Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 02
Gefangen im Psi-Sturm von Michael Marcus Thurner
Atlan, einst als Kris...
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Atlan - Minizyklus 04 - Die Lordrichter Nr. 02
Gefangen im Psi-Sturm von Michael Marcus Thurner
Atlan, einst als Kristallprinz des arkonidischen Imperiums geboren und seines Throns beraubt, strandete nach vielen Jahren auf Terra. Dort wurde er dank eines Zellaktivators zu einem relativ Unsterblichen. Als Freund und Verbündeter Perry Rhodans erlebte er den Aufstieg der Menschheit, als Widerstandskämpfer trat er gegen Usurpatoren und Invasoren an, als Beauftragter der Kosmokraten sah er die Wunder des Kosmos, als Ritter der Tiefe wurde er zum Träger einer entsprechenden Aura. Im Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) macht sich der Unsterbliche zusammen mit der geheimnisvolen Varganin Kythara auf, einem Hilferuf der Cappins aus der Galaxis Gruelfin zu folgen. Dabei verschlägt es die beiden zuerst auf einen fremden, fernen Planeten. Absonderliches geht dort vor – und die beiden Reisenden finden sich unverhofft GEFANGEN IM PSI-STURM …
Gefangen im Psi-Sturm
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide verliert ein Psychospiel. Kythara - Die Varganin begegnet ihrem Volk. Etarmagan - Ein Mann entdeckt die Macht der Gefühle. Carnji - Eine Frau lernt Hass und Liebe als zwei Seiten der gleichen Medaille kennen.
Ich sehe mich schweben, schweben in einer Blase aus Nässe, und dann bin ich wieder vollkommen ich, umgeben von der widerlichen, Ekel erregenden Fäulnis des trübbraunen Wassers. Sie droht mir Mund und Nase zu verschließen. Ich schlage und trete um mich, will panisch diesen wattebauschenen Widerstand von mir drängen. Jede Bewegung, die ich mache, ist vergeudet. Jegliche Energie, die ich aufwende, verpuft im Nichts. Schatten gleiten durchs Wasser, Schatten aus Grau und Grün, wie es mir scheint. Spinnenbeinglieder zucken heran, tasten nach mir, greifen mich, begreifen mich. Ihre Berührungen sind sanft und schmerzhaft zugleich, wie tödliches Gift in einer süßen Frucht. Von zwei Seiten zerren sie mich hin und her, her und hin werde ich gerissen. Dann Gesichter, nein, Fratzen, Schimären, Schreckensgestalten. Sie ähneln einander sehr. Ausdruckslose Gesichter. Münder, die sich in regelmäßigen Abständen öfnen und wieder schließen – und weißliche Insektenlarven ausspucken, die sich binnen weniger Augenblicke entpuppen. Sie gleichen Wespen. Mir wird klar, dass ich träume. Gleichzeitig spüre ich, dass mein Unterbewusstsein keinesfalls diesen Alptraum entwickelt haben kann. Zu abstrus sind die Phantasmagorien, die mich umgeben. Ich suche die Hilfe des Extrasinns, will ihn zu Rate ziehen, wie einen Kode, mit dem ich diese irrsinnigen Traummetaphern knacken könnte. Doch die Stimme in meinem Kopf schweigt, dafür drängen Bilder heran wie eine Sturmflut: Mühsam verweigere ich mich der Bilderflut, die an Schrecknissen alles übertrift, was ich jemals von Hieronymus
Bosch, Pieter Brueghel oder Lermon da Abrazar gesehen habe. Und noch immer schweigt der Extrasinn, als wäre er paralysiert. Oder noch schlimmer: als wäre er nicht mehr in mir. Ich bin allein … Erneut branden die Eindrücke gegen meinen Geist, krallen sich in meinen immer dünner werdenden Schutzwall, der sich Verstand nennt, zerreißen und zerfetzen ihn mit stählernen Fängen, durchdringen ihn … oder doch nicht? Doch … nicht … Schweigen, ein endloses Meer spiegelnder Stille. Wo sind die Bilder? Wo ihre Schrecken? Fort? Ich schwebe in einer Blase … wieder außer mir … und ich sehe die Bilder. Sie nisten in meiner Brust, meinem Leib, meinen Armen, Beinen, meinem Kopf … ich selbst werde zu einer neuen Dimension des Schreckens. Nein! Ich will nicht mehr zurück! Nicht … mehr … zu …
1. Etarmagan Es war ein ruhiges Leben, und es war ein gutes Leben. Etarmagan fühlte sich wohl. Obwohl das eigentlich gar nicht vorgesehen war. Mit federnden Schritten stieg er die weiß marmorierten Steinstufen hinauf, die er vor Jahren selbst aus den großen Blöcken gehauen hatte. So, wie er den gesamten Kschemme mit der Schärfe seines Geistes ersonnen und mit der Kraft seiner Hände geformt hatte. Sein Haus, sein Heim, sein Schutz. Etarmagan klappte die Dachluke hoch und beobachtete mit großem Wohlwollen das Spiel seiner Muskeln. »Dem gesunden
4 Geist geziemt ein gesunder Körper«, murmelte er selbstzufrieden. Eine Weisheit aus den Büchern, aber durchaus zutreffend. Die Klappe fiel schwer nach hinten, pustete die zurzeit über das Land wirbelnden Zernkras-Pollen hoch, sodass er niesen musste. Er stieg ins Freie. Ein Donnergrollen kündete von einem der wenigen Gewitter des Sommers, irgendwo in den hohen Bergen hinter ihm. Er beachtete die statischen Entladungen nicht weiter, die den dunkler werdenden Himmel ein wenig erhellten. Etarmagan seufzte. Sein Blick schweifte nach Westen, über das weite Targan-Meer. Dort ging langsam Sonne unter. Natürlich hatte jemand Sonne längst einen Namen gegeben, doch weshalb sollte man ihn benutzen, wenn schon die Bezeichnung allein alles ausdrückte? Sonne gab ihnen Leben. Sonne wärmte sie. Sonne … war. Das graue Wasser, runzlig wie Warnasshaut und stets in Bewegung, gischtete wuchtig gegen die Kaimauern und Molen des kleinen Hafens. Oder es lief weiß schäumend aus, über die breiten Sandstrände des Westens. Oder es brandete gegen die Felsbarrieren und Riffe im Osten. Drei-, viermal im Jahr sprangen dort breite Schaumkronen über die felsigen Hindernisse und bildeten dahinter kleine Teiche und Pfützen. Das Wasser verdampfte nach wenigen Wochen, und tiefe, krustige Salzschichten blieben über, in denen sich dann Rhinzschweine suhlten. Oftmals hatte er schon dort gestanden, auf den scharfkantigen Riffen. Etarmagan hatte die gewaltigen Brecher auf sich zukommen sehen, hochgetürmt von den schrecklichen Winden, die über das Targan-Meer hinweg an Gewalt gewannen und aufs Land zuwehten. Das Getöse war stets so laut, dass er dagegen anschreien konnte, soviel er wollte – seine eigene Stimme war nicht zu verstehen. Doch heute war er zufrieden damit, das tiefe Glück, das er in seinem bescheidenen Kschemme empfand, einfach nur als Kribbeln in seinem Magen zu spüren. Das Wis-
Michael Marcus Thurner sen, dass er jederzeit ans Meer gehen konnte, um eins mit den Elementen Luft, Erde und Wasser zu sein, reichte. Niemand würde es ihm verbieten, niemand würde ihn daran hindern. Etarmagan nippte an dem süßlichen Nusslikör, den er selbst gebrannt hatte. Auf den Dächern der Kschemmen ringsumher saßen andere Naruks und genossen ebenso den allabendlichen Schnaps. Rituell prostete man einander zu. Der Alkohol floss die Kehle hinab, hinterließ wohlige Schauer, setzte sich im Magen fest und verbündete sich mit dem Glücksgefühl, das Etarmagan empfand. Empfinden wollte. Denn da war etwas. Ein Loch, eine Lücke in all der Glückseligkeit. Etwas nagte an seinem Seelenfrieden – aber er konnte es nicht greifen. Etarmagan war ein ruhiger, ein besonnener Naruk. Er hoffte, dass er irgendwann einmal den Gedanken zu greifen bekäme, der ihm gerade abging. Vielleicht war es bloß die Idee, dass es immer noch um ein Quäntchen besser gehen würde in diesem Paradies. Dass die absolute Zufriedenheit Gefahren wie Langeweile und Übersättigung in sich barg. Vielleicht durfte dieses kleine Loch einfach nicht gefüllt werden? Vielleicht war die absolute Glückseligkeit ein schlechter Gedanke? Etarmagan prostete in Richtung des Meeres, roch noch einmal den Wind voller Düfte von Algen, Salzen, Fischen und Sand. Dann wandte er sich ab und ging zurück in seinen Kschemme. »Das Leben ist schön, und es wird immer schön bleiben«, flüsterte er zufrieden. Während er sich unter die Reinigungsmaschine legte, dachte er daran, dass Naruks eigentlich keine Emotionen haben durften.
* Es war der Tag der Philosophien. Der gewaltige Bibliotheksbau, der sich
Gefangen im Psi-Sturm pyramidenförmig weit in die Höhe schraubte, nötigte Etarmagan wie immer gehörigen Respekt ab. Er setzte den Becher mit dem Schnackkonzentrat ab und verzehrte den letzten bitteren Abrutzenkeks. Die Stadtnahrung schmeckte wie immer schal und öde, aber sie füllte den Magen. Ein Gong ertönte. Rasch reinigte er seine Hände mit dem bereitliegenden Feuchttuch, verabschiedete sich mit einem rituellen Gruß vom Frühstückswirt und betrat, pünktlich zu Sonnenaufgang, gemeinsam mit vielen tausend anderen wissenshungrigen Naruks den weitläufigen Platz vor dem Haupteingang. Man grüßte einander höflich, unterhielt sich so wie jeden Morgen über die bevorstehende Ernte des Kamschurm-Reises, der hauptsächlich als Grundlage für milden Schnaps diente, und bereitete sich schließlich auf die Tagesarbeit in der Bibliothek vor. Etarmagan empfand Langeweile. Auch wenn sein derzeitiges Studiengebiet schier unerschöpfliche Erkenntnisse über das Wesen des Seins bot, so gab es dennoch Momente, in denen er sich nach dem »Warum« des beständigen Lernens fragte. Es war nicht gut, die Kollegen mit lachhaften W-Fragen zu belästigen. Warum, wie, weshalb, wozu sie all dies hier taten. Nicht, dass es verboten war; doch die meisten seines Volkes reagierten irritiert auf derlei absurdes Interesse, schließlich gab es keine Antworten darauf. Ein weiterer Gong ertönte, die schweren, stählernen Tore fuhren leise beiseite. Kühle, trockene Luft empfing ihn und die anderen. Es ergab keinen Sinn, sich über Gebühr zu beeilen. Die Plätze in den Lesesälen waren fest vergeben. Etarmagan beispielsweise hatte seinen Stammplatz auf der sechsten Ebene, im zehnten Flügel, im dritten Saal, in der neunten Reihe auf Platz fünf. Und dennoch schritt er ein wenig schneller aus als sonst. Irritiert suchte er nach dem Grund. War das Buch »Dystopien als Boten der Dekadenz«, das er letzte Woche begon-
5 nen hatte, derart spannend gewesen, dass es ihn so rasch wie möglich an seinen Arbeitsplatz zurück zog? Nein. Diesen Gedanken konnte er ausschließen. Soweit er sich erlaubte, ein Urteil zu fällen, war diese dicke Schwarte ein echter Langweiler. War es ein Anfall übertriebenen Ehrgeizes? Nun – dann müsste ihm diese Eigenschaft recht plötzlich zuteil geworden sein, und an Wunder glaubte er nicht. Etwas zog ihn zum altertümlichen Paternoster. Ein Drängen, undefinierbar, messbar bestenfalls am leicht beschleunigten Herzschlag, und doch: nur ein Gefühl … Normalerweise benutzte er die marmornen Treppen. Etarmagan sah sich gerne die Statuen, Figurinen und Büsten von Künstlern an, die er einst gekannt hatte. Die Kunstwerke standen in Nischen der riesigen Treppenvorsätze, wo sie ein geheimnisvolles Halbleben zu entwickeln schienen. Ab und zu sprach er sogar mit ihnen, begrüßte sie flüsternd und ehrfürchtig. Aber diesmal hatte er es eilig. Was nur war es, das ihn derart vorwärts trieb? Endlich, er konnte kaum mehr ruhig stehen, war die sechste Ebene erreicht, und er sprang aus dem Paternoster. Mit raschen, weiten Schritten durchmaß er die endlos scheinenden Gänge. Da war der Hörsaal. Er betrat diese andere Welt. Sie war aseptisch, klimatisiert, modern und funktionell, kaum zu dem erhaben und kunstvoll wirkenden Hauptgebäude passend, in dem er sich soeben noch befunden hatte. Das grelle Licht aus langen Röhren an der niedrigen Decke drückte normalerweise auf sein Gemüt, doch diesmal verschwendete er keinen Gedanken daran. Sein Platz war dort links, ganz vorne. Sitz fünf. Gegenüber von Sitz sechs. War sie schon da? Noch war der Platz unbesetzt, und seine Blicke schweiften umher. Er drehte sich um, suchte … Plötzlich die Erkenntnis. Es war die Frau, die ihn nervös werden ließ. Da passierte etwas mit ihm, was nicht
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Michael Marcus Thurner
gut war. Gar nicht gut. Etwas, das ihm deutlich machte, wie sehr er Außenseiter war. Etarmagan entwickelte mehr und mehr seine … Gefühle.
* Irritiert ließ er sich auf seinem Platz nieder und zog das Buch heran. Automatisch huschten seine Blicke von einer Zeile zur nächsten, ohne den Sinn des Gelesenen zu behalten. Schwebebots surrten währenddessen durch die engen Reihen des riesigen Saals. Diskusförmige Schöpfungen, die ständig Futter für die Studenten in Form von Büchern heranschafften. Stets lag Nachschub griffbereit auf ihren glänzenden, auf Hochglanz polierten Körpern. Die Schwebebots schienen zu wissen, wenn einer der Naruks ans Ende seiner Lektüre kam, und standen bereit, noch während er die letzte Seite las, unauffällig, aber eindringlich. Etarmagan verlor die Zeilen endgültig aus den Augen. Gefühle … Dies war etwas, das seinesgleichen nur rudimentär gegeben war. Naruks kannten körperlichen Schmerz, und sie spürten Wohlgefallen, wenn sie eine neue Erkenntnis gewannen. Auch Schönheit oder Schrecken bewirkten gewisse Reaktionen, die aber stets mit dem Blick des Lernenden und des Wissenschaftlers betrachtet wurden. Nie … nur. »Hallo!« Etarmagan zuckte zusammen. Carnji hatte sich ihm gegenüber niedergelassen. Sie schenkte ihm und den anderen Studierenden ein kurzes, präzis abgemessenes Lächeln. Dann zog sie ihren Terminal zu sich und aktivierte es. Ihr heutiges Lesewerk war in den unermesslichen Mikrofiche-Speichern der Bibliothek abgelegt. »Ha … hallo«, echote Etarmagan. Die anderen, rund um sie, sagten wohl auch etwas, aber all seine Sinne konzentrierten sich nur auf die Frau. »Wie geht es dir?«, fragte er weiter.
Da war es geschehen! Instinktiv griff er mit beiden Händen an den Mund, als wolle er die Worte zurückstopfen, die ihm glitschig wie ein Schwarm Fische herausgerutscht waren. Köpfe ruckten hoch. Blicke fixierten ihn. Nicht strafend oder vorwurfsvoll, sondern vielmehr – verwundert. Hitze brandete in Etarmagan hoch, zog sich vom Hals über das Gesicht bis zum hohen Haaransatz. Er wurde rot, er transpirierte, unter den Achselhöhlen drang unangenehmer Geruch hervor. Carnji sah ihn unverwandt an. So, wie man ein Studienobjekt unter dem Mikroskop betrachtete. »Es geht mir gut«, antwortete sie nach drei oder vier Ewigkeiten. Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf und widmete sich dann wieder ihrem Lesegerät. »Entschuldigt mich«, würgte Etarmagan hervor, stieß den Stuhl beiseite und stürzte Hals über Kopf zur Toilette.
* Sein Magen rebellierte. Das halb verdaute Frühstück landete in einem weiten Schwung in der Kloschüssel. Etarmagan richtete sich schließlich erschöpft auf und betrachtete das Gesicht, das angeblich das seine war, im Spiegel. »Ich bin ein Paria!«, flüsterte er. »Ein Aussätziger, ein Minderwertiger!« Seine Hände zitterten unkontrolliert, die Füße wollten ihn kaum mehr tragen. »Warum ich?« Es war ein Schrei. Ein wilder, urtümlicher Ruf, der aus seinem Innersten kam. Bislang hatte er nur Geschichten und Gerüchte gehört über jene Naruks, die sich andersartig entwickelten. Jedermann schien zu wissen, dass es diese … diese Aussätzigen gab, die sich seltsam verhielten. Niemand sprach gern darüber. Ein paar Worte hatte er hier aufgeschnappt, hastig geflüsterte Bemerkungen dort. Leute seines Volkes, die das Land um das Targan-Binnenmeer verließen und aus unerklärlichen Gründen die grenzenlosen Weiten
Gefangen im Psi-Sturm Narukkus erforschten. Wo es doch alles in den Milliarden von Büchern zu lesen gab, die in den fünf herrlichen Städten von Narukku lagerten! Dann gab es Männer und Frauen, die weit mehr als wissenschaftliche Neugierde erfüllte. Angeblich rastlos suchten sie nach jenem Zustand, den man in manch trockenem Fachbuch als »Glück« definierte. Und ebenso gerüchteweise existierte noch eine dritte Sorte von Andersartigen. Jene, die eine Fehlentwicklung am schlimmsten getroffen hatte: Naruks, die Gefühle für ihresgleichen entdeckten. »Nur nicht daran denken«, murmelte Etarmagan. »Wenn ich die Anzeichen der Perversion ignoriere, werden sie vergehen. Jawohl, sie werden verschwinden, und alles wird wieder so sein, wie es einmal war.« Er rückte das Leinenhemd zurecht und streifte sich das Haar aus dem Gesicht. Ein letzter prüfender Blick. Er war zwar ein wenig blass, und aus seinem Magen stieg ein saurer Geruch auf, aber das Interesse der Naruks aneinander war nicht besonders ausgeprägt. Keiner würde Fragen stellen, wenn er still und leise an seinen Tisch zurückkehrte. Und Carnji? Wie würde die Frau reagieren, die er einfach so angesprochen hatte? Wahrscheinlich gar nicht. Probleme schwieg man vernünftigerweise zu Tode. Genau so, wie er beschlossen hatte, sein Problem zu ignorieren. Nur nicht daran denken, dann wird alles wieder gut.
7 Der Beweis für die hoch stehende Wissenschaft Arkons lebte also noch in mir. Auch wenn ich während meines langen Lebens durchaus schon Probleme mit dem mitunter schrecklich nüchternen Plagegeist in mir gehabt hatte, so wollte ich seine Anwesenheit doch nicht missen. Ich freue mich auch, von dir zu hören, gab ich mental zurück. Es wird Zeit, dass du dich deinen Pflichten widmest, meinte der Extrasinn, ohne weiter auf meine Bemerkung einzugehen. Kein Wunder. Er war und blieb nun einmal ein arkonidisches Erzeugnis und kein Lebewesen. Ich stand auf. Mich fröstelte. Der Schweißfilm, der meinen gesamten Oberkörper bedeckte, war kalt geworden. Du hattest einen Alptraum, konstatierte der Extrasinn. Kein Grund zur Besorgnis. »Nein – es war mehr als das!«, murmelte ich. »Das, was ich gesehen habe, war in seiner Symbolik so fremdartig, dass es unmöglich nur meinem Unterbewusstsein entspringen konnte. Irgendetwas hat stark auf mich eingewirkt.« Kurzes Schweigen. Dann ein spröder Kommentar: Du kennst den möglichen Ursprung. Ja, den kannte ich. Vorerst schob ich alle diesbezüglichen Gedanken beiseite. Ich wusch in der ergonomisch geformten Duschkabine den Schweiß vom Körper und zog die einfache Kombination über. Ich hatte ein Rendezvous vor mir, mit einer der interessantesten Persönlichkeiten, denen ich in letzter Zeit begegnet war: Kythara, der Varganin.
2. Atlan
*
Ich erwachte von einem Schrei. Meinem Schrei. Um mich waren Wände, weiß und nüchtern … und es herrschte Stille. Narr! Der Extrasinn! Grenzenlose Erleichterung erfüllte mich.
Auf einer kleinen blauen Kugel, weit weg von hier, schrieb man den sechsten Mai 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Wo dieses »hier« eigentlich war – diese Frage blieb vorerst unbeantwortet. Wir waren im Unbekannten gelandet. »Ein neuer Tag, ein neues Glück«, sagte
8 die hoch gewachsene Frau zur Begrüßung, als ich die Zentrale der AMENSOON betrat. »… und jede Woche eine neue Welt«, ergänzte ich sarkastisch. Ich setzte mich zu ihr an den kleinen, nierenförmigen Tisch. Allgegenwärtiges Schimmern von Gold umgab uns: Zierleisten da und dort, Bedienungselemente, in den Boden eingewebte Streifenmuster – und nicht zu vergessen der Dienstroboter, der uns scheinbar ungeduldig mit seinen acht langen Tentakelarmen auf seine Anwesenheit hinwies. »Hast du Hunger?« Kythara sah mich fragend an. »Ein gemeinsames Frühstück?« Ich tat verwundert. »Wir kennen uns doch erst seit zwei Tagen …« Sie lächelte. »Von allen galaktischen Tugenden kommt der berühmte arkonidische Humor gleich nach der akonischen Aufrichtigkeit, sagt man.« Für einen Moment war ich konsterniert, dann erwiderte ich ihr Lächeln, das huldvoll und bezaubernd war – und doch jene Tiefgründigkeit vermissen ließ, die eine Aufforderung zu mehr hätte erkennen lassen. Mir sollte das nur recht sein. Für eine Romanze war hier und jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, die letzten Wochen waren eine nicht enden wollende Kette von Aufregungen gewesen, und nichts deutete darauf hin, dass sich dies geändert hätte: Mit der ATLANTIS waren wir in den Sternhaufen Omega Centauri eingedrungen, waren einer Verschwörung des arkonidischen Hochadels auf die Schliche gekommen und mit direkten Nachfahren des lemurischen Reiches konfrontiert worden, es hatte uns in die Obsidian-Kluft verschlagen, wo uns der Lenker eines uralten Sternenschwarms begegnet war und wir – quasi nebenbei – die gesamte Milchstraße retten mussten. Und gerade erst gestern, nach kaum überstandener Gefahr, war uns ein Cappin erschienen und hatte uns um Hilfe angefleht … Überstanden?, regte sich mein Extrasinn. Bilder zuckten durch mein Gedächtnis, seltsam distanziert, und doch ließen sie mei-
Michael Marcus Thurner ne Seele erschauern: Ich erlebte die Ereignisse noch einmal, aber diesmal nicht nach den Erkenntnissen geordnet, die all das Erlebte irgendwie sinnvoll machten, sondern nach den Opfern, die sie uns abgefordert hatten. Der Freunde. Jedes Flackern, mit dem sich die Gestalten aus meinem Gedächtnis lösten und unbarmherzig auf meine bewussten Gedanken eindrangen, war ein Schicksalsschlag, einer mehr, den ich zu verarbeiten haben würde wie schon Tausende vorher. Und jeder einzelne war ohne Vergleich, ohne Maß, ohne Routine. Jeder einzelne … Jorge Javales. Akanara. Veloz da Metztat. Hurakin. Sie alle waren tot. Sogar Li da Zoltral. Auch die Frau, die mein Herz gewonnen hatte, lebte nicht mehr. Ihr entseelter Körper mochte vielleicht noch irgendwo existieren, doch bloß, um einem Vasallen der Kosmokraten als Hülle zu Diensten zu sein. Und das mochte durchaus schlimmer sein als der Tod. Eine kühle Berührung an der Schulter verscheuchte die Phantome, die mich plagten. »Schmerzhafte Erinnerungen?«, fragte Kythara nur. »Ja«, antwortete ich in aller Offenheit und sah ihr ins Gesicht. »Sie bleiben nicht aus. Du kennst das auch, nicht wahr?« »Ich vermeide es tunlichst, mich in Sentimentalitäten zu verlieren. Es gäbe viel … viel zu viel, über das ich nachdenken könnte. Aber das Leben – es liegt immer noch eine Unendlichkeit vor uns, das dürfen wir nie vergessen.« Ich nickte. Aus ihren Worten klang eine längst zur Grundfeste ihres Seins gewordene Einstellung einer Unsterblichen. Obwohl ich diese Erkenntnis selbst intellektuell längst gewonnen haben mochte, sie war mir eben noch nicht so sehr in Fleisch und Blut übergegangen wie ihr. Kein Wunder, äußerte sich der Extrasinn, erstens hat die Varganin über achthunderttausend Jahre Altersvorsprung, und zweitens hast du immer noch mich, um dich mit deiner Vergangenheit auseinander zu setzen, und sie nur sich selbst. Denk mal darüber
Gefangen im Psi-Sturm nach, ehe du beim nächsten Mal unwirsch auf meine wertvollen Hinweise reagierst, du Narr! Ich nehme es mir zu Herzen, gab ich zurück. Aber wer ist nun eigentlich der größere Narr? Der Narr oder der, der ihm folgt? Erbärmlich. Auf diesen Konter warte ich seit tausend Jahren, parierte der Logiksektor. Ich dachte schon, du kommst nie darauf. Und jetzt wende dich doch bitte wieder deinen eigentlichen Problemen zu. Kurze Pause, dann: Narr. »Kümmern wir uns doch am besten um das Jetzt«, vernahm ich Kytharas Stimme. Sie sagte es, als wüsste sie, wie sehr ich mit mir selbst zu kämpfen hatte. »Haben wir neue Erkenntnisse?« Ich fixierte die goldenen Augen der Varganin. Überlange schwarze Wimpern klimperten ab und zu darüber und erzeugten einen nahezu hypnotisierenden Effekt. Die Mimik des bronzefarbenen Gesichts hingegen blieb starr. Nicht leblos, sondern einfach hochkonzentriert. »Nichts Aufregendes«, erwiderte sie nach kurzer Nachdenkpause. »AMENSOON hat zusätzliche Daten über unseren namenlosen Planeten gesammelt – aber keine neuen Sensationen geliefert.« »Wie sieht es mit dem Psi-Sturm aus?« »Er ist ein wenig schwächer geworden. Besser gesagt: Der Fokus des Hauptwirkungsbereiches hat sich verkleinert und umfasst derzeit eine Kernfläche von zehntausend Kilometern. Streuemissionen, vor allem im ultrahochfrequenten Bereich, konnte ich allerdings auf dem ganzen Planeten anmessen.« »Wie gehen die Reparaturen der AMENSOON voran? Irgendwelche Fortschritte?« »Mäßig«, gab Kythara zu. »Die Subroutinen, die beim Verlassen der Obsidian-Kluft selbständig angesprungen sind, arbeiten sozusagen im Schneckentempo. Die lebenserhaltenden Funktionen sind abgesichert, auch Antigrav und Prallschirme stehen zur Verfügung. Und hungers sterben werden wir auch nicht, ebenso wenig wie wir ersticken wer-
9 den, da die Atmosphäre des Planeten uns zuträglich ist.« »Können wir starten?« »Negativ.« Nach wie vor konnte ich keine Gefühlsregung aus dem zarten Gesicht herauslesen. »Die gravomechanischen Emitter der Sublichttriebwerke stottern unkontrolliert. An ein Hochfahren des KyriÜberlichttriebwerkes ist derzeit nicht einmal annäherungsweise zu denken.« Kein Wunder. Die vier – natürlich goldenen – Blöcke der Antriebsaggregate, in der Spitze der unteren Pyramide untergebracht, waren zwar von beeindruckender Leistungsstärke, aber durch viele sehr komplexe Bausteine auch äußerst anfällig gegen Einflüsse wie jene des Psi-Sturms, in dessen Wirkungsbereich wir uns nach wie vor befanden. Gerade die ultrahochfrequente Störstrahlung des Sturms setzte komplexe, hochgezüchtete Technik sehr nachdrücklich außer Gefecht. Auf einen Wink Kytharas hin stellte der Dienstroboter einen goldenen Teller mit Brot, hellfarbener Konfitüre und mehreren Wurstsorten vor mir ab. Auch eine Tasse, deren Inhalt wie Camana aussah – und auch annähernd so roch –, fand mit dem eleganten Schwung eines Tentakels ihren Platz vor meiner Nase. Ich verweigerte jeglichen Gedanken an den Fertigungsprozess, der aus seit Jahrtausenden eingelagerten Proteinen und Fetten dieses frugale Frühstück hervorgebracht hatte, und griff herzhaft zu. Wer mangels Alternativen schon mal Würmer und Spinnen hinabgewürgt hatte – und zudem einen Zellaktivator als Versicherung gegen etwaige Spätfolgen sein Eigen nannte –, der war nicht empfindlich. Auch Kythara nahm einem Frühstückshappen zu sich, während sie über weitere Details der Reparaturroutine berichtete. Dies war ein eher langweiliger Teil des Gespräches, denn es stand fest, dass wir vorläufig hier gefangen waren. Erst wenn der Hypersturm nachlassen würde, konnten wir über ein Verlassen des Planeten nachdenken. »Hast du eigentlich gut geschlafen?«, un-
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terbrach ich schließlich Kytharas Ausführungen. »Wie soll ich das verstehen?« Sie hob die Augenbrauen, blickte mich ein wenig zweifelnd an. »Ich hätte dich nicht so früh hier in der Zentrale erwartet. Der gestrige Tag hatte es immerhin in sich …« »Meine Regenerationszeiten sind ähnlich kurz wie deine«, entgegnete Kythara. »Zwei, drei Stunden Schlaf sind meist völlig ausreichend.« Sie zögerte kurz. »Aber du hast Recht. Ich war unruhig und hielt es nicht mehr in meiner Kabine aus.« »Alpträume«, stellte ich lakonisch fest, obwohl es eigentlich eine Frage hätte sein müssen. Aber mein Instinkt riet mir zu. Und so viel hatte ich in all meinen Jahrhunderten Erfahrung mit den Terranern gelernt: Auch das beste Pokerface ließ sich überlisten. Volltrefer, meinte der Extrasinn.
* »Woher weißt du …« Kythara war abrupt aufgestanden und rieb sich nervös die Hände. »Mir ging es ebenso«, gestand ich. »Ich hatte Visionen. Angstträume. Fremde Geister, die sich scheinbar in meinen Kopf geschlichen hatten …« »… Bilder, die unmöglich aus dem eigenen Unterbewusstsein stammen konnten?«, riet nun sie. »Exakt! Gedankenfetzen wie aus dem Leben eines anderen. Fremdartig, nicht in unser Gedankenschema passend.« »Der Psi-Sturm?« »Höchstwahrscheinlich.« Ich legte Messer und Gabel beiseite, schlürfte den letzten Schluck des Camanas hinunter und klopfte mir angenehm gesättigt auf den Bauch. »Die hyperdimensionale Komponente des Sturmes dürfte so intensiv sein, dass sie bei jedem ihre Spuren hinterlässt. Ich weiß nicht, wie sehr sich die Strahlung auf deine … hm … besonderen Fähigkeiten auswirkt. Ich nehme an, dass du unter der Strahlung der
Psi-Quelle leidest?« Sie nickte. Ich fuhr fort: »Mutanten wären unter diesen Bedingungen wahrscheinlich längst weggetreten. Ich selbst spürte lediglich einen kleinen Hauch von Beeinflussung. Erinnerungsfetzen, herangeweht aus dem Nirgendwo.« Kythara verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Bilder aus einem fremden Universum? Aus anderen Zeiten? Aus parallelen Welten?« »Möglich«, sagte ich. »Genauso gut können sie auch von hier stammen. Vielleicht sind es die Träume derjenigen, die auf diesem Planeten leben. Oder Bilder dessen, was sie tatsächlich erleben – was ich angesichts der Gänsehaut, die die Visionen bei mir erzeugten, allerdings nicht hoffe.« Diesmal schien Kythara nicht überrascht. Wir hatten noch nicht über mögliches Leben auf dieser G2-Welt geredet. Klar war aber, dass sie mit Sonnenabstand, Größe und Beschaffenheit in jenes schmale Segment der Planeten fiel, das bei Humanoiden als lebensförderlich galt. »Sollten wir diesem Ort nicht endlich einen Namen geben?«, fragte sie unvermittelt. »Narukku!«, antwortete ich impulsiv. »Dieser Begriff spukt in meinem Kopf umher, seitdem ich wach bin.«
3. Etarmagan Nichts wurde wieder gut, gar nichts. Auch nicht nach mehreren Tagen. Er hatte alles überspielt, Tatsachen ignoriert, das Grummeln im Magen unterdrückt. Auch das tägliche Ritual unter der Reinigungsmaschine schaffte keine Erleichterung. Der silberne Schein des Schwebe-Aggregates durchfuhr seinen Kopf, sog in einem nicht beschreibbaren Vorgang angehäuftes Wissen ab und erlosch meist derart abrupt, dass Etarmagan wie von einem Blitz getroffen hochsprang.
Gefangen im Psi-Sturm Nur wenn er allein war, auf dem Dach des Kschemme saß und den hell leuchtenden Nachthimmel bewunderte, spürte er die Wahrheit: Er war anders. Warum war ihm noch nie aufgefallen, dass er Tag für Tag als Einziger den Blick übers Meer und in den Himmel suchte? Dass er überhaupt als Einziger nach dem Sinn des Lebens suchte? Er mochte den Likör an diesem Tag nicht. Alle Speisen und Getränke schmeckten ihm fad, manchmal sogar widerwärtig. Warum bemerkten nicht auch die anderen Naruks die Lücken, die er entdeckt hatte? Fast schmerzhaft vermisste Etarmagan Farben. Die Kschemmen waren alle weiß, die Kleidung stets schwarz oder grau. Ödes Monochrom umgab die Naruks auf Schritt und Tritt. Natürlich war dies für die Augen wohltuend, erleichterte die Konzentration beim Lernen. Dieses Wissen war Allgemeingut. Aber man musste bloß einmal loslassen, auf die Natur ihres Heimatplaneten achten, um zu erkennen, dass es auch ganz anders ging. Das Wasser des Targan-Meeres wechselte zwischen tiefstem Blau über helles Grün zum Weiß der Schaumkronen. Die Rindenfarbe der Zernkrasbäume, die in losen Gruppen am Rande der Stadt Klarschein gediehen, veränderte sich im Jahreszeitenrhythmus von Gelb zu Rot zu Braun. Und verlor er die Konzentration, wenn er seine Blicke über Bäume und Meer schweifen ließ? Zornig schmetterte er das Glas zu Boden. Es zersplitterte in tausend kleine Stücke. Wut war eine weitere Emotion, die Etarmagan nur mühsam erfassen konnte. Er war bei der Determinierung seiner Gefühlszustände schlussendlich auf Literatur angewiesen. Auf Bücher, die in ihrer Nüchternheit nur einen Hauch dessen zu erfassen vermochten, was er empfand. Es half nichts. Er musste sich seine Schwächen, seine Abartigkeit eingestehen. Irgendwo hatte er gelesen, dass Zorn aus persönlicher Ohnmacht resultierte und oft-
11 mals in Trauer umschlug. Trauer wiederum war gut zur Selbstreinigung, was auch immer das sein mochte. Also wartete er und horchte, so gut er nur konnte, auf sein Inneres. Was änderte sich? Das Zittern und die Verkrampfung seiner Glieder ließen allmählich nach. Er fühlte, wie ihn ungewohnte Schwäche befiel. Ein Klumpen, schwer und zäh, ersetzte seinen Magen. Die Brust schien zu eng zu werden für das, was nun kommen wollte. Etarmagan nestelte an seinem weißen Hemd herum, riss es sich schließlich ungeduldig vom Leib. Es war unwichtig geworden, einengend in jedem Sinne. Er hob den Kopf und sah nach oben. Das breite Band des Murloth-Nebels füllte den Großteil des mitternächtlichen Himmels. Grüne, gelbe und rote Punkte leuchteten herab, verwirrende und abstrakte Muster bildend. »Es ist schön«, seufzte Etarmagan, »und alles tut so weh!« Haltlos fiel er auf die Knie, ohne den Blick abzuwenden. Seltsame, salzige Flüssigkeit sammelte sich in seinen Mundwinkeln. Schweiß? Nein. Langsam fuhr er mit einem Finger die nässende Spur nach oben, zurück an ihren Ursprung. Zu den Augen. Er … weinte. Er. Weinte. Der Gedanke reichte aus, um den Damm endgültig brechen zu lassen. Der Knoten in seinem Leib platzte, gab einer riesigen Flutwelle an stets unterdrückten Gefühlen nach. Alles drängte durch die Kehle nach oben, in den Kopf, der zu schmerzen begann. Etarmagan schrie, schluchzte, weinte, litt. Es tat weh, so fürchterlich weh … Er war glücklich. Er war frei.
* Etarmagan krempelte sein Leben leise, still und heimlich um. Natürlich verbrachte
12 er nach wie vor seine Tage in den riesigen Bibliotheken der fünf herrlichen Städte rund um das Binnenmeer, und natürlich fühlte er sich nach wie vor den Normen der Naruks verpflichtet. Doch in seinem Verständnis der Welt änderte sich alles. Bislang hatte er das Wissen in den Büchern lediglich aufgesogen. Unkommentiert, ohne Zusammenhänge zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften auch nur in Betracht zu ziehen. Und ebenso unkritisch war das Erlernte an die Reinigungsmaschine übergegangen. Jetzt schienen seine Sinne ums Tausendfache erweitert. Überall, wohin er auch blickte, begegneten ihm plötzlich Fragen. Wer sind wir? Warum lernen wir zeit unseres Lebens? Was passiert mit all dem angehäuften Wissen? Warum entwickeln wir kaum Gefühle? Was sind wir? Manchmal fand Etarmagan auch Antworten. Klein und meist unspektakulär wirkend, bildeten sie dennoch im Laufe der Zeit einen Fleckenteppich, der seiner Existenz einen erweiterten Sinn gab. So stellte er unter anderem fest, dass in einem Blick über das Targan-Meer mehr Bedeutung lag als in all den Büchern, die er bislang gelesen hatte. Die Schönheit der Natur war also ein Gut, das – für sich betrachtet – keinerlei messbaren Sinn besaß, sich aber auf sein Seelenleben äußerst befriedigend auswirkte. Etarmagan gab sich nicht nur mit tiefsinnigen Grübeleien ab. Wenn er wieder mal vor lauter Aufregung über das neu entdeckte Leben nicht schlafen konnte, begab er sich in den kleinen Lagerkeller – und bastelte. Er bemerkte ein technisches Geschick an sich, das ihn selbst verblüffte. Es war nicht nur angeeignetes Wissen, das er binnen kurzem umsetzen konnte. Nein! Es hatte vielmehr mit Talent zu tun. Er arbeitete gerne mit Werkstoffen aller Art, ohne Ziel und Zweck. Nur, um sich persönliche Befriedigung zu holen. Ab und zu streunte er auch durch die Straßen der herrlichen Städte Narukkus. In erster Linie kreuz und quer durch die Heimatstadt
Michael Marcus Thurner Klarschein. Aber auch Ebenmaß, Schönruh, Vollfried und Tiefglück gefielen ihm. Stundenlang konnte er sich im Laufschritt fortbewegen, ohne zu ermüden. Vergleiche mit der Tierwelt zeigten ihm, dass er den meisten Lebewesen auf Narukku vielfach überlegen war. Niemals begegnete ihm jemand in den Nachtstunden. Entweder schliefen sie oder taten ihren Dienst in den fünf Bibliotheken. Nur Etarmagan streifte umher – um von Fall zu Fall etwas zu finden, was seine Aufmerksamkeit erregte. Schmutz oder Unrat hätte er es früher genannt, wenn es ihm überhaupt aufgefallen wäre. Da waren Kunststoffteile. Schrauben, Federn, metallene Rohlinge. Pailletten, Papiere, Gummimembranen. Fäden, Farbtöpfe, Energiespeicher, bunt schillernde Kristalle und sogar ein Satz ungebrauchter Präzisionswerkzeuge. Was auch immer er fand – er nahm es mit nach Hause, um damit zu experimentieren, wie er es seit neuestem nannte. An diesem Tag wollte Etarmagan heimlich zum »Versorgungshafen« vordringen. Was er dort suchte, war ihm zwar unklar, doch er hatte längst gelernt, dem Drängen seines Inneren nachzugeben. Intuition war wohl das passende Wort für das, was er in sich hochkommen spürte. Der Versorgungshafen lag in einem »Verborgenen Sektor«, in einem kaum bewohnten Seitental des riesigen Paschmargal-Gebirges, südlich des Targan-Meeres. Der regelmäßige Nachschub von Nahrung und Kleidung sowie Gegenständen des täglichen Lebens war etwas, das unter den Naruks strikt tabuisiert war. Selbst Etarmagan brachte es nur unter größter Willensanstrengung über sich, darüber nachzudenken. Es schien ihm, als sei ein Vorhang vor das Thema gezogen. Als glitten alle Gedanken an einer psychischen Barriere ab. Mittlerweile fühlte er sich jedoch so stark, dass er gesellschaftliche Tabus als Herausforderung betrachtete. Was hatte er denn zu fürchten? Naruks taten nie etwas Verbotenes – also gab es auch keinen Strafenkatalog. In gewis-
Gefangen im Psi-Sturm ser Hinsicht besaß er Narrenfreiheit. Wenn, dann konnte er nur an sich selbst scheitern. Nach nur kurzer Zeit im Laufschritt erreichte er den Versorgungshafen – doch der war schlichtweg eine Enttäuschung. Außer mehreren ebenen Flächen, die von pedantisch zurechtgestutzten Hecken umrahmt waren, gab es nichts zu sehen. Fugen, nahezu unsichtbar, deuteten darauf hin, dass sich die kreisrunden Ebenen entriegeln lassen mussten. Einen Öffnungsmechanismus konnte Etarmagan trotz zermürbender Suche nicht entdecken. Unverrichteter Dinge kehrte Etarmagan heim. Frustriert aktivierte er das Zentralterminal, hieb auf die Bestelltaste und orderte einhundert Arbeitshosen. Jawohl, einhundert! Die Empfangsstelle, ein von nebelhafter Dunkelheit umgebener Quader inmitten des Wohnzimmers, leuchtete kurze Zeit danach auf. Etarmagan hob die Abdeckung an. Eine einzelne Hose lag darunter. Gelbliches Weiß, so wie all die anderen, die er jemals in seinem Leben getragen hatte. Zornig wischte er das Beinkleid beiseite und bestellte erneut. Keine Reaktion. Der Versorgungshafen – wer oder was auch immer hinter dieser nebulosen Bezeichnung stecken mochte – war der Meinung, dass er mit einer Hose sein Auskommen finden musste. »Verdammt!«, fluchte er. Emotionen waren nicht unbedingt immer nur positiv ausgeprägt. Teilweise wirkten sie hemmend. Sie beherrschten dann seinen Verstand. Er musste vorsichtig damit umzugehen lernen. Etarmagan ging unruhig auf und ab. »Warum nur, warum?« Er zermarterte sich den Kopf. Je mehr er erfuhr, desto mehr Rätsel taten sich auf. Woher stammte die hypermoderne Technik, die sie umgab und die sie selbst niemals nachzubauen im Stande wären? Wer oder was stand hinter den Versorgungshäfen? Wer lebte dort, wer sorgte für
13 sie? Andere, die mehr als die Naruks waren? Roboter oder Androiden, von denen er schon mehrfach in den Büchern gelesen hatte? Warum dieses ständige Lernen? Weshalb gab er so viel Wissen an die Reinigungsmaschine ab? Es war beileibe nicht alles, das ihm genommen wurde, sonst würde er nach jeder Prozedur als lallender Kretin erwachen. Immer blieb ein kleiner Rest dessen in ihm zurück, was er während des Tages gelernt hatte. Sein Wissenspool erweiterte sich fraglos, aber nur in winzigen Schritten. Etarmagan hielt das nicht mehr aus, er musste sich ablenken … Er fand einfach keinen Schlaf; zu viel beschäftigte ihn. Kurzerhand packte er den Werkzeugkoffer und stieg hinab in den Keller. Mit einem Schnippen der Finger aktivierte er das Licht. Sein Meisterwerk wartete auf ihn. Geschaffen mit eigenen Händen und vor allem nach einer eigenen Idee. Ein Geschenk. Etwas, das Carnji gehören würde. Etwas, das sie einfach von seiner Liebe überzeugen musste. Etarmagan beruhigte sich sofort. Entspannt, fast zärtlich strich er über die weiten Flügelmembranen des Geschenkes. Seine Hände – sie waren feinfühlig und geschickt, wie er es vorher nie vermutet hätte. »Die Arbeit in der Bibliothek ist nichts für mich«, murmelte er. »Wenn ich nur könnte, wie ich wollte – ich wäre …« Er ließ den Satz unvollendet und widmete sich mit aller Konzentration der Arbeit.
4. Atlan Narukku hätte die besten Voraussetzungen gehabt, zur Kolonie eines der zahlreichen Sternenreiche der Milchstraße zu werden: Arkoniden, Terraner, Jülziish, Topsider – für sie alle bot der Planet ideale Lebensbedingungen. Zum Glück waren wir nicht als Vertreter eines dieser Reiche hier, vom imperialistischen Denken hatte ich schon lange Abstand genommen, spätestens als ich den Imperatorenthron von Arkon abgelehnt hat-
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te.
ligenzen oder noch weiter darüber stehenden Instanzen geplant und gesteuert wird, wird uns auf ewig ein Mysterium bleiben, obwohl es einer eigenen Logik folgen dürfte.« Noch bevor mich der Extrasinn abmahnen konnte, schwenkte ich zurück zum Thema. »Aber was nun Narukku betrifft: Der Psi-Sturm konzentriert sich zusehends auf den frei schwebenden Eisklotz inmitten der ›Ebene ohne Schatten‹, mehrere tausend Kilometer westlich von hier. Die zweifelsohne bereits vorhanden gewesene Psi-Materie wurde …« »… möglicherweise von einer Psi-Quelle varganischer Herkunft stammend«, warf Kythara ein. »Diese Materie wurde durch die Reste des Kristallmonds aus der Obsidian-Schlucht über alle Maßen verstärkt. Verzeih mir bitte den billigen Vergleich: Aber wenn man einem Speichermedium rasant und scheinbar unbegrenzt Energie zuführt, führt das früher oder später unweigerlich zu einer Überlastung und …« »Es sei denn, Sicherungsmaßnahmen griffen ein«, gab die Varganin zu bedenken. »So ist es! Aber was wir momentan beobachten, ist weder das eine noch das andere.« »Psi-Materie ist ein gar sonderbar Stoff«, meinte Kythara spöttisch, »dessen Gesetzmäßigkeiten sich uns nicht vollkommen erschließen.« »Darüber ließe sich gewiss trefflich in einem vornehmen Salon diskutieren, aber in unserer momentanen Lage möchte ich vordringlich Antworten auf meine Fragen.« Kythara strich sich über die Beinteile ihrer blauen, metallisch glänzenden Borduniform. Eine Geste, die sie häufig setzte, wenn sie gründlich überlegte. Dann fixierten mich ihre Blicke. »Du formulierst sehr indirekt. Warum sagst du nicht freiheraus, dass du die Psi-Quelle erforschen willst?« Narr!, hörte ich den Extrasinn. Was ich schon immer sagte! Ich breitete die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit weit aus und meinte: »Wer bin ich, dass ich dir Vorschriften machen könnte?« Ich warf noch ein kleines verschmitztes
»Narukku besitzt also keine Monde?«, fragte ich. »Nein. Ich kann eine starke Achsneigung von achtundzwanzig Prozent als kleine Besonderheit anbieten. Und einen Meeresanteil von gerade mal einem Drittel an der Gesamtfläche.« »Das ist alles?« »Ja«, antwortete Kythara. »Hm. Ich will nicht sagen, dass ich enttäuscht bin – aber ich hatte mir mehr erwartet.« »Der Psi-Sturm alleine ist dir wohl zu wenig?« Die Varganin lächelte freudlos. »Und was hältst du von der ›Ebene ohne Schatten‹? Von dem schwebenden Eisklotz, der noch dazu im Zentrum der Psi-Strahlung zu stehen scheint? Ist dir das alles immer noch zu wenig?« »Du hast mich vielleicht nicht richtig verstanden«, entgegnete ich. Ich würde meinen, dass du dich absichtlich missverständlich ausgedrückt hast, meinte der Extrasinn. Du willst die Frau aus der Reserve locken, weil du dir über sie nicht im Klaren bist. Ich hasste es, wenn er in meinem Seelenleben herumstocherte. »Natürlich stehen wir außergewöhnlichen Phänomenen gegenüber. Aber wo Wirkung ist, muss auch Ursache sein. Ich möchte Verursacher oder Nutznießer dieses psimateriellen Chaos, das derzeit auf Narukku herrscht, kennen lernen.« »Du solltest erfahren genug sein«, tadelte mich Kythara, »um zu wissen, dass viele Vorgänge, die in einem großmaßstäblichen kosmologischen Rahmen passieren, nicht sofort zu durchschauen sind.« »Du meinst sicherlich: ›kosmischen‹ Rahmen. Denn von ›kosmologisch‹ habe ich in den letzten Jahrtausenden wenig bemerkt.« Die Varganin seufzte leidgeprüft. »Eine weitere Perle arkonidischen Humors wurde lange vor ihrer Zeit aus der Auster entfernt.« Sie grinste golden. Ich versuchte, nicht darauf einzugehen. »Vieles, was auf den Ebenen der Superintel-
Gefangen im Psi-Sturm Lächeln in die Waagschale, eine meiner stärksten Offensivwaffen, und sie verfehlte ihre Wirkung auch diesmal nicht. »Arkonide«, sagte die Varganin lachend, »gegen deine Mischung aus arkonidischem Humor, persönlichem Charme und unverschämten Lügen ist einfach kein Kraut gewachsen. Marschieren wir los!«
5. Etarmagan Es war wieder einmal der Tag der Philosophien. In regelmäßigen Wechseln besuchte Etarmagan eine der fünf Bibliotheken von Narukku, um seine Lesestudien fortzusetzen. Das Paket unter seinem Arm wog schwer. Die anderen Naruks betrachteten ihn mit gelindem Interesse, während er die Aula betrat, stellten aber keine Fragen. Diesmal nahm er die Treppen. Längst hatte er jedem der Säulenheiligen entlang des Weges einen Namen gegeben und grüßte sie alle. Mit einfachen Worten bat er sie um Unterstützung bei seinem gewagten Vorhaben, streichelte da und dort über den marmorierten Stein seiner Freunde. Er spürte, dass die Figuren ihm zuhörten. Dies ist ein so genannter Aberglaube, dachte er. Wieder ein neuer Begriff und eine neue Welt, die ich entdecke. Aber momentan sollte ich alles nehmen, was mir Stärke gibt. Jeder Schritt, der ihn hinaufführte, steigerte sein Selbstwertgefühl. Es war ihm, als würde er wachsen. Und als er endlich in der sechsten Ebene anlangte, fühlte er sich stark wie niemals zuvor. Mit breiter Brust betrat er Saal zehn und ging forschen Schrittes nach vorne. War es noch ruhiger als sonst, oder täuschte sich Etarmagan? Ach, all diese Heimlichtuerei! Er spürte, dass sie ihn beobachteten, sich über ihn wunderten. Aber sie unterdrückten all ihre Gefühle, die sie zweifellos besaßen. Er, Etarmagan, würde diese Ruhe durchbrechen, würde für einen Paukenschlag sorgen, die Lethargie zerfetzen.
15 Carnji saß an ihrem Platz. Ihr fein geschnittenes Gesicht, etwas heller als das seine, war bereits über eine antike Handschrift gebeugt. Etarmagan blieb stehen, nestelte nervös an seinem Paket herum. Die Schnur ließ sich nicht gleich lösen, natürlich. Die sonst so geschickten Finger zitterten plötzlich unkontrolliert. Endlich! Die Verpackung fiel hinab. Er stellte das Präsent vor sich auf den Studientisch. So, dass sie es sehen musste. »Carnji«, sagte Etarmagan mit fester Stimme, »ich habe etwas für dich gemacht. Ich möchte es dir … schenken. Ich möchte, dass du es annimmst. Ich möchte, dass du mich … liebst!« Stille hatte mehrere Dimensionen. Sie konnte angenehm sein, oder sie konnte Angst erzeugen. Aber diesmal erschlug ihn die Ruhe. Mehr als eintausend Augenpaare waren auf ihn gerichtet, er war ins Zentrum jeglicher Aufmerksamkeit gerückt. All die Selbstsicherheit war in diesem Moment dahin, geschmolzen wie Schnee. Nein, nicht Etarmagan stand im Mittelpunkt – sondern sein Geschenk. Der Schmetterling entfaltete sich unter leiser Begleitmusik aus der Verpuppung. Die Flügel flirrten kurz, zögernd, dann hob sich sein Geschöpf in die Luft. Farben, so bunt und schrill, wie sie nur vorstellbar waren, flimmerten. Metallisch glänzender Staub rieselte aus dem Stabkörper, verteilte sich mit dem leichten Wind, der im Saal herrschte, über mehrere Tischreihen. Kugelrunde schwarze Augen öffneten sich unter langen Wimpern. Eine Stimme hob an. Zerbrechlich, fragil und so hoch war sie, wie es die Naruks noch nie gehört hatten. Der Schmetterling zwitscherte seine Melodie. Wahrscheinlich klang sie hölzern, war unrhythmisch und völlig aus dem Takt. Was verstand Etarmagan schon von Musik? Er hatte dem Schmetterling das mitgegeben, was er in seinem Herzen gefunden hatte. Das künstliche Geschöpf schraubte sich in engen Windungen höher und höher, setzte
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sich auf eines der turmhohen Regale. Ein letzter Akkord erklang, fand seinen Höhepunkt in einem wahren Feuerwerk an Buntheit, Extravaganz, Schrille und Hingabe, sodass er den heimatlichen Planeten in seinen Grundfesten einfach erschüttern musste. Dann war es vorbei. Warum sagte Carnji nichts? Warum sah sie ihn nicht einmal an? Spürte sie nicht, dass es nur um sie ging, dass sie für ihn den Mittelpunkt des Universums darstellte? Endlich – sie reagierte! Ein kurzes Zucken um die Mundwinkel – ein Lächeln? Ja! Es schien ihm, als wäre sie soeben aus jenem bösen Traum erwacht, der alle Naruks in seinem Griff hielt. Er war ihr Erlöser. Er konnte es mit jeder Faser seines begehrenden Körpers fühlen, dass sie begriff, was er von ihr verlangte. Es war nur ein kleiner Schritt, ein einfaches Wort, und sie würden sich gemeinsam über die Niederungen ihres so beschränkten Daseins erheben, ein Leben in Liebe verbringen dürfen. Ja, sie lächelte! Sie blickte ihn an, wie sie es noch nie getan hatte. Etarmagan war am Ziel seiner Wünsche. Zögernd – schließlich war es ein unglaublich schwerer Schritt – öffnete Carnji den Mund. Sie sagte: »Nein. Danke.« Und setzte ihre Arbeit fort. Es wurde dunkel um Etarmagan.
6. Atlan Der Aufbruch in eine neue Welt ging natürlich längst nicht so einfach vonstatten, wie Kytharas Worte es angedeutet hatten. Die Technik des tropfenförmigen BeibootGleiters, den wir nutzen wollten, musste vom Bordrechner der AMENSOON nach einem jahrtausendelangen Dornröschenschlaf in der Obsidian-Kluft erst einmal auf Vordermann gebracht werden. Zudem wollten wir einige Auswertungsroutinen des Schiffes abwarten – und sie lieferten immerhin eine kleine Überraschung. »Es gibt entgegen den ersten Messungen
also doch Ansiedlungen vernunftbegabter Wesen«, sagte Kythara stirnrunzelnd. »Warum erfahren wir das erst jetzt?« Ich fragte bewusst provokativ. Nach wie vor bemühte ich mich, die geheimnisvolle Varganin ein wenig aus der Reserve zu locken. »Du kennst schließlich die Bedingungen, unter denen wir gelandet sind.« Sie sprach zu mir wie zu einem kleinen Kind, dem man umständlich erklären musste, warum mehr als eine Hand voll Süßigkeiten ungesund war. Und sie sah mich noch dazu so mitleidsvoll an. Oh, wie ich es hasste, wenn sich jemand dermaßen besserwisserisch verhielt! Ich mag sie!, mischte sich der Extrasinn ein, bevor ich die Contenance verlor. Sie erinnert mich an jemanden … an mich. Narr! Diesmal kam der Gedanke von mir. Na, wer ist nun der größere Narr?, gab der Logiksektor süffisant zurück. Aber jetzt konzentriere dich mal wieder. Kythara spielt dein eigenes Spiel besser als du; sie will dich provozieren! Darüber hinaus spürt sie deine Gedanken, wenn du den Monoschirm vernachlässigst. Ihr jugendliches Aussehen täuschte darüber hinweg, dass sie mir in puncto Erfahrung weitaus überlegen war. Und dass sie eine besondere Gabe besaß, die der Telepathie sehr nahe stand, kam ihr wohl auch zugute. Mühsam riss ich mich zusammen und fragte: »Und wo befinden sich diese Ansiedlungen?« »Das Siedlungsgebiet liegt auf einem eng begrenzten Raum, der von den optischen Geräten der AMENSOON nur sekundär erfasst werden konnte.« Kythara deutete auf wenige Spuren, Kratzern nicht unähnlich, die auf den Prints der unvollständigen Karte Narukkus zu sehen waren. »Das sind höchstwahrscheinlich Trampelpfade. Und dort befindet sich offensichtlich ein Versammlungsort. Siehst du die niedergetrampelte Erde, von jeglichem Pflanzenbewuchs befreit? Mehr Spuren gibt es nicht. Die AMENSOON interpretiert lediglich diese Bilder; es
Gefangen im Psi-Sturm existiert kein direkter Beweis für die Existenz von intelligenten Wesen auf Narukku. Die KI gibt übrigens an, dass das Siedlungsgebiet nur in diesem Bereich sein kann.« Sie wies auf einen leeren Flecken inmitten des Bilderpuzzles. Die AMENSOON hatte aufgrund der permanenten Psi-Bestrahlung, die ihre Funktionalität stark eingeschränkt hatte, lediglich eine bessere Bruchlandung auf Narukku hingelegt. Die Annäherungs- und Eintauchphase in die Atmosphäre des Planeten war mehr oder minder in Torkelfahrt erfolgt. Nur etwas mehr als sechzig Prozent der Oberfläche waren dabei ortungs- und tastungstechnisch erfasst worden, darunter natürlich die Ebene ohne Schatten. Jener Bereich, in dem man Ansiedlungen vermuten konnte, war allerdings nicht darunter. »Hast du weitere Beobachtungssonden ausgeschleust?«, hakte ich nach. »Selbstverständlich. Aber sie haben bereits nach wenigen Minuten aufgehört zu senden und sind wohl abgestürzt. Der PsiSturm ist nach wie vor zu stark für die empfindliche Technik.« »Wie sieht's mit Funk und Hyperfunk aus?« »Negativ. Ich bekomme auf allen Kanälen nur Rauschen herein.« »Soso. Wir sind also auf Vermutungen der Bordintelligenz angewiesen. Auf Extrapolationen und Interpretationen.« »Vertraust du der AMENSOON nicht?« »Schon. Aber noch mehr traue ich dem, was ich mit eigenen Augen sehe.« »Nun – dann wird es dich freuen zu hören, dass mögliche Siedlungen ziemlich genau auf einer gedachten Linie zwischen uns und der Psi-Quelle liegen.« »Von welchen Distanzen sprechen wir eigentlich, Kythara?« »Nahezu zwölftausend Kilometer bis zu diesem geheimnisvollen Zentrumsberg der Ebene ohne Schatten, vielleicht fünftausend bis zum vermuteten Siedlungsgebiet.« »Was können wir uns vom Beiboot erwarten? Werden wir es über die ganze Strecke
17 schaffen?« Ich hatte so meine Befürchtungen, aber es stand mir nicht zu, über die Kommandantin des Goldenen Schiffes hinweg zu mutmaßen. Ich sah, wie ein Säulendiagramm an einem der Kontrollboards langsam in die Höhe wuchs. Es zeigte Status und Bereitschaft mehrerer Beiboote an, die für unseren Ausflug präpariert wurden. Ich schätzte, dass der Check und etwaige Reparaturmaßnahmen noch eine Stunde in Anspruch nehmen würden. Kythara zögerte, als müsse sie nachdenken. Sie wirkte tatsächlich unentschlossen. »Die Psi-Einflüsse sind unberechenbar. Wir werden unsere Möglichkeiten austesten müssen.« »Das bedeutet?« »Ich schlage vor, zunächst einmal die nähere Umgebung zu erkunden, um die Zuverlässigkeit der Ausrüstung sowie des Beibootes zu überprüfen. Wenn sich alle Werte im goldenen Bereich befinden, setzen wir uns im Flottenverband in Bewegung. Ich habe insgesamt zwölf Schiffe ›auftauen‹ lassen. Eines steuern wir direkt, die anderen schicken wir vermittels Fernsteuerung voraus. Und dann …« »Ja?« »Dann sehen wir weiter«, sagte Kythara leichthin. »Wir werden improvisieren müssen. Ist das nicht eine besondere Stärke deines Volkes?« »Na ja … eigentlich meines Patenvolkes, der Terraner.« Wollte sie mich etwa ärgern? »Lemuroiden eben. Eins wie das andere.« Ihr unverschämtes Grinsen auf meine entgleisenden Gesichtszüge hin zeigte, dass sie mir in puncto Psycho-Spielereien zumindest ebenbürtig war. Kythara hatte mich aus der Fassung gebracht. Sie! Mich! Ich stand auf. Es wurde Zeit, die Ausrüstung, die ich am Körper tragen würde, durchzusehen. Nur Dummköpfe verließen sich bei diesen letzten Überprüfungen auf andere, selbst wenn es sich dabei um scheinbar unfehlbare Maschinen handelte. »Nervös?«, fragte die Varganin, die mei-
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ne Blicke richtig deutete. Sie räkelte sich nach wie vor auf ihrem Platz. Die eng gearbeitete Kombination raschelte metallen, als sie die langen Beine übereinander schob. »Aufgeregt ist der bessere Ausdruck«, erwiderte ich. »An Situationen wie diese kann man sich einfach nicht gewöhnen.« »Ein wahres Wort«, sagte Kythara. Für einen Moment schien es mir, als wolle sie noch etwas hinzufügen, sich ein wenig öffnen. Es schwebte so viel Ungesagtes zwischen uns im Raum. Geheimnisvolles, Sensationelles … oder auch nur Persönliches. Aber der Moment verging, und nichts geschah. Im Gegenteil. Eine lange, künstlich wirkende Pause entstand, die die zuvor aufgekommene Lockerheit und positive Stimmung abtötete. Mit einem Mal waren wir uns so fremd wie die Bewohner zweier unterschiedlicher Universen – die wir ja auch waren.
* Eine Stunde später: All die technischen Daten, die da so nüchtern über ein Holo-Feld des leichten Schutzanzuges vor meine Augen projiziert wurden, sagten nichts darüber aus, wie ich mich auf dem fremden Planeten fühlte. Ich war dank der geringeren Schwerkraft um eine Spur leichter, und der mittägliche Sonnenstand bescherte uns Temperaturen von um die fünfzehn Grad Celsius. Dies war zwar bemerkenswert viel für den Frühherbst in diesem Teil Narukkus, dennoch fröstelte mich. Die Topographie und auch die klimatischen Besonderheiten des Planeten faszinierten mich. Das Gletschereis der Polkappen reichte bis zum sechzigsten nördlichen und südlichen Breitengrad. Entlang des Äquators hingegen zog sich jener großteils schroff ausgeformte Gebirgsgürtel entlang, auf den mich Kythara bereits aufmerksam gemacht hatte. Dieser war aufgrund der hier seltenen Niederschläge nahezu schnee- und eisfrei. Der wolkenfreie Himmel war türkis;
am westlichen Horizont glitzerte geheimnisvolles Rotgelb in der Atmosphäre. Wenn man den Zahlenkolonnen vertraute, die die AMENSOON für mich aufbereitete, handelte es sich dabei um eisenhaltigen Staub, der von Stürmen im Hochgebirge hochgewirbelt wurde und um den Planeten trieb. Ein Geruch nach Harz und Nüssen hing in der Luft. Fremd, aber nicht unangenehm. Ich pfiff auf die nüchternen Erklärungen meines Anzugs; stattdessen erfreute ich mich an der einfachen, sauberen Schönheit des Planeten. Trotz der Gefahren, denen Kythara und ich entgegengingen – man musste den Moment genießen. »Aufpassen jetzt«, sagte Kythara neben mir. Ich konzentrierte mich. Von einer gewissen Größe an machten hundert oder tausend Meter mehr oder weniger keinen Unterschied mehr, wenn es um das Empfinden ging: Das Schiff der Varganin mit seinen 848 Metern Höhe schien mir im Moment ebenso groß wie die BASIS oder die achttausend Meter hohe SOL. Einfach nur groß. Die AMENSOON, ein golden glänzendes Juwel in Form einer Doppelpyramide mit acht gleichseitigen Dreiecksflächen, ragte selbst aus einer Entfernung von mehr als einem Kilometer derart hoch, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um die obere Spitze erkennen zu können. Es war ein Monstrum von einem Raumschiff. Sein Schlagschatten erzeugte Kälte, die vielen scharfen Kanten brachten böige Winde, und auch sonst musste man das Varganen-Schiff eher als homogene Stadt betrachten denn als Transportmittel. Auch wenn es derzeit nur zwei Personen beherbergte. Ich beobachtete die glatte, im Licht der Sonne schimmernde Außenfläche aus Varganstahl. Im oberen Teil der Doppelpyramide, auf der uns zugewandten Dreiecksfläche, öffnete sich im Zeitlupentempo eine Schleuse. In scheinbarem Zeitlupentempo. Denn in Wirklichkeit fuhr das mehr als einhundert Meter hohe und breite Tor mit
Gefangen im Psi-Sturm mehreren Metern pro Sekunde auseinander. Es war selbst mir mit meiner langjährigen Erfahrung nicht auf Anhieb möglich, die Größenrelationen richtig einzuschätzen. Ein stromlinienförmiges Fahrzeug schwebte langsam aus der Schleuse, gefolgt von elf weiteren. Im Vergleich zum Mutterschiff waren sie alle winzig, und sie glänzten wie Quecksilbertropfen, als sie federweich herabsanken. Der vorderste Tropfen landete unmittelbar neben Kythara und mir. Eine starke Windbö, vom Beiboot mitgeschleppt, fuhr durch mein Haar, verwirbelte es. Es war ein gutes Dutzend Meter lang, übermannshoch und beileibe kein Spielzeug. Vielmehr ein wuchtiger Gigant, sowohl in Form als auch in seiner Größe einem terranischen Wal nicht unähnlich. Tonnenschwer, silbrig glänzend, ohne erkennbarer Einstiegsluke. Kleine Finnen, wohl die Seitenstabilisatoren, bewiesen, dass das Beiboot in erster Linie für den planetennahen Flugbetrieb konzipiert worden war. »Achtung!«, rief Kythara. Sie stieß mich grob beiseite. Instinktiv ließ ich mich fallen, rollte über den staubigen Boden ab. Die Varganin folgte mir mit einem Fluch auf den Lippen, der mich in einer anderen Situation hätte erröten lassen. Ein schrilles Pfeifen, ein erneuter Windstoß, heftiger diesmal. Es folgte grässliches, schrilles Knirschen. Die Erde bebte unter meinem Körper, sekundenlang. Dann Stille. Ich stand auf, hustete, half Kythara auf die Beine. Feiner Sand umwehte uns, versperrte die Sicht auf die Umgebung. »Alles in Ordnung?«, fragten die Varganin und ich wie aus einem Mund. Wir lachten nervös auf und nickten uns zu. Ich starrte auf das andere Beiboot, das knapp über uns hinweggerast war und sich in die Erde gebohrt hatte. Unkontrolliert, der Steuerung durch Kythara oder der AMENSOON entkommen. Ein deutliches Warnzeichen, das uns ein-
19 mal mehr die kaum zu kontrollierenden Gewalten des Psi-Sturmes vor Augen führte. Ein Erdwall, vielleicht fünfzehn Meter hoch, hatte sich vor dem Tropfenkopf des Schiffes aufgetürmt. Die scheinbar verspiegelte Außenhaut war teilweise gebrochen. Nein – sie war geborsten wie ein Spiegel. Die Splitter der Schiffswandung lösten sich allmählich in nichts auf und zeigten, dass sie bloß aus formstabilisierter Energie bestanden hatten. Es waren mehr als die äußerlich sichtbaren Gewalten gewesen, die Einfluss auf das Schiff genommen hatten. »Ein Totalausfall«, bestätigte Kythara wenige Momente später nüchtern. »Die Steuerungselemente, der Sublicht-Antrieb, die Anlagen der Energieversorgung – sie alle sind zeitgleich zusammengebrochen.« Ich wischte mir Schweiß und Staub von der Stirn. »Und die anderen elf Beiboote?«, fragte ich müde. »Funktionieren fehlerfrei.« Sie runzelte die Stirn und blickte auf ein kleines, flaches Kontrollpanel, das in den linken Ärmel ihres blaumetallenen Overalls eingearbeitet war. »Wenn ich die Informationen der AMENSOON richtig interpretiere, handelt es sich hierbei« – sie deutete auf das Wrack – »um das letzte Schiff, bei dem die Wartungsprozedur abgeschlossen wurde.« »Und was bedeutet das?« »Möglicherweise wurden die Reparaturroutinen vorzeitig abgebrochen, weil die AMENSOON meinen Wunsch nach mehr Tempo bei den Vorbereitungsarbeiten derart interpretierte. Oder dem Mutterschiff selbst sind Fehler beim Check unterlaufen. Vielleicht war es auch die Kombination beider Varianten, die zum Absturz führte.« Ich zögerte. »Das bedeutet, dass wir uns nach wie vor auf nichts verlassen können. Der hyperdimensionale Einfluss über Narukku ist schlichtweg unkontrollierbar. Er beeinflusst jegliches technische Gerät, das auf n-dimensionaler Basis beruht.« »Richtig.« Kytharas Mund wurde schmal. »Ich sehe Zweifel in deinem Gesicht. Ich bin bereit, das Risiko einzugehen, mit einem der
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Tropfenschiffe die Reise zur Ebene ohne Schatten in Angriff zu nehmen. Und du? Willst du zu Fuß marschieren?« »Zwölftausend Kilometer? Du scherzt!« Ich lachte kurz auf. »Wir könnten natürlich auch das Ende des Sturmes abwarten, wenn es dir zu gefährlich ist.« »Wie …?«, begann ich, doch ein scharfer Impuls des Extrasinns ließ mich verstummen. Vorsicht! Du erkennst ein Psycho-Geplänkel ja nicht einmal mehr dann, wenn es derart ofensichtlich ist. Wo bleiben dein Stil, deine Weltgewandtheit, deine Überlegenheit, du Narr? War es tatsächlich ein Wettlauf, ein Kampf des Willens zwischen uns beiden, auf den es hinauslaufen würde? Ich zweifelte daran. Zumindest hofte ich, dass es nicht so sein würde … Ich straffte mich. »Wenn dich die Furcht plagt, kannst du hier gerne auf mich warten. Aber ich gehe das Problem – oder besser: Phänomen – jetzt an. Schließlich kann uns keiner sagen, wie lange der Hypersturm noch wütet. Ich habe keine Lust, hier Wurzeln zu schlagen, auch wenn ich sicherlich unangenehmere Gesellschaft haben könnte. Wir sehen zu, dass wir mit einem Beiboot so nahe wie möglich an die Psi-Quelle herankommen. Erst wenn dessen Technik versagen sollte, verlassen wir uns auf die Anzugaggregate oder unsere physischen Fähigkeiten. Die anderen Tropfenbeiboote behalten wir, gleichmäßig über die Flugstrecke verteilt und in unmittelbarer Nähe. Sozusagen als Rettungsanker.« »Es steht dir gut, wenn du initiativ wirst«, sagte Kythara. Ihre goldenen Augen glitzerten geheimnisvoll. Schau woanders hin, sonst benimmst du dich wieder wie ein Narr!
7. Etarmagan Während der nächsten Tage erfuhr Etar-
magan, was das simple Wort Leid alles bedeuten konnte. Er verkroch sich in seinem Kschemme und hing düsteren Tagträumen nach. Die Zeit verstrich ungewohnt, quälend langsam, und jeder Moment schmerzte. Die Sinnlosigkeit seiner Existenz lähmte ihn. Nicht die Demütigung, die er erlitten hatte, war an seinem Jammer schuld. Was kümmerten ihn die anderen Naruks? Er war lediglich für wenige Momente in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit gerückt. Wahrscheinlich hatten sie ihn bereits wieder vergessen oder in jene Schublade voller Spinner verschoben, von denen nur flüsternd oder mit größtem Abscheu geredet wurde. Nun – das war das Problem der anderen. Nicht er war verrückt – sie waren es. So viel wusste er mittlerweile. Denn ein Dasein, das zugebracht wurde, ohne Gefühle zu entwickeln, war unnatürlich. Nein. Was wirklich schmerzte, war die Zurückweisung Carnjis. Wenn sie ihm Beleidigungen und Hohn an den Kopf geschmissen hätte, er hätte gelitten und es ertragen. Aber jene Gleichgültigkeit, mit der sie ihn bedachte – sie war unerträglich. Ein neuer Gedanke machte sich in seinem Kopf breit. Suizid. Eine morbide Idee, die er in philosophischen Schriftreihen emotional agierender Völker als nahezu beherrschendes Element gefunden hatte, erschloss sich allmählich auch ihm, dem Naruk. Sie gewann an Reiz, je mehr er sich mit seiner tristen persönlichen Situation beschäftigte. Er war der einzig Sehende unter Blinden. Aber auch er war nur einäugig. Um all das Wissen des Universums wirklich erschließen zu können, benötigte man den Diskurs. Gespräche. Interaktion. Und in weiterem Sinne Vertrauen, Freundschaft und … Liebe. Etarmagan hieb wütend auf den Tisch, so dass sich die Platte unter seiner Faust bog. Nein! Selbstmord war kein Ausweg, das war zu billig. Wenn er schon nicht die Liebe Carnjis ha-
Gefangen im Psi-Sturm ben konnte, wollte er zumindest alles daransetzen, aus diesem Planeten einen Ort zu machen, an dem Gefühle gedeihen konnten. »Ich werde Hoffnung säen«, flüsterte Etarmagan. »Auch wenn ich die Ernte nicht mehr einfahren kann, so möchte ich zumindest Voraussetzungen für Änderungen schaffen.« Er hatte diese Worte in einem verstaubten Büchlein gefunden und, für seine Situation passend, leicht abgewandelt. Irgendwie schienen sie ihm treffend, auch wenn ihm der genaue Sinn vorerst verborgen blieb. Nun gut. Carnji hatte sein Geschenk, seine Geste der Liebe nicht akzeptiert. Wahrscheinlich hatte sie noch nicht einmal verstanden, was er mit Hilfe des Schmetterlings sagen wollte. Wenn es nach ihm ging, sollte das Flattertier ruhig bis in alle Ewigkeit auf der Oberkante des Bücherregals sitzen bleiben. Oder zumindest so lange, bis einer der anderen Naruks verstand, wofür es stand – und es zu sich herabholte. Er, Etarmagan, wollte in der Zwischenzeit einen neuen Schmetterling bauen. Noch größer, noch schöner, noch bunter sollte er werden. Seine Stimme würde wie Honig klingen, und er würde die Herzen aller erfreuen. Etarmagan stemmte sich von seinem Stuhl hoch. Er wunderte sich, dass es so leicht ging; hatte er doch stunden- und tagelang hier gesessen, hatte gegrübelt und das Gewicht ganzer Gebirge auf seinem Geist gespürt. Jetzt, da er den Entschluss gefasst hatte, aufzustehen und wieder etwas Sinnvolles zu tun, waren alle Sorgen und Probleme wie weggeblasen.
* Diesmal war das Gemurmel und Getuschel der anderen nicht zu überhören. Wo auch immer er auftauchte – sie blickten betreten zur Seite, wichen ihm aus, schlugen Haken. Die meist zu engen Gehwege und Straßen erweiterten sich mit einem Mal zu
21 einer Dimension, die Etarmagan nur von seinen nächtlichen Ausflügen kannte. Er fand immer Platz – denn niemand wollte dem Mann mit dem Schmetterling begegnen. Ja – so war sein neuer Name. Und er trug ihn mit Stolz. Genauso, wie er es genoss, von dem riesenhaften Kunsttier auf Schritt und Tritt begleitet zu werden. Das, was er vor mehr als hundert Tagen für Carnji erbaut hatte, war eine plumpe Vorstufe gewesen zu dem, was er nun besaß. Etarmagan wusste, dass er seine Kameraden verwirrte und aus der Fassung brachte. Gleichgültig konnte man dem Schmetterling nicht gegenüberstehen. Er schwebte stets über ihm, halb so groß wie ein Naruk. Er leuchtete, sang und sprach, er verbreitete ungewohnte Gerüche, transzendentierte, philosophierte, ließ Konfetti herabregnen, zündete Feuerwerke, erfand Rätsel und Rezepte, er malte – er war einfach unglaublich! Jede Nacht fand Etarmagan Möglichkeiten, mit dem Schmetterling neues Terrain zu erschließen. Enttäuschend war lediglich, dass aus den Verborgenen Sektoren keinerlei Reaktion kam. Man versorgte ihn weiterhin mit Nahrung und Bekleidung. Man duldete es sogar, dass er für zwei Tage die Reinigungsmaschine verweigerte. Falls er für die Wesen, die dort versteckt leben mussten, ein Problem darstellte, so zeigten sie es zumindest nicht. Waren es überhaupt Lebewesen, die die Naruks überwachten, fütterten und für sie sorgten? Oder waren es Maschinen? Roboter? Mehrere Nächte lang hatte er seinen Schmetterling über den geheimnisvollen Toren schweben lassen in der Hoffnung, irgendeine Reaktion oder Bewegung anmessen zu können. Vergeblich. Vor Gewaltanwendung schreckte er zurück. Eine innere Stimme sagte Etarmagan, dass nichts und niemand die stählernen Tore durchbrechen konnte, wenn es die Wesen dahinter nicht wollten. Vorerst waren die Verborgenen Sektoren auch nicht sein Ziel. Es lag ihm viel mehr daran, seinen Landsleuten die Au-
22 gen zu öffnen. »Guten Tag«, grüßte Etarmagan nach links und rechts, während er so wie jeden Morgen die Pforte einer der fünf Bibliotheken durchschritt. »Es ist ein schöner Tag – findet ihr nicht?« Alle Naruks sahen wie immer zur Seite. Irritiert, verblüfft, hilflos seinen Verrücktheiten gegenüberstehend. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, den fixen Rhythmus seiner Bibliotheksbesuche zu durchbrechen. War es nicht gleichgültig, in welcher Reihenfolge er sich welches Wissen aneignete? Er drängte sich einfach in irgendwelche Abteile und genoss die Aufregung und das Chaos, das er dadurch verursachte. Er war als Einziger trocken geblieben, als er die riesige Halle betrat. Es war die Bibliothek der Philosophien, und wenn ihn nicht alles täuschte, war er sogar am richtigen Tag erschienen. Der Schmetterling hielt die irrlichternden Flügel über ihm ausgebreitet. Er hatte ihn vor einem ungewohnten Regenguss geschützt. Alle anderen Naruks waren nass. Vom Scheitel bis zur Sohle. Doch nur die wenigsten störten sich daran. Etarmagan blieb kurz am Treppenansatz stehen und beobachtete kritisch die Massen. Kurz geschorene, blonde Köpfe bewegten sich im Marschrhythmus auf und nieder. Wie die Wellen des Targan-Meeres, nur um einiges gleichmäßiger. Der Paternoster zur Ebene sechs war wie jeden Morgen gut gefüllt. Mehr als zwanzig seiner Kollegen wurden mit jeder Kabine nach oben transportiert. Wie viele Naruks arbeiten denn eigentlich hier?, fragte er sich. Einhunderttausend? Fünfhunderttausend? Eine Million? Er wusste es wirklich nicht. Es waren zu viele, und das riesige, pyramidenförmige Gebäude war auch zu verwinkelt, um die Übersicht über alle Räumlichkeiten zu wahren. Etarmagan wusste lediglich, dass mehr als dreißigtausend Männer und Frauen hier wohnten. Wie Wurzeln verästelten sich Korridore endlos weit unter der Erde hin zu externen
Michael Marcus Thurner Lagerplätzen und Archiven, pumpten frischen Lesestoff nach oben für die wartenden Studenten. Bibliothekare, eigentlich bloß bessere Handlanger, sorgten in Zusammenarbeit mit den scheibenförmigen Servobots dafür, dass der Nachschub nie endete. Köche verteilten Nahrung in nie versiegenden Mengen. Wartungsarbeiter durchstreiften die Pyramide rund um die Uhr. Lüftungstechniker, Mechaniker, Tischler, Formenergetiker, Datenkontrolleure – sie alle fanden hier reichlich Arbeit. Nur Sicherheitsorgane gab es keine. Die naruksche Gesellschaft hatte so etwas nie benötigt; zu friedvoll ging es zu. Etarmagan schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf den Paternoster. Gerade eben drängten sich weitere zwanzig seiner Kollegen von Ebene sechs in den sich stetig bewegenden Aufzug. Einige wenige, vor allem weibliche Naruks, fuhren sich mit fahrigen Gesten ordnend durchs feuchte Haar oder beutelten die durchnässte Bekleidung aus. Er machte sich gedankliche Notizen. Betis, Sliva, Kennso gehörten zu ihnen, ebenso Abdel, Lefor und … Carnji. Carnji – ausgerechnet sie? Seine ehemalige große Liebe? Sie zeigte Eitelkeit – und damit so etwas wie Emotionen? So schnell wie dieses Mal war Etarmagan noch nie die Treppen hinaufgeeilt, immer drei oder mehr Stufen nehmend. Er musste seine Kollegen unbedingt sehen, wenn sie das Paternoster verließen! Er nahm sich nicht einmal die Zeit, die Steinsäulen zu grüßen, und selbst der Schmetterling konnte ihm nur mit Mühe folgen. Kaum außer Atem kam Etarmagan in Ebene sechs an. Soeben ruckelte der Paternoster hoch. Er hatte es geschafft! Hastig drückte er sich in eine der vielen Nischen entlang des Ganges. Er zog den Schmetterling zu sich; augenblicklich verpuppte sich das künstliche Flatterinsekt und verharrte in vollkommener Stille. Die Gruppe stieg oder hüpfte aus dem Abteil, so rasch und gut koordiniert, dass al-
Gefangen im Psi-Sturm le zwanzig Naruks den Ausstieg binnen weniger Augenblicke schafften. Carnji befand sich am Ende der Gruppe. Gut so, dachte Etarmagan, da kann ich sie besser beobachten. Er folgte ihr in geringem Abstand. Den Schmetterling hielt er zusammengerollt unter einem Arm versteckt. Niemand achtete auf ihn. Er war einer von ihnen geworden, schwamm mit der Masse mit. Nahezu im Gleichschritt ging die Gruppe mit Carnji in Richtung des Lesesaals zehn. Vorbei an vier abzweigenden Flügeln, dann quer durch den etwas breiteren Zentralgang. Hier an der Ecke, an der Einmündung zum Verbindungstrakt zu Flügel zehn, befanden sich riesige, polierte Flächen. Sie lagen sich gegenüber und spiegelten hin und her, scheinbar bis in die Unendlichkeit. Ein irritierender und störender Anblick, der in Etarmagan stets ein merkwürdiges Gefühl erzeugte. Carnji passierte die Spiegelflächen, ohne nach links und rechts zu blicken. Immer im Gleichschritt, immer den anderen hintennach … Etarmagan blieb enttäuscht stehen, nur wenige Schritte hinter der Frau. Da! Sie stolperte, blieb zurück! Niemand achtete darauf. Außer Etarmagan. Carnji bückte sich, straffte scheinbar die leicht verschobenen Hosenbeine. Sie drehte sich nach rechts und sah flüchtig in den Spiegel! Ein kurzer, ordnender Griff zum Haarschopf, das Hemd rasch zurechtgezupft, ein paar Wassertropfen mit den Fingern vom Halsansatz gewischt. Ein letzter prüfender Blick – und weiter ging es Richtung Lesesaal. »Hallo, Carnji!«, flüsterte Etarmagan, nunmehr ganz nahe hinter ihr. Sie zuckte zusammen, erkannte wohl seine Stimme, marschierte aber weiter. Nein, diesmal entkam sie ihm nicht! »Ich habe zugesehen«, sagte er, etwas lauter nun. »Das, was du getan hast, entspricht nicht gerade dem, was eine brave, rational denkende Naruk tun sollte.« Etarmagan bedauerte im selben Moment den zynischen Klang, den er
23 seinen Worten beigelegt hatte. Aber der Frust war groß. Dies war eine einmalige Möglichkeit, sich für die Demütigung zu rächen. Carnji tat ungerührt. Sie achtete nicht auf ihn. Etarmagan schloss zu ihr auf. »Mich kannst du nicht mehr täuschen«, sagte er. »Eitelkeit ist eine Tugend, die nicht jeder pflegt, nicht wahr? Und wenn es diejenige heimlich, still und leise macht, dann ist sie sich dessen auch bewusst. Sie weiß, dass sie sich außerhalb der gesellschaftlichen Normen bewegt.« Carnji wollte vorne weglaufen, doch er hielt sie am Arm fest. Versteckt, sodass es die Entgegenkommenden nicht bemerkten. »Wie fühlt es sich an, wenn man anders als die anderen ist?«, raunte er ihr zu. »Wenn man an sich etwas bemerkt, was einen zum Außenseiter stempelt? Wenn man erkennt, dass man nicht normal ist?« Der Frust brach wie heiße, glühende Lava aus ihm heraus. Am liebsten hätte er sie zu Boden geworfen und all seine Wut an ihr ausgelassen. Carnji war schuld an allem; sie hatte ihn zu dem Monster gemacht, als das er heute angesehen wurde. Er drückte ihren Arm, immer fester … »Es ist … fürchterlich«, flüsterte Carnji, und sie wandte ihm das Gesicht zu. Die Augen glänzten wässrig. Zwei dicke Tränen lösten sich, tropften auf die Wangen. »Und ich habe schreckliche Angst davor.« Angst! Etarmagan ließ sie los und blieb einfach stehen, während sie weitereilte. Der Schmetterling löste sich unter seinem Arm. Er plumpste zu Boden, entpuppte sich, breitete die bunten Flügel aus, begann einen wilden Tanz. Sie hatte sich stets nur gefürchtet! Nicht vor ihm, sondern vor ihren eigenen Empfindungen! Was war er nur für ein unsensibler, egozentrischer Tölpel gewesen … Er lief ihr nach, holte sie kurz vor dem Zugang zu Saal zehn ein. Der Schmetterling zwitscherte über ihnen und flog Achterkur-
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ven. »Ich habe auch Angst«, sagte er mit zitternder Stimme. »So viel, dass ich manchmal nicht einmal mehr atmen kann. Aber ich glaube, dass es besser ist, zu zweit Angst zu haben, als allein.« Ihr Gesicht war wieder ausdruckslos, die Tränen weggewischt. Sie nickte unmerklich und schenkte ihm für wenige Momente den Hauch eines Lächelns, bevor sie sich umdrehte.
* Ihr zuliebe verzichtete Etarmagan nun sogar darauf, den Schmetterling während der Lesearbeit aus der Verpuppung zu holen. Er wollte sie nicht weiter bloßstellen. Das erste Lächeln, das sie ihm geschenkt hatte, war wie ein viel versprechendes Samenkorn, das im Boden reifte. Allmählich, ganz langsam, wuchs es heran. Zuerst war da und dort ein kurzer Blickkontakt. Es folgten heimlich einander zugeschobene Zettel mit Fragen und Gegenfragen. Dann kurze Berührungen ihrer Füße unter den Tischen, scheinbar zufällig und stets von ängstlichen Blicken Carnjis nach allen Seiten begleitet. Schließlich die ersten hastig gewechselten Worte, irgendwo in den kaum frequentierten Treppenhäusern. Er war ihr nahe gekommen, so nahe, dass er meinte, ihre Lippen bereits auf den seinen spüren zu können. Und dennoch fehlte etwas. Noch war sie nicht bereit, für ihre Gefühle einzustehen. Sie sahen einander bloß jeden sechsten Tag. Carnji war nicht bereit, seinetwegen ihren gewohnten Arbeitsrhythmus zu durchbrechen. Nur am Tag der Philosophie saßen sie sich gegenüber, und jedes Mal erschien Etarmagan die Zeit bis dahin länger. Endlich war es wieder so weit. Sie trafen sich wie schon ein paarmal zuvor im Treppenhaus. »Hallo«, sagte Etarmagan, während ihm das Herz bis zum Hals schlug. Sie nickte kurz und lächelte schweigsam. Langsam gingen sie nebeneinander die mehr als zweitausend Stufen hoch. »Das ist Beerenstolz«, flüsterte er leise und deutete
auf die geschwärzte Statue eines achtgliedrigen Wesens ohne erkennbaren Hals, das hoch aufgerichtet auf ihn und Carnji herabblickte. »Natürlich kenne ich seinen richtigen Namen nicht – aber sieht er nicht so aus, als würde er gerade Tramluk-Beeren pflücken? Achte nur auf seine geöffneten Pratzen – und achte auf seinen gierigen Blick!« Sie kicherte. »Dort vorne stehen Bratoform und Formobrat, die beiden unzertrennlichen Köche mit den drei Beinen. Vor ihnen fliegt Schenkelfleisch, so nahe und verlockend, dass ihnen das Wasser im Munde zusammenläuft. Dennoch werden sie ihn nie einholen. Und da: Die alte Pretzentopf grübelt wieder einmal über einem Rezeptbuch. Ich bin mir sicher, dass sie jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme, ein anderes in der Hand hält …« »Hör schon auf!« Sie lachte unterdrückt. »Das sind Statuen von irgendwelchen Schriftgelehrten. Deine Fantasie schlägt Kapriolen.« »Mag sein.« Für kurze Zeit schwiegen sie. »Aber ist es nicht schön«, fuhr Etarmagan schließlich fort, »darüber nachzudenken, was sein könnte? Nicht immer nur die unverrückbare Wahrheit zu sehen, sondern Dinge einfach zu interpretieren, wie es einem gefällt?« »Na ja …« »Versuch es auch!«, bat er Carnji überschwänglich. »Dort, der schuppige Vielfüßer! Der scheinbar gar nicht auf den Sockel gehört, sondern vielmehr auf den Boden, wo er nach Ungeziefer suchen sollte. Wie, meinst du, sollte sein Name sein?« »Ich weiß nicht …« »Denk nach! Erfinde ein neues Wort oder nimm eines, das du schon einmal gehört hast, vielleicht in ganz anderem Zusammenhang. Bitte!« Etarmagan blickte sie an. Sah, wie sie verzweifelt nachdachte, um ihm den Gefallen zu tun. Sie macht es nur meinetwegen, dachte er.
Gefangen im Psi-Sturm Sie hält mich nach wie vor für einen Spinner, aber sie ist bereit, das Spielchen mitzumachen. Weil sie mich mag? Carnji betrachtete die Statue kritisch, während sie darauf zumarschierten. Einmal, ein zweites Mal setzte sie an, etwas zu sagen – und verschluckte ihre Worte. Schließlich, sie hatten den Vielfüßer längst passiert, platzte sie heraus: »Schuppenhauer!« »Schuppenhauer?« Etarmagan sah sie verwundert an. »Ja! Findest du den Namen nicht … gelungen?« Ihre Stimme klang zittrig und verlegen. »Doch, er … er hat etwas. Er klingt … witzig.« Er schüttelte den Kopf und grinste. »Ich finde ihn passend. Ich wäre nie auf diese Idee gekommen.« Ruhig gingen sie weiter, die letzten Treppenabsätze hinauf, und es schien ihm wie selbstverständlich, als sie ihm schließlich die Hand reichte. »Heute werde ich dein Geschenk mit zu mir nehmen«, sagte sie mit fester Stimme, als sie gemeinsam den Lesesaal betraten. Carnji deutete hinauf zu ihrem Schmetterling, dessen ausgebreitete Flügel trübselig im leichten Sog der Klimaanlage flatterten. Und so geschah es auch.
* Etarmagan sah sich und Carnji als die einzigen Farbtupfer in einer schwarzweißen Welt. Wo auch immer sie hinkamen, bemühten sie sich aufs Redlichste, Lebensfreude zu verbreiten und ihren trostlos dahinvegetierenden Landsleuten die Augen zu öffnen. »Wir sind nicht nur da, um Wissen in uns hineinzustopfen!«, rief Etarmagan von einer Empore hinab, auf die ihn Farbenhoch und Jubelweiß, die beiden Schmetterlinge, gehoben hatten. »Wir müssen das Erlernte auch verarbeiten. Wir müssen darüber nachdenken und reflektieren, wir müssen lernen zu lernen!« Es waren endlose, meist auch nutzlose Ti-
25 raden, die kaum einmal wahrgenommen wurden. Manchmal schien es Carnji und Etarmagan, als seien sie aus dem Bewusstsein der anderen Naruks verschwunden. Ausgelöscht oder großteils vergessen, wie all das, was sie Tag für Tag in der Reinigungsmaschine abluden. Carnji hatte ein schüchternes Naturell, aber sie war zäh. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es auf Biegen und Brechen durch. Sie war diejenige, die erste Ansätze zu einem sinnvollen methodischen Vorgehen fand. »Du hast mir erzählt«, murmelte sie, während sie seinen nackten Körper liebkoste, »dass dir mehrere Frauen aufgefallen sind, die eine gewisse Eitelkeit zeigten.« »Ja«, antwortete Etarmagan schläfrig und völlig gerädert. Sex hatte eine erschütternde Qualität, mit der er erst einmal fertig werden musste. »Da waren Betis, Sliva, Lefor und noch ein paar andere.« Er drehte sich zu ihr und streichelte unbeholfen ihre kleinen Brüste. »Aber willst du sie denn einzeln, eine nach der anderen, ansprechen? Wir sind uns doch einig, dass wir die Naruks als Ganzes aus der Lethargie rütteln müssen?« »Wir gehen die Sache falsch an«, sagte Carnji, während ihre Hände auf ziemlich neuem Gebiet auf Erkundung gingen. »Im Zupacken liegst du hingegen genau richtig«, entgegnete Etarmagan lüstern lächelnd. »Lass die Doppeldeutigkeiten, ich bin momentan ganz ernst!« Sie rückte näher an ihn heran. »Wir sollten nicht auf die große Masse einzuwirken versuchen. So verpufft unsere gesamte Energie! Wir müssen Einzelne rauspicken und sie zu überzeugen versuchen.« »Du kannst wirklich sehr überzeugend sein«, grunzte Etarmagan. Er küsste sie aufs Kinn. »Selbst wenn wir Betis oder eine der anderen auf unsere Seite ziehen können – was ist dadurch gewonnen? Wir wären dann zu dritt oder zu viert …« »Genau.« Carnji stöhnte und reckte ihren Körper weit nach oben. »Aus eins wird
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zwei, aus zwei werden vier, aus vier werden acht und so weiter … das Pyramidenprinzip. Du verstehst?« »Pyramidenprinzip?« Verblüfft sah er sie an und vergaß darüber fast die Zärtlichkeiten, die ihre Hände austeilten. Fast. »Das dauert ewig, bis wir derart alle Naruks erfasst haben …«, sagte er schließlich und widmete sich wieder Carnjis straffem, muskulösem Körper. »Du bist so ein kluger Kerl – ein bisschen weiter nach unten, bitte! –, aber von angewandter Mathematik hast du keine Ahnung …« »Momentan kann ich mich einfach nicht konzentrieren, mhm, und ich weiß nicht, warum …« »Gut, dann verlegen wir das Gespräch auf den morgigen Vormittag. Aber dann gibt's keine Ausreden mehr, versprochen? So, und jetzt beweise mir, dass du der fantasievollste männliche Naruk aller Zeiten bist, wie du immer behauptest. Genau, am besten dort …«
* »Können wir uns überhaupt fortpflanzen?« »Wie?« Etarmagan schreckte von seinen Studien hoch. Er hatte sich Bücher, die ihn interessierten, mit in ihr gemeinsames Zuhause genommen. Er vermied das Wort »stehlen« so weit wie möglich, denn es hatte einen ungewohnten Klang. Carnji stapfte rund um den grob behauenen Tisch, der einen merkwürdigen Kontrast zur hypermodern wirkenden Reinigungsmaschine und zur nebelverhüllten Empfangsstelle darstellte. Sie wirkte nervös. Abrupt blieb sie stehen und sah ihn unverwandt an. »Du hast die Bücher durchgesehen, die ich dir hingelegt habe, nicht wahr?« »Nun ja – ich habe sie überflogen …« Carnji ließ ihn nicht ausreden. »Sie alle behandeln das Thema Fertilität. Fruchtbarkeit. Empfängnis. Geburt.«
»Ich weiß …« »Sind wir fruchtbar?« Ihr Gesicht war hell, blasser als sonst. »Kann ich Kinder bekommen? Werde ich Mutter werden?« »Liebes, das ist ein Thema, das wir momentan noch aussparen sollten …« »Warum, Etarmagan? Was hat es für einen Sinn, die Naruks zu irgendetwas zu bekehren, wenn sich dann herausstellt, dass Schönheit, Freundschaft und Liebe für uns gar keinen Sinn haben?« »Natürlich sind diese Dinge sinnvoll …« »Wem aber sollen wir unser Wissen weitergeben? Woher kommen wir eigentlich? Wir sind diesen Unbekannten in den Verborgenen Sektoren auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wir alle lernen so viel, aber über uns wissen wir so gut wie gar nichts. Wir erwachen als voll ausgereifte Erwachsene in einer Sammelstelle einer Bibliothek, bekommen die notwendigsten Informationen, bauen zuallererst ein kleines Haus, leben unser Leben, um mannigfaltiges Wissen aufzusaugen, und irgendwann einmal verschwinden wir auf geheimnisvolle Art und Weise. Ich kann gar nicht vom Tod sprechen, weil wir nicht einmal darüber Bescheid wissen.« »Aber …« »Eines Tages bleibt ein Platz neben uns in den Lesesälen frei, und wir verdrängen jeglichen Gedanken daran, was mit unserem Nachbarn passiert sein könnte. Plötzlich sitzt ein Neuer, Unbekannter neben uns. Er stellt sich mit seinem Namen vor, und das war's auch schon. Das ist die einzige Beziehung, die wir zum Tod haben. Wir nehmen ihn kommentarlos hin.« Auch das war eine neue Erfahrung: Carnji betrieb mit besonderer Wonne ein merkwürdiges Spiel. Es hieß: »Ich lasse dich einfach nicht mehr ausreden, solange wir zusammen sind!« Wenn man der Literatur vertraute – und das tat Etarmagan! –, war dieses Spiel in zweigeschlechtlichen Beziehungen durchaus gang und gäbe. »Sieh mal«, begann er vorsichtig, »wir beide wissen, dass wir auf diese Fragen momentan keine Antwort fin-
Gefangen im Psi-Sturm den werden. Wir beide sind einfach zu wenig, um die Lebenskultur, die man uns aufgepfropft hat, in ihrer Komplexität zu durchschauen. Wir müssen zuerst die Naruks aus ihrer Teilnahmslosigkeit erwecken. Erst dann, wenn das gebündelte Wissen unseres Volkes zur Verfügung steht, können wir uns vielleicht gegenseitig Antworten geben.« Etarmagan zögerte. »Ich könnte mir vorstellen, dass wir unsere Kindheit in den Verborgenen Sektoren verbringen. Dies ist wahrlich kein schöner Gedanke. Er beinhaltet, dass uns von den Fremden der Kopf gewaschen wird und wir für unsere Aufgabe präpariert werden. Dass wir nichts anderes als Erfüllungsgehilfen fremder Mächte sind.« »Wenn es notwendig ist, werden wir uns die Antworten mit Gewalt von denen da oben in den Verborgenen Sektoren holen, nicht wahr?«, Carnji blickte ihn wütend an. Ihre Kieferknochen traten hervor. »Ja, wenn es sein muss, werden wir das tun«, murmelte Etarmagan. Manchmal fürchtete er sich vor all der Energie, die in diesem zierlichen Persönchen steckte. Manchmal hatte er Angst vor dem Zeitpunkt, zu dem Carnjis Wut hochkommen würde.
* Die Tage vergingen, und die Gruppe wuchs allmählich. Betis und Sliva, die beiden Frauen, überwanden vor allem dank der Hartnäckigkeit Carnjis die Angst vor der Andersartigkeit einer gefühlsbetonten Existenz. Farbenhoch und Jubelweiß, der große und der kleine Schmetterling, taten das ihre, um erste Lacher auf die Gesichter der neu gewonnenen Naruks zu zaubern. Lefor hingegen war eine Gestalt gewordene Niederlage. Sie widerstand allen Überredungsversuchen, die Carnji und Etarmagan starteten. Sie erschien eines Tages einfach nicht mehr an ihrem angestammten Platz im Lesesaal. Wahrscheinlich hatte sie um Versetzung ersucht. Völlig überraschend sprach Palmadura,
27 Etarmagans Nachbar auf Platz sieben, auf seine Überredungskünste an. Der Mann mit der kleinen, prägnanten Narbe an der Schläfe war, was man nie hätte vermuten können, ein richtiger Eiferer. Nachdem er in mehreren stürmischen Nächten gemeinsam mit Betis die Geheimnisse der Liebe erforscht hatte, war er nicht mehr zu bremsen. Etarmagan mochte ihn nicht besonders. Er besaß ein gerüttelt Maß an Grobheit und war plump in seinen Worten. Tatsächlich war er aber derjenige, der den Stein erst richtig ins Rollen brachte. Binnen dreißig Tagen war die Gruppe auf einhundert Naruks angewachsen. Carnji behielt weiterhin Recht. Das Pyramidenprinzip bewährte sich. Der Zulauf nahm immer größere Ausmaße an. Es war wie ein Damm, der, einmal gebrochen, das Wasser nicht mehr aufhalten konnte. »Bei allem, was wir tun«, sagte Etarmagan bei einer Ansprache vor einer stetig wachsenden Zuhörermenge, »dürfen wir niemals unsere Aufgabe vergessen. Erledigt eure Arbeit, erfüllt eure Pflichten. Es ist unstrittig, dass wir in den Lesesälen und unter den Reinigungsmaschinen eine besondere Funktion erfüllen. Alleine diejenigen in den Verborgenen Sektoren wissen, warum wir all das gebündelte Wissen aus mehreren Galaxien zu sichten haben. Aber es ist nicht gut, die Unbekannten bereits jetzt herauszufordern. Noch sind wir zu wenige. Noch wären unsere Proteste zu schwach und verhallten wohl ungehört. Wir müssen zuerst eine Mehrheit der Naruks überzeugen, sich uns anzuschließen …« »Warum warten?«, brüllte ihm eine bekannte Stimme entgegen. Es war Palmadura. Natürlich. »Wir zählen bereits mehrere tausend, verteilt auf die fünf herrlichen Städte! Die Unbekannten können sich uns nicht mehr weiter verweigern, wenn wir aufbegehren.« »Was sind ein paar tausend im Vergleich zu fünfzehn Millionen Naruks?«, rief Etarmagan zurück und ließ Farbenhoch ein beruhigendes, buntes Zeichen in den Himmel
28 malen. »Wir wollen Antworten, ganz richtig! Aber wir möchten sie auf friedliche Art und Weise erhalten.« »Warum friedlich?«, antwortete ihm Palmadura. »Wurden wir jemals gefragt, was wir wollen? Wurde auf unsere Wünsche Rücksicht genommen? Nein! Ich sage euch: Zerren wir die Unbekannten aus den Verborgenen Sektoren, und prügeln wir die Antworten aus ihnen heraus!« Das unterschwellige Gemurmel in der Menge wurde lauter. Da und dort schrie einer: »Richtig!« oder: »Jawohl!« Palmaduras feurig geführte Widerrede fand sichtlich Anklang. Etarmagan hob besänftigend beide Hände. Allmählich wurde es wieder ruhig. »Ich beschwöre euch – das ist der falsche Weg!«, rief er. »Noch wissen wir nicht einmal, ob die Mehrheit aller Naruks unseren Weg einschlagen will. Sollen wir denn alle, das ganze Volk, in eine Auseinandersetzung einbeziehen, die lediglich eine kleine Minderheit provoziert hat? Wollt ihr mit verantwortlich sein für das Schicksal eurer Sitznachbarn, all den Naruks in den Lesesälen, deren Namen ihr nicht einmal kennt? Wollt ihr sie zu unwissentlichen Mittätern bei euren Gewaltakten machen?« Totenstille kehrte ein. Lediglich das hohe Sirren von Farbenhoch und Jubelweiß war noch zu hören. »Wir bauen ein Haus, in dem wir wohnen wollen. Ein Haus benötigt ein gesundes Fundament. Wir müssen Stein für Stein, Reihe für Reihe setzen. Palmadura jedoch will mit dem Dach beginnen und dann die Steine darunter schieben. Haltet ihr das für vernünftig?« »Nein!«, schallte es ihm aus der Menge entgegen. »Wollt ihr also gemeinsam mit mir ein stabiles Haus bauen, auf das wir endlich das Dach setzen?« »Ja!«, brüllten sie – und Etarmagan hatte gewonnen. Vorerst. Die hasserfüllten Blicke Palmaduras waren nicht zu übersehen. Eine Analogie mit einer Geschichte, die er in einem alten, eigentlich bedeutungslosen Wälzer gelesen
Michael Marcus Thurner hatte, fiel ihm ein: Die Schlange war unter ihnen. Allerdings bereits jetzt, noch bevor sie das Paradies besiedelten. Er würde sich vor dem Mann in Acht nehmen müssen.
* »Du solltest dich mehr um deine Leute kümmern und weniger um abstraktes Wissen«, zeterte Carnji. »Zumal dir ohnehin das meiste unter der Reinigungsmaschine wieder abgezapft wird.« »Das meiste – aber eben nicht alles«, widersprach Etarmagan. »Ich interessiere mich nun mal für die Welt, die uns umgibt.« »Wenn es bloß die Welt wäre!« Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf die Tischplatte. »Aber du gibst dich nur noch mit Weltraumfolianten, Spektralbildern fremder Galaxien, Sternkarten und ähnlichem Krimskrams ab.« »Hast du dich denn nie gefragt, was der Nebel, den wir in der Nacht über uns im Himmel sehen, eigentlich darstellt? Dass der Murloth-Nebel nicht nur aus Sternen und fremden Welten besteht, sondern auch aus kosmischer Urmasse, aus Kometen, Asteroiden, Staub … Oder sieh dir Ziram an. Die Sonne. Hast du dich jemals gefragt, wie sie funktioniert? Warum sie uns wärmt?« »Nein«, antwortete Carnji. »Ich bin mir sicher, dass ich bereits eine Hand voll Bücher zu dem Thema gelesen habe. Aber es hat derart wenig interessiert, dass es nicht der Reinigungsmaschine bedurft hätte, um alles aufgesogene Wissen rasch wieder zu vergessen.« »Wolltest du nie einmal mit einem Raumschiff in den Murloth-Nebel vordringen …« »Nein!« »… oder zumindest die Nachbarwelt, Sigam-Taragh, betreten …« »Nein!« »… oder auch nur einmal deine Heimat in einer Raumkapsel umkreisen?« »Nein! Und wenn du mich noch weiter so voll schwafelst, setze ich dich für die näch-
Gefangen im Psi-Sturm sten Wochen auf Sex-Diät.« Carnji wischte die Sternkarten achtlos beiseite und knallte ihm einen Packen beschriebenes Papier auf den Tisch. »Das sind die Texte deiner Ansprachen, die du morgen halten musst. Es wäre von Vorteil, wenn du zumindest ansatzweise wüsstest, was ich dir aufgeschrieben habe.« Etarmagan fühlte erneut Zorn in sich hochkriechen. Er unterdrückte ihn mit aller Macht. Es war schwer, negative Emotionen im Zaum zu halten, das sah man am Beispiel Palmaduras. Sie alle standen einer neu entdeckten Gefühlswelt teilweise ohnmächtig gegenüber. Die Beherrschung ihrer Empfindungen erforderte täglich Kraftakte und die Bereitschaft, sich immer wieder neu zu prüfen. Die erste Pflicht war: zuerst nachdenken, dann reagieren. Auch wenn es noch so schwer fiel. »Du hast Recht«, seufzte Etarmagan schlussendlich. »Die Ansprachen sind wohl wichtiger.« »Wusste ich's, dass du zur Vernunft kommst.« Carnji streichelte ihm sanft über das kurz geschorene Blondhaar und knabberte zärtlich an einem Ohrläppchen. »Du bist ein guter Naruk, aber leider manchmal auch ein schrecklich naiver Träumer. Sei froh, dass du mit mir eine Partnerin hast, die dich auf den richtigen Weg führt.« »Jaja.« Etarmagan quälte sich ein kleines Lächeln ab und erhob sich. »Bevor ich mich durch die Unterlagen wühle, muss ich allerdings noch unter die Reinigungsmaschine.« »Natürlich«, sagte Carnji. »Wir wollen doch nicht, dass du die Reden auswendig lernst und via Reinigungsmaschine alles wieder vergisst. Darauf müssen wir ganz besonders achten …« Wenn Etarmagan etwas an seiner Partnerin hasste, war es die Art und Weise, in der sie »wir« sagte. Warum war ihm früher nie aufgefallen, wie herrschsüchtig Carnji war? »Wir« bedeutete, wenn sie es sagte, schlicht und einfach »ich«. Er legte sich unter die Reinigungsmaschi-
29 ne, froh darüber, endlich einmal ein paar Augenblicke für sich alleine zu haben. Und nachdem er seine gedankliche Last abgeladen hatte, ging er zurück zum Tisch und erschlug Carnji.
8. Atlan »Ich fange immer mehr an aufzuhören, dieses Schiff zu mögen.« »Das ist grammatikalisch nicht ganz korrekt«, sagte Kythara, ohne die Blicke von den Anzeigen abzuwenden. »Vielleicht. Aber es handelt sich um ein historisches terranisches Zitat, korrekt ins Interkosmo übertragen.« Kythara schwieg. Offensichtlich verstand sie nicht, was ich meinte. Ich übrigens auch nicht mehr, denn mir war, gelinde gesagt, übel. Das Beiboot, mittlerweile von mir in Erinnerung an meinen Jugendfreund Corpkor auf den Namen HEGELUNT-1 getauft, war kaum mehr zu kontrollieren. Die Wucht des Psi-Sturmes schlug mangels funktionsfähiger Absorber voll durch. »Wie weit noch?«, fragte ich. »Weit«, antwortete Kythara kurz angebunden, aber nicht ohne Humor. Ich bemühte mich, die Funktionen der HEGELUNT-1 zu verinnerlichen. Das Kommandopult hatte eine für varganische Begriffe unübliche Halbmondform. Formenergetische Schalter, in den Raum projizierte Zählwerke, akustische Erläuterungen des Bordrechners, Knöpfe, Regler, Leuchtelemente – sie bildeten ein Tohuwabohu sondergleichen. Ich hätte das Beiboot dank meiner Erfahrung und des fotografischen Gedächtnisses wohl steuern können. In dieser verzwickten Situation war ich allerdings froh, der Varganin bloß zusehen zu müssen. Mehr als einmal wechselte sie von Hand- zu Automatiksteuerung und wieder zurück. Sie arbeitete mit Schubstößen aus dutzenderlei Energiedüsen, Versetzung und Verdrehung energetisch ausgeformter Finnen, Steuer-
30 oder Höhenruder, parallel zueinander oder diametral gegenüberstehenden Antigravvektoren und sogar mit Druckluft, um das Ding in der Luft zu halten. Kytharas Fertigkeit war bewundernswert, und nur sie bewahrte uns vor dem Gröbsten. Doch irgendwann hatte alles ein Ende. Ein Ruck, und die HEGELUNT-1 setzte auf. Die Notbeleuchtung, jenes lumineszierende Glimmen, das von der Beschichtung der Aggregatböcke stammte, verbreitete ausreichend Licht. Es war biologischer Herkunft, wie ich einmal mehr bewundernd feststellte. Kleinstlebewesen, die sich von einer mikrodünnen Versorgungsmasse – einer Art Anstrich – an den Aggregaten ernährten. Ihre Ausscheidungsprodukte sonderten dank mehrerer Enzymreihen als Nebenprodukt Strahlung, also Licht, ab. Die formstabilisierten Energiewände des Tropfenbeibootes flackerten ein ums andere Mal. Das deutlichste Zeichen des Versagens fortschrittlichster und dennoch uralter Technik. »Endstation«, sagte die Varganin. Müde lehnte sie sich in ihrem Kontursessel zurück und nahm eine Körperhaltung ein, die mich an eine Dagor-Grundstellung erinnerte. Das Zittern ihrer Hände verflachte nach wenigen Augenblicken, und bald darauf öffnete sie entspannt die Augen. »Es geht einfach nichts mehr«, seufzte sie. »Das Schiff ist nicht mehr zu kontrollieren. Je näher wir der Psi-Quelle kommen, desto weniger lässt sich die Technik bändigen.« »Genau wie es zu erwarten stand«, sprang ich tröstend bei. »Es ist zu früh!«, erwiderte Kythara heftig. »Sieh nur auf die Anzeige: Wir haben fünftausend Kilometer zurückgelegt! Nicht einmal die Hälfte des Weges bis zur Ebene ohne Schatten.« Ich konzentrierte mich auf einen Kubus, der mit geleeähnlicher Flüssigkeit gefüllt war und zwischen der Varganin und mir stand. Etwas mehr als eine Hand voll goldener Lichtpunkte schwebte darin umher. Von
Michael Marcus Thurner Zeit zu Zeit verschwand einer der Punkte und kehrte kurz darauf wieder zurück. Es handelte sich um die Signale der anderen Beiboote – zumindest um jene, die noch Impulse aussandten. Insgesamt waren es acht aktive Peilungen, die wir empfingen und die wir somit um uns wussten. Sie bildeten nach wie vor unser Auffangnetz für prekäre Situationen. »Moment!«, durchbrach Kythara aufgekratzt meine trüben Gedanken. Sie beugte sich über ihren Hauptbildschirm. »Ich messe plötzlich Energieströme an, ganz in der Nähe!« »Einheimische?«, fragte ich sofort. Der Schluss lag nahe. Wir mussten uns in ungefährer Nähe ihres wahrscheinlichen Siedlungsgebietes befinden. »Möglicherweise … hm.« Sie zoomte einen Teilausschnitt des virtuell aufbereiteten Geländes näher heran. Höhenrichtlinien wurden plötzlich breiter, die Schrift- und Zeichensymbole größer. »Hm …«, brummte sie nochmals und schließlich, etwas überrascht: »Hm …« »Meine Honigbienenkönigin«, sagte ich mit gespieltem Ärger, »wenn du ausgesummt hast, könntest du dich bitte einer armen, unwissenden Drohne ein wenig verständlicher mitteilen?« »Hm?« Die Varganin sah mich für einen Moment verwirrt an. »Natürlich, du kannst nicht alle Symbole entziffern! Nun denn, wenn wir schon bunte Bilder der terranischen Insektenwelt heraufbeschwören: Mir scheint, dass wir in ein Wespennest gestochen haben.« »Was willst du damit sagen?« »Die Emissionskurve ist charakteristisch, es gibt keinen Zweifel.« »Fein. Aber charakteristisch wofür?« Sie liebte einen gut aufgebauten Spannungshöhepunkt über alles. In einem arkonidischen Kampfraumer wäre sie spätestens jetzt ihres Postens enthoben worden. »Oh, sagte ich das nicht? Verzeih mir, es muss wohl die Überraschung gewesen sein«, sagte Kythara lächelnd. »Das, was du hier
Gefangen im Psi-Sturm siehst, sind ganz eindeutig Kennungen varganischer Stationen und Anlagen.«
* Wenn ich mir gegenüber ehrlich war, bestätigte diese Entdeckung nur, was ich und Kythara ohnehin vermutet hatten. Narukku gehörte mit immer größer werdender Wahrscheinlichkeit zu den »Versunkenen Welten«. Zu jener Reihe von Planeten, Asteroiden, Monden oder Weltraumstationen, die Hinterlassenschaften unterschiedlichster Art aus der Zeit eines längst vergangenen Varganen-Reiches beherbergten. Für mich bedeutete dies einmal mehr die Begegnung mit galaktischer – und persönlicher – Geschichte. Mit einem Kapitel, das ich längst hinter mir gelassen glaubte. Zukunft wird immer zu Vergangenheit, und Vergangenheit wird manchmal – so wie heute – auch zur Zukunft, meldete sich der Extrasinn nach langem wieder zu Wort. Dies betrift vor allem Wesen wie unsereins. Kluge Worte. Vor allem, wenn man sie bei Superintelligenzen und übergeordneten Wesenheiten anwandte, deren Existenz und Wirkung auf merkwürdige Art und Weise jeder Zeitmessung entrückt zu sein schienen. War das ein Schicksal, das auch mir und Perry einmal blühen würde, wenn wir nur lange genug überlebten? Das Sinnieren überlass mir. Kehre du mit Denken und Handeln zurück in die Gegenwart, du schwermütiger Narr!, rief mich der Extrasinn zur Ordnung. Kythara hing ebenfalls schweigend ihren Erinnerungen nach. Ihre Blicke waren in endlose Weiten gerichtet, und ich fragte mich, was ihr durch den Kopf ging. Spürte sie so etwas wie Heimweh? Freude darüber, vielleicht Landsleuten zu begegnen? »Angst?«, fragte ich. Sie zuckte leicht zusammen, hatte sich aber sofort wieder unter Kontrolle. »Nein«, antwortete die Varganin schließlich. »Vielleicht ein wenig Nervosität. Vor allem unter den gegebenen Umständen.« Sie wies
31 nach draußen, dorthin wo nach wie vor der Psi-Sturm mit unverminderter Wucht tobte. Unsichtbar oder zumindest für unser beider Sinne nicht greifbar. »Denkst du darüber nach, was du anziehen sollst, wenn du deinen Landsleuten entgegentrittst?« Kythara sah mich verblüfft an, lachte laut auf und wurde übergangslos wieder ernst. »Du besitzt seltene Gaben«, sagte sie schließlich. »Du bringst eine Varganin zum Lachen. Aber ob das reicht?« Alles, selbst das Offensichtliche, bekam bei ihr stets einen geheimnisvollen Anstrich. Was sie auch sagte, es war mehrschichtig, teilte sich auf vielerlei Ebenen mit, und nicht alle vermittelten die gleiche Botschaft. Dazu dieser leichte Akzent ihres Interkosmo … Oder lag es einfach an der Art, wie sie redete? Oder interpretierte ich, ganz der paranoide alte Arkonide, einfach zu viel in ihre Worte? »Meinst du nicht, das wäre jetzt eine gute Gelegenheit, mir mehr über das Kyrlan-Projekt zu verraten?«, wechselte ich das Thema. »Gibt es Details, die ich wissen müsste?« »Es gibt nichts hinzuzufügen«, erwiderte Kythara glatt. »Ich half damals mit, die fünf Psi-Stationen im galaktischen Leerraum zu errichten, sechstausend Jahre nach unserer Ankunft in der Milchstraße. Verzeih mir, wenn ich ein wenig auf- oder abrunde, aber was spielt ein Jahrhundert schon für eine Rolle in unserem Leben?« Eine große!, dachte ich. Ich möchte kein Jahrhundert, kein Jahr, ja nicht einmal eine Minute missen. Aber vielleicht bin ich einfach noch nicht alt genug – oder noch nicht reif genug … Ich nickte schweigend. Ich sah keinen Sinn darin, ihren Redefluss jetzt zu unterbrechen. »Der Projektleiter und ich – nun, wir hatten mitunter Differenzen. Ich habe mich schließlich von der Arbeit zurückgezogen und mich um andere Sachen gekümmert. Was im Laufe der Jahrtausende passierte, weißt du ohnehin: Drei der Stationen entarteten aufgrund der ungeheuer vielschichti-
32 gen Psi-Strahlungen, die auf sie einwirkten, und wurden zu Psi-Quellen mit jeweils einem eigenen Bewusstsein …« »… so wie zum Beispiel dieser Skanmanyon …« »… über den du mir bei Gelegenheit mehr erzählen musst!« »Gerne. Zur rechten Zeit.« Ich dachte nach. »Die varganischen Psi-Quellen sollten sich im galaktischen Leerraum befinden. Von einem Emissionsnebel wie jenem«, ich deutete in den hell erleuchteten Nachthimmel, »war nie die Rede, oder? Du müsstest die Koordinaten aller fünf Standorte in den Rechnern der AMENSOON gespeichert haben …« »Wenn ich darauf Zugriff hätte, wäre mir wohler«, entgegnete Kythara. »Manche Datenbänke sind leider nach dem langen Schlaf des Schiffes noch nicht abrufbar. Aber um auf die eigentliche Frage zurückzukommen: Nein – die Psi-Stationen beziehungsweise die Psi-Quellen standen definitiv im Leerraum.« »Vor nahezu achthunderttausend Jahren!«, sagte ich bedeutungsvoll. »Selbst für unsereinen ist das viel Zeit. Aber in kosmischen Maßstäben nur ein paar Atemzüge …« Ich spürte, dass wir so nicht weiterkommen würden. Entweder wusste die Varganin nicht mehr über die Psi-Quelle, die wir zu erreichen versuchten, oder sie wollte darüber schweigen. Also fragte ich: »Wie weit ist es bis zur nächsten Station deines Volkes?« »Einhundertdreißig Kilometer. Leider in Richtung der Psi-Quelle. Das bedeutet, dass wir uns keinesfalls auf die Anzug-Aggregate verlassen können.« »Nun – die Antigravs beruhen auf robuster, simpler Technik. Sie sind nicht derart hochgezüchtet wie die der AMENSOON oder der HEGELUNT-1. Mit viel Glück schaffen wir es vielleicht. Wie viele varganische Stationen siehst du eigentlich auf deinen Anzeigen?« »Fünf.«
Michael Marcus Thurner
9. Etarmagan-Murloth Die fünf Städte von Narukku waren herrlich, in der Tat. Vor allem jetzt, in den frühen Morgenstunden. Das Leben erwachte. Blutig rot ging die Sonne auf und badete die Häuser, die Felsen, das Gebirge, das Meer in gleißenden Strahlen. Der Murloth-Nebel verschwand allmählich vom Himmel. Insekten erhoben sich aus ihrer Nachtstarre, da und dort erklang das Pfeifen eines Madringar-Sittichs, und aus der Ferne hörte man das Brüllen zweier Leberkatzen, die sich um eine Beute stritten. Ja, die Sonne erschien ihm blutig rot. So wie seine Arme. Etarmagan stellte die halb geleerte Flasche Schnaps wuchtig auf den Tisch, den er auf das Dach gezerrt hatte. Dann torkelte er hinab, packte Carnjis Leichnam und zog mit ihm durch die Straßen. Nein. Zweierlei stimmte nicht. Erstens hatte er seinen Namen verändert. Eingedenk dieser wunderbaren Nacht, in der der Nebel so prächtig geleuchtet hatte wie niemals zuvor, nannte er sich von nun an Etarmagan-Murloth. Zweitens zog er nicht, sondern er schleifte. Auch wenn Carnjis Kopf von Zeit zu Zeit über Stufen oder Unebenheiten polterte, drehte er sich nicht um. Es ging ihm in erster Linie darum, den Naruks zu zeigen, was er getan hatte. Der frische Morgen und die allgemeine Hektik, die nunmehr herrschte, waren die geeignete Bühne für seine Präsentation. »Seht her«, brüllte er, »ihr Würmer, ihr nutzloses Fleisch, ihr widerlichen Gestalten! Lange genug habt ihr euer Leben in nichts sagender geistiger Einöde verbracht. Damit ist es nun vorbei!« Links und rechts streiften die braven Bürger mit Gleichmut und in absoluter Ruhe an ihm vorbei, strebten der städtischen Bibliothek von Klarschein zu. Für sie war er nahe-
Gefangen im Psi-Sturm zu unsichtbar. Egal, ob er nun einen Schmetterling über seinem Haupt schweben ließ oder den verunstalteten Leichnam seiner Lebensgefährtin in die Höhe streckte. Etarmagan-Murloth ließ Carnjis Leib achtlos fallen. Wut erfasste ihn. Wut in einer Intensität, wie er sie noch niemals zuvor gespürt hatte. Eine dreiköpfige Gruppe Naruks wich dem toten Körper aus, umrundete ihn, ohne den Blick auf ihn zu richten. Diese … diese … Es gab einfach kein Wort für derartige Gleichgültigkeit. Na wartet! Er fiel über sie her. Kam über sie wie die Wellen, das Wasser, das vom Targan-Meer her über die Riffe und Felsen strömte, und er hinterließ nur dunkle, rot schimmernde Pfützen zwischen leblosen Körpern, als er von ihnen abließ. Seine Hände waren dunkelrot und zogen lange Spuren, als er sich über Gesicht und Haare fuhr. »Seht ihr mich jetzt? Spürt ihr mich jetzt?« Seine Stimme hallte durch die Luft, doch er erhielt keine Antworten, und so erstarben ihm auch die Worte. Und wortlos fuhr er in seinem Treiben fort. Wortlos artikulierte er seinen unglaublichen Hass, jenes eine reine Gefühl. Etarmagan-Murloth stach, er hieb, er riss, er würgte, er erstickte. Die Masse der Gesichtslosen, diese charakterlosen Gestalten, wurde einfach nicht geringer. Immer mehr von ihnen kamen auf ihn zu. Hunderte, Tausende mussten es nach wie vor sein. Überall war Blut. Aus leeren Augen fühlte er Blicke auf sich gerichtet. Die Naruks wanderten nicht mehr in Richtung der Bibliothek, sie kamen jetzt auf ihn zu. Wie eine graue, gesichtslose Masse, eine Wand aus Leibern, kamen sie auf ihn zu. »Ihr wollt mich holen, nicht wahr?«, schrie er mit einem Schrillen in der Stimme. »Ihr wollt mich ersticken mit eurer Leblo-
33 sigkeit. Aber zuerst müsst ihr mich erwischen! Denn ihr seid tumbe, amöbenhafte Gesellen, nicht besser als programmierte Maschinen, während ich genau weiß, was ich zu tun habe! Ihr werdet mich nie erwischen, denn ich habe Fantasie und ich habe Ideen, die euren Köpfen niemals erwachsen werden.« Etarmagan-Murloth ging langsam rückwärts, stieg über den Leichenberg hinweg. Gegenüber war ein Kschemme, genauso gebaut wie seines, dessen Besitzer sich soeben anschickte, zur Bibliothek zu eilen. Niemand dieser Gesichtslosen würde auch nur glauben, dass er den Kschemme eines anderen betreten könnte. Er würde sich hinter der Tür verbarrikadieren und warten, bis sie das Interesse an ihm verloren. »Mich werdet ihr nie mehr los, hört ihr mich?« Etarmagan-Murloth lachte, als ihm die Füße wegglitten und er in die Röte sank. Er fand keinen Halt, stürzte den Wartenden vor die Füße, mitten in einen kleinen, dunklen, sämigen See aus Staub und Blut. Ein Körper stürzte auf ihn. Noch einer. Und wieder einer. Er gurgelte, während sich einer nach dem anderen, wortlos, ohne Gefühlsregung, einfach auf ihn fallen ließ. Etarmagan wollte sich unter ihnen herauswinden, doch es gelang ihm nicht. Er schluckte Staub, schluckte Blut, doch keine Luft. Die Worte … sie waren in ihm, doch niemand würde sie mehr hören. Ihm wurde dunkel, und doch wähnte er sich aus blassen, toten Augen fixiert. Warte nur … bald ruhst auch du, sang eine unbekannte Stimme in seinem Kopf, seine eigene, die von Carnji. Er vermochte es nicht mehr zu erkennen, in der Dunkelheit, die heranrollte wie eine Woge, war alles eins, alles gleich. Schwäche, die er nie für möglich gehalten hätte, befiel ihn. Neben ihm lag Carnji, doch er sah, spürte, fühlte es nicht mehr. Es war aus.
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10. Atlan Für mehr als einhundert Kilometer kamen wir gut voran. Dann war es endgültig vorbei. Stetiges Stottern der Antigravaggregate und unberechenbare Fehlfunktionen zwangen uns, das letzte Stück des Weges zu Fuß zurückzulegen. Wir befanden uns auf einer kleinen Anhöhe und hatten gute Sicht auf das, was uns erwartete. Erste Gebäude der mutmaßlichen Varganen-Siedlung lagen westlich von uns. Südlich wuchs das Riesengebirge, das den Planeten entlang des Äquatorstreifens umgab, in steile Höhe. Nordwestlich war ein größeres Gewässer in feinem Nebel mehr zu erahnen als zu sehen. »Die Aufnahmen der AMENSOON, die ich dir gezeigt habe, müssen aus unmittelbarer Umgebung stammen.« Kythara vertiefte sich in Unterlagen und Darstellungen, die das Multifunktionsgerät im Ärmel ihrer Kombination in die Luft projizierte. Auch die Bilder flackerten oder zogen Schlieren. »Wir sollten uns die Siedlung lieber vor Ort ansehen, bevor wir uns lang und breit in virtuelle Abbildungen vertiefen«, sagte ich mit leicht kritischem Unterton. Manchmal dachte Kythara zu theoretisch. Oder sie ist einfach nur vorsichtiger als du, warf der Extrasinn ein. Sie blickte mich an und nickte dann kurz. Für einen Moment glaubte ich, ihre Präsenz in meinem Kopf gespürt zu haben. Auch wenn ich Telepathen wie zum Beispiel Gucky zu meinen besten Freunden zählte – dies war nicht immer ein angenehmes Gefühl. »Gehen wir«, sagte sie, desaktivierte die grafischen Darstellungen und setzte sich in Bewegung. Es waren einzeln stehende, einstöckige Häuser, die uns am Fuß des Hügels erwarteten. Sie bestanden aus einfachem, grob behauenem Tuffstein, wie er in dieser eher trostlosen Gegend in rauen Mengen vorkam.
Die Außenwände waren weiß gekalkt und von mehreren dunkelroten Längsstreifen durchzogen. In geringem Abstand auf den Dächern abgestellte Quader hinterließen einen zinnenartigen Eindruck. Ein wenig erinnerten die Behausungen an jene auf den griechischen Inseln des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts alter terranischer Zeitrechnung, nur wirkten sie plumper. »Kommt dir der Baustil bekannt vor?« Kythara sah mich achselzuckend an. Sie wirkte ratlos. »Diese Bauweise kenne ich nicht von meinem Volk. Das wirkt primitiv und … barbarisch.« »Ich habe schon weitaus Schlimmeres gesehen, glaub mir. Und auch schon in bescheideneren Hütten gehaust. Lass uns die Räumlichkeiten von innen begutachten.« Ohne einen möglichen Protest abzuwarten, ging ich kurzerhand auf das nächstgelegene Haus zu. Nicht einmal mein Extrasinn erhob Einspruch, als ich eintrat. Es gab keine Tür. Gäste waren hier wohl gerne gesehen. Details wie diese erlaubten einen ersten Einblick in die Psyche der Bewohner. »Hallo«, rief ich, »jemand zu Hause?« Keine Antwort. Ich drang weiter in den einzigen Raum vor. Kythara war hinter mir. Ich spürte ihre Gegenwart, ohne mich umdrehen zu müssen. Spartanisch und ungemütlich, das war mein erster Eindruck. Ein Einzelbett, ungefähr zwei Meter lang, ein Tisch, eine Sitzgelegenheit. Eine Truhe, voll mit staubiger und verschmutzter Kleidung. Weniges tönernes Geschirr. Eine Junggesellenwohnung also. Grobe, knarrende Balken bildeten einen holprigen Boden, der von grauem Staub bedeckt war. Ich trat auf eine laut knarrende Bohle und zuckte gleich darauf zusammen, denn Licht flammte auf. Eine Deckenbeleuchtung. Weißes, schmieriges Licht aus einem Rundbalken im Zentrum des niedrigen Raumes, das ohne ersichtliche Energiequelle leuchtete. Dann die Überraschung: Ganz hinten, unter
Gefangen im Psi-Sturm der Stiege, die zum Dach hinaufführte, stand ein silbrig leuchtendes Ding, in etwa in den Dimensionen des Bettes. Nein: Es stand nicht, es schwebte, knapp zehn Zentimeter über dem Erdboden! Es war metallen, glatt poliert und emittierte einen Flaum aus Energie, der das Bett umspannte. Daneben ruhte ein grauer Kunststein, von einer wattigen Nebelschicht verhangen. Irgendwie erweckte er den Eindruck, als wäre er für alle Ewigkeiten geschaffen. »Kommt dir das in irgendeiner Form bekannt vor?«, fragte ich Kythara und deutete auf die beiden Gerätschaften. Denn dass sie einen besonderen Zweck erfüllten und nicht nur aus Repräsentationszwecken hier standen, war offensichtlich. »Nein.« Sie zögerte. »Varganische Haustechnik ist im Aussehen meist auf Individualität ausgelegt. Ich müsste die internen Aggregate zu Gesicht bekommen, dann könnte ich mehr sagen …« »Das Zerlegen der Dinger wollen wir erst mal vermeiden, nicht wahr? Ich hoffe doch, dass sich der Besitzer dieses schnuckeligen Eigenheimes heute noch blicken lässt. Und wir sollten ihm keinen Grund geben, böse auf uns zu sein.« Ich ging zu dem Schwebebett hin, wollte es nach einem Aktivierungsmechanismus abtasten. Es gelang mir nicht. Je näher ich mit meiner Hand kam, desto intensiver reagierte der Energievorhang. Er drückte nach außen. Es war, als ob ich versuchte, zwei Supermagneten gegeneinander zu pressen. »Lass es besser sein«, sagte Kythara und schob meinen Arm sanft beiseite. »Hier kommen wir vorerst nicht weiter.« Sie hatte Recht. Informationen sollten wir von den Einwohnern selbst erhalten und nicht in ihrer Privatsphäre herumschnüffeln. Und wenn es sich hier um eine Geisterstadt handelt?, fragte der Extrasinn provokant. Es war dies ein Spielchen zwischen uns beiden, das mir half, die Wahrscheinlichkeiten meiner Schlussfolgerungen zu erhöhen – und damit unnötige Risiken zu vermeiden.
35 Unwahrscheinlich, dachte ich. Überall sind frische Spuren zu finden. Schmutzige Leibwäsche, verdrecktes Geschirr, Spuren im Staub des Fußbodens. Der Extrasinn schwieg. Er brachte einen Gedanken auf, ich setzte mich damit auseinander und kam zu einem Schluss. So sollte das Verhältnis zwischen uns beiden sein, so lobte ich es mir. Ich drehte mich nochmals um die eigene Achse, ließ alles auf mich einwirken und meinte schließlich zu Kythara: »Sehen wir uns erst einmal in anderen Häusern um. Vielleicht finden wir dort mehr. Äußerlich ähneln sich die Hütten wie ein Ei dem anderen, und sie scheinen derzeit alle verlassen.« Wir gingen ins Freie und orientierten uns aufs Neue. Nirgendwo waren Einwohner zu sehen. Ich war versucht, laut zu rufen, um auf uns aufmerksam zu machen, verkniff es mir aber letztendlich. »Es passt einfach nichts zusammen«, murmelte Kythara. Verdrießlich kickte sie einen faustgroßen Stein beiseite. »Diese Mischung aus Technik und Primitivbehausung ist abstrus. Ich habe ein ungutes Gefühl.« »Mir geht es ebenso«, sagte ich. Nach und nach untersuchten wir ein gutes Dutzend der allein stehenden Steinhütten. Sie unterschieden sich bestenfalls in Details, waren aber prinzipiell für jeweils einen Bewohner gedacht, der, wie anhand der Ausstattung unschwer zu erkennen war, menschenähnlich sein musste – also sehr wohl ein Vargane sein konnte. »Es hat den Anschein, als besäßen die Einwohner keine ausgeprägte Persönlichkeit«, meinte Kythara nach einer Weile, während wir weiter in Richtung des Meeres wanderten. Hier wurde die Dichte der Häuser größer, überschritt aber niemals ein gewisses Maß. Manche von ihnen waren mit wenigen roten Streifen übertüncht, die meisten bloß weiß gefärbt. »Ich könnte mir vorstellen, dass wir dort vorne bei diesem Babelsturm Antworten erhalten«, entgegnete ich und deutete in Richtung eines sich gewagt in die Höhe schrau-
36 benden Baus. Er war lange Zeit von einem weit vorspringenden Bergrücken verdeckt gewesen, südwestlich von uns, und geriet nun allmählich vollends in unser Gesichtsfeld. Zweifellos war er künstlichen Ursprungs. Die Assoziation aus meiner terranischen Vergangenheit war gewagt, traf den Nagel aber zumindest optisch auf den Kopf. Kythara blickte mich nachdenklich an und nickte dann. Woher wusste sie von diesem mythischen terranischen Bauwerk? Es war ein gewaltiger, klotziger Bau. Er sah aus wie grob aus einem einzigen Stein gehauen, mit Erkern und Türmen da und dort und einem Weg, der sich spiralig in Serpentinen nach oben schwang. Bis zur Plateauspitze, die von drei Turmstümpfen geprägt war. Das Gebäude wirkte weder verkommen noch modern, in der Bauweise weder praktisch orientiert noch opulent-verspielt, sondern zeitlos und auf abscheuliche Weise charakterlos. Als ob sich die Architekten und Baumeister mit geringstmöglichem Aufwand einer unangenehmen Pflicht entledigt hätten. »Ein architektonischer Alptraum«, kommentierte es die Varganin. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Landsleute von mir etwas Derartiges verbrochen haben könnten.« Ich erinnerte mich an die Emissionen, die uns hierher geführt hatten. »Kommen die Strahlungen eigentlich aus Richtung des Turmes?« Kythara hob den Arm und wollte das Multifunktionsgerät aktivieren. Doch wie die meiste Varganentechnologie funktionierte es hier nicht. Sie dachte konzentriert nach. »Die am nächsten gelegene Energiequelle müsste noch weiter südlich liegen. Mindestens zehn Kilometer hinter dem Turm.« »Ist ein Berechnungsfehler möglich?« »Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Ich irre mich nur selten.« Vorwurf und ein wenig Spott vermengten sich in ihrer rauen Stimme. »Der Turm liegt dennoch auf unse-
Michael Marcus Thurner rem Weg. Wollen wir?« Sie packte mich kurzerhand am Arm und schritt flott aus. »Als Touristen haben wir wohl das Recht, uns ein wenig umzusehen.« »Ich hätte dennoch gerne einen ortskundigen Fremdenführer bei mir«, gab ich nachdenklich zur Antwort. Irgendetwas stank hier ganz gewaltig zum Himmel. Apropos Himmel: Ich blickte nach oben. Die Sonne ging bald unter, und das Band der sprühbunten, so gänzlich fremden Sterne tauchte allmählich aus dem Dunkelblau des Firmaments hervor.
* »Und es sind doch Varganen«, flüsterte ich, als die ersten Bewohner dieser seltsamen Stadt an uns vorbeimarschierten. Es waren drei, die unseren Weg kreuzten. Zwei Männer und eine Frau. Wir warfen uns, ohne uns abgesprochen zu haben, gleichzeitig hinter einen der vielen Felsbrocken und betrachteten die drei traurigen Figuren aus der Sicherheit des Verstecks. Kythara nickte, war aber keineswegs begeistert von dem, was sie sah. Alle waren sie hochgewachsen, bronzehäutig, goldhaarig, goldäugig. Sie schlank zu nennen war eine Untertreibung. Leptosom war das bessere, das passende Wort. Die Brüste der Frau waren kaum ausgeprägt und nur dank der eng anliegenden Oberteile als solche zu erkennen. Die Hosenbeine der drei Varganen schlotterten im leichten Wind um dünne, knochige Beine. Die nackten Arme hingen scheinbar kraftlos nach unten. Auch die Gesichter wirkten ausgebrannt und erschöpft. In den tief liegenden Augen brannte ein unheiliges Feuer, das mir gar nicht gefallen wollte. Hier loderte ein Funken, den ich nur zu oft bereits gesehen – und zu fürchten gelernt – hatte. Noch war es nur ein Verdacht, und der erste Eindruck täuschte oftmals. Ich wollte trotzdem auf jede Eventualität vorbereitet sein. »Was spürst du in ihren Köpfen?«, fragte
Gefangen im Psi-Sturm ich leise die Varganin. »Du überschätzt meine Fähigkeiten«, gab sie ebenso gedämpft zur Antwort. »Ja, ich könnte, wenn ich wollte, meine Gedanken auf sie übertragen. In umgekehrter Richtung spüre ich Stimmungen und Grundeinstellungen. Bei manchen Lebewesen ist es mehr, bei manchen weniger. Bei diesen dreien«, sie deutete den hageren Gestalten hinterher, »gibt es fast nichts zu entdecken. Ich kann sie gerade mal als denkende Wesen einordnen.« »Dann müssen wir's wohl auf die altmodische Tour versuchen.« »Bist du bereit?«, fragte sie. Ich nickte ihr zu, trotz eines unguten Grummelns in meinem Magen. Sie richtete sich zu ihrer stolzen Größe auf und rief den Einwohnern etwas auf Varganisch hinterher. Es war eine gutturale, gewöhnungsbedürftige Sprache, die ich mir dank Ishtar leidlich angeeignet hatte. Vor zigtausend Jahren zwar, was aber dank meines fotografischen Gedächtnisses kein besonderes Hindernis darstellte. Es war ein freundlicher Gruß, den sie aussprach, und er wurde umgehend erwidert. Allerdings nicht auf die gewünschte Art und Weise. Die drei schmal gebauten Varganen stürzten auf Kythara und mich zu, die Hände weit erhoben. Die Spitzen zweier Messer und ein metallenes Rohr glänzten in den letzten Sonnenstrahlen. »Fainjara!«, schrien sie. »Ihr seid tot!«
11. Etarmagan-Murloth Er war tot gewesen, und dennoch erwachte er. Er wusste nicht, was er hier tat. Die Umgebung erschien verschwommen, als sei sie für seine Augen nicht geeignet. Doch tief drinnen wusste, spürte er, was er zu tun hatte. Wie er diesen Ort zu verlassen hatte. Mit traumwandlerischer Sicherheit folgte er Wegen, Gängen, Korridoren, einem Lift,
37 passierte eine kribbelnde Grenze, ging mit blinden Augen weitere fünftausend Schritte vorwärts, stolperte zweimal, prallte gegen eine Steinwand – und fand sich unvermittelt in der Nähe seines Hauses wieder. Er lebte. Er war tot gewesen, und er lebte wieder. Noch einmal erinnerte er sich daran, wie das Gewicht der Naruk-Leiber immer schwerer geworden war, wie sie ihm die letzten Luftreserven aus der Lunge pressten. War dies eine Prozedur, die er bereits mehrmals durchgemacht hatte? Ewiges Leben, von irgendeinem Lenker des Schicksals geschenkt, der grausame Späße mit den Naruks trieb? Mit dem einzigen Unterschied, dass er sich diesmal an das erinnern konnte, was passiert war? Auch die nahe, die frische Vergangenheit war ein Mysterium. Wo war er soeben zu sich gekommen? Welche Macht hatte ihn hierher zurückgeschickt? Er wusste es einfach nicht mehr. Derzeit schien es ihm auch einerlei. Nur zurück nach Hause, dachte Etarmagan-Murloth. Einen Schnaps trinken, nachdenken, vielleicht vergessen. Er machte sich auf den Weg. Sein Kschemme war tatsächlich nur wenige Schritte entfernt. Das Licht war an. Die Schnapsflasche lag umgekippt auf dem Tisch. Letzte Tropfen des harzigen Getränkes platschten zu Boden. Ein anderer Geruch, den er nur zu gut kannte, hing in der Luft. Die Reinigungsmaschine war in Betrieb gewesen. Sie öffnete sich soeben. »Ich wollte den Tod vergessen«, sagte Carnji, als sie den Deckel beiseite schob und langsam auf ihn zutorkelte. »Es ist mir nicht gelungen.«
* Mann und Frau standen einander gegenüber, regungslos. »Du hast mich ermordet«, sagte Carnji endlich. Ihr Gesicht, das er als einen leblosen Klumpen Fleisch in Erinnerung hatte,
38 war zart und glatt wie ehedem. Ihre Kieferknochen waren nach außen gedrückt. Sie beherrschte sich wohl nur mühsam. Waren es Gefühle der Angst oder des Zornes, die sie im Griff hatten? Oder … beides? Wann würde ihre Frage nach dem Warum kommen? Was sollte er antworten? »Ich bin ebenfalls gestorben«, meinte Etarmagan-Murloth schließlich. Um irgendetwas zu sagen in dieser Situation, wie sie sonderbarer nicht sein konnte. »Naruks – ich meine, Naruks ohne Gefühle – haben mich erdrückt.« »Das überrascht mich nicht. Es musste so kommen.« Was war das bloß für ein Gespräch? Wo sollte es hinführen? Seine Gedanken rasten. Waren teilweise verworren, als ob jemand die Seiten seines Lebensbuches kräftig durcheinander gebracht hätte, und dann waren sie wiederum klar, so klar wie die Luft, die er atmete. Hatte er ein schlechtes Gewissen? Nein. Nach wie vor glaubte er zu wissen, dass er das Richtige getan hatte. »Ich werde jetzt gehen«, sagte Carnji ruhig. »Ich nehme meine Sachen mit. Auch Jubelweiß, der mich immer an dich erinnern wird.« Der kleinere der beiden Schmetterlinge kam wie auf Stichwort herangeflattert und setzte sich flügelschlagend auf die Schultern der Naruk-Frau. Farbenhoch tauchte ebenfalls auf. Mit einer beiläufigen Bewegung wischte ihn Etarmagan-Murloth beiseite und hieß ihn schließlich mit einer gezischten Anweisung, sein Haus zu verlassen. »Wir werden uns wiedersehen, Carnji«, sagte er. Nur allzu gerne hätte er erneut seine Arme um ihren Hals geschwungen und ihr mit einem kurzen Ruck das Genick gebrochen. Irgendetwas hinderte ihn. Nein, es war kein Mitgefühl und auch kein Bedauern. Hier und jetzt wäre es schlichtweg zu billig, dachte er. Carnji soll ihre Chance ha-
Michael Marcus Thurner ben. Sie nahm ihre wenige Habe auf, ging an ihm vorbei, abwehrbereit, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ihr Körper stank nach Schweiß. Die Haare waren fettig und ungepflegt, im Gesicht waren tiefe Schatten. Spuren des allgegenwärtigen Staubs. Jegliche Eitelkeit bei ihr war dahin. »Ja. Wir werden uns wiedersehen«, meinte sie und spuckte verächtlich aus. »Aber das nächste Mal werde ich vorbereitet sein.«
* Wut war ein Gefühl, das Etarmagan-Murloth bereits vor seinem Tod gespürt hatte. Bislang hatte er es unterdrückt, stets in dem Glauben, dass es zu den »schlechten« Eigenschaften eines Naruks gehörte. Seitdem er den Beinamen Murloth angenommen hatte, wusste er es besser. Wut war eine Eigenschaft, eine mehrdimensionale Qualität, die nicht jedermann gegeben war. Sie reichte weit über ein Gefühl hinaus. Sie konnte zur Lebensbestimmung werden. Es kam nur darauf an, sie zu fokussieren. Wut. Furor. Zorn. Rage. Groll. Es gab tausenderlei Begriffe, Erscheinungsbilder und Abstufungen ein und desselben Lebensgefühls. Etarmagan-Murloth musste dieses Brennen in seiner Brust vorerst einmal bändigen und die Bücher zu Rate ziehen. Es war Nacht, aber was scherte es ihn? Er stapfte hinab ins Tal, zur Bibliothek, sah weder nach links und rechts, ließ sich durch nichts abhalten. Er achtete nicht auf das eingetrocknete Blut, dort, wo er irgendwann einmal gestorben war. Vor wenigen Augenblicken oder vor Planetenjahren – er wusste es nicht, und es interessierte ihn nicht. Er musste das, was in ihm tobte, erst einmal determinieren und für seine Zwecke zu verwenden lernen. Er musste Erfüllung finden. Die Bibliothek war hell erleuchtet. Ein stetiges Kommen und Gehen herrschte. Gesichtslose Massen, wohin auch immer er blickte. Das würde sich bald ändern, das spürte er. Er würde es ändern.
Gefangen im Psi-Sturm Etarmagan-Murloth fegte die jämmerliche Gestalt an einem der Tische beiseite und kümmerte sich nicht weiter darum, was um ihn passierte. Bücher, die diese Bezeichnung nicht verdienten, lagen umher. Solche über Architektur, Kunsthistorie, Xeno-Philosophie, Flagellantismus, Religion. Alles unbrauchbar für seinen zielgerichteten Wissensdurst. Etarmagan-Murloth zog das Datenverzeichnis auf dem nächstgelegenen Bildschirm zu Rate. Der Stamm aller verfügbaren Bücher, Schriften und Dateien war hier aufgelistet. Da! Mit todsicherem Instinkt hatte er sofort gefunden, was er suchte. Konnte er sich die Werke eigentlich einfach bestellen? Anfänglich zögernd, dann immer schneller tippte er sich durch die Verzeichnisse, betätigte einen Befehl, der ihm noch niemals zuvor aufgefallen war. »Bestellung« hieß er. Er gab mehrere Wünsche ein. Und es funktionierte. Irgendeine Lagerverwaltung, narukkisch oder maschinell, was spielte es schon für eine Rolle, bestätigte den Empfang und sicherte ihm eine Lieferung der gewünschten Werke in den nächsten Augenblicken zu. Grimmige Befriedigung erfüllte ihn. Umso mehr, als binnen kurzem tatsächlich ein kreisrunder Schweberobot die gewünschten Sachen ablieferte. »Das Handwerk des Tötens«, las er einen Titel. Und: »Der perfekte Krieger«, »Der Heilige der Killer«, »Berühmte Schlachten und Taktiken«, »Eintausend Wege, den lästig gewordenen Liebhaber zu töten« und noch viele mehr. Entspannt legte Etarmagan-Murloth die Beine auf den Tisch und begann wahllos zu lesen. Warmes Wohlbehagen erfüllte ihn …
12. Atlan Sie bewegten sich unbeholfen und hölzern. Alleine das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite. Doch um der Varganin
39 und mir beizukommen, hätten sie um einige Jahrtausende früher aufstehen müssen. Ein Dagor-Schulterwurf, ein Kantenschlag gegen die Schläfe und ein varganischer Würgegriff beendeten das kurze Gefecht binnen Augenblicken. Die Frau und einer der Männer waren bewusstlos; unser drittes Opfer krümmte sich schmerzerfüllt am Boden. Ich zeigte kein Mitleid, und drückte dem dürren VarganenAbkömmling meinen Stiefel gegen den Hals. »Ist das die hier übliche Begrüßungszeremonie für Besucher?«, fragte ich. »Du wirst uns jetzt Rede und Antwort stehen, Freund!« Langsam verstand der Mann, in welcher Situation er steckte. Er begriff, zeigte aber keinerlei Vernunft. »Murloth«, krächzte er, »wird mich rächen.« Er sprach ein akzentuiertes Varganisch. Kythara seufzte tief. Dies waren Landsleute von ihr, so viel stand nun fest. Auch ein eventuelles Verständigungsproblem konnte somit als Grund für die überraschende Attacke ausgeschlossen werden. »Wenn du vernünftig bist«, fuhr ich fort, »können wir uns sicherlich verständigen, bevor du an Rache oder Ähnliches denkst.« Ich löste sanft meinen Fuß und gab ihm Zeit, sich aufzusetzen. »Wie heißt du?«, fragte Kythara eindringlich. »Relamidrad«, sagte unser Mann heiser. Warf sich im selben Moment herum, griff nach dem Messer, das hinter ihm im Staub lag, und schleuderte es mit aller Wucht nach mir. Ich war vorbereitet gewesen, hatte mich längst geduckt und war nach vorne geschnellt. Diesmal würde er mir nicht so einfach davonkommen! Meine Hand fuhr gegen Relamidrads Gurgel, presste dem Varganen die Luftzufuhr ab. Ein Tritt mit dem Knie dorthin, wo ich den Solarplexus vermutete, und ein rechter Schwinger gegen das Kinn folgten. Knochen brachen. Ein spitzer, schmerzerfüllter Aufschrei. Dann Ruhe. Er war in
40 Ohnmacht gefallen. »Das war ein bisschen zu viel des Guten«, tadelte mich Kythara. »Angesichts dessen, dass er mich kaltblütig ermorden wollte, hat er ein paar Schmerzen durchaus verdient.« Insgeheim gab ich ihr natürlich Recht. Die Knöchel meiner Rechten waren abgeschürft und taten weh. Ich war in meinem Zorn ein wenig übers Ziel hinausgeschossen. Der Unterkiefer Relamidrads verfärbte sich blau. Der Vargane würde wohl die nächsten Wochen nichts mehr zu sagen haben. Und auch nur, wenn er einen guten Kieferchirurgen zur Hand hatte. Denn sonst würde es ein wenig länger dauern. Zur Sicherheit drehte ich den Mann in die Seitenlage und holte ihm die Zunge aus dem Rachenraum. »Was ist mit unseren anderen beiden Freunden?«, fragte ich Kythara unterdessen. »Die schlafen tief und fest. Wahrscheinlich noch eine Stunde oder länger. Du hast einen harten Schlag, Arkonide.« »Nun – das scheint mir kein guter Anfang gewesen zu sein«, sagte ich. »Ich habe schon erfolgreichere Erstkontakte hinter mir.« Mit deinem Zynismus kannst du andere täuschen, Narr, aber nicht mich! Du ärgerst dich mehr als Kythara über deine heftige Reaktion. Natürlich kann ich dich nicht täuschen, entgegnete ich, schließlich bist du ein Teil von mir. Aber es war dieses Feuer in Relamidrads Augen, das mich rasend machte. Dieser Fanatismus, den ich sah. Der Vargane gehört zu jener Gattung Wesen, die ihr persönliches Schicksal fatalistisch hinnehmen, wenn es nur einem höheren Ziel dient. Ich habe gehörigen Abscheu vor solchen Kreaturen. Und wohl auch Angst? Natürlich auch Angst. Kythara hatte mein kurzes Zwiegespräch ganz offensichtlich bemerkt und mich nicht gestört. Jetzt aber sagte sie: »Ich glaube nicht, dass wir warten sollten, bis die ande-
Michael Marcus Thurner ren beiden erwachen.« Mittlerweile hatte ich die Erstversorgung beendet. »Warum?«, fragte ich, ohne den Kopf zu heben. »Weil wir so rasch wie möglich verschwinden sollten.« Sie deutete mit der Hand über meinen Kopf hinweg. Ich drehte mich um. Es waren hundert bis hundertfünfzig. Die mageren Varganen mussten sich schweigend genähert haben und waren nicht mehr als dreißig Meter entfernt. Als sie bemerkten, dass sie entdeckt waren, liefen sie mit hasserfüllten Mienen auf uns zu. »Murloth!«, schrien sie, und das Echo hallte schaurig von Felswänden und Häusern wider.
* Die Varganen waren schneller auf den Beinen, als ich es ihnen angesichts ihrer körperlichen Verfassung zugetraut hatte. Nach nicht einmal zweihundert Metern hatten sie uns eingeholt und trieben uns wie Hasen vor sich her, immer tiefer in einen Canyon zwischen zwei Hochgebirgsausläufern hinein, der sich zusehends verengte. Wurfgeschosse zischten an uns vorbei. Ab und an traf uns ein Stein. Die leichten und dennoch robusten Kombinationen schützten uns vor dem Schlimmsten. Längst hatten wir die Schutzschirme aktiviert, doch mehr als ein seltenes Flackern ließ sich den gestörten Aggregaten nicht entlocken. Auch die Waffen funktionierten weder im Paralysatornoch in sonst irgendeinem Modus. »Die Antigravs!«, rief ich Kythara zu, die mühevoll und schwer atmend mit mir Schritt hielt. »Wir müssen es riskieren!« Sie nickte kurz und aktivierte ihr Gerät. Stotternd sprang es an, während meines kein messbares Lebenszeichen von sich gab. Vor uns endete der Canyon. Um uns waren nur noch felsige Steilwände, glatt und von kümmerlichen Flechten bewachsen. »Verschwinde!«, herrschte ich Kythara an. Sie zögerte, wollte mir zu Hilfe kom-
Gefangen im Psi-Sturm men. Ich wehrte ihre Hände ab, stieß sie von mir. Sie blickte mich an, mehr verärgert als erschrocken. Mit bockendem Antigravantrieb erhob sie sich schließlich in die Nacht. Dann konnte ich mich nicht mehr um sie kümmern. Unsere Verfolger waren heran. Ich sah in ihre zornverzerrten Gesichter. Da war wenig koordiniertes Vorgehen, sondern nackter Hass auf mich, ihr Opfer. Ich hatte das Ende des Canyons erreicht und wich langsam zurück, bis ich den Fels in meinem Rücken spürte. Er hing oberhalb von mir über und war zudem so glatt, dass er keinerlei Möglichkeit bot, daran hochzuklettern. Die Varganen hatten verlangsamt, kesselten mich ein. Jetzt!, befahl mir der Extrasinn. Ich schoss vor. Brach mit der Rechten ein Nasenbein, ließ eine Frau nach einem Schlag mit dem Ellbogen in die Magengrube zu Boden gehen und fegte einen dritten Varganen mit einer Beinschere von den Füßen. Ich wich wieder zurück, wachsam und beherrscht. Es gab keine bemerkbaren Reaktionen. Weder Erschrecken noch Respekt. Die Menschenmauer schloss sich erneut. Nicht nur das – die Varganen stiegen über die drei gestürzten Landsleute hinweg, als wären sie bloß Hindernisse, töteten sie dabei womöglich. Bei allen Sternengöttern, was ging in ihnen vor, was trieb sie zu derart unwürdigem Handeln? Ich wagte einen neuerlichen Ausfall, wandte erlaubte wie unerlaubte Tricks an, doch es änderte nichts an meiner Situation. Im Gegenteil. Es gab kaum mehr Bewegungsfreiheit für mich. Und immer noch rückten die Goldenen näher … Was wollten sie nur? Mich gegen die Wand pressen und erdrücken? Ich spürte ein Britzeln in meinem Rücken. Ein kurzer Energiestoß, dann ein flackerndes »Bereit«-Zeichen, vor meine Augen projiziert. Der Antigrav! Ich hieb kurzerhand auf die
41 Steuerung – und flog steil nach oben. Zu spät! Das Gewicht mehrerer Körper legte sich um meine Beine. Die Varganen hingen an mir. Zuerst einer, dann drei, dann ein Dutzend, das sich aneinander und um mich klammerte. Sie waren wie kollektiv gesteuerte Insekten, denen das eigene Leben völlig gleichgültig war. Immer tiefer wurde ich gezogen, tauchte ein in die gesichtslose Masse, um darin erstickt zu werden … »Vorsicht!« Von einem Instinkt geleitet, drückte ich den Oberkörper mit aller Kraft, die mir verblieben war, nach hinten weg, zur Felswand hin. Eine Steinlawine kam herabgedonnert: mannshohe Brocken, faustgroßes Geröll und Tonnen feinsten Sandes. Sie trafen die Varganen rings um mich, zerdrückten und zermalmten Körper, begruben andere für immer unter sich. Der Staubvorhang, dem ich ausgesetzt war, schloss sich um mich. Er drückte mir die Augen zu, sodass ich den Tod so vieler Wesen nicht sehend miterleben musste. Ein Kollern letzter Steinchen, ein dünnes, allmählich versiegendes Rieseln – dann war es zu Ende. Die Ruhe schmerzte in meinen Ohren. Ich wollte meine Augen nicht öffnen. Nicht sehen, was rings um mich passiert war. All die Toten und Verletzten, die zerfetzten Gliedmaßen, die Verkrüppelten … Doch mir blieb keine Wahl, denn nach wie vor hingen Varganen an mir. Zwei umklammerten mich selbst im Tode, fünf oder sechs andere waren durchaus noch lebendig und wollten mir nach wie vor an die Gurgel. Fast mechanisch wühlte ich mich zwischen den Leibern frei, wehrte die schwachen Versuche ab, mich mit allen erdenklichen Mitteln zur Strecke zu bringen. Ein Engel landete auf dem Leichenberg neben mir. Ein Engel, dessen metallene Kleidung in den Farben des Nachthimmels bunt schimmerte.
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»Es war notwendig«, kam sie meiner Frage zuvor. »Was sollte ich denn tun? Darauf warten, dass sie dich zerreißen oder erdrücken?« Die Heftigkeit ihrer Worte erschreckte mich. Auch wenn Kythara äußerlich ruhig wie immer wirkte: Das, was sie getan hatte, nahm sie ordentlich mit. »Sie haben endlich aufgegeben«, murmelte die Varganin. Sie deutete mit einer vagen Armbewegung über das Schlachtfeld. Einige Gestalten quälten sich unter dem Geröll hervor, interessierten sich aber nicht mehr für uns. Wie Schlafwandler wandten sie sich ab und gingen, krochen, robbten dem Ausgang der Schlucht entgegen, ohne sich weiter um ihre toten Kameraden zu kümmern. »Ich habe nur eine einzige Frage an dich«, sagte ich, während ich den staubüberzogenen Varganen hinterherblickte. »Ja?« »Du hast diese Lawine losgelöst. Du konntest unmöglich wissen, ob es mich dabei erwischen würde oder nicht. Ist das so?« Sie schwieg. »Ist das so?«, wiederholte ich zornig die Frage. »Ja.« Kurze Pause. »Aber die Entscheidung ist mir leicht gefallen. Ich vertraute auf den Schutzanzug sowie deine Reaktionsschnelligkeit und deinen Instinkt, im entscheidenden Moment das Richtige zu tun. Es ist kein Zufall, dass du die Wirrnisse der letzten Jahrtausende überlebt hast.« »Nur aufgrund deiner Einschätzung, dass mein Instinkt mich leiten würde, bist du das Risiko eingegangen?« »Gewissermaßen.« Sie sagte es mit seelenruhiger Stimme. »Darüber hinaus …« »Ja?« »… darüber hinaus war ich der Meinung, dass der Tod unter der Steinlawine für dich leichter zu ertragen gewesen wäre, als von diesen Wahnsinnigen unter ihren Leibern erdrückt zu werden.«
*
Ich hätte gern ein wenig Zeit zur Verfügung gehabt, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Aber Kythara zog mich mit sich, weg von dem Ort des Unglücks, nur fort aus dieser tödlichen Falle. Meine Bitte, den überlebenden Verunglückten wenigstens eine Erstversorgung angedeihen zu lassen, hatte sie mit einer unwirschen Handbewegung abgelehnt. »Mittlerweile sollte sich unter diesen Verrückten herumgesprochen haben, was hier passiert ist. Wenn auch nur ein Fünkchen Verstand in ihnen steckt, kehren sie zurück und helfen den Verschütteten.« Allein ich glaubte nicht an dieses Fünkchen Verstand … Wir verließen das Felsgewirr und suchten einen Weg, um Höhe zu machen. Einerseits, um Distanz zwischen uns und mögliche Verfolger zu bringen, und andererseits, um die Geschehnisse in der so weitläufig errichteten Stadt im Auge zu behalten. Nach mehreren Stunden endloser Kletterei glaubten wir uns so weit in Sicherheit, dass wir uns hinter einer Felsnadel eine Ruhepause gönnten. Die Instrumente, die ausnahmsweise einmal ansprachen, zeigten mir, dass wir mehr als sechshundert Meter an Höhe gewonnen hatten. Wenn wir den Fels umrundeten, hatten wir einen prächtigen Fernblick, der nur von hochgewirbeltem Staub über dem Hochgebirge beeinträchtigt wurde. Narukku war ein wilder, nahezu ungezähmter Planet. Außer den Häusern, dem riesenhaften Turm, in einem konzentrischen Kreis darum errichteten Hütten, die aus der großen Entfernung an bescheidene Imbissbuden erinnerten, und einer kurzen Hafenzeile konnte ich nichts erkennen, was an zivilisatorische Einflussnahme erinnerte. Doch das, was siebentausend Kilometer westlich von hier passierte, in der Ebene ohne Schatten, hatte möglicherweise Einfluss auf die Geschehnisse hier. Ich musste an die Alpträume denken, unter denen ich in der ersten Nacht nach unserer Notlandung gelitten hatte. Schimären mit ausdruckslosen Gesichtern. Sie zerrten und zogen an mir, woll-
Gefangen im Psi-Sturm ten mich erdrücken, mich ersticken … Waren die frappierenden Ähnlichkeiten zu dem, was sich vor wenigen Stunden abgespielt hatte, reiner Zufall? Waren unter dem Einfluss der Psi-Quelle Gegenwärtiges und Zukünftiges verwoben, in phantasmagorischen Ahnungen verpackt? Ich hatte zu viel erlebt, um ausschließen zu können, dass ich vor wenigen Tagen einen kurzen Blick in die Zukunft geworfen hatte. In das Jetzt … Und damit war ich beim Thema. »Murloth«, sagte ich nachdenklich. »Das war so ziemlich das einzige Wort, das wir deinen Artgenossen entlocken konnten. Sagt es dir etwas?« »Nein«, erwiderte Kythara bestimmt. »Ich habe dir von Skanmanyon erzählt. Du erinnerst dich?« Sie nickte. »Mai bis August 2843. Die entartete Psi-Quelle Skanmanyon. Wesen, die in ihren Bann gerieten, verloren ihre Persönlichkeit. Sie gingen völlig in dem PsiWesen auf. Ein jeder, der von ihm berührt oder auch nur gestreift wurde, nannte sich von diesem Moment an nur noch Skanmanyon. Das hier erinnert dich daran, nicht wahr?« »Die Parallelen sind nicht zu übersehen«, bestätigte ich. »Relamidrad trug den Zusatz Murloth. Jeder Vargane, dem wir begegneten, schrie uns diesen Begriff oder Namen entgegen. Und unweit von hier tobt seit Tagen ein Hypergewitter ungeahnten Ausmaßes über Relikten, die höchstwahrscheinlich einmal eine varganische Psi-Station gewesen sind.« Ich nahm zwei Energiekonzentrate zu mir. Die Wirkung würde nur wenige Minuten auf sich warten lassen. Trotz der beruhigenden Impulse des Zellaktivators fühlte ich mich erschöpft. Aber mir gingen derart viele Gedanken über Unmengen von losen Fäden durch den Kopf, dass ich einfach nicht anders konnte, als im Zwiegespräch mit Kythara nach Antworten zu suchen. »Wir wissen nach wie vor nicht, ob die Psi-Materie, die mit den Resten des Kristall-
43 mondes zugeführt wurde, schon verdaut ist«, sagte Kythara plötzlich. »Was, wenn das hier nur die Ruhe vor dem Sturm ist?« Ich kaute nachdenklich auf dem letzten Rest des Konzentrats herum. »Du meinst also, dass in der Ebene ohne Schatten ein PsiVulkan vor sich hin köchelt, um unversehens auszubrechen und diese ganze galaktische Ursuppe von Emissionsnebel im Nirwana verwehen zu lassen?« »Ich liebe deine geschliffene Redekunst, Arkonide.« Die Varganin klang völlig leidenschaftslos und nüchtern. »Genau wie deinen Humor.« Zurück zum Thema!, mahnte mich der Extrasinn. »Könnte Skanmanyon wieder erwacht sein?«, sinnierte ich. »Du meinst, dass Murloth nur ein neuer Name für dieses Überwesen ist? Gut möglich. Andererseits habe ich von insgesamt drei entarteten Psi-Quellen gehört.« Die Varganin stützte das Kinn auf eine Hand und verlor sich in Grübeleien. »Was können wir von den Aussagen des Cappins halten?«, überlegte ich weiter. Sie richtete ihren Blick in die Ferne, über die gischtende See. »Du meinst Carscann? Möglicherweise gar nichts. Wahrscheinlich waren es die Phantasien eines Sterbenden …« »… der davon berichtete, dass die Quelle pervertiert werden sollte.« Kythara zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht umsonst so alt geworden«, sagte sie schließlich. »Ich glaube prinzipiell nicht an Zufälle wie diesen. Aber vorerst haben wir nichts, keinen Anhaltspunkt, keine logisch erklärbare Verbindung zwischen Carscanns Gebrabbel und den Vorgängen in der Ebene ohne Schatten. Und was sollten diese Hinweise auf eine tödliche Gefahr für Gruelfin? Die Sombrero-Galaxis ist nahezu 36 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernt …« »… und wir haben keine Ahnung, wohin genau es uns verschlagen hat«, warf ich ein. Kythara fuhr ungerührt fort: »Ungeachtet
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unseres Aufenthaltsortes: Warum sollten zwischen 36 Millionen Lichtjahren entfernten Galaxien Wechselwirkungen bestehen?« »Ich weiß es nicht. Aber Cappins gehören gemeinhin nicht zu den Lebewesen, die zu Phantastereien neigen. Ich nehme seine Worte, auch die über das ›Schwert der Ordnung‹, das darauf brennt, seine Ernte einfahren zu können, durchaus ernst. Und als er über die ›Lordrichter von Garb‹ erzählte, ist mir, ehrlich gesagt, eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen.« »Angst, Arkonide?« Kythara sah mich nicht an, wirkte weiterhin geistesabwesend. »Ja«, gestand ich. »Es gibt nichts Furchtbareres als das Unbekannte.« »Deswegen läufst du immer darauf zu?« Ich lächelte. »Wenn ich etwas von Larsaf III mitgenommen habe, dann ist es die Weisheit, dass Angriff die beste Verteidigung ist.« Die Varganin erwiderte nichts darauf. Sie stand plötzlich auf, erschrocken, wie mir schien. Ich eilte zu ihr. »Was ist …?« Wortlos deutete sie westwärts. Sie brauchte nichts mehr zu sagen. Ich konnte es selbst sehen. Mir blieben die Worte im Halse stecken.
13. Etarmagan-Murloth Etarmagan-Murloth schlug sein TaktikBuch endgültig zu. Mit tief schürfenden Fragen und Problemstellungen hatte er sich lange genug abgegeben. »Wie wird man ein guter Krieger?«, murmelte er und gab sich gleich selbst die Antwort: »Indem man sein Schwert im Kampf schärft. Indem man Taktiken ausprobiert. Indem man … tötet.« Er wollte mit jeder Faser seines Körpers ein wirklich guter Krieger werden. Einer, der auch unter den überaus kritischen Augen der Lordrichter von Garb bestehen würde und dem Schwert der Ordnung zur Ehre gereichte.
War es nötig, selbst in den Kampf einzugreifen, um zu lernen? Konnte man nicht auch andere vorschicken? Ihnen zusehen und Erkenntnisse aus ihrem Verhalten ziehen? Ein Tag und eine Nacht waren vergangen, seitdem Etarmagan-Murloth sich in die Bibliothek zurückgezogen hatte. Erstmals seit langem sah er sich bewusst um. Der Saal war nur zur Hälfte besetzt. Die meisten Naruks rutschten unruhig auf ihren Stühlen umher oder starrten Löcher in die Luft. Auf der gegenüberliegenden Seite des riesigen Raumes stritten ein Mann und eine Frau um ein Tablett mit Essen. Es war gekommen, wie er es geahnt hatte. Nach und nach entwickelten andere Naruks dieselbe Kampfwut wie Carnji-Murloth und er. Unzweifelhaft hing die gesteigerte Aggressivität, die er vielerorts beobachten konnte, mit etwas zusammen, was in der Reinigungsmaschine passiert war. Doch diesen Kretins – anders konnte er sie nicht nennen, so plan- und ratlos verhielten sie sich –, fehlte etwas. Und dieses Etwas war … er. »Hört mich an!«, rief er, so laut er konnte. Hunderte Köpfe ruckten hoch. Kaum ein Naruk war noch in jener Lethargie gefangen, die sie ein Leben lang beherrscht hatte. Alle horchten auf ihn, Etarmagan-Murloth, und er genoss es. »Ich verstehe, wie es euch gerade ergeht! Es sind die Gefühle in euch, die ihr nicht begreifen könnt, weil sie neu und ungewohnt sind.« Viele Männer und Frauen nickten, manche knurrten, andere klopften tatendurstig auf die Tische. »Was ihr spürt, sind Wut und die Lust zum Kampf. Ihr wollt dem Schwert der Ordnung dienen, nicht wahr?« Alle standen sie auf, manche sprangen auf die Bänke und Stühle. Wenige und einfache Worte reichten, um sie in einen Zustand der Raserei zu bringen. »Auch ich fühle diesen Drang in mir! Aber noch weiß ich nicht, ob ich würdig bin, den Lordrichtern von Garb als Krieger unter die Augen zu kommen.« Der Saal glich übergangslos einem Toll-
Gefangen im Psi-Sturm haus. Wie primitive Tiere sprangen die Naruks umher, schlugen aufeinander ein. Nur mit allergrößter Mühe konnte Etarmagan-Murloth die Gemüter noch einmal beruhigen. »Wir alle werden den Lordrichtern beweisen, was in uns steckt!«, brüllte er. »Denn nur die Mutigsten und Stärksten verdienen es, in die Reihen ihrer Krieger aufgenommen zu werden. Wir werden es ausfechten, gleich hier, auf dem Platz vor der Bibliothek. Folgt mir! Folgt mir zu Ruhm und zu Ehre – oder in den Tod!« Etarmagan-Murloth stürmte hinaus, ohne sich umzudrehen. Er wusste, dass sie ihm folgen würden. Seine eigenen Worte hatten ihn berauscht bis an den Rand der Selbstaufgabe. Wie mussten die peitschenden Anforderungen da erst auf die anderen gewirkt haben? Es musste sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen haben, was auf dem Vorplatz der Bibliothek stattfinden sollte, denn binnen kürzester Zeit versammelten sich dort mehrere tausend Naruks. Noch stürzten sie nicht aufeinander los, noch warteten sie auf ein Zeichen. Auf ein Zeichen – von ihm. »Was sollen wir tun?«, fragte ein Mann. Und bald echote es ihm von allen Seiten entgegen: »Was sollen wir tun?« Herdentiere, ahnungslose!, dachte Etarmagan-Murloth. Kämpfen sollt ihr natürlich! Übereinander herfallen und euch gegenseitig abschlachten, damit ich von euren Fehlern lernen kann! Laut hingegen rief er: »Ich werde eine Linie ziehen, die den Platz in zwei Hälften teilt. Dann gebe ich ein Kommando. Die beiden Parteien kämpfen gegeneinander. Erst wenn der letzte Naruk einer Partei getötet ist, steht die andere Seite als Sieger fest!« »So soll es sein!«, schrie man ihm entgegen. Rücksichtslos bahnte sich Etarmagan-Murloth einen Weg durch die Menge. Mit dem Stabkörper seines traurig singenden Schmetterlings zog er die Trennlinie in den Staub. Sofort spritzten die Naruks links und rechts
45 auseinander und riefen der jeweils anderen Seite Schmähungen und Drohungen zu. Zehntausend Männer und Frauen, die seinem Wort gehorchten! Es war ein unglaubliches Gefühl der Macht, das ihn durchströmte, und er spürte perverse Lust in sich wachsen. Endlich hatte er den Platz durchmessen. Die Trennung war vollzogen. Etarmagan-Murloth sah sie an, seine Soldaten. Er erblickte Mordlust und Wahnsinn. Gut so. »Jetzt!«, schrie er, und das Schlachten begann.
* Sie kämpften mit allem, was sie hatten, und das waren selten mehr als ihre bloßen Hände. Dennoch war es ein schauriges Gemetzel. Bald schon waren die Naruks derart ineinander verkeilt, dass sie unmöglich zwischen Freund und Feind unterscheiden konnten. Doch … wen scherte das schon, was machte das schon aus? »Tötet!«, feuerte Etarmagan-Murloth sie an. »Kämpft und tötet!« Es juckte ihn in den Fingern, sich selbst in das Toben zu stürzen. Sich hineinzuwühlen in die amorph scheinende Masse an Leibern und alles, was sich noch bewegte, zum Stillstand zu bringen. Doch er hatte ihnen allen gegenüber einen unschätzbaren Vorteil: seinen individuell ausgeprägten Verstand. Er bewahrte ihn davor, zum nichts denkenden Befehlsempfänger zu werden. Sentimentale Gefühle waren ein wertloses Nebenprodukt dieses Prozesses gewesen. Heute konnte Etarmagan-Murloth nur noch lachen, wenn er an die Zärtlichkeiten und Liebesbezeigungen Carnji gegenüber dachte. Was für ein grober Unfug, was für eine fahrlässige Zeitverschwendung! Diese Tage lagen endgültig hinter ihm. Dann war es zu Ende. Leblose Masse lag vor ihm, wie ein in ei-
46 ner Momentaufnahme gefrorener Ozean im Sonnenuntergang, weitaus schöner, als das Targan-Meer es jemals sein konnte. Etarmagan-Murloth setzte sich auf eine Steinmauer und dachte nach. Trotz allen Triumphs fühlte er sich unbefriedigt. »Es ist zu schnell gegangen, und ich konnte zu wenig lernen«, murmelte er. »Das nächste Mal muss man sie besser auseinander halten können, meine tapferen Soldaten, um wirklich einen Sieger feststellen zu können. Und ich benötige … Waffen.« »Ein guter Plan!«, hörte er eine Stimme hinter sich. Etarmagan-Murloth warf sich von der mannshohen Steinmauer, wirbelte herum, angriffsbereit. Er musste sich beherrschen, um nicht augenblicklich über den Mann herzufallen, der sich hinterrücks an ihn herangeschlichen hatte. Palmadura. Der Naruk mit der Narbe. Er hielt eine angespitzte Glasscherbe in der Hand, die er bedrohlich in seine Richtung reckte. »Komm nur näher, mein Freund. Du würdest mir einen Riesengefallen tun, wenn du es gleich versuchtest!«, provozierte ihn Palmadura. »Was willst du?«, fragte Etarmagan-Murloth kühl. »Ich überbringe eine Nachricht von Carnji«, antwortete der Narbige. »Sie hat deine kleine Schlacht beobachten lassen und findet, dass deine Leute ein Haufen mieser Schwächlinge sind, die niemals gegen ihr Heer aus Schönruh ankommen würden.« »Ihr Heer?« »… dessen Adjutant ich bin, jawohl!« »Du bist bestenfalls ein schmieriger Intrigant!« Palmadura blieb unbeeindruckt. »Sie fordert dich also heraus. In drei Tagen. In der Früh, zum Sonnenaufgang, erwartet sie dich und deine mickrigen Krieger in den Dünen östlich des Hafens.« Er lachte schrill. »Du sollst mitnehmen, was du an Männern und Frauen ausheben kannst.« »Was erwartet sie sich davon?« »Was denn wohl? Dasselbe wie ich und
Michael Marcus Thurner du! Wir wollen den Lordrichtern gefallen. Ihnen beweisen, wer der Beste ist.« Etarmagan-Murloth musste nicht lange nachdenken. Sie wollte mit ihm spielen? Gut! Dann sollte sie es so haben. »Richte ihr aus, dass ich dort sein werde, Handlanger!« Palmaduras Augen verengten sich. Die Hand mit der Glasscherbe zitterte – und zuckte plötzlich vor. Ein Schnitt, den Etarmagan-Murloth kaum spürte, zog sich quer über seinen Hals. Blut spritzte in weitem Bogen über die Brust seines Gegenübers. Sein Blut. »Sie hat mir erlaubt, dich zu töten, nachdem ich die Nachricht überbracht habe!«, sagte Palmadura. »Es ist mir ein Vergnügen. Und vergiss nicht: Wir sehen uns in drei Tagen.« Etarmagan-Murloth fiel zu Boden. Seine Sinne schwanden. Er starb erneut.
* Das Erwachen war diesmal ein bewusst erlebter Vorgang. Rund um ihn saßen andere Naruks, wohl ebenfalls vom Tod auferstanden, erhoben sich von ihren Liegen und setzten sich gleichzeitig mit Etarmagan-Murloth in Bewegung. Sie plauderten miteinander. Kühl und reserviert, aber dennoch mit mehr Verve, als er es gewohnt war. Sie redeten über das Sterben, über die Kämpfe und über das, was sie dabei gelernt hatten. Etarmagan-Murloth hielt sich bewusst ein wenig abseits und ließ das ungewohnte Stimmengewirr auf sich einwirken. War dieser Tod nur ein Spiel? Beinahe schien es so. Wollten Unbekannte sie einem Lernprozess aussetzen? Sollte es die Bestimmung der Naruks sein, sich zu immer besseren Kriegern zu entwickeln? Offenbar war es so; aber wozu nutzten dann die endlosen Jahre, die sie in den Bibliotheken verbracht hatten? Nachdenklich folgte er seinen Landsleuten. Wieder ging es durch lange, verwinkelte Korridore dem Tageslicht entgegen. Wie
Gefangen im Psi-Sturm von einem Magneten angezogen, fanden sie zurück an die Oberfläche und weiter zur Stadt Klarschein. Es war wie verhext; der Weg selbst war aus seinem Gedächtnis gestrichen. Er erinnerte sich an die Worte der anderen Naruks, er wusste, wie lange sie unterwegs gewesen waren, und er hatte gespürt, dass es zuerst aufwärts und dann bergab gegangen war. Aber seine Sehnerven, so schien es, hatten währenddessen keine Bilder empfangen. Was kümmerte es ihn? Für Etarmagan-Murloth stand fest, dass die Unbekannten in den Verborgenen Sektoren hinter den wundersamen Wiedererweckungen standen. Sie mussten den Lordrichtern von Garb verbunden sein. Vielleicht waren sie gar mit ihnen identisch? Sie hatten sicherlich beobachtet, was er getan und wie er die Naruks in den Kampf getrieben hatte. Die wiedererweckten Naruks standen ratlos umher. Es fehlte ihnen ein Ziel; sie würden sich, wenn er ihnen zu viel Zeit ließ, in Zweikämpfen verzetteln oder zu marodierenden Banden zusammenschließen, die aufeinander losgingen. Das musste er verhindern, denn diese Frauen und Männer hier – sie waren der Grundstock seines Heeres! Die ehemals Toten befanden sich in der Nähe der Bibliothek, verteilt zwischen den Hütten der Frühstückswirte. Hastig stieg Etarmagan-Murloth über den Außentisch auf das Dach eines der Imbissstände, breitete theatralisch die Arme aus und schrie: »Meine Krieger!« Alle Naruks blickten zu ihm hoch. »Ihr habt euch gut geschlagen in eurer ersten Schlacht«, rief er, »aber es gibt noch viel zu lernen, bevor ihr den Lordrichtern entgegentreten dürft!« Atemlose Stille herrschte. Etarmagan-Murloth spürte das Gefühl des Triumphs in sich hochsteigen. Die Naruks waren wie Wachs in seinen Händen. Sie waren es nicht gewohnt, frei zu denken, geschweige denn zu widersprechen. Niemand zweifelte, ob er tatsächlich über die Lordrichter von Garb
47 Bescheid wusste. Er würde ihnen vorbeten, was sie zu tun hatten, und sie würden ihm bedingungslos folgen. Er setzte seine Rede fort: »Wir sind das Heer von Klarschein. Wir sind die Kämpfer unserer Stadt. Und wir wurden herausgefordert; von anderen Naruks, denen wir in drei Tagen an den Kliffen des Targan-Meeres gegenübertreten sollen.« Begeisterte Rufe. »Die gegnerische Heerführerin bezeichnet uns als Feiglinge! Sie meint, dass wir zu schwach seien, um sie und die Naruks aus Schönruh zu besiegen.« Wütendes Aufjaulen und Schmähungen gegen die nunmehr feindliche Stadt folgten. »Bevor wir antreten und diesen jämmerlichen Haufen in den Boden stampfen«, noch einmal steigerte sich die Erregung, »müssen wir uns auf sie vorbereiten.« Unruhe machte sich breit. Die kampfhungrigen Naruks wollten nicht warten, sondern gleich drauflosstürmen. Sie würden ihm entgleiten, wenn er jetzt nicht die richtigen Worte fand! »Es wird nicht reichen, wenn wir mit nackten Händen gegen Carnjis Horden vorgehen! Sie ist gerissen; sie hat uns beobachten lassen und kennt unsere Stärke. Sie wird Fallen bauen.« Unruhiges Gemurmel. »Aber ich habe ein paar Ideen, wie wir uns einen Vorteil verschaffen können. Wie wir dieses Ungeziefer vom Erdboden hinwegfegen werden. Immer und immer wieder!« Das wilde Geschrei fand einen neuen Höhepunkt. Von allen Seiten strömten Naruks daher, die sich bislang in ihren Kschemmen verkrochen gehalten hatten. Ihnen allen würde er ein Ziel geben, er – Etarmagan-Murloth! »Dabei müsst ihr mir in den nächsten Tagen helfen! Trainiert im Zweikampf, aber schont einander. Zähmt eure Wut. Ich werde mir Taktiken überlegen – und ich werde euch Waffen besorgen!« Waffen! Ein wahres Zauberwort! Der Ju-
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bel war grenzenlos. Ein letztes Mal hob er beschwichtigend die Arme. »Wir müssen unsere Gewänder als Kämpfer der Stadt Klarschein kennzeichnen. Und wir müssen uns einen Namen geben.« Atemlose Stille. »Von nun an nennen wir uns … Murloth!«
* In zwei Tagen vollbrachte Etarmagan-Murloth wahre Wunder. Er benötigte, mit dem großen Ziel der Schlacht gegen Carnji vor Augen, keinen Schlaf. Rund um die Uhr hantierte und fuhrwerkte er in seinem Kschemme, entwickelte Waffen und entwarf Pläne, die er schließlich mit Betis und Sliva besprach. Er hatte die beiden Frauen als Adjutantinnen genommen. Sie besaßen einen einigermaßen gefestigten Willen, verfügten aber andererseits nicht über genug Ehrgeiz, um seinen Führeranspruch in Frage zu stellen. Sie waren die idealen Werkzeuge für seine Zwecke. Ein wildes Feuer loderte in ihm, als er sich in der Morgendämmerung des dritten Tages an die Spitze seines Heeres setzte und zum Schlachtfeld hinabmarschierte. Carnji würde sich wundern … Die Frauen und Männer aus Schönruh warteten bereits. In disziplinierten Reihen standen sie dicht an dicht auf den Höhen der Sandhügel – und hatten damit einen nicht unschätzbaren Vorteil in dem anstrengenden Gelände gewonnen. Carnji hatte ihn überrascht. Und sie führte augenscheinlich eine höhere Anzahl an Kämpfern mit sich, als er aufgeboten hatte. Waren es fünfzigtausend? Sechzigtausend? Er konnte es nicht abschätzen. Noch nicht … »Sammeln!«, befahl er den Adjutantinnen, die ihrerseits die Anweisungen an halbwegs aufgeweckte Murloths weitergaben. »Verteilt euch!«, »Plätze einnehmen!«, »Reihen beziehen!« Vielerlei Befehle schwirrten durch die Luft, und die Murloths gehorchten einigermaßen diszipliniert. Etarmagan kümmerte sich nicht weiter darum.
Noch tat sich nichts. Carnji hielt sich überraschenderweise an die Abmachung. Was für ein Zeichen von Schwäche! Sie würde erst angreifen, wenn die ersten Strahlen der Sonne über das Targan-Meer glitten. Etarmagan-Murloth wartete auf seinen Beobachter, den er ausgeschickt hatte und der ihm unschätzbare Dienste leisten konnte. Da kam er! Unangenehm hohes Sirren erklang, als der Schmetterling heranschwebte. »Fünfundfünfzigtausend Naruks«, schnarrte Farbenhoch, sein Spion. »Wenige brauchbare Waffen. Einige Wurfmesser, sonst einfache Hieb- und Stichwaffen wie Eisenrohre und angeschliffene Glassplitter.« Sehr gut! Wie er es erwartet hatte. Carnji und ihr Adjutant Palmadura hatten ihre Truppen gut organisiert, besaßen aber kein Wissen über Kriegswaffen, das er sich in den Büchern angeeignet hatte. Auch technische Begabung oder Fantasie fehlten ihnen vollends. Er würde sie hinwegfegen, auch wenn das Heer, das er ausgehoben hatte, schlussendlich nicht mehr als zwanzigtausend Naruks umfasste. Viele waren in Klarschein geblieben und sahen ihnen zu. Noch war ein gewisses Misstrauen vorhanden, noch wollten sie seiner Führerschaft nicht vertrauen. Das würde am Ende des heutigen Tages anders sein. »Du weißt, was du zu tun hast!« Mit einem Wink seiner Hand schickte EtarmaganMurloth Farbenhoch zurück in die Lüfte. Da! Die Sonne zeigte sich am Horizont, und gleichzeitig ertönte ein vieltausendfacher Schrei. Carnjis verfluchte Horde kam die Hügel herabgestoßen. »Auf mein Zeichen!«, befahl EtarmaganMurloth seinen Adjutantinnen und hob den rechten Arm. Er ließ die Kämpfer aus Schönruh herankommen, wartete und wartete, bis sie eine gewisse Grenze überschritten hatten, wartete noch ein paar Momente ab – und senkte endlich den Arm. »Murloth!«, schrien seine Frauen und Männer aus voller Inbrunst. Zwei Drittel von ihnen stießen vor, auf den hoffnungslos
Gefangen im Psi-Sturm überlegenen Feind zu. Das Kanonenfutter. Dahinter, bislang für Carnji nicht zu sehen, formierten sich Dreierreihen. Bogenschützen. Murloths mit Steinschleudern. Speerträger. »Jetzt!«, gab er den Befehl. Hunderte, Tausende Pfeile flogen steil in die Luft. Steinbrocken und in aller Hast gefertigte Speere folgten ihnen. Carnjis vorderste Reihen wurden von dem Tod aus dem Himmel jählings aufgehalten, stolperten übereinander und fielen knäuelweise die Hügel herab. Hier wurden sie eine leichte Beute seiner Fußtruppen. Er, Betis und Sliva hatten mittlerweile ihre Schwebescheiben aktiviert. Umgebaute Servobots aus den Bibliotheken, auf denen sie mehrere Mannshöhen über dem Erdboden hinwegflogen und mit Wurfwaffen Tod säten. Farbenhoch, sein Meisterwerk, flatterte währenddessen dort über den gegnerischen Kriegern, wo er am dringendsten benötigt wurde. Seine scharf geschliffenen Flügelkanten zerfleischten die Kämpfer aus Schönruh. Aus seinem Leib schossen schwere, lange Nägel, mit Druckluft abgefeuert. Und aus seinem Mund fauchte eine fünf Meter lange Feuerlohe. Nein. Carnjis Truppen hatten den Murloths nichts entgegenzusetzen. Die Schlacht war bereits jetzt entschieden.
49 Murloths festsetzen. Bei der nächsten Auseinandersetzung – und Etarmagan-Murloth zweifelte nicht daran, dass dies nicht allzu weit in der Zukunft lag – würden sich zehnmal so viele Bürger aus Klarschein seinen Befehlen unterordnen. Eine letzte Aufgabe galt es zu erfüllen. Auf seinen Wunsch hin hatte man einen besonderen Gegner verschont. »Bringt ihn mir!«, befahl Etarmagan-Murloth, und der aus vielen Wunden heftig blutende Palmadura wurde ihm vorgeführt. »Das letzte Mal, als wir uns begegneten, hattest du eine Waffe. Ich nicht.« Er blieb äußerlich ruhig, obwohl er den Triumph mit jeder Faser seines Körpers auskostete. »Diesmal ist es umgekehrt.« Etarmagan-Murloth hob ein Langschwert, das in Blut gebadet war, und fuhr mit einem Zeigefinger prüfend über die Klinge. Palmadura hatte sichtlich Mühe, auf den Beinen zu bleiben. »Tu, was du nicht lassen kannst!«, rief er aus. »Du weißt, dass wir uns wiedersehen werden. Und dann …« »Asche verweht«, murmelte EtarmaganMurloth und genoss den Anblick von Palmaduras in plötzlichem Verstehen schreckgeweiteten Augen. Palmadura starb an diesem Tag und kehrte nie mehr wieder.
* * Das Gefecht dauerte den gesamten Vormittag an. Erst als die Sonne ihren höchsten Stand überschritten hatte, endete es unter dem Jubel der Murloths. Carnjis Truppen waren niedergemetzelt worden. Mehr als fünfzehn Prozent seiner Kämpfer hingegen hatten überlebt. Betis und Sliva taten ihr Bestes, damit die Sieger nicht im Rausch des Triumphes übereinander herfielen. Die Gefallenen würden in kurzer Zeit ins Leben zurückkehren, genau wie jene der Gegner. Aber das Bewusstsein, gewonnen zu haben, würde sich in den Köpfen der
Etarmagan-Murloth stolperte am Abend siegestrunken und müde in seinen Kschemme zurück. Noch bevor er eintrat, zog er den Overall aus und schmierte das Blut, das daran klebte, in breiten Streifen über die Steine des Hauses. »Damit jeder Bürger der Stadt weiß, wo die tapfersten Krieger wohnen. Damit jene Feiglinge, die heute daheim geblieben sind, sehen, was Ruhm und Ehre bedeuten.« So hatte er es den Murloths empfohlen, und so hielt er es auch selbst. Farbenhoch flog vor ihm in den Kschemme – und stieß einen warnenden Laut aus. Etarmagan-Murloth zückte das Schwert, das er lieb gewonnen hatte. Er stürmte hinterher.
50 Carnji! Wütend hieb sie mit einem Messer in der Luft umher. Sie verteidigte sich mit nur mäßigem Erfolg gegen den wild attackierenden Schmetterling. »Aus!«, befahl Etarmagan-Murloth. Farbenhoch brummte zornig und glitt schließlich elegant auf dem schmutzübersäten Tisch in eine Ruheposition. »Was willst du?«, herrschte er die Frau an. »Bist du davongelaufen, bevor man dich tötete? Wolltest du dich hinterrücks für deine Niederlage rächen?« »Nein!«, sagte Carnji. Sie blutete aus mehreren Wunden, die unmöglich alle von dem Schmetterling stammen konnten. »Du hast gesiegt, weil ich dich unterschätzt habe. Das wird nicht noch einmal vorkommen.« »Wer sagt, dass ich dich am Leben lassen werde?« Auf eine ansprechende Art und Weise amüsierte sie ihn. »Lass es bleiben, Etarmagan!«, sagte sie. Leidenschaft brannte in ihren Augen. »Wir können uns doch nichts vormachen.« Carnji trat näher an ihn heran. Ganz nahe. »Du hast mich getötet, als du unter der Reinigungsmaschine … hm … geläutert wurdest. Und ich habe mich mit meinem Werkzeug, diesem widerlichen Palmadura, gerächt. Wir sind also quitt.« »Nochmals: Was willst du?« EtarmaganMurloth hatte alle Mühe, die Fassade aufrechtzuerhalten. Sie reizte und lockte ihn. »Du weißt es genau, mein Lieber«, murmelte Carnji. Sie schloss die Augen, leckte ihm mit spitzer Zunge über den Hals und presste sich an ihn. »Du schmeckst nach Blut. Das gefällt mir sehr.« Am Tisch zuckte Farbenhoch nervös mit den Flügeln. Der Instinkt, seinen Herrn unter allen Umständen zu schützen, schlug durch. Etarmagan-Murloth hieß ihn mit einer kurzen Armbewegung, ruhig zu bleiben. »Du gestehst also deine Niederlage ein?«, fragte er, während er Carnji auf die Brust küsste. »Für dieses eine Mal – ja«, antwortete sie keuchend. »Und was heute Nacht passiert, ändert nichts daran, dass ich dich bei unserer
Michael Marcus Thurner nächsten Auseinandersetzung vernichten werde.« »Versuchen kannst du's ja!« EtarmaganMurloth zog Carnji zum Bett, warf sie nieder und stürzte sich auf sie.
* Es war der Vorabend der sechsunddreißigsten Schlacht zwischen Vertretern von Klarschein und denen einer anderen herrlichen Stadt. Zweiundzwanzig der Kämpfe hatte General Etarmagan-Murloth für sich entscheiden können. Nicht mehr als sechshunderttausend Naruks wurden dieses Mal erwartet. General Etarmagan-Murloth spürte eine gewisse Müdigkeit unter seinen Kriegern. Es war nicht die Lust am Kampf und schon gar nicht die Moral, die nachgelassen hatten, nein: Die Vorhersehbarkeit und Monotonie der Schlachten ließen die tapferen Männer desertieren. Sie lieferten sich stattdessen Zweikämpfe in winzigen Arenen oder traten in kleinen Gruppen gegeneinander an. »… und das ist falsch, falsch, falsch!«, wetterte General Etarmagan-Murloth von der Schwebescheibe auf seine Chargen hinab. »Die Lordrichter wollen nicht, dass wir uns in kleinen Scharmützeln aufreiben. Nur in großen Schlachten können wir uns beweisen und die taktischen Raffinessen, die wir uns angeeignet haben, demonstrieren.« Sogar in seinen eigenen Ohren klangen die Worte hohl und leer. »Taktische Raffinessen« – pah! Seine Truppen glaubten ihm nicht. Sie lauschten seinen Worten, aber er drang kaum mehr zu ihnen durch. Kein Wunder. Er verstand sich ausgezeichnet auf praktische Waffentechnik und besaß gewisse Grundkenntnisse über Taktik. Aber er konnte einen Kampf oder eine Schlacht nicht lesen. Dazu fehlte ihm, ebenso wie den Anführern der anderen herrlichen Städte, die Fantasie. All die Bücher, Bildbände oder Schriftrollen, über denen er gebrütet hatte, konnten ihm nicht verraten, wie wahrhaft große Siege errungen wurden. Wie
Gefangen im Psi-Sturm man das scheinbar Verrückteste tat, um einen Nachteil in einen Vorteil ummünzen zu können. Wie man unerwartete Gegebenheiten, die sich während der Schlacht ergaben, nutzen konnte. Es ist die Flexibilität, die uns nicht gegeben ist, beklagte er im Stillen, wohl bereits zum hundertsten Male. Seit geraumer Zeit herrschte Ausgeglichenheit im Waffenwesen. Pläne dessen, was er erfunden und produziert hatte, darunter Strahlwaffen, Schutzbekleidung, Strahlenlanzen und gepanzerte Fahrzeuge, waren von Carnji nach und nach gestohlen worden. Etarmagan-Murloth hatte nicht einmal Grund, sich darüber zu beklagen. Nach dem ersten, billigen Triumph war es sogar sein Wunsch gewesen, Chancengleichheit herzustellen, um den Unbekannten in den Verborgenen Sektoren die Überlegenheit seiner Kriegskunst beweisen zu können. Er nannte sich General, und er wollte von den Lordrichtern auch als solcher akzeptiert werden. »Geht morgen hinaus aufs Schlachtfeld und beweist, dass die Kämpfer aus Klarschein die Tapfersten und Mutigsten auf Narukku sind!«, beendete er die kleine Ansprache. Seine Adjutanten und die anderen Chargen klopften müde und ohne große Begeisterung auf ihre Schwebescheiben, die sie wie Schilde vor sich hielten. So konnte es einfach nicht weitergehen! Verärgert sprang er von der Scheibe und stapfte in sein Kampfzelt, das wie stets von Farbenhoch bewacht wurde. Handgezeichnete Pläne des Geländes lagen auf einem niedrigen Tisch vor ihm ausgebreitet. Gegnerische Minenfelder waren rot markiert, der voraussichtliche Standort von Katapulten und stationären Fernfeuerwaffen blau. Wütend wischte er die Papiere beiseite. Die Chancen auf einen Sieg standen ohnehin gut genug. Carnji, die ihm wieder einmal gegenüberstand, zwang ihre Kämpfer zwar in größte Disziplin und konnte dank ihrer Überredungskünste stets die mächtigsten Heere ausheben, aber sie legte auf taktische Gegebenheiten wenig bis gar keinen Wert.
51 Erst zweimal hatte sie ihn in der Schlacht schlagen können. Diese beiden Nächte nach dem Tod und dem Wiedererwachen waren besonders intensiv gewesen. Vor dem Zelt wurde es unruhig. Farbenhoch brummte nervös. »Ich will bis zum Beginn der Schlacht nicht gestört werden!«, schrie Etarmagan-Murloth ungehalten nach draußen. »Aber es ist eine äußerst bedeutende Nachricht!«, hörte er Betis sagen. »Es wird dich den Kopf kosten, wenn du mir meine wertvolle Zeit stiehlst«, rief er, noch immer zornig, aber neugierig geworden. Betis war klug in ihren Einschätzungen. Wenn sie meinte, dass eine Botschaft wichtig genug war, um ihn in den Stunden vor dem Kampf zu stören, steckte tatsächlich etwas dahinter. Drei Männer kamen neben ihr ins Zelt gestolpert. Sie waren über und über mit Staub bedeckt. Einer von ihnen spuckte Blut und hielt sich nur mühsam auf den Beinen. Stoisch, mit starrem Blick nahm er den kommenden Tod hin, wohl wissend, dass er bald wiedererweckt sein würde. »Was gibt es also?«, herrschte Etarmagan-Murloth die drei an. »Wir haben zwei Fremde entdeckt«, sagte der Sterbende. »Spione? Deswegen stört ihr mich? Richtet sie hin und vergesst die Sache!« »Nein. Keine Leute … aus einer anderen Stadt.« Der Mann hustete schwer. »Fremde, die nicht … von hier sind.« »Ein Mann und eine Frau«, sprang ihm einer seiner Begleiter bei. »Größer gebaut als wir und fester. Beide hatten langes Haar!« Fremde? Vielleicht … Unbekannte aus den Verborgenen Sektoren? Aufgewühlt stürmte Etarmagan-Murloth auf den Sterbenden zu und schüttelte ihn mit aller Gewalt. »Was habt ihr mit ihnen gemacht? Sind sie hier? Habt ihr sie mitgebracht?« »Wir haben sie … bekämpft!«, hauchte der Mann und entglitt leblos seinen Händen.
52 »Was seid ihr bloß für Idioten!«, kreischte Etarmagan-Murloth, völlig außer sich, und trat dem Toten gegen den Leib. »Wir trieben sie in einen Canyon und wollten sie töten«, sagte der dritte Mann, ohne sich irgendeine Emotion anmerken zu lassen. »Wir waren mehr als einhundert Murloths. Wir wollten sie abtasten und untersuchen, bevor wir sie eliminierten. Aber sie sind uns entkommen. Und sie haben uns fast vollends aufgerieben.« »Zwei Fremde haben mehr als einhundert von meinen Kämpfern getötet?« EtarmaganMurloth war fassungslos. »Waren ihre Waffen denn derart überlegen?« »Nein«, gestand der Mann. »Sie haben eine Steinlawine ausgelöst. Ich verstehe noch immer nicht, wie sie es geschafft haben, uns zu überlisten. Es war einfach nicht vorhersehbar.« Nicht vorhersehbar … Fremde. Überlistet … Er musste diese beiden haben, unbedingt! »Habt ihr sie verfolgt?«, fragte er die zwei staubbedeckten Murloths. »Wisst ihr, wo sie jetzt sein könnten?« »Sie müssen sich in die Ausläufer der Kamarkan-Berge zurückgezogen haben«, entgegnete der eine. »Im Flachland und entlang des Targan-Meeres hätten wir sie sofort wieder entdeckt, und auch die Kschemmen am Rande Klarscheins haben wir überprüft.« »Es gibt nicht viele Aufstiegsmöglichkeiten in das Kamarkan-Gebirge«, grübelte Etarmagan-Murloth und kam zu einer raschen Entscheidung. »Wir suchen sie jetzt, noch bevor die Nacht hereinbricht. Ich will sie haben – egal wie! Nehmt fünftausend oder meinetwegen zehntausend Mann mit. Bildet eine Kette und durchkämmt die Berge, bis ihr sie gefunden habt. Alle Adjutanten halten sich zum Eingreifen bereit. Verstanden?« »Jawohl«, entgegnete Betis. Sie würde seinen Befehl weitergeben und dafür sorgen, dass er ausgeführt wurde. Auch die beiden verletzten Murloths würden sich ohne eine
Michael Marcus Thurner weitere Pause an der Suche beteiligen. Selbst wenn es sie ihr Leben kostete. Etarmagan-Murloth setzte sich. Zwei Fremde. Listenreich. Sie taten das Unvorhergesehene. Die beiden waren genau die Faktoren, die er für seine Pläne benötigte …
14. Atlan Zwei riesige Heerkörper hatten am Ostrand des Binnenmeeres Lager bezogen. Waren es einhunderttausend Bewohner Narukkus? Zweihunderttausend? Ich konnte es nicht sagen. Aus der großen Entfernung wirkten sie wie zwei homogene Massen, die sich langsam formierten. Wellenförmige Bewegungen gingen durch die Reihen. Geräusche, als ob Metall auf Metall schlüge, wurden mit den leichten, kühlen Winden an unsere Ohren herangetragen. Möglicherweise errichteten sie Nachtlager, um dann in den Morgenstunden übereinander herzufallen. »Wo sind wir da nur hineingeraten?«, murmelte Kythara neben mir. Sie wirkte niedergeschlagen. Bislang musste sie geglaubt haben, einem Volk anzugehören, das in der Milchstraße bestenfalls ein paar Dutzend Männer und Frauen zählte. »Dies sind Varganen wie ich«, sagte sie. »Ich kann ihre Aggressivität einfach nicht nachvollziehen …« »Denke an die Besessenheit, mit der dich Magantilliken verfolgt hat«, hielt ich ihr entgegen. Kythara winkte unwillig ab. »Der Henker der Varganen ist eine ganz andere Angelegenheit«, behauptete sie. »Sei's, wie es sei«, sagte ich und blickte den Hügel hinab. »Ich befürchte, dass unsere Verfolger hartnäckiger sind, als wir geglaubt haben.« Die Varganin folgte meinem ausgestreckten Arm. Am Fuße des Berges wimmelte es plötzlich von Varganen. Sie sammelten sich und schwärmten dann aus. Bildeten eine
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endlos lange Zweierreihe, die in immens raschem Tempo heraufgeklettert kam. »Das müssen … Tausende von ihnen sein!«, sagte Kythara und schüttelte ungläubig den Kopf. »Und dieser ganze Aufwand nur wegen uns beiden?« »Über diesen zweifelhaften Ruhm können wir uns freuen, wenn wir in Sicherheit sind. Rasch jetzt!« Ich zog sie mit mir. »Wir müssen weiter hinauf. Es kann nicht mehr lange dauern, bis es dunkel wird. Nur wenn wir es bis in die Dunkelheit schaffen, unentdeckt zu bleiben, haben wir eine Chance!« Wir hetzten den steinigen Hang hinan. Ich fühlte mich müde und ausgelaugt, und der Varganin ging es kaum besser. Unsere Schritte wurden kürzer. Über uns wuchs zudem eine nahezu senkrechte Felswand in die Höhe, die augenscheinlich nicht begehbar war. Was hielt uns davon ab, einfach aufzugeben? Was trieb uns weiter? Hoffnung? Angst? Ich fand keine Antwort, und ich hatte auch keine Zeit dafür. Mit deprimierender Geschwindigkeit schmolz der Vorsprung dahin. Auch wenn sie uns noch nicht gesehen hatten – irgendwann würden die Verfolger auf unsere Spuren stoßen und dann das Suchnetz um die Beute, um uns, zusammenziehen. Da! Ein abgehackter Ruf, der sich in den Reihen der dürren Varganen nach beiden Richtungen hin fortsetzte. Man hatte uns entdeckt. Die Sonne ging unter. Ihre Strahlen krochen die Berge empor und brachten die Spitzen zum Glühen. »Eine Höhle!«, keuchte Kythara in der dünner gewordenen Luft und deutete nach halbrechts. Immer wieder rutschten wir nun auf losem Geröll aus und brachten kleinere Steinlawinen in Bewegung. Wir hatten jegli-
chen Gedanken an Vorsicht fallen lassen. Die Varganen wussten ohnehin, wo wir uns befanden. »Sinnlos!«, antwortete ich kurz angebunden. »Sie würden uns sehen. Aber dort – siehst du den Einstieg?« Ich hatte eine Art Kamin entdeckt, vielleicht zweihundert Meter oberhalb, der uns eine etwas vorteilhaftere Position verschaffen konnte. Der Einstieg in den steilen Teil der Felswand konnte nur von jeweils einer Person begangen werden. »Das ist unsere Chance!«, erkannte ich. »Wir packen das!«, feuerte ich Kythara an. »Vorwärts jetzt!« Ich hatte ein Ziel vor Augen, und meine Leidenschaft steckte die Varganin an. Sie gab ihr Letztes, blieb kaum eine Mannslänge hinter mir. Die Verfolger waren bis auf dreißig, vierzig Meter an uns heran – aber wir würden es schaffen. Der Zugang zum Kamin lag vor uns. Er war glatt, eine halbe Körperlänge breit, wie für uns geschaffen. Und der Ausstieg, etwa einhundertfünfzig Meter oberhalb, war mit ein paar Felsbrocken gegen ein ganzes Heer zu verteidigen. »Geschafft!«, rief ich und eilte die wenigen Schritte voran, hinein in die Dunkelheit des Einstiegs. »Zwinge mich nicht, von meiner Waffe Gebrauch zu machen«, sagte eine dünne Stimme vor uns. Mehrere der leptosomen Varganen warteten mit ausdruckslosen Gesichtern. Sie knieten auf rundlichen Flugscheiben und hielten klotzige Strahlwaffen auf uns gerichtet … ENDE
ENDE
Die fünf herrlichen Städte von Michael Marcus Thurner
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Michael Marcus Thurner
Sol Narukku wirklich der Planet sein, auf dem der Tod zwei Unsterbliche ereilt? Wohl kaum – jedenfalls nicht, wenn es nach den beiden Betroffenen geht. Doch die kampflustigen »Murloths« scheinen nicht gewillt, zu diesem Thema eine Diskussion aufkommen zu lassen: Sie selbst brauchen den Tod offenbar nicht zu fürchten. Michael Marcus Thurner spinnt die Ereignisse im kommenden Band fort und verrät mehr über die Zusammenhänge zwischen den Varganen des Planeten, ihren wiederholten Toden und den Lordrichtern von Garb: DIE FÜNF HERRLICHEN STÄDTE