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Kaptain Stelzbein 2010
AUFBRUCH Quong spricht fließend cantonesisch; er kennt den Hakkadialekt und noch ei...
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ex libris
Kaptain Stelzbein 2010
AUFBRUCH Quong spricht fließend cantonesisch; er kennt den Hakkadialekt und noch einige andere, hier im Süden oft alle hundert Kilometer wechselnden, voneinander so verschiedenen Idiome. Natürlich kennt Quong auch Mandarin, schriftchinesisch. Obendrein hatte er drüben in Kaulun einen sogen a n n t e n Vetter, und dieser wieder erfreute sich eines anderen entfernten Verwandten in der Dschunkenund Fischergilde . . . Die Geschichte, die hier folgt, wird teils von mir, in der Hauptsache aber von meinem Freund Martin, dem Geologen erzählt. Sie reicht von Ende 1938 bis in das China Maos. Damals traf ich Martin in Hongkong. Ich m u ß t e allerdings, krank an Leib und Seele, diesen in englischer Hand befindlichen Zipfel des rätselhaften, riesigen Landes verlassen. Martin aber blieb noch über ein J a h r dort und fuhr auch später, nach dem zweiten Weltkrieg wieder hin. Wir verloren einander in diesen langen Jahren aus den Augen. Aber eines Tages bekam ich einen Brief von ihm. Er teilte mir mit, daß er in Leipzig Professor geworden sei. Darauf verabredeten wir eine Zusammenkunft in Westberlin, um einander einmal wiederzusehen und unsere Erlebnisse seit Hongkong auszutauschen. Genau ausgedrückt, um eigentlich n u r über China zu sprechen! Beide empfinden wir eine große Liebe zu diesem u n geheuren, jetzt die ganze Welt in Spannung haltenden Land. Soweit es für einen Europäer möglich ist, dürfen wir von uns sagen, daß wir dank unseres Einfühlungsvermögens ein bißchen vom Leid und der Freude und der Hoffnung des gelben Menschen wissen . . . Martin erzählte: Weißt du, Ernesto, zwischen uns ist's überflüssig, die Rhapsodien von Kipling über Hongkong zu zitieren. 7
Ebensowenig brauchen wir die dunkle Kehrseite der Medaille zu e r w ä h n e n - ganz abgesehen von der augenblicklichen Entwicklung, die der englische Dichter damals einfach nicht ahnen konnte. Die bunten Exotenländer besonders in Asien und Afrika haben sich ja so unglaublich verändert. Am meisten verändert hat sich wohl China. Was sich zwischen beiden Weltkriegen in China abgespielt hat, weiß die Welt. Man glaubte und hoffte, daß unter dem „Marschall", also unter Tschiang Kai Shek, das zerrissene, korrupte und ausgebeutete Land endlich zur Ruhe kommen würde! Dies erwies sich jedoch als trügerische Hoffnung; dazu k a m noch der durch den japanischen Einfall verursachte Krieg. Schließlich m u ß e r w ä h n t w e r den, daß immer mehr Chinesen dem Kommunismus nachliefen. In Europa tobte derweil der spanische Bürgerkrieg. Aber laß uns bei China bleiben! Man weiß, daß sich Tschiang Kai Shek in das ferne, schwer zugängliche Tschungking, weit oberhalb der großen Jangtse-Schnellen, zurückzog. Die Soldaten von Mao hausten in einer noch öderen Gegend. Um japanischen Fliegerangriffen zu entgehen, gruben sie sich Wohnhöhlen und Gänge in die Lössberge. Bei ihnen waren Ärzte und sogar Professoren, die eine u n t e r irdische Universität gründeten. Es gab aber sehr wenig zu essen. Die Geschichte kennt ja den berühmten Marsch der achten Armee durch die Wüste, durch Kälte, Schnee und Sandstürme! So etwa w a r die Lage, als du, Ernesto, nach Europa zurückfuhrst. Vom japanischen Konsul in Hongkong bekam ich nach vielen Bemühungen ein Visum mit einem Geleitbrief. Man gab mir beides auf mein eigenes Risiko; denn diese Dokumente galten wohl dort, wo sich japanische Truppen befanden, w a r e n aber a u ß e r halb der von J a p a n e r n besetzten Dörfer und Städte nicht nur nutzlos, sondern sogar gefährlich. Du kannst mir glauben, Ernesto, - keine Lebensversicherungsgesellschaft der Welt, der ich erzählt hätte, daß ich ins Innere Chinas reisen wollte, h ä t t e mich aufgenommen! Paradox w a r so manches damals. Zum Beispiel stand ich als Geologe in den Diensten der chinesischen Zentralregierung unter dem Marschall, m u ß t e aber, um ins innere Chinas zu kommen, von seinen Feinden, den J a 8
panern, ein Visum haben, um überhaupt die englische Kaulunzone verlassen zu können. Mein nächstes Ziel, Canton am Perlenfluß, w a r nämlich längst von den J a panern besetzt. Konsul San zeigte sicher viel Humor, als er mir das Visum gab; aber er w a r natürlich viel zu höflich, um mir gleich dazu zu empfehlen, doch am besten auch mein Testament zu machen. J e d e r m a n n in Hongkong kannte die verwickelte Lage. Ich hatte ein paar gute Freunde in der Kaufmannsgilde von Wan-Chai, einem Stadtteil Hongkongs. Diese besorgten mir Quong, einen zuverlässigen Führer. Er war ein noch junger, humorvoll treuherziger Bursche. Daß er Schriftchinesisch gut beherrschte, erfuhr ich erst später. Meinem ersten Eindruck nach war er ein aufgeweckter Kuli. Als ich ihn fragte, ob er mich nach Canton und durch die fast gesetzlosen Gebiete bis an den TungtingSee geleiten könne, ohne mit den J a p a n e r n und den Rotchinesen in Ungelegenheiten zu geraten, lachte er in seinem drolligen Pidginenglisch, das ich nicht übersetze: So sicher bringe ich dich hin, Master, wie du jetzt in deinem Zimmer umherläufst. Sogar an den großen Jangtse bringe ich dich und noch weiter! Quong gefiel mir gleich. Daß mich die Zentralregierung von Tschungking in so gefährlichen, turbulenten Zeiten noch für geologische Forschungen in einem von J a p a nern beherrschten Gebiet engagierte, mag jeden, der die Chinesen nicht kennt, sehr seltsam erscheinen. Aber es w a r so. Man plante schon immer in China auf lange Sicht, auch w e n n darüber ein p a a r J a h r h u n d e r t e vergehen . . . So geschah es also, daß wir beide, Quong und ich, eines Nachts heimlich in eine kleine, nach Fisch riechende Dschunke stiegen und durch die Lammastraße gen Osten segelten. Die Schnellboote der Japaner pirschten oft ganz nahe der Küste vorbei und hatten schon mehr als einmal Dschunken mit Mann und Maus in den Grund gebohrt. Glücklicherweise liegt hier in L a n d n ä h e sehr häufig dichter Dunst. Im Nebel, der uns wie kühle Watte u m hüllte, segelten wir wie im Schneckentempo dahin. Einziges Geräusch w a r das gelegentliche Knarren des großen Mattensegels; dazu kam das Schwappen, 9
Glucksen und Raunen, wenn kleine Wellen sacht gegen den Schiffsrumpf prallten. Ein paarmal merkte ich am eiligen, drohenden Zischen des Meeres die Nähe des Landes. Wie der Kapitän und seine fünf Matrosen ihren Kurs durch dieses dichte, weiße Einerlei fanden, blieb mir rätselhaft. Aber es w a r e n ja Chinesen, und ihre Vorväter hatten den Kompaß erfunden. Als ich mich neben den Schiffer stellte und dabei u n ruhig von einem Fuß auf den anderen trat, b r u m m t e er mir fast väterlich besorgt zu: „Nix Angst du haben. Ich den Weg finden, du bald tschopp tschopp schnell a u s steigen, weil in Hufah sein!" Freies Land! Hufah! So nannte man damals nicht nur die von den J a p a n e r n noch unbesetzten Provinzen, sondern auch alles, was sich rechts und links, vor und hinter ihren Truppen erstreckte. Die Japaner konnten nicht weit von der Route abschweifen, denn ihre P a trouillen und kleinen Dorfbesatzungen wurden n u r zu oft von Maos Leuten geradezu abgeschlachtet. N a t ü r lich mußte in solchen Fällen das ganze Dorf ohne Ausn a h m e diese Überfälle grausam büßen oder konnte n u r noch fliehen. Die J a p a n e r straften streng; es w a r ihnen dabei oft egal, ob auch Unschuldige unter ihren Strafm a ß n a h m e n litten. So w a r eben der Krieg. Quong flüsterte: „Dieser Kerl Käpten, uns an Land bloody hell, tschopp, tschopp, fattih!" Er n a h m mir sanft die Pfeife aus dem Mund, die ich nur eben a n r a u chen wollte. „Viel Geruch vom Tabak. Das riechen die Inselzwerge!" w a r n t e er. Ich setzte mich auf die nassen Planken und zerbrach mir den Kopf, w a r u m Quong so höllische Angst hatte. Lehnte mich an den Schweinestall, an den großen Mast. Begann einzunicken. Stets, wenn mein Kinn die Brust berührte, schreckte ich hoch. Klamm, unangenehm und tückisch preßte der weiße dicke Nebel. Endlich erhielt ich Aufklärung, w a r u m wir heimlich durch Nacht und Nebel segelten. Quong raunte mir ins Ohr, daß der Schiffer Gewehre und Munition für die immer mehr zunehmenden Partisanentruppen an der indochinesischen Grenze als Ladung mit sich führte. Leise, wie ein nach Fisch stinkender Alptraum, verstrich die Nacht. Schüchtern ließ sich der kommende 10
Tag sehen. Es w u r d e kühler, der Nebel w u r d e dünner, ein wenig Helle stahl sich aus dem murmelnden Wasser. Immer schütterer zerflossen die Nebel, wallten schließlich als große, zerrissene Fetzen davon und wurden dann vom Wasser und der auftauchenden roten Sonne verschluckt. Keine Kabellänge steuerbords streckte sich das Land aus. In unübersehbarer Länge. Es w a r von einem schmalen Sandgürtel umsäumt. Dahinter befanden sich grüne, und in vielen Farben schillernde, sorgfältig in Rechtecke eingeteilte Felder. Auflockernde Obsthaine bildeten kleine Inselchen, um die noch die Morgendünste spielten. Den Abschluß am Horizont bildeten braune, g r a u - und grüngesprenkelte Hügelketten. „Hufah!" lachte der alte, runzlige Schiffer, strahlten seine wetterbraunen Männer, feixte der triumphierende Quong. Der Anker platschte in die Tiefe. K n a r r e n d sank das Mattensegel wie ein Fächer zusammen. Das kleine Boot brachte uns an Land. Herzlich verabschiedeten wir uns von den braven Dschunkenleuten - Fischer, Schmuggler oder Piraten, das k a n n hier in China alles dasselbe sein. Quong w ü r d e es wohl wissen, aber der hatte sich bisher ausgeschwiegen. Höflichkeit verbot mir weitere Fragen. Höflichkeit gebot, daß ich außer der ausgemachten Summe den Leuten der Dschunke auch noch ein bescheidenes, aber viel Freude bereitendes Trinkgeld, das Kumtscha, schenkte. Quong n a h m unsere beiden Segeltuchsäcke mit den Habseligkeiten auf seine breiten Schultern, und n u n folgten wir einem schmalen, sich von der Küste entfernenden Pfad. Alles w a r bebaut, bis aufs kleinste Fleckchen. Menschen arbeiteten einzeln und gruppenweise in den Feldern. Die Luft w a r warmfeucht, roch nach gesegneter Erde und nach dem salzigen Brodem der See. Sie hatten uns gesehen auf den Feldern. Aber keiner schien in diesem Lande so neugierig zu sein, um nach dem Woher und Wohin zu fragen. Kaum daß einer auf Quongs Worte eine stumme Geste machte. Dennoch w a r e n sie neugierig; aber jetzt hatten sie keine Zeit für einen kleinen Schwatz. Sie mußten von 11
Sonnenaufgang bis in die sinkende Dämmerung arbeiten, damit der Boden genügend trägt. Kaum daß sie sich eine winzige Mittagspause mit einer Handvoll Reis gönnten. Und die Zeit einer Plauderei konnte bedeuten, daß ein Stück Feld nicht mehr geerntet oder begossen werden konnte. Und das mochte unter Umständen bedeuten, daß eine ganze Familie nicht genügend zu essen bekam! Das w a r damals China! Die Menschen arbeiteten dort emsig wie Bienen, rastlos wie Ameisen und h a r t näckig wie Büffel, n u r um ihr Leben zu fristen. Wir sahen üppige Felder, prächtig gedeihende Reispflanzen, viele Tümpel, wo dicke Karpfen nach Luft schnappten. In einem langsam dahinfließenden Bach schnatterten unzählige Enten. Sie w a r e n dazu bestimmt, geschlachtet, gepökelt und getrocknet zu w e r den. Die Eigentümer und Züchter dieser Enten ließen sich höchstens zu Neujahr einmal einen solchen leckeren Braten auftischen; denn sie w a r e n viel zu arm und mußten alles, was ihr Fleiß erzeugte, verkaufen, vertauschen, verhandeln. Um andere nötige Dinge dafür zu erhalten: Kleider, Hemden, Schuhe, Tee, Salz, Zukker. Es mußten auch die gar nicht niedrigen Kopfsteuern, die Reissteuern, die Salz-, Geflügel-, Schweineund Kriegssteuern und noch weitere Steuern bezahlt werden. Sie wurden höchstens einmal gestundet, d a n n aber unbarmherzig eingetrieben. Oder m a n mußte Schulden machen. Bei einem reichen Nachbar - gewöhnlich einem Wucherer -, oder beim Kaufmann. Nicht alle diese Herren waren gütig und langmütig, sondern vielfach noch unbarmherziger als der schlimmste Steuereintreiber. Das Gesetz will es so. Eine ganze Anzahl Gesetze waren zwar für Reiche, aber k a u m für einen Bauern gemacht worden. Wir gingen n u n einen etwas breiteren, hartgetretenen Pfad, an dessen Ende die Hütten eines Dorfes standen. Überall sahen wir fleißige Menschen. Vom Bachufer bis zu den Reisflächen standen alte und junge Frauen, halbwüchsige Kinder und einige Greise. Man sah n u r sehr wenige Männer im besten Alter und kräftige junge Leute. Denn entweder w a r e n die längst zum Heer eingezogen worden, oder sie w a r e n in die Berge geflohen, um vor den Japanern, die immer Arbeits12
kräfte brauchten, in Sicherheit zu sein. Die Menschen bildeten eine Doppelkette. Von Hand zu Hand wanderten die im Bach gefüllten plumpen Eimer bis zu den Reisfeldern, wo sie geleert und dann wieder zurücktransportiert wurden. Pausenlos. Ein kleines, splitternacktes Mädelchen hütete eine gegen uns zum Angriff schreitende, zischende Gänseschar; es betrachtete uns voll Staunen. Quong rief einige Worte, und sofort rannte es eifrig ins Dorf, w ä h r e n d wir vor den flügelschlagenden Tieren flüchteten. „Der Dorfälteste wird uns empfangen, Master muß sehr höflich sein, sich dreimal verbeugen gegen alten Mann. Mich reden lassen, dann alles okeh!" rief Quong. Von der langen Nacht ermüdet, sehnte ich mich nach Schatten, nach einem Liegeplatz. Auch w a r ich h u n g rig! Ob sie uns eine Ente verkaufen würden? Auf dem Dorfplatz, bei den grauen Hütten mit ihren Bambusstützen und den zerschlissenen Vorhängen, empfing uns ein alter Mann, dessen gelbbraunes Gesicht ein lächelndes Faltengewirr zeigte. Ich verbeugte mich dreimal und brachte dann die geballten Hände höflich bis in Brusthöhe. Quong übersetzte, ich reise im Auftrag des großen Marschalls, der alle seine Feinde zerschlagen würde. Wie ich an der Miene des alten H e r r n sah, besaß der große Marschall hier noch riesiges Ansehen. Ich w ü r d e helfen, Chinas Bodenschätze für seine Bewohner zu erschließen, sagte Quong weiter. Ich sei ein ganz großer Weiser. Und daß ich, obwohl ich in kluger Voraussicht ein Papierchen vom Konsul der Inselzwerge erbeten habe, meine weite Reise lieber mit chinesischer Hilfe, außer Sicht der Japaner, machen wolle, erzählte Quong ebenfalls. Verstehend lächelte der Alte, zeigte in die Runde: „Hufah! Freies Land, Japaner bald futsch und finish!" Er verlangte meine Ausweise von der Zentralregierung, stempelte sie ab und führte uns nachher zur Gästehütte. Er selbst sei zu arm, um uns aufzunehmen und bitte um Verzeihung! Worauf Quong in meinem Namen den Dorfschulzen um Verzeihung für die Mühe bat, die wir ihm bereiteten. Erst aber ließ er uns Tee bringen. Die Gästehütte, die nun mich „ältere, ehrwürdige Exzellenz" beherbergte, w a r nur ein Gestell mit einem Dach. Aber es lag sich gut im Schatten darin. Und 13
gegen Geld und gute Worte bekamen wir zubereiteten Reis und Gemüse; es w u r d e sogar eine Ente geschlachtet. Ich n a h m aus meinem Reisesack meine schwarze chinesische Ziegenwolldecke, streckte mich aus und rauchte eine w u n d e r b a r schmeckende Pfeife. Erst bei sinkender Nacht kamen die müden Einwohner von den Feldern. Sie trieben ihre Gänse und Enten in die Häuser, wo die Tiere gemeinsam mit den Menschen wohnten. Sie kamen dann neugierig zu uns, plauderten ein wenig mit Quong, lächelten mich an. Er übersetzte mir manches, und ich merkte, daß sie nicht hinter dem Mond zu Hause waren. Ich stamme aus dem großen Germany, erzählte Quong. Ich w a r ein gerngesehener Gast . . . Tiefe Nacht. Die bestirnte Himmelskuppel wölbte sich blauschwarz über dem Land. Die Chinesen schliefen. Licht hatten sie keines. Licht war zu teuer. Sogar brennbares Gestrüpp, das sie von weither aus den Bergen holten oder gegen Felderzeugnisse eintauschten, w a r knapp in diesem durch menschliche Unvernunft fast entwaldeten Lande. Man kann natürlich getrockneten Viehdung für den Herd nehmen, aber während des Krieges waren Büffel und Eselchen sehr r a r geworden. „Müssen wir morgen laufen, Quong? Weißt du, ich will meinen Sack selber tragen, du schleppst an deinem genug!" Phosphoreszierend glänzten seine Augen: „Du bist nicht wie Master, bist ein guter Kerl. Später kannst du den Sack selber tragen, aber nicht hier. Sonst w ü r d e n wir viel Gesicht verlieren und viel Schwierigkeiten mit dummen Leuten haben; tschopp, v e r d a m m t schnell. Savvy?" „Ich s a w y . Maski - macht nichts!" Ich hatte verstanden. Hier in dieser Gegend w a r ich der Master und er der Kuli oder Boy. Und ob n u n ein Master gelb oder weiß ist, niemals trägt er sein eigenes Gepäck. Ich w ü r d e mein Gesicht verlieren, für verrückt gehalten werden, und überall würden mir die Beamten und fast alle Menschen allerlei Steine in den Weg rollen. Sie würden mich nicht n u r auslachen, sondern allerlei Verdächtigungen gegen uns erfinden. Und 14
d a n n wäre es möglich, daß eines Tages jener tapfere, gesprächige General Hu oder einer seiner Kollegen meinen Quong in eine politische Erziehungsanstalt stecken würde. Mich selbst aber w ü r d e er ebenso höflich wie spöttisch entweder nach Hongkong befördern lassen oder gar nach Tschungking, und dann konnte ich dort so lange warten, bis der Krieg vorüber war. „Wir gehen nicht zu Fuß! Hongkongdollars wirken hier Wunder, wir wollen dem Dorfschulzen ein Kumtscha geben und kriegen dafür einen Palankin. Du m u ß t nicht laufen, sondern kannst darin sogar schlafen. Später gibt's vielleicht ein Ruderboot auf dem Kanal, vielleicht sogar einen Omnibus. Und tschopp fattih, bald werden wir im Tungtingsee Fische fangen!" kicherte er vergnügt. Es würde aber mit den von Quong beschriebenen Transportmitteln nicht „tschopp" gehen, sondern Monate dauern. Das konnte mich nicht stören; denn mein Gehalt lief jeden Tag weiter und, wie es Sitte ist, hatte ich in Hongkong einen erheblichen Vorschuß erhalten. Ich mußte aber damit rechnen, von Banditen, von denen es seit dem Krieg viele gab, erschossen oder im günstigsten Fall bis auf die nackte Haut ausgeplündert u n d im Adamskostüm davongejagt zu werden. Vielleicht würden wir auch den J a p a n e r n in die H ä n d e laufen, die uns zwar nichts tun würden, mich aber mit der ihnen eigenen, lächelnden, dabei die Luft durch die Zähne einziehenden Höflichkeit nach Canton schicken würden. Mich auf eigene Faust vor ihren Truppen an den Tungting reisen zu lassen, fiele ihnen bei ihrem sprichwörtlichen Mißtrauen nie im Leben ein. Zuerst wollten sie den See und die dortigen Städte erobern! Also sah ich zumindest einer gefährlichen Zeit entgegen; aber Geologen und Forscher sind selten auf Daunen gebettet. Leider gab es keinen Palankin. Es stellte sich heraus, daß die beiden einzigen Sänften dieser Art im Besitz des etwa zwanzig Li - 10 Kilometer - entfernten Nachbarorts waren. Und dort waren sie einfach verschwunden! Vielleicht h a t t e man sie zu Brennholz zerhackt oder sie waren aus Altersschwäche auseinandergefallen. Die Palankin für den „großen, ehrwürdigen Exzellenzurgroßvater" und seinen Boy hatte sich einfach aufgelöst. 15
Maski - macht nichts! Der sich immer wieder entschuldigende Dorfälteste war untröstlich, denn nach chinesischem Kodex hatte er „ein bißchen Gesicht" d a bei verloren. Er bot uns Esel an. Doch waren diese Tiere so klein und zart, daß ich mich geschämt hätte, eines zu besteigen. Also m u ß t e Quong bei der F u ß w a n d e r u n g wieder meinen Sack schleppen, damit auch wir unser Gesicht nicht verloren. „Ungebildete Ziegenböcke!" schimpfte er. Heiß b r a n n t e die Sonne. Den uns zugegangenen Nachrichten zufolge marschierten wir in etwa dreißig Kilometer Entfernung parallel mit der japanischen Armee. Sicher k a m diese schneller voran als wir; sie konnte die Bahn benützen, hatte auch eine große Anzahl kleiner, wendiger Panzerwagen. Starke Gegner waren vorläufig nicht vorhanden. Die chinesische Cantonarmee w a r schon vor dem Einzug der J a p a n e r nach Norden geflohen und hatte sich größtenteils in kleinere Gruppen zersplittert. Daß sich aber rück-, vor- und seitwärts der J a p a n e r reguläre chinesische Verbände aufhielten, erfuhren wir am vierten Tag unserer Wanderung. In einem größeren Dorf trafen wir einen chinesischen Leutnant mit fünfundzwanzig jungen Soldaten. Sie w a r e n gut bewaffnet. Ihre Gesichter glänzten zufrieden. Meine von der Zentralregierung ausgestellten Papiere erwiesen sich als „Sesam öffne dich!" Alles weitere besorgte Quongs unermüdliche Rednergabe. Mein Ausweis w u r d e gestempelt, und für einige Hongkongdollars bekam ich noch mehr Papiere angeboten. Ich n a h m sie, denn es gibt Länder, in denen es gut ist, über möglichst viele Ausweise der Obrigkeit zu verfügen. Wir erkundigten uns nach den J a p a n e r n . Unbesorgt lächelnd zeigte der Leutnant nach allen Windrichtungen: „Dort und da, fast überall sind sie, doch k a u m z u fürchten. Nie entfernen s i c h die einzelnen T r u p penteile weit voneinander. Auch zehren sie noch von den großen, in Canton vorgefundenen Vorräten, deren Verbrennung uns nicht gelang. Also sind für eine Weile keine Requirierungen zu fürchten. Die zerstreut operierenden, chinesischen Truppen dagegen werden von 16
den Bauern verpflegt. Es sind ja auch unsere eigenen Leute!" Er schüttelte den Kopf, als er erfuhr, daß ich außer einem Dolchmesser keine Waffen hatte. „Es gibt P a r t i sanen, die sie ausplündern würden. Verfluchte Kommunistenbande!" zischte er böse. Nachher verkaufte er mir unter vier Augen die amerikanische Armeepistole samt Waffengürtel eines gefallenen Kameraden. Auch stellte er mir einen militärischen Schein aus eigener Macht aus, wodurch ich überall in des Marschalls Gebiet Waffen tragen durfte. Alles zusammen kostete mich zwei US-Dollars. Um Quong k ü m m e r t e sich niemand. Er w a r eben nur mein Boy! Ich steckte die schwere Pistole und den Munitionsgürtel in meinen Kleidersack. Quong grinste und meinte, daß wir unterwegs von Räubern zehnmal umgebracht werden, ehe der Master seine Artillerie aus dem Sack ziehen könnte . . . Vorsichtig schaute er sich um und flüsterte dann: „Die Partisanen sind gute Kerle. Quong redet, dann sind wir gute Freunde und die Pistole ist überflüssig. Man kann sie später gut verkaufen." Wir übernachteten häufig in Rasthäusern, die hier im Süden sehr luftig gebaut sind. Und eines Tages bekamen wir wirklich Palankine. Es waren nicht die Sitzsänften, wie m a n sie zum Beispiel in Hongkong sehen kann, sondern lange, sargähnliche, niedere, grüngestrichene Kisten. Eine zerschlissene Matratze und ein hölzerner Klotz dienten der Bequemlichkeit. Sitzen kann m a n darin nicht. Man kann n u r liegen, wobei der Holzklotz das Kopfkissen bildet. Vorn und hinten sind je zwei Stangen angebracht, die sich je ein Mann auf die Schultern legt. Die Matratzen gefielen mir nicht. Quong sprach meinen Verdacht aus: „Viel Läuse drin! Aber auch in Rasthütten Läuse und überall. Du hast ja schon plenty - genug!" Er hatte recht. Ich ärgerte mich, daß wir in Hongkong kein Insektenpulver gekauft hatten. Quong tröstete mich: „In der Stadt oder in der amerikanischen Mission bekommst du welches!" Die Palankinträger ließen sich höchstens dazu bewegen, zwanzig Li zurückzulegen, also etwa von einem Dorf bis zum nächsten zu gehen. Weiter wollten sie nicht. Wir mußten immer wieder neue Sänften mieten. 17
Sowie die Abenddämmerung nahte, hielten sie an und suchten schleunigst Unterkunft; denn in der Dunkelheit gibt es böse Geister! Einmal hätten wir ein großes Stück des Weges a b schneiden können, w e n n wir einen Pfad, der direkt über die Kuppe eines Hügels führte, eingeschlagen h ä t ten. Die Träger weigerten sich aber, weil auf dem Berge ein altes Grabmausoleum stand . . . „Dumme Ziegenböcke, bloody fools!" schimpfte Quong zwar, aber es nützte nichts. So ganz frei von Geisterfurcht aber w a r der gute Quong übrigens auch nicht. Die Landschaft w u r d e hügeliger. Wo ein Stückchen Erde w a r oder wenigstens eine wenn auch n u r q u a dratmetergroße Felsmulde, die man voll Erde füllen konnte, w a r alles bebaut. Fruchtbar und lieblich und dennoch arm, das w a r China damals. Die schon so übervölkerten Dörfer mußten noch mehr Mäulern Gastfreundschaft bieten, weil u n u n t e r brochen kleine Gruppen von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten nach Hongkong strebten und u n t e r wegs bei Verwandten haltmachten oder ganz blieben. Jeder Chinese hat überall Verwandte, wenn es auch n u r solche sind, die zu seiner Namenssippe gehören. Es gibt Millionen von Quong, Wang, Tschang und so weiter. Viele Leute hielten sich Vögel in Bambuskäfigen. Wir sahen oft alte Männer, die nicht m e h r arbeiten konnten, vor ihren Vogelbauern in der Sonne sitzen und a n dächtig dem Gezwitscher und Flöten ihrer Vögelchen lauschen. Stundenlang, mit verklärtem Gesicht. „Warum haben die Leute keine Hunde oder wenigstens Katzen als Freunde und Gefährten?" Quong grinste: „Hunde brauchen Futter, und alles ist teuer. Hunde hält m a n nicht zum Spielen, sondern macht sie fett, dann verkauft m a n sie an Metzger oder ißt sie selber. Können sich n u r reiche Leute leisten! Und Katze schmeckt nicht so gut wie Hund!" Ich habe beides schon gegessen, teils mit, teils ohne Kenntnis der Art des Bratens. Ich stimmte Quong zu. Hund schmeckt wirklich viel besser als Katze! Und ich glaube, so mancher Soldat, der im Kriege w a r - ich mei18
ne drüben in Europa - wird meiner Erklärung beistimmen. Es gab also viele Arme in China, die gerne einen vierbeinigen Freund hätten, es sich aber nicht leisten konnten und sich daher einen Vogel hielten. Quong und ich lebten nicht übel. Ente, H u h n und Gans; manchmal gab es auch fetten Schweinebauch mit Kohl, schneeweißen Reis und Obst. Weil wir bezahlen konnten! Oft aber hätten wir vom Allerbesten des Landes haben können, ohne einen Cent dafür zu entrichten, wenn ich Arzt gewesen wäre. Quong w a r n t e mich eindringlich, die kleine Reiseapotheke niemand sehen zu lassen. Sonst hätten wir im Nu nicht nur Dutzende, sondern Hunderte Hilfeflehender um u n s ; und man w ü r d e sich unserer Weiterreise mit List oder höflicher Gewalt und unter allen möglichen Vorwänden widersetzen! Jeder Weiße, der als Neuling nach China kam, w u r d e gewarnt: Er solle nur abgekochtes Wasser trinken, auch wenn der Bach noch so kristallklar sprudelt, er solle kein rohes Gemüse oder ungewaschenes, ungeschältes Obst essen: Cholera- und Typhusgefahr! Keine der chinesischen Regierungen hatte sich bisher wirklich d a r u m gekümmert, künstlichen Dünger, Phosphate, Kali und Salpeter einzuführen und an die Landbevölkerung zu verteilen. Die Erde aber, die a u s gelaugt war, weil sie immer wieder, seit J a h r h u n d e r ten, Frucht trägt, m u ß t e gedüngt werden. Der Sohn des Reiches der Mitte behalf sich also mit den „Erzeugnissen der Nacht", wie er sich ausdrückt; denn Chinesisch ist eine hochpoetische, wortreiche Sprache! Besagte Erzeugnisse sind die Exkremente der Menschen. Nichts ging verloren davon, in jedem Dorf w u r d e alles aufs sorgfältigste eingesammelt, u n d damit w u r d e das Gemüse begossen. In den wimmelnden Riesenstädten, die fast alle an Flüssen liegen, gibt es kaum Ackerbau. Man schickte daher von dort die „Erzeugnisse der Nacht" in eigens gebauten Dschunken oder K ä h n e n in die fruchtbaren Gegenden, wo man freudig dafür in den mageren Beutel griff. Man brauchte solche D ü n gung dringend, sonst würden die ohnehin immer w i e der auftretenden Hungersnöte noch schneller aufeinander folgen. Man bedenke, daß es riesengroße Provinzen gibt, die fast n u r aus Fels und Wüste oder Löß be19
stehen und daher auf die Erzeugnisse reicherer Gegenden angewiesen sind. Der Transport in offenen Kübeln und das Abfüllen der fürchterlichen B r ü h e fand nach altväterlicher Art statt. Vieles gelangte davon in die Flüsse und Bäche und Häfen. Daher w a r nicht n u r das chinesische E r d reich gefährlich. Fast alle großen und kleinen G e w ä s ser sind verseucht. Wenn ungekocht oder ungewaschen genossen, kann sämtliches Gemüse, sowie das durch viele Hände gehende Obst den Tod bergen. Besonders in den Küstenstädten waren Europäer und Amerikaner so peinlich um ihre Gesundheit besorgt, daß sie nur aus Manila eingeführtes, sorgfältig in Cellophan verpacktes Gemüse kauften. Obendrein mußte es abgestempelt sein. Die Chinesen sind aber sehr kluge Beobachter und begnadete Nachahmer. Sie fälschten einfach Verpakk u n g und Stempel; so daß der von der Missy ausgesandte Boy zwar Gemüse vom Markt heimbrachte, das garantiert echt abgestempelt aussah. Aber dennoch waren es chinesische Produkte und natürlich mit den „Erzeugnissen der Nacht" aufgezogen und begossen. Die Missy, die das nicht wußte, w a r zufrieden, und der philosophische Boy bekam seinen „Squeeze" vom Verkäufer, und alles andere war ihm egal. Maski! Man mußte, um in China alle gefährlichen Lebensmittel zu vermeiden, - besonders wenn man reist, - entweder sehr reich sein, oder in einem Elfenbeinturm sitzen und sich von Sonnenstrahlen und Mondtau e r n ä h ren! Natürlich sieht m a n sich vor, so gut m a n k a n n ; m a n wird aber sehr schnell gleichgültig. Maski! Es starben Hunderttausende von Chinesen an sporadisch a u s b r e chender Cholera oder an Typhus; aber viele, viele Millionen, die entweder immun sind oder von den Göttern beschützt werden, bleiben leben. Ich hatte mich in Hongkong gegen Typhus und Cholera impfen lassen. Dadurch bleibt m a n etwa drei Monate geschützt. Und nachher? Vielleicht kam ich in eine große Stadt, oder wir trafen auf eine Missionsstation, wo nicht n u r die Lehre Christi, sondern auch die Kunst Äskulaps geübt wird; da konnte ich mich wieder impfen lassen, falls ich gerade d a r a n dachte. Maski! 20
WOLKENRÜCKEN Trotz aller Voraussagen der chinesischen Zeitungen, marschierte die Armee des Tenno seit dem Fall Cantons vorwärts und sandte Spähtrupps nach allen Seiten, auch kurze Strecken landeinwärts. Wir vermieden die von ihnen w ä h r e n d kurzer Zeit besetzten Orte. Wenn wir uns aber einem solchen näherten, ging Quong auf Kundschaft. Ich saß solange in einer Ackermulde und rauchte teuflischen, chinesischen Tabak. Ich hatte mich auch anderweitig assimiliert und trug meinen eigenen Kleidersack, wenn niemand zu sehen war. Wir waren längst nicht m e h r Master und Boy, sondern recht gute Freunde. Dennoch schien mir, daß Quong noch viele Geheimnisse in seinem Herzen vor mir verschloß. Freunde und Bekannte hatte er überall, auch entfernte Verwandte und viele, viele Namensverwandte, die einander immer beistehen. Der Name Quong gehört zu den hundert großen Familiensippen, die in uralten kaiserlichen Zeiten entstanden sind. Die schlaublinzelnden Freunde, die uns zuweilen eine Strecke weit führten, hielten, wie sie deutlich zu erkennen gaben, von der alten Klasseneinteilung und von deren G e bräuchen überhaupt nichts. Meist waren wir allein unterwegs. Schwitzend gingen wir auf holprigen Pfaden. Über unsere Kittel spazierten familienweise die Läuse, um sich zu sonnen. Dabei wurden sie gehascht und getötet. Dazu p l a u d e r ten wir, denn Quongs Wissensdurst kannte keine Grenzen. Manchmal waren seine Fragen so seltsam, daß es schwerfiel, sie zu beantworten. Ich hatte mir chinesische Tracht angeschafft: sehr weite schwarze Hosen, knöchelfrei, u n d eine schwarze kurze Jacke. Dazu noch einen halblangen, gesteppten, wattegefütterten Mantel für die kühlen Nächte. Jeder von uns schleppte eine ganze Last in seinem Sack und wir sahen aus wie Landstreicher. In einem Land, in dem das Unterste nach oben gekehrt war, fielen wir aber niemandem auf. Wir begegneten ganzen K a r a w a n e n müder Menschen, die sich auf Seitenwegen nach der Hongkonggrenze durchschlagen wollten. Um die halbe Million 21
Kriegsflüchtlinge, die es damals in Hongkong gab, noch zu vermehren! Es w a r wie eine tragische, kleine Völkerwanderung. Großväter wackelten an Stöcken; auf ihren Schultern hockten verschmutzte Kinder. Männer und F r a u e n schoben oder zogen Karren, die mit allerlei dürftigen Besitztümern bepackt waren. Das w a r e n mitunter Elendsbilder, bei denen sich mein Herz umkehrte! Und ich hatte damals nicht die geringste Ahnung, daß ich in absehbarer Zeit, in meinem eigenen deutschen Heimatland, noch viel schlimmere Dinge massenweise erleben w ü r d e . . . „He, Quong, w a r u m fahren wir nicht bequemer auf dem Kanal?" „Bald!" Es gibt viele Kanäle. Doch hatten alle Besitzer ihre Boote sorgfältig versteckt, weil sie die Japaner, aber auch die teilweise arg demoralisierten chinesischen Cantontruppen und schließlich die Banditen fürchteten. Wir konnten uns nicht von allen Ortschaften fernhalten. Ich schickte Quong dann immer voraus. Er kehrte entweder winkend und fröhlich pfeifend zurück oder machte schon von weitem warnende G e sten. Worauf ich mit unseren Säcken so schnell wie möglich hinter einer Hecke verschwand. „Soldaten, v e r d a m m t viele davon im Dorf. Sie benehmen sich wie Räuber, plündern und stehlen, machen Jagd auf Weiber und schlagen sie tot, wenn sie nicht gehorchen. Wir gehen nicht hin!" Er packte dann eine Schachtel gekochten Reis aus oder ein p a a r halbgebratene magere Hühner. Manchmal w a r auch eine Flasche des starken Samtschu dabei, Reisbranntwein, der uns müden, sorgenvollen Wanderern beim Übernachten im kühlen Freien angenehm den Magen wärmte. Noch Hunderte von Kilometern, weit im Norden, lag unser Ziel. Der See Tungting! Tungting, welch lustiges Wort, hört sich's nicht an wie Pagodenglöckchen, die im Winde klingeln ...? Die hügelige Gegend w a r nun wohlbebaut, von K a nälen und Bächen durchkreuzt. In Schlangenwindungen führte unser nur fußbreiter Pfad. Eine reich aussehende Provinz und dennoch schrecklich verarmt! Die Dorfältesten empfingen uns häufig mit blumiger Höflichkeit, bewirteten uns mit Tscha-Tee, stempelten 22
meine Papiere und lächelten dazu. Unter dem stereotypen Lächeln verbarg sich die Verzweiflung. Trotz des guten Bodens w a r e n die Bauern und H a n d w e r k e r u n glücklich, weil sie ihren Kindern nicht genug zu essen geben konnten. Wir bekamen unseren Proviant n u r gegen US-Dollars. Manche Leute w a r e n wütend; sie spuckten vor uns aus, und ihr Benehmen änderte sich erst, - als ob Wolken vor der Sonne fortzögen -, wenn Quong ihnen etwas zugeflüstert hatte. Ja, es w a r dies eine reiche Gegend, die Erde gut u n d fett, die Obstbäume w a r e n gepflegt, aber man sah kein Schwein, kein Huhn, man sah weder Ente noch Gans. Die Tiere befanden sich in raffinierten Verstecken. Sie w a r e n zumeist in Hügellöchern und Stollen u n t e r g e bracht. Es w a r dies nicht allein die Schuld der japanischen Besatzung; schon lange, ehe die J a p a n e r in der BiasBay gelandet waren, herrschte in dieser Provinz eine k a u m vorstellbare Korruption. Tschiang Kai Shek r e gierte schon lange vom entfernten Tschungking aus, wohin die Zentralregierung ja aus Hankau geflohen war. Nun waren die Japaner hier, verstreuten sich aber aus den schon beschriebenen Gründen nicht allzusehr ins Landesinnere, und die alten Beamten der Z e n t r a l regierung waren deshalb immer noch da, und m a n gehorchte ihnen. Denn gegen den fremden Eindringling aus Nippon waren sich alle Chinesen einig! Hier galt wie einst im alten Rußland das Sprichwort: „Der Zar ist weit, weit weg ...!" Man setze für das Wort Zar einfach den Titel Generalissimo, Marschall - wie Tschiang genannt wurde. Man weiß, daß einzelne G e neräle des Marschalls, der weit weg in Tschungking war, nicht nur jahrelang den Sold der Soldaten und B e amten unterschlugen, daß sie Gelder zum Ankauf von Medikamenten und militärischen Ausrüstungsgegenständen einfach in die eigene Tasche steckten. Man weiß, daß sie auch die Kaufleute erpreßten. Ihre Soldaten hatten sie abteilungsweise in entfernte Orte und Dörfer gelegt, wo manche sich ärger als Räuber b e n a h men und ein w a h r e s Schreckensregiment ausübten, von dem der Marschall in Tschungking nicht die leiseste A h n u n g hatte. Einzelne dieser Generäle - die vielen ehrlichen brauche ich nicht zu e r w ä h n e n - leisteten 23
sich Unglaubliches, um möglichst viel Geld für ihren Harem oder für die beabsichtigte „Reise" ins Ausland zu ergattern. Sie ließen die üblichen Steuern einziehen. Die Kopfsteuer war u n t e r den vielen Steuern, mit denen m a n die armen Menschen plagte, die höchste, und besonders für Bauern die allerschmerzlichste. Da kamen die Generäle auf eine Idee: Sie schickten ihre Steuereintreiber, von militärischen Eskorten begleitet, aufs Land. In den Dörfern trommelten sie die Dorfältesten zusammen und eröffneten ihnen: „Hört, ihr ehrwürdigen Großväter ehrwürdiger Väter und Söhne! Ihr Besitzer zahlreicher hochstehender Ahnen! Die stets auf euer Wohl bedachte Regierung kann euch leider einige Härten nicht ersparen, weil wir die Inselzwerge im Lande haben. Dennoch möchte die ehrenwerte, allergütigste Regierung euch das schwere Dasein erleichtern! So daß ihr Werten in Ruhe euere Äcker, Reisterrassen und Teesträucher bearbeiten und abernten könnt. Der große, weise Marschall Tschiang Kai Shek ist wirklich wie euer eigenster U r a h n zu euch." Begierig die einen, skeptisch aus Erfahrung die anderen, fragen die Dorfältesten nach Näherem. Der Steuereintreiber lächelte und sprach händereibend, w ä h r e n d hinter seinem Sessel junge, bewaffnete Soldaten standen: „Ihr zahlt einfach die Kopfsteuer nicht wie bisher auf ein Vierteljahr im voraus, sondern entrichtet diese neu einzuschätzende Summe - denn es ist Krieg - für längere Zeit in die Zukunft hinein. Dann bleibt ihr ungestört und könnt bald reich werden!" „Auf wie lange im voraus?" wagte ein uralter Mann die untertänige Frage. „So vernimm, du ehrwürdiger Enkel großer Ahnen, hört ihr alle und laßt Freude in euere Bäuche einziehen über die Weisheit und Güte der großen Regierung des weisen Generals! Ihr werdet also jetzt sofort die Kopfsteuer für die nächsten sechzig J a h r e im voraus e n t richten; damit ihr mit euren schönen, guten Kindern und hübschen Enkeln fortan in Ruhe euer Land und den d a r a u s entwachsenden Reichtum genießen könnt!" Wehgeschrei brach los, Heulen, Weinen und klagender Protest. Woher sollten sie das Geld nehmen, wo doch die Regierung schon alles, was sie hatten, besteuert oder mit Pfand belegt hatte? 24
Die anwesenden Soldaten lächelten mitleidlos. Der aalglatte Steuerbeamte rieb sich noch immer die H ä n de, ließ seine gelben Finger knacken und machte schließlich eine bitterböse, drohende Miene: „Wenn ihr schmutzigen Eingeweide von Schweinen, ihr Abkömmlinge von Buhlschaft mit Teufeln treibenden Friedhofsdämonen, ihr auf den Bauch getretenen K r ö ten, die vorausblickende Weisheit einer hohen Regierung, deren Vertreter ich bin! - wenn ihr stinkenden Drecklappen dies nicht verstehen wollt, so wird in jedes Dorf eine große Besatzung gelegt, und zwar auf den Kopf zwei Soldaten. Die müßt ihr ernähren, und zwar mit gutem Reis, Tee, fetten Säuen, saurem Kohl, Enten und anderem Geflügel; auch Erbsen mit Speck. Und ihr sollt ihnen den Sold zahlen. Ich gebe euch aus Mitleid drei Tage zum Überdenken!" Da zogen die Ältesten mit geballten Fäusten hinter dem Rücken, mit versteinerten Mienen oder laut weinend davon, um mit ihren Leuten zu reden. Ein J a m m e m und Weinen ging durch breite, von Millionen bewohnte Distrikte. Aber das Klagen half nichts. Die u n erhörten Repressalien, gegen die die Requisitionen der J a p a n e r ein Kinderspiel waren, m u ß t e n bezahlt w e r den, um noch härten Bestrafungen zu entgehen! Es dauerte aber länger als drei Tage. Wochen h a r t näckigen Flehens, Feilschens und Betteins, an dem ganze Dörfer teilnahmen, bis endlich die große S u m m e zusammengekratzt war. Silber k a m aus verborgenen Winkeln, rieselte und klirrte in die Truhen des Einnehmers. Zuerst zog dieser sein „Squeeze" ab und fuhr d a n n mit den schmunzelnden Soldaten, die alle ein gutes Kumtscha erhalten hatten, ins Hauptquartier, um abzuladen. Die Bauern arbeiteten fortan noch emsiger. Sie h a t ten einzelne Gemeindebüffel behalten, die sie u n t e r einander ausliehen. Schufteten wie Pyramidensklaven, hungerten noch mehr, Kinder starben wie Fliegen. Dennoch herrschte eine gewisse Freude, denn n u n w a r man ja, wie naiv geglaubt wurde, auf einige J a h r d u t zende hinaus steuerfrei! Nach drei Monaten kehrte der leutselige Eintreiber wieder zurück; er h a t t e Soldaten bei sich und verlangte väterlich die vierteljährliche Kopf-, Reis- und Kriegssteuer für Tschungking. 25
Weinend knieten sie und erklärten: „Wir haben ja vorausbezahlt, oh Mächtiger, und besitzen außer Not und Hunger nichts m e h r für die Regierung!" Abweisend erwiderte er: „Gewiß habt ihr alles vorausbezahlt, und das wird euch ehrlich angekreidet. Aber erst, wenn die J a p a n e r aus dem Lande geworfen sind. Beeilt euch jetzt, ihr widerlichen Hundesteiße, sonst bekommt ihr die Peitsche und nachher Einquartierung unserer Guerillas ...!" So ging es in China zu. Und man w u n d e r e sich nicht, daß der Kommunist Mao immer m e h r Anhänger bekam. Offene und geheime. Seine als Kaufleute, H ä n d ler und Wanderer getarnten Agenten wühlten überall und arbeiteten. Ein Raunen ging durchs Land: „Bei Mao wird es anders werden!" Menschen sind so. Wenn es ihnen schlecht geht, greifen sie nach dem Extrem. Die Provinz Quantung lag n u n hinter uns; wir durchwanderten einen Zipfel von Kwangsi und w a r e n endlich in Hunan. Die Gegend w u r d e wild und g r o ß artig. An den Hängen der hohen Berge gab es hier sogar noch Wälder. Es gab rauschende Bäche und tosende, durch Steilschluchten peitschende Flüsse. Da lagen ausgestorbene Klöster der Buddhisten und Taoisten. Manchmal lebte da noch ein einsamer Mönch, der uns gastlich bewirtete. Die meisten dieser Bauten v e r m i e den wir; denn Quong, der überall F r e u n d e hatte, w a r n te, daß solche ehemaligen Weihestätten nun häufig als Schlupfwinkel für Räuber dienten, sehr oft waren die Banditen ehemalige Soldaten. Von meinem Studium her wußte ich, daß diese Berge reiche Schätze an Wolfram, Kohle, Silber, Eisen und Kupfer bergen. Wer aber sollte die Schätze heben in diesen Zeiten? Die Leute hier sind stramme, kräftige Menschen. Sie liefern von altersher Soldaten und Beamte. Ein Schlag, dem in Chinabüchern, die von Fremden geschrieben werden, gleichzeitig große Roheit und Ausländerhaß, Biedersinn und Ehrlichkeit nachgesagt wird. Lauter sich widersprechende Eigenschaften. Wie so vieles, w a s sich in China widerspricht . . . Für den Weißen! Daß sie sich hartnäckig und lange gegen alles F r e m de sträubten, mag folgende Tatsache bezeugen: Diese biederen Hunanleute trugen w ä h r e n d einer einzigen Nacht auf einer Strecke von vielen Kilometern s ä m t 26
liche Eisenbahnschienen, hölzernen Schwellen, Schrauben und Flanschen und sogar den aufgeschütteten Kies weg. Schmissen alles in den tiefen Fluß. Niemand hatte etwas gehört oder gesehen, und auch später kam nichts ans Tageslicht. Obwohl Tausende von Menschen während jener Nacht schweigend, emsig und verbissen gearbeitet hatten . . . Im letzten Dorf w a r n t e man Quong vor Banditen. „Pah!" sagte Quong verächtlich. „Diese Kerle killen uns nicht!" Nachher hatte er eine geheimnisvolle, lange U n t e r r e dung mit zwei reisenden Kaufleuten. Dann zogen wir weiter. Schon lange ohne Sänften. Wir erreichten ein bezaubernd romantisches Tal, wo auf einem Hügelchen der völlig leere Tempel eines guten Berggeistes stand. Hier ruhten wir gründlich aus, kochten Tee und Reis, rauchten und schliefen und plauderten abwechslungsweise. Es w a r eine kühle, mondhelle Nacht. Die kleine, schmale Wiese schimmerte wie blaues Silber; die Schatten von Büschen, Bergen und die des Tempels leuchteten tiefschwarz. Geheimnisvolles Rauschen und Knistern kleiner Lebewesen w a r überall. Plötzlich schreckte ich zusammen und griff mechanisch nach der Pistole, die nachts immer neben mir lag. Eben hatten zwei schrille Pfiffe das Wunder der Nacht zerschnitten. Aber Quong beruhigte mich: „Alles fein und okeh. Es kommen Freunde u n d wir alle zusammen zeigen den Banditen dieses!" wobei er vergnügt seine Kehrseite berührte. Aber plötzlich zischte er einen Fluch. „Das sind keine Freunde, sondern Soldatenräuber! Halte die Pistole bereit!" Wegen der Nachtfrische hatte ich den Steppdeckenmantel als Pelerine umgehängt. Das w a r gut so, denn niemand konnte sehen, daß ich nun meine Waffe in der H a n d hielt. Ich stand auf und ging zum Tempel, auf dessen zerfallenen Stufen ich mich hinsetzte. So saß ich mit guter Rückendeckung und wartete. Die Kerle, die da eben aus den Büschen ins Mondlicht traten, waren sicher keine Freunde! Freunde sehen nämlich, wie die Erfahrung mich gelehrt hat, i m m e r wie waschechte Banditen aus, die u n t e r ihren L u m p e n ehrliche Herzen tragen. 27
Was da auf uns zuschlenderte, in Uniformen gekleidet, das Gewehr auf der Schulter, w a r e n verwilderte Soldaten der Zentralregierung. Verkommene, erbarmungslose Gesellen in ehrlichen Uniformen. Boshafte, lauernde Gesichter, die alle üblen Instinkte förmlich ausstrahlten. Hohn, Schadenfreude und Mordlust grinsten uns an, w ä h r e n d sie großspurig auf uns z u k a men. „Heda, steht auf und verbeugt euch, ihr Stinktöpfe!" befahl einer. Ich hatte ihn gut verstanden. Quong antwortete etwas, und nun standen sie im Halbkreis vor uns. Sie hielten ihre Gewehre am Lauf, mit den Kolben auf der Erde. Es waren sieben Mann. Der Anführer stieß einige grimmige Worte aus, und begehrliche Blicke tasteten uns und unsere Säcke ab. Hoffentlich bekam meine Pistole keine Ladehemmung! Denn der Tod stand vor uns! Quongs halb demütige, halb freche Erklärungen imponierten ihnen nicht; sie lachten, und der kleine Anführer spuckte aus. Er begann, seine Pistole aus dem Gürtel zu ziehen. Die Gewehre der anderen w u r d e n hochgenommen. Das Weitere geschah sehr schnell. Quong schrie: „Die uns killen, du schießen!" Die Waffe des Anführers w a r noch nicht im A n schlag, als schon mein erster Schuß krachte. Wie ein Kegel kippte er um, fiel ins auf stiebende Feuer. Nur einer der Verblüfften kam dazu, sein Gewehr zu entsichern und gab einen Schuß ab. Die Kugel schlug vor mir in den Boden. Sieben lagen tot oder zuckend auf die Erde. Aber das k ü m m e r t e mich im ersten Augenblick nicht, denn ich wußte, daß ich nur viermal abgedrückt hatte . . . Ein Blick auf Quong erklärte mir das Wunder. Er schwenkte triumphierend einen russischen N a g a n r e volver. „Wir schießen wie die Hölle!" rief er und machte sich an die Untersuchung der Sieben. Ich lud erst meine Pistole neu auf, ehe ich zur Beruhigung meine Pfeife in Brand setzte. Quong verkündigte: „Alle ganz gekillt!" Emsig leerte er ihre Taschen. Silbern stand der Mond über den stillen Gestalten, die in dunklen Bluttümpeln lagen. Das fahle Licht schimmerte auf grünblassen Totengesichtern, legte 28
sich bläulich auf blanke Gewehrläufe und umspielte einen Haufen Banknoten, Ringe, Ohrgehänge und Ketten. Frauen- und Kinderschmuck, Gott weiß wo geraubt! Auch Uhren waren dabei, ein paar Lotosbuddhas aus Nephrit, Jade und Gold. Quong legte die Gew e h r e auf einen zweiten Haufen und begann quakend zu singen. Ich w a r müde und traurig. Aber der Chinese führte jetzt begeisterte Reden; er hüpfte herum wie ein balzender Hahn. Abermals durchschnitt ein Pfiff die Nacht. Ein zweiter und dritter! Sollten wir nochmals gestört werden; Quong steckte zwei Finger in den Mund und beantwortete das Signal. Und wieder glitten Gestalten aus r a u schenden Büschen. Sie winkten im Näherkommen, und Quong begrüßte sie freudig. Es w a r e n drei kräftige Männer, dazu zwei breitgesichtige, lächelnde Frauen. Alle waren mit Gewehren und Patronengürteln bewaffnet. Sie sahen wie Kulis aus, benahmen sich aber nicht mit der scheuen Demut solcher Menschen. Sie schüttelten mir nach westlicher Art die Hände. Einer, der etwas englisch sprach, erklärte, daß sie leider zu spät gekommen seien, um uns beizustehen. Leiser, kühler Wind strich jetzt durch die Büsche; der Bach murmelte und gluckste. Unsere fünf nächtlichen Besucher wohnten in einer der sogenannten „Inseln", - freies Land, wo man weder Respekt vor dem Marschall noch vor den J a p a n e r n hatte. Ich fragte, ob es nicht besser wäre, diesem t r a g i schen Ort am Tempel des guten Berggeistes den Rükken zu kehren. Da nickten sie und w a r n t e n uns. Fünf Li bachaufwärts liege ein altes Kloster der Kwanyin, auf dem Wolkenrückenhügel. Die Nonnen seien längst geflohen. Dort hause jetzt eine Bande Räuber, die früher Soldaten waren, an die Hundert. Gefährlich für u n s ! Die Fünf luden sich die Waffen der Toten samt dem übrigen Plunder auf, zogen ihnen die Schuhe aus, n a h men die Wickelgamaschen, und schritten voran. Wir gingen im Gänsemarsch und hielten uns im Schatten. Es ging bachaufwärts, dann im Zickzack den steilen Hang empor - auf einen runden Buckel - und d a n n hinab in ein lauschig enges Tal, das von einem eiligen Wasserlauf durchflossen wurde. 29
Hier w a r e n wir a u ß e r Gefahr und zündeten ein F e u er an, w ä h r e n d ein Posten Wache hielt. Die anderen saßen noch flüsternd um die Glut, als ich mich in eine Decke wickelte, rasch einschlief und allerlei konfuses Zeug t r ä u m t e . Beim Erwachen fand ich Quong allein beim Teekessel sitzen. Ich muß sagen, daß ich seit jener Nacht noch unzählige Nächte im Freien verbracht und dabei get r ä u m t habe. Aber niemals saßen in solchen T r ä u m e n jene Sieben, die wir im Mondlicht am Tempelchen des guten Berggeistes liegen ließen, an meinem Bett, um mich zu plagen und mein Gewissen zu wecken. Geht daraus nicht hervor, daß es böse Menschen waren, deren Maß voll geworden? Und die Götter Chinas h a t t e n beschlossen, sie durch Quongs und meine Hände aus diesem irdischen Sündental abzurufen. Um, wie chinesische Poesie es nennt, auf den „Terrassen der Nacht" zu weilen . . . Tungting! Sagte ich nicht, daß dieses Wort klingelt, wie lustige kleine Porzellanglöckchen, die an altehrwürdigen siebenstöckigen Porzellanpagoden hängen? So war's mir immer, wenn ich an mein Reiseziel dachte. - Dieser See lag noch weit entfernt. Wir mußten erst nach Tschangtscha. Der Ort war zwar von den Söhnen Nippons schon erobert, aber ihnen wieder abgenommen worden. Das alles hatte sich w ä h r e n d der letzten Wochen abgespielt. Gewiß würden die kleinen gelben Krieger die Stadt abermals mit hellen „Banzai"-Rufen einnehmen und auch eine Weile behalten. Ich mußte aber hin. Dort warteten chinesische Geometer mit Meß- und Bohrgeräten und mit Flaschen von Säuren zur Gesteinsanalyse auf mich. Und auch mein Gehalt von der Zentralregierung w ü r d e ich dort erhalten. Der Vorschuß von Hongkong konnte ja nicht ewig reichen! Es fragte sich nur, ob wir auch nach Tschangtscha hineinkamen oder ob die auf mich Wartenden dort geblieben oder geflohen waren. Und ob die Bank, falls die J a p a n e r dort waren, meinen Kreditbrief honorieren w ü r d e oder könnte . . . Falls alles klappte, würden wir nachher bald den riesigen See erreichen. Gab es dort, wie ich durch Prüfung feststellen sollte, wirklich unterirdische Lagerungen von Erdöl? Am Tungting? Ich selbst zweifelte d a r a n und h a t t e seinerzeit auch meine Ansicht geäußert. 30
Die ganze bisherige Wanderung w a r sehr abenteuerlich, doch hatte sie ein Ziel - wenn auch ein noch u n g e wisses! Mitten in den Kriegswirren w a r ich von der Regierung angestellt worden, weil ich als Fachmann einen guten Ruf besaß und weil die Regierung des Marschalls trotz allen Zerfallserscheinungen immer noch Macht besaß und diese auch zu behalten gedachte. Oben in Tschungking gab es noch Leute, die den Kopf aufrecht trugen und weise in die Zukunft blickten. Sie leisteten jetzt schon Vorarbeit für die Zukunft. In Tschungking gab es also noch Männer, obwohl das mein F r e u n d Quong, der alles n u r schwarz-weiß sieht, nie zugab. Wir studierten die Karte. Wenn wir weiter durch diese einmal lieblich-romantische, d a n n wieder düsterwilde Berg- und Talwelt nach Norden vorstießen, mußten wir bald an den Kweishui kommen. Dieser Fluß strömt in Richtung Westen und ergießt sich oberhalb von Tschiangtscha in den mächtigen Siankiang. Auf dessen Fluten m ü ß t e n wir d a n n ein Stück weiter nach Süden fahren können. Der Kweishui ist, wie fast alle dortigen Flüsse, g r ö ß tenteils schiffbar. Auf eine Schiffsreise freute ich mich sehr. Vom Laufen h a t t e ich genug. - Weiter, weiter . . . Quong wies auf einen runden, sich ans hohe Gebirge lehnenden Hügel. Deutlich e r k a n n t e ich auf seinem Rücken hohe Platanen und Steineichen. Sonst w a r der Wald fast überall umgeschlagen. Die Kahlschläge w a ren überwuchert von dornigen Himbeer- und B r o m beersträuchern. Aber dort oben, u n t e r grünen und seidiggrauen Baumkronen, lugten Gebäude hervor, geschwungene Dächer und alte Mauern. „Altes Kloster zum Goldenen Buddha. Wir werden dort ausruhen!" „Banditen?" „Tsch! Nix! Die Mönche sind geflohen; es ist nur noch ein L a m a da. Ta Lama, großer Lama, er kam von weit, aus dem Tibet. Nun wohnt er hier. Banditen fürchten ihn, denn der Ta L a m a ist ein mächtiger Zauberer. Er hilft den Bauern. Wir wollen ihn besuchen!" „Gut! Und hoffentlich ausruhen!" Ein an vielen Stellen mit Dornen fast zugewachsener Zickzackpfad führte uns nach oben. Im Schatten m a j e 31
stätischer Baumriesen stand das u r a l t e Kloster. W u n derbar schwangen sich die Dächer, prachtvoll, in h a l ber Zerstörung noch, ragten verwitterte, geschwärzte, geschnitzte Balken. Weit gähnte das Tor; überall wucherten hohe Disteln und Brennesseln, dazwischen wuchsen düstere Nachtschattengewächse. Eine der üblichen symbolischen Torstatuen, noch halb erkennbar, löste sich langsam auf. Die andere, die einen geflügelten, kralligen Drachen darstellte, lag in drei Stücke zerbrochen. Eidechsen liefen darüber hin. Mitten durch den Hof sickerte ein dünner, glitzernder Wasserfaden. An einem reich geschnitzten Gestell hing der erzene, riesige Gong. Er w a r wohl zu groß zum Fortschleppen gewesen. Die Fenstervierecke starrten leer und öde. Eine Tempeltür fehlte ganz; an ihrer Stelle blähte sich eine d a vorgespannte, zerrissene Decke im leisen Wind. Irgendwo im feuchten Mauerschatten war dumpfer Unkenschlag. Der sonst so fröhliche, weltliche Quong schien hier plötzlich verändert; in seinem Gesicht zeichneten sich Demut oder Angst ab. Als ich den Vorhang hochheben wollte, hielt er meine Hand fest: „Du darfst nicht hineingucken! Götter und Dämonen drehen dir den Hals ab!" „Ich will sie nicht beleidigen. Und niemandem ist es verboten, solche Tempel zu betrachten. Ich war in B u r mah, in der großen Shwe Dagonpagode, und in ihren vielen N e b e n t e m p e l n . . . " Huschte da nicht eben eine Gestalt hinter den dicken Baumstämmen...? „Quong, schau dort, ein Mann!" Er blickte kurz hin und schüttelte d a n n den Kopf. Er ballte die Fäuste und biß sich auf die Knöchel. „Geist!" flüsterte er. Nein, es w a r nichts. Es w a r n u r das zitternde Spiel der Sonnenstrahlen, die durch grünes Laub sanken. Ein Windstoß fegte laut rauschend durch die B a u m kronen. Ein paar gelbe Blätter schaukelten herab. D a n n w a r alles wieder feierlich still. Der Unkenchor w a r verstummt. Da schob ich den Vorhang beiseite. Rasch gewöhnte sich das Auge an das modrig riechende Halbdunkel. Ich 32
sah durch kahle Fensterhöhlen die belaubten Äste. Es w a r wie ein grünes Dämmern im Tempel. Der Steinboden w a r sauber gefegt; auf zwei Podesten saßen in stilisierten Lotoskelchen drei holzgeschnitzte Buddhas; ein übermannshoher saß in der Mitte, ihm zur Seite w a r e n zwei kleinere. Ihre Gesichter glänzten in geheimnisvoll lächelnder Sanftmut. Golden schimmerten die hölzernen Kleiderfalten und die ruhenden H ä n de. Das Schaumgold blätterte überall ab; an vielen Stellen trat vom Alter silbern patiniertes Holz zutage. Dem großen Buddha fehlten einige Finger der Linken; seine Nase war angeschlagen und zerschnitten. Doch w a r e n diese Schandtaten vor sichtlich langer Zeit geschehen. J a h r e und Wetterunbilden hatten die Wunden gütig geheilt. Und so sah das stellenweise noch goldene Antlitz des Erhabenen gar nicht häßlich aus, eher traurig, entsagend und verzeihend. Um die Mundwinkel lag das rätselhafte, wissensfrohe Lächeln des alten Asiens, das nur nach langem Hinsehen sichtbar und deutbar wird . . . Die beiden anderen Buddhas w a r e n zwar unbeschädigt, doch hatte wüste menschliche Unvernunft ihnen mit weißer Kalkfarbe S c h n u r r b ä r t e gemalt und Schriftzeichen auf den Leib gesudelt, die sicher keine buddhistischen Weisheitssprüche waren. Außer den Figuren war nichts in der kleinen Halle, auch keine Geräte, Vasen, Urnen oder Räucherbecken und was sonst zum Dienst in eine Pagode gehört. Da entdeckte ich im Schatten, an der zweite Stufe, ein Ding aus altem Eisen oder Bronze. Ich erkannte eine tibetanische Gebetstrommel oder -mühle. Daneben lag eine schmale, neu aussehende Bambusdose. Ich zog den Schieber auf und fand viele, etwa zehn Zentimeter lange, schwarzsilberne Räucherstäbchen. Warum ich's tat, weiß Gott: Ich n a h m drei der Kerzchen, steckte sie den Buddhas in die Risse der Gewandfalten und zündete sie an. L a n g sam verglühten sie und sandten spiraligen blauen Rauch um die Gesichter der Erhabenen. „Wie a r m seid ihr, Symbole des friedlichsten und geduldigsten Glaubens, mit euren von dummen Menschen verübten Verletzungen. Om mani padme hum", sprach ich und ging hinaus. Quong saß unglücklich auf seinem Sack. Ich m e r k t e ihm an, daß er gerne fortgegangen wäre. 33
Beruhigend sagte ich: „Drei Statuen des Erhabenen sitzen in der Halle. Ich zündete ihnen Räucherwerk an und begrüßte sie. Denn ihre Religion ist sanft und gut, wenn man sie befolgt. Doch w a s ist mit dir, mein Freund?" Klar und deutlich, als ob sie aus der Luft herabfiele, sprach da eine Stimme die Worte, die ich eben im T e m pel gesagt hatte: „Om mani padme hum!" Quong stöhnte auf. Ich schaute nach oben, ins g r ü n goldene Weben des zitternden Blattwerkes, blickte nach links und rechts, überallhin. Und sah nichts. Gab es hier, wie sehr viele sogar gebildete Chinesen fest behaupten, Gesichter oder Geister auf den Bergen? Und Quong? Ich staunte. Sein eben noch furchtsamer Ausdruck war plötzlich verändert. Das Gesicht s t r a h l te in Zufriedenheit. Und er rief: „Wir brauchen keine Angst zu haben, ein guter Dämon ist hier!" Dann schwieg er, so, als ob weitere Erklärungen überflüssig wären. Auch ich fühlte die Gegenwart eines Dritten. Unsichtbar noch, beobachteten uns seine Augen u n d Gedanken. Letztere flossen mir förmlich zu! Nein, hier gab es nichts Böses! Ich trat zum Gong. Der dazu gehörende Klöppel fehlte; aber ein handlicher Knüppel lag auf der Erde. Den n a h m ich und wollte eben damit aus aller Kraft die schlummernde Stimme des alten Instrumentes wekken. Da fiel der auf die Füße springende Quong m i r jäh in den Arm. „Tu's nicht, das hört man ja zehn Li weit!" w a r n t e er und fuhr fort: „Mit Finger klopfen, d a n n kommt der Ta Lama!" Ich warf den Bambus fort u n d berührte mit dem Knöchel, sowie m a n gegen eine Stubentüre klopft, die uralte Bronzeplatte. Fast erschrocken trat ich zurück. Tief summend klang ein Ton auf, w u r d e kraftvoll laut; schwächte ab und versiegelte leise, echolos. Zwischen den B ä u m e n trat eine Gestalt ins Blickfeld. Ein buddhistischer Mönch aus Tibet, wie ich an der hohen, fast wie ein alter Dragonerhelm geformten Mütze sah. Unter dem offenen Ziegenhaarmantel ging das lange, einst leuchtend gelb gewesene, nun verschossene und zerschlissene Gewand bis zu den Sandalen hinab. Langsam kam er heran. Klein aber kräftig gebaut, 34
schritt er aufrecht wie ein Dreißiger, wenn nicht das gelbbraune glattrasierte, faltige Gesicht und die k n o chigen Greisenhände ein hohes Alter verkündet hätten. Auf diesem Antlitz, in dem schwarze, lebhafte Augen funkelten, lagen abgeklärte Milde und Ruhe. Augen eines Menschen, der viel erlebt hat und alles verzeihen kann und für den Gut und Böse wie ein Buch offen vor ihm liegen. „Om mani padme hum!" - es w a r dieselbe Stimme, die vorhin, scheinbar aus der Luft, an unser Ohr gekommen war. Quong w u r d e ganz Demut und Freude; er ballte die Hände vor der Brust zum alten mongolischen Gruß und verbeugte sich zum tiefsten Kotau, den ich bis jetzt an ihm gesehen. „Ta Lama! Großer Lama!" flüsterte er. Der Mönch lächelte und begrüßte mich in gutem Englisch. Es w a r demnach einer jener Weisen, die j a h r zehntelang meditieren, studieren und andere wie sich selber prüfen, die manchmal freiwillig, manchmal von Potala ausgesandt, China, Indien und die Nachbarländer durchstreifen. Häufig kehren sie nie wieder heim, wenn der Eiswind der Gobi, wenn gefährliche Ströme, die Glut der indischen Thar, der Zahn der Kobra im Gangesdelta oder andere Gefahren sie vorzeitig von dieser Erde abrufen. Reines Englisch redete er, n u r sprach er anstatt der heute geläufigen Anrede „You" die alte, frühere Art, wo es ein „Thou", ein Thee" und „Thine" gab. So, wie die englischen und amerikanischen Quäker noch heute untereinander reden. Ich stellte mich vor. „Du wirst müde sein und sicher hungrig! Leider k a n n ich dir außer Tee und einem kleinen Vorrat von Nüssen nichts anbieten!" sagte er liebenswürdig und rief dann einige chinesische Worte. Mit Verbeugungen verschwand Quong mit unseren Säcken hinter dem Tempel. „Entschuldige, ich habe deinen F r e u n d nach den früheren Mönchswohnungen geschickt. Nur einfache Zellen, in denen sich aber gut nachdenken läßt. Auch ich hause dort. Es gibt n u r Steinpritschen, aber ihr h a b t ja Decken, und ich k a n n wenigstens versichern, daß hier alles ungezieferfrei ist!" Verständnisvoll schmunzelte er über mein betrete35
nes Gesicht: „Natürlich! Ich hätte mir das ja denken können. Ich gebe dir nachher ein Mittel, das euch von dieser kribbeligen Plage Asiens sofort befreit! Aber ich denke, dein Quong soll erst Tee bereiten, dabei läßt es sich plaudern. Morgen werden befreundete Bauern Proviant für euch bringen. Ich hoffe, daß ihr einige Tage bei dem alten L a m a bleibt!" „Vorhin fiel deine Stimme direkt vom Himmel, ohne daß du zu sehen warst." „Ich war's. Obwohl ich oben auf dem Berg zwei Li von euch entfernt saß. Ich habe mich gefreut, daß du gut über meinen Glauben sprachst und sogar Räucherstäbchen vor dem Erhabenen abgebrannt hast!" „Verzeihung, Ehrwürden, wie konntest du so weit entfernt uns hören und zu uns sprechen?" Gütig und ein wenig lustig antwortete er: „Keine H e xerei oder Fakirskünste. Vorderhand will ich dich an Shakespeare erinnern." „Wieso das, E h r w ü r d e n ? " „Denk doch an den Prinzen von Dänemark. Was sagte Hamlet zu seinem Freunde?" „Oh! Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde . . . " „Richtig. Das ist w a h r . Aber komm zu den Zellen, wir wollen dort sitzen und plaudern. Ich möchte gern w i s sen, wie ein deutscher Geologe in dieses unglückliche, zerrissene Land geraten ist." Er n a h m mich beim Arm. Hinter blauvioletten Bergk ä m m e n versank die Sonne. Nachtwind strich daher, brauste plötzlich durch die Kronen uralter Bäume. Der Mönch, der uns auf dem Berge „Wolkenrücken" im vereinsamten Tempel des goldenen Buddha beherbergte, stammte aus Tibet, wo er einem großen, w u n dertätigen Kloster vorstand. In westliche Begriffe übersetzt hatte er ungefähr den Rang eines Kardinals oder Bischofs. Als Wander- und Wundermönch von den tibetanischen Nomaden, später von den Mongolen in der großen Gobi aufgenommen und weitergeleitet, d u r c h r e i ste er die nördlichen Provinzen Chinas u n d kam bis in die Mandschurei, die gerade damals von den J a p a n e r n , von denen sie beherrscht wurde, Mandschukuo genannt wurde. Dann ging er nach Korea und blieb lange in den fast unzugänglichen Tempeln der „TigerDiamantberge". 36
Überall stellte er den Armen seine ärztlichen K e n n t nisse zur Verfügung. Er heilte u n d tröstete. Er begnügte sich mit einer Schale Reis und einem Trunk Tee oder Wasser. Von Korea w a r er schließlich nach Südwesten w e i tergezogen, ins Hunan. Er hatte sich in dem vereinsamten Kloster niedergelassen und genoß großes Ansehen in den Dörfern, sogar unter Banditen. Exzellenz der Hutuktu Dschengen Dscham Boldun - das w a r u n ser bescheidener, stets liebenswürdiger und hilfreicher Gastgeber. Er ließ uns von den Bauern der Umgebung aufs allerbeste verpflegen. Er selbst r ü h r t e aber von den Lekkerbissen nichts an. Quong aber h a t t e viel zu kochen und pfiff dazu fast den ganzen Tag amerikanische Schnulzen. Ich führte mit dem Hutuktu viele lange Gespräche. Sein Wissen w a r vielseitig, seine Ansichten über die Welt auch außerhalb Asiens w a r e n erstaunlich genau. In Dingen des Alltags w a r er sehr praktisch. Ein P u l ver, das er uns samt einem dazugehörigen Handblasebalg gab, befreite uns fast im Handumdrehen von dem in Rasthütten, auf Herbergsbänken und Kanghs aufgehalsten Ungeziefer. Er sagte ganz richtig, daß Ungeziefer sehr oft der Übermittler vieler tödlicher Krankheiten wäre. „Etwa auch der Pest, Ehrwürdiger?" „Mögen euch die Götter vor der furchtbaren s c h w a r zen Krankheit schützen! Denn sie kommt immer noch vor. In milderer, weniger häßlicher, aber doch tödlicher Form grassiert sie in Afrika als Pocken, u n d bei uns im Fernen Osten heißt sie die Schwarze und schreckliche Krankheit. Sie kommt vor als Beulenpest, die sich mit Windeseile ausbreitet. Die Herkunft ist u n seren asiatischen Gelehrten noch u n b e k a n n t ; viele beschreiben sie als Strafe der Götter, womit sie ja auch recht haben. Man weiß n u r genau, daß ihre Träger und Verbreiter Rattenflöhe sind - dies aber nicht zu jeder Zeit, sonst gäbe es in diesem Weltteil keine Menschen mehr. So plötzlich, wie die Krankheit auftritt, erlischt sie auch wieder. Du weißt ja wohl, daß es in chinesischen Städten und überhaupt dort, wo Menschen w o h nen, von diesen ekelhaften Tieren geradezu wimmelt." 37
Ernst fuhr er fort: „Wenn du auf Reisen in Ostasien, in Stadt, Dorf, Haus oder Hof, eine tote Ratte liegen siehst, die keine Verletzungen aufweist und also nicht erschlagen worden ist, so fliehe schnell. Du wirst schon vorher an der Angst der Menschen merken, daß etwas Schlimmes im Anzug ist." „Bricht die Pest auf solche Art aus?" „Immer! Wenn nämlich eine Ratte verletzt w u r d e oder altersschwach ist, so verkriecht sie sich ins tiefste Loch, um dort zu sterben; das heißt, sie wird von ihren Artgenossen aufgefressen und in deren Magen b e g r a ben. Bricht aber die Pest aus - nachweisbar immer zuerst bei den Ratten -, so werden diese von wilder Panik erfaßt, kommen am hellen Tag aus ihren Löchern und suchen die Menschen auf, als ob sie Hilfe bei diesen suchen würden. Und d a n n krepieren sie pfeifend und winselnd. Die Menschen werden sofort von den neue Wirte suchenden Rattenflöhen infiziert. Die schwarze Pest bricht aus, um wieder einmal schmerzhaften Tod über die Sterblichen zu bringen." „Tschau, tschau!" forderte uns Quong mitten in diesem Gespräch zum Essen auf. Auf dem „Wolkenrücken" lebte sich's gemütlich. Meine Unrast verschwand. Ich sagte mir, daß es mit u n s e rer Weiterreise aus sei, w e n n die J a p a n e r Tschangtscha wieder hatten. Und das könne n u r eine Frage von Tagen oder Wochen sein. Vermutlich w ü r d e n die Chinesen mich auf Umwegen ins Hauptquartier nach Tschungking bringen, wo schon andere Fachleute u n d Forscher, darunter auch Straßenbauingenieure, auf das Ende des Krieges w a r t e n mußten - weil man sie einfach entweder vergaß oder liebenswürdig v e r t r ö stete. Maski! Mag sein, daß ich zu schwarz sah; aber jedenfalls tat es mir wohl, jetzt einige Zeit bei dem w u n d e r b a r e n H u tuktu zu bleiben. In offenen Worten sagte er, daß er uns gern h ä t t e ! Zur Last fielen wir ihm nicht. Denn was die Bauern uns auf den Berg brachten, w u r d e von meinem Zahlmeister Quong trotz langen Feilschens sehr g r o ß zügig bezahlt. Die Gespräche mit dem ehrwürdigen Ta Lama, wie Quong ihn nannte, verschönten das Dasein auf dem Wolkenrücken. Da wir gut aßen und keine u n erwünschten Kostgänger mehr auf dem Leibe hatten, füllten sich die Hohlräume zwischen den Rippen aus. 38
Das Blut erneuerte sich, pulsierte kräftiger, und unsere Augen bekamen wieder Glanz. Die Bauern versorgten uns auch mit Nachrichten von den Kriegsschauplätzen. Meist w a r e n diese Nachrichten verworren und widersprachen sich. Eine Meldung bewahrheitete sich, nämlich die von der großen Schlacht im Überschwemmungsgebiet zwischen Hinyang und Mienyang. Dort erlitten die Japaner eine der empfindlichsten Schlappen. Ihre Armeen, die von Westen her, aus Shanghai und Nangking, über Wuhu und Angking gegen H a n k a u marschierten, schlugen nämlich einen Bogen, um Hankau von hinten her zu nehmen. Das w a r mißlungen! Die sonst so klugen, über alles orientierten Söhne Nippons hatten nicht damit gerechnet, daß der große Jangtsekiang zuweilen sehr launisch und oft außerhalb der kalendermäßigen Überschwemmungszeit weite Gebiete u n t e r Wasser setzt. Die J a p a n e r wurden von den zahlenmäßig unterlegenen Regimentern Tschiangs besiegt. Man sprach von Tausenden t o ter J a p a n e r , von Hunderten vernichteter P a n z e r w a gen. Ganz China frohlockte. Das Prestige des G e n e r a lissimo w u r d e durch das Resultat der Sumpfschlacht erheblich gestärkt. Der Kurs seiner Banknoten stieg um einige Punkte. Sogar Quong stieß ein anerkennendes Gebrumm aus. Einige Tage darauf beklagte er sich, daß die Proviant liefernden Bauern, die hauptsächlich aus einem zwölf Li entfernten Dorf kamen, sich seit m e h r als einer Woche nicht mehr blicken ließen. „Kein Teufel kommt! Schweinebande! Wir müssen jetzt Tschau-Tschau aus Reis u n d Bohnenkäse machen. Bohnenkäse, poh!" schmähte er das fad schmeckende, chinesisch-japanische Gericht. Ich tröstete ihn und redete ihm gut zu. Dann schaute ich mich nach dem L a m a um, fand ihn aber in tiefe Meditation versunken. Plötzlich jedoch pfiff Quong. Ich sah einen der sehnlichst e r w a r t e t e n Bauern schwerbepackt den Berg heraufkommen. Der Mann machte aber ein unglückliches Gesicht und hielt sich gegen seine Gewohnheit nur kurz auf. Ich sah ihn bald wieder den Zickzackpfad hinabrennen, als brenne Feuer u n t e r seinen Sohlen. Quong bereitete uns eine fette Ente zu und erzählte dabei, daß jene „Söhne der Tapferkeit", die den „Wolkenrücken" und die umliegenden Dörfer bisher be39
schützt hatten, von einer großen Bande angegriffen und davongejagt worden seien. Die Sieger hatten sich etabliert und wollten in der Gegend bleiben. Da m a n nicht wußte, wie sie sich benehmen w ü r d e n , zitterte alles vor Furcht. Bisher hatten die „Söhne der Tapferkeit" sehr klug den Dörfern Kontributionen auferlegt, die sich zur Not ertragen ließen. Die Bauern wußten, daß sie solche Milde dem hochgeehrten Ta Lama verdankten. Wie würden sich nun aber die neuen Schutzherren, die sich „Heerscharen des geflügelten Teufels" nannten, benehmen? Vorläufig versteckten sich die Dorfbewohner ängstlich in ihren Häusern; sie hatten den Mutigsten zum Kloster geschickt, um die Lage zu e r k u n d e n und zu erfahren, was der weise Ta Lama dazu sage. Er war, als der Bauer kam, gerade spazierengegangen, und wir w u ß t e n nicht, w a n n er wiederkommen würde. Lange aber wollte der Bauer nicht warten. Er lieferte den Proviant ab und r a n n t e heim. Beim Verspeisen der Ente faßten wir den Entschluß, uns auf alle Fälle zum Abmarsch bereitzuhalten. Wenn die Banditen auf dem Bergpfad entlang kommen sollten, brauchten wir n u r bequem in einem der unauffindbaren Verstecke verschwinden, die der Lama u n s gezeigt hatte. So saßen wir im Hof und behielten den Pfad im Auge. Es begann zu regnen. Wir spannten die Ölpapierschirme auf. Endlich k a m der Lama den Steilhang herabgeklettert - eine gute Leistung, auf die mancher e u r o p ä ische Alpinist stolz gewesen wäre. Zu sagen brauchten wir ihm nichts mehr. Pilzsucher hatten ihn bereits über alles informiert. Lächelnd b e schwichtigte er: „Die ,Heerschar des geflügelten T e u fels' wird zu dieser Stunde immer noch ihren Sieg feiern, weil die Davongejagten große Mengen Proviant und Samtschu hinterlassen haben. Vorerst also werden wir von ihnen verschont bleiben. Heute und auch w ä h rend der Nacht bleiben sie in ihrem Schlupfwinkel. Die meisten der Burschen haben nämlich eine u n b e schreibliche Angst vor nächtlichen Dämonen, Geistern und Teufeln, obwohl sie selber dem Teufel dienen! Schlaft also ruhig, liebe Söhne, ich selbst brauche n u r wenig Ruhe und w e r d e für euch wachen!" 40
Am Morgen glänzte blasser Sonnenschein durch die silbernen Dünste. Dann kam Wind auf, fegte die Schleier weg, und am Himmel tummelten sich groteske Wolken. Sie sahen aus wie geflügelte Drachen. Der H u t u k t u saß im Hof und t r a n k seinen Tee. Er erzählte uns: „Alles war ruhig. Ich wachte und dachte nach, w ä h rend die Götter uns beschützten. Da hatte ich eine Vision: Die Heerscharen des geflügelten Teufels w e r d e n uns heute in böser Absicht besuchen; aber ihr m ü ß t nicht bange sein. Ich werde mit ihnen sprechen. Ihr aber setzt euch auf die Tempeltreppe und k ü m m e r t euch um nichts." Zufrieden lächelnd holte der Ta Lama die Tabaksdose aus dem Ärmel und nahm eine Prise. Dann sagte er: „Horch! - sie kommen schon!" Im Tal unten knallten unregelmäßige Schüsse. „Sie haben viel Samtschu im Leibe und sind noch halb betrunken. Arme Verführte!" murmelte er. „Kommt ans Tor!" Behaglich nieste er. L ä r m tobte unten im Tal. Dann sahen wir die Schar. Männer in Uniformen oder Kulitracht, alle schwerbewaffnet. Einige, die eine besonders stolze Miene zeigten, hatten nicht nur Gewehre, sondern auch Pistolen. Es waren die Anführer! Fast alle torkelten und knallten aus p u r e m Vergnügen Löcher in den Himmel. Ein paar Kugeln klatschten in die Mauer neben uns. Nun blieben sie stehen, berieten und drohten uns mit den Fäusten. Nachdenklich lauschte ich dem wilden Lärm dieser bewaffneten Bösewichte, die sicher schon unzählige Morde und Plünderungen auf dem Gewissen hatten. Gegenüber ihrer Übermacht hatten wir n u r wenig Chancen, aber ich h a t t e Vertrauen in den Lama. U n b e weglich stand dieser in der Türöffnung. Es war, als ob Ruhe und Zuversicht von ihm zu uns hinüberströmten. Ich h a t t e keine Furcht mehr. Endlich waren die Banditen oben. Ich sah die vor A n strengung keuchenden, verkaterten Kerle, wie sie einen dichten Haufen bildeten. Ich saß wie in einer Loge, schaute und hörte zu. Es waren brutale, fürchterliche Visagen unter ihnen, und alle lachten oder feixten. Ein paar drohten mit den Flinten. „Om mani padme hum!" sprach der Hutuktu eintönig, als der Anführer vortrat. Der Räuber trug weite, 41
verblichene Kulihosen und eine geflickte Militärjacke mit dicken goldenen Achselstücken, die einst einen Oberst der Zentralregierung geziert hatten. Der jetzige Besitzer w a r ein langaufgeschossener Bursche mit großen Pockennarben und schiefem Mund. Er zog die Pistole, schwenkte sie und brüllte: „Heda, Kahlkopf, begrüße uns mit Stirnaufschlag, mach den Kotau - alter Spitzbube! Danke uns, d a ß wir dir die Ehre unserer Anwesenheit schenken! Koch dann schleunigst einen Kessel Tscha, denn wir haben Teedurst!" Gelächter ringsum. „Seid willkommen, im Namen des Erhabenen!" antwortete der Lama. „Hör mit deinem Gequassel auf! Wir sind keine Idioten, sondern Patrioten. Los, mach gefälligst den Kotau, wie es sich geziemt, alter Dussel! Dasselbe gilt für die beiden Schweinesöhne, die da auf der Treppe sitzen. Vielleicht sind wir dann gnädig!" Aus dem Haufen kreischte einer: „Mit rotglühenden Gewehrläufen wollen wir euch streicheln! Dir aber, alter Bonze, setzen wir einen heißgemachten Reiskessel auf die Glatze. Kannst dir d a n n einbilden, daß du ein Gott bist!" „Was wollt ihr armen Irregeleiteten? K a n n ich euch helfen und euch auf den rechten Pfad führen?" fragte der Lama gelassen. Sie quietschten und grunzten vor Wonne und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Der Anführer verkündete bombastisch: „Wir haben als Schutzherren die Dörfer und Klöster übernommen. Klöster und Dörfer bezahlen innerhalb von drei Tagen ein Schutzgeld von dreihunderttausend Silbertaels. Dafür genießt ihr unsere Gnade. Selbstverständlich liefert die Gegend auch alles, was wir sonst brauchen, ein paar Dutzend junge hübsche Weiberchen inbegriffen. Antworte, oder bist du t a u b geworden, alter miserabler Kahlschädel?" Hochauf richtete sich da der Hutuktu; seine Gestalt wuchs, er hob und senkte beschwörend die Arme. Das rohe Gelächter und das Rülpsen verstummte. L ä h m e n des Schweigen fiel auf N a t u r und Mensch. Die Männer wurden zu Bildsäulen - gebannt starrten sie am Lama vorbei, irgendwohin . . . „Om mani padme h u m ! So nehmt, was euch gebührt!" tönte mächtig die sonore Stimme. Und wieder war's, als ob die Natur den Atem anhielte. Kein Blatt rührte sich, 42
nirgends Insektensummen; Schweigen überall. Am Himmel eilten Wolken dahin. Da k a m Bewegung in die eben noch erstarrten Gestalten - helle Angst bleckte aus ihren Augen; weitoffene Münder wimmerten, schrien, kreischten. Einige schlugen die Hände vor die Augen. Schließlich warf einer das Gewehr auf die klirrenden Steine und drängte sich an den anderen vorbei. Stolperte, fiel hin und sprang wieder auf. Rannte in wilder Eile den Berg hinab. Ein Zweiter folgte, noch einige, d a n n folgten ihm alle! Der „Oberst" war mitten unter ihnen; so drängte und wälzte sich eine zappelnde Masse den rauhen Pfad zu Tal. Die Flinten, die auf dem Rücken der Räuber b a u melten, verletzten manche der Fliehenden. Schmerzensschreie schrillten. Als die Kerle unten angelangt, r a n n ten sie wie von bösen Geistern gehetzt bachaufwärts. Sie liefen in die Richtung, aus der sie gekommen . . . Wir w a r e n ans Tor gelaufen. Dort stand auch der Lama, und gemeinsam schauten wir ihnen nach. Quong machte eine tiefe Verbeugung vor dem Lama. Dann legte er sich lang auf den Boden und schlug dreimal mit der Stirn auf die Erde. „Steh auf, mein Sohn, solche Ehre gebührt mir nicht", sagte der alte Mann u n d zog den Demütigen wieder auf die Füße. Er gab ihm einen freundlichen Klaps: „Ich bitte dich, mein Sohn, bereite lieber einen Kessel Tee für uns." Quong lachte wie erlöst, schnitt eine lustige Grimasse und lief zur Feuerstelle. „Ehrwürden, wie hast du das nur gemacht?" fragte ich. Der alte Herr schenkte mir sein gewohntes, mildes Lächeln und erwiderte: „Oh, Horatio, ich ließ nur ihre primitiven Gedanken und Reflexe Formen annehmen. Und da sie sich ja selber Heerscharen des geflügelten Teufels nennen - a r m e irregeleitete Menschen - so nehme ich an, daß sie wahrscheinlich eine Menge angsterregender und fürchterlicher, geflügelter Teufel erblickt haben, die sich anschickten, ihnen die Hälse u m zudrehen! - Aber nun, lieber Sohn, zünde dir deine Pfeife an, und ich will mir die läßliche Sünde einer P r i se Schnupftabak erlauben. Dann wollen wir die fortgeworfenen Gewehre zählen und aufbewahren." „Was machen wir damit, Ehrwürdiger?" „Oh, diese Übelberatenen und Bedauernswerten 43
schicken uns sicher bald Gesandte, die um Verzeihung bitten werden. Schon morgen können wir sie erwarten. Ich hoffe, daß sie d a n n meinen Rat annehmen und m a nierlich werden. Denn bei diesen schlimmen Zeiten wäre es gut für die umliegenden Dörfer, eine bewaffnete Schutzmacht in der Nähe zu haben. Wenn's auch nur R ä u b e r sind! Ich glaube, in Europa nennt man, w a s ich zu tun gedenke, den Teufel mit dem Beelzebub a u s treiben! - Komm, mein Sohn, wir haben unseren Tee verdient." In langen Wogen fegte der Nordweststurm im L a u b und heulte durch Fenster und Türöffnungen. Er pfiff um die Mauerecken und rumorte im Gebüsch, daß es sich so anhörte, als ob das Meer gegen flachen Strand anleckte. Unter vollen Segeln eilten phantastische Wolkenflotten über den Horizont, glitten weiter, verschwanden und machten neuen Flotten Platz. Klar umrissen standen violette, grüne und braune Berge. In seiner Zelle speiste der Hutuktu mit seinen S t ä b chen weißen körnigen Reis aus der tibetanischen Bettlerschale. Mit einem halbabgenagten Entenflügel in der Hand ging ich ans Tor. Seit jenem überstürzten Abzug der „Heerscharen" ahnte ich Gefahr. Der greise L a m a versicherte zwar, wir könnten ohne Sorgen sein; aber dennoch paßten wir beiden scharf auf. Wir hielten Tag und Nacht Wache. Wenn man sich das Postenstehen innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu zweien einteilt, bleibt nicht viel Schlaf. An meinem Entenflügel knabbernd, spähte ich ins Tal. Vier Tage und Nächte waren ereignislos verstrichen, seit die Bande unseren „Wolkenrücken" hinabgekugelt war. Doch siehe, dort u n t e n kamen sie wieder! Gestalten schoben sich aus den Büschen. Ich stieß einen Alarmpfiff aus und beobachtete d a n n weiter. Vorerst sah ich nur vier Männer, und eben schickten sie sich an, den Pfad zu erklimmen. Der Pockennarbige war dabei, mit der ihm übriggebliebenen Goldepaulette geschmückt. Sichtbare Waffen trugen sie nicht. Sie schwenkten grüne Zweige. Sollte der Lama recht b e halten? Der Sturm machte eine kurze Atempause. Wieder schrillte mein Pfiff, und sofort erschien Quong auf dem Plan. Der Naganrevolver steckte in seinem Hosen44
bund; in jeder Hand hielt er ein Gewehr und um seinen Hals baumelten Munitionsgürtel. Hinter ihm k a m gemächlich, R u h e und Frieden ausstrahlend, der Lama. Er blickte mildlächelnd den B a n diten entgegen. „Keine falschen Bewegungen, meine Söhne. I h r seht, sie kommen ohne Waffen, um zu verhandeln. Seid so gütig und setzt euch wieder auf die Stufen dort, damit sie, wenn ich mit ihnen rede, nicht allzusehr an Gesicht verlieren!" bat er uns. Wir taten nach seinem Geheiß, legten aber die Waffen bereit. Quong saß zufrieden da, während ich den Rest meines Flügels verzehrte. Schon hörten wir Steine kollern, dann Schnaufen, und plötzlich schnappte Quong laut nach Luft. Auch mir blieb der Mund offenstehen. K a u m waren nämlich die vier ins Blickfeld und vor den Lama getreten, da lagen sie auch schon demütig auf den Knien. D a n n lagen sie sogar auf den Bäuchen. Und nun schoben sie sich, immer wieder die Stirnen auf den Boden schlagend, n ä h e r heran. Einen Meter vor dem Lama blieben sie platt liegen, und der „Oberst" stieß klägliche, bittende Worte aus. Ruhig sprach der Alte etwas. Wieder j a m m e r t e der Pockennarbige, und abermals antwortete das tiefe, sonore Organ des Buddhisten. So verging geraume Zeit. Auf seinen Wink krabbelten die armen Sünder endlich auf die Füße. Sie senkten die Köpfe und warteten. Monoton sprach er auf sie ein, und sie nickten eifrig und ergeben; zwei bissen sich auf die Knöchel. Quong flüsterte: „Ta Lama läßt diese Höllenkerle schwören, bei allen Seelen ihrer Ahnen und Urahnen!" Es kam mir vor, als sei die Luft mit Elektrizität geladen. Warme Windstöße fauchten. Am Himmel t u m m e l ten sich Wolken mit langen Drachenschwänzen, wie rennende Pferde mit wehenden Mähnen. Endlich kam Freude in die bisher furchtsamen G a u nergesichter. Der L a m a nickte und wandte sich uns zu: „Sie haben versprochen, Frieden mit dem Wolkenrükkenberg zu halten und die Dörfer nicht übermäßig zu drangsalieren, sondern sie gegen andere Banden zu schützen. Ich setzte ihnen arg zu, und weiß daher, daß sie ihren Eid halten!" 45
Seine Worte gingen ins Chinesische über. Quong v e r beugte sich. Rasch lief Quong nach den Zellen und kehrte mit dem restlichen Waffenplunder der Räuber zurück. Er legte alles vor die Füße der Gesandten. Fröhlich ließ der Pockennarbige sich von einem schielenden K u m p a n die fehlende Achselklappe befestigen. Alle machten sie d a n n einen tiefen Kotau vor dem Ehrwürdigen, der sie mit den Händen segnete. Nach chinesischer Sitte grüßten sie Quong und mich, indem sie, uns anblickend, ihre eigene Linke mit der Rechten drückten. Dann packten sie sich die Lasten auf und gingen, gemütlich schwatzend, den Pfad zu Tal. „Kloster und Berg haben wieder ihre Beschützer. Dies k o m m t den Bauern weit billiger, als wenn es a n ders wäre", lächelte der Weise aus Tibet schalkhaft. Er schickte uns in die Zellen, um den versäumten Schlaf nachzuholen. Er selber ging in den Tempel, um zu beten. Mollig in meine Decke gewickelt, fragte ich: „Quong, sag mir, gibt es viele solcher Boddhisat bei euch zu Lande?" „Nix! F r ü h e r ja, aber jetzt kaum! K o m m t manchmal einer aus Tibet. Bleibt da oder geht weiter. Ein heiliger Mann!" Eine Weile hörte ich ihn murmeln - oder betete er vielleicht? - bis er endlich kräftig schnarchte. Als wir erwachten, breitete goldener Morgenschimmer strahlenden Glanz über das alte Kloster auf dem Wolkenrückenberg. Der L a m a stand in seiner schwarzen, schweren Kutte vor uns und zeigte auf einen großen flachen Weidenkorb. „Ein Gast- und Friedensgeschenk von Tee-Sing, dem Anführer der geflügelten Teufelsheerscharen. Reis, Früchte und ein halbes Lamm. Er schwor, daß es nicht geraubt, sondern zu den Dingen gehörte, die sich bei der Übernahme des Standortes vorfanden. Ich esse nie Fleisch; doch gebt mir nach Bereitung eures Bratens das linke Schulterblatt, von allem Fleisch gesäubert und abgeschabt. Es k a m mir der Gedanke, nun, da ihr sicher bald euere Reise fortsetzen wollt, eure Zukunft zu weissagen." Er fuhr auf englisch fort: „Ich glaube, daß ihr mir nicht die Schande antut, mich mit einem der vielen Scharlatane zu verwechseln! Ich habe euch lieb und wünsche euch nur Gutes u n d hoffe, dies in eueren fer46
neren Schicksalen zu finden; aber auch Schlechtes k a n n ich gegebenenfalls nicht verschweigen. Bisher, so sagt man, seien die meisten meiner Prophezeiungen eingetroffen." Der Abend sank. Später kam die blauschwarze Nacht mit Gold- und Silbergefunkel ihrer Himmelstrabanten. In der großen Kohlenpfanne glühten rubinrote und bläuliche zischende und knisternde Holzkohlen. Quong und ich - wir verspeisten den L a m m b r a t e n und t r a n ken Tee. Später kehrte der Lama von seinem Spaziergang zurück. Nun hockten wir endlich alle drei in der Wärme und hielten unsere Hände über die Glut. Wir lauschten dem Sausen des Windes. Der Lama nahm das von Fleisch und Sehnen gereinigte, flache, dünne Schulterblatt des Lamms und legte es ins Feuer. Nach einer Weile wendete er's. Er tat dies so lange, bis das Knochenstück überall geschwärzt war. Quong starrte tiefsinnig vor sich hin. Keiner von uns sprach. Sorgfältig ergriff der alte Herr nun das Schulterblatt und legte es zum Abkühlen neben sich. Nach einer Weile blies er Asche und Kohle weg und hielt es dicht vor seine Augen. Sein Gesicht w u r d e zur reglosen Maske; er schien in den Runen und Schraffierungen des Knochens zu lesen. Lautlos bewegten sich seine Lippen. Über die hohe Stirn perlten kleine Schweißtropfen. Sein Gesicht drückte plötzlich große Furcht aus. So schaute er lange. Mir schienen es Stunden zu sein. Quong seufzte. Allmählich glättete sich das Antlitz des Entrückten. Die frühere Güte und die naive Kindlichkeit kehrten zurück. Das Knochenstück entfiel ihm; er hob die H ä n de, legte sie zum Beten vor die Augen. Abermals verging eine qualvoll lange Zeit. Endlich sanken die gelben Greisenhände. Tief atmend öffnete er die Augen und legte seine Finger auf meinen Puls. Er sprach: „Seen, Flüsse und Meere von Blut u m g e ben dich! Schreie von Frauen, Kindern und Greisen; Gebrüll bewaffneter Männer aller Hautfarben, aller Religionen; berstende Mauern, vernichtete Städte um dich! Tod in Form von Feuer und sausenden Geschos47
sen vom Himmel um dich! Verbrannte Felder, Schnee und Eis, Hunger, Tücke, Greuel und Verrat um dich. Lange Zeit, vielleicht viele Jahre. Aber du lebst, und scheinbar ist dann die Welt wieder in Frieden. Fleißige Hände bauen auf, was zerstört wurde. Und schon von neuem spinnen sich - wie der Wurm in der stolzen Eiche nagt, bis sie k r a n k wird - üble Dinge wieder an, und scheinbar kriecht neues Verhängnis näher. Bleibt aber vorläufig oder immer aus! Du und andere, deren viele es verlernt haben, beten wieder zu Gott und den Göttern. Noch mehr aber lachen über die unsichtbare Macht, die sie jedoch lenkt. - Und wieder, von einem guten Schutzgeist behütet, kommst du in dieses Land zurück. China wird in seinen Grundfesten erschüttert, viel m e h r noch wie heute! Neue Dinge, neue Gesetze formen sich. Ob zum Schlechten oder Guten bleibt mir verhüllt. - Und hier auf diesem Berge wirst du Quong, deinen früheren Diener und jetzigen Freund, abermals treffen. Weil es so sein soll und weil die Götter es wollen! Zusammen werdet ihr wieder wandern, aber ohne Furcht. Und vielleicht werde ich auch noch auf Erden weilen, euch beherbergen und weissagen dürfen. Aber vieles, u n d auch dieses, bleibt mir verhüllt, ich k a n n den Vorhang nicht heben. Om mani p a d m e hum!" Er stand langsam auf, steckte die H ä n d e in die weiten Kuttenärmel und verschwand in der blauschwarzen Tiefe des Hains. Eine Weile noch hörten wir, immer leiser, und endlich echolos verklingend sein „Om mani p a d m e hum!" Wir schauten uns stumm an. Es d a u e r t e eine ganze Weile, bis ich meine Pfeife stopfen und anbrennen konnte, so hatte mich die Szene gepackt und aufgewühlt Stumm drehte sich Quong eine Zigarette. So saßen wir und qualmten. Immer m e h r bedeckte die Glut im Bekken sich mit einer weißen Aschenschicht. Schwacher rosiger Schimmer lag auf dem gelben Gesicht meines chinesischen Freundes. Langsame Schritte näherten sich draußen, k a m e n heran, w u r d e n lauter und wanderten vorbei. „Om mani padme hum!" war's wie schwaches Geflüster. Dann versiegten Schritte und Stimme in der schweigenden Nacht. „Ich glaube, daß wir in den nächsten Tagen das Kloster des Ehrwürdigen verlassen und Weiterreisen 48
nach Tschangtscha und an den Tungting. Am liebsten möchte ich ja hierbleiben, denn in diesem Frieden verliert man jeglichen Zeitbegriff. Aber das Leben w a r t e t auf uns!" sagte ich. Quong nickte verstehend. Und der Frieden der Nacht umhüllte uns. Das Feuer w a r ganz erloschen.
LEBENDE BILDER Geschrei brandete und heulte in allen Tonarten - so, als ob ein Höllenorchester eine teuflische Symphonie spielte. Mit phantastischer Wucht schlugen die Töne zum dunstverschleierten Himmel. Unübersehbare Häusermassen, eine von bitterem Holzrauch und tausend Gerüchen gesättigte A t m o sphäre. Dichte, wimmelnde Menschenschwärme und eine lehmgelb glitzernde, sämig und schwer dahinziehende Wasserfläche, von zahllosen Booten, Sampans, Dschunken, Barkassen und Dampferchen belebt. Am anderen Ufer, in rauchdurchsetzter Luft, zerfloß ein anderes Häusermeer. Wir w a r e n in Hankau, wo sich der Strom H a n k i a n g dem gewaltigen, an tausend Rätseln, Tragödien und Freuden reichen, großen Bruder vermählt, dem J a n g tsekiang! Seit wir dem Idyll des Klosters zum Goldenen Buddha entwichen waren, seit wir die letzten Segenswünsche des ehrwürdigen Ta Lama empfangen und den Weg nach Norden angetreten hatten, waren Wochen verstrichen. In einem von kraftvollen H u n a n m ä n n e r n geruderten Boot hatten wir den schmalen, in malerischer Landschaft fließenden Kweishui bezwungen. Wir verunglückten an einer gefährlichen Stelle des brausenden Gewässers und schwammen ans Ufer, w ä h r e n d die lachenden H u n a n m ä n n e r unsere Säcke, ihre Habseligkeiten sowie den kieloben treibenden Kahn und die Ruder auffischten. Der Kweishui mündete in den breiten, mächtigen Siangkiang, der, von Booten förmlich bedeckt, seine gel49
ben Fluten nordwärts wälzte, dem großen, mit dem Tzükiang gebildeten Delta am Tungtingsee entgegen. Alle diese Fahrzeuge w a r e n stark überfüllt, meistenteils mit Flüchtlingen aus Tschangtscha, das die J a p a ner eben wieder berannten. Wir konnten das ferne Grollen der Kanonen vernehmen und hörten auch den unheimlich anschwellenden und wieder versiegenden Orgelton japanischer Flugzeuge; wir sahen eine rote Sonne auf weißem G r u n d an der Unterseite dieser Maschinen, w e n n sie über uns hinwegbrausten, um w a h r scheinlich die große Stadt Yotschau am anderen Zipfel des Tungtingsees zu bombardieren. Wir verabschiedeten uns von den wackeren H u n a n leuten an der Mündung des Kweishuis. Sie mußten ihr schweres Fahrzeug wieder mühsam stromauf staken oder an Tauen auf dem Treidelpfad ziehen. Wir berieten lange. Ich wollte nach Tschangtscha; aber Quong riet dringend davon ab, mitten durch das Kampfgebiet zu wandern. Er habe keine Lust, schon jetzt auf den „Terrassen der Nacht" zu schlafen, falls die Prophezeiung des Ta L a m a etwa nicht stimmen sollte, sagte er. Außerdem wären die Beamten, die ich aufsuchen müßte, schon längst in Hankau. Und da dieses vermutlich auch bald fallen würde, so säßen sie gewiß in Tschungking beim Tscha . . . Wir bestiegen daher in einem Dörfchen namens „Westliche Sonne" eine mit Menschen vollgepfropfte Dschunke. Der Hotschang nahm uns n u r auf, weil Quong ihm einen halben Dollar USA-Währung in die Hand drückte. Auf einem anderen Fahrzeug wäre es auch nicht bequemer gewesen; denn alles was irgend konnte, flüchtete zu Wasser stromab, nach Siangyin, Euling und an den See. Wir stiegen schon in Siangyin aus und dankten dem Schöpfer, d a ß unsere Glieder heil geblieben waren. Hier w a r eine der wenigen guten Straßen, die allerdings meist n u r bei trockenem Wetter gut sind und dann regen Omnibusverkehr nach Norden haben. Wieder gelang es Quong durch richtig angewandte Kumtschas, Tickets zu erhalten. Der Omnibus sah sehr mitgenommen aus und machte einen ganz tollen Lärm. Er w u r d e so lange voll Menschen gestopft, bis keiner mehr hineinging. Man b e k a m Luft zum Atmen, weil er keine Fensterscheiben m e h r hatte; aber trotzdem 50
herrschte warmer, unangenehmer Mief. Auf meinen Knien saß ein alter Mann. Er hielt einen Radioapparat an sich gedrückt; der Apparat hustete, spuckte und krächzte die ganze Zeit. Neben mir w a r Freund Quong mit einer dicken Bauersfrau belastet, die auf seinem Schoß hockte, während sie einen sich öfters geheimnisvoll bewegenden Sack umklammerte. Durchdringendes Quietschen verkündete später, daß Ferkel in dem Sack waren. In den Gepäcknetzen des Busses lag die Jugend. Außen, auf dem Verdeck, türmten sich festgebundene Säcke und sogar H ü h n e r - und Entenkäfige. So ächzte, ratterte, fauchte und hopste das Vehikel über die staubige Straße. In Takintze kamen wir an die Bahnlinie und stiegen aus, an allen Gliedern wie gerädert. Wir bekamen Unterkunft in einem übervölkerten Han, wo wir sogar Ehrenplätze auf dem großen, breiten Khang (Ofen) ergatterten. Dort lagen wir wie Sardinen nebeneinander. Andere mußten sich mit Bänken, Tischen und dem Fußboden begnügen, den sie mit einer großen Sau, deren Sprößlingen und der zahlreichen Hühnersippe des Wirts teilten. Von Takintze bis Yotschau konnten wir einen k l a p pernden, übervollen Eisenbahnzug bekommen. Sogar auf den Dächern, Trittbrettern und Puffern hockten Menschen. Langsam, aber stetig klirrten wir nach Yotschau, in dichter Nähe des Yangtse. Von hier aus w a r die Linie wieder a u ß e r Betrieb, weil zwischen Yotschau und Hankau die damals in den Sümpfen besiegte Westarmee des Tenno sich neu organisierte. Der Jangtseverkehr florierte wie immer. Aber das Quartier im Han w a r schauderhaft. „Wir gehen nicht zu Fuß, weil Inselzwerge uns sonst als Spione ansehen könnten. Wir nehmen lieber Wasserbeine!" Womit Quong die chinesische Bezeichnung für eine Wasserreise ausdrückte. Schiffe laufen über die Flut, also bewegt m a n sich auf Wasserbeinen! Sie sollten uns nach H a n k a u bringen, in eine der größten, betriebsamsten Städte des menschenreichen Landes. Jangtsekiang! Der neben dem Hoangho mächtigste, längste Strom ist sowohl mit traurigen Katastrophen als auch mit sonniger Lieblichkeit verbunden. Unzählige Sagen - Märchen und Wahrheiten - schweben über 51
seinen stillen Wassern und tönen a n d e r w ä r t s in seiner reißenden, furchtbaren Strömung. Oder brüllen laut und donnernd gischtend in den sechshundert Meter tief eingeschnittenen, engen Steilschluchten! Oder flüstern im Weidengezweig der flachen Ufer; wehen über grünen Reisfeldern und in den Teesträuchern! In seinen gelbschimmernden, manchmal blutrot wie Dukatengold leuchtenden Wassern leben fette Goldkarpfen, gefräßige Hechte und andere Flossenträger, die den Fleiß oder die List der Fischer unfreiwillig belohnen. Hier wohnt das fast ausgestorbene, nur von wenigen Menschen je erblickte Chinakrokodil. Es lebt versteckt u n d heimlich, so daß man ein Lebensalter darauf w a r t e n kann und es vielleicht doch nie zu G e sicht bekommt! Mag sein, daß dein Boot umkippt und dich die k a u m sichtbaren, unter der Oberfläche furchtbaren Strudel und Trichter binnen wenigen Sekunden hinabziehen. Oder dich in den Engpässen die wildjauchzenden Wasser gegen Klippen schmettern. Hast du Glück, rettet dich vielleicht ein gütiger Stromgeist, indem er die bösen, hungrigen Dämonen der Tiefe beschwichtigt oder verjagt. Das ist der Jangtsekiang. Hauptschlagader des Reiches der blumigen Mitte! Jenes Stromstück, das uns auf „Wasserbeinen" von der Yotschaugegend nach H a n k a u brachte, fließt durch flache Ebenen, sattes Reisland und Sümpfe. Dieses ungefährliche Stück wird von vielen Booten belebt; auch von größeren Dschunken, die allerdings stromauf nur mit günstigem Wind oder mit dem Schweiß der an dicken Tauen ziehenden Männer auf dem Treidelpfad vorwärtskommen. „Ea aih, ho! Ea aih ho!" ist der eintönige Singsang dieser Tauzieher, der einer schmerzlichen Klage gleicht ein Lied, das noch trauriger klingt als die düsteren, aber von starker Hoffnung getragenen Strophen der Wolgaschiffer aus dem alten Zarenreich. Wir fuhren auf der so friedlich aussehenden S t r ö mung, die dennoch mit unberechenbarer Gewalt pulsiert, bis Hankau. Wir stiegen aus, empfangen von dem ungeheuerlichen Radau am Hafen und kletterten die glitschigen, stinkenden und mit den hier in Fahrzeugen verladenen 52
„Erzeugnissen der Nacht" besudelten Treppen empor. Mit unseren Säcken auf den Schultern, unsere wettergegerbten Strohhüte tief im Gesicht, in strapazierten Kleidern und unseren aus dem Leim gegangenen Schuhen mit dicken Pappsohlen w i r k t e n wir wie zwei Arme, die niemand beachtete. Quong führte gut. Hankau hat ein großes Europäerviertel, eine breite lange Straße, „Bund" genannt, und prachtvolle Läden, neben einem sehr hohen, schmalen Hotel. Wir aber liefen nach dem riesigen Chinesenviertel. Die Großstädte des Landes gleichen einander m e h r oder weniger. Sie sind n u r dort verschieden und w a h r haft bunt, wo kein europäischer Einfluß wirkt. Auch in H a n k a u gibt es die typischen engen Gassen, die brodelnden Menschenstimmen und drückenden Gerüche. Die Rufe der Lastenträger, das Getrampel keuchender Rikschakulis und Sänftenträger, den eintönigen lauten, meist auf offener menschenvoller Straße abgehaltenen Schulunterricht mit eifrigen Kindern. Autogehupe ist selten. Dafür hört man aber fast unaufhörlich das Geklingel vieler Fahrräder. Von den Häusern hingen die senkrechten, mit bunten Schriftbildern bedeckten Ladenschilder herab. Ein vorbeikommender, prunkvoller Leichenzug w u r d e von einer weißuniformierten Kapelle angeführt, die einen lauten Marsch oder ein Operettenlied spielte. Dort bewegte sich ein noch prunkvollerer Hochzeitszug. Irgendwo feierte jemand Geburtstag. Pulverfrösche k n a t t e r t e n und knallten, Raketen zischten am lichten Tag empor. Bezaubernd geformte Papierdrachen trommelten in den Lüften, Toten- und Wahrsagerpauken dröhnten. Alles vermischte sich zu einer betäubenden Symphonie. Hinzu kamen schwere, undefinierbare Düfte und leuchtende, bunte Farben. Dies alles hat schon manchen Weißen veranlaßt, das Land schnellstens wieder zu verlassen . . . Mein Freund Quong, Freund vieler Freunde, Namensvetter einer uralten Sippe, die soviel Mitglieder hat, wie die Bevölkerungszahl etlicher europäischer Länder zählt, besaß selbstverständlich auch in H a n k a u Bekannte und Verwandte tausendsten Grades. Bald waren wir in einem kleinen Hof, rings von Mauern und Häuschen umschlossen. Ein ungeschlachter 53
Riese von Mann empfing uns und flüsterte mit Quong. Dann schüttelte sein eiserner Griff meine Rechte und sein Gesicht legte sich in freundliche Falten. Schnell zogen wir uns splitternackt aus, und w ä h rend wir zuschauten, wie unsere Kleider und Säcke samt den kribbelnden Bewohnern in Flammen aufgingen, rasierte uns ein Barbier und stutzte das überlange Haar. Später überließen wir uns der herrlichen Wohltat eines Bades, wobei uns die „Nummer Zweifrau" des Riesen die Rücken abseifte und köstlichen Tscha servierte. Wir ruhten dann auf weichen Betten aus, wozu ich wieder einmal einen guten Tabak qualmte. Es w a r unbeschreiblich wonnig. Trotz langer Reise und vieler kleiner Kumtschas w a r mein Dollarvorschuß noch erfreulich groß. Es ist ja alles so billig, besonders, wenn man einen Quong zum F r e u n d e hat. Natürlich hätte ich im großen, modernen Hotel wohnen können; doch hatte mich der Zauber des Landes und seiner Bewohner in seinen Bann geschlagen. Außerdem mochte ich nicht mein Gesicht vor Quong verlieren! Die Unterkunft bei dem Riesen w a r gut und sauber. Wir kauften daher keine europäische Ausrüstung, sondern trugen uns chinesisch wie bisher. Dazu setzten wir uns, was modern-chinesisch war, amerikanische Filzhüte auf. Quong war begeistert, daß ich nicht woanders wohnen wollte. Natürlich konnte m a n jetzt, da ich gewaschen war, mein Europäertum erkennen; doch störte mich das nicht, und ich war auch nicht der erste, der die bequeme Landestracht vorzog. Am zweiten Tag n a h m ich eine Rikscha und sagte dem Boy, er möge langsam laufen und sich nicht überanstrengen. Was mir ein überraschtes, frohes Lächeln eintrug. Bei der Bankfiliale stieg ich aus. Bei den chinesischen Clercs erregte ich große Freude und Heiterkeit; ebenso gefiel mein chinesisches Radebrechen. Ich zeigte meine Papiere u n d den Kreditbrief und bekam nicht n u r mein überfälliges Gehalt in guten Dollars ausbezahlt, sondern w u r d e mit großer Höflichkeit zum Direktor geführt. Ein sympatischer Brite empfing mich; sofort ließ er geeiste Drinks auffahren. Ich erzählte und erfuhr, daß man mich längst aufgegeben und für verunglückt gehalten hatte. F ü r den Fall, daß ich aber doch noch auf54
tauchen sollte, händigte mir Mr. Sampson einen großen, amtlichen Brief der Tschungkingregierung aus. Er bat mich, diesen gleich zu lesen, während er einige Telephongespräche erledigte. Der Inhalt des floskelreichen Schreibens gefiel mir anfangs nicht ganz. Ich sah aber ein, daß die Herren in Tschungking recht hatten, wenn sie meinten, daß das Tungtingprojekt ja nicht ausgeführt werden konnte. F r ü h e r oder später w ü r d e die ganze Gegend hier H a n k a u inbegriffen - in japanische Hände fallen. Schon war man dabei, die hier gebliebenen Regierungsstellen zu evakuieren. Daß m a n aber von mir erwartete, nach Tschungking zu fliegen, um dort weitere Instruktionen einzuholen, paßte mir durchaus nicht! Ich k a n n t e Kollegen der S t r a ß e n b a u - und B a h n a b teilungen, die schon über ein J a h r dort saßen und D a u men drehten, dabei allerdings ihr volles Gehalt bekamen. Doch war es durch die fortwährenden Bombardierungen sicher nicht angenehm in dieser großen, volkreichen Stadt, die, wie jeder w u ß t e , nach und nach zu einem Trümmerhaufen wurde. Hunderttausende wohnten schon in teils natürlichen, teils künstlichen Höhlen am hochgelegenen Klippenufer des Jangtse, weil ihre Häuser zertrümmert worden waren. Jede Nacht warfen die Flieger des Tenno ihre teuflischen Eier auf den Häuserhaufen, der durch eine minimale, altmodische Flak nicht recht verteidigt w e r den konnte. Die J a p a n e r wollten natürlich das H a u p t quartier Tschiang Kai Sheks samt diesem selbst vernichten, obwohl er sich meist in guten Bunkern oder Höhlen aufhielt. Mr. Sampson antwortete auf meine Einwände: „Alle Bomben treffen nicht, und gewiß können Sie a u ß e r halb der Stadt wohnen. Eine reizvolle Gegend; es gibt hübsche Landhäuser am Jangtseufer, deren Besitzer w ä h r e n d der heutigen Verhältnisse gerne einen zahlenden Gast aufnehmen. Und solange Ihr Gehalt a u s bezahlt wird, k a n n Ihnen das Weitere gleichgültig bleiben. Es gefällt Ihnen doch in China?" „Hm", b r u m m t e ich und erzählte ihm dann in kurzen Zügen von meiner Wanderung mit Freund Quong. Ein p a a r m a l lachte der Brite laut und sagte endlich: „Ihre Erlebnisse gäben gute Berichte für die amerikanischen Sonntagszeitungen. Schade, daß Sie nicht Journalist 55
sind. Ihr Quong scheint ja ein Unikum zu sein." „Und ob! Ich müßte sowieso vorher seine Meinung einholen. Glauben Sie, daß ich ihn mitnehmen darf?" Er wiegte den Kopf. „Weiß nicht. Meine Bank hat den Auftrag, Ihnen die nötigen Papiere samt dem Ticket für Tschungking auszuhändigen. Von einem Begleiter ist nicht die Rede, doch ließe sich das sicher machen. Ich könnte mit dem hiesigen General telephonieren. Er packt gerade seine Koffer. Die Fluglinie nach Tschungking existiert noch, ist jedoch der Japaner wegen sehr gefährdet. Daher funktioniert alles u n pünktlich und die Fluggäste sind ausschließlich Regierungsbeamte oder Militärs. F ü r Sie w ä r e es okay." „Meinen Sie, daß Hankau fällt?" „Ganz klar, in wenigen Wochen!" „Wird m a n die Stadt verteidigen? Wenn ja, dann bitte ich, mich vorher empfehlen zu dürfen." Er lachte. Dann sagte er: „Schon marschiert die Armee den Jangtse aufwärts. Man will die wertvollen Faktoreien, Fabriken und andere Gebäude nicht zwecklos zerstören lassen. - Übrigens ist das Militär hier unzufrieden. Seit einem J a h r erhalten die Soldaten keinen Sold; er bleibt immer in den Händen einiger höherer Herren hängen. Armer Tschiang, wenn er in Wahrheit w ü ß t e , was für Gesindel er teilweise um sich hat, dem er vertraut." „Und Sie?" „Ich bleibe hier. Wir haben ja ein internationales Viertel, bewacht von englischen Marinesoldaten. Haben Sie die D r a h t v e r h a u e gesehen? Und den britischen Zerstörer im Hafen? Das ist auch in Shanghai so. Die Japaner haben bisher, von einigen I r r t ü m e r n abgesehen, alle internationalen Absprachen respektiert. Angenehm wird's natürlich nicht werden. Sowie alle chinesischen Regimenter abgezogen, und noch ehe die J a paner einmarschiert sind, hat der Mob volle Handlungsfreiheit. Eine chinesische Volksmenge kann sehr gefährlich werden. Zuviel Hunger, Not und Enttäuschungen, wissen Sie! Fliegen Sie also lieber ab, falls Sie nicht hierbleiben oder gar nach Shanghai zurückfahren wollen. Der Dampferverkehr zwischen dort und hier funktioniert zwar unregelmäßig; er wird aber von den Söhnen Nippons nicht blockiert, obwohl sie den Jangtse bis vor unsere Tore in Händen haben. 56
Vielleicht ist es kluge Berechnung . . . " „Hören Sie, Mr. Sampson, ich w a r noch nie ein Freund der Fliegerei. Ich hörte doch seinerzeit in Shanghai, daß Dampfer bis nach Tschungking hinauffahren." Sampson nickte: „Ganz recht. Aber selten. Es hängt von den unberechenbaren Launen des Stromes ab. Sie wissen, daß er höchst gefährliche Passagen hat; voller Stromschnellen, die seit altersher der Ort unzähliger Schiffskatastrophen sind. Ich meine nicht nur Dschunken, sondern auch starke Flußdampfer. Das geht so r a send schnell, daß vom Schiff und Besatzung binnen wenigen Minuten nicht mehr viel übrig bleibt. Und es braucht eine starke Maschine, einen vorzüglichen Kapitän und einen Lotsen, um bei gutem Wasserstand diese Todesstrecken zu überwinden. Schon der geringste Fehler in der Steuerung führt zum Verderben. Die P i loten dieser Jangtsestrecken gehören zur Elite; Europäer oder überhaupt Weiße sind dazu nicht zu b r a u chen. Deswegen bleibt die Dampferfahrt von hier nach Tschungking immer ein Wagnis." „Well. Vorausgesetzt, daß mein Freund Quong mit darf, werde ich also doch nach Tschungking fliegen!" „Schön. Ich habe sowieso eine Angelegenheit mit den hiergebliebenen, aber ihre Koffer packenden hohen Herren zu besprechen. Kann Ihre Sache damit verquicken. Das geht aber nicht einfach alles übers Telephon. Oh nein, man m u ß die würdigen Herren zu einem opulenten Mahl einladen und erst, wenn der Gürtel spannt und - was zum guten Ton gehört - ein lautes Rülpsen aus etlichen Kehlen klingt, werden wichtige Geschäfte erledigt. Und wenn der Chinese dann den Handschlag gibt, so k a n n man sich auf das gegebene Wort felsenfest verlassen. Sonderbares Volk, aber a b solut sympathisch. - Gedenken Sie länger in der Stadt zu bleiben?" „Eigentlich nicht." „Sonst w ü r d e ich Sie im Britischen und Amerikanischen Klub einführen. Oder wollen Sie den Deutschen Klub, der zwar sehr zusammengeschmolzen ist, aufsuchen?" „Lieber nicht." „Allright, freut mich. Sonst hätte ich nämlich keinen Finger für Sie gerührt!" sagte er mit erfreulicher 57
Grobheit. „Sie sind einer der vielen, überall verstreuten, vernünftigen Deutschen, die ihr Gesicht behielten. Und ich verspreche Ihnen, daß ich ein Flugticket für Ihren Quong auftreiben werde. Übrigens w a r n e ich Sie. Wissen Sie, was Ihnen passiert, wenn Sie hier den Deutschen Klub betreten?" Ich schüttelte den Kopf. „Man wird Ihnen sehr dringlich und offiziell ans Herz legen, I h r e n Vertrag mit der chinesischen Regier u n g zu kündigen. Weil man Geologen wie Sie dringend im Dritten Reich braucht." „Teufel!" „Man weiß sicher schon, daß Sie nicht umkamen, sondern hier sind. Lassen Sie sich lieber gar nicht sehen, es kann ja sein, daß Sie sehr krank sind. Behalten Sie Ihren Landsleuten gegenüber den Rücken frei und w a h r e n Sie Ihr Gesicht. Man weiß nie, wozu das gut sein könnte!" Stumm drückte ich seine Rechte. Nach einigen Tagen sollte ich unauffällig wieder vorsprechen. Bis dahin w ü r d e meine Angelegenheit in Ordnung sein. Ich verabschiedete mich von diesem braven Manne und fuhr heim. „Oh, Freund Quong, willst du mit mir nach Tschungking fliegen?" fragte ich meinen treuen Begleiter. Zufrieden rülpsend erwiderte er: „Ich fliegen, savvy? Habe Nummereinsfreunde in Tschungking! Hankau ist bald voll Inselzwerge und d a n n ist es zu spät zu fliegen. Wir m ü ß t e n dann laufen!" „Lieber fliegen, alter Junge!"
SILBERDISTEL Zypressen und majestätische Platanen mit ihren unregelmäßig gescheckten Stämmen bildeten den schütteren Wald, u n t e r dessen Blättern sich das alte, goldbraune Stohdach verbarg. Wie eine übergroße Zottelmütze bedeckte dieses Dach unser zierliches Holzhaus. Wo das Wäldchen sich breit in zwei Teile spaltete, erstreckte sich die steile, mit Pfirsichbäumen bestandene Wiese fast bis zum Fluß. Hier brach sie plötzlich in jä58
hem Felssturz ab. Unten glänzte der breite Strom. Sein gelber, unruhiger Spiegel wurde jenseits von einem smaragdgrünen Steilufer begrenzt. Auf den goldgelben Fluten des in seinem Oberlauf „Goldsandfluß" genannten Jangtsekiang wiegten sich die zahlreichen Boote und Dschunken wie rotbraune Schmetterlinge. Langsam treibend oder rasch gerudert, verschwanden sie hinter der schroffen Klippennase, wo der Strom eine Biegung macht. Neue F a h r zeuge k a m e n von oben herabgetrieben. Und fern, wie Silberstaub, flirrten die Dünste der Stadt zwischen Himmel und Erde. Unser geräumiges, teils geschnitztes und lackiertes Haus w a r ein irdisches Paradies . . . Vor einer Woche w a r e n wir glücklich in Tschungking mit dem Flugzeug gelandet. Zuerst hatte uns ein Regierungsauto in die Stadt gebracht. Tschungking liegt auf einem riesigen, breiten, ins Wasser ragenden Kliff, das oben ein Hochplateau bildet. Tschungking das ist: Häusermeer, Menschengewimmel, Uniformen, Schmutz und Prunk; zwischen die noch stehenden Gebäude hingestreut sind riesige Schutthaufen von H ä u sern, geborstenen Mauern, geknickten Zypressen, Aschenberge. Und d a n n wieder von intakt gebliebenen Mauern umschlossene Yamen der großen, reichen Familien . . . So präsentierte sich das von japanischen Bomben hart angeschlagene Tschungking unseren Augen. Das Volksgewimmel w a r unbeschreiblich. Bei Nachteinbruch aber wurden alle Straßen und Plätze plötzlich leer. Patrouillen marschierten. Fischer, Dschunkenleute, Händler, Bettler, Aussätzige und Kulis, Kaufleute und auch die Fremden zogen sich fast ausnahmslos in die unzähligen, teils sehr wohnlich ausgestatteten Höhlen zurück, in denen man vor den Bomben sicher war. Regelmäßig alle vierundzwanzig Stunden kamen die Flieger und warfen ihre heulende und krachende Last ab. Es w a r e n immer n u r wenige Flugzeuge; aber im Laufe der Zeit w u r d e die unglückliche Stadt dennoch schwer mitgenommen. Der Schockwirkung wegen kamen die Flieger am liebsten bei Nacht. Ich habe etwas vorgegriffen; ich will n u n der Reihe nach berichten. 59
Ich w u r d e in ein gut getarntes Dorf gebracht, in dem das Hauptquartier lag. Es gab da bombensichere B u n ker und Unterstände. Darin, zum Teil aber auch in Baracken, arbeitete die Zentralregierung mit ihren Militär- und Zivilstellen. Geschäftige Beamte und Sekretärinnen eilten hin und her; einige Generäle oder Obersten, mit viel Gold auf Achseln und Mützen und in sehr eleganten Uniformen, waren dazwischen. Fast wohltuend dem Elend dieses Landes angepaßt w a r e n die weniger zahlreichen, schlicht gekleideten Offiziere. Ihre Uniformen waren durch vieles Waschen ausgebleicht. Die schmucken Feldmützen saßen verwegen. Sie kamen von den vielen Fronten und betrachteten ihre vergoldeten Kameraden mit kaum verhülltem Hohn. Am sympathischsten sah der Marschall aus. Zufällig sah ich ihn, als er und seine zierliche F r a u aus einem Auto stiegen. Beide trugen bequeme, anspruchslose Landestracht. Nach allen Seiten lächelnd, verschwanden sie in einem langen, niederen Holzhaus. Ich w a r hier nun besonders froh darüber, keine militärischen Aufgaben zu haben. Ich w u r d e gleich angemeldet; ein englisch sprechender Sekretär führte mich in den Dienstraum des stellvertretenden Innenministers. Das w a r ein europäisch gekleideter, korpulenter, älterer Herr, dessen kluge, gütige Augen mich freundlich hinter dicken Brillengläsern anfunkelten. Bald saßen wir bei Tee und Zigaretten in zwanglosem Gespräch, für dessen Kürze der Vielbeschäftigte sich gleich entschuldigte. Er w a r über alles sehr gut informiert. Wir streiften kurz die europäische Lage, und bei E r w ä h n u n g Hitlers lächelte er skeptisch. China hatte nicht vergessen, daß Hitler den General Falkenhausen samt seinen Beratern unter fadenscheinigen Vorwänden aus dem Lande der Mitte abberufen hatte. Von diesem Thema auf das des eigenen Landes zurückkommend, meinte der Minister, daß H a n k a u binnen weniger Tage fallen würde. Doch könne es den J a p a n e r n nie und nimmer gelingen, in Szetschuan festen Fuß zu fassen. „Schade, daß unser Tungtingprojekt jetzt nicht zur Ausführung kommen kann!" meinte er und fügte lächelnd hinzu: „Ich weiß ja, daß Ihrer Meinung nach dort kein Öl gefunden werden kann. - Doch jetzt r u h e n 60
Sie sich erst einmal gut aus. Einen zuverlässigen Diener haben Sie? D a n n wollen wir später weitersehen. Vielleicht können wir Sie in die Berge schicken. Nicht weit von hier, aber der Platz ist schwer zu erreichen. Wege und Straßen sind bei schlechtem Wetter in dieser Provinz besonders schlimm. Sie müßten Pferde nehmen. Wir sind Ihnen sehr wohlgesonnen, denn wir freuen uns, daß Sie unser Land nicht nur Ihres hohen Gehaltes wegen lieben!" „Soll ich in den Bergen nach Öl suchen, Exzellenz?" „Nein, lieber Freund. Es handelt sich um die Gegend zwischen den Flüssen Minkiang und Shuo mit den Kleinstädten Kialing im Osten und Tzetschau weiter westlich. Seit langem wird dort Platin gefördert, und da wir über ein J a h r lang nichts von dort gehört haben, muß angenommen werden, daß die Grubenadministration die Regierung betrügt. Sie könnten zuerst dort einmal nach dem Rechten sehen. Selbstverständlich mit einer Militäreskorte." „Wann soll ich abreiten, Exzellenz?" Er lachte: „Sie sind ein Draufgänger, und das gefällt mir. Leider müßten, ehe es dazu käme, verschiedene Klippen hier im Ministerium überwunden sein. Sie verstehen? Die Welt wurde ja auch nicht auf einmal aufgebaut. Vorerst genießen Sie die wohlverdiente Ruhe!" Der Minister leerte seine Tasse; dann griff er nach einem verschlossenen, abgestempelten Brief: „Gewiß wollen Sie nicht in der Stadt wohnen? Ein ungesunder Ort für Europäer. Wir haben auch stets Fälle von Cholera. Unsere eigenen und auch die tüchtigen Missionsärzte konnten zwar den Krankheitsherd isolieren. Aber . . . Außerdem sind die feindlichen Flieger recht unangenehm. Ich habe mir erlaubt, alles für Sie zu regeln. Dieser Brief ist an einen alten, sehr wohlhabenden Freund von mir gerichtet. Er wohnt mit seiner Familie in einem großen Yamen in Tschungking. Er weigert sich hartnäckig, die Stadt zu verlassen. Bisher w u r d e sein Yamen nicht getroffen. Aber wer weiß? Nun, er hat verschiedene Güter und Höfe s t r o m a b wärts. Man wird Ihnen ein derartiges Gebäude mitsamt dem dort wohnenden Personal zur Verfügung stellen." Damit stand er auf, bot mir liebenswürdig die Hand 61
und klingelte seiner Sekretärin. Draußen sah ich einige Europäer, und einmal d r a n gen sogar russische Worte an mein Ohr. Quong stand am Wagenschlag; er hatte sich der Umgebung angepaßt und sich wieder in den tadellosen Dienerboy verwandelt. Er riß den Wagenschlag auf: „Master?" Ich setzte mich neben den Chauffeur. Unter mächtigen Staubwolken rasten wir, fast ununterbrochen h u pend, über die Straße nach Tschungking. Dort entwikkelte sich alles Weitere erstaunlich rasch. Ein großes Yamentor öffnete sich. Einige Diener verbeugten sich feierlich. Ich gab meinen Brief ab und wurde in einen rotlackierten, mit bestickter Seide ausgeschmückten Empfangsraum geführt. Ich setzte mich auf ein weiches Sofa. Sofort erschien eisgekühlter Whiskysoda. Lautlos schlug der schwere, schwarze, mit bunten Fischreihern und Fröschen bestickte Vorhang zurück. Eine junge, entzückende Chinesin in europäischem Reitdreß k a m auf mich zu und bot mir die Hand. Freundlich zwitscherte sie in einem Englisch, wie man es auf amerikanischen Universitäten spricht: „Machen Sie sich's bitte bequem!" Sie klatschte in die Hände und gab dem hereinhuschenden Diener einen Befehl. Dann entschuldigte sie sich lächelnd: „Ohne Sie zu fragen, habe ich für uns Tee bestellt. Whisky trinkende Männer schätze ich nicht! Doch Sie sind Deutscher! Möchten Sie lieber etwas Bier?" „Bitte Tee, Miß, wenn ich bitten darf!" Ein Blick aus großen, samtdunklen Schrägaugen traf mich und ließ mein solchen Gefühlen schon fast entwöhntes Herz höher schlagen. Ich dachte bei mir, daß sie doch ein prächtiges Geschöpf sei. Sie lachte jetzt: „Sicher dachten Sie eben, daß ich sehr hübsch bin." Meine Verlegenheit nicht beachtend, fuhr sie fort: „Selbstverständlich weiß ich, daß ich schön bin, und es macht mir Freude, wenn Sie das auch denken!" Der Boy brachte ein Servierbrett mit Tee und Konfekt und verschwand geisterhaft. Sie goß ein und ließ sich dann eine Zigarette anzünden. „Rauchen Sie nur Ihre Pfeife. Pfeifenraucher sind meist ehrliche Män62
ner. - Oh, wir wissen viel über Sie! Exzellenz besuchte neulich meinen ehrwürdigen Vater und kündigte Sie an. Mein Vater läßt sich heute entschuldigen; er ist u n päßlich. Und meine ehrenwerte, gütige Mutter schläft seit J a h r e n auf den Terrassen der Nacht. Die Urahne, die - falls Sie chinesische Verhältnisse kennen - der eigentliche Herr oder die Herrin der ganzen Familie ist, läßt Ihnen ausrichten, sie wäre mit Ihnen zufrieden." Sie betrachtete mein verblüfftes Gesicht und erklärte: „Die hochehrenwerte Urgroßmutter ist steinalt, doch funkeln bei ihr die Augen und der Verstand noch diamantklar. In steife Seide gehüllt, trägt sie viel schweren Schmuck, und an den Fingern mit vornehm überlangen Nägeln glitzern besonders kostbare Ringe. Auch h a t sie Lilienfüße. So sitzt sie wie eine kostbare, lebende Pagode im Prunkgemach und beschäftigt sich unablässig mit den Familiengeschicken. Sie weiß alles, was um sie und in der Stadt vorgeht, weil ihre Dienerinnen sie gut unterrichten. Diese müssen immer, w e n n sie vor die Ahne treten, sich langausgestreckt zu Boden werfen. So empfangen sie ihre Befehle. Natürlich w a r U r a h n e dagegen, daß ich in Amerika studierte. Und wenn ich jetzt im Reitdreß zu ihr träte, w ü r d e sie mir eine der kostbaren Vasen an den Kopf werfen. Die F r a u gehört ins Heim, ist ihr Spruch. Sie ist ein von uns allen geachteter und geliebter Tyrann!" „Muß ich a u c h . . . ? " „ . . . vor ihr auf dem Fußboden liegen? Nein, Sie w e r den U r a h n e nie zu sehen bekommen. Sie aber wird über jeden Schritt, den Sie tun, genau informiert sein. Überall h a t sie Ohren. Also benehmen Sie sich brav und nett. Damit U r a h n e Ihnen nicht böse wird!" Sie machte eine halbernste, dann lächelnde Geste und drohte mit dem Finger. „Jetzt stehen Sie bei ihr in Gunst!" „Wie komme ich zu dieser unverdienten Ehre?" „Urahne, oder wie m a n bei uns sagt, die Tai-Tai, liebt keine Fremden; aber für die Deutschen hatte sie Sympathien. Aber jetzt h a ß t sie auch die Deutschen, weil die uns an die J a p a n e r verraten haben." „Ja, und ..." „Bis vor kurzem w a r e n zwei Landsleute von Ihnen hier. D a n n reisten sie ab, und ich wünsche, daß die Räuber von Szetschuan ihnen die Köpfe abschneiden!" 63
Kalt, fast höhnisch klangen die Worte. „Soviel ich weiß, fanden sie hier keine Beschäftigung mehr." „Sie bezogen aber trotzdem ein beträchtliches Gehalt. Warum blieben sie dann nicht? Verräter!" Böse funkelten ihre Augen, und der kleine rote Mund wölbte sich verächtlich. Ich verstand nur teilweise ihre Einstellung, schwieg aber. Und wie die Sonne scheint, wenn die Wolken fortzogen, lächelte sie jetzt wieder: „Man hat Ihnen in H a n kau nahegelegt, nach Shanghai zu fahren; aber Sie t a ten das nicht. Sie k a m e n nach Tschungking, weil Sie treu sind. Deshalb sagte auch die Tai-Tai dem Vater, er solle Ihnen ein hübsches Landhäuschen in der schönsten Gegend - ganz n a h e von hier - überlassen. Und vielleicht erlaubt die Tai-Tai, daß ich Sie besuche. Ich tue es aber sowieso!" Ich sagte: „Über all das bin ich sehr geschmeichelt, Miß!" Aber ich machte die Geste des Geldzählens, damit die chinesische Etikette nicht verletzt wird. So deutete ich an, daß ich das Häuschen bezahlen wolle. „Keine Spur, nicht einen Käsh. Wir sind reich. Die Tai-Tai hat befohlen, daß Ihnen das Haus kostenlos überlassen wird, so lange Sie wollen. Sie selbst haben ja einen Diener, und auf dem Gut sind noch einige." „Bitte, richten Sie der verehrten Tai-Tai meinen tiefsten Kotau mit Stirnaufschlag aus, Miß." „Sagen Sie nicht dauernd Miß, wir sind in China. Ich heiße Silberdistel, und so dürfen Sie mich auch nennen. Okeh?" „Okeh!" „Damit Sie sich's noch bequem machen können, w ä r e es besser, jetzt hinauszufahren. Mit der Dunkelheit kommen die Inselzwerge." „Und Sie?" „Selbstverständlich bleiben wir hier. Die Tai-Tai will es und mein ehrenwerter Vater will es auch. Und auch ich will. Wir haben keine Furcht. Außerdem ist im Garten ein notdürftiger Unterstand. Den benützen aber n u r Vater, ich und die Dienerschaft. Die Tai-Tai bleibt in ihrem Zimmer und schimpft laut auf die J a paner. Solange sie lebt, wird keine Bombe auf uns fallen, sagt sie." 64
„Okeh, Silberdistel, dann will ich jetzt gehen, so leid es mir tut. Das können Sie sich wohl denken, daß ich Ihre Gesellschaft ungern verlasse. Besuchen Sie uns?" „Fein, Martin, das Militärauto ist schon fort, aber u n ser Mercedes k a n n Sie hinausbringen." „Und Proviant, Bettzeug usw.?" Sie lachte: „Ist alles in Hülle und Fülle dort. Sogar eine Bibliothek englisch-amerikanischer Werke und eine Anzahl chinesischer. Können Sie Chinesisch lesen?" „Leider nicht viel. Aber hat denn China ü b e r h a u p t noch eine Literatur, nachdem irgend ein Kaiser doch alles Gedruckte hat vernichten lassen?" „Sie Barbar aus dem Westen! Unsere Vorfahren lasen und druckten schon, als die euren noch auf den Bäumen hausten. Sie denken natürlich wie alle weißen Teufel und Barbaren, daß unsere Literatur sich mit dem berüchtigt-berühmt-unanständigen Sittenroman ,King Ping Meh' erschöpft, und vielleicht noch mit dessen Fortsetzung ,Die Räuber von Liangschanmoor'. Wie naiv von euch! Aber jetzt los, Martin, die Sonne sinkt." Nach amerikanischer Art schüttelte sie mir die Hand. Ich zog ihre Rechte sanft zum H a n d k u ß an die Lippen. „Europäischer Kavalier?" Und ein Blick aus dunklen Augen traf mich, der m e h r als Herzklopfen verursachte. Winkend verschwand sie hinter dem großen Vorhang. Leises Sporenklirren . . . Ein Boy führte mich in den Hof. Freund Quong saß bereits als „Diener" neben dem Chauffeur. So brachte man uns nach dem jetzigen Zuhause, in das Idyll, mit dem ich den Bericht des Tschungkingerlebens begonnen habe. Da lebten wir n u n im Überfluß, brauchten uns um nichts zu kümmern, und in den meisten Teilen Chinas herrschte bitterste Not, Armut und Krankheit. Ritten die Apokalyptischen Reiter schon über das Land dieses fleißigen, genügsamen Volkes, oder zäumten sie ihre Mähren erst drüben in Europa auf? Jede Nacht hörten wir den dumpfen Einschlag japanischer Bomben und wußten, daß dort, wo sie niederfielen, Tod und Verzweiflung herrschten. Wenn wir uns zuweilen zur Stadt begaben, dann tönten allenthalben die Totentrommeln der Taoisten; wir sahen die trostlosen Gesichter der Lebenden und O b dachlosen. Eine zahlreiche Polizei hielt Ordnung. 65
Und wir hier draußen schlemmten. In USA-Dollarw ä h r u n g bezog ich ein Monatsgeld, mit dem eine kinderreiche Familie ein volles J a h r oder mehr hätte leben können. Und falls ich darauf verzichtet hätte, falls ich mich mit weniger begnügte, so hätte das den Armen nicht geholfen, weil sie das Geld nie bekommen w ü r den. Ich dachte über die sehr schwierigen, k a u m lösbaren Probleme nach, rauchte Pfeife, saß u n t e r m Maulbeerbaum im bequemen Liegestuhl und schaute in die belebte und so wunderschöne, friedlich wirkende L a n d schaft. Und ich fragte mich: Warum hatten die Regierungen keine Dämme gegen die entsetzlichen Überschwemmungen gebaut, die fast jedes J a h r Hunderttausende von Menschenleben verschlangen? Warum überließen sie die wichtigsten Seuchenbekämpfungen fast a u s schließlich n u r den ausländischen Missionsärzten, von denen es verhältnismäßig wenige gab, anstatt für die Ausbildung von einheimischen Ärzten zu sorgen? Warum wurden sie der zahlreichen Räuberscharen niemals Herr, damit der Fortschritt sich endlich ü b e r all durchzusetzen vermochte ...? Manchmal kam Silberdistel herausgeritten. Wir h a t ten uns schon oft über diese Dinge unterhalten. Sie w a r sehr intelligent und begriff vieles. Sie meinte, daß Tschiang Kai Shek alles in Ordnung bringen könnte und würde! Noch m e h r schrieb sie dies der F r a u des Marschalls zu, weil sie selbst Frau war. Und damit h a t te sie nicht unrecht. Man w ü r d e der J a p a n e r bald Herr werden, sagte Silberdistel. Dabei hielten diese den Lebensnerv des großen Landes umklammert. Geheime Agenten Mao Tse Tungs aber bereiteten schon überall im Volk den Boden für den Aufstand vor. Er w ü r d e sofort losbrechen, wenn keine J a p a n e r m e h r im Land wären. Und d a n n würden die Maoleute ganz China im S t u r m überrennen. Vorläufig jedoch hausten Maos Anhänger noch in ihrer unzugänglichen Provinz. Auch hier in Szetschuan wohnten einzelne in verborgenen Bergnestern. Es geschah gar nicht selten, daß eine durch Soldateneinquartierung gepeinigte Dorfschaft, durch geheimen 66
Zuzug aus den Bergen verstärkt, sich plötzlich des Nachts erhob und das Militär bis auf den letzten Mann umbrachte. Wie fast überall bekamen die Soldaten, sogar in dichtester Nähe von Tschungking, keinen Sold mehr. Sie n a h m e n sich daher einfach, w a s sie brauchten, um nicht zu hungern. Viele Offiziere sahen schweigend zu. Böse Szenen von Erpressung und Vergewaltigung spielten sich ab. Wenn die gereizten Bauern sich auf ihre Weise Luft gemacht hatten, d a n n flohen sie mit ihren Familien in das unwegsame Gebirge, um dem Strafgericht zu entgehen! Sie vergrößerten so die Scharen von Maos Anhängern, aber auch diejenigen der unabhängigen B a n diten. Oder sie gingen, einsam und unbekannt, zugrunde. Die Pfeife schmeckte mir nicht mehr, als ich über diese Tatsachen nachdachte. Um die düstere Stimmung zu überwinden, lenkte ich meine Sinne auf Silberdistel. Sie w a r eine wunderbare Mischung von der Aufgeklärtheit und Gegenwart Chinas und seinem pietätvollen Ahnenkult, seiner Kindes- und Elternliebe. Aufgeschlossen und modern, w u ß t e Silberdistel dennoch genau, w a s an alten Bräuchen und Einrichtungen gut w a r und bleiben mußte. Derartige junge Leute, die auf ausländischen Universitäten studiert hatten, gab es viele in den Großstädten Chinas. Es w a r aber auch eine andere Art j u n ger Menschen vorhanden. Diese langweilten ihre Eltern und Freunde, weil sie nur von Baseball, A u t o m o bilen u n d Filmstars erzählten. Silberdistel gehörte zur sympathischen und vernünftigen Jugend. Mit der westlichen Bildung h a t t e sie nicht ihre chinesische Seele verloren. Und dennoch w a r sie mir rätselhaft, als sie neulich sagte, daß sie am liebsten alles im Stich lassen möchte, um in den „Höhlenuniversitäten" von Mao die sogenannte neue Weltordnung zu studieren. Ich wußte nicht genau, ob sie das ernst meinte oder mich nur aushorchen wollte. Bei der „vergoldeten" Jugend Chinas ist es oft üblich, andere Menschen mit gewagten Aussprüchen vor den Kopf zu schlagen. Silberdistel tat dies nicht; aber zur gleichen Zeit, in der sie die „neue Weltordnung" k e n nenlernen wollte, verkündete sie, daß es den Kulis und 67
Bauern ganz recht geschähe, wenn es ihnen dreckig gehe, denn sie hätten selber schuld d a r a n . . . Als ich das Gespräch mit ihr fortsetzen wollte, zuckte sie die Achseln und gab mir unvermutet einen Kuß. Sie w a r n t e mich aber gleichzeitig, ich möge mich keinen falschen Hoffnungen hingeben, wobei sie mich so v e r führerisch und lockend anblickte, daß mein Blut zu sieden begann. Ich riß sie an mich. Sie w a r so fremdartig schön und aufreizend . . . Natürlich hatte sie das in Amerika unter jungen Leuten übliche „flirting and necking" auf der Columbia-Universität - oder vielmehr außerhalb der Lehrstunden - perfekt erlernt. Auf meine Warnung, es nicht zu weit mit mir zu treiben, lachte sie süß und schaute mich aus ihren schrägen Augen bezaubernd an. Schließlich ließ sie sich auf mein Knie ziehen, schmiegte sich an mich und gurrte wie eine sanfte Taube. Sie warf einen Blick auf die A r m b a n d u h r : „Nun m u ß ich aber eilen, um nach Hause zu kommen, sonst wird die Tai-Tai böse." Diese Episode geschah erst neulich. Wenn man d a r über nachdachte, konnte eine gute Pfeife Tabak sehr bitter schmecken! Unten schimmerte der Jangtse. Drüben hinter dem klippenreichen Steilufer rundeten sich behäbige grüne Hügel, ehe sie in schroffe Gebirge übergingen. Fast auf jeden Berg führte ein Zickzackweg, und oben ragten hinter hohen Mauern geduckte Gebäude mit geschwungenen Dächern. Das waren die Grabmäler reicher Tschungkingfamilien. Überall in der Nähe von Ortschaften sah man solche Mausoleen auf den H ü geln. Sonderbares Land? Nein, armes Land, das jeden Fußbreit Erde zum Anbau benötigt, aber so viel Platz für den Totenprunk der Wohlhabenden freiläßt . . . Leise strichen Füße übers sattgrüne Gras. Dann stand Quong da und setzte sich behaglich neben mich. „Pfoh! In der Stadt ist es übel! Viel Cholera!" „Dann w ä r e es gut, w e n n wir uns morgen impfen ließen." „Wie du willst. Maski. Wir hätten unterwegs oft diese Krankheit bekommen können!" murmelte er. Dann: „Du hast dich sehr verliebt in Silberdistel; das weiß ich schon lange. P a ß n u r auf, daß dich die alte Tai-Tai 68
nicht vergiften läßt. Sie hat ihre Augen und O h r e n überall!" w a r n t e er. Ich nickte mechanisch, denn ich hatte, in Gedanken bei Silberdistel weilend, nur halb hingehört. Warnend antwortete ich: „Du m u ß t auch aufpassen, alter Junge! Die Tai-Tai haßt die Kommunisten wie die Pest!" „Ich werde die O h r e n aufmachen! Ich kenne diese Tai-Tai, aber ich h a b e einen guten Freund; er arbeitet in ihrem Yamen und erzählt mir, was ich wissen muß ...!" Quong hatte es gut. Er w a r fest davon überzeugt, daß sich u n t e r Mao alles zum Besten ä n d e r n würde. Wir unterhielten uns oft darüber, wenn wir allein im luftigen, gelackten Holzpavillon saßen, hart am Rande des Uferabsturzes zum Jangtse. Als er wieder einmal so leichtflüssig über seine Lieblingsideen sprach, kam mir etwas plötzlich seltsam vor, und ich schaute ihn groß an. Da ging mir ein Licht auf, und mein eben noch vor Verblüffung offener Mund klappte zu. „Oh, mein Freund Quong, du alter, verschmitzter Pidginchinamann, woher hast du auf einmal diese weisen Worte in fließendem Englisch, he?" Lächelnd und dabei mit den Augen um Verzeihung bittend, antwortete er: „Von der Columbia-Universität zu New York! Bist du mir böse, und ist unsere F r e u n d schaft zu Ende? Soll ich gehen?" „Warum sollte ich böse sein? Nur überrascht bin ich. Jetzt erinnere ich mich an verschiedene, geheimnisvolle Andeutungen von dir in Hongkong. Nun, an mir liegt es wirklich nicht, w e n n unsere Freundschaft deswegen in die Brüche ginge. Du savvy, tschop tschop fattih!" Wir lachten einander an. „Sag mal, alter Geheimnistuer, w a r u m hast du so lange den halbwegs intelligenten Kuli gespielt und bist die ganze Zeit bei mir geblieben, ohne Gefahren zu scheuen, die ich ohne dich nie überstanden hätte?" „Du weißt, daß ich zu Mao gehöre. Ich bin einer der vielen, die im Lande wandern, um den Boden vorzubereiten. Besser und unauffälliger als in deiner Gesellschaft, - als dein Boy - könnte ich das nicht tun! Wer verdächtigt einen Kuli, der als Führer, Dolmetscher und Diener im Dienste eines deutschen Geologen steht, der wiederum für die Zentralregierung arbeitet?" 69
Ich klopfte die Pfeife aus und bemerkte trocken: „Und w e n n man dich erwischt, so wird man mich mit erschießen!" Energisch schüttelte er den Kopf: „Nie, mein guter Freund! Selbst die allerpeinlichste Untersuchung w ü r de dich von jeder Mitwisserschaft freisprechen und m a n w ü r d e dich bedauern, daß du so ahnungslos so lange mit mir zusammen warst. Sie würden dich zum lebenden Märtyrer machen!" Seine Logik w a r klar. Leise fuhr er fort: „Auch aus anderen Gründen hatte ich Auftrag, dich zu begleiten; denn China hat nichts gegen ehrliche Fremde! Und ebensogut, wie du wegen deiner bekannten Fachkenntnisse bei der Zentralregierung angestellt bist, könntest du ja für uns arbeiten. In deinem Beruf natürlich, ohne Politik, denn wir wollen dich keineswegs zum Chinesen machen." Wer länger im Reiche der blumigen Mitte weilt, verlernt es, je überrascht zu sein, denn zu viele ungeahnte Dinge werden in diesem Lande zur plötzlichen Selbstverständlichkeit. Ich antwortete: „Quong, ich fürchte, d a ß ihr da sehr lange w a r t e n müßt!" Geschickt parierte er: „Unter der Zentralregierung kannst du w a r t e n bis zum Jüngsten Gericht! Ich weiß genau, daß du dich schämst, eine dicke Gage für nichts einzustecken, w ä h r e n d Elend, Jammer, Dummheit und Unfähigkeit dich umgeben und Hunderte von Millionen Chinas hungern!" „Wie k a n n ich's ändern?" . . . Der G ä r t n e r machte sich in der Nähe zu schaffen. Quong flüsterte noch leiser: „Komm zu uns, Freunde sind überall, und die Reise zu den Lößhöhlen wird für uns ungefährlich sein." „Ich w ü r d e lange w a r t e n müssen, um für euch beruflich nützlich zu sein." „Nicht so wie hier. In unserer Höhlenuniversität sind verschiedene Europäer und Amerikaner. Du könntest mit einem guten Dolmetscher - obwohl viele unserer jungen Leute englisch sprechen - fachliche Vorträge halten. Als Professor der Geologie!" „Hm", b r u m m t e ich, „das klingt gut, ich glaube deinen Worten sogar. Aber, w e n n ich's täte? Ich habe Menschen in meiner Heimat, die ich wiedersehen möchte. Und es w ü r d e sicher sehr schnell bekannt, daß ich bei 70
Mao einen Lehrstuhl innehatte. Du kannst versichert sein, daß in unserem Lande alle mir Nahestehenden von den Nationalsozialisten als ,Kommunisten' ins Konzentrationslager kämen! Man nennt diesen aus dem frühen Mittelalter überlieferten Brauch in Hitlers Deutschland ,Sippenhaft'." Er nickte: „Ich begreife. Unter diesen Umständen wollen wir noch warten. Vielleicht ändert sich in n a h e r Zukunft etwas bei euch." „Das gebe Gott! - Wirst du nun abreisen, Freund?" „Solange du in China bleibst, nie!" antwortete er herzlich. Wir rauchten und schauten s t u m m in die Gegend. Unten auf dem Strom sangen heimrudernde Fischer; an den Rändern mancher Barken saßen die klugen, schlangenhälsigen, zum Fang abgerichteten K o r m o r a ne. „Weißt du, wer in Tschungking zu den heimlichen Freunden gehört?" fragte Quong und fuhr fort: „Der Witwer, Enkel und Vater und ehrwürdige G r o ß h ä n d ler Langtschu." „Silberdistels Vater? - Und sie etwa auch?" „Noch nicht, sie weiß noch nichts, und ihr Vater ist auch erst halben Herzens bei der Sache. Aber e h r e n haft verschwiegen. Silberdistel schwört auf Tschiang Kai Shek, ebenso wie die alte Tai-Tai. Das Mädchen ist aber intelligent und gar nicht mit allem einverstanden, w a s es täglich sieht u n d hört." „Na, und wenn das Wunder geschähe, daß ihr gewinnt - wenn sich d a n n Mao ganz a n d e r s entpuppt?" Überlegen antwortete er: „Mao ist anders als Tschiang. Dieser hat viel zu viele Pläne im Kopf; er m u ß sich auf seine Söldner stützen, die unzufrieden sind, und auf das Ausland. Du nennst ihn einen E h r e n m a n n und denkst immer noch, daß er ehrliche und kluge Menschen um sich hat. Ich will dies nicht bestreiten, denn er ist Chinese, und wir Chinesen sind in vielen Dingen sehr patriotisch. Aber Tschiang, der ein E h r e n m a n n ist - um dir eine Freude zu machen, gebe ich das zu - steht seit langem auf schwankendem Boden. Er versteht nicht, sich zu halten, u n d deshalb wird er verlieren." Die Sonne glitt hinter violette Berge. Im Hause dröhnte musikalisch tief der Gong. „Tschau, Tschau. Du savvy, Master?" 71
„Me savvy, fein. Come along, Boy!" . . . Ausruhen in bezaubernder Gegend ist eine Tätigkeit, die Freude bereitet. Vergällt w u r d e mir die Freude durch das Wissen d a r um, daß zehn Kilometer entfernt unschuldige Menschen an einer entsetzlichen Seuche starben oder von schrecklichen Geschossen, die andere Menschen auf sie herabwarfen, zermalmt und in Fetzen gerissen w u r den. Ich ließ mich mehrmals bei dem sympathischen Minister melden. Er w a r sehr liebenswürdig wie immer, drückte aber sein Erstaunen darüber aus, daß meine Geduld so kurz wäre, wo es mir doch so gut gehe! Auf meinen Einwurf, daß gerade das Allzugutgehen an meinen Nerven zerrte, riet er mir, ich solle doch eine junge, hübsche Haushälterin anstellen. Es wäre kein Mangel an anständigen, netten Witwen, die das Zusammensein mit einem hellhäutigen Barbarenteufel nicht scheuen würden. Diese Offenheit über ein heikles Thema ist ja in China nichts Außergewöhnliches. Quong, dem ich davon erzählte, sagte: „Du liebst doch die Silberdistel? Und sie dich auch, das k a n n beinahe ein Blinder sehen. Nun bedenke: Bisher wurden die Töchter wohlhabender Eltern sorgfältig behütet, und in den meisten Fällen ist es auch heute noch so. Doch hat der westliche Einfluß große Breschen in die Gesellschaftsordnung geschlagen. Die Jugend, w e n n sie mit der körperlichen Freiheit der Geschlechter bekannt wurde, k e n n t d a n n hierzulande m a n c h m a l überhaupt keine Grenzen m e h r und setzt sich über alle Konventionen hinweg. Besonders die jungen Leute, die im Ausland studiert haben! Häufig kommen sie mit Ansichten zurück, die der heimatlichen Moral und Sitte geradezu ins Gesicht schlagen. Gewiß, nach einer Weile sehen die meisten ihren I r r t u m ein. Ähnliche Beobachtungen k a n n man übrigens auch bei Umstürzen und Revolutionen machen. Denke an Rußland! Als dort die Revolution ausbrach, verhöhnte man die Einrichtung der bindenden Ehe. Viele Kirchen w u r d e n innen mit obszönen Bildern beschmiert oder w u r d e n als Pferdeställe benutzt. Und da m a n Gott leugnete, betete m a n sozusagen den Teufel an. Heute ist in Rußland das Band der Ehe wieder sehr stark. Scheidung ist zwar immer noch leicht gemacht; aber in dieser Beziehung 72
glaube ich, daß Amerika und Europa an der Spitze marschieren." „Weiß ich alles, lieber Freund. Aber wozu hältst du mir diese Predigt? Soll ich etwa Silberdistel heiraten?" Er lachte: „Das w ü r d e dir sehr schwerfallen, weil es unter diesen Umständen einfach unmöglich ist. Die alte Tai-Tai würde dir schön den Marsch blasen! Du wärest deines Lebens nicht mehr sicher. Und Silberdistel w ü r d e trotz aller westlichen Einflüsse niemals gegen den Willen des verehrten Familienoberhauptes handeln. Nein, - ich wollte dir nur Folgendes erklären: Das Mädchen war in Amerika, und die dortige burschikose Freiheit unter der amerikanischen Jugend ist dir bekannt. Damit ist nicht gesagt, daß die amerikanische Jugend n u r dem Vergnügen nachgeht. - Zwischen euch beiden wächst eine Leidenschaft, eine Liebe heran, die mächtiger ist als die Tatsache, daß ihr euch ja ü b e r haupt nicht kennt. Liebe setzt sich über alles hinweg, aber m a n m u ß nicht prüde sein." „Soll ich also . . . ? " „Natürlich!" „Und die Tai-Tai? Ich hörte, daß in China bei solchen Angelegenheiten das Gift immer noch eine Rolle spielen soll." „Ich habe anfänglich auch den Zorn der alten Dame für dich gefürchtet, bin aber nun fest überzeugt, daß sie - obwohl wütend - längst weiß, daß Silberdistel kein Kind m e h r ist. Sie wird sogar der Tai-Tai ihr erstes Abenteuer, vielleicht spielte es in Amerika, erzählt h a ben! Diese weiblichen Oberhäupter orthodoxer, chinesischer Familien haben eine Art, ihre Kinder und Enkel zum Reden zu bringen, gegen die keine Ausflüchte helfen. Ein Inquisitionsgericht ist ein Waisenhaus dagegen." „So meinst du also, daß das Mädchen der Tai-Tai längst erzählt hat, sie liebe einen weißen Teufel und Habenichts?" „Darauf kannst du dich verlassen. Du m u ß t keinen westlichen Maßstab an die Geschichte legen, sonst kommst du in eine geistige Sackgasse. Du hast es i m mer noch mit dem alten China zu tun, obwohl Silberdistel modern ist. Ich wette, daß die alte Dame zuerst fürchterlich geschimpft hat und sicher mit Mingvasen 73
und anderen kostbaren Gegenständen um sich warf. Aber dann . . . " „Well?" „ . . . d a n n hat sie ihrer Urenkelin das feste Versprechen unter F r a u e n abgenommen, äußerst vorsichtig zu sein, nicht in Schande zu geraten, aber dennoch das Leben zu genießen - und vor allen Dingen niemals auf die Idee zu verfallen, einen weißen Barbarenteufel, der obendrein nach ihren Begriffen ein a r m e r Teufel ist, zu ehelichen!" „Donnerwetter und alle Achtung! Engherzig, und dabei großzügig und weise. Alle diese Eigenschaften zu einer einzigen vereint!" „Gewiß h a t die alte Dame bittere Tränen vergossen; aber weil sie eine Frau ist und deshalb genau weiß, daß sie das Mädchen nicht anbinden kann, setzte sie sich gewiß einfach über die Formen ihrer strengen Familientradition hinweg. Vielleicht hat sich ihr Herz dabei doch etwas zusammengekrampft." Durch vieles Alleinsein und durch engste Naturverbundenheit neigte ich von jeher zu beschaulichem Sinnieren. Ich erlebte dann einzelne Epochen der Vergangenheit plastisch getreu, in lebenden, farbigen Bildern. Solcherart grübelnd und sinnierend, saß ich im P a villon, um die letzten Ereignisse seelisch zu verarbeiten. Quong weilte in der kleinen Bibiliothek. Er ergötzte sich sicher an den pikanten Holzschnitten einer chinesischen Liebesnovelle. Der Gärtner w a r nicht zu erblicken. Ich blieb ganz allein. Dort unten flimmerte der Flußspiegel. Drüben d r ä u t e die Gewitterwand. Da hörte ich auf der Landstraße die Geräusche eines sich nähernden Automobils. Das konnte n u r Silberdistel sein, denn sonst besaß niemand hier in der Gegend einen Wagen! Es w a r der Mercedes, der ihrem Vater gehörte. Ich lief über die noch im Sonnenschein glänzende Wiese zu den Wohngebäuden. Das graue, lange Auto stand schon im Hof. Zwei Chinesendamen in ihrer kleidsamen Tracht winkten mir lachend zu. Silberdistel stellte mir vor: „Meine Freundin Mohnblume, von der ich dir erzählt habe. Wir w a r e n zusammen auf der Universität in New York!" Dann eilten wir ins Haus, weil die ersten großen Regentropfen plötzlich herabklatschten. Ein blendender 74
Blitz schlug in den Jangtse. Grollend folgte lauter Donner. Während es d r a u ß e n goß, donnerte und grell zuckte, saßen wir im kleinen Salon. Die Gärtnersfrau servierte Tee u n d Süßigkeiten; dazu gab es französischen Cognac. Wir plauderten angeregt, ohne das Tosen d r a u ßen zu beachten. Der Salon war winzig, ich saß Knie an Knie mit Silberdistel. Nach amerikanischer Sitte u n t e r guten Bekannten versuchte ich, den A r m um ihre Hüften zu legen. Aus Bequemlichkeit und Verliebtheit! Ärgerlich schrie ich auf, als sie mutwillig mit der brennenden Zigarette meinen Handrücken antippte. Lachend blies sie mir eine Rauchwolke ins Gesicht. Mohnblume, die uns aus braunen, weichen Augen betrachtete, spitzte den geschminkten Mund: „Haltet euch meinetwegen nicht zurück!" „Oh, w e n n du denkst, wir wären schon so weit, d a n n irrst du dich gewaltig!" Beide lachten und schnitten mir kleine, entzückende Grimassen. Dann ließ sie es ruhig geschehen, daß ich den A r m um sie legte und schmiegte sich zärtlich an mich. „Wenn man will, geht alles!" nickte die Mohnblume dazu und wurde eifriger: „Weißt du, Darling, er e r i n nert mich ein bißchen an meinen Jim, bei dessen Eltern wir d a m a l s die Semesterferien auf Long Island zubrachten. Ach ...!" T r a u r i g verzog sich ihr Mund. „Gefällt er dir?" „Ja. Allerdings w a r mein Jim viel jünger. Dieser ist mindestens fünfundvierzig. Ich glaube aber, wenn w i r nicht so gute Freundinnen wären, so w ü r d e ich ihn dir wegnehmen." „Hoho!" brummte ich, von der Offenherzigkeit der beiden reizenden Blumen aus dem Blumenreich der Mitte aus dem Konzept gebracht. „Martin, sei ganz lieb, stopfe deine Pfeife und rauche. Wir F r a u e n wollen uns über dich unterhalten." „Dazu gehöre ich doch wohl auch!" Sie lachten. „Natürlich, du darfst ja zuhören!" beschwichtigte mich Silberdistel. Als ich dicke Rauchwolken ausstieß, fragte Mohnblume, ohne mich eines Blickes zu würdigen: „Habt ihr euch schon geküßt, u n d k a n n er gut küssen, Schwester Silberdistel?" Die kaltschnäuzige Art des wunderschönen G e 75
Schöpfes gefiel mir nicht. Silberdistel m e r k t e meinen Mißmut und drückte sich einen Augenblick an mich, als wollte sie mich beruhigen. Draußen krachte, blitzte und regnete es wie in den Tropen. Es w u r d e immer düsterer. „Ihr zwei seid eigentlich sehr langweilig!" schimpfte Mohnblume und geriet in Zorn, „langweilig bist du, Schwester Silberdistel und deine ganze Sippschaft, die verrückt genug ist, in dem scheußlichen Tschungking zu wohnen, wo euch jede Nacht die Bomben töten können. Und dazu herrscht auch noch die Cholera. Wie könnt ihr das n u r aushalten?" „Wir können es. Mein ehrwürdiger, hochgeachteter Vater und die große Tai-Tai sind der Meinung, daß es die Pflicht von uns Reichen ist, dem Volke ein Beispiel zu geben." „Was k ü m m e r t mich das Volk? Es ist für uns da und nicht umgekehrt!" „Das hörte ich schon so oft aus deinem Mund, daß alles andere sich eigentlich erübrigt!" erwiderte Silberdistel kühl. „Schulweisheit, Schulmeisterin! In New York warst du viel lustiger und hast getanzt und geflirtet, wie wir anderen auch." „Man wird älter und gesetzter. Dazu sind wir in China!" sagte die Zweiundzwanzigjährige. Sie machte dazu eine so würdige Miene, daß wir alle drei in Lachen ausbrachen. Die Stimmung w a r dadurch gereinigt. Ich wollte das Gespräch in andere Bahnen lenken und erkundigte mich, ob Miß Mohnblume in Tschungking wohne? „O nein. Unser dortiges Yamen w u r d e längst eingeäschert; doch waren wir nicht drin, als die Bomben fielen. Auf der anderen Flußseite, bei Kiangpei, besitzen wir ein großes Gut. Mein ehrwürdiger Erzeuger lebt übrigens ganz nach alter Art, die ich aber nicht liebe." „Er hat neulich die fünfte F r a u genommen. Die anderen vier leben aber auch noch", erklärte Silberdistel sanft. Miß Mohnblume nickte: „Ja, Nummer eins, zwei und so weiter. Selbstverständlich bin ich die Tochter von Nummer eins. Nummer vier stammt aus einem ,Blumenhof, ist sehr schön, aber ich hasse sie!" Sie ballte die zierlichen Fäuste und warf den schönen 76
Kopf in den Nacken, daß die grünen Jadegehänge hinund herpendelten. „Aber meine eigene Mutter, die ich sehr liebe, versteht mich in vielen Dingen auch nicht. Ich drohte, davonzulaufen, falls ich, wenn ich v e r h e i ratet werde, das Ehegemach mit anderen ,Nummern' teilen müßte. Und mein ehrenwerter Vater? Lacht mich aus und schenkt mir neuen Schmuck. Als ob ich von dem Kram nicht schon genug h ä t t e ! Schon m e h r mals versuchte er, mich einem seiner reichen Geschäftsfreunde zu verkuppeln. Alte, triefäugige Lebem ä n n e r ! Und dabei haben wir Geld in Hülle und Fülle. Ich weiß, daß Millionen in den Banken von Hongkong, Honolulu und San Franzisco liegen. Aber diese alten, würdigen Chinamänner begreifen nicht, daß ein m o dernes Mädchen sich den Mann selbst wählen will und daß ich kein Verständnis dafür habe, Nummer zwei zu sein. Auch Tschiang Kai Shek hat n u r eine einzige Frau!" „Darüber ist ein Großteil der chinesischen Jugend sich einig. Mein hochachtbarer Vater hatte auch n u r eine einzige Gattin im Leben. Sie schläft auf den Terrassen der Nacht. - Du siehst, nicht alle Chinesen sind so wie dein Vater, Schwester Mohnblume. Und zwingen k a n n er dich nicht, dafür ist das Gesetz da! Wie ich ihn kenne, wird er es auch nicht versuchen." „Dann soll er nicht immer die ,herrlichen Eigenschaften' irgend eines Kumpans, der mein Großvater sein könnte, beschreiben. Hätte er mich n u r in Amerika gelassen. Er drohte mir damals, kein Geld mehr zu schikken." Ich warf einen Vorschlag ins Gespräch: „Verkaufen Sie doch einfach einen Teil Ihres Schmuckes und fahren Sie wieder nach Amerika, Mohnblume!" Entgeistert starrte sie mich an. Ihre Augen w u r d e n kalt u n d abweisend. Sie wandte sich an die Freundin: „Hast du gehört, Schwester Silberdistel? Dein geliebter Freund scheint total verrückt zu sein. Auf die Millionen soll ich verzichten, die mir als einzigem Kind zufallen müssen! Und vielleicht soll ich gar eine Stelle in einem Büro annehmen. Pfoh!" „Nun, ich mache in Vaters Büro die gesamte A u s landskorrespondenz." „Ja, du. Da bin ich anders. Arbeiten? Wozu sind A n gestellte, sind Kulis u n d andere eigentlich da?" 77
„Damit es Miß Mohnblume Whoo recht gut geht!" mußte ich lachen. „Womit befaßte sich Ihr ehrenwerter Herr Vater, w e n n ich fragen darf?" Sie schüttelte ihre blauschwarzen, nach Orchideen duftenden H a a r e : „Jedermann weiß es. Freilich gab es einmal eine Zeit ..." „ . . . als der Mohn und die Opiumherstellung unter der jetzigen Regierung streng verboten w a r e n und in Einzelfällen sogar mit dem Tode bestraft wurden", flüsterte Silberdistel. Spitz lachte ihre schöne Freundin: „Ja, als der Marschall das Heft in der Hand hielt, versprach er seinen amerikanischen und europäischen Geldgebern alles, was sie verlangten. Der Opiumhandel und alles, was damit zusammenhängt, w u r d e n geächtet! Sogar Flugzeuge w u r d e n eingesetzt, weil man aus der Höhe die in Kaoliang u n d Reis versteckten Mohnplantagen besser erkennen kann. Ganze fünf Flugzeuge für das riesige China! Lächerlich! Da aber ein Teil der Großkaufleute sich gegen dieses Gesetz auflehnte und den Marschall insgeheim wissen ließ, daß dann ihre finanziellen Subventionen an die Regierung aufhören würden, drückte der beide Augen zu. Das Gesetz blieb, aber kein Mensch k ü m m e r t sich heute noch darum. Mein ehrenwerter Vater und viele seiner reichen Freunde haben nicht mehr versteckte, sondern ganz offensichtliche Mohnplantagen; hier in Szetschuan und an anderen Orten, wo die Pflanze gedeiht. Wenn das Volk Opium rauchen will, um sich damit Wunschträume zu kaufen, so ist das seine Sache!" Ich verbarg mein Entsetzen und fühlte die warme Hand von Silberdistel in meiner. Zögernd sagte ich: „Es ist Tatsache, daß Opiumrauchen den Menschen jede Energie und Vernunft raubt. Ein richtiger Raucher geht, weil seine Quantitäten immer größer werden müssen, nach fünf J a h r e n elend zugrunde oder wird zum halbidiotischen, lebenden Skelett. Man sagt sogar, daß die Japaner, um die Widerstandskraft des chinesischen Volkes zu unterhöhlen, dieses gefährliche Rauschgift sehr billig einführen. Ob w a h r oder nicht, es genügt ja schon der inländische Handel." „Wahr oder nicht, jedenfalls ist es von den J a p a n e r n eine gemeine Konkurrenz, die mein e h r e n w e r t e r Vater und seine Geschäftsfreunde auf die Dauer nicht dulden 78
können!" ereiferte sie sich. „Was können sie dagegen tun?" fragte ich. „Die Inselzwerge aus dem Lande werfen! Noch hat der Marschall ungeschlagene Armeen." „Er k a n n die Eindringlinge nur mit dem Volk bekämpfen, denn Soldaten sind Volk! W a r u m sprechen Sie so verächtlich über dieses geduldige, leidende Volk, Miß Whoo? Bedenken Sie, wenn die J a p a n e r wirklich besiegt werden und w e n n der öffentliche Opiumhandel noch m e h r um sich greift, so daß schließlich ein großer Teil des Volkes süchtig w ü r d e - was dann? Dann k ä men die J a p a n e r bestimmt zurück und fänden keinen großen Widerstand!" „Sie h ä t t e n nicht Geologe, sondern Bücherschreiber werden sollen, Sie europäischer Pessimist!" spottete sie. „Schaut!" rief Silberdistel da und zeigte nach dem Fenster. D r a u ß e n schien die Sonne am blauen, frisch gewaschenen Himmel. Wassertropfen hingen wie Diamanten von den Ästen; auf dem mit rotem Kies b e streuten Hof dampfte die Wärme. Das Gewitter w a r während unseres Gespräches vorübergezogen. „Bitte, gib mir noch Tee, Schwester Silberdistel!" bat Mohnblume auf einmal mit ängstlicher Stimme. Schatten h a t t e n sich plötzlich über ihr feines Gesicht gelegt, und u n t e r den Augen zeichneten sich dunkle Ränder ab. „Mir ist so seltsam zumute!" klagte sie. Silberdistel forderte die Freundin auf, sich auf den Diwan zu legen. „Ach, ich bin doch kein Kind!" lächelte die, streckte sich aber doch gehorsam aus. „Oh, wie weh das tut!" rief sie plötzlich und k r ü m m t e sich vor Schmerzen. Silberdistel klatschte in die Hände u n d befahl der herbeieilenden Gärtnersfrau, schnell w a r m e Tücher zu bringen. Dann riß sie das Fenster auf und steckte wie ein J u n g e zwei Finger in den Mund. Auf ihren gellenden Pfiff hin stürzte der Chauffeur herbei. Sie flüsterte etwas, und er r a n n t e davon. Der Wagen sprang an. Kies knirschte u n t e r den Reifen, als das Auto zum Hof hinausrollte. Silberdistel schloß das Fenster und r a u n t e mir ins Ohr: „Er wird den Doktor holen. Das ist ein Franzose, der heute in unserem Yamen zu tun hat." 79
„Was glaubst du, was es ist?" fragte ich. Leise klang das Wort: „Cholera!" Mohnblume k r ü m m t e sich ächzend auf dem Diwan. Manchmal schrie sie auf, d a n n wieder w a n d sie sich plötzlich in schweren Krämpfen. „Du gehst besser hinaus!" befahl mir Silberdistel. Während ich lauschend im Nebenzimmer saß, steckte Quong den Kopf zur Türe herein. Ich erklärte ihm, was vorgefallen und beschrieb die Symptome. Leise pfiff er durch die Zähne und verfluchte bitter: „Das kommt von den seit J a h r h u n d e r t e n verseuchten Brunnen, und weil sie überall so unachtsam mit den Erzeugnissen der Nacht umgehen. Auch in der Wasserleitung stecken Bazillen. Alles ist infiziert, und dann k o m m t natürlich von Zeit zu Zeit die Seuche zum Ausbruch. In China k a m sie eigentlich noch nie ganz zur Ruhe. Du hättest gestern mit in der Stadt sein sollen! Sogar an den Straßen hockten die Unglücklichen; sie rollten sich auf die Erde, schrien, wimmerten und erleichterten sich aus allen natürlichen Kanälen. Bei manchem t r a t der Tod ein, als ich gerade vorüberging. Eine sinnlose und gefährliche Massenflucht w u r d e durch Polizei und Milit ä r verhindert. Auch in einigen Dörfern herrscht die Cholera. Die Totentrommeln kommen ü b e r h a u p t nicht m e h r zur Ruhe!" „Warum hast du mir nicht gesagt, daß es so schlimm ist?" Er legte m i r die Hand auf die Schulter, sah mir in die Augen: „Wozu? Kannst du helfen, bist du Arzt? Freund, ich sah derartiges schon oft. Doch wie immer klage ich auch hier die Regierung an! Als ich gestern die Stadt verließ, w a r e n etwa zwei Dutzend Ärzte da, die Sulfapillen verteilten. Die helfen, aber nur im Anfangsstadium oder als Vorbeugung. Man sagt jedoch, die Seuche sei schon isoliert, und ich hoffe, daß das w a h r ist! Und hoffe auch, daß sie genügend Sulfa haben. Ich habe dir solche Pillen schon seit Tagen gegeben, u n d zwar aufgelöst im Tee." „Wie konnte sich aber die gepflegte Mohnblume a n stecken?" Er zuckte die Achseln: „Sie wohnt drüben bei Kiangpei, und wahrscheinlich ist das Wasser auf dem Gut wieder einmal gründlich verseucht. So t r u g sie die Krankheit mit sich." 80
„Silberdistel! Sie ist doch jetzt auch in Gefahr!" „Ein tapferes Mädchen! Jetzt tut sie, was möglich ist. Wir beide können da nicht helfen, sonst w ü r d e n wir bestimmt jetzt hier nicht Daumen drehen. Der Arzt wird bald kommen. Horch!" Mit verzerrtem Gesicht kam laut schreiend die G ä r t nersfrau herausgestürzt. „Komm!" sagte ich entschlossen. Wir gingen ins Krankenzimmer. Silberdistel stand über die Leidende gebeugt und hielt die Freundin fest, weil sie sich vor Schmerz auf dem Boden wälzen wollte. „Helft doch!" flüsterte Silberdistel hilflos. Ich bezwang meinen Schrecken und trat näher. Die verkrampfte Gestalt der Kranken zuckte; dumpfe Geräusche drangen aus ihrem Leib. Das tränenüberströmte Gesicht war klein geworden u n d bläulichweiß angelaufen. Ihre großen Augen starrten mich flehend an. D a n n schüttelte sie ein neuer Krampf. Ich schob Silberdistel beiseite. Zusammen mit Quong hielt ich Mohnblume fest. „Er k a n n bald da sein!" rief Silberdistel und schaute auf die Uhr. „Hoffentlich w a r der Arzt noch im Yamen. Oh Gott, welch ein J a m m e r . Ich habe meine unglückliche Freundin, die seit gestern bei uns zu Besuch ist, immer wieder gebeten, das Sulfapräparat einzunehmen, wie wir es alle tun. Sie weigerte sich. Wie leichtsinnig!" Quong sprach über die Schulter zu mir: „Ich gab dir die Medizin, ohne daß du davon wußtest, weil diese tapfere, junge Dame mich darum bat." Unter Tränen flüsterte Silberdistel mir zu: „Du warst in den letzten Tagen so grüblerisch und v e r ä n dert, ich h a t t e Angst um dich." Am liebsten hätte ich sie in die Arme geschlossen und die Erkrankte, die ich eisern festhalten mußte, wenigstens für einen Augenblick vergessen. Da fuhr ein Auto d r a u ß e n vor. Ein p a a r Sekunden später k a m ein kleiner, bärtiger, tropengelber Mann hereingelaufen. Seine bebrillten Augen wanderten von einem zum anderen. D a n n schaute er die Kranke an. Mohnblume lag jetzt ganz ruhig da. „Sie können sie jetzt loslassen, Monsieur, ich fürchte..." 81
Der Arzt fühlte Puls und Herz und t r a t dann kopfschüttelnd zurück: „Zu spät, wie immer, w e n n der Ausbruch so plötzlich kommt. Die Ärmste hat ausgelitten. So jung noch ..." Seine w a r m e Stimme fragte besorgt: „Et vous, Mademoiselle et Messieurs?" „Sie wissen ja, Monsieur le médicin, daß wir im Yamen alle von Zeit zu Zeit Injektionen bekommen. Dazu n a h m e n wir, als der Ausbruch b e k a n n t wurde, noch die Pillen - diese beiden Herren auch." „Bon!" Befriedigt nickte er. „Dann brauchen wir kaum etwas zu befürchten, obwohl die Berührung dieser Armen Sie alle auch in Gefahr bringt. Dagegen müssen wir noch etwas tun. Hat noch jemand die Kranke angefaßt?" „Die Gärtnersfrau!" „Bon. Sie entschuldigen mich, Mademoiselle und Messieurs, aber die Pflicht ruft. Ich m u ß alle Leute hier auf dem Gut sofort mit Spritzen behandeln." Er n a h m seine Tasche und lief hinaus. Wir hörten ihn rufen und kommandieren. Wenig später hörten wir das Geschrei der Gärtnersfrau. Stumm standen wir noch immer im Raum und schauten auf die Tote. Quong empfahl uns zu rauchen und goß drei Teetassen randvoll mit Cognac. „Keine Medizin, aber doch wichtig. Rasch!" befahl er. Plötzlich bat er Silberdistel: „Sie w e r d e n niemandem erzählen, daß der Boy des deutschen Geologen so gut englisch spricht?" Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, daß ihr gute Freunde seid." Quong machte eine ehrfurchtsvolle Verbeugung. Schweigend blieben wir d a n n stehen. Nach einer Stunde k a m der Arzt zurück. „Das w ä r e getan! Ich will nachher einige Leute schikken, die Ihre Angestellten für alle Fälle isoliert halten. Dieses Zimmer muß ausgeräumt und alles durch Feuer vernichtet werden. Das ganze Haus wird desinfiziert. Sie brauchen sich um nichts zu k ü m m e r n . Man darf aber Gott nicht herausfordern! Deshalb werden Sie alle drei alles, was Sie jetzt am Leibe haben, verbrennen lassen. Ihren Schmuck, Mademoiselle, will ich in eine keimtötende Lösung legen, und Sie Monsieur, müssen auch Ihre Pfeife opfern. Ist ein Nebengebäude 82
vorhanden, wo Sie die Nacht verbringen könnten?" „Der Pavillon!" „Bon! Enfin, Ihre anderen Kleider in den Schränken dürfen Sie nicht a n r ü h r e n ! Erst dann, wenn Sie ein heißes Bad mit viel Seifenlösung genommen haben. Inzwischen erlaube ich mir, für Mademoiselle einen der Herrenanzüge von oben zu holen. Aber erst baden!" „Hat man die Seuche lokalisiert, Monsieur le docteur?" fragte ich. „Enfin, ja. Es d a u e r t e lange, bei diesen urchinesischen Zuständen. Doch rate ich den Herren, die Stadt vorläufig zu meiden. Entendu? Mademoiselle bringe ich selber heim!" Einer hinter dem andern verließen wir den Raum. Und es geschah alles, was der rührige Südfranzose a n geordnet hatte . . . Am Abend lagen Quong und ich auf den Polsterbänken im Pavillon. Wir schwiegen. Ich dachte an den Kuß, den Silberdistel mir gegeben hatte, ehe sie mit dem Arzt zur Stadt zurückgefahren war. Ich dachte auch an die a r m e Mohnblume. Ob sie für ihre und ihres Vaters Sünden mit ihrem jungen, leichtsinnigen Leben bezahlen mußte? Tage wurden zu Wochen. Die Cholera w a r in Tschungking erloschen, und zwar d u r c h die in letzter Minute doch noch angeordneten Bekämpfungsmaßn a h m e n . Und dank der Unermüdlichkeit chinesischer, europäischer und amerikanischer Ärzte und vieler freiwilliger Sanitäter. Der Franzose besuchte uns noch einmal. Verbittert geißelte er die anfangs so gleichgültige Haltung der Behörden. Die Beamten waren erst erwacht, als der Marschall einige Stadtväter mit Erschießen bedroht hatte. Bei uns war kein weiterer Krankheitsfall aufgetreten. Auch die Gärtnersfrau h a t t e sich von ihrem Schreck erholt. Silberdistel machte wieder regelmäßige Besuche bei uns - erst schüchtern, aber eines Tages blieb sie bis zum Morgen. Wir erlebten zusammen zauberhaft schöne Stunden im Pavillon, w ä h r e n d der gute F r e u n d Quong außer Hör- und Sehweite aufpaßte, daß uns niemand störte. Sie w a r eine süße Geliebte! Das Wort Heirat blieb zwischen uns tabu. Es hätte auch nichts genützt. Die 83
wissende Tai-Tai erlaubte zwar, daß ihre Urenkelin mich besuchte, las ihr aber dennoch jedesmal die Leviten und w a r n t e sie vor dem helläugigen B a r b a r e n t e u fel. Silberdistel erzählte mir alles. Und weinte und lachte dazu. Bei den Strafpredigten im düsteren Prunkgemach der alten Dame spielten Drohungen mit Gift und Dolch gegen mich regelmäßig eine Rolle, hatte mir Silberdistel lächelnd erzählt. Doch erlaubte uns die Tai-Tai einen gewissen Spielraum. Die Geliebte berichtete mir Wort für Wort alles über diese Unterredungen, schwor aber, daß ich nichts zu fürchten hätte, w e n n nicht . . . und schwieg errötend. Silberdistel und ich sahen zwar den Himmel voller Rosen; aber ganz glücklich machte uns diese „erlaubteunerlaubte" Liebe nicht. Es ist schwer, w e n n man von Anfang an weiß, daß alles einmal aufhören muß . . . „Schicksal!" sagte ich eines Abends in trüber Laune zu Quong, w a s ihn veranlaßte, über dieses Wort zu dozieren. Er stritt nicht ab, daß es für den Einzelmenschen ein von einer höheren Macht geleitetes Schicksal gibt. Aber seine Auffassung erwies sich als eine Mischung aus Buddhismus, Christentum u n d Taoismus. Er fing plötzlich an, zu politisieren u n d behauptete, es gäbe für Regierungen und Nationen kein Schicksal. Alles, w a s geschehe, w ä r e weiter nichts als Politik. Das hätte schon Napoleon behauptet. „Und doch starb er auf einer Insel als alter, jähzorniger, kleinlich schimpfender Mann. Und vorher glaubte er fest an seinen Stern. Ist das etwas anderes als Schicksal? Meinst du vielleicht, Napoleon wäre bei der heutigen Weltlage überhaupt hochgekommen?" sagte ich dagegen. „Meinst du, daß Tschiang Kai Shek sich als chinesischer Napoleon fühlt?" lachte Quong. „Vielleicht denkt er, er w ä r e der moderne Dschingis Khan." „Ich glaube doch, daß auch ihr Europäer wißt, daß Dschingis K h a n eigentlich ein despotischer Wüterich war, der ganze Völker abschlachten ließ und nur das eigene Volk zur Blüte brachte. Nein, ich halte den Marschall für einen intelligenten, aber von unredlichen Ratgebern umgebenen Mann. Daß er selbst klug ist, 84
will ich gern zugeben, weil ich von dir gelernt habe, daß es in der Politik nicht n u r Schwarz-Weiß gibt, sondern viele Zwischentöne." „Höre, Quong, um auf Dschingis K h a n zurückzukommen; erkläre mir, w a r u m bei uns in Deutschland die doch sehr harmlosen Pfadfinderorganisationen allerhand romantischen Mumpitz treiben? Ihre Gruppen nennen sich ,Graue Reiter' oder ,Graue Wölfe' oder ,Goldene Horde'. Sie schicken einander Botschafter wie die Postreiter Khans in hohlen Bambusstäben, beschenken Freunde mit seidenen ,Hathyks', ganz wie es heute noch in der Mongolei und in Tibet der Fall ist. In ihren Zeitschriften, die sie selber drucken, himmeln sie Dschingis Khan und die goldene Horde an!" Gespannt hatte er zugehört. Dann lächelte er: „Das ist abendländische Jugendromantik! Das ist der Drang in die Weite und in die Unendlichkeit! Harmlos!" „Aih, Quong, du tschop tschop fattih; du bist vom Thema abgekommen. Savvy?" „Hast ja selber angefangen, oh Master. Aber Verliebten sieht man vieles nach!" „Weil ich verliebt bin, vergaß ich dir zu berichten: Die ganze Familie Whoo s a m t Dienerschaft und fast alle Dorfbewohner starben an Cholera! Drüben bei Kiangpei!" Er nickte: „Deine junge Dame würdigte mich bereits dieser traurigen Nachricht. Sie behandelt mich, w e n n keine Domestiken in Sicht sind - die alle für die Tai-Tai spionieren müssen - ganz als ebenbürtig. Ich sage nochmals: sie ist goldrichtig, und es ist jammerschade, daß du kein Chinese bist. Auch ihrem Vater bist du sympathisch. Leider ist die Familientradition allmächtig. Trotzdem ist die alte Drachenkaiserin großzügig. Etwa nicht?" „Und w e n n ich Chinese wäre?" „Dann wäre manches leichter. Aber du bist ein H a b e nichts. Die Silberdistel-Angehörigen sind sehr zahlreich, und sie denken alle wie die gesetzgebende TaiTai: Ein netter, ganz sympathischer, aber bettelarmer Kerl. Begnüge dich mit dem, was du jetzt hast!" Ich seufzte: „Alter Junge, manchmal ist mir manches - nicht Silberdistel, die eigentlich Golddistel heißen m ü ß t e - langweilig. Ich meine die verdammte F a u l e n zerei hier." 85
„Das ist eigentlich selbstverständlich. Der Mensch soll und will etwas tun, und dazu k a m s t du ja nach China ! Und da du nicht zu Mao kommen willst, rate ich dir, reite morgen zur Administration nach Tschungking. Sprich mit dem Minister. Und sei zäh wie Leim; so w a s schätzt m a n in China! Bearbeite ihn! Drohe mit A b reise. Das wird wirken. Jemanden von deinen F a c h kenntnissen läßt m a n höchst ungern ziehen. Verlange, daß du in die neulich erwähnten Platingruben geschickt wirst! Silberdistel läuft dir nicht fort, sie begreift sicher deinen Wunsch. Und um so schöner wird es, w e n n du zurückkommst!" „Sie ist einverstanden, weil sie meint, ich w ü r d e hier ein verfetteter Bonze werden!" lachte ich. „Horch, ein Auto!" Da ließ ich ihn stehen und lief in den Hof. Silberdistel k a m m i r froh entgegen. Und langsam, vergnügt p l a u dernd, spazierten wir zu dem roten Lackpavillon am Abhang des Jangtseufers. Wir begrüßten uns hier, wie es unter Verliebten auf der ganzen Welt üblich, wenn man allein ist. „ . . . m u ß ih denn, m u ß ih denn, zum Städtele hinaus, und du mein Schatz bleibst hier!" summte ich, und „klippklapp" dröhnten Pferdehufe auf hartem E r d reich. Lautlos zog der schnelle, herrliche Strom tief u n ten, bis unser Weg quer abbog und der Jangtse außer Sicht kam. „Was singst du?" fragte der neben mir reitende Quong. Ich erklärte ihm den Sinn der Worte. „Ein schönes und ein sinniges Lied!" sagte er leise. „Was hast du eigentlich studiert, o Freund vieler Freunde?" fragte ich ihn. „Zuerst Sprachen, Geschichte und etwas Literatur. Dann Volkswirtschaft. Die brauchen wir hier am meisten." Wir w a r e n zu viert. Wir hatten zwei schweigsame K w e n l u n m ä n n e r mit und ein Packpferd. Die beiden Helfer versorgten die Pferde und taten sonstige Dienste. Sie w a r e n uns vom ehrenwerten Vater meiner G e liebten empfohlen worden. Sie gehörten, wie Quong mir schmunzelnd zuflüsterte, zu den „wahren P a t r i o ten". Der Minister wollte uns eine Militäreskorte mitgeben, w a s ich erst nach langen Danksagungen und A u s 86
flüchten ablehnen konnte. Ich m u ß t e aber in der Administration unterschreiben, daß ich nun für alle etwaigen Unfälle selber verantwortlich wäre. „Mit einer Eskorte würden wir unterwegs Gefahr laufen, die Hälse zu verlieren", h a t t e mich Quong gewarnt. Der Abschied w a r kurz und wehmütig. Silberdistel w a r trotz der Tai-Tai Christin und hatte deshalb gesagt : „Gott möge dich schützen!" Auf plumper F ä h r e hatte unsere K a r a w a n e oberhalb der Stadt den Jangtse überquert. Dann ritten wir die schmale Straße hoch über dem Strom aufwärts, in einen schimmernden, linden Morgen hinein gen Osten. Den Strom verlassend zogen wir bergauf auf langgestreckten Höhenrücken. Es w a r ein Weg, der sich S t r a ße nennt. Er sollte uns nach Yungtschau bringen. Quong warf seinen Zigarettenstummel weg und deklamierte wehmütig: „The w o m a n who loves, remains silent. But she, who is jealous, talks like running streams! . . . ach, beinahe hätte sie mir ein Auge ausgekratzt, weil ich ein Auge auf eine andere geworfen hatte!" „Sultan!" lachte ich ihn aus. „Was ich eben zitierte, stammt von Konfuzius. Respekt also!" Nie h a t t e ich mich in Quongs galante Affären eingemischt; ich wußte nur, daß er zuweilen ein liebenswürdiger Schwerenöter sein konnte, der wie ein Falter von Blume zu Blume schwirrte. Er h a t t e mich am Abend oft allein gelassen und versucht, am morgendlichen Teetisch ein scheinheiliges Gesicht zu m a chen. Ich hatte stets geschwiegen. Wir brachten die Nacht in einer gastlichen Jesuitenmission zu. Es w a r ein mauerumgebener Yamen mit einer winzigen Kirche, mit Hospital, Schule und einer Zimmermannswerkstatt. Die P a t r e s waren Italiener u n d freuten sich, d a ß ich ihre klangvolle, schöne Sprache verstand. Quong und die beiden Männer aus dem wilden Kwenlun mußten in der allgemeinen Herberge schlafen. Ich aber bekam ein kleines Gastzimmerchen. Lange Stunden wurden am Abend verplaudert; die Herren waren hungrig nach Neuigkeiten. Doch w a s ich erzählen konnte, w a r leider nicht viel. Sie berichteten von ihrer Arbeit. Die umliegenden 87
Dörfer w a r e n ihnen wohlgesinnt. Aber obwohl die Provinz Szetschuan damals keine Hungersnot kannte, seufzten die Väter über ihre Missionstätigkeit. „Sono molto christiani di riso", sagten sie — womit sie „Reischristen" meinten. Einige Dörfer hatten unter Garnisonen zu leiden. „Ein J a m m e r ist es, zu sehen, wie hier langsam die guten Sitten verwildern", klagte der Oberste der Patres. Er w a r n t e uns, den eingeschlagenen Weg nach Yungtschau weiterzureiten. Wir sollten lieber einen Pfad, für den er einen F ü h r e r stellte, zum Ufer des Jangtse nehmen. Die Uferstraße nach Lutschau sei zwar schlecht, dafür aber sicher. In Yungtschau aber herrsche i m m e r noch die Cholera! Und in der Nähe dieser Stadt hausten bewaffnete Räuber, von denen niemand wußte, ob es Soldaten oder Wegelagerer wären. Ich schlief in meinem sauberen Kämmerchen, bewacht von einer Gipsmadonna, die mit frischen Blumen bekränzt war. Ein ewig brennendes Lämpchen verschenkte seinen milden, goldgelben Schimmer. Am anderen Tag handelten wir nach dem Rat der Patres und ritten den beschwerlichen Weg an den Strom zurück. „Wird m a n die Missionen belästigen, w e n n die Kommunisten die künftige Revolution gewinnen sollten?" fragte ich unterwegs. Quong sah mich erstaunt an. „Warum? Die Patres tun nichts Böses!" „Denke an den Revolutionsbeginn damals in R u ß land." „Gewiß. Das waren aber andere Verhältnisse. Bei uns wird nichts drunter und drüber gehen! Natürlich haben wir auch Leute, sogar Anführer, die jede Religion verspotten und ausrotten wollen; die können sich jedoch k a u m durchsetzen." Zypressen und Platanen, sattgrünes Gras, graue Felsstürze und braune Erde bilden die Steilufer des Stromes. Wir passierten viele kleine Fischerdörfer. Auf Hügeln ragten Ahnentempel. Wird das Ufer flach, so raschelt Schilf mit braunen Samtkolben; Sandbänke ragen ins Wasser: Tummelplatz unzähliger, q u a r r e n der Froschkolonien, deren eintöniges Konzert verstummt, w e n n ein stolzierender Reiher einen der grünb r a u n gefleckten Sänger erwischt. 88
Lutschau bot uns Herberge - keine Großstadt, aber ein sehr lebhafter Flecken. Da holten wir uns die ersten Läuse. „Maski!" sagte Lota, der Pferdeknecht. „Maski!" dachten w i r alle. Macht nichts! Sicher macht es etwas, aber m a n kann nichts t u n dagegen; m a n ist hilflos gegen die sich rasch vermehrende, blutsaugende Einquartierung. Der Luho, auch Tzeho genannt, fließt bei Lutschau in den dort gemächlich dahinziehenden Jangtse; wie der kleine Sohn eilt er in die Arme des großen Vaters. Die Stadt w a r seuchenfrei, doch beschrieb man uns in allen blutigen Details die Taten von Räuberscharen. In China ist sehr häufig etwas Wahres an solchen Erzählungen; manchmal ist aber auch alles vollständig aus der Luft gegriffen. Wenn wir alles geglaubt hätten, wäre es am besten gewesen, uns in ein Mauseloch zu verkriechen oder nach Tschunking zurückzukehren. Das chinesische Volk h a t eine poetische Ader. Doch hatte mein Freund Quong auch in Lutschau gute Freunde, die uns ohne poetische Verklärung rieten, r u hig weiterzureiten. Man m e r k t e hier nichts von Not. Alle Felder w a r e n wohl bestellt mit guten Teesträuchern und Maulbeerbäumen. Es w a r aber auch von Überfluß nichts zu m e r ken. Der Weg senkte sich in eines der vielen Täler, wo die niedlichen Dörfer hinter hohem Bambus versteckt lagen. Vor den Häusern befanden sich Reisfelder und Terrassen. Am Rande des Feldes, im Schlammwasser fast begraben, lagen r u h e n d e Büffel. Es w a r e n gewaltige Tiere; n u r die Nüstern, ihre großen dunklen Augen, die Hörnerspitzen und ein schmaler Rückenstreifen ragten über die Brühe. Wir übernachteten in einem solchen Dörfchen, wo, wie hier überall, Fliegenschwärme laut summten. Der Bürgermeister oder Tao-Tai konnte uns nicht wie sonst üblich - begrüßen. Später sah ich ihn: ein fetter Greis, mit ausgemergeltem Gesicht, der uns, an seiner Opiumpfeife lutschend, blöde betrachtete. Ein Mädchen kniete neben ihm und hantierte mit Lampe und Nadel, um die Kügelchen für die stinkende Pfeife zu bereiten. „Wollt ihr diese Plage Chinas auch abschaffen?" 89
fragte ich Quong beim Abendbrot. „Radikal...!" Wir lagen in der nach allen Seiten offenen Gasthütte unterm Strohdach und rauchten Zigaretten. Statt der schlafengegangenen Fliegen überfielen uns nun die Moskitos. Über den stillen Feldern tanzten G l ü h w ü r m chen. Die Luft war klebrig warm. „Vorhin habe ich ein wenig herumgehorcht", m u r melte Quong und fuhr fort: „Von Banditen weiß m a n nichts. Kommunisten sollen die Platinmine hinter Lungtschang geplündert haben. Andere sagen, die Grube sei schon lange a u ß e r Betrieb, weil sich niemand aus Tschungking d a r u m kümmerte." „In der Hauptstadt e r w ä h n t e man die Grube gar nicht. Wir müssen zu einer anderen, weit über Tzeliutsing hinaus." „Ja, östlich von Lungtschang überqueren wir den Fluß und kommen auf eine gute Straße." „Hast du auch dort Freunde?" „Warum nicht?" lachte er vergnügt und redete weiter: „Die beiden Kwenluner kennen von früher her die Gegend hier ziemlich gut. Es soll in den Bergen noch Tiger geben. Menschenfresser! Die Einwohner wagen sich n u r in Scharen in die Wildnis. Die Biester haben es hauptsächlich auf Holzfäller abgesehen!" „Das k a n n ja nett werden! Wir mit unserenPistölchen! Ebenso gut könnte m a n aus einer Erbsenflinte auf Tiger schießen!" „Lotha und Tzao, unsere Schweigsamen aus dem Kwenlun, haben jeder eine Nagan versteckt am Leibe." „Hätten w i r nicht doch die militärische Eskorte mitnehmen sollen?" „Laß uns lieber auf die Faulheit des Tigers v e r t r a u en", tröstete Quong. „Na, d a n n gute Nacht, du Freund vieler Freunde!" Wieder unterwegs! Die guterhaltene Straße führte nach Tzeliutsing. Dort bekamen wir sogar gute Zimmer im Han. Beim Abendbrot w u r d e Quong tiefsinnig: „Diese Apfelblüte in Tschungking kommt mir nachträglich vor wie einer der amerikanischen Glücksautomaten in Shanghai. Sie nehmen fast alles und spenden verdammt wenig. Eines Tages will ich mein Junggesellenleben doch aufgeben und eine Frau nehmen. - Ich habe 90
übrigens ungünstige Nachrichten für dich, w e n n sie sich bewahrheiten. In der Herberge unten sprach ich mit einem Mandschu. Deine Platingrube sei zerstört und gesprengt worden. Der Mandschu ist mir als seriös bekannt. Am besten wäre, wir kehrten nach Tschungking zurück. Silberdistel wird nicht böse sein." „Zerstört? Es ist d a n n einfach meine Pflicht, mich davon zu überzeugen!" „Der Mandschu schwor, die Mine w ä r e seit einem J a h r verlassen", drang Quong weiter auf mich ein. „Wozu hat Tschungking mich denn ausgeschickt? Unsere Expedition kostet immerhin viel. Wirft m a n in China das Geld zum Fenster hinaus?" Quong blies schweigsam die Petroleumlampe aus . . . In der Nacht t r ä u m t e ich wieder konfuses Zeug: Der freundliche Minister von Tschungking saß neben dem offenen Fenster auf meinem Bettrand und warf fortwärend ganze Bündel von USA-Dollarnoten aus dem Fenster. „Es kommt nicht darauf an. Maski!" lächelte er. Auf einmal erschien ein gestreifter Königstiger. Minister und Tiger t r a n k e n Samtschu aus Porzellantassen und prosteten mir zu. „Na, wenn wir schon b e t r u n ken sind, kann ich ja diesen frechen Barbarenteufel fessen", gähnte der Tiger jovial. Plötzlich verschwanden beide wie leichte Nebel. Silberdistel war da u n d streichelte mich: „Maski, wir können da nichts tun!" Zum Fenster herein schaute meine gute Mutter und lachte: „Jungeken, wo ick dir doch so jebeten habe, auf dir aufzupassen. Die kleene schlitzäujije Schinesin meent es jut, vor der mußte keene Angst haben ...!" Ich erwachte und sah die Sternenwelt hinter dem Fensterviereck. Ich hörte Quong schnarchen, schlief aber wieder ein, bis er mich weckte. Ich beschrieb ihm meinen Traum, und er erwiderte ernst: „Du hast gute Vorfahren im Geisterlande. Die Atmosphäre Chinas ist gerade in solchen Dingen dichter als anderswo, und die guten Verstorbenen zeigen sich deutlich!" „Quong, du bist ein guter Kerl!" „Ich glaube das manchmal selber. - Erzähle mir - ich verstehe nichts von Bergbau - liegt Platin offen da?" lenkte er ab. „So wie du dir das vorstellst, ist es nicht. Stets aber findet m a n es gediegen, ohne Beimischung. Am selben Ort liegen oft andere Metalle: Iridium, Osmium. Viel91
leicht k a n n ich dir das zeigen, wenn wir in der Mine sind. Morgen reiten wir. Der Aufenthalt hier ist langweilig!" Von Tzeliutsing führt der Weg über ein Gebirge, das so kahl ist wie eine Hand. Zwei Tage regnete es heftig; wir litten sehr unter dem schlechten Wetter. Wir freuten uns, als wir die unbewachsenen Berge endlich verließen und in ein Tal kamen, das zum Luho führte. Hier w a r wieder Fruchtbarkeit. Besiedelt war die Gegend nicht sehr dicht, und die A r m u t w a r so weniger sichtbar. Wo reines Wasser fließt, nützen es die Chinesen aus! Die Dörfer w a r e n daher reinlich, alle Menschen w a r e n gut e r n ä h r t . Quong wollte überall gemütlich ausruhen, aber ich trieb ihn an. Da schmollte er, daß alle Weißen irgendwo „Ameisen" hätten, und daß ich die schöne Bürgermeisterstochter im letzten Ort gar nicht beachtet hätte, trotz ihrer sprechenden Augen! „Alter Gauner, ich weiß Bescheid von deiner Pussage mit ihr. Es ist Zeit zum Heiraten für dich!" Während wir weiterritten, erzählte er mir einige Begebenheiten, nicht ohne leisen Vorwurf an uns Europäer. „Es w a r zu Beginn dieses Jahres, in Hongkong. Tschiang erhielt aus Europa eine im voraus teuer bezahlte Lieferung: einige Zehntausende von Stahlhelmen für seine Elitetruppen. Ich habe die angekommene Ware selbst gesehen. Vermutlich lagert sie noch in den ,Godowns' von Hongkong. Tschiangs Vertreter n a h men sie nicht an, weil sie, aus allerleichtestem Weißblech angefertigt, nicht einmal einer Erbsenflinte standgehalten hätten. Aber sein Geld w a r der Marschall los. Eine verfluchte Schweinerei! - Man meint manchmal, d a ß die Weißen wie Aasgeier sich am hilflosen Riesenkörper China mästen. An Mao wurden solche Streiche übrigens auch verübt. Ich entsinne mich des Marsches der Achten Armee in die sogenannte Verbannung. Wir brauchten wichtige Medikamente und bezahlten diese, wie es bei den meisten Lieferungen nach China gehandhabt wird, zur Hälfte im voraus. Die gelieferten Dosen und Tuben enthielten k a u m mehr als Sand und Schlämmkreide!" „Bande! Auch wenn der Chinese n u r die Hälfte voraus bezahlt, erzielt der Lieferant, der wertloses Zeug einführt, einen Riesengewinn", schimpfte ich. 92
„Mao schwor, daß er sämtliche weißen Kaufleute aus Shanghai und ganz China ausweisen wolle. Was meinst du, wie viele damals sterben mußten, weil keine Medizin vorhanden war?" Schweigend durchritten wir das Tal. Die Sättel quietschten und die Hufe trommelten. Lota sang mit nasaler Stimme ein Lied aus den wilden Kwenlunbergen. Der Weg stieg in Krümmungen bergauf. Von einem K a m m aus sahen wir im Westen eine große Straße mit vielen Menschen, K a r r e n und Reitern, die sich nach beiden Richtungen bewegten. Klein wie Spielzeug wirkten sie. Das war die große Straße, die von Lungtschang nach dem weit entfernten Tschengtu führt. Sanft ging es bergan; überall w a r e n alte Abdrücke von Hufen und breiten Rädern zu sehen. Wild wucherte das Unkraut. Die Mine lag auf einem zerrissenen Hochplateau von großer Ausdehnung. Das Plateau w a r teilweise von Büschen bedeckt, die sie in der Wüste Gobi Kameldorn nennen; diese Pflanzen leben nur von Tau. Stellenweise w a r die Erde rostrot; aber alles w a r so dürr und öde, daß m a n nicht glaubte, in Szetschuan zu sein, in der K o r n k a m m e r Chinas. Ich entdeckte Spuren eines gesprengten und verschütteten Schachts sowie einige ebenfalls unzugängliche Querstollen. Die Pumpanlage neben dem alten Brunnen w a r nur noch ein wirrer Haufen verbogener Metallteile; die Häuser der Arbeiter und der Administration w a r e n dem Erdboden gleichgemacht worden. Alles, w a s aus Holz bestand, war v e r b r a n n t worden. Kleiderfetzen, Konservendosen, Schutt, Asche und Knochen bildeten widerliche Haufen. Ein einziges, längliches Steingebäude w a r noch erhalten. Aber es war ohne Dach. Die Fenstervierecke gähnten leer. Die Innenwände w a r e n rauchgeschwärzt. Alles sah trostlos aus. Kaum w a r e n wir angekommen, als ein stoßweiser Sturm anfing. Binnen weniger Minuten w u r d e er zu einem einzigen, sausenden, stöhnenden Geheul. Staub und Aschenwolken hoben sich gespenstisch in die Luft. Zahlreiche Kameldornbüsche wurden losgerissen und tanzten grotesk über die Hochebene. Schnell brachten wir die Pferde in das ehemalige Sortierhaus. Auch wir zogen uns dorthin zurück, wo 93
wir vor der Hauptmacht des Sturmes einigermaßen geschützt waren. Aber es w a r unmöglich, ein Holzkohlenfeuer in der Eisenpfanne zu entfachen. Dunkelheit fiel wie ein Sack herab, u n d aufgewirbelter Sand verhüllte die nächste Umgebung. Dichte Wolken fegten prasselnd Steine und Sand über das P l a teau. „Hier schlafen wir. Morgen kannst du mit der K a m e ra eine Anzahl Beweisaufnahmen machen, damit das Ministerium in Tschungking uns Glauben schenkt. Sonst gäbe es Stimmen, die behaupten, wir hätten die ganze Reisezeit in einem ,Blumenhof' verbracht!" ordnete ich an. Auf Sturmesflügeln flatterte plötzlich etwas Großes über unsere obdachlose Unterkunft. Es w a r u n h e i m lich. Die Kwenluner faßten an die Amulette; ihre L i p pen bewegten sich unhörbar. Wild stampften die Tiere. Quong rief durch den L ä r m : „Ein Dämon w a r das!" Ich wußte nicht recht, ob er scherzte . . . „Wir brauchen Wasser!" sagte ich m e h r zu mir selbst; ich ergriff ein langes Packseil und die zwei Ledereimer, verstaute meinen Hut und winkte den anderen, sie sollten in der einen Ecke das Lager aufschlagen. Mutig t r a t ich ins Freie. Der Sturm rüttelte mich wie ein dürres Blatt, schleuderte mir Sand ins Gesicht, zerrte an meinen Kleidern und blies sie von innen auf. Schräg gegen den Luftzug gestemmt, gelangte ich bis zum Brunnen. Es w a r sehr dunkel, u n d mir w u r d e u n heimlich. Durch den S t u r m klang es wie höhnisches Lachen, das aus den Lüften kam. Der Strick w a r lang genug, und ich konnte beide Eimer füllen. Ich ließ mich vom Wind zurücktreiben u n d erreichte glücklich die Hütte. Tzao n a h m mir das Wasser ab; der andere Helfer öffnete die Reisschachtel, in der sich noch gekochte Lebensmittel befanden. Dicht an die Mauer gedrückt speisten wir. Über uns sauste und heulte die pechschwarze Nacht; manchmal drückten uns von oben schlagende Böen zu Boden. Die Pferde, die ihr Wasser bekommen hatten, verhielten sich jetzt ruhig. Meine Gefährten schauten oft mißtrauisch nach oben oder zu den T ü r - und Fensterhöhlen hin, durch die immer wieder Sandmassen hereinprasselten. Tapfere Männer w a r e n es; der eine, Quong, hatte sogar in Amerika studiert. Doch schienen alle drei nicht 94
gefeit gegen Geister- und Dämonenglauben. Und ich weiß nicht, ob ich mich in jener Nacht über alles e r h a ben fühlte. Man mag mich auslachen, aber jeder Chin a k e n n e r wird zugeben, daß in China Dinge geschehen, die uns Europäern zumindest rätselhaft bleiben. Ich w a r müde, wickelte mich längs der Mauer in meinen Ziegenhaarmantel und w a r bald eingeschlafen. Türkisblau mit Gold stand der frischduftende Morgen über den Mauern, als ich die Augen aufschlug. Quong stöberte bereits draußen h e r u m und machte Fotos. „Fertig! Acht scharfe Bilder werden den hochmächtigen Tschungkingbonzen bestätigen, daß du deine Pflicht getan!" rief mir Quong entgegen. G r ü n wie ein erstarrtes Meer lagen die Hügel Szetschuans um das d ü r r e Plateau. „Quong, du hast doch so überzeugend den Kuli gespielt - sag, w a r die Ehrfurcht vor dem guten alten L a m a auf dem Wolkenrückenberg damals Theater oder echt?" „Echt! Du hast ja selber gesehen, daß der ehrwürdige H u t u k t u Dinge konnte, die ..." „Wohl, o Horatio! Damals und auch gestern wieder, und überhaupt schon mehrmals habe ich Dinge in China erlebt, die ich auch heute noch nicht begreife." „Für uns ist alles sehr verständlich. Aber die Weißen fassen alles, was sie nicht verstehen können - auch w e n n wir's ihnen erklären - in den Worten Rätselhaftes China' zusammen. Sogar unsere angeborene Höflichkeit n e n n t ihr das ,undurchdringliche asiatische Lächeln'. Tust du das auch?" „Mitnichten, lieber Freund. Aber weißt du, Bücher enthalten oft n u r solchen exotischen Unsinn, um die L e k t ü r e interessanter und geheimnisvoller zu machen. Für mich ist Asiens Lächeln etwas ungemein Sympathisches und Schönes!" „Martin, du bist wirklich in Ordnung. Schade, daß du nicht als Chinese geboren wurdest!" strahlte Quong und w u r d e dann wieder sachlich: „Was hält uns jetzt noch hier?" „Heute muß ich noch herumstöbern und Stoff suchen für meinen Bericht. Morgen reiten wir zurück!" Er nickte zufrieden und drehte sich eine Zigarette. „Glaubst du, daß in dieser Mine bei Anwendung geeig95
neter Mittel noch Platin gefunden werden könnte?" „Ja, falls sie nicht, wie der Fachausdruck lautet, leergelaufen ist!" Ein schriller Pfiff! Am Brunnen stand Tzao, winkte und deutete den alten Weg nach unten. „Leute kommen!" schrie er. Wir drehten uns um u n d spähten abwärts. Wir sahen einen T r u p p von zehn Reitern auf uns zukommen. Schnell zogen wir uns ins Haus zurück. „Wenn es zu einer Belagerung kommt, falls diese Leute Banditen sind, so sind wir böse dran. Sie haben alle, wie ihr gesehen habt, Gewehre, und die tragen weiter als unsere Waffen. Vielleicht sind es nur Soldaten auf Patrouille. Hier drinnen sind wir jedenfalls einigermaßen gedeckt!" sagte ich. „Fort können wir nicht mehr, und besser ist es hinter festen Mauern. Aber schau dir die Burschen an! Soldaten sind zwar auch oft zerlumpt, haben aber immer ihr Käppi, auf das sie stolz sind. Diese Kerle haben nur Strohhüte. Kavallerie reitet auch nicht so schlampig daher", überlegte Quong. „Bleibt ihr im Haus und laßt mich mit den Brüdern reden. Fortgelaufene Soldaten sind es nämlich; die Pferde - arme verhungerte Schindmähren - haben sie geklaut!" Die Kwenluner grinsten erlöst; ihre Nagans waren griffbereit, u n d auch meine Pistole hatten sie aus dem Sack geholt. Der Trupp w a r schon ganz nahe. Die Gesichter der Männer sahen nicht sehr vertrauenerwekkend aus. Da t r a t Quong in die Türöffnung und feuerte einen Warnschuß in die Luft. Die Kerle hielten an und steckten die Köpfe zusammen. Gelächter klang auf. Einige n a h m e n die Gewehre vom Rücken. Nun stieg einer ab und steckte mit großartiger Geste seine Flinte in die Sattelhülse. Ein langer dürrer Geselle, der zwei Pistolen trug, gab ihm Befehle. Dann griffen alle in die Taschen, als suchten sie etwas. Schließlich k a m ein alter, schmutziger Fetzen zum Vorschein. Diesen schwenkend und freundlich grinsend, setzte der Unbewaffnete sich in Bewegung. „Ein P a r l a m e n t ä r ! L a ß t euch nicht überraschen, während ich rede!" w a r n t e Quong. „Gut Freund!" rief der Abgesandte auf Cantonesisch. Quong ging ihm mehrere Schritte entgegen, und als dieser mit freundlicher Miene stehenblieb, fragte 96
Quong brüsk, was m a n von uns wolle. „Grüße! Und mögen eure Ahnen zahlreich sein! Der Leutnant schickt eine Botschaft." „Bei welcher Truppe steht ihr? Warum seht ihr wie Banditen aus?" Er schnitt ein beleidigtes Gesicht: „Wir lassen uns nicht verhöhnen. Warum unsere Uniformen schlecht sind, kann ich dir erklären. Solltet ihr nicht wissen, daß Krieg mit den J a p a n e r n herrscht? Unsere G a r n i son liegt in Tschengtu." „In Szetschuan wird nicht gekämpft, der Krieg tobt viele tausend Li von hier. Und der K o m m a n d a n t von Tschengtu - das sehr weit liegt - wird keine zehn Mann in das Gebiet eines anderen Militärgouverneurs schikken, um diesen zu beleidigen. Doch welche Kunde bringst du?" Verlegen stotterte der andere: „In Szetschuan wird nicht gekämpft, nein, aber - hm - ja - ich soll euch sagen, daß Zivilisten dem Militärgesetz unterstehen." „Wieso? Sprich und fürchte dich nicht.!" „Der Leutnant Ping verlangt aus strategischen Gründen, daß ihr die Waffen, die Pferde und alles Gepäck abliefert. Ihr bekommt dafür eine schriftliche Bestätigung und dürft gehen." Quong lachte schallend, und wir anderen, die wir aus den Fenstern schauten, grinsten mit. „Wir dürfen also verhungern?" „Ihr behaltet ja eure Kleider - das Geld m u ß auch beschlagnahmt werden - u n d könnt Tzetschau bequem erreichen. Der Leutnant gibt euch eine gute Empfehlung für den dortigen Tao Tai." „Sehr gütig! Sag ihm, daß wir bis zur letzten Patrone auf euch schießen werden! Versucht doch, das Haus zu stürmen!" lachte Quong. Ich beobachtete scharf und hörte deshalb Quong einige leise Worte sprechen, dazu machte er eine blitzschnelle, k a u m zu erkennende Handbewegung. Das Gesicht des Boten kündete ungeheures Staunen; er schnappte nach Luft: „Dann seid ihr ja . . . ! " „Ja, wir sind! Ihr auch?" Vorsichtig schaute der Mann nach seinen K a m e r a den, erwiderte dann: „Nur ich! Die anderen sind Halunken, sie wollen euch ermorden! Schon lange versuchte ich ihnen zu entwischen. Aber es ist so schwer! 97
Auch spreche ich den hiesigen Dialekt nicht; ich habe in Szetschuan keine Freunde." „Denkst du! Du kommst morgen mit uns nach Tzeliutsing, dort werde ich dich mit Freunden b e k a n n t m a chen. Du kannst gleich bei uns bleiben." „Ich d a n k e dir von Herzen! Ich kann euch noch sagen, daß ihre Waffen nichts taugen. Die P a t r o n e n ...", er grinste, „ . . . wenn man eine abschießt, ertönt der Knall ganz leise, und die Kugel fliegt nur drei Schritte weit. Schlechtes Pulver; es hat zuviel Holzkohle darin!" „Möchte wissen, aus welchem europäischen Land dieser Mist für teures Geld an vertrauensvolle Chinamänner geliefert worden ist!" schimpfte Quong. Dann verklärte sich sein Gesicht: „Für uns trifft sich das allerdings gut. Kann ja auch nicht anders sein, denn ein guter, mächtiger Dämon flog in der Nacht über uns. Hoho!" Er beruhigte den Aufhorchenden: „Setz dich ins Haus, und w e n n du Hunger hast, laß dir etwas zu essen geben!" Der Mann k a m zu uns. Nun zeigte Quong dem Reitertrupp verächtlich seine Kehrseite, ließ auch die Hosen einen Augenblick hinab und brüllte: „Schert euch davon, Schweinsdärme!" und zog die Pistole. „Wir schießen euch alle über den Haufen!" schrie der lange Leutnant. Sie n a h m e n ihre Flinten und legten auf uns an. „Schießt doch, wenn ihr könnt, ihr Affensteiße und Dummköpfe! Dann schießen wir zurück, aber nicht mit Holzkohle!" Wir t r a t e n ins Freie und zückten unsere Waffen, während der Neuangeworbene auf der Erde saß und kalten Reis verschlang. „Im Namen der Regierung, ergebt euch und liefert diesen Verräter aus!" „Im N a m e n der Regierung bleibt er bei uns! Ihr aber zieht ab. Tschop, tschop! Sonst knallt's!" In ohnmächtiger Wut berieten sie und drohten mit den Fäusten. Dann schrie einer: „Wir werden euch schon kriegen. Unterwegs!" „Paßt n u r auf, daß wir euch nicht kriegen, ihr Urenkel geplatzter Reiswänste! Holzkohlenschützen! Hoho!" Wutgebrüll antwortete, d a n n rief der Anführer einen Befehl. Die Abgestiegenen kletterten in ihre Sättel und 98
peitschten die stolpernden, ausgemergelten Klepper den Weg bergab. Unten fielen sie in einen steifen Galopp, und bald war n u r noch eine Staubwolke zu sehen. Bis auch diese in der Luft zerfloß. Quong schlug dem Neuen auf die Schulter: „Gut gemacht, Feng! Kannst du uns sagen, wo diese Brüder hinreiten?" „Nirgends hin! Die letzten Tage hatten wir kein richtiges Ziel außer euch. Ein wandelnder Heilkünstler erzählte, ihr w ä r t vornehme Herren mit viel Geld." Ein Posten w u r d e aufgestellt. Die anderen packten und sattelten; denn es w a r nicht ratsam, die Nacht hier zu bleiben. Die Bande, der Feng angehört hatte, w a r gewiß nicht die einzige in diesen Bergen! Wir ritten unbehelligt nach Tzeliutsing zurück . . . In Tschungking n a h m der liebenswürdige Minister meinen Bericht und die Aufnahmen entgegen. „Zuweilen könnte man verzweifeln! Selbst größte und e h r lichste Anstrengungen erweisen sich als vergeblich! Nicht n u r in Ihrer Sache! Es tut mir leid, daß Sie diese Strapazen umsonst machten", entschuldigte er sich trübe. „Ich verdiente dabei mein Gehalt, w a s hier - wenn ich so sagen darf - nicht jeder von sich behaupten kann. Exzellenz wissen ja, wie es zugeht!" Das Telephon klingelte. Die Exzellenz meldete sich und sagte zu mir: „Ich muß einige Minuten hinaus. Hier!" Er warf mir einen Packen englischer und französischer Zeitungen zu. Ich steckte mir eine Pfeife in Brand und blätterte die Lektüre durch. Als der Minister zurückkam, sagte er: „Der deutsche Konsul in Hongkong will wissen, ob Sie noch bei uns unter Vertrag stünden. Später kam dieser Brief für Sie!" Und er schob mir ein versiegeltes Schreiben hin. „Lesen Sie, ich weiß ungefähr, was drinsteht." Rasch überflog ich den Inhalt und las dann halblaut vor: „Fachleute und Spezialisten werden im Vaterland dringend gebraucht; ungeahnte Möglichkeiten stehen offen für die, welche diesem Rufe Folge leisten. Laboratorien modernster Art stehen zur Verfügung. Der deutsche Konsul in Hongkong wird die Heimfahrt ab Mandschuli oder Wladiwostock per Transsibirienbahn direkt nach Eydtkuhnen und Berlin bestens regeln." 99
Ich blickte seufzend auf. Der Minister nickte mir beruhigend zu. „Wenn Sie nicht darauf bestehen, entlassen wir Sie nicht. Sie sind bei uns sehr angesehen. Doch halten Sie sich den Rükken frei. Vorerst sind Sie durch die großen Strapazen krank und brauchen eine lange Erholung. Ich denke, die junge Dame, deren Vater Ihnen wieder das Landhaus zur Verfügung stellt, wird sich bestens um Sie kümmern. Ist es recht so?" lächelte er gewinnend. „Exzellenz haben recht, meine alte Malaria macht mir zu schaffen." „Das habe ich gewußt. Meine Administration wird den Fall mit dem Konsul bestens ordnen. Sie können ja gar nicht selber schreiben, so zittern Ihre Hände!" Verwundert betrachtete ich meine Hände. Sie zitterten doch nicht! „Damit haben Sie einen längeren Aufschub gewonnen, ohne beim Vertreter Ihres Landes in Mißkredit zu fallen." Er reichte mir über den Tisch seine Rechte, die ich kräftig drückte, daß er w a r n t e : „Nicht überanstrengen, lieber Freund, Ihre Malaria!" Während ich nachher mit Quong durch die staubige Allee fuhr, sagte ich: „Der Mann, mit dem ich eben sprach, ist einer, wie China viele haben sollte: Gentleman und fühlender Mensch zugleich!" Er nickte: „Du wirst dich jetzt erholen. Und wirst Silberdistel alles erzählen! Savvy!" Einige Tage vergingen, bis wir uns wieder wohlfühlten. Ich las Quong den Konsulatsbrief vor und erzählte, was die Exzellenz gesagt hatte. Quong verstand. „Freilich bist du k r a n k ! Mindestens drei Monate Ruhe verschreibt dir der Arzt! - Aber höre, als ich die drei anderen im Yamen ablieferte, sah ich die Zofe Reisähre." „Deine damalige Freundin hieß doch Apfelblüte? Mit einer Geldboxe hast du die Frauen verglichen!" Heftig rief er: „Nein, nicht diese! Reisähre ist so treu wie - hm - Platin. Sie duckt sich n u r scheinbar unter die Fuchtel der großen Tai-Tai und ist unbedingt deiner jungen Dame ergeben. Wenn du aber zweifelst, kann ich ja die mir aufgetragene Botschaft behalten!" „Oh F r e u n d Quong, drücke dich nicht so geschraubt aus. Junge Dame!" „Das ist sie doch! Mein Englisch ist doch prima. Höre, sie schickt dir durch die gepuderte Reisähre und meine 100
sauberen Hände ein Kumtscha!" Er lachte über mein saures Gesicht. „ T a l i s m a n , wollte ich sagen. Hier!" Ein zusammengeknotetes Stück Seide fiel in meine Hand. Begierig öffnete ich es und fand darin einen kleinen, kaum zwei Zentimeter großen Drachen aus schwerem Gold mit Smaragdaugen - ein Kunstwerk, wie es so winzig und doch genau n u r Chinesen herstellen. Drachen sind in China Glückstiere. Ich hängte mir das Tierchen an der Seidenkordel um den Hals. „Ho, Master, deine Fieberaugen glänzen plötzlich, und deine Fieberhände sind ganz ruhig geworden. Was doch so ein Drache vermag! Und m a n k a n n dein Herz in ganz Szetschuan klopfen hören!" Ich warf ihm ein Kissen an den Kopf, als eben die Amah mit dem Teebrett hereinkam. „Tee t l i k e n , fein Tschau essen. Nix Pavillon, Sonne sehl schlecht!" grinste sie freundlich. Quong erklärte mir nachher, daß die uns früher bedienende Gärtnersfrau zu Besuch bei ihrer Schwiegermutter weile. Diese alte Amah mit dem lustigen Zwiebelgesicht w a r Silberdistels frühere Aufwärterin; sie war lange Zeit in Ungnade bei der Tai-Tai. Scheinbar verbannt, sei sie n u n in Wirklichkeit zum Spionieren da. Um alles zu belauschen, wenn Silberdistel bei uns auf Besuch weilte. „Hei, da müßte sie Augen haben wie die Spinne oder wie der Argusfasan auf seinem Schweif! Dieses Zwiebelgesicht soll nichts hören und nichts sehen, w e n n mein F r e u n d Quong den Pavillon bewacht. - Aber weißt du, ich habe wirklich etwas Fieber. Die Exzellenz schenkte mir zwar eine Tube mit dem deutschen Wundermittel Plasmochin. Etwas wirklich ausgezeichnetes; aber es dient n u r zur Vorbeugung. Einem alten Malariahasen hilft immer noch am besten das alte, gallenbittere Chinin! Aber erst wollen wir Tee trinken; auf dem Tablett sehe ich gute Sachen. Alles andere h a t Zeit. Maski!" . . . w e n n ein Mensch sich selber sieht, wie er zum Luftballon wird, hoch in die Lüfte steigt und dabei am ganzen Körper vor Kälte bebt - wenn er seine Zähne klappern hört, sich plötzlich mit einem Knall öffnet und lauter kleine Ebenbilder seiner selbst h e r a u s p u r zeln - w e n n er strampelnd durch die Wolken in einen 101
warmen, öligglatten Tropensee fällt und Scharen von Haifischen mit aufgesperrten Rachen ihn umzirkeln — wenn er heiße Schweißströme vergießt und zwischendurch eisigen Frost fühlt, und ein lüsterner Tiger schleicht auf ihn zu - w e n n ihm ist, als läge er im Dschungel, am einsamen Lagerfeuer, und auf seiner nackten Brust tanzt eine riesige Kobra, die ab und zu ihr aufgeblähtes Haupt mit den Giftzähnen auf ihn niederstößt, doch nie ganz, sondern drohend weiter tanzt - w e n n ein Mensch fühlt, wie sein Herz wie von unbarmherzigen Fingern langsam zerquetscht wird wenn er sich einbildet, er sei ein riesiger Mähnenlöwe im Kilimandscharogebirge und daß aus seinen Nüstern der weiße Frosthauch in die Luft stößt - dann, ja dann hat dieser arme Mensch einen schweren Anfall von Malaria tropica! Wenn er wieder zu sich kommt, weiß er zwar, daß er kein nasser, schlapper Waschlappen ist; aber er fühlt sich so. Er trinkt gierig Mengen von Gerstenschleimwasser und freut sich, daß er noch auf Erden ist. Eine liebe, hübsche Chinesin beugte sich über mich, wischte mir die kalte Stirn ab und tröstete: „Jetzt hast du es überstanden, Liebster!" So ging es mir im L a n d h a u s bei Tschungking, am Jangtse. Und was sich dann all die Wochen und Monate a b spielte? Wozu erzählen? Silberdistel und ich waren glücklich. Die allmächtige Tai-Tai k ü m m e r t e uns beiden Glücklichen keinen Deut. Wir liebten uns - ob die alte Dame es mißbilligte oder nicht, daß Silberdistel und ich Tag für Tag in zauberhaft süßer Zweisamkeit den Freuden dieses Lebens huldigten, das w a r uns gänzlich einerlei. Wir liebten uns, und im Prunkzimmer des Yamen saß auf einem hohen, geschnitzten, kissenbelegten Stuhl die uralte Tai-Tai. In steifem Brokat, geschminkt, gepudert, parfümiert; mit überlangen Fingernägeln und verkrüppelten Lilienfüßen; im R u n zelgesicht die lebhaften, jung gebliebenen tintenschwarzen Augen. Sie w a r trotz aller Strenge gleichzeitig das verkörperte Gesetz menschlicher Toleranz, voll weiser Einsicht, klarem Blick und klug in der Erkenntnis von Frauen und Männern. Dem ersten schweren Malariaanfall folgten weitere, schwere und leichte. Immer kam ich wieder auf die 102
Beine. Doch nahm meine Gesundheit zusehends ab. Quong riet mir zu einer Reise in die Berge - zu Mao, gab aber zu: „Sie leben dort fast nur von Reis und Gemüse und sind selbst u n t e r e r n ä h r t . Das w ä r e nichts für dich!" Der Tag kam, an dem der französische Doktor mir klipp und klar sagte: „Sie müssen fort von hier, das Klima ist nichts für Sie, Monsieur. Ich w ü r d e zur Mittelmeerriviera anraten, Sie brauchen europäische Luft! China zehrt an unseren Nerven, das ist Tatsache. Gehen Sie, Monsieur! Ich will Ihnen nicht gerade raten, in Ihre Heimat zu reisen. Aber die Riviera ...!" Als der Arzt gegangen war, hielten wir Beratung im Pavillon. Überzeugt sagte Silberdistel: „Wenn du wieder gesund bist, kommst du selbstverständlich nach China zurück. Zu mir!" Quong meinte: „Vielleicht dauert der Krieg drüben nicht lang. Aber an der Riviera bist du ja sicher." „Ihr stellt euch das so einfach vor! Aber es bleibt mir nichts anderes übrig, als den Konsul in Hongkong zu bitten, meine Passage zu ordnen. Ich k a n n mit der Sibirienbahn fahren; gegenwärtig sind Hitler und Stalin Freunde." Ich richtete mich auf und fühlte, wie meine frühere Zuversicht, in der ich manch gefährliche Lage überstanden hatte, zurückkehrte. „Als nötig gebrauchte Fachkraft wird m a n mir wohl kein Gewehr über die Schulter legen, sondern mich wissenschaftlich beschäftigen. Ich weiß ziemlich viel über ,schweres Wasser', und in Deutschland wissen sie Bescheid über meine Kenntnisse." „Nimm dich in acht, Lieber!" rief Silberdistel, und zustimmend nickte Quong. „Ihr könnt mir an eine Adresse in einem neutralen Land schreiben: Schweiz oder Schweden." „Hast du dich entschlossen zu reisen?" „Fest! Morgen spreche ich mit Exzellenz. Tschungking ist in Verbindung mit Hongkong; es gibt Nachtflugzeuge." „Weißt du noch, was der gute H u t u k t u und Ta Lama im Kloster des Goldenen Buddha auf dem Wolkenrükkenhügel prophezeite?" fragte Quong leise und n a c h denklich. Silberdistel horchte auf: „Was w a r es?" In kurzen Umrissen beschrieb Quong den Alten auf 103
dem Berge und erzählte, was er vorausgesagt hatte, und daß wir u n s wieder auf dem gelben Berg treffen würden! Es w a r w u n d e r b a r zu sehen, wie Silberdistels feines, trauriges Gesicht sich da erhellte und von Frieden erfüllt wurde, und wie froh ihre Augen glänzten, als sie überzeugt sagte: „Dann ist alles gut! Ich weiß jetzt, du kommst wieder!" Sie schmiegte sich an mich, lächelte unter Freudentränen und flüsterte leise Zärtlichkeiten. Auf den Zehenspitzen ging Quong hinaus. Prächtig umgab uns die Zauber- und Liebesnacht am großen chinesischen Strom . . . Bei Nacht u n d Nebel flog ich nach Hongkong. Wie ich dort nach Mandschuli und mit der Sibirienbahn nach Moskau und d a n n nach Berlin kam, ist eine lange Geschichte! Während der eintönigen Reise dachte ich viel an Silberdistel, an das Landhaus am Jangtse und meinen guten Freund Quong . . .
WAN-FU Viele J a h r e w a r e n vergangen. Ich war schon wieder beträchtlich in der Welt herumgekommen. Die MaoLeute hatten Tschiang Kai Shek trotz dessen amerikanischer Unterstützung durch ganz China bis ans Meer und hinüber nach Formosa, oder, wie es wirklich heißt, nach „Taiwan" getrieben. Endlich erhielt ich auf Umwegen über Hongkong aus diesem Rätsellande Post! Von Quong und Silberdistel! Die Briefe bestanden eigentlich nur aus den ständig wiederholten Worten: „Komm, komm!" Das m u ß t e gründlich überlegt werden. Meine Gesundheit schien zwar wieder in Ordnung zu sein. Trotz der ärztlichen Warnung, auf mein Herz zu achten, war ich in die peruanische Puna gereist und bekam dort in der dünnen, kalten Bergluft wieder einen argen Stoß. Ich überstand ihn, aber ich w u r d e nun doch vorsichtiger. Nachdem ich für die deutsche Bundesrepublik eine 104
Zeitlang gearbeitet hatte, bekam ich aus Mitteldeutschland eine gute Offerte. Doch hatten die Herren, die mir das Angebot machten, nichts dagegen, daß ich vorher einen geologischen Abstecher nach China machte. Ich w a r nicht verheiratet, meine alten Eltern waren mit ihrem Häuschen bei einem Bombenangriff auf Leipzig zu Staub geworden; also h a t t e ich niemanden, um den ich mich hätte k ü m m e r n müssen. So betrat ich eines Tages wieder die Pier von Kaulun und drüben, am anderen Ufer, schimmerte Hongkong mit seinen weißen und grauen Häusern in sattgrüner Umrahmung. Ich wußte, daß niemand mich hier abholen würde. Quong und Silberdistel arbeiteten für die neue Regierung, er in H a n k a u und das Mädchen in Nanking. Sie h a t t e n mir aber den Weg geebnet, und mit den nötigen Ausweisen versehen, bestieg ich den Zug an der Grenze in Shum Tschun und kam nach Canton. Am dortigen Bahnhof empfing mich ein sehr höflicher, perfekt Englisch sprechender, junger Mann, der sich als Doktor Shi vorstellte und mich im Auftrag von Quong begrüßte. Ich m e r k t e sofort, daß die alte chinesische Höflichkeit nicht gelitten hatte u n t e r dem neuen Kurs. Es ging etwas weniger formell zu, dafür aber in schöner Herzlichkeit. Manchmal w u r d e n jedoch die blumigen Anreden „älterer Herr Bruder", „Berg voll Ahnen" und „Frühgeborener", durch das scharfe „Mister" entzweigeschnitten. Der Bahnhof w a r so schmutzig wie immer; n u r hingen anstelle der Bilder des Marschalls jetzt Riesenplakate des lächelnden Mao an den Mauern. Doktor Shi brachte mich in einem fast neuen Ford zu einem sauberen chinesischen Gasthof. Auf meine Bitte fuhren wir auf Umwegen, weil ich das Volkstreiben ein wenig genießen wollte. Doktor Shi plauderte die ganze Zeit anschaulich und wies manchmal stolz auf irgendeine Sehenswürdigkeit hin. Die Gassen wimmelten von geschäftigen Menschen; Lebensmittelbuden, Läden, t r a g b a r e G a r k ü chen, Barbiere, die auf offener Straße ihr Handwerk ausübten, ebenso die im Freien arbeitenden Zahnärzte, lastentragende Kulis; alles w a r wie früher. Nur sah man in den Läden k a u m Waren. Auf dem „Perlenfluß" ankerten Sampans, Hausboo105
te, Barken und Dschunken zu Zehntausenden; genau wie damals. Hinter der Stadt, wo in flachen Reisfeldern fleißige Menschen werkten, schoben sich sanfte, grüne Hügel gegen die Ansiedelung. Grauunniformierte, meist junge Soldaten spazierten mit ernsten Gesichtern umher. Von den Häusern h e r a b hingen die bunten, senkrechten Schriftzeichenschilder; in den Läden, die Waren hatten, drängten sich Verkäufer und Käufer, feilschten, schrien, schimpften und lachten; dicke Fliegenschwärme schwirrten um Fleisch und Früchte. Die Tritte und das Schlurfen Hunderttausender von Sandalen klapperten; Fahrradbesitzer schellten u n u n t e r brochen. Ohrenbetäubend hingen alle Geräusche in der diesigen, heißen Luft, und es brodelten die tausend Gerüche der chinesischen Großstadt. Alles w a r wie früher! Neu w a r e n unzählige Bilder Maos in allen Größen; neu die langen Züge junger Männer und Mädchen, die mit verzückten Gesichtern im Takt marschierten, sangen und F a h n e n und Plakate schwenkten. „Schüler und Studenten!" erklärte mein Begleiter. Dann: „Arbeiter und Arbeiterinnen!", als blaugekleidete F r a u e n u n d Männer singend vorbeimarschierten, Schaufeln u n d Pickel geschultert. Dann: „Volksschüler und -Schülerinnen!", als kleine Knirpse mit Stöcken martialisch geschultert vorbeitrippelten. „Wohin gehen sie?" „Die Erwachsenen zum Schichtwechsel in die Fabriken. Sie singen, weil es sich herausgestellt hat, daß Gesang die Arbeitskraft erhöhen soll! Doch will man wieder davon abkommen, heißt es. Die Kinder? Sie werden bereits im Soldatenhandwerk ausgebildet, wohnen in Heimen und werden ständig politisch geschult. Abends sind die Familien beisammen, falls nicht irgendein Treffen oder ein Vortrag sie zu Versammlungen ruft." Wo hatte ich das alles schon gesehen und gehört? Es war in Deutschland in der Zeit der b r a u n e n Diktatur ebenso gewesen! Doktor Shi fuhr mit m i r kreuz und quer durch Canton. Dann k a m e n wir in die „Laternenzeile", eine wirklich große Straße mit vielen Geschäften. Viele hatten Waren, viele hatten nichts. Ich erinnerte mich an einen köstlichen Laden von früher, an ein Gewölbe voll w u n 106
derbarster Elfenbein- und Specksteinschnitzwerkzeuge, voll herrlicher Seidenteppiche, gewoben vor J a h r hunderten oder Jahrtausenden. Und wo war das G e wölbe des J a d e - u n d Edelsteinhändlers? Wo des Goldund Silberschmiedes? Wo waren die anderen? Die Läden waren noch da. Aber statt schöner K u n s t werke w a r e n moderner Kitsch aus versilbertem Metall, Glasperlen aus der Tschechei und dergleichen billiges Zeug ausgestellt. Ich unterließ es weise, Doktor Shi zu fragen, wohin die früheren Kostbarkeiten gekommen seien . . . „Seidenkissen zur behaglichen Muße" w a r eine saubere, landesübliche Herberge bester Art und von der Regierung beschlagnahmt worden. Die hier w o h n e n den Gäste hatten alle ein militärisches oder politischwirtschaftliches Amt inne. Die Stubentüren waren offen; hinter Schreibtischen mit Telephonen und Schriftstücken saßen geschäftige junge Leute, oder sie liefen wichtig durch die Korridore. Überall hingen wieder große Bilder Maos. Ich bekam ein nettes Zimmer, und Doktor Shi stellte sofort telephonische Verbindung mit dem etliche tausend Kilometer entfernten Nanking her. Nach einer Viertelstunde hörte ich die mir unvergessen gebliebene Stimme, und ich rief in die schwarze Muschel: „Wanfu! Bist du gesund?" Ich hörte sie lachen und antworten: „Wanfu - zehntausendfaches Glück!" Dann redeten wir, und ich w a r verlegen, wie immer, wenn ich telephoniere. Der lächelnde Doktor Shi saß im Korbstuhl und rauchte versonnen eine Zigarette. Als ich den Hörer auflegte, fiel mir ein, daß ich vieles, was ich fragen wollte, vergessen hatte. Die alte, e h r würdige, kluge Tai-Tai w a r vor dem Sturz der Zentralregierung friedlich in ihrem seidenbespannten T h r o n sessel gestorben, nachdem sie noch alle Kommunisten verflucht hatte. Silberdistels Vater, der - wie ich seinerzeit von Quong erfahren - gute Verbindungen mit Mao gepflogen hatte, bekleidete eine hohe Stellung im Handelsministerium. Quong aber war einer der fast allmächtigen Generalinspekteure für Wirtschaft und Aufbau. Silberdistel selbst hatte eine Professur an der riesigen Universität in Nanking. Ihr Vater, der seinen ganzen Besitz dem Staat zur Verfügung gestellt hatte, durfte das L a n d 107
haus am Jangtse behalten. Sie meinte, daß wir uns dort treffen könnten, da die großen Ferien für sie bald beginnen würden. Es sei zwar üblich, daß die Studenten beider Geschlechter mit vielen gesundheitlich dazu tauglichen Lehrkäften w ä h r e n d der Ferien entweder auf dem Land oder in Fabriken arbeiteten, oder aber in den Ferien militärisch gedrillt würden - doch gäbe es Ausnahmen! Ich dachte, daß unser Stelldichein eigentlich von Freund Quong abhinge, denn sonderbarerweise freute ich mich auf ihn m e h r . . . Die Verbindung mit H a n k a u kam zustande; wir riefen uns gegenseitig „Wanfu!" zu, und d a n n verkündete er mir eilig, daß er in wenigen Tagen nach Canton käme. Doktor Shi w ä r e ein sehr netter Kerl und w ü r d e mich sicher solange betreuen. Ich könne jedoch auch allein in der Stadt umherwandern. Doktor Shi leistete mir beim Essen Gesellschaft. Er entpuppte sich als ein kluger und belesener Mann mit viel Humor. Als wir nachher einen sehr dünnen Kaffee in dem leeren Speisesaal schlürften, beantwortete er mir prompt alle Fragen und hielt auch mit Kritik an der eigenen Regierung nicht zurück, obwohl er das Abzeichen der kommunistischen Partei am Rockaufschlag trug. Für jemanden, der schon in China war, bietet Canton keine eigentlichen Sehenswürdigkeiten. Die schöne, hohe, a u ß e r h a l b der Stadt auf dem Hügel stehende P a gode kannte ich, ebenso das interessante Bild des Perlenflusses, auf dessen gelbbraunem Wasser mehrere Hunderttausende von Menschen ihr ganzes Leben in Booten aller Art verbringen. „Vorhin glaubte ich in einer Verkaufsbude englischamerikanischen Tabak gesehen zu haben. K a n n man so etwas hier wirklich haben?" „Mit einiger Mühe, ja, denn wir sind dicht an der Grenze. Der Schwarzhandel blüht zu Wasser und auf dem Lande. Auch ist der Versand von Liebespaketen aus Hongkong außerordentlich groß. Beides, sogar den Schwarzhandel, erlaubt Mao; allerdings n u r notgedrungen. China w a r für seine Volksmassen seit u n denklichen Zeiten kein Schlaraffenland. Jetzt aber zählt jedes Pfund Reis oder Fett, das von d r a u ß e n unentgeltlich hereinfließt." 108
„Hat die Revolution von Mao viele Todesopfer gefordert?" „Offiziell, also durch Gerichtsverfahren, eigentlich wenige, k a u m den zehnten Teil irgendeiner N a t u r k a tastrophe, wie China sie alljährlich erlebt. Durch erregte Volksmassen auch weniger, als angenommen wird! Aber Sie wissen selbst, was der Mob ist! Und poltische Gefangene, die erschossen w u r d e n ? Gab es n a türlich auch. Alles in allem, glaube ich, unter unsern acht- oder neunhundert Millionen Menschen gab es einige zehntausend Tote. Viele politische Gegner Maos aber stecken noch in Gefängnissen und Lagern", fügte er freimütig hinzu. „Dort wäscht man ihr Gehirn?" „Man versucht, sie umzuerziehen. In manchen Fällen ist das unmöglich. Ich danke Gott, d a ß ich in meinem Ressort nichts mit solchen Angelegenheiten zu tun habe. Es ist schwer, über andere Menschen zu urteilen, und sie zu langjähriger Haft oder gar zum Tode zu verdammen, n u r weil sie eine andere Gesinnung haben!" sagte er ernst. „War es von Ihrem Standpunkt aus ein Fehler, daß Sämtliche weißen Kaufleute freiwillig oder unter Zwang das Land verließen?" Er verneinte energisch: „Durchaus nicht! Es dürfte Ihnen bekannt sein, welche enormen Einnahmen sie in China h a t t e n und daß es unter ihnen auch eine gewisse Anzahl Unehrlicher - sagen wir Gauner - gab, die sich in wenigen J a h r e n Chinaaufenthalt finanziell g r ü n d lich erholten. Nun, das, w a s bisher die Fremden v e r dienten, können unsere eigenen Leute auch tun. Natürlich geht das nicht von heute auf morgen. Wir hätten es gerne gesehen, w e n n in den großen Städten, wie zum Beispiel in Shanghai, etliche weiße Unternehmer geblieben wären. Sie hätten sich allerdings mit geringerem Profit begnügen müssen, und das wollten oder konnten sie nicht. Also ist es wohl besser, wenn sie einige Zeit fernbleiben. Man sagt, wir h ä t t e n China mit einem eisernen Vorhang umgeben; das m a g in dieser Beziehung wohl w a h r sein. Eigentlich aber ist es nach meiner Meinung der Westen, der diesen Vorhang schuf und der unsere Grenzen und Häfen als tabu erklärte. In dieser Beziehung ist allein England vernünftig und weitblickend, und unsere gegenseitigen Handelsbezie109
hungen sind in langsamem Steigen begriffen." „Das genügt doch wohl aber nicht?" „Nein, doch es bahnen sich bereits Beziehungen mit dem benachbarten J a p a n an. Um auf England zurückzukommen: Wir exportieren Eier dorthin, auch Trokkenei usw." „Herrscht wirklich noch Not unter der chinesischen Bevölkerung?" Wieder antwortete er mit erfreulicher Offenheit: „Gewiß. Aber nicht mehr als in den letzten J a h r e n unter Tschiang Kai Sheks Regierung. Nur n a n n t e man das damals anders! Wenn damals in den westlichen Provinzen und im Norden Hunger herrschte, so n a n n ten es die Zeitungen einfach eine der immer wiederkehrenden Katastrophen Chinas, die mit Ernteausfall zusammenhängen, hervorgerufen durch u n e r w a r t e t e Dürre, Sandstürme, Heuschrecken und die primitiven Transportmittel! Über uns aber wird im Ausland geschrieben, ganz China ist am Verhungern, weil die neue Regierung katastrophale Fehler macht. - Natürlich werden Fehler begangen; sind wir etwa Götter?" Ich stieß eine Qualmwolke aus und fragte vorsichtig: „Welche Fehler? Oder dürfen Sie das nicht sagen?" Verwundert lachte er: „Hören Sie zu: Zuerst verteilten wir zur Freude armer Bauern das Land. Wir n a h men den Großgrundbesitzern ihren Besitz weg, um ihn den Armen zu geben." „Und weiter?" „Dann führten wir bei den Bauern nach sowjetischem Vorbild die Kolchosen ein; aber das erwies sich bei uns wie bei den Russen als verkehrt. Kein Land k a n n ein solches System auf die Dauer behalten und dabei erwarten, Ernteüberschüsse zu erzielen. China schon gar nicht! Jeder echte Bauer liebt sein Land; er will lieber weniger essen, aber dafür Land, und wenn es als wertloses Zipfelchen zur Abrundung dient, dazukaufen. In unseren Bauern lebt jahrtausendealte T r a dition! Sie arbeiten einfach nicht richtig, w e n n das Land nicht ihr Eigentum ist. Sie liefern absichtlich, aber ohne daß m a n sie dafür belangen könnte, schlechte Ernten ab. Nun geben wir jedem Bauern außerhalb der Kolchosenäcker ein Stück Land, das ganz und gar sein Eigen ist und mit dem er nach Gutdünken schalten und hal110
ten kann, wie er will. Damit ist das Problem nicht gelöst. Aber das ist ein Anfang der Abkehr von dem verhängnisvollen Kolchosensystem, das noch immer existiert und unter dem sich der chinesische Bauer ducken muß. Die Regierung würde nämlich ihr Gesicht verlieren, wenn sie anders handelte." „Nun etwas anderes: Warum wurden alle europäischen oder amerikanischen Missionen, ihre Schulen, Werkstätten und Lazarette geschlossen und die sehr uneigennützigen Patres, Nonnen, Lehrer und Ärzte aus dem Lande gejagt? Manche wurden ermordet, andere saßen im Gefängnis und wurden sehr unwürdig behandelt. Diese Menschen taten doch nichts Böses, ganz im Gegenteil!" „Auch das war, meine ich, ein Fehler! Doch gibt es in Peking s t a r k e Strömungen, die das richtig fanden!" Er zuckte die Achseln. „Sind alle Tempel und Kirchen geschlossen?" „Nein! Nach der ersten Umwälzung k a m es zu Zerstörungen und Besudelungen; doch jetzt beginnt sich alles wieder langsam einzurenken. Ich sage, und es gibt viele, die so denken: Ob Buddha, Laotse oder Fo, hinter allem steckt Gott. Meine Eltern sind Christen, und ich gehöre auch zu den Christen; aber m a n verfolgt uns deswegen nicht, obwohl wir viel Spott zu ertragen h a ben. Es w a r sehr schlimm damals, als der Mob glaubte, die Macht w ä r e sein!" Dieser junge Doktor Shi w a r also ein braver und freimütiger Mann! Als ich andeutete, daß meine F r a gerei ihn doch ermüden könne, wehrte er energisch ab. „Um Ihre Fragen zu beantworten, w u r d e ich Ihnen beigesellt! Ich m u ß nämlich einen Bericht über Sie verfassen." Ich fragte also weiter: „Opium?" „Anbau, Verarbeitung und Einfuhr stehen unter Todesstrafe. Bei diesen drakonischen Maßnahmen, die unerbittlich durchgeführt werden, glaube ich kaum, daß es im heutigen China noch viel ,Tschandu' gibt. Unter den jungen Leuten gar nicht. Was die Alten betrifft, die das Opiumrauchen nicht lassen können und es sich oft auf die abenteuerlichste Weise verschaffen, so werden die einfach erschossen, w e n n man sie erwischt; die, welche man nicht fängt, sterben aus. Unse111
re Jugend h a t ganz andere Probleme, als sich Verstand und Gesundheit in Rauschgiftträumen zu ruinieren. Die Aufklärung darüber ist umfassend und intensiv." „Erzählen Sie mir etwas über den Kleinhandel, über die Verkäufer und ihre Läden!" „Zuerst wollte man alle Geschäfte kollektivieren; m a n versuchte es auch in der Praxis; aber das ging einfach nicht, weil die staatlichen Lebensmittelstellen, in denen alles zusammenfließen sollte, schlecht oder gar nicht funktionieren können, solange das Land nicht mit einem Netz einwandfrei arbeitender Verkehrsmittel überzogen ist. Ich denke, daß sich eines Tages dieses Problem von selbst lösen wird. Vorerst behält Mao die staatlichen Verteilungsstellen, duldet aber den Kleinhandel, der allerdings scharf überwacht wird, um Hamsterkäufen vorzubeugen. Genau so, wie wir den Schwarzhandel scheinbar dulden, ihn aber ü b e r w a chen, falls er ausarten sollte. Trotz allem sind wir enthusiastische Kommunisten!" Ich stellte ihm eine Falle und sagte: „Also genau wie die Russen!" Er machte eine großartige Geste: „Die Russen? Nein, Bruder Iwan - er ist immer noch unser Bruder - ist nach unserem Ermessen kein Kommunist mehr, höchstens Sozialist!" „Womit Bruder Iwan meiner Meinung nach sehr weise tut!" b r u m m t e ich. Überlegen lächelte Doktor Shi: „China w ü r d e sich im Notfall auch allein durchsetzen. Übrigens nennen uns die Inder auch Brüder!" „Sind aber auch Sozialisten, nicht Kommunisten!" Ich stopfte eine neue Pfeife und zündete sie an. Nun ging er dazu über, mir Fragen zu stellen: „Was halten Sie von Tschiang Kai Shek?" „Eigentlich schwer zu sagen! Eines steht fest: Er hatte viele Chancen, w u ß t e sie aber nicht festzuhalten. Dies w u r d e ihm allerdings auch durch den japanischen Einfall sehr erschwert!" „Sind Sie der Meinung, daß der Generalissimus eines Tages versucht, auf dem Festland wieder Fuß zu fassen?" „Auf dem Festland? Ich hielt den Marschall noch nie für einen T r ä u m e r oder Opiumraucher, obwohl es heißt, daß n u r die USA, die einen zweiten und viel grö112
ßeren Konflikt nach koreanischem Muster vermeiden wollen - weil daraus möglicherweise ein Weltkrieg entstünde -, ihn von der Landung abhalten. So k a n n man es zuweilen in unseren westlichen Zeitungen lesen! Wie gesagt, Tschiang hat auf Taiwan eine Million ,menschlicher Kampfmaschinen' mit allem technischen Zubehör stehen. Dazu eine Garnison auf der Insel Quemoy oder Kimoi, direkt vor eurer Nase ..." Er holte lächelnd eine chinesische Zeitung aus der Rocktasche: „Wissen Sie, was hier in Schlagzeilen steht?" Er übersetzte aus dem Stegreif: „Syngman Rhee abgesetzt! Militär- und Studentenrevolution Südkorea! Die neue Regierung gefestigt! Amerikanische Zustimmung!" „Ich äußere nur die Meinung des Mannes von der Straße! Syngman Rhee ist übrigens kein hombre m u y simpatico!" sagte ich dagegen. „Der Koreakrieg k a m Amerika teuer zu stehen, und man fragt sich, wozu. Also wird Tschiang Kai Shek eines Tages doch einen Versuch wagen." „Ich sagte Ihnen doch, daß er das wohl nicht kann, weil er stark von Washington abhängt; sonst hätte er schon lange das große Hasardspiel auf Gedeih und Verderben gewagt. Aber erzählen Sie mir noch ohne Umschweife, wie es mit der E r n ä h r u n g der chinesischen Menschenmassen steht." „Nicht glänzend. Es k a n n sogar, wie vermutet wird, noch viel schlimmer kommen. Uns fehlt so manches. Doch werden wir auch das überstehen." Ich streckte meine F ü ß e aus: „Wollen wir ein wenig in der Stadt bummeln. Doktor Shi?" „Gerne! Mit dem Ford?" Gefällig lächelnd ging er voran . . .
TSAI-TSAI Ich holte den Freund Quong vom Flugplatz ab. Sein Gesicht w a r im Laufe der Trennungsjahre schärfer, ernster und von Falten tiefer gezeichnet worden. Nur die Augen verleugneten den alten Schalk nicht. Jetzt strahlten sie in ehrlicher Freude. „Wanfu! Wanfu!" Er 113
hielt die geballten Fäuste in Brusthöhe. Nach dieser altchinesischen Begrüßung schüttelte er mir kräftig die Rechte. Bisher fühlte ich mich fremd und befangen in Maos Reich; doch erloschen diese Gefühle beim Anblick meines alten, lustigen Freundes! Nach der ersten Begrüßung wollte Quong wissen, ob ich fleißig jeden Abend mit Silberdistel Liebesepistel austausche, ob ich mit Doktor Shi zufrieden sei und wie mir Chinas neues Gesicht gefalle. „Mein Begleiter blieb im Gasthof, verschaffte mir aber dieses Vehikel mit Chauffeur. Also ein Dienstauto!" antwortete ich. Nach alter Sitte unausgesetzt h u pend, steuerte der Ford durch das Gewimmel. Mein Blick fiel auf eine dichte Menschenansammlung, auf die unser Wagen im Schneckentempo zufuhr. Da stand auf einem aus Kisten und Brettern gebildeten Podium ein verrunzelter, weißbärtiger Greis mit gefesselten Händen. Zu beiden Seiten standen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Neben ihm bewegte sich ein quecksilbriger junger Mensch im grauen, einfachen Kittel. Er redete lebhaft, schrie auf die einen Halbkreis bildende, teils lachende, teils fluchende u n d pfeifende Menge ein und wies wiederholt mit drohender Geste auf den Gefesselten. „Tsai-Tsai, bravo!" brüllten die meisten. Quong warf einen Blick auf die Szene und sagte gleichmütig: „Ein Volksgericht!" Unser Wagen blieb in der Menge stecken. Sie weigerte sich, uns „schmutzigen Kapitalisten" Platz zu m a chen. Quong zuckte resigniert die Achseln und zündete sich eine Zigarette an. „Volksgericht? Wird dieser Alte auf offener Straße verhört?" „Verhört ist er wohl längst, und er ist auch seiner Schuld überwiesen. Man zeigt aber derartige Delinquenten zuweilen in der Stadt und auf dem Lande dem Volk. Der Sprecher verkündet die Missetaten des Alten und fragt die Menge um ihre Meinung. Ich weiß schon, was du einwenden willst und verstehe das auch; aber bedenke, du bist in China!" Ungeheures Gelächter prallte gegen die Häuserfronten. „Was schrie der Ausrufer eben?" „Er n a n n t e ihn Schan-Fu, alter höchster Vater, w o 114
mit früher nur die Kaiser angeredet werden durften!" erklärte Quong. Wieder herrschte Stille, durch die des Ausrufers helle Stimme schnitt. Der Delinquent verzog keine Miene; er starrte aus seinen alten Augen in unwirkliche Fernen. Maskenhaft starr und unbeteiligt wirkten die jungen Gesichter der Soldaten. Das Volk lauschte. Dann pfiffen und schrien die Menschen: „Tsai-Tsai!" „Es ist ein Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, der unter dem früheren Regime durch Mohnbau für Opium reich geworden ist!" übersetzte Quong. „Aber ihr seid doch schon jahrelang am Ruder!" „Die Wurzeln des alten Lasters sind schwer auszurotten. Dieser Mann versuchte auch heute noch, ein Mohnfeld anzulegen; er hatte es mitten in Baumwolläckern versteckt." „Was geschieht mit ihm?" „Der Richter h a t ihn zum Tode verurteilt. Dies ist jetzt n u r ein nachträgliches Schauspiel für das Volk. Auf dem Land kommt es übrigens bisweilen vor, daß einer den Wachen entrissen und zertrampelt wird!" Endlich schien m a n des unwürdigen Schauspiels müde. Mit chinesischer Gelassenheit setzten sich die Soldaten in Bewegung und formierten einen Umzug. In ihrer Mitte, die Augen immer noch in ferne Weiten gerichtet, schritt der Verurteilte. Das so gänzlich unbeteiligte Gesicht ließ vermuten, daß ihm sein weiteres Schicksal gleichgültig geworden war. „Quong, mein Freund, sag mir, wohin bringen sie ihn?" „Nachdem das Volk seine Neugier befriedigt hat, wird er ins Gefängnis zurückgeführt, und zwar zur Exekution im Gefängnishof. Er wird gehängt oder erschossen! Kümmere dich nicht darum!" „Quong, laß uns schnell fortfahren!" Er zog ein Schrifttäfelchen aus der Tasche, hielt es dem Nächsten dicht unter die Augen, schrie ein p a a r Worte, und der Chauffeur ließ ununterbrochen seine Hupe tönen. Man w u r d e aufmerksam auf uns. Einige konnten lesen und verbeugten sich; andere winkten uns freundlich, u n d etliche schnitten wütende Grimassen oder streckten die Zunge heraus. Bereitwillig öffnete sich 115
jedoch eine Gasse, in der wir weiterfahren konnten. Aus einer breiten Avenue quoll ein geordneter Zug junger Männer und Mädchen. Riesige P l a k a t e mit Maos Bild trugen sie voran. Sie marschierten singend vorbei. Es w a r e n viele Tausende, wir m u ß t e n lange warten. „Das sieht sich schon besser an!" sagte Quong stolz. „Aber von Gesang und Massendemonstrationen wird man auf die Dauer nicht satt", warf ich ein. „Aber solche Aufmärsche sind für uns Ausdruck der Hoffnung", sprach er versonnen. Im Gasthof erregte die Ankunft eines höheren P a r teifunktionärs Aufsehen und Geschäftigkeit. Die Beamten und Sekretärinnen kamen aus ihren Büros gelaufen. Manche grüßten mit geballten Fäusten oder mit der eigenen Rechten die Linke drückend. Die Mehrheit hielt sich ans Händedrücken auf unsere Art. Man konnte jedenfalls merken, daß Quong ein großer Mann in China geworden war. Das freute mich, weil er doch einer der anständigsten Menschen war, die ich auf meinen Reisen getroffen. Ein p a a r wehmütige Gedanken packten mich, erinnerten mich an die alten Abenteuer, als wir uns nach H a n k a u durchschlugen . . . Doktor Shi verabschiedete sich von uns. Er mußte nach Anking, eine Großstadt am Jangtse in der P r o vinz Anhwei, Hunderte von Kilometern von Nanking, wo meine Silberdistel dozierte. Wir speisten gemeinsam mit den Beamten. Das Essen w a r einfach, aber schmackhaft. Hier w a r von Mangel nichts zu merken; allerdings hätten die Portionen etwas größer sein dürfen! Quong w a r einer der wenigen, der aus Prestigegründen - oder um mir eine Freude zu machen - das alte chinesische Sattsein durch kräftige Rülpser ausdrückte. Nachher versuchte ich, in Nanking anzurufen und bekam zur Antwort, daß Silberdistel einer Sitzung beiwohne. Ich möge sie am nächsten Abend nochmals a n rufen. Behaglich saßen wir in den Korbstühlen, rauchten, plauderten und nippten goldgelben Tee. Niemand gab uns, wie es sonst in Ostasien üblich ist, in w a r m e m Wasser ausgedrückte Handtücher, um das Gesicht abzukühlen. Aber schließlich geht die Welt nicht unter, wenn derartige Bequemlichkeiten wegfallen. 116
„Hier, deine Anstellung als Bergwerksingenieur!" sagte Quong und reichte mir dabei ein vielfach gestempeltes Schreiben. „Dein Gehalt wird später endgültig festgesetzt, aber USA-Dollars darfst du nicht e r warten! Vielleicht können wir durchsetzen, daß du R u bel bekommst. Vorläufig bist du Gast der Volksrepublik. Du kannst und sollst dich ein wenig umschauen. Es wird gearbeitet bei uns wie überall!" „Soll ich nach Nanking?" entfuhr es mir, und ich w a r nicht sehr hoffnungsfroh. Er lächelte: „Vielleicht später. Dort fangen bald die Semesterferien an, und Silberdistel, mit der ich telephoniert habe, wird zu uns kommen. Freust du dich?" „Ihr chinesischen Geheimniskrämer! Ja, ja, hm, ich freue mich." Er schenkte mir ein Päckchen Navy Cut, bedeutete mir aber gleichzeitig, d a ß der Vorrat nicht unerschöpflich sei. Dann tauschten wir weitere Erlebnisse aus. Schließlich wollte er wissen: „Du bist also überzeugt, daß am Tai-Hu kein Erdöl vorkommen kann?" Er sprach damit den urtümlichen Namen des heute überall Tungtingsee genannten großen Wasserbeckens aus. „Nichts! Oder denkst du etwa auf der dortigen großen Insel Tungtingschan? Nein - dieser ,Grottenschloßberg' birgt keine flüssigen Mineralgeheimnisse. Eher könnte man Bohrungen im See selbst vornehmen. Etwa wie bei Maracaibo." „Zu kostspielig und kompliziert. Vorläufig! China hat kein Geld für solche Experimente und verfügt auch nicht über die notwendigen teuren Maschinen. Gott sei Dank besitzen wir unerschöpfliche Menschenreserven. Starke Arme! Die ersetzen vorläufig alle Maschinen!" erklärte Quong. Das Telephon schrillte. Er nahm den Hörer ab und lauschte. Seine Miene w u r d e ernst, d a n n knallte er das Instrument auf die Gabel und stieß kräftige Flüche aus. „Auch das noch! W a r u m können sie nicht warten?" „Was ist los?" „Nur im Vertrauen gesagt", seine Stimme w u r d e leise, „unsere Truppen sind in Tibet eingedrungen. Infanterie, Panzer und Flieger; sie bombardieren bereits Lhasa." „Was h a t Tibet euch getan?" 117
„Psst! Mao ist ein kluger Mann. Aber es gibt Generäle mit Einfluß, die wollen die Koreaschlappe auswetzen; denn ein Fiasko w a r es. Und so unnötig! Es sei denn, daß wir zuviele Mäuler hätten! - In Tibet haben sie natürlich leichtes Spiel. Der Dalai Lama oder der P a n t schen ist auf der Flucht nach Indien. Und das Argument Pekings heißt: Tibet war früher einmal kaiserlichchinesisch." „Und muß nun kommunistisch-chinesisch sein! Wenn solche ausgebuddelten Argumente etwas wert wären, so m ü ß t e n die Atlanten alle fünf J a h r e geändert werden. Und w a s wollt ihr eigentlich mit den eisigen Bergen und den unwirtlichen Wüsten Tibets?" fragte ich aufgebracht. Er flüsterte: „Die tibetanische Grenze nach Indien im Transhimalaya ist von Bergen und einigen Pässen geschützt. Wer die besetzt hat, vor dem liegen Bhutan, Nepal, Kaschmir und die Ebenen Assams, die Zugänge zu den Tälern der großen indischen Flüsse und Ebenen. Aiih, diese Militaristen!" „Aber ihr seid doch Nehrus engste Freunde?" fragte ich einigermaßen entsetzt. „Sind wir auch. Doch soll es Geheimpläne geben. Hoffentlich kommen sie nie zur Anwendung. Blödsinn, als ob wir im eigenen Land nicht genügend Sorgen hätten! Die Zeiten, in denen man dem unzufriedenen Volk militärische Pyrrhussiege in den Rachen stopft, sind vorüber!" erklärte Quong leise. Er strich sich über die Stirn und sagte d a n n laut: „Jetzt wollen wir uns mit angenehmeren Dingen beschäftigen. Sag, warst du jemals in der ,Schamo' oder ,Gobiwüste'?" „Nein! Aber sie gehört doch heute zur Innern Mongolei mit einer eigenen Regierung. Und die Ho-Tao doch auch?" „Das erste stimmt, doch sind wir mit der Mongolei eng befreundet, obwohl sie in manchen Dingen m e h r zu Rußland neigt. Die Ho-Tao oder Ordosteppe und -Wüste ist unser Gebiet. Glaubst du, daß es dort Erdöl gibt?" „Ho! Läuft der Pekinghase so? Um einen Vergleich zu ziehen: Die afrikanische Sahara liegt zwar tiefer, teils sogar unter Meeresniveau — was schon viele phantastische Pläne seit Jules Verne hervorbrachte — doch 118
wäre kein Geologe überrascht, wenn in der Gobi oder in der benachbarten Ho-Tao in großer Tiefe unermeßliche Petroleumbecken lägen. Soll ich dort bohren? Das würde mir große Freude bereiten!" „Vielleicht! Gott und Peking wissen es! Du sollst dich erst im Lande umsehen. Unsere Ingenieure, die mit Erfolg experimentierten, behaupten, daß die Gobi und Ordos nicht nur Erdöl, sondern auch unterirdische Flüsse und Seen aufweisen." „Klar! Bohrst du tief genug, so findest du überall Wasser. Sehr tief! Sagen wir bei zehntausend Meter. Es ist aber keine Kleinigkeit, auch nur einige tausend Meter tief zu bohren!" gab ich zu überlegen. Die Tassen füllend, sagte Quong gewichtig: „Abgesehen vom Öl sind wir dabei, die heutige Wüste zu kultivieren und in einen blühenden Garten zu verwandeln. Die Steppe wird umgegraben, und es sollen riesige Staubecken angelegt werden. Für Reisanbau ist es dort oben zu kalt, aber Kaolianghirse gedeiht prächtig. So könnte die Ho-Tao zu einer künftigen unermeßlichen K o r n k a m m e r Chinas werden!"
WIE SIE LEBEN „Wie ein Verliebter benimmst du dich gerade nicht!" meinte Quong. „Ich habe mich w ä h r e n d der ganzen J a h r e nach Silberdistel gesehnt. Und wie habe ich mich gefreut, als ich neulich wieder ihre Stimme hörte. Und dennoch . . . " Fragend schaute mir Quong in die Augen: „Ist da irgend eine F r a u in Europa?" „Nein, ich liebe das Mädchen, wie ich es in der Erinnerung habe. Du weißt: das kleine nette Landhaus am Jangtse, der rote Pavillon und . . . Aber ich habe Angst! Wenn sie sich so verwandelt hat wie dieses Land, dann..." „Sie wird nicht anders sein als damals. Höchstens noch hübscher. Die alte, ehrwürdige Tai-Tai hat von den Quellen der Dunkelheit getrunken und ruht nun auf den Terrassen der Nacht. Der Vater und die ü b 119
rigen Verwandten arbeiten für das neue China und sehen bestimmt kein Hindernis für etwaige Absichten von euch. Die Tai-Tai n a h m alle Hindernisse mit sich ins Grab!" „Das dachte ich mir schon. Aber, aber . . . " „Warte, bis es soweit ist! - Weißt du, woran ich oft denke? An den alten Ta Lama auf dem Wolkenrücken. Ob er wohl noch lebt?" „Der H u t u k t u schien mir nicht ein Chinese zu sein, der vor einer Revolution davonläuft." „Ein guter und weiser Mann! Hast du Lust, ihn zu besuchen?" „Das w ä r e fein! Der alte Herr ist mir ans Herz gewachsen; auch seine Prophezeiungen sind eingetroffen." Quong rechnete an den Fingern ab: „Von hier aus bis nach Siangtan oder Tschangtscha fliegen wir. Dort bekommen wir Regierungspferde oder Maultiere. Ein Abstecher w ü r d e drei, höchstens vier Tage kosten. Hernach treffen wir Silberdistel, inspizieren einige Fabriken, Hospitäler und Kinderkrippen, schauen in den Dörfern nach, ob die Trottel immer noch ihre Hochöfen brennen und so weiter. Wir fliegen d a n n oder nehmen die Bahn nach Taiyüan in Schangsi. D a n n fliegen wir von dort bis Yulin an der Großen Mauer oder vielleicht geradewegs ins Lager der Ordossteppe." „Hei, Freund Quong, erinnerst du dich, wie wir damals zu Fuß wanderten?" „Das w a r schön, oh so schön! Eigentlich schade, daß wir ,große Herren' geworden sind." „Gibt es denn noch Herren bei euch?" Lachend drohte er mit dem Finger. D a n n sagte er: „Ich sehe, du bist praktisch eingestellt und hast deinen Koffer in Hongkong gelassen. Packe also deinen Sack, während ich mich mit der Fluggesellschaft befasse." Siangtan: chinesische Großstadt, an der Mündung des Lien Shui in den breiten Siangkiang! Quong kam von seinen Amtsgeschäften, die er sogar während des Urlaubs ausübte, zurück und sagte fröhlich: „Heute bekommen wir einen Jeep zum Umherfahren. Ich will dir nämlich einige Kollektivfabriken zeigen. Und morgen gibt es Pferde, und wir besuchen den Ta Lama! Die meisten Straßen und Wege zum Wol120
kenrücken sind, wie du weißt, auch für einen Jeep n u r stellenweise befahrbar. Also Pferde! - Übrigens: Hier, triff deine Wahl!" Er öffnete einen einheimischen, aus Reisstroh geflochtenen Koffer von jener praktischen leichten Art, die auch J a p a n exportiert. Der Inhalt bestand aus Pistolen und gefüllten Munitionsgürteln . . . „Brauchen wir solches Zeug in e u r e m neuen China?" „Wir müssen tief in die Bergwildnis hinein!" w a r Quongs Antwort. „Laß also sehen, w a s von diesen mir v e r h a ß t e n Mordwerkzeugen b r a u c h b a r ist!" fügte ich mich. Es w a r e n russische Nagans sowie deutsche und j a p a nische Mauserpistolen aus Vorkriegzeiten, aber deswegen nicht minder gut. Auch eine Anzahl a m e r i k a n i scher „Smith & Wesson", Kaliber 38, w a r vorhanden. Ich n a h m zwei von diesen Pistolen. „Die Läufe sind zu lang. Laß bitte etwa zwölf Zentimeter in der Werkstatt absägen. Ich will die Dinger nicht wie ein Hollywoodheros an der Hüfte baumeln lassen, sondern sie rechts und links in der Rocktasche verstauen", sagte ich. „Gleich zwei? Aber du sollst deinen Willen haben. Vermutlich kannst du durch die Tasche schießen", grinste Quong. „Klar, das k a n n ich. Ich hatte einmal den Ehrgeiz, Meisterschütze zu werden. Long, long ago!" Am Nachmittag fuhren wir zu den Fabriken. Ein ganz neues Stadtviertel mit breiten Straßen und langen, vierstöckigen Wohnblöcken w a r da im Entstehen begriffen. Vor den Gebäuden herrschte lebhafter Verkehr. „Dort, eine neue Hochschule!" erläuterte Quong. „Prächtig, alter Junge, so etwas freut mein Auge. Ist mir lieber als eine Kaserne. Und die Fabriken dort hinten?" „Spinnereien! Wir befinden uns im Baumwollgebiet." Wir fuhren an einem Block vorbei, der vor seiner Vollendung stand. Fenster und T ü r e n waren noch nicht eingesetzt. Arbeiter und H a n d w e r k e r sah ich nicht. Vielleicht m u ß t e n sie gerade wieder marschieren. Auf einmal w a r es, als sei eine Fliegerbombe niedergesaust. Ungeheuerlich krachend u n d prasselnd brach der ganze noch unbewohnte Wohnblock in sich zusam121
men! Dann folgten ein sausender Luftzug und schließlich erstickende, lähmende Stille. Plötzlich wurde es halbdunkel wie bei einer Sonnenfinsternis. Das rührte vom Kalkstaub her, der erst zu schweren Wolken aufwirbelte und dann in der Luft hängen blieb. Es wurde uns schwer, zu atmen. Instinktiv hatte unser Chauffeur angehalten. Aus dem Schweigen w u r d e das Geschrei aus zehntausend Kehlen nah und fern, gemischt mit dem dröhnenden Läuten der Feuerwehr. Kalkstaub hing, mit seiner weißen Farbe das Tageslicht verdunkelnd, ätzend in der Luft. Quong schimpfte, wie ich es noch nie von ihm gehört. Seine Worte schnitten wie Messer: „Verdammtes Saupack! Hurenbande! Schweinsgedärme und Dämonen aller Kloaken!" Hustend erklärte er mir: „Beinahe jeder Maurer, der in die Partei eingetreten ist, führt derartige Bauten aus, die Geld, Arbeitskräfte und Material verschlingen, und dann, fast fertig wie hier, fällt plötzlich der ganze schöne ,Prunkkuchen' zusammen, weil m a n die vorhandenen Architekten an die verkehrten Arbeitsplätze stellt." Laut hupend versuchte unser Chauffeur weiterzufahren; der Kalkstaub w u r d e lichter, die Sonne sah aus wie ein Nebelmärchen; und auf einmal befanden wir uns inmitten einer entsetzten Menschenmenge. Man sagte uns, d a ß niemand verletzt sei, weil die Arbeiter nicht im Block waren. Als wir endlich ans freie Sonnenlicht kamen, waren wir kalkbestäubt, daß wir a u s sahen wie die Müller. Quong h a t t e sich beruhigt; er b r u m m t e entschuldigend: „Die jungen Leute, die in der kommunistischen Partei große Chancen haben, machen bisweilen furchtbaren Mist! Vor längerer Zeit hat es sich herausgestellt, daß aus purem Ehrgeiz und um ein vorgeschriebenes oder erstrebtes ,Soll' noch zu übertreffen, zu viele Fabriken gebaut wurden, die jetzt leerstehen oder als Notwohnungen dienen, falls sie nicht umgefallen sind, wie dieser herrliche Prunkwohnblock." „Lehrgeld wird überall bezahlt!" versuchte ich ihn etwas zu trösten." Wir hielten jetzt vor einem großen neuen Gebäude. Junge Krankenschwestern empfingen uns. Sie lachten uns zuerst aus, bedauerten uns dann und bürsteten uns zuletzt gründlich sauber. Wir erfrischten uns in dem 122
modernen Waschraum und duschten sogar, ehe wir den Rundgang antraten. Zimmer und Säle steckten voll Kinder, nach J a h r g ä n g e n eingeteilt. Von der Krippe mit schreienden Babys bis zu den Zehnjährigen, soweit diese nicht in der Schule lernten. Die Kinder wurden - mit Ausnahme E r k r a n k t e r - jeden Morgen von den Müttern hergebracht. Während diese d a n n in die Fabriken marschierten - alle einheitlich gekleidet -, betreuten Schwestern und Ärzte die Kleinen. Am Abend w u r d e n sie wieder heimgeholt. „Anfänglich, vor J a h r e n schon, blieben die Kinder bis zu jedem Wochenende; doch ist m a n davon abgekommen, weil Kinder in den meisten Fällen eben doch ihre Mütter brauchen!" erzählte mir eine kleine Pflegerin. Sie stammte aus Shanghai und h a t t e dort Englisch gelernt. „Die Zehnjährigen schon müssen hier politische Schulung mitmachen. Das ist Befehl!" flüsterte sie. Dann: „Überall haben wir derartige Kinderheime, n a türlich noch längst nicht genügend, aber immerhin . . . " Überall hingen wieder Bilder Maos. „Wie ist die E r n ä h r u n g ? " fragte ich. „Bis jetzt noch ausreichend, doch müssen wir mit der Milch sparen. Man h a t früher der Milchwirtschaft zu wenig Bedeutung beigemessen, das rächt sich nun. Die ,Rote Fahne' schrieb neulich, daß die versprochenen Wunderernten leider auch dieses J a h r ausgeblieben seien. Man säubert wieder einmal u n t e r den Beamten!" Quong kam mit der beleibten Matrone zu uns, als ich gerade meine hübsche Pflegerin fragte: „Habt ihr wirklich die Geburtenkontrolle eingeführt?" Sachlich antwortete sie: „Ja. Die jungen und j ü n g e ren F r a u e n kommen zur Kontrolle, besonders die A r beiterfrauen. Doch will ein Großteil des Volkes nichts davon wissen; es ist auch gar nicht zu registrieren." Die Matrone verschwand mit Quong im Spielzimmer, als es leise an mein O h r drang: „Ein ärztliches Studium ist heute schwer und lang. Auf der ganzen Welt ist es doppelt so schwer, als es vor dreißig J a h r e n war, u n d auch da w a r es kein Kinderspiel! Wir haben in China viel zu wenig Mediziner, weil man für das Studium und ein wenig Praxis in Hospitälern sieben bis zehn J a h r e rechnen muß. Hospitäler sind auch noch rar. Wir hoffen nur, daß es keinen wirklichen Krieg gibt! Mein 123
Bruder galt als unzuverlässig und wurde deshalb unter die Koreatruppen gesteckt. Wir hörten nie wieder etwas von ihm. Er gilt als gefallen. Und jetzt Tibet!" Quong k a m heraus: „Prächtig, he?" schmunzelte er. Ich schwieg. Vom Kinderheim ging es zu einer großen Spinnerei. Saubere, helle Säle; blanke, moderne Maschinen, Webstühle und in graue oder blaue Uniformtracht gekleidete Arbeiterinnen und Arbeiter. Gute Verpflegungs-, Wasch-, Küchen- und Aufenthaltsräume. Quong wollte wissen, w a s es zu Mittag gegeben hatte. „Reis, Dörrgemüse und pro Kopf eine Orange. Wir geben zweimal pro Woche Fleisch. Die Portionen dürften aber größer sein!" meldete die Oberköchin respektvoll. Verschwiegen w u r d e nichts; China litt an Lebensmittelmangel, und die Behörden gaben das zu. Überall von den Wänden aber lächelte Mao. „Das ist doch ein höchst übertriebener Personenkult!" sagte ich draußen einigermaßen empört. „Nicht so laut! Schließlich müssen die vielen Analphabeten, denen wir zu Leibe rücken, doch wissen, wer sie regiert! Natürlich ist manches übertrieben, aber das dauert nicht m e h r lange. Helft uns doch lieber, statt uns zu kritisieren!" „Oh, Quong, w a s macht aber eure Armee in Tibet?" „Sie bringen die Freiheit hin!" schrie Quong, ohne zu überlegen. „Ich bin neugierig, was der alte Hutuktu zu diesem Fall sagt, falls er noch auf seinem Berg haust!" Quong machte ein ratloses, unglückliches Gesicht: „Glaubst du, daß er fort ist? Das w ä r e schade!" Er b r u m m t e etwas Unverständliches und schwieg dann. Ich verstand ihn. Bisher w a r die damalige Weissagung des alten Lama eingetroffen! Beide h a t t e n wir die J a h r e überstanden, obwohl manchmal wirklich dicke Luft geherrscht hatte. Daß wir noch lebten, w a r w u n derbar! Nun verlangte Quongs aus alten und neuen Zutaten gemixter Aberglaube neue Prophezeiungen! Fast alle Chinesen, ob Christen, Buddhisten oder Mohammedaner, und ob sie nie den Fuß aus dem Heimatdorf gesetzt oder in Amerika und Europa studiert haben - alle glauben sie an übersinnliche Dinge, an Okkultismus, der sich in diesem sonderbaren, oft so grausamen aber doch auch liebenswerten Lande dement124
sprechend oft und für den Europäer unverständlich äußert. Man kann eine derartige Einstellung nicht einfach mit plumpem Aberglauben vergleichen; sonst würde m a n die unbestreitbare Intelligenz der Bewohner des Reiches der Mitte unterschätzen. Man muß sich wohl damit abfinden, daß in China Dinge geschehen, die m a n als Europäer nicht begreifen kann. Natürlich existiert auch in China eine Volksschicht, die an Hexen, Zauberer und dergleichen glaubt. Aber soweit man in die chinesische Vergangenheit zurückblicken k a n n : man h a t auch im alten China noch nie einen „Zauberer" und „Hexenmeister" lebendigen Leibes verbrannt. Quong ist ein außerordentlich kluger und gewandter Mensch. Er h a t eine sehr h a r t e Jugend hinter sich und konnte durch einen Glücksfall auf einer westlichen Universität studieren. Er kennt sämtliche Religionen seines riesigen Vaterlandes und achtet sie. Manchmal benützt er sie auch, indem er die guten u n d schlechten menschlichen Eigenschaften gegeneinander ausspielt. Er ist nämlich ein höchst gerissener Bursche! Aber in seelischer Beziehung ist er noch im reifen Mannesalter oft so naiv wie ein Kind! Solche Typen gibt es auch im Westen; aber in Asien sind sie häufig u n d in China alltäglich. Er w ä r e wirklich tiefunglücklich, w e n n wir den alten Ta L a m a auf dem Wolkenrücken nicht mehr a n t r ä fen! Und er war ebenso unglücklich über die bewußt zur Schau gestellte Gottlosigkeit verschiedener G r ö ßen seiner neuen Regierung . . . Unsere Pferdchen trappelten gleichmäßig über den harten, staubigen Weg durch die Hügel und die Bergwelt, die w i r beide als alte Freunde von damals wieder begrüßten. Auf dem Weg zum Wolkenrücken! „Die Kollektivierung der Bauern ist ein Fehlschlag. Man wird in dieser Beziehung zum alten System zurückfinden müssen!" gestand Quong unterwegs. „Das Alte ist nicht i m m e r gut, in diesem Falle aber doch. Der Bauer will sein eigenes Land, und wenn ihm dieses genommen wird und er es dennoch bearbeiten muß, d a n n pfeift er auf jede Regierung. I h r Chinesen hattet den Einfall, jedem Kolchosenbauern ein ganz kleines Stückchen Land als Eigentum zu schenken. Vorher w a r das aber in vielen Fällen sowieso sein Eigentum! Jetzt bekommt er als Kumtscha einen Bruchteil 125
seines Eigentums zurück. Meinst du, daß das genügt?" „So manches, was vor J a h r e n befohlen wurde, ändert sich wieder. Die gemeinsamen Speise- u n d Schlafsäle, die riesigen Kinderkrippen und dergleichen verschwinden teilweise wieder, weil man derartiges bei den Bauern auf dem Land nicht einführen kann!" „Ihr habt Moskau und der gesamten Welt zeigen wollen, wie man es macht. D a r a u s wurde das bekannte Fiasko!" sagte ich ihm offen. Endlich! Der grüne Hügel, der sich gegen die graue, schroffe Felswand lehnte, w a r unser Wolkenrücken. Hier murmelte noch der Bach, und hier sahen die Berge in der Runde wie hockende Schildkröten aus. Am Hang standen weniger Bäume als damals. Viele w a r e n abgestorben, da m a n sie ihrer Rinde beraubt hatte. Auf dem Hügel standen noch die graugewordenen, einst rosafarbenen Mauern, schimmerte noch das schöngeschwungene, früher grüne und jetzt vergilbte Dach, beschirmt von den uralten Platanen. Der Zickzackpfad w a r noch dichter zugewachsen. Langsam zogen wir die müden Tiere den Weg hinauf. Oben herrschte feierliche Stille, untermalt und betont durch leises Blätterrauschen. In mannshohem Unkraut glitzerte der d ü n n e Wasserfaden wie die Speichelsträhne im Bart eines Opiumrauchers. Vor der Tempelöffnung hing als Armutskleid der zerfetzte, schmutzige Vorhangrest. Durch seine großen Löcher erspähte ich drinnen die sitzenden Buddhas. Farben und Vergoldung blätterten ab, waren matt geworden. Der riesige Gong im Hof fehlte. „Kupfer! Der Gong gab Messing für Patronenhülsen ab. Sicher w u r d e er beschlagnahmt!" flüsterte Quong, und genau wie damals w a r sein Gebaren scheu und furchtsam. „Oh, H u t u k t u ! Ehrwürdiger Ta Lama, alte Gäste möchten ihren Respekt bezeugen. Om m a n i padme hum!" rief ich laut. Wie ein Japaner zog Quong zischend seinen Atem durch die Zähne. Ein Pferd schnaubte müde. Mein F r e u n d bekreuzigte sich hastig und griff d a n n an den Hals, wo ein Drachenamulett baumelte. Er murmelte eine Beschwörung, als wie ein Geist aus kühler Klostergruft der Ta L a m a plötzlich zwischen den dicken Baumstämmen aus goldgrünen, flirrendem Schatten trat. 126
„Wer stört den Frieden? Om mani p a d m e hum! Was wollt ihr Erdensünder?" Langsam kam er näher, begleitet von einem halbmelodisch rasselnden Klingeln. Er trug eine rotbraune Reisekutte und hatte seinen helmartigen Hut auf; die Bettelschale baumelte am Hüftgurt. In der einen Hand hielt er ein Bündel, aus dem krausbemalte Sutrarollen und Gebetsvorschriften hervorschauten. Die andere Hand u m k l a m m e r t e den hohen eisenbeschlagenen Wanderstab, an dem die heiligen neun Eisenringe bei jeder Bewegung klingelten und klirrten. Tief verbeugten wir u n s : „Ehrwürdiger, Ganzfrühgeborener, kennst du uns noch?" Er ließ sein Bündel fallen. Ein Leuchten huschte über das faltiggelbe, gütige Antlitz. Doch plötzlich w u r d e er vorwurfsvoll und streng. „Warum verjagt ihr die Nonnen und Mönche oder verspottet sie? Warum sind die euren ins heilige Land des Dalai Lama eingedrungen, haben getötet, geplündert, gemartert und die Götter verhöhnt? Ihr!" Drohend rasselte der Stab. „Wir nicht, großer Ta Lama!" murmelte Quong, und ich rief in altertümlichem Englisch: „Doest know me not, honorable and venerable?" „Methinks, that I knoweth thee, my son!" antwortete er leise; d a n n fing sein Gesicht an zu strahlen, und plötzlich lachte er: „Ich erinnere mich an euch. K a n n dein F r e u n d Quong noch so gut kochen? Aber n u n führt die Tiere in den Hof und pflegt der Ruhe. Vermutlich h a b t ihr Hunger? Ich weiß ja, wie es drunten zugeht. Schlimm! Dennoch gibt es viele gute Leute. Die Bauern, die selber k a u m etwas haben, bringen von dem wenigen, damit mir nichts fehlt. Ein wenig Reis, Salat, Tee oder Kresse, und ein wenig Sünde in Form von Schnupftabak. Was ich an Lebensmitteln erübrige, soll nun euch, meine Söhne, ernähren. Kommt!" Er führte uns zu den Zellen, kehrte aber wieder u m : „Erst will ich die arme, leidende K r e a t u r füttern!" Und er versorgte die Tiere. Danach k a m er zurück und ließ sich auf der Steinpritsche nieder. Er gab Weisungen an Quong, der dienstbeflissen forteilte und mit Reis u n d Gemüsen wiederkam. Quong entfachte Holzkohle auf der Eisenpfanne und setzte den Teekessel an seinen Platz. 127
Der alte Herr fischte seine Tabaksdose aus dem w e i ten Ärmel und nahm auch eine kräftige Prise. Ich zündete meine Pfeife an, Quong rauchte eine Zigarette. Unser Tabak war, genau wie der russische Machorka, aus Weidenrinde. „Ihr braucht mir gar nichts zu erzählen, denn ich habe ja damals euer Schicksal erforscht!" Quong goß Wasser in den Reis; d a n n blickte er schüchtern auf: „Oh, Ehrwürdiger, Hundertfachwiedergeborener, kannst du uns nicht prophezeien, wie es weiter wird?" Der H u t u k t u lächelte: „Man darf nicht zu oft hinter den schwarzen Vorhang spähen. Auch fehlt mir das Lammschulterblatt." „Ehrwürdiger, wenn auf tausend Li in der Runde ein Lamm existierte, w ü r d e ich es holen!" wagte Quong zu scherzen. Der L a m a drohte mit dem Finger. „Schon damals wart ihr gute Freunde, aber du trugst dennoch eine Maske. Fiel sie?" Wir nickten bejahend. Er wollte wissen, weshalb ich nach China zurückgekehrt sei. Auf die Antwort, daß ich nach Erdöl bohren solle, neigte er gewichtig das Haupt: „Es ist verdienstvoll zu helfen, wo man kann. Am dich umgebenden Hauch m e r k e ich aber, daß du wieder krank wirst. Noch nicht jetzt, sondern später, und d a n n wirst du gesund in deine Heimat zurückkehren. Du bleibst nicht in unserem armen Land!" Quong r ü h r t e im Suppenkessel und schaute bittend auf den Lama. Dieser nickte. „Oh, du Zudringlicher! Wurdest du ein Mächtiger im Lande? Sag, hast du je Menschen getötet, die dir nichts getan hatten?" „In den Revolutionsscharmützeln einige Male fast; aber ich schoß mit voller Absicht über die Köpfe u n s e rer Gegner." Humorvoll lächelte der Alte: „Wenn das deine Oberen wüßten! Sei getrost, auch du wirst heimkehren und nicht umsonst gelebt haben!" Er schaute mich aus den Augenwinkeln an und betonte das Wort „Heimkehren" so eigenartig . . . „Oh Hundertfachgeborener, weißt du etwas über Chinas Zukunft?" „Länder, auch w e n n die Regierungen kommen u n d 128
gehen, sind ewig, soweit etwas auf Erden ewig sein kann. China sieht noch viele Male Not u n d J a m m e r ; es wird Ungerechtigkeiten begehen, weil man ihm früher Unrecht antat; aber es kommt auch der wirkliche F r i e de." „Hab Dank!" Der Alte fuhr fort: „Ich muß dir, mein Sohn, der du behauptest, China h ä t t e die Freiheit nach Tibet getragen, folgendes sagen: Bringt man jemand die Freiheit die er bereits hatte - mit Waffengewalt und g r a u s a m ster Unterdrückung, so ist das Unrecht! Und Unrecht wird gerächt. Doch hast du, mein Sohn, damit nichts zu tun. Ich wandere n u n nach Indien, um Pandit Nehru den Kopf zu waschen! Seine Außenpolitik kenne ich; sie ist weich und schlaff wie das Klima Indiens. Nehru denkt, er könne für ganz Ostasien das Zünglein an der Waage sein und dabei unbelästigt bleiben. Die erste große Bandoengkonferenz der Afroasiaten, wo Nehru große Worte der Einigkeit prägte, h a t bisher außer Zank und Neid den d a r a n Beteiligten kaum viel gebracht. Von der einstigen englischen Herrschaft ü b e r nahm Nehru die Protektion über Tibet. Er enthob sich dieser schönen Aufgabe, indem er alle Ansprüche China übergab, um sich damit die ewige Freundschaft des großen, gelben Drachens zu sichern. Ich denke, daß ihm eines Tages die Augen bitter aufgehen!" „Kennst du den Pandita, oh Heiliger?" „Nein. Er wird mich aber anhören, denn ich bin ein alter Freund Gandhis. - Böse Zeiten zeichnen sich in den Sternenbildern ab! Zukunftsbilder denkt ihr. Dir, mein Sohn Quong, m u ß ich abermals sagen: Du bist kein schlechter Mensch, und deshalb hast du die vielen unnötigen Torheiten, die Peking begeht, längst erkannt, oder nicht?" Mein Freund bejahte schwermütig. Der Lama sprach weiter: „Sei gerecht! Wer h a t letzten Endes China von den J a p a n e r n befreit? Du denkst an Mao. In Wahrheit war es, trotz unaufhaltsamer Korruption, Tschiang Kai Shek, der jetzt auf der großen Insel im Meer sitzt, die seit 1895 japanisch war. So rächt sich alles auf Erden; das Rad dreht sich, und Tschiang besitzt jene Insel, deren Verlust sich Nippons Söhne nicht träumen ließen! Das Rad dreht sich, und es könnte sein, daß die U m d r e hungen den sich jetzt mächtig an die Speichen k l a m 129
mernden Mao hinausschleudern, wie es den Japanern in China und auf Taiwan und dem Marschall ebenfalls in China erging. Du willst wissen, ob Chinas Zukunft und Heil bei Mao, bei Tschiang Kai Shek oder bei einem Dritten liegen. Das zu beurteilen ist nicht meine Sache. Begnüge dich mit dieser Antwort! Aihh, was plagst du einen alten Mann zu solch großer Redeanstrengung!" Quong ließ den Kopf hängen. Der H u t u k t u murmelte zu mir: „Es ist, wie ich sage, verdienstvoll, wenn du in diesem Lande für die Wohlfahrt des Volkes nach Öl suchst. Hast du darüber nachgedacht, d a ß der Nutzen, den du vielleicht bringst, dazu beitragen könnte, anstelle von Frieden wiederum Krieg und Eroberungen zu bringen? Alt wirst du nicht in China! Deine Heimat ist ebenso zerrissen wie das China von heute. Geh' bald heim, mein Sohn, ich bitte dich. Auch ich bin zu lange hiergeblieben, und jetzt, da man uns Tagediebe und faule Tempelbonzen schilt, ist meines Bleibens nicht länger. Der innere Ruf ist an mich ergangen!" Behaglich schnupfend sagte er nach einer Weile: „Ihr müßt beide die Zukunft und was hinterher kommt nicht fürchten. Was auch kommen mag. Om mani padme hum!" Als wir am anderen Morgen erwachten, malmten unsere Pferde zufrieden ihren Kaoliang. Woher der H u tuktu dieses Getreide hatte, sollte sein Geheimnis bleiben. Denn er w a r gegangen . . . Nachdenklich und schweigsam verließen wir das alte Kloster auf dem Wolkenrücken. Hankau! Auch hier herrschte die Not. Wenn man konnte, aß m a n „den Berg"; man pflanzte privat und in finsteren Höfen sogar Reis in Blumentöpfen. Wenn die Leute nicht an der Arbeit waren, sprachen sie mit Vorliebe vom Essen, beschrieben einander verlockende Mahlzeiten und hofften auf die Zukunft. Das Volk h a t te sich vor J a h r e n mit Enthusiasmus in die neue Lebensform gestürzt und auf Besserung gehofft. Manche zogen schon heimlich Vergleiche. Es gab Schichten, die das alte Regime wieder herbeisehnten. Und es gab Sabotage in Fabriken, auf Kollektivfarmen, in Eisenbahnen u n d Rüstungsbetrieben. Wir w o h n t e n bei u n serem riesigen Freund von damals, bei dem Mann, der keine Nummerzweifrau haben durfte u n d sich mit einer Gattin begnügte. 130
Das Ehesystem ist geordnet worden. Wer noch Konkubinen und versteckte Nebenfrauen besitzt, muß sehr aufpassen. Die Frauen selbst sind auch erwacht. Sie wollen sich keine mit ihnen unter demselben Dach wohnende Nebenfrauen gefallen lassen. Sündigende Männer werden oft von ihren Frauen angezeigt, vom Gericht zu sechsmonatiger Gehirnwäsche im Gefängnis verurteilt oder auf eine Kollektivwirtschaft zur Arbeit geschickt. Vorher werden sie aber auf offener Straße dem johlenden Volke vorgeführt und mit Kot beworfen. In einer Vorstadt wohnte ich zufällig der Anprangerung eines alten Bauern bei. Er hatte ein Kilo Reis von seinem eigenen, jetzt kollektivierten Feld beiseitegeschafft. Der Anblick des Alten und die vom Ausrufer verkündete „Schuld" sowie die auf seinem Gesicht zerplatzten Dreckklumpen - das alles erschütterte mich. Quong übersetzte mir die flehenden Bitten des alten Bauern: „Taischan! Hoher Berg und Genosse Ausrufer, es w a r ja n u r ein kleiner Hut voll Reis!" So flehte der Verurteilte den hundegesichtigen Ausrufer an. Dieser befahl ihm, zu schweigen, und mit einem u n e r g r ü n d lichen Lächeln führte er den widerstrebenden und jammernden Bauern ins Gefängnis. Der Taischan ist ein heiliger (der heiligste) Berg Chinas, etwa zweitausend Meter hoch. Ein Weg führt hinauf mit beschwerlichen Stufen im Zickzack; aber überall sind Rasthäuser angebracht. Auf der Kuppe liegt ein großes Buddhistenkloster mit heiligen Reliquien und kleinen Andenkenverkaufsbuden. Man geht auf Taischan, um Seelenheil und irdisches Glück zu gewinnen. Redet man aber einen Menschen mit „Taischan" an, so bedeutet das eine ganz große Höflichkeit! Quong erzählte mir, daß das Kloster noch besteht und daß die Wallfahrer, trotz aller Verhöhnungen durch Atheisten, immer zahlreicher zum Taischan kommen. In der Stube hockte ich auf dem K h a n g und t r a n k Tee, als Quong von seinem Büro heimkehrte. „Hast du mit Silberdistel gesprochen?" „Freilich; sie läßt dich sehr herzlich grüßen!" entgegnete Quong etwas lahm. Es entstand eine lange Verlegenheitspause. Nachher begaben wir uns unter den einsamen Maul131
beerbaum im Hof. Der Himmel über der aus Fabrikschloten Tag und Nacht qualmenden Jangtsestadt w a r heute k l a r und von Sternen erleuchtet. Über das geschnörkelte Dach des benachbarten rotgestrichenen Tempels kroch langsam der sein schimmerndes Silber ausgießende Jaspishase, wie der poetische Chinese den Mond nennt. Fledermäuse huschten mit gespenstischem Flügelschlag vorüber. Das dumpfe Geräusch der Stadt w a r wie fernes Meeresbrausen.
UND LIEBEN Die Fluglinien in China dienen nur höheren Beamten. Da es sehr viele höhere Beamte gibt, m u ß t e n wir, obwohl Quong zu ihnen gehörte, mit der Bahn fahren. Quong h ä t t e fliegen können, aber ohne mich. Auch Silberdistel w a r gezwungen, den Dampfer von Nanking aus zu nehmen. Sie telefonierte uns vorher, mit welchem Jangtseschiff sie in H a n k a u eintreffen werde. Eines Morgens ging ich mit Quong - Mundvorrat h a t ten wir bei uns - zum Hafen hinab. Bei der Stromschiffahrt ist es unmöglich, die genauen Ankunftsstunden zu erfahren. Man muß einfach warten. Maski! Einst gab es dicht am Wasser, etwas außerhalb des Großverkehrs, eine herrliche Gaststätte, hier hatten einst wohlhabende Kaufleute ihre Geschäftspartner bewirtet, wobei vier bis fünf Stunden lang langsam und vielseitig getafelt wurde. Bei solchen Gastmahlen wurden durch Handschlag oft riesige Geschäfte abgeschlossen und die Verträge von beiden Seiten auch gehalten. Der Gasthof steht heute noch, und ebenso steht in einem Garten ein wunderhübscher, t u r m a r t i g e r Kiosk. Man k a n n von seinem Obergeschoß ein weites Stück des lebhaften Flußverkehrs überblickten und die Landung der Dampfer abwarten. Diese Schenke, „Zum Überfluß" genannt, verabreichte uns dünnen Tscha und eine ebenso dünne Reis132
suppe mit Einlagen von Flußalgen. F r ü h e r gab es E n ten-, H ü h n e r - und Gänsebraten, herrliche Goldkarpfensuppe, Schweinefleisch auf alle erdenkliche Art zubereitet, und die vielerlei in China bekannten und beliebten Nudeln. Und Getränke! Quong sandte diesen längst entschwundenen Genüssen einen elegisch-tragischen Seufzer nach. Der Kiosk, dessen auf drei Seiten mit durchbrochenen Rotlackschnitzereien ausgestattetes Obergeschoß „Zur Wolkenwiege" einst eine Sehenswürdigkeit gewesen war, war arg verschmutzt und vernachlässigt. Durch die scheibenlose, durchbrochene Schnitzarbeit sahen wir ein breites Stromstück, auf dem Fahrzeuge aller A r t wimmelten. Über dem gelben Wasser lag goldener Sonnenschein; die Fabrikschlote stießen schwarze Wolken aus, die sich - zu drachenartigen Gebilden geformt - dicht über dem Jangtse hin- und h e r bewegten. Müde b r u m m t e mein Freund: „Vorhin wollte ich der Hafenbehörde von Kitschau telephonieren, ob der ,Sun Yat Sen' schon durchgekommen sei. Die ganze Telephonlinie w a r jedoch für eine wichtige Botschaft aus Nanking gesperrt. All mein Schimpfen half nichts!" „Maski! Doch sag, gibt es nur einen D r a h t nach N a n king?" „Viele gibt es, aber alle waren beschlagnahmt, und als der Beamte dennoch versuchte, mich zu verbinden, bekam er keine Antwort!" Schweigend starrten wir auf die Flußszenerie. Dschunken, Barken, Motorbarkassen und dicke, plumpe Fährschiffe krochen über die gelbe Fläche. Keiner der charakteristischen Shanghaiflußdampfer w a r in Sicht. Geduld und - Maski! Es w u r d e Mittag. Abwechselnd streckten wir uns auf der Fensterbank aus und schliefen. Gegen Abend kehrten wir enttäuscht nach Hause zurück. In der Nacht verkehren die großen Stromdampfer nicht, so daß wir nichts verpassen konnten. F r ü h am nächsten Morgen bezogen wir wiederum die „Wolkenwiege" und versuchten, den dichten Nebel zu durchspähen, der noch über dem Jangtse wallte. Nachmittags traf ein dicker Flußdampfer ein. Wir rannten die Treppe h i n a b zum Anlegeplatz. Es w a r das erwartete Schiff. Ganz genau musterten wir die vielen 133
hundert Passagiere, die mit Koffern und Bündeln beladen über die Gangway stolperten. Als das Schiff leer schien, gingen wir an Bord zum Zahlmeister. Höflich durchmusterte er seine Liste und sagte d a n n bedauernd, daß die Genossin Professorin in Nanking nicht an Bord gekommen sei. Es sei aber sehr wahrscheinlich, daß sie mit dem weniger überfüllten „Poyang" nachkäme. Er spreizte die Finger: „Vielleicht morgen oder übermorgen; wer k a n n das wissen? Der Jangtse ist kein harmloser Teich!" Wir verbrachten noch zwei weitere Tage im Kiosk. Am Abend des zweiten Tages mußte Quong zu einer Versammlung. Ich suchte in dieser Zeit den verbotenerlaubten Schwarzmarkt auf. Etwas Gutes hatte die Revolution geschaffen: Als deutlich erkennbarer Europäer konnte ich n u n durch die engsten, früher so verrufenen Gassen spazieren, ohne angepöbelt, ausgelacht oder beschimpft zu werden! Es geschah höchstens, d a ß einige Leute mich neugierig betrachteten und „Yang Riin" flüsterten, was in der vielseitigen Mandarinsprache eine sehr höfliche, n u r eine kleine Spitze enthaltende Umschreibung des früheren „Yang Kweitsi" oder „fremder Barbarenteufel" ist . . . Auf dem M a r k t hätte ich prächtig geschnitzte Möbel, auf Seide gemalte Landschaften, Vasen und andere Kunstgegenstände spottbillig kaufen können. Alles Erdenkliche w u r d e mir angeboten. Aber nichts Eßbares war dabei. Erst nach langem Suchen entdeckte ich ein am Rinnstein hockendes Mütterchen, das einige Weißkrautköpfe, in je acht Teile zerschnitten, verkaufte. Die Frau w a r von einer feilschenden Menge umlagert. Trotzdem gelang es mir, drei solcher Achtel zu kaufen. Etwas weiter ab saß ein schmunzelnder Bauer, der aus einer stinkenden, gurgelnden Kwangsipfeife üblen Dampf fabrizierte. In seiner neben ihm liegenden Mütze lag ein einzelnes Hühnerei, das schnell einen Abnehmer fand. Enttäuscht wollte ich weitergehen, als wie durch Zauberei in der leeren Mütze ein weiteres schneeweißes Hühnerprodukt lag. Rücksichtslos drängte ich mich durch die Gaffer und Feilscher und erwarb die Kostbarkeit für den Preis, den früher drei Gänse gekostet hatten. 134
Der M a n n machte mir verstohlen Zeichen. Als die Mütze leer blieb, verzogen sich die anderen Interessenten. Ich folgte dem Bäuerlein in einen Querhof, und wieder zauberte er zwei weitere Eier und ein Häuflein dicht über den Hufen abgeschnittener Schweinsfüße ich bekam natürlich nicht etwa die „Haxen", sondern die Hufe mit ganz wenig Fleisch d a r a n . Zumindest würde das eine gute Suppe geben; das Weißkraut paßte ja auch dazu! Ohne zu feilschen, bezahlte ich und barg die Schätze in meiner Einkaufstasche. Derartige Beutel und Taschen aus feinstem Reisstroh, wunderhübsch gearbeitet und verziert, konnte man überall kaufen. Quong w a r es gelungen, vierzehn Mandarinen und ein Päckchen verstaubter Chopsueynudeln zu ergattern. Wir lachten beide, als er trübselig bemerkte: „Da bin ich n u n ein hoher Funktionär und m u ß , was eigentlich verboten ist, hintenherum einkaufen gehen!" Natürlich konnten wir mit unseren Ausweisen und Bons in der staatlichen Speisehalle essen, und wir taten das auch jeden Mittag und Abend. Aber es blieb einem immer eine gewisse Leere im Magen zurück. Endlich, während wir am vierten Tag auslugten, sahen wir den Dampfer ,Poyang' den gelben Strom aufwärtsgleiten. Silberdistel war an Bord! Ich e r k a n n t e sie schon, ehe die G a n g w a y ausgelegt wurde. Strahlend stöckelte sie an Land und warf Quong ihren Koffer zu. Sie flog mir lachend an den Hals; und eine andächtig schmunzelnde, anzügliche Kommentare machende und dann in Beifallsrufe ausbrechende Menge konnte zusehen, wie eine junge, schlanke Chinesin einen großen, langen „Yang Riin" herzhaft abküßte. Und ein im Hafen ziemlich u n b e k a n n t e r Genosse Inspekteur tanzte fröhlich um beide herum! „Daß du noch lebst!" rief sie immer wieder. Die Angst, die ich vor diesem Wiedersehen gehabt hatte, verflog. Alles schien in Ordnung zu sein! Wir bekamen zwei Fahrradrikschas und fuhren zuerst zu unserem Quartier, um Tee zu trinken und zu plaudern. „Du k a n n s t hier wohnen, Liebling! Im Hof ist es abends romantisch hübsch, wenn der Jaspishase seine Himmelsweide bezieht u n d die Sterne wie Margeriten aussehen." Auf einmal streng geworden, verneinte sie. Es sei be135
reits ein Zimmer vorgesehen im Heim für . . . „ . . . gefallene Mädchen!" scherzte ich u n d w a r froh, daß ihr der Humor geblieben war, denn sie gab mir lautlachend einen zärtlichen Backenstreich. „Ich muß heute abend einen Vortrag vor jungen Beamten halten!" „Ist das dein Urlaub?" „Heute m u ß ich noch arbeiten. Oh, Mann, du siehst müde aus! Wieder Malaria?" „Nein, ich leide nur unter dem Gefühl, das in meiner Heimat ,Kohldampf schieben' genannt wird!" antwortete ich. Sie erriet, w a s ich meinte und erwiderte wie ein Schulmeister: „Du tust es für China!" „Hoffentlich wird es bald besser! Ich denke dabei an die fleißigen Millionen Menschen, deren große Hoffnung es ist, sich wieder einmal sattessen zu können." „Wir schaffen es!" sagte sie mit dem glühenden Blick der Fanatikerin. „Professor Doktor Li, der Direktor meiner Universität, meint das auch! Ein kluger, wirklich netter Mann! Ich habe ihm erzählt, daß deine Gesundheit oft angegriffen ist, und er meint, du könntest in Peking, Nanking oder, w e n n dir der Süden lieber ist, an der Hochschule in Canton einen Lehrstuhl für Bergbau bekommen. Dann müßtest du keine Strapazen m e h r durchmachen!" „Die liebe ich aber am meisten!" „Ein romantischer Realist bist du also geblieben", sagte sie. „Was ist das Leben ohne Romantik, ohne Kinderglauben und ohne Naturliebe!" „Du solltest dich aber wirklich mit Doktor Li unterhalten! Ich jedoch muß jetzt fort. Quong, eine Rikscha, bitte!" Sie winkte m i r zu und glitt dann hinter Quong aus dem Raum. Ratlos steckte ich mir eine Pfeife an. Aber das Rauchen machte m i r keinen Spaß, geschweige denn, daß es vermocht hätte, mein Hirn zu klären. Doch w a r es nicht der Weidenrindentabak, sondern Silberdistel, die mir Kopfzerbrechen verursachte. 136
Reizend von Aussehen, ätherisch durch U n t e r e r n ä h rung - alles ließ sich erklären; doch schien sie sich auch charakterlich verändert zu haben. Meine anfängliche Freude über das Wiedersehen erlitt eine nachträgliche Trübung. Ich wurde mir selbst nicht ganz klar über sie. Dieser Doktor Li schien übrigens mehr als nur ihr p r o fessoraler Freund zu sein . . . Nach einer Stunde kehrte Quong zurück. Er betrachtete mich scharf und erriet meine Gedanken, denn plötzlich grinste er wie ein Hongkongkuli: „Quong, eine Rikscha, bitte! - Warum, verdammt noch mal, nicht gleich ein Helikopter, he? Als ob hier die Rikschas so zahlreich wären! Wir h a t t e n aber Glück! Während des Suchens plapperte sie die ganze Zeit vom weisen Doktor Li. - Freund! Mich dünkt, obwohl die alte Tai-Tai auf den Terrassen der Nacht schläft - aus deiner eventuellen Heirat wird nichts! Bist du traurig?" „Eigentlich nicht; n u r meine männliche Eitelkeit fühlt sich verletzt. Sonst bin ich eher sogar erleichtert, könnte aber dennoch diesen Doktor Li verprügeln!" „Hat dir der ehrwürdige Hutuktu wirklich nichts von einer Lebensveränderung oder Hochzeit prophezeit?" „Mann, du warst ja dabei! Er sagte, daß ich gesund in meine Heimat zurückkehren werde! Sonst nichts!" „Das einst so süße, bezaubernde Mädchen besteht n u r noch aus Volksaufklärung, Volkswirtschaft und Doktor Li'schen Thesen. Hm!" meinte da sogar Quong. „Meinetwegen soll sie ihn nehmen und mit ihm gleich glücklich werden. Morgen will ich sie selbst fragen!" „Hätte sie noch dieselben Gefühle für dich wie damals, w ü r d e sie heute nacht bei dir bleiben. In Szetschuan w a r sie damals auch nicht prüde!" sagte der in solchen Dingen geradeheraus auf das Ziel zustrebende Chinese nachdenklich. Mühsam drehte er sich dazu aus Zeitungspapier und Weidenrinde eine Zigarette. Vom Nebenhaus kam dumpfes Stampfen. Dort w a r eine eigenartige Druckerpresse aufgestellt, mit der ausschließlich „Geistergeld" fabriziert wurde. Sie imitierte Gold- und Silbermünzen aus Pappe, die man bei Begräbnissen verbrennt, damit die abgeschiedenen Seelen w ä h r e n d der langen Reise in die Geisterwelt ihren Unterhalt bezahlen können. So etwas gab es noch, und das freute mich irgendwie . . . 137
UND ARBEITEN Wie Gongschläge und zitternde Pipas (Gitarren) klingen die Städtenamen längs der von Hankau nach P e king führenden Eisenbahn. Siankan, Huayüan, Wangkiatien und Kwangshui! Liulin, Sinyangtschan, Mingkiang und Sinantien! Kioschan, Tschumatien, Suiping und Siping! Yenshien, Linyinghsien, Taschkia und Hsütschan! Tschangtschau! D a n n über die große Dammbrücke des auf h u n d e r t Kilometer seenartig breiten, mächtigen Hoangho nach Sinsiangshien, Luwangfen, Sunshien und Tangyin! Fenglotschen, Tzetschau, H a n t a n und Kwangping! Schako, Schunteh, Neitschu, Yakoying und bis zum Knotenpunkt Sikiatschuang. Die Hauptstrecke läuft weiter nördlich bis Peking und in die Mandschurei - wir aber stiegen um und fuhren östlich zur Großstadt mit Flugplatz; T a i y ü a n am Fenhofluß. Ich versuchte mehrmals mit der grübelnden Silberdistel zu einer Aussprache zu kommen. Sie wich stets aus und setzte ihr asiatisches, wohlerzogenes Höflichkeitslächeln auf. Quong w a r viel hemmungsloser, indem er geradeaus fragte, ob sie schon zusammen mit mir die „Wolkenkissen des Genusses" bestiegen hätte. Sie lachte ihn aus, blieb aber die Antwort schuldig. Er flüsterte mir zu: „Dann hat sie Doktor Li im Köpfchen. Soll ich ihn durch ein paar diskrete und geschickte Leute, die ich kenne, aus den neun dunklen Quellen trinken lassen, damit er der Terrassen der Nacht würdig sei?" „Meuchelmörder? Freund, sage so etwas nicht wieder!" In Taiyüan begleiteten wir Quong bei einer F a b r i k besichtigung. Silberdistel dagegen führte uns in Waisenhäuser und Kinderkrippen. Wir lauschten ihren Vorträgen über Geburtenkontrolle. Manchmal e n t k a m ich und ging dann meine eigenen Wege. Ich h a t t e aufschlußreiche Gespräche mit Kollegen von der Bergbauschule, einem Institut, das an P r a xis und Ideen des Lehrplans durchaus den westlichen Einrichtungen ebenbürtig ist. Ich besichtigte Gruben, die sehr modern eingerichtet sind, und hörte von ande138
ren, in denen die unerschöpfliche Menschenkraft Chinas die Maschinen noch immer ersetzen m u ß . Westlich der Großen Mauer zeigte m a n mir Kohlengruben, in denen noch genauso primitiv abgebaut w u r d e wie vor hundert J a h r e n . Unendlich viele Leitern führen in die Tiefe, Förderkörbe werden im Handkurbelbetrieb nach oben gezogen. Meine G e w ä h r s m ä n n e r waren junge, durchaus praktische Leute. Sie zeigten mir Pläne für die künftige Modernisierung ihres Rayons. Schöne Stunden und Tage verbrachte ich mit diesen Kollegen! Viele sprachen englisch, einige auch deutsch. Wie alle gelehrten Praktiker k ü m m e r t e n sie sich keinen Deut um Politik. Unbekümmert sprachen sie ihre Meinung aus. Sie glichen jedoch in einer Beziehung allen Chinesen: Alle sind sie begeisterte Patrioten, ganz gleichgültig, ob sie Anhänger von Mao oder vom Marschall sind. In erster Linie sind sie Chinesen und lieben ihr unendliches Land! Die letzte Grube, die ich besichtigte und in der gerade moderne Maschinen eingebaut wurden, liegt mit anderen zwischen Tsinghing und Yuangtschuan in nächster Nähe der Eisenbahn und einer kurzen, aber breiten, gut ausgebauten Fahrstraße. Von der Großen Mauer sind dort nur einige gewaltige, halbzerbröckelte, ehemalige Verbindungstürme in weiten Abständen erhalten geblieben. Das andere Mauerwerk w u r d e in jener Gegend schon seit J a h r hunderten - trotz zeitweiliger Verbote - verwendet, weil die harten Ziegel sich gut zum Häuserbau eignen. Wir flogen weiter. Das Flugzeug w a r außer uns noch mit einigen Mechanikern besetzt. Eines hellen Morgens zog es seine Kreise über Taiyüan und flog dann in großer Höhe über eine graubraune, einsame Bergwelt, die nur unterbrochen w u r d e von Steppen und Wüsten. Es schwebte über dem breiten, von Schluchten umsäumten Fluß Hoangho, flog d a n n über die graugelbe Stadt Yulin, wieder über einen anderen Fluß und weiter in eine trostlose, dürre Hügelwelt und endlich über die Große Mauer zur flachen Steppe. Unter uns erschien ein Flugplatz und eine wie mit dem Lineal ausgerichtete Barackenstadt n a m e n s „Kua", „Windstoß". Diese Gründung, zu der m a n über hunderttausend Bauern aus dem chinesischen Reich zusammengeholt und schubweise durch die Luft transportiert hatte, lag 139
im südlichen Drittel der riesigen, sich endlos ausdehnenden Tochter der Gobi, der aus Sand, Steppen und unbekannten Hügelzügen sich zusammensetzenden Ordoswüste, genannt Ho-Tao, in der Provinz Meng Kuo. Stellenweise ist die Ordos eine reine Sandwüste. Im Sommer ist es hier backofenheiß, im Winter ist m a n eisigen Winden und Schneestürmen preisgegeben. Andere Strecken sind grasbedeckte oder von Salzbüschen bewachsene Ebenen mit Brunnen, um welche sich die Nomadenjurten der Ordosmongolen und Tanguten mit ihren riesigen Pferde-, Kamel- und Schafherden g r u p pieren. Es gibt hier - wie auch in anderen Gegenden Ostasiens - eine Schafrasse, deren Schwanzstück für Gourmands ein großer Leckerbissen ist. Dieses fette Anhängsel ist so groß und schwer, daß man den Tieren kleine, zweirädrige Wägelchen am Hinterteil festbindet, damit sie beim Laufen nicht behindert sind. Die Schafe haben sich so daran gewöhnt, als w ä r e n sie damit geboren! In der Ordos liegen einige, im Norden „Nor" und im Südwesten „Po" genannte, teils brackigsüße, teils gallenbittere Seen, deren Wasser ungenießbar ist. Es gibt auch einige Flüsse, die sich gegen Westen und Osten in den hier eine ungeheure Schleife ziehenden Hoangho ergießen. Auf der Karte erkennt man, daß sowohl im Osten als auch im Westen die Ordos vom selben Strom begrenzt wird, während südlich die Große Mauer in der Kansuprovinz den Abschluß bildet. Ein seltsames Land! Land der Geister, der Stürme und Dämonen, wie die Bewohner und auch die Forscher die Mongolei, die Gobi und die Ordos nennen. Schon bei der Ankunft sahen wir aus der Luft die vielen unübersehbaren Ackerfurchen, die entweder grün schimmerten oder gelb und dürr waren. Wir e r blickten schnurgerade Bewässerungsgräben, schmale Kanäle und fast ebenso unübersehbare Menschenschwärme, die kolonnenweise über die Felder verstreut waren. Traktoren gab es n u r sehr wenige. Neben den Wohnbaracken standen Pumpanlagen, ein Dynamohaus, Schuppen und große Kohlenhaufen. Kua! Windstoß! Sturm umpfiff uns und jagte unbarmherzig dichte Staubwolken in unsere Gesichter, als wir steifbeinig dem Flugzeug entstiegen und zur 140
Administration stolperten. Wir erhielten eine Wohnung mit drei Räumen; es w a r das Ende einer durch eine Mauer abgetrennten Mannschaftsbaracke. Drei Feldbetten, ein heizbarer Lehmkhang in der mittleren Stube, einige zusammenlegbare Stühle, ein Klapptisch und ein flaches Schränkchen bildeten die spartanisch a n m u t e n d e Möblierung. Die Fenster w a r e n doppelt verglast und hell, alle Wände mit J u t e sauber bespannt. Es sah leer aus, w a r aber nicht eigentlich ungemütlich. Auch elektrisches Licht sowie w a r m e s und kaltes Wasser waren eingerichtet. Wir bekamen Bettdecken und dünne Matratzen. Eine breite, aus L e h m erbaute Pritsche konnte m a n mit Decken und Kissen in eine Couch verwandeln. Das Kommissariat lieferte Waschbecken aus Aluminium, Krüge und eine kleine elektrische Kochplatte zur Teebereitung. Neben unserem Pavillon erhob sich eine Speisebaracke für Beamte und Ingenieure; daneben w a r ein Duschraum eingebaut. Die Funkerbude stand für sich allein. „Prima!" rief Quong und knipste das Licht an. Dann warf er mir ein Päckchen Szetschuantabak zu und wiederholte: „Prima!" . . . Ein Ackerbaudelegierter fuhr stundenlang mit mir im Jeep über unübersehbares, bebautes Gelände. Zahlreiche schmale Kanäle, mit Absperrvorrichtungen versehen, bildeten eine systematische Bewässerungsanlage. In einigen dieser Wasserläufe floß Wasser, bei anderen stagnierte es, und viele waren überhaupt trokken. Traktoren und Bulldozer ratterten da und dort, zogen Furchen und warfen Erdwälle auf; doch verschwanden die wenigen Maschinen vor dem Heer der Arbeiter. Mit Harken und Spaten regten sich Menschenarme. Mein Gewährsmann, er hieß Ah Tschi, sagte stolz: „Maschinen sind gut und unerläßlich, aber da wir arm sind, bedienen wir uns vorläufig der nie versiegenden Kraft unserer Menschen." Ah Tschi erriet meine Gedanken: „Am Ende des Winters hatten wir die doppelte Anzahl an Bauern; es w u r den aber auch an körperliche Arbeit ungewohnte Städter und sogar Fischer zwangsverpflichtet und hierher geflogen. Sie dürfen mir glauben, daß die Pekingbon141
zen, die diesen Blödsinn verursachten, längst abgesetzt worden sind. Die ungeeigneten Arbeiter m u ß t e man wieder nach Hause schicken. Sie richteten - ohne böse Absicht allerdings - an einem Tage so viel Unheil an, wie wir kaum in einer Woche wiedergutmachen konnten. Idioten! Unsere Arbeiter sind zumeist Bauernsöhne kinderreicher Familien: Sie bekommen ihren, wenn auch kargen, Lohn und werden einmal im J a h r durch freiwillige Studentenhilfe abgelöst. Aber trotz aller ehrlichen Arbeit wird dieses Lager wohl schon diesen Herbst leer sein; auch die Maschinen werden a b t r a n s portiert. Verfluchtes Schweinepack!" „Wieso das?" „Sie werden gleich sehen, w a s hier los ist! Da und dort!" Soweit ich blicken konnte, zogen sich schnurgerade, schon bis auf Meterhöhe gewachsene, den Maisstauden ähnliche Kaoliangpflanzen dahin. Sauber, mattgrün, gesund und ohne Unkraut. Harkenbewehrte Männer waren dabei, die Furchen aufzuhäufeln. In einem Sektor floß aus einem eben geöffneten Kanal Wasser in das sinnreich angelegte Furchensystem. „Das geht doch offensichtlich recht gut", sagte ich. „Ja, bei diesem Stück hier k a n n man das sagen; und, wie wir vom letzten J a h r her wissen, w ü r d e n diese Stauden bis weit über Mannshöhe weiterwachsen und schöne Früchtekolben mit b r a u n e n Körnern kriegen. Aber w a r t e n Sie ab!" In Staubwolken gehüllt sausten wir einige Kilometer an dem schönen Getreidesaum entlang. Plötzlich hielt Ah Tschi den quietschenden Jeep an. Seine Hand zeigte rundum, und dabei fluchte er ingrimmig. Man sah nichts als Furchen mit Hirsepflanzen, soweit das Auge reichte. Aber alle Pflanzen hatten das weitere Wachst u m aufgegeben. Braunverstaubt und halbverdorrt standen die Stauden da und ließen die Köpfe hängen. Dürr raschelten sie im Wind. Kein Mensch w a r an der Arbeit. Die Wasserkanäle w a r e n ausgetrocknet, das Erdreich zerrissen und staubig. „Wie war das möglich?" fragte ich entsetzt. Wütend und gestenreich erklärte Ah Tschi: „Weil die verfluchten Schweine von Versuchsprofessoren in den Großstädten keine Ahnung von Natur und Ackerbau haben! Viele von uns hätten diesen Affensteißen sagen 142
können, daß das, was im Süden oder höher oben in der Mandschurei möglich ist, hier nicht durchgeführt werden kann. Ich bin von Anfang an hier und habe mehr als ein Dutzend ausführlicher Briefe an das Ministerium geschrieben, die alle unbeantwortet blieben. Selbstverständlich ist das hiesige rauhe, n u r während kurzer Zeit im Sommer heiße Klima geeignet für Kaolianghirse; doch die Bodenverhältnisse sind es eben leider nicht! Dieses Erdreich sieht fast wie Sand aus. Der Kaoliang liebt neben schwerem Lehmboden auch den hiesigen, leichten Boden - aber nur, w e n n er genügend Wasser bekommt. Das Wasser ist hier aber sauer; ich meine damit, mehr oder weniger versalzen. Salze und andere Teufelsmineralien sind massenweise im Boden vorhanden; und w e n n er dann regelmäßig Wasser bekommt, wächst der Kaoliang anfänglich derart, daß es eine Freude ist! N u r stirbt eben leider das Getreide nach zwei, drei Monaten ab! Sie sehen hier das Ergebnis einer Idee unserer sogenannten genialen Theoretiker! Schon im vergangenen J a h r k a m es stellenweise zu solchen Katastrophen, und wir erhielten als Dank für unsere Mühe einen gehörigen Anschnauzer aus Peking. Man beschimpfte uns als Saboteure und drohte mit Erschießen und Köpfen. Unsere schriftlichen, sachgemäßen Einwendungen nützten nichts, und m a n befahl uns, daß auch dieses F r ü h j a h r an den versalzenen Stellen wieder Kaoliang angebaut werde! - Der Erhabene sei gepreisen, daß er endlich etwas Einsicht in die Pekinger Hohlköpfe säte und man Ihren Freund, den Inspekteur Quong, dieses J a h r herschickte. Er w a r schon im Februar, als noch Eis und Schnee das Land bedeckten, mehrmals hier und brachte einige wirklich sachkundige Experten mit, die die Sache studiert und sogar auf den Schulen der Yangkweitse praktische Versuche gemacht haben. Und sie sind sicher nicht dumm! Im Herbst also w i r d das Arbeitslager fast geleert; n u r einige tausend Mann bleiben hier, um im Frühjahr dort, wo die Versalzung noch nicht eingetreten ist, Kaoliang zu pflanzen. Eine oder zwei Ernten wird es noch geben, ehe der Boden überall steril wird . . . Ihr Freund meint, daß die jetzt noch ü b rigen, guten Felder in höchstens zwei J a h r e n unfruchtbar sind, w e n n nicht das Erdreich entlaugt wird. Das kostet aber so viele teure Maschinen und Einrich143
tungen, daß vorläufig ü b e r h a u p t nicht d a r a n zu denken ist!" Schweigend fuhren wir nach Kua zurück. Mein Freund Quong stand in der Barackentür. Silberdistel w a r zu Besuch bei einem der wenigen Ingenieure, die ihre Frauen in diese Einöde mitgebracht hatten. „Hat Ah Tschi, der mein Vetter im hundertsten oder tausendsten G r a d ist, dir gezeigt, wo es hier hapert? Maski! Nicht überall feiert die Dummheit bei uns solche Orgien!" Er sortierte die angekommene Luftpost. „Da, etwas für dich!" Ich bekam meine nochmals ausgefertigte Bestallung als „Bergwerksingenieur, Abteilung flüssige Mineralien der Volksrepublik China". Das Dokument w a r auf der einen Seite in Englisch abgefaßt, auf der andern in chinesischer Pinselschrift. Quong warf einen Blick darauf. „Man hat dir ein hohes Gehalt bewilligt. Davon könntest du fein leben, wenn die Zeiten normal w ä r e n und wenn m a n in den Städten nicht auf den verfluchten Schwarzmarkt angewiesen wäre. Was steht aber in dem andern Brief; er ist auch offiziell, wie ich sehe?" Ich gab ihm das dazugehörende zweite Schreiben. Er las und runzelte die Stirne; endlich mußte er lachen: „Armer Freund, dein künftiger Wirkungskreis liegt wieder einmal nicht direkt am Tungtingsee, aber dicht dabei. Du hast zwar immer geschworen, daß in der ganzen Gegend kein Öl zu finden sei! Maski, alter Freund, mach dir nichts d a r a u s ! Jedenfalls ist es am Tungting bedeutend schöner als in der Gobi- oder Ordoswüste. Ich w e r d e auch in dieser Gegend zu t u n haben und mich wahrscheinlich dort ganz niederlassen. Siangtan! Oder freutest du dich auf ein zweites Idyll im roten Pavillon am Jangtse bei Tschungking?" „Gar nicht, old boy, denn es steht fest, daß zwischen Silberdistel u n d mir künftig die ,Wolkenkissen der Lust' nicht bestiegen werden!" Er klopfte mir auf die Hand: „Maski!" Draußen k a m Wind auf; gegen die Fensterscheiben begann Sand zu prasseln und w u r d e zum Sturm. Ein Brummen mischte sich unter das dumpfe Brausen. „Das Flugzeug!" rief Quong. Wir banden Schals vor die Gesichter und liefen zum 144.
Rollfeld, wo gerade die Maschine aufsetzte. Nur ein einzelner Passagier stieg aus. Er stellte den Wettermantelkragen hoch und zog die Mütze tief in die Stirn. „Professor Doktor Li, Vorstand der Universität in Nanking", stellte er sich höflich vor. „Sicher sind Sie der deutsche Geologe, und Sie sind Inspekteur Quong?" Freudig schüttelte er unsere Hände und fragte dann: „Und wo ist Professor Silberdistel?" Quong antwortete: „Sie trinkt Tscha in der Wohnung eines verheirateten Ingenieurs. Kommen Sie mit in unsere Wohnung, Doktor, dieser kleine S a n d s t u r m ist ungemütlich!" Dann saßen wir uns gegenüber, Quong blinzelte mir zu und entschuldigte sich d a n n scheinheilig, indem er angab, er wolle die Dame holen. Trotz des Sturmes drückte er sich zur Türe hinaus. Ich setzte den Teekessel auf und holte Tassen. Die klugen Augen des etwa vierzigjährigen Gelehrten verfolgten aufmerksam mein Tun. Mit sympathisch w a r m e r Stimme sagte er lächelnd: „Ihr Freund ist sehr diskret! Wir wollen die Angelegenheit nun in Ruhe besprechen. Nicht auf chinesische, blumenreiche Art, weil das zu lange dauern würde, sondern kurz und bündig. Als Männer!" „Schießen Sie los!" sagte ich und empfand sofort freundschaftliche Gefühle für ihn. „Ich weiß alles über die Vergangenheit in Tschungking. Die Dame hegte, wie Sie wissen, durchaus ehrenwerte Freundschaftsgefühle für Sie. D a n n w a r e n Sie lange nicht in China. Die Gefühle der Dame änderten sich langsam und sind n u n ganz anderer Art. Eigentlich, genau gesagt, seit dem Tag, als Silberdistel neulich den Dampfer nach H a n k a u bestieg. Da w u ß t e n wir beide, daß ..." Mit rührend hilflosem Lächeln sah er mir in die Augen. „Kurz und süß oder bitter ausgedrückt, zwischen Silberdistel und Ihnen w u r d e dabei in letzter Minute die Heirat geplant, und sie w u ß t e bis heute nicht, wie mir das beizubringen sei, ohne mir dabei allzu wehe zu tun", sagte ich. „Sie sind ein Ehrenmann und haben die richtigen Worte gefunden. Haben Sie Einwendungen?" Bittend sah er mich an. Ich stand auf, ging um den Tisch und n a h m seine Hand: 145
„Wanfu! Zehntausendfaches Glück!" Er preßte meine Rechte, seine Stimme w a r n u n weich wie Seide: „Inspekteur Quong h a t in Peking viel über Sie berichtet. Nur Gutes! Wir werden F r e u n d e sein! Wanfu!" Mir war ein Stein vom Herzen gefallen. „Wann wollt Ihr die ,Gemächer der Frühlingsdüfte' betreten?" „Gleich! Hier im Lager vertritt der älteste Ingenieur den Richter und Magistrat. Nach neuem Recht kann er die Ehe formell bestätigen. Nach alter Art, die ich durchaus nicht verhöhne, sollten wir erst den Nekromanten wegen eines günstigen Kalendertages befragen und viel anderes in die Wege leiten, so den Vater um seine Zusage bitten und einige religiöse Riten erfüllen. Silberdistel wurde, wie Sie ja wissen, ohne Wissen der Eltern damals, in den Vereinigten Staaten, Christin. Ich bin auch Christ; aber zur Zeit sind die Priester dieser Religion in China verhaßt und verachtet. Hier in der Ho-Tao-Wüste müßten wir sowieso auf ein derartiges Ritual verzichten; zudem soll ich in drei Tagen mein Amt wieder antreten. Ich nahm n u r einen kurzen Urlaub, verstehen Sie?" „Schön w ä r e es hier sowieso nicht für Flitterwochen. Aber Sie können beide morgen schon als Ehepaar nach Taiyüan fliegen und übermorgen, wenn Sie Beziehungen haben und das Wetter es erlaubt, in Nanking sein. Wanfu, Doktor!" Während unserer kurzen Unterhaltung w a r der Sturm schlafen gegangen. Der Teekessel zischte, und ich zog schnell das Kabel heraus. Quong und Silberdistel traten mit gespannten Gesichtern ein. Ich ging auf das Mädchen zu und schaute ihm in die Augen. Dann n a h m ich Silberdistel bei der Hand und führte sie ihrem Verlobten zu. Ich legte ihre Rechten zusammen: „Wanfu, ihr beiden, Wanfu!" Der Doktor legte den A r m um ihre Hüften und strahlte über das ganze Gesicht. In ihren Augen glänzten Freudentränen. „Ach, du b i s t . . . du b i s t . . . " „Ein feiner Kerl! Wanfu!" rief Quong und zerriß die letzte Spannung. Hände w u r d e n geschüttelt und Schultern geklopft; alle w a r e n froh und glücklich. Quong improvisierte eine urkomische Rede in Pidgin-Englisch. Dann stießen wir mit dem Hochzeits146
paar an. Es gab keine Gläser, auch keinen Champagner, sondern ungesüßten Tee in Porzellanschalen. Quong lief, um den Magistratsstellvertreter mit seiner Schreibmaschine und mit Pinsel und Tusche zu holen. Wanfu!
SHU Immer noch in Kua mit seinen täglichen Windstößen und Staubböen! Mein Urlaub und der von Quong w a ren noch lange nicht abgelaufen, w ä h r e n d das glückliche Ehepaar schon in Nanking weilte. Quong h a t t e mir gratuliert zu der Art, mit der ich die ganze Affäre zu Ende geführt hatte. Er riet mir: „Laß uns noch hierbleiben. Weißt du, die Verpflegung hier ist eine der besten, die wir außerhalb der Schwarzmarktgrenzen in China überhaupt haben können. Und die abendlichen Plauderstunden mit den Ingenieuren sind ja wirklich sehr interessant." Er hatte recht. Wenn es keine politischen Vorträge für die Arbeiter gab, an denen ich sowieso nicht teilnahm, unter anderem, auch weil mein Chinesisch zu schwach ist, fanden wir uns in der Wohnung des Agronomen Jee Sing ein, wo wir immer auch interessante Leute für Gespräche fanden. Einige von ihnen sprachen genügend Englisch, um mir bei der Konversation zu helfen. Ich w u r d e zwar meines Kauderwelsches w e gen oft ausgelacht; aber alles geschah ohne wirkliche Schärfe. Freund Quong ging oft, genau wie seinerzeit bei Tschungking, eigene heimliche Wege, die aber in diesem M ä n n e r k a m p nicht lange verborgen blieben. Die hübsche junge Krankenschwester Hui Liän besaß einen zahlreichen, sie anbetenden Hofstaat; aber Quong hatte die besten Chancen. „Ho! Ich glaube, daß ich mit diesem zierlichen weiblichen Zephirwind in den ,Frühlingsgarten der duftenden Blumen' eintreten werde. Heiraten!" sagte er eines Morgens. Bald darauf fand tatsächlich die T r a u u n g mit dem anschließenden, den Verhältnissen entsprechend geradezu üppigen Festmahl statt. Sogar Feuerwerk hatte er 147
besorgt, und die Raketen knallten unter Wanfu-Rufen in den lichten Nachmittag. Dann war ich in meiner Wohnung allein, da das frischgebackene Ehepaar ein anderes Quartier bekam. Alle drei warteten wir nur noch auf F r a u Hui Liäns bereits gemeldete Nachfolgerin, um dann abzureisen. Allmählich langweilten mich die Junggesellenabende. Tagsüber war das Wetter beständig heiß und kühlte nur des Nachts mit den Nordwinden ab. Manchmal waren es die Sandstürme aus der fernen Gobi, die gleich Hagelwetter gegen die Fenster prasselten. „Ho, als wir damals das Lager einrichteten, aßen wir zartes Fohlenfleisch, zuweilen auch Fettschwanzschaf in Menge", erzählte schmunzelnd der Lagerleiter Ho Ling, indem er an seiner blubbernden Pfeife zog. Er fuhr fort: „Am See standen Hunderte von Tangutenzelten, und die Herden w a r e n unübersehbar. Als dann unsere Arbeiter hundertfach zunahmen, verschwanden eines Nachts wie durch Zauberschlag sämtliche Jurten, Mongolen und Herden. Wie sie das fertigbrachten, ist uns heute noch ein Rätsel! Niemand verdachte ihnen aber die Flucht, denn unsere Bauern hätten diese gutmütigen, gastfreundlichen Nomaden binnen einer Woche armgegessen und an den Bettelstab gebracht. I h r Fürst oder Noyon stand uns sowieso skeptisch gegenüber, weil wir nur mit Regierungsgutscheinen zahlen konnten, für die die Hirten keine Verwendung hatten! Sie wollten Silber, um für ihre F r a u e n den beliebten Schmuck mit den eingefaßten Türkisen herzustellen, aber kein schmutziges Papier, das sogar noch zu steif zum Zigarettendrehen war. Doch woher sollten wir Silber nehmen?" In allen Tonarten pfiff, heulte und orgelte der Wind durch das riesige Lager „Windstoß". Aber auch über Peking und seine Politik w u r d e geredet. Niemand n a h m dabei ein Blatt vor den Mund. Selbst Quong billigte nicht alles, was die heutigen Mandarine in Peking ausbrüteten; doch sagte er stets, daß sich China in einer Entwicklung befinde und diese erst zu überstehen sei. Eines Abends begleitete ich den Freund zu seiner Wohnung. „Ein befreundeter Pilot h a t mir einen kleinen Krug Goldtropfenwein mitgebracht. Meine F r a u läßt dich 148
herzlich auf ein Täßchen bitten." Erfreut sagte ich zu. Auf dem Wege zu seiner Wohnung fragte ich ihn: „Sag mir, gibt es in China noch die Tongs genannten Geheimbünde?" Mißtrauisch wollte Quong wissen, w a r u m ich auf dieses T h e m a käme. „Soviel ich verstand, h a b t ihr kürzlich ganz beiläufig darüber gesprochen." Sorgfältig drückte er seinen Zigarettenstummel aus und steckte ihn in seine Blechschachtel. Dann holte er aus: „Geheimbünde existieren in China seit Jahrtausenden. Sie sind entweder gesellig-freundschaftlicher oder verbrecherischer oder politischer Art. Es gab auch schon solche, die alle diese Eigenschaften miteinander verquickten. Auszurotten sind diese meist schädlichen Tongs nicht, dafür ist der Chinese von Natur zu sehr Spieler und Geheimbündler. Schon zur Kaiserzeit gab es Minister, ja sogar Prinzen, die jenen verbotenen Gesellschaften angehörten, die sie eigentlich hätten verfolgen sollen! Denk an den Taipingaufstand. Er w u r d e ursprünglich von einer damals verbotenen Christensekte, zu der die Mohammedaner stießen, organisiert. Einige Zeit w a r Nanking ihre unabhängige H a u p t stadt; dann wurde diese von Regierungstruppen erobert; alles mußte über die Klinge springen, und die Stadt w u r d e fast dem Erdboden gleichgemacht. Nach ihrem Wiederaufbau gilt sie heute noch als modernste Stadt Chinas, weil sie sehr weitläufig wiedererrichtet wurde. Spätere Aufstände, die in Christen- und Mohammedanerverfolgungen ausarteten, schreibt m a n wieder den Taipings zu, obwohl diese einst die Stütze der Christen waren . . . Denk an Kiautschau, das die Deutschen nach einem solchen Aufstand als Pachtgebiet bekamen; denk an den Einmarsch englischer, französischer, japanischer und deutscher Truppen unter dem Motto ,the Germans to the front'; denk an den ,Sühneprinzen', der vom Pekinger Hof nach Berlin reisen und vor Wilhelm II. den Kotau machen m u ß t e und sehr unhöflich behandelt w u r d e . . . Anstoß zu diesen Geschehnissen gaben immer jene Tongs, und sie bestehen heute noch! Wenn auch n u r ganz geheim. So weiß ich bestimmt, daß der ehrenwerte Vater deiner einstigen Freundin, der jetzigen Madame Li - ein nach außen hin begeisterter Anhänger Maos - in einem Ge149
heimorden eine Rolle spielt, dessen Statuten die Wiederkehr Tschiang Kai-sheks an die Macht in China zum Inhalt haben. Paradox, nicht w a h r ? Aber die Chinesen sind nun eben manchmal so! Am stärksten ist dieser Bund in Szetschuan, Kwangsi und auf der Insel Hainan. - Aber wir sind angelangt. Sprich bitte im Beisein meiner F r a u kein Wort über solche gefährlichen Dinge!" Mit seiner Heirat hatte Quong einen Glückstreffer erzielt. Wenn er mich in meiner halb leeren Baracke besuchte, dichtete er ganze Rhapsodien über die ä u ß e r lichen und inneren Vorzüge seiner Frau: blauschwarze Haartracht, den Rabenfedern gleich! Brauen wie zwei Neumondsicheln über mandelförmigen Wonneaugen! Duftender Kirschenmund und Jaspisnase in einem Gesicht, so blank und glatt wie eine Silberschale! Der Leib biegsam wie ein Lilienstengel! Ihre Finger wie zarte, aus J a d e geschnitzte Zwiebelsprossen! Ein Busen wie die unversehrten Türme der Großen Chinesischen Mauer! Nach Landesbrauch nahm er kein Blatt vor den Mund. Und was Herz, Seele und Charakter anbetraf, w a r sie seinen Erzählungen nach eine Fundgrube feinster Bildung, goldener Güte und diamantener Tiefe! Chinesen sind Meister hochpoetischer Schilderungen. „Wanfu!" grüßten wir uns beim Eintritt in die durch Seidenkissen, Teppiche und Schals sowie durch einige Vasen und Lampenschirme verschönerte Wohnung. Madame Hui Liän trug einen langen, seitlich geschlitzten pfauenblauen Rock, ein blaues Jäckchen und andere, die Männerherzen erfreuende Dinge. In Hongkong aufgewachsen, hatte sie ihre Lehrzeit im großen „Queen Mary Hospital" absolviert und sprach daher ein kultiviertes Englisch. Wir verlebten einen frohen, sonst von keiner Politik getrüben Abend. Das Krüglein mit dem Goldtropfenwein sowie die sorgfältig für besondere Festlichkeiten gehütete Schachtel voll Szetschuandatteln leerten sich rasch. Die von Hongkong in einem Liebesgabenpaket geschickten englischen Zigaretten und der Tabak durchzogen die Wohnung mit honigsüßem Aroma. Draußen war es windstill und mondhell; in der Wohnung verstreuten Glühbirnen hinter geraffter Seide 150
ihren weichen, goldenen Schimmer, in dem die junge F r a u wie eine blaue Blume wirkte! Ihre zierlichen „Zwiebelsprossenfinger" gossen warmen Goldtropfenwein in dicke, plumpe Tassen. Ein gemütliches Heim in der Ordossteppenwüste . . . Hui Liän hatte als Gattin eines höheren Funktionärs keine Schwierigkeiten mehr, ihre Eltern in Hongkong zu besuchen. Das Flugzeug brachte sie nach Taiyüan, und da sie eine persönliche Empfehlung von Tschu en Lai besaß, w ü r d e sie keine Verzögerung im Weiterflug nach Hankau und Canton haben. Das Ehepaar hatte beschlossen, sich w ä h r e n d des Honigmondes im öden Kua kurze Zeit zu trennen: Damit die Frau als erste den nötigen, hochwichtigen Besuch bei den Eltern machen konnte und um gleichzeitig in Hongkong verschiedenes einzukaufen, was zur Zeit in China kaum oder nur in schlechter Qualität zu erstehen war. Gute Nylonstrümpfe werden zum Beispiel mit Gold aufgewogen. Nach der Rückkehr wollte das Ehepaar in Siangtan wohnen und auf dem Altmarkt gute gebrauchte Möbel erstehen. Nachher wollten die beiden die Flitterwochen fortsetzen, während ich am Tungtingsee Ölbohrungen vornahm. Ich war überzeugt, daß die Bohrungen vergeblich sein würden. Als Strohwitwer hielt Quong während der Reise seiner F r a u wieder Einzug in meine Wohnung. Obwohl er stöhnte und sich drollig beklagte, w a r mir dies sehr a n genehm. „Du hättest ja mitfahren können - oder würden dir die Briten in Hongkong Schwierigkeiten bereiten?" „Nicht, wenn ich als P r i v a t m a n n reiste. Gerne wäre ich mitgeflogen, doch ist da noch eine kleine Schwierigkeit zu überbrücken. Die Eltern Hui Liäns sind stolz darauf, daß ihre Tochter freiwillig ihre Dienste an armen Landarbeitern ausübte; denn wirklich erstklassige Krankenpflegerinnen, die ja über beträchtliche Erfahrungen verfügen, weigern sich sonst, in die Ordoseinöde zu gehen. Nun ist unser Lagerarzt, weil er nichts zu tun hatte, in Urlaub gegangen und neulich zurückgekehrt, wobei er das Glück hatte, eine gute Krankenschwester zu beschwatzen, ihn hierher zu begleiten. Die Neue ist nicht n u r tüchtig, sondern auch hübsch. Man munkelt schon von einer baldigen Ehe 151
zwischen Dr. Fen-Ho und Fräulein Yü Yang. - Doch soll das nicht unsere Sorge sein, denn heute über sechs Tage reisen wir ab." „Fliegen!" m u r r t e ich. „Du brauchst keine Angst zu haben; ich beschütze dich! - In einem Neubau am Rande von Siangtang weiß ich eine nette Wohnung und habe schon schriftlich die nötigen Formalitäten bei den dortigen Bürobonzen a n gebahnt." „Sag, w a r u m d a n n deinem jetzigen Besuch in Hongkong Schwierigkeiten im Wege stehen." „Weißt du, es ist so, daß Hui Liän keine Kommunistin ist und auch keine werden will und nur aus rein menschlichen Gründen diese Stellung hier angenommen hat. Aber ich bin nun einmal Kommunist, und zwar chinesischer. Du weißt es ja . . . " Ich nickte. „Sprich weiter!" „Wenn nun meine kleine F r a u den elterlichen Segen erbittet, werden die Alten zwar j a m m e r n und schimpfen; doch da unser Land schon verschiedene Regierungsformen überstand, werden sie letzten Endes beide Augen zudrücken und innerlich auf einen Regierungswechsel hoffen. Aber erst müssen sie stundenlang mit der Tochter schwatzen und sie ausfragen. Es w ä r e undiplomatisch gewesen, gleich mit Hui Liän zusammen anzurücken! Der Schwiegerpapa ist Kaufmann, der mit den englischen Behörden gut steht, und, wie ich weiß, nicht nur regelmäßig Liebesgabenpakete an unbekannte Leute nach China schickt, sondern auch ständig Geld nach Formosa überweist. Als echter Chinese alter P r ä g u n g will er es weder mit Mao noch mit dem Marschall verderben. Und er k a n n sich das leisten, weil er in der sicheren Kronkolonie Hongkong wohnt!" Quong machte sich am Teekessel zu schaffen. Draußen strahlte ein schöner, windstiller Tag. Rhythmisch klopften die P u m p e n ; manchmal dröhnten Traktoren; ferner Gesang hallte in echolosen Wellen. Die eine Hälfte der Arbeiter hatte heute ihren freien Tag, und ich wußte, daß es für alle beim Essen eine kleine Beilage gepökeltes Schweinefleisch geben würde. Die Pfeife voll mit gutem Tabak aus Liebesgaben von Quongs Schwiegereltern schmeckte vorzüglich. Meine gute Laune wuchs, und ich dachte daran, daß es sogar möglich sein könnte, am Tungtingsee Öl zu finden . . . 152
Vom nahen F u n k h a u s hörte ich m a n c h m a l ein trokkenes Knistern in der Luft. Unter blauem Himmel zogen Krähenschwärme südwärts. Plötzlich entstand draußen heftige Unruhe. Dem Lärm folgte merkwürdigerweise ein langes Schweigen. Sogar die Pumpen der Nachbarschaft setzten mit ihrem dumpfen Pulsschlag aus. Weder Quong noch ich dachten uns etwas dabei; auch dann noch nicht, als draußen überraschend ein Gelaufe und Getrampel aufdröhnte. Er goß mir gerade Tee ein und warf ein Stückchen Zucker in meine Schale, als die Tür krachend aufflog. Ein Elektriker im blauen Monteuranzug taumelte verstört ins Zimmer, hielt sich an der Tischdecke fest, atmete keuchend und stierte uns an. Rasselnd tönte sein Atem, während draußen gellende Schreie die warme Sommerluft zerschnitten. „Shu!" stammelte er endlich. „Shu, Aiiih!" „Ratten? Hast du eine Ratte gefangen? Das ist doch nichts Aufregendes, Ratten gibt es im Lager zu Tausenden! Nachts laufen sie scharenweise über den Platz, wo der große Lautsprecher steht!" rief ich. Der Mann schrie Quong etwas zu, und dessen Gesicht wurde blaß. Wie ein Betrunkener das Wort „Shu!" lallend, taumelte der Mann wieder ins Freie. Kopfschüttelnd sah mein Freund ihm nach. Draußen waren die Schreie verstummt; ein Summen Zehntausender von Stimmen näherte sich langsam, als ob große Bienenschwärme zögen. Quong sprach ernst: „Vor allen Baracken liegen plötzlich tote oder sterbende Ratten. Und w e n n diese Tiere am hellichten Tag aus ihren Löchern kommen und schmerzvoll pfeifend unter Zukkungen krepieren, so bedeutet das nur eines ..." Er seufzte und sagte leise: „Gott sei Dank ist meine Frau nicht m e h r hier!" „Der schwarze Tod? Die asiatische Pest?" fragte ich flüsternd. „Erst wollen wir uns umsehen; vielleicht ist die ganze Aufregung ein Irrtum. Wenn nicht, dann, lieber Freund, d a n n wirst du in den kommenden Stunden viele, viele Menschen u n t e r furchtbaren Schmerzen sterben sehen. Hunderte, Tausende! Vielleicht die ganze Belegschaft! Und wir gehören dazu!" „Was k a n n m a n dagegen tun?" Er erwiderte ohne große Hoffnung: „Die Infizierten 153
isolieren, die verseuchten Baracken verbrennen — hier in Kua bestehen sie jedoch aus Lehm und Stein und brennen nicht. Ungelöschten Kalk über die Gräber und an den Häusern entlang streuen. Wahrscheinlich gibt es aber im Lager kein ganzes Kilo davon! Injektionen? Man weiß nicht welche; es w ä r e n auch bestimmt nicht genügend vorhanden. Saufen? Alkohol ist n u r für ärztliche Zwecke in ganz geringer Menge vorhanden. Beten? Es soll manchmal helfen, das bestreite ich nicht. Am besten w ä r e sicher, was ich als Kind in Yünanfu erlebte - alles stehen- und liegenlassen und davonlaufen! So weit als möglich! Dann bleibst du vielleicht verschont. - Es ist gar nicht auszudenken!" Der sonst so beherrschte Mann raufte sich verzweifelt die Haare und stampfte wütend auf den Boden. Draußen schwoll der Lärm zu einem von spitzen Einzelschreien immer wieder durchstoßenen Geheul an und wurde lauter und lauter! Von den entfernten Feldern rumpelten die Traktoren, Bulldozer und K r a n w a gen heran; Scharen von Männern liefen hinter ihnen . . . Wir blickten durch die Türöffnung und sahen sie kommen. Einige liefen und brüllten dabei; andere w a r fen sich zu Boden, streckten betende Hände zum Himmel, sprangen wieder auf und rannten ein Stück weiter. Unter den Wolken zogen Krähenschwärme dahin; sie glichen schwarzen Perlenschnüren auf blauer Seide. Ununterbrochen schwirrten sie südwärts. Quong hielt mich am Arm zurück: „Bleib! Bist du Arzt? Aber auch dann wärest du machtlos!" . . . Die Traktorenbedienungen hielten ihre Fahrzeuge an und rannten in ihre Baracken. Gleich darauf k a m e n sie schreiend wieder herausgehetzt. Ich blickte zur Funkerbude und sah die jungen Beamten hinter Fenstern mit eisernen Mienen ihre Botschaften in den Äther senden: Pest in Kua! In dichten Scharen schwärmten noch immer Tausende von den Feldern zurück und mischten sich mit andern aus den Baracken. Wie Irre liefen sie durcheinander. Manche stürzten und standen nicht mehr auf. Andere Haufen ordneten sich unter dem Kommando der Vormänner und marschierten kolonnenweise diszipliniert in die Steppe hinaus. 154
„Shu! Ratten!" brüllten Tausende. „Der schwarze Tod!" Doktor Fen kam mit zwei Schwestern aus einer Baracke. Ich ließ mich nicht m e h r halten, sondern lief zu ihm hin. Instinktiv machte ich einen Bogen um einige vor dem Speisesaal III sich windende, beim Krepieren qualvoll pfeifende Ratten. „Nicht in die Nähe der Tiere gehen!", schrie der Arzt. „Kann m a n denn nichts tun?" fragte ich eindringlich. Sein intelligentes Gesicht w a r zur tragischen Maske erstarrt. Durch das Tosen der Menge brüllte er mir zu: „Ich werde Ihnen Lysol geben, damit durchtränken Sie beide Ihre Kleider!" Dann: „Das Lager enthält an die fünfzigtausend Männer. Wenn wir auf je hundert einen Arzt, drei Schwestern und tonnenweise Lysol hätten, könnte einiges versucht werden. Und wenn zehntausend Soldaten mit Maschinengewehren zur Verfügung stünden und nicht von der Panik angesteckt w ü r d e n - dann könnte das ganze Lager isoliert werden, indem auf alle, die sich dem Kordon n ä h e r n wollten, Mensch und Tier, unbarmherzig geschossen würde. So aber ...", resigniert zeigte er zu den Baracken. Dicht geballte Menschenschwärme setzten sich in Bewegung. Viele hatten ihre Bündel geholt und schleppten dazu Wasserflaschen, Teekessel und Decken mit sich. So rannten Tausende, stolperten weitere Tausende und m a r schierten dröhnend andere Tausende, die den Staub in gelben Wolken aufwirbelten. Weiße Zähne leuchteten in gelben Gesichtern. So k a m e n sie an uns vorbei, k ü m merten sich gar nicht um uns, sahen uns wahrscheinlich ü b e r h a u p t nicht. Sie liefen zu dem trägen F l ü ß chen, das von hier Hunderte von Meilen durch öde Steppen, die öde Sandwüste und nackte Berge fließt, zu dem Flüßchen, das durch die Einsamkeit fließt, bis vielen Meilen seine Ufer bewohnt und bebaut sind . . . „Panik! Alle werden sie bis zum letzten Mann binnen drei Tagen entkräftet in der Hotao liegen, und wer keine Pest hat, wird verhungern. Und wer schon angesteckt ist, weil die Pest sich wie ein Wildfeuer ausbreitet, infiziert wieder andere. Und alle Infizierten sterben in Minuten, höchstens in wenigen Stunden! Von den Tausenden, die hier vorbeiziehen, leben heute abend n u r noch Hunderte, morgen n u r noch Dut155
zende . . . Rufen Sie den Inspektor, damit wir uns mit Lysol einspritzen. Das ist zwar ein im vorliegenden Fall nicht besonders wirksames Vorbeugungsmittel! Wir können im Grunde nichts tun als abwarten, ob wir überleben oder nicht. In Taiyüan wissen sie bereits von der Katastrophe. Sie werden nichts tun, um uns zu helfen, weil sie nichts tun können. Sie warten nur, bis sich die Seuche hier ausgetobt hat. Aber alle, die in die Steppe am Fluß wandern, wird man, damit sie den schwarzen Tod nicht weiterverbreiten, von Flugzeugen aus mit Maschinengewehren niedermähen! Ein wirkliches Mittel gegen den schwarzen Tod kennt man überhaupt noch nicht. Das einzige Mittel w ä r e eine Q u a r a n t ä n e ; aber dann darf m a n noch nicht angesteckt sein. Verdammte Bande, da erfinden sie alles mögliche, Atombomben und anderen Klimbim, geben Millionen und Milliarden für die besten Waffen aus, um sich eines schönen Tages gegenseitig zu vernichten, anstatt daß alle sich zusammentun, um wirksame Mittel gegen Krankheiten zu erfinden!" Quong kam, und im Ordinationszimmer d u r c h t r ä n k te man uns förmlich mit Lysol. Eine Schwester lief zu den Funkern, um auch diese zu behandeln. „Gehen Sie in Ihre Wohnung und schließen Sie sich ein! Wenn jemand durch das Fenster eindringen will, schießen Sie erbarmungslos! Und hüten Sie sich vor allem vor den Ratten! Das sind die Träger! Buddha oder Christus möge Sie beschützen!" endete der Doktor und ging, von den Schwestern gefolgt, in sein leeres Hospital. Wir verbarrikadierten uns so gut als möglich und stellten uns bei den Fenstern auf. Draußen lag immer noch hoher Staub und verdunkelte alles zu einer gelben Dämmerung. Er peitschte hoch zum Himmel auf u n d sank langsam herab, so daß nach kurzer Zeit der Himmel verschleiert und wie bewölkt aussah. Ununterbrochen dröhnte unter rennenden oder t a k t m ä ßig marschierenden Männern der harte Boden. J a m mern, verzweifelte Schreie, verrücktes Lachen und dazwischen Marschgesänge! J u n g e Bauern, in Bataillonen angetreten, marschierten mit unbewegten Gesichtern davon. Viele schleppten zu viert auf zusammengebundenen Schaufelstielen ihre e r k r a n k t e n Freunde. Draußen wälzten sich jetzt qualvoll die ersten ster156
benden Menschen. Scharen von Besessenen tanzten wie in grauenvollem R h y t h m u s in die Steppe hinaus. Traktoren knatterten und waren mit sich anklammernden Menschentrauben behängt, torkelnd fuhren sie in die Wüste. Über allem breitete sich immer m e h r gelbes Staubgewölk aus, w a r nur an einzelnen Stellen zerrissen, so daß dort ein fleckenlos blaues Stück Himmel und goldene Sonnenstrahlen zu sehen waren. Durch den Staub schwirrten tieffliegende Krähen, nicht mehr nach Süden; die Schnäbel lüstern wetzend, kreisten sie um das Todeslager. Menschen sprangen wie Irre hin und her und stoben schreiend in alle Richtungen. Und d r a u ß e n - jetzt konnten wir es durch das Fenster sehen - k r ü m m t e n sich immer mehr sterbende Ratten! Draußen . . . „Quong, haben wir Rattenlöcher?" „Keine. Ich habe schon nachgesehen. Schließe dein Fenster! Bist du verrückt? Schnell!" Eine Ratte, gefolgt von einer zweiten, sauste gegen das Gebäude. Dann sahen wir, wie sie, die den Tod t r u gen und d a r u m in letzter Verzweiflung die Gesellschaft der Menschen suchten, mit letzter Kraft gegen die Glasscheiben bumsten, schlaff zurückfielen und zuckend liegenblieben. „Man bekommt eine Art Delirium, dazu furchtbare Schmerzen und in der Leistengegend hühnereigroße Eiterbeulen, erbricht sich und hat hohes Fieber. Bei vielen d a u e r t die ganze Krankheit n u r eine Viertelstunde; andere schleppen sie einen vollen Tag herum, ehe sie sterben. In Indien verwendet man oft, aber nicht immer erfolgreich, Sulfattabletten wie gegen Cholera. Meist helfen sie aber nur als Vorbeugungsmittel. Aber wie kann jemand wissen, ob er die Keime schon in sich hat oder nicht? Überdies gibt es in Kua gar keine solchen Tabletten. Injektionen h a t der Arzt auch keine. Niemand hat hier mit dieser Katastrophe gerechnet, sonst w ä r e n zumindest wir beide abgeflogen. - Aiiih, ich habe ähnliches erlebt, noch viel schlimmer als hier, weil F r a u e n und Kinder, Greise und Greisinnen, Büffel, Schafe, Pferde, Hunde, Katzen, Ziegen und zahme Vögel mitgetrieben, mitgeschleppt wurden. Ich sah die ganze überlebende Bevölkerung der großen Stadt Yünanfu vor der Pest ins Freie flüchten, taumeln und kriechen! Ich war ein kleiner Knirps damals ..." 157
Quong konnte nicht mehr weitersprechen. Wir standen so, daß uns niemand sehen konnte. Das Hospital lag wie ausgestorben. Nur die Männer im F u n k h a u s taten hinter den Glasfenstern noch u n unterbrochen ihre Pflicht, indem sie SOS-Rufe in alle Himmelsrichtungen sandten. Dieses SOS bat aber nicht um Hilfe - save our souls - sondern sagte: „Bleibt fort, kommt nicht nach Kua, damit ihr nicht angesteckt werdet". Nach Stunden erst w a r der zum Flüßchen marschierende Zug vorbei; langsam begann sich der Staub zu setzen, und die Stücke blauen Himmels wurden größer. Die kreisenden Krähen, die sich mit den Flüchtenden bewegten, w a r e n deutlicher zu erkennen. Es kamen nur noch kleinere Haufen und dann einzelne Nachzügler. Viele Sterbende und Tote lagen in Sichtweite. Einige verspätete Traktoren und Lastwagen, an denen Menschen hingen, wo sie sich nur a n k l a m m e r n konnten, schwankten vorbei. Unheilvolle Stille kam mit den zur Ruhe gehenden Staubwolken. „Aus!" sagte Quong leise. „Meinst du, daß ..." Er nickte: „Denk' doch, diese Landarbeiter sind alles junge Leute. Der Aberglaube, der bei ihnen auch die Pest umschließt, saß bereits in ihren Eltern und Vorvätern und ist n u n in ihnen voll erwacht. Und selbst alle, die vorhin scheinbar diszipliniert abmarschierten, haben anfänglich n u r die Angst unterdrückt. Sicher rennen sie jetzt sinnlos über Sand und Dürrgras. Ich glaube, daß außer dem Hospitalpersonal, den F u n k e r n und einigen Dutzend Vormännern und Ingenieuren keine a u ß e r uns noch im Lager sind. Und sie haben sich klugerweise eingeschlossen wir wir." „Es waren fast unzählige Menschen ..." „ . . . die du hast vorbeilaufen sehen! Eine derartige Panik ist bei solchen Ursachen menschlich, durchaus verständlich. In der Wüste und Steppe d r a u ß e n haben die Menschen zwar nichts zu essen, aber der Fluß gibt ihnen doch wenigstens Wasser. Und dort in der Einöde herrscht keine Pest - so denken sie und haben doch den schwarzen Tod schon in sich. Von diesen fünfzigtausend kommt keiner zurück. Der Doktor hat recht: Man wird sie, damit die Seuche sich nicht weiter ausbreitet, 158
mit Maschinengewehren aus Flugzeugen umbringen!" „Und wir?" „Wir haben eine Chance! Falls wir überleben, wird man uns aus der Luft Verhaltungsmaßregeln abwerfen und uns mitteilen, wie wir unsere eigene Q u a r a n täne einrichten sollen usw. Falls wir überleben, müssen wir bis auf weiteres hier im Lager bleiben!" Eben öffnete sich die Tür der Funkerbaracke. Ein Uniformierter kam heraus und sah uns hinter unserem Fenster stehen. Er machte Zeichen, schwenkte einen Zettel und lief damit zum Hospital. Dort tauchte das Gesicht des Arztes hinter den Scheiben auf. Sie redeten und riefen und gestikulierten - ohne daß das Fenster geöffnet wurde. Der junge Mann kam jetzt zu uns. „Fenster zulassen!" schrie er; die toten Menschen und Ratten umging er. Quong sprach mit ihm; dann schritt der Junge langsam nach seiner Station. Plötzlich begann er zu laufen, erreichte die von innen bereits geöffnete Tür, machte einen weiten Satz - und hinter ihm knallte die Tür zu. Eine Ratte sprang dagegen, fiel zurück, legte sich auf die Seite und sauste d a n n mit schrillen Pfiffen im Kreise herum. Endlich torkelte sie und verreckte. „Wir sollen das Haus nicht verlassen! Als ob wir Idioten wären. Der Arzt meinte, daß bis morgen früh sämtliche Ratten tot sind. Wir sollen das Wasser für Tee usw. vorher abkochen! Die Leute im Dynamohaus sind auf ihrem Posten gestorben. Bis vor kurzem noch telephonierten sie mit den Funkern, und es gab noch Strom. Jetzt ist auch die Elektrizität tot. Kein Licht mehr, auch kein fließendes Wasser; alle Pumpen stehen still. Vor einer halben Stunde konnten die B u r schen drüben noch funken. Jetzt haben sie keine Batterien mehr. Die Behörden übermittelten den Befehl, daß keiner von uns das Lager verlassen dürfe. Morgen wird der Arzt weitere Weisungen erteilen!" Eintönig floß Quongs Stimme. Unsere freiwillige Gefangenschaft w ü r d e nicht lange dauern. Entweder lebten wir morgen noch, oder . . . Wir zündeten unseren Tabak an, qualmten und n a h men dabei Bestand auf: Der große Kessel war halb voll Wasser, der Teekessel fast voll Tee; dazu hatten wir noch drei Pfund Tee, ein Pfund Liebesgabenzucker, 159
vier Büchsen Sardinen und genügend Tabak, dazu einige Zigaretten. Draußen herrschte eine lähmende Stille; gräßlich wirkten darin einzelne noch im Tode w i m m e r n d e Ratten. Manchmal prallte eines der panikerfüllten Tiere gegen unsere Tür. Sonst herrschte Schweigen in Kua. Wir gingen instinktiv auf Zehenspitzen. Immer noch blauer Himmel und eine rote, tief stehende Sonne, die bis zum Zenith alles mit rosigem Perlmutter umfloß. Keine Krähenschwärme m e h r . . . Wir saßen auf dem Diwan, hielten die Fenster im Auge und rauchten. Das Schweigen w u r d e u n e r t r ä g lich. Es war, als ob der Tod wie eine unsichtbare Mauer das Haus umlagerte, sich dagegenpreßte und nach Öffnungen suchte. „Mensch, sag etwas, um Gottes willen!" rief ich Quong zu. Lächelnd m u r m e l t e er: „Ich denke an meine Frau, die in Sicherheit ist." UND HOFFEN Und so geschah es. Abertausende hoffnungsvoller, junger Landarbeiter starben in der Ordossteppe an der Pest. Und schlagartig hörte die Pest mit dem Tode der letzten Ratte auf. Von uns w a r e n etwa drei Dutzend am Leben geblieben, weil wir den Wahnsinnsmarsch in die Steppe nicht mitgemacht hatten. Flugzeuge kamen. Zelte wurden aufgebaut, in denen wir noch drei Wochen streng abgeschlossen in Q u a r a n t ä n e hausten. Die Baracken wurden gründlich ausgeschwefelt, die Toten in Massengräbern mit Kalk überschüttet und dann die Baracken mit allen anderen Gebäuden in die Luft gesprengt. Kua steht nicht mehr. Über seine T r ü m m e r sausen Windstöße und wirbeln Sand auf. Die Kanäle versiegen; die vertrockneten Hirsepflanzen reißt der Sturm aus und jagt sie knisternd über die flache Ebene . . . Quong lebt mit seiner Frau in Siangtan, wenn er sich nicht auf Inspektionsreisen befindet. Und ich? „Wir haben gewußt, daß trotz Ihrer skeptischen An160
sicht in diesem flachen Tal in nicht zu großen Tiefen Öl zu finden ist, Genosse Europa!" lächelte m i r Ingenieur Hu zu. „Das geht über meinen Verstand. I m m e r noch, obwohl die Tatsachen mich überzeugen müssen. Eher hätte ich eine Menge hühnereigroßer und bereits feingeschliffener Brillanten hier vermutet. - Aber nennen Sie mich doch nicht immer Genosse Europa!" brummte ich. Er lächelte: „Aber Sie sind doch aus Europa!" „Beim Schnurrbart des Fo, ich heiße Martin!" sagte ich. „Natürlich mußten Sie hier auf Erdöl stoßen, Towarisch!" fuhr der Ingenieur fort. „Wieso? Wenn das so klar war, w a r u m h a b t ihr mich herbeordert, wenn ich doch lieber im K a r a k o r u m g e biet gebohrt hätte! Sie selber sind doch Fachmann, und ich glaube, auf euren Technischen Hochschulen w e r den genügend Kräfte ausgebildet. Mit ein wenig Praxis werden die bald noch m e h r können als ich!" Er verbeugte sich: „China dankt Ihnen jetzt durch meinen Mund für das Kompliment und Ihre Bescheidenheit! Aber beruhigen Sie sich bitte! Freilich, nach den Erlebnissen in Kua k a n n man Ihre seelische Verfassung verstehen. Es m u ß schauerlich gewesen sein." Der baumlange chinesische Ingenieur stelzte mit großen Schritten zum Ende der Bohrlochbude, kehrte wieder um und sagte mit überraschend weicher, besorgter Stimme: „Reden Sie sich die Sache von der Seele; dann können Sie sie vergessen!" Mehrere Monate waren seit damals vergangen, und immer noch schüttelte mich das Entsetzen, wenn ich daran dachte. Ich erzählte ihm: „Von den fünfzigtausend blieben durch Zufall oder Gottes Gnade eine Handvoll Fachleute, Forscher, Schwestern, Ärzte, F u n ker und Quong nebst mir übrig. Wie soll ich das vergessen? Manchmal träume ich das alles wieder und höre die Menschen schreien. Und höre die Ratten winseln! Lassen Sie uns um Gottes willen über etwas anderes reden. Erzählen Sie mir, wie es kommt, daß wir hier doch noch Öl gefunden haben, nachdem ich ans Ministerium in Peking berichtet hatte, in der Ordos und am Tungtingsee sei niemals Öl zu finden? Das schlägt doch allen Naturregeln und geologischen Begriffen ins Ge161
sicht. Ist denn in China schon seit der Schöpfung alles auf den Kopf gestellt?" „Ihre Kenntnisse und Erfahrungen schätzt man außerordentlich, Genosse Europa! Ich hörte sogar, daß m a n Sie in Nanking haben will, wo Sie an der Universit ä t Ihre praktischen und theoretischen Ansichten lehren sollen. Öl? Es gibt eine Menge Überlieferungen bei uns. Ein großer Teil beruht auf mündlicher Weitergabe und gehört fast ausnahmslos ins Gebiet der Sagen, der Folklore oder der Mystik. Anderes wieder ist dokumentarisch seit J a h r h u n d e r t e n festgelegt und liegt heute im Museum für Geschichte zu Peking." Er lächelte fein: „Ich denke, als Sie für die Tschiang-Kai-shekRegierung arbeiteten, hat m a n Ihnen auch nahegelegt, am Tungting zu bohren?" „Gewiß. Und meine Meinung darüber ist bekannt! Ich konnte damals keine Stichproben machen, weil es hier von den Truppen des Tenno wimmelte." „Die Tschianggelehrten kannten, wie auch wir heute, das alte, ausführliche Manuskript, das mit Detailzeichnungen versehen ist. Hören Sie: Unter der Regierung des Großen Gelben Drachen Hui Tsung - w ä h r e n d der Blütejahre 1100 bis 1126 christlicher Zeitrechnung w a r e n schon unzählige Kupfer- und Kohlebergwerke bekannt; und sie wurden auch ausgebeutet. Auch das ,brennende wohlriechende Öl der Erde' k a n n t e man, weil es verschiedentlich in kleineren Quantitäten knapp unter der Erdoberfläche gefunden wurde. Niem a n d w u ß t e damals damit etwas anzufangen. Wenn man es anzündete, qualmte und stank es furchtbar. Ein Reinigungsverfahren war unbekannt. Es w u r d e n u r zu medizinischen Zwecken verwendet, etwa als Einreibemittel gegen Rheuma, Zahnweh und Ohrenreißen; auch schrieb man dem flüssigen Mineral große Kraft bei kreißenden F r a u e n zu. Alle möglichen Quacksalbereien wurden damit getrieben. Nun geschah es unter dem Kaiser Hui Tsung, daß eine Gelehrtengruppe die Mündung der Liukiang und Linschui am nordwestlichen Tungtingzipfel auf Goldvorkommnisse u n t e r suchte. Zwischen der heute noch bestehenden Stadt Li, wo unsere Arbeiter herkommen, der großen K a r a wanenstraße, die von Indien nach Shasi und weiter führt und ebenfalls heute noch benützt wird, und dem See - also direkt an der Grenze von Hupeh und H u n a n 162
stieg vor den erstaunten Augen der Gelehrten plötzlich ein schmutziger, braunschwarzer Geysir aus dem Seeufer. Er sprudelte sieben Tage lang ununterbrochen, verschmutzte den See auf weite Strecken und tötete viele Fische. Ehe dieses N a t u r w u n d e r wieder aufhörte, geriet die ganze Gegend in Aufruhr. Man schickte nach berühmten Geisterbeschwörern, um diese Teufelsbrühe, wie m a n sie nannte, zum Versiegen zu bringen. Natürlich w a r es Erdöl! Das Vorkommnis w u r d e aufgezeichnet, beschrieben und ausprobiert, und diese Schriftstücke wurden zu den zwei damaligen Hauptstädten geschickt. Können Sie es dem Ministerium des Marschalls und unserem heutigen verdenken, daß man sich darauf versteifte, an dieser Stelle Bohrversuche machen zu lassen? Sie, geschätzter, hochverehrter, frühergeborener Wissenschaftler, und ich kleines, w e r t loses, junges Geschöpf h a t t e n Erfolg!" Triumphierend wies er auf unser Lager am See und zeigte seitwärts zu den Hügeln, Bergen und Schluchten und auf das lange, steinbesäte, auf Seeniveau liegende Tal - dorthin, wo unser Derrik stand, wo die Wellblechbude ein saugendes, schmatzendes und brummendes Bohrloch schützte, wo eine Röhrenleitung zum Ufer lief und eine Kahnflotte eiserne Fässer ein- und auslud. Was ich vorher stets als Narrheit erklärt hatte, was aber auf einem tausendjährigen Pergament aufgezeichnet lange Zeit verstaubt im Museum lag, das war wahrhaftig eingetroffen! Ein Wunder, und den Ruhm teilten nun der ehrenwerte, ältere und frühergeborene Ingenieur Hu u n d meine ,kleine, unwichtige, spätergeborene Zwergexistenz' - u n d natürlich unsere braven Arbeiter. Es gab zahlreiche Glückwunschtelegramme, Ansprachen von hohen Funktionären — darunter eine von meinem F r e u n d Quong! Es gab freie Tage, eine zusätzliche Seifenration, Tabak und Zigaretten, Geldgeschenke und, besonders wichtig in diesen Zeiten der Not, Extralebensmittelrationen. Die Freude über den Erfolg und vielleicht noch mehr meine Verblüffung vertrieben vorläufig meine wieder aufgetretene Malaria. Quong w a r nun wieder auf Inspektionsreisen. Ich vermißte ihn sehr. Es ließ sich aber auch gut mit dem 163
Kollegen Hu auskommen. Er w a r ein netter Kerl, der einst seine Examina „cum laude" bestanden hatte. Er sprach englisch, russisch und cantonesisch, alles bunt durcheinander; und auf dieser Basis verstanden wir uns auf das beste. Vier Geologen, die eine praktische Arbeit ausführen, bilden eine mißtrauische Clique. Andere wieder sind enthusiastische Burschen! Wir blieben noch immer mißtrauisch. Gewiß, wir hatten Öl in k a u m hundert Meter Bohrtiefe gefunden, und vielleicht gab es unter unseren Füßen sogar ein riesiges Reservoir des kostbaren Minerals! Es floß Tag und Nacht aus unserem Loch, w e n n auch ohne Eigendruck, und so m u ß t e n wir p u m pen. Schon w a r e n enorme Behälter im Bau. Eine Pipeline mit kleinem Durchmesser führte zum See. Wir hatten zum Transport den schiffbaren Tungting in der Nähe und dazu weitere schiffbare Flüsse oder zumindest den breiten Siangkiang, außerdem die Eisenbahn von Canton nach Hankau. Ferner floß dicht bei uns der Linkiang. Er floß unweit unseres Seezipfels durch die im Sommer fast trockenen Sumpfgebiete und mündete in den großen Yangtse. Billige Transportgelegenheiten gab es also in Mengen! Wenn nun aber diese Wunderquelle nicht ein mächtiges, unterirdisches Bassin, sondern nur eine sogenannte „Blase" ist und nach einigen Wochen versiegt? Gewiß, wo solche „Blasen" vorkommen, sind zum größten Teil auch große unterirdische Ölmengen in oft geradezu unversiegbarer Fülle vorhanden. Vielleicht aber liegen sie nicht hundert, sondern tausend Meter tiefer! Ich arbeitete einst in USA, in der kleinen Stadt Bisbee in Arizona, und zwar in einer Kupfererzgrube. Diese „Shattukmine" w a r damals schon über zehntausend Fuß, also etwa drei Kilometer tief. Warum sollten hier im gebirgigen China, dessen Wüsten und Steppen so hoch liegen, daß sie nicht mit der unter Meeresniveau sich erstreckenden Sahara verglichen werden können, die wirklich großen, ergiebigen Ölquellen nicht noch tiefer als die Shattukmine sein? Unsere Quelle floß nur, w e n n wir das dickflüssige Mineral hochpumpten. Unsere Förderung betrug zwar nicht, wie zu erwarten war, täglich an die vier- bis fünftausend Fässer, das F a ß zu zweihundert Kilo164
gramm gerechnet, sondern n u r vier- bis fünfhundert Fässer. Das war ein schöner Anfang. Aber würde sich alles fortsetzen? Am ersten Tag waren an die dreitausend Kilogramm Öl in den See geflossen, was uns von Seiten der Fischer die Bezeichnung „Kinder des Teufels" eintrug. Die Fischer warfen uns vor, daß wir die Fische vergifteten und überhaupt allerlei „Dämonenkunststücke" trieben. Die Fische w a r e n bei der fortdauernden Ernährungskrise für die ganze Umgebung hochwichtig. Die Sprecher der Fischer kamen zu uns und machten uns die Hölle heiß. Wir sorgten schnell dafür, daß kein Tropfen m e h r in den See floß. Der ganze Ölstrahl w u r de in die Tanks geleitet. Ein emsiger Aufbau spielte sich vor meinen Augen ab. Die Kahnflotte vergrößerte sich zusehends. Große Tanks schossen aus dem Boden, eine Raffinerie entstand, solide Wohnbaracken w u r d e n errichtet, Schmalspurgeleise gelegt. Aus den Städten holte m a n „freiwillige Arbeiter" für das Wunder am Tungting. Ingenieur Hu und ich h a t t e n übrigens energisch beim Provinzgouverneur jeden Zwangsrekruten abgelehnt; wir w u ß t e n beide aus Erfahrung, daß d a n n weder mit Arbeitswilligkeit noch mit Ausdauer gerechnet w e r den konnte. Und gerade das brauchten wir unbedingt, wollten wir nicht noch auf halbem Wege Schiffbruch erleiden. Da half kein Maski . . . Immer wieder dachte ich skeptisch, daß unser Ölbrunnen eines Tages aussetzen könnte, d a ß wir dann monatelang neu bohren müßten, Dutzende kostbarer Bohrer ruinierten und doch keinen Erfolg hätten . . . Hei, den bösen Anranzer, den Ingenieur Hu dann aus Peking bekäme! Mir w ü r d e n die Herren höchstens ihr Mißfallen schön verpackt in der weichen Wolle blumiger Floskeln servieren! Hu täte mir wirklich leid! Ich mir übrigens auch! Und zwar nicht wegen des Rüffels aus Peking, sondern wegen des verletzten Ehrgeizes; denn niemand w ü r d e sich dann d a r a n erinnern wollen, daß ich von Anfang an dieses Tungtingwunder mit ungläubigen Augen betrachtet h a t t e ! Allerdings wußte ich jetzt schon, daß mein weiteres Verbleiben in China dieses Mal nicht m e h r von sehr langer Dauer sein konnte. Mein Gesundheitszustand 165
verschlimmerte sich zusehends. Aber ich wollte in Ehren und nicht mit einem Fiasko belastet abfahren. Solche Gedanken beschäftigten mich in jeder freien Minute. Wochen und Monate vergingen bei angestrengter Arbeit. Das Öl floß weiter. An drei neuen Bohrstellen, bei hundertfünfzig Meter Tiefe, hatten wir wieder Erfolg! Es m u ß t e n mehr Arbeiter angefordert werden. Wir bekamen eine Funkstation, eine Telephonleitung innerhalb des Tals, einen Dynamo und damit auch elektrisches Licht. Es w u r d e n schon zwölfhundert Faß pro Tag gefördert! Die Fischer schimpften uns nicht m e h r „Teufelskinder und Dämonenlieblinge", sondern nannten uns „ehrwürdige, vielfrühergeborene höhere Herren" und verkauften uns unter der Hand manchen schmackhaften Fisch. Sie mußten ihren Fang sonst vollständig abgeben. Ein Lazarett w u r d e gebaut; es kamen ein Arzt und zwei Schwestern. Und man sprach bereits von einem Kino. Und Mao lächelte von den überall angebrachten Plakaten herunter. Quong besuchte mich einmal auf einige Tage, eilte als glücklicher Ehemann aber bald wieder nach Siangtan zu Hui Liän. Der gute Kerl ließ mir einige Päckchen Tabak zurück, die von den inzwischen gänzlich versöhnten Schwiegereltern stammten. Die Fischer an den Seeufern brannten nun gereinigtes Petroleum in ihren altmodischen Lampen, die noch aus englischen und amerikanischen Hongkongvorräten stammten. Es waren nette, kleine Lampen wie zu Großmutters Zeiten, die gemütliches, goldgelbes, dem Auge wohltuendes Licht ausstrahlten. Es kamen noch einige Ingenieure, die dem tüchtigen Hu unterstellt wurden. Unsere Wohnung erhielt allerlei Bequemlichkeiten. Und das Wunder von Tungting w u r d e noch größer und immer beständiger! Eines Abends, nach dem Gemeinschaftsessen, schleppte Hu einen geräucherten Fisch, eine Tafel Schokolade und ein Krüglein Samtschu herbei. Bei zugezogenen Vorhängen knabberten wir, schwatzten und schmatzten, rülpsten wohlig auf altchinesische Art und stießen mit den Blechtassen an. Auf uns, auf China, auf den Frieden in der Welt und auch auf unsere einstigen, längst in der Geisterwelt oder im Nirwana wandelnden Kollegen aus dem J a h r 1100 unter der Regierung des 166
Großen Gelben Drachen, des Kaisers Hun Tsung! Ihrer Genauigkeit verdankten wir unser Wunder. Wanfu! I h r Freunde, im Lande der Geister, wir grüßen euch mit Wanfu!
UND STERBEN Quongs Wohnung besaß eine Küche, ein noch nicht eingerichtetes Badezimmer - es gab keine Wannen - und drei Zimmer. Frau Hui Liän hatte die Wohnräume geschmackvoll mit den unzureichenden Mitteln ausgestattet und sogar ein ostasiatisches „Gemütlichkeitskästchen" geschaffen. Ich verbrachte eine wohltuende Ferienwoche als ihr Gast. Ich hatte das blühende Öl-Lager verlassen, weil mich die Malaria wieder schüttelte. Es w a r längst alles besprochen, und die nötigen Papiere w a r e n beschafft, die mich aus dem Lande Maos wieder nach Europa reisen lassen würden. Ein J a h r war vergangen seit meiner neuerlichen Ankunft, davon w a r ich fast sieben Monate am Tungting. Die Zahl der Bohrtürme am Seeufer und im flachen Wasser m e h r t e sich. Bisher h a t t e China wenig Erdöl; fast der gesamte Bedarf k o m m t aus der Sowjetunion. Ich stehe mit meiner Meinung nicht allein, w e n n ich behaupte, daß m a n irgendwo in China, vielleicht in der Gobi oder im steinigen Teil der Ordos, eines Tages auf gewaltige Erdöllager stoßen wird. Allerdings in sehr großer Tiefe! Die Tungtingquellen sind, meine ich, n u r ein kleiner Anfang. Ich w a r längst zufrieden und belächelte meine anfängliche Enttäuschung darüber, daß man mich nicht im Kwenlungebirge oder in der K a r a k o r u m w ü ste hatte bohren lassen. Dort herrschte schon der Winter mit Eis und Schnee, w ä h r e n d wir uns hier noch über die Wärme freuten. Wie bei vielen Malariakranken machte auch mir das Herz zu schaffen. Ärzte aus Peking w a r e n zu meiner Untersuchung nach H a n k a u gekommen. Es waren ehrliche, gescheite Ärzte, die mir sagten, daß ich bei einiger Vorsicht noch Jahrzehnte leben könnte. 167
Rektor Li aus Nanking forderte mich mit Unterstützung seiner F r a u nachdrücklich auf, einen Lehrstuhl an der dortigen Universität zu beziehen. H a n k a u hatte mir einen Posten an der dortigen neugeschaffenen Technischen Hochschule angeboten. Ich grübelte, dachte nach und ließ mir alles durch den Kopf gehen. Als verständige Freunde ließen mich Quong und seine Gattin das Problem selber lösen. Sie gaben mir nicht einmal Ratschläge. Dabei w u ß t e ich ganz genau, daß sie mich gerne in China behalten hätten! Ein Mensch hat nur wenige echte Freunde. Mir war Quong einer dieser echten F r e u n d e geworden. Sein Rat und sein Urteil waren mir in vielen Dingen immer sehr wertvoll. Schon damals, als er noch mein Träger gewesen war, hatte ich unwillkürlich stets seinen Rat befolgt. Und ich w a r dabei gut gefahren. In meinem jetzigen seelischen Dilemma machten weder er noch Hui Liän auch n u r die geringste Andeutung. In letzter Zeit hatte sich die Last der vorrückenden J a h r e bemerkbar gemacht. Ich fühlte auf einmal, daß es für einen Mann mit siebenundfünfzig J a h r e n purer Wahnsinn sein würde, in China zu bleiben! Ich wollte nach Hause. Heim! Noch ein bißchen leben, noch ein bißchen lehren, aber ohne Strapazen! Meine Papiere w a r e n in Ordnung; Peking erhob keine Einwände. Ich konnte in Hongkong einen schönen „Royalmail" oder einen „P. & O. Liner" bis Brindisi nehmen. „Ho Quong, ho Hui Liän, ich fahre nach Hause!" Mit diesen Worten t r a t ich in ihr Arbeitszimmer. „Wir w u ß t e n es. Du hast recht; aber uns tut es leid, dich zu verlieren. Du bist k r a n k und müde. China, für das du immer redlich gearbeitet hast - auch schon unter Tschiang Kai-schek - n i m m t sich nicht das Recht heraus, dein Leben zu verkürzen. Du hast bei uns einiges geleistet; Tungting!" „Weder ich noch Ingenieur Hu und auch Peking haben das geleistet, sondern die ehrenwerten, frühergeborenen Gelehrten des J a h r e s 1100 taten es!" sagte ich lächelnd. Versonnen schaute mich seine Frau an. „Deine E r n e n n u n g zum Doktor honoris causa der Universität steckt in diesem dicken Brief! Meine, unsere allerherzlichsten Glückwünsche! Wanfu!" 168
Erfreut betrachtete ich das Dokument. Der Mensch ist ja i m m e r e i t e l . . . „Alles, w a s noch nötig ist, besorge ich", sagte Quong nun. „Die Fahrt von Canton nach Shumtschun und nach Hongkong mache ich mit dir. Wir bleiben einen oder zwei Tage in Canton. Und in Hongkong mache ich meinen Kotau vor den Schwiegereltern. Okeh?" Als ich Hui Liäns kleine Hände zum Abschied streichelte, fühlte ich, daß es auch ein Abschied von Chinas Frauen w a r : von den geduldigen Kulifrauen, den Studentinnen und Professorinnen, den Schwestern und Ärztinnen, den vielen Arbeiterinnen, ein Abschied von allen hungernden und hoffenden F r a u e n des großen Landes der Mitte. Canton! L ä r m und Menschengewimmel. Viele m i ß mutige, beinahe gehässige Gesichter! Feindseliges Murmeln, das sofort verstummte, w e n n wir dicht bei den Betreffenden waren. Ein Stoß Post wartete auf meinen Freund. Darunter waren Briefe aus Peking und Nanking für mich. Und eine hübsche Dollaranweisung auf eine Hongkongbank w a r auch da. Als Abschiedsgeschenk einer doch so devisenarmen Republik. Quong m u ß t e ins Ministerium in der Stadt und w ü r de erst nachts spät zurückkommen. Er w a r n t e mich, nicht in der Dunkelheit spazierenzugehen. Schließlich hatte ich meine Pistolen als überflüssigen Ballast in Siangtan gelassen. „Ich h ä t t e gerne noch einmal das ,Laternenfest' mit den vielen wunderbaren Lampions gesehen!" sagte ich. „Man feiert es noch, doch wird es den Zeiten entsprechend dürftig ausfallen. Du müßtest allerdings lange hierbleiben; denn es k o m m t erst nach dem chinenischen Neujahr, also im Februar. Tschingleao, auf Wiedersehen!" Ich saß erst im Saal u n t e n mit ein p a a r Beamten zusammen und trat d a n n später, entgegen meiner A b sicht, doch zu einem Bummel auf die S t r a ß e hinaus. Ich war bald mitten im Menschengewoge und ließ mich mittreiben. Die größeren Straßen w a r e n hell erleuchtet; überall hingen die senkrechten Ladentafeln mit den chinesischen Schriftzeichen. Canton hat viele krumme, 169
schmale Gäßchen, und hier herrschte kaum schwelendes Licht. Die Zahl der Läden und Schilder nahm ab und mit ihnen die Menschen. Bald hatte ich mich gründlich verirrt und w ä r e doch so gerne wieder im Hotel gewesen - weil ich mich an Quongs Warnung erinnerte. Einen mir entgegenkommenden Mann bat ich um Auskunft, bekam aber nur ein unwilliges B r u m m e n als Antwort. Es w a r ein junger, steckendürrer Kerl, den ich nach dem Weg zur Laternenstraße fragte. Er lachte mir höhnisch ins Gesicht. Ein anderer schimpfte „Yangkweitsi!" Meine Unruhe wuchs, und ich hätte viel für meinen Revolver gegeben. Langsam, halb tastend schritt ich weiter. Am Eingang der Gasse standen einige Männer, und ich fühlte mehr, als ich sehen konnte, daß sie auf mich w a r t e t e n und daß Gefahr drohte. Auf einmal k a m der d ü r r e Kerl von hinten an mir vorbeigestrichen, rempelte mich an und ging weiter. Aus einem halbzerfallenen Hauseingang stießen zwei andere zu denen da vorne; auch der D ü r r e kam dazu. Alle warteten, und als ich umkehren wollte, ballte sich in fünfzig Meter Entfernung ein dunkler H a u fen zusammen. Gelächter und halblaute Pfiffe ertönten. Von ferne wehte das Summen der volksreichen Straßen. Da saß ich also in der Patsche! Ich tat, als ob ich bester Laune w ä r e und summte ein Liedchen vor mich hin. Die Häuserfronten hingen schräg über; die meisten Fenster w a r e n dunkel und bildeten schwarze, drohende Vierecke. Es roch nach Unrat und Schmutz. Einige Gebäude besaßen in ihrer Front wacklige A r k a den. Vor einem Haus stand ein Mädchen. Von vorne schob sich die Männergruppe langsam auf mich zu. Das ferne Brausen wuchs und h a t t e etwas Drohendes! Einzelne Stimmen lösten sich deutlich d a r aus ; sie schrien: „Shul, shul! Tötet, tötet!" Mich hatte Todesangst in ihren Klauen; ich sah kein Entrinnen. Von zwei Seiten drangen sie jetzt durch die dunkle Gasse auf mich zu. Da fühlte ich eine Hand in meiner Hand. Das Mädchen! „Fattih! Schnell!" Und rasch zog mich das Mädchen 170
in das schwarze Loch eines Eingangs. Geschrei peitschte draußen auf. „Shul!" Diese Todesdrohung galt mir. Über das Warum zerbrach ich mir jetzt nicht den Kopf. Heftig riß mich die junge F r a u an der Hand, und ich stolperte ihr nach. Auf einmal traten wir aus der Schwärze, die uns eben noch umfangen, in schwachglitzernde Helle. Es w a r ein kleiner, von Häusern rings umschlossener Hof mit feuchtem, klebrigem Pflaster. Alte F r a u e n saßen schweigend längs der Mauer auf einer Bank; einige rauchten Pfeife. Wieder tauchten wir in einem Eingang unter. „Take care!" w a r n t e sie und zog mich durch dichte Dunkelheit eine enge Treppe nach oben. Sonderbare Gerüche drangen auf mich ein. Es w u r d e etwas hell. Im rechten Winkel tasteten wir uns einen zweiten Korridor entlang. Dann ging es ein Stück Treppe hinab und ein anderes wieder nach oben. Endlich baumelte wieder eine Glühbirne, und ich e r k a n n t e Türen aus dunklem Holz. Die kleine Chinesin legte den Finger an den Mund, stellte sich auf die Zehenspitzen und drehte die Birne halb aus der Fassung. Tiefe Dunkelheit breitete sich aus. Ein sanfter Luftzug traf mich; ich w u r d e weitergezogen, und hinter mir w u r d e eine Tür ins Schloß gedrückt. Riegelscharren, Stille! „Nicht reden! No talkee!" w a r n t e sie, und ihre Hand streichelte beruhigend die meine. Leise, wie wenn der Abendzephir durch Gräser streicht, scharrte ein Vorhang in seinen Ringen. Ein schwacher Lichtschein griff nach mir. Neben mir zeigte das Mädchen sein Gesicht; seine weißen Z ä h n e blinkten; sorglos lächelte der Mund. Unten schrien befehlende Stimmen. Ich sah, wie eine der Frauen mit beiden Händen gleichgültige verneinende Gesten machte; die andern kümmerten sich um nichts, plauderten weiter. Einer der Männer stampfte wütend auf. Mißtrauisch in alle Türhöhlen spähend, schoben sich die Kerle durch den Hof, scharrten mit ihren Schuhen an den alten, nässeschwitzenden Häusern entlang. Einige schimpften laut. In der H a n d des Anführers sah ich einen Revolver schimmern. Einer hinter dem andern verschwanden sie in der Dunkelheit. Ich trat leise ins Zimmer zurück. Mein 171
Auge hatte sich an das schwache Licht gewöhnt, und ich sah die dunkle Tür, daneben einen Vorhang, der vor einer Öffnung hing. Ich erblickte ein niederes Bett, ein Waschbecken und einen Spiegel. Daneben hing das aus einer Zeitung geschnittene, fliegenbeschmutzte Bild des Marschalls mit seiner zierlichen Frau. Hinter dem Vorhang h ö r t e ich plötzlich heftiges Keuchen und k n a r r e n d e Bettfedern. Und ein leise lachendes „Ta Ta!" Das Mädchen wies nach unten, wo die alten Frauen allein saßen. „No danger, keine Gefahr, savvy!" sprach es leise. Längst w u ß t e ich, wo wir waren. Und ich m u ß gestehen, daß ich mich trotzdem verdammt wohlfühlte und mich meiner H a u t freute. Tiefe Dankbarkeit erfüllte mein Herz für das kleine, pidginenglisch sprechende, gepuderte Hürchen, das mein Leben gerettet hätte! Ich setzte mich auf das k n a r r e n d protestierende Bett. Mit scheuer Gebärde fragte sie, ob ich Geld hätte. Nicht für sich, sondern um mir etwas Tee zu holen; ich sei sicher erschöpft, erklärte sie eifrig. Ich hatte noch die ganze Tasche voll zerfledderter Banknoten der Republik. In Hongkong b e k a m ich wahrscheinlich für diese Tausende kaum einige Dollars. Ich zog das Bündel aus der Tasche und legte es in ihre Hände. Erstaunt betrachtete sie das Geld und verneinte dann heftig. Das w ä r e ja viel, viel zuviel! Nur eine kleine Note für Tscha wolle sie. Ich bestand darauf, und endlich begriff sie; ihr ganzes Gesichtchen strahlte vor Freude. Eifrig teilte sie den Mammon in drei gleiche Haufen. Einen schob sie in einen Schlitz unter der Matratze. Dann hob sie ihren Ishang hoch und stopfte erst das zweite, d a n n das letzte Drittel in die Oberteile ihrer Nylonstrümpfe. Ich hätte ihr gerne noch m e h r gegeben, doch enthielten meine übrigen Taschen keinen Käsch mehr. Den Dollarscheck h a t t e ich mit samt meiner Uhr im Hotelzimmer gelassen, beides eingeschlossen. Wieder machte sie mir drastisch klar, daß ich mich um das verturtelte Pärchen nebenan nicht k ü m m e r n solle und huschte dann hinaus. Friedliche Stille! Köstlich, nach dieser n u r knapp überstandenen Gefahr. In der Stille lebte leises Flüstern und Lachen hinter dem Vorhang, und manchmal 172
glaubte ich sogar das Tuscheln der F r a u e n im Hof und ihre schmurgelnden Pfeifen zu hören. Allmählich vernahm ich n u n das Brausen der andern Stadtteile. Ich traute aber dennoch k a u m meinen Ohren, als deutlich in der Nähe eine Gewehrsalve krachte. Und wieder eine, und dann kamen noch einzelne Schüsse. Dazu klang tobendes Geschrei auf, das plötzlich verebbte. Jetzt hörte ich das rumpelnde Klirren eines Panzers auf dem Straßenpflaster! Ganz langsam v e r s t u m m t e der unerklärliche Lärm. War eine Revolution ausgebrochen? Oder w a r Tschiang Kai-schek den Perlenfluß aufwärts gekommen und in Canton einmarschiert? Dunstig rosa lag die Nacht über dem Hof. Die alten Frauen unten hatten sich durch das Schießen nicht stören lassen. Auch das Liebespaar schien völlig unbeteiligt. Was h a t t e sich nur zugetragen? Vielleicht eine H u n gerrevolte? Die kleine Chinesin w ü r d e sicher mehr wissen. Da k a m sie und brachte kochendheißen Tee sowie ein Päckchen englischer Zigaretten. Sie schenkte die dünnen Porzellantassen voll, erinnerte sich aber plötzlich daran, daß die „Weißen Teufel" Zucker im Tee lieben. Sie brachte einige Würfel zum Vorschein: „Wieviel?" „Zwei, bitte, Darling!" bat ich. „Plenty schießen dlaußen, Tschiang Kai-schek Fleunde haben Hunger. Alles still jetzt, plenty Soldat und Polizei!" erklärte sie mir. Sie w u ß t e einen andern Ausgang über die Innenhöfe zu einer belebten Straße, wo ich a u ß e r Gefahr w ä r e und sogar eine Rikscha finden könne, schwatzte sie emsig. Wir saßen auf dem Bett, schlürften Tee, rauchten und lächelten einander zu. Einmal schlug der Vorhang zurück, u n d eine zweite Ausgabe meiner Retterin steckte ihr hochfrisiertes P u derlärvchen herein, lachte u n d verschwand wieder. „Wie ist dein Name, du gütige Tochter froher Ahnen?" „Pai Yu Liän!" hauchte sie. Sie v e r t r a u t e mir an, daß sie, weil ich ihr soviel Geld geschenkt hatte, schon morgen auf der Dschunke eines Freundes den Perlenfluß hinab reisen und sich d a n n in Hongkong einschmuggeln wolle. Das Geld der Volksrepublik sei zwar tief im 173
Kurs, doch könnte sie noch ein Sümmchen bekommen, weil dort auch Geld hin- und hergeschmuggelt würde. Ich zeigte auf das Bild neben dem Spiegel und w a r n t e sie davor, daß diese Demonstration für sie gefährlich werden könne. Lachend trippelte sie auf ihren hohen Stöckeln hin, drehte Tschiang Kai-schek nebst Gattin einfach um. Auf der Rückseite, die jetzt vorne war, lächelte der aufgeklebte Mao Tse Tung! Schüchtern und dennoch verschmitzt zwitscherte sie, ob der E h r e n w e r t e und Frühergeborene geruhen möge, die Nacht auf den Terrassen der Liebe bei seiner demütigen Sklavin zu verbringen und war über mein zögerndes Nein gar nicht überrascht. Sie verstand aber, was mein Herz mir sagte und w a s ich auch in Worten ausdrückte: daß ich die kleine Pai Yu Liän nie vergessen werde! Dann führte sie mich durch ein Labyrinth halb dunkler und nachtschwarzer, warmriechender Korridore und Treppen. Über vier Höfe ging es auf eine hellerleuchtete Straße „Wanfu!" - und schon tauchte sie zurück ins Dunkel der chinesischen Halbwelt. Nichts verriet hier, daß sich etwas Außergewöhnliches abgespielt hatte. Erst als ich eine Viertelstunde weiter gegangen war, sah ich viele Polizisten, und an einer Kreuzung stand ein kleiner gelber Panzer wie ein drohendes Ungetüm . . . Aufregung herrschte im Gasthof! Im Speisesaal saßen Sekretärinnen und ihre männlichen Kollegen, schlürften Tee, rauchten und tuschelten. Nach meinem Eintreten schwieg alles. Manche betrachteten mich gespannt und mitleidig, andere grinsten, und der Rest beschäftigte sich damit, Zigaretten aus Zeitungspapier und Weidenrinde zu drehen. Einige rauchten genießerlisch englische Zigaretten. Ich setzte mich an meinen Tisch und bat um Tscha. Dann stopfte ich die Pfeife, um meine E r r e g u n g zu meistern, denn ich fühlte die verstohlen blickenden Augen auf mir ruhen. „Tayen!" sagte endlich einer und ließ sich neben mir nieder. „Wissen Sie bereits, Tayen?" Wieso ich zu der Anrede „Hoheit" kam, w a r m i r rätselhaft. Aber ich b r u m m t e n u r : „Soeben strich der Tod 174
an mir vorbei! Bei euch gibt es immer noch gute Mädchen, die ein menschliches Herz besitzen!" „Eine kleine Revolte, Tayen. Ih-Tang, kommen Sie, berichten Sie!" Ein junger Mann mit frisch verbundenem Kopf kam langsam n ä h e r und baute sich vor uns auf. Sein Gesicht w a r schmerzentstellt. „Der Inspekteur! I h r Freund, Genosse Quong!" sagte er zögernd. Mir w a r alles ein Rätsel. Böses ahnend, fragte ich: „Was ist mit Quong?" Er gab sich einen Ruck: „Er t r a n k aus den neun Quellen und r u h t n u n auf den Terrassen der Nacht ..." „Quong? Alle hunderttausend Dämonen, so sagt doch schon, was geschehen ist, und quält mich nicht!" „Tot!" flüsterte der junge Mann. Eine F r a u wimmerte hysterisch. Plötzlich k a m er in Schwung und erzählte, was sich zugetragen hatte. Ich hörte seine Worte n u r verworren; meine Phantasie malte mir flammende Bilder vor, und nur langsam begriff ich. Ungefähr so mochte es sich zugetragen haben: Als mich Quong verließ, w a r eben die kurze, subtropische Dämmerung vorbei. Quong w a r von dem jungen Funktionär abgeholt worden. Über Zukunftspläne plaudernd, schritten sie ihrem Ziel in der Nähe des Hafens zu. Unterwegs gerieten sie in den Tumult; in ganzen Straßenzügen erloschen plötzlich die elektrischen Lichter. Nur die Lampions, an deren milden Kerzenschimmer sich China immer noch klammert, verbreiteten ihren milchweißen Schein. Beide Männer hatten sich an allerlei Zwischenfälle gewöhnt und schenkten den brüllenden, drohenden Menschen nicht allzu viel Beachtung. Diese Leute, die in allen Tonarten „Es lebe Tschiang Kai Shek ! Nieder mit Mao!" zeterten, hatten das schon oft getan - und auch umgekehrt, als der Marschall hier noch herrschte. Damals verdammten sie den Marschall; u n d nun, da sie Mao hatten, verfluchten sie diesen! Und w e n n morgen Tschiang wiederkäme, w ü r d e n sie nach einigen Wochen brüllen, daß er sich fortscheren möge, weil sie Mao wollten. Diese „Hungerklage" h a t t e n ihre Vorfahren und sie selber schon angestimmt, als Sun Yat Sen und vor ihm die alte „Gelbe Drachenkaiserin" regierten. 175
Quong und sein Gefährte gingen ihres Weges. Sie drängten sich humorvoll durch dichte Menschenmassen; schubsten, wurden geschubst; fluchten und w u r den verflucht. Der gutmütige Quong sagte: „Gut, daß die Polizei noch nicht eingegriffen hat. Das w ä r e verkehrt! Denn sie hungern! Da muß man sie verstehen, und das k a n n man nur, w e n n man sich selber nicht richtig sattgegessen hat!" Dann entdeckte einer der Demonstranten das MaoAbzeichen am Revers von Quong und am Rock seines Begleiters. Sofort waren beide von einer Herde tobender, spottender und schimpfender Menschen umringt. Plötzlich w u r d e ein Teil der Menge fanatisch. Starke Hände packten die beiden, zogen sie mit und schwemmten sie mit sich fort. Von ferne krachten die ersten Gewehrsalven; fern klirrten sich nähernde Panzerwagen. Die Hilferufe der beiden, die n u n zu Gefangenen des Mobs geworden w a ren, verhallten im Getöse. Eilig riß und zerrte man sie weiter, durch enge, lichtlose Gassen. Man brachte sie zum Hafen, wo eine unübersehbare Menge von Booten im Nebel versteckt w a r und n u r durch t r u n k e n e s Geschrei und Frauenkichern auszumachen war. Ein Knüppelhieb schmetterte da den jungen Begleiter zu Boden. Regungslos blieb er liegen. Matt blinkten n u n Messer und Dolche. „Was wollt ihr? Ich w a r doch immer auf eurer Seite, auf der Seite der Armen!" versuchte Quong die wütenden Männer zu beschwichtigen. Jemand schlug ihm ins Gesicht. Hohngeschrei, Katzenrufe, dumpfes Gepolter, Frauenlachen... Silbern blitzten die Klingen und zuckten wie Blitze in seinen Unterleib. Aufstöhnend preßte er die Hände auf den Bauch. Schneidender Schmerz ließ ihn aufschreien. Und er sank in die Knie. Sie ließen ihn aber nicht ruhig sterben! Er wollte doch nur die Hände auf den Leib drücken und sich lang ausstrecken . . . Eine scharfe Klinge fuhr jetzt in seinen Rücken, und ein entsetzlicher Schmerz ließ ihn noch einmal sich aufbäumen. Wieder schnitten, stachen und wühlten die Messer in seinem Leibe; und vor den Augen, die nach Erlösung schrien, w u r d e n die dunstumwallten Gold- und Silbersonnen der Lampions kleiner und immer kleiner. 176
Noch einmal packten ihn harte Hände; Männer grunzten zufrieden wie satte Schweine. Sie hoben ihn hoch, schwangen ihn hin u n d her und lachten dabei wie Teufel. Der müde Körper mit der sterbenden Seele klatschte auf das Wasser. Und sank in mitleidig k ü h lende Tiefen. Einmal k a m er noch nach oben, langsam sich im Kreise drehend. Dann sah und fühlte Quong nichts m e h r - weder die Mäuler der Fische noch die glatte, weiche U m a r m u n g der grünen Algen. Die schwarzen Terrassen der Nacht hatten ihn aufgenommen. So starb mein Freund Quong! Zeugen w a r e n außer seinen Mördern n u r der Nebel und die Wasser, die wallenden Geister und die Drachen, die seit undenklichen Zeiten im Perlenfluß bei Canton wohnen. Der junge Mann aber w a r auch Zeuge. Er hatte sich totgestellt und w a r dem Schicksal Quongs nur entgangen, weil eine Polizeibarkasse näher tuckerte. Man verband ihm dort den Kopf und brachte ihn in den Gasthof . . . Was ist weiter zu berichten? Nichts! Nur daß ich nach Siangtan zurückfuhr und die von den Behörden schon benachrichtigte, schmerzerstarrte Witwe Quongs trösten wollte. Samt ihren Lieblingsmöbeln brachte ich sie mit behördlicher Genehmigung nach Hongkong zu ihren Eltern. Ich bekam einen Dampfer nach Brindisi und erholte mich in der Schweiz. Dort heiratete ich und bekam dann eine Professur in Deutschland. Nun lebe ich hier in bescheidenem Glück und Frieden mit meiner Frau. Warum soll und kann m a n nicht überall in der Heimat leben? Quong t r a n k aus den neun bitteren, dunklen Quellen und schläft n u n schmerzlos auf den weichen Terrassen der Ewigkeit. Mein guter F r e u n d Quong! Wanfu! Zwei Wochen, Abend für Abend und oft bis in den hellen Morgen, erzählte Martin, anfangs mit heller, froher Stimme; doch gegen Ende wurde der Klang seiner Worte zu dumpfem Geläute - wie die Totentrommeln, die ich selbst in China gehört habe. Als er endgültig schwieg u n d sich eine Zigarette a n zündete, gab ich mir einen Ruck und sagte leise: „Martin, das ist phantastisch! Bis in die kleinsten Verborgenheiten hast du Chinas Not und Hoffnung und T r ü b 177
sal und das dunkle, keinem Menschen kundige Schicksal dieses Landes erlebt. Du solltest das aufschreiben und veröffentlichen!" „Das ist dein Beruf, dafür bist du da, Ernesto!" „Soll ich wirklich?" Ich schaute auf das Bündel loser Blätter, auf die ich w ä h r e n d der Tage und Nächte seinen Bericht verkürzt bereits niedergeschrieben hatte. Er nickte: „Natürlich sollst du. Aber gib mir dein Wort, daß du weder etwas beschönigst noch etwas schlechter machst!" Er neigte sich zu mir u n d flüsterte: „Ich bin u n d bleibe mißtrauisch, weil m a n mich zu oft im Leben getäuscht hat. Verzeih also, w e n n ich dir sage, daß Öl am Tungtingsee ein absurder G e d a n k e ist, denn dort gibt es kein Petroleum. Ich habe verschiedene Namen von Örtlichkeiten und auch von Personen verändert. Sonst aber ist alles die Wahrheit. Und nun, sei nicht böse - gib mir dein Versprechen!" Und wir gaben einander die Hand. Einige Tage später m u ß t e n wir uns trennen. Es regnete und w a r neblig, als er auf dem nassen Bahnsteig stand. „Leb wohl und Wanfu! alter Junge, und grüße deine Frau unbekannterweise von mir. Bleib gesund! Halte das Andenken an deinen F r e u n d Quong hoch und heilig. Ich will versuchen, ihm ein Denkmal zu setzen!" sagte ich zu Martin. „Wanfu, Ernesto! Laß etwas von dir hören! Du hast, wie du weißt, überall Freunde! Vergiß es nicht!" Lange noch sah ich ihn winken. Zuweilen schreiben wir uns. Ich schickte ihm eine Durchschrift des Manuskripts, und er ließ mich wissen, daß es gut sei. Und wahr.
E N D E
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