschter Seite. Manche Antisemiten freuten sich über die Aussicht, daß die Juden nun freiwillig Europa verlassen würden. In diesem Stil triumphierte etwa Ivan von Simonyi, ein antisemitischer ungarischer Parlamentsabgeordneter, der es nicht unterließ, Herzl auch noch seine persönliche Aufwartung zu machen. München Genau diese Reaktionen waren es, die die Kreise westlich assimilierter Juden aus Herzls eigenem Milieu befürchtet hatten. Herzl liefere mit seiner Schrift dem Antisemitismus Munition ins Haus, protestierten sie. In der Tat widersprach Herzls Analyse ihrem eigenen Selbstverständnis grundsätzlich. So nannte sich, wie oben beschrieben, die 1893 gegründete jüdische Organisation zur Abwehr gegen den Antisemitismus nicht zufällig „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Das Judentum war analog zum Christentum der Mehrheitsgesellschaft konfessionalisiert worden. Um den Gegnern der Emanzipation keine Waffen zu liefern, definierten die Juden sich als bloße Religionsgemeinschaft. Um so empörter war dann der Aufschrei, als Herzl in seinem Judenstaat schrieb: „Wir sind ein Volk, ein Volk.“ Viel37
leicht war dieser Satz der provokanteste in seiner ganzen Schrift, stellte er doch ein Jahrhundert Emanzipationsbestrebungen in Frage und kehrte die jüdische Selbstdefinition in ihr Gegenteil um. Für Herzl galt nämlich: Die Religion ist kein die Juden verbindendes Element mehr, sondern eher ein trennendes. Als assimilierter Jude war er selbst das Produkt einer rapide voranschreitenden Säkularisierung. Galt noch eine Generation vorher die Devise: „Was uns von euch trennt, ist die Tatsache, daß wir am Schabbat in die Synagoge gehen und ihr am Sonntag in die Kirche“, so traf nun eher zu, was so mancher ironisch bemerkte: „Was uns unterscheidet, ist, daß wir am Schabbat nicht in die Synagoge gehen und ihr am Sonntag nicht in die Kirche.“ Herzl wußte aber, daß man, auch wenn man die Synagoge nicht besuchte und kein religiöser Mensch war, trotz alledem Jude blieb: In den Augen der anderen, aber oft auch im eigenen Selbstverständnis. Was Herzl zufolge alle Juden vereinte, war ihre gemeinsame Abstammung, ihre Geschichte und ihre Abweisung als Minderheit durch die sie umgebende Gesellschaft. Er wäre wohl nie Zionist geworden, hätte die Burschenschaft „Albia“ weiterhin Juden akzeptiert, hätte es keinen antisemitischen Bürgermeister Lueger in Wien gegeben und in Paris keinen Dreyfus-Prozeß. Herzls Pläne waren ein Produkt der Emanzipation und der Assimilation des 19. Jahrhunderts. Im Grunde genommen akzeptierte er beide Prozesse und wollte sie nur vervollständigt wissen. Die Emanzipation sei deswegen gescheitert, weil die Juden zwar individuelle Rechte erhielten, aber keine kollektiven Rechte. Diese seien nur durch das gleiche Mittel zu erreichen, das jeder anderen Nation zustehe: einen eigenen Staat. Die Errungenschaften der Assimilation wiederum wollte er in diesen Staat, diese Schweiz mitten im Orient, eingebracht sehen. Sein Konzept war keine Rückkehr in die voremanzipatorische Zeit, sondern ein Ausbau der Emanzipation außerhalb Europas, aber im europäischen Sinne. Herzl war das, was später oftmals unter dem Schlagwort eines „postassimilatorischen“ Juden verstanden wurde: ein Jude, der sich 38
so sicher in der Kultur und Gesellschaft bewegte, daß er keine Angst davor zu haben brauchte, sein Judentum zu verstecken oder in den konfessionellen Rahmen der Synagoge einzugrenzen. Als Herzl damit 1896 erstmals an die Öffentlichkeit ging, konnte man ihn noch als Literaten abtun, dessen Hirngespinste, ebenso wie die eines Moses Heß und anderer vor ihm, mit der Tinte vertrocknen würden, mit der sie aufs Papier gebracht wurden. Herzl dachte allerdings auch nicht einen Augenblick daran, nur als Theoretiker einer neuen Bewegung in die Geschichte einzugehen, sondern machte sich sofort daran, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Seine diplomatischen Aktivitäten begann er mit einer Audienz beim badischen Großherzog, der allerdings nicht viel mehr als schöne Worte übrig hatte und nicht die erwünschten Pforten zu seinem Neffen, dem Kaiser, oder zum russischen Zaren öffnete. Eine Reise nach Istanbul brachte ihn nicht, wie erhofft, in die Nähe des Sultans. Immerhin kehrte er mit einem Orden dritter Klasse zurück, den er als Erfolg reklamieren konnte. Sein erster großer Erfolg war innerhalb der jüdischen Welt zu verzeichnen. Mit fieberhafter Energie machte er sich an die Organisation des ersten Zionistischen Kongresses. An Hürden sollte es auf dem Weg bis zu seiner Einberufung allerdings nicht fehlen. Waren Wien und Paris die beiden wichtigsten Stationen auf seinem Weg zum Zionismus, so ist München das Synonym für die innerjüdischen Widerstände. Nach ursprünglichen Überlegungen, den Kongreß in Zürich abzuhalten, fiel seine Wahl aufgrund der starken Präsenz russischer Geheimpolizei und damit verbundener Ängste der osteuropäischen Teilnehmer auf die bayerische Hauptstadt. Auch hier zeigte sich wieder der Pragmatiker. Herzl wollte keinen in der jüdischen Geschichte bedeutsamen Ort auswählen und keine große jüdische Gemeinde, sondern einen verkehrstechnisch gut gelegenen Platz. Daß München nun doch nicht Geburtsstätte des politischen Zionismus wurde, lag am Widerstand der örtlichen „Israelitischen Kultusgemeinde“ und des „Allgemeinen Deutschen Rabbinerverbands“. Diese Organisation, die libe39
rale wie auch orthodoxe Vertreter ihres Berufsstands zusammenfaßte, brachte in ihrer Resolution die beiden entscheidenden Argumente, die immer wieder gegen den Zionismus zu hören waren, zu Papier: „Die Bestrebungen sogenannter Zionisten, in Palästina einen jüdischen Staat zu gründen, widersprechen den messianischen Verheissungen des Judenthums, wie sie in der heiligen Schrift und den späteren Religionsquellen erhalten sind“, heißt es zum einen in der Erklärung der von Herzl als „Protestrabbiner“ bezeichneten Gruppe. Auch noch für Teile der heutigen Orthodoxie stellt die Gründung eines jüdischen Staates vor dem erhofften messianischen Zeitalter und durch säkulare Juden ein unüberbrückbares Problem dar. Im zweiten Punkt allerdings wird der eigentliche Kern des Widerstands deutlich: „Das Judenthum verpflichtet seine Bekenner, dem Vaterlande, dem sie angehören, mit aller Hingebung zu dienen und dessen nationale Interessen mit ganzem Herzen und mit allen Kräften zu fördern.“ (A.Yaakov, Die „Protestrabbiner“, in: H.Haumann [Hg.], Der Erste Zionistenkongreß von 1897, 1997, S. 128) Die Rabbiner wollten sich gegen den von Antisemiten immer wieder vorgebrachten Vorwurf der gespaltenen Loyalität wappnen. Nach Jahrzehnten der langsamen Fortschritte, die immer wieder von Widerständen begleitet waren, war mit der Reichsgründung 1871 auch die rechtliche Gleichstellung der Juden Realität geworden. Gegenüber jenen, die sie nun wieder in Frage stellen wollten, galt es, sich als loyale deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens zu beweisen. Basel Als Herzl am 14. Februar 1896, nachdem die ersten 500 Exemplare seines Judenstaats eingetroffen waren, in sein Tagebuch notierte, „Mein Leben nimmt jetzt vielleicht eine Wendung“, hatte er ausnahmsweise einmal eine eher zu vorsichtige und bescheidene Formulierung gewählt. Innerhalb nur weniger Monate wurde er in der gesamten jüdischen Welt als Vertreter eines säkularen jüdischen Nationalismus bekannt. 40
Abb. 1: Die bekannteste Photographie Theodor Herzls wurde von E. M. Lilien auf der Terrasse des Hotels „Drei Könige“ mit Blick auf die Mittlere Rheinbrücke in Basel anläßlich des Zionistischen Kongresses 1903 aufgenommen.
Das brachte ihm nicht nur Ruhm ein, aber immerhin einen Bekanntheitsgrad, der ihm bei der Durchführung des Kongresses zugute kommen sollte. Jedes Detail dieses Kongresses plante und überwachte er selbst. Wie in seinen frühen Tagebucheinträgen über die geplante Massentaufe in der Stephanskirche, so waren auch in Basel Symbole von größter Bedeutung. In letzter Minute änderte er das ursprünglich vorgesehene Tagungslokal, das sich als verrauchter Bierkeller herausstellte, und mietete stattdessen das Stadtkasino. Ein würdiger Ort war die Voraussetzung, um der Welt zu beweisen, daß es sich um eine ernstzunehmende Bewegung handelte. Ebenso wichtig war das äußere Auftreten der Delegierten, wie an Herzls Kleidungsvorschriften erkennbar wird: „Einer meiner ersten Ausführungsgedanken schon vor Monaten war es, dass man im Frack u. weisser Halsbinde zur Er41
Öffnungssitzung kommen müsse. Das bewährte sich ausgezeichnet. Die Feiertagskleider machen die meisten Menschen steif. Aus dieser Steifheit entstand sofort ein gemessener Ton – den sie in hellen Sommer- u. Reisekleidern vielleicht nicht gehabt hätten – u. ich ermangelte nicht, diesen Ton noch ins Feierliche zu steigern. Nordau war am ersten Tag in der Redingote erschienen u. wollte durchaus nicht heimgehen u. den Frack nehmen. Ich zog ihn bei Seite, bat ihn, es mir zu Liebe zu thun ... Nach einer Viertelstunde kam er im Frack wieder.“ (Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. 2., S.539) Wenn Herzl auch nie ein durchschlagender Erfolg am Theater beschert sein sollte, so brachte er das Theater doch mit großem Erfolg in die Politik. Im Gegensatz zum Wiener Burgtheater war er im Baseler Kasino der alleinige Regisseur, der genau wußte, wie er sein Publikum in Bann halten konnte. Die über 200 Anwesenden (darunter etwa 20 Frauen) waren nicht genau das Publikum, das er sich gewünscht hätte: Ganz zu schweigen von den Hirschs und Rothschilds war eigentlich aus den Pariser, Wiener, Berliner und Londoner jüdischen Kreisen von Rang niemand erschienen. Der einzige Teilnehmer mit weitem Bekanntheitsgrad war Max Nordau (1849 bis 1923), einer der meistgelesenen Kulturkritiker um die Jahrhundertwende. Seine Schrift Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit (1883) war in 15 Sprachen, darunter ins Japanische und Chinesische übersetzt worden; sein wohl folgenreichstes literarisches Produkt war Entartung (1892), das nicht nur einen später mißbrauchten Begriff kreierte, sondern eine ganze Literatur inspirierte. Auf dem Baseler Kongreß war es, wie Herzl bemerkte, „meine beständige Sorge, Nordau vergessen zu machen, dass er auf dem Congress der zweite war, worunter sein Selbstwertgefühl sichtlich litt.“ Dennoch hatte er keine Sekunde Zweifel daran, daß nur er selbst die Leitung des Kongresses übernehmen könnte: „Alles ruhte auf meinen Schultern, u. das rede ich mir nicht nur ein, es wurde erwiesen, als ich am dritten Tage Nachmittags vor Müdigkeit abging u. das Präsidium Nordau übertrug. Da ging Alles drunter u. drüber, u. man erzählte mir später, dass es eine wüste Sit42
zung war. Auch bevor ich den Vorsitz übernahm klappte die Sache nicht.“ (Herzl, Briefe und Tagebücher, Bd. 2., S. 540) Herzl hatte damit wohl nicht unrecht. So war auch der unbestrittene Höhepunkt des Kongresses sein eigener Auftritt. Arthur Schnitzler hatte Herzls ungeheure Rednergabe und seine visuelle Ausstrahlungskraft bereits als Student bewundert, als beide Mitglied in der Wiener Akademischen Lesehalle waren. Sieht man Bilder vom ersten Kongreß und liest Augenzeugenberichte, so fällt es schwer zu glauben, daß Herzl zu diesem Zeitpunkt erst 37 Jahre alt war. Mit seinem langen schwarzen Bart wirkte er wie einer jener altassyrischen Könige, die uns auf Bildnissen überliefert sind, und seine Reden erinnerten die mit der Bibel vertrauten Teilnehmer an prophetische Klänge. So berichteten denn auch Teilnehmer, Herzl sei wie ein König gefeiert worden, und er selbst gibt sich in seinem Tagebuch durchaus prophetisch: „Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es Jeder einsehen.“ Er notierte diese Sätze am 3. September 1897. Bis zur Gründung des Staates Israel sollten noch genau fünfzig und ein halbes Jahr vergehen. Odessa Die Abwesenheit der westeuropäischen jüdischen Oberschicht vom bevorstehenden Kongreß meinte Herzl, als er am 23. August 1897 in sein Tagebuch notierte: „Thatsache ist, was ich Jedermann verschweige, daß ich nur eine Armee von Schnorrern habe. Ich stehe nur an der Spitze von Knaben, Bettlern und Schmöcken.“ Nun waren in Basel nicht gerade Bettler versammelt, sondern geschätzte Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten, Schriftsteller und elf Rabbiner aus 20 Ländern von Algerien bis zu den Vereinigten Staaten. 63 Delegierte allein kamen aus Rußland, und Teile der westlichen Delegationen 43
bestanden ebenfalls aus russischen Juden, die in anderen Ländern studierten und arbeiteten. Sie machten damit klar, wo das tatsächliche Schwergewicht der neuen Bewegung lag: nicht westlich, sondern östlich von Wien. Standen mit Herzl, Nordau, David Wolfssohn und Otto Warburg bis zum Ersten Weltkrieg Männer an der Spitze der Zionistischen Organisation, deren Lebensmittelpunkt sich zwischen Wien, Paris, Köln und Berlin bewegte, so schlug das Herz der Bewegung zwischen Odessa und Warschau, Pinsk und Minsk. Nach dem Kongreß sprach Herzl nicht mehr von einer Armee von Schnorrern, sondern konnte voller Bewunderung ausrufen: „Ich musste daran denken, wie man mir in der ersten Zeit oft entgegengehalten hatte: Sie werden nur die russischen Juden für die Sache gewinnen. Wenn man mir das heute wieder sagte, würde ich antworten: Das genügt!“ Odessa war gewiß nicht die wichtigste religiöse Gemeinde in Osteuropa, auch nicht eine der ältesten. Doch wurde es im 19.Jahrhundert zu dem wohl einflußreichsten Zentrum der Haskala, der jüdischen Aufklärung in Osteuropa. Der Einfluß westlicher Kultur machte sich hier stärker bemerkbar als in manchen anderen Städten des Zarenreiches. Im Jahr des ersten Zionistischen Kongresses lebten in Odessa 140000 Juden und machten damit mehr als ein Drittel der lokalen Bevölkerung aus. Odessa war nach Warschau die zweitgrößte jüdische Gemeinde im Zarenreich. Das Wissen um die eigenen Traditionen in Verbindung mit der Urbanität der Gemeinde, dem wirtschaftlichen Aufschwung durch die Industrialisierung und relativ modernen Erziehungssystemen bereitete den Boden für die Entstehung einer neuen intellektuellen jüdischen Schicht, die von der russischen Kultur beeinflußt nach neuen Wegen suchte, um ihre jüdische Identität auszudrükken. Die Pogrome von 1871, 1881 und vor allem 1905, als über 300 Juden ihr Leben verloren, trugen das ihre dazu bei, die gebildete jüdische Schicht nach neuen Alternativen für ihre Zukunft Ausschau halten zu lassen. In Odessa entstand bereits eine zionistische Bewegung, als Theodor Herzl noch versuchte, bei den schlagenden Bur44
schenschaftlern akzeptiert zu werden. Moses Leib Lilienblum (1843-1910) rief von hier aus zur Wiederbelebung Israels im Land seiner Vorväter auf und trug mit seinen Schriften zur Erneuerung der hebräischen Sprache bei. Später sollten solch bekannte hebräisch schreibende Schriftsteller wie Chaim Nachman Bialik und N.H.Rawnicki in Odessa zu Hause sein. In den neunziger Jahren erschienen hier wichtige hebräische Zeitschriften, die ihresgleichen andernorts suchen mußten. Von Odessa aus verkündete, wie oben beschrieben, der Arzt Leon Pinsker in Reaktion auf die Pogrome von 1881 die Auto-Emancipation der Juden. Pinsker war auch maßgeblich beteiligt an dem Versuch, die losen Gruppierungen von Auswanderungswilligen nach Palästina (Chovevei Zion-Zirkel) zu einer politischen Bewegung zusammenzuschließen. Ohne Zweifel wurde Pinsker als erfolgreichem Arzt, modernem Aufklärer und politischem Visionär großer Respekt entgegengebracht. Ihm fehlte jedoch das Charisma, das nötig gewesen wäre, um Vorkämpfer einer politischen Massenbewegung zu werden. Aus dem Intellektuellenkreis in Odessa kam nur eine schillernde Persönlichkeit, die Theodor Herzl das Wasser reichen konnte. Dies war Ascher Ginzberg (1856-1927), besser bekannt unter seinem Pseudonym Achad Ha’am („Einer aus dem Volk“). Er war Zionist, lange bevor Herzl Zion entdeckte. Eigene Führungsansprüche, aber auch tatsächliche grundlegende Meinungsverschiedenheiten über das Wesen des Zionismus ließen es unmöglich erscheinen, daß er sich dem Machtanspruch des in Sachen Zionismus als „Emporkömmling“ angesehenen Herzl unterordnete. So reiste er als Beobachter, nicht jedoch als Delegierter nach Basel. Nach seiner Rückkehr beschrieb er seine dortige Position folgendermaßen: „Auch in Basel... saß ich einsam unter meinen Brüdern, ein Trauernder beim Hochzeitsmahle.“ Seine Skepsis gegenüber Herzls Versuch, auf diplomatischem Wege die Ziele des Zionismus zu erreichen und gegenüber der „trügerischen Hoffnung auf baldige Erlösung“ erhielt während des Kongresses neue Nahrung und weitete sich in den folgenden Jahren zu 45
einem offenen Konflikt zwischen den beiden führenden Vertretern der neuen Bewegung aus. (Achad Haam, Am Scheidewege, Bd. 2, 1916, S.4f.) Die Gegensätze zwischen Herzl und Achad Ha’am lassen sich verkürzt auf folgenden Nenner bringen: Herzl wollte einen Judenstaat, Achad Ha’am einen jüdischen Staat. Beide stimmten überein, daß dies kein religiöser Staat werden sollte, aber während Achad Ha’am eine neubelebte hebräische Kultur als Zentrum der neuen jüdischen Gesellschaft anstrebte, schrieb Herzl: „Kein hebräischer Staat – ein Judenstaat, wo’s keine Schande, ein Jud zu sein.“ (Herzl, Gesammelte Zionistische Werke, Bd. 5, S. 465) Herzl ging es um die Rettung der Juden vor physischer Bedrohung: „Unsere Bewegung ist aus der Not geboren, aus der Not der Juden in der ganzen Welt“, heißt es bei ihm. (Herzl, Gesammelte Zionistische Werke, Bd. 1, S. 188 f.) Wo Herzl die Juden retten wollte, versuchte Achad Ha’am das Judentum zu retten. Für ihn bedeutete Herzls Plan nichts anderes als eine Assimilation auf kollektiver Grundlage. Was, so fragte er immer wieder, ist das Jüdische an Herzls Judenstaat? Statt Herzls Streben nach sofortiger politischer Lösung propagierte er als notwendige Vorstufe ein kulturelles Zentrum in Palästina, von dem aus die Erneuerung jüdischer Kultur in der Diaspora ausgehen werde. Im Gegensatz zu Herzl hielt es Achad Ha’am für praktisch nur durchführbar, daß ein kleiner Teil des jüdischen Volkes sich in Palästina ansiedelte. Alle anderen aber sollten von hier aus neue Inspiration erhalten. Denn für Achad Ha’am lag im möglichen Erfolg der Assimilation und der dadurch bedingten Auflösungstendenzen des Judentums die entscheidende Gefahr. Für Herzl dagegen stellte das Scheitern der Assimilation die größte Enttäuschung dar. Verschiedener hätten auch die Vorgeschichten der beiden großen Männer des frühen Zionismus nicht sein können. Während Herzl einer deutschen Burschenschaft beitrat, gründete Achad Ha’am den Geheimorden Bene Mosche, der die Aufbauarbeit im Lande Israel umsetzen wollte; als Herzl leichte Komödien für die Wiener Bühne verfaßte, schrieb 46
Achad Ha’am kritische Aufsätze für eine neuentstandene hebräische Presse; und zur Zeit als Herzl nach Paris ging, bereiste Achad Ha’am Palästina. Herzl war der Pragmatiker, dessen diplomatische Bemühungen seine Art des Zionismus auch als politischen Zionismus kennzeichneten, während der um ein geistiges Zentrum bemühte Achad Ha’am mit dem Begriff des kulturellen Zionismus identifiziert wurde. Zuvorderst freilich war Achad Ha’am Kritiker, der nicht nur Herzl, sondern bereits die frühesten zionistischen Bestrebungen genauestens unter die Lupe nahm. Seinen ersten publizistischen Ruhm erntete er mit der scharfen Analyse der Fehler der Chibbat-Zion-Bewegung (Zionsfreunde) in seinem Artikel Dies ist nicht der Weg von 1889. Zunächst müsse durch geeignete Erziehung die Grundlage für einen systematischen Aufbau des Landes gelegt werden, forderte er. Alle anderen Bemühungen seien ansonsten Vergeudung. Nach seiner ersten Palästinareise 1891 veröffentlichte er den Aufsatz Wahrheit aus dem Lande Israel, in dem er seine Kritik an den ökonomischen Lebensbedingungen in den bereits gegründeten Siedlungen fortsetzte. Achad Ha’am gehörte auch zu den ersten Zionisten, die vor Spannungen mit der arabischen Bevölkerung warnten. Tel Aviv Die Gegensätze zwischen Achad Ha’am und Herzl traten immer wieder zu Tage, erreichten allerdings ihren Höhepunkt erst nach der Veröffentlichung von Theodor Herzls utopischem Roman Altneuland 1902. Nahum Sokolov, einer der führenden russischen Zionisten, übersetzte den Roman unter dem Titel Tel Aviv (Frühlingshügel) ins Hebräische. In ihm malte sich Herzl eine idealisierte Gesellschaft aus, in der Juden und Araber friedlich miteinander lebten, es kaum politische Konflikte gab, eine Gesellschaft, die das Beste aus allen europäischen Ländern vereinte: englische Internate, französische Opernhäuser und natürlich österreichischen Kaffee und Salzstangerln. Vielleicht symbolträchtiger als irgend eine an47
dere Bemerkung Herzls war sein Vorschlag, die Fahne dieses Staates mit sieben Sternen zu entwerfen: als Zeichen des Sieben-Stunden-Tages. Im Altneuland genossen Frauen völlige Gleichberechtigung, einschließlich des damals in Europa für sie noch unbekannten aktiven und passiven Wahlrechts. Und an den Palmen hingen, auch dies für die Jahrhundertwende eine revolutionäre Neuerung, „elektrische Straßenlampen ... wie große gläserne Früchte“. Daß die einheimische arabische Bevölkerung sich vor diesem politisch und sozial perfekten System nicht verschließen würde, bedurfte in Herzls Vorstellung keiner besonderen Erklärung mehr. Europäische Kultur, soziale Errungenschaften, Koexistenz mit der arabischen Bevölkerung: Wo bleibt die jüdische Religion, mag man sich fragen. In Altneuland gibt Herzl die Antwort: Sie wird auf den Tempelberg verbannt. Der erstaunte Leser erfährt nämlich von Herzls Vision eines wiederaufgebauten Tempels: „Er war wie einst aus Kalkquadern aufgebaut, die aus den nahen Steinbrüchen kamen und an der Luft zu härtestem Gestein sich festigten. Wieder standen die Säulen, aus Erz gegossen vor dem Heiligtum Israels. ... Im Vorhofe stand ein gewaltiger erzener Altar, und auch der weite Wasserbehälter war da, den man das eherne Meer nannte, wie in den alten Zeiten, da Salomo, der König, regierte.“ (Herzl, Altneuland, Gesammelte Zionistische Werke, Bd. 1, S. 373 f.) Was der Altar genau bedeuten sollte, war freilich nicht klar, denn von Tieropfern ist in Altneuland nicht die Rede. Überhaupt entsprach Herzls Vorstellung vom Tempel eher dem in der Wiener Seitenstettengasse denn jenem auf dem Berg Moria, wo der jüdischen Tradition zufolge der salomonische Tempel stand. Die Frauen beteten auf der Empore, und die Tempelplätze wurden je nach Sicht verkauft. Am Freitagabend ertönt das „Lecha Dodi“ („Lechau Daudi“ gesprochen), lediglich statt der Orgelbegleitung erklingt Lautenspiel. Wie vieles andere gehört auch der Tempel ins Reich der Symbole, die Herzl so sehr liebte. Vom Wiener Stephansdom zum Jerusalemer Tempel führt ein zwar langer, aber doch geradliniger Weg, ein Weg, den ein im Judentum verwurzelter Kri48
tiker wie Achad Ha’am nur mit Lächeln und Staunen zur Kenntnis nehmen konnte. „An welcher Stelle ist eigentlich das Beth Hammikdasch [der Tempel] erbaut worden?“ fragt dieser erstaunt, denn den Tempelberg überragt auch in Herzls Vision weiterhin der Felsendom: „Sollte also der ,greise Rabbi Samuel’ ... erlaubt haben, den Tempel anderswo zu erbauen? Doch in Altneuland darf man sich über nichts wundern, hier ist alles ein einziges Wunder ... Hier ... findet man nur mechanisches Nachäffen ohne jegliche nationale Eigenheit.“ (Achad Haam, Am Scheidewege, S. 67, 70) Viel wird heute darüber diskutiert, ob die Wirklichkeit des Staates Israel denn nun mehr Herzls oder Achad Ha’ams Vision entspreche. Dabei gilt in der Regel Achad Ha’am als der liberalere und wirklichkeitsnähere von beiden. Seine realistischere Einschätzung der arabischen Reaktionen und der Einwanderungsmöglichkeiten, vor allem aber seine zurückhaltendere Persönlichkeit und seine Nüchternheit werden immer wieder mit Herzls grandiosen Plänen, ihren bis ins Detail gehenden phantastisch anmutenden Ausschmückungen sowie seiner naiven Hoffnung auf ein Willkommenheißen der Einwanderer durch die einheimische Bevölkerung kontrastiert. Dabei spielt gewiß auch die Tatsache eine Rolle, daß der Westjude Herzl mit dem westlichen Imperialismus und Kolonialismus identifiziert wird, während der Ostjude Achad Ha’am als Teil einer von Pogromen im Osten Europas bedrohten Bevölkerung wahrgenommen wird. Diese Gegenüberstellung beinhaltet zweifellos das berühmte Körnchen Wahrheit, doch wohl auch nicht viel mehr. Liest man heute Herzls Altneuland, so erinnert vieles nicht nur an die phantastische Literatur eines Jules Verne und an die utopischen Visionen eines Bellamy, sondern auch an kosmopolitische Ideen, wie sie um die Jahrhundertwende unter zahlreichen Literaten, weniger unter Politikern, grassierten. Der ungarische Jude Herzl, der sich in Österreich ebenso zu Hause fühlte wie in Frankreich, konnte wohl gar nicht anders als ein in Altneuland ausgeführtes kosmopolitisches nationales Konzept zu entwickeln, das sich von anderen Nationalismen grund49
legend unterschied. Dies mag Achad Ha’am mißfallen haben, doch war es für eine Reihe führender früher Zionisten repräsentativ. Die frühen Zionisten bewegten sich unablässig von einem Land Europas zum anderen, sprachen und schrieben in mehreren Sprachen und erhielten die Inspirationen für eine zukünftige jüdische Gesellschaft aus den unterschiedlichsten europäischen Modellen. Viele Lebensläufe können das illustrieren. Der zweite Mann hinter Herzl, der seinen Namen von „Südfeld“ zu „Nord-au“ änderte, stammte aus Budapest, lebte in Paris und verfaßte deutsche Bücher. Er fühlte sich ebenso in zahlreichen europäischen Gesellschaften zu Hause wie die führenden Vertreter des osteuropäischen Zionismus, Chaim Weizmann (1874-1952), Nachum Sokolov (1861-1937) und Leo Motzkin (1867-1933). Weizmann, der in Deutschland und der Schweiz studiert hatte, ließ sich in England nieder, wo er während des Ersten Weltkriegs als Chemiker für seine Wahlheimat kriegswichtige Erkenntnisse erzielte. Der in Polen geborene Sokolov sprach und schrieb fließend Jiddisch, Hebräisch, Polnisch, Englisch, Deutsch und Französisch. Er gab die zionistische Zeitschrift Die Welt in Köln heraus, zog dann nach Berlin um und ließ sich schließlich in England nieder. Der aus der Ukraine stammende Motzkin studierte in Berlin, leitete während des Ersten Weltkriegs das zionistische Büro in Kopenhagen und war nach Kriegsende in den Delegationen bei den Friedensverhandlungen in Paris aktiv. Ausgerechnet der Begründer des nationalistischen Flügels der zionistischen Bewegung, Vladimir Jabotinsky (1880 bis 1940), hatte den kosmopolitischsten Hintergrund. In Odessas internationaler Atmosphäre aufgewachsen, studierte er Jura in Bern und Rom und wurde nach einer kurzzeitigen Rückkehr nach Odessa Herausgeber verschiedener zionistischer Veröffentlichungen in Istanbul. Während des Ersten Weltkriegs organisierte er die Jüdische Legion in England. Er übersetzte Edgar Allan Poe und Dante ebenso wie Gedichtsammlungen aus dem Französischen, Italienischen und Englischen ins Hebräische. Das Theater von Odessa spielte zwei seiner 50
russischen Dramen. Später sollte er dann Chaim Nachman Bialiks hebräische Dichtung ins Russische übersetzen. Der frühe Zionismus war eine nationale Bewegung mit kosmopolitischem Hintergrund. Die Biographien seiner führenden Figuren und der ständige Wechsel seiner Zentren von Wien über Köln und Berlin nach Kopenhagen und schließlich London sind dafür ebenso repräsentativ wie Herzls utopischer Roman Altneuland. Es ist sicherlich kein Zufall, daß derjenige israelische Politiker am Ende des 20. Jahrhunderts, der eine Internationalisierung des „Neuen Nahen Ostens“ propagiert, auf Theodor Herzls und nicht Achad Ha’ams Spuren wandelt. In seiner 1998 veröffentlichten Reise mit Theodor Herzl zeichnet Schimon Peres nach, was hundert Jahre nach Altneuland aus Herzls Traum geworden ist. Dabei muß er zugestehen, daß Herzls Vision auch heute mehr nach einer gesellschaftlichen Utopie als nach einer Zustandsbeschreibung klingt.
3. Von der Vision zur Realität: Die jüdische Einwanderung nach Palästina Herzl mag in Basel den Judenstaat gegründet haben – den Zionismus hat er gewiß nicht erfunden. Als er den Kongreß einberief, existierten in Palästina bereits 19 jüdische Siedlungen. Vor seiner eigenen Haustür, in Wien, war der Begriff „Zionismus“ zum ersten Mal öffentlich 1890 von dem Schriftsteller Nathan Birnbaum (1855-1920) gebraucht worden, der 1885 eine Zeitschrift mit dem Titel Selbstwehr ins Leben gerufen hatte. Bereits drei Jahre vor Gründung der Zeitschrift war Birnbaum mit der ersten national-jüdischen Studentenverbindung „Kadimah“ in Erscheinung getreten. Ebenfalls in Wien gab der Publizist Peretz Smolenskin die bedeutende hebräische Zeitschrift Ha-Schachar (Die Morgenröte) heraus. Doch wiesen die Spuren in beiden Fällen auf osteuropäische Ursprünge. Smolenskin stammte aus Odessa, und Birnbaums Zeitschrift war durch Leon Pinskers Aufruf Auto-Emanci51
pation inspiriert worden. In der „Kadimah“ wie in anderen nationaljüdischen Studentenverbindungen waren vor allem osteuropäische Studenten aktiv. Der „Alte Jischuw“ Die in Folge der Ermordung des Zaren Alexander II. 1881 einsetzende Massenauswanderung von Juden aus dem Zarenreich führte zur Verlegung des zahlenmäßigen Schwerpunkts jüdischen Lebens von einem Kontinent in einen anderen innerhalb von weniger als einem halben Jahrhundert. Allerdings begab sich die große Mehrzahl der Auswanderer nicht über das Mittelmeer in den Nahen Osten, sondern über den Atlantik nach Amerika. Ein Strom von etwa zweieinhalb Millionen osteuropäischer Juden baute die Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg zur größten jüdischen Gemeinschaft auf. Dagegen nahm sich die Zahl von etwa 70 000 jüdischen Einwanderern, die im gleichen Zeitraum von Osteuropa nach Palästina aufbrachen, wie ein dünnes Rinnsal aus. Hinzu kam, daß nicht wenige von ihnen ihre neue Heimat wieder verließen, da sie mit den widrigen Lebensbedingungen, der schwierigen Wirtschaftslage, dem ungewohnten Klima und den daraus entstehenden gesundheitlichen Problemen nicht zurecht kamen. Amerika, die „Goldene Medine“, bot vielversprechende Chancen eines Neuanfangs für den einzelnen in einer von Einwanderern geprägten Gesellschaft; Palästina bedeutete dagegen, den individuellen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg der Idee eines neuartigen Kollektivs zu opfern. Auch wenn die Einwanderung nach Palästina zahlenmäßig hinter derjenigen nach Amerika deutlich zurückstand, war die damit einhergehende Veränderung der jüdischen Welt letztlich von noch größerer Bedeutung. Auch in Palästina selbst brachte die Einwanderung eine spürbare Veränderung des Charakters der jüdischen Bevölkerung mit sich. Über Jahrhunderte war eine kleine jüdische Bevölkerung, der sogenannte „Alte Jischuw“, in Palästina ansässig gewesen und hatte sich auf die vier Städte Jerusalem, 52
Hebron, Tiberias und Zefat (Safed) konzentriert. Sie lebte vor allem von dem in der jüdischen Diaspora für sie gesammelten Geld, der Chalukka. Da die Lebensbedingungen in Palästina alles andere als bequem waren, die Ansiedlung im Heiligen Land aber als religiöses Gebot galt, war die Leistung der Chalukka für die Brüder und Schwestern in Eretz Israel eine Selbstverständlichkeit. Die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einsetzende Einwanderung dagegen verurteilte das System der Chalukka als Propagierung eines unproduktiven Lebensstils. Zur geforderten Normalisierung jüdischen Lebens gehörten die Umwandlung der Berufsstruktur vom Händler zum Bauern und die Rückkehr von der Stadt auf die „Scholle“. Solche sozialromantischen Vorstellungen waren in Ost- wie in Westeuropa anzutreffen und keineswegs auf die Zionisten beschränkt. Die erste Phase der landwirtschaftlichen Ansiedlungen in Palästina begann 1870 mit der Gründung der landwirtschaftlichen Schule „Mikwe Israel“ südöstlich von Jaffa. Weitere Siedlungsgründungen, finanziell gesichert durch die Initiativen der Rothschilds und des Barons Maurice de Hirsch, sollten folgen. Sie wurden von Paris aus durch Institutionen wie die „Alliance Israelite Universelle“ oder die „Jewish Colonization Association“ geleitet und erfüllten ähnliche Aufgaben wie Projekte in Nord- und Südamerika. Von Herzls politischen Plänen eines Judenstaates wollten ihre Initiatoren nichts wissen. So beginnt in der Geschichtsschreibung des Zionismus erst mit dem „Neuen Jischuw“, der von den Mitgliedern der Vereine für Zionsliebe in Osteuropa initiierten Auswanderung, ein wirklich neues Kapitel in der Besiedlung des Landes. Die als „Erste Alija“ (wörtlich: Aufstieg) bezeichnete Einwanderungsbewegung zwischen 1881 und 1904 (mit Schwerpunkten zwischen 1882-1884 und 1890/91) gilt dabei im großen und ganzen als Fehlschlag, während die wirklichen Grundlagen der jüdischen Gesellschaft Palästinas im Rahmen der ideologisch wesentlich gefestigteren Zweiten Alija (1905-1914) gelegt wurden. 53
Wie bei vielen historischen Vereinfachungen wird man bei genauerer Betrachtung auch hier differenzieren müssen: Der Alte Jischuw, der sich 1870 aus etwa 25 000 Menschen zusammensetzte, war zu einem großen Teil gar nicht so alt, sondern bestand aus vielen erst Mitte des 19. Jahrhunderts zugewanderten Juden, die aus Europa, aber auch aus dem Jemen und anderen Teilen der arabischen Welt gekommen waren. Die Einwanderer der Ersten Alija nach 1881 hatten zwar gewiß keine landwirtschaftliche Erfahrung und waren, wie der Alte Jischuw, noch stark auf die Unterstützung aus der Diaspora angewiesen, doch war es die Mehrheit der 40 000 Einwanderer der vielgepriesenen Zweiten Alija, die das Land bis zum Ende des Ersten Weltkriegs wieder verließ. Am Anfang des 19.Jahrhunderts lebten höchstens 10 000 Juden in Palästina, das nach unterschiedlichen Schätzungen eine Gesamteinwohnerzahl zwischen 150 000 und 300 000 aufwies. Die größte jüdische Gemeinde bestand mit 4000 in Zefat im Norden des Landes, wo sie auch eine Mehrheit der örtlichen Bevölkerung bildete. Im Laufe des Jahrhunderts wurde Jerusalem rasch zum Zentrum der jüdischen Einwanderung. Vor Beginn der Ersten Alija 1880 bildeten die etwa 17 000 Juden (im Jahre 1840 waren es noch etwa 5000) erstmals seit langem wieder eine Bevölkerungsmehrheit. Kleinere Gemeinden hatten sich auch in Haifa und Jaffa gebildet. Die meisten dieser Einwanderer waren aus traditionell-religiösen Motiven auf die heilige Erde umgesiedelt. Mit den später von den Zionisten propagierten Zielen hatten sie wenig im Sinn. Eine Statistik aus dem Jahr 1877 belegt, daß etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Jerusalems Rabbiner, Lehrer und andere Gemeindebedienstete und ein weiteres Fünftel von Almosen abhängig war. Eretz Israel mag in der jüdischen Vorstellung immer ein zusammenhängendes Land gewesen sein, unter osmanischer Herrschaft bildete es jedoch keine politische Einheit. Judäa, der Küstenstreifen von Jaffa nach Süden und der nördliche Negev gehörten zum Sanjak von Jerusalem, Samaria bildete den Sanjak von Nablus, und Galiläa machte den Sanjak von Acco aus. Alle waren bis 1874 Teil der Pro54
vinz von Beirut, als Jerusalem hiervon abgetrennt wurde und ihm ein halbautonomer Status gewährt wurde. Das Land östlich des Jordans gehörte zur Provinz von Damaskus. Die beiden Einwanderungswellen vor dem Ersten Weltkrieg Das für die weitere Entwicklung Palästinas entscheidende Jahr war 1881, in dem antijüdische Pogrome einsetzten, welche die größte damals bestehende jüdische Gemeinschaft in ihrer Existenz bedrohten und nach einer sofortigen und radikalen Lösung verlangten. Auswanderergesellschaften gründeten sich in zahlreichen Gemeinden. Eine Art Gründermythos bei der modernen jüdischen Besiedlung Palästinas bildete sich um eine vor allem aus Universitätsstudenten bestehende Auswanderergruppe in der ukrainischen Stadt Charkov, die sich den Namen „BILU“ gab, abgeleitet von den hebräischen Anfangsbuchstaben des Bibelverses Jesaja 2,5: Beit Ja’akov lechu venelcha („Haus Jakobs, macht Euch auf und geht“). Ursprünglich hatten diese Biluim große Erwartungen und sprachen gar davon, 3000 ihrer Anhänger innerhalb eines halben Jahres nach Palästina zu bringen. Tatsächlich schlossen sich ihnen einige hundert Sympathisanten an, doch gelang es ihnen nicht, finanzielle Unterstützung aus den Kreisen des jüdischen Bürgertums zu erhalten. So machten sich schließlich 16 von ihnen im Frühjahr 1882 ohne finanzielle Ressourcen, angemessene Ausrüstung und vor allem bar jeder Vorstellungen, was sie am Ende ihrer Reise erwarten sollte, nach Istanbul auf. 13 junge Männer und eine Frau traten am 30. Juni 1882 die Weiterreise übers Mittelmeer an und gingen nach kurzem Aufenthalt in Zypern in Jaffa von Bord. Weitere 40 bis 50 Biluim folgten ihnen nach, doch führten die extrem harten Bedingungen des Bodenbaus, Krankheiten und innere Streitigkeiten um den richtigen Weg zum Aufbau des Landes dazu, daß 1884 zwei Drittel von ihnen Palästina wieder verlassen hatten. Häufig wird nur auf die russische Einwanderung seit den 1880er Jahren verwiesen und dabei übersehen, daß ein weite55
rer entscheidender Zufluß aus dem benachbarten Rumänien kam. Hier war die rechtliche Lage der Juden besonders prekär, galt es doch nach dem rumänischen Recht als unvereinbar, Jude und zugleich rumänischer Staatsangehöriger zu sein. So lebte die damals mit einer Viertel Million Menschen viertgrößte jüdische Gemeinschaft Europas als „Staatenlose“ in ihrer Heimat. Die antijüdische Politik Rumäniens sollte sich auch nach dem erheblichen diplomatischen Druck, den die Westmächte auf dem Berliner Kongreß 1878 ausübten und der in schriftlich niedergelegten Konditionen resultierte, nicht verbessern. Im Gegenteil, mit der Anerkennung der vollständigen staatlichen Souveränität erreichte die Diskriminierung der Juden in Rumänien eine neue Dimension. Die Hoffnung der rumänischen Juden, internationale Garantien in die Praxis umsetzen zu können, war damit geschwunden. Folglich setzte eine Massenauswanderung ein, die zwischen 1881 und 1910 jeden fünften rumänischen Juden in die USA führte. Wie aus dem Zarenreich, so ging auch aus Rumänien ein kleiner Teil der Auswanderer nach Palästina. Rumänische Juden begründeten Samarin (später: Sichron Ja’akov), etwa 25 Kilometer südlich von Haifa, eine der ersten landwirtschaftlichen Siedlungen. Die in Osteuropa entstandene „Chibbat-Zion-Bewegung“ („Bewegung der Zionsliebe“) hatte es nicht geschafft, eine wirksame Organisationsform aufzubauen. Zwar entstanden zwischen 1882 und 1890 über 130 Chibbat-Zion-Vereine im Zarenreich, die 1884 sogar eine internationale Konferenz im preußischen Kattowitz (wo man unbewacht von der russischen Geheimpolizei war) durchführten, doch zu einer wirksamen Organisationsform fanden sie nicht. Ebensowenig gelang ihren Mitgliedern der systematische Aufbau einer von ihnen geforderten neuen Gesellschaft in Palästina. Im Zeitraum der Ersten Alija wurden doppelt so viele jüdische landwirtschaftliche Kolonien von Baron Hirschs „Jewish Colonization Association“ in Argentinien gegründet als von den Zionisten in Palästina. Zudem beschäftigten diese Kolonien zu einem großen Teil noch arabische Landarbeiter. Wie der Alte Jischuw war auch ein großer Teil der Ersten Alija auf die 56
finanzielle und administrative Unterstützung der von Europa gesteuerten Institutionen wie der „Alliance Israelite Universelle“ und der „Jewish Colonization Association“ angewiesen. So stellte die Erste Alija eine Auswanderungswelle dar, die weniger die organisatorische oder gar politische Grundlage für die zukünftige Siedlung in Palästina schuf als einen symbolischen Beginn im Aufbau landwirtschaftlicher Kooperativen, im Gebrauch der hebräischen Sprache und vor allem in der Selbstbetrachtung als Teil eines nationalen Aufbruchs. Die Jahre 1904/05 bedeuteten einen zweiten Einschnitt für die Auswanderung nach Palästina. Mit dem Tod Theodor Herzls 1904 und der Wahl seines Nachfolgers David Wolffsohn setzte an der Spitze der zionistischen Bewegung ein Wandel vom politischen zum praktischen Zionismus ein. Während Herzl der Meinung war, daß eine jüdische Massenansiedlung erst nach einer erfolgreichen diplomatischen Mission sinnvoll sei, versuchten die praktischen Zionisten, durch die rasche Ansiedlung und durch Landkäufe Tatsachen vor Ort zu schaffen. Eine wohl noch gewichtigere Wende markierte die gescheiterte russische Revolution von 1905, die vielen jüdischen Sozialisten die Aussichtslosigkeit des Kampfes in Rußland vor Augen führte und sie für die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft in einem eigenen Land begeistern ließ. In den Jahren zwischen 1904 und 1914 wanderten etwa 850 000 Juden aus Osteuropa nach Nordamerika aus. Im gleichen Zeitraum wuchs die jüdische Bevölkerung Palästinas von 50 000 auf gerade einmal 80 000 an. Trotz dieser recht bescheidenen Einwanderung wurden im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg sowohl personell wie auch ideologisch die Weichen für die zukünftige Entwicklung der jüdischen Bevölkerung Palästinas gestellt. Die spätere Führung der zionistischen Arbeiterbewegung, die in den zwanziger und dreißiger Jahren die jüdische Politik in Palästina dominierte und danach die politische Elite des jungen Staates Israel stellte, wanderte größtenteils in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein und war ähnlich sozialisiert. Dies galt für die ersten Ministerpräsidenten David Ben-Gurion (1886-1973) und Levi Eschkol 57
(1895-1969) ebenso wie für die späteren Staatspräsidenten Jitzchak Ben-Zvi (1884-1963) und Salman Schasar (18891974) sowie für zahlreiche andere Teile des sozialistischen Establishments wie Berl Katznelson (1877-1944) und Jitzchak Tabenkin (1887-1971). Sie waren zumeist in den achtziger Jahren geboren, kamen größtenteils aus kleineren Städtchen der Ukraine oder Weißrußlands, zeichneten sich durch ihr kulturelles Engagement als Journalisten, Historiker oder Schriftsteller aus und betätigten sich nach ihrer Einwanderung in Palästina zunächst als Landarbeiter. Obwohl sie von den sozialistischen Traditionen in Rußland geprägt waren und sie ganz klar einem sozialistischen Zionismus anhingen, entwickelten sie ein Demokratieverständnis, das andere Richtungen tolerierte und ein offenes Parteiensystem befürwortete. Diese Gruppe verstand sich nicht nur als Elite innerhalb der Gesellschaft Palästinas, sondern auch innerhalb der Zweiten Alija selbst. David Ben-Gurion mag übertrieben haben, wenn er sagte, nur 10 Prozent der Männer und Frauen der Zweiten Alija seien in Palästina geblieben. Es scheint aber durchaus richtig, daß eine Mehrheit das Land wieder verließ, um nach Amerika weiterzuwandern oder nach Europa zurückzukehren. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Zahlreiche Reisebeschreibungen und Tagebücher der Einwanderer geben Kunde über die äußerst schwierigen Lebensbedingungen einer den europäischen Standard gewohnten Bevölkerungsgruppe. Repräsentativ hierfür sind die Aufzeichnungen von Arthur Ruppin, der 1907 als Leiter des Palästina-Amts der Zionistischen Organisation nach Jaffa ging und während der nächsten drei Jahrzehnte entscheidenden Anteil am Aufbau der jüdischen Gesellschaft Palästinas hatte. Als Ruppin wegen Typhus in ein Jerusalemer Krankenhaus mußte, war dies, wie er später notierte „die Parodie eines Hospitals, keine Wasserleitung, ganz ungenügender Vorrat an Wäsche und Geschirr, keine ausgebildeten Krankenpfleger“. Das Krankenhaus erhielt einmal im Jahr ein paar tausend Francs von der Familie Rothschild, damit hielt es „im Sommer so lange wie möglich offen, gewöhnlich 3-4 Monate. Dann wurde es wieder ge58
schlossen“. Verkehrswege gab es so gut wie keine außer den Eisenbahnstrecken Jaffa-Jerusalem und Haifa-Zemach. Die Landstraßen waren in erbärmlichem Zustand, und die Reise mit dem Wagen von Jaffa nach Haifa dauerte anderthalb Tage. Im einzigen Hotel auf dem Wege warteten, so Ruppin, „die Flöhe und Wanzen auf die unglücklichen Reisenden“. Ruppin wanderte gewiß nicht aus Verzweiflung aus. Er hatte als junger Gerichtsassessor, frischgebackener Doktor der Nationalökonomie und Träger des renommierten Heckel-Preises in Deutschland eine vielversprechende Karriere vor sich, bevor er sich zum Weggang entschloß. In seinem Tagebuch beschrieb er seine Übersiedlung mit folgenden Worten: „Entweder weist sie [die Übersiedlung] mir in Palästina ein passendes Arbeitsfeld nach, dann wird meine Lebensaufgabe die Schaffung eines autonomen jüdischen Gemeinwesens in Palästina sein, oder ich gewinne die Überzeugung von der Undurchführbarkeit dieser Idee, dann werde ich als Rechtsanwalt in Berlin oder Umgebung ... ein für mich nicht freudloses, am letzten Ende aber verfehltes Leben beschließen.“ (Arthur Ruppin, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, 1985, S. 144, 164, 158) Ruppin war kein zionistischer Ideologe, sondern ein Pragmatiker. Unter seiner Führung entstand in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg die Infrastruktur, die das Land bis zu den Veränderungen der zumeist bürgerlichen Dritten Alija aus dem Polen der Zwischenkriegszeit prägen sollte. Institutionen wie die „Palestine Commission“, die „Anglo-Palestine Bank“, die „Palestine Land Development Company“ und vor allem der „Jewish National Fund“ (JNF) hatten vor allem ein Ziel: den Ankauf möglichst großer Teile des Bodens Palästinas für die jüdische Bevölkerung. Neue Lebensformen: Landarbeit und hebräische Sprache In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden auch die beiden wichtigsten Grundsteine für die spätere jüdische Gesellschaft Palästinas gelegt: der Kibbuz als kollektive Lebens59
form auf lokaler Basis und die Gründung der ersten großangelegten jüdischen Stadt, Tel Aviv, im Jahre 1909. Der erste Kibbuz (wörtlich: Sammlung), damals noch „Kvutzah“ genannt, wurde 1910 in Degania gegründet, als zehn Männer und zwei Frauen ihr Wirtschaftsideal einer Kollektivgemeinschaft am Rande des Sees Genezareth verwirklichten. Ohne Aufsicht und Administration von außen verwalteten die Kibbuzmitglieder ihre eigenen Angelegenheiten autonom. Die ersten Kibbuzim waren als kleine Einheiten von 20 bis 50 Mitgliedern angelegt, die mit traditionellen bürgerlichen Lebensformen brechen wollten. Hierzu gehörten nicht nur die Absage an Privatbesitz, kapitalistische Erwerbsformen und städtischen Lebensstil, sondern auch an die Strukturen der Kleinfamilie. Sollten Kinder bei ihren Eltern oder in einem kollektiven Kinderhaus im Kibbuz aufwachsen? Konnten Frauen der gleichen landwirtschaftlichen Beschäftigung nachgehen wie die Männer, und waren sie in der Verwaltung gleichberechtigt? Mußte der Kibbuz autark sein und für die Befriedigung aller Grundbedürfnisse selbst sorgen? Dies waren einige der Fragen, die die Kibbuzbewegung in ihren Anfängen prägen und auch spalten sollten. Da sich nicht immer einheitliche Antworten finden ließen, kam es bald zur Herausbildung mehrerer Strömungen unter den sich vor allem nach dem Ersten Weltkrieg vermehrenden Kibbuzim. In den dreißiger Jahren waren die größten von ihnen, wie Yagur und Givat Brenner, auf mehrere hundert Mitglieder angewachsen, und 1941 war zum ersten Mal die Schallmauer von über 1000 Mitgliedern in einem Kibbuz durchbrochen. Die über 25 000 Mitglieder der Kibbuzim bildeten bis dahin etwa 5 Prozent der jüdischen Gesamtbevölkerung Palästinas. Das Ideal der Arbeit und der Verbundenheit mit dem Boden stand im Zentrum der Ideologie der Zweiten Alija. Am markantesten formuliert wurde sie von Aron David Gordon (1856-1922), der 1905 nach Palästina gekommen war und sich selbst als Landarbeiter betätigte. Scharfe Kritik übte er an der häufigen Praxis, auf den landwirtschaftlichen Kolonien arabische Arbeiter einzustellen. So werde nur die Lebensweise 60
des Exils in der Heimat fortgeführt. Die notwendige Regeneration der Juden aber könne nur durch ihrer eigenen Hände Arbeit geschehen: „Nur ein Weg, wirkliche Arbeit der Hände, Freilegen all unserer nationalen Kraft, seelische Hingabe an unsere Idee und unsere Arbeit und, wo es nötig ist, für unsere Idee und unsere Arbeit – nur dieser Weg führt uns zur Wiedergeburt ... Ein Volk, das ganz von der Natur losgerissen ist, das jahrtausendelang in Mauern eingesperrt war; ein Volk, das an alle Arten des Lebens gewöhnt war, nur nicht an eine natürliche, an ein Leben der Arbeit aus sich heraus und für sich, – kann nicht ohne Anspannung seiner ganzen Willenskraft wieder ein lebendiges, natürliches, arbeitendes Volk werden. Uns fehlt das Wesentliche: die Arbeit, – nicht die aus Zwang, sondern die, mit der sich der Mensch organisch und natürlich verbunden fühlt und durch die das Volk mit seiner in Boden und Arbeit wurzelnden Kultur verwachsen ist.“ (A.D.Gordon, Erlösung durch Arbeit, 1929, S. 56, 65) Neben der Heiligung der Arbeit galt für diese Generation von Einwanderern vor allem das Ideal der Wiederbelebung der hebräischen Sprache. Das Hebräische war zwar als Gebetssprache nie in Vergessenheit geraten, wurde aber seit vielen Jahrhunderten nicht mehr als Umgangssprache verwendet. Die Wiederbelebung des Hebräischen, wie sie vor allem von dem russischen Zionisten Elieser Ben-Jehuda (1858-1922) mit der Erarbeitung eines neuen Wörterbuchs in die Tat umgesetzt wurde, nahm zunächst auch unfreiwillig komische Züge an. Bereits in Ben-Yehudas eigener Biographie lassen diese sich erkennen, wenn er etwa darauf besteht, daß seine Familie nach der Immigration nach Palästina am Ausgang des 19. Jahrhunderts nur Hebräisch spricht und dadurch der kleine Sohn bis zum Alter von fünf Jahren völlig verstummt und wenige Jahre später den Vater brüskiert, als dieser ihm stolz eine eigene hebräische Übersetzung des „Grafen von Monte Christo“ überreicht: „Dankeschön, Papa, ich habe es bereits auf Französisch gelesen.“ Da auch Elieser Ben-Jehuda am Ende des 19.Jahrhunderts noch die wichtigsten Grundbegriffe der modernen Sprache fehlten, war das im Haus gesprochene 61
Hebräisch recht erbärmlich. Bat er seine Frau, die ohnehin wenig Hebräisch verstand, ihm eine Tasse Kaffee aufzugießen, so fehlten ihm die Wörter für Tasse, Untertasse, Löffel und aufgießen. Mit Zuhilfenahme von Gesten und Zeichen klang dies, wie sich sein Sohn Itamar Ben-Avi später erinnern sollte, dann folgendermaßen: „Nimm das und tu das und bring mir das, und ich werde trinken.“ (B.Harshav, Hebräisch. Sprache in Zeiten der Revolution, 1995, S. 170f.) Hebräisch zu sprechen, schien für die Zionisten westeuropäischer Prägung Utopie zu bleiben. Theodor Herzl sollte die Sprache nie meistern, und der populärste deutsche Zionist, Martin Buber, wehrte sich selbst bei seinem Auftritt vor dem Hebräischen Kulturkongreß 1909, auf Hebräisch zu reden. In hebräischer Sprache schrieben dagegen jene jüdischen Schriftsteller Osteuropas, die wie Micha Josef Berdichevsky (1865-1921), Schaul Tschernichowsky (1875-1943) und Josef Chaim Brenner (1881-1921) in Anklang an Nietzsche eine Umwertung aller jüdischen Werte forderten. Einen neuen jüdischen Menschen, der mit dem Exiljudentum der letzten Jahrhunderte nichts zu tun hatte, wollten sie schaffen. Während der Zweiten Alija waren Brenner, A. D. Gordon, Schmuel Josef Agnon (1884-1970), der danach allerdings für über ein Jahrzehnt nach Deutschland gehen sollte, und andere bedeutende Hebräisch schreibende Schriftsteller Osteuropas nach Palästina gekommen. Die rasante Entwicklung der Hebraisierung des Jischuw, der jüdischen Bevölkerung Palästinas, gab für einen Idealisten wie A.D.Gordon mehr Anlaß zur Freude als die langsamer vor sich gehende „Eroberung der Arbeit“. So konnte er in einem Brief an Josef Chaim Brenner aus dem Jahre 1913 resümieren: „Man muß nur dreißig Jahre zurückgehen und von dort aus das Werden der hebräischen Sprache in Erez Israel überblicken, um über diese gewaltige Erscheinung zu staunen. Hebräische Schulen im vollen Sinne des Wortes, ein wirkliches hebräisches Gymnasium ..., zahlreiche Familien, die Hebräisch sprechen, hebräische Umgangssprache auf der Straße, im Laden usw., hebräische Versammlungen, Vorlesungen, Theateraufführungen, Erlernung der Umgangssprache vom 62
bloßen Reden her als alltäglicher Vorgang, fast allgemeines Verständnis der Sprache – kurz, ein Jude, der von den hier gesprochenen Sprachen keine andere kennt als Hebräisch, kann fast ohne Schwierigkeit seine sprachlichen Bedürfnisse durch das Hebräische befriedigen. Wer hätte vor dreißig Jahren daran geglaubt? Wer hätte es gewagt, allen Ernstes davon zu träumen?“ (Gordon, Erlösung durch Arbeit, 1929, S. 83) Freilich war die Durchsetzung des Hebräischen als offizieller Sprache in den modernen jüdischen Lehreinrichtungen nicht unumstritten. Nachdem die ersten akademischen Einrichtungen in Palästina mit dem 1904 gegründeten Lehrerseminar in Jerusalem, mit dem ein Jahr darauf eröffneten ersten hebräischsprachigen jüdischen Gymnasium in Jaffa und der Gründung der Bezalel-Kunstakademie in Jerusalem entstanden waren, brach im Jahre 1912 ein heftiger Sprachenstreit aus, als der Hilfsverein der deutschen Juden die Technische Hochschule in Haifa unter der Auflage ins Leben rief, daß auf Deutsch gelehrt würde. Als sich die Lehrer an den Schulen des Hilfsvereins gegen dessen Sprachenpolitik auflehnten, kam es zur Gründung eines eigenen hebräischsprachigen Schulsystems, das vor dem Ersten Weltkrieg über 3000 Schüler zählte. Auch nachdem sich das Hebräische als offizielle Sprache unter der jüdischen Bevölkerung Palästinas durchgesetzt hatte, bedeutete dies nicht, daß man kein Jiddisch oder Russisch auf den Straßen hörte. Und Arthur Ruppin, der Leiter des Palästina-Amts, bekannte noch 30 Jahre nach seiner Einwanderung, wie dürftig seine Hebräischkenntnisse waren – und blieben, obwohl er bei keinem geringeren als dem späteren Literaturnobelpreisträger S.J. Agnon Privatunterricht nahm. Wenn er zu Anfang seiner Amtszeit landwirtschaftliche Siedlungen besuchte, hielt er seine Ansprachen in deutscher Sprache. Selbst als er später hebräische Reden hielt, war seine Herkunft nicht zu überhören, wie er anläßlich einer von ihm gehaltenen Rede, als gerade ein preußischer Regierungspräsident anwesend war, der kein Wort Hebräisch verstand, berichtete: „Aber als ich hebräisch zu reden begann, wurde er unruhig und erstaunt. Schließlich konnte er es nicht länger 63
aushalten, wandte sich an seinen Nachbarn Dr. Hantke und sagte: ,Na, was ist denn das? Das verstehe ich ja beinahe! Der Mann muß doch aus Magdeburg sein!’ Er hatte als Magdeburger den Magdeburgischen Dialekt aus meinem Hebräisch herausgehört.“ (Ruppin, Briefe, S. 168f.) Lautstarke Proteste hagelte es unter Professoren und Studenten der „Verteidigungstruppe der Sprache“, als der angesehene Zionist Martin Buber bei einem Besuch an der neugegründeten Hebräischen Universität im Mai 1927 seinen Vortrag auf Deutsch ankündigte. Buber freilich ließ sich davon nicht abbringen: Sein Hebräisch sei einfach zu schlecht für einen öffentlichen Vortrag. Militanter und erfolgreicher kämpfte die „Verteidigungstruppe“ wenige Jahre später gegen die geplante Einrichtung eines Lehrstuhls für Jiddische Sprache an der Hebräischen Universität. Erst lange nach Gründung des Staates Israel sollte ein solcher Lehrstuhl in Jerusalem möglich werden. Auch dann erachtete man in Israel das Jiddische zumeist noch als Verkörperung des Ghettos und des Exils, mehr als „Jargon“ denn als Sprache, doch als Konkurrenz oder gar Bedrohung der hebräischen Sprache konnte es nach der weitgehenden Vernichtung des osteuropäischen Judentums nicht mehr angesehen werden. Auf dem Weg zu einer bürgerlichen Gesellschaft Wenn die Zweite Ali ja bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs die spätere politische Elite nach Palästina gebracht hatte und die ideologischen Grundlagen für die Gesellschaft der Zwischenkriegszeit gelegt hatte, so war erst durch die Einwanderung nach Kriegsende die zahlenmäßige Basis für die Entwicklung zur Eigenstaatlichkeit gelegt worden. Unter den veränderten Bedingungen eines nun britisch verwalteten Palästinas und nachdem sich die Lebensbedingungen in der jüdischen Diaspora in Osteuropa nach den wüsten Pogromen in der Ukraine 1919/20 sowie in Westeuropa nach dem Aufstieg des politischen Antisemitismus dramatisch verschlechtert hatten, stieg die Zahl der jüdischen Einwanderer deutlich an. 64
Die etwa 35 000 Einwanderer der Dritten Alija (19191923) waren noch durch die Arbeiterbewegung stark ideologisch geprägt. Viele von ihnen waren unter dem Einfluß der „Hechaluz-Bewegung“ („Pionier-Bewegung“) bereits in Europa landwirtschaftlich vorbereitet worden und verstärkten das Kibbuz-System in Palästina. Die Vierte Alija ab Mitte der zwanziger Jahre stand dagegen unter völlig anderen Vorzeichen. Neue Gesetze in den USA aus den Jahren 1921 und 1924 hatten zu beträchtlichen Einwanderungsrestriktionen in dem Land geführt, das bis dahin das Gros der jüdischen Flüchtlinge aus Osteuropa aufgenommen hatte. Zudem war die Auswanderung aus der Sowjetunion, woher die meisten sozialistisch geprägten Einwanderer kamen, erheblich erschwert worden. Die zweite Hälfte der zwanziger Jahre mit ihrer bürgerlich dominierten Einwandererschicht zumeist aus Polen bildete daher den Aufbau der städtischen Mittelschichten Palästinas, die während der Fünften Alija in den dreißiger Jahren mit ihren zahlreichen Flüchtlingen aus dem von den National-/1 Sozialisten dominierten Mitteleuropa entscheidend verstärkt wurden. Im Jahre 1936 hatte die jüdische Bevölkerung eine Zahl von fast 400 000 erreicht und bildete damit etwa ein Drittel der Gesamteinwohnerzahl Palästinas. Die zionistische Arbeiterbewegung hat es im Laufe der Jahre geschafft, die jüdische Bevölkerung Palästinas von einer passiven Quelle der Hilfeleistungen von außen zu einer aktiven Kraft, die ihr eigenes Schicksal bestimmt, umzuformen. Darin nahmen die landwirtschaftlichen Siedlungen einen ideologisch wichtigen Platz ein, standen sie doch für die physische Regeneration der Juden, wie sie seit der Aufklärung immer wieder gefordert worden war. Dennoch lebten über 90 Prozent der jüdischen Bewohner Palästinas nach dem Ersten Weltkrieg in den Städten, die größtenteils ebenfalls neuen Ursprungs waren. Besondere Bedeutung kam dabei dem 1909 nördlich von Jaffa gegründeten Tel Aviv zu. Benannt nach der hebräischen Übersetzung von Theodor Herzls Roman Altneuland, gab die Gründung der „ersten jüdischen Stadt“ Anlaß zu zahlreichen Legenden: wie um die ersten sechzig Grundstücke unter den 65
Stadtgründern gelost wurde, wie vom Strand aufwärts die ersten sandigen Wege gebaut wurden, um die herum der „Kiosk“, die erste städtische Einrichtung, ihren Platz fand, und wie innerhalb weniger Jahre eine Infrastruktur mit Läden und Schulen entstand. Zahlreiche Schriftsteller haben diese Entwicklung literarisch festgehalten, so Schmuel Josef Agnon in Gestern, Vorgestern oder Schmuel Yshar, in dessen Roman Auftakte die ersten Straßen von Tel Aviv, die Transformation von einem landwirtschaftlich-genossenschaftlichen zu einem urban-bürgerlichen Leben und auch die gewalttätigen Ausschreitungen des Jahres 1921 plastisch geschildert werden. Die 1924 einsetzende bürgerliche Einwanderungsbewegung aus Polen und der wenige Jahre später folgende Zustrom aus dem deutschsprachigen Raum drückten Tel Aviv den entscheidenden Stempel auf. Aus der Gartenvorstadt von Jaffa wurde innerhalb weniger Jahre eine lebendige Mittelmeermetropole mit Cafés und eleganten Geschäften, deren Einwohnerzahl von 2000 im Jahre 1914 über 34000 ein Jahrzehnt später auf 120 000 im Jahr 1935 anstieg. Für einen kritischen deutschen Besucher wie den im Auftrag des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ 1926 die Stadt besichtigenden Alfred Wiener drängte sich bereits damals der Vergleich mit Amerika auf: „Unerhört lebendig, grenzenlos ehrgeizig in den Tagen ihres atemlosen Wachstums, war sie amerikanischen Bestrebungen vergleichbar, mit Vorbildern wie Atlantic City und Miami.“ (J.Schlör, Tel Aviv, 1996, S. 86) Ein äußeres Zeichen dieser Modernisierung war die Architektur der Stadt, die sehr stark vom Bauhaus-Stil geprägt war und in der phantasievolle Villen entstanden, die sich biblischer, moderner europäischer oder chinesischer Motive bedienten. 1923 zog die Zeitung Ha’aretz von Jerusalem nach Tel Aviv um, 1925 erwuchs ihr mit der einflußreichen, von der Gewerkschaft herausgegebenen Tageszeitung Davar Konkurrenz, und im gleichen Jahr entstand mit dem „Ohel“-Theater eine weitere wichtige kulturelle Institution. In den dreißiger Jahren folgten die Philharmonie und das Tel-Aviv-Museum für Kunst. Das in Moskau gegründete und durch zahlreiche Tourneen in66
Abb. 2: Der Zina-Dizengoff-Platz, . benannt nach der Frau des ersten Bürgermeisters und Mitbegründers der Stadt, wurde im Stil der klassischen Moderne erbaut und war 1939 fast fertiggestellt. Foto: Zionistisches Zentralarchiv, Jerusalem
ternational bekannte Habima-Theater sollte nun sein endgültiges Heim in Tel Aviv finden, ebenso wie die berühmtesten hebräischen Schriftsteller Achad Ha’am und Chaim Nachman Bialik. Auch für die Entwicklung anderer Städte, insbesondere das nördlich gelegene Haifa, waren die zwanziger und dreißiger Jahre die entscheidende Phase. Jerusalem erhielt 1925 mit der feierlichen Eröffnung der Hebräischen Universität das Herzstück eines modernen jüdischen akademischen Systems. Manch andere Pläne freilich gingen unter, manchmal im übertragenen Sinne wie die grandiosen Pläne des Architekten Richard Kaufmann, nach seinen erfolgreichen Gartenstädten in unterschiedlichen Teilen des Landes eine neue Großstadt mit Oper und anderen Kultureinrichtungen in Afula zu bauen; manchmal aber auch ganz buchstäblich wie das an ein großes 67
Zirkuszelt erinnernde „Casino“ am Tel Aviver Strand, das trotz seines Namens keinen Spielbetrieb, sondern das gesuchteste Cafehaus der Stadt beherbergte, bis es langsam in den Wellen des Mittelmeeres verfiel. Gründermythen Der Aufbau der jüdischen Gesellschaft Palästinas, sowohl in bezug auf die landwirtschaftlichen Siedlungen wie auch auf die Städte, schritt in rasantem Tempo voran und wäre wohl durch nichts aufzuhalten gewesen, wenn das Land tatsächlich so leer gewesen wäre wie viele frühe Zionisten es sich vorgestellt hatten. In literarischer Form beschrieb Schmuel Yshar in seinem Roman Auftakte diese Vorstellung unter den Aufbruchwilligen in Osteuropa: „Denn wer hatte ... schon von Arabern gewußt. Kein Mensch hatte je von ihnen gesprochen. In all der Fülle von Reden, Vorträgen und Debatten dort in den wolhynischen Wäldern an den Ufern des Styr, der träge in satter, dämmriger Unbekümmertheit dahinfloß und sich in fast apathischer Ruhe die kühnsten Heimatlieder und die stichhaltigsten Beweise, daß wir nur in unserem eigenen Lande Heimat finden würden, mit anhörte, waren sie, die Araber, nirgends vorgekommen, in keiner Diskussion, bei keinen Erwägungen und gewiß nicht in den Liedern, sie existierten einfach nicht.“ (S. Yshar, Auftakte, 1996, S. 92) Daß diese sehr wohl existierten, erfuhren die Einwanderer spätestens nach ihrer Ankunft. Sehr bald sollten sie auch lernen, daß sie nicht so willkommen waren, wie Herzl dies in seinem Roman Altneuland vorhergesehen hatte. Die arabische Bevölkerung Palästinas sollte sich zumindest in Teilen gegen ihre neuen Nachbarn, die sie als fremde Eindringlinge betrachtete, wenden. Bereits 1881 kam es zu den ersten Ausschreitungen gegen die Einwanderer. Die eben vor den Pogromen in Rußland Geflüchteten deuteten die Gewalt ganz im Sinne der von der Alten Welt gewohnten Ereignisse: als Wiederholung der Pogrome im Orient. Ihre Reaktionen freilich sollten nicht mehr die gleichen sein. Im Gegensatz zum Ste68
reotyp des physisch schwachen und wehrlos der antisemitischen Gewalt ausgesetzten Juden im Exil entstand in Palästina das Bild des Zionisten, der bereit ist, sich bis zum Äußersten zu verteidigen. So konnte neben dem Ideal des jüdischen Bauern und Arbeiters auch das des jüdischen Wächters Bedeutung erlangen. Eines der ersten schriftlichen Zeugnisse des neuen jüdischen Verteidigungsmythos war der 1911 veröffentlichte Band Jiskor („Gedenke“) mit dem bezeichnenden Untertitel „Ein Buch des Gedenkens an gefallene Wächter und Arbeiter im Lande Israel“. Die von Gershom Scholem (anonym) übersetzte deutsche Ausgabe von 1918 versah Martin Buber mit einem Vorwort, an dessen Beginn er die drei Schlüsselworte der neuen Lebensweise in Palästina stellte: „Siedlung – Arbeit – Wacht. In diesen drei Worten ist die äußere und die innere Geschichte der im Lande werdenden neuen Menschengemeinschaft beschlossen.“ (Jiskor. Ein Buch des Gedenkens an gefallene Wächter und Arbeiter im Lande Israel, Berlin 1920, S. 1) In seiner Einführung beschrieb der junge David Ben-Gurion anhand der Mustersiedlung Sejera die Notwendigkeit der Einstellung jüdischer Wächter der von Übergriffen bedrohten Siedlungen. Ebenso wie jüdische Arbeiter fremde Arbeitskräfte ersetzten, müßten die landwirtschaftlichen Kolonien ihre eigenen Wächter einstellen. In aller Deutlichkeit zeigt sich hier das Bedürfnis der aus der Diaspora Eingewanderten, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und nicht mehr auf andere angewiesen zu sein. So verständlich diese Denkweise nach jahrhundertelanger Minderheitenposition in Europa war, so sicher vorprogrammiert war auch der Konflikt mit den um ihre bisherige Arbeit fürchtenden Arabern. Wenige Jahre nach Erscheinen des Buches ereignete sich in der an der Nordgrenze Palästinas gelegenen Siedlung Tel Hai der symbolträchtigste Zwischenfall, als im März 1920 acht jüdische Siedler bei einem Angriff benachbarter Araber ums Leben kamen. Einer von ihnen war Joseph Trumpeldor (1880-1920), ein früherer Offizier der russischen Armee, der im Russisch-Japanischen Krieg einen Arm verloren und wäh69
rend des Ersten Weltkriegs versucht hatte, eine jüdische Einheit in der russischen Armee aufzubauen. Bereits bei seiner Einwanderung nach Palästina 1912 genoß er eine Art Heldenstatus, der nach seinem Tod ins Mythische gesteigert wurde. Er galt als der Inbegriff des Pioniers, der trotz hohen Status in der Diaspora keine Mühen scheute, seine eigene nationale Heimstätte aufzubauen und dessen letzte Worte („Macht nichts; es ist gut, für unser Land zu sterben“) als Grundlage für Gedichte, Lieder und Legenden über sein Leben dienten. Auf der als Pilgerort dienenden Grabstätte der acht Gefallenen von Tel Hai prangt der Spruch: „Mit Blut und Feuer ist Juda gefallen; mit Blut und Feuer wird Juda wieder auferstehen.“ Der Spruch stammte aus einem Gedicht von Ja’akov Cahan (1881-1960), eines aus Rußland stammenden hebräisch schreibenden Schriftstellers, der das Bedürfnis nach einem neu zu schaffenden jüdischen Heldengeist in lyrische Form faßte. Der Anfang des Gedichts „Ha-Biryonim“ (eine gewalttätige Gruppe jüdischer Aufständischer gegen die Römer, im heutigen Hebräisch etwa: „Die Rohlinge“) ist kaum weniger pathetisch: Wir sind aufgestanden, wir sind zurückgekommen, die Biryonim Wir kamen, um unser unterdrücktes Land zu erlösen Mit einer starken Hand fordern wir unser Recht!
War Trumpeldor der Inbegriff des modernen Heldentums im Zionismus, so wurden ebenso antike Helden aufgewertet, die zwei Jahrtausende vorher als Inbegriff jüdischer Selbstaufopferung für die nationale Sache galten: die Makkabäer, die im zweiten vorchristlichen Jahrhundert den von den Griechen entweihten Tempel zu Jerusalem wieder einnahmen und reinigten, sowie der im zweiten nachchristlichen Jahrhundert als Aufständischer gegen die römische Besatzung und Pseudomessias den Märtyrertod gestorbene Bar Kochba. Wenngleich Bar Kochba politisch gescheitert war und in der rabbinischen Literatur durch die Jahrhunderte nicht unbedingt Vorbildcharakter genoß, so hatte er in der Auffassung der Zionisten in seinem Kampf gegen die Besatzer des Heimatlandes Würde 70
und Selbstachtung bewiesen – Begriffe, die in der hebräischen Literatur jener Jahre eine ganz zentrale Bedeutung genossen. Auch der Massenselbstmord von Massada im Jahr 73 galt nun als heroischer Widerstand der letzten jüdischen Bastion gegen die übermächtigen Römer. Die Suche nach Helden und Kollektivmythen ist in jeder entstehenden Nationalbewegung zu finden und gehört im Falle des Zionismus ebenso wie die Erstellung eines modernen hebräischen Lexikons, die Bemühungen um eine jüdische Enzyklopädie oder die Definition „jüdischer“ Kunst und Musik zu dem Prozeß, den heutige Historiker „Erfindung der Tradition“ nennen. Von besonderer Bedeutung im Falle des Zionismus war dabei die Möglichkeit, daß auch diejenigen, die fernab von Zion am Aufbau einer modernen jüdischen Nation mitarbeiten wollten, dies durch ihr kulturelles Engagement, ihre Spendenbereitschaft für den Jüdischen Nationalfonds oder ihre Identifikation mit den neuen zionistischen Idealen unter Beweis stellen konnten. Im Falle der jüdischen Nation wäre es im übrigen angebrachter, von einer „Wiederfindung der Tradition“ zu sprechen, da im Gegensatz zu vielen anderen Nationen die Wurzeln der eigenen Staatlichkeit sehr wohl vorhanden, eben nur lange zugeschüttet waren. So ist das zionistische Geschichtsverständnis, das sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts entwikkelte, eine folgerichtige Erscheinung dieser „Wiederfindung“, die auf einer äußerst selektiven historischen Wahrnehmung beruhte. Sie blendet die mittelalterliche jüdische Diasporageschichte weitgehend aus oder stellt sie negativ dar, während die „eigentliche“ jüdische Geschichte sich in der Zeit staatlicher Souveränität vor der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. zugetragen hat und dann erst wieder mit Beginn der Hinwendung zu Zion im 19. Jahrhundert bedeutsam wird. Der Zionismus knüpft in seinem eigenen Selbstverständnis direkt an die Antike an und hebt damit die „geschichtslose“ Zeit der Jahrhunderte im Exil auf. Mehr noch, der Zionismus versteht sich als Revolution gegen die eigene Geschichte. So jedenfalls charakterisierte ihn in einer emotionsgeladenen Rede 71
vor Vertretern der zionistischen Jugend in Haifa im Jahre 1944 der spätere israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion: „Unsere Revolution ist nicht nur gegen ein System gerichtet, sondern gegen das Schicksal, das einzigartige Schicksal eines einzigartigen Volkes.“ Vor dem Hintergrund des Völkermordens in Europa beschrieb Ben-Gurion die zweitausendjährige jüdische Existenz im Exil als eine Geschichte der Verfolgung und der Assimilation. Nun sei die Zeit gekommen, der Diasporaexistenz eine endgültige Absage zu erteilen: „Galut heißt Abhängigkeit – materielle, politische, spirituelle, kulturelle und intellektuelle Abhängigkeit – denn wir sind Fremde, eine Minderheit, bar einer Heimstätte, wurzellos und losgelöst vom Boden, von der Landarbeit und von der industriellen Tätigkeit. Unsere Aufgabe ist es nun, mit dieser Abhängigkeit radikal zu brechen und die Herren unseres eigenen Schicksals zu werden.“ (David Ben-Gurion, The Imperatives of the Jewish Revolution, in: A. Hertzberg, The Zionist Idea, 1959, S. 609) Das Ideal des „neuen Juden“, wie es sich etwa in den zionistischen Sportklubs äußerte, knüpfte also an die antiken Heroen an. Sie hießen Makkabi, Bar Kochba, Betar (nach dem letzten Zufluchtsort Bar Kochbas) oder einfach Hakoah („Kraft“). Daß Hakoah Wien während der zwanziger Jahre österreichischer Fußballmeister wurde, war für den Zionismus ein vielleicht wichtigerer Propagandaerfolg als manche politische Resolution jener Jahre. Ebenso wichtig war die zionistische Jugendbewegung, die sich in alle politischen Richtungen von sozialistisch bis bürgerlich und religiös aufspaltete und einen großen Teil der jungen Generation umfaßte. Auch hier spielten antike Symbole des jüdischen Heroismus oftmals eine wichtige Rolle, wie etwa im Namen „Betar“, den die revisionistische Jugendbewegung trug, oder in der Prager zionistischen Vereinigung „Bar Kochba“. Um die Makkabäer und Bar Kochba, um Massada und Tel Hai rankten sich bald ausgiebige Legenden, es wurden Pilgerstätten eingerichtet und Lieder gedichtet. Das mit den Makkabäern verbundene Chanukkafest erhielt mit Aufkommen des Zionismus eine Bedeutung, die es im traditionellen Juden72
tum nicht gehabt hatte. Dabei spielte sicher auch eine Rolle, daß das Fest um die Weihnachtszeit stattfindet; seine Aufwertung konnte dadurch auch von assimilierten Juden begrüßt werden, denen an einem Gegenstück zum wichtigsten Fest der Christen gelegen war. Die Niederlage Bar Kochbas und die Opfer von Massada dienten als ständige Mahnung an die äußeren Gefahren. Die Notwendigkeit der Wehrhaftigkeit wurde häufig mit diesen historischen Vorbildern begründet. So konnte David Ben-Gurion nach der Gründung des Staates Israel an die Kontinuität mit dem Heldentum der Antike erinnern: „Die Kette, die in den Tagen von Shimon Bar Kochba und Akiba ben Josef gebrochen wurde, ist in unseren Tagen wiederhergestellt worden, und die israelische Armee ist wieder zum Kampf in ihrem eigenen Land bereit, zum Kampf für die Freiheit der Nation und der Heimat.“ (Zitiert in Yael Zerubavel, Recovered Roots. Collective Memory and the Making of Israeli National Tradition, 1995, S. 53.) Eines der bekanntesten israelischen Zeremonielle ist die traditionelle Vereidigung der Soldaten auf Massada unter dem Motto: „Massada wird nie wieder fallen!“ Daß die Archäologie sich im Staat Israel einer besonderen Bedeutung erfreute und daß prominente Politiker wie Moshe Dayan und Yigael Yadin sich als Archäologen betätigten, steht in direkter Verbindung mit dem hohen Stellenwert der antiken Heldenmythen. Das Bild des „Sabre“, des im Lande geborenen Juden, der sich eine raue Schale zulegt, den Boden mit eigenen Händen bearbeitet und sich mit der Waffe in der Hand verteidigt, entstand auch im Gegensatz zum schöngeistigen und wehrlosen Juden des Exils. Doch wäre es falsch anzunehmen, es hätte erst mit der aktuellen Debatte am Ende des 20. Jahrhunderts unter den sogenannten „neuen“ israelischen Historikern Widerstand gegen die Mythologisierung jüdischer Geschichte und den damit verbundenen eindeutig definierten Platz der Juden gegenüber den Arabern in Palästina gegeben. Diese Debatten sind so alt wie der Zionismus selbst. So gab es auch unter den frühen hebräischen Schriftstellern jene, die die Situation, in der sie sich gegenüber der palästi73
nensischen Bevölkerung befanden, differenziert zu schildern wußten. Einer der bekanntesten von ihnen, Josef Chaim Brenner, schrieb nach einem blutigen arabischen Übergriff gegen jüdische Siedler: „Der Mörder ist ein Bewohner des Landes, seine Sprache ist die Sprache des Landes ... Dagegen ist das Opfer ein Fremder hier.“ Anders als bei dem Bewunderer der Biryonim, Ja’akov Cahan, der rigoros zwischen der Existenz in der Diaspora und in Israel unterschied, wandte Brenner die klassischen Diasporabegriffe „Opfer“ und „Fremder“ auch auf die Juden Palästinas an. Und in seinem Roman Mi-kan u-mi-kan (Von da und dort), aus dem auch die oben genannten Sätze stammen, ging er sogar so weit zu schreiben: „Es hat sich gezeigt, daß es keinen Unterschied gibt... Exil ist überall... Sind wir hier sicher? Der Todesengel hat seine Augen überall.“ Um so tragischer war die Tatsache, daß sich Brenners offene Zweifel, ob denn Palästina tatsächlich das so häufig geforderte sichere Asyl für verfolgte Juden sei, an seinem eigenen Leib bestätigen sollten. Er gehörte zu den 95 Todesopfern, die der vorläufige Höhepunkt der Zusammenstöße zwischen Juden und Arabern in Jaffa im Mai 1921 forderte. Vorangegangen waren Demonstrationen sozialistischer und kommunistischer Juden in Tel Aviv und Jaffa anläßlich des „Tags der Arbeit“, was für einige Araber Auslöser war, eine Einwandererherberge in Jaffa zu stürmen und dort ein Gemetzel auszulösen. Die Maiunruhen gaben auch das Signal zur Loslösung Tel Avivs von Jaffa und der Übersiedlung zahlreicher Juden in die „jüdische“ Stadt. Wurde Trumpeldors Versuch, eine jüdische Einheit im russischen Heer zu errichten, durch das Waffenstillstandsabkommen der russischen Regierung vereitelt, so war dem Versuch Vladimir Jabotinskys, gegen Kriegsende eine jüdische Legion innerhalb der britischen Armee aufzustellen, mehr Erfolg beschieden. Für den Kampf um eine eigene nationale Heimstätte hatte diese Legion allerdings eine rein symbolische Bedeutung. Sie sollte zum ersten Mal in der Moderne dem Bedürfnis nach einem jüdischen Heer Ausdruck verleihen, das für die meisten Zionisten als Symbol eigener Staatlichkeit ebenso wich74
tig war wie die eigene Sprache, die Bearbeitung des Bodens und der Aufbau einer modernen hebräischen Kultur. Allerdings gab es auch hier warnende Stimmen, die gegen die „Blut-und-Feuer“-Parolen und die Bildung einer Jüdischen Legion vehement protestierten. Vor allem A.D.Gordon, dessen Idealisierung der Arbeit bereits erwähnt wurde, sparte hierbei nicht an Kritik. Die Armee war für ihn eine unjüdische Einrichtung. Schon Herzl hatte keinen Ehrenplatz für ein jüdisches Heer vorgesehen. Soweit überhaupt notwendig, sollte es mehr oder weniger die Rolle einer Hilfspolizei erfüllen. Gordon ging noch viel weiter. Das Militär und der Militarismus hätten noch keinem Volk geholfen zu überleben. „Wäre unser Volk diesen Weg gegangen, so wäre es auch in den übrigen Völkern aufgegangen und es würde heute keine lebendige Spur mehr von ihm vorhanden sein. Eine andere Kraft war es, die es am Leben erhielt – gerade die Kraft seiner großen Ideale, darunter das Ideal des Wortes ,Nicht hebt fortan Volk gegen Volk das Schwert’.“ Ganz im Gegensatz zu den oben zitierten Stimmen wandte sich Gordon gegen „Leute, die in den Taten der Gewalt hohes Heldentum sehen“. Vielmehr sei das „Heer die blinde, tierische Kraft des Volkes ..., ein Überbleibsel aus jener Periode, da das Volk, ähnlich dem Tier, seine Wesenheit nicht zu beschränken, sein Verhältnis zu seinesgleichen, zu den anderen Völkern nicht anders festzulegen verstand als durch Hauen, Ausschlagen, Stoßen, Beißen.“ (A. D. Gordon, Erlösung durch Arbeit, 234, 204) In den gegensätzlichen Positionen Gordons und Jabotinskys und den zahlreichen Schattierungen dazwischen wurden bereits die enormen Reibungspunkte zionistischer Politik klar. Spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ließ sich kaum noch von einem Zionismus, sondern eher von vielen Zionismen sprechen, deren Vertreter sich in entscheidenden Grundfragen – außer dem grundsätzlichen Anspruch auf eine jüdische Heimstätte in Palästina – oft diametral gegenüberstanden.
75
4. Ein Zionismus oder viele Zionismen? Die Formierung zionistischer Parteien Bereits zu Herzls Lebzeiten waren die Differenzen innerhalb des Zionismus deutlich geworden, doch wurden die Auseinandersetzungen damals noch stärker durch Personen und nicht über Parteien ausgetragen. Die Delegierten der ersten zionistischen Kongresse, die anfangs jährlich und ab 1903 alle zwei Jahre stattfanden, wurden nicht durch politische Parteien, sondern von territorial organisierten Landesverbänden entsandt. Sie betrachteten sich als „Allgemeine Zionisten“, die keiner anderen Ideologie als einem nicht näher definierten Zionismus anhingen. Alle Präsidenten der „Zionistischen Organisation“ seit Theodor Herzl sahen sich in dieser Tradition: David Wolffsohn (Präsident 1905-1911), Otto Warburg (1911-1920), Chaim Weizmann (1920-1931 und 1935-1946) sowie Nachum Sokolov (1931-1935). Anfänge der Aufsplitterung Mit der „Demokratischen Fraktion“ entstand bereits 1901 eine erste Form innerer Aufsplitterung auf einem Zionistenkongreß, als eine vom Kulturzionismus Achad Ha’ams geprägte Gruppe junger Intellektueller wie Chaim Weizmann, Leo Motzkin und Martin Buber eigene Positionen vortrug. Sie sah ihre Hauptaufgabe nicht ausschließlich darin, den Juden eine sichere Heimstätte vor Verfolgungen zu errichten, sondern auch eine neue säkular geprägte jüdische Kultur in hebräischer Sprache zu schaffen. Zu den Hauptforderungen dieser Fraktion gehörten der Aufbau einer Hebräischen Universität in Jerusalem, ein Verlag für zionistische Publikationen und eine neue nationale jüdische Kunst. Deren Hauptvertreter wurde der Jugendstilkünstler Ephraim Moses Lilien, selbst Mitglied der „Demokratischen Fraktion“. Seine Zeichnungen, Drucke und Photographien schufen eine zionistische Ikonographie und formten maßgeblich das Bild des Zionismus in der Öffentlichkeit. 76
Abb. 3: In E. M. Liliens Illustration „Vom Ghetto nach Zion“ weist der Engel dem gebeugten „Ghettojuden“ hinter Dornen den Weg zum aufrechten jüdischen Bauern im Land der aufgehenden Sonne.
Die „Demokratische Fraktion“ richtete sich weniger gegen Herzl als gegen die religiösen Delegierten, die auf den Zionistenkongressen keine Kulturfragen diskutieren wollten. Der Großteil der Orthodoxie stand dem politischen Zionismus trotz der traditionell stark ausgeprägten Zionsidee von Anfang an ablehnend gegenüber. Zwar beten religiöse Juden dreimal täglich für die Rückkehr nach Zion, doch muß diese von Gott eingeleitet werden und Teil einer religiösen Erlösung im messianischen Reich sein. Wenn aber assimilierte Juden wie Herzl und Nordau vor dem Kommen des Messias eine säkulare politische Bewegung gründeten, konnte diese nur als gotteslästerlich gedeutet werden. Eine Minderheit dachte freilich anders und reihte sich damit in die von Rabbinern wie Jehuda Alkalai und Zvi Hirsch Kalischer geschaffene Tradition eines religiösen Zionismus ein. Für sie standen die Besiedlung des Heiligen Landes wie auch die Ziele des politischen Zionismus im Einklang mit der Tradition und waren sogar wünschenswert. Die messianische 77
Dimension der Rückkehr nach Zion wurde von diesen religiösen Zionisten marginalisiert. Aus Fragen der Kultur und der Erziehung sollte sich die mehrheitlich säkulare „Zionistische Organisation“ ihrer Meinung nach heraushalten. Als sich beim 5. Zionistenkongreß dann die „Demokratische Fraktion“ gründete und genau diese Aufgaben auf ihre Fahnen schrieb, provozierte dies den organisatorischen Zusammenschluß der religiösen Zionisten 1902. Unter der Führung des Rabbiners Isaak Jacob Reines (1839-1915) nannten sie sich Misrachi, was als Abkürzung für geistiges Zentrum steht, gleichzeitig aber auch „ostwärts“ bedeutet. In Rußland entstand eine weitere politische Orientierung innerhalb der Zionistischen Bewegung, die nach dem Ersten Weltkrieg schrittweise tonangebend werden sollte: der sozialistische Zionismus. Seine Vordenker wie Nachman Syrkin (1868-1924), Ber Borochov (1881-1917) und Berl Katznelson (1877-1944) versuchten auf unterschiedliche Art und Weise, die soziale Frage und die territoriale Frage miteinander in Einklang zu bringen. Gemein war ihnen der Wunsch nach beruflicher Umstrukturierung der Juden von Händlern zu Arbeitern und Bauern und nach schrittweiser Auswanderung von der Diaspora in ihren eigenen Staat. Abschaffung des Kapitalismus und der politischen Ohnmacht der Juden gingen hier Hand in Hand. Wie im linken Lager durchaus nicht ungewöhnlich, bildeten sich nicht eine, sondern gleich mehrere konkurrierende Parteien. Für die marxistisch geprägten Poalei Zion („Arbeiter Zions“) lag der Grund allen antisemitischen Übels in der anomalen wirtschaftlichen Situation der Juden. In einem eigenen Staat würden sie sich wirtschaftlich regenerieren und im Zuge der sozialistischen Weltrevolution schließlich eine normale sozialistische Nation unter anderen bilden. Während die Poalei Zion sich als jüdisch-nationalen Ableger der Weltrevolution verstanden, war der Hapoel Hatzair („Der junge Arbeiter“) weniger ideologisch geprägt. Seine Vertreter dachten zwar auch in sozialistischen Kategorien, ordneten diese aber dem jüdischen Nationalismus unter. Sie betonten die Beson78
derheit der jüdischen Nation, die sich erst ihr eigenes Territorium erobern mußte, und gaben der pragmatischen Aufgabe der „Produktivierung“ der Juden im Land Israel (der „Eroberung der Arbeit“) Vorrang vor allen anderen Parteizielen. Zwar konnte 1919 eine Vereinigte Arbeiterpartei ins Leben gerufen werden, doch blieben Hapoel Hatzair, die linke Fraktion der Poalei Zion sowie der mit der Kibbuzbewegung verbundene Haschomer Hatzair („Der junge Wächter“) als eigene Parteien innerhalb des Zionismus aktiv. Einige russische Mitglieder der linken Poalei Zion hatten sich den Kommunisten angeschlossen. Über viele Jahrzehnte hinweg sollte die sozialistische Richtung die Zionistische Organisation und später den Staat Israel dominieren, doch gelang es ihr lange Zeit nicht, eine wirklich einheitliche Partei aus den verschiedenen ideologischen Lagern zu formen. Als letzte große ideologische Richtung innerhalb des Zionismus trat der Revisionismus auf den Plan. Er vertrat die bürgerlichen, antisozialistischen und nationalistischen Elemente innerhalb der Bewegung. Dominierende Figur des Revisionismus war bis zu seinem Tod Vladimir Ze’ev Jabotinsky (1880— 1940), einer der schillerndsten Vertreter jüdischer Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Journalist, Schriftsteller und Übersetzer hatte er sich in der literarischen Welt Rußlands einen Namen gemacht, und als brillantem Massenredner gelang es ihm bald, sich eine große Anhängerschaft zu sichern, deren Hauptbasis die breite Mittelklasse des polnischen Judentums der Zwischenkriegszeit bildete. Jabotinsky sah sich als der wahre Nachfolger des von ihm bewunderten Herzl und versuchte, die zionistische Bewegung zunächst von innen zu beeinflussen. Wie jener gab er dem politischen und diplomatischen Kampf Vorrang vor den kulturellen Zielen. Zudem betonte er die Notwendigkeit des militärischen Kampfs und konnte während des Ersten Weltkriegs die Gründung einer Jüdischen Legion in der britischen Armee erreichen. Auch die Jugendorganisation Betar hatte den Charakter einer paramilitärischen Gruppe. Erst 1925 schuf Jabotinsky seine eigene revisionistische Partei. Zehn Jahre später verließ er mit 79
dieser Partei die „Zionistische Organisation“ aufgrund ihrer angeblich zu konzilianten Linie gegenüber Briten und Arabern und gründete seine eigene „Neue Zionistische Organisation“. Diese vier politischen Lager – Allgemeine Zionisten oder Liberale, Religiöse, Sozialisten und Revisionisten – decken mit vielen kleinen Absplitterungen bis heute das Spektrum der politischen Landschaft des Staates Israel ab. Im Gegensatz zu der politischen Idylle, die Theodor Herzl in Altneuland entwirft, bekämpften diese unterschiedlichen Gruppierungen sich oftmals auf das heftigste. Ihre Visionen eines jüdischen Staates und des Weges, der dorthin führen sollte, unterschieden sich vor allem in vier grundsätzlichen Fragen: Wie soll man sich gegenüber der arabischen Bevölkerung verhalten? Welcher Weg ist zur Erlangung der staatlichen Souveränität einzuschlagen? Welche Rolle soll die Religion im jüdischen Staat spielen? Auf was für einer Wirtschaftsordnung gründet der jüdische Staat? Juden und Araber Theodor Herzl löste das Problem der Auseinandersetzung mit der arabischen Bevölkerung auf seine Weise: Für ihn existierte das Problem nicht. Der einzige arabische Protagonist in seinem Roman Altneuland, Reschid Bey, begrüßt die europäischen Einwanderer als einen Segen. Der Orangenexport hat sich seit ihrer Ankunft verzehnfacht, die Araber kommen in den Genuß der Errungenschaften der europäischen Zivilisation, und in der von den Juden aufgebauten nahöstlichen Schweiz lernen auch sie, langsam zu Europäern zu werden. Daß ihnen etwas besseres gar nicht geschehen konnte, setzt Herzl als selbstverständlich voraus. Insgesamt spielen die tatsächlichen Interessen der arabischen Bevölkerung in Herzls Konzept keine Rolle. Freilich waren nicht alle frühen Zionisten in dieser Beziehung so naiv. Herzls Widersacher Achad Ha’am etwa hatte von Anfang an darauf hingewiesen, daß die jüdischen Einwanderer von der arabischen Bevölkerung nicht mit offenen Armen 80
begrüßt werden würden. Die Realität bestätigte von Anfang an Achad Ha’ams Befürchtungen. Bereits 1891 protestierte eine Gruppe einflußreicher Araber aus Jerusalem in einem offiziellen Schreiben nach Istanbul gegen die jüdische Einwanderung und die damit einhergehenden Landkäufe. Obwohl die von den Zionisten propagierte Einwanderung nur sehr schleppend voranging, berichteten Zeitgenossen um die Jahrhundertwende von zahlreichen Zusammenstößen der Einwanderer mit der einheimischen Bevölkerung. Die arabische Nationalbewegung blieb solange unterdrückt wie der Sultan in der Region absolut regieren konnte. Mit der Jungtürkischen Revolte von 1908 wurde auch im Nahen Osten eine politische Wende eingeleitet, und eine auflebende arabische Presse verkündete einen neuen Nationalismus, für den nun der Zionismus einen Hauptgegner im Kampf um die eigene Unabhängigkeit darstellte. Die Beziehungen der sozialistischen Zionisten zur arabischen Bevölkerung waren nicht ohne Widersprüche. Einerseits betrachteten sie die Araber als ebenso wirtschaftlich ausgebeutete und politisch benachteiligte Bevölkerungsgruppe wie sich selbst, also als potentiell Verbündete im Kampf gegen die Weltmächte des russischen Zaren und des osmanischen Sultans. Andererseits war ihnen wohl bewußt, daß ihr Anspruch auf staatliche Souveränität in Palästina ähnliche Forderungen der arabischen Seite ausschloß. Zwar hielten sie alle Menschen für gleich, doch verstanden sie im marxistischen Sinne die Verbreitung westlichen Ideenguts und technologischen Fortschritts als unabdingbare Voraussetzung für einen erfolgreichen Klassenkampf. Trotz des Bekenntnisses zum Pazifismus führten Übergriffe der einheimischen arabischen Dorfbewohner auf neuankommende Siedler zur bewaffneten Selbstwehr, wobei auch die Erfahrung der Wehrlosigkeit gegenüber den Pogromen im Zarenreich psychologisch eine Rolle spielte. Schließlich führte ihr Konzept der „Eroberung von Arbeit“, das Juden zu Bauern und Arbeitern machen sollte, trotz aller theoretischen Wertschätzung der ansässigen Bevölkerung notgedrungen zu deren schrittweiser Verdrängung aus bestimmten Gegenden und Berufen. 81
So machte sich eine große Kluft auf zwischen dem theoretischen Anspruch der sozialistischen Zionisten, die Araber wenn nicht als ihre Brüder, so doch als ihre Cousins zu sehen, die einem gemeinsamen Gegner gegenüberstanden, und der alltäglichen Realität, in der das eigene Unabhängigkeitsstreben, das westliche Sendungsbedürfnis, der Selbstwehrgedanke und die Idee der Landarbeit auf anders gelagerte Vorstellungen der arabischen Bevölkerung trafen. Wenn etwa David Ben-Gurion auf einer Parteikonferenz 1924 darauf hinwies, daß man das Recht der arabischen Bevölkerung auf das Land in Palästina insoweit nicht anerkennen könne, als sie das Land nicht bearbeitet hätten, konnte das kaum auf Verständnis der arabischen Seite treffen. Wer das Land brach liegen lasse und vernachlässige, der verliere seinen Anspruch darauf, argumentierte Ben-Gurion. Einer der einflußreichsten arabischen Einwohner Jerusalems, Chalil as-Sakakini, brachte die Meinung seiner Landsleute gegenüber Ben-Gurion sarkastisch in einem Artikel der arabischen Zeitung Falastin zum Ausdruck: „Willkommen, Cousins! Wir sind die Gäste und Ihr die Herren des Hauses.“ (T.Segev, One Palestine, Complete. Jews and Arabs under the British Mandate, 2000, S. 462) Ben-Gurion verfocht zwar einerseits den historischen Anspruch der Juden auf das Land ihrer Ursprünge wie auch die Verantwortung gegenüber der Erde, die man bewohnt. Die grundlegende Idee aber, daß die Arbeiter und Bauern auf jüdischer und auf arabischer Seite letztlich gemeinsame Sache machen würden und natürliche Verbündete wären, prägte noch auf lange Zeit hinaus die offizielle Position der sozialistischen Zionisten. Die Allgemeinen Zionisten versuchten demgegenüber durch Realpolitik den entstehenden Nationalitätenkonflikt zu lösen. Herzl und seine Nachfolger vor dem Ersten Weltkrieg sahen in der Diplomatie die Priorität der zionistischen Politik. Nur auf der Grundlage der jüdischen Souveränität könne man den Arabern irgend etwas gewähren. Zunächst die Souveränität zu erlangen war daher das erste angestrebte Ziel. Nach dem Ersten Weltkrieg sah es einen Moment lang tatsächlich so aus, 82
als ob eine einvernehmliche Lösung auf diplomatischem Wege erreichbar sei. Um sich die Vormacht in der Region zu sichern, machten die Briten sowohl Juden wie auch Arabern während des Krieges Zugeständnisse, die einzulösen nur bei gegenseitiger Anerkennung möglich war. In der Tat unterzeichneten im Januar 1919 der als führende Figur der Zionisten aus dem Krieg hervorgegangene Chaim Weizmann und der Sohn des Scharifs von Mekka, Feisal, ein Abkommen, in dem die Araber die jüdischen Ansprüche auf Palästina anerkannten. Darin bekräftigten die beiden Seiten: „Es sollen alle nötigen Maßnahmen ergriffen werden, um die Einwanderung von Juden in großem Umfang zu fördern und anzuregen und so schnell wie möglich jüdische Einwanderer in geschlossenen Siedlungen auf dem Land anzusiedeln zur intensiven Kultivierung des Bodens. Bei all diesen Maßnahmen sollen die Rechte der arabischen Bauern und Pächter geschützt und ihre wirtschaftliche Entwicklung unterstützt werden.“ In einem Nachsatz hieß es allerdings, daß dieses Abkommen nur Gültigkeit besitze, wenn die arabische Unabhängigkeit in dem von Feisal geforderten Maße realisiert werde. Immerhin versicherte Feisal einem führenden amerikanischen Zionisten, Felix Frankfurter, auf dessen Nachfragen: „Wir Araber, vor allem die Gebildeten unter uns, hegen tiefe Sympathie für die Zionistische Bewegung; ... wir werden die Juden in der Heimat herzlich willkommen heißen ... Wir arbeiten gemeinsam an der Reform und dem Wiederaufbau des Nahen Ostens, und unsere beiden Bewegungen ergänzen einander ... Ich glaube in der Tat, daß wir nur wirklich Erfolg haben können, wenn wir zusammengehen.“ (Ch. Weizmann, Memoiren. Das Werden des Staates Israel, 1953, S. 363-365) Feisals Vorstellung eines von ihm geführten arabischen Großreiches widersprach letztlich den Plänen der Kolonialmächte, und er wollte sich später an diesen Brief nicht erinnern, der von arabischer Seite als zionistische Fälschung ausgegeben wurde. Das wahre Motiv für das Schreiben mögen taktische Überlegungen gewesen sein, die jüdische Seite als Partner während der Pariser Friedensverhandlungen zu gewinnen, 83
oder einfach das geringe Interesse, das der vor allem an Syrien interessierte Feisal Palästina gegenüber aufbrachte. In jedem Falle wäre es wohl unmöglich gewesen, der betroffenen Bevölkerung den Verzicht auf eine arabische Souveränität über Palästina zum damaligen Zeitpunkt zu vermitteln. So war eine Einigung nur auf diplomatischem Weg und ohne den Ausgleich der beiden Völker zum Scheitern verurteilt. Dennoch haben Dokumente wie diese die führenden Zionisten liberaler und sozialistischer Prägung immer wieder glauben lassen, ein Ausgleich mit der arabischen Bevölkerung sei in Reichweite. Chaim Weizmann etwa kommentiert den Brief Feisals mit den Worten: „Dieser bemerkenswerte Brief dürfte diejenigen Kritiker interessieren, die behauptet haben, wir hätten unsere zionistische Arbeit in Palästina begonnen, ohne uns um die Wünsche und das Wohl der arabischen Welt zu kümmern. Man darf nicht vergessen, daß diese Anschauungen von dem zu diesem Zeitpunkt beglaubigten Führer der Araber, dem Träger ihrer Hoffnungen, ausgesprochen wurden.“ (Ch. Weizmann, Memoiren, S. 364) Ähnlich zuversichtlich äußerten sich nach dem Ersten Weltkrieg noch führende britische Politiker, die – ähnlich wie Herzl – meinten, die palästinensischen Araber würden die Europäer begrüßen, wenn sie ihnen nur die Früchte der Zivilisation ins Land brächten. Die revisionistische Position dagegen unterschied sich grundsätzlich von derjenigen der sozialistischen und der Allgemeinen Zionisten. Auch ihre Vertreter waren Realpolitiker, doch war ihre Realpolitik nicht diejenige der offiziellen zionistischen Führung. Ihre Landkarte zeigte einen jüdischen Staat auf beiden Seiten des Jordan, also dem ursprünglichen britischen Mandatsgebiet Palästina vor der Gründung Trans Jordaniens 1922. Fügte sich die arabische Bevölkerung in diesen Staat ein, so konnte sie wohl bleiben, ansonsten sollten sie sich in ihre eigenen arabischen Staaten zurückziehen. Nur von einer Position der Stärke aus könne man den Arabern entgegentreten, die von vornherein als Feinde, nicht als Verbündete betrachtet wurden. Jabotinsky respektierte durchaus die arabische Position, sah aber aufgrund der größeren Bedrohung, der die Juden 84
in Europa ausgesetzt waren, seine eigene Position moralisch legitimiert. Daß die Gründung eines Staates unblutig verlaufen konnte und die Einwanderer von den Arabern freundlich begrüßt würden, wie Herzl dies angenommen hatte, hielt er von vornherein für eine Illusion. Freilich war Herzl durch den europäischen Liberalismus geprägt, und sein Konzept eines jüdischen Staates ging vom Prinzip der Gleichheit aller Einwohner, egal welchen Glaubens oder welcher Nationalität, aus. Unterschiedliche Wege zum jüdischen Staat Wenn Herzl vom „Judenstaat“ sprach, so war wie vorher bei Pinsker, anfänglich nicht klar, ob er damit Palästina, Argentinien oder eventuell ein anderes Territorium meinte. 1903, ein Jahr vor seinem Tod, erwog er die Überprüfung eines britischen Vorschlags, in Ostafrika eine jüdische Heimstätte zu gründen. Das sogenannte „Uganda-Projekt“ (das Gebiet befand sich eigentlich im heutigen Kenia) sollte den Zionismus mehr spalten als irgendeine andere bisherige Frage. Auch für Herzl war klar, daß Uganda Zion nicht ersetzen konnte und nur ein „Nachtasyl“, wie Max Nordau es ausdrückte, darstellte. Doch schon diese zeitlich begrenzte Abkehr von Zion ließ Herzl bei vielen Zionisten als Verräter dastehen. Jene kleine Minderheit von Zionisten, die Zion nicht als ausschließlichen Ort der Verwirklichung jüdischer Staatlichkeit ansah, verließ die Bewegung nach Herzls Tod und gründete um den englisch-jüdischen Schriftsteller Israel Zangwill im Jahre 1905 die „Jewish Territorial Organization“ (ITO), die Landkäufe in Australien und anderen Teilen der Welt propagierte, aber bald bedeutungslos wurde. Die Bindung an den Boden Palästinas war auch unter den nichtreligiösen Zionisten so stark, daß jede andere geographische Option letztlich zum Scheitern verurteilt war. Die über Gebete und Gedichte, über die Sprache und die Vorstellungskraft über Jahrhunderte hinweg aufrechterhaltene Beziehung zu ihrem Ursprungsland ließ Zionisten aller Schattierungen an dem territorialen Anspruch der Juden an Palästina festhalten. 85
Die Hauptrichtung der Allgemeinen Zionisten von Herzl bis Weizmann vermied dabei religiöse Argumente und betonte stattdessen das „historische Recht“ auf Eretz Israel, das Land Israel. Sozialistische Zionisten sprachen zwar nicht von einem durch die Geschichte legitimierten Anspruch einer Volksgruppe auf ein bestimmtes Territorium, doch schied für die meisten von ihnen jede Alternative aus pragmatischen Gründen aus, da nur Palästina genügend Anziehungskraft für die zur Auswanderung und zum Aufbau einer neuen Gesellschaft willigen jüdischen Massen besaß. Die Position Jabotinskys und der Revisionisten wich davon weniger in der Theorie als in der Praxis ab. Jabotinsky erkannte sehr wohl, daß zwei Völker legitime Ansprüche auf das gleiche Land hatten. Während die Sozialisten allerdings immer Zurückhaltung und Ausgleich mit den Arabern predigten, sah er die Lösung aufgrund der für ihn sogar verständlichen arabischen Weigerung, einem jüdischen Staat zuzustimmen, nur im bewaffneten Konflikt. Moralisch begründete er den Vorrang der jüdischen Ansprüche durch die politischen Gegebenheiten. Während die Araber bereits zahlreiche Staaten besäßen, kämpften die Juden nur um einen einzigen Staat, den sie wegen der aktuellen Verfolgungen dringend und umgehend benötigten. Bezeichnend für seine Argumentation war seine 1937, also vor dem Hintergrund der antisemitischen Verfolgungen in Europa gehaltene Rede vor der „Palestine Royal Commission“. Er verstehe durchaus, daß die palästinensischen Araber in Palästina den vierten oder fünften oder sechsten arabischen Staat gründen wollen: „Wenn aber der arabische Anspruch mit der jüdischen Forderung, gerettet zu werden, konfrontiert wird, dann ist dies wie der Anspruch von Appetit gegenüber dem Anspruch des Verhungerns.“ (W. Laqueur/B. Rubin, The Israel-Arab Reader, 41984, S.61) Radikal andere Konzepte vom Anspruch auf Eretz Israel und der damit verbundenen politischen Visionen gab es nur im national-religiösen Lager sowie unter einer kleinen Gruppe liberaler Intellektueller. Die National-Religiösen um den 86
„Misrachi“ begründeten ihren Anspruch auf das Land Israel als einzige mit religiösen und nicht mit historischen oder politischen Gründen. Beginnend mit dem Bund, den Gott mit Abraham schloß und in dem er seinen Nachkommen das Land Kanaan verspricht, zitierten sie die Bibel als die Quelle der Legitimität ungebrochener jüdischer Ansprüche auf das Heilige Land. Welche Grenzen der darin zu errichtende jüdische Staat haben müsse und welche Position darin die arabische Bevölkerung einzunehmen habe, waren Fragen, die auch innerhalb des national-religiösen Lagers kontrovers diskutiert wurden. Klar war dagegen von vornherein der von Gott gegebene Anspruch der Juden, in ihr Land zurückzukehren. Eine Ausnahme unter den religiös geprägten Zionisten bildete der Philosoph Martin Buber (1878-1965), der im Zionismus durchaus die Erfüllung einer religiösen Mission erblickte, allerdings keineswegs von einem historischen Recht der Juden auf dieses Land überzeugt war. Wenn jedem Kapitel der Weltgeschichte ein anderes vorausgehe, hätten dann nicht jene Völker, die vor den Israeliten Palästina bewohnten, einen noch größeren historischen Anspruch darauf? Der Anspruch der Araber, die das Land einmal erobert hätten, sei freilich auch nicht größer als der der Juden, die daraus vertrieben worden waren. Das Land habe Platz für beide Völker. Buber propagierte die Idee eines bi-nationalen Staates, wie sie der „Brith Shalom“ (Bund des Friedens) in die Tat umzusetzen versuchte. Diese Organisation bestand allerdings nur kurzfristig (1925-1933) und hatte, ebenso wie ihre zahlenmäßig unbedeutenden Nachfolgeorganisationen, ihre Basis in wenigen, wenngleich hochgeachteten Intellektuellen zumeist mitteleuropäischer Herkunft. Ihr fehlte vor allem eines: ein Pendant auf arabischer Seite, das auch ein jüdisches Recht auf Heimat in Palästina anerkannt hätte. Während der ersten Jahrzehnte zionistischer Politik stand das Verhalten gegenüber den Arabern im Schatten der diplomatischen Bemühungen gegenüber den Weltmächten. Herzl war eifrig damit beschäftigt, Audienzen beim Papst und beim Sultan, beim deutschen Kaiser und bei russischen Ministern 87
zu arrangieren. Viel Konkretes hatte er damit zwar nicht erreicht, doch immerhin hatte seine Hartnäckigkeit zur Folge, daß der Zionismus in die Arena der Weltpolitik Aufnahme fand. Die Früchte der von den Allgemeinen Zionisten erkannten Priorität der Diplomatie sollte während des Ersten Weltkriegs Chaim Weizmann ernten, dem es aufgrund guter Beziehungen zur englischen Regierung gelang, zum ersten Mal einer zuständigen Macht ein Versprechen zur Errichtung einer jüdischen Heimstätte abzuringen. Die Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 war ein ganz entscheidender diplomatischer Durchbruch für den Zionismus und blieb bis in die vierziger Jahre das wichtigste offizielle Dokument, auf das sich seine führenden Vertreter berufen konnten. In wenigen Zeilen hatte der britische Außenminister Lord Balfour mit ausdrücklicher Zustimmung des Kabinetts Lord Walter Rothschild versichert, daß die Regierung Seiner Majestät die Errichtung einer nationalen Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina mit Wohlwollen betrachte und alles in ihrer Macht Stehende tun werde, um dieses Ziel zu verwirklichen. Da diese Erklärung nur gegen den Widerstand eines guten Teils des englisch-jüdischen Establishments verabschiedet werden konnte, versicherte Balfour gleichzeitig, daß Rechte und Status der in der Diaspora verbleibenden Juden unangetastet blieben. Die entscheidende Formulierung in dem Dokument war alles andere als eindeutig: Die königliche Regierung „views with favour the establishment in Palestine of a national home for the Jewish people“. „In Palestine“ konnte ganz Palästina, aber auch nur einen kleinen Teil davon bedeuten; „national home“ war kein juristisch definierter Begriff, und „views with favour“ war gewiß keine vertragliche Garantie von seiten Englands. Trotz der Enttäuschung über diese Unklarheiten wußte Weizmann nur allzu gut, daß er hiermit erstmals ein schriftliches Dokument in den Händen hielt, das man auf der Bühne der Weltpolitik vorweisen konnte. Weizmann sollte sich nicht davon abbringen lassen, daß nur über die guten Beziehungen zu England der jüdische Staat errichtet werden konnte. So war denn die zionistische Politik 88
der zwanziger und dreißiger Jahre trotz aller Rückschläge von Weizmanns Bindung an die Mandatsmacht geprägt. Auch Jabotinsky war ursprünglich ein Verbündeter und Bewunderer der Briten. Immerhin hatte er während des Ersten Weltkriegs eine Jüdische Legion innerhalb der britischen Armee ins Leben rufen können. Hier werden aber bereits die Unterschiede zu Weizmanns Position deutlich. Der militärischen Seite räumte Jabotinsky größeres Gewicht bei, daher auch der paramilitärische Charakter der revisionistischen Jugendorganisation „Betar“. Ohne Zweifel respektierte Jabotinsky die diplomatischen Bemühungen eines Weizmann und die kulturellen Aufgaben eines Achad Ha’am, doch mußte er, um seine maximalistischen Forderungen nach einem jüdischen Staat auf beiden Seiten des Jordan durchzusetzen, zunächst Tatsachen vor Ort schaffen. Deswegen hatte vor allen anderen Zielen für ihn die Einwanderung Priorität. Nach seiner eigenen Berechnung sollten über den Zeitraum von 25 Jahren jeweils 40000 Juden jährlich nach Palästina einwandern, um möglichst bald eine jüdische Mehrheit zu schaffen. Gegenüber England nahmen die Revisionisten seit Mitte der dreißiger Jahre eine immer kritischere Position ein, die durch den notgedrungen gemeinsamen Kampf gegen Nazideutschland während der Kriegs jähre ruhte, um danach nur noch viel offener zu Tage zu treten. Die Rolle der Religion Auseinandersetzungen um Fragen der Religion hatten in der Frühphase der zionistischen Bewegung keinen zentralen Stellenwert. Dies ist nicht verwunderlich, da der Großteil der Orthodoxie sich vom Zionismus distanzierte, die große Mehrheit der Zionisten ihrerseits sich als Teil einer säkularen Bewegung verstand. Dies galt über alle anderen Differenzen hinweg für Herzl ebenso wie für Achad Ha’am, für Weizmann ebenso wie für Jabotinsky oder Ben-Gurion. Sie alle erkannten im Zionismus nicht nur die Möglichkeit zur Rückkehr der Juden in ihre angestammte Heimat und die Rettung 89
vor physischer Not in Europa, sondern ebenso die einmalige Chance zum Aufbau einer neuartigen, säkular geprägten jüdischen Identität. Mitteleuropäische Zionisten wie Herzl und Nordau hatten bereits um die Jahrhundertwende den „neuen Juden“ gefordert. Max Nordaus Schlagwort vom „Muskeljuden“ führte zur Gründung jüdischer Turnvereine. Herzl propagierte eine neue jüdische Ästhetik, wie sie etwa in der Kunst eines Ephraim Moses Lilien zum Vorschein kam. Der entscheidende Anstoß zur physischen und kulturellen Transformation all dessen, was als jüdisch identifiziert wurde, kam allerdings aus Osteuropa. Achad Ha’am hatte hierbei sicherlich entscheidendes Gewicht. Radikalere hebräisch schreibende Schriftsteller wie Schaul Tschernichowsky (1875-1943) mit seiner Anlehnung an die heidnisch-griechische Antike, der von Nietzsches Forderung nach einer Umwertung aller Werte geformte Micha Joseph Berdichevsky (auch: Bin Gorion, 1865-1921) oder Josef Chaim Brenner (1881-1921), der eine Befreiung von jeglicher Art der Religion forderte, brachen ganz mit der jüdischen Tradition und versuchten, ein neues säkulares Volksbewußtsein zu schaffen. Letztlich blieb von diesem radikalen Denken in der jüdischen Gesellschaft Palästinas nur wenig übrig, sieht man einmal von der Bewegung der „Kanaanäer“ ab, die von Jonathan Ratosch (eigentlich Uriel Halperin, 1908-1981) geführt wurde und während der vierziger und fünfziger Jahre eine größere Anhängerschaft verzeichnen konnte. Ihr Hauptanliegen war die vollständige Trennung der in Palästina lebenden Juden von dem Schicksal der Diasporajuden bei gleichzeitiger Integration in die Kultur des Nahen Ostens. Aus den Juden wurden damit Hebräer, deren Geschichte und Schicksal an ihre unmittelbare Umgebung und nicht an die zweitausend) ährige Verstreuung gebunden war. Religion spielte bei all diesen Denkern, außer als Feindbild, keinerlei Rolle. Die entgegengesetzte Position nahm die national-religiöse Misrachi-Strömung innerhalb des Zionismus ein. Auch sie forderte keineswegs die Errichtung eines religiösen Staates, in dem das jüdische Religionsgesetz, die Halacha, Staatsgesetz 90
werden sollte. Vielmehr ging es ihr vor allem darum, Fragen der Erziehung und Kultur aus den offiziellen Diskussionen der Zionistischen Kongresse so weit wie möglich herauszuhalten und sich damit in einer areligiösen oder gar antireligiösen Gesellschaft legitime Inseln zu schaffen. Sie wollte keinen religiösen Staat, sondern einen Staat, in dem Religiöse wie auch Nichtreligiöse auf ihre Weise leben konnten. Rabbiner Reines, der Begründer des „Misrachi“, war politischer Zionist im Sinne Herzls. Ihm ging es um die Linderung der physischen Not der Juden. Hierfür, so argumentierte er, war es gleichgültig, ob man religiöser oder nichtreligiöser Zionist sei. Im Gegensatz zu den meisten seiner orthodoxen Zeitgenossen sah er den Zionismus nicht als gotteslästerliche Bewegung an, die dem Zeitalter des Messias vorgreift. Aber anders als viele seiner Nachfolger betrachtete er ihn auch nicht als eine Bewegung, die das messianische Zeitalter herbeiführen hilft. Reines und die frühen religiösen Zionisten marginalisierten vielmehr das messianische Element und konnten somit religiöse Orthodoxie und nationale Ideologie miteinander in Einklang bringen. Dies sollte für lange Zeit die dominierende Ideologie in der national-religiösen Bewegung bleiben, wenngleich sich seit den zwanziger Jahren mit dem zunehmenden Einfluß des ersten Oberrabiners von Palästina und vielleicht wichtigsten jüdischen Mystikers seiner Generation, Abraham Jitzchak Ha-Cohen Kuk (1865-1937, Oberrabiner 1921-1935), bereits eine neue Denkweise Einfluß verschaffte. Für Rabbiner Kuk war der Zionismus gerade wegen seiner messianischen Funktion von großer Bedeutung. Daß seine führenden Vertreter wie auch die meisten der ersten Einwanderer alles andere als religiös waren, störte ihn dabei nicht. Er betrachtete sie als Werkzeuge für eine gute Sache, die am Ende der Tage die eigentliche Aufgabe des Zionismus als einer religiös-messianischen Bewegung verstehen und Umkehr leisten würden. Kuk selbst blieb ein geachteter, wenngleich einsamer Denker, doch die wesentlich radikaleren Thesen seines Sohnes, Rabbiner Zvi Jehuda Kuk (1891-1982), sollten nach dem Sechs-Tage91
Krieg von 1967 die ideologische Grundlage für die Siedlerbewegung in den besetzten Gebieten bilden. Erst seit dieser Zeit gilt die national-religiöse Bewegung als Vordenkerin einer messianisch gefärbten, nationalistischen Position innerhalb des Zionismus. Hatten die frühen religiösen Zionisten unter weitgehender Ausschaltung des messianischen Elements versucht, sich einen Platz zumindest am Rande des organisierten Zionismus zu ergattern, so betrachteten sie sich hundert Jahre später gerade unter Berufung auf ihre messianische Rolle als eigentliche Avantgarde der Bewegung. Wirtschaftsordnung Ein letzter Faktor, der die verschiedenen Parteien voneinander schied, war die Frage der Wirtschaftsordnung im jüdischen Staat. Hier standen sich vor allem die Positionen der sozialistischen Zionisten und ihrer bürgerlichen Widersacher aus dem Lager der Revisionisten gegenüber. Geprägt vom sozialrevolutionären Gedankengut in Rußland trat der sozialistische Zionismus für die verschiedensten Formen kollektiven Zusammenlebens ein, die eine neue Gesellschaftsordnung in Palästina schaffen sollten. In der Kvutzah, oder wie es später hieß, dem Kibbuz, sollte nicht nur privater Besitz tabu sein, sondern auch die traditionelle Kleinfamilie durch spezielle Kinderhäuser verhindert werden und geistige mit körperlicher Arbeit verbunden werden. Zwar prägte diese Ideologie den Pioniergeist der ersten Siedler, doch die große Mehrheit der Einwanderer lebte immer außerhalb solcher sozialistischer Mustersiedlungen. Weitaus größere Bedeutung hatte die 1920 gegründete Einheitsgewerkschaft „Histadrut“, zu der in den dreißiger und vierziger Jahren etwa drei Viertel aller organisierten Arbeiter des Landes gehörten. Der Begriff „Arbeiter“ wurde dabei so weit ausgelegt, daß auch Lehrer, Angestellte und Freiberufler Mitglied werden konnten. So hatte David Ben-Gurion wohl recht, als er die „Histadrut“ nicht als eine Gewerkschaft kennzeichnete, sondern „als einen Bund von den Erbauern unseres 92
Heimatlands, Gründern des Staates, Erneuerern der Nation, Schöpfern der Zukunft“. Die „Histadrut“ war in der Tat mehr als ein Gewerkschaftsbund und in ihrer Bedeutung mit keiner ähnlichen Institution eines demokratischen Staates zu vergleichen. Die Abneigung der Revisionisten richtete sich nicht nur gegen die Arbeiterpartei selbst, sondern auch gegen die mit ihr verbundenen Einrichtungen wie eben die Gewerkschaft. Jabotinsky und seine Gefolgsleute propagierten eine bürgerliche Gesellschaft ohne kollektive und gewerkschaftliche Vorherrschaft und verzeichneten damit vor allem im Polen der Zwischenkriegszeit wie auch unter den von dort stammenden Einwanderern in Palästina Achtungserfolge. Dennoch wurde die tonangebende Stellung des sozialistischen Lagers seit Anfang der dreißiger Jahre immer klarer ersichtlich. Bildeten bis in die frühen zwanziger Jahre die über Landeslisten gewählten Allgemeinen Zionisten noch die klare Mehrheit der Delegierten bei den Kongressen, so war 1933 das sozialistische Lager mit 44 Prozent aller gewählten Delegierten das mit Abstand größte. In Palästina erzielten sie damals sogar 71 Prozent aller Stimmen. Jabotinskys Revisionisten fielen im gleichen Jahr von einem Stimmenanteil von 25 Prozent auf 14 Prozent zurück. Bis zu den israelischen Parlamentswahlen 1977 sollte das linke Lager die Dominanz in der zionistischen bzw. später israelischen Politik nicht mehr aufgeben.
5. Der lange Weg zum jüdischen Staat: Palästina als britisches Mandatsgebiet Nach dem Ersten Weltkrieg bahnte sich in Ostmitteleuropa eine entscheidende Veränderung für die Situation der jüdischen Minderheit an. Vor dem Krieg hatte die große Mehrheit der europäischen Juden in drei multinationalen Reichen gelebt: dem Zarenreich, dem Habsburgerreich und dem Osmanischen Reich. Sie waren dort eine von zahlreichen Minderheiten ge93
wesen und konnten ihre nationale Autonomie mit eigener Sprache (Jiddisch bzw. Ladino), eigenem Erziehungssystem und teilweise eigener Jurisdiktion zumindest in Grundzügen noch aufrechterhalten. Als Folge des Zerfalls dieser Staaten sahen sich die europäischen Juden mit einer neuen Lebenswelt konfrontiert. Die Eingliederung der großen und traditionsreichen jüdischen Gemeinde von Saloniki nach Griechenland am Vorabend des Ersten Weltkriegs ließ erahnen, was sich nach dem Krieg im größeren Maßstab in den neuen Staaten wie Jugoslawien und der Tschechoslowakei, im Baltikum und im wiedererstandenen Polen zeigen sollte. Der Anspruch auf nationale Souveränität, der eine zentrale Forderung in den Pariser Friedensverhandlungen 1919 war, ließ sich in der Praxis nämlich nur schwer einlösen. Bald wurde klar, daß man entweder „künstliche“ Staatengebilde wie Jugoslawien schaffen mußte oder, wie in Polen, über ein Drittel der Bevölkerung als nationale Minderheiten (Juden, Deutsche, Ukrainer) zu integrieren hatte. Nun waren diese nicht mehr dem Zar, dem Kaiser oder dem Sultan unterstellt, sondern dem dominierenden Anspruch der Mehrheitsnation. In der Praxis bedeutete dies mitunter für die Minderheiten kulturelle und wirtschaftliche Unterordnung, wenn nicht gar Ausgrenzung und Verfolgung. In der Sowjetunion andererseits zeigte sich nach anfänglicher kurzer Blüte jüdischer Kultur die massive Verfolgung aller organisierten Religionen, die bei den kleineren Minderheiten besonders spürbar wurde, durch den atheistischen Staat. In der Mitte Europas war die politische Instabilität durch den heraufkommenden Faschismus und Nationalsozialismus auch bzw. vor allem gegen die Juden gerichtet. Antisemitische Zwischenfälle in Deutschland und Österreich, weniger in Italien, markierten auch hier stärker als in den Vorkriegs Jahren den jüdischen Alltag. Es mag angesichts dieser Entwicklung kaum verwundern, daß der Zionismus in der Zwischenkriegszeit in ganz Europa an Anhängern gewann. Zum einen gab die politische Anerkennung durch die BalfourDeklaration der bis dahin häufig verspotteten Bewegung eine ungeahnte Respektabilität, zum anderen wurden vor allem 94
jüngere Juden aufgrund der sich mehrenden Ausgrenzung in ihrer Bindung an ihre jeweiligen Heimatstaaten unsicher. Zionismus in der Diaspora Deutsche und österreichische Zionisten standen zwar an der Spitze der zionistischen Bewegung von ihren Anfängen an bis nach dem Ersten Weltkrieg, doch machten sie sowohl unter ihren Anhängern weltweit wie auch unter den deutschsprachigen Juden nur eine kleine Minderheit aus. Damals rechneten sich wohl weniger als zehn Prozent aller deutschen Juden der zionistischen Bewegung zu, wobei ein nicht geringer Teil von ihnen selbst aus Osteuropa stammte. Die erste Generation deutscher Zionisten betrachtete als ihre Hauptaufgabe die Förderung der Auswanderung osteuropäischer Juden. Erst als eine jüngere Generation um Kurt Blumenfeld in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg an Einfluß in der Zionistischen Vereinigung für Deutschland gewann, nahm diese den Grundsatz, auch ihre eigene Zukunft in Palästina zu planen, in ihr Programm auf. Die tatsächliche Zahl deutscher Zionisten, die in den Jahren vor 1933 nach Palästina auswanderten, blieb allerdings äußerst gering und bewegte sich zwischen 1920 und 1932 insgesamt um die 3000. Auch wenn die Zahl der aktiven Zionisten in Deutschland in den zwanziger Jahren nicht entscheidend anstieg und sich unter 20000 bewegte, gewann der Zionismus doch an Sympathisanten. Dies drückte sich in erster Linie in bezug auf die sogenannte Gegenwartsarbeit aus. Unter diesem Begriff verstand man die Stärkung nationaljüdischen Ideenguts unter den Juden, die zwar gegenwärtig in der Diaspora verblieben, aber langfristig eine neue jüdische Gesellschaft mit aufbauen sollten. Eine der zentralen Forderungen der Gegenwartsarbeit in der Diaspora war Theodor Herzls Ruf nach „Eroberung der Gemeindestuben“. Vor dem Ersten Weltkrieg waren die jüdischen Gemeinden fest in der Hand der Liberalen oder Orthodoxen, die beide den Zionismus als politische Bewegung ablehnten. Mit der Demokratisierung des Wahlrechts in 95
der Weimarer Republik kam es dann mancherorts zu einer Gewichtsverlagerung zugunsten der von Zionisten beherrschten Jüdischen Volkspartei. In den internen Gemeindewahlen konnte sie mitunter überraschende Erfolge verbuchen, die dazu führten, daß in Berlin Ende der zwanziger Jahre mit Georg Kareski zeitweise ein aktiver Zionist der größten jüdischen Gemeinde in Deutschland vorstand. In Wien gab es eine noch deutlichere Entwicklung zugunsten der zionistischen Parteien, die ab 1932 die Mehrheit in der Kultusgemeinde stellten. In Deutschland und Österreich ließen sich die Erfolge des Zionismus weniger in der Zahl der Auswanderer messen als in der Veränderung des Selbstverständnisses der jüdischen Bevölkerung, dem erfolgreichen Ausbau des jüdischen Erziehungssystems und der teilweisen Umformung jüdischer Religionsgemeinden in „Volksgemeinden“, die weit mehr als nur die religiösen Bedürfnisse ihrer Mitglieder befriedigten. Ein weiterer Erfolg des Zionismus in Mitteleuropa war die Einbeziehung von Nichtzionisten in zionistische Gremien, allen voran beim Palästina-Aufbau. Das zu diesem Zweck 1920 eingerichtete Jüdische Palästinawerk „Keren Hajessod“ verfolgte in seiner zwei Jahre später in Deutschland gegründeten Vertretung einen besonderen Kurs, indem es nichtzionistische Honoratioren, wie den Rabbiner Leo Baeck, den Bankier Oskar Wassermann (als Vorsitzenden) und Vertreter großer jüdischer Organisationen und Gemeinden, bewußt mit einbezog. Zwar gaben die Zionisten damit einen Teil der Kontrolle des Palästinaaufbaus aus ihren Händen, sorgten aber für die Erweiterung der Grundlage ihrer Tätigkeit und machten den Zionismus in einer weitgehend ablehnend eingestellten Umgehung salonfähig. Kaum vergleichbar mit der Situation in Deutschland war der Zionismus im Osteuropa der Zwischenkriegszeit. In der Sowjetunion waren nach einer anfänglichen kurzen Öffnung gegenüber der hebräischen Sprache und jüdisch-kulturellen Unternehmungen alle zionistischen Aktivitäten durch die jüdische Sektion der Kommunistischen Partei (die „Jewsektsia“) gebannt. Die Geschichte des Zionismus hätte sicherlich anders 96
ausgesehen, wäre in diesem Zentrum des Vorkriegszionismus mit seinen nahezu drei Millionen jüdischen Bürgern eine zionistische Betätigung möglich gewesen. In den größten Teilen Ostmitteleuropas dagegen war der Nährboden für die zionistische Bewegung nahezu ideal. Ausnahmen bildeten lediglich Gebiete mit strikt orthodoxer Bevölkerung wie im äußersten Osten der Tschechoslowakei oder dem rumänischen Maramures sowie Gebiete mit relativ stark assimilierter jüdischer Bevölkerung wie Teile Böhmens und Ungarns. Im allgemeinen aber bildete Ostmitteleuropa zwischen den Weltkriegen das Zentrum nicht nur zionistischer Aktivitäten, sondern auch der Auswanderung nach Palästina. Hinzu kam nach dem Ersten Weltkrieg die Ermutigung dadurch, daß kleine Völker wie Esten und Letten ihre Staatlichkeit erlangten und auch die alte Nation der Polen wiederhergestellt wurde. In dieser Situation schien vielen auch die Stunde der Zionisten gekommen. Neben der Eroberung der Gemeindestuben waren die wichtigsten Ziele der Zionisten die kulturelle Durchdringung der Diaspora mit hebräischer Sprache sowie die Mobilisierung der jüngeren Bevölkerung für die Auswanderung. In der Tschechoslowakei erlangte der Zionismus zeitweise besondere Prominenz durch die Sympathie, die ihm von seiten des Präsidenten Tomas Masaryk entgegengebracht wurde. Drei zionistische Kongresse der Zwischenkriegszeit fanden auf tschechischem Boden (in Karlsbad und Prag) statt. Als sich 1918 in Prag ein zionistisch orientierter „Jüdischer Nationalrat“ bildete, spielte Max Brod eine aktive Rolle. Später erhielt die von Zionisten geführte „Jüdische Partei“ ein Mandat im Prager Parlament. In Ungarn bekämpften die reformorientierten Neologen die „Zionistische Vereinigung“, die erst 1927 legalen Status erhielt. Die Zahl der Auswanderer hielt sich in beiden Ländern in Grenzen, ebenso wie im benachbarten Rumänien, wo auch zionistische Abgeordnete ins Parlament gewählt wurden. Die gemessen an der jüdischen Gesamtbevölkerung höchste Zahl aktiver Zionisten wie auch Auswanderer nach Palästina wies das kleine Litauen auf, in dem sich nur ein verschwindend geringer Teil der jüdischen 97
Bevölkerung mit der dominierenden Sprache und Kultur identifizierte und wo es nur sehr wenige innerjüdische Gegner des Zionismus – vor allem chassidische Juden – gab. Das Zentrum zionistischer Aktivitäten bildeten die etwa drei Millionen polnischen Juden. Die meisten von ihnen betrachteten sich als eigene Volksgruppe, sprachen ihre eigene Sprache und fühlten eine traditionelle Anhänglichkeit an das Land Israel. Dadurch waren ganz andere Voraussetzungen für die zionistische Tätigkeit gegeben als in einer Bevölkerungsgruppe, die sich als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens definierte. Im polnischen Parlament, dem Sejm, waren zeitweise über 30 zionistische Abgeordnete vertreten. Die zahlreichen jüdischen Presseorgane waren in der Regel prozionistisch. Die zionistische Jugendbewegung zählte über 100 000 Mitglieder, und über 40 000 Schüler lernten im hebräischsprachigen Tarbut-Schulwerk. Die Zahl der Auswanderer nach Palästina blieb allerdings mit etwa 140 000 zwischen 1919 und 1942 auf einen kleinen Bruchteil der polnisch-jüdischen Bevölkerung beschränkt. Gleichzeitig waren in Polen die politischen Differenzen innerhalb der jüdischen Gemeinden wie auch innerhalb des Zionismus stärker ausgeprägt als in Westeuropa. Assimilationisten, Orthodoxe, sozialistische Bundisten und Autonomisten traten gegen die stark aufgesplitterten zionistischen Gruppierungen an, unter denen in den zwanziger Jahren die bürgerlichen Revisionisten von Vladimir Jabotinsky starken Zulauf erhielten. Ähnlich bedeutend waren die Revisionisten nur in Südafrika, wo in einer relativ kleinen jüdischen Bevölkerung das zionistische Engagement besonders stark war. Während der zwanziger Jahre war das südafrikanische ProKopf-Aufkommen für den „Keren Hajessod“ das weltweit höchste. 1930 waren bereits 200 verschiedene Organisationen mit dem Verband der südafrikanischen Zionisten assoziiert. In den jüdischen Gemeinden Nordafrikas und des Nahen Osten war die messianische Rückkehrerwartung ins Heilige Land traditionell stark geblieben. Doch konnte auch hier, oftmals unter Einfluß europäischer Emissäre, der politische Zionismus bald Fuß fassen. Bereits am 2. Zionistischen Kongreß 98
1898 nahmen Delegierte aus Algerien, Tunesien und Ägypten teil. In der Zwischenkriegszeit waren vor allem die zionistischen Jugendorganisationen aktiv. Der Erfolg der tatsächlichen Auswanderung hing nicht zuletzt von den jeweiligen Lebensbedingungen ab. Aus dem Jemen wanderten in den drei Jahrzehnten vor der Staatsgründung ca. 14 000 Juden nach Palästina ein, aus Syrien (einschließlich Libanon) ca. 10 000, und aus dem Irak 8000 – aus Algerien dagegen nur wenige hundert. Die zunehmende politische Zuspitzung des PalästinaKonflikts und schließlich die Staatsgründung Israels führten zu teilweise schweren Ausschreitungen gegen die lokale jüdische Bevölkerung und in der Folge zu deren Massenflucht. Zum zahlenmäßig stärksten zionistischen Landesverband stieg während der Zwischenkriegszeit der amerikanische auf. Anders als in Osteuropa hatten hier nur wenige Juden tatsächlich Interesse, nach Palästina auszuwandern. Die meisten von ihnen waren erst vor kurzem eingewandert und wollten nicht schon wieder ans Auswandern denken. Ausnahmen gab es selbstverständlich, wie etwa die spätere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, die in Kiew geboren und in Milwaukee aufgewachsen war, bevor sie sich 1921 in einem Kibbuz in Palästina ansiedelte. In der Regel jedoch zeichneten sich die amerikanischen Zionisten durch eine eher philanthropische als aktivistische Haltung aus. Gegründet gegen den ausdrücklichen Widerstand des deutsch-jüdischen Establishments kämpften die zionistischen Organisationen in den USA zunächst um gesellschaftliche Anerkennung. So war es besonders wichtig, daß sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben den angesehenen Männern, die im zionistischen New Yorker Achavah-Club aktiv waren, an den bedeutenden Universitäten Bostons wie Harvard, Tufts und Boston University zionistische Zirkel herausbildeten. Der endgültige Durchbruch des amerikanischen Zionismus als einer ernstzunehmenden Kraft gelang mit der Wahl des prominenten Anwalts Louis D. Brandeis zum Vorsitzenden der „Federation of American Zionists“ 1914. Als er zwei Jahre später an den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten berufen wurde, bedeutete dies zwar das Ende sei99
ner offiziellen zionistischen Tätigkeit, gleichzeitig aber auch einen ungeheuren Sieg für die Sache des Zionismus. Die zionistische Bewegung, deren Sitz während der Kriegsjahre vorübergehend ins neutrale Kopenhagen verlegt wurde, erhielt nach Kriegsende mit London ein neues Zentrum und mit Chaim Weizmann einen neuen Präsidenten. Auf einer 1920 in London abgehaltenen Konferenz kam es zur Konfrontation zwischen den unterschiedlichen Persönlichkeiten von Weizmann und Brandeis. „Ich stimme mit der Philosophie Ihres Zionismus nicht überein“, erklärte Weizmann frei heraus und fuhr fort: „Wir sind verschieden, grundverschieden. Es gibt keine Brücke zwischen Pinsk und Washington.“ (G.L.Berlin: The Brandeis-Weizmann Dispute, in: J.Reinharz/ A. Shapira [Hg.], Essential Papers on Zionism, 1996, S. 340) Der bedeutendere Machtkampf innerhalb des Zionismus der Zwischenkriegs jähre sollte jedoch nicht zwischen London und New York, sondern zwischen London und Jerusalem ausgetragen werden. Weizmann blieb trotz der Herausforderung seiner verschiedenen internen Gegner wie Brandeis oder Jabotinsky und trotz seiner vierjährigen Ablösung an der Spitze der Weltorganisation durch Nahum Sokolov (1931-1935) bis zur Staatsgründung Israels der oberste Repräsentant der zionistischen Bewegung. Jedoch wurde er immer mehr zu einer Art „Elder Statesman“, dem die eigentlichen täglichen politischen Angelegenheiten langsam aus den Händen glitten. Zionistische Politik für Palästina wurde nämlich immer mehr von Jerusalem selbst aus gesteuert, und hier hielt David BenGurion die Fäden in der Hand. Die Konstellation von 1948, als Weizmann mit dem Amt des Staatspräsidenten eine weitgehend repräsentative Rolle, Ben-Gurion aber mit dem des Ministerpräsidenten eine machtpolitische erhielt, bahnte sich schon während der zwei vorausgehenden Jahrzehnte an. Palästina unter den Briten Während des Ersten Weltkriegs verließen knapp 20 000 Juden Palästina, teils freiwillig, zumeist aber gezwungen. Sie waren 100
Bürger der unterschiedlichsten Staaten und mußten in die Uniformen der europäischen Armeen schlüpfen. Manche früheren Nachbarn aus Jaffa oder einer landwirtschaftlichen Kollektivgemeinschaft in Galiläa sahen sich nun als Gegner auf dem europäischen Schlachtfeld wieder. Palästina selbst war eher ein Nebenschauplatz des großen Kriegsgeschehens, wobei allerdings auch hier gegen Ende des Krieges elende Zustände herrschten und sich vor allem unter der arabischen Bevölkerung eine zahlreiche Opfer fordernde Hungersnot bemerkbar machte. Die Alliierten trafen noch vor der eigentlichen Eroberung des Nahen Ostens Vorkehrungen zur Aufteilung der von dem „kranken Mann am Bosporus“ zu beerbenden Gebiete. Gemäß dem Sykes-Picot-Abkommen vom 9. Mai 1916 sollte Frankreich den Süden Anatoliens bis nach Mossul, Akko und Damaskus kontrollieren, während die Engländer das sich südlich anschließende Gebiet von Amman bis Bagdad erhalten sollten. Für die Heiligen Stätten in Palästina war eine internationale Aufsicht vorgesehen. Gleichzeitig machten die Briten sowohl Juden wie auch Arabern Versprechungen. Neben der bereits erwähnten Balfour-Deklaration stellte der High Commissioner in Ägypten, Henry MacMahon, dem Scharif von Mekka, Hussein, ein großarabisches Reich in Aussicht. Genauso vage wie die Formulierung Lord Balfours bezüglich einer jüdischen Heimstätte in Palästina war jedoch der Brief MacMahons: Ob Palästina in diesem arabischen Staat enthalten ist oder nicht, wird mit keinem Wort erwähnt. Zunächst setzten sich während der unmittelbaren Nachkriegsjahre die diplomatischen Erfolge des Zionismus fort. Die Konferenz von San Remo beschloß 1920, Großbritannien das Völkerbund-Mandat für Palästina auf der Grundlage der Balfour-Deklaration anzuvertrauen. Damit war das vom britischen Außenminister gegebene Versprechen, eine nationale Heimstätte für die Juden zu schaffen, auf eine internationale völkerrechtliche Grundlage gestellt. Die nächsten Jahrzehnte sollten die Zionisten um die Einlösung dieses Versprechens kämpfen – und dabei feststellen müssen, daß Lord Balfours Formulierung äußerst dehnbar war. 101
Die Anfänge freilich waren vielversprechend. Nach einer Übergangsphase zwischen 1917 und 1920, während der Palästina von der OETA (Occupied Enemy Territory Administration) verwaltet wurde, entsandte Großbritannien als ersten Hochkommissar den jüdischen Kabinettsminister Sir Herbert Samuel. Daß ein Jude, der zudem noch dem Zionismus positiv gegenüberstand, das höchste politische Amt in Palästina innehatte, verstanden viele Zionisten als positives Zeichen, wenn nicht gar als Anbruch eines neuen Zeitalters. Auch die Tatsache, daß das Mandat vorsah, eine „Jewish Agency“ als öffentliche Körperschaft anzuerkennen, die mit der Verwaltung in wirtschaftlichen, politischen und anderen Angelegenheiten kooperierte, wurde als vielversprechender Neubeginn gewertet. Aber bald wurden auch andere Tendenzen in der britischen Politik deutlich. Winston Churchill, damals Kolonialminister, machte in einem „Weißbuch“ von 1922 klar, daß England nicht beabsichtige, Palästina „so jüdisch werden zu lassen wie England englisch“ ist. Die Einwanderung von Juden sei zwar erlaubt, aber nicht über das für die Wirtschaft des Landes verträgliche Maß hinaus. Zudem versuchte das Weißbuch, die Balfour-Deklaration näher zu erläutern, blieb dabei allerdings auch recht vage: „Wenn man fragt, was mit der Entwicklung der Jüdischen Nationalen Heimstätte in Palästina’ gemeint sei, so ist zu antworten, daß es nicht bedeutet, den Einwohnern ganz Palästinas jüdische Nationalität aufzuzwingen, sondern die bestehende jüdische Gemeinschaft mit der Hilfe von Juden in anderen Teilen der Welt weiterzuentwickeln, damit sie ein Zentrum werden möge, für das das jüdische Volk als ganzes, aus religiösen und rassischen Gründen, Interesse und Stolz fühlen darf.“ (Ch. Sykes, Kreuzwege nach Israel. Die Vorgeschichte des jüdischen Staates, 1967, S. 74) Das bis dahin mit Palästina verbundene Transjordanien (heute: Jordanien) wurde als Folge des Weißbuches vom Mandat abgetrennt. Stieß dies nicht gerade auf Begeisterung unter den Zionisten, so nahmen sie Sir Samuel noch mehr übel, daß er mit einem vorläufigen Einwanderungsstop auf die Unruhen des Jahres 1921 reagierte. 102
Innerhalb des Zionismus war Anfang der zwanziger Jahre ebenfalls ein Krisenbewußtsein zu spüren: Nur ein Drittel der beim Zionistenkongreß 1923 anvisierten eineinhalb Millionen Pfund konnte eingenommen werden, die Einwanderungszahlen nach Palästina lagen mit knapp 10 000 jährlich weit unter den Erwartungen, und Weizmann wurde von russischen Zionisten wie Ussishkin und Jabotinsky eine zu milde Position gegenüber den Briten vorgeworfen. Man mußte einsehen, daß auch mit der diplomatischen Anerkennung keine großzügigen Spenden wohlhabender Juden zu verzeichnen waren, daß der große Aufbruch aus Osteuropa nicht erfolgte und daß die Einheit der zionistischen Bewegung eine Illusion war. Dennoch konnte der Zionismus auch in jenen Jahren Erfolge erzielen. Weizmanns große Stunde schlug am 11. August 1929, als er die Gründungsversammlung der bereits im Mandat für Palästina vorgesehenen „Jewish Agency“ eröffnen konnte, deren Jerusalemer Exekutive sich um die Einwanderung nach Palästina, den Landkauf sowie den kulturellen Aufbau kümmern sollte. Nach jahrelangen Verhandlungen war es Weizmann gelungen, prominente Nichtzionisten in die Agency mit einzubeziehen. Darunter waren Albert Einstein, der spä103
tere französische Ministerpräsident Leon Blum und der langjährige Präsident des American Jewish Committee, Louis Marshall. Langfristig konnte sich allerdings die angestrebte Unabhängigkeit der Agency von der Zionistischen Weltorganisation nicht durchsetzen, so daß sie praktisch zu ihrem Exekutivorgan wurde, deren beider Vorsitz in Personalunion verbunden war. Die Freude über die Gründung der „Jewish Agency“ verflog noch in den ersten Wochen ihres Bestehens. Louis Marshall, eine ihrer Säulen, verstarb nur wenig später, der Börsenkrach an der Wall Street blieb nicht ohne Auswirkungen auf den Palästinaaufbau, und in Palästina selbst brachen im August 1929 die schwersten Unruhen seit Beginn der Mandatszeit aus. Anlaß hierfür waren Statusfragen, die Klagemauer betreffend. Bereits in den Jahren zuvor hatten die muslimischen Autoritäten das Aufstellen von Stühlen für ältere Leute und einer Trennwand zwischen Frauen und Männern als Verletzung des Status quo angesehen. Als dann arabische Bauarbeiten um die Klagemauer für Empörung unter der jüdischen Bevölkerung sorgten, kam es zu Protestmärschen mehrerer hundert junger jüdischer Demonstranten. Am 23. August begannen die Unruhen auf andere Städte überzugreifen, und innerhalb einer Woche wurden insgesamt 133 Juden, davon allein 60 in Hebron, ermordet und mehrere hundert verletzt. Auf arabischer Seite waren 87 Tote und etwa hundert Verletzte zu verzeichnen. Die Ereignisse vom August 1929 markierten eine Wende in den Beziehungen zwischen Juden und Arabern in Palästina. Zwar war es immer wieder zu einzelnen Gewaltausbrüchen gekommen, doch die vom Mufti von Jerusalem abgesegnete Gewalt sollte den Auftakt einer Welle von Ereignissen bilden, die alle politischen Vorstöße in Palästina während der dreißiger Jahre überschatteten. Auch die britische Regierung, vertreten durch einen neuen High Commissioner, Sir John Chancellor, war nicht in der Lage, diesen Konflikt bereits im Ansatz zu ersticken. Immer neue Kommissionen wurden während der dreißiger Jahre von London nach Palästina geschickt, 104
um Lösungen, zumeist in Form von Teilungsplänen, auszuarbeiten, doch alle verliefen letztlich im Sande. Direkt nach den Unruhen vom August 1929 ernannte der britische Kolonialminister Lord Passfield eine Untersuchungskommission, deren Bericht – der Shaw-Report – im März 1930 die Verantwortung der Araber an den Massakern betonte, aber gleichzeitig die jüdische Immigration, die über das für das Land verträgliche Maß hinausgehe, als entscheidenden Faktor für die Instabilität der Region hervorhob. Die politische Linie der britischen Regierung, wie sie in einem Weißbuch Passfields deutlich zutage trat, bedeutete de facto eine Abkehr von der Balfour-Deklaration. Auch innerhalb der zionistischen Bewegung hatte dies seine Auswirkungen. Weizmann geriet zunehmend als zu pro-britisch unter Beschuß. Als er sich in einem Presseinterview während des Zionistenkongresses 1931 von der Forderung nach einer jüdischen Mehrheit in Palästina distanzierte, war dies der Anlaß für die Mehrheit der Delegierten, einem Mißtrauensvotum gegen Weizmann zuzustimmen. Da allerdings seine Gegner tief gespalten waren und seine Anhänger weiterhin die größte Fraktion stellten, kam es letztlich zu einer Weizmann günstig gesonnenen neuen Mannschaft mit Nahum Sokolov an der Spitze. Weizmann selbst wurde vier Jahre später wieder an die Spitze der Zionistischen Organisation gewählt. In diese turbulente Zeit fiel der bisherige Höhepunkt der Einwanderung nach Palästina. Grund dafür waren nicht die verbesserten Lebensbedingungen in der neuen Heimat, sondern die unmittelbare Gefahr in der alten. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und die Bedrohung der Nachbarländer brachten 1933 37 000, 1934 45 000 und 1935 66 000 neue Einwanderer ins Land. In nur drei Jahren verdoppelte sich damit die jüdische Bevölkerung Palästinas nahezu, und vor allem der Ausbau der drei Städte Tel Aviv, Jerusalem und Haifa machte in dieser Zeit rasante Fortschritte. Im Gegensatz zu den Juden aus Osteuropa war es bei den deutschen Einwanderern häufig nicht so sehr der zionistische Idealismus, sondern die handfeste Bedrohung, die sie 105
nach Palästina brachte. Etwas zugespitzt kam dies in der damals unter der jüdischen Bevölkerung Palästinas kursierenden Scherzfrage zum Ausdruck: „Kommen Sie aus Überzeugung oder aus Deutschland?“ Aufgrund der britischen Restriktionen sank die Einwandererzahl jedoch ab Mitte der dreißiger Jahre, in denen ein sicherer Zufluchtshafen besonders wichtig gewesen wäre, rapide: 1936 waren es unter 30 000 Einwanderer, 1937 etwa 10 000, und nur wenig mehr in den folgenden beiden Jahren. Während die Zuwanderer aus dem deutschsprachigen Raum bis 1933 nur etwa 2,5 Prozent der Einwanderung ausmachten, stieg ihr Anteil bis Ende der dreißiger Jahre auf über 70 Prozent im Jahr an. Die hohen Einwandererzahlen bis in die Mitte der dreißiger Jahre waren die Hauptursache für die große Revolte der arabischen Bevölkerung 1936, die in einem Generalstreik sowie in Ausschreitungen gegen Juden ihren Ausdruck fand. Dem Mufti von Jerusalem zufolge sollte das ganze zionistische Experiment als gescheitert erklärt und abgebrochen werden. Er plädierte für ein völliges Ende der Immigration, die Aberkennung des Hebräischen als einer der drei offiziellen Sprachen und die Ausrufung eines arabischen Staates in Palästina. Aber auch die größeren politischen Entwicklungen in der gesamten Region trugen zu den Unruhen von 1936 bei. Der arabische Nationalismus hatte mit der Gründung neuer Staaten frischen Auftrieb erhalten. Bereits zu Beginn der zwanziger Jahre hatten die Briten Transjordanien und Ägypten formale Souveränität erteilt. Auch Frankreich hatte an die unter seinem Herrschaftsbereich stehenden Staaten ähnliche Zugeständnisse gemacht. Nachdem Feisal, der Sohn des Scharifs von Mekka, nach einem kurzen Intermezzo als König von Syrien wieder abgesetzt worden war, vereinigten die Franzosen 1925 die beiden Kleinstaaten Aleppo und Damaskus zu Syrien, während dem Libanon 1926 größere Selbständigkeit gewährt wurde. 1930 war dem Irak (wo Feisal von den Briten als König eingesetzt wurde, die seinen Bruder Abdullah zum Emir von Transjordanien machten) eine eingeschränkte Unabhängigkeit gewährt worden. Diese Entwicklungen, die mehr symbolischer 106
als machtpolitischer Natur waren, erhöhten sowohl auf jüdischer wie auch auf arabischer Seite die politischen Erwartungen an die Mandatsmacht. Die Zionisten erwarteten, daß die Briten nun auch die Balfour-Deklaration einlösen und analog zu den arabischen Staaten in der Region einen jüdischen Staat in Palästina zulassen würden, während auf der anderen Seite ein arabisch-palästinensischer Staat in Reichweite schien. Mit der Zuspitzung der politischen Lage in Europa versuchten die Achsenmächte Deutschland und Italien, sich die komplizierte Lage der Engländer zu Nutze zu machen. Mussolini unterstrich von seinen afrikanischen Stützpunkten in Libyen und Äthiopien seine Ansprüche auf größeren Einfluß im östlichen Mittelmeerraum, während Hitler bemüht war, die deutsche Position in der arabischen Welt durch kulturelle und wirtschaftliche Aktivitäten zu fördern. Neben der Betonung des gemeinsamen Gegners versuchten die Nationalsozialisten die panarabischen Bestrebungen vor allem dadurch zu fördern, daß sie sie mit der Bildung eines Großdeutschen Reichs in Verbindung brachten. Die Briten befanden sich damit in einer politischen Zwickmühle. Einerseits hatten sie sich in der Balfour-Deklaration von 1917 für die Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina ausgesprochen und erkannten angesichts des sich rasch verbreitenden staatlichen Antisemitismus in Europa die wachsende Notwendigkeit eines solchen Schritts. Andererseits mußten sie um den Verlust ihres Einflusses in der arabischen Welt fürchten, als sich der Konflikt mit den faschistischen Mächten weltweit zuspitzte. Es war den Briten durchaus bewußt, daß die Juden im Falle eines Weltkriegs gar keine Alternative hatten als auf seiten der Briten und gegen die Deutschen zu kämpfen, während die arabische Seite kein automatischer Verbündeter war. Diese Überlegung sollte während der dreißiger und frühen vierziger Jahre die britische Nahostpolitik dominieren. De facto bedeutete dies eine Rücknahme der in der BalfourDeklaration gemachten Versprechen und das Bemühen, den Palästina-Konflikt durch eine drastische Begrenzung der Einwandererzahlen unter Kontrolle zu halten. 107
Teilungspläne Die im April 1936 ausgebrochenen Unruhen dauerten drei Jahre lang und hatten eine stärkere Wirkung als die früheren von 1921 und 1929. Nach der Zunahme einzelner Gewalttaten auf beiden Seiten beschloß ein vom Jerusalemer Großmufti Haj Amin Muhammad al-Husseini eingesetztes „Arab Higher Committee“, die Steuerzahlungen einzustellen und einen landesweiten Generalstreik auszurufen. Erst nachdem die britische Regierung mit einem militärischen Konflikt drohte und gleichzeitig versprach, eine Untersuchungskommission ins Land zu schicken, die sich die arabischen Beschwerden anhören würde, ließ der Mufti am 11. Oktober 1936 den Streik und die Welle der Gewalt beenden. Unter dem Vorsitz des früheren britischen Indienministers, Lord Robert Peel, kamen die sechs Kommissionsmitglieder im November 1936 nach Palästina. In fünfmonatiger sorgfältiger Arbeit, nach der Befragung jüdischer, arabischer und britischer Zeugen und der Durchsicht wichtiger Dokumente, veröffentlichte die Kommission im Juli 1937 ihren über 400-seitigen Bericht. Das Ergebnis bedeutete ein Eingeständnis, daß die britischen Versprechen an Araber und Juden nicht im Rahmen eines Staates miteinander zu verbinden seien. Nur eine drastische Veränderung der bestehenden Situation könne beiden Seiten zumindest in Ansätzen gerecht werden. Das wohl einflußreichste Kommissionsmitglied, Professor Reginald Coupland, machte das Ausmaß der Veränderung klar, indem er betonte: „Wir brauchen eine Operation; kein ehrlicher Arzt würde in dieser Situation Aspirin und eine Wärmflasche verschreiben.“ (H.M. Sachar, A History of Israel. From the Rise of Zionism to Our Time, 1979, S. 203) Weizmann verstand, was diese Operation für den Patienten bedeutete: in zwei Teile geschnitten zu werden. Ein salomonisches Urteil kam in dieser Situation nicht in Frage. Die Peel-Kommission empfahl erstmals die Aufteilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat mit zwei Mandatsenklaven (ein Streifen von Jerusalem bis zur Küste 108
südlich von Jaffa und das Gebiet um Nazareth). Eine ideale Lösung war dies gewiß nicht. Dennoch war hiermit der entscheidende Durchbruch zur Zwei-Staaten-Lösung getan, der während der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den unterschiedlichsten Varianten immer wieder neu belebt werden sollte. Zunächst jedoch handelte es sich um eine Totgeburt. Nach anfänglicher Zurückhaltung gegenüber dem geplanten Ministaat, der einen schmalen Küstenstreifen zwischen Tel Aviv und der Grenze zum Libanon sowie Galiläa umfassen sollte, empfahl der Zionistische Kongreß (gegen den erbitterten Widerstand von Jabotinsky, Ussishkin und einer einflußreichen Minderheitengruppe), diese Möglichkeit eigener Staatlichkeit weiterzuverfolgen. Weizmann hielt sie für die einzig realistische Chance, in absehbarer Zukunft einen Staat zu erhalten, und Ben-Gurion betrachtete sie als Ausgangspunkt für einen später expandierenden Staat. Die arabische Seite dagegen machte aus ihrer prinzipiellen Ablehnung kein Hehl. Sie forderte eine sofortige Einstellung der Einwanderung und die Gründung eines palästinensischen Staates, solange noch eine arabische Mehrheit bestand. Mittlerweile rückten auch die Briten von den Empfehlungen der Peel-Kommission ab. Einer ihrer schärfsten Kritiker war Lord Herbert Samuel, der im Oberhaus auf die zahlreichen Mängel des Teilungsgedankens hinwies und die Bildung einer großen arabischen Staatenkonföderation forderte, in der Juden sich niederlassen könnten, ohne den arabischen Nationalismus herauszufordern. Im September 1937 wurde der Distriktgouverneur von Galiläa und Akko, Lewis Andrews, in Nazareth von arabischen Nationalisten erschossen, was eine neue Welle der Gewalt wie auch antiarabische Repressionen von britischer Seite auslöste. Die Briten entsandten eine erneute Untersuchungskommission unter Führung von Sir John Woodhead vor Ort, die allerdings von arabischer Seite praktisch boykottiert wurde und der Gewalt kein Ende setzen konnte. Am 9. November 1938 lag ihr Bericht, der den PeelPlan als unrealistisch zurückwies, dem britischen Parlament 109
vor. Der Woodhead-Bericht sah zwar noch einmal einen Staatenbund vor, in dem der jüdische Teil nun auf ein Zwanzigstel des. 1922 bereits um Transjordanien reduzierten Mandatsgebiets und auf ein Hundertstel des von den Revisionisten beanspruchten Gebiets zu beiden Seiten des Jordans zusammengeschrumpft war. Bereits zwei Tage später jedoch lehnte das Kabinett jede Teilung Palästinas ab und kam zu dem banalen Schluß, daß „die sicherste Grundlage für Frieden und Wohlstand in Palästina eine Verständigung zwischen Juden und Arabern“ wäre. Hierzu hätte man nicht unbedingt mehrere Kommissionen beauftragen und Hunderte von Seiten für offizielle Berichte in Anspruch nehmen müssen. Als diese Entscheidungen im britischen Parlament fielen, brannten in Deutschland die Synagogen, und Zehntausende deutscher Juden wurden in Konzentrationslagern eingesperrt. Noch konnten sie frei kommen, vorausgesetzt, es lag ihnen eine Einreiseerlaubnis in ein fremdes Land vor. In dieser Situation jedoch schlossen sich die Tore Palästinas immer weiter. Der bisher größte und folgenschwerste Rückschlag nicht nur für die Zionisten, sondern für die europäischen Juden insgesamt, war die im Februar 1939 eröffnete Round Table Conference im Londoner St. James Palace. Genauer gesagt müßte man von zwei Konferenzen sprechen, da sich die arabischen Vertreter weigerten, mit den Juden am gleichen Tisch zu sitzen. Das Ergebnis der Besprechungen wurde im Mai 1939 in Form eines neuerlichen Weißbuchs veröffentlicht, das für die Kriegsjahre die britische Palästinapolitik bestimmen sollte. Nachdem in der Einführung klargestellt wurde, daß die Balfour-Deklaration niemals die Gründung eines jüdischen Staates gegen den Willen der arabischen Bevölkerung vorgesehen hatte, war es nun die Absicht der britischen Regierung, Palästina innerhalb von zehn Jahren in die Unabhängigkeit zu entlassen. Um auch dann noch eine arabische Mehrheit sicherzustellen, wurde eine Quote von jährlich 10000 jüdischen Einwanderern in den nächsten fünf Jahren sowie von 25 000 zusätzlichen Einwanderern festgelegt. Danach sollten keine jüdischen Einwanderer mehr ohne arabische Zustim110
mung ins Land gelassen werden. Zudem wurde der Verkauf von Land an Juden ab sofort verboten. Dieses Ergebnis bedeutete eine niederschmetternde Enttäuschung für Weizmann persönlich und den Zionismus insgesamt. Es zeigte letztlich auch die Machtlosigkeit jüdischer Interessen gegenüber der britischen Regierung und markierte das Ende der Hoffnungen von Millionen durch den Nationalsozialismus bedrohter europäischer Juden. Es entbehrte nicht einer bitteren Ironie, daß das Ende der jüdischen Emigration auf das Jahr 1944 festgelegt wurde, als die Gasöfen von Auschwitz auf Hochtouren liefen und von den großen jüdischen Gemeinden zwischen Wilna und Saloniki, Warschau und Amsterdam so gut wie nichts mehr übriggeblieben war. David Ben-Gurion formulierte damals die neue Situation folgendermaßen: „Jahrhundertelang fragten sich die Juden in ihren Gebeten: ,Wann wird es für unser Volk wieder einen Staat geben?’ Aber niemand hätte jemals daran gedacht, die furchtbare Frage zu stellen: ,Wird es unser Volk noch geben, wenn dieser Staat entstehen wird?’“ Die Politik Ben-Gurions und der zionistischen Führung in bezug auf Rettungsmaßnahmen für die von der Vernichtung bedrohten europäischen Juden wurde von der Forschung in den letzten Jahren zunehmend kritisch hinterfragt. Dabei wird vor allem darauf hingewiesen, daß Ben-Gurions Priorität der Errichtung eines jüdischen Staates möglichen Rettungsmaßnahmen außerhalb des zionistischen Rahmens zuwiderlief. Selbst diese Kritiker akzeptieren aber grundsätzlich die Tatsache, daß die staatenlose zionistische Führung während des Zweiten Weltkriegs über begrenzte politische Druckmittel verfügte. Ob sie wollten oder nicht – die Zionisten mußten an der Seite der britischen Mandatsmacht in den Krieg gegen das antisemitische Deutschland ziehen. Die Briten konnten dagegen in den arabischen Staaten aktiv Verbündete suchen, hatten diese doch zum Teil erkennen lassen, daß es für sie durchaus andere Optionen gab. So wurde der Großmufti von Jerusalem am 30. November 1941 mit viel Pomp von Hitler empfangen und rief wiederholt über deutsche Radiostationen 111
zur arabischen Unterstützung der Nationalsozialisten auf. Mit dem Vormarsch Rommels in Nordafrika bereitete sich auch die jüdische Bevölkerung Palästinas auf das Schlimmste vor; der zu dieser Zeit ausgearbeitete „Carmel-Plan“ beinhaltete die bewaffnete Verteidigung innerhalb eines Landstreifens im Norden Palästinas. Kurz bevor Rommels Armee bei Al-Alamein geschlagen wurde und damit die Gefahr für die Juden Palästinas gebannt war, versammelten sich im Mai 1942 etwa 600 zumeist amerikanische zionistische Delegierte zu einer Notkonferenz im New Yorker Biltmore Hotel. Das von Ben-Gurion mitgetragene „Biltmore-Programm“ schlug einen deutlich aggressiveren Ton an als frühere zionistische Verlautbarungen. Unter Berufung auf die Balfour-Deklaration und mit ausdrücklichem Wunsch nach Kooperation mit den arabischen Nationen lehnte es das britische White Paper von 1939 scharf ab und bekräftigte das Recht der Juden auf einen eigenen Staat. Gleichzeitig war es aber auch ein Dokument der Ohnmacht in den schwersten Zeiten der jüdischen Geschichte. Solange der Krieg gegen Deutschland andauerte, waren den Zionisten, mit Ausnahme einiger Extremisten, die Hände gegen die Engländer gebunden. Mit Ende des Krieges allerdings waren die Briten nicht mehr Verbündete, sondern Besatzer, gegen die nun ein Untergrundkampf geführt wurde. Zunächst bestand der zionistische Widerstand in der Organisation der illegalen Einwanderung jüdischer Flüchtlinge in das von den Briten weiterhin gesperrte Palästina. Anfang 1946 erreichte die Zahl der „Illegalen“ über tausend pro Monat. Danach jedoch intensivierten die Briten ihre Blockade und setzten insgesamt 26000 jüdische Flüchtlinge in Internierungslagern auf Zypern fest. Am meisten Aufsehen erregte die Rückführung des mit 4500 jüdischen Displaced Persons überfüllten Flüchtlingsschiffs Exodus 1947 ausgerechnet nach Deutschland. Daß Holocaust-Überlebende nach ihrer Befreiung aus den Konzentrationslagern nun gegen ihren Willen in deutschen und zypriotischen Internierungslagern festgehalten und an der Immigration nach Palästina gehindert wurden, 112
hatte bei der politischen Entscheidung zur Errichtung eines jüdischen Staates gewiß eine nicht zu unterschätzende moralische Bedeutung. Neben der illegalen Immigration leisteten die Zionisten aber auch aktiven Widerstand gegen die britische Palästinapolitik. Die Gewalt kulminierte im Sommer 1946. Nachdem die Briten am sogenannten „Schwarzen Sabbat“ (29. Juni 1946) begonnen hatten, die zionistischen Untergrundaktivitäten systematisch zu bekämpfen, antwortete die rechtsgerichtete lrgun unter Menachem Begin am 22. Juli 1946 mit einem Bombenanschlag auf das von der britischen Verwaltung benutzte King David Hotel in Jerusalem, der 91 Todesopfer forderte. Zwei Jahre nach Kriegsende erkannten die Briten, daß sie auch mit verstärkter militärischer Präsenz gegen den erbitterten jüdischen wie auch arabischen Widerstand ihr Mandat in Palästina nicht mehr erfüllen konnten. Die Frage um die Zukunft Palästinas wurde wieder an die Vereinten Nationen zurückgegeben, in deren Händen nun das Schicksal der beiden dort vereinten, doch nicht einigen Völker lag.
6. Zionismus oder Postzionismus? Die zionistische Idee nach der Staatsgründung Im Jahr 1998 feierte der Staat Israel sein fünfzigjähriges Bestehen. Ein Jahrhundert nach Theodor Herzls ersten politischen Bemühungen um einen Judenstaat konnte dieser nun zurückblicken auf eine Geschichte, die für die einen als Erfolgsstory, für die anderen als vom Scheitern bedrohtes Experiment gilt. Die Optimisten verweisen auf die Tatsache, daß sich in Israel eine Insel westlicher Demokratie inmitten einer autokratisch regierten Region entwickelt hat, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in wirtschaftlicher Hinsicht mancher europäischen Region überlegen ist und bei einer Einwanderung aus über hundert verschiedenen Nationen eine der kulturell vielfältigsten Gesellschaften darstellt. Die Pessimisten 113
dagegen sehen einen von ständiger äußerer Bedrohung und zahlreichen Kriegen geplagten Staat, in dem das Militär eine weithin sichtbare Rolle einnimmt und der auch innerlich zerrissen ist durch die Konflikte zwischen Religiösen und Säkularen, Europäern und Orientalen, politischen Extremisten und Gemäßigten. Beide können wohl ein Stück Wahrheit für sich beanspruchen. Gerade für die Generation der Holocaust-Überlebenden grenzt es an ein Wunder, daß so kurz nach dem dunkelsten Kapitel der jüdischen Geschichte erstmals nach fast 2000 Jahren wieder ein jüdischer Staat ins Leben gerufen werden konnte und daß dieser sich fünf Jahrzehnte lang inmitten einer ihm gegenüber nicht gerade freundlich gesinnten Umwelt erhalten konnte. Die Masseneinwanderung von fast einer Million Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion während der neunziger Jahre scheint das Weiterwirken des Traums von der Rückkehr nach Zion zu bestätigen. Doch zeigt die Statistik auch, daß die Einwanderer vor allem aus wirtschaftlich und politisch instabilen Systemen nach Israel kamen, während aus der größten jüdischen Gemeinschaft der Welt, den USA, nur ein verschwindend geringer Prozentsatz immigrierte. Dagegen wanderten mehr Israelis in den letzten Jahrzehnten nach Nordamerika aus. Staat ohne Frieden Das zionistische Ideal schien zunächst am 29. November 1947 in Erfüllung zu gehen. An diesem Tag lauschten Hunderttausende nach Palästina eingewanderter Juden mit Spannung an ihren Transistorradios, um die Entscheidung der UNO-Vollversammlung über die Teilung Palästinas mitzuverfolgen. Noch kurz vorher war nicht sicher, ob sich die notwendige Mehrheit für den UNO-Teilungsbeschluß finden würde, der vorsah, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat sowie eine internationale Zone um Jerusalem aufzuteilen. Wie bereits bei den britischen Teilungsplänen der dreißiger Jahre hatte sich die zionistische Führung zähneknirschend 114
zu einem territorialen Kompromiß durchgerungen, der zwar weit entfernt von ihren eigentlichen Zielen war, aber immerhin einen jüdischen Staat endlich in Reichweite brachte. Die arabische Staatenwelt und ihre Verbündeten sprachen sich dagegen klar gegen eine Teilung Palästinas und die damit verbundene Gründung eines von ihr als Fremdkörper im Nahen Osten empfundenen jüdischen Staates aus. Die Position der Großmächte war bis zuletzt unklar. Während Großbritannien sich als Mandatsmacht der Stimme enthielt, votierte die Sowjetunion für eine Teilung, wohl in der kurzzeitig gehegten Hoffnung, in dem von russischstämmigen Sozialisten regierten jüdischen Staat einen potentiellen Verbündeten zu erhalten. Die Vereinigten Staaten, während späterer Jahrzehnte der engste Verbündete Israels, zögerten mit ihrer Zustimmung für die Teilung bis zuletzt. Ihr Votum sowie das zahlreicher kleinerer Staaten sorgten schließlich für den UNO-Beschluß, der nach Ablauf eines halben Jahres, im Mai 1948, in die Tat umgesetzt werden sollte. Die Verwirklichung des UNO-Teilungsbeschlusses galt nur für den Staat Israel. Der damals vorgesehene arabische Palästinenserstaat kam nicht zustande, da die Armeen der arabischen Staaten am Tag der Staatsgründung Israels ihrem neuen Nachbarn den Krieg erklärten. Das Westjordanland wurde später von Transjordanien (das sich daraufhin Jordanien nannte) annektiert, während Ägypten den Gazastreifen besetzte. Der fast ein Jahr dauernde Unabhängigkeitskrieg brachte Israel neben anderen Gebietsgewinnen auch den Westteil Jerusalems ein, während der Ostteil mit der Altstadt und ihren religiösen Stätten an Jordanien fiel. Bis zur Eroberung der Altstadt durch die israelischen Truppen im Krieg von 1967 blieb Juden der Zugang zu ihren heiligsten Stätten verwehrt. Für die Palästinenser verursachte der Krieg von 1948/49 dagegen eine Massenflucht, deren Auswirkungen bis heute die palästinensische Tragödie kennzeichnen. Etwa 600 000-760 000 Palästinenser verloren zwischen Dezember 1947 und September 1949 ihre Heimat und flüchteten außer in den Gazastreifen und das Westjordanland vor allem nach 115
Jordanien und den Libanon, wo sie noch nach Jahrzehnten in Flüchtlingslagern leben. Auch die große palästinensische Diaspora in der westlichen Welt und den Golfstaaten geht vor allem auf die beginnende Heimatlosigkeit jener Jahre zurück. Ob es sich dabei um Flucht oder Vertreibung handelte, ist wohl von der jeweiligen Perspektive abhängig. Neuere Historiker vertreten die Meinung, daß es sich um eine Mischung aus beiden Faktoren handelte. Sie widersprechen sowohl der traditionellen israelischen Erklärung, die von einer Massenflucht der dazu von ihren Führern aufgerufenen palästinensischen Bevölkerung sprach, wie auch der arabischen Interpretation, es habe sich um eine von der israelischen Armee organisierte Vertreibung gehandelt. Diese Studien zeigen, daß es keine systematische Vertreibung durch die Israelis gab, aber andererseits von der Armee nicht ungern gesehen und durch einzelne gezielte Aktionen gefördert wurde, daß die Palästinenser das Land verließen. Hinzu kam der von der offiziellen israelischen Armee nicht unterstützte Terror des rechten militärischen Lagers, der in dem Gemetzel der arabischen Zivilbevölkerung im Dorf Deir Jassin am 9. April 1948 mit über 200 Todesopfern seinen traurigen Höhepunkt erreichte. Der Mythos vom Sieg Davids gegen den erfolglosen Goliath war im Unabhängigkeitskrieg von 1948 geboren und sollte sich im Suez-Krieg von 1956 wie auch im Sechs-Tage-Krieg von 1967 ausweiten. Mußten die israelischen Gebietsgewinne im ersteren auf Druck der Großmächte USA und UdSSR noch zurückgegeben werden, so behielt Israel seit dem Juni 1967 das ehemals jordanische Westjordanland, den ehemals ägyptischen Gazastreifen und die Sinai-Halbinsel sowie die ehemals syrischen Golanhöhen unter seiner Kontrolle. Ostjerusalem und die Golanhöhen wurden später annektiert, die Sinai-Halbinsel nach dem Friedensabkommen von Camp David 1978 stufenweise an Ägypten zurückgegeben, während die restlichen Gebiete unter israelischer Militärverwaltung blieben. Mit der Kontrolle über die in diesen Gebieten lebende palästinensische Bevölkerung sollte sich langfristig jedoch auch das 116
größte innenpolitische Problem für Israel ergeben. Aus dem um sein Überleben kämpfenden David wurde nun in der Weltöffentlichkeit der Goliath, der als Besatzer seinen moralischen Kredit verspielt hatte. Die gezielte Besiedlung der eroberten Gebiete zunächst aus militärischen, später vor allem aus ideologisch-religiösen Gründen sollte zudem die israelische Gesellschaft selbst in bezug auf den endgültigen Status jener Gebiete spalten. Erst im sogenannten „Jom-Kippur-Krieg“ von 1973 (benannt nach dem jüdischen Fasttag, an dem der Angriff der arabischen Armeen erfolgte) wurde auch der Mythos des ewig siegreichen Israel erschüttert, obwohl sich die israelische Armee nach dem arabischen Überraschungsschlag gegen sie letztlich wieder als überlegen erwies. Erstmals jedoch zeigte sich auch ihre Verletzbarkeit, die in den achtziger und neunziger Jahren noch deutlicher wurde. Der Libanonfeldzug von 1982 stellte die israelische Gesellschaft vor eine Zerreißprobe, waren nun doch erstmals Hunderttausende von Israelis gegen das Vorgehen der eigenen Armee, die unter ihrem Verteidigungsminister Ariel Scharon die Massaker der christlichen Milizen von Sabra und Schatila nicht verhinderte, auf die Straße gegangen. Der Golfkrieg und die plötzlichen Raketenangriffe des Irak ein Jahrzehnt später machten der israelischen Zivilbevölkerung in aller Deutlichkeit die erneute Bedrohung von außen klar. Daß ein ganzes Volk sich aufgrund der Angst vor dem Einsatz chemischer Waffen nur noch mit Gasmasken bewegen konnte, ließ zudem Erinnerungen an die dunkelste Zeit der Schoah Wiederaufleben. Die Intifada, der mit Steinschleudern geführte Aufstand der Palästinenser gegen die israelischen Besatzer während der achtziger Jahre, zeigte, daß die traditionelle militärische Überlegenheit Israels einem Volksaufstand wenig entgegenzustellen hatte. Die nach den Friedensabkommen mit Ägypten (1979), Jordanien (1994) und den Palästinensern (1995) aufkommende Hoffnung erhielt mit der Ermordung des um Ausgleich bedachten Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin (1995), der folgenden Terrorwelle in Israel sowie der Wahl zweier Rechts117
regierungen (Netanjahu 1996 und Scharon 2001) und dem Ausbruch eines zweiten palästinensischen Aufstands nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen von Camp David (2000) heftige Dämpfer. Obwohl zum ersten Mal einige arabische Staaten Israel diplomatisch anerkannten und die Palästinenser zumindest in einem Teil ihres Gebiets mit einer eigenen Autonomieregierung regieren können, erscheint es zu Beginn des 21. Jahrhunderts als wenig realistisch, daß in absehbarer Zeit ein dauerhafter Friede erreicht wird. Pluralismus oder Zerrissenheit? Den äußeren Veränderungen folgten kaum weniger folgenreiche Umbrüche innerhalb der israelischen Gesellschaft. Die jüdischen Einwohner des Staates Israel zur Zeit seiner Gründung waren größtenteils europäischer, und hier überwiegend osteuropäischer Herkunft. Auch wenn diese Kernbevölkerung des jüdischen Staates in politischer und sozialer Hinsicht nicht homogen war, so vereinte sie doch der gemeinsame Hintergrund, ähnliche Ideale und zumeist auch die Erfahrung der Schoah, der die Familienangehörigen vieler zum Opfer gefallen waren. Als in den fünfziger Jahren die massive Einwanderung von Juden aus Nordafrika und dem Mittleren Osten einsetzte, veränderte diese die Zusammensetzung der israelischen Bevölkerung nicht nur demographisch. Der Zionismus als ideologisch-politische Bewegung, wie er hier geschildert wurde, war Teil des europäischen Nationalismus. Zwar hatte dieser auch Segmente des nordafrikanischen und vorderasiatischen Judentums beeinflußt, doch dessen eigentümlicher Zionismus war weniger modern-säkular als traditionell-religiös geprägt. Hinzu kam die Tatsache, daß während der ersten Jahrzehnte viele der Neueinwanderer vom europäischen Establishment in den Hintergrund gedrängt wurden. In Extremfällen ging dies soweit, daß aus manchen Familien mit besonders traditionellem Hintergrund Kinder zur Adoption und damit Umerziehung in aschkenasische Familien oder staatliche Erziehungsanstalten freigegeben wurden. Zumeist äußerte sich die 118
Dominanz des aschkenasischen Judentums in seiner wirtschaftlich-politischen Vorrangstellung und in der Weigerung, die nordafrikanisch oder vorderasiatisch geprägte Kultur der sephardischen Juden als gleichwertig zu akzeptieren. Das Mißfallen der Einwanderer aus islamischen Ländern äußerte sich zunächst in der außerpolitischen Protestbewegung der „Black Panthers“, die bewußt auf amerikanischen Vorbildern beruhte. In den siebziger Jahren artikulierte sich dieses Unbehagen dann in einem politischen Erdrutsch innerhalb des parlamentarischen Systems. Bis dahin hatte die sozialdemokratische Arbeiterpartei, zuerst unter dem Staatsgründer David Ben-Gurion, dann unter seinen Nachfolgern Moshe Sharett, Levi Eshkol, Golda Meir und Jitzchak Rabin unangefochten, wenngleich in dauernder Koalition mit kleineren Partnern, die Regierungsmacht behalten. 1977 schließlich errang der rechtsgerichtete Likud-Block unter dem „ewigen Oppositionsführer“ Menachem Begin nicht zuletzt durch die Unterstützung der Juden aus islamischen Ländern einen klaren Sieg. Seitdem wechselten Rechts- und Linksregierungen häufig, wobei nahezu alle Koalitionskonstellationen und verschiedene Wahlsysteme (so löste 1996 die Direktwahl des Ministerpräsidenten dessen Wahl durch das Parlament, die Knesseth, ab) erprobt wurden. Die Parteienzersplitterung sowie die daraus resultierende Instabilität des politischen Systems konnte jedoch keine politische Reform aufhalten. Sie spiegelt vielmehr eine tief zerklüftete Gesellschaft wider. Nur etwa ein Fünftel der israelischen Gesellschaft betrachtet sich als religiös. Dieser Sektor ist in sich äußerst heterogen. Er umschließt militante Antizionisten, die einen jüdischen Staat erst im messianischen Zeitalter akzeptieren können, ebenso wie apolitische Ultraorthodoxe, gemäßigte und zu Landkompromissen bereite religiöse Intellektuelle ebenso wie die Siedlerbewegung mit ihren Sympathisanten. Letztere bilden seit den siebziger Jahren eine stetig wachsende Gruppe innerhalb des Zionismus, was sich in der Radikalisierung der ehemals gemäßigten National-Religiösen Partei bemerkbar macht. Während der wichtigste religiöse Philosoph Israels, Jeschaja119
hu Leibowitz (1903-1994), ganz im Sinne der ursprünglichen Misrachi-Bewegung immer wieder betonte, der Staat Israel habe keinerlei religiöse Bedeutung und könne wie jeder andere Staat lediglich als administrativ-territoriale Struktur verstanden werden, beschreiten große Teile der israelischen Orthodoxie den Weg vom Konzept des „Heiligen Landes“ zu dem eines „Heiligen Staates“, der das messianische Zeitalter vorbereiten soll. Die wichtigste Entwicklung in der religiösen Parteienlandschaft der neunziger Jahre war jedoch der kometenhafte Aufstieg der orientalisch-religiösen „Schas-Partei“, die weit über die religiösen Belange hinaus die Interessen der sozial unteren Schichten vor allem nordafrikanischer Juden wahrzunehmen sucht. Die israelische Gesellschaft ist in bezug auf die Religion eine Gesellschaft der Paradoxe. Als erster westlicher Staat hatte Israel eine weibliche Regierungschefin aufzuweisen, gleichzeitig kämpfen Frauen aufgrund der fehlenden zivilrechtlichen Ehe- und Scheidungsgesetze um manche ihnen im Westen zustehende Rechte. Es gibt heute mehr orthodoxe Talmudschulen in Israel als je in einer jüdischen Gesellschaft Europas, gleichzeitig nimmt Israel heute eine führende Stelle in der Gentechnologie und der High-Tech-Industrie ein. Bestimmte Gegenden darf man als Frau in Hosen oder mit kurzen Ärmeln nicht betreten, doch eine transsexuelle Sängerin siegte für Israel beim europäischen Schlagerwettbewerb. Äthiopische und seit den neunziger Jahren vor allem russische Einwanderer, die wiederum mit eigenen Parteien vertreten sind, haben der israelischen Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt. Im Gegensatz zu den frühen Zionisten, die die Kultur ihrer Herkunftsländer zumeist in den Hintergrund stellten und mit der jüdischen Diasporaidentität brechen wollten, gibt es fünfzig Jahre nach Staatsgründung eine andere Ausgangslage. Da Juden in ihren Herkunftsländern, vor allem der Sowjetunion, so gut wie gar nicht mehr mit jüdischer Kultur vertraut waren und dort auch zionistische Aktivitäten verboten waren, betrachten sie Israel zwar als willkommenes Fluchtziel, dem aber nicht mehr die120
selbe ideologische Bedeutung zukommt. Daher ist es für sie weniger problematisch, sich weiterhin mit Sprache und Kultur ihrer Herkunft zu identifizieren. Im Zuge ihrer gesellschaftspolitischen Emanzipation sind sich auch die Juden nordafrikanischer und vorderasiatischer Herkunft immer mehr ihrer Traditionen bewußt geworden und versuchen, diese in Israel heute stärker zu pflegen als ihnen dies vorher möglich war. Neben der politischen, religiösen und herkunftsbezogenen Differenzierung der israelischen Gesellschaft ist als Folge der Eskalierung des Nahostkonflikts auch das Verhältnis zwischen jüdischen und arabischen Israelis in Mitleidenschaft gezogen worden. Die knapp 20 Prozent arabischen Israelis (davon ca. 78 Prozent Muslime) solidarisieren sich zunehmend mit den Palästinensern in den von Israel besetzten Gebieten und fordern nicht nur die gesetzliche, sondern auch die faktische Gleichberechtigung in Israel. Zudem macht sich zunehmend die unterschiedliche kollektive Erinnerung der beiden Bevölkerungsgruppen bemerkbar. Was die einen als ihren Unabhängigkeitstag feiern, betrauern die anderen als Nakbah, ihre nationale Katastrophe. Daß dieser Begriff sich wiederum an der kollektiven jüdischen Tragödie, der Schoa, orientiert, machen damit verbundene Zeremonien wie öffentliche Sirenenklänge und Schweigeminuten deutlich. Der Kampf um politische Anerkennung in der Zukunft ist damit auch ein Wettbewerb um die Leiden der Vergangenheit. Auch unter jüdischen Intellektuellen in Israel hat sich in den letzten Jahren eine Abkehr vom klassischen Ideal des liberalen „Judenstaats“ bemerkbar gemacht. Manche von ihnen verteidigen den Staat Israel in seiner Grundkonzeption als einzigen jüdischen Staat gegenüber zahlreichen arabischen Ländern und als einzigen sicheren Hort für von Verfolgung bedrohte Juden; andere fordern einen „Staat aller Bürger“, der all das, was seine jüdische Definition ausmacht, aufzugeben hätte – angefangen vom Davidstern in der Flagge und der von der „jüdischen Seele“ erzählenden Nationalhymne bis hin zum Einwanderungsrecht für Juden aus aller Welt und der unangefochtenen Dominanz jüdischer Politiker. 121
Israel ohne Zionismus? Das Einlösen dieser Forderungen würde in Israel ein neues, ein postzionistisches Zeitalter herbeiführen. Dagegen glauben überzeugte Zionisten auf der anderen Seite des ideologischen Spektrums, daß die Aufgabe des Zionismus noch lange nicht gelöst sei, wenn man bedenkt, daß die Mehrzahl der Juden weiterhin außerhalb des Staates Israel lebt und selbst der von Herzl erhoffte „Judenstaat“ im Gegensatz zu seiner Vision keineswegs den Antisemitismus beseitigen konnte. Im Gegenteil bildet der Antizionismus nicht selten eine neue Triebkraft für den modernen Judenhaß. Dennoch stellt sich für viele Israelis die Frage, ob mit dem Erreichen einer jüdischen Mehrheit in Palästina und der Gründung des Staates Israel der traditionelle Zionismus seine historische Rolle nicht ausgespielt habe. So schlug der ehemalige Justizminister Jossi Beilin vor, die „Zionistische Weltorganisation“ aufzulösen, und der Philosoph Menachem Brinker stellte fest: „Die Aufgabe des Zionismus ist so gut wie erfüllt. Dies bedeutet, daß das Problem, welches der Zionismus lösen wollte, praktisch gelöst wurde. Wir werden bald in einem postzionistischen Zeitalter leben, und es wird bald keinen Grund mehr geben, warum eine Zionistische Organisation neben dem Staat Israel bestehen sollte. Diese Aussicht sollte niemanden traurig stimmen.“ Der Zionismus verdient Brinker zufolge einen Ehrenplatz in der Galerie historischer Entwicklungen, nicht in der Gegenwart. Und für den israelischen Journalisten und Herzl-Biographen Arnos Elon ist der Zionismus Herzischer Prägung einfach überholt: „Heutzutage müssen wir uns vorwärtsbewegen in Richtung einer westlicheren, pluralistischeren, weniger ideologischen Form von Patriotismus und Staatsbürgerrecht.“ (Zitiert in C.Diament [Hg.], Zionism. The Sequel, 1998, S. 293, 301) „Wenn Ihr wollt, so ist es kein Traum ...“ lautete Theodor Herzls vielfach zitierte Devise. Der Zionismus hat sein wichtigstes Ziel erreicht: die Errichtung eines jüdischen Staates. Die Grundlage hierfür war ein grandioser Plan eines politi122
sehen Visionärs. Diesem Staat sichere Grenzen, inneren Frieden und Koexistenz mit seinen Nachbarn zu verschaffen – dies bleibt dagegen ein noch immer in weite Ferne gerückter Traum.
Weiterführende Literatur Die weitaus meiste Literatur zum Thema ist in englischer und hebräischer Sprache erschienen. Im folgenden sind nur einige neuere deutschsprachige Titel aufgeführt. Avineri, Shlomo (1998): Profile des Zionismus. Die geistigen Ursprünge des Staates Israel Brenner, Michael/Yfaat Weiss (Hg.) (1999): Zionistische Utopie – israelische Realität. Religion und Nation in Israel Elon, Amos (1974): Morgen in Jerusalem: Theodor Herzl. Sein Leben und Werk Eloni, Jehuda (1987): Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914 Haumann, Heiko (Hg.) (1997): Der erste Zionistenkongreß von 1897. Ursachen, Bedeutung, Aktualität Krupp, Michael (1985): Zionismus und Staat Israel. Ein geschichtlicher Abriß Laqueur, Walter (1975): Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus Rahe, Thomas (1988): Frühzionismus und Judentum. Untersuchungen zu Programmatik und historischem Kontext des frühen Zionismus bis 1897 Schlör, Joachim (1996): Tel Aviv. Vom Traum zur Stadt Schoeps, Julius (Hg.) (1983): Zionismus. Texte zu seiner Entwicklung Schulte, Christoph (1997): Psychopathologie des Fin de siede. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau Stegemann, Ekkehard W. (Hg.) (2000): 100 Jahre Zionismus. Von der Verwirklichung einer Vision Sykes, Christopher (1967): Kreuzwege nach Israel. Die Vorgeschichte des jüdischen Staates Timm, Angelika (1998): Israel. Die Geschichte des Staates seit seiner Gründung Wasserstein, Bernard (2002): Jerusalem. Der Kampf um die heilige Stadt Wolffsohn, Michael (1984): Israel. Grundwissen, Länderkunde, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
Zeittafel 1825 1840 1857
124
Mordecai Manuel Noah proklamiert einen jüdischen Staat in Grand Island im Staat New York. Damaskus-Affäre (antijüdische Ritualmordbeschuldigung). Der Rabbiner Jehuda Alkalai setzt sich für die jüdische Besiedlung Palästinas ein.
1860 1862 1862 1881 1881
1881 1882 1882 1884 1889 1890 1894 1894 1894/95 1896 1897 1897
1901 1902 1902 1905 1909 1909 1910 1917 1917 1919
Gründung der „Alliance Israelite Universelle“. Der Rabbiner Zwi Hirsch Kalischer kritisiert die rein passive Erwartung einer Rückkehr nach Zion im messianischen Zeitalter. Moses Heß ruft in Rom und Jerusalem zur Gründung eines jüdischen Staates auf. Antijüdische Pogrome in Rußland nach der Ermordung des Zaren Alexander II. Beginn der Ersten Alija (Auswanderungsbewegung nach Palästina) sowie der Massenauswanderung von Osteuropa nach Nordamerika. Leon Pinsker schreibt Autoemancipation. Elieser Ben-Jehuda wandert nach Jerusalem aus und ist maßgeblich an der Entstehung einer neuhebräischen Sprache beteiligt. Aufbruch der „Biluim“ aus Charkov nach Palästina. Die „Chibbat Zion“-Bewegung hält eine internationale Konferenz in Kattowitz ab. Achad Ha’am kritisiert in seinem Aufsatz Dies ist nicht der Weg die bisherige Palästinakolonisation. Der österreichisch-jüdische Publizist Nathan Birnbaum gebraucht erstmals den Begriff „Zionismus“. Gründung des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ als Interessenvertretung deutscher Juden. In seinem Stück Das Neue Ghetto kritisiert Theodor Herzl das assimilierte jüdische Bürgertum in Wien. Dreyfus-Affäre in Paris. Theodor Herzls Der Judenstaat erscheint. 1. Zionistischer Kongreß in Basel. Der „Allgemeyne yidishe Arbeterbund in Lite, Poyln un Rusland“ will jiddische Kultur und sozialistische Ideale in Osteuropa verbinden. Der „Jüdische Nationalfonds“ entsteht mit dem Ziel von Landkäufen in Palästina. Herzl verfaßt seinen utopischen Roman Altneuland. Die religiös-zionistische Misrachi-Fraktion wird gegründet. Nach gescheiterter russischer Revolution bringt die Zweite Alija die spätere Führungsschicht nach Palästina. Gründung der Stadt Tel Aviv. Gründung der jüdischen Selbstwehrgruppe „Haschomer“. Gründung des ersten Kibbuz Degania. Die Balfour-Deklaration weist Juden das Recht auf eine „Heimstätte in Palästina“ zu. Großbritannien erobert Palästina vom untergehenden Osmanischen Reich. Nach dem Ersten Weltkrieg Wiederbeginn der Einwanderung (Dritte Alija).
125
1920 1920 1921 1925 1925 1929 1933 1937 1936-39 1939 1947 1948 1948-49 1956 1964 1967 1973 1975 1977 1979 1982 1989 1991 1991 1993 1994 1995 1995
126
Die Konferenz in San Remo teilt den Briten Palästina als Völkerbund-Mandat zu und erkennt die Balfour-Deklaration an. Gründung der Gewerkschaftsorganisation „Histadrut“. Nach Demonstrationen am 1. Mai blutige Unruhen in Jaffa und anderen Städten. Feierliche Eröffnung der Hebräischen Universität in Jerusalem. Beginn der bürgerlich geprägten Vierten Alija vor allem aus Polen. Schwere arabisch-jüdische Zusammenstöße erleben ihren Höhepunkt im Massaker von Hebron. Die Fünfte Alija bringt vor allem mitteleuropäische Einwanderer nach Palästina. Die Peel-Kommission schlägt eine Aufteilung Palästinas vor. „Große Revolte“ der palästinensischen Araber. Das britische „White Paper“ bringt drastische Einwanderungsbeschränkungen. Die UNO-Vollversammlung beschließt die Aufteilung Palästinas. Gründung des Staates Israel. Der Unabhängigkeitskrieg definiert die Grenzen Israels. Nach dem Suez-Krieg muß sich Israel von den eroberten Gebieten wieder zurückziehen. Gründung der PLO. Im Sechs-Tage-Krieg besetzt Israel die Sinai-Halbinsel, den Gaza-Streifen, die Golanhöhen und das Westjordanland. Israel wird im Jom-Kippur-Krieg überrascht, kann aber einen militärischen Erfolg verbuchen. Die UNO-Vollversammlung deklariert den Zionismus als eine „Form des Rassismus“. Menachem Begin steht als erster israelischer Ministerpräsident einem rechtsgerichteten Kabinett vor. Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen Israel und Ägypten. Libanon-Krieg. Nach dem Niedergang des Sowjetregimes Beginn der Masseneinwanderung aus Osteuropa. Irakische Raketenangriffe auf israelische Städte im Golfkrieg. Eröffnung der Nahostkonferenz von Madrid. Historischer Handschlag zwischen Jitzchak Rabin und Jassir Arafat. Unterzeichnung des Friedensvertrags zwischen Israel und Jordanien. Unterzeichnung des Interimsabkommens zwischen Israel und den Palästinensern in Oslo. Ministerpräsident Rabin wird von einem jüdischen Extremisten erschossen.
Personenregister Abdullah, Sohn des Scharifs von Mekka 106 Achad Ha’am (eigtl. Ascher Ginzberg) 22, 35, 45-47,49-51,67, 76, 80 f., 89 f., 125 Agnon, Schmuel Josef 62 f., 66 Alexander IL, Zar 15, 52, 125 Alkalai, Jehuda 10f., 14, 77, 124 Andrews, Lewis 109 Arafat, Jassir 126 Baeck, Leo 96 Balfour, Lord Arthur James 88, 101 f., 105, 107, 110, 112, 125f. Begin, Menachem 113,119,126 Beilin, Jossi 122 Ben-Avi, Itamar 62 Ben-Gurion, David 57 f., 69, 72 f., 82, 89, 100, 109, 111 f., 119 Ben-Jehuda, Elieser 61,125 Ben-Zvi, Jitzchak 58 Berdichevsky, Micha Josef s. Bin Gorion Bialik, Chaim Nachman 28, 45, 51, 67 Bin Gorion, Micha Josef (eigtl. Micha Josef Berdichevsky) 62, 90 Birnbaum, Nathan 51, 125 Blum, Leon 104 Blumenfeld, Kurt 95 Borochov, Ber 78 Brandeis, Louis D. 99 f. Brenner, Josef Chaim 62, 74, 90 Brinker, Menachem 122 Buber, Martin 62, 64, 69, 76, 87 Cahan, Ja’akov 70, 74 Chancellor, Sir John 104 Churchill, Winston 102 Clermont-Tonnerre, Stanislas de 11 Coupland, Reginald 108 Cremieux, Adolphe 17 Dante Alighieri 50 Dayan, Moshe 73 Dinur (Dünaburg), Benzion 8 Dizengoff, Meir 28 Dreyfus, Alfred 2, 29-32, 38, 125
Drumont, Edouard 29, 31 Dubnow, Simon 19 Elon, Arnos 122 Eschkol, Levi 57, 119 Feisal, Sohn des Scharifs von Mekka 83 f., 106 Frankfurter, Felix 83 Franz Josef, Kaiser 25 Fourier, Charles 30 Gelber, Nathan M. 8-10 Ginzberg, Ascher s. AchadHa’am Gordon, Aron David 60-63, 75 Güdemann, Moritz 23, 34 Halevy, Jacques 10 Halperin, Uriel s. Ratosch Hantke, Arthur 64 Harden, Maximilian (eigtl. Felix Ernst Witkowski) 26, 28 Harshav, Benjamin 62 Herzl, Theodor 2, 12 f., 21-51, 53, 57, 62, 65, 68, 75-77, 80, 82, 84-86, 90 f., 95, 113, 122, 125 Heß, Moses 12-14, 39, 125 Hirsch, Maurice de 22, 32-34, 42, 53, 56 Hitler, Adolf 107, 111 Hussein, Scharif von Mekka 101 Husseini, Haj Amin Muhammad al- 108 Jabotinsky, Vladimir Ze’ev 13, 22, 50, 74 f., 79, 84, 86, 89, 93, 98, 100, 103, 109 Jehuda Halevi 8 Jehuda He-Chassid 8 Kalischer, Zwi Hirsch 11, 14, 77, 125 Kareski, Georg 96 Katznelson, Berl 58 Kaufmann, Richard 67 Kerr, Alfred 26 Kraus, Karl 27 f., 36 f. Kuk, Abraham Jitzchak Ha-Cohen 91 Kuk, Zvi Jehuda 91
127
Lazare, Bernard 31f. Leibowitz, Jeschajahu 119f. Lessing, Theodor 26, 28 Liebermann, Max 28 Lilien, Ephraim Moses 41, 76 f., 90 Lilienblum, Moses Leib 45 Lueger, Karl 24f., 29, 32, 38 MacMahon, Henry 101 Marshall, Louis 104 Marr, Wilhelm 24 Marx, Karl 13, 30 Masaryk, Tomas 97 Meir, Golda 99,119 Mendelssohn, Moses 19 Montefiore, Moses 17 Motzkin, Leo 50, 76 Mussolini, Benito 107 Napoleon 8 Netanjahu, Benjamin 118 Nietzsche, Friedrich 62, 90 Noah, Mordecai Manuel 9 f., 124 Nordau, Max 13, 22, 25, 35, 42, 44, 50, 77, 85, 90 Passfield, Lord (Sidney Webb) 105 Paulli, Öliger 8 Peel, Lord Robert 108 f., 126 Peres, Schimon 51 Pinsker, Leon 12, 15, 22, 45, 51, 125 Poe, Edgar Allan 50 Proudhon, Pierre Joseph 30 Rabin, Jitzchak 117,119,126 Rathenau, Walter 26, 28 Ratosch, Jonathan (eigtl. Uriel Halperin) 90 Rawnicki, N. H. 45 Reines, Isaak Jacob 78,91 Rohling, August 31 Rommel, Erwin 112 Rothschild, Familie 22, 34 f., 42, 53, 58
Rothschild, Lord Walter 88 Ruppin, Arthur 38f., 63f. Sachar, Howard M. 108 Sakakini, Chalil as- 82 Samuel, Herbert 102, 109 Scharon, Ariel 117f. Schasar, Salman 58 Schiff, Friedrich 34 Schnitzler, Arthur 43 Schönerer, Georg Ritter von 24 Scholem, Gershom 69 Sharett, Moshe 119 Simonyi, Ivan von 37 Smolenskin, Peretz 51 Sokolov, Nachum 50, 76, 100, 105 Stoecker, Adolf 24 Syrkin, Nachman 78 Tabenkin, Jitzchak 58 Toussenel, Alphonse 30 Treitschke, Heinrich von 24 Trumpeldor, Joseph 69 f., 74 Tschernichowsky, Schaul 62, 90 Ussishkin, Avraham Menahem Mendel 103, 109 Wagner, Richard 34 Warburg, Otto 44, 76 Wassermann, Oskar 96 Weininger, Otto 27 f. Weizmann, Chaim 50, 76, 83 f., 86, 88 f., 100, 103, 105, 108 f., 111 Wiener, Alfred 66 Witkowski, Felix Ernst s. Harden Wolffsohn, David 44, 57, 76 Woodhead, John 109 f. Yadin, Yigael 73 Yshar, Schmuel 66, 68 Zangwill, Israel 85 Zola, Emile 32