Anna McGrail
Fräulein Einsteins Universum ROMAN
Aus dem Englischen von Margarethe van Pée
Titel der Originalausgabe...
21 downloads
744 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Anna McGrail
Fräulein Einsteins Universum ROMAN
Aus dem Englischen von Margarethe van Pée
Titel der Originalausgabe: Mrs Einstein Originalverlag: Transworld Publishers, Ltd. Ungekürzte Buchgemeinschafts-Lizenzausgabe der Bertelsmann Club GmbH, Rheda-Wiedenbrück der Bertelsmann Medien (Schweiz) AG, Zug, der Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien und der angeschlossenen Buchgemeinschaften
Copyright © 1998 by Anna McGrail Copyright © 1998 der deutschsprachigen Ausgabe by Diana Verlag AG, München und Zürich Umschlag- und Einbandgestaltung: init, Bielefeld Umschlagbilder: AKG Berlin Satz: Filmsatz Schröter GmbH, München Druck und Bindung: Franz Spiegel Buch GmbH, Ulm Printed in Germany 1998 Buch-Nr. 04113 7
Lieserl Einstein ist acht Jahre alt, als sie auf dem Bauernhof, wo sie aufwächst, zum letzten Mal von ihrer Mutter besucht wird. Ausgestoßen aus der Familie, schwört sie, Rache zu nehmen. Ihre Begabung für Mathematik und die Naturwissenschaften weist ihrem Zorn den Weg: Sie will ihren Vater auf seinem ureigenen Feld besiegen und vor ihm den Schlüssel zu den Geheimnissen des Universums entdecken. Lieserl nimmt Privatunterricht bei Maja Freisler. Bald treibt der Erste Weltkrieg Lieserl und ihre Lehrerin quer durch Deutschland. Trotz der Wirren der Zeit gelingt es Lieserl, sich immer tiefer in die Welt der Zahlen und Gleichungen zu versenken… Die Jahre ziehen dahin. Lieserl verfolgt mit Argusaugen das Wirken ihres Vaters. Sie liest sämtliche seiner physikalischen Artikel und forscht am Max-PlanckInstitut in Berlin. Da bricht der Zweite Weltkrieg mit all seinen Greueltaten über Lieserl und Maja herein. Sie müssen fliehen; quer durch Europa und bis nach Amerika. Hier, in Los Alamos, soll der größte Triumph der Wissenschaft auch Lieserls persönlicher Sieg über den Vater werden. Doch die Schönheit der Gleichungen verwandelt sich in den größten Schrecken der Menschheit – die Atombombe. Anna McGrail ist etwas Außergewöhnliches gelungen: Sie hat nicht nur der Geschichte unseres Jahrhunderts Leben eingehaucht, sie hat auch die großen Ideen, die dieses Jahrhundert geprägt haben – Relativitätstheorie, Quantenphysik, Kernspaltung –, zum Sprechen gebracht. Anna McGrail ist in Liverpool geboren und aufgewachsen. Sie arbeitete für die BBC. Schon für ihre ersten Prosatexte, Kurzgeschichten, erhielt sie
verschiedene Auszeichnungen. Als 1988 Einsteins Briefe an Mileva zum ersten Mal in der Öffentlichkeit bekannt wurden, begann sie mit der Arbeit an Fräulein Einsteins Universum, ihrem zweiten Roman. Anna McGrail lebt heute mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Brighton.
Für meine Mutter und meinen Vater
Der Anfang
Die Gesetze der Naturwissenschaft unterscheiden nicht zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Was geschehen ist, was möglicherweise geschehen wird und was hätte geschehen können, macht keinen Unterschied. In der Zeit ist alles möglich. Aber alle Geschichten haben einen Anfang. Hier ist also der Anfang. In einem dunklen, dunklen Wald stand ein dunkles, dunkles Haus, und in diesem dunklen, dunklen Haus war ein dunkles, dunkles Zimmer, und in diesem dunklen, dunklen Zimmer war eine dunkle, dunkle Tochter. Lieserl.
1 Der Hof
4. Juni 1910 Jeden Morgen das langgezogene, leise Muhen der Kühe, die Schreie der Störche über dem Fluß. Draußen im Hof das Geklapper der Milchkannen. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, kam Desanka mit der kuhwarmen Milch herein, noch bevor der Frühdunst sich geklärt hatte. Ich öffnete die Augen. Heute war es anders. Es war noch dunkel, und auf dem Hof war es ruhig. Der Geruch nach Essen hatte mich aufgeweckt. Desanka briet Kartoffeln mit Zwiebeln und Speck in einer schweren eisernen Pfanne auf dem Herd. »Machst du Frühstück?« Ich schlief in einer Ecke der Küche, in einer Nische zwischen der Außenmauer und der Feuerstelle, so daß mich in Winternächten, wenn der Schnee hüfthoch lag, die heruntergebrannten Kohlen wärmten. Im Sommer hatte ich es kühl durch den Luftzug von draußen. Also mußte ich mich gar nicht bewegen, um die Frage zu stellen, sondern brauchte sie nur aus dem Schutz meiner Decke hinauszuschreien. Ich schrie nicht nur, weil Desanka ein bißchen taub war, sondern auch, weil ich dachte, ich träumte vielleicht noch und meine laute Frage würde mich aufwecken. Daß ich dachte, ich träumte vielleicht noch, lag daran, daß ich oft von einem warmen Frühstück träumte. Wenn ich die Geschichten erzählt hätte, die ich manchmal von Desanka hörte, von Prinzessinnen im Lande Phantasia, in hochgelegenen Schlössern, hätte ich diesen verwöhnten
Prinzessinnen täglich ein Frühstück mit Speck, Eiern, Zwiebeln und warmen Kartoffeln zugestanden. Ein Paradies. Auf dem Hof gab es Maisbrot und manchmal Butter, bevor der Tag anfing, und Butter auch nur, wenn ich besonders artig gewesen war. Desanka, die sich emsig am Herd zu schaffen machte, gab keine Antwort. Ich wischte mir den Schlaf aus den Augenwinkeln und schrie noch einmal. Allerdings nicht zu laut, weil ich wußte, daß Prinzessinnen das nicht taten. Und angesichts der ganzen Kocherei dachte ich, daß ich womöglich auf dem besten Weg war, adlig zu werden, wenn nicht sogar eine Prinzessin. Schließlich war es in den Geschichten immer das am meisten benachteiligte Kind, das sich am Ende als die wahre Prinzessin erwies. Desanka zog es vor, nicht zu antworten. Ich wußte, daß sie mich gehört hatte, weil sie mir mit einer Kopfbewegung bedeutete, mein warmes Bett in der gemütlichen Küchenecke zu verlassen und mich auf meine morgendliche Runde zu machen. Mittlerweile klapperte sie schwungvoll mit den Eisentöpfen, und außer dem nach Zwiebeln und Kartoffeln gab es noch andere Gerüche, andere Töpfe, andere Aufgaben, um die sie sich kümmern mußte, nicht nur um mich. Heute hatte Desanka keine Zeit für mich. Ich stand auf, schüttelte meinen Rock aus und ging hinaus, um Wasser und Eier zu holen. Als ich zurückkam, zitternd, weil der Frühdunst noch weiß über dem Hof lag und es dort in der Dunkelheit vor Sonnenaufgang noch kalt war, beschäftigte Desanka sich gerade mit der Zwiebelsuppe. Sie ließ langsam einen Klumpen Butter in einen Topf gleiten und sah zu, wie sie weiß wurde und Blasen warf. In der Waschschüssel auf dem Tisch lag eine Forelle, die Milos gestern im Fluß gefangen hatte. Ich wußte, wie Desanka Forellen am liebsten zubereitete: mit Dillsauce
und Gurkensalat. Ich stellte den Wassereimer mit einem lauten Knall auf den Fußboden. »Desanka…« Irgend etwas stimmte hier nicht. Schließlich war doch nicht Kaisers Geburtstag. »Hol mir drei Zwiebeln.« »Desanka…« »Nun mach schon.« Ich gab auf, stellte den Korb mit den Eiern auf den Tisch und ging wieder nach draußen. Desanka hatte lange Ketten von Zwiebeln und Knoblauch vors Fenster gehängt, und sie waren mit rotem Staub bedeckt. Auf dem nächsten Hof gab es zwei Schwestern, Helena, älter als ich, und Sylvja, die jünger war. Sie sagten Abzählverse auf, wenn wir auf der flachen Stelle in ihrem Hof seilsprangen und dabei roten Staub aufwirbelten: Ene mene muh, raus bist du, raus bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist. Ich blies die roten Staubpartikel von den Zwiebeln. Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet, und ich konnte mir vorstellen, daß es irgendwann einen Riesensturm geben würde. Wie immer würden von Westen die Wolken herandräuen, die Hühner würden sich zusammenkauern und sich gegenseitig picken, und die Störche am Fluß würden still werden. Ich zog drei Zwiebeln aus dem Zopf und starrte über das Feld. Die Ebene erstreckte sich endlos. Ich hatte manchmal mit Desanka hinten auf dem Wagen gesessen und wußte, daß die Felder, grün im Sommer und weiß im Winter, immer und immer weiter gingen. Zwischendurch einmal ein Bauernhaus. Eine Kirche. Und das war es schon. Es gab keinen Grund, anzunehmen, daß es irgendwo auf der Welt anders aussah. Allerdings mußte es irgendwo anders aussehen. Das wußte ich aus Desankas Geschichten. Mitten zwischen den wahren Berichten über Prinzessinnen, die die ganze Nacht durchtanzten, verkleidete Königssöhne, Hexen, Kobolde und
Kinder, die in den Wäldern verlorengingen, gab es auch Geschichten über elegante Häuser, große Dinnerpartys und ein Bauernhaus, das auf Desankas Namen eingetragen war, so daß ihr Bruder Ferdi es nicht verkaufen konnte, um seine Spielschulden zu bezahlen. Manchmal gab es auch dunklere Geschichten darüber, daß solche Vorsichtsmaßnahmen Zeitverschwendung gewesen waren, weil Ferdi sich zu Tode getrunken und das Vermögen der Familie durchgebracht hatte – Desankas Mitgift für den Tag, an dem sie Braut werden würde. Das waren Geschichten, die mich glauben ließen, was auch Desanka offensichtlich glaubte: daß uns eines Tages wieder ein rechtmäßiges Erbe zufallen würde. Die Sonne ging auf. Ich stellte mir vor, wie Ferdi im hellen Morgen seinem Tod entgegentaumelte und dabei mit Goldmünzen um sich warf.
»Morgen.« Helena hatte Walderdbeeren gesammelt. Sie mußte früh aufgestanden sein, um zum See und zum Fluß hinunterzugehen, wo die Weiden ihre langen Äste in das einzige kühle Wasser im ganzen Umkreis tauchten. Selbst im Sommer war es so dunkel und kalt, daß es einem den Atem verschlug, wenn man hineinsprang. Dort unten wuchsen die frühesten Beeren. Der Korb mit den roten Früchten hing schwer an Helenas Arm, und sie stellte ihn seufzend ab. »Was tust du hier?« fragte ich überrascht. »Desanka hat meine Mutter darum gebeten. Sie bezahlt auch dafür. Für euren Besuch.« Ich ging in die Küche und reichte Desanka die Zwiebeln. »Wer kommt denn?« Desanka räumte eilig mein Bettzeug neben dem Kamin weg und streute angefeuchtete Teeblätter auf die Bodenfliesen.
Desanka hätte gern Radio gehört, wenn wir eines gehabt hätten. Sie hätte sich morgens gern im Rhythmus von Tanzmusik gewiegt. Big-Band-Musik. Viele Posaunen. Und an den Abenden, wenn sie Zeit hatte, las sie Liebesromane. Wenn sie nicht zuviel stopfen mußte. So aber mußte sie eben die Melodie, die sie im Kopf hatte, selbst vor sich hinsummen. »Kehr sie zusammen«, sagte sie zu mir, nahm die Zwiebeln und wies auf die Teeblätter. »Helena…« Helena kam herein und zog ihren Korb hinter sich her. »Helena, putz die Beeren.« »Mutter hat gesagt, ich soll gegen Mittag wieder zu Hause sein.« »Dann hast du noch viel Zeit.« Helena nahm sich eine Schüssel von einem hohen Regal, setzte sich auf den Boden und fing an.
Desanka erlaubte mir nie, sie Mutter zu nennen, und so war ich der einzige Mensch, den ich kannte, der keine Mutter hatte. Millie Lanic, die einmal in meiner Klasse gewesen war, hatte eine Mutter gehabt und jetzt keine mehr, weil sie auf dem Friedhof begraben war. Zuerst hatte ich deshalb viel Mitleid mit Millie, später beneidete ich sie. Aber man stelle sich vor, es wurde dann ganz schlimm, weil sie sich um die kleineren Kinder – zwei Schwestern und ein kränkelnder Bruder, der am Tod seiner Mutter im Kindbett schuld gewesen war – so sehr kümmern mußte, daß sie nicht mehr in die Schule kam. Ich vermißte sie. Sie hatte fast so gut lesen können wie ich, und in den Pausen konnte sie das Seil sehr hoch schwingen. Es hatte mich und auch Desanka überrascht, daß ich lesen gelernt hatte, denn das war damals durchaus nicht üblich. Nachdem ich es konnte, wollte Desanka mich von der MehanovicsSchule nehmen, weil sie der Meinung war, ich könnte auf dem vor Ferdi geretteten Erbe nützlichere Arbeit leisten, auch wenn
ich erst sieben Jahre alt war. Aber ich hatte mich dagegen gewehrt, vor allem, weil ich das Rechnen so sehr vermissen würde. Ich war fast Klassenbeste im Rechnen, und es war das einzige Mal in meinem Leben, daß ich das Gefühl hatte, etwas halbwegs richtig gemacht zu haben. Obwohl ich ansonsten nicht sehr gern in die Schule ging, begriff sogar ich, daß es besser war, in einem Zimmer zu sitzen und die Namen der österreichischen Kaiser aufzusagen, als den ganzen Tag zu putzen und sauberzumachen wie Millie Lanic. Anders als die arme Millie Lanic wußte ich jedoch, daß ich irgendwo auf der Welt eine Mutter hatte, und auch einen Vater, wie Desanka mir von Anfang an deutlich gemacht hatte, obwohl sie über beide erstaunlich wenig Worte verlor. So hatte ich mir vorgestellt, daß es nur eine Frage der Zeit war, bevor sie kamen, um mich zu holen. Desanka hatte nichts dergleichen gesagt, aber mir schien es das einzig Logische. Warum sonst sollte sie sie erwähnen? Wenn sie nicht eines Tages zurückkämen, warum durfte ich dann nicht Desanka Mama nennen, wie alle anderen? Manchmal fragte ich mich, was für eine Katastrophe mich wohl von meinen Eltern getrennt hatte. Erdbeben, Feuer, Überschwemmungen, alles war möglich. Aber obwohl ich im Laufe der Zeit all das in fragendem Ton vorgebracht hatte, sagte Desanka nichts. Als ich sie wieder einmal bedrängte, mir irgend etwas über sie zu erzählen, Klatsch, Informationen, jede Kleinigkeit, mit der ich mir ein Bild machen konnte, hatte Desanka, die mitten in der Ernte war, die geschäftigste Zeit im Jahr, lange genug innegehalten, um zu sagen: »Dein Vater ist technischer Offizier auf dem Patentamt in Bern.« »Oh.« Sie wußte, daß mir das die Sprache verschlagen würde.
Mittags gab es Eierklöße, gefüllte Paprikaschoten, geräucherte Würste und Gewürzkuchen, Forelle mit Dill und Gurkensalat und Erdbeerpfannkuchen, die unter einem Mulltuch auf dem hölzernen Küchentisch lagen. Desanka, Helena und ich hatten nur ungefähr zehn Minuten Pause gemacht, um die Kartoffeln und den Speck zu essen, die Desanka für uns zum Frühstück gebraten hatte, aber abgesehen von dieser Unterbrechung hatten wir den ganzen Morgen durchgearbeitet. Auf dem Feuer simmerte die Zwiebelsuppe. Die pikante weiße Brühe roch allein schon köstlich und wartete nur darauf, in die frisch ausgewaschenen Keramikschüsseln gefüllt zu werden, als großartiger Auftakt zu Desankas Bankett. Ich fand, daß wir jetzt endlich das Recht hatten, zu wissen, zu wessen Ehren Helena und ich den ganzen Morgen gearbeitet hatten. »Für eine Freundin.« Desanka schniefte und sagte dann: »Eine Freundin von einem Freund. Wasch dir die Hände, Helena, bevor du nach Hause gehst.« Helena setzte ihre Haube auf und steckte die Münze ein, die Desanka ihr reichte. Bevor sie in der Mittagshitze nach Hause ging, lächelte sie mich breit an, eine Aufforderung, sofort zu ihr zu kommen und ihr alle Einzelheiten über den geheimnisvollen Besuch zu erzählen, wenn dieser wieder weg war. Ich zog eine zustimmende Grimasse. Als Helena gegangen war, wurde ich zu der Pumpe im Hof gebracht und gewaschen, geschrubbt und gekämmt. Dann saß ich, in ein Handtuch gewickelt, in der Küche, während Desanka mit einem heißen Eisen Baumwolle bügelte. »Was ist das?« fragte ich Desanka. Selbst ich konnte erkennen, daß das Kleidungsstück in ihrer Hand eher praktisch als dekorativ war, nicht die Art von Kleid, das eine Prinzessin tragen würde, obwohl der Stoff beträchtlich feiner war als der meiner anderen Kleider.
»Millie Lanics altes Sonntagskleid.« Alles, was ich an diesem Tag trug, war weiß und gestärkt und über die Maßen steif. Auf der Naht am Rücken war ein winziger brauner Fleck, wo Desanka das Eisen überhitzt hatte, und sie fluchte. »Achte darauf, daß du niemandem den Rücken zuwendest«, sagte sie, als sie mir das Kleid über den Kopf zog, »dann merkt es keiner.« Sie band mir hinten eine große runde Schleife. »Setz dich hierhin«, sagte Desanka und schickte mich auf die Holzbank am Tisch, »und rühr dich nicht. Ich gehe mich jetzt auch waschen.« Die Tür schlug zu. Sobald sie außer Sichtweite war, begann mein Körper natürlich doch an allen Gliedmaßen und an seinen geheimen Stellen auf seltsame Weise zu zucken: an den Nasenlöchern, im Nacken, in den Tiefen meiner Armhöhlen. Aber ich blieb auf der Holzbank sitzen und rührte mich nicht. Ich traute mich noch nicht einmal, mich an der am schlimmsten juckenden Stelle zu kratzen. Ich ertrug mein Leiden stoisch, weswegen, wußte ich allerdings nicht… abgesehen von Desankas Wutanfällen, wenn ich ihren Anweisungen nicht gehorchte, und einem dumpfen Gefühl, daß etwas so Wichtiges geschehen würde, daß ich es nicht wagte, eine Katastrophe heraufzubeschwören. Der Gewürzkuchen war schon auf einer Platte angerichtet, und obwohl ich Hunger hatte, traute ich mich nicht, Desankas sorgfältig arrangierte Stücke anzufassen. Also saß ich einfach da und wartete, bis Desanka wieder hereinkam und sich eine frische Schürze umband, die letzten Dillspitzen über die Forelle streute, eine letzte Prise Salz in die Suppe gab und sich dann auch neben mich auf die Bank setzte, mit ihrem Kopftuch auf dem Kopf, und ebenfalls wartete.
Ich stellte mir vor, daß das Berner Patentamt Türmchen hatte. Zinnen. Türme mit Zinnen. Eine Zugbrücke möglicherweise und einen Graben. Mein Vater, einer der Patentoffiziere, hatte die Kavallerie unter sich. Admiralspatente vielleicht, und jeden Morgen reihte er alle Patente vor sich auf, um die Orden und Verdienste zu inspizieren. Meine Mutter… Desanka war, was sie betraf, ein wenig ungenau gewesen, also konnte ich sie mir nur in einem weißen, fließenden Kleid vorstellen, wie sie in ein Taschentuch seufzte und das Feuer, das Erdbeben oder die Überschwemmung beklagte, die ihnen ihre echte Tochter, die Prinzessin, genommen hatte. Ich freute mich auf den Tag, an dem ich im Berner Patentamt wohnen würde, nicht mehr zur Schule zu gehen brauchte, weiße Kleider tragen und jeden Morgen Speck zum Frühstück essen würde.
Am frühen Nachmittag, als jeder Zentimeter meines Körpers genug gezuckt hatte, als die Holzbank am härtesten war und der pfeffrige Duft des weißen Oleanders am intensivsten, hörten wir, daß sich Pferdegetrappel näherte. »Komm«, sagte Desanka, als die Räder auf dem Weg quietschten. Sie rührte die Suppe ein letztes Mal um, dann hob sie mich von der Bank und nahm mich an der Hand. Wir traten nach draußen, in die heiße Sonne, in den roten Staub. Eine Kutsche tauchte unter dem Torbogen auf. Darin saß eine schwarzgekleidete Dame mit einem Sonnenschirm und einem Berg von Schachteln. Desanka und ich warteten wie gute Bauern darauf, daß uns die Dame zuerst grüßte, überhaupt Notiz von uns nahm, denn bis jetzt hatte sie noch nicht einmal in unsere Richtung gesehen. Sie trug ihren Kopf sehr hoch. Eine königliche Haltung. Die Kutsche blieb stehen, und endlich wandte sie sich uns zu und lächelte. »Soll ich einen Knicks machen?« flüsterte ich Desanka zu.
»Serben knicksen nicht«, sagte Desanka, also tat ich es nicht. Als die Dame jedoch aus der Kutsche stieg, lenkte Desanka ein bißchen ein. »Könnte allerdings sein, daß sie küssen.« Ich wollte gerade noch einmal nachfragen, als die Fremde aus der Kutsche sich zu mir niederbeugte und ihre Arme um mich legte, und ich ganz eingehüllt wurde in eine Wolke von dunklem Haar, feiner Stickerei und Batist. »Lieserl…« Ich war noch nie zuvor an einen Busen gedrückt worden, es gab jedoch keinen Zweifel, daß das gerade passierte. Ich stotterte irgendwas und küßte nur Stickerei, fühlte aber eine kühle Wange an meiner. Ich war so aufgeregt, daß ich dachte, meine Füße müßten sich vom Boden lösen und ich müßte in die Höhe schweben. Wieso hatte ich nicht eher gemerkt, was hier vor sich ging? Das war nicht die Königin, sie trug keine Krone. Sie mußte eine königliche Botschafterin sein, die mit der Nachricht über eine rechtmäßige Erbschaft aus der technischen Abteilung des Berner Patentamtes kam. Das Aschenputtel wurde nach Hause geholt. Warum sonst hatte Desanka sich solche Mühe gegeben? Gestärktes Kleid oder nicht, ich wurde endlich zu einer Prinzessin. »Lieserl…« Ein Schwall fremder Laute ging auf mich nieder. Ich trat zurück und blickte die dunkle Fremde verständnislos an. Nicht feindselig, ganz gewiß nicht, denn bisher hatte sie noch nichts getan, um meine Feindseligkeit zu wecken, aber doch mißtrauisch. Und außerdem, abgesehen davon, daß ich sie nicht verstand, hatte sie auch keine königliche Proklamation bei sich. »Lieserl…« Ich schüttelte den Kopf und trat noch weiter zurück. Hier stimmte etwas nicht. War die Königin unterwegs? Wo war der Patentoffizier?
»Sie kennt dich nicht, Mileva«, sagte Desanka und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Woher auch? Laß ihr Zeit.« Die Fremde nickte und wandte nun ihre volle Aufmerksamkeit Desanka zu. »Du hast recht.« Jetzt konnte ich sie verstehen, weil sie eine Sprache sprach, die ich kannte. Sie ergriff Desankas Hand, und die beiden Frauen umarmten sich, als wären sie alte Freundinnen. Desanka war vollkommen unbeeindruckt von der königlichen Haltung und dem Sonnenschirm. »Komm her, ich habe dir etwas mitgebracht.« Und ohne einen weiteren Blick auf mich zu werfen zog sie Desanka in den magischen Zirkel, den ihre magische Kutsche schuf, und begann, Geschenke auszuladen. Ich beobachtete sie und war mir nicht ganz sicher, ob ich jemals wieder Beachtung finden würde. Ich prägte mir jedes Detail ein. Jetzt, wo ich sie richtig sehen konnte, stellte ich fest, daß unsere Besucherin groß und stark war. Sie hatte ausgeprägte Wangenknochen und grobknochige Hände, dunkle Augen in einem großflächigen Gesicht mit einer breiten Stirn und einer Flut von schwarzen Haaren, die nur unvollkommen von zahlreichen Nadeln in ihrem Nacken gebändigt wurden. Sie war nicht das, was man auf den ersten Blick schön nennen würde, aber sie war attraktiv. Dunkle Augenbrauen und eine gerade Nase. Zuerst fand ich, es sei etwas Hartes in ihrem Ausdruck, aber das stimmte gar nicht. Als ich sie länger beobachtete, stellte ich fest, daß sie sich nur den Anschein gab und wollte, daß es jeder zur Kenntnis nahm. Und das will schließlich nicht jeder, der sich den Anschein gibt. Allerdings wurde ich davon abgelenkt, das besondere Aussehen der Fremden weiter in mich aufzunehmen, weil meine Augen genau wie Desankas auf ihren Bauch fielen. Er wurde sichtbar, als sie ihren Mantel auszog und sich vorbeugte, um eine kleine,
in Silberpapier eingewickelte Schachtel von dem Berg der Pakete zu nehmen. »Siebter Monat«, flüsterte Desanka mir zu, während wir lächelnd auf das angekündigte Geschenk warteten, »wenn es in der Zeit ist.« Ich wußte, was sie meinte, schließlich wuchs ich mit Kühen auf. »Schokolade«, sagte die Fremde und reichte mir die Schachtel. Ich senkte den Kopf. Da ich nicht knicksen durfte, wußte ich nicht, was ich sonst tun sollte. Es kam mir nicht in den Sinn, zu lächeln. »Kleine Mädchen mögen doch Schokolade, oder?« Sie blickte mich ermunternd an. Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte noch nie zuvor Schokolade gegessen. »Wir haben sie im Schatten aufbewahrt und auf Eis gelegt, damit sie nicht schmilzt…« Die Frau winkte ab, als sei die Schokolade nicht wichtig. Ich hielt die Silberschachtel fest in der Hand, halb verborgen hinter meinem Rock. Ich malte mir die Schätze aus, die sie enthielt, und hoffte, daß Desanka sie vergessen würde und ich sie später am Abend im geheimen, ganz für mich allein, öffnen könnte, dieses Geschenk aus dem Palast, den zinnenbewehrten Türmen des Berner Patentamtes. Desanka vergaß sie. Sie wurde selbst mit Schätzen überschüttet. Außer der Schokolade zog unser Gast Schweizer Käse und Obst unter dem Kutschensitz hervor, deutsche Würste, italienisches Weizenmehl und eine Schinkenseite. Es gab Brot und einen Korb mit Treibhauspflaumen und einige Bücher mit farbigen Zeichnungen und unverständlicher Sprache – ich kannte alle Buchstaben, aber keins der Wörter. Und sie brachte auch einen kleinen, hellhaarigen Jungen mit, ungefähr fünf oder sechs Jahre alt, der erst sichtbar wurde, als
sie glücklich die letzte Schachtel überreicht hatte. Er saß wie eine Statue in der hintersten Ecke der Kutsche. Obwohl ich die Schokolade in der Silberschachtel bis jetzt noch nicht gesehen hatte und mir ein Urteil noch aufsparen mußte, hielt ich den Jungen für das Seltsamste, was mir bisher in meinem Leben untergekommen war. Alle, die Desanka und ich kannten, hatten fast schwarze Haare. Das Haar des Jungen jedoch war von einer Farbe, die mir weiß vorkam, obwohl Desanka mir später sagte, daß die richtige Bezeichnung »blond« war. Ich hielt ihn einfach für krank. Besorgt beobachtete ich, wie er aufstand und zögernd den ersten Schritt tat. »Das ist«, die Frau warf mir einen verstohlenen Blick zu, um zu sehen, wie ich reagierte, »Hans Albert. Mein Sohn.« »Guten Tag«, sagte der Junge höflich und streckte seine Hand aus. Die Augen der beiden Frauen leuchteten zustimmend auf. Das war ein Junge mit Manieren. Ein kleiner Prinz. »Szervusz, Hans Albert.« Desanka ergriff ernst die ausgestreckte Hand. Ich verbeugte mich, trotz eines finsteren Blicks von Desanka. »Wir sollten nicht länger hier in der Sonne stehenbleiben«, sagte Desanka. »Wo habe ich nur meinen Kopf? Mileva und Hans Albert, kommt doch bitte herein.« Geschäftig sammelte sie die Pakete ein. »Kommt herein. Kommt herein, bitte.« Sie scheuchte uns Menschen, den Käse, den Schinken, die Pflaumen und das Mehl aus der Hitze in die niedrige Küche. Ich riß die Augen auf: »Bitte« war ein Wort, von dem ich gar nicht wußte, daß Desanka es kannte. In der Küche war es trotz der Kocherei kühler. »Setzt euch. Setzt euch doch.« Desanka wedelte mit den Händen. Sie war ganz die Gastgeberin. Unser Gast, stellte ich fest, als ich sie beobachtete, wie sie über den gewischten Fußboden ging,
hinkte leicht. Sie war also auch nicht gesund. Was wollten alle diese Invaliden in unserer Küche? Die Besucherin setzte sich auf den Holzstuhl, den Desanka ihr zurechtrückte. Der kleine Junge setzte sich auf ihren Schoß, was in meinen Augen sein Kranksein bestätigte. Im allgemeinen Aufruhr versteckte ich die Schachtel mit der Schokolade hinter einer Kiste mit Kirschbaumfeuerholz, in der Nische, in der später mein Bett aufgeschlagen werden würde. Dann setzte ich mich auf meinen gewohnten Platz auf der Bank, obwohl Desanka mich in die Einladung nicht einbezogen hatte. »Wein«, sagte Desanka. Es war keine Frage. Der kleine Junge und ich blickten die Fremde erwartungsvoll an, und wir begannen, ihre Antwort durch eifriges Nicken unserer Köpfe schon vorwegzunehmen. »Ich glaube nicht…« Die Fremde winkte mit ihrem spitzenverzierten Arm ab, aber Desanka war stärker. Desankas Gastfreundschaft würde sich nicht von höflichen Nettigkeiten durchkreuzen lassen. Früh am Morgen hatte ich bereits mit einem Mullappen das Kristall aus Budapest auf Hochglanz poliert, die wenigen Gläser, die Desanka von den dunklen Balken ganz oben heruntergeholt hatte, wo sie vor unserem Zugriff sicher waren. Und ganz gleich, ob Wein jetzt das richtige Getränk war oder nicht, Desanka bot ihn auf jeden Fall an, damit sie das glänzende Kristall vorzeigen konnte. Desanka schenkte kalten Rotwein aus und hob ihr Glas. Es funkelte in den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen. »Mileva«, sagte sie, »wir freuen uns, daß du hier bist.« Die Frau nahm zögernd einen Schluck, wobei sie gar nicht feierlich wirkte, und danach rührte sie ihr Glas kaum noch an. Statt dessen wollte sie Tee, und Desanka stellte den Wasserkessel auf. Das ganze Essen über, bei den Eierklößen und den gefüllten Paprikaschoten, den geräucherten Würsten
und dem Gewürzkuchen, der Forelle und den Erdbeerpfannkuchen, leuchtete das Budapester Weinglas rot auf dem Tisch. Die Frau trank ihren Tee, aß ein bißchen Zwiebelsuppe und ein wenig von der Forelle und erklärte dann, sie sei satt. In ihrer empfindlichen Verfassung, sagte sie, dürfe sie ihren Magen nicht zu sehr belasten. Prinz Hans Albert und ich aßen von allem etwas. Vor allem von den Pfannkuchen und einer Art Zitronencreme, die aus der Kutsche gekommen war. Seine Gesundheit war offenbar doch robuster, als ich ihm zugetraut hatte. Während wir aßen, unterhielten sich die beiden Frauen die meiste Zeit über die Ernte und das Heumachen und ob es wohl Krieg geben würde, obwohl ich nicht wußte, wo und warum das geschehen sollte. Sie redeten von kalten Bergen und weit entfernten Orten und dann plötzlich… »All das Essen…« sagte die Fremde und wies auf den Tisch. »Es erinnert mich an zu Hause.« Und einen Augenblick lang dachte ich, sie würde in Tränen ausbrechen. »Mileva«, sagte Desanka, aber die Frau achtete gar nicht auf sie, schob ihren Teller beiseite und sagte etwas in der gleichen Sprache zu mir, die sie schon vorher benutzt hatte, die Sprache, die auch Hans Albert gesprochen hatte, und ich starrte sie an. Desanka sagte: »Warum versuchst du es immer wieder, Mileva? Du weißt doch, daß sie nur Ungarisch spricht.« »Ungarisch«, erwiderte die Frau. Sie rollte die Vokale auf ihrer Zunge, als ob sie Rübenschnitzel wären, die sie aushustete. »Das Mädchen muß Deutsch lernen, Desanka.« Desanka schnitt sich heftiger, als ich es je für möglich gehalten hätte, ein Stück Apfel ab. »Deutsch.« Sie spuckte das Wort förmlich aus. »Was ist schlecht an gutem Ungarisch?«
Unser Gast ließ sich nicht beirren. »Deutschstunden. Die Muttersprache. Die Sprache des Reiches. Wir wollen doch nicht, daß sie dumm aufwächst, oder?« Desanka rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Ich überlegte, ob der Gast wohl nach der Mehanovics-Schule fragen würde, und öffnete schon den Mund, um ihr über meine Vorliebe fürs Rechnen zu erzählen, als sie sagte: »Wir werden natürlich den Unterricht bezahlen.« Desanka legte den Apfel weg, ersparte ihm weitere Heftigkeiten. »Bezahlen? Ja?« »Einmal in der Woche. Zweimal in der Woche. Das Mädchen muß doch mit seiner Mutter reden können. Nicht wahr, Lieserl?« »Sie redet jetzt schon gut genug…« Desanka wandte den Kopf ab und beendete den Satz nicht. Die Eröffnung, daß es irgendwo eine Mutter, meine Mutter, gab, stand leuchtend im Raum. Eine Mutter in einem weißen Kleid, die eine Sprache sprach, die ich nicht verstehen konnte. »In unserer Familie«, sagte die Frau, »sprechen wir jetzt Deutsch.« Der Gedanke an meine Mutter ließ mich nicht los. Wie sollte ich mit ihr reden, wenn sie kein Ungarisch sprach? »Und später Klavierstunden. Ja.« Mileva geriet in Eifer. Sie wandte sich zu mir. »Ich habe Klavier gespielt. Ich spiele immer noch. Dein Vater spielt Geige. Er ist mit fünf in die Volksschule gekommen und hat mit sechs mit Musikstunden angefangen. Musik liegt euch wohl im Blut. Du mußt jetzt…« Sie zögerte. »Sie ist acht«, sagte Desanka. »Acht«, wiederholte die Frau. »Du könntest Geige spielen.« Ich war entzückt. Ich hatte nicht nur eine Mutter, die fremde Sprachen sprach, ich hatte auch einen Vater, der Geige spielte. Geige, die ich vielleicht eines Tages auch spielen würde.
Zuerst jedoch wollte ich die Fakten klarstellen. »Habe ich wirklich einen Papa?« »Ja.« Mileva nickte. »Natürlich.« »Ist er immer noch technischer Offizier im Berner Patentamt?« Die Frau lachte und wandte sich an Desanka. »Du hast sie nicht auf dem laufenden gehalten.« Desanka zuckte mit den Schultern. »Aber vielleicht habe ich es ja auch nicht geschrieben… Dein Vater«, sagte sie zu mir, »ist Professor in Zürich.« Anscheinend bemerkte sie meine Verwirrung. »Ein Professor ist so etwas wie ein Lehrer.« Ich war schwer enttäuscht. Der einzige Lehrer, den ich kannte, war Frau Mehanovics, und sie war nicht besonders aufregend. »Unterrichtet er Rechnen?« »Gewissermaßen. Physik. Sein Fach ist die Physik. Er hat Schriften veröffentlicht, in den Annalen der Physik. Zum Beispiel eine über die Natur des Lichts.« Die Natur des Lichts? Licht war einfach nur Licht, und mehr konnte man wohl kaum darüber sagen. »Und jetzt arbeitet er über die Schwerkraft.« Sie sah mir an, daß ich ihr nicht folgen konnte. Physik. Schwerkraft. Die Natur des Lichts. Lauter Dinge, die ich nicht kannte und die ihr ganz selbstverständlich waren. Kein Wunder, daß sie sich Sorgen darüber machte, daß ich dumm aufwuchs. »Schwerkraft«, sagte ich zu ihr, in der Hoffnung, weitere Informationen zu bekommen. »Schwerkraft«, erwiderte sie, »ist der Schlüssel zu allem. In der Theorie. Sehr komplizierte Theorien. Das macht dein Vater. Er schreibt alle seine Ideen auf Zettel.« Ich schwieg einen Augenblick lang, um mir das Bild des Patentoffiziers ins Gedächtnis zu rufen, der seine unzähligen Patente inspizierte, und versuchte, es durch das Bild meines Vaters zu ersetzen, der seine Tage damit zubrachte, äußerst
lange und komplizierte Summen auf Zettel zu schreiben. Als Bild war es vorstellbar, aber es entbehrte des Glanzes, den ich immer mit ihm verbunden hatte. Es war jedoch noch nicht alles verloren. Die Rolle meiner Mutter war noch nicht ganz klar. »Und meine Mutter?« fragte ich. »Meine Mutter auch? Schreibt sie auch Ideen auf?« »Nein, meine Süße. Deine Mutter erledigt nur die Rechenarbeiten für deinen Vater. Er hält sie für zu ungebildet, um mehr zu tun.« »Ich bin gut im Rechnen«, sagte ich. Ich dachte an die Vormittage bei den Mehanovics’, als die anderen Kinder Zahlenreihen auf ihre Schiefertafeln kratzten, sie zusammenrechneten und kleine Zahlen daneben schrieben, Verfahren, die ich nie nötig gehabt hatte. Ich brauchte die Zahlen nur anzusehen und wußte schon die richtige Antwort. Einfach nur durchs Ansehen. Frau Mehanovics lobte mich dafür, aber es war seltsam, für etwas gelobt zu werden, das mich überhaupt keine Mühe kostete, gar keine Mühe, und ich vertrieb mir die Zeit, die die anderen brauchten, um fertig zu werden, indem ich die Staubteilchen beobachtete, die in den Sonnenstrahlen tanzten, die durch das hohe Fenster am Ende des Raumes drangen. »Ich kann ganz schnell rechnen«, sagte ich. »Deine Mutter auch«, erwiderte Mileva. »Wann kommt sie zu mir?« Mileva blickte mich an und sah dann weg. »Wird sie kommen, wenn ich Deutsch spreche?« Desanka warf mir einen finsteren Blick zu. »Wenn ich Geige spiele?« Desanka stand auf und begann, den Tisch abzuräumen. »Warum geht ihr beide nicht ein bißchen nach draußen?« »Vielleicht, wenn ich Klassenbeste im Rechnen werde?« Ich versuchte, den letzten Trumpf auszuspielen.
Hans Albert rutschte vom Schoß seiner Mutter. Wir gingen. Ich schlängelte mich seitwärts hinaus, damit niemand den Brandfleck auf der Rückennaht meines Kleides sah. Wir gingen hinaus, weil wir Kinder waren. Wir wußten, wann wir nicht erwünscht waren, und wir hielten uns daran.
Die Sonne stand hoch, und nur hinter dem Schuppen gab es Schatten. Der kleine Junge wirkte sehr verloren und sehr gelangweilt. Er sah aus wie jemand, der wußte, daß er nur deshalb auf eine lange Reise mitgenommen worden war, um etwas zu beweisen. Er trug einen blauen Anzug, der genauso gestärkt war wie mein Kleid, und ein übernatürlich weißes Hemd. Seine Haare leuchteten in der Sonne. »Was stimmt mit dir nicht?« fragte ich in der Hoffnung, dem Geheimnis seiner Haare auf die Spur zu kommen. Hatte er einen Unfall gehabt? War er schon so auf die Welt gekommen? Aber er blickte mich nur verständnislos an. Ich stellte zum ersten Mal fest, daß nicht jeder auf der Welt alles verstand, was ich sagte. Ich beschloß, geduldig zu sein. Ich nahm auch an, daß er vielleicht empfindlich auf das Thema reagierte, da er ja krank war, und änderte deshalb meine Taktik. »Wir haben dort hinten ein Kaninchen im Stall«, sagte ich. »Komm mit.« Ich wies mit dem Kopf und dem Daumen in die Richtung, und er folgte mir wie ein Lamm. »Hast du Hunger?« »Nein«, erwiderte ich. »Wir bewahren es für das Weihnachtsessen auf.« »Nein«, sagte er und kramte in der Tasche seines untadeligen Anzugs. »Choko.« Und dann hielt er mir die in Silberpapier gewickelte Schachtel entgegen, die er aus der Nische in Desankas Küche hinter dem Kirschbaumholz gestohlen haben mußte, mit einer
Fingerfertigkeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte, wenn ich den Beweis dafür jetzt nicht vor Augen gehabt hätte. Ich war beeindruckt, jedoch nicht bereit, ihm meinen Schatz kampflos zu überlassen. »Die gehört mir«, sagte ich und trat einen Schritt auf ihn zu. Ich war gut einen Kopf größer als er, und ich konnte ihn mit meinen Armen, die davon stark geworden waren, daß ich jeden Morgen Wasser trug, wahrscheinlich in weniger als einer halben Minute zu Boden ringen. Hans Albert hob seine Hand zu einer beruhigenden Geste, legte die Silberschachtel auf den Boden und griff in seine Tasche. Heraus kam das übliche Chaos von Dingen, die kleine Jungen so sammeln. Ein Stück Schnur, ein Schneckenhaus, ein Messer. Ich bewunderte ihn für die Geschicklichkeit, mit der er das alles hinter dem Rücken seiner Mutter in die Tasche seines besten Anzugs geschmuggelt hatte. Er hielt mir die Sammlung entgegen und forderte mich auf, etwas auszusuchen. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nichts davon. Ich wollte die Schokolade. Er hob abermals beruhigend seine Hand und wühlte weiter. Noch bevor er etwas aus der Tasche zog, wußte ich schon, daß er mir diesmal etwas ganz Besonderes zeigen würde. Er zögerte einen Augenblick lang, aber ich trat noch einen Schritt weiter vor. Da zuckte er mit den Schultern, gab auf und öffnete seine Hand, damit ich es sehen konnte. Ein Stein. Ein schwarzer Stein. Ich blickte ihn mit kaum verhüllter Verachtung an. »Nein, nein«, sagte er. »Paß auf.« Er sah sich hektisch um, hob die Schachtel auf und ging über den Hof zurück, wobei er angestrengt zu Boden sah. Plötzlich bückte er sich und blickte auf einen rostigen Nagel, der auf dem Pflaster lag. »Schau mal.«
Er legte sein Sammelsurium ab, zog mich näher heran und bewegte den schwarzen Stein auf den Nagel zu. Als er noch ein ganzes Stück entfernt war, verließ der Nagel den Boden, sprang an den Stein und blieb daran haften. Ich war fasziniert. Abwechselnd blickte ich Hans Albert und den Stein an. Dieser Junge hatte während des ganzen Essens einen magischen Stein in der Tasche gehabt. Hans Albert sah erfreut, wie ich die Augen aufriß. »Ich gebe ihn dir.« Er hielt mir den Stein, an dem immer noch der Nagel hing, auf seiner Handfläche entgegen. »Ich will aber trotzdem die Hälfte«, sagte ich, bevor ich ihn nahm, und er nickte zustimmend. Ich zeigte Hans Albert den losen Ziegel an der Rückseite der Mauer, wo ich immer meine Schätze hatte verstecken wollen, wenn ich jemals welche gehabt hätte, und er sah mir zu, wie ich den Ziegel herauszog und den Stein mit dem Nagel ganz hinten in dem dunklen Loch verstaute. Dann öffneten wir zusammen die Silberschachtel und teilten uns die Schokolade, außer Sichtweite im Schutz der Mauer, hinter dem Schuppen und dem Kaninchenstall. Ich war mir nicht ganz sicher, woraus die Substanz bestand, aber sie schmeckte unbestreitbar gut, duftete nach Zucker, und mir war klar, daß wir, was immer wir damit taten, schnell tun mußten, weil der Block bereits in der Hitze schmolz und rasch seinen zarten Schimmer verlor. Wir aßen sie in einem Stück, bis sie ganz weg war, und danach klebten unsere Hände, unsere Münder und unsere Haare, und unsere gebügelten weißen Kleider waren braun verschmiert. Ich stand auf. Mir war leicht übel. Ich war nicht sicher, ob diese neue Erfahrung meiner Verdauung so gut bekam, vor allem nicht nach den Klößen, den Puddings, den Würstchen, dem Gewürzkuchen, der Forelle, den Erdbeerpfannkuchen und
der Zwiebelsuppe. Hans Albert dachte wahrscheinlich das gleiche. Sein weißes Haar bekam einen grünlichen Schimmer. Plötzlich übergab er sich heftig über die weißen Stellen, die sein Hemd noch aufwies, über seine glänzenden Schuhe, seine sauberen Strümpfe und die Pflastersteine im Hof. Aus Solidarität und weil mich der Geruch des öligen Erbrochenen anekelte, übergab ich mich sofort ebenfalls. Hans Albert setzte sich mit dem Rücken an die Mauer und stöhnte. Ich holte einen Besen aus dem Schuppen, und Hans Albert sah mir dabei zu, wie ich den Staub vom Hof über die immer noch erkennbaren Klöße und Kirschen in einem glasigen Tümpel flüssiger Schokolade kehrte. Und dann lief ich weg, über das hintere Feld, und er lief neben mir her. Auf dem Feld gab es Soldaten und Festungen, wir hatten eigene Städte und Länder, Abenteuer und Alarm. Wir waren Kinder. Und ob wir nun die gleiche Sprache sprachen oder nicht, wir wußten, wie man spielt. Hans Albert und ich bauten einen Bauernhof. Wir entwarfen mit Wasser vom Bach und mit Erde einen Ort, an dem wir alle leben konnten: Desanka und ich in der nordöstlichen Ecke, die Tiere im Süden, ein großes Haus im Westen für Hans Albert, seine Eltern und das Kind, das bald kommen würde und bei dessen Erwähnung Hans Albert das Gesicht verzog. Wir zogen einen Kanal durch den Schlamm, befestigten seine Ufer und gossen Wasser hinein, um einen Fluß zu schaffen, an dem die Ochsen trinken konnten. Hans wollte gerade mit Brettern und alten Holzstücken eine größere Brücke über diesen Fluß bauen, als der Tag mit einem Ruf vom Haus her plötzlich für beendet erklärt wurde. Ich blickte auf. Wir waren wohl mehrere Stunden draußen gewesen. Hans Alberts Haut war leicht sonnenverbrannt, und seine Nase war rot. Die Sonne stand bereits tiefer, und die
beiden Kühe, die wir hielten, muhten. Offenbar war also die Melkzeit schon überschritten. Hans Albert war anscheinend an diese willkürlichen Einschränkungen gewöhnt und wischte sich ohne Protest an seinen kurzen Hosen den Schlamm von den Händen. Es gab nicht mehr viele saubere Stellen auf seiner Hose, aber er tat sein Bestes. »Warte noch«, sagte ich zu ihm und schubste ihn wieder zu Boden. »Wir sind noch nicht fertig.« »Hans!« Die Stimme war fern, aber drängend. »Hans Albert!« Hans Albert wischte sich noch hektischer die Hände ab. »Laß mich mal sehen.« Ich hob den Kopf über den Wall der Welt, die wir geschaffen hatten – das Bachufer vor dem Kornfeld –, und sah Desanka und Mileva auf uns zukommen, die eine entschlossenen Schrittes, die andere hinkend. Ich sagte zu Hans Albert: »Sie kommen uns holen.« »Wir sollten gehen«, sagte er. »Wenn du das sagst.« »Sie will es so.« Und bevor ich ihn daran hindern konnte, nahm er das Holzbrett, das seine Brücke sein sollte, und schmetterte es auf die Häuser, Felder und Viehweiden, die wir angelegt hatten. Und mit dem Absatz seines mit Erbrochenem verschmierten Schuhs löschte er die Existenz des letzten der Häuser aus, in denen wir alle hatten wohnen wollen. »Fertig«, sagte er. Er wirkte zufrieden. »Warum hast du das getan?« Er zuckte mit den Schultern und wedelte mit den Händen, woraus ich schloß, daß wir beim nächsten Mal die Welt größer und besser erschaffen würden. Und dann gingen wir den ärgerlichen Ausrufen entgegen, mit denen unsere einst weißen Erscheinungen begrüßt wurden.
Einen Augenblick lang standen wir verlegen vor der Kutsche. Die Frau hatte Hans Albert unter die Pumpe gehalten und sein Gesicht und seinen Hals mit einem Lappen von Desanka abgewaschen. Er war jetzt wieder einigermaßen sauber. »Sag auf Wiedersehen, Lieserl«, sagte Desanka mit ihrer warnenden Stimme. Ihre warnende Stimme bedeutete, daß ich mich an all die Manieren, die sie mir beigebracht hatte, erinnern mußte, an alle Höflichkeiten, die sie mir eingebleut hatte, alle Nettigkeiten, an denen letztendlich sie und nicht ich gemessen werden sollte. »Sag freundlich auf Wiedersehen.« Ich erinnerte mich an meine Manieren und streckte die Hand aus, obwohl ich nicht über die passenden Worte verfügte. Desanka sprang in die Bresche. »Danke, Hans, daß wir so schön gespielt haben«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Danke, Hans, daß wir so schön gespielt haben«, sagte ich, wobei ich wie sie bei den Vokalen die Stimme hob. Hans Albert, der gleichermaßen verlegen war, brachte ein »Danke, Lieserl« hervor. Er schüttelte mir höflich die ausgestreckte Hand und machte einen Diener. »Auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen, Hans Albert«, wiederholte ich, wobei ich mir an den ungewohnten Lauten fast die Zunge verrenkte. Er kletterte in die Kutsche und setzte sich schweigend, weil er wußte, daß es wegen seiner Schuhe und dem Zustand seines Anzugs noch eine Strafpredigt geben würde. Mileva blieb noch eine Weile im Hof stehen. Ich stellte fest, daß sie nach Worten rang, um mir etwas zu sagen, etwas, das mir alles erklären würde, diesen Besuch, das Nichterscheinen meiner Familie, den Tag, an dem meine Eltern kommen und mich holen würden. »Lieserl…« Doch nach meinem Namen kam nichts mehr. Mir war jedoch etwas eingefallen. »Kann ich sie lesen?« sagte ich.
»Was?« »Die Schriften meines Vaters.« Sie sah mich seltsam an. »Eines Tages«, erwiderte sie. »Vielleicht.« »Sind sie auf deutsch?« »Ja.« »Über Schwerkraft?« Ich hatte nicht die leiseste Vorstellung, was Schwerkraft war. Es war einfach nur das Wort, das sie gesagt hatte. »Wenn du etwas über Schwerkraft wissen möchtest«, sagte sie, »fang mit Newton an.« »Das werde ich tun.« Einen Augenblick lang stand sie da und sah auf mich hinunter. Ich sah ihr an, daß sie mir glaubte. Gut. Das sollte sie auch. »Weißt du, Lieserl«, sagte sie, beugte sich zu mir hinab, nahm eine meiner Hände und führte sie über ihren sanft gewölbten Bauch. »Wenn du ein Junge geworden wärst… Ich denke manchmal…« Ihre Stimme versagte. Sie wußte nicht weiter, bewegte nur ihre Finger über meine. »Werde ich meinen Vater wiedersehen?« »Eines Tages.« »Und meine Mutter?« »Auch.« »Versprochen?« Die Frau drückte meine Hand. »Ich verspreche es.« Und dann ließ sie meine Hand fallen und wandte sich ab. »Sei ein braves Mädchen, Lieserl. Sei ein braves Mädchen für Desanka.« Umständlich kletterte sie in die Kutsche und setzte sich neben den blassen Jungen. Der Kutscher ergriff die Zügel. Hans Albert winkte mir feierlich zu. Mileva bewahrte ihre
königliche Haltung – einen Arm hatte sie um Hans Albert gelegt, den anderen sorgfältig auf ihrem Bauch drapiert. Sie hielt unter dem Sonnenschirm den Kopf hoch und weigerte sich standhaft, noch einmal in meine Richtung zu blicken. Ich sah sie vorsichtig an, um zu erkennen, ob sie vielleicht weinte, weil Desanka sich manchmal auch von mir abwandte, wenn sie wieder einmal der Kummer wegen Ferdi und der Goldmünzen übermannte, und Mileva weinte wirklich ein bißchen. Eine einzelne Träne funkelte in der tiefstehenden Sonne. Solange ich konnte, sah ich der Fremden und dem kleinen Jungen nach, sie schaukelten von einer Seite auf die andere, während die Kutsche über die sonnengehärteten Furchen des Feldwegs holperte. Dann war sie weg. »Wer war das, Desanka?« »Weißt du das nicht?« »Du hast es mir nicht gesagt. Und sie hat auch nichts gesagt.« Desanka zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, es läge auf der Hand. Das war deine Mutter.« Eine Welle des Entsetzens schlug über mir zusammen. Ich blickte auf meine schmierigen Hände, das fleckige Kleid, drehte mich um und sah noch einmal den Feldweg entlang, auf dem die Kutsche entschwunden war. Am liebsten wäre ich ihr hinterhergelaufen und wußte doch, daß es sinnlos war. Schließlich hatte ich ja gesehen, wie sie weggefahren war. Desanka sagte: »Ich muß die Kühe melken.« Und dann ging sie. Ich konnte nichts sagen, konnte mich nicht bewegen. Ich stand in der Spätnachmittagssonne einfach nur da. An meinen Schuhen klebte roter Staub, und ich sah lange auf den Feldweg und hoffte wider alle Vernunft, daß meine Mutter ihre Meinung ändern und zu mir zurückkommen würde.
Ich wartete und wartete, aber kein Knarren von Kutschenrädern war zu hören, kein freudiger Ruf von Stimmen, die zurückkehren. Nur das Muhen der Ochsen, das Schreien der Störche über dem Fluß. Ich schauderte, obwohl es immer noch warm war, und ging schließlich zurück zum Haus, voller unbeantworteter Fragen, weil ich sonst nichts tun konnte. Desanka war nirgendwo zu sehen, und ich konnte niemandem die Fragen stellen, die mir durch den Kopf gingen. Ich schlurfte durch die leere Küche, wo die Teller ganz ungewohnt noch auf dem Tisch standen, die Forelle und der Gurkensalat in der Schwere des frühen Abends im Öl schwammen. Aufs neue hungrig, nahm ich ein bißchen Wurst und Eierkuchen. Seit dem Unglück mit der Schokolade hatte ich nichts gegessen. Während ich aß, dachte ich über alles nach, was ich gesehen und gehört hatte, und versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. Abgesehen von der Tatsache, daß ich am Ende dieses Tages ganz bestimmt keine Prinzessin sein würde, ergab es keinen Sinn, nichts davon ergab einen Sinn. Auf dem Tisch stand noch das Glas mit Wein, das Desanka der Fremden aufgedrängt hatte und das sie nach dem ersten Schluck unberührt hatte stehenlassen. In der richtigen Annahme, daß Desanka jetzt zu nervös oder zu ärgerlich sein würde, um es zu bemerken, ergriff ich das Kristallglas und berührte es mit meiner Zunge. Auf dem feinen Budapester Rand konnte ich noch Milevas Haut schmecken, Duft und Salz meiner Mutter. Salzig wie die eine Träne, die sie für mich vergossen hatte. Ich war eine einzige Träne wert. Ich atmete den herben Duft des Weins und den salzigen Duft ihrer Haut ein, dann leckte ich am Rand des Glases entlang, nahm die letzte Spur von ihr in den Mund. Und dann trank ich. Ich ließ die Teller stehen, wo sie waren, holte meine Decken heraus und kuschelte mich in mein Bett. Ich blickte zur Decke,
die sich vor meinen Augen drehte, und wartete auf den Schlaf, obwohl es noch Stunden dauern würde, bevor es vollständig dunkel war. Ich wußte, daß ich eigentlich das Geschirr abräumen und die Reste mit Mull abdecken sollte, aber ich konnte den Anblick des Gewürzkuchens und der übriggebliebenen Erdbeerpfannkuchen nicht ertragen. Außerdem drehte sich die Welt um mich, und ich sah ihr dabei zu. Ich starrte auf das kreisende Holz der Deckenbalken, Balken, die vom Rauch der Küche geschwärzt waren, und zog mich mit meinen Fragen tief in mich selbst zurück. Ich hatte den Wein getrunken, der meiner Mutter gehörte, und sie so zu einem Teil von mir gemacht. Ich konnte sie nie wieder verlieren, weil ich nun ihren Duft und den Geschmack ihrer Träne auf meiner Zunge hatte, und dies beides würde ich auf ewig mit mir tragen.
In der Nacht, als es dunkel war, wachte ich davon auf, daß Desanka die Decke über mir festzog. Das Feuer war rötlich heruntergebrannt, und im Schein der Öllampe, die sie trug, sah sie aus wie die einzige Mutter, die ich jemals wollte oder brauchte. »War das meine echte Mutter?« fragte ich Desanka. »Ja, Kleines. Das war deine echte Mutter.« »Werde ich eines Tages bei ihr wohnen?« »So bald nicht. Vielleicht niemals.« »Warum?« »Geld.« Desanka wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Sie haben kein Geld.« Sie blickte sich in der Küche um. Der Tisch war jetzt aufgeräumt, die abgedeckten Schüsseln würden sorgfältig in der Speisekammer aufgestapelt werden. Wo immer sie
gewesen sein mochte – was ich nicht wußte und auch nicht erraten konnte –, Desanka würde nie zu Bett gehen, ohne ihr Haus aufzuräumen. Ich kuschelte mich wieder in die Kissen. Ich verstand nicht, was Geld damit zu tun haben sollte. Wir hatten auch kein Geld. Desanka sagte mir das oft. Sie sagte es jedem. Aber es steckte noch mehr dahinter. Ich wußte, daß es so war. Erwachsene hatten immer mehr als eine Entschuldigung. »Sie haben viel zu tun, deine Eltern. Deine Mutter sagt, sie haben etwas geschrieben, das sie eines Tages berühmt machen wird.« »Glaubst du das?« »Wer weiß? Deine Mutter ist eine sehr kluge Frau. Aber Mileva hat alle Hände voll zu tun, und nächsten oder übernächsten Monat kommt das neue Baby. Sie sollte in ihrem Zustand gar nicht mehr so weit reisen.« »Warum hat sie es dann getan?« Desanka seufzte. »Ich weiß nicht.« »Aber ich glaube, ich weiß es«, sagte ich. »Um auf Wiedersehen zu sagen.« Desanka stritt es nicht ab, aber sie küßte mich und zog die Decke um mich herum glatt, bevor sie ging. Ich konnte nicht mehr einschlafen. Der Rauch des Feuers und der saure Geschmack des Weins waren in meinem Mund, und obwohl Desanka mich fest eingepackt hatte, war ich ruhelos. Draußen war es immer noch warm genug, so daß ich hinausgehen konnte, also nahm ich meine Decke und ging in den Hof. Ich lief zur Mauer, zog den losen Ziegel weg und holte Hans Alberts magischen Stein heraus. Ich hielt ihn in Richtung eines Gänseblümchens, das zwischen den Pflastersteinen wuchs, aber nichts geschah. Ich schwenkte ihn einer Schnecke entgegen, aber nichts geschah. Ich hatte mir das schon gedacht. Mit Hans Alberts Abreise
hatte der Stein all seine magische Kraft verloren. Alles hatte seine magische Kraft verloren. Ich breitete meine Decke auf dem Boden aus, legte mich flach auf den Rücken und blickte in den Himmel. Die Sterne waren so weit entfernt, daß ich mir klein vorkam. War das alles, was mir blieb? Für immer verlassen, ausgeschlossen zu sein? Wenn das so war, würde ich nicht glücklich damit werden. Angesichts der Gewichtigkeit dieses unendlichen Himmels wußte ich jedoch nicht, wie ich es jemals ändern sollte. Im Dunkeln flossen endlich die Tränen, über meine Haare und über die Decke, als ob Tränen immer noch magische Kraft besaßen, als ob ich immer noch an Desankas Märchen glaubte. Doch ich wußte nun, daß ich niemals Prinzessin Lieserl sein würde. Ich würde immer das unerwünschte Kind sein, und niemand würde mich retten, damit ich meinen angestammten Platz im königlichen Palast, in den luftigen Höhen des Berner Patentamtes, einnehmen konnte. Niemals. Was meine Familie betraf, so hätte ich genausogut tot sein können. Was die Sterne anging, so hätte ich ebensogut überhaupt nicht existieren müssen. Sie würden immer weiter scheinen, endlos, oder zumindest bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Und die Planeten würden immer weiter in ihrem Orbit kreisen, ob nun mit mir oder ohne mich. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, warum eigentlich die Sterne nicht auf mich, auf uns alle fielen und uns zermalmten. Überwältigt von der Gewichtigkeit aller Dinge schloß ich die Augen. Was also war ich jetzt? Nichts. Niemandes Tochter, niemandes Freude.
Ich schlief ein, unter meiner Decke und unter der Gewichtigkeit dieses Himmels und dieser Sterne, den Geschmack meiner Mutter im Mund und Hans Alberts Stein in der Hand. Weinend, weil ich unendlich allein war.
2 Das Athen des Nordens
12. Oktober 1910 Das Geld. Das erste Geld aus Bern war angekommen, zusammen mit der Nachricht, daß ich einen neuen Bruder hätte, Eduard. Mileva hatte es, wie versprochen, für den Unterricht geschickt – Musik und Deutsch. »Mutter und Kind sind wohlauf. Alle sind wohlauf«, sagte Desanka, legte den Brief auf den Tisch und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geld zu. »Fragt sie nach mir?« »Am Ende. Sie schreibt: ›Ich hoffe, euch geht es auch allen gut.‹« »Ist das alles?« »Das ist alles.« Desanka faßte das Geld auf dem Küchentisch immer wieder an, zählte die Banknoten, die Münzen. Ich überließ sie dieser Beschäftigung und schlüpfte aus der Küche, wobei ich mir als Vorwand ein Messer in den Rockbund steckte. Ich hatte Desanka versprochen, die letzten Paprikaschoten und Zwiebeln abzuschneiden, damit wir sie einlegen konnten, aber Frau Mehanovics hatte mir – widerwillig, glaube ich, weil sie Angst hatte, ich könnte es beschädigen – ein Buch mit dem Titel Praktische Mathematik für den allgemeinen Gebrauch geliehen, und ich arbeitete es in meinem Versteck im Heuschober durch. Desanka hätte wahrscheinlich jederzeit kleine Zwiebeln der Prozentrechnung vorgezogen, und ich wußte, daß sie es mir übelnehmen würde, daß ich meine Zeit mit letzterem vergeudete, also war es eine reine
Vorsichtsmaßnahme, es für mich zu behalten. Alles, was über Zusammenzählen, Abziehen und Zinsrechnung hinausging, besaß keinen praktischen Wert, wenn man einen Bauernhof führte. Ich saß im Heuschober und vertiefte mich in Quadratwurzeln, Bruchrechnung und die italienische Methode der Dezimalrechnung. Wenn ich mich mit Mathematik beschäftigte, hatte ich mittlerweile erkannt, vergaß ich alles um mich herum. Verloren in der Welt der Zahlen, wußte ich nicht mehr, wer ich war. Ich vergaß die Zeit, Stunden, die vergingen, ich vergaß alles, was gewesen war – es blieben nur leuchtende Zahlenreihen, die sich manchmal ineinander verschlangen und drehten, sich manchmal verdoppelten und auflösten, aber ich konnte ihnen folgen, bis ich zu der richtigen Antwort gelangte. Bei Zahlen konnte ich sehen. Und was ich sah, machte mich immun der Welt gegenüber. Immun, weil ich sie sich selbst überlassen konnte. An diesem Nachmittag gelang es mir, mich für kurze Zeit zumindest soweit in irrationalen Zahlen zu verlieren, daß ich vergaß, daß ich einen neuen Bruder hatte. Immer jedoch, wenn ich die Augen vom Buch hob, drang mir diese Tatsache wieder ins Gedächtnis. Ich konnte es nicht vergessen, und ich konnte auch nicht die Tatsache vergessen, daß die erfolgreiche Ankunft von Eduard es immer weniger wahrscheinlich machte, daß ich je nach Hause geholt wurde. Zunächst einmal würde jetzt noch weniger Platz sein. Ich inspizierte meine Nägel. Recht sauber. Seit der abrupten Abreise meiner Mutter hatte ich darauf geachtet, mich einigermaßen vorzeigbar zu halten, falls sie genauso plötzlich wieder zurückkehren würde, und dann wollte ich sie nicht durch meine Erscheinung abstoßen. Es war für mich eine ständige Quelle des Kummers, daß ihre letzte Erinnerung an mich unwiderruflich mit dem Schicksal der Schokolade befleckt war.
Nach etwa einer Stunde gestand ich mir schließlich ein, daß wahrscheinlich der Frost einsetzen würde, bevor ich dazu kam, die Paprikaschoten abzuschneiden, also nahm ich mein Messer, versteckte das Buch wieder und machte mich auf den Weg zu den Pflanzen. Während ich hackte und stach, arbeitete ich am ersten einer kleinen Anzahl von Problemen, die ich in meinem Gedächtnis verstaut hatte, um sie irgendwann einmal zu untersuchen. Ich errechnete die totale Entfernung in Seemeilen, die ein Schiff auf einer Reise von vierzehndreiviertel Tagen zurücklegte, wenn es sechseinhalb Tage mit einer Geschwindigkeit von vierzehn Seemeilen pro Stunde fuhr und dann die Geschwindigkeit für die restliche Zeit um siebzehn Prozent erhöhte. Ein paar Probleme später, als ich bereits eine ordentliche Menge Paprikaschoten und Zwiebeln vor mir aufgehäuft hatte, begann ich langsam zu verstehen, warum Desanka den Schulbesuch für vergeudete Zeit hielt. Alles war so einfach. Die Grundlagen der Mathematik konnte man in einem Lidschlag begreifen und hatte dabei immer noch Zeit zum Melken und zur Gartenarbeit. Und das Beste daran war, daß man keine komplizierte Ausrüstung dafür brauchte, das meiste konnte im Kopf vor sich gehen. Manchmal brauchte ich einen Stift und ein Blatt Papier, aber überwiegend konnte ich es erledigen, während ich die Kühe molk oder im Garten arbeitete. Deswegen vergaß ich Eduard jedoch trotzdem nicht. Ich wußte nicht viel über Säuglinge, also stellte ich ihn mir als eine kleinere Ausgabe von Hans Albert vor, sauber und blond in einem strahlendweißen Anzug und mit Schnüren in der Tasche. Ich sammelte die Zwiebeln und Paprikaschoten in meine Schürze und ging zu dem Schlamm und dem Wasser am Bachufer. In meiner Tasche war Hans Alberts magischer Stein.
Ich hatte es mittlerweile herausgefunden. Metall. Das war der Schlüssel. Er zog Metall an. Einen rostigen Nagel, eine Münze. Er haftete an einer Milchkanne. Ich wußte nicht, warum, hatte aber das Gefühl, einen Teil seines Geheimnisses schon gemeistert zu haben, weil ich seine Grenzen herausgefunden hatte. Als ich so weit gekommen war, hatte ich den Stein mit in die Schule genommen, wo Frau Mehanovics mir einen Namen für ihn gegeben hatte. Ein Magnet. Sie sagte mir, was ich sähe, sei Magnetismus. Noch ein Wort. Magnetismus. Schwerkraft. Licht. Ich saß eine Weile da, drehte den Stein immer wieder in den Händen, überwältigt von der Bedeutsamkeit der Dinge. Ich wußte nichts. Schwerkraft. Licht. Ich erkannte immer noch die Ruinen der Häuser und Bauernhöfe, die Hans Albert zerstört hatte, die Orte, die er mit seinen Füßen zertrampelt hatte, Orte, wo wir alle hätten wohnen sollen. Magnetismus. Ich stellte meinen Schuh auf die Ruinen und wünschte, ich hätte gewußt, daß der kleine weiße Junge mein Bruder war. Ich hätte ihm mehr Fragen gestellt.
Fragen. In der Küche legte ich die Paprikaschoten und die Zwiebeln in eine Keramikschüssel. »Desanka…« Ich setzte meine liebste Kleinmädchenstimme ein. »Desanka, wo ist Zürich?« Wenn sie nicht zu mir kamen, konnte ich vielleicht zu ihnen gehen. »Schweiz.« Das sagte mir gar nichts. »Ist das weit weg?« »Sehr weit. Über viele Berge. Dein Name ist schweizerisch.« »Ja?«
»Oder deutsch. Ich glaube, deutsch. Ich glaube, Mileva sagte…« Sie zuckte mit den Schultern. Wieder einmal etwas, das sie nicht wußte. Für sie spielte es keine Rolle. »Was ist Physik, Desanka?« Desanka seufzte. »Sie machen irgendwelche Sachen in…« Sie schwenkte unbestimmt die Hand. »In Labors, glaube ich.« Ich seufzte. Daran war nichts Magisches. Das wußten wir beide. Konfrontiert mit der unveränderlichen Realität der Gehälter von öffentlichen Angestellten und dem, was in Labors – was immer sie auch sein mochten – vor sich gehen mochte oder nicht, hatten wir das Ende eines bedeutsamen Gesprächs erreicht.
Ich schmuggelte Praktische Mathematik für den allgemeinen Gebrauch ins Haus und schlief über dem Versuch, in meiner Kirschbaumnische Prozentsätze zu berechnen, ein. Wenn ein General zwei Siebtel seiner Männer in der Schlacht verloren hat und sechs Prozent der Überlebenden krank sind, wieviel sind dann von seinen ursprünglich 95884 Männern noch übrig? Desanka schlief ein mit dem Geld unter dem Kopfkissen.
26. August 1911 Fräulein Freisler hatte perlweiße Zähne, die fast immer von selbst lächelten; sie verzogen das listige Gesicht sogar gegen den Willen seiner Besitzerin in ein affektiertes, geselliges Lächeln. Sie strich den Stoff ihres blauen Kleides an den Hüften glatt, als sie uns die Tür öffnete, und mußte uns einfach anlächeln. »Ja?« Sie war um die zwanzig, schätzte ich, und sah mit ihrem aus der Stirn gekämmten Haar und ihrem
hochgeschlossenen Kragen wie eine Lehrerin aus. Gut. Das würde die beteiligten Parteien beruhigen. »Das Deutsche…« sagte Desanka. »Wir haben das Schild gesehen.« Sie vergaß zu erwähnen, daß ich sie darauf hingewiesen hatte. Mit dem Ochsenkarren zum Markt zu fahren war ein Unterfangen, das Desankas ganze Konzentration erforderte. Eine Stunde lang über schmale Landstraßen in die Vorstadt, wo sie Getreide und Eier verkaufen konnte. Es war eine Herausforderung. Da sie den Blick nicht von der Straße wandte, außer um ihre Ladung zu überprüfen, hatte sie keine Zeit für Frivolitäten, wie in die Fenster anderer Leute zu schauen. Ihr ging es nur darum, ihre Waren heil zum Markt zu bringen. »Kommen Sie herein.« Fräulein Freister zeigte ihre Grübchen. »Zweite Tür.« Sie rauschte mit ihrem tieftaillierten Kleid los und forderte uns auf, ihr zu folgen. Ihr blondes Haar war auf ihrem Kopf hochgetürmt und leuchtete in dem dunklen Flur wie von innen heraus. Fräulein Freister hatte zwei Zimmer in Frau Heidels Pension in Novi Sad gemietet. Sie lagen an einem Durchgang mit gebohnerten Holzdielen und waren ständig düster. Wir gingen vorsichtig über den Fußboden, und das Geld lag sicher in Desankas Tasche. Das Geld kam regelmäßig, Nachrichten jedoch nur spärlich. Jeden Monat die gleiche Summe, manchmal mit Informationsschnipseln, die Desanka mir beim Frühstück beiläufig mitteilte. »Dein Vater hat schon wieder eine Untersuchung veröffentlicht. Er arbeitet nach wie vor an der Auswirkung der Schwerkraft auf das Licht… Deine Familie ist in Prag. Mileva findet es dort nicht schön… Es geht ihnen ein bißchen besser, sagt Mileva, aber dein Vater kann nicht gut arbeiten, wenn die Jungen ständig um ihn herum sind.«
»Sagt sie auch was von mir?« Die ersten paar Male fragte ich noch, aber die Antwort auf meine Frage war immer die gleiche. Meine Mutter hoffte, es ginge uns allen gut. Da hörte ich auf zu fragen. In Praktische Mathematik für den allgemeinen Gebrauch war ich bis zur Algebra gekommen. Ich mochte sie sehr. Sie machte es nicht nur viel leichter, mit Potenzen und negativen Zahlen umzugehen, mit ihrer Hilfe konnte man überhaupt alles viel leichter handhaben. Statt großer, ausufernder Zahlenreihen konnte ich alles auf einfache Algebra-Formeln reduzieren, die viel leichter zu behalten waren. Aber Deutschstunden hatte ich immer noch nicht gehabt. Ich hatte fast ein Jahr lang unablässig auf Desanka eingeredet; um sie zu überzeugen, hatte ich sie auf das Schild im Fenster des Postamtes hingewiesen, darauf, wie preiswert der Unterricht war, wie nützlich Deutsch bei Verhandlungen mit Getreidehändlern aus dem Westen sein würde. Bei der Musik dagegen kapitulierte ich. Wenn ich Deutsch lernte, stellte ich mir vor, könnte ich auch ohne Geige auskommen. Dennoch war Desanka selbst jetzt, auf der Schwelle zu Fräulein Freislers Zimmern, immer noch nicht vollständig überzeugt. Auf dem Hof waren Hunderte von Sachen nötig… Ich wußte, sie dachte vor allem an einen Traktor. Wir hatten gerade die Zeit des Heumachens hinter uns, und ein Traktor wäre unendlich viel nützlicher gewesen, als ich es jemals sein würde. Ich haßte den ganzen Vorgang. Die Pfosten an den Ecken des Feldes sahen aus wie geschrumpfte Menschen, wenn sie mit schwarzem Klee bewachsen waren, unheimlich seltsam und lebendig. Und mit Heu bedeckt sahen alle Pfosten an den Ecken aller Felder aus wie Kreuze auf einem riesigen Friedhof, Kreuze, an die niemand jemals einen Kranz oder eine
Namenstafel legen würde. Ich verbrachte mehr Zeit damit, Trübsal zu blasen, als zu arbeiten. Desanka teilte der Lehrerin ihre Bedenken mit. »Ich weiß nicht, warum ein Mädchen in diesem Alter Deutsch lernen soll.« Obwohl ich meine ganze Überredungskunst angewendet hatte, um Desanka zu überzeugen, waren meine potentiellen linguistischen Fähigkeiten immer noch eine Feder, verglichen mit dem Gewicht einer motorisierten Dreschmaschine. Daher wandte ich mich zu Fräulein Freisler um, dieser Frau, die ich nicht kannte, und flehte sie schweigend an, meine Fürsprecherin zu werden. Ich versuchte, eine möglichst große Sehnsucht nach dem Erlernen der deutschen Sprache in meinen Gesichtsausdruck zu legen. »Natürlich muß sie Deutsch lernen«, rief Fräulein Freisler aus und riß ihre Augen weit auf. Sie tat, als könne sie es gar nicht glauben. »Es ist die Sprache des kommenden Jahrhunderts. Die Sprache der Zukunft! Bald werden alle Europäer Deutsch sprechen.« Desanka schnaubte verächtlich. Fräulein Freisler schwieg, wägte ab, erkannte die Lage der Dinge und paßte ihren Ton an. »Es ist klug von Ihnen, Madam, die Erziehung Ihrer Tochter so ernst zu nehmen. Sehr klug.« »Fräulein…« »Nennen Sie mich doch bitte Maja.« »Fräulein…« Desanka hatte es nicht mit Vornamen. Und dann stellte sie eine Frage, die mich verblüffte. »Fräulein, warum sind Sie hier?« Ich wußte nicht, was Desanka damit meinte. Für mich war alles in Novi Sad fremd. Desanka nahm mich selten dorthin mit, und der Lärm und die Geräusche, all die Leute, die sich auf den Bürgersteigen anrempelten, riefen und schrien, waren mir fremd. Damals wußte ich ja nicht, daß Fräulein Freisler
sozusagen von sich aus fremd war, eine alleinstehende Frau, nicht in ihrem Heimatland, die ihr eigenes Geld verdiente. Allerdings verblüffte nur mich die Frage, das Fräulein jedoch nicht. »Kommen Sie her«, winkte Fräulein Freisler. »Hier herüber zum Fenster. Sehen Sie.« Sie öffnete das Fenster, als ob dadurch mehr Licht hereinkäme. »Das Athen des Nordens. So haben sie es genannt.« Wir starrten auf die Gebäude, die Hitze, das Licht. »Deshalb bin ich hierhergekommen«, sagte Maja. »Die Kultur, die Kunst, die Musik…« Sie wies über die Fensterbank auf die lärmenden Straßen der Stadt. In der Ferne, hinter den Häusern, leuchteten die Kornfelder in strahlendem Gelb. Ich glaubte eine leichte Enttäuschung in Fräulein Freislers Tonfall entdeckt zu haben, dachte aber, ich hätte mich möglicherweise geirrt, da Desanka die Worte für bare Münze nahm. »Das Athen des Nordens«, sagte Desanka verträumt, »das ist es in der Tat.« Daß Fräulein Freisler die anspruchsvollen Höhen der Kultur, die in Novi Sad erreicht und verinnerlicht worden waren, anerkannte, daß sie zugab, daß das ganze habsburgische Reich nichts Gleichwertiges zu bieten hatte, gefiel Desankas slawischem Herzen. Es überzeugte sie – mehr als alles andere –, daß es für mich doch richtig war, Deutsch zu lernen. Wenn diese Frau, deren Muttersprache Deutsch war, dennoch die Wunder von Novi Sad zu schätzen wußte, dann konnte darin keine Gefahr liegen. Und außerdem konnte sie immer noch das Musikgeld für den Traktor beiseite legen. Desanka wandte sich von dem gepflegten Panorama ab und lächelte Fräulein Freisler an, sorgfältig darauf bedacht, möglichst wenig von ihren Zähnen zu zeigen, da sie es nicht mit der strahlenden Weißheit der Zähne des Fräulein
aufnehmen konnten. Aber wenn Desanka lächelte, dann lächelte sie ernsthaft. Die Vorstellung, klug zu sein, von dieser jungen Frau aus der großen Welt für klug gehalten zu werden, schmeichelte ihr. »Dann werden wir es tun«, sagte sie. »Jede halbe Stunde kostet jedoch…« sagte Fräulein Freisler und schätzte ab, was wir wert sein mochten. Aber Desanka, die zumindest in dieser Beziehung klug war, hatte das bereits vorausgesehen. Sie legte ihr Kopftuch ab und warf eine glänzende Münze auf den Tisch. Fräulein Freisler ergriff sie und hielt sie dann gegen das Licht. »In der Tat, eine kluge Frau«, sagte sie anerkennend. »Vorausblickend und doch auch der Vergangenheit zugeneigt.« »Am Ende des Jahres muß sie es sprechen können«, sagte Desanka. Sie war sich nicht ganz sicher, ob ihre Forderung berechtigt war, wußte jedoch mit ihrer Bauernschläue, daß sie etwas Greifbares für das Geld vorweisen mußte, falls Mileva jemals diesen versprochenen nächsten Besuch machte. »Es?« fragte Fräulein Freister spöttisch und hob eine Fingerspitze von der Münze. »Alles?« »Soviel wie möglich.« »Und was halten Sie für möglich?« Wenn jedoch Fräulein Freister beabsichtigt hatte, Desanka zu überlisten, sie in die Ecke zu treiben und selbst als Siegerin dazustehen, so hatte sie sich geirrt. »Genug, um ihrer Mutter sagen zu können, daß sie sie liebt«, erklärte Desanka, straffte ihre Schultern und band ihr Kopftuch wieder unter dem Kinn fest, »und um es auch so zu meinen.« Maja dachte nach und kniff nachdenklich noch einmal in den Rand der Münze, die sie zwischen ihren schimmernden weißen Scherenfingern hielt.
»Ich glaube«, erwiderte Maja, »es wäre wünschenswert, einen solchen Satz in jeder Sprache sagen zu können.« Desanka nickte. Das war praktisch das einzige, worüber sich diese beiden Frauen in ihrem ganzen Leben einig waren: der Wert der Mutterschaft. Und keine von beiden sollte jemals einem Kind das Leben schenken.
19. Juli 1912 Ich klopfte glücklich an die Tür von Frau Heidels Pension in Novi Sad. Es war Freitag, und ich entkam dem Dreschen. Die ganze Woche waren wir damit beschäftigt gewesen, und ich war erschöpft. Heute aber konnte ich fliehen. Jeden Freitag, zu einer Zeit, die sowohl Desanka paßte – die mich auf dem Weg zum Markt absetzte – als auch Fräulein Freister – die vor unserem Unterricht Zeit hatte, in die Morgenandacht zu gehen –, lernte ich deutsche Substantive und Gerundien und das Plusquamperfekt und Hunderte von Adjektiven. Ich hatte mich mit einem Eifer und einem Fleiß in die Aufgabe gestürzt, die Fräulein Freisler bereits in der ersten Stunde nicht übersehen konnte. »Du machst deine Sache sehr gut, Kleines«, erklärte das Fräulein jetzt. »Gut«, sagte ich. »Das ist wichtig.« Sie schwieg. »Warum lernst du eigentlich Deutsch?« »Wie Desanka Ihnen schon gesagt hat. Damit ich meiner Mutter sagen kann, daß ich sie liebe.« »Desanka ist also nicht deine Mutter?« Ich war mir sicher, daß Fräulein Freisler das schon seit langem vermutete. »Sie ist es zur Zeit.« »Und deine Mutter ist Deutsche?«
»Sie spricht Deutsch. In unserer Familie sprechen wir jetzt Deutsch.« »Aber du lebst nicht bei deiner Familie.« »Noch nicht. Eines Tages. Deshalb ist es so wichtig, daß ich es richtig lerne.« »Ich verstehe.« »Fräulein Freisler, wie heißt das deutsche Wort für Schwerkraft?« »Schwerkraft? Warum um Himmels willen möchtest du das denn wissen?« Schwerkraft und Licht. Das waren die einzigen beiden Anhaltspunkte, die meine Mutter mir gegeben hatte, und es war nicht viel, um damit etwas anzufangen. »Mein Vater beschäftigt sich damit. Physik. In einem Labor, glaube ich.« Fräulein Freisler dachte einen Moment lang nach. »Bist du jemals im Leseraum gewesen?« Mein verständnisloser Gesichtsausdruck war Antwort genug. »Dann komm, ich zeige ihn dir.« Der serbische Leseraum. Im Athen des Nordens, der großartigen städtischen Ansammlung von Hochkultur in der ungarischen Ebene, konnte sogar ein Kind wie ich einfach das Gebäude mit den Regalen voller Bücher betreten und sie sich ansehen. »Wo sollen wir anfangen?« Fräulein Freisler schwamm genauso wie ich. »Meine Mutter meinte«, sagte ich vorsichtig, »ich solle mit Newton anfangen.« »Dann komm«, erwiderte das Fräulein und trat an die Regale. Mit ihrer Hilfe fand ich ein Buch, das zwar nicht von Newton war und auch nicht von ihm handelte, in dem er aber von Zeit zu Zeit wenigstens erwähnt wurde. Immerhin ein Anfang.
Kaum hatte ich angefangen zu lesen, geschah etwas mit der Zeit. Das Fräulein verschwand zum Mittagessen, und erst als ich auf einmal Hunger bekam, stellte ich fest, daß ich mindestens eine Stunde über die Zeit war, zu der ich Desanka wieder auf dem Markt treffen sollte. Zögernd stellte ich das Buch zurück ins Regal. Die Sätze darin prägte ich mir fest ein, für später. Trotz der Tatsache, daß ich viele Wörter in dem Buch nicht kannte, beschloß ich, daß das keine Rolle spielte. Denn das Wenige, was ich verstanden hatte, hatte mir einen schwachen Eindruck von dem vermittelt, was Schwerkraft sein könnte. Irgend etwas sehr Großes. Und Mächtiges, das war klar. Und Unsichtbares, was mich nicht weiterbrachte. »Jeder Partikel eines Körpers wird von der Erde angezogen, und die vollständig ausgeübte Kraft stellt das Gewicht des Körpers dar.« Ich beschloß, mich darauf zu konzentrieren. Jeder Partikel eines Körpers… Ich dachte: Zuerst will ich die Schwerkraft verstehen, das Licht hebe ich mir für später auf. Ich dachte viel über Schwerkraft nach und war auf der Heimfahrt im Ochsenkarren ungewöhnlich schweigsam. Als jedoch unser Hof in Sicht kam, wurde ich ganz aufgeregt. »Hör auf, hin und her zu wackeln«, sagte Desanka. »Ich habe etwas herausgefunden«, erwiderte ich. »Was?« »Weißt du, was stärker ist, Desanka, Magnetismus oder Schwerkraft?« »Lieserl…« »Wenn wir nach Hause kommen, zeige ich es dir.« Und sie hatte kaum die Zügel angezogen, da sprang ich auch schon aus dem Wagen. »Warte hier.« »Lieserl…«
Ich lief zu der Mauer, wo ich Hans Alberts magischen Stein versteckt hatte, und achtete nicht auf Desankas Protest, daß sie noch vor Nachteinbruch das Mehl einlagern müsse. Ich zeigte ihr den Stein zusammen mit dem rostigen Nagel. »Sieh mal, Desanka, sieh mal! Paß gut auf!« Ich streckte die Hand aus und legte den Nagel auf meine Handfläche. Dann schwenkte ich den Magnet darüber, und der Nagel flog so gewissenhaft wie immer der magnetischen Kraft entgegen. »Dieser winzige Magnet gegen die ganze Erde, Desanka, und der Magnet gewinnt.« Ich war vollkommen außer mir vor Entzücken. Schwerkraft mochte groß sein, aber Magnetismus war größer. Und ich konnte ihn in meiner Hand halten. Ich fühlte die Kräfte des Universums durch mich fließen, die Schwerkraft, die mich am Boden hielt, der Magnetismus, der Metall von meiner Hand hob. Ich fühlte endlich, daß ich dabei war, alles zu verstehen. »Du kommst auf deine Mutter«, sagte Desanka.
26. Juli 1912 »Dann hat dich deine Mutter also besucht?« fragte Fräulein Freisler, nachdem ich ihr die Geschichte des Magneten erzählt hatte, und daß jedes Teilchen des Körpers von der Erde angezogen wird. »Einmal«, sagte ich. »Und du möchtest ihr sagen, daß du sie liebst?« »Ja.« Sie hatte schlechte Laune. Ich nahm an, daß der gestrige Abend weniger erfolgreich gewesen war als die anderen. Auch wenn Desanka auf die gouvernantenhafte Erscheinung
hereinfiel, ich und die meisten Männer in Novi Sad taten es nicht. Ich wußte, daß Fräulein Freisler noch andere Schilder hatte, Schilder, auf denen tatkräftigere und lukrativere Dienste angeboten wurden als das Unterrichten fremder Sprachen. Dieser Verdacht hatte sich durch beiläufige Bemerkungen nach und nach erhärtet und war schließlich zur Gewißheit geworden durch die Entdeckung einer dieser Visitenkarten zwischen den Seiten eines Deutschlehrbuchs. Ich vermutete, daß Frau Heidel aufrichtig glaubte, daß die Herren von Novi Sad ein unersättliches Bedürfnis nach dem Erlernen fremder Sprachen hatten, oder aber, daß sie Prozente bekam. Ich fragte mich, ob Fräulein Freisler hauptsächlich aus kommerziellen Gründen nach Novi Sad gekommen war, einem Ort, wo sie keiner kannte. Ich war nach wie vor nicht ganz sicher, wo sie herkam. Was immer jedoch letzte Nacht passiert sein mochte, sie ließ es jedenfalls an mir aus. »Was macht dich so sicher, daß sie dich liebt?« Ich starrte das Fräulein entsetzt an. »Sie ist von weit her gekommen, um mich zu sehen«, sagte ich. »Sie erwartete ein Kind. Sie hätte gar nicht verreisen dürfen, aber sie hat es trotzdem getan, um mich zu sehen. Nur mich. Ihre Tochter.« Das Fräulein war jedoch nicht so leicht zu überzeugen. »Wenn sie gar nicht hätte verreisen dürfen, warum ist denn dann nicht dein Vater gekommen?« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Darüber hatte ich nie nachgedacht. Es war für mich immer klar gewesen, daß meine Mutter gekommen war, weil sie mich liebte, weil… Jetzt fiel es mir wieder ein. Sie war gekommen, weil sie mir auf Wiedersehen sagen wollte. Warum hatte sie mir auf Wiedersehen sagen müssen? »Warum ist dein Vater nicht gekommen?« fragte Fräulein Freisler. »Warum nicht?«
»Weil…« Weil er gerade eine Untersuchung über die Wirkung der Schwerkraft auf das Licht geschrieben hat. Ich konnte mich nicht überwinden, das zu sagen. Als Entschuldigung klang es zu fadenscheinig, selbst in meinen Ohren. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich weiß nicht, warum. Niemand weiß es.« Als ich hinausging, schlug ich heftig die Tür hinter mir zu. Ich hatte keine Lust zum Deutschlernen, keine Lust zu irgend etwas, und in der Woche darauf weigerte ich mich, zu meinem Unterricht zu gehen. Desanka fragte nicht nach dem Grund. Vielleicht dachte sie, ich sei zu Verstand gekommen und habe endlich die Sinnlosigkeit des Unterfangens eingesehen. Ich gab ihr recht. Ich brauchte kein Deutsch, um meiner Mutter zu sagen, daß ich sie liebte. Meine Mutter würde das schon wissen. Ich konnte meine Zeit genausogut damit verbringen, Geige spielen zu lernen. In den nächsten Tagen beendete ich die Lektüre von Praktische Mathematik für den allgemeinen Gebrauch und machte mich auf die Suche nach etwas anderem, womit ich meinen Geist beschäftigen konnte. Ich konnte im Bereich vierstelliger Zahlen alles mit Leichtigkeit rechnen, konnte mit Logarithmen dividieren und multiplizieren und Gleichungen lösen, aber ich war immer noch nicht glücklich. Schließlich stellte ich fest, daß ich wohl Desanka danach fragen mußte. »Warum ist mein Vater nicht auch gekommen?« Desanka blickte von ihrer Flickarbeit auf. Im flackernden Licht des Küchenfeuers sah sie älter aus als jemals zuvor. »Dein Vater«, sagte sie und legte die Nadel für einen Moment zur Seite, »ist ein verachtenswertes Subjekt, das deine Mutter in Schande gebracht hat, bevor sie heirateten. Er hat sie
gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen und ihre eigenen Studien aufzugeben, damit sie für ihn sorgen kann.« Das Kirschbaumholz im Kamin knisterte. »Warum bleibt sie bei ihm, wenn er sie so schlecht behandelt?« Desanka seufzte, als gingen die Geheimnisse des menschlichen Herzens über ihren Verstand. »Ich nehme an, sie liebt ihn. Das sagt sie zumindest.« Ich beobachtete den Tanz der Flammen und fühlte mich taub bis in die Fingerspitzen. »Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?« »Du hast nie danach gefragt.« Womit sich die Frage stellte, warum ich nie danach gefragt hatte. Das zumindest war mir klar. Ich hatte Angst davor gehabt, es zu erfahren. Mir fiel auf, daß sie meine erste Frage nicht beantwortet hatte, aber das brauchte sie auch nicht mehr. Ich sah jetzt selbst alles glasklar. Mein Vater war nicht mitgekommen, er hatte mich nicht einmal besucht, hatte nie nach mir gefragt, weil er sich einen Dreck darum kümmerte, ob es mich überhaupt gab. Gegenüber Schwerkraft und Licht zählte ich nichts. Bis spät in die Nacht saß ich vor dem Feuer und sah zu, wie die Scheite rot aufglühten. Irgendwann ging Desanka zu Bett und ließ mich da sitzen, ließ mich das Feuer und das Licht betrachten. Wenn ich dieses Physikbuch richtig verstanden hatte, dann war entweder alles in der Welt eine Welle, wie Magnetismus oder Schwerkraft, oder ein Körper aus winzigen Partikeln. Selbst menschliche Wesen bestanden aus Partikeln. Aber das Licht… Licht sah manchmal so aus, als sei es ein Ganzes, wie eine Welle, aber manchmal sah es aus wie winzige Funken, Millionen einzelner Teilchen, wie die Staubflocken in den
Balken, jedes mit eigener Energie und eigenem Schimmer. Was war es also, Welle oder Teilchen? Während ich in das Flackern und Fließen des Kaminfeuers blickte, kam mir in den Sinn, daß Licht wohl beides war, Welle und Teilchen. Die Müdigkeit kreiste in meinem Kopf. Benommen fragte ich mich, ob wir armen Menschen auch Wellen und Partikel waren. Konnten wir ein einziges Ding sein, was zusammenfloß, oder auf immer und ewig getrennt blieb? Ich war eine Welle, die überall hinfloß, um meine Familie zu finden, und wieder hierher zurück, und ich bestand gleichzeitig aus einzelnen Partikeln, in einer Welt, die nicht zusammengebracht werden konnte. Jetzt, im Schein des Kaminfeuers, fühlte ich sogar die winzigsten Partikel meines Körper schwach und dünn werden. Alles, dessen ich jemals sicher gewesen war, verschwand. Ich schrumpfte zu einem Nichts zusammen. Ich war noch nicht einmal mehr eine wirkliche Person. Ein Geist. Ich wurde ein Geist, der keinen Platz in der Welt hatte. Ein Geist ohne Heimat. Mein Vater hatte mich noch nie besucht. Mein Vater hatte noch nicht einmal nach mir gefragt. Mein Vater, der Vater, den ich nie gesehen hatte, hatte mich zurückgelassen an einem Ort, wo ich mein Leben lang nichts weiter sein konnte als eine Hilfskraft zur Erntezeit, als eine Kuhmelkerin, eine Pflückerin von Paprikaschoten und Zwiebeln. Niemand würde mir eine Aussteuer geben, es würde mir noch nicht einmal jemand eine gute Milchkuh kaufen, mit der ich einen eigenen Hof bewirtschaften könnte. Ich hatte keine Zukunft, überhaupt keine, und ihm war das egal. Es kümmerte ihn nicht, und er wußte nicht einmal, ob ich lebte oder starb. Nur eines blieb fest und real in diesem Meer von Nichts. Die Träne meiner Mutter. Sie hatte mich mitnehmen wollen. Das
war klar, weil sie geweint hatte. Er hatte sie veranlaßt, sich von mir zu verabschieden, weil er mich nicht haben wollte, aber sie hatte durch ihre Träne ihre Liebe zu mir verraten. Ihre einzelne schimmernde Träne. Ich dachte an meinen Vater, den Patentoffizier, beschäftigt mit seiner Wissenschaft und seinen Lösungen, ohne einen Gedanken an seine Tochter in den kalten Labors von Zürich, wo er sich nur über die dumme Schwerkraft, das nutzlose Licht Gedanken machte. Ich haßte ihn. Ich haßte ihn nicht nur für das, was er mir angetan hatte, sondern auch für das, was er meiner Mutter angetan hatte. Ich haßte ihn so sehr, daß ich fühlte, wie die Elemente in meinem Kopf wieder zusammenkamen, in neuen und anderen Formen. Ich erhob mich zu voller Größe im Licht des Kaminfeuers, fühlte die Wärme seines letzten Glühens auf meinen Armen. Ich war ich. Alle Dinge zusammen. Ich. Sie schmolzen dahin, die alte Lieserl, die Lieserl, die gehofft hatte, eine Prinzessin zu werden, der Wechselbalg, und ein neues Ich, eins, das noch keinen Namen hatte, würde sie eines Tages rächen. Ich stand rot im Schein des Kaminfeuers. Ein Geist von Licht und Feuer. Ich war Feuer, ich war Licht, und eines Tages würde die ganze Welt Feuer und Licht in endlosen Wellen sein. Ich tanzte in der Küche in dem Gedanken, daß ich Feuer war und die ganze Welt eines Tages Feuer sein würde. Ich drehte mich in diesen Träumen, bis ich schließlich merkte, daß der Raum kalt geworden war, das Feuer erloschen und ich mich wach getanzt hatte. Nur eine Person in der Welt stand zwischen mir und meinem rechtmäßigen Schicksal, meinem Platz an der Seite meiner Mutter, meiner Mutter, die mich liebte und mich nicht mitnehmen konnte. Eine Person.
Ein hassenswerter, hassenswerter Mann, und ich würde… ich würde… Was? Ich würde tun, was Geister immer tun, beschloß ich. Ich würde ihn erschrecken.
3 Der Fluß
7. März 1913 »Ich war mir nicht sicher, ob du wiederkommen würdest.« »Ich auch nicht.« »Aber du willst immer noch Deutsch lernen.« »Ja.« »Um deiner Mutter zu sagen, daß du sie liebst.« »Dazu brauche ich kein Deutsch. Das wußten Sie doch schon.« »Komm herein«, sagte Fräulein Freister und rauschte den Flur entlang. Ich folgte ihr über den gebohnerten Holzfußboden, der in den wenigen Frühlingssonnenstrahlen, die in die Pension drangen, glänzte. Alles schien zu glänzen, war voller neuer Lösungen und Versprechungen. Alles hatte den ganzen Winter hindurch geglänzt, durch den tiefsten Schnee hindurch, an Tagen, an denen der Boden wie Eisen und das Wasser im Brunnen festgefroren war. Meine Sicht der Welt als Feuer und Licht hatte in mir gebrannt, und mit dem Frühling hatte sie sich zur Tat verfestigt. »Ich wollte mit Ihnen reden«, sagte ich und legte meine Bücher auf den Tisch, »über das Vokabular.« »Das Vokabular?« fragte Fräulein Freisler. »Welche Wörter meinst du damit?« Da unser Unterricht immer am Freitag war, und Fräulein Freisler Katholikin, hatte sie mir unter anderem als erstes verschiedene Fischnamen beigebracht. So nett dieses Wissen auch war, wußte ich doch inzwischen, daß es nicht ausreichte.
Ich brauchte eine gründliche Unterweisung in der Physik und durfte keine Zeit mehr mit Heilbutt, Brasse, Forelle und Kabeljau verschwenden. Den ganzen Winter lang hatte ich über den Nachrichtenschnipseln, die Desanka mir zum Frühstück vorsetzte, und den seltsamen Sätzen in den Lehrbüchern aus der Bücherei nachgegrübelt und versucht, hinter ihren Sinn zu kommen. Womit bekämpfte man Feuer? Mit Feuer. Und womit würde man demnach Schwerkraft bekämpfen? Mit Schwerkraft. Und Licht? Man bekämpfte es mit Licht. Wenn dies die Waffen waren, die mein Vater gewählt hatte, mußte ich jedes einzelne Detail über sie wissen. Statt dessen hatte mir Fräulein Freister etwas über den Hecht und die Merkmale, an denen man erkennt, wie frisch er ist, beigebracht. Selbst wenn mein Deutsch untadelig war, so konnte ich damit keine Schlacht gewinnen. »Ich muß das deutsche Wort für Molekül kennen«, begann ich. Wir alle bestanden aus Molekülen, hatte ich entdeckt. Es waren die winzigen Partikel unserer Körper. Das Wissen, aus Molekülen zusammengesetzt zu sein, fühlte sich sehr seltsam an. »Molekül«, sagte Fräulein Freister. »Nicht so schwer.« »Und für Thermodynamik, Schwerkraft und Elektromagnetismus.« »Ah.« »Alle führenden Physikzeitschriften werden auf deutsch publiziert. Wenn ich jemals eine in die Hände bekommen kann, möchte ich sie verstehen können.« Fräulein Freister seufzte. »Deshalb willst du also jetzt Deutsch lernen? Um Physikzeitschriften zu lesen?« »Ja«, erwiderte ich. »Zum Teil. Ich möchte Physikerin werden.«
»Dazu brauchst du kein Deutsch. Du mußt einfach nur lernen. Hauptsächlich Mathematik.« »Ich habe Mathematik gelernt«, sagte ich. »Ich glaube sogar, ich habe alles an Mathematik gelernt, was es in Novi Sad gibt.« »Aber Mathematik ist doch überall in der Welt gleich!« entgegnete Fräulein Freisler. »Zum Rechnen brauchst du keine Sprachen.« »Es geht nicht nur ums Rechnen«, sagte ich. »Es geht um Ideen. Zum Beispiel: wie der Magnet funktioniert.« Das war eines der Rätsel, die ich während der langen, kalten Jahreszeit vollständig ausgeknobelt hatte. »Es gibt einen Punkt, an dem die Anziehungskraft des Magneten zu stark für ein Objekt wird. Aber was bestimmt diesen Punkt? Er verändert sich von Objekt zu Objekt, es gibt jedoch eine Grenze, über die hinaus der Magnet nicht mehr funktioniert, ganz gleich, wie klein das Objekt ist. Wer zieht die Grenze? Ist die Kraft proportional zu der Masse?« Das Fräulein zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »weil ich mir über die Wörter nicht sicher bin. Ich brauche die Sprache, um sicherzugehen, daß ich verstehe.« »Ich fürchte, ich würde all das selbst in einem Dutzend Sprachen nie verstehen«, sagte Fräulein Freisler. »Du wirst wahrscheinlich Physikerin werden.« »Ich muß es werden«, erwiderte ich. »Warum?« Ich beschloß, daß es wohl am einfachsten wäre, ihr die Wahrheit zu sagen. »Aus Rache«, entgegnete ich. »Ich glaube, du bleibst besser zum Mittagessen«, sagte sie. »Außerdem habe ich heute Forelle. Das reicht für uns beide.«
Ich schickte ein stummes Dankgebet zum Himmel. Da wir meilenweit vom Meer entfernt waren, konnte etwas anderes als Süßwasserfisch für Fräulein Freislers Freitagsessen nie von bester Qualität sein. Sie sagte immer, es spiele keine Rolle, da Fisch sowieso ein Zeichen ihres Leidens sei. Desanka hatte es zwar vor mir gewußt, aber auch mir war mittlerweile klargeworden, wie seltsam Fräulein Freisler in Wirklichkeit war.
Wir stocherten in der Forelle herum. Sie war nicht besonders gut, und Fräulein Freisler meinte, was könne man schon erwarten, es sei eben ein Geschenk gewesen. »Rache. An wem will sich so ein kleines Mädchen wie du rächen?« »An meinem Vater.« Sie überlegte einen Augenblick lang, dann stand sie auf, um Wasser für den Tee aufzusetzen. »Rache genießt man am besten kalt«, sagte sie. »Und du klingst nicht besonders kalt.« »Ich glaube, Physiker sind aber so«, erwiderte ich. »Bist du deinem Vater je begegnet?« »Nein.« »Weißt du, wo er ist?« »Er ist Professor in Prag. Nein, Berlin. Nein, Zürich, glaube ich.« Die Postkarten meiner Mutter klangen immer recht vage. »Was für ein Professor?« »Theoretische Physik.« »Ah«, sagte sie. »Jetzt geht mir langsam ein Licht auf. Ich muß dich jedoch warnen, Kleines, denn in deinem Fall muß die Rache wirklich eiskalt genossen werden. Ich würde schon Jahre brauchen, um genug Deutsch für eine Diskussion über Physik zu lernen, ganz zu schweigen von dir.«
»Ich habe jahrelang Zeit«, entgegnete ich. »Ich bin ja erst elf.« »Erst?« sagte Fräulein Freisler. »Das hatte ich ganz vergessen.« »Man würde mich jetzt noch nicht auf die Universität lassen.« »Wahrscheinlich nicht. Wenn überhaupt jemals.« »Aber ich muß zur Universität oder so etwas Ähnlichem gehen, wenn ich…« »Was?« »Ich bin nicht sicher. Wenn mein Vater dann immer noch an einer Theorie über Schwerkraft und Licht arbeitet, möchte ich darin besser sein als er. Wenn er eine Theorie entwickelt hat, möchte ich die Lücken darin finden und ihm beweisen, daß er unrecht hat. Aber ganz gleich, was ich einmal tue, ich muß verstehen können, was er macht, um ihn zu bekämpfen.« »Rache«, sagte Fräulein Freisler. »Und jetzt Kämpfe. Was ist denn, wenn er an etwas ganz anderem arbeitet?« »Das kann er nicht«, entgegnete ich. »Er ist Physiker. Was gibt es da sonst noch?« »Magnetismus zum Beispiel. Das hast du mir selbst gesagt.« »Das gehört alles zum selben Bereich. Wissen Sie, wenn man anfängt, über Schwerkraft nachzudenken…« Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht anfangen, über Schwerkraft nachzudenken. Ich bekomme Kopfschmerzen davon. Sag mal, Lieserl, wann hat dich dieser Ehrgeiz eigentlich gepackt?« »Ach, Fräulein Freisler, machen Sie sich keine Gedanken darüber. Wir sollten einfach anfangen. Magnetismus. Schwerkraft. Darauf muß ich mich jetzt konzentrieren.« Ich wollte endlich loslegen. »Wie es aussieht, weiß ich bis jetzt nur, wie ich ihm einen Heilbutt anbieten müßte.«
»Damit wirst du für deine Rache nicht weit kommen«, gab sie zu. »Es sei denn, es ist ein vollkommen verdorbener Heilbutt.« »Sie machen es also?« »Weiß Desanka davon?« »Wenn Sie es ihr nicht sagen, nicht.« »Wenn ich es tue«, sagte sie, »wenn ich dich weiterbringe, dann mußt du eine konstante Schülerin sein. Ich werde ein ganzes Leben dafür brauchen…« »Es gibt nichts Konstantes«, entgegnete ich. »Das habe ich bereits gelernt.« »Aber du bist doch wirklich seine Tochter?« »Ja.« »Das wird sich nie ändern. Weißt du, es gibt Dinge auf dieser Welt, die die Physik nicht beschreiben kann.« »Können Sie etwas über ihn herausfinden?« fragte ich. »Ich glaube, das werde ich müssen«, sagte sie, »um dir das richtige Vokabular beizubringen. Ist er Schweizer?« »Deutscher.« »Wie heißt er?« Fräulein Freister holte einen Papierbogen und einen Füller aus ihrem Schreibtisch. »Albert. Albert Einstein.« Sie schrieb es mit violetter Tinte auf. »Ich habe noch nie von ihm gehört«, sagte sie. »Wahrscheinlich auch sonst noch niemand. Aber ich kenne den Freund eines Freundes in Preußen. Ich werde mein Bestes tun.«
31. Juli 1914 Als Fräulein Freister mir die Tür öffnete, sah sie glücklich aus.
»Sie sind gut gelaunt heute«, sagte ich, als sie über den gebohnerten Fußboden zu ihren gemieteten Zimmern raschelte. »Ich habe Sie singen gehört, als ich klopfte.« »Ich habe einen angenehmen Abend verbracht. Es wird Krieg geben. Das ist immer gut fürs Geschäft.« »Machen Sie sich keine Sorgen?« »Wegen des Kriegs? Nein. Er hat wahrscheinlich sogar schon angefangen. Was ändert es, wenn ich mir Sorgen mache?« Da mußte ich ihr recht geben. Sie blieb vor der zweiten Tür stehen. »Bevor wir hineingehen, muß ich dir sagen, daß wir Besuch haben.« Ich war mißtrauisch. »Wer ist es?« »Der Freund eines Freundes. Ich habe ihm von deiner Mathematik erzählt, und er sagte, er würde dich gern kennenlernen.« Ich verlangsamte meinen Schritt, um ihr zu verstehen zu geben, daß ich ihn nicht kennenlernen wollte. »Kopf hoch, Mädchen.« Fräulein Freisler packte mich an der Schulter und schob mich den Flur entlang. »Du wirst nicht weit kommen im Leben, wenn du nicht auf andere zugehst.« Nachdem sie mich ins Zimmer geschoben hatte, entspannte ich mich ein bißchen. Noch ein Lehrer. Das war deutlich zu sehen, an dem schäbigen Anzug mit den glänzenden Ellbogen und an der Art, wie er mich mit schräggelegtem Kopf anlächelte, um mir die Befangenheit zu nehmen. »Du kleines Wunderkind.« Er schüttelte mir förmlich die Hand. »Herr Grünbaum«, sagte Fräulein Freisler, »das ist Lieserl.« Statt eines Grußes gab ich eine Art Grunzen von mir, aber das schien ihn nicht zu stören. »Das kleine Mädchen, das Physikerin werden will.« »Ich habe Lehrbücher gehabt«, ergänzte ich, »aus der Leihbücherei.«
»Newton?« »Ein bißchen«, sagte ich. »Die Principia?« »Das haben sie nicht im Leseraum«, antwortete ich. »Das Fräulein sagt, du bist Mathematikerin?« »Das könnte ich vielleicht werden.« »Hier.« Er schrieb ein paar Zahlen auf ein Stückchen Papier. Neunundvierzig und neunundvierzig. Ich starrte ihn an. »Was soll ich damit machen?« fragte ich. »Sie addieren?« »Ja«, sagte er. Das war fast unter meiner Würde, aber ich tat es. »Multiplizier sie«, sagte er. Ich sagte ihm die Antwort. »Wie hast du das gemacht?« »Wissen Sie nicht, wie man das Quadrat von Zahlen um die fünfzig berechnet?« fragte ich. »Sehen Sie, man nimmt fünfzig im Quadrat – das ist zweitausendfünfhundert – und subtrahiert einhundertmal die Differenz seiner Zahl von fünfzig. In diesem Fall ist es nur eins, also zieht man hundert ab und es kommt zweitausendvierhundert heraus. Um auf die genaue Zahl zu kommen, multipliziert man die Differenz und rechnet sie hinzu. Ein mal eins ist eins. Also kommt zweitausendvierhunderteins heraus.« Ihm das zu erklären dauerte viel länger, als es zu rechnen. Als Herr Grünbaum jedoch noch einmal fragte, wie ich es gemacht hätte, konnte ich es ihm immer noch nicht klarmachen. »Genauso wie ich alle langen Additions- und Multiplikationsreihen rechne«, sagte ich. »Ich sehe einfach hin.« »Du rechnest nicht methodisch und gelangst dann zu einem Ergebnis?«
»Nein. Das würde zu lange dauern. Im allgemeinen weiß ich zuerst die Antwort, und danach rechne ich, wenn ich muß. Zuerst sehe ich es.« »Du siehst es?« »Klar und deutlich.« Wir gingen durch Quadratwurzeln, Kubikwurzeln, Logarithmen und die Hauptprinzipien der Euklidschen Geometrie, um genau festzustellen, wie weit ich sehen konnte, bis Fräulein Freisler schließlich erklärte, das Essen sei fertig. Es war ein übel aussehender Karpfen. Herr Grünbaum lächelte. »Ich besorge dir die Principia«, sagte er. Er wandte sich an Fräulein Freisler. »Ist ihr Deutsch gut genug dafür?« »Im großen und ganzen«, entgegnete Fräulein Freisler. »Sie ist eine fleißige Schülerin.« »Sie ist eine gute Mathematikerin.« Er lächelte wieder und tätschelte meinen Kopf. Ich lächelte nicht zurück. Es war kein Kompliment, es war nur die Wahrheit.
Herr Grünbaum hielt Wort, und in der darauffolgenden Woche wartete das Buch schon auf mich. Eine moderne Ausgabe, sauber gesetzt, auf deutsch. Fräulein Freisler sagte, sie habe es einmal durchgeblättert und sie wäre in der Lage, jedes Wort, mit dem ich nicht vertraut sei, zu übersetzen. Ich sollte mich aber nicht darauf verlassen, daß sie es mir auch erklären könne. Ich brauchte sie gar nicht. Ich war hingerissen. Ich tauchte in eine Welt ein, in der Schiffe mit konstanter Geschwindigkeit hintereinander hersegelten, Seeleute den Leuten an der Küste zuwinkten, Signale mit Lampen gaben, stromaufwärts und stromabwärts segelten, reichlich Federn und Kanonenkugeln fallen ließen und die Ergebnisse berechneten.
Zu Hause erregte ich immer mehr Desankas Zorn, weil ich die Hefe im Brot und den Löffel Joghurt im Eintopf vergaß. Ich lebte in dem Königreich, das die Wissenschaften uns erschließen, dem Universum, in dem die Dinge leuchten, in der Gesellschaft meines Freundes Isaac Newton, der aus der Welt einen ordentlichen und logischen Ort machte. Berechnungen, Berechnungen. Lange silberne Zahlenreihen. Berechne den Kurs hiervon, die Geschwindigkeit davon, tu es oft genug, und es könnten die Regeln dabei herauskommen, nach denen sich die Dinge in den altehrwürdigen Zeiten verhielten. Und es gab tatsächlich Regeln, die im Universum unumstößlich herrschten. Dinge, die sich bewegten, bewegten sich immer weiter. Dinge, die stillstanden, standen still, bis man sie anstieß. Auf jede Aktion gab es eine gleichartige und eine entgegengesetzte Reaktion. Alles bewegte sich in einer genau vorhersehbaren Art. Die Gesetze der Schwerkraft, des Magnetismus, der Kraft beherrschten den Apfel, der vom Baum fiel, Ebbe und Flut der Gezeiten, das Ausschlagen der Kompaßnadel. Stelle genug Berechnungen an, und möglicherweise gelangst du zum reziproken Quadratgesetz, das die Planeten an Ort und Stelle hielt. Da oben bewegten die himmlischen Mechanismen die Planeten durch den Äther. Sie bewegten sich langsam, wie ein kosmisches Uhrwerk, das Gott in Gang gesetzt hatte, zogen die Bahnen ihres zugeteilten Schicksals vor dem festen, ewigen Hintergrund der Sterne. »Details, Lieserl«, pflegte Desanka zu sagen, wenn wir wieder einmal ein geschmackloses Essen aßen, bei dem ich zum wiederholten Mal das Salz vergessen hatte, »achte auf die Details. Der Teufel steckt im Detail.« Ich wußte das, es half mir jedoch nichts beim Kochen, das nur Details enthielt, die mich nicht im mindesten interessierten.
Wenn das Universum festen Gesetzen gehorchte, dann konnte ich sie letztendlich alle herausfinden. Der Magnet in meiner Hand war der Beweis dafür. Selbst die größte, unbändigste Kraft verriet sich selbst, indem sie sich jedes Mal immer wieder gleich verhielt. Sie konnte gemessen werden, berechnet werden. Es war nur eine Frage der Zeit, erkannte ich, bis ich alle Gesetze gelernt hatte und alles verstehen konnte. Mit diesem Ehrgeiz war ich glücklicher, als ich je zuvor gewesen war. Bei Newton gab es nichts, was meine Pläne durchkreuzte. Die Gesetze der Dynamik ließen ein Ding auf einem geraden Weg sich bewegen, bis man eine Kraft darauf anwandte, und dann änderte es entweder die Richtung, die Geschwindigkeit oder beides. Deshalb würde ich, wenn ich mich gerade auf dem Pfad der Rache bewegte, natürlich eines Tages auf meinen Vater treffen. Alles hatte seinen Pfad, alles hatte sein Schicksal. Ich war meinem begegnet. Ich stellte mir vor, daß wir aufeinanderstießen wie Kanonenkugeln. Eine Explosion. Eine gleiche und entgegengesetzte Reaktion. Wenn ich ihm direkt gegenüberstand, konnte er mich nicht mehr ignorieren. Ich wurde wieder zum Eiersammeln degradiert, was mir nur recht war, da ich so mehr Zeit zum Nachdenken hatte. Und Desanka schrie, weil die Hühner aufhörten zu legen. Es war ein langer Weg, den ich gehen mußte, aber mit jeder Tatsache, die ich sammelte, wuchs mein Waffenlager. Mit jeder Theorie, über die ich nachdachte, wurden die Waffen schärfer. Endlich las ich Newton, so wie meine Mutter es mir gesagt hatte, und es war genau das Richtige für mich. Und, was gleichermaßen tröstlich war, ich hatte endlich eine Erklärung dafür, warum mir die Sterne nicht auf den Kopf fielen.
26. März 1915 Maja rollte die Karte Europas vor mir auf. »Sieh dir das an«, sagte sie. Ich verbrachte immer mehr Zeit mit Maja – nach und nach hatte ich aufgehört, sie Fräulein Freister zu nennen. Während der Wintermonate, als der Schnee die Straßen unpassierbar machte und es fast unmöglich war, irgendwohin zu fahren, und ich auf dem Hof mit Desanka eingesperrt war, hatte ich sie schmerzlich vermißt. Jetzt, da der Frühling den Schnee geschmolzen hatte, war ich hungrig nach ihrer Gesellschaft. Sie habe einen erfolgreichen Winter hinter sich, sagte Maja, und zum Beweis zeigte sie mir einen Pelz. »Ozelot«, sagte sie und schlang ihn sich um den Hals. Ich kannte das Wort nicht und überlegte, ob es durch die Übersetzung wohl gelitten hatte. »Ist das nicht eine Rattenart?« fragte ich. Wir sprachen jetzt nur noch Deutsch, und ich tat es mit einer Leichtigkeit, als sei es wirklich meine Muttersprache. Dabei zog ich es vor, die Tatsache zu ignorieren, daß meine Mutter, worauf Desanka bei jeder Gelegenheit hinwies, in ihrer Kindheit und Jugend ein genauso gutes Ungarisch wie ich gesprochen hatte, und erst zu Deutsch übergegangen war, als sie in dieses dubiose Ausland zog. Und trotzdem: Wenn ich auf den Hof zurückkam, wo Desanka das Geld für die Musikstunden nicht nur in eine Reihe neuer Töpfe, sondern auch in einen Knecht, der die schweren Arbeiten wie Melken und Pflügen verrichtete, gesteckt hatte, fühlte ich mich seltsam dabei, die Sprache meiner Kindheit zu sprechen. Ich hatte inzwischen bei Maja ein sauberes Bett, da ich mit in ihrem schlief, außer wenn ich während eines dringenden fremdsprachlichen Termins auf dem Sofa schlafen mußte, und genoß den Luxus eines Kopfkissens und von Gaslicht, in
dessen Schein ich lesen konnte. Und ich brauchte meine Lehrbücher nicht zu verstecken. »Achte nicht auf all diese roten Linien«, sagte Maja und wedelte mit ihrer Hand über die Landkarte. »Das sind die zeitweiligen Staatsgrenzen.« »Gibst du mir Unterricht über den Krieg?« »Brauchst du Unterricht über den Krieg?« »Ich glaube nicht. Desanka hat mir alles darüber erzählt. Einer von Milevas alten Freunden, Karl, hat sich freiwillig gemeldet. Und der Sohn vom nächsten Hof auch. Desanka macht sich Sorgen, daß sie demnächst ihren Knecht verliert.« »Achte auch nicht auf all diese Straßen. Bis zur Erfindung des Ottomotors waren Straßen nur Feldwege, auf denen man mit der Kutsche zum Markt fahren konnte. Jetzt haben die Menschen größere Ideen, aber… Sieh dir diese dicke blaue Linie quer über die Seite an – Deutschlands Berge.« Sie wies mit dem Finger dorthin. »Hier in Ulm, wo der Fluß noch schmal ist, ist dein Vater geboren. Und hier, in der großen ungarischen Ebene, hier in Novi Sad, dem Athen des habsburgischen Reiches, ist deine Mutter geboren.« »Und ich«, antwortete ich. »Du hast deine Hausaufgaben gemacht.« »Und was verbindet die beiden Orte?« Ich las den Namen auf der Karte. »Die Donau.« »Ja, die stetig fließende Donau. Wenn du deinen Vater finden möchtest, mußt du die Donau entlangreisen.« »Mit dem Schiff?« »Manchmal, Lieserl, bist du bemerkenswert dumm.« »Gibt es keine Schiffe?« »Es gibt viele Schiffe, aber es ist Krieg. Wir sollten vielleicht den roten Linien doch eine Weile unsere Aufmerksamkeit schenken.« »Wir fahren also wirklich?«
Maja lachte. »Nein, du bist noch zu jung, es gibt noch zuviel zu tun, und Desanka braucht dich. Außerdem herrscht in den Städten Typhus.« Ich stimmte ihr in keinem Punkt außer dem letzten zu, aber ich widersprach nicht. Ich hielt mich für erwachsener, als Maja glauben mochte. Ich war nicht mehr zu jung. Ich war groß geworden. Und in einer Stadt, in der die meisten Menschen dunkel wie Zigeuner waren, war meine Haut eher gelblich – oliv, wie die meiner Mutter. Ich war eine Slawin, ich bin eine Slawin, und das sah man an meinen dunklen Haaren, der olivfarbenen Haut und den ausgeprägten Wangenknochen. Ich bin eine Slawin wie Desanka und wie meine Mutter, aber schmaler als die beiden Frauen. Mein Gesicht ist nicht breit, meine Hüften sind nicht breit und auch meine Hände nicht, deshalb hielt mich der Knecht für zerbrechlich und trug die Milchkannen, sogar ohne daß ich ihn darum bat. Und ich widersprach Maja nicht, weil es wirklich noch viel gab, an dem ich arbeiten wollte, und im Moment war der Krieg einer Reise wirklich hinderlich. Meine Hauptsorge aber galt Newton. »Habe ich dir schon erzählt«, sagte ich zu Maja, »daß Newton sich geirrt hat?« »Ha! Du hast seit Monaten behauptet, daß er alles unwiderlegbar bewiesen hat.« »Warum bleiben die Sterne an Ort und Stelle, Maja?« »Sie tun es eben einfach, oder? Ich weiß, daß es so ist. Ich sehe sie jede Nacht.« »Nach Mr. Newton sind die Sterne alle gleichmäßig im Äther über das ganze Universum hinweg verteilt, deshalb ist die Schwerkraft, die auf jeden Stern wirkt, in alle Richtungen die gleiche.« »Also?« »Also bleiben sie da, wo sie sind.«
»Klingt vernünftig.« »Für mich nicht.« Ich sah überhaupt keinen Grund, Newton in diesem Punkt zu vertrauen. Er hatte bei vielen Dingen im Universum recht, sicher, aber er war auch verrückt. Er hatte Rechenmethoden erfunden – Differential und Integral –, deren Anwendung mir bei meinen Berechnungen enorm half, und hatte sie dann die meiste Zeit seines Lebens geheimgehalten. Außerdem hatte er seine letzten Jahre damit verbracht, das Buch Daniel zu lesen, und versucht, Landkarten der Hölle zu entwerfen. Aus diesen Tatsachen schloß ich, daß er nicht immer ein zuverlässiger Führer war. Wenn Newton sich so gründlich mit dem Problem beschäftigt hätte, wie ich es tat, wäre ihm aufgefallen, daß die leichteste Abweichung einen Stern in die eine oder andere Richtung ziehen würde, und dann würden alle Sterne anfangen, sich zu bewegen. Und wenn ein Stern näher an einen anderen Stern herankäme, würde die Anziehungskraft stärker werden. Das war das reziproke Quadratgesetz. Wenn sie also erst einmal begannen, sich zu bewegen, würden sie sich immer schneller bewegen, und binnen kurzem würde das ganze Universum zusammenbrechen. Da jedoch das Universum bisher nicht zusammengebrochen war, konnte es einfach nicht sein, daß die Sterne stillstanden. Aber wenn sie nicht stillstanden, was taten sie dann? Ich hielt es durchaus für möglich, dies durch eine Reihe von Gleichungen herauszubekommen. Ich würde endlos lange Berechnungen anstellen müssen, aber das hatte mich noch nie gestört. Die leuchtenden Zahlenreihen führten letztendlich immer zu einem Ergebnis. Ich wollte nicht auf Reisen gehen, bevor ich das Ergebnis kannte.
Aber ich wußte, daß mich danach nichts mehr aufhalten würde.
13. August 1915 Obwohl Maja es abgelehnt hatte, daß wir uns sofort auf den Weg machten, verbrachte ich den Frühling und den Sommer auf dem Hof mit leichtem Herzen und half Desanka und dem Knecht dabei, den Weizen auszusäen und die Kühe zu melken. Maja hatte nicht nur zum ersten Mal davon gesprochen, daß ich meinen Vater suchen sollte – der jetzt, laut der letzten Postkarte meiner Mutter, ein führender Kopf an der physikalischen Fakultät in Berlin war –, sie hatte auch nicht nein gesagt, als ich »wir« sagte. Ich begann, die Hoffnung zu hegen, daß sie mich begleiten würde. Ich kannte jenseits der ungarischen Grenzen niemanden außer meiner Mutter und Hans Albert, und ich konnte nicht garantieren, daß einer von ihnen erfreut sein würde, mich zu sehen, wenn ich einem Donauschiff entstieg. Herr Grünbaum beschloß, uns wieder einmal zu besuchen, und er brachte gesalzenen Kabeljau und ein neues Lehrbuch mit, das er selbst erst kürzlich erworben hatte. Dieses Mal tätschelte er mir nicht den Kopf. »Kabeljau«, sagte er zu Maja, die sofort damit in die Küche ging, um Fischfrikadellen daraus zu machen. »Maxwell«, sagte er zu mir mit wohlwollendem Gesichtsausdruck. Ich blätterte das Buch durch. Vier Gleichungen. Ich hätte Herrn Grünbaum küssen können, und fast hätte ich es auch getan. Vier Gleichungen, und die ganze Welt der Elektrizität und des Magnetismus lag einem zu Füßen. Man brauchte sich bloß ein Problem auszudenken, und eine dieser vier
Gleichungen konnte es lösen. Wahrscheinlich wäre ich irgendwann auch selbst darauf gekommen, aber das Buch ersparte mir schrecklich viel Arbeit. Maxwell hatte wie ich mit dem Versuch angefangen, nur ein Ding zu erklären: In meinem Fall war es die Schwerkraft, in seinem das Verhalten von Radiowellen. Aber jede seiner Berechnungen zeigte, daß Radiowellen, wie alle anderen elektromagnetischen Wellen in dem Bereich, sich nur in einer einzigen Geschwindigkeit bewegten – der Geschwindigkeit des Lichts. »Also ist Licht letztendlich eine Welle«, sagte ich zu Herrn Grünbaum. »Das habe ich mir schon gedacht.« »Was hätte es denn deiner Meinung nach sonst sein können?« fragte er, aber ich beschloß, ihm nichts von meinem Tanz am Kamin im Hof zu erzählen, wo ich dachte, daß Licht auch aus kleinen Teilchen bestehen könnte. Bei Tageslicht kam mir diese Idee albern vor, vor allem jetzt, wo ich vier Gleichungen vor Augen hatte, die alle bewiesen, daß es eine Welle war. Und noch etwas war seltsam an den Gleichungen. Das Licht bewegte sich immer mit der gleichen Geschwindigkeit. Dort in den Gleichungen stand er, der kleine Buchstabe c, der die Lichtgeschwindigkeit bezeichnete. Licht bewegte sich immer mit der gleichen Geschwindigkeit. »Das ist seltsam«, sagte ich zu Herrn Grünbaum. »Was denn?« »Licht bewegt sich immer mit der gleichen Geschwindigkeit.« »Was ist daran seltsam?« »Nun, das erwartet man nicht gerade, oder?« Ich sah an seinem Gesichtsausdruck, daß er weder das eine noch das andere erwartet hatte. »Wenn ich Ihnen einen Ball zuwerfen würde«, sagte ich, »dann könnten Sie ihn fangen, oder?«
»Meistens«, sagte er. »Aber wenn ich auf einem Ochsenkarren fahre«, sagte ich, »wirklich schnell auf Sie zufahre, und Ihnen dann einen Ball zuwerfe, dann könnten Sie ihn wahrscheinlich nicht fangen, oder?« »Nein«, antwortete er, »dann käme er zu schnell.« »Genau«, sagte ich. »Der Ball hätte die Geschwindigkeit des Ochsenkarrens plus der Geschwindigkeit meines Wurfs. Für Sie würde es schnell aussehen, auch wenn es für mich langsam aussähe. Geschwindigkeit ist relativ. Das würden Sie erwarten, wenn ich den Ball werfe, und sich darauf einstellen, selbst wenn Sie ihn nicht fangen könnten.« »Also?« »Das ist der Punkt. Licht ist nicht so. Sehen Sie.« Ich wies auf den kleinen Buchstaben c. Er sah zwar hin, aber ich glaube nicht, daß er begriff. Er mochte ja das Lehrbuch gehabt haben, aber das bedeutete nicht, daß er ernsthaft darüber nachdachte, was darin stand. Ich versuchte, Geduld mit Herrn Grünbaum zu haben. »Wenn ich in meinem Ochsenkarren fahre und einen Lichtstrahl zu Ihnen schicke, dann hat er die Geschwindigkeit, die er immer hat. Nicht die Geschwindigkeit des Lichts plus der Geschwindigkeit des Ochsenkarrens.« Ich überlegte. »Außerdem ist die Geschwindigkeit des Ochsenkarrens unbedeutend, verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit.« In der Tat, da die Lichtgeschwindigkeit ungefähr dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde betrug, konnte man den Ochsenkarren beinahe vergessen. Das war etwas, worauf mich Newtons Universum nicht so recht vorbereitet hatte. Licht verhielt sich nicht so wie ein Ball, der geworfen wurde. Es war eine Konstante. Immer eine Konstante. Und das war beunruhigend.
Herrn Grünbaum schien es jedoch nicht zu beunruhigen. Maja ebenfalls nicht. Sie aßen ihren gesalzenen Kabeljau und redeten über den Krieg, der jetzt voll im Gange war, und den Herr Grünbaum weit beunruhigender fand. Maja allerdings war immer noch der Meinung, daß man sich wegen des Krieges keine Sorgen zu machen brauchte. Als ich meine Bücher wegpackte, kam mir ein letzter Gedanke. »Eine Welle«, sagte ich zu Herrn Grünbaum, »muß eine Welle in etwas sein. Oder nicht?« »Vermutlich«, sagte er. »Wie eine Wasserwelle in einem Ozean.« »Dann muß Licht Wellen im Äther sein«, meinte ich. »Ja, vermutlich«, antwortete er. Er konnte mir nicht folgen. Ich wollte ihn fragen, ob ich das Lehrbuch behalten könne, aber anscheinend hatte er es bereits vergessen. Maja und er diskutierten inzwischen darüber, ob es wohl im Osten und im Westen Kämpfe geben würde, also steckte ich es zu meinen Deutschbüchern in die Tasche, und ich glaube nicht, daß er es überhaupt bemerkte. Als ich ging, dachte ich noch einmal über die Sterne nach. Ich hatte jetzt ein paar Gleichungen. Was würde ich mit ihnen anfangen?
10. April 1916 Können Menschen an zwei Orten gleichzeitig sein? Manchmal denke ich, daß ich während meiner Kindheit gleichzeitig bei Desanka auf dem Hof und bei Maja in Novi Sad aufwuchs. Bücher und Hofarbeit. Deutsch und Ungarisch. Zwei Frauen, die nicht im entferntesten mit mir verwandt waren, aber beide die besten Absichten für mich hegten, und zwischen ihnen konnte ich im Kopf in die Welt hinausgehen und über
Gleichungen nachdenken und was sie bedeuteten, und niemand konnte mir etwas anhaben. Dieser Traum dauerte bis zu jenem Morgen, an dem Desanka und ich von Geschützlärm aufwachten, entfernt zwar noch, aber unmißverständlich über dem Brüllen der Ochsen zu hören. Die Störche am Fluß flatterten auf und flogen weg, ließen ihre Eier in den Nestern zurück. Ich ließ mich von einem Ochsenkarren mitnehmen und floh, so schnell es der Karren erlaubte, zu Maja. Maja war in Tränen aufgelöst. Sie packte ihre Koffer. Der Ozelot hing ihr um den Hals und war ständig im Weg. Ich kam mir überflüssig vor. Ich saß auf dem Besucherstuhl in ihrem winzigen Salon, sah zu, wie sie ihre Habseligkeiten herumschleuderte, und wußte nicht, was ich sonst tun sollte. »Desanka sagt, das Reich bricht zusammen.« »Das Reich«, sagte Maja. »Ich spucke auf das Reich.« Interessiert setzte ich mich aufrechter hin. »Erinnere mich daran«, sagte Maja, »wenn ich jemals wieder so denke.« »An was soll ich dich erinnern?« »Daß ich Männern nie mehr Vertrauen schenke. Sie sind es nicht wert.« Ich wußte nicht, daß es einen Mann auf der Welt gegeben hatte, der so wichtig war, daß er Maja zum Weinen brachte. Mir bescherte es die Erkenntnis, daß auch ihr Leben zwischen meinen Besuchen mit den Lehrbüchern real war, daß sie nicht alles im Schwebezustand hielt, bis ich wieder vorbeikam, um über den Doppler-Effekt zu diskutieren. »Der Priester«, sagte Maja. »Der Priester hat ihm in der Kirche seinen Segen gegeben, bevor er gegangen ist. Der Gott der Schützengräben. Der Gott der Gerechten Gewehre. Zum
Schlachter geführt wie ein Tier zum Schlachthof. Wo sind deine Koffer?« »Meine Koffer?« »Du hast doch gepackt, oder nicht? Du hast doch Desanka gesagt, daß du wegfährst?« Sie blickte mich an. Ich saß unbehaglich auf dem gepolsterten Stuhl und bemerkte zum ersten Mal, daß sie von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war. »Ich habe gar nichts dabei«, sagte ich. »Ich wußte nicht, daß ich meine Sachen mitbringen sollte.« »Lieserl, eine Entweihung hat stattgefunden! Wahrscheinlich wird nichts, was dir je im Leben begegnet, es mit der Ignoranz und der Obszönität aufnehmen können, mit der dieser wunderbare Junge in den Tod geschickt worden ist. Ich möchte, daß du nach Hause gehst und packst. Und ich möchte kein Wort über diese verdammte Schwerkraft hören.« »Wir haben heute morgen Geschützdonner gehört«, sagte ich. Sie hatte mich so angesteckt, daß ich meine Lehrbücher unter Majas Bett hervorzog. »Wir müssen uns beeilen«, sagte Maja und klappte ihren Koffer zu.
Der Hof lag seltsam ruhig da. Der Frühlingsweizen wuchs. In der Mulde am Fluß zeigten sich die ersten grünen Früchte der frühen Sommererdbeeren. Ich hatte erwartet, daß die Hühner herumliefen, der Knecht auf dem Feld wäre. Hinten am Horizont erklang weiter das dumpfe Grollen der Geschütze. Was auch immer geschah, es ging nicht vorüber, sondern kam immer näher. Desanka erwartete uns in der niedrigen Küche. Auf einem Teller vor ihr lagen Brot und ein bißchen Butter. Sie war blaß und sah grimmig aus, aber die Küche war sauber.
»Fräulein Freisler«, sagte sie, »ich habe mich schon gefragt, wann Sie kommen.« »Es ist Zeit«, antwortete Maja. »Sie wissen, daß Sie gehen müssen.« »Ich werde nicht gehen«, erwiderte Desanka. »Das ist mein Zuhause.« »Lieserl geht weg«, sagte Maja. Sie machte eine Handbewegung zu mir hin. Ich trat auf Desankas Schlafzimmer zu, um mir einen Koffer zu holen. Noch zögerte ich, aber Desanka drehte sich um und winkte mich ebenfalls weg. Es gab eine graue Reisetasche, in die der Tunichtgut Ferdi früher einmal Goldmünzen gestopft hatte, und die nahm ich. Ich besaß nicht viel. Kleider. Eine der Decken von meinem Bett, eine Patchworkdecke, die schon lange vor meiner Ankunft im Besitz von Desankas Familie gewesen war. Nichts, was Majas Ozelot gleichkam. Maja hatte sowieso alle meine wichtigen Bücher in ihrem Koffer, und ich hatte Hans Alberts magischen Stein in der Tasche. Obwohl ich mit dem Packen fertig war, blieb ich noch unschlüssig stehen. Ich konnte hören, daß die Frauen miteinander in der Küche sprachen. Maja wollte wissen: »Was werden Sie tun?« »Hierbleiben.« »Die Kämpfe rücken näher. Wo ist Ihr Knecht?« »Weg.« Desanka schnaubte. »Weg, um seine Familie zu verteidigen.« »Es ist jetzt schon gefährlich«, sagte Maja, »aber es wird noch schlimmer werden.« »Deshalb müssen Sie sie weit von hier fortbringen. Hier hält sie nichts.« Dann war Schweigen. »Tun Sie es?« fragte Desanka schließlich leise.
»Ich nehme sie mit«, sagte Maja. »Sie wissen, daß ich das tue.« Und so, ich konnte es nur hören und war eigentlich nicht dabei, übergab Desanka mich. Ich ließ Maja mit ihrem braunen Koffer und meiner grauen Reisetasche draußen warten. »Es wird nicht lange dauern«, sagte ich zu ihr. »Warte bitte.« Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen, aber sie wartete. In der Küche legte ich meine Arme um Desanka. »Ich muß es wissen«, sagte ich, »bevor ich gehe.« Desanka vergeudete keine Zeit. Sie wußte, daß ich eines Tages gefragt hätte, und sie war bereit. Sie setzte sich auf die Bank und legte die Hände flach auf den Tisch. Die Geschichte kam aus ihr heraus, als hätte sie sie eingeübt. »Im Frühjahr 1904«, sagte sie, »gab es eine Scharlachepidemie. Als der Schnee schmolz. Alle waren angesteckt. Die Frau von Milevas Bruder – sie lebten im Elternhaus… Die Frau von Milevas Bruder hatte einen Säugling, ein Neugeborenes. Du warst schon fast zwei Jahre alt, als du dich anstecktest. Sie glaubten nicht, daß du es überleben würdest.« »Und deshalb schafften sie mich aus dem Haus.« »Sie mußten dich aus dem Haus schaffen. Sie dachten, du würdest nicht überleben, und da war das Neugeborene… Deine Mutter war weg, mit deinem Vater. Sie waren damals natürlich schon verheiratet. Und ihre Familie zog dich groß. So war es geplant.« »Warum du? Warum haben sie mich zu dir gegeben?« Desanka zuckte mit den Schultern, als ob diese Dinge auf der Hand lägen. »Ich habe darum gebeten.« »Warum?«
»Mileva und ich… Mileva und ich kannten uns seit der Schulzeit. Sie kannte Ferdi. Sie war sehr klug, deine Mutter. Sehr klug. Wie du in der Schule. Dann ist sie weggegangen, um zu studieren… Mileva war meine Freundin, und du warst ihre Tochter. Ganz gleich, welche Fehler sie machte, ganz gleich, in welches Unglück sie sich in diesem fremden Land stürzte, mit diesem dummen Tunichtgut, sie war immer noch meine Freundin. Und du warst ein Teil von ihr. Wenn du sterben würdest, solltest du es bei mir tun.« »Aber ich starb nicht.« Sie lachte. »Nein. Du wärst beinahe gestorben, aber du warst ein starkes Mädchen. Du warst nach dem Fieber sogar noch stärker als vorher.« »Und warum hast du mich dann nicht zurückgeschickt?« Ich dachte, Desanka würde diese Frage nicht beantworten. Und dann dachte ich, wie auch immer ihre Antwort ausfallen würde – sie hatten mich nicht zurückhaben wollen, die Familie meiner Mutter hatte mich in der Zeit, in der ich stark genug wurde, um wieder laufen zu lernen, vergessen –, ich wollte sie gar nicht hören. Aber sie gab mir eine Antwort. »Ich habe ihnen nicht gesagt, daß es dir besserging.« »Niemandem?« »Nur Mileva. Sie schickte Geld, wann immer sie konnte. Und ich bat sie, der übrigen Familie zu sagen, du seist tot.« »Und das hat sie getan?« »Ja.« »Wo lebt meine Familie, Desanka?« »Auf der anderen Seite von Novi Sad. Sie haben ein großes Haus. Du hast sie manchmal in der Stadt gesehen. Deinen Onkel. Leopold Marie. Deinen Großvater. Deine Vettern und Kusinen. Du bist auf der Straße an ihnen vorbeigegangen. Sie kennen dich nicht.«
Die ganze Zeit über hatte ich so weit in die Ferne geblickt, bis ans Ende der Donau, und dabei hatte ich eine Familie hier, in Novi Sad. »Warum? Warum hast du ihnen nicht gesagt, daß ich überlebt hatte? Warum hast du mich nicht nach Hause gebracht, als es mir besserging?« Es war so einfach. »Weil ich dich inzwischen liebte, Kleines.« Wie konnte ich ihr das vorwerfen? Meine eigene Familie hatte mich ohne Bedenken weggegeben, ich war ein Unfall für sie, eine Anomalie, sie waren froh, mich nicht mehr sehen zu müssen. Zweifellos war es auch für Mileva einfacher, wenn sie nach Hause kommen und ihre Familie mit ihren legitimen Söhnen besuchen konnte, ohne daß ich dasaß und wartete wie ein peinliches Paket in der Gepäckaufbewahrung. Desanka hatte mir ein Bett in der Kirschbaumholznische gemacht und mir Geschichten von Prinzessinnen erzählt. All diese Jahre über hatte sie mich geliebt und auf den Tag gewartet, an dem ich gehen würde. Unter diesen Umständen beschloß ich, sie nicht mit meinen Racheplänen zu beunruhigen, und küßte sie einfach. »Auf Wiedersehen, Desanka.« Ich zögerte. »Wenn ich kann, komme ich zurück.« Sie wandte sich ab. »Nein, du wirst nicht zurückkommen.« Ich küßte sie noch einmal. Heftig, als wenn ich in diesen einen Kuß zehn Jahre des Dankes hineinlegen müßte.
Im Wagen bemerkte ich, daß Maja einen Ehering an der Hand trug. »Du bist noch zu jung, um ganz in Schwarz zu gehen«, sagte sie, »aber hier…«
Sie legte mir ein schwarzes Stoffband um den Oberarm und steckte es fest. »Ich wüßte nicht, daß jemand gestorben wäre«, erwiderte ich. »Darum geht es nicht«, sagte sie, »die Leute sollen denken, es sei so.« »Warum?« »Es erspart uns Fragen«, entgegnete sie, »und Unannehmlichkeiten an der Grenze.« Wir fuhren in nordwestliche Richtung. Auf allen Feldern wuchsen die Weinstöcke, die an vier bis fünf Meter hohen Pfosten festgebunden waren. Wir fuhren an unzähligen ordentlichen Reihen vorbei, die tickten wie ein Metronom. Noch nicht reif. Noch nicht reif. Sie würden reif werden. In dieser Erde wächst einfach alles, sie ist wie ein Brotkorb. Alles wuchs auf dieser sonnenverbrannten Ebene, während der Krieg das Reich hinwegfegte. Um meine Gedanken von Desanka abzulenken, um mich davon abzuhalten, zu ihr und dem sicheren Tod zurückzulaufen, hielt ich mir in Gedanken Maxwells Gleichungen vor Augen. Ich hielt sie dort wie einen Schild und gestattete mir nicht, zurückzublicken.
Hier auf der Erde waren alle Geschwindigkeiten relativ. Aber was war, wenn man seinen Blickwinkel erweiterte und das ganze Universum betrachtete? Wenn man die Geschwindigkeit des Lichts gegenüber einem grundlegenden Bezugsrahmen von absolutem Raum – dem Äther – maß, dann konnte Licht letztendlich eine Konstante sein. Seine Geschwindigkeit war einfach relativ zum Äther. Besonders interessant an den Gleichungen war jedoch meiner Meinung nach, daß es eigentlich, wenn man sie richtig betrachtete, gar keinen Äther zu geben brauchte. Die
Mathematik funktionierte auch hervorragend ohne. Eigentlich verstand ich gar nicht, wie Äther funktionieren konnte, trotz der Tatsache, daß jedes Lehrbuch, das ich gelesen hatte, seine Bedeutung immer wieder hervorhob. Er war einfach im Weg. Wenn die Erde sich durch den Äther bewegte wie ein Schwimmer im Fluß, dann mußten wir uns manchmal mit dem Fluß des Äthers bewegen und manchmal dagegen, wie beim Schwimmen gegen die Strömung. Und wenn Licht sich immer als eine Konstante relativ zum Äther bewegte, dann gäbe es manchmal Unterschiede in der Lichtgeschwindigkeit, je nachdem, ob wir uns schnell mit der Strömung oder langsam gegen sie bewegten. Ich hätte wetten können, es gab keinen Unterschied. Ich hätte wetten können, daß die Lichtgeschwindigkeit immer dieselbe war. Hier stand ich mit dem Rücken zur Wand. Bis jetzt hatte ich alles, was ich über das Universum gedacht hatte, in meinem Kopf erledigen können. Ich brauchte keine besondere Ausrüstung – einfach denken war genug. Aber um herauszufinden, ob es so aussah, als ob das Licht sich langsamer oder schneller bewegte je nach unserer Position im Äther, brauchte ich jemanden, der hinausging und nachsah. Ich würde darauf warten müssen. In der Zwischenzeit behauptete meine Mathematik, man brauche keinen Äther. Und wenn es keinen Äther gab… dann mußte das ganze Universum neu erforscht werden. Dann fiel mir ein, wie Desanka gesagt hatte, »Serben machen keinen Knicks«, und ich brach in Tränen aus.
An jeder Grenze wurden wir von Mitgefühl nur so überschwemmt.
Maja war ganz Anmut. »Meine Tochter ist sehr müde«, sagte sie. »Sie sind uns eine so große Hilfe.« Sie neigte ihren Kopf. »Ich danke Ihnen sehr. Vielen, vielen Dank.« Irgendwann mitten in der Nacht, der zweiten Nacht, der dritten Nacht, redete ein Mann in Uniform mich an. »Lieserl Marie?« Ich hob verschlafen meinen Kopf von Majas Schulter, der einzigen weichen Stelle, die ich an ihr über dem Fischbeinkorsett hatte finden können, und war so überrascht, daß ich aufstand. »Hier.« »Unterschreib das.« Und ich unterschrieb das Stück Papier, was immer es auch war, was immer es versprach, und benutzte dabei zum letzten Mal meinen Geburtsnamen. Und so verließ ich für immer das Land, in dem ich noch nicht einmal ein eigenes Bett hatte, nur ein paar Decken in der Nische zwischen der Wange des Kamins und der Außenmauer, kalt im Winter, heiß im Sommer, und ging dorthin, wohin auch immer Maja mich mitnahm.
»Wohin sollen wir fahren?« fragte sie am Bahnhof. Ich blickte zurück über die flache Ebene mit Weizen und Ochsen, und einen Augenblick lang erlaubte ich mir beinahe, mich von einem Windhauch aus dem Süden verführen zu lassen, der erfüllt war von Zitronen und Magnolien und der Weichheit reifer Pfirsiche. Aber dort war mein Vater nicht. »Nach Norden«, sagte ich. Und so kauften wir Fahrkarten und überquerten Berge und gelangten an Orte, wo die Luft kälter war. So begann unsere Zufallsreise über den Kontinent. Ich würde die erste sein, hatte ich beschlossen. Ich würde Formeln entwickeln, die seine Theorie widerlegten. Ich würde
ihn mit einer Erklärung der Rätsel des Universums schlagen, und wenn es mich umbrächte. Auf den Feldern blühten überall die Wildblumen.
4 Der Wald
26. Januar 1918 Meinen sechzehnten Geburtstag feierte ich in Wien. Überall, wo wir hinkamen, war alles rationiert oder eingeschränkt. Man bekam nichts, wenn man nicht einen hohen Preis dafür bezahlte. Trotzdem buk Maja mir einen Kuchen mit Sahne und Baiser, aus Gott weiß was für einem Schwarzmarktzucker. Ich glaube, sie hat unsere Reisen absichtlich so arrangiert, daß ich meinen Geburtstag in Wien feiern konnte, damit ich mich immer an die Sahne und den Zucker erinnern würde, vor dem Hintergrund der Prachtstraßen und Rokokogiebel der Gebäude, der Kirchen mit ihren Kuppeln und weißen Türmen. Ich hatte schon seit langem darüber nachgedacht, aber am Abend meines sechzehnten Geburtstags, nach dem Kuchen und dem Spaziergang durch die verschnörkelten Straßen, wurde mir klar, daß die Zeit selbst das Problem darstellte, wenn man erst einmal anerkannt hatte, daß Licht ein Maximum und eine Konstante war. Dann küßte Maja mich mitten auf den Mund und sagte zu mir, jetzt sei ich erwachsen.
13. Oktober 1918 Wir wohnten in muffigen Räumen unter den gestrengen Augen von Frau Goldberg, der das Haus gehörte. Sie war erfreut darüber, eine Lehrerin und deren Tochter zur Gesellschaft zu haben. Niemand vermietete damals Zimmer. In der
Nachbarschaft wohnte eine Bauersfrau, die jeden Tag kam, um weiße Rüben und Kaminholz zu verkaufen. Maja trug immer noch Schwarz, und auch ich hatte das schwarze Baumwollband noch um den Arm. Frau Goldberg bemitleidete uns sehr wegen unseres Verlusts. Mittlerweile hatten wir für Maja einen toten Ehemann namens Wolfgang erfunden. Auf der Reise hatten wir eine Photographie in einem Elfenbeinrahmen mit einem Trauerflor erstanden, die nun für jeden sichtbar auf dem gemieteten Schreibtisch stand. Ein angemessen gutaussehender, starker Mann mit entschlossenem Kinn, der in der Uniform des Kaisers eine glänzende Figur machte. Maja staubte das Bild täglich ab, was Frau Goldberg äußerst wohlwollend aufnahm. Sie war so froh, uns bei sich zu haben, daß sie sogar die Studenten der Wissenschaft, die abends treppauf und treppab liefen, in Kauf nahm. »Also, Wissenschaft war schon immer mein Thema«, sagte Maja. »Schwerkraft, Magnetismus. Sie wissen schon.« Sie durchforstete ihr Hirn nach weiteren Begriffen, die sie von mir gehört hatte. »Thermodynamik.« Frau Goldberg war mißtrauisch. »Finden Sie es nicht auch wunderbar«, fuhr Maja fort, »daß unsere jungen Männer immer noch bessere Menschen werden wollen, ihre wissenschaftlichen Kenntnisse erweitern wollen, trotz der Unbilden des Krieges?« Frau Goldberg warf mir einen raschen Blick zu. Mit mir als Anstandsdame konnte ja nun wirklich nichts Unanständiges vor sich gehen. »Mit unseren Atomen und Molekülen werden wir sie besiegen! Wissenschaftlicher Eifer zeigt den wahren Geist des deutschen Volkes! Und wenn Sie selbst einmal Unterricht haben möchten«, sagte Maja, ganz durchdrungen vom
deutschen Geist, »nun, mein Motto ist, es ist nie zu spät, etwas Neues zu lernen.« Frau Goldberg zog sich zurück. Glücklicherweise gab es in der Pension, die zweimal so sauber war wie die von Frau Heidel in Novi Sad, zwei Betten im Zimmer, so daß ich zum Schlafen nie meine wachsende Sammlung von Lehrbüchern wegräumen mußte, um Maja Platz zu machen, und ich mußte auch nie in den Ausdünstungen von Majas Kunden schlafen, lediglich manchmal mucksmäuschenstill daliegen. Mucksmäuschenstill dazuliegen war ideal, um mathematisch zu arbeiten. Ich trug meine Gleichungen im Kopf herum und drehte und wendete sie bei jeder Gelegenheit. Warum konnten alle Geschwindigkeiten zusammen nie mehr als die Lichtgeschwindigkeit ergeben? Warum? Nur weil um mich herum Chaos war, hieß das noch lange nicht, daß ich aufhören mußte, Fragen zu stellen.
Ich kam nicht weiter. Ich brauchte mehr Stoff, an dem ich arbeiten konnte. Daher beschloß ich, daß ich jetzt genug Deutsch und auch die Grundlagen der Physik genügend beherrschte, um mich von Zeitschriften nicht abschrecken zu lassen. Bis wissenschaftliche Theorien weitestgehend als richtig galten, bis sie in Lehrbüchern veröffentlicht wurden, waren sie meistens schon Jahre alt. Die Welt drehte sich zu schnell für mich, als daß ich auf Bücher warten konnte. In den Zeitschriften bekam man das Rohmaterial, den Stoff, aus dem Experimente und Voraussetzungen waren. Die Hälfte davon mochte völlig falsch sein, aber… Ich war noch nie zuvor an einem Ort gewesen, wo ich an Zeitschriften hätte herankommen können, deshalb war hier endlich die ideale Gelegenheit, um genau herauszufinden, was darin stand.
Ich traf jedoch auf unerwarteten Widerstand. Die Bibliothek in Wien war zwar besser ausgerüstet als der serbische Leseraum, aber viel weniger aufgeklärt. Es gab technische Zeitschriften in einer besonderen Abteilung, aber die konnte ich nicht mitnehmen. Und an Ort und Stelle durfte ich nicht hineinsehen, weil ich a) eine Ausländerin und b) ein Mädchen war. Es war aber wichtig für mich, an diese Zeitschriften zu kommen. Ich wußte, daß die Theorien meines Vaters dort veröffentlicht wurden – das hatte meine Mutter mir ja gesagt. Wenn ich sie lesen könnte, konnte ich genau herausfinden, welche Schlußfolgerungen er über Schwerkraft und Licht gezogen hatte. Aber da ich nicht über einen unbescholtenen, ehrenhaften, männlichen Wiener Bürger verfügte, der hineingehen, alle Bände der Annalen der Physik durchsehen und mir handschriftlich etwas herauskopieren konnte, das vielleicht von einem Albert Einstein geschrieben worden war, war ich aufgeschmissen.
Frau Goldberg hatte einen Sohn, Josef, der dem nahezu sicheren Tod im Krieg entronnen war, weil er ein schwaches Herz hatte. So konnte er zu Hause bleiben und für seine Mutter sorgen. In jenen turbulenten Wochen, als täglich übriggebliebene Reserven an die Ostfront geschickt wurden, saßen Josef und seine Mutter auf glühenden Kohlen. Josef hatte eine blasse Haut mit Sommersprossen und verkaufte hinten aus einem Lastwagen Butter, Eier und Armeewodka. An den Wochenenden wanderten Josef Goldberg und ich kilometerweit zu den Hügeln und Seen der Umgebung. Der Herbst war bis jetzt mild gewesen, und wir sammelten Beeren für Marmelade und Nüsse für die Vögel, die Frau Goldberg gern fütterte. Sie saßen zwitschernd in den Bäumen rings um
den Hof und ließen sich mit Bucheckern anlocken. Am Fuß der Hügel lagen die Kiefernnadeln dick und grün wie Matten auf dem Boden und überdeckten fast die Pilze, die wie weiße Fäuste aus dem Dunkel ragten. Eines Sonntag abends liebten Josef Goldberg und ich uns auf den grünen Matten und den weißen Fäusten, nur für den Fall, daß er zur Ostfront eingezogen werden würde, oder für den Fall, daß er Stacheldraht und Senfgas gegenübertreten müßte. Wir zerdrückten in unserer Leidenschaft die Bucheckern, und die ganze Zeit über machte ich mir Sorgen, daß Maja, die zu Hause saß und stopfte, es herausfinden würde. Josef Goldberg dagegen war entzückt. »Wie alt bist du?« fragte er ein über das andere Mal. »Sechzehn. Ich bin sechzehn.« »Sechzehn.« Seine Arme und Beine ruhten schwer auf der Erde. Noch heute erinnert mich der Geruch von Kiefernnadeln an Josef Goldberg und diesen Sonntag abend am Fuße der Hügel über Wien. »Josef«, sagte ich später, als ich ein paar Pilze in meinen Schoß gesammelt hatte, um eine Ausrede für Majas diskrete Nachfragen zu haben, »könntest du mir etwas besorgen?« »Was?« »Zeitschriften.« »Natürlich.« Er war unbefangen. Er wußte, was ich wollte. Bilder. Modefotos. Die neue Kollektion von Worth. »Was für welche?« Seine blasse Haut leuchtete weiß im Dunkel des Waldes. »Die Annalen der Physik von Leipzig und so viele neue Ausgaben, wie du bekommen kannst, vom Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik.«
Josef Goldberg stützte sich auf seine Ellbogen, stemmte sich dann hoch und sah mich an. »Natürlich«, meinte er, nicht willens, sich von einem Mädchen unterkriegen zu lassen. »Das ist sehr nett von dir«, sagte ich und klopfte die Nadeln von meinem Rock. »Keine Ursache. Überhaupt keine Ursache.«
12. November 1918 Den ganzen Herbst lang brachte ich Maja Pilze mit und Frau Goldberg Bucheckern. Ich sagte Maja, daß ich die Pilze früh am Morgen sammelte, wenn ich im Wald spazierenging. Ich beschloß, Josef Goldberg nicht zu erwähnen. Wenn ich die Geschenke meines Schuldbewußtseins in Majas Küche brachte, war der Tau des Waldes noch feucht in ihren geheimen Lamellen. Maja wischte ihre glänzenden weißen Köpfe ab und schnitt sie sorgfältig in dünne Scheiben, braun und weiß zusammen in einem Streifen. Dann erhitzte sie ein paar Tropfen Öl in einer Pfanne, stäubte Mehl darüber, gab Milch hinzu und schüttete die Pilze in die Flüssigkeit. In kürzester Zeit wurde die weiße Milch weicher. Nicht mehr hart und kompromißlos. Sie veränderte sich. Es gab keinen bestimmten Punkt, an dem die Milch sich veränderte, sie hörte einfach auf, weiß zu sein, wurde bräunlich, wenn die Pilze in die Flüssigkeit glitten und darin herumtaumelten, während sie an den Seiten des Topfes dicker wurde und von Majas Holzlöffel sanft aufgewirbelt wurde, bis die Flüssigkeit fast überkochte, überlief und auf dem Ofen verzischte. Immer wieder sah ich ihr zu, wenn sie die Pilze in der Stille des Morgens zubereitete.
Wenn die Sahnepilze gekocht waren, aßen wir sie mit dünnen Toastscheiben. Toast, aber keine Butter. Zum Frühstück in unseren gemieteten Zimmern. Keine Butter, weil damals das Brot aus Steckrüben gemacht wurde. Das Fleisch, das Maja vom Markt mit nach Hause brachte, bestand halb aus Knochen, halb aus Knorpel. Auf dem offenen Markt war keine Milch zu bekommen – Milch mußte Josef uns besorgen. Man konnte Butter kaufen – für zwei Mark das Pfund. Unter dem Ladentisch bekam man für den zehnfachen Preis soviel, wie man wollte. Aber die meisten Leute konnten das nicht und starben vor Hunger. Alle vierzehn Tage bekamen wir ein Ei, und manchmal hätte ich es am liebsten nur angestarrt, um den Moment hinauszuzögern, in dem ich wußte, ich hatte etwas zu essen. Ich war so hungrig, daß mir die Zahlen im Kopf durcheinandergerieten. Ich konnte mich nicht auf Gleichungen oder Logarithmen konzentrieren, ich konnte nur an Eierklöße und gefüllte Paprikaschoten, geräucherte Würste und Gewürzkuchen denken. Ich vermochte mich nicht mehr mit Zeit, Licht und Schwerkraft zu befassen, meine Gedanken wanderten zu Forelle mit Dill und Gurkensalat und zu Erdbeerpfannkuchen unter einem Mulltuch auf einem hölzernen Küchentisch. Im dritten Stock war eine Zinkbadewanne mit eigenwilligen Armaturen und Eisenfüßen, die ich dienstagnachmittags benutzen durfte. Ich war so niedergeschlagen wegen der störrischen Gleichungen und dem Mangel an Erdbeerkuchen, daß ich beschloß, mich an diesem Dienstag abzulenken und ein Bad zu nehmen, während Maja auf dem Markt war. Seit Herbst, als die Temperaturen zu sinken begannen, hatte ich das nicht mehr getan. Da es im Badezimmer keine Heizung gab, wurde mir immer kälter. Ich wartete darauf, daß die Badewanne sich füllte, und als schließlich genug Wasser darin war, waren meine Füße
bereits blau angelaufen, und ich konnte sie nicht ins Wasser stecken, ohne daß ich das Gefühl hatte, sie würden gehäutet. Schließlich gab ich auf und ging, nur unwesentlich sauberer, zu Bett. Ich holte Hans Alberts magischen Stein hervor, hielt ihn in der Hand und ließ ihn seine Kunststückchen machen. Immer das gleiche. Ich mußte daran denken, daß selbst universelle Kräfte darauf reduziert werden konnten: auf kleine eingegrenzte Elemente. Manchmal ließen die Fremdsprachenstudenten, die Maja mit in die Pension brachte, eine Zeitung zurück. Ich holte mir eine alte Ausgabe. Mir war kalt und ich hatte Hunger, deshalb suchte ich nach Zerstreuung und Trost – und entdeckte so eher zufällig, daß der Krieg fast vorbei war. Und ich entdeckte noch etwas anderes. Im Laufe des Krieges war Desankas geliebter Brotkorb Ungarn unter die Räder geraten. Gegen Ende hatten wohl Fäulnis, Kälte und Durchfall alles zerstört, was die Serben und Kroaten noch heil gelassen hatten. Ich zerknüllte die Zeitung und nahm sie zum Feueranzünden. Ich wickelte mich fest in die Decken – in Frau Goldbergs und die Patchworkdecke, die ich mitgenommen hatte – und schlief ein mit dem Gedanken an Desanka, dem Gedanken an meine Familie in Novi Sad und dem Gedanken an Desanka und ihr Gewehr. Maja kam mit einem Eichhörnchen vom Markt zurück. In der Woche darauf war es eine Krähe. Während sie sorgfältig Federn und kleine Flügelteile entfernte, flehte ich sie an, keinen Sperlingseintopf zu machen, wie das andere Leute taten.
15. Dezember 1918 Der Trick, um warm zu bleiben, ist warm zu werden, bevor man nach draußen geht, und sich dann in Bewegung zu halten. Maja stand am Ölofen und zog sich Stiefel, Mantel, Übermantel, Schal, Hut und Handschuhe an, aber es gab leider nicht die Möglichkeit, sich während des stundenlangen Gottesdienstes, auf dessen Besuch sie immer noch bestand, zu bewegen. Der Winter war so bitter kalt, wie ich bisher noch keinen erlebt hatte, und auf dem Hof hatte ich viele harte Winter erlebt. Meiner Meinung nach war deshalb die einzige Methode, sich warm zu halten und Energie zu sparen, im Bett zu bleiben. Maja konnte ich jedoch von meinem weisen Entschluß nicht überzeugen. Sie ging hinaus in die Kälte, und ihr Schal flatterte hinter ihr her. Kürzlich war sie triumphierend mit einem Rezept angekommen, das Baumrinde enthielt. Ich fand es nicht sehr nahrhaft. Unsere Kleider hingen an uns wie Säcke. Im Bett konnte ich nachdenken. Und ich dachte gern nach. Warm eingewickelt in meiner Sonntagseinsamkeit einfach nur nachzudenken, während Maja zum Herrgott betete, war für mich die einzige Methode, mit der ich vergessen konnte, daß ich hungrig war wie ein Bär. Es gab wohl keinen Grund, Newton völlig fallenzulassen. Seine Beschreibung der alltäglichen Welt war nicht schlecht. Das gefiel mir, und es kam meinen Plänen entgegen. Ich kam auf meinem Weg nur langsam weiter, aber ich würde mich ganz bestimmt eines Tages an meinem Vater rächen können. Wir würden uns begegnen, wie Züge auf einem Gleis, wie Geschosse über einem Schlachtfeld. Tick, tick, tick. Man konnte das kosmische Uhrwerk beinahe hören. Nur bei Geschwindigkeiten, die der Lichtgeschwindigkeit selbst nahekamen, wurden die Berechnungen seltsam, und die
Zahlen führten nicht zu den erwarteten Ergebnissen. Und das kam daher, weil Raum und Zeit miteinander verbunden waren. Die Konstante c ist eine Geschwindigkeit. Und was ist eine Geschwindigkeit letztendlich? Sie ist ein Maß, das in Bezug zu Raum und Zeit steht. Das eine ist bedeutungslos ohne das andere. Eine Geschwindigkeit sagt dir, wie schnell sich etwas in Kilometern (Raum) über die Zeit (pro Stunde) bewegt. Raum ohne Zeit gibt es nicht, also sagte mir die Tatsache, daß die fundamentale Konstante Raum und Zeit miteinander verband, etwas Wichtiges über das Universum. Aber was? Ich wünschte, Josef Goldberg würde sich mit den Zeitschriften beeilen. Nach der Sonntagsmesse begann Maja zu husten. Am nächsten Tag Frau Goldberg ebenfalls. Es hörte gar nicht mehr auf. Da Maja so krank war, konnten wir die Miete nicht bezahlen. Ich sagte Frau Goldberg, daß Maja bald wieder gesund würde, aber Frau Goldberg, selbst eingedeckt mit Medikamenten und ans Bett gefesselt, interessierte das gar nicht. Josef interessierte es auch nicht. Jedenfalls sagte er das, als er uns Zitronensirup brachte, den er extra in Holland bestellt hatte. Bevor wir noch merkten, was los war, hatte sich die Krankheit wie ein Schleier über das ganze Land gelegt. Auf den Straßen wurde es ruhig. In Majas Kirche hatten die Leute so lange um das Ende des Krieges gebetet, daß es sie nun völlig überraschte, daß sie nun ihre Taktik ändern und statt dessen um die Gesundheit ihrer Nachbarn und Familien beten mußten. Sie konnten jedoch das, was vor sich ging, nicht ignorieren. Um uns herum starben die Menschen an der Influenza wie die Fliegen. Und trotzdem sagten die Leute, einschließlich Maja, die gegen ihren Husten ankämpfte, immer noch die gleichen alten Gebete mit den gleichen alten Worten auf.
In der Zeit, in der Maja erst nur Husten hatte, besuchte sie trotzdem die Kirche: die Christmette, die Messe am ersten Weihnachtstag, die Messe am Tag des heiligen Stefan, die Messe am Dreikönigstag. Am Ende des Gottesdienstes wurden die Lieder immer schneller, überstürzten sich in ihrem Eifer, fertig zu werden, als ob die Kirchgänger darauf brannten, zu praktischeren Pflichten überzugehen: etwas zu essen, sich warm zu halten, aus dem Dunst der ausgeniesten Keime zu kommen. Ich setzte ständig Wasser auf, brachte Maja und Frau Goldberg heißen Tee und bat Josef, er solle versuchen, etwas Hustensaft zu organisieren. Eines Abends in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr kam Josef Goldberg mit den ersten Ausgaben der Annalen der Physik. Sie waren schwer und unförmig, und er hatte große Schwierigkeiten, sie die Treppe hinaufzutragen. Manche waren zerrissen, und alle waren voller Staub. Für die anderen, sagte er, würde er noch ein wenig Zeit brauchen, und Gott allein wüßte, wie schwierig es schon gewesen sei, an diese Ausgaben heranzukommen. Wie schwierig, konnte ich an den langwierigen und unterschiedlichen Arten der erforderlichen Zahlungen sehen. Maja im Bett neben mir wachte noch nicht einmal auf, was mir klarmachte, daß sie kränker war, als sie zugab, und der Husten war anscheinend schlimmer geworden. Nachdem Josef Goldberg gegangen war, um seine Mutter in den Räumen unter uns mit Zitronensirup zu versorgen, saß ich die ganze Nacht über in meinem Bett und gab Maja mit Unterbrechungen alles, was sie wollte: kühle Tücher und warme Decken und Hustensaft, wann immer sie den Mund aufmachte. Und in dieser Nacht las ich zum ersten Mal die drei Aufsätze, die mein Vater in Band 17 im Jahr 1905 veröffentlicht hatte. Besonders einer, über »Die Elektrodynamik sich bewegender Körper«, war interessant,
und ich vermutete, daß es der sein mußte, von dem meine Mutter gesagt hatte, er würde sie berühmt machen. Er hatte sie bis jetzt noch nicht berühmt gemacht. Vielleicht, so hoffte ich, lag es daran, daß er ganz falsch war. Ich las ihn mit grimmiger Entschlossenheit. Der Aufsatz enthielt eine besondere Theorie, die endlich das Verhalten des Lichts mit den vertrauten Regeln Newtonscher Mechanik versöhnte. Ich überprüfte die Zahlen und sah, daß sie stimmten. An einem Punkt sah es so aus, als habe mein Vater eine co-variante Form der elektromagnetischen Gleichung verwandt, und ich hegte die Hoffnung, er habe sich vielleicht einfach auf unsicherem Grund befunden. Aber nein. Wie ich war er zu dem unausweichlichen Schluß gekommen, daß die Zeit selbst relativ sein müßte, wenn das Licht eine Konstante war. Das war gegen den gesunden Menschenverstand. Unter entsprechenden Umständen würde die Zeit nach diesen Gleichungen rückwärts gehen. Maja hatte eine gute Nacht gehabt. Ich sah, wie die Sonne aufging, und hatte das Gefühl, daß es noch Hoffnung gab. Kurz nach Morgengrauen kam Josef Goldberg über die Hintertreppe herauf, erzählte mir, bei seiner Mutter gäbe es keine Anzeichen der Besserung, und fragte mich, was ich täte. »Ich mache mir Gedanken darüber, ob Raum und Zeit in sich bewegenden und stillstehenden Systemen unterschiedlich sind.« »Ich habe Frühstück.« »Baumrinde?« »Butter. Eier.« Er flüsterte. »Sahne.« »Oh, gut«, erwiderte ich. »Das wird Maja zu Kräften bringen.« »Ich dachte eher an dich«, sagte er. »Ich auch«, erwiderte ich.
12. Februar 1919 Gerade als ich dachte, wir seien gut ins neue Jahr gekommen, daß Majas Husten nur noch ein Husten mit ein bißchen Fieber sei, und das Schlimmste, über das ich mir Gedanken machen mußte, die Umwandlungsgleichungen von Lorentz waren, und weil es auch Frau Goldberg besserging, da verschlechterte sich Majas Zustand. Ihre Stirn brannte im Fieber. Ihr goldenes Haar wurde glanzlos. Das Blau ihrer Augen war fast schwarz. Trotz der Kälte war sie die Nacht über heiß und schwitzte die Laken ihres Bettes durch, und die ganze Zeit zitterte sie. Wenn sie nicht so fromm wäre, sagte ich zu ihr, hätte sich ihr Husten nicht zu einer Influenza entwickelt. Ich unheilige und verwahrloste Kreatur hingegen bekam nicht einmal einen Schnupfen. Josef Goldberg auch nicht. Wir waren auffallend und verdächtig gesund. Da Maja krank war, kam kein Geld herein. Obwohl wir uns wegen der Miete keine Sorgen zu machen brauchten – Josef sagte seiner Mutter, die immer noch schwach war, daß wir für die nächsten zwei Monate im voraus bezahlt hätten, was ich in Betracht gezogen hatte, zu tun –, hatten wir doch auch nichts zu essen, wenn Josef nicht da war. Wir hatten nichts außer dem, was er mir zusteckte, noch nicht einmal Geld, um einen Spatz zu kaufen. Mittlerweile hungerten die meisten Leute. Josef hatte einen schwunghaften Handel mit schwarz hergestellten Grundnahrungsmitteln und einer patentierten Influenzamedizin aufgezogen. Die Pilze auf Toast vom vergangenen Herbst kamen mir vor wie ein Traum. Ich träumte davon. Ich träumte davon, wie Maja die cremige Flüssigkeit umrührte und wie ich den Rübentoast aß, und morgens wachte ich auf und war immer noch hungrig. Ich war schon dünn, die Knochen von Majas Handgelenken jedoch drohten zu zerbrechen, und ihre Haut war mit wunden Stellen bedeckt.
Wenn ich ihr ein Tuch auf die Stirn legte, hörte ich es in ihrer Brust rasseln. Josef kam zu Besuch, und sein Gesicht wurde aschfahl, als er die gräßlichen Atemgeräusche hörte. »Du lieber Gott«, sagte er, »das ist ja schrecklich.« »Ich weiß«, erwiderte ich. »Die Medizin hat nur aus Zucker und Wasser bestanden.« »Warum hast du sie mir dann gegeben?« »Bei meiner Mutter hat sie gewirkt«, sagte er. Abgesehen davon war Josef Goldberg ganz zuversichtlich. Die Alliiertenblockade war gut fürs Geschäft. Seine Preise wurden immer höher. Außer der Medizin brachte er mir auch noch weitere Bände der Annalen der Physik, ein paar Dosen Corned beef, die er in Frankreich von der britischen Armee erbeutet hatte, und Päckchen ausländischer Zigaretten. Ich nahm drei Dosen Corned beef und die Zigaretten, obwohl ich nicht genau wußte, was ich mit ihnen anfangen sollte, und bezahlte ihn, weil mich die Sorge um Maja nicht losließ, mit nur einer halben Stunde im Bett und einer Modeschmuckkette aus Majas braunem Koffer, bevor er nach München aufbrach, um hinter einer Käselieferung herzujagen. Ich öffnete eine Dose Corned beef und roch daran, und dann überredete ich Frau Heimlich aus dem zweiten Stock, mir eine Kartoffel im Tausch gegen eine der anderen Dosen zu geben. Ich verkaufte die Zigaretten für mehr Geld, als ich je für möglich gehalten hätte, und versteckte die Geldscheine unter meinem Kopfkissen. Dann kochte ich Frau Heimlichs Kartoffel, zermanschte sie mit dem Corned beef und schob das Ergebnis Löffel für Löffel in Majas Mund. Das war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich ernsthafte Kochversuche unternommen habe, und ich denke, recht erfolgreich, denn Maja erholte sich augenblicklich soweit, daß sie sich im Bett aufsetzte und alles ausspuckte.
Den Rest aß ich selbst, wobei ich in den Aufsätzen meines Vaters in den Annalen der Physik las. Am überraschendsten fand ich etwas, das gar nicht da war. Ich hatte erwartet, auch den Namen meiner Mutter unter den Aufsätzen zu finden, nicht nur den meines Vaters. Warum wurde sie nicht erwähnt, wenn sie doch für ihn die Berechnungen anstellte? Ich fand die Berechnungen ganz wundervoll. Präzis, elegant und ohne unnötige Komplikationen. Genau wie Mileva. Genau so, wie ich mich an sie erinnerte. Immer wieder tauchte das kleine c auf, das mir schon in Maxwells Gleichungen begegnet war: die Lichtgeschwindigkeit, nur dieses Mal mit unterschiedlichen Zahlenanordnungen. Präzisen, eleganten Anordnungen. Wenn man eine Geschwindigkeit mit einer Zeit multipliziert, bekommt man eine Länge. Wenn man zwei Stunden lang drei Kilometer pro Stunde zurücklegt, erreicht man eine Länge von sechs Kilometern. Wenn man die Dinge richtig angeht, kann man diese Längenmaße (Raum) mit den Zeitmaßen in derselben Gleichung verbinden. Einfach ausgedrückt, hatte mein Vater genau das getan. Stießen die Gleichungen jedoch an ihre Grenzen, dann zeigten sie, daß Zeit nicht das war, was wir von ihr denken. Wir sind so daran gewöhnt, uns in ihr nur in eine Richtung fortzubewegen, anders als im Raum, in dem wir uns mehr oder weniger frei bewegen können, daß es uns schwerfällt, uns unter Zeit etwas anderes als einen Richtungspfeil vorzustellen. Beim Betrachten dieser Gleichungen stellte ich fest, daß das nicht sein konnte. Raum und Zeit waren lediglich Aspekte eines einzigen Gesamten. Raumzeit. Nur was ich mit dieser Entdeckung anfangen sollte, wußte ich nicht. Ich seufzte. Ich konnte Maja nicht dazu bringen, etwas zu essen, und ich würde es wahrscheinlich in den nächsten Tagen
auch nicht schaffen, mich mit Lichtgeschwindigkeit fortzubewegen. Das Corned beef jedoch fand ich gar nicht so schlecht.
Drei Tage später kam Josef Goldberg wieder zurück und sagte mit dem Gesichtsausdruck von jemandem, der Perlen vor die Säue wirft: »Es heißt, in München gibt es richtige Medizin.« München war im besten Fall anderthalb Tage weit entfernt. Oder noch mehr, da Maja nicht gehen konnte. Ich wußte, daß es reine Zeitverschwendung war, die Reise anzutreten. Höchstwahrscheinlich gab es sowieso keine Medizin dort. Oder es gab welche, aber sie würde mehr kosten als das Zigarettengeld, und das war alles, was ich besaß. Oder es gab wirklich Medizin, und ich konnte sie mir auch leisten, aber sie würde nichts nützen. In jener Zeit vor der Erfindung der Antibiotika konnte man das nie sagen. Schlimmer noch, möglicherweise würde die Reise sie sogar umbringen. »Wenn du nicht bald etwas unternimmst«, sagte Josef und lauschte fachmännisch dem Rasseln in Majas Brust, »wird sie sterben.« Ich konnte nicht fahren. Ich konnte Maja nicht zurücklassen. Wahrscheinlich wäre es mir gelungen, eine widerwillige Frau Goldberg dazu zu bewegen, sich um sie zu kümmern, aber ich konnte es einfach nicht ertragen, sie zu verlassen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, sie allein zurückzulassen, da ich wußte, daß sie möglicherweise sterben würde, während ich nicht da war. Wie Desanka. Wenn Maja sterben sollte, wollte ich bei ihr sein. »Na los, Maja«, sagte ich und zerrte sie aus dem Bett, »das ist die Sache wert. Josef sagt, er fährt uns in seinem Lastwagen hin.« Ich blickte Josef streng an, und er nickte.
14. Februar 1919 Wir ratterten mit einer neuen Lieferung Corned beef, Zeitschriften und ausländischen Zigaretten auf die Münchner Vororte zu. Maja lag unter der Patchworkdecke, mit dem Kopf auf dem geheimnisvollen braunen Koffer, der sie immer begleitet hatte. Ich sagte zu ihr: »Mach dir keine Sorgen, Maja. In München gibt es Medizin. Und ich sage dir noch was: Warum sollte die Schwerkraft nur auf gleichförmige Bewegung einwirken? Nichts sonst im Universum ist gleichförmig. Das ist ein echter Makel, Maja. Es überrascht mich, daß das noch niemand sonst gesehen hat. Gleichförmige Bewegung, Maja, gleichförmige Bewegung. Schsch, jetzt, ganz ruhig.« Ich bettete ihren Kopf in meine Hände, damit sie nicht dem Holpern des Lastwagens ausgesetzt war. Es fror. Die Temperaturen lagen schon seit langem weit unter Null. Ich hatte nicht gewußt, wie sehr Kälte schmerzen kann. Meine Finger taten weh. Meine Zehen taten weh. Der Schmerz brannte und hörte gar nicht mehr auf. Ständig rieb ich Majas Nase und Kinn, damit sie keine Frostbeulen bekam. Es tat weh, sie zu berühren. Meine Zehen verwandelten sich in Eis. Josef ließ uns wegen der Kontrollstellen am Stadtrand aussteigen, daher war es nach der letzten schmerzlichen Meile mit Maja noch früh am Morgen, als wir die Wahrheit erfuhren. Die Medizin in München war Chloroform, und man gab es den Sterbenden, um ihnen das Sterben zu erleichtern.
28. März 1919 Die Kinder hatten mich durch ihr Schreien aufgeweckt. Winzige Gesichter, große, leere Augen, kleine Ärmchen, die nur noch Haut und Knochen waren, rachitische Stirnen, verkrümmte Beinchen. Sie weinten so lange, bis sie zu schwach wurden. Ich wandte mich Maja zu. Sie würde wahrscheinlich noch einen Tag am Leben bleiben. Es war nicht nur die Influenza, auch etwas anderes stimmte nicht, und zuerst fand ich nicht heraus, was es war. Es war nicht nur der Auswurf, den sie aushustete, das harte Rasseln in ihrer Brust während der Nacht, das Fieber, das sie verbrannte, und das, was sie im Halbschlaf murmelte. Das ging schon seit Tagen so, und daran war ich gewöhnt. Vielmehr war es, als sei sie von Apathie infiziert oder als flösse eine schwere Flüssigkeit durch das, was von ihren dünnen Venen übriggeblieben war, und zöge sie hinunter. Sie wollte immer noch kein Corned beef. Sie wollte auch nicht die Würstchen, die Josef Goldberg für viel Geld aus einem Depot der Alliierten in Brüssel beschafft hatte. Es war ihr egal, ob sie lebte oder starb. Ich hatte versucht, sie aufzuheitern, indem ich ihr erzählte, mit welchen Problemen ich wegen der Schwerkraft kämpfte, um eine allgemeinere Theorie von Raum und Zeit zu formulieren, eine, die weiter reichte als die spezialisierte Theorie in dem Aufsatz meines Vaters. Das Prinzip der Äquivalenz, das ich in früheren Ausgaben vom Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik entdeckt hatte, war mir dabei eine große Hilfe gewesen. Ich hatte Josef Goldberg unentwegt um immer noch mehr Zeitschriften gebeten, da die Ideen, die darin formuliert waren, meine
eigenen nährten, und mein Gehirn jedesmal, wenn ich die Seiten aufschlug, in neue Richtungen gelenkt wurde. »Kürzlich war noch Krieg, Lieserl«, beschied er mich kurz und bündig, »und wissenschaftliche Aufsätze sind knapp. Die Leute haben damit Feuer gemacht.« »Bitte«, flehte ich ihn an, »besorg mir, was du kannst.« »Du weißt doch, daß ich das tue«, antwortete er. Um zu beschreiben, was im Universum vor sich ging, brauchte ich die richtigen Feldgleichungen. Aber ich war fast am Ziel. Ich versuchte, Maja etwas von meiner Erregung zu vermitteln. »Es spielt keine Rolle, ob du beschleunigst oder in einem Schwerkraftfeld beschleunigt wirst. Die Dinge funktionieren auf die gleiche Weise. Sagen wir mal, du bist in einem Aufzug, und das Kabel reißt. Dann würdest du fallen, oder?« Maja murmelte etwas Unbestimmtes, zu müde, um mir zu widersprechen. »Wenn ich nun in diesem Aufzug wäre, und du in diesem Aufzug wärst, und ich würde einen Lichtstrahl zu dir hinüberschicken, während wir fallen, würde es für dich und für mich so aussehen, als ob das Licht sich in einer geraden Linie quer durch den Aufzug bewegt. Oder?« Maja stöhnte. »Aber nehmen wir einmal Josef. Sagen wir einmal, Josef wäre außerhalb des Aufzugs, irgendwo auf dem Boden und sähe uns fallen. Er würde das Licht als Bogen sehen. In der Zeit, die das Licht braucht, um von einer Seite des Aufzugs auf die andere zu kommen, hätte sich der Aufzug nach unten bewegt, und das Licht hätte sich mit ihm nach unten bewegt. Mit anderen Worten, Maja, ein Lichtstrahl wird von der Wirkung der Schwerkraft gebeugt.« Ich hielt einen Moment lang inne und dachte über die Lichtstrahlen nach. »Maja, warum ißt du kein Würstchen?«
»Ich möchte nicht.« 1919 erkannte ich ihr Verhalten nicht als das, was es war. Ich sah so etwas zum ersten Mal. Mit den Jahren würde diese Trägheit uns allen vertraut werden. Lethargie. Verzweiflung. Die Krankheit des zwanzigsten Jahrhunderts. Nachdem sie mir vertraut war, würde ich sie verachten. Zum ersten Mal jedoch, bei Maja, war sie eine unbekannte Größe. Ich fragte mich, welches Ereignis aus ihrer Vergangenheit jetzt wohl so auf ihr lasten mochte. Ich wußte nicht, wo sie herkam, nichts von ihrer Familie, ihren Eltern, ihrer Heimat, nichts von dem jungen Mann, wegen dem sie kurz geweint hatte, als er an der Ostfront den Tod gefunden hatte, nicht, warum sie mich gerettet hatte. Wir wohnten in einem Lager, das von Leuten mit einem Auftrag von Gott geführt wurde. Einmal am Tag gab es spärliche Mengen einer grauen Masse, die sie als Rübensuppe bezeichneten, grünliche Rollen und zweifelhafte Muschelpuddings. Sie legten Maja auf einen Strohsack auf dem Boden der Turnhalle, die sie übernommen hatten, und ich dachte: Das war es also. Wo immer sie auch hergekommen sein mag, hier wird sie sterben. Die Leute von Gott hatten uns mitgeteilt, der Waffenstillstand hielte und wir sollten uns alle freuen. Ich dachte: Der Krieg mag ja vorüber sein, aber Maja hat sich sowieso nie um den Krieg gekümmert, um die zeitweiligen roten Linien zwischen den Staaten, also wird das auch nichts nützen. Sie atmete kaum noch. Niemand in dieser Turnhalle überstand fünf Minuten, ohne sich zu kratzen. Bei Tag, wenn die Sonne hell schien, sahen wir gegenseitig auf unseren Köpfen nach, teilten die Haare bis auf die Kopfhaut und untersuchten Strähne für Strähne nach verräterischen Anzeichen – klebrige Nissen, die fest an den Haarwurzeln hafteten, winzige krabbelnde Tierchen. Wir durchkämmten einander sorgfältig die Haare, zerdrückten die
winzigen weißen Nissen und die schwarzen Punkte, die über die Haut liefen, zwischen den Fingerspitzen und zogen sie von jeder Strähne ab. Unter unseren Haaren blutete die Haut von den Bissen. In der Patchworkdecke, die ich aus Novi Sad mitgebracht hatte, lebte eine Flohfamilie. Und ganz gleich, wie oft ich die Decke gegen die Sonne ausschüttelte, die Insekten blieben mit ihrem angeborenen Flohkleber dort haften und quälten Maja immer weiter. Wie sehr auch ihre Vergangenheit auf ihr lasten mochte, in dieser Turnhalle war jeder Tag ein Kampf. Jeden Morgen mußte sie sich entscheiden, ob sie weiterleben wollte. Jeden Morgen schleppten die Leute von Gott einen Kessel mit einer dünnen schwarzen Flüssigkeit herbei, die sie als Kaffee bezeichneten, und jeden Morgen reihte ich mich mit zwei Metallbechern in die Schlange ein, einen für mich und einen für Maja. Und jeden Morgen, wenn sie beschlossen hatte, weiterzuleben, hob sie den Kopf, so daß sie ein wenig von der bitteren, körnigen Flüssigkeit trinken konnte, und ich war froh. Aber die ständige Wiederholung dieser Entscheidung laugte sie aus. Wenn ich nicht etwas unternahm, würde sie sie völlig überwältigen, und eines Morgens würde sie nein sagen, das Leben verweigern, uns alle verweigern. Ich hatte gesehen, wie das anderen passiert war, den Obdachlosen, den Enteigneten, den Flüchtlingen, denjenigen, die alle Verwandten verloren hatten, denjenigen, die nichts mehr auf der Welt hielt. Ich redete unablässig mit ihr, den ganzen Tag über, während mein Magen vor Hunger knurrte, meine Gliedmaßen kalt waren vom Mangel an Essen. Ich redete über Schwerkraft, über Zeit, über die beste Art, Gulasch zuzubereiten, darüber wie man das Fleisch vorher zurechtmachte, es einlegte, kleinschnitt und würzte. Ich redete von dem Gemüse, das dazugehörte, über den Wein, der am besten dazu paßte, von
der Nachspeise, die dem Ganzen folgte. Ich redete, bis der kurze Tag vorüber und es wieder Zeit für die Rübensuppe war. »Maja«, sagte ich, hielt ihre dünne Hand in meiner und legte ihr einen kühlen Lappen auf die Stirn, »was soll ich machen, wenn du gehst?« »Du wirst schon ohne mich zurechtkommen«, antwortete sie, und das Sprechen mit dem trockenen Mund bereitete ihr Schmerzen. Da war ich mir überhaupt nicht sicher. Wenn sie starb, konnte ich zwar meine Reise an der Donau entlang, den langsamen und sicheren Weg auf meinen Vater zu, fortsetzen. Ich konnte zwar Rache nehmen, mein rechtmäßiges Erbe beanspruchen – diesen Grund zum Leben hatte mir bisher niemand genommen, auch wenn ich mir noch nicht ganz sicher über alle Einzelheiten war –, aber darum ging es gar nicht. Fast jeder auf der Welt, den ich gekannt hatte, war verschwunden. Und wenn nun auch Maja wegging, dann wäre die ganze Welt einfach zu… kalt. Hart. Einsam. Und es war Maja gewesen, Maja, die mich gerettet hatte. Ich würde Maja nicht einfach kampflos aufgeben. Ich mußte mir etwas einfallen lassen, damit sie einen Grund zum Leben hatte, doch bis jetzt war mir das noch nicht gelungen. Ich ließ ihre Hand los, damit sie einschlafen konnte. Ich war sicher, sie würde nie wieder aufwachen. Da ich nichts anderes tun konnte, blieb ich lange auf und ließ meine Gedanken vollständig an den einzigen Ort wandern, an dem ich keine Schmerzen empfand: die Welt, in der die Zahlen in glänzenden Reihen leuchteten, in der ich mich verlieren konnte, indem ich ihnen bis ans Ende folgte. Ich kämpfte mit den Maxwellschen Feldgleichungen, dachte viel über Lichtstrahlen nach und kam mit einer allgemeineren Theorie der Relativität gut voran.
Objekte – alles, Planeten, Äpfel, Menschen – verzerren die Raumzeit um sich herum, so daß andere Objekte, die sich durch diese Raumzeit bewegen, abgelenkt werden, angezogen von den Kräften der Schwerkraft. Newtons Gesetze gelten immer noch – die Kraft ist umgekehrt proportional zu dem Quadrat der Entfernung. Es war eine ganz einfache Idee, aber die Gleichungen zur Beschreibung der Rahmenbedingungen waren ziemlich kompliziert, wenn ich so sagen darf. Ich brauchte fast die ganze Nacht, um alles aufzuschreiben. Für Papier und Stifte hatte Josef gesorgt. Im großen und ganzen war ich jedoch erfreut, da es so aussah, als habe ich nun alles erklärt. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich damit Maja beeindrucken konnte, aber es war das Beste, was ich in so kurzer Zeit erreichen konnte. Es war sicherlich die beste Theorie, die ich bis jetzt darüber kannte, wie Schwerkraft wirklich funktionierte. Als ich fertig war, schrieb ich »Eine allgemeine Theorie für das Universum« oben auf die Seite, unterstrich die Zeile zweimal, ging ins Bett und träumte von Käse und Schokolade.
29. März 1919 Am nächsten Morgen, einem eisigen Samstag morgen, immer noch durchdringend kalt, obwohl das Jahr schon so weit fortgeschritten war, wachte ich auf und merkte, daß meine Füße empfindungslos waren. Maja lag still da, aber sie atmete noch. Ich stand auf und humpelte zum Spielplatz, in der Hoffnung, daß das Gefühl durch die Bewegung wiederkäme. Das Vogelbad auf dem Spielplatz war zu einem perfekten Oval gefroren. Nichts beeinträchtigte die Ränder der Ellipse, noch nicht einmal die flüchtigen Vogelspuren. Es war vollkommen,
perfekt. Eine vollständige Eisfläche. Ich blieb für einen Augenblick stehen und sah mir die Ränder an, die in einem unvertrauten Universum ihre Vollkommenheit beibehielten. Obwohl das, was ich in der Nacht aufgeschrieben hatte, ganz einfach war, wirklich, nichts weiter als eine Beschreibung der Schwerkraft, hing es von der Idee einer gebogenen Raumzeit ab. Wenn meine Berechnungen richtig waren, wenn man ihnen durch ihre logischen Konklusionen folgte, dann gab es die Welt nicht mehr, wie wir sie kannten. In meiner neuen Welt waren gerade Linien keineswegs gerade, und Zeit war unendlich fließend. Ich fühlte, daß das einen Sinn ergab, als Grund für eine Entscheidung jedoch, weiterleben zu wollen, war es ein bißchen dünn. Das einzige, was mir fehlte, war ein Beweis. Gleichungen waren gut auf dem Papier, aber wie würde ich jemals beweisen können, daß sie richtig waren? Mein einziger Trost war, daß wenn mein Vater sich ebenfalls an diesen Linien entlanggetastet hatte – und nach dem, was ich wußte, hatte er sogar den gleichen Punkt wie ich in seinen Berechnungen erreicht –, er es auch nicht würde beweisen können. Die Leute würden es einfach nur vertrauensvoll hinnehmen müssen. Raumzeit war gebogen, und so war es eben. Ich betrachtete das Vogelbad eine Zeitlang, diese perfekte Ellipse, und merkte nach und nach, daß ich nur einige meiner Zehen spüren konnte. Da plötzlich verdunkelte sich die Helligkeit des Tages. Oben am Himmel wurde die Sonne ausgelöscht. »Oh, nein«, sagte ich und lief hinein, um es Maja mitzuteilen. Ich rüttelte sie wach. »Nein, ich möchte diesen verfluchten Muschelpudding nicht mehr«, jammerte sie. »Und auch kein Kohlwasser. Geh weg.«
»Wach auf, Maja. Hör zu. Was hältst du von einer Sonnenfinsternis?« »Ach!« sagte sie, sank auf ihre Decken zurück und bemerkte, wie dunkel es in der Turnhalle war. »Jetzt?« »Nein«, erwiderte ich hastig, besorgt, sie könne die Dunkelheit als passendes stellares Omen dafür deuten, daß es für sie an der Zeit war, zu sterben. Ich richtete sie wieder auf. »Das ist nur eine Wolke.« »Du hast mich wegen einer Wolke geweckt?« Es begann zu regnen, die Tropfen prasselten auf das Dach der Turnhalle. Ich erklärte ihr kurz, um Zeit zu sparen, meine allgemeine Theorie für das Universum. »Ich glaube, das mußt du mir noch einmal erklären«, sagte sie. Dieses Problem würde ich immer haben. Was für mich in meinem Kopf klar und einleuchtend war, konnte nicht in einfache Worte gefaßt werden. Je mehr ich versuchte, die Dinge zu erklären, um so komplizierter machte ich sie. Trotzdem versuchte ich es noch einmal, ermutigt von der Tatsache, daß sie offenbar daran interessiert war. »Verstehst du nicht, Maja? Eine Sonnenfinsternis wäre für mich der Alles-oder-nichts-Moment.« »Warum denn, um Himmels willen?« »Wenn Licht durch eine gebogene Raumzeit verläuft«, sagte ich, »wird es gekrümmt. Was passiert nun, wenn ein Lichtstrahl von einem sehr weit entfernten Stern auf seinem Weg zu uns nahe an der Sonne vorbeiläuft?« Sie antwortete nicht. Unbeirrt fuhr ich fort: »Er wird gebogen, wenn er sich durch die Raumzeit bewegt, die von der riesigen Gravitationsmasse der Sonne verzerrt ist. Und wie kannst du nun bestimmen, ob Licht von einem entfernten Stern von der Sonne gekrümmt wird?«
»Ich gebe auf«, sagte Maja. »Es ist schwierig«, gab ich zu, »weil die Sonne prinzipiell im Weg ist. Also, was dann? Du blickst auf die Sterne hinter der Sonne, wenn das Sonnenlicht weg ist. Ganz einfach. Wenn das Sternenlicht gebogen worden ist, gibt es eine Verschiebung in ihrer augenscheinlichen Position.« »Dann mach weiter«, sagte Maja. »Lauf rasch auf den Spielplatz und sieh nach.« »Regenwolken sind nicht genug. Man braucht eine Sonnenfinsternis. Etwas wirklich Solides, das im Weg ist, wie den Mond. Vielleicht sollte ich Josef Goldberg um ein Teleskop bitten.« »Wie lange hast du Zeit?« Maja wurde munter. Da sie praktisch veranlagt war, liebte sie es, praktische Probleme zu lösen. »Wann ist die nächste Sonnenfinsternis?« »Ich weiß nicht«, sagte ich, »aber ich kann es herausfinden.«
Wenn ich die Relativitätstheorie in irgendeinem anderen Jahrhundert der Geschichte entwickelt hätte, hätte ich sicher ein paar hundert, wenn nicht sogar tausend Jahre warten müssen, bis die richtige Art Sonnenfinsternis gekommen wäre, um mir den Beweis für die Richtigkeit meiner Annahmen zu liefern. Nachdem ich jedoch die verschiedenen astronomischen Almanache konsultiert hatte, die ich bei Josef Goldberg bestellt hatte, entdeckte ich, daß die nächste Sonnenfinsternis im Mai war. Mai. Noch Wochen entfernt. Ich hatte das Gefühl, das Universum wolle mir zeigen, daß es auf meiner Seite stand. Ich denke gern, daß die Nachricht der bevorstehenden Sonnenfinsternis Maja einen guten Grund gab, weiterleben zu wollen, zumindest noch ein paar Monate, weil sie neugierig
auf das mögliche Ergebnis war. Meiner täglichen Routine jedenfalls gab es eindeutig Auftrieb. Maja dagegen behauptet, daß sie erst wirklich begann, sich besser zu fühlen, als ich ihr erzählte, daß ich das nahrhafte Corned beef gegen ihren Modeschmuck eingetauscht hatte. Ich muß zugeben, daß sie in diesem Moment richtig wach wurde und mir erklärte, wie dumm ich sei, da jeder Idiot hätte sehen können, daß die Perlen echt waren. Ich entgegnete, daß ich ihr nicht glaubte, und selbst wenn sie die Wahrheit sagte, solle sie sich nur dasitzen und streiten sehen. Selbst wenn diese Perlen echt gewesen waren, dann war der Preis nicht zu hoch. Ich umarmte sie immer wieder, meine Maja, die ins Leben zurückgekehrt war. Ich fragte mich, ob Josef Goldberg wohl gewußt hatte, daß die Perlen echt waren, und kam zu dem Schluß, daß er es wahrscheinlich gewußt hatte, da er mir nicht nur so bereitwillig die Almanache besorgt, sondern auch versprochen hatte, sich nach einem geeigneten Geschenk für Maja umzusehen. Ich wünschte dem Sohn unserer Vermieterin Glück mit seinem unverhofften Reichtum. Wenn er auf eine seiner endlosen ökonomischen Reisen ging, vermißte ich ihn.
20. April 1919 Jedesmal, wenn ich über die Situation nachdachte, in der wir uns befanden, kratzte ich mich am Kopf. Mir war entweder klamm, und in diesem Fall kratzte ich mich, weil es juckte, oder mir war heiß, und ich kratzte mich, weil ich schwitzte. Eines der Kinder hatte am Jahresanfang aufgekreischt, als es einen Floh in seiner Decke gefunden hatte. Mittlerweile gab es ganze Nester davon, und die Kinder waren daran gewöhnt, sie
zwischen Daumen und Zeigefinger zu zerquetschen, und zwar so langsam, daß die Innereien mit einem Plopp zerplatzten. Das heißt, die Kinder, die nicht an der Influenza oder an Hunger gestorben waren. Und da die meisten von ihnen ohne Mütter im Lager waren, wußten wir nie genau, wie viele es eigentlich waren. Die meisten kannten noch nicht einmal ihren Namen. Es war Zeit, weiterzuziehen. Maja war wieder kräftig genug, es ging ihr gut, sie hatte genug Rübensuppe gegessen, und ich sagte es ihr. Sie erwiderte: »Wohin sollen wir denn gehen?« Ich war mir nicht sicher. Ich war noch nicht einmal ganz sicher, wo wir eigentlich waren. »Möchtest du immer noch dem Fluß folgen?« Ich wackelte mit dem Fuß. Das war eine Angewohnheit geworden, um zu überprüfen, ob meine Füße überhaupt noch da waren, nachdem ich vier Zehen an meinem rechten Fuß verloren hatte. Sie waren erst erfroren, und dann hatte ich Brand bekommen. Die Ärzte im Lager hatten sie ohne großes Aufhebens abgeschnitten, und ich hatte zugesehen, wie sie weiß zu Boden fielen. Die Krankenschwester hatte sie in einen Eimer gekehrt. Ich vermißte sie immer noch. Maja machte eine weit ausholende Geste, mit der sie auch immer den völligen Mangel an Kunst, Kultur und Musik in Novi Sad untermalt hatte. »Es liegt ganz an dir.« Josef Goldberg hatte mir gesagt, daß es zur Zeit überall ungefähr das gleiche war. Nicht genug zu essen. Nicht genug Geld. Zuviel Krankheit und Leid. »Laß uns nach Berlin gehen«, sagte ich. »Warum?« »Mein Vater ist dort. Er war während des ganzen Krieges da, ich kann mir nicht vorstellen, daß er schon weggezogen ist.«
Maja zögerte noch. Ich entnahm ihrem Verhalten, daß sie schon einmal in Berlin gewesen war und nicht besonders gern dorthin zurückwollte. »Da sind auch viele Kommunisten«, sagte sie. Entweder deshalb, oder es lag einfach in Majas Natur, daß sie nicht gern irgendwohin zurückreiste. Erst mit Josef Goldbergs Geschenk konnte ich sie umstimmen. »Ich habe etwas für dich, Maja«, sagte ich. Sie war mißtrauisch. Sie dachte wahrscheinlich, ich brächte ihr irgend etwas Fremdländisches zum Kochen, wie Aal oder Flunder, damit sie wieder zu Kräften kam. Ich reichte ihr eine in Papier eingewickelte Schachtel. Sie wog sie in der Hand. Es fehlte nicht viel, und sie hätte sie an die Nase gehoben, um daran zu riechen, bevor sie es riskierte, einen Blick hineinzuwerfen. »Öffne sie, Maja. Es ist ein Geschenk.« Sie wickelte sie aus, griff hinein und hielt den kleinen goldenen Tiegel auf der Handfläche. Ich brauchte ihr nicht zu sagen, was es war. »Woher hast du das?« »Josef Goldberg. Unter den Trümmern.« Sie konnte die Augen nicht davon abwenden. »Da ist ein Spiegel.« »Wo?« »Innen.« Maja öffnete den winzigen Tiegel, blickte in den kleinen Spiegel im Deckel und legte ein wenig Rouge auf ihre Lippen. Sie atmete tief ein. Dann verteilte sie etwas auf ihren Wangen und sah mich an. »Mehr«, sagte ich. Sie trug mehr auf. Und noch mehr. Ihr Mund war rot wie Rosen. »Perfekt«, sagte ich.
Ich hatte auch Wimperntusche, aber damit wollte ich bis zum nächsten Tag warten, wenn wir am Straßenrand saßen, Maja fest eingeschnürt in ihr Korsett auf dem braunen Koffer und ich lässiger auf Ferdis grauer Reisetasche. Als sie dann ihre Wimpern damit färbte, konnte ich mir plötzlich vorstellen, was Maja sein würde, was Maja werden würde. Obwohl sie dünn und müde war, war meine Maja wunderschön. Und auch Maja sah dies im Spiegel meiner Augen. Sogar Josef Goldberg sah es, als er uns mit seinem Lastwagen abholte. Die Farben auf ihrer Haut verwandelten sie in jemand anderen. Josef hatte eine Lieferung Schnaps dabei, und wir gossen ein wenig in einen kleinen Zinnbecher und teilten ihn uns. »Überlebende«, sagte Maja und klimperte mit den Wimpern. »Überlebende«, sagte ich und trank, so schnell ich konnte, um warm zu werden und nicht auch mit den Wimpern zu klimpern. Josef Goldberg lachte.
29. Mai 1919 Es regnete. Wir waren vermutlich irgendwo in Nordösterreich oder Süddeutschland, nach der Höhe der Berge und der kühlen Luft zu urteilen. Über das Datum jedoch war ich mir ziemlich sicher. Maja kauerte an einem Hang unter der Patchworkdecke, mit der sie ihren Kopf und ihre Schultern warm hielt. »Glaubst du, alle beobachten die Sonne?« Ich dachte nach. »Wahrscheinlich sind im Moment Hunderte von Leuten draußen, bewaffnet mit Meßinstrumenten.« Ich starrte zu den Berghängen und erwartete fast, jeden Moment ganze Heerscharen von Astronomen zu sehen.
»Nur nicht verzweifeln«, sagte Maja. »Es ist lediglich eine Theorie, und Theorien können falsch sein. Vielleicht entwickelst du ja, wenn sie falsch ist, eine bessere.« »Oh, meine Theorie ist richtig«, erwiderte ich. Ich hatte keinen Zweifel daran, daß die Natur mir recht geben würde. »Aber wenn sie wirklich nach der Sternenverschiebung suchen, dann kann das nur eins bedeuten.« »Was?« Die Wolken lichteten sich, aber der Himmel wurde nicht heller. Mitten am Nachmittag herrschte die alles entscheidende Dunkelheit. Die Sonnenfinsternis hatte begonnen. »Er hat ihnen gesagt, sie sollen sich das ansehen. Nicht ich. Ich habe es niemandem gesagt. Wenn sie sich das ansehen, bedeutet das, er hat mich geschlagen. Das bedeutet, er bekommt den ganzen Ruhm.« Langsam und unmerklich schob sich der Mond vor die Sonne. Der letzte Streifen Helligkeit leuchtete noch für einen Moment und war dann verschwunden. Der Tag wurde grau, und Maja kuschelte sich tiefer in ihre Decke. Gemeinsam starrten wir düster auf den dunklen Himmel.
9. Oktober 1919 Als der Herbst fortschritt und es nirgendwo irgendwelche Meldungen über die Sonnenfinsternis gab, nahm ich an, daß ich davongekommen war. Wenn niemand darüber berichtete, bedeutete das, daß niemand sie sich auf die spezielle Art und Weise angesehen hatte, die notwendig war, um meine Theorie zu beweisen. Und wenn niemand sie sich auf diese spezielle Art und Weise angesehen hatte – um zu sehen, ob das Licht der Sterne gekrümmt war oder nicht –, bedeutete das weiter, daß niemand etwas darüber veröffentlicht hatte. Oder genauer,
mein Vater hatte bisher noch keinen Aufsatz über diese Theorie veröffentlicht. Also hatte ich noch Zeit. Ich konnte ihn noch schlagen. Mein rechtmäßiger Anteil am Erbe war noch nicht verloren. Ich schrieb meine allgemeine Theorie für das Universum sorgfältig ab und überprüfte dabei noch einmal die Berechnungen. Zwischendurch half ich Maja dabei, vom Markt die Kartoffelsäcke nach Hause zu schleppen, die wir brauchten, um den Winter zu überstehen. Wir waren endlich in Berlin, in einer preußischen Wohnung in der Nähe der Mohrenstraße. Zum ersten Mal war ich in derselben Stadt wie mein Vater. Die Straßen waren gerade, lang, grau und gleichförmig, voll mit ordentlichen Gebäuden. Ich wachte morgens gemütlich in meinem Bett auf, schwelgte in der ungewohnten Weichheit von Matratze und Decken und atmete tief die Luft ein, als wäre sie irgendwie anders und enthielte mehr Atome und Moleküle von Sauerstoff und Kohlendioxid, die auch mein Vater kürzlich eingeatmet hatte. Ich konnte seine Anwesenheit in den Herbstwinden beinahe riechen, ein chemischer Geruch von staubigen Papieren und gespitzten Bleistiften. Ich kam ihm näher. Und während ich atmete, schmiedete ich Pläne, wie ich mich in die KaiserWilhelm-Gesellschaft und die Universität, wo mein Vater sein Studierzimmer hatte, einschleichen würde. Als wir uns schließlich in unseren zwei Zimmern eingerichtet hatten und Maja Vorhänge genäht und Wolfgang auf den Schreibtisch gestellt hatte, sagte ich ihr, daß es für mich jetzt an der Zeit sei, ernsthafte Studien zu betreiben. »Wenn ich nicht bei einer akademischen Institution bin, wird das niemand je veröffentlichen. Niemals.« Ich schwenkte meine Papiere vor ihrer Nase hin und her. Die Gleichungen waren wirklich zauberhaft.
Maja sah sehr modern aus. Ihr Kleid hatte ein enges, tiefgezogenes Oberteil und einen weiten Rock, der schockierenderweise kurz über ihren Fesseln endete. Sie trug dieses modische Kleid sogar beim Einmachen, was sie tat, falls es auf dem Markt einmal kein frisches Gemüse mehr geben würde. Sie setzte in einem Topf Wasser auf, nahm ihr Messer und begann Karotten zu schälen. Dann sagte sie: »Was willst du studieren?« »Deskriptive und analytische Geometrie, Astrophysik, Astronomie, gnomische Projektion und Matrix. Und die Theorie des definiten Integrals.« »Ich finde, du solltest zur Sekretärinnenschule gehen«, sagte Maja und wandte sich einer weißen Rübe zu. »Was?« »Schreibmaschine schreiben lernen.« »Aber…« »Und auch Buchhaltung.« »Ja, Maja, ich weiß, daß einem solche Dinge auf der Sekretärinnenschule beigebracht werden, aber ich möchte zur Universität. Du kannst ja hingehen, wenn du willst…« »Ich kann Schreibmaschine schreiben«, erwiderte Maja, »du aber nicht.« »Ich weiß, daß ich nicht Schreibmaschine schreiben kann«, sagte ich, »aber…« »Dann mußt du es lernen«, erwiderte Maja. »Man braucht nicht maschineschreiben zu können, um Physiker zu werden«, sagte ich. »Kannst du dir deinen Lebensunterhalt verdienen?« erwiderte Maja. »Du bist siebzehn. Die meisten Mädchen in deinem Alter arbeiten. Es wäre Desanka gegenüber nicht richtig, wenn ich dir nicht beibringen würde, wie du im Leben deinen eigenen Weg gehen kannst.«
»Aber wo sollte ich denn jemals als Physikerin arbeiten, wenn ich keine Qualifikationen habe?« »Dann geh zur Sekretärinnenschule und hol dir welche.« »Ich glaube nicht, daß die physikalische Abteilung von Steno und Schreibmaschineschreiben besonders beeindruckt ist«, sagte ich. »Die einzige Alternative ist, in einem Geschäft zu arbeiten«, meinte Maja, »und in einem Geschäft bist du den ganzen Tag auf den Beinen. Wenn du Schreibmaschine schreibst…« »Ich finde dich nicht sehr fair«, sagte ich. »Ich bezahle die Gebühren für einen guten Grundkurs von meinen laufenden Einnahmen«, sagte Maja. »Wir werden ein paar Wochen sparsamer leben müssen, aber es wird schon gehen. Du kannst mir das Geld später von deinem ersten Gehalt zurückzahlen.« Das Wasser kochte. Sie goß es über die Karotten und die weißen Rüben und sah befriedigt zu, wie der Dampf aufstieg. Die beiden Hauptsorgen in Majas Leben – ihre äußere Erscheinung und der Haushalt – nahmen sie gefangen. »Das ist eine Vergeudung meiner wahren Talente«, sagte ich. »Wenn du dich jetzt einschreibst, kannst du im Juli schon Geld verdienen, und wir könnten uns Besseres zu essen leisten als gekochte Bohnen.« Indem sie so gleichzeitig der Kritik am Essen, das für den Abend vorgesehen war, vorbeugte, schloß Maja das Einmachen ab, stellte die beiden Gläser zu den anderen in die Speisekammer und machte sich daran, ihre Nägel zu feilen. Sie waren immer noch brüchig, woran man sehen konnte, wie die Influenza und die unerbittliche Kälte ihren Tribut gefordert hatten, aber sie wurden schon wieder stärker. »Du wirst Ausweispapiere brauchen«, sagte sie nachdenklich. Das stimmte. Die Papiere, die ich mal besessen hatte, waren längst verschwunden. Wahrscheinlich lagen sie noch in der
Turnhalle oder in irgendeinem Schreibtisch in irgendeinem der gemieteten Zimmer. »Du wirst dir einen neuen Namen ausdenken müssen. Einen guten deutschen Namen.« »Helga«, sagte ich mürrisch. »Helga Hansbach.« Wenn ich nicht so ärgerlich gewesen wäre, hätte ich mir vielleicht einen melodischeren Namen ausgesucht, vielleicht sogar einen, der etwas mehr nach Prinzessin klang. Ich löffelte grauen Zucker in eine Tasse und machte mir Tee. Er war weder erfrischend noch belebend, noch nicht einmal nahrhaft. Was die Nahrung anging, so konnte ich mich lediglich auf gekochte Bohnen freuen. Das ganze Leben, eine Zukunft voller gekochter Bohnen und Helga Hansbach kamen mir auf einmal nicht mehr so besonders aufregend vor. Ich beschloß, sie zu umschmeicheln. »Maja, wenn ich mich an der Sekretärinnenschule einschreibe, versprichst du mir dann etwas?« Ich stellte ihr eine Tasse mit grauem Tee hin. »Natürlich, Kleines.« »Wenn meine Relativitätstheorie richtig ist und ich meine Arbeit darüber zur Universität schicke, und sie nehmen mich auf…« Maja lachte. »Ja, ich weiß, es ist nicht sehr wahrscheinlich. Vor allem, wenn meine einzige Qualifikation in soundsoviel Wörtern pro Minute besteht. Nicht gerade eine Geschwindigkeit, die sie beeindruckt. Aber wenn ich eine Prüfung ablegen könnte, ihnen zeigen könnte, was ich kann…« »Dann…?« »Würdest du mich dann Physik studieren lassen?« Maja dachte nach. »Ja«, sagte sie. »Unter diesen beiden Bedingungen. Daß du recht hast und daß sie dich nehmen.« Ich verbrachte den ganzen Abend damit, meine Formeln zu verbessern.
Als es bereits sehr spät war, ging Maja aus. In Berlin gab es Hunderte von Orten, an denen man bis zum Morgengrauen tanzen konnte, und Maja tanzte für ihr Leben gern. Ich hatte schon lange aufgehört, mich zu fragen, wie jemand, dessen größte Befriedigung im Leben im Einmachen von Gemüsen und im Abstauben zu bestehen schien, so verrückt nach Vergnügen sein konnte. Hedonismus und Hausarbeit waren wohl nicht grundsätzlich unvereinbar, die Leute trennten sie nur für gewöhnlich. Bei Maja jedoch führten sie eine friedliche Koexistenz. Ich ging ohne sie zu Bett, und obwohl ich versuchte, wach zu bleiben, bis ich ihren Schlüssel im Schloß hörte, bekam ich es nicht mehr mit. Sie weckte mich selbst auf, als sie bei Tagesanbruch nach Hause kam. Sie zog mich an sich, drückte ihre Wange an meine, überschwemmte mich mit dem Duft von Kosmetika, Whiskey und Dämmerlicht in Tanzbars und sagte: »Eins sollst du wissen, Helga. Ich werde dich immer gehen lassen.«
7. November 1919 »Wo bist du gewesen?« Normalerweise hielt sich Maja nicht so lange auf dem Markt auf, und ich hatte begonnen, mir Sorgen zu machen. Es hatte Streiks gegeben und einmal sogar einen Aufstand. Sie hätte ja auch einen Unfall haben können, und außerdem ging definitiv einiges vor sich. Ich hatte an diesem Morgen wie gewöhnlich zur Sekretärinnenschule gehen wollen, aber in der Wilhelmstraße waren Barrikaden aufgebaut. Der ganze Verkehr war zum Erliegen gekommen. Während ich noch unschlüssig herumstand und mir überlegte, was ich tun sollte,
reichte mir jemand ein Flugblatt. »Hier, lesen Sie.« Es war von der Bürgerwehr und forderte uns alle auf, zu Hause zu bleiben. Pflichtbewußt war ich nach Hause gegangen, ganz froh darüber, daß ich den Tag nicht bei Fräulein Hirsch und ihrer infernalischen Marschmusik, zu deren Klängen ich auf die Schreibmaschine einhämmerte, verbringen mußte. »Draußen sind überall Barrikaden«, sagte Maja. »Ich weiß. Ich konnte nicht zur Schule gehen. Was ist denn eigentlich los?« »Es ist der zweite Jahrestag der Russischen Revolution.« »Oh.« Ich verlor das Interesse. »Hier.« Sie legte die Nachmittagsausgabe des Berliner Tageblatts auf den Tisch und holte einen Rotkohl, einen Weißkohl und rote Bete aus ihrer Einkaufstasche. Unter der Schlagzeile Die Zusammensetzung des Universums war mein lächelnder Vater abgebildet. In dem Artikel stand, daß das wissenschaftliche Genie Albert Einstein über Nacht unsere ganze Auffassung davon, wie das Universum funktionierte, geändert habe. Die Zusammensetzung des Universums wurde mir unter den Füßen weggezogen. »Verdammt und zugenäht«, sagte ich. Eine britische Forschungsgruppe hatte die Sonnenfinsternis vom 29. Mai beobachtet und herausgefunden, daß sich am Rand der Sonne die Sterne verschoben hatten. Das war der Beweis dafür, daß die allgemeine Relativitätstheorie meines Vaters richtig war. Er hatte sie schon vor Jahren in einer Zeitschrift veröffentlicht, die Josef Goldberg nie aus den geplünderten Bibliotheken Europas hatte besorgen können. Ich
sah auf meine ordentlichen handschriftlichen Aufzeichnungen. Sie waren jetzt wertlos. Ich hatte meine Zeit vergeudet. Mein Vater kam durch den Stacheldraht des Weltkrieges angeschlendert, hinterließ blutige Fußspuren im Schnee, das zerfallende alte Universum tropfte von seinen Händen, und die Welt lag ihm zu Füßen. Heutzutage wundern wir uns über gar nichts mehr. Nicht über die Tatsache, daß der Mond uns nicht auf den Kopf fällt. Die Tatsache, daß es Ebbe und Flut gibt. Daß die Nadel immer nach Norden zeigt. Keine dieser Tatsachen ruft Erstaunen oder Verwunderung hervor. Aber 1919 waren wir in der Stimmung, uns zu wundern. Es war, als sei mein Vater auf die Leichenberge geklettert und hätte vor der Menge triumphierend eine Gleichungsfahne geschwenkt, und die Menge hätte nur die Gleichung gesehen. Es spielte keine Rolle, daß lediglich mein Vater, Max Planck, Hendrik Lorentz, Helga Hansbach und ungefähr noch vier weitere Menschen auf der Welt Relativität wirklich verstanden. Das machte einen Teil des Reizes aus. Man brauchte nicht alles zu verstehen, um von einigen Dingen, die darüber in der Zeitung standen, fasziniert zu sein: daß Zeit relativ war, daß Uhren rückwärts gehen konnten. Die Theorie eröffnete eine hoffnungsvolle Perspektive für die Zukunft. Die Welt, an die wir uns in den letzten zwanzig Jahren gewöhnt hatten, war eher ein Alptraum als ein Traum gewesen. Die neue Theorie meines Vaters versprach, die menschliche Rasse über das dreidimensionale Elend, das wir Alltag nennen, hinauszutragen und uns am Ufer eines glitzernden Sees abzusetzen, von wo aus wir in eine vierdimensionale Zukunft segeln konnten. Er hatte den ganzen Ruhm. Ich hatte die Schlacht verloren. Ich haßte ihn mehr denn je.
Ich starrte auf das Foto unter dem Artikel: ein freundlich aussehender Mann mit einem dichten braunen Haarschopf, einer hohen Stirn wie ich, einem Schnauzbart und tiefschwarzen Augen. Er sah sehr nett und sehr freundlich aus. Niemand hätte sich vorstellen können, daß ein solcher Mann imstande gewesen war, seine Erstgeborene zu verlassen. Aber er war dazu imstande gewesen. Niemand hätte sich vorstellen können, daß dieses Genie mit dem offenen Blick einen Säugling der Gnade von Geschichte und Zufall überlassen und sich nie um sein Wohlergehen gekümmert hatte, aber genau das hatte er getan. Auf dem Foto in der Zeitung sah es so aus, als ob mein Vater sich hinter der Maske tiefen Nachdenkens voller Stolz selbst umarmte, sich auf die Schulter klopfte und sich dabei eine Feder an den Hut steckte. Ich spuckte ihn an.
In den nächsten drei Tagen nahm ich den Rat der Bürgerwehr ernst und blieb schmollend zu Hause – bis Fräulein Hirsch vorbeikam und Maja erzählte, wie erfolgreich ich Schreibmaschine schreiben lernte, und daß sie hoffte – wobei sie um die Ecke der Tür spähte –, daß ich nicht krank sei. Maja warf mir einen strengen Blick zu und sagte zu Fräulein Hirsch, ich sei bereits auf dem Wege der Besserung und käme morgen wieder zur Schule. Meine Rache glühte nicht mehr so heiß wie in Novi Sad. Bis jetzt hatte ich ihn noch nicht wirksam erschreckt, und meine Rache waren nur ein paar wertlose Zeilen auf einem Blatt Papier – eine Theorie, die niemand je lesen würde, ohne zu denken, daß ich sie von meinem Vater abgeschrieben hätte. Ich hatte geglaubt, mich auf einem gradlinigen Weg zu befinden, aber irgendwie war ich wohl, ohne es zu merken, davon
abgekommen. Ich hatte noch nicht einmal mehr die Aussicht, Physikerin zu sein, ich würde eher Stenotypistin werden. Die Tatsache, daß meine Theorie richtig gewesen war, tröstete mich wenig, weil er vor mir zu dem Ergebnis gelangt war. Die Welt blickte zu ihm als zu einem Genie auf, nicht zu mir. Nach dieser spannenden Auseinandersetzung zwischen Theorie und Beweis, dieser erfolgreich beobachteten Sonnenfinsternis, schrieben die Zeitungen in aller Welt über meinen Vater. Auch in die Sekretärinnenschule brachten die Lehrer alle möglichen Zeitungen mit. Nicht nur das Tageblatt, sondern auch die Frankfurter Zeitung und all die kleinen Blätter aus Bayern. Tag für Tag versuchte die ganze Welt, mit der Relativität zurechtzukommen, und während ich zur Musik Schreibmaschine schrieb, sah ich ihr dabei zu. Maja erzählte, auf der Straße seien Leute an ihr vorbeigegangen, die über negativ aufgeladene Elektronen geredet hätten. Sie wirkte ganz vergnügt. Ich sagte: »Ich frage mich, was sie dächten, wenn ich ihnen erklärte, daß mein Vater rein gar nichts über die Elektrodynamik des sich bewegenden Körpers, der seine uneheliche Tochter ist, weiß.« Der Unterschied zwischen hier und dort ist relativ. Der Unterschied zwischen damals und heute ist relativ. Aber der Unterschied zwischen meinem Vater und mir stagniert. Mein Vater, so hörte ich, verkaufte signierte Photographien von sich, um den hungernden Kindern in Wien zu helfen, während ich mein Steno perfektionierte. Mein Vater, der Heilige, der Wissenschaftler, hatte den Blick der Menschen von der Erde abgelenkt und auf die Sterne gerichtet. Und sie waren ihm dankbar dafür. Und obwohl ich völlig verärgert war, konnte ich es den Leuten eigentlich nicht
übelnehmen. Wir wollten zu den Sternen schauen. Wir hatten alle zu viele Leichen gesehen. Maja sagte: »Nutze deine Zeit. Dein Tag wird kommen. Es liegt noch ein ganzer Krieg vor uns.«
Ein paar Wochen später kam Josef Goldberg zu uns. Ich freute mich, ihn zu sehen. Ich brauchte Trost, und er war sehr tröstlich. Als ich in der Nacht seiner Rückkehr in meinem weichen Bett lag, den Kopf an Josefs sommersprossige weiße Schulter gelehnt, und durch das rechteckige Fenster in den Nachthimmel blickte, wurde mir klar, daß er mir, wenn er dieses Mal wegginge und nicht zurückkäme, wirklich sehr fehlen würde. Er war ein fester Halt in einer Welt, in der nichts lange gleichblieb. Ich spürte, wie er neben mir einschlief, und schlang die Arme um ihn, als ob ich ihn so für immer festhalten könnte. Ich hielt Josef in den Armen und starrte unentwegt auf die Sterne. Irgend etwas stimmte immer noch nicht ganz.
5 Die Republik
24. Dezember 1919 Die ganze Stadt war auf den Beinen. Auf der Friedrichstraße spielten Leierkästen, Straßenhändler verkauften Wunderkerzen und Lametta, über jedem Marktstand hing der Duft von Zimtplätzchen. Die Juweliergeschäfte Unter den Linden hatten alle geöffnet, die Schaufenster waren hell erleuchtet. Eis glitzerte auf den Ästen der Linden, und die Massen der Weihnachtseinkäufer schoben sich durch Wertheim und Kayser. Berlin war voller Menschen, die von irgendwo anders kamen, und daher fühlte ich mich ganz zu Hause. In den Häusern in unserer schmalen Straße schimmerten Weihnachtsbäume und Kerzen. Maja stand am Herd in dem Raum, den wir als Wohnzimmer bezeichneten, und traf die Vorbereitungen für unser Weihnachtsessen, als es anfing zu schneien. »Sieh mal«, sagte ich und wies zum Fenster. »Vollkommenheit.« »Ich mag Weihnachten«, erwiderte Maja und machte sich am Tisch zu schaffen. »Ich weiß«, sagte ich und sah ihr zu, wie sie hackte und schnitt. »Was ist das?« »Karpfen«, erwiderte Maja und schnitt säuberlich den Fischkopf ab. »Du weißt doch, daß ich Karpfen nicht ausstehen kann.« Ich sah ihn an. Sein Auge starrte mir entgegen, kalt und anklagend. »Karpfen, Karpfen, Karpfen. Mein ganzes Leben besteht aus Süßwasserfischen.«
»Karpfen am Heiligen Abend ist eine Berliner Tradition.« »Ach.« »Auch wenn sich die Zusammensetzung des Universums geändert hat«, sagte Maja, ohne sich durch meine Gereiztheit aus der Ruhe bringen zu lassen, »muß das ja nicht bedeuten, daß ich keine Traditionen mehr aufrechterhalten kann. Oder du. Ich könnte mir vorstellen, daß du doch zum Beispiel bestimmt ein Weihnachtsgeschenk haben möchtest.« Natürlich. »An manche Traditionen kann ich fest glauben«, sagte ich fromm. Ich verließ Maja, die dem Karpfen Weihnachtslieder vorsang, und sah mir mein verfrühtes Weihnachtsgeschenk von Josef an. Endlich Band 49 der Annalen der Physik, in denen mein Vater auf den Seiten 769 bis 822 die »Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie« beschrieb. Dieser Titel strahlte eine gewisse Arroganz aus. Ich fand jedoch, er war mit meinem »Eine allgemeine Theorie für das Universum« nicht zu vergleichen. Obwohl es doppelt schmerzte, den Beweis vor Augen zu haben, daß mein Vater nicht nur selbst die Theorie entwickelt, sondern sie auch vor mir veröffentlicht hatte, freute es mich doch, als ich anhand des Datums des Artikels feststellte, daß er zehn Jahre gebraucht hatte, um von der speziellen zur allgemeinen Theorie zu gelangen. Ich hatte drei Monate gebraucht. Während ich auf die Seiten blickte, dachte ich, daß er schneller ans Ziel gekommen wäre, wenn er der Geometrie mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Manche seiner Gleichungen jedoch waren ganz wunderbar, und viele – mehr als bei mir – hatten die Symmetrie dieses vertrauten c in ihrer Mitte. Ich vermutete jedoch, daß mehr in ihnen steckte, etwas, das mir noch nicht aufgefallen war, und grübelte darüber nach. Obwohl ich an jenem Abend nichts Besonderes herausfand, war ich für den Augenblick vollkommen zufrieden in der
reinen Freude, Papier und Stift zu haben und ein Problem lösen zu können. Jetzt, da ich die Gelegenheit hatte, die Relativitätsgleichungen meines Vaters näher zu betrachten, fand ich einen seltsamen Trost darin. Alles verändert sich, sangen sie. Nichts ist absolut. Das galt für alles, von den entferntesten Bereichen des Universums bis hin zu den winzigsten Teilchen. Ich hatte jetzt Namen für all diese Teilchen, da ich alles darüber gelesen hatte: Im Molekül gab es Atome, Protonen und Elektronen. Die Teilchen wurden immer winziger. Zwischen den größten und kleinsten dieser Berechnungen löste sich die Realität der Außenwelt auf. Und was übrigblieb, war nicht mehr als ein Traum. Und in einem Traum war alles möglich. Befreit von der Mechanik eines Newtonschen Universums war jeder Weg möglich, einschließlich meines eigenen. Deshalb war auch Rache immer noch möglich. Es mochte vielleicht eine Art von Rache sein, an die ich bisher noch nicht gedacht hatte, aber es würde immer noch Rache sein, vielleicht sogar eine bessere als die, die ich mir vorher ausgedacht hatte. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, kam mir diese Rache wirklich sehr armselig vor. Einen Aufsatz veröffentlichen. War das wirklich genug? Beim nächsten Mal würde ich es besser und größer machen. Als der Karpfen schließlich in der Küche dampfte, hatte sich meine Laune soweit gebessert, daß ich einen näheren Blick auf die Zeitungen auf dem Küchentisch werfen konnte. Sie plapperten immer noch fröhlich über Raum und Zeit und den übrigen Klatsch über die Rolle meines Vaters dabei, und normalerweise stopfte ich sie direkt unter die Spüle, damit Maja ihre Karotten darauf schälen konnte. »Hör mal«, sagte ich zu Maja und wies auf das Berliner Tageblatt, »das ist ja gar nicht meine Mutter.«
»Ich habe mich schon gefragt, wann du es merkst«, erwiderte sie. Die Frau, die auf den Bildern als Albert Einsteins Frau bezeichnet wurde, war ganz sicher nicht Mileva. Diese neue Frau war blond und hatte, wie ich fand, nicht annähernd so feine Gesichtszüge wie meine Mutter, obwohl sie durchaus mütterlich aussah. »Wer ist das?« Ich ging davon aus, daß Maja es wußte. Sie las täglich Zeitung, und falls sie einmal etwas übersehen hatte, hielten ihre zahlreichen Freunde sie auf dem laufenden. »Das ist seine Kusine, Elsa.« »Ach du meine Güte.« Ich krabbelte unter die Spüle und zog alle Zeitungen hervor, die noch nicht ihre Gemüsepflicht erfüllt hatten. Auf der dritten Seite einer neueren Ausgabe der Vossischen Zeitung, die nur leicht feucht war, sah ich Elsa abermals. Stolz hatte sie den Arm um die Schultern meines Vaters gelegt. Elsa hatte zwei Töchter, Ilsa und Margot. »Sie und Albert zusammen, das ist ein ganz schönes Risiko«, sagte Maja nachdrücklich, »wo sie doch Vetter und Kusine sind.« Ich las laut aus der Zeitung vor: »Der Vater der modernen Wissenschaft ist Vater von zwei Töchtern und zwei Söhnen…« »Das geht nur auf, wenn sie dich in die Gleichung nicht mit einbeziehen«, meinte Maja. »Mach keine Witze. Das ist ernst genug.« »Und es erklärt außerdem, warum er so lange für die Theorie gebraucht hat.« Maja stach mit einer Gabel in den Karpfen und erklärte zufrieden, er sei gar. »Wie meinst du das?« »Deine Mutter hat ihm wahrscheinlich nicht mehr die Berechnungen gemacht. Gieß die Kartoffeln ab, Helga.« Ich griff nach dem Topf. »Und wo ist meine Mutter?«
»Wieder in Zürich, mit den Jungen. Sie hat deinen Vater letztes Jahr verlassen.« »Warum hast du mir nichts davon erzählt?« »Wozu?« Das Kartoffelwasser verschwand im Ausguß und vergurgelte ins Nichts. Ich gab Butter an die Kartoffeln, goß auch die allgegenwärtigen weißen Rüben ab und setzte mich an den Tisch. An meinem Platz lag, in braunes Papier eingewickelt, mein versprochenes Weihnachtsgeschenk. Es war ein Wörterbuch. »Wozu soll das gut sein?« fragte ich. »Warum hast du mir ein Wörterbuch gekauft?« Ich blickte genauer hin. »Und auch noch ein Fremdsprachenwörterbuch.« »Du hast selbst gesagt, die Hälfte aller interessanten Artikel über Relativität wären in Nature veröffentlicht. Ich finde, du solltest jetzt langsam mal Englisch lernen.« »Maja, du hast mich gerade erst gezwungen, Steno zu lernen. Ich habe genug zu tun. Und das Universum wartet nicht.« Ich legte ein paar Kartoffeln auf meinen Teller, nahm noch etwas zusätzliches Basilikum zu den Rüben, und dann erklärte ich es ihr. Seltsam an den Gleichungen war, daß sie darauf bestanden, daß die Raumzeit, in der sich unser Universum bewegt, nicht statisch sein konnte. Sie mußte sich entweder ausdehnen oder zusammenziehen. Statt zuzugeben, daß Newton recht hatte, und einzuräumen, daß die Einwirkung der Schwerkraft auf die Sterne sie nach und nach enger zueinander zog, bis sie uns buchstäblich auf den Kopf fielen, hatte mein Vater einen kleinen Begriff in die Gleichungen eingebaut – die kosmologische Konstante –, die nur dem Zweck diente, die Raumzeit ruhig zu halten. Ich schüttelte den Kopf. Eine kosmologische Konstante, um Himmels willen! Er irrte sich. Das würde er nie aufrechterhalten können.
»Du hast mir zwei Bedingungen gestellt«, sagte ich zu Maja, »wenn ich zur Universität gehen und studieren will. Zum einen, daß meine Theorie richtig war. Das war sie. Mein Vater hat es vielleicht ein bißchen anders dargestellt, aber die Ideen und Schlußfolgerungen sind genau dieselben.« »Ich weiß«, sagte Maja. »Meinen Glückwunsch. Du bist schon halb da.« »Und zum zweiten, daß sie mich aufnehmen.« »Richtig.« »Nun, und woher soll ich wissen, ob sie mich aufnehmen oder nicht, wenn ich es gar nicht erst versuche?« Sie mußte mir recht geben. »Im Juni ist eine Aufnahmeprüfung an der Universität. Ich habe noch ein paar Monate Zeit. Ich könnte in die Bibliothek gehen, wieder anfangen zu lesen und alle Winkel des Universums wirklich ausloten… Entweder dehnt es sich aus, oder es zieht sich zusammen, das eine oder das andere. Es steht jedenfalls nicht still. Mein Vater irrt sich. Wenn ich das beweisen kann, nehmen sie mich sicher auf. Du siehst also, ich habe keine Zeit, um noch eine Sprache zu lernen.« »Hm, das wird schwierig sein, zumal du ja auch noch den Grundkurs bei Fräulein Hirsch abschließen mußt.« Und trotzdem brachte mir Maja, während wir den perfekt zubereiteten Fisch aßen, das erste von zahlreichen unregelmäßigen Verben bei. Kurz vor Mitternacht, als ich endlich die vollendete Vergangenheit von to be begriffen hatte und Maja zur Kirche aufbrechen wollte, gab ich ihr, weil ich nicht mehr wach sein würde, wenn sie zurückkam, ihr Weihnachtsgeschenk: einen Block schwarze Mascara von Bourjois in Paris. Einen großen Block. Josef Goldbergs Import/Export-Geschäft lief gut. Maja machte sich damit vollendet zurecht.
7. März 1920 An einem seiner seltenen Sonntagnachmittage in Berlin machte Josef Goldberg mit mir einen Spaziergang an den Seen. Ich beschloß, ein paar Stunden lang meine Schreibmaschinenübungen, meine Forschungen über Relativität und die unregelmäßigen englischen Verben zu unterbrechen und Hand in Hand mit ihm am Ufer spazierenzugehen. Eines der besten Dinge an Josef Goldberg war, daß er zwar nicht das geringste von Relativität verstand und sicher überfordert gewesen wäre, wenn er hätte erklären müssen, was ein Molekül war, daß er mich aber darüber reden ließ, ohne mir dauernd vorzuhalten, ich solle besser Steno üben. Wir setzten uns ins Gras und blickten über das blaue Wasser. »Wenn du die Gleichungen ganz bis zum Ende verfolgst…« sagte ich. Josef sah mich erwartungsvoll an. »Ja?« Die meisten Menschen, einschließlich meines Vaters, einschließlich der ganzen Physikabteilung der Preußischen Akademie der Wissenschaften, dachten immer noch nach den Newtonschen Gesetzen: daß das Universum fest, ewig und unveränderlich sei. Die Sterne waren statisch, und der Äther floß um sie herum. Ich aber hatte inzwischen Berechnungen angestellt, um zu beweisen, daß das nicht der Fall sein konnte. »Wenn du die Gleichungen ganz bis zum Ende verfolgst, siehst du, daß das Universum letztendlich gar nicht stillstehen kann. Das würde einfach nicht funktionieren. Die Sterne müssen sich bewegen.« Josef dachte einen Moment lang nach. »In welche Richtung?«
Das war der Punkt, der mich völlig deprimierte. »Ich würde darauf wetten, mein Schatz, daß das Universum sich ausdehnt.« Ich fand dies deprimierend, weil es bedeutete, daß das Universum, wenn es sich ausdehnte, irgendwann einmal an einer Stelle zusammengeballt gewesen war, dort angefangen hatte. Wenn ich zu lange darüber nachgrübelte, was das bedeutete, kam es mir so vor, als sei jedes menschliche Streben sinnlos. Ich versuchte, Josef diese Sinnlosigkeit zu vermitteln, aber er sagte, ich solle die Dinge positiver sehen. »Wie kann ich sie positiv sehen?« »Nun, Helga, das Universum dehnt sich schließlich nicht so schnell aus, daß es plötzlich aufhört und wir morgen alle sterben, oder?« Und er brach jedes weitere Gespräch über dieses Thema ab, indem er mich bat, ihn zu heiraten.
Ich erzählte Maja an diesem Abend davon, als Josef schon wieder weg war, ohne daß ich ihm eine Antwort gegeben hatte. Maja, die sich gerade den Mantel anzog, hielt einen Augenblick inne und dachte nach. »Ich glaube, es ist Zeit«, sagte sie. »Wofür?« »Zeit für dich, zu heiraten.« »Wie soll ich denn in all den anderen Sachen, die ich zu tun habe, auch noch eine Ehe unterbringen?« Sie beäugte mich kritisch. »Ich werde den Versuch, auf die Universität zu kommen, nicht aufgeben, wenn du das meinst. Das habe ich auch Josef schon gesagt.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich habe vielmehr darüber nachgedacht, daß du eine alte Jungfer wirst, genau wie ich, wenn du noch länger wartest.« Ich lachte. Sie sah bezaubernd aus. »Du bist doch keine alte Jungfer.« »Natürlich bin ich das. Denk darüber nach.« Ich dachte, daß Maja sicher älter war als ich, weil sie das stets gewesen war, aber sie sah ganz bestimmt nicht so aus. Immer wenn ich über sie nachdachte, dachte ich nichts Bestimmtes, sondern nur, daß sie wunderschön war. »Und denk ernsthaft über Josef Goldberg nach«, sagte sie. »Du wirst nicht viele bessere Angebote bekommen.« Die Tür schlug hinter ihr zu. Ich seufzte und beschäftigte mich drei Stunden lang mit englischen Adjektiven.
30. Juni 1920 Ich hatte zwei Fragen auf dem Prüfungsbogen beantwortet: eine über die allgemeine Relativitätstheorie und die zweite über die Natur des Lichts. Bei der ersten Frage hatte ich sorgfältig darauf geachtet, nicht zu kontrovers zu sein – schließlich war dies eine konservative Institution, und außerdem wollte ich sie nicht auch mit der Vorstellung eines sich ausdehnenden Universums deprimieren. Mit den Implikationen des zweiten Themas hatte ich mich dagegen eher zu ausführlich beschäftigt. Ich hatte in aller Länge und Breite über die Natur des Lichts referiert, ohne daß man das eigentlich von mir verlangt hatte, und deswegen hatte ich für eine dritte Frage keine Zeit mehr. Anderthalb Wochen später jedoch, am letzten Tag im Juni, wurde ich zu einem Gespräch mit einem Mitglied der Abteilung der physikalischen
Wissenschaften gebeten, einem kleinen, leicht erregbaren Mann mit einem Bart. Ich nahm meine sauber mit der Hand geschriebene Abschrift von »Eine allgemeine Theorie des Universums« mit, falls ich die Chance bekäme, den Professor damit zu beeindrucken, daß meine eigenen Gleichungen ganz leicht von dem abwichen, was inzwischen schon zur Norm wurde. Nachdem er die Tatsache überwunden hatte, daß ich ein Mädchen war – ich hatte nur H. Hansbach oben auf den Prüfungsbogen geschrieben –, war der kleine, leicht erregbare Mann nur noch an einer Sache interessiert: an meiner geliebten Vorstellung, daß Licht beides sein konnte, Welle und Teilchen. Ich bedauerte, das je erwähnt zu haben. »Möchten Sie nicht lieber über Relativität sprechen?« fragte ich verzweifelt. Er wedelte mit der Hand, als gäbe es weder hier noch dort Relativität. »Licht ist elektromagnetische Strahlung, nicht wahr?« beharrte er. »Ja.« »Und alle elektromagnetische Strahlung verhält sich als Welle, nicht wahr?« »Ja.« »Licht verhält sich als Welle, nicht wahr?« »Das wissen wir seit langem«, sagte ich. Es gab alte Experimente, die das schlüssig bewiesen. Wenn man einen Stein in einen ruhigen Brunnen wirft, kann man zusehen, wie sich die Wellen von dem Stein aus ausbreiten. Wirft man zwei Kieselsteine hinein, weiß man, was passiert. Dann bekommt man keine vollkommenen Kreise mehr, die Wellen kreuzen einander, und es entsteht ein komplizierteres Muster. Wenn man mit einer Lichtquelle durch zwei Löcher in einem Brett leuchtet, entspricht das Muster, das dann auf der
Fläche dahinter erscheint, genau dem Interferenzmuster, das wir vom Brunnen her schon kennen. Leuchte mit dem Licht. Sieh auf das Muster. Also war Licht eine Welle. Keine Widerrede. »Aber…« sagte ich. »Wie sollte deshalb Licht ebenso in kleinen Teilchen daherkommen? Beweist eines der Experimente, daß Licht sich wie kleine Teilchen verhält?« Seine Stimme wurde lauter. Ich hatte recht. Ich konnte sehen, daß ich recht hatte. In meinem Kopf verhielt sich Licht die ganze Zeit über hervorragend wie kleine Teilchen. Aber wie sollte ich ihm das erklären? Ich wußte, daß der Direktor der Abteilung, Max Planck, einige Experimente gemacht hatte, die zeigten, daß Objekte Licht nur in begrenzten Mengen ausstießen oder aufnahmen, als wenn es tatsächlich in kleinen Paketen käme, die er Lichtquanten nannte. Daher fühlte ich mich auf recht sicherem Grund, als ich wenigstens diese erwähnte. »Max Planck…« sagte ich. Die Stimme des Herrn Professors erreichte neue Höhen der Wut. Ich wurde vor die Tür gewiesen, bevor ich auch nur eine Chance hatte, ihn mit der einzigen existenten Abschrift von »Eine allgemeine Theorie des Universums« zu verblüffen. Im Flur tanzte ich vor Frustration und Wut. Obwohl ich vielleicht nur ein unschuldiges Opfer innerabteilicher Querelen war, in der Falle zwischen dem Teilchenlager und dem Wellenlager, würde die Universität weder jetzt noch in Zukunft zulassen, daß ich auf ihren Korridoren herumspukte. Ich hatte meinen Vater mit den beiden einzigen Waffen bekämpfen wollen, über die ich verfügte, Schwerkraft und Licht. Die Schwerkraft war in Ordnung, aber das Licht hatte mich im Stich gelassen.
Als Josef Goldberg das nächste Mal in Berlin war, klammerte ich mich an ihn und schluchzte und schluchzte. Obwohl er nicht ganz verstand, warum ich weinte, tröstete er mich. Angesichts der Sinnlosigkeit menschlichen Strebens wurde ich getröstet, und ich versprach ihm, ihn endlich zu heiraten.
27. August 1920 »Mir wäre lieber, du würdest nicht einfach so verschwinden«, sagte ich zu Maja. »Ich mache mir Sorgen, weißt du. Außerdem hatte ich heute bei der Arbeit einen harten Tag.« Eigentlich hatte ich dort nie harte Tage. Steno und Schreibmaschineschreiben – was in der Anwaltskanzlei, in der ich eine der fünf jüngeren Stenotypistinnen war, verlangt wurde – war wirklich nicht besonders anstrengend. Am schlimmsten war die Hin- und Rückfahrt in der schaukelnden Straßenbahn, aber das brauchte Maja nicht zu wissen, und so konnte ich auf äußerste Erschöpfung pochen und jeden Abend ein warmes Abendessen erwarten, bevor wir uns den Hintergründigkeiten der englischen Grammatik widmeten. »Ich war auf einer äußerst interessanten Versammlung«, sagte sie. »Du gehst doch gar nicht zu Versammlungen.« »Ich war bei der Anti-Relativitäts-Gesellschaft«, erwiderte sie. »Es war ziemlich voll. Sie haben die Philharmonie gemietet.« »Du machst Witze«, sagte ich. »Oh, die Wissenschaft selbst ist gar nicht so schrecklich ernst«, erwiderte sie, »aber die Leute nehmen sie ernst.« »Was nehmen sie ernst?« »Die jüdische Natur der Relativität. Und davon ausgehend die suspekte Natur der Relativität.«
»Das verstehe ich«, entgegnete ich. »Der Begriff der absoluten Relativität paßt nicht besonders gut zu der deutschen Vorliebe für Ordnung, oder?« Ich blickte sie genauer an. Es war nicht nur die Mascara. Ihre Augen wirkten völlig schwarz umrandet. »Was ist das?« fragte ich. »Kol«, sagte sie. »Das ist der letzte Schrei.« Ich hatte gar nicht gemerkt, daß Josef sie ohne mein Wissen mit modischen Accessoires versorgte. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, steckte er knietief in Havannazigarren und spekulierte auf einen prächtigen Hochzeitsempfang. »Ich kann gar nicht verstehen, wie du noch Zeit für Mode hast«, meinte ich, »wo du doch auf all diese interessanten Versammlungen gehst.« »Am interessantesten war jedoch«, sagte Maja, »daß dein Vater erschien. Ich habe ihn in einer der Logen sitzen sehen.« Seit wir in Berlin waren, hatte ich die ganze Zeit über wie ein Elektron im Orbit auf meinen Vater gelauert, war aber eigentlich nie mit ihm in Berührung gekommen. Majas Unternehmung erinnerte mich daran, daß es möglich war. Schließlich war im neuen Universum alles möglich. Aber selbst unter dieser Voraussetzung waren wir uns nie begegnet. Meine Zurückhaltung war teilweise absichtlich. Ich wußte, warum ich mich zum Beispiel entschieden hatte, nicht zu seinen Vorlesungen zu gehen. Ich mußte warten, bis ich auch an der Universität war, damit ich ihm als Gleichgestellte gegenübertreten konnte. Ohne dieses Autoritätssiegel würde er mich nicht ernst nehmen, wenn ich versuchte, ihn in ein Gespräch über Physik zu verwickeln. Jede Hoffnung darauf, daß dies in der unmittelbaren Zukunft geschehen würde, war jedoch durch mein katastrophales Prüfungsgespräch im Juni in Stücke zerschlagen worden.
Obwohl ich versucht hatte, meine Enttäuschung darüber zu überwinden, daß ich meine persönlichen Empfindungen über Licht zwischen mich und meine Universitätslaufbahn hatte treten lassen, war ich immer noch zutiefst wütend. Josef sagte mir ständig, wie Maja auch, daß es vielleicht zu meinem Besten sei. Ich erwiderte gar nichts darauf. Ich war zu beschäftigt damit, mir eine neue Form von Rache auszudenken, allerdings war mir bisher noch nichts eingefallen, was auch nur annähernd Erfolg versprach. Vielleicht sollte ich trotzdem, einfach nur aus Interesse, doch einmal zu einer Vorlesung meines Vaters gehen. Um der großen Nachfrage Genüge zu tun, hielt er mindestens eine in der Woche. Ich konnte mich ganz nach hinten setzen und ihn finster anblicken. Nein, ich würde nicht gehen. Ich hatte zuviel Angst, mich zu verraten.
17. Oktober 1921 Ich war sprachlos. Ich kam von der Arbeit nach Hause, fand sie unten im Wäschekeller und wußte nicht, was ich sagen sollte. Das blonde Haar, auf das Maja immer so stolz gewesen war, mit seinen glänzenden goldenen Locken, Majas wunderschönes Haar, das ich kannte und liebte, seit ich acht Jahre alt war und in Frau Heidels Pension Deutschunterricht hatte, war verschwunden. Majas Haare waren jetzt blauschwarz und gut zwanzig Zentimeter kürzer. Sie reichten ihr nur noch bis an die Ohren, wo sie nach innen gedreht waren. Maja erklärte mir, das sei ein Bob. »Ein Bob?« »Wie findest du es?«
»Ich finde es… hübsch«, sagte ich, »nur vielleicht ein bißchen ungewöhnlich.« »Die Zeiten ändern sich«, erwiderte Maja. »Wir müssen uns mit ihnen ändern.« »Josef sagt auch, daß sich die Zeiten ändern.« Ich hatte ihn in der letzten Zeit noch seltener als sonst gesehen, da sein Geschäft blühte und wir die Hochzeit aufgeschoben hatten, bis er sich etabliert hatte. Die Mark war in den internationalen Währungen nichts wert, hatte Josef mir mitgeteilt, aber mich störte eher, daß ich mir die Straßenbahnfahrkarte immer seltener leisten konnte und häufiger zu Fuß gehen mußte. »Die Dinge geraten im ganzen Universum mehr und mehr durcheinander«, sagte ich. »Da ist das Durcheinander bei den Fahrpreisen noch das geringste.« Maja faltete gerade eine Bluse und blickte mich an, als sei ich verrückt geworden. »Das ist nicht neu«, sagte ich. »Das ist das zweite thermodynamische Gesetz. Die Menschen wissen das seit Newton.« »Das mag sein, wie es will«, erwiderte Maja, »aber es wird dadurch nicht richtiger.« »Willst du dich mit Newton anlegen?« »Newton braucht mich bloß anzusehen, um festzustellen, daß ich mein Leben damit verbringe, die Dinge ordentlicher zu machen.« »Du mußt dich von dem rein Persönlichen freimachen«, sagte ich und wies auf den Stapel gefalteter Wäsche. »Sieh es mal auf einer höheren Ebene.« »Die persönliche Ebene reicht mir aus«, sagte Maja. »Wenn eine Theorie wirklich funktioniert, funktioniert sie in der Küche genauso gut wie im Universum.« Sie zog ein Geschirrtuch unter mir hervor und ging nach oben. In der Küche roch es köstlich nach frisch gebackenem
Brot. Ich fragte mich oft, wie sie es schaffte, soviel zu kochen, ohne ihren Nagellack zu beschädigen. Ich war ihr unbeirrt gefolgt. »Denk mal an Rühreier«, sagte ich. »Wenn du ein Ei erst mal gerührt hast, kannst du es nicht mehr entrühren. Und aus einem ordentlichen Ei in einer hübschen, aufgeräumten Eierschale wird ein Chaos in der Pfanne. Zunehmende Entropie.« »Das stimmt nur«, erwiderte Maja, »wenn du kein Rührei möchtest. Wenn du jedoch ein Rührei möchtest, dann hast du ganz bestimmt die totale Ordnung im Universum gesteigert.« Da war etwas dran. »Laß mich darüber nachdenken«, sagte ich. »Wenn du schon nachdenkst«, sagte Maja, »kannst du auch gleich mal über Leiden nachdenken. Es gibt eine gute Bibliothek dort, und du hättest keine Probleme, dort zu studieren, wenn du eine Stelle gefunden hast. Oder Göttingen. Ich habe genug von Berlin.« Göttingen fand ich äußerst reizvoll. Es gab dort drei verschiedene Physikinstitute. Franck war da, und Pohl und Born. Jeder für sich ein guter Wissenschaftler und Mathematiker. Aber ich fühlte mich vom Orbit meines Vaters immer noch angezogen. »Fang von vorn an«, sagte Maja. »Entdecke eine neue Sicht aufs Universum.« »Meinem Universum geht es sehr gut, vielen Dank.« Und in der Tat, mein Universum wurde immer faszinierender. Wenn das Universum sich ausdehnte, wie ich glaubte, auch wenn ich damit allein dastand, dann müssen irgendwann einmal alle Galaxien ganz dicht beieinander gewesen sein. Wie nah mochten sie sich wohl gewesen sein? Was war passiert, als alle Galaxien, alle Sterne einander berührten? Und was war davor geschehen?
»Dann laß dir die Haare schneiden«, sagte Maja. »Ich sorge dafür, daß du dir wie ein neuer Mensch vorkommst.« »Ich bin mir keineswegs sicher, ob mir ein Bob überhaupt steht.« »Er ist modern.« »Soll das heißen, es gibt Frauen in Europa, die tatsächlich so aussehen wollen?« Maja öffnete die Backofenklappe und zog das Brot heraus. »Es gibt Hunderte von Frauen in Europa, die so aussehen wollen. Ich möchte so aussehen.« »Ich möchte nicht mal im entferntesten so aussehen.« »Vertrau mir«, sagte Maja, »du wirst es schon noch wollen.«
6. Februar 1922 Eines Abends, nicht lange nachdem ich mich in Helga Goldberg verwandelt hatte, was einen Hochzeitsempfang für Hunderte von Verwandten aus Wien zur Folge hatte, von deren Existenz ich bis dahin nicht einmal etwas geahnt hatte, kam Maja vorbei. Obwohl Josef und ich in zwei Zimmer an der Kirchenstraße gezogen waren – ein Zustand, an den ich mich erst noch gewöhnen mußte und dem ich auch nur unter der Bedingung zugestimmt hatte, daß Josef eine Köchin einstellte –, sah ich sie immer noch fast jeden Tag. Sie fehlte mir auch fast jeden Tag, obwohl sie sagte, daß ich ihr nicht fehlte, aber ich glaube, das sagte sie nur aus Nettigkeit. »Komm«, sagte sie und zog mich an der Hand von meiner Lektüre weg. Ich wollte nicht fort. Die Äste der Bäume waren kahl. Im Zimmer war es dank des Ölofens warm, und auf den Straßen lag Schnee. Ich ging immer noch nicht gern in die Kälte. Ich sehnte mich nach meinen Zehen. Die Lücke, wo sie gewesen waren, schmerzte im Winter immer. Kochend vor
Wut informierte ich Maja mehrmals darüber, während wir durch die schneebedeckten Straßen gingen. Da die Verfolgung meines Vaters bis in die entferntesten Bereiche des Universums so kläglich gescheitert war, hatte ich beschlossen, an den Punkt zurückzugehen, der mich zum Stolpern gebracht hatte: Licht. Obwohl ich mittlerweile ChefStenotypistin war, mußte ich jetzt, da ich verheiratet war, die Anwaltskanzlei verlassen, also hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Abgesehen von meiner Erkenntnis, daß es gebeugt werden konnte, hatte ich das letzte Mal ernsthaft über Licht nachgedacht, als ich Herrn Grünbaum in Novi Sad gefragt hatte, ob es eine Welle sei. Es verhielt sich zweifellos wie eine Welle – der kleine, leicht erregbare Mann mit dem Bart an der Universität war davon überzeugt, daß es eine Welle war –, doch die Arbeit, für die mein Vater kürzlich den Nobelpreis bekommen hatte, unterstützte die gegenteilige Auffassung. Wenn man Licht mit genügend hoher Frequenz auf eine Metallfläche prallen ließ, dann schlug es Elektronen aus den Atomen im Metall. Was konnte das anderes sein als die Absorption der Lichtteilchen, der Quanten, die das bewirkten? »Weißt du was, Maja? Ich verstehe nicht, wie es entweder/oder sein kann. Entweder ist Licht eine Welle, oder es ist Teilchen. Wenn ich die Berechnungen so mache, ist es eine Welle. Wenn ich sie auf eine andere Art mache, ist es Teilchen. Es ist beides, ich weiß das. Aber wie soll ich das beweisen?« Statt dessen zog ich langsam in Betracht, Josef Goldbergs Wunsch nachzugeben und Kinder zu bekommen. »Los jetzt«, sagte Maja und zog mir meine Wollmütze fester über die Ohren, um sie vor der Kälte zu schützen. »Vergiß die Wellen. Vergiß die Teilchen. Das hier ist wichtiger. Es ist vielleicht deine einzige Gelegenheit, deinen Vater zu sehen.«
Wir waren natürlich nicht eingeladen; wir hatten keine Eintrittskarte und konnten uns auch keine erschwindeln. Selbst Maja, mit ihrem Talent, sich irgendwo einzuschmuggeln, gab zu, daß unser Geschlecht allein schon deutlich machte, daß wir keine Physiker waren, auch wenn es uns gelungen wäre, mit weniger konventionellen Mitteln einen Platz im Vorlesungssaal zu ergattern. Nein, wir pirschten uns an, nachdem die Vorlesung vorüber war, folgten seiner Spur durch Matsch und Schnee zu dem offiziellen Empfang im physikalischen Labor und starrten durchs Fenster. Drinnen reichten sie Gläser mit Moselwein und kleine Häppchen auf Tellern. Wir waren nicht die einzigen, die hineinstarrten. Um uns herum standen ungefähr ein Dutzend seiner fanatischsten Anhänger, besessen oder verrückt genug, daß ihnen die eisige Kälte an den Füßen oder die Gefahr von Frostbeulen nichts ausmachte. Ich wußte, warum ich da war, und Maja war wegen mir da, aber zuerst war mir nicht klar, warum all die anderen es für so wichtig hielten. Relativität war immer noch modern. Mein Vater war immer noch eine Berühmtheit. Es gab Autogrammjäger und Andenkensammler und eifrige junge Männer mit eigenen Manuskripten, mit Thesen, die sie diesem herausragenden Wissenschaftler in die Hand drücken wollten. Allerdings wußte jeder, daß er sie nicht entgegennehmen würde. Alles in allem war es nicht besonders lohnend, dort zu stehen. Warum taten sie es dann also? Wahrscheinlich lag es daran, dachte ich, daß die Menschen immer noch auf den versprochenen Schlüssel zum Universum warteten. In diesem Moment ging mein Vater vorbei, keinen Meter von mir entfernt. Seine Haare erinnerten mich an die meiner Mutter, dick und schwarz, und auf den Haaren saß ein grauer Filzhut, den er zwischendurch immer wieder zurückschob, wodurch der Filz zunehmend formloser wurde. Aber er ging
rasch, selbstsicher, voller Energie. Er erinnerte mich an einen Felsen, der vorbeipoltert und dessen rauhe Kanten nur dadurch geglättet werden, daß sie sich an dem reiben, was ihnen in den Weg tritt. Er hatte braune Augen, stellte ich fest, die ich geerbt hatte, nicht die grauen meiner Mutter. Seine braunen Augen sahen mich nicht einmal an, obwohl ich fast meine Hand ausgestreckt, fast etwas gesagt hätte. Der Mann neben mir war hartnäckiger. Als der Empfang vorüber war und mein Vater zum Auto geleitet wurde, drängte er sich durch die Menge nach vorn. Er schrie etwas über eine Gleichung, über die Konsequenzen einer Gleichung, und kurzfristig erregte er damit die Aufmerksamkeit meines Vaters. »Hier«, sagte der junge Mann und schob mir dabei hastig seinen Stapel Papiere in die Hände. »Passen Sie darauf auf. Ich brauche nur das eine.« Er nahm das oberste Blatt Papier, das mit Zahlen bekritzelt war, und hielt es hoch, damit mein Vater es sehen konnte. Ich verstand nicht alles, was er sagte – er sprach mit österreichischem Akzent, und die Wörter waren lang –, aber manches bekam ich doch mit. »Energie. Masse. Ihre Arbeit beweist das. Und jetzt sehen Sie, was Sie getan haben, was möglich geworden ist.« »Völliger Blödsinn«, sagte mein Vater. »Lassen Sie mich Ihnen zeigen…« begann der junge Mann erneut. Mein Vater blickte auf die Zahlen und zerriß das Blatt Papier dann in zwei Hälften. »Sie sind ein Idiot«, sagte er. »Das Ganze ist Blödsinn.« »Ich kann beweisen…« Mein Vater zerriß das Blatt Papier noch einmal und ließ die Fetzen auf den gefrorenen Schnee fallen. »Schwachsinn. Dummes Zeug.«
»Nein«, sagte der junge Mann, sank auf die Knie und sammelte die Papierfetzen vom Eis. »Sie müssen mir zuhören…« Mein Vater stieg ins Auto, und der Fahrer ließ den Motor an. »Arroganter Bastard«, schrie der junge Mann. »Jüdischer Abschaum!« Ich kniete mich neben ihn und nahm ebenfalls ein paar Papierfetzen in die Hand. Ein bißchen elementare Mathematik, vertraute Formeln… aber es war interessant, wie der junge Mann sie angeordnet hatte. Ich hatte noch nie zuvor gesehen, daß die Dinge auch in dieser Ordnung funktionierten. »Wissen Sie, was Sie getan haben?« schrie der junge Mann, während das Auto langsam unseren Blicken entschwand. »Sie haben uns zerstört. Sie haben uns alle zerstört.« »Das sieht sehr interessant aus«, sagte ich zu dem jungen Mann, als er aufhörte zu schreien. Er hatte mich kaum bemerkt. Ich war schließlich nur ein Mädchen. »Geben Sie mir das zurück.« Wenn er netter gewesen wäre, hätte ich ihm vielleicht alle seine Papiere wiedergegeben. Die wichtigsten Schritte hatte ich mir sowieso eingeprägt. Wenn er bereit gewesen wäre, mit mir zu reden, seine Methode und sein Vorgehen mit mir zu diskutieren – und ich sehnte mich nach jemandem, mit dem ich über Methoden und Vorgehensweisen diskutieren konnte –, dann hätte ich ihm vielleicht nicht nur die unwichtigsten Papiere zurückgegeben, einschließlich des obersten, auf dem sein Name und seine Qualifikationen standen, und vielleicht hätte ich dann auch nicht die übrigen Papiere in meiner Hand auf dem Rücken versteckt und sie dann in meine Tasche gestopft.
30. August 1923 Maja war in der Küche beschäftigt. Sie hatte einen Spiegel auf das Fensterbrett gestellt, um das hellste Licht zu haben, und zupfte so eifrig ihre Augenbrauen, daß ihr Gesicht ganz rot war und sie bei jeder Berührung zusammenzuckte. Ich wußte, woher das kam. Maja hatte einen Film mit Louise Brooks gesehen und war jetzt fest entschlossen, wie ihre Zwillingsschwester auszusehen. Der Bob war nur der erste Schritt gewesen. Jetzt waren die Augenbrauen und der Lippenstift an der Reihe. Wie die meisten anderen Frauen trug ich meine Haare immer noch in Zöpfen, die um meinen Kopf gelegt waren. Maja hatte auch damit angefangen, Kleider zu tragen, die kaum ihre Knie bedeckten. »Wir müssen aus Deutschland weg«, sagte Maja. Ich war geneigt, ihr zuzustimmen. Ich hatte die Weimarer Republik gründlich satt. Abgesehen von der kleinen Opposition geisteskranker Gruppen wie der Anti-RelativitätsGesellschaft galt mein Vater als echter deutscher Held, und ich begegnete überall seinem Bild. In den Läden verkauften sie Einstein-Zigarren und Einstein-Bonbons. Jeder männliche Säugling, auf den man traf, hieß Albert. In jeder Zeitung sah man andere Schnappschüsse: mein Vater in den Vereinigten Staaten, wo er den Zionismus unterstützte, die Liga der Nationen gründete, den Pazifismus proklamierte, dem Erzbischof von Canterbury die Hand schüttelte, in Japan, wo er mit dem Kaiser anstieß. »Dein Vater wird auch nicht mehr lange in Berlin bleiben können«, sagte Maja. »Es wird zu Ausschreitungen kommen.« »Ich kann noch nicht weggehen«, erwiderte ich. »Warum?«
»Aus zwei Gründen. Zum einen: Ich habe noch nicht Rache genommen. Wenn ich die Stadt, in der mein Vater ist, verlasse, wie soll ich das dann jemals erreichen?« »Du weißt doch überhaupt noch nicht, wie du es anstellen willst, oder?« »Nein.« »Woher willst du dann wissen, ob du dich nicht genausogut aus der Ferne rächen kannst?« »Das weiß ich eben. Ich habe das Gefühl, ich sollte in seiner Nähe sein. Ein Auge auf ihn haben. Damit ich sehen kann, was er als nächstes tut.« »Du bist nie richtig in seiner Nähe gewesen, außer bei dem einen Mal, als ich dich gezwungen habe, mitzukommen. Was soll dann Entfernung für eine Rolle spielen? Vor allem, wenn wir anderswo sicherer sind.« Ich konnte es nicht erklären. Ich wollte einfach nicht ohne Ziel weggehen, ohne zu wissen, wohin ich ging und warum. Ich war nicht wie Maja, die wie ein Schmetterling von Stadt zu Stadt flatterte. »Ich werde darüber nachdenken«, versprach ich, obwohl sie wußte, daß ich es nicht tun würde. »Gibt es was zum Frühstück?« Die Köchin war zu Besuch bei ihrer Tante. »Ich habe mich schon gewundert, daß du so früh hier auftauchst. Eier. Hartgekocht. Im Topf. Wenn du Rührei haben möchtest, mach es dir selbst. Übernimm die Verantwortung für deine eigene Unordnung im Universum.« »Wenn man weit genug zurückgehen könnte«, sagte ich, nahm ein Ei aus dem Wasser und schlug es auf, »bis ganz an den Anfang des Universums, dann wüßte man alles.« »Würdest du auch wissen, warum?« fragte Maja. Ihre Lippen war jetzt nicht mehr rot. Sie zog sie in einem dunklen Pflaumenton nach, und ein herrischer Stift hatte die
Lippenbögen zu einem unnatürlichen Ausdruck von Schmerz verzogen. »Warum was?« »Warum das Universum gemacht worden ist?« »Maja, das ist überhaupt keine richtige Frage.« »Es ist aber die Frage, die mich am meisten interessiert. Nicht wann es gemacht worden ist, sondern warum.« »Und von wem?« »Das liegt doch auf der Hand.« »Für dich vielleicht.« »Und für Gott. Und das ist doch das einzige, was wirklich zählt, oder nicht?« »Ich bin nicht sicher, ob ich das jemals schlüssig berechnen kann«, antwortete ich. Maja war fertig und warf einen kritischen Blick in den Spiegel auf dem Fensterbrett. »Hast du dich mittlerweile an meine Haare gewöhnt?« Ich küßte sie. »Unter allen Damen Europas, meine Liebe, sieht wahrscheinlich keine Louise Brooks ähnlicher als du.« »Du meinst, keine sieht so gut aus wie ich?« »Du weißt, was ich meine.« Sie gab mir auch einen Kuß und hinterließ einen pflaumenfarbenen Lippenabdruck auf meiner Wange. »Ich muß weg. Was ist der zweite Grund?« »Wofür?« »Deutschland noch nicht zu verlassen.« »Josef hat gerade ein Haus gekauft.«
31. August 1923 Das Haus stand in der Oberlandstraße, und Josef hatte es einer netten Familie aus der Mittelschicht für 200 Dollar abgekauft.
Kleinigkeiten. Der Dollar war jetzt über eine Million Mark wert, und Josef hatte viele Dollars. Er bezahlte mittags die zwei Sekretärinnen, die in seinem Büro arbeiteten, und sie rannten sofort hinaus, um Lebensmittel zu kaufen oder Waren, die man eines Tages gegen Lebensmittel eintauschen konnte, bevor die Preise im Laufe des Nachmittags weiter stiegen. Im Juni kostete die Fahrt mit der Straßenbahn zu Maja 3000 Mark, Anfang August 10000 und am 20. August 100000 Mark. Nach dem Haus kaufte Josef ein Auto. Maja und Josef machten ein Vermögen. Sex und Dollars waren die gefragtesten Artikel. Auf dem Schwarzmarkt kauften wir alles für ein Butterbrot. Wir waren nicht die einzigen. Die klugen Geschäftsleute hatten alle noch ihre Läden geöffnet, während in Neukölln und Wedding altbackenes Brot und Kohlsuppe für gewaltige Preise die Besitzer wechselten. Ich kaufte für das Haus in der Oberlandstraße Teppiche, Vorhänge und Möbel von Leuten, die die Sachen praktisch verschenkten. Neben dem Erwerb von Haushaltsgegenständen hatte ich reichlich Zeit, mich weiter mit den Zeitschriften zu beschäftigen. Schwerkraft und Licht. Schwerkraft und Licht waren immer noch meine besten Waffen. Da war ich mir sicher. Wegen Schwerkraft und Licht hatte mein Vater mich im Stich gelassen, und mit Schwerkraft und Licht würde ich mich an ihm rächen. Ich verschlang die Artikel und suchte nach verborgenen Hinweisen, irgend etwas, das mir einen Weg für meine Rache aufzeigen würde. Aber als ob es das Brennglas, das Deutschland geworden war, widerspiegeln würde, geschah auch im Land der Physik etwas gleichermaßen Seltsames. Bis jetzt war mir dieses Königreich immer wunderbar vertraut gewesen. Die Seeleute, die auf Schiffen mit gleichmäßiger Geschwindigkeit aneinander vorbeifuhren, waren in den Aufsätzen in der Zeitschrift für Physik vielleicht
durch Raumfahrer ersetzt worden, die einander Botschaften zusandten und sich im freien Fall mit ihren Lampen anblinkten, aber im wesentlichen war es immer noch eine warme, ordentliche, vorhersagbare Welt. Heisenberg jedoch und auch andere veränderten all das – weit mehr, fand ich, als mein Vater es je getan hatte. Die Grundfesten der Welt wurden mehr erschüttert, als jede Relativitätstheorie das je zugelassen hatte. Die Relativität erklärte nur, wie die Schwerkraft funktionierte; diese neuen Theorien, die Quantentheorien, erklärten, wie alles andere in der materiellen Welt funktionierte. Und wenn man ihnen ganz bis auf den Grund ging, bis hin zum ganz Winzigen, auf die Ebene des Quantums, dann verhielten sich die Dinge entschieden seltsam. Elektronen verhielten sich nicht wie kleine Kanonenkugeln, die im Einklang mit Newtons Gesetzen umeinander herumhüpften. Die alten Regeln funktionierten immer noch hervorragend, wenn sich die Dinge wie Teilchen verhielten, aber wenn sie sich wie Wellen verhielten, lief alles verkehrt. Und plötzlich verhielten sich Elektronen ganz und gar wie Wellen. Das Universum lief nicht mehr im Uhrzeigersinn. Auf der Quantenebene wurde sein Verhalten völlig unvorhersehbar. Selbst wenn man dasselbe Experiment zweimal machte, indem man zum Beispiel ein einzelnes Elektron mit einem anderen einzelnen Elektron interagieren ließ, gab es keine Garantie dafür, daß die Ergebnisse des zweiten Experiments dieselben waren wie die des ersten. Eine eingebaute Unschärfe. Die Unschärferelation. Das klingt nach einer Beschreibung des Lebens, wie wir es erfahren, so wie Ereignisse den meisten von uns die meiste Zeit über vorkommen, ungewiß und unvorhersehbar. Aber in der Physik ist es sogar noch seltsamer. Wellen breiten sich ihrer Natur nach aus. Also können wir nicht an irgendeinem Punkt in der Zeit ganz sicher
sein, wo, sagen wir mal, ein Elektron ist. Wir können lediglich raten, wo es sein könnte. Manche Stellen sind wahrscheinlicher als andere, aber eine Gewißheit gibt es bei keinem. »Na und?« sagte Maja. »Wir verfügen über kein wirkliches Bild des Atoms«, sagte ich. »Und tatsächlich ist eine der Schlüsselkomponenten der Quantentheorie, daß man nicht in der Lage sein soll, sich ein Atom vorzustellen.« »Na und?« sagte Maja. »Spielt das eine Rolle? Hast du denn jemals ein Atom gesehen?« Ich mußte zugeben, daß das nicht der Fall war. Und eigentlich fiel mir auch nicht sofort irgendeine praktische Auswirkung ein, außer daß ich mir immer gern Atome vorgestellt hatte. Kleine Knäuel subatomarer Teilchen: die Protonen in der Mitte, dem Kern, und darum herum wirbelten die Elektronen in ordentlichen Kreisbahnen. Ein tröstliches Bild. Offenbar war dieses Bild jedoch bestenfalls eine Fiktion, und schlimmstenfalls eine völlige Lüge. »Ich bestehe aus Atomen«, sagte ich. »Und du auch. Findest du es denn nicht beunruhigend, daß deine Elektronen es sich jeden Moment in den Kopf setzen könnten, irgendwo anders ins Universum abzuwandern, und du wüßtest nicht einmal genau, wohin sie gegangen sind?« »Ich finde das ganze Leben beunruhigend«, sagte Maja. »Ich im Augenblick auch«, erwiderte ich. Ich suchte in der Organisation und Pflege meines Hauses Zuflucht vor dem Chaos, das die Physik darstellte, und dem Chaos, das das Leben in Berlin darstellte. Und obwohl es nicht gerade gern gesehen wurde, wenn eine verheiratete Frau arbeitete, war es doch akzeptabel, daß ich mit Josef ins Büro ging und ihm die Bücher führte. So konnte ich zumindest meinen eigenen Teil des Universums so vorhersagbar und behaglich wie möglich gestalten.
Maja zog ins Obergeschoß, wo Josef den Speicher ausgebaut hatte, was das angenehmste von allem war.
12. August 1924 Obwohl Josefs Import/Export-Geschäft das ganze Jahr 1923 über große Verluste erlitt, denke ich gern, daß wir uns selbst vor dem Ruin bewahrten, weil ich das Büro so effizient verwaltete. Es lag wirklich viel Befriedigung darin, Polstermöbel zu Tiefstpreisen zu kaufen und sich die Struktur des Atoms mit aller Macht nicht vorzustellen. Statt dessen konzentrierte ich mich darauf, die Buchhaltung in Ordnung zu halten. Auch wenn die Währungskurse eher stündlich als täglich variierten, gab es immer noch Nachfrage nach deutschen Waren, deutschen Chemikalien, deutschen Maschinenbauteilen. Man mußte nur die Mathematik unter Kontrolle halten und die Kartoffelsuppe mit genügend Wasser aufstellen. Trotz der Tatsache, daß ich die Stadt fast verlassen hätte, und trotz der Unruhe, die sich in den nächsten Jahren immer wieder breitmachte, habe ich nur gute Erinnerungen an Berlin in jener Zeit. Das Kopfsteinpflaster in der alten Innenstadt, bevor sie durch Bomben zerstört wurde. Die Kaufhäuser um den Alexanderplatz. Die schönen alten Steinhäuser. Dort konnten Maja und Josef, die wußten, wo sie suchen mußten, all das finden, daß man gerne aß: Würste, Bratkartoffeln, Hefeklöße mit heißer Vanillesauce, sogar Schweizer Schokolade. In der Straße, in der wir wohnten, gab es Holztüren mit Schnitzereien, Spiegelglas und kitschige Geländer. Die Treppe zum Haus in der Oberlandstraße glänzte hellrot. Mein Haus mit den Parkettböden und den hell gestrichenen Wänden, mein Haus, wo 1924 meine Tochter Tina geboren wurde.
Am Montag nachmittag, dem 11. August, lag ich – in der Sommerhitze mittlerweile zu schwer und zu langsam, um Josef im Büro zu helfen – auf dem Bett und las einen interessanten Artikel über Teilchen in der Zeitschrift für Physik, als ich auf einmal ganz aufgeregt wurde. Ich sah plötzlich, daß man nicht bei den Elektronen aufhören mußte, man konnte noch weiter gehen, in das Elektron, und dann… Doch was auch immer ich gesehen hatte, wurde hinweggeschwemmt von einer plötzlichen, heftigen Kontraktion, die zwanzig Stunden Wehen einleitete. Ich verzieh Maja nie, daß sie nicht da war, aber Josef war eine unerschütterliche Unterstützung. Er rief in regelmäßigen Abständen an, um sich einen Zwischenbericht von der Hebamme geben zu lassen, deren Hand ich nicht loslassen wollte, und kam sogar einmal für ein oder zwei Stunden aus dem Büro. Die Schmerzen waren stark, sie überrollten mich und zogen mir den Boden unter den Füßen weg. Sie kam in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages zur Welt, ohne einen Schrei, als ob die Anstrengungen und Wellen der Wehen ihr nichts ausgemacht hätten und sie zufrieden wäre, zu ihrer Zeit auf die Welt gekommen zu sein. Als die Hebamme auf ihrer vorgeschriebenen Frühstückspause bestand, war ich zum ersten Mal allein mit ihr. Ich lag noch in fast genau der gleichen Position wie am Tag zuvor, nur hatte ich jetzt ein Baby. Ich hatte sie gestillt und drückte sie nun in meinen Armen an mich. Sie war ein starkes Mädchen. Von Anfang an hob sie ihren Kopf gegen die herunterziehende Kraft der Schwerkraft – natürlich tun dies alle Säuglinge, aber die meisten erst, wenn sie ein paar Tage alt sind und nicht schon nach ein paar Minuten –, und ich freute mich. Mein Baby war erst eine halbe Stunde alt, jung gegenüber meinen zweiundzwanzig Jahren, und schon erprobte es die Einschränkungen und Grenzen, die
die Erde seinem Körper auferlegte. Ich drückte es an mich und lachte. Das verriet Anteilnahme, Teilnahme, Dazugehörenwollen. Ich hatte diese Eigenschaften zwar nie besessen, wußte aber, wie wertvoll sie waren. Noch mehr freute ich mich, als ich sah, wie es seinen Kopf wieder auf das Laken legte, ohne das Gesicht zu verziehen oder Anzeichen von Frustration zu zeigen. Ich fand, das war ein gutes Zeichen dafür, daß es die Beschränkungen der Erde akzeptierte. Als das Licht heller wurde, schliefen wir zusammen ein.
Mein Vater lehnte die Quantentheorie uneingeschränkt ab. Eine der wenigen Aussagen, die die Leute von ihm kennen, ist: »Gott würfelt nicht.« Im Herzen der Quantenwelt herrschte nicht nur die Idee vor, daß Ergebnisse ungewiß waren, sondern auch, daß zwei Objekte – sagen wir einmal, zwei Elektronen – einander über die bekannten Gesetze von Raum und Zeit unmittelbar beeinflussen konnten. Mein Vater leugnete jede Möglichkeit, daß dies der Fall sein könne. Er log. Ich wußte an diesem Morgen, daß er log, als ich mit Tina in ihrem puppengroßen Schlafanzug in der Armbeuge in meinem Bett einschlief. Ich hörte ihr Herz schlagen, rasch, stark, aber in einem leicht unregelmäßigen Rhythmus, fast so wie meines. Und ich wußte ganz genau, daß was immer sie tat, wo immer sie es tun würde, mich für den Rest meines Lebens betreffen würde. Es ist ein allgemein bekanntes Wunder. Objekte, die viel größer und hundertmal besser erkennbar sind als Protonen und Elektronen, beeinflussen einander jeden Tag. Das ist etwas, was wir alle wissen. Wer hat nicht schon von einer Mutter
gehört, die voller Angst auffuhr in dem Moment, als eine Kugel den Kopf ihres Sohnes durchschlug? Wer hat nicht schon Geschichten gehört von einer Tochter, die gesehen hat, daß die Uhr in dem Moment stehenblieb, als ihre Mutter starb? Zum ersten Mal seit Jahren dachte ich an Mileva. Mileva, meine eigene Mutter, die um mich geweint hatte, als sie mit Hans Albert in der Kutsche wegfuhr. Auf eine seltsame Weise verstand ich jetzt ein bißchen besser, warum sie mich bei Desanka zurückgelassen hatte. Sie konnte wegfahren, brauchte nicht zurückzublicken, weil sie wußte, daß wir immer miteinander verbunden waren, egal wie groß die Entfernung zwischen uns war, wie viele Länder und Jahre zwischen uns lagen, außerhalb der Gesetze von Raum und Zeit. Sie hatte getan, was sie für das Beste für mich hielt, deshalb ging es nicht darum, ihr zu verzeihen, denn es gab nichts zu verzeihen. Sie würde immer meine Mutter sein, so wie ich immer Tinas Mutter sein würde, und das zu wissen reichte aus. Die meisten Väter kennen dieses Band auch – wenn sie sich erlauben, es zu spüren. Mein Vater jedoch erlaubte es sich nicht. Er hatte mich weggeschickt und sich immer geweigert, das Band zu spüren, das uns hätte zusammenbringen können. Er hatte das Band durchschnitten, das Raum und Zeit hätte überdauern können. Kein Wunder, daß mein Vater die Quantenphysik ablehnte. Es lag in seinem Interesse, sie zu leugnen. Mich zu leugnen. An dem Tag, an dem ich meine neugeborene Tochter in den Armen hielt, war ich ins Große vorgestoßen. Ich hatte bis an den Rand des Universums geblickt. Und ich hatte auch begonnen, mich mit dem Kleinen zu befassen, der verschwommenen Welt von Wellen und Ungewißheit, die allen Dingen zugrunde liegt. Ich überlegte, wie man diese beiden Extreme in einem mathematischen Paket zusammenfassen könnte. Wäre das Rache genug,
Quantentheorie und Relativität zusammenzubringen und meinem Vater so zu zeigen, daß er in dem Universum, an dessen Entstehung er beteiligt war, nicht leben konnte? Ich beschloß, mich still zu verhalten und darüber nachzudenken, bis ich in mathematischen Begriffen genau beschreiben konnte, was vor sich ging. Ich hielt Tina eng an mich gedrückt, den ganzen Nachmittag, nachdem ich aufgewacht war, und den ganzen Abend und die ganze Nacht, weil ich sie nie leugnen wollte.
16. August 1924 Als Tina geboren wurde, war Maja zur Schlammkur in Franzensbad im Sudetenland. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie, wie sie erzählte, in einer Badewanne mit heißem Torf, der angeblich einen wohltätigen Effekt auf die Haut haben sollte. Als sie zurückkam, weigerte sie sich, sich mit Seife zu waschen, da die Mineralstoffe immer noch in ihre Poren eindrangen und sie sie nicht wegwaschen wollte. Ich sagte zu ihr, sie würde wohl ihre Hände waschen müssen, wenn sie Tina halten wolle, und nach einigem Aufhebens tat sie das auch. Natürlich tat sie es. Sie wollte Tina gern auf den Arm nehmen, mein erstes Baby, ein kostbares Bündel, ein absolutes Schätzchen. Maja säuselte und küßte und herzte Tina, und Tina säuselte ihrerseits und machte niedliche Laute. Maja pries entzückt die Schönheit ihrer Augen, ihre feinen Haare, ihre anmutig geformten Ohrläppchen. Ich widersprach ihr nicht. Maja mochte den Namen nicht. Josef auch nicht. Ich erklärte Josef, daß der Name doppelt passend sei. Seine Tochter trug nicht nur den Namen des großen deutschen Wissenschaftlers, der erst kürzlich den Nobelpreis verliehen
bekommen hatte, dieser Wissenschaftler hatte auch durch sein Eintreten für die zionistische Sache viel Gutes für die Juden in Deutschland getan, zu denen Tina nun gehören würde. Josef war nicht überzeugt. »Ich glaube nicht, daß das Gerede von Zionismus uns in irgendeiner Weise guttut.« Da es ungewöhnlich für ihn war, eine Meinung über irgend etwas anderes als den gegenwärtigen Zustand des Marktes zu äußern, war ich interessiert. »Warum nicht?« »Wenn zuviel über eine besondere Heimstätte für die Juden geredet wird, werden die Leute uns am Ende noch auffordern, da hinzugehen und dort zu leben.« Ich konnte seinen Standpunkt verstehen. Aber obwohl er noch ein letztes Mal aufbegehrte, daß Albertina ein viel zu gewaltiger Name für so ein winziges Baby sei, bekam ich meinen Willen. Die Abkürzung war ein Kompromiß.
9. Oktober 1924 Tina, noch keine zwei Monate alt und immer noch winzig, wollte nicht schlafen. Es war dunkel, nach Mitternacht. Ich ging mit ihr hin und her über den Parkettboden, als sei ich nur zum Gehen auf der Welt. Tina behandelte den Schlaf wie einen dunklen, tiefen See, in den sie nicht fallen wollte. Man mußte sie mit Liedern, Summen und Schaukeln einlullen. Ihre Augenlider flatterten einmal, zweimal, vielleicht auch dreioder viermal in einem letzten Versuch der Abwehr, sie krallte ihre Händchen verzweifelt in mein Haar, bevor sie völlig aufgab und das Wasser über ihr zusammenschlug. Doch wenn sie einmal schlief, dann war es ein Schlaf ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Es herrschte völlige Stille, jede Bewegung war eingestellt. Sie atmete kaum. Jeden Morgen war es schwer, sie zurückzuholen, als wäre sie so tief in die
lichtlosen Tiefen eingesunken, daß sie sich nicht wieder hochkämpfen konnte, um zurückzukehren. Ich mußte sie rufen und küssen und zusehen, wie sie sich ruhelos hin und her drehte, ihren Kopf gegen die Schwerkraft anstemmte und gegen das Licht blinzelte. Hin und her ging ich mit ihr, dachte dabei über den Nukleus des Atoms und die Schwerkraft nach, und da, plötzlich, in jener Nacht, im Dunkeln, nach Mitternacht, während ich mit Tina im Arm über den Fußboden ging, spürte ich Finger auf meinem Arm. Es war niemand da. Ich blieb stehen, sah mich um, und da waren sie wieder. Es fühlte sich wie Finger an, als ob jemand mit seinem Finger meinen Arm von der Schulter bis zum Handgelenk entlangfuhr und wieder hoch mit einem anderen Finger, rauf und runter, rauf und runter. Eine leichte Berührung, aber es war wirklich niemand da. Ich sah mich um. Ich hatte keine Angst, weil ich wußte, daß die Finger nicht real waren. Ich fragte mich, ob es Mileva, meine Mutter, war, die an mich dachte. Vielleicht dachte sie an mich, weil ich jetzt selber eine Tochter hatte und wußte, was sie empfunden hatte. Ich streichelte über Tinas schlafendes Köpfchen an meiner Schulter, und mir fiel ein, daß Mileva so etwas vielleicht doch nie empfunden hatte. Wie hätte sie mich sonst zurücklassen können?
13. Dezember 1930 In den folgenden Jahren hatte ich für nichts anderes Zeit als für Puppen und Spielzeuge. Die Physikinstitute in aller Welt beschlossen endlich ohne mich, daß Licht aus kleinen Teilchen bestand, und sie gaben diesen Teilchen sogar einen Namen,
Photonen. Ich fühlte mich bestätigt, aber es war nur ein schwacher Trost. Und die Leute waren kaum zu Atem gekommen, da wurde weiter an der Struktur des Atoms geforscht; man entdeckte Neutronen im Kern mit den Protonen und machte immer weiter, bis das Atom eine ganze Flora und Fauna von Teilchen enthielt, von denen die meisten wirklich recht seltsam waren. Ich durchforstete die letzten verbliebenen Reste der Atomstruktur, aber es war kaum etwas Gesichertes übriggeblieben, und ganz sicher nichts, was ich als Waffe gebrauchen konnte. Im Vergleich dazu verlief mein Leben langsam. Ich sang den Kindern vor, bohnerte die Fußböden und trat nachmittags an die Hintertreppe, um mit den anderen braven Berliner Müttern zu plaudern, solange die Sonne noch schien. Ich kaufte Teegläser, Obstschalen und Vitrinen fürs Wohnzimmer. Josef hortete im Keller Flaschen mit Rheinwein, der einen guten Preis erzielte, Black & White-Whisky und Cognac. Das Geschäft lief beständig. Alles in Dollars. Ich lernte, langsam und schmerzlich, Josefs Auto zu fahren, so daß ich Tina dienstags und donnerstags nachmittags quer durch die Stadt zu einem Kindergarten bringen konnte, wo es nichts ausmachte, daß sie nicht sprach. Als Josef und ich unser zweites Kind erwarteten, wußten wir bereits, daß Tina mit einer anderen Geschwindigkeit lebte als wir: langsam. Viel, viel langsamer sogar noch als ich. Sie wuchs zu einem großen Mädchen mit Zöpfen wie ihre Mutter heran, aber sie sagte kein Wort. Sie gluckste noch nicht einmal. Sie lächelte, aber hinter ihrem Lächeln steckte kein Verstand. Hinter ihren braunen Augen, die sie von mir geerbt hatte, die sie von ihrem Großvater geerbt hatte, war nichts. Maja hatte versucht, mich zu trösten. »Hinter allem steckt ein tieferer Sinn, Helga.« »Sag mir bloß nicht, Gott weiß es am besten.«
»Nun ja, doch.« »Ich muß dir leider sagen, daß das kein besonderer Trost ist.« Ich ging schneller. Ich glaube, ich verbrachte fast die ganzen zwanziger Jahre damit, über das gebohnerte Parkett zu gehen und Tina in meinen Armen in den Schlaf zu wiegen. Ich war jetzt erschöpft und hoffnungslos, und Tina wurde immer schwerer. »Ich weiß nicht, warum du so viel Vertrauen zu Gott hast«, sagte ich verärgert zu Maja. »Ich sehe dafür keinen Grund. Ich glaube, du bist völlig fehlgeleitet.« »Ich vertraue Ihm, weil Er uns Antworten gibt.« »Da irrst du. Die Wissenschaft gibt uns Antworten. Klare Antworten. Saubere Antworten. Niemand kann mit den Antworten, die Gott uns angeblich gibt, einverstanden sein. Warum, glaubst du, gibt es so viele verschiedene Religionen?« »Und was ist mit der Physik?« sagte Maja. »Sind in der Physik alle mit den Antworten einverstanden?« »Nicht von Anfang an, nein. Aber nach ein paar Jahren für gewöhnlich, ja.« »Das ist gut.« »Warum?« »Weil es bedeutet, daß die Leute vielleicht damit aufhören, die Theorien deines Vaters als jüdische Halluzinationen zu bezeichnen.« »Ach, das. Das geht vorüber.« »Ich hoffe es. Ich hoffe es um deinetwillen. Und um Tinas willen.« Tina. Mein kostbares Mädchen. Nichts, was in den Wissenschaften geschah, und nur sehr wenig von dem, was in der Welt geschah, würde je für sie eine Rolle spielen. Als das zweite Kind während des Hanukkah-Festes im Dezember 1930 geboren wurde, hatte ich die Arbeiten von Schrödinger und Dirac gelesen und war mit der
Unschärferelation zurechtgekommen – und obwohl die MatrixAlgebra kompliziert ist, hatte ich herausgefunden, daß Heisenberg recht hatte. Tina hatte mir in meinem Herzen, dem einzigen Ort, der eine Rolle spielte, schon klargemacht, daß es keine Gewißheiten gibt. Bei Tina nicht, und auch nicht bei den Regeln, die unsere alltägliche Welt beherrschten, und bei den fremden Regeln, die die Welt des Winzigen beherrschten, sich überkreuzten und sich begegneten. Tina lehrte mich, daß es keine Gewißheiten gibt, und Paul lehrte mich alles, was ich über Hoffnung wissen mußte.
In dem Augenblick, in dem Paul zur Welt kam, schrie ich. Sein Hinterkopf war rechteckig, verzerrt, ganz aus der Form. Ich dachte, er sei deformiert. Die Neigung seiner Stirn, die Krümmung des Schädels waren groß und überbetont. Maja dachte, ich schrie, weil mit ihm etwas nicht in Ordnung war – sie hatte zunächst selbst ihre Zweifel –, aber ich schrie nur, weil ich riß. Pauls unförmiger Kopf drängte sich eilig, ohne Geduld in die Welt. Josef freute sich, einen Jungen zu haben. Im Schein der Kerzen hielt er das Baby hoch. Ich hatte sieben Stiche mit feinstem Katgut. Der Junge in Josefs Armen wimmerte leise im Kerzenlicht. Ich wußte, daß wir bestenfalls auf die Wahrscheinlichkeit hoffen konnten, daß Paul etwas Gutes passierte, und auf die Möglichkeit, daß etwas Schlechtes nicht passierte, und darüber hinaus, die Dinge vielleicht so oder so beeinflussen zu können. Aber eigentlich hat Hoffnung keinen Platz in der Physik.
6 Der Strand
10. Dezember 1932 Mein Vater und Elsa, seine Kusine, seine zweite Frau, verließen Deutschland kurz vor Einbruch der Dunkelheit, kurz vor dem Wechsel der Gezeiten. Ich wachte im Morgengrauen auf, noch vor den Kindern, und spürte, wie die Welle, die uns zusammenhielt, verebbte, schwach wurde und brach. Ich wundere mich oft darüber, daß mein Vater so lange in Berlin blieb, während die Angriffe auf Juden immer alltäglicher wurden. Aber wir blieben auch, und Josef war Jude. Allerdings gab Josef vor, kein Jude mehr zu sein. Ich machte Kaffee in der Küche und sagte zu Maja, daß es sich seltsam anfühlte, zu wissen, daß mein Vater weg war und nie mehr zurückkommen würde, auch wenn er gesagt hatte, er würde zurückkehren. »Du gehst ein Risiko ein«, sagte Maja, die ihr Frühstück erfolgreich hinter sich gebracht hatte und jetzt zwei Gurkenscheiben abschnitt, um sie sich auf die Augen zu legen. »Wir haben neue Papiere«, sagte ich. Die hatten wir tatsächlich. Nach dem ersten Boykott jüdischer Läden und Geschäfte waren Josef, Paul, Tina und ich sozusagen über Nacht zu reinblütig arischen Hansbachs geworden. Paul war noch zu klein, um überhaupt zu wissen, daß er jemals jemand anderer gewesen war, und Tina sagte sowieso niemandem ihren Namen. Wir hatten neue Geschäftsräume gemietet und unter einem neuen Namen eröffnet. Josef hatte eine neue Sekretärin eingestellt, die froh
war, für den netten, erfolgreichen Deutschen Hansbach arbeiten zu können. Und wenn jemand wirklich wußte, was vor sich ging, konnte er leicht überredet werden, ein Auge zuzudrücken. Josefs ausgedehnte legale und illegale Importund Exportkanäle, die er seit dem Weltkrieg aufgebaut hatte, eröffneten alle Arten von Bestechung. Solange die Leute Butter, Zucker, Brot und Schokolade wollten, glaubte ich, waren wir nicht in Gefahr. Andere Mütter, die ich im Kindergarten oder in Tinas Schule kennenlernte, jubelten vor Freude. Alle waren glücklich, daß die alte Niederlage ausgemerzt war und dem deutschen Volk eine helle Zukunft voller Wohlstand winkte. Die anderen Mütter waren alle für Opfer, harte Arbeit und Patriotismus. Die Erregung in der Luft war mit Händen zu greifen. »Wir werden es schon schaffen«, sagte ich. »Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, entgegnete Maja. »Ich glaube, ich lege mich jetzt ein bißchen hin.« Die Kinder polterten in die Küche, und ich ermahnte sie, leise zu sein. Josef lag noch im Bett. Seine Mutter war gestorben, und er war bis spät gestern abend weg gewesen, um die Wohnung in Wien aufzulösen. Ich hatte seinen Kopf in den Händen gehalten, als er zurückkam und nicht schlafen konnte.
30. Januar 1933 Ich war oben und spielte mit Tina und ihrem Puppenhaus in Tinas Zimmer, als Maja nach Hause kam. Tinas Zimmer war vollkommen rosafarben. Tina liebte Rosa. Rosa Bonbons, rosa Kleider, rosa Blätter, rosa Eiscreme. Josef schlug ihr nichts ab. Rosa Schleifen an ihren Zöpfen. Tina zerkaute immer die von Josef mitgebrachten Bonbons, holte
den Batzen heraus und untersuchte den weiß gewordenen Zucker. In dieser Zeit hatte Tina sich angewöhnt, Puppen zu sammeln, die sie dann überallhin mitnahm. Sie ließ nicht gern etwas los, das ihr gehörte – ein Bär, ein Schuh, ein Springseil. Wenn sie hinunter in den Hof ging, wo die Mädchen unter den Lindenbäumen seilsprangen, nahm sie ihr eigenes Seil mit und hielt es fest, während sie es resolut mit einem Arm stundenlang schwang, eine Puppe fest in den anderen Arm gepreßt, während die anderen Kinder sprangen und sangen. Wegen ihrer Resolutheit war sie beim Seilspringen immer willkommen, und ich freute mich, sie dort zu sehen, obwohl sie bereits größer als die meisten anderen Mädchen um sie herum war. »Ich bin hier«, rief ich zu Maja hinunter. »Komm hoch.« »Ich habe einen Gast mitgebracht, Helga. Ich möchte, daß du ihn kennenlernst.« »Oh«, sagte ich. »Gut. Komm, Tina«, sagte ich. Willig wie immer suchte Tina sich ein paar Puppen aus, die sie mitnehmen wollte. »Gibt’s was Neues?« rief ich. »Helga«, rief Maja eine Spur zu fröhlich zurück, »ich bin sicher, daß du nicht erst die Nachrichten im Radio hören mußt, um das Ergebnis zu wissen.« »Was?« Ich hatte wissen wollen, ob es eine Antwort auf meinen Brief an Schrödinger in Göttingen gab. Die Leute hatten in der letzten Zeit endlose Aufsätze über Kristallgitter in den Physikzeitschriften veröffentlicht. Gelegentlich hatte ich, nachdem ich die Berechnungen überprüft hatte, den Leuten zurückgeschrieben und ihnen die Sache mit einem Integral oder zwei in Ordnung gebracht. Anonym natürlich. Ich hielt das einfach für meine Pflicht. Aber an Schrödinger hatte ich
als H. Hansbach geschrieben. Seine Gleichungen waren ernsthaft falsch. Ich schrie wieder: »Was sagst du?« »Wenn du wissen willst, ob Adolf Hitler an die Macht gekommen ist, dann ja.« »Worüber redet deine Tante?« fragte ich Tina, die mich strahlend anlächelte. »Sind das nicht gute Nachrichten?« Majas Stimme jubilierte durchs Treppenhaus. »Deine Tante«, sagte ich zu Tina, »ist ernsthaft durchgedreht.« »Mmmm«, sagte Tina. »Ich sage dir, was das bedeutet«, schrie ich. Tina nahm die letzte ihrer ausgesuchten Puppen hoch. »Es bedeutet, daß mein Vater nie wieder einen Fuß in dieses Land setzt.« »Komm herunter, Helga«, drängte Maja. »Komm schon runter.« Am Fuß der breiten Treppe stand Maja neben einem kleinen Mann in einer braunen Uniform mit einer HakenkreuzArmbinde und ölig zurückgekämmtem Haar. Der kleine Mann begrüßte mich, indem er die Hacken zusammenschlug, den Arm hob und ernst »Heil Hitler« sagte. »Herr Weiss«, sagte Maja, die in ihrer Erregung nicht still stehen konnte. »Herr Weiss, meine gute Freundin Frau Hansbach, von der ich Ihnen so viel erzählt habe.« »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Weiss.« Ich streckte anmutig die Hand aus und lächelte, eine hervorragend funktionierende Berliner Hausfrau. Herr Weiss hatte Teufelsaugenbrauen: solche, die ganz natürlich gebogen sind und irgendwo über dem Nasenrücken zusammenzuwachsen drohen. »Frau Hansbach«, sagte er lächelnd. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite.« Herr Weiss küßte meine Hand. Er hatte auch
einen teuflischen Charme, dachte ich. Aber wenn es nötig war, ich auch. Herr Weiss hielt meine Hand in seiner und schlug wieder die Hacken zusammen. Ich unterdrückte das Verlangen zu lachen und schenkte ihm ein anmutiges Lächeln. Tina hielt ihre erste Puppe hoch, damit er sie ansehen konnte. »Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?« sagte ich in der Hoffnung, das Ganze so angenehm wie möglich hinter mich zu bringen, und so tranken wir Tee, chinesischen Tee, eine Mischung, die Josef speziell geordert hatte, an Frau Goldbergs tiefbraunem Walnußtisch, den Josef aus Wien mitgebracht hatte, und Herr Weiss trank drei Tassen und war unendlich höflich. Am Abend, als Herr Weiss und Maja wieder weg waren, und Josef in seinem Arbeitszimmer über den Büchern saß, ließ ich die Jalousien in den Kinderzimmern herunter und beobachtete, wie die Fackeln der entfernten SA-Paraden an den Wänden flackerten. Ich hatte Josef nichts von Herrn Weiss’ Besuch erzählt. Ich würde es noch tun, aber nicht jetzt. Draußen auf unserer Straße wurde geschrien und gesungen, und ich hoffte, die Kinder würden nicht wach.
14. April 1933 Maja war mir böse, weil ich ärgerlich war, obwohl sie versuchte, es nicht zu zeigen, damit die glatte Fläche ihrer Stirn ungekraust blieb. Ich war in ihr Heiligtum im Obergeschoß gekommen, um sie auszuzanken. »Ich weiß nicht, warum du dich immer weiter mit ihm triffst«, sagte ich. »Er ist ein schrecklicher, gemeiner, kleiner Mann. Ich weiß nicht, warum du ihn zu uns nach Hause gebracht hast.«
»Als Versicherung«, sagte Maja. »Wenn du nicht gehen willst, mein Mädchen, brauchst du alle Versicherungen, die du bekommen kannst.« »Herr Weiss ist keine Versicherung. Herr Weiss ist ein Witz.« »Du solltest dich über diese Dinge nicht so aufregen«, entgegnete Maja. »Du kennst doch die absolut beste Methode, keine Falten zu bekommen, oder?« »Was?« »Dein Gesicht nicht in Falten zu legen. Dir nicht über unnützes Zeug den Kopf zu zermartern.« »Aber Maja, ich kann nicht durchs Leben gehen, ohne mein Gesicht in Falten zu legen. Das würde bedeuten, daß ich auch nicht lächeln dürfte. Oder die Stirn runzeln oder schreien oder ärgerlich werden.« »Deshalb sehen Philosophen auch immer so jung aus«, sagte Maja, »weil sie all das nicht tun.« »Du«, sagte ich anklagend, »du lächelst. Du lächelst Herrn Weiss ständig an.« »Weil ich es muß«, entgegnete Maja selbstzufrieden. »Wenn du auch nur einen Funken Verstand hättest, würdest du es auch tun.« »Das würde nicht den geringsten Unterschied machen.« »Hier«, sagte Maja. »Herr Weiss hat mir das gegeben. Sieh es dir an.« Es war ein kleines Buch, glänzend wie ein Verkaufsprospekt, nur daß in diesem Fall die Nazis einen Prospekt über Staatsfeinde zusammengestellt hatten. Das Bild meines Vaters war auf der ersten Seite. Darunter stand »Entdeckte eine umstrittene Relativitätstheorie. Wurde von der jüdischen Presse und dem ahnungslosen deutschen Volk geehrt. Zeigte seine Dankbarkeit, indem er über Adolf Hitler eine Greueltaten-Propaganda zusammenlog.«
In Klammern, wie ein Postskriptum, standen die Worte: »Noch nicht gehängt«. Na ja, dachte ich. Obwohl ich meinen Vater zutiefst verabscheute, wollte ich nicht, daß der Staat sich an ihm rächte, bevor es mir gelang. »Weiß Herr Weiss, wer mein Vater ist?« »Noch nicht«, erwiderte Maja. »Herr Weiss weiß noch gar nichts über dich. Oder über Josef. Also werde ich weiter lächeln und lächeln in der Hoffnung, daß man, bis ich es brauche, eine faltenreduzierende Creme erfunden hat.« »Wenn du sie dir dann leisten kannst.« »Oh, Geld«, sagte Maja, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, »Geld ist überhaupt die beste Hautpflege. Du mußt nie die Stirn runzeln und dir Gedanken darüber machen, was die Dinge kosten, wenn du mehr Geld hast, als du brauchst. Du mußt nie das Zweitbeste wählen, brauchst dich nicht darum zu kümmern, ob du über die Woche kommst. Geld ist die allerbeste Pflege.« »Ich nehme an, Herr Weiss hat viel Geld.« »Massenweise«, sagte Maja. »Unendlich viel. Pflege über Pflege.« »Übrigens«, sagte ich, »was ist denn mit den Bäumen passiert?« »Welche Bäume?« »Den Linden von Unter den Linden.« Ich erinnerte mich noch daran, wie sie an unserem ersten Weihnachten in Berlin vor Frost geglitzert hatten. »Sie sind gefällt worden, damit mehr Platz für Militärparaden ist«, sagte Maja. »Oh«, entgegnete ich, »das ist aber wirklich ein Verlust.« »Solang’ noch Untern Linden die alten Bäume blüh’n, kann nichts uns überwinden – Berlin bleibt doch Berlin«, sang Maja. »Wo hast du denn das gelernt?« fragte ich.
»Oh, vor langer Zeit«, sagte sie, »lange bevor du geboren warst, glaube ich.« Dann schüttelte sie sich und war fort, bevor ich sie noch mehr fragen konnte, mit ihrem roten Nagellack und ihrem schwarzblauen Haar, fort auf der Jagd nach Pflege.
6. Juni 1934 In den ersten Tagen des Frühsommers schlug Herr Weiss einen Urlaub vor. Wir fuhren alle nach Norden, an die baltische Küste. Die ganze Familie Hansbach: ich, Maja, Josef, Paul, Tina… und Herr Weiss. Herr Weiss hatte einen neuen Adler und tätschelte die glänzende Kühlerhaube. Obwohl wir endlose Stunden lang im selben Auto mit Herrn Weiss sitzen mußten, war ich hingerissen. Je weiter wir nach Norden fuhren, desto flacher wurde das Land. Ich fühlte mich richtig zu Hause. Die Hügel wurden kleiner und verschwanden schließlich ganz, bis man überall den Horizont sehen konnte. Und plötzlich lag vor uns das Meer, grau und glitzernd. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie das Meer gesehen. Am ersten Tag, als die Ferien noch jung waren, fanden wir einen Strand im Norden des Hauptortes, eine kleine Bucht, wo der Kiesstrand in einen flachen Sandstrand überging, an den ruhige Wellen schlugen. Der Sand war grauweiß. Die Algen lagen wie hellgrüne Finger und gekräuselte graue Spitze auf den kalten Kieseln. Herr Weiss zog sein Hemd aus, weil er sich weigerte, zu glauben, daß der gute deutsche Sommerwind kalt sein konnte. Mannhaft folgte Josef seinem Beispiel. Paul sammelte Muscheln und legte sie in einer ordentlichen Reihe auf einer Sandfläche aus, wobei er zwischen Schnecken und Muscheln unterschied, gewundene kleine Fragmente, mit denen man die Mauern der Burg dekorieren konnte, die sein
Vater und Herr Weiss eifrig bauten. Ich dachte an die Namensschilder, die wir für ihn für die nächste Woche zu Hause schon vorbereitet hatten, wenn er in den Kindergarten kam, sein Name in Schwarzweiß, eingestickt, in Stein gemeißelt. Sie kamen mir ganz passend vor. Ich ging zum Wasser hinunter und ließ die Kinder mit den Füßen in den Wellen platschen. Der Wind blies uns ins Gesicht und verursachte Gänsehaut auf unserer blassen Haut. Tina kreischte und lächelte und planschte im ruhigen Wasser. Man konnte nicht erkennen, wann sich die Gezeiten änderten. Ich drehte mich um. In sicherer Entfernung sah ich Josef, der baute und baute und tief mit der Schaufel in den Sand stieß. Herr Weiss lehnte auf seiner Schaufel und sah ihm zu. Unsere Versicherung, sagte Maja. Solange wir Herrn Weiss’ Wohlwollen hatten, waren wir sicher. Niemand würde mit dem Finger auf uns zeigen, auch nur den leisesten Verdacht hegen. Ich fragte mich, wie gefährlich Herr Weiss wohl sein konnte. Was würde er tun, wenn er herausfände, daß er mit jüdischem Abschaum fraternisierte? Zum ersten Mal seit Jahren dachte ich an den jungen Mann, der auf dem vereisten Boden herumgerutscht war und meinem Vater seine Papiere aufgedrängt hatte, die dieser als Blödsinn in Fetzen gerissen hatte. Arroganter Bastard. Jüdischer Abschaum. »Sie werden uns alle zerstören«, hatte der junge Mann mit solch beängstigender Gewißheit gerufen. Worüber hatte er geredet? Ich dachte zurück. Es kam mir sehr weit weg vor, aber er hatte so sicher geklungen. Alle Zahlen, die er aufgeschrieben hatte, hatten etwas mit der Struktur des Atoms zu tun. Die Struktur des Atoms. Ich dachte, wenn man das Atom nähme… Spielte es eine Rolle, daß seine Struktur in der letzten Zeit so ungewiß geworden war?
Dann bellte irgendwo ein Hund, und das Meer an meinen Knöcheln war kalt geworden, und Josef rief mir zu, ich solle an den Strand zurückkommen, damit ich trocken würde. »Die Burg«, rief Herr Weiss, »die Burg ist fertig!« Paul kreischte vor Entzücken und lief den Strand hoch. Ich drückte Tina fest an meine Hüfte und hielt den ganzen langen Weg zurück vom Wasser ihre Hand fest. Tina wußte nicht, daß das Meer je anschwellen konnte. Die Burg war großartig. Flügel und Wälle und kleine Brücken über einem Graben. Zinnen. Es hätte das Patentamt sein können. Paul raste zu seinem Muschellager, jubelnd vor Freude, und begann mit dem Verzieren. Blauschwarze Muscheln auf diesen Flügel, Meeresschnecken auf den anderen. Ein Mosaik glänzender Schalen auf die Zugbrücke. Nach dem Burgbauen zogen Josef und Herr Weiss ihre Hemden an und gingen Limonade holen. Sie gingen zwar, um Limonade zu holen, kamen aber zurück und hatten Bier getrunken. Ich wußte das, weil Josef eine eingelegte Zwiebel kaute. »Josef«, rief ich, »denk an dein Herz.« Maja lag auf grauen Felsen in der warmen Sonne, die bisher noch nicht gelesenen Berliner Papiere waren verlockend vor mir ausgebreitet, meine beiden Kinder in Sicht- und Hörweite, jedoch vertieft in Beschäftigungen, die sie normalerweise nur aus Büchern kannten – dem Erforschen von Krabbenscheren, dem Sammeln von Kieselsteinen, dem Verteidigen der Burg. Tina tauchte die Füße ihrer Puppe in einen kleinen Felstümpel. »In seinem Element«, sagte Herr Weiss, als er zurückkam und Paul zusah, der mit seinen Füßen gegen die violetten Steine kickte. »Gut«, sagte ich. Tina hatte ihre Puppen, aber Paul… Er war das jüngere und undurchsichtigere meiner Kinder. Ich wußte
nie, was Paul hatte oder nicht hatte, wollte oder nicht wollte, und er war erst drei. Paul war von Anfang an den Tränen immer sehr nahe gewesen. Die winzigste Schramme, ein strenges Wort, und sie strömten über, aus einem unendlichen Reservoir. Es funktionierte auch anders herum – ein bewegendes Musikstück, eine nette Geste, eine flüchtige sentimentale Bemerkung, sogar ein Sonnenuntergang, der unglaublich schön und flammend orange war – alles ließ die Tränen fließen, und für gewöhnlich weinte er still. Um ihn laut zum Schluchzen zu bringen, mußte man schon grausam sein. Wir gingen, bevor die Hitze des Tages nachließ, bevor das Wasser wieder anstieg.
Praktisch von dem Moment an, in dem wir gingen, drängelte Paul, er wolle wieder an den Strand. Vielleicht, dachte ich, versteht er etwas von Macht, etwas von Einsamkeit, etwas von der unendlichen Vielfalt und Faszination des Wassers. Vielleicht, obwohl er noch jung ist. Vielleicht hat er danach gesucht. Aber am Dienstag bummelten wir in die Stadt, damit Maja und ich uns Geschäfte ansehen konnten. Süßigkeiten, die es nur an der Küste gab. Ferienhüte. Paul wollte nur einen roten Eimer und eine Schaufel. Als er am Abend schlief, war sein Kopf heiß, wie der seines Vaters, und die Laken waren naß von seinem Schweiß. Ich hielt seine Hand in meiner und fragte mich, in welchem Land er wohl sein mochte, weit weg, wo ich ihn nicht erreichen konnte. Ich wußte nicht, was hinter seiner Stirn vor sich ging. Aber wie lange ich auch wartete, er rührte sich nicht. Ich zog meine Hand aus seiner und überließ ihn seinen Träumen. Paul wachte am Mittwoch morgen früh auf und kam zu Josef und mir in unser gemietetes breites weißes Bett, mit Eimer und
Schaufel in der Hand, und wollte wissen, wann wir wieder an den schönen Strand gingen. Aber es regnete. Der Regen prasselte an die Fenster, wie er das immer tut, unerbittlich und naß. Es war unser letzter voller Ferientag. Paul war beunruhigt. Als ich nach dem Mittagessen das Ferienhaus aufgeräumt, die meisten Taschen für unsere frühe Rückfahrt am nächsten Morgen gepackt und mein Temperament – bewundernswert, wie ich fand – gegenüber Pauls unablässigern Drängeln gezügelt hatte, gab ich nach. Der Regen rauschte immer noch beständig und lief in Streifen an den Fenstern herab. »In Ordnung«, sagte ich und gab es auf, nach Tinas Gutenachtgeschichtenbuch zu angeln, das in die Lücke zwischen ihrem Bett und der Wand gefallen war. »In Ordnung.« Ich ging hinunter und blickte in den Wohnraum, vorbei an den Eichenbalken und dem steinernen Kamin. Josef schlief in einem breiten Sessel. Die Augen von Herrn Weiss waren halb geschlossen. Tina und Maja hockten halb sitzend, halb liegend auf dem Teppich, in einem Nirwana von Puppensorgen. »Möchte jemand mit Paul und mir an den Strand kommen?« fragte ich und kam mir heroisch vor. Herr Weiss öffnete ein Auge ein bißchen weiter und sagte: »Sie haben also nachgegeben?« »Es sind auch seine Ferien«, sagte ich. »Ich möchte nicht, daß er mit einem Hauskoller nach Hause kommt.« »Es schüttet«, sagte Herr Weiss. »Was soll’s?« erwiderte ich. »Er ist ein kräftiger Junge.« »Das ist er«, stimmte Herr Weiss zu. »Ich nehme Ihr Auto«, sagte ich. Ich ließ Paul seine Gummistiefel und seine Regenjacke anziehen und nahm einen Schal mit. Obwohl es schon fast Sommer war, lag immer noch ein letzter Hauch von Winter im
Wind. Der Regen war allerdings noch schlimmer, weil er kalt war, und trotz meiner Worte zu Herrn Weiss war Paul nicht an Kälte gewöhnt. Paul setzte sich mit seinem roten Eimer in der einen und dem roten Spaten in der anderen Hand auf den Rücksitz des Wagens. Als wir am Strand ankamen, war der Regen in ein Tröpfeln übergegangen. Ich hatte auf einmal keine Lust mehr, aus dem Auto zu steigen. Im Wagen war es warm, aber von meinem Atem beschlugen bereits die Scheiben, und bald würden wir für alle unsichtbar darin eingeschlossen sein. Ich stieg aus, zog meinen Mantel an und hob Paul von seinem Sitz. Er rannte zum Meer, Eimer und Schaufel zum Einsatz bereit. Ich sah ihm nach. In meinem Kopf drehte es sich wie ein Karussell. Wenn man das Atom nähme… Wenn man das Atom nähme, was würde passieren? Ich war nicht daran gewöhnt, allzu konstruktiv über das Atom nachzudenken, ich sah es nur als eine Reihe von Wellen und Ungewißheiten, als etwas, das keinen praktischen Wert hatte, sondern zutiefst verstörend war, weshalb ich auch aufgehört hatte, darüber nachzudenken, und mich statt dessen den Kindern gewidmet hatte. Ich folgte Paul langsam. Heute gab es an diesem Strand für mich nichts zu tun. Wegen des Regens konnte ich nicht lesen. Ich ging ein Stück den Strand hinunter, über die gekrümmte Linie der Algen hinaus, die markierte, bis wohin die Flut kam. Drüben im Westen wurde es heller, als ob wir vor Ende des Tages noch Sonne bekämen. Ich konnte sehen, wie Paul mit dem Fuß Kieselsteine umdrehte. Ich ging ein bißchen weiter, wobei ich ihn im Auge behielt, dann blieb ich stehen und setzte mich, ohne auf die Nässe zu achten. Es brachte einem gar nichts, wenn man das Atom betrachtete, und es war nur Wellen und Ungewißheit. Aber ein Atom bestand auch aus Teilchen. Der junge Mann damals hatte das
gewußt. Und Teilchen konnten in noch kleinere Teilchen gespalten werden. Die Wellen waren höher als beim letzten Mal. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich hören, wie sie sich brachen. Paul war beschäftigt. Er grub mit Schaufel und Eimer im Sand, als sei dies schon immer seine Absicht gewesen. Zu nahe am Wasser für meinen Seelenfrieden, aber nicht nahe genug bei mir, als daß ich Lust hatte, ihn wegzuholen. Gerade ausreichend nahe genug, daß ich dasitzen und ihn beobachten konnte. Teilchen konnten in kleinere Teilchen gespalten werden… Und dann fiel mir plötzlich auf, was das bedeutete. Ich überdachte rasch noch einmal die Berechnungen. Es gab keinen Zweifel, daß der junge Mann recht gehabt hatte. Ich war so verblüfft, daß ich laut auflachte. Trotz all seiner wichtigen Gleichungen war mein Vater so dumm, daß er nicht sehen konnte, was sie bedeuteten. Mit offenem Mund starrte ich auf das Meer. Ich hatte es. Jetzt hatte ich es. Warum hatte ich so lange dazu gebraucht? Es war direkt vor meinen Augen gewesen, in der einen Gleichung, die wichtig war, und ich hatte es nicht gesehen. E = mc2. So offensichtlich, und ich hatte es nicht gesehen! Desanka hatte recht gehabt; ich mußte mehr auf die Details achten.
Der Punkt war der: Wenn der Kern eines Atoms in zwei Teile gespalten wurde, wäre die Masse dieser beiden Teilstücke leicht geringer als der ursprüngliche Kern. Diese winzige Differenz in der Masse würde in Energie verwandelt werden. Einfach. Aber die Schlüsselgleichung würde bestehen bleiben: Die freigesetzte Energie (E) wäre diese winzige, winzige, winzige Menge an Masse (m), multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit (c2). Und da die
Lichtgeschwindigkeit 300000 Kilometer pro Sekunde betrug, kam tatsächlich eine sehr große Zahl heraus. Winzige Mengen an Masse, aber riesige Mengen an Energie. Es paßte zu allen beobachtbaren Tatsachen. Es war in der speziellen Theorie von 1905 schon dagewesen, und ich hatte mir bloß nicht die Mühe gemacht, genau hinzusehen. Paul brachte mir den Eimer voller Steine. Er hatte den Strand durchstöbert, damit dieser seine Geheimnisse preisgab. Rote, schwarze, Feuersteine, Kreide und Granit quollen aus dem Eimer. Wir sahen sie zusammen durch. Ein winziger schwarzer Kieselstein, klein und dünn. Eine rote Raute. Ein graues Oval mit einer weißen Linie, die sich ganz herumzog. Das war eines der Dinge, die ich immer schon hatte tun wollen, dachte ich, etwas über Steine herausfinden. Am Strand entlanggehen können und vertrauensvoll denken können. Das ist Quarz, das ist Anthrazit, das ist Diamant. Wie viele Male hatte ich diese eine Gleichung gehört, die eine, die jeder kennt, gestammelt wie eine Enthüllung, geflüstert wie eine Lösung, und mit ein bißchen Nachdenken oder Verständnis wie ein Gebet? Wie hatte ich es nur übersehen können? »Ich nehme sie alle mit nach Hause«, sagte Paul, »für meine Sammlung.« »Du hast doch gar keine Sammlung«, sagte ich. »Doch«, erwiderte Paul, »das ist sie.« »Nein«, sagte ich. »Nicht alle. Nimm nicht alles mit.« »Ich trage sie«, sagte Paul. »Darum geht es nicht«, erwiderte ich. »Du sollst nur nicht…« »Was?« fragte Paul und rieb die rote Raute zwischen seinen Fingern. »Du sollst nur nicht immer alles nehmen.« »Teilen«, sagte Paul. Er war gut gedrillt.
»Mehr als das«, erwiderte ich. »Wenn du älter wirst, geht es darum… geht es darum, daß du auch etwas zurückgibst.« Er war mein jüngstes Kind. Ein Teil von mir wollte ihm nur geben und nie etwas dafür zurückfordern. In dem Augenblick, wo er anfing, etwas zurückzugeben, würde er mich nicht mehr brauchen. Ich beschloß, daß er sie mitnehmen konnte, sie alle mitnehmen konnte. Ich half ihm, seine Sammlung auf einer Sanddüne aufzureihen, und ging dann mit ihm zum Wasser. Er nahm seinen Eimer mit, für den Fall, daß irgendwo ein Schatz angeschwemmt worden war, eine unerwartete Hinterlassenschaft der Flut. Hinter der trockenen Zone war der Sand dunkelgrau. Wenn man den Fuß aufdrückte, wurde die Oberfläche heller, weil dem Sand die Feuchtigkeit entzogen wurde. Die Algen unter unseren Füßen waren braune Blasen und schwarze Finger. Unter unseren Schritten zerkrachten die Muscheln. Es war gerade Ebbe, und das Meer war sehr weit draußen. Es hatte sich zurückgezogen von den massigen Felsen und den Algen, deren natürliche Heimstatt unter Wasser war und die jetzt beinahe unglücklich darüber wirkten, allem so ausgesetzt zu sein. In ungefähr einer Stunde würde das Meer wieder rasch und wild heranrollen und kleine Stücke Balsaholz, das Papier von den Butterbroten der Feriengäste und andere kleine Teile, die ihm im Weg waren, verschlingen. Vor uns war schon jemand dagewesen. Dort, im flachen Sand, lag ein Muster aus Muscheln. Wenn man genau hinsah, konnte man ein Gesicht erkennen, lächelnd, mit weit offenen Augen und Haaren, die im Wind flatterten. Darunter standen zwei Namen, mit einem Stock, der vielleicht als Strandgut angespült worden war, in den Sand gekratzt und unterstrichen. Paul lief entzückt darauf zu, und ich schrie ihn an: »Nein!« »Was ist denn los, Mutti?«
Wie konnte ich es dem Jungen so erklären, daß er es verstand? »Es ist ein Geschenk ans Meer, Paul. Es gehört nicht dir. Du darfst es nicht wegnehmen.« Ich dachte daran, ihm etwas über ertrunkene Seeleute zu erzählen, über Friedensangebote, darüber, daß man der See etwas schuldete, wenn man ihr etwas wegnahm, aber ich wußte, daß er diese Legenden nicht verstehen würde, diesen unausgegorenen, bäuerischen Aberglauben. »Tu, was du möchtest, Paul. Du kannst selbst entscheiden.« Der Wind vom Meer, vom Ozean hinter der Bucht, wurde stärker. Auf dem Wasser lag jetzt ein glitzerndes, hartes Licht, wie ein Spiegel, und die schwarzen Umrisse, die man unter Wasser wahrnehmen konnte, waren Felsen, die für die Schiffahrt gefährlich werden konnten. Paul sah mich einen Moment lang an, dann nahm er die Augen. Klappernd fielen sie in seinen Blecheimer. Ich dachte: Jetzt müßte ich ihm nur den Rücken zudrehen, und er würde mir genommen. Das Wasser würde schneller hereinschießen, als er laufen könnte. Er würde es noch nicht einmal kommen sehen, während er seine Muscheln einsammelte. Er würde noch nicht einmal mehr den Kopf drehen können, und es wäre schon über ihm, die rasche Flut, die Strömungen. »Komm«, sagte ich, »es ist Zeit, daß wir nach Hause gehen.« Wir gingen im kalten Wind zurück über den Strand, vorbei an den Überresten der zerstörten Burg von unserem ersten Strandtag, die sicher über der Flutgrenze stand. Paul lief mir voraus, den ganzen Weg bis zu Herrn Weiss’ Auto. Seine Sammlung quoll aus seinem Eimer. Pauls dunkle Haare schimmerten hell in den Strahlen der halb verhangenen Sonne. Der Sohn seines Vaters.
Zurück in Berlin, durchwühlte ich den Eichenschreibtisch im Arbeitszimmer, bis ich fand, was ich suchte. Ich studierte die alten Aufzeichnungen, die der junge Mann so sorgfältig gemacht hatte, um zu überprüfen, ob ich etwas Wichtiges übersehen hätte, ob mit der Tinte, die sich im Wasser des schmelzenden Schnees aufgelöst hatte, irgend etwas verlorengegangen war. Nein. Nichts fehlte. Ich sah an jenem Tag den Teufel in den Details, den ich sehen sollte, den Teufel, der die größte Entdeckung meines Lebens war. Ich hatte in die falsche Richtung geblickt. Ich hatte bis zu den Grenzen des Universums hinausgesehen, wo ich doch eigentlich nach innen hätte sehen müssen, in das immer kleiner Werdende, in das Innere des Atoms. Für meine Zwecke spielte es keine Rolle, ob Licht Welle oder Teilchen war. Es spielte keine Rolle, daß man nicht sagen konnte, ob ein Elektron mit einiger Sicherheit hier oder dort war. Wichtig war nur, daß man das Atom spalten konnte, wenn man es nur lange genug ganz still an einem Ort festhielt. Es spielte keine Rolle, daß mein Vater die Zerstörung des vertrauten Universums verursacht hatte. Ich würde das Atom zerstören, den kleinsten Dreh- und Angelpunkt, von dem das ganze Universum, vertraut oder nicht, abhing. Nur mit dieser einen Gleichung konnte ich eine so mächtige Waffe bauen, daß man allein vom Licht der Detonation schon blind würde. Ich malte mir aus, wie man von dem Knall taub werden würde. Bei dem Gedanken daran schrie ich vor Freude auf. Ohne daß ich danach gesucht hatte, eröffnete sich hier die beste Rache. Und ich wußte, wie man es machen mußte. Es würde so sein, als besäße ich ein Stück von der Sonne. Mein verachtenswerter, pazifistischer Vater, der immer mehr an Popularität verlor, würde mich dann nicht mehr ignorieren können.
In dieser Nacht, nachdem ich Tina mit ihren Puppen und Paul mit seinem heißen Kopf und seinen Muscheln fest in ihre sicheren Betten gepackt hatte, schlief ich gut und traumlos, in einem Land, das mir gehörte, und das ganze träumende Haus lag sicher unter meinen Fingerspitzen. Die Dinge entwickelten sich besser, als ich je zu hoffen gewagt hatte. Die Theorien meines Vaters zu nehmen und aus ihrer praktischen Anwendung die größte destruktive Kraft zu machen, die die Welt je gesehen hatte, schien mir eine äußerst geeignete Form der Rache zu sein. Etwas Besseres konnte ich mir nicht vorstellen. Ich war mir ganz sicher, daß er mir zustimmen würde. Als ich im ersten Licht des Morgens, das durch die dünnen Vorhänge drang, aufwachte, begann ich ernsthafter über die praktische Durchführung nachzudenken. Die Kernspaltung, mußte ich zugeben, stellte ein kleines Problem dar. Wo sollte ich ein Labor finden, das groß genug war, um etwas zu spalten? Irgendwas würde sich schon ergeben, dachte ich. Das war doch immer so.
24. Juni 1935 Ich fühlte mich einsam. Hitlers Säuberungsaktion im öffentlichen Dienst, dessen Gesetze automatisch auch für die Universitäten galten, war in vollem Gange. Jeder, der jüdischer Herkunft war, wurde vom Dienst suspendiert. Fast alle von Bedeutung waren fort. Born und Franck waren aus Göttingen weggegangen – jetzt würde ich nie mehr eine Antwort auf meinen Brief bekommen –, Szilard war außer Reichweite. Ich hatte niemanden, mit dem ich über Kernspaltung reden konnte. Mein mathematisches Modell der Kernstruktur des Atoms war
beinahe fertig. Es gab lediglich ein paar Probleme mit den halbintegralen Quantenzahlen. Josef, der über einem Abendessen aus Hühnchen und Klößen saß, erzählte mir von seinem Arbeitstag, vom Im- und Export von Natrium und Holz. Fakten. Zahlen. Statistiken. »Ach ja?« sagte ich, nur noch mit halbem Ohr lauschend, während ich die Zeitung durchblätterte. Von Zeit zu Zeit gab es noch Artikel über meinen Vater, allerdings immer seltener, seitdem wir uns an das neue Universum, das er eingeführt hatte, gewöhnt hatten, und kaum noch einen, seitdem er zum Verräter am deutschen Volk geworden war. Ich las sie trotzdem gern. Sie enthielten einen so leidenschaftlichen Haß, daß ich sie dafür bewunderte. Josef war gerade zu Zement und Erdnußöl übergegangen, als mir etwas Interessantes auffiel. »Du, hör mal zu.« Ich las laut aus der Zeitung vor. »›Max Planck…‹, er ist der Direktor, das weißt du ja sicher, ich habe es dir ja oft genug erzählt, ›hat dem Kanzler die folgende Botschaft übermittelt: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften sendet dem Kanzler die ehrerbietigsten Grüße und gelobt feierlich, daß die deutsche Wissenschaft ebenfalls bereit ist, freudig am Wiederaufbau des neuen nationalen Staates mitzuarbeiten.‹« »Was hältst du davon?« »Was hat das mit Erdnußöl zu tun?« fragte Josef. »Erdnußöl?« fragte ich zurück. »Ich rede von Rache.« Hier bot sich eine Gelegenheit. Endlich eröffnete sich mir ein Weg, es ihm nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch heimzuzahlen. »Weißt du was, Josef?« sagte ich und unterbrach seine Zusammenfassung des Erdnußölberichts. »Ich glaube, es ist meine Pflicht, freudig mitzuarbeiten.« Mein Mann hob den Kopf. »In welcher Weise?«
»Indem ich der deutschen Wissenschaft in der Stunde der Not helfe.« Josef zog einen Schlußstrich unter sein Erdnußöl, und ich küßte ihn.
7 Das Labor
15. Juli 1935 Die Antwort auf meinen Brief an Max Planck kam innerhalb weniger Tage – allerdings nicht von Planck selbst. Ein »Forschungsoffizier« mit einer unleserlichen Unterschrift lud mich an die Technische Hochschule in die Hardenburgstraße nach Berlin ein, genau gegenüber dem Heereskorps, zu einer informellen Diskussion über die wissenschaftlichen Themen, die für den Staat von größter Bedeutung waren. Dieses Mal war ich vorbereitet, und ich plante alles sorgfältig. Sie würden es kaum zulassen, daß ich freudig mit irgendwem zusammenarbeitete, wenn ich anfing, über Atome, Licht oder Teilchen zu reden, aber sie würden mich bestimmt aufnehmen, wenn ich behauptete, die jüdische Wissenschaft diskreditieren zu können. Und das war die Relativität schließlich – jüdische Wissenschaft. Ich würde über Relativität sprechen und kein Wort über Quantenmechanik, sich ausdehnende Universen oder mathematische Reduktionen verlieren. Der kleine, leicht erregbare Mann mit Bart war nirgends zu sehen. Statt dessen stand ein blondes Tier vor mir, das schnurrte wie ein Panther. »Fräulein Hansbach. Nehmen Sie doch bitte Platz.« Ich hatte beschlossen, das Vorhandensein von Ehemann und Kindern in meinem Brief zu verschweigen. In diesem neuen Deutschland blieben verheiratete Frauen patriotisch zu Hause, vorzugsweise in der Küche. Sie belasteten ihre kleinen Köpfe nicht mit schwierigen Themen.
»Sie haben eine wissenschaftliche Sichtweise auf die Relativitätstheorie, die sie uns mitzuteilen wünschten.« Er blickte skeptisch, als sei ich noch nicht einmal in der Lage, das Wort auszusprechen, geschweige denn zu verstehen. Ich zog meinen grauen Wollrock noch ein wenig mehr über die Knie. »Ich denke, Herr Professor« – ich war mir nicht sicher, ob er Professor war, aber ich wußte nicht, wie ich ihn sonst anreden sollte –, »daß die Relativitätstheorie wieder einmal ein Beispiel für den gefährlichen Einfluß jüdischen Gedankenguts auf die Fragen der Natur ist.« »Fahren Sie fort, Fräulein Hansbach. Fahren Sie bitte fort.« Das war genau die Art von freudiger Kooperation, die das Reich hören wollte. »Herr Einstein«, sagte ich dreist, »hat nur einen aufgeblasenen Lumpensack altertümlicher Ideen und unausgegorener Berechnungen produziert. Und seine Theorien halten bereits jetzt schon nicht mehr stand.« Der Panther schnurrte. Das war Musik für die Ohren des Reichs. Allerdings durfte ich ihn nicht unterschätzen. Es war sehr gut möglich, daß er genau wie ich tief in seinem Herzen wußte, daß die Relativität, nun ja… fast richtig war. »Haben Sie nur aus patriotischen Gründen etwas gegen die Theorie einzuwenden?« Der Panther beugte sich über den Schreibtisch, als ob er es wirklich wissen wollte. »Natürlich nicht«, sagte ich. »Ganz abgesehen von der Tatsache, daß die Theorie ein Affront für die deutsche Wissenschaft ist, erklärt sie zum Beispiel nicht Trägheit.« Bei Trägheit lehnte sich der Panther wieder zurück. »Es ist wirklich ganz einfach. Wir wissen seit Newton, daß sich ein Objekt, wenn man ihm einen Stoß gibt, in die Richtung bewegt, in die man es gestoßen hat – ohne die Auswirkung der Reibung zu beachten, natürlich –, bis man ihm einen neuen Stoß gibt. Wenn wir ein fast leeres Universum
hätten, das nur ein Teilchen enthielte, dann wäre Bewegung bedeutungslos – es wäre ja nichts da, gegen das das Teilchen seine Bewegung messen könnte. Und wenn es keine Bewegung gibt, gibt es auch keine Trägheit, oder? Wenn Sie aber ein zweites Teilchen hinzugeben, kann man dann sagen, das erste Teilchen sei träge? Und was ist, wenn man immer noch mehr Teilchen hinzufügt – wächst dann die Trägheit? Wenn Sie es unter diesem Gesichtspunkt betrachten, sehen Sie, daß ein Teilchen, bevor es seine träge Reaktion darauf, ob es angestoßen oder gezogen wird, bestimmen kann, erst einmal seine Position hinsichtlich jedem anderen einzelnen Teilchen im gesamten Universum bestimmen müßte, bevor es sich bewegen könnte. Und mehr noch, es würde das augenblicklich tun müssen. Offenkundiger Unsinn. Es gibt nie eine nennenswerte Verzögerung, wenn Sie ein Teilchen anstoßen, oder?« Der Herr Professor gab zu, daß dem so war. »Ich möchte jedoch ein paar Berechnungen dazu sehen.« »Gut«, sagte ich. »Haben Sie ein Blatt Papier?« Innerhalb von zehn Minuten führte ich ihm so viele Berechnungen vor, daß er Kopfschmerzen davon bekam. »Genug«, sagte er schließlich. »Ich verstehe jetzt, wovon Sie sprechen.« Die Zahlen, die ich aufgeschrieben hatte, waren kompletter Blödsinn, das wußte ich. Aber es ist erstaunlich, wie man mit kleinen statistischen Verdrehungen scheinbar das Unmögliche beweisen kann. Ich sagte noch sehr viel mehr über meine patriotische Pflicht, die Relativitätstheorie einfach wegen ihrer Unhaltbarkeit, ganz zu schweigen von ihrem jüdischen Ursprung, zu vernichten, und mein Vortrag zeigte Wirkung. Eine Woche später bekam ich einen Brief, in dem ich zur Hochschule eingeladen wurde, um meine Ideen in der Forschungsabteilung auszuarbeiten. Das
blonde Tier hatte mich empfohlen. Physiker waren knapp – diejenigen, die nicht entlassen worden waren, hatten zum größten Teil das Land verlassen. Wahrscheinlich waren sie froh, mich zu haben. Ich machte mir nicht mehr das geringste aus Relativität. Und Trägheit interessierte mich schon gar nicht. Selbst Schwerkraft oder Licht beschäftigten mich nicht mehr allzu sehr. Sie waren die alten Waffen in meiner kindlichen Besessenheit gewesen. Von nun an verfolgte ich erwachsenere Ziele. Und was für eine bessere Waffe konnte es geben, als die eigene Arbeit meines Vaters gegen ihn zu wenden? Jetzt würde ich genug Geld und Ausrüstung zur Verfügung haben, um das Atom zerschmettern zu können. Ich würde es zerschmettern. Ich würde ihn zerschmettern. Ich tanzte mit dem erfreulichen Brief in der Hand durch das ganze Haus, so elegant, wie meine vier fehlenden Zehen es erlaubten. Josef sah mir zu. Tina sah mir zu. Paul sah mir verständnislos zu. »Es ist meine Pflicht«, sang ich, schwenkte den Brief, und meine Stimme erhob sich fröhlich über den Resten des Kinderessens auf dem Walnußtisch. »Meine Pflicht, meine Pflicht, meine Pflicht.« Paul ging weg, um seine Spielzeugsoldaten hervorzuholen. Tina zog sich in ihr Zimmer zurück, um ihre Puppen zu Bett zu bringen. Josef blieb stehen und sah mir zu, wie ich weiter und weiter tanzte. »Bomben«, sagte ich zu ihm. »Das ist die beste Methode.« Mitten in meine ausgelassene Feier platzte Maja. »Du siehst immer mehr wie deine Mutter aus«, sagte sie, als ich ihr die guten Nachrichten mitteilte. Das war nicht die Reaktion, die ich erhofft hatte. »Du hast doch meine Mutter nie kennengelernt«, erwiderte ich.
»Du hinkst wie sie«, sagte sie. »Jetzt. Das hast du sonst nie gemacht.« »Ich gehe in die Physik«, sagte ich. »Jetzt. So wie sie. So wie ich es vorher nie konnte.« »Vielleicht liegt es daran«, entgegnete sie. »Vielleicht liegt alles nur daran.« Sie verbrachte den Rest des Abends damit, mir und Josef von den ersten Experimenten zu erzählen, die man mit Elektrizität und Muskeln machte. Ihr gefiel das besonders, weil sie nur auf einem gepolsterten Sofa zu liegen und sich zu entspannen brauchte, während winzige Stromstöße ihre Muskeln veranlaßten, sich erst zusammenzuziehen und dann auf erschreckende Größe auszudehnen. »Tut das weh?« fragte Josef. »Das ist das Wunderbare daran«, entgegnete sie, »es ist völlig schmerzlos.« »Maja«, sagte ich, »es besteht die Gefahr von Kurzschlüssen und eines tödlichen Stromstoßes.« Wenn sie nichts Nettes über meine Experimente sagte, würde ich auch nichts Nettes über ihre sagen. Allerdings schreckte sie meine Warnung vor dem Tod durch einen Stromstoß überhaupt nicht.
24. September 1935 An meinem ersten Arbeitstag erklärte ich mit großer Vorfreude: Wenn ich die jüdische Relativitätstheorie endlich zerschmettern und die arische Physik weiterbringen wollte, brauchte ich Zugang zu den besten Instrumenten, die das Reich zu bieten hatte. Die beiden Männer, die zu meiner offiziellen Begrüßung bereitstanden, warfen einander Blicke zu. So wie die Dinge im
Moment standen, bekam ich nur aus der Entfernung Zugang zu den besten Instrumenten. »Es ist folgendermaßen.« Als Frau hatte ich keinen Zutritt zum Labor. Das war undenkbar. Der Direktor des KaiserWilhelm-Instituts für Physik, der den Zugang zum Labor kontrollierte, zuckte mit den Schultern. »Sie verstehen doch hoffentlich, oder?« »Vollkommen, Herr Debye.« Ich lächelte. Er erklärte mir, daß ich ja vielleicht die festgelegte Ordnung des Universums erschüttern mochte, in seiner Abteilung jedoch die Grenzen der gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht überschreiten dürfe. Ich lächelte wieder, um ihm zu zeigen, wie verständnisvoll ich sein konnte. Tatsächlich lächelte ich bei jeder Gelegenheit. Vor allem lächelte ich Herrn Vahlen ausgiebig an, der, wie ich an diesem ersten Morgen entdeckte, mein offizieller Vorgesetzter aus dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung war. Wenn er mich überwachen sollte, würde ich der Liebreiz in Person sein. An diesem offiziellen Morgen schüttelten Debye und Vahlen mir also die Hand, sagten, sie seien erfreut, mich kennenzulernen, und brachten mich dann in ein staubiges Büro im Keller, wo ich arbeiten konnte. Es roch nach Bleichlauge, auf dem Boden lagen Lumpen, und es sah so aus, als hätten in dem Raum bis vor kurzem noch Eimer und Schrubber gestanden. Es gab noch nicht einmal einen sauberen Schreibtisch, nur etwas, das aussah wie ein Tapeziertisch, und einen gebrechlichen Stuhl. Ich seufzte. Andererseits war es egal. Eigentlich brauchte ich ja nur etwas zum Schreiben und jemanden, der meine Anweisungen ausführte. Auch Dieter Habbel, der mir zugewiesene Laborassistent, freute sich, mich kennenzulernen.
»Sie sind also hier, um über die Relativitätstheorie zu arbeiten?« sagte er. »So gut es geht«, erwiderte ich. Er bedachte meine Antwort. »Ich glaube nicht, daß ich Relativität jemals ganz verstanden habe«, sagte er. Ich lächelte. »Das tun auch nicht viele Leute.« »Sie denn?« Es kam mir nicht in den Sinn, unaufrichtig zu sein. »Oh, ja.« »Dann erklären Sie sie mir bitte.« Ich runzelte die Stirn. Ich hatte sie weder Maja noch Josef erklären können, die mich am allerbesten kannten, und ich hatte es mehrmals versucht. Jedesmal drehten sich die Wörter im Kreis, wenn ich mich bemühte, es ihnen verständlich zu machen, und am Ende war ich immer selbst ganz verwirrt. »Ich glaube, das kann ich nicht«, sagte ich. »Warum? Halten Sie mich für zu dumm, um es zu begreifen?« »Nein, Herr Habbel. Es liegt daran, daß ich zu dumm bin, um es richtig zu erklären.« Damit gab er sich zwar nicht zufrieden, sondern drängte mich, es wenigstens zu versuchen. Nach zwei oder drei Sätzen mußte er jedoch einsehen, daß ich recht hatte. Ich war erfreut, daß wir die Relativität so rasch abhaken konnten. Von allen Berechnungen meines Vaters war ich jetzt nur noch mit dieser einen Gleichung beschäftigt, und die wollte ich bis an ihre Grenzen treiben, bis sie auseinanderbrach und mehr Energie freisetzte, als die Welt je gesehen hatte. Nach anderthalb Tagen glaubte ich, Herr Debye und ich hätten einander genügend bezaubert, daß ich meine Idee vorbringen konnte. Entgegen meinen Erwartungen war er jedoch nicht sehr interessiert. »Schwere Atome? Gleichungen?« Nichts lag ihm ferner. »Es gibt sicher sinnvollere Dinge, an denen Sie arbeiten
könnten, Fräulein Hansbach, anstatt Ihre Zeit mit diesem Unsinn zu vergeuden.« Habbel verstand es auch nicht. »Es sieht nach einer Menge Arbeit ohne nennenswertes Ergebnis aus. Sehen wir den Tatsachen ins Auge, es kann doch nie praktisch angewendet werden, oder?« Also begann ich, um alle bei Laune zu halten, an einem Projekt zu arbeiten, mit dem die Durchdringungskraft von Elektronen erforscht werden sollte. Dazu gehörte die Präparierung sehr dünner Metallfilme. Habbel präparierte ungefähr zwanzig Stück, und ich ruinierte sie alle. Ich war mein ganzes Leben lang eine theoretische Physikerin gewesen und taugte nicht zu experimenteller Arbeit. Nach einer weiteren Woche gab ich die Elektronenfilme auf und brachte mein Thema wieder zur Sprache. »Rutherford arbeitet darüber«, sagte ich, »im Cavendish Laboratory. Sie wollen doch nicht, daß die Briten es als erste entdecken, oder?« »Sie sollen über Relativität arbeiten«, sagte Debye. »Gehen Sie und lassen Sie mich in Ruhe mein Butterbrot essen.« Ich überließ ihn seinem Wurstbrot, ging wieder in den Keller, wo der Geruch nach Bleichlauge sich langsam verflüchtigte, und stellte ein paar Berechnungen zur Trägheit an. In der Woche darauf versuchte ich es noch einmal. »Macht es Ihnen wirklich nichts aus, daß der Rest der Welt Ihnen im Wissen über die subnukleare Welt voraus ist?« »Nein«, entgegnete Debye, dem es offensichtlich überhaupt nichts ausmachte, die subnukleare Welt da zu lassen, wo sie war. »Sie haben echte Arbeit zu tun, Fräulein Hansbach. Trägheit. Relativität. Sie sollen einen Aufsatz darüber schreiben, erinnern Sie sich noch?«
Ich nahm mir ein paar Putzlappen und polierte den Tapeziertisch auf Hochglanz. Ich war zu lange eine Berliner Hausfrau gewesen, um meine Standards herunterzuschrauben. Wieder eine Woche später sagte ich: »Wenn das Vaterland auf den Gedanken käme, daß Sie bewußt eine Forschungsarbeit über eine Waffe zurückhalten, die die Welt von der Überlegenheit der deutschen Wissenschaft überzeugen würde, dann wäre das nicht gut, oder?« Debye blickte von seinen Berechnungen auf und sagte: »Waffe?« »Ich denke schon.« »Eine Waffe.« Er überlegte einen Moment. »Möglicherweise. Wenn sie funktioniert.« »Wenn sie funktioniert, haben wir eine Waffe. Wenn sie nicht funktioniert, haben wir nachgewiesen, daß die Basisgleichung falsch ist: Energie ist nicht gleich Masse. Ruhm ernten wir in jedem Fall.« Ich legte so viel ernsthaften Patriotismus in meine Stimme, wie ich vermochte. »Wenn wir davon ausgehen, daß theoretisch wenigstens das Labor anfangen könnte, daran zu arbeiten, von was für einem Zeitrahmen sprechen Sie dann?« »Vier Jahre? Fünf?« Ich hatte keine Vorstellung. Ich war mit meinem erstaunlichen Mangel an realem Wissen über die Durchführbarkeit des Prozesses konfrontiert. Es ging nicht nur darum, einen Kern zu spalten und die Energie freizusetzen, sondern man mußte die Spaltung Tausende von Malen vornehmen und vor allem ungefähr im gleichen Moment, damit genug Material seine Energie freisetzte und explodierte. »Sie sagten, Rutherford würde daran arbeiten. Zu welchen Ergebnissen ist er gekommen?« »Er versuchte, Stickstoff mit Teilchen zu beschießen…« »Und?«
»Ungefähr eins von einer Million kam durch.« Debye dachte nach. »Sie und Herr Habbel haben ein Jahr.« »Aber…« »Ein Jahr. Und denken Sie daran, Fräulein Hansbach, Sie arbeiten an einer Waffe. Eine, die wir eines Tages brauchen könnten.« Ich schlüpfte aus seinem Büro und lief den Flur entlang, ganz begierig darauf, die guten Nachrichten weiterzugeben. »Herr Habbel, Herr Habbel, wir müssen sofort mit der Arbeit an einem Projekt beginnen, das lebenswichtig für den deutschen Kampf ist! Geben Sie mir etwas Lithium.« Habbel seufzte. Er hatte gern mit den Elektronenfilmen gearbeitet. Zu Hause sang ich beim Waschen, lächelte die Kinder das ganze Frühstück über an und tanzte tagsüber und nachts, wenn Tina schrie. Nachmittags, wenn die Kinder aus der Schule kamen, betreute sie ein Mädchen – Kätzchen, eine entfernte Kusine von Josef, die erst siebzehn war und sich deshalb gern mit den Kindern beschäftigte. Josef freute sich, mich glücklich zu sehen. Er hatte immer gewußt, daß ich tief im Innern nicht glücklich war. Ich fand, daß ich jetzt glücklicher war als jemals zuvor, und küßte ihn mehrmals, um es ihm zu beweisen.
29. November 1935 Meine praktischen Fähigkeiten besserten sich nicht. Habbel und mir passierte ähnliches wie Rutherford. Nach vielem Hin und Her beschossen wir Lithium mit Teilchen und fanden am Ende des Experiments heraus, daß wir mehr Energie auf das Beschießen verwandten, als wir herausbekamen. Ein negativer
Aufwand. Darüber wußte ich alles, weil ich Josef immer die Bücher geführt hatte. »Es ist so, als schössen wir im Dunkeln auf Vögel.« »In einem Gebiet, wo es nicht viele Vögel gibt«, sagte ich. Habbel war enttäuscht. Er erkannte, daß der Ruhm für unsere potentielle Waffe noch weit entfernt war. Ich war optimistisch. Endlich hatte ich all die Unterstützung, die ich brauchte. Und Habbel war ein guter Mitarbeiter. Er bezweifelte nicht, daß die Arbeit, die wir leisteten, lebenswichtig für die deutsche Sache war. Wenn ich aufgehört hätte, darüber nachzudenken, hätte ich vielleicht dasselbe gesagt. Aber ich hörte natürlich nicht auf, nachzudenken.
1. Februar 1936 Am Freitag nachmittag stahl ich mich aus dem staubigen Keller, um mit Maja einen Einkaufsbummel zu machen. Sie wollte Nylonstrümpfe und einen frischen Steinbutt kaufen, ich brauchte Schuhe. Ich hatte immer Probleme, ein Paar zu finden, das auf meine verformten Füße paßte. Die ganze Zeit über, während wir unterwegs waren, beklagte ich mich darüber, daß sie freitags immer noch Fisch kochte. »Glaubst du, es kümmert Gott, Maja, ob wir Fisch oder Fleisch essen? Glaubst du, es macht auch nur den kleinsten Unterschied im Universum?« »Hat niemand dir jemals gesagt«, entgegnete Maja, »daß Gottes Wege nicht unsere Wege sind?« »Ihr Gläubigen seid doch alle gleich«, sagte ich. »Nichts, was wir Wissenschaftler sagen, kann euch jemals dazu bewegen, eure Meinung zu ändern.«
»Darüber kannst du aber auch froh sein«, erwiderte Maja. »Wissenschaftler reden das meiste dumme Zeug.« Wie alle anderen Leute auch blieben wir in der Kurzwarenabteilung von Kayser stehen. Es war nicht das erste Mal, daß wir aufgefordert wurden, einem dieser Ereignisse zu lauschen, und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Alle Fabriken, Büros und Läden waren gezwungen, die Rede zu übertragen. Man hatte Lautsprecher auf Bahnhöfen, Straßen und Plätzen aufgehängt. Selbst wenn man dieser Proklamation von Hitler nicht zuhören wollte, wenn es einem noch so egal war, man konnte es nicht vermeiden. Ich nutzte die erzwungene Pause, um meine Schuhe auszuziehen und meine Füße an meinen Waden zu reiben. Ich war müde. Unsere Laborinstrumente waren immer noch nicht genau genug, und deshalb hatten all unsere Anstrengungen noch zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt. Die Stimme lärmte weiter. Ich betrachtete die Theke mit Bändern vor mir und entdeckte ein rotes Band, das gut zu Tinas Haaren passen würde. Die Redefetzen, die zu hören ich nicht vermeiden konnte, waren erstaunlich. Im großen und ganzen behauptete Hitler, in diesem unverkennbar österreichischen Akzent, daß er der Erretter des Volkes sei. »Ehrlich«, sagte ich zu Maja und ließ das rote Band durch meine Finger gleiten, um seine Qualität zu prüfen, »und du sagst, Wissenschaftler reden Blödsinn.« Sie trat mir vors Schienbein. Am Ende der Übertragung, als die Leute Beifall geklatscht hatten – mein Einwurf: »Warum klatschen sie? Wissen sie nicht, daß Hitler sie nicht hören kann?« ging im allgemeinen zustimmenden Gemurmel unter –, hatte die große Maja liebevoll ihren Arm um meine Schultern gelegt und sagte, zu laut für mein Gefühl, wenn man bedachte, daß ihr Mund fast direkt an meinem Ohr war: »Was für eine großartige Rede,
Helga! Dank des Führers und seines persönlichen Mutes ist Deutschland vor Chaos und Revolution bewahrt worden.« »Was?« Majas Stimme wurde noch lauter. »Unsere ganze Ergebenheit gilt dem großen und glorreichen Führer aller Deutschen.« Sie strahlte in die Runde. Sie hörte auch nicht auf zu strahlen, während das rote Band abgemessen und abgeschnitten wurde, und ihr Gesicht wurde erst wieder ernst, als wir Unter den Linden auf die Straßenbahn warteten. Die Fahnen auf den Hotelbalkonen flatterten über unseren Köpfen: die hellrote Seide, die Deutlichkeit des Hakenkreuzes, schwarz auf weiß. Alle Offiziere trugen in dieser Jahreszeit rote Rockaufschläge und elegante Wollmäntel, um sich vor dem kühlen Frühlingswind zu schützen, und ihr Atem hinterließ auf den Straßen Berlins weiße Wölkchen. »Wirklich, Helga«, sagte Maja, als wir in der Straßenbahn saßen und die Fahrkarte bezahlt hatten, »manchmal kannst du so dumm sein.« Ich saß am Fenster. »Ich verstehe nicht, wie alle anderen so dumm sein können.« Maja seufzte, als fiele es ihr schwer zu sprechen. Sie sah aus wie jemand, der eine schwierige Entscheidung treffen muß und unglücklich über das Ergebnis ist. »Ich werde etwas tun, was dir nicht gefallen wird.« »Das ist doch nichts Neues.« »Ich werde in die NSDAP eintreten.« »Um Gottes willen, Maja, warum?« »Um den Schein zu wahren. Herr Weiss…« »Ich traue diesem Mann nicht.« »Ich auch nicht. Deshalb tue ich es ja. Du bist in einer schwierigen Lage, weißt du. Eine jüdische Familie…« »Das wird schon nicht herauskommen, Maja.«
»Herr Weiss hat Fragen gestellt. Ich glaube, ich muß sehr deutlich machen, wem meine Loyalität gilt. Wem unsere Loyalität gilt. Das ist wohl der beste Weg, um uns alle zu schützen. Du und Josef, ihr könnt nicht eintreten, weil sie dann Nachforschungen anstellen und eure falsche Identität entdecken. Das Nächstbeste ist eben, wenn ich eintrete.« »Oh, Maja«, sagte ich. »Natürlich«, meinte sie, »wärt ihr alle noch sicherer, wenn ihr Deutschland verlassen würdet.« »Du weißt genau, daß ich das nicht kann«, entgegnete ich. »Jedenfalls nicht gerade jetzt.« Im Labor hatte ich eine Chance. Wo sonst könnte ich der Rache an meinem Vater so nahe kommen? Wenn ich jetzt ginge, würde ich diese Chance wegwerfen. Und die Rache war immer noch die treibende Kraft in meinem Leben. »Ich weiß«, sagte sie. »Deshalb werde ich auch in die Partei eintreten. Komm, wir müssen aussteigen.« Als wir zu Hause ankamen, fanden wir Kätzchen völlig aufgelöst vor. Paul schrie, unbeeindruckt von dem Lärm, den er verursachte, die Tränen rannen heiß und naß über sein Gesicht, und seine Finger krallten sich in die Luft. In der Schule hatte es einen Zwischenfall gegeben – ein Freund war auf einmal verschwunden und würde nie mehr zurückkommen. Paul war untröstlich. Ich ließ die Einkäufe fallen und streckte meine Arme aus. »Möchtest du auf meinem Schoß sitzen?« Zu meiner Überraschung nickte er. Ich hob ihn hoch und drückte ihn fest an mich. Die Tränen flossen noch eine Weile, dann legte er den Kopf an meine Bluse und verkündete: »Ich will jetzt schlafen.« Kätzchen schnitt Äpfel in Schnitze. Maja holte ihren Steinbutt heraus und begann, Tina in der Kunst der
Saucenzubereitung zu unterweisen. Tina hatte Spaß daran, zu glauben, daß sie kochen lernte. Ich saß da und hielt Paul fest. Ich hielt ihn fest an mich gedrückt, damit er nicht von meinem Schoß glitt. Er wurde schwer, als sein Kopf zur Seite rollte, aber ich ließ ihn nicht los. Zum ersten Mal seit Monaten saß mein Sohn wieder auf meinem Schoß, zum ersten Mal seit über einem Jahr war er bei mir eingeschlafen, nachdem er die ganze Zeit über erklärt hatte, er sei viel zu groß dafür. Jetzt war er wieder klein, klein geworden durch seine Tränen. Ich kam mir vor wie ein Dieb, daß ich solche Freude über den Kummer meines Sohnes empfand. Ich wäre am liebsten den ganzen Abend dort sitzen geblieben, nach einer Stunde jedoch waren meine Beine eingeschlafen und schmerzten. Josef kam nach Hause und trug ihn nach oben in sein Bett. Paul wachte nicht auf. Er sah seinen Freund nie wieder, und nach ein paar Wochen hörte er auf zu fragen, wohin er gegangen war.
13. März 1936 Eines Tages saß ich in der Badewanne. Tina saß am anderen Ende, spritzte und versuchte, mit den Fingerspitzen Blasen zu machen – obwohl sie fast zwölf war, hatte sie Angst, allein zu baden. Plötzlich durchzuckte mich der Gedanke, daß ich auf dem richtigen Weg wäre, wenn ich ein Element finden könnte, das zwei Neutronen ausstieß, wenn es mit nur einem Neutron beschossen würde. »Du, Tina«, sagte ich, »Mutti ist etwas eingefallen.« Ich wickelte sie in ihr Handtuch und küßte sie auf den Kopf. Während ich sie und Paul für die Schule anzog, durchforstete ich mein Gehirn nach allen Elementen, die so etwas möglicherweise machen konnten. Ich hinterließ Kätzchen eine
Nachricht, daß die Kinder frisches Obst bekommen sollten, wenn sie nachmittags aus der Schule kamen, da ich sehr auf ihre Vitaminzufuhr bedacht war, und schminkte mich, um zur Arbeit zu gehen. Als ich ins Labor kam und Habbel gegenüber das Problem mit den Elementen erwähnte, sagte er sofort: »Uran.« »Warum?« fragte ich. Chemie war noch nie meine Stärke gewesen. »Es ist das schwerste bekannte Element. Es bietet uns die beste Chance.« »Dann lassen Sie uns welches besorgen. Kommen Sie, wir wollen keine Zeit verschwenden.« Wir durchsuchten den gesamten Keller des Instituts, alle dumpf riechenden Lagerräume der chemischen Abteilung, wo die Behälter mit Natrium und Kalium vor sich hinschimmelten, aber wir fanden keins. Das war ein Schlag. Ich konnte mir vorstellen, daß Uran vielleicht etwas außerhalb von Josefs Im- und ExportMöglichkeiten lag, und als ich ihn fragte, bestätigte er es. Habbel wurde damit beauftragt, Uran aufzutreiben, und ich machte ein paar ernsthafte Berechnungen.
2. Mai 1936 Als ich eines Morgens später zur Arbeit kam, erblickte ich von der Tür aus eine vertraute Gestalt, die die Papiere durchsah, die ich auf dem Tapeziertisch hatte liegenlassen. Ich schlich durch den Flur zurück. »Was tut er hier?« fragte ich Habbel. Habbel sah zu dem Fremden. »Oh, er sieht nur ein paar Unterlagen durch. Füllt Formulare aus. Sie wissen ja, wie diese Kerle sind.«
»In der Tat«, sagte ich und machte mich auf den Weg, um ihn zu begrüßen. »Guten Morgen, Herr Weiss.« »Frau Hansbach, Entschuldigung, Fräulein Hansbach.« Er streckte den Arm zum Hitlergruß aus. Ich sah ihn an und reagierte nicht. Einen Augenblick lang musterte er mich, dann wandte er sich wieder den Papieren zu. »Eine interessante Arbeit, Fräulein Hansbach. Atome messen. Messen Sie die Atome in den Atomen?« »Die Teilchen«, erwiderte ich. »Das stimmt. Sie messen die Teilchen.« »Man kann es nicht. Das ist das Problem.« »Warum?« »Man kann nicht zugleich die Größe des Impulses und den Ort eines Teilchens wissen.« Das war die Unschärferelation, wie mein direkter Vorgesetzter so klar festgestellt hatte. »Wenn Sie zum Beispiel die Impulsgröße eines Teilchens gemessen haben und wissen, wohin es sich bewegt und auch ungefähr, wie schnell, dann hat sich seine Position geändert, und Sie können nicht mehr sagen, wo es eigentlich ist. Und wenn Sie seine Position gemessen haben, verändern Sie seinen Impuls. Durch die Messung verändern Sie alles.« Das Gesicht von Herrn Weiss war undurchdringlich. Ich wußte nicht, wie wenig oder wie viel er verstand. Und ich wollte ganz bestimmt nicht, daß er eine Vorstellung davon bekam, was ich mit meinen Atomen wirklich machte. »Das klingt nicht besonders logisch«, sagte er. »Ist es aber«, entgegnete ich, »wenn Sie genauer darüber nachdenken. Es ist das gleiche wie mit Maja. Wenn Sie wissen, wo sie hingeht, wissen Sie nicht, wo sie ist. Wenn Sie wissen, wo sie ist, wissen Sie nicht, wohin sie geht. Wenn Sie versuchen, es ungefähr abzuschätzen, indem Sie sie fragen, ob sie zum Abendessen nach Hause kommt, haben Sie sie
verändert. Wenn sie ursprünglich nach Hause kommen wollte, will sie es jetzt nicht mehr. Wenn sie nicht nach Hause kommen wollte – und Sie kennen sie gut genug, um zu wissen, daß sie das normalerweise nicht will –, wird sie jetzt kommen wollen.« Herr Weiss lachte. »Das werde ich Maja erzählen«, sagte er, »daß sie sich wie ein Atomteilchen verhält.« »Ich glaube, das weiß Maja schon«, erwiderte ich. »Und Sie«, sagte Herr Weiss, »was haben Sie für einen Impuls bei Ihrem Projekt…«, er legte den Kopf zurück, als müsse er über etwas nachdenken, »bei Ihrem Projekt, was war es noch einmal, ›die jüdische Relativitätstheorie zu zerschmettern.‹« »Oh«, entgegnete ich beiläufig und wies auf meinen hilfreichen Laborassistenten, »Herr Habbel und ich sind noch nicht soweit.« »Aber Sie werden diese patriotische Pflicht nicht vernachlässigen?« »Keinen Augenblick lang«, entgegnete ich. »Es freut mich, das zu hören«, sagte Herr Weiss. Er setzte seinen Hut auf und zog seinen Mantel an. »Wir bleiben in Kontakt. Ich möchte gern mehr über die Impulse Ihres Projekts wissen. Oder über die Position. Über das eine oder über das andere, wenn ich nicht beides erfahren kann.« »Es wird mir eine Ehre sein«, erwiderte ich und nahm seinen zackigen Abschiedsgruß zur Kenntnis. Als er gegangen war, verbrachte ich eine Stunde damit, die Papiere durchzusehen, versuchte herauszufinden, wieviel er von den Notizen, die ich hingekritzelt hatte, verstanden haben mochte. Wenn er Mathematiker war, hatte er wahrscheinlich viel verstanden. Und ich hatte den Verdacht, daß er Mathematiker war.
»Ich habe heute Herrn Weiss gesehen«, sagte ich zu Maja, als Paul im Bett war und Tina im Wohnzimmer in einen Spiegel starrte, wie sie es abends oft machte. »Ich weiß«, erwiderte sie. Maja war in der Küche, schnitt Kätzchen die Haare und hörte den sentimentalen Liebesliedern im Radio zu. In jenen Tagen konnte man kaum etwas anderes im Radio empfangen als Marschmusik oder sentimentale Liebeslieder, und die Marschmusik konnte keiner von uns ertragen. Sie dürfe sich ihre Haare nicht mehr beim Friseur schneiden lassen, sagte Kätzchen, weil Herr Hitler verkündet habe, jüdisches Haar sei ansteckend. Maja war wütend. Kätzchen kam gerade in das Alter, sagte sie, in dem ein guter Haarschnitt lebenswichtig war. Sie sagte allerdings nicht, wofür er lebenswichtig war. Kätzchen wollte auch Schulterpolster haben. »Nur Schulterpolster?« fragte ich. »Und Lippenstift.« Maja sagte, sie kenne einen Mann, der Kätzchen Lippenstift von Bourjois in Paris mitbringen könne. Der schwarze Mascarablock, den Josef vor acht Jahren von dort mitgebracht hatte, war fast aufgebraucht, und sie mußte die letzten öligen Krümel zusammenkratzen, deshalb würde sie den Mann bitten, ihr noch einmal einen mitzubringen, aber vor allem würde sie ihn um den Lippenstift bitten, denn sie sähe ein, daß er wichtig sei. »Roter Lippenstift, denke ich«, sagte Maja. »Das würde dir stehen, Kätzchen. Herr Weiss hat mir übrigens gesagt, daß irgendwo in Deutschland Leute an einer Bombe bauen, die von allein fliegt.« »Was mag das wohl für eine Art Bombe sein«, entgegnete ich. »Scharlachrot«, sagte Maja und sah sich Kätzchens Mund genauer an. »Ich denke, Scharlachrot, von Guerlain.«
»Wie weit sie wohl fliegen kann«, sagte ich. Maja seufzte. »Helles Scharlachrot. So rot wie die deutsche Fahne.« »Maja«, sagte ich. »Ich werde es herausfinden«, sagte sie. »Wenn du es für wichtig hältst.« »Es könnte wichtig sein«, erwiderte ich. »Vielleicht habe ich ja Konkurrenz.« »Ich werde es herausfinden. Fliegende Bomben! Mach dir doch darüber keine Gedanken.« Sie ging ins Wohnzimmer, nahm Tina zu deren Mißfallen den Spiegel weg und zeigte Kätzchen ihren Hinterkopf. Während ich Tina nach oben brachte und in ihr Nachthemd steckte, nahm Maja an diesem Abend die Straßenbahn Nummer fünf, die sie direkt zum Alexanderplatz brachte, wo sie es sich gutgehen lassen konnte, wo sie Dinge herausfinden konnte. Maja hatte Seidenstrümpfe und Lippenstift aus Glyzerin. Ihre schwarzgetuschten Wimpern stahlen jedem das Herz, und sie entlockten alle Informationen, die man haben wollte.
14. September 1936 Wir besaßen inzwischen eine kleine Menge Uran, und Habbel und ich waren uns nicht einig darüber, wie wir am besten damit umgingen. »Wenn es uns gelingt, zwei Neutronen aus dem Kern herauszuschlagen, und sie schlagen zwei weitere Nuklei heraus, und die vier… nun…« Er zuckte mit den Schultern. »Wir müssen eigentlich nur wissen, ob wir diesen Prozeß am Laufen halten können.«
»Oh, um das zu beweisen, brauchen wir nicht mehr Uran«, sagte ich. »Natürlich wird er weitergehen.« »Woher wissen Sie das?« Es war einfach – ich konnte es in meinem Kopf sehen. Es war mir so klar wie die Natur: Wir brauchen nicht darüber nachzudenken, ob Äpfel vom Baum fallen, wir verschwenden nicht eine Minute mit der müßigen Spekulation, ob unsere Herzen weiterschlagen. Die Tatsache, daß der Prozeß weiterging, bestand einfach, und ich konnte es sehen. »Ich gebe Ihnen mein Wort, Herr Habbel, es wird funktionieren. Es funktioniert einfach.« Also verbrachte ich den Rest des Nachmittags am Tapeziertisch und schrieb Gleichungen auf Zettel – manche davon waren schwierig, sogar für mich. Überlegen Sie einmal, wie viele Wörter Sie brauchen, um Ihrem Mann, Ihren Kindern Ihre Gefühle aufzuschreiben. Sie können ein Blatt nach dem anderen beschreiben, riesige Mengen von Wörtern einsetzen, um Ihre Gefühle deutlich zu machen, zu bestimmen… und selbst dann würden Sie sich noch sorgen, daß Sie etwas ausgelassen hätten, nicht alle Parameter, alle Voraussetzungen, alle Umstände erklärt hätten. Aber sich selbst gegenüber brauchen Sie dieses Gefühl nicht zu erklären; es ist einfach da. Es verändert und verschiebt sich zwar, aber Sie fühlen es in jedem Augenblick. Manchmal braucht man viel Papier, um etwas aufzuschreiben, das ganz einfach ist. Gegen Ende des Nachmittags hatte ich genug Papier beschrieben, um Habbel davon zu überzeugen, daß wir, wenn wir genügend Materialmasse hätten, eine nukleare Kettenreaktion erreichen könnten, und ich ging ins Labor, um ihm das mitzuteilen. Er lehnte mit aschfahlem Gesicht an einer der Bänke, einen seltsamen Ausdruck in den Augen.
»Was ist mit Ihnen los?« »Der Mann war wieder hier.« Er brauchte mir nicht zu erklären, wen er damit meinte. »Was wollte er dieses Mal?« »Meine Unterschrift.« »Worauf?« »Auf einem Blatt Papier, das bestätigte, daß die Arbeit, die Sie hier tun, lebenswichtig für die Sache des Vaterlands ist und daß Sie dem Führer gegenüber vollkommen loyal sind.« Ich überlegte einen Moment lang. »Haben Sie unterschrieben?« »Natürlich, Fräulein Hansbach. Es stimmt doch, oder?« »Natürlich tut es das, Herr Habbel. Wie konnten Sie auch nur einen Augenblick lang etwas anderes annehmen? Hier, sehen Sie. Das Uran. Ich habe Ihnen alles aufgeschrieben.« Habbel blickte auf das Blatt Papier, die endlosen Gleichungen, die Klarheit des Prozesses. »Werden Sie das Herrn Debye zeigen?« Das war meine Absicht gewesen. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Ich war mir nicht sicher, ob ich wollte, daß irgend jemand davon erfuhr. Abgesehen von Habbel, der es wissen mußte. »Noch nicht«, sagte ich zu ihm. »Wir wollen zuerst einmal sehen, wie weit wir kommen, oder? Und dann können wir ihn überraschen.« Im Geiste machte ich mir eine Notiz, daß ich das nächste Mal mit Hitlergruß grüßen mußte, wenn ich Herrn Weiss sah.
24. September 1936 Unser Jahr war vorüber, und wir waren nicht allzu weit gekommen. Wir hatten ein paar verblüffende Dinge auf dem
Papier demonstriert, aber in der Praxis, das mußte selbst ich zugeben, waren die Resultate enttäuschend. Debye beraumte eine offizielle Sitzung mit Habbel und mir an. Er sah die Berichte durch, überprüfte unsere Berechnungen und seufzte. »Meine Meinung spielt letztendlich keine Rolle – obwohl ich finde, Sie sollten mit diesem Unsinn so schnell wie möglich aufhören und sich wieder an die ernsthafte Arbeit machen –, aber Sie werden trotzdem weitermachen.« »Warum?« fragte ich. »Anordnung von oben. Jemand glaubt, daß das, was immer Sie hier auch machen, äußerst wertvoll für das Vaterland ist.« »Es könnte sein«, sagte Habbel, »wenn…« »Wenn es jemals funktioniert«, ergänzte ich. Ich wollte nichts preisgeben. Ich wußte ja nicht, wer uns beobachtete oder belauschte. »Berichten Sie regelmäßig«, sagte Debye. »Halten Sie mich auf dem laufenden.«
Irgendwie machte mich das Wissen, frei das tun zu können, was ich wollte – an der Kernspaltung zu arbeiten, solange ich dazu brauchte –, nicht mehr glücklich. Ich hatte das Gefühl, es steckte noch etwas anderes dahinter, etwas Großes, das ich übersehen hatte. Aber ich wußte nicht, was es war. Ich hatte Probleme mit zwei wichtigen Messungen – der Verteilung der Neutronen im Gitter und der Anzahl der Neutronen, die während der Spaltung freigesetzt wurden. Ganz gleich, wie ich die Berechnungen machte, es funktionierte einfach nicht. Vielleicht war der Grund für mein Unbehagen, daß die Mathematik uns im Stich ließ. Und immer noch dachte ich, wir hätten wirklich keinen Anlaß, uns zu beeilen. Hitler hatte gerade verkündet, daß das
Reich tausend Jahre währen würde. Ich fand, das gab uns reichlich Zeit.
13. Oktober 1937 In diesem Zustand zwischen Glück und Unbehagen verbrachte ich das ganze nächste Jahr und kam dabei anscheinend überhaupt nicht voran. Ich bekam nicht genug Schlaf. Im Labor war ich den ganzen Tag über müde, abends war ich müde, aber mein Gehirn wollte nicht aufhören zu denken und war unermüdlich in Bewegung. Anderswo hatte Fermi Uran mit Neutronen beschossen und berichtete von der Erzeugung einiger unterschiedlicher radioaktiver Elemente als Ergebnis. Ich las seinen Bericht in den Zeitungen und glaubte, daß er sich irrte, aber ich konnte es noch nicht beweisen. Ich machte mir Sorgen, daß die Kernspaltung für mich, für alle, nur ein Traum bleiben würde. Aber es war ein mächtiger Traum. Wenn ich darüber nachdachte, wenn ich es zuließ, daß ich darüber nachdachte, fühlte ich, wie das Licht der Atomsonne in Gedanken meinen ganzen Körper wärmte. Ich würde die Macht in meinen Händen halten, so leicht, wie ich einst Hans Alberts magischen Stein gehalten hatte, und ich würde diesen elementaren Gewalten gebieten. Ich nahm an, ich schlief deshalb nicht, weil meine Tage so voller Träume waren, daß nachts kein Platz mehr dafür war.
21. März 1938 Wir wußten, daß es Krieg geben würde, aber wir wußten nicht, wann.
Josef wollte fortgehen, er wollte, daß wir alle fortgingen, aber er wußte, daß ich nicht gehen würde. Meine Entschuldigung lautete schon lange nicht mehr, daß ich in Berlin bleiben wollte, um in der Nähe meines Vaters zu sein – er war bereits vor langer Zeit nach Amerika gegangen. Das einzige, was mich dort hielt, war meine Arbeit. Dann sollten wir zumindest, meinte Josef, Tina und Paul wegschicken. Er hatte Verwandte in England, bei denen sie gut untergebracht wären, bis alles vorbei war. Sie wären nicht die ersten, die dort hingingen. Nach und nach verschwanden immer mehr Kinder von den Straßen und wurden in ferne Länder geschickt. Josef wollte, daß Tina und Paul irgendwohin kamen, wo sie sicher waren, bevor die Kämpfe anfingen. »Tina«, sagte er, »du weißt, für Tina gibt es keine Hoffnung mehr, wenn…« Aber ich fuhr ihm über den Mund. Er sollte sich um nichts in der Welt Hoffnung machen, sie meinen Armen entreißen zu können. »Sie braucht ihre Mutter«, sagte ich. »Sieh sie doch an. Und wage es nicht, anders zu denken.« »Aber Helga, du kannst sie doch nicht schützen.« »Ich arbeite in einem Labor an einem wissenschaftlichen Projekt für das Vaterland«, entgegnete ich. »Wieviel sicherer soll sie denn noch sein?« Ich klammerte mich fest an sie. Als sie geboren wurde, hatte ich gesagt, ich würde sie nie loslassen, und ich sah keinen Grund, jetzt meine Meinung zu ändern. Die anderen Mädchen verspotteten sie nicht draußen im Garten, wo sie immer noch spielte, riefen ihr keine Schimpfwörter nach, und das, obwohl sie in jenen Tagen sehr wohl daran gewohnt waren. Die jüdischen Familien in unserer Nachbarschaft waren bereits mit allen möglichen Schimpfwörtern belegt worden. Ich betrachtete die Tatsache, daß Tina diesem Spott nicht
ausgesetzt war, als gutes Zeichen. Ich dachte, in der Oberlandstraße sei sie sicher. Es war ihr Zuhause. Sie brauchte ein Zuhause, in der Nähe ihrer Mutter. Und außerdem würden Tina und Paul in Sicherheit sein, weil Herr Weiss sich darauf verließ, daß ich eine Waffe für das Vaterland baute. »Und wenn ich meine Arbeit beendet habe«, sagte ich zu Josef, »dann gehen wir, keine Sorge.« »Wann wird das sein?« »Bald, bald. Ich bin fast fertig.«
20. April 1938 »Wir haben heute Feiertag«, erklärte Herr Weiss den Kindern, »auf Anordnung des Führers. Er hat heute Geburtstag.« Ich hatte Kätzchen den Tag freigegeben und ohne sie Frühstück gemacht. Wir waren alle in der Diele versammelt und fertig zum Ausgehen. Josef war bereits seit über einer Woche in Hamburg, in Verhandlungen mit einer Fabrik für Metallplatten. Maja hatte die Einladung von Herrn Weiss an mich weitergegeben. In Abwesenheit des Haushaltungsvorstands, sagte sie, bat er darum, seine Dienste als Beschützer anbieten zu dürfen, damit wir den Feiertag so genießen konnten, wie unser lieber Führer es vorgesehen hatte. Maja hatte zwar nicht gesagt, daß wir unbedingt ausgehen mußten, aber ich wußte, daß es sicher keine gute Idee gewesen wäre, sich zu widersetzen. Ich wußte nicht, wohin wir gingen oder wie lange wir weg sein würden, hatte jedoch für alle Fälle den Kindern ihre besten Sachen angezogen. Tina war ein Traum in einem rosafarbenen Kleid mit passender Jacke, Paul ein kleiner Soldat in einem braunen Anzug. Ich hatte Maja kürzlich erlaubt, Tina die Haare abzuschneiden – Tina hatte es
sich gewünscht, seit Kätzchen ihre hatte abschneiden lassen –, und ich sah es ihr förmlich an, daß sie fand, sie sähe wie eine Erwachsene aus. Das tat sie auch beinahe. Bis einem die beiden Puppen auffielen, die sie unter den Arm geklemmt hatte. Bis man mit ihr sprach und merkte, wie wenig hinter diesem klaren Blick war. Man hätte erwartet, daß so ein wunderschönes Geschöpf einem etwas von Jungen erzählen würde, über die Schule und über die Volkstanzgruppe. Aber sie sprach kein einziges Wort. Wir gingen die Treppe hinunter zu Herrn Weiss’ Auto. Darin standen Picknickkörbe bereit, und ich begann, mich bei dem Gedanken zu entspannen, daß die Kinder diesen Tag vielleicht wirklich genießen konnten. Wir fuhren an einen der Berliner Seen, und ich erlaubte den Kindern, sich auf die Wiese zu setzen, und ermahnte sie, nicht zu wild zu spielen. Über unseren Köpfen blühten gerade die Kirschbäume auf. In einer Woche würden die Blüten wie weiße Wolken an den Ästen hängen. Am Ufer entlang wuchsen weiße Narzissen und Tulpen, weiße Wellen auf dem blauen Wasser spiegelten den blauen Himmel wider. »Wie geht Ihr Projekt voran?« fragte Herr Weiss, als ich schon dachte, es sei wirklich nur ein Picknick. »Wie läuft die Messung bei den Teilchen?« Ich dachte, jetzt gehe ich, bevor die Wolken kommen und den blauen Himmel grau machen. »Wir haben nicht genug Uran«, sagte ich, »und die Messungen sind ungenau.« »Sieh mal«, sagte Maja und brachte Paul zu mir, »er hat eine neue Sammlung.« In seiner Hand hielt Paul ein paar Schnecken, die er von der Unterseite der Blumenblätter abgesammelt hatte.
»Nun seht euch das an«, sagte Herr Weiss, »ein richtiger kleiner Wissenschaftler.« Er lächelte das Kind wohlwollend an, und Paul lächelte geschmeichelt zurück. Die Schnecken ließen mich erschaudern. Sie begannen bereits, übereinander und über Pauls Hand zu kriechen. Ich wußte nicht, wie er es ertragen konnte, sie anzufassen. »Ihr Sohn wächst zu einem feinen jungen Mann heran«, sagte Herr Weiss. »Wie ich Sie beneide, daß Sie einen Sohn haben, den Sie dem Führer schenken können.« »Ich bin auch sehr glücklich darüber«, erwiderte ich. Es war an der Zeit zu gehen. Ich wollte, daß Paul eine heile Erinnerung an den See und die Blumen behielt, daß sie durch nichts zerstört wurde. Maja blickte stumm auf die Schnecken. Eine war bis zum Rand von Pauls Handfläche gekrochen, und er schüttelte sie ab, so daß sie im üppigen, frühlingsgrünen Gras landete. Ich stand auf, ging zu Tina und nahm sie fest bei der Hand. »Ich gehe mit ihr zum Café«, sagte ich zu niemand Bestimmtem. »Ihr ist kalt. Sie braucht etwas Warmes zu trinken.« Herr Weiss nickte. Paul blickte gar nicht auf. Er beobachtete aufmerksam die Reise der Schnecken, vollkommen vertieft in seine Kreaturen. Er krümmte die Handfläche, damit er nicht noch eine verlor. Ich zog Tina den Mantel an, den ich mitgenommen hatte, einen langen Mantel, den ich bis zum Hals zuknöpfte, und ging mit ihr am Ufer entlang, am Café vorbei zum Bahnhof und nahm den Zug nach Hause. Maja brachte Paul viel später nach Hause, schlafend, auf dem Rücksitz von Herrn Weiss’ Auto, und gemeinsam trugen wir ihn ins Bett. Danach stritten wir bis spät in die Nacht, und unser Geschrei weckte Paul auf, und er weinte. Ganz gleich, was geschah, ganz gleich, wie sehr ich versucht hatte, sein Herz zu verhärten, ihn stark zu machen, es war mir
nicht gelungen. Die Tränen steckten in ihm, und ich konnte sie nicht stillen. Ich packte ihn wieder ins Bett und sagte Maja, ich würde einem Kompromiß zustimmen. »Paul kann gehen«, sagte ich. »Ich werde Josef sagen, daß Paul gehen kann.« Als Josef mit seinen Metallplatten-Verträgen nach Hause kam, sagte ich ihm, er solle nach Ealing schreiben. Dann warteten wir auf Antwort.
9. November 1938 Kurz vor dem Mittagessen spaltete Habbel den Nukleus des Uranatoms in zwei Teile. Es bestand kein Zweifel. Wir hatten es geschafft. Das war der erste wirkliche Schritt auf dem richtigen Weg. Die quantitativen Berechnungen waren zu ungenau, als daß sie uns die Gewißheit geben konnten, daß dies mehr als eine Laborkuriosität bleiben würde, aber die Resultate waren vielversprechend. Als die Kerne sich geteilt hatten, hatten sie 200 Millionen Elektronenvolt freigesetzt. Diese 200 Millionen waren genug, um Herrn Weiss zumindest für ein weiteres Jahr zufriedenzustellen, schätzte ich. Ich seufzte erleichtert auf und umarmte Habbel, der genauso froh war wie ich, daß wir für alle unsere Berechnungen und Papiere endlich etwas aufweisen konnten. Dann ging ich früh nach Hause, um die guten Neuigkeiten zu erzählen, und fand das Haus leer vor. Sie waren alle weg. Josef, Tina, Paul und Kätzchen. Die Geschäfte gegenüber dem Haus waren verwüstet, die Schaufenster eingeschlagen, Waren lagen verstreut auf dem Bürgersteig. Auf den Wänden stand nur ein Wort in weißer Farbe, rot unterstrichen: Jude.
Auf der Treppe vor dem Haus wartete Maja in einem hübschen Kostüm. Ich setzte mich neben sie, mit zitternden Händen, ein dumpfes Gefühl im Magen und in den Knien. Sie nahm meine Hände in ihre, als könne sie mich beruhigen. »Da ich so gut mit Herrn Weiss befreundet bin«, sagte Maja, »und so ein loyales Mitglied der NSDAP, hat er eingewilligt, dich nicht mitzunehmen.« Auf der Straße übten vier oder fünf Mädchen seilspringen. Ich stellte fest, daß sie Tinas Seil benutzten. Eine von ihnen hielt Tinas rosafarbene Puppe in der Hand. Das Seil drehte sich immer weiter und wirbelte roten Staub auf. Ich sah ihnen eine Weile zu und wollte nichts denken oder fühlen, weil ich in dem Moment, in dem ich Gefühle zuließ, möglicherweise verrückt geworden wäre. Die Mädchen sangen: »Der Kaiser von Rom, Napoleon sein Sohn, er war noch zu klein, um Kaiser zu sein. Noch ein Stückchen weiter auf der Himmelsleiter, und bleib stehn.« Sie sprangen in das Seil und wieder hinaus, eine nach der anderen, und wiederholten dabei den Reim. »Das ist nicht richtig«, schrie ich sie an. »Das habe ich als Kind nicht gesungen.« Die Kinder blickten mich mißtrauisch an, wollten es gar nicht wissen. Feindselig ließen sie das Seil hängen. Ich sang den Kindern und Maja vor: »Die Kaiserin von China, geborene Katharina, war noch viel zu klein, um Kaiserin zu sein. Sie stieg auf eine Leiter und immer, immer weiter, und plötzlich blieb sie stehn.« Das Ungarische fühlte sich fremd an auf meiner Zunge. Dann stand ich auf, ging die Treppe hinunter und lief los.
Das Seil drehte sich wieder. Die Mädchen begannen zu singen, in gutem Deutsch, unvertraute Worte, fremde Sätze, vollkommen falsch. Ihre Stimmen waren klar und hoch und schwangen sich wie Vögel von der Erde auf.
8 Das Büro
10. November 1938 Der Polizeichef war sehr höflich und machte für mich einen Termin bei der Gestapo. Auf dem Bürgersteig vor dem Hauptquartier spielten Kinder – hauptsächlich Jungen, die mit zwei zusammengebundenen Holzstücken aufeinander einschlugen. Ich kam kaum die Treppe hinauf. Ich gab meinen Namen und die vereinbarte Zeit beim diensthabenden Wachmann an, und er öffnete das Eisentor, um mich hereinzulassen. Es war alles so ordentlich. Das Eisentor schloß sich klirrend hinter mir. Ein bewaffneter Wachtposten brachte mich einen langen Flur entlang. Überall waren geschlossene Türen. Unsere Schuhe klapperten auf dem Steinboden. Am Ende des Ganges wurde ich in einen kleinen Warteraum geführt. Ein paar Sessel und ein niedriger Tisch mit Zeitschriften standen dort. Ein Mann wartete bereits und knetete seine Hände. Wir warteten schweigend. Keiner von uns sah sich eine Zeitschrift an. Keiner von uns sagte etwas. Wenn wir etwas gesagt hätten, wäre die Welt real geworden, und wir wollten nicht, daß diese Welt real war. Genau zu der angegebenen Zeit, wie ich an der Wanduhr feststellen konnte, wurde ich von einer lächelnden Sekretärin in ein kleines Büro geführt. Es war wie alle Büros überall auf der Welt, mit einem Aktenschrank in der Ecke, einem Telefon auf dem Schreibtisch und Papieren, die sauber in einen Ablagekorb gestapelt waren. »Setzen Sie sich bitte«, sagte Herr Weiss.
Er schenkte mir ein breites Lächeln und wies auf den Stuhl, auf dem ich Platz nehmen sollte. Seine Uniform war frisch gebügelt, seine Stiefel auf Hochglanz poliert. In diesem ordentlichen kleinen Büro sah er größer aus als sonst. Seine Augen waren blauer als sonst. »Herr Weiss«, sagte ich, »ich komme zu Ihnen, um Sie zu bitten, Ihre Meinung zu ändern.« Herr Weiss wurde weder ärgerlich noch erregt. Er blieb völlig unbewegt. Er bestätigte noch nicht einmal, daß er den Befehl gegeben hatte, meine Kinder, meine Familie fortbringen zu lassen. Er wollte mich jedoch wissen lassen, daß er rechtlich nicht zu belangen sei, und wenn er solch einen Befehl gegeben hätte, dann hätte keine Macht der Welt ihn außer Kraft setzen können. Keine. Durfte ich erfahren, wo sie waren? Nein. Durfte ich ihnen eine Nachricht senden? Nein. Konnte ich sie besuchen? Nein. Gab es sonst etwas, was ich tun konnte, um die Situation zu verbessern? Ja. Und das erläuterte Herr Weiss mir in den nächsten zehn Minuten. In Wahrheit hatte gar nicht Maja mich gerettet. Und noch nicht einmal das Papier, das Habbel an jenem Tag unterschrieben hatte und in dem er bezeugte, daß meine Arbeit im Labor lebenswichtig für das Vaterland sei und ich dem Führer treu ergeben. Herr Weiss machte eine verächtliche Geste mit der Hand, um die absolute Wertlosigkeit dieser Frivolitäten zu unterstreichen. Wenn das als einziges für mich gesprochen hätte, wäre ich mit den anderen ins KZ gebracht worden.
Nein, was mich gerettet hatte, war Herrn Weiss’ Glauben, daß ich bald mit einem handfesteren Beweis meiner Ergebenheit für das Vaterland aufwarten könnte. Eine Zerstörungswaffe – sagen wir, eine neue Art Bombe –, die er dem Führer wie ein stolzer Vater übergeben konnte. »Debye sagt, Sie und Habbel arbeiten an solch einer Waffe. Wird sie möglich sein?« Einen Moment lang überlegte ich, Herrn Weiss mit seiner eigenen Spieltaktik zu schlagen. Ich konnte selbst ein Ultimatum stellen: Wenn er mir nicht sofort meine Kinder zurückgab, würde ich nie mehr einen Fuß in dieses oder ein anderes Labor setzen. Aber er hielt alle Trümpfe in der Hand. Was hatte ich wirklich, um ihm zu drohen? Wenn ich die Arbeit nicht tat, würden Habbel oder Debye sie tun – Tausende von Leuten, die freudig mit dem Dritten Reich zusammenarbeiten würden, würden sie tun –, und Herr Weiss konnte es sich leisten, darauf zu warten, daß sie letztendlich auch ohne mich sehr wohl eine Bombe konstruieren konnten. Theorien sind schließlich nur Theorien, aber Tina und Paul waren meine Kinder. »Ja«, sagte ich, »eine solche Waffe ist möglich.« Wenn es mir gelang, diese neue Art von Bombe wahr zu machen, räumte Herr Weiss ein, dann könne er es arrangieren, daß ich meine Kinder wiedersah. »Und Josef? Und Kätzchen?« Er zuckte mit den Schultern. »Diese Angelegenheit wurde mir bereits aus den Händen genommen.« Ich biß mir heftig auf die Zunge, um nicht zu schreien, um nicht meinen Schmerz laut hinauszuweinen. Wenn ich nicht auf Herrn Weiss’ hübschem Bürostuhl gesessen hätte, wäre ich umgefallen. Josef war weg. Er war weg. All die Jahre war er bei mir gewesen, und ich hatte mich so sehr auf ihn verlassen, daß ich kaum Worte gefunden hatte, um ihm zu sagen, wieviel
er mir bedeutete. Ich hatte nie gedacht, daß ich die Worte brauchen würde. Ich hatte es immer als selbstverständlich angesehen, daß er es wußte. Und jetzt würde ich es ihm nie mehr sagen können. Ich stammelte zögernd, Blutgeschmack in meinem Mund, suchte nach den Worten, die ich jetzt brauchte, den richtigen Worten. »Der Erfolg ist nicht garantiert, Herr Weiss. Es handelt sich hier um theoretische Physik. Und wir sind erst am Anfang.« Herr Weiss gestand mir dies zu. Aber es war nicht sein Problem. Wenn ich die versprochene Ware nicht lieferte, würde ich nicht nur auch im KZ enden, sondern ich würde auch Tina und Paul mit Sicherheit nie mehr wiedersehen. »Herr Weiss«, sagte ich, stand auf und schüttelte seine Hand, »ich werde tun, was ich kann.« Ich dankte ihm, daß er mir seine Zeit geopfert hatte, und schloß behutsam die Tür hinter mir. Ich stellte mir vor, wie sein Gehirn aus seinem Schädel quoll, wie rotes Blut und graue Hirnmasse sich auf dem Pflaster der Straße miteinander vermengten. Ich würde es selbst tun. Ich würde ihn eigenhändig, mit meinen bloßen Händen umbringen, wenn ich nur die Gelegenheit dazu bekäme. Dann war ich durch den Flur, durch das Eisentor und wieder an der frischen Luft. Ich wartete, bis ich um die Ecke war, bevor ich mein Taschentuch herauszog und mir die Tränen abwischte. Wenn Herr Weiss mich beobachtete, wollte ich nicht, daß er das Ausmaß seines Sieges sah. Das Taschentuch roch eigentlich nicht nach Schwefel, aber es hätte genausogut sein können. Alles in allem hatte mein Pakt mit dem Teufel weniger als eine Viertelstunde gedauert. Ich war genau dort, wo Herr Weiss mich haben wollte. Mich interessierte nur, daß ich meine Kinder zurückbekam. Dafür
hätte ich alles getan. Alles. Wenn ich sie nur unter der Bedingung zurückbekommen hätte, daß ich mit dieser Arbeit aufhörte, daß ich mich nie mehr mit Physik beschäftigte, dann hätte ich auch das gemacht, ohne einen Moment lang zu zögern. Ich wollte nie mehr ein Labor betreten. Meine Rache spielte keine Rolle mehr. Es spielte keine Rolle mehr, meinen Vater zu zerschmettern. Nur noch Tina und Paul spielten eine Rolle. Sie zurückzubekommen. Und um sie zurückzubekommen, mußte ich weiterarbeiten. Weiter das tun, was Herr Weiss von mir wollte.
Im Haus, in dem leeren Haus in der Oberlandstraße, wartete sie auf mich. »Du hast mich gewarnt, Maja, nicht wahr?« sagte ich. »Du hast mir gesagt, wir müßten fortgehen, und ich habe nicht auf dich gehört.« Mein Kopf lag an ihrer Schulter, und sie strich darüber. »Wie hatte ich nur so blind sein können? Wie konnte ich nur so dumm sein?« »Schsch, mein Schatz.« »Was hat Josef ihnen getan?« »Nichts, mein Liebling, das weißt du.« »Kätzchen! Sie hat nie jemandem etwas zuleide getan.« »Niemandem.« »Dann bin ich wirklich an allem schuld, oder? Oder?« Sie blieb bei mir, bis ich mich in den Schlaf geweint hatte.
Ich schlief in den Betten der Kinder. Nacheinander. Erst in Pauls, dann in Tinas. Ihr Geruch hing noch warm in den Laken und Kopfkissen, und ich blieb ihnen so nahe, tauchte darin ein, trank ihren Duft. Der süßliche rosa Duft meiner Tochter, der
rauhe Meeresgeruch meines Sohnes. In der Nacht preßte ich die Kissen fest und liebevoll an mich, drückte die Decken an mein Gesicht und roch an ihnen, zog sie zu mir zurück, meine Kinder, meine verlorenen Lieben, das einzige, was eine Rolle spielte.
11. November 1938 Ich wollte nicht aus ihren Betten. Erst das eine, dann das andere. »Geh weg«, sagte ich zu Maja, als sie am Morgen in Tinas Zimmer kam. »Geh weg.« Ich drehte dem Licht meinen Rücken zu, und Tinas Puppen lagen alle um mich herum. Man hört Leute sagen, daß der und der einen guten Ortssinn hat. Wenn sie das sagen, reden sie im allgemeinen über die erstaunliche Tatsache, daß diese glückliche Person weiß, ob man zum Markt rechts oder links abbiegen muß, ob man an einer unbeschilderten Kreuzung auf der Landstraße in östlicher oder westlicher Richtung fahren muß. Aber es gibt unsichtbare Kräfte, die das Universum beherrschen und von denen wir Gebrauch machen, und das ist eine davon. Manchmal wissen Leute, in welcher Richtung Süden ist, nachdem man sie dreißig Meilen mit verbundenen Augen gefahren und in einem dunklen Wald abgesetzt hat. »Du mußt den Weg nach Hause finden«, sagt der abgebrühte Experimentierer, und erstaunlicherweise tun sie das. Hansel und Gretel konnten es in ihrer Unfehlbarkeit auch. Was auch immer das für ein Talent ist, es wird auch eingesetzt, um Menschen zu finden. So sicher, wie die Nadel zum Pol ausschwingt, so sicher, wie der Kompaß den magnetischen Norden findet, so
unausweichlich konnte ich auf meine Kinder zuschwingen. Ich lag den ganzen Tag abwechselnd in ihren Betten und fand sie mit den Fingerspitzen. Ich wußte, daß sie irgendwo noch am Leben waren.
Am Abend brachte Maja mir auf einem Tablett Tee. Der gebutterte Toast sah sauer und platt aus. »Wenn ich kooperiere«, sagte ich zu Maja, »dann kooperiere ich mit der falschen Seite, nicht wahr?« »Ja«, erwiderte sie. »Wenn ich aber nicht kooperiere, dann sehe ich sie nie wieder.« »Ja«, erwiderte sie. »Welche Wahl habe ich dann?«
9. Dezember 1938 Wir entwarfen einen Reaktor, indem wir Karbon als Moderator verwendeten – nur ein Weg von vielen, um Uran anzureichern. Größe und Form waren besonders wichtig. Wir mußten nur genug Uran und Karbon auf genau die richtige Art zusammenbringen, um den Spaltungsprozeß einzuleiten. Meine größte Sorge war, ob dieser Prozeß sich zu einer Kettenreaktion entwickeln konnte. Die Messungen, die Habbel und ich anstellten, zeigten, daß wir bei jeder Spaltung zwischen drei und vier Neutronen bekamen, also hielt ich es für möglich. Und wenn es funktionierte, dann zeigten die Berechnungen, daß die Kettenreaktion im Bruchteil einer Sekunde stattfinden würde. Genug Uran jedoch – das war das Problem.
»Wir brauchen viel mehr, als das, was wir haben«, sagte ich und blickte über die Berechnungen. »Bestimmt«, sagte Habbel. Er saß auf der Kante des Tapeziertisches, auf dem einzigen Fleck, der nicht mit Papieren übersät war. »Wo können wir am besten welches herbekommen?« fragte ich. »Aus den tschechoslowakischen Minen«, entgegnete Habbel. »Aus Belgisch-Kongo.« Mir fiel auf, daß meine Bildung in vieler Hinsicht sehr beschränkt war. »Es muß doch welches mehr in der Nähe geben«, sagte ich. »Kennen Sie jemanden, der Deutschland im Moment Uran verkauft?« fragte er. »Niemanden.« Ich klang genauso niedergeschlagen, wie ich mich fühlte. Alle ließen mich im Stich, einschließlich des Vaterlands. »Es sei denn, wir marschieren in Belgien ein.« Ich hatte niemandem im Labor von Josef und den Kindern erzählt. Ich dachte, wenn ich ihnen erzählte, warum ich so sehr auf diese Arbeit angewiesen war, würde das alles nur noch schlimmer machen. Sie würden sich kümmern, sich Sorgen machen und Mitleid mit mir haben, und die Berechnungen würden darunter leiden. Ich hielt es für das beste, wenn sie sich einfach nur auf die Berechnungen konzentrierten. Wir mußten diese Sache nur richtig hinkriegen, und dann würde ich meine Kinder zurückbekommen. Ich dachte, schlimmstenfalls marschiere ich allein in Belgien ein.
9. Januar 1939 Ich war nicht die einzige, die dem Ganzen auf der Spur war. Kurz vor Weihnachten war Hahns Untersuchung veröffentlicht worden, in der er den Prozeß nuklearer Spaltung in einem Reaktor beschrieb. Die Nachricht hatte sogar uns erreicht. Und wenn wir es schwarz auf weiß gesehen hatten, dann wußte jetzt die ganze Welt, daß Kernspaltung theoretisch möglich war. Mein Geheimnis war an die Öffentlichkeit gedrungen. Ich sah den Bericht aufmerksam durch. Es stand nicht darin, ob eine Kettenreaktion in einem Reaktor oder auch in einer Bombe möglich war. Ich wußte, daß es so war. Ich konnte es an den Zahlen sehen. Es war ganz egal, ob man dazu vielleicht 1000 Kilo reines Karbon, 600 Liter schweres Wasser und 3000 Kilogramm reines Uranoxid brauchte, was ich nicht hatte. Ich wußte, daß es möglich war, also war ich ihnen immer noch voraus. Tagsüber war ich vertieft in meine Berechnungen, mit denen ich die optimale Konfiguration abschätzte, und in die endlose Mathematik, die den Schmerz ausschaltete. Ich arbeitete wie wild, um vorwärtszukommen. Nachts tauchte ich in die Wärme ihrer Betten ein, streckte die Hände nach meinen Kindern aus.
7. Februar 1939 Die Zeit verging immer langsamer. Die Tage schleppten sich dahin, als hätte ich Gewichte an den Füßen. Das Schlimmste war, daß ich nicht wußte, was mit ihnen geschehen war. Ich wußte nicht, ob sie gesund oder krank waren, ob man sie bei einer guten arischen Familie untergebracht hatte, die unglücklicherweise kinderlos
geblieben war und die nichts von ihrer Herkunft wußte, oder ob sie in einem der Lager im Norden waren. Im Labor kratzten wir jedes Uranatom zusammen, dessen wir habhaft werden konnten, aber es war immer noch nicht soviel, wie ich wollte. Das Element gibt es leider nicht als reines Uran, es muß erst gereinigt werden wie Eisen aus Eisenerz, um spaltbar zu werden, und der Klärungsprozeß ging sehr langsam vor sich. Wir hatten nicht die Mittel, um in die volle industrielle Produktion einzusteigen, und ich hatte keine Alternativen.
Und es passierte noch etwas Schlimmeres. Die Betten wurden kälter. »Laß dich nicht vom Kummer überwältigen«, sagte Maja. »Vertrau auf den Herrn.« »Von allen biblischen Ratschlägen, die du mir je gegeben hast, Maja, ist das wohl der nutzloseste.« »Es ist der wahrste.« »Ich will nicht auf den Herrn vertrauen, sondern auf Herrn Weiss. Kann ich ihm trauen, Maja, wenn er sagt, er gibt sie mir zurück?« Sie sah mich nicht an. Ich konnte mich nicht erinnern, daß Maja mir jemals nicht direkt in die Augen gesehen hatte. »Herr Weiss sagt, je schneller du die Arbeit zu seiner Zufriedenheit erledigst, desto schneller wird alles wieder normal werden.« Ich spuckte sie an. Und dann legte ich meinen Kopf an ihre Schulter und weinte, weil ich sonst niemanden hatte, an den ich mich wenden konnte. Ich mußte ihr vertrauen. Ich mußte ihm vertrauen. Ich vermißte Josef so sehr, daß es unerträglich war. Nichts konnte je wieder normal werden, weil ich Josef nicht
wiederbekommen würde. Ich wußte das, und Maja wußte das, ganz gleich, wie viele Gebete sie sagte. Selbst Herr Weiss wußte das.
13. März 1939 Die Ergebnisse blieben Stückwerk. Der Entwurf des Uranstabes war völlig unbrauchbar, und ich gab Debye die Schuld daran. Er hatte letztendlich die Verantwortung dafür. Ich durfte dem Ding nicht nahe kommen. Unter seiner Anleitung wurde der Entwurf des Stabes immer runder und kompakter. Ich versuchte, ihn länger zu ziehen, so wie ich in den Nächten meine Fingerspitzen ausstreckte, als ob ich an den Enden der Betten noch meine Kinder finden könnte. Wenn man jedoch das Material zu sehr streckt, dann fällt alles auseinander. Ich konnte nicht sehen, wie es richtig war. Noch nicht einmal auf dem Papier und daher in der Praxis schon gar nicht. Und Debye konnte es auch nicht sehen: Letztendlich war er noch mehr als ich ein theoretischer Physiker. Er konnte noch nicht einmal seine Schnürsenkel allein zubinden. Später am Tag kam Herr Weiss zu einem seiner gelegentlichen Besuche vorbei, und wir lächelten alle und sagten, die Arbeit ginge erwartungsgemäß voran. Ich beschloß jedoch, ihn darauf hinzuweisen, daß die ständige Knappheit an Uran langsam ein größeres Problem darstellte. »Ich denke, wir können mehr bekommen«, sagte Herr Weiss. Er inspizierte seine Fingernägel. »Die Joachimsthal-Minen in der Tschechoslowakei. Ja, das könnte möglich sein.« »Hoffentlich«, antwortete ich. »Alles ist möglich«, sagte Herr Weiss.
Ich wußte, daß das im Universum als Ganzem stimmte. Im Dritten Reich jedoch stimmte es nur insofern, als Herr Weiss es zuließ, als Herr Weiss es wahr werden ließ. Als ich Maja an diesem Abend die Probleme erklärte, war sie davon, wie die Dinge sich entwickelt hatten, faszinierter als von irgend etwas anderem. Es faszinierte sie, daß die Strukturen bestimmter Isotopen unter den richtigen Umständen Explosionen verursachen konnten. »Hast du wirklich geglaubt, Helga«, sagte sie, während sie sich die Lippen schminkte, »daß das Universum so entstanden sein könnte? Ich nicht.« »Ich glaube, das Universum ist sehr viel seltsamer, als du dir jemals vorstellen kannst«, sagte ich und dachte daran, wie Elektronen in der Quantenmechanik in einem Dunst von Ungewißheit verschwinden konnten. »Und es ist bestimmt noch viel schwieriger, als ich es mir je vorstellen konnte.« »Schwierigkeiten«, sagte sie, »darüber weiß ich alles. Was brauchst du noch mal, hast du gesagt?« Ich betrachtete Maja genau. Die glänzenden Strähnen in ihrem Nacken, ein Glas Eiswein in der Hand, die Seide ihres Kleides. Ihre Schönheit. Es war kein besonders praktisches Werkzeug gegen die Wehrmacht, aber sie tat ihr Bestes.
29. April 1939 Zwei entscheidende Messungen – die Diffusion von Neutronen im Gitter und die Anzahl der Neutronen, die während der Spaltung freigesetzt wurden – waren danebengegangen. Als ich die Berichte noch einmal durchsah, konnte ich das ganz deutlich erkennen, und mehr noch, ich konnte erkennen, daß es in einem frühen Stadium passiert war. Ich war wütend. Niemand schien auch nur im mindesten überrascht zu sein.
Debye zuckte mit den Schultern. Habbel entschuldigte sich ständig. Niemand erwähnte die schiefgegangenen Messungen in seinem Bericht an Herrn Weiss, weder schriftlich noch mündlich. Es lag absolut in niemandes Interesse zuzugeben, daß wir Fehler gemacht hatten. Aber irgendwo gab es einen Fehler. Ich sah immer wieder meine Papiere durch, so lange, bis meine Augen sich nicht mehr konzentrieren konnten und schon wieder eine Nacht vorbei war und schon wieder ein neuer Tag begann. Immer wenn ich an Josef dachte, fühlte ich physische Schmerzen. Immer wenn ich an die Kinder dachte, machte der Schmerz sich in Tränen Luft. Und Tränen würden ihnen nicht guttun, überhaupt nicht gut. Um nicht weinen zu müssen, ging ich immer wieder die Gleichungen durch und suchte nach Antworten. Immer wieder die Gleichungen, um die Träume abzuwehren. Immer wieder die Gleichungen, weil ich sonst nichts tun konnte. Am nächsten Tag begannen wir im Labor wieder von vorn.
14. Juli 1939 Die Lage wurde immer schlimmer. Wir hatten herausgefunden, daß nur eine Art des Metalls – Uran-235 – eine Kettenreaktion aushalten konnte. Nur die U-235-Nuklei waren leicht zu spalten, aber sie bildeten nur einen Teil von dreihundert Bestandteilen des Metalls. Die U-238-Nuklei, aus denen Uran zum überwiegenden Teil bestand, absorbierten für gewöhnlich einfach das, womit sie beschossen wurden. Deshalb waren auch meine Berechnungen so ungenau gewesen. Ein Schritt vorwärts, aber zwei Schritte zurück. Die Vorstellung, einen Block aus U-23 5 zu machen, der groß
genug war, um eine Kettenreaktion auszuhalten, war noch unvorstellbarer, als genügend ordinäres Wald- und Wiesenuran zu bekommen, mit dem wir experimentieren konnten. Ich würde 100 Kilogramm U-235 brauchen, vermutete ich aufgrund meiner Zahlen, um genügend Masse zu haben. Wenn ich über weniger verfügte, gäbe es nicht genügend Neutronenkollisionen, um die Kettenreaktion einzuleiten, das meiste würde einfach über das Metall hinaus in den Raum verpuffen. Und plötzlich war Uran auf der ganzen Welt knapp, trotz allen Versprechungen von Herrn Weiss. Das allein sagte mir, daß wir nicht die einzigen waren, die an diesem besonderen Problem arbeiteten und versuchten, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Jetzt war es wichtig, dies als erste zu erreichen. Wenn mir das nicht gelänge, hätte Herr Weiss nie mehr Anlaß, nett zu Maja oder zu mir zu sein. »Herr Habbel«, schmeichelte ich, »was wissen Sie über Isotopen-Trennung?« »Ich glaube, Fräulein Hansbach, um soviel zu produzieren, wie wir brauchen, reicht die industrielle Kapazität zur Zeit nicht aus.« Ich wußte, was er meinte. Die Fabriken hatten alle Hände voll damit zu tun, Panzer und Waffen zu produzieren, und hatten keine Zeit, um seltene Isotope zu trennen. »Gasförmige Diffusion?« sagte ich. »Womit?« Ich hatte die Tatsache nicht bedacht, daß Uran ein Metall war und kein Gas, und deshalb lautete meine Antwort: »Uranfluorid?« Habbel seufzte. »Sie sprechen von etwas, das so korrodierend ist, daß bisher noch niemand eine Leitung oder eine Pumpe entwickelt hat, geschweige denn eine Diffusionsbarriere, die ihm standhalten könnte.« »Ach.« Ich war Physikerin. Von Chemie verstand ich nichts.
»Alles müßte von Anfang an ganz neu entwickelt werden, und selbst dann wäre die Größe des Unternehmens, das Sie bräuchten, um nur ein paar Pfund Uran zu produzieren, gigantisch.« »Wie gigantisch?« »Zehntausende erfahrener Arbeiter.« Ich seufzte. Die meisten erfahrenen Arbeiter kämpften im Krieg. »Also keine Chance, hier im Labor genug davon herzustellen?« »Überhaupt keine.« Natürlich war mir dunkel bewußt, daß ich, selbst wenn ich genug Uran-235 hatte, wohl kaum eine ausreichende Menge sammeln und sie einfach herumliegen lassen konnte – sie würde explodieren –, aber ich mußte über das Problem, etwas am richtigen Ort und zur richtigen Zeit explodieren zu lassen, das einigen tausend Tonnen TNT entsprach, später nachdenken. Im Moment lag das Problem in der Verfügbarkeit, und darüber machte ich mir Gedanken. Ich versuchte noch einen Vorstoß. »Was ist mit dem Zyklotron?« »Das ist über das Experimentierstadium noch nicht hinausgekommen.« Das war die Bestätigung, die ich brauchte. Wenn ich geglaubt hätte, daß die industrielle Produktion meines Uran-Isotops möglich wäre, hätte ich darum gebeten, sofort damit anzufangen. Ich hätte keine Zeit mit albernen Fragen verschwendet, ich hätte mich sofort daran gemacht, Habbel davon zu überzeugen, daß das eine gute Idee war. Und Habbel hielt alles, was im Sinne des Vaterlands geschah, für eine gute Idee. Aber die industrielle Produktion war nicht möglich. Und ohne industrielle Produktion gab es auf der ganzen Welt keine
Möglichkeit, wie ich an genügend U-235 herankommen konnte. Und wenn ich nicht genug U-235 hatte, würde sich meine vielgerühmte Kettenreaktion in nichts auflösen. Mein ganzes Leben bröckelte mir unter den Händen auseinander.
1. September 1939 Ich wachte auf, und die Betten waren kalt. Ich hatte sie verloren. Nach diesem Morgen ging ich nie wieder zurück in das Haus in der Oberlandstraße. Ich gab Maja die Schlüssel, und sie versperrte die Tür. Sie nahm etwas Geld, ein paar Kleider und ein paar Dinge für die Kinder mit, und wir überließen das Haus seinem Schicksal. Wir mieteten uns wieder Zimmer, in einem anderen Stadtteil, die nicht annähernd so komfortabel waren, aber etwas anderes konnte ich nicht ertragen. Ich wußte, wenn ich jemals wieder die roten Stufen hochgehen würde, Tinas rosa angestrichenes Zimmer oder Pauls Muschelsammlung sehen würde, würde ich so heftig und bitterlich in Tränen ausbrechen, daß ich mich nie wieder auf ein einziges Stück atomarer Struktur würde konzentrieren können. Und irgendwo in der Struktur des Atoms lag der Schlüssel. Ich mußte ihn nur finden.
19. September 1939 Innerhalb weniger Tage, nachdem der Krieg ausgebrochen war, verschwand Debye. Habbel und ich zuckten mit den Schultern. Wir hatten gelernt, keine Fragen zu stellen. Dann
verschwand Herr Vahlen und wurde von einem energischen jungen Mann aus dem Reichsministerium für Bewaffnung und Munition ersetzt, der uns kurz inspizierte und uns enthusiastisch mit dem Hitlergruß grüßte. Wir fragten ihn nach Isotopen, und er ging wieder. Abgesehen davon blieben wir ungestört.
21. November 1939 Langsam kamen die Isotopen, zwar nur in kleinen Mengen, aber genug, um weiterarbeiten zu können. »Und das, obwohl Krieg ist«, sagte ich zu Habbel. »Es ist erstaunlich.« »Helga«, entgegnete er, »das kommt daher, weil wir Krieg haben.« Wahrscheinlich war ich der einzige Mensch in Europa, der sich darüber freute, daß der Krieg begonnen hatte. Die praktischen Probleme des Zusammenbaus würden riesig sein. Ich arbeitete immer noch größtenteils theoretisch, da wir zuwenig Material zum Experimentieren hatten, aber mir war aufgefallen, daß es sehr rasch passieren mußte, wenn wir schließlich zwei unterkritische Teile Uran zu einer kritischen Masse zusammenbrachten. Waren wir zu langsam und entfernte sich auch nur ein Neutron vom anderen, so konnte das eine lokalisierte nukleare Reaktion bei dem anderen Stück hervorrufen, und dann flöge das ganze Ding in die Luft, und die Hauptreaktion konnte nicht stattfinden. »Wenn nur…« begann Habbel. Ich wußte, was er sagen wollte, und ließ ihn nicht aussprechen. Er wollte sagen: »Wenn nur nicht alle jüdischen Wissenschaftler verschwunden wären. Wir könnten ihre Erfahrung jetzt brauchen.«
Er hatte natürlich recht. Die meisten Leute, die uns hätten helfen können, waren schon vor langer Zeit nach Amerika gegangen. Aber wir waren gute Deutsche. Wir mußten es allein schaffen. Das Gegenteil zuzugeben wäre Verrat gewesen. Ich war nicht in der Stimmung für Verrat, ich hatte Schmerzen. Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand waren dick und geschwollen, die Haut darüber wurde schon weiß und drohte aufzuplatzen. Der Druck war unerträglich und der Schmerz heftig. Offenbar hatte ich mir, da ich immer an der Haut um meine Fingernägel biß, eine Infektion eingehandelt. Nur eine Infektion. Eine ordinäre Krankheit in einem ordinären Krieg. Ich bekam bereits Fieber, Schweiß stand mir im Nacken und auf der Stirn. Ich hatte jetzt ein ganzes Jahr ohne meine Kinder gelebt, und eine mögliche Niederlage zuzugeben würde bedeuten, sie zu verraten. Das würde ich nicht zulassen. Ich mußte mich konzentrieren. Ich mußte diese Zeit durchstehen. Hier. Jetzt. Nicht immer wieder die Zukunft in verschiedenen Formen leben und mich damit quälen, was passieren könnte. Auch nicht immer wieder die Vergangenheit durchleben, obwohl es mir einen gewissen Trost gegeben hätte, das Rad über den niedrigen Chancen und den hohen Gewinnen ausrollen zu lassen. In jeder Sekunde war diese Arbeit das, was ich brauchte, um uns alle am Leben zu halten. Nicht für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich meine Augen von meinem Ziel abwenden. Ich zog ein Stück Haut neben meinem Daumennagel ab und sah zu, wie der Eiter herausrann, weiß und langsam. Wenn ich nicht bald etwas unternahm, konnte sich die Infektion Gott weiß wie weit ausbreiten. Wenn ich das zuließ, mußte ich meine Arbeit vollständig abbrechen.
Ich nahm Habbels Schere, hob meinen Daumennagel an, und bevor ich noch darüber nachdenken konnte, stach ich so fest zu, wie ich konnte. Dann wandte ich mich dem Zeigefinger zu. Ich handelte so schnell, daß der Schmerz in meinem Daumen sich gerade erst in die bewußten Teile meines Gehirns auszubreiten begann, als ich mit dem Zeigefinger fertig war. Und dann kehrte die Zeit zurück. Die Schmerzen brachten mich fast um den Verstand. Blut und heiße Flüssigkeit rannen in Strömen über meine Hand. Sie wurde leichter, als das Gift herauslief, aber der Schmerz hielt an. Da nahm Habbel meine Hand, tauchte sie in heißes Salzwasser, und für den Rest des Tages lief das Gift aus mir heraus, Zelle für Zelle.
24. Dezember 1939 An Weihnachten war meine Hand soweit geheilt, daß ich wieder einen Stift halten konnte. Aber selbst das machte mich nicht optimistischer als sonst. Was die Waffe anging, so hatte ich nichts erreicht. Aber während Maja in der Kirche war, arbeitete ich an meinen Berechnungen. Sie waren das einzige, was zählte. Wenn ich mich auch nur einen Moment davon ablenken ließ, würde ich immer wieder daran denken müssen, daß Weihnachten war und daß die Kinder nicht da waren. »Warum habe ich sie nicht fortgehen lassen?« fragte ich Maja, als sie spät in der Nacht, lange nach der Mitternachtsmette, mit vor Kälte hellroten Wangen nach Hause kam. »Warum habe ich nicht auf Josef gehört und sie einfach gehen lassen?« Mein ganzes Leben lang hatte ich Fragen gestellt, und das war die schlimmste von allen.
1. Februar 1940 Man hatte uns bemerkt. Habbel und ich wurden frühmorgens ohne vorherige Benachrichtigung ins Forschungsbüro der Wehrmacht bestellt. Dort trafen wir auf einen Mann in Anzug und Krawatte und mit einem verträumten Ausdruck im Gesicht. »Man hat mir gesagt, ich solle die Möglichkeit der technischen Ausbeutung von Atomenergie überprüfen«, sagte er. »Ich denke, da ist etwas dran, meinen Sie nicht auch?« »Vielleicht«, sagte ich. »Möglicherweise«, sagte Habbel. Der verträumte Mann nahm ein paar Papiere von seinem Schreibtisch, die ich als meine erkannte. »Sie haben Karbon als Moderator versucht, oder?« »Ja.« »Paraffin?« »Nein.« »Schweres Wasser?« »Es gibt nicht genug«, sagte ich. »Es wird genug geben«, sagte der Mann. »Ich habe gerade den Bau einer Fabrik für schweres Wasser empfohlen.« Meine Neugier gewann die Oberhand. »Wer sind Sie?« fragte ich. »Heisenberg«, sagte der Mann, stand auf und reichte mir die Hand. »Ich bin jetzt verantwortlich.« »Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich und lächelte. Über Lächeln wußte ich alles. Außerdem war ich ehrlich erfreut, ihn kennenzulernen. Jetzt erkannte ich ihn auch. Ich hatte ihn schon einmal aus der Ferne gesehen, bei einem Vortrag, den er über Relativität gehalten hatte. Es war eine faszinierende Erfahrung gewesen, weil er über das Thema nur unter der Bedingung hatte sprechen dürfen, daß er den Namen
meines Vaters nicht erwähnte. Es war eine gediegene Veranstaltung gewesen. Hinterher hatte ich ihm geschrieben – anonym natürlich –, ihm zu seinem Vortrag gratuliert und ihn auf einen kleinen Fehler in seinen Berechnungen hingewiesen. Wenn es um Relativität ging, war ich immer noch unschlagbar. Heisenberg wußte über Elektronen sogar mehr als ich. Nicht nur in der Theorie – ich schmeichelte ihm, indem ich seinen grundlegenden Aufsatz von 1927 über die Welleneigenschaft des Elektrons erwähnte, bis sogar ich das Gefühl hatte, zu weit zu gehen –, sondern auch in der Praxis. Er war ihrer wirklichen Natur nähergekommen als irgend jemand vor ihm. Wenn ich ihn auf meine Seite bringen konnte, würden sich die Dinge vielleicht ein wenig schneller entwickeln. »Sie hatten interessante Ergebnisse«, sagte er, während er die Papiere überflog. »Ziemlich«, antwortete ich. Und ich erzählte ihm von dem Entwurf des Reaktors und dem Mangel an Uran und den endlosen Berechnungen. Von einer Kettenreaktion sagte ich kein Wort. »Wir bauen ein spezielles Labor für alle Spaltungsexperimente«, sagte er. Ich blickte ihn überrascht an. »Oh, ja, es gibt noch andere«, sagte er. »Hier, und in Leipzig. Und Hamburg. Wir nennen euch den ›Uran-Club‹.« Wir standen alle so wenig miteinander in Verbindung, daß wir kaum wußten, wieweit die einzelnen waren. »Wieweit Sie sind, habe ich gemerkt, als wir in einer Woche drei unterschiedliche Anfragen für 1000 Tonnen Uranoxid bekamen.« »Warum?« »Weil es zu dieser Zeit nur 150 Tonnen von dem Zeug in ganz Deutschland gab. Da mußte man ja aufmerksam werden.« Ich gab Habbel die Schuld daran. Er hätte das wissen müssen.
»Sie verstehen doch, Fräulein Hansbach, daß wir jetzt zusammenarbeiten müssen, wo Deutschland im Krieg ist, oder?« »Vollkommen«, sagte ich. Habbel brachte ein Nicken zustande. »Dann bleiben wir in Kontakt, nicht wahr?« Im Weggehen sah ich, wie er das Wort »Geheim« auf die gestohlenen Papiere stempelte. Wir gingen über die Straße zurück in unseren Keller. »Wenn wir alle zusammenarbeiten«, sagte ich zu Habbel, »warum stempelt er dann auf alles ›Geheim‹?« »Ein Speziallabor«, sagte Habbel, »ein Industrieunternehmen für schweres Wasser.« Er war außer sich vor Aufregung. Ich hingegen war mißtrauisch. Und mein Mißtrauen löste sich auch nicht auf, als wir entdeckten, daß das Speziallabor unter dem Institut für Biologie feingerichtet wurde und, um Neugierige fernzuhalten, eine Tür mit der Aufschrift »Virus-Labor« bekam.
19. November 1940 Im Virus-Labor lieferte der Prototyp unseres Reaktors endlich nützliche Informationen. Die Zeitspanne, in der das spaltbare Material für die Bombe zusammengebracht und gezündet werden mußte, wurde aus meinen Berechnungen deutlicher. Habbel sah sie lobend an. »Eine Millionstelsekunde«, sagte er. »Das stimmt.« »Die Spezifikationen müssen also wirklich äußerst präzise sein.« »Dafür ist die deutsche Technik in der ganzen Welt berühmt«, entgegnete ich.
Habbel sah mich an. »Ich wollte damit nicht sagen, daß unsere Arbeiter unfähig sind…« »Nein, das weiß ich. Aber seien Sie vorsichtig. Sagen Sie nichts über deutsche Arbeiter, wenn wir es Heisenberg erzählen.« Ich hatte den Verdacht, daß Herr Weiss von Heisenberg wie von Maja über das Projekt auf dem laufenden gehalten wurde, war jedoch nie ganz sicher, wie viele Informationen wirklich zu ihm gelangten. Ich fütterte weiterhin die kleinen Fortschritte, meine kleinen Erfolge, in das System ein, aber es kam nie etwas zurück. Ich hätte gern etwas gehabt: einen Brief, eine Haarlocke, irgend etwas, was mir bewies, daß sie noch am Leben waren. Obwohl ich immer noch glaubte, daß Paul und Tina irgendwo am Leben waren, hatte ich nur meinen Glauben als Mutter, um weiterzumachen. An den meisten Tagen, wenn ich an sie dachte, und ich dachte an jedem einzelnen Tag an sie, stellte ich sie mir irgendwo bei einer anderen Familie vor. Ich sah sie beim Frühstück. Paul in einer sauberen braunen Schuluniform. Tina mit zurückgekämmtem Haar trug vielleicht eine Schürze und half der Hausfrau, den Küchenboden aufzuwischen, oder streute Krumen in den Garten für die Vögel, wie ihre Großmutter, Josefs Mutter in Wien, es immer getan hatte. Es war kein unglückliches Bild. In diesem Bild hatten beide Kinder mich schon lange vergessen. Es war der Glaube einer Mutter. Und wir wissen alle, wie sehr Glaube uns täuschen kann.
22. Dezember 1940 Maja hatte Gesichtsübungen entdeckt und verbrachte jeden zweiten Tag fünf Minuten damit, in den Spiegel zu starren und
dabei ihre Nase krauszuziehen und ihre Augenbrauen einzeln zu heben. An der Wand hing eine grauenhafte Tafel, auf der dargestellt war, wie das menschliche Gesicht ohne die schützende Hautschicht aussehen würde. Jeder Muskel war mit seinem medizinischen Namen bezeichnet. »Orbicularis oculi«, las ich laut vor und zog eine Grimasse. »Sternocleidomastoideus, der Kopfwender.« »Falten verschwinden«, sagte Maja vertrauensvoll und hob ihren rechten orbicularis oculi einen Millimeter höher als den linken. »Ebenso Doppelkinn und Hängebacken.« »Sei nicht albern«, sagte ich. »Überleg doch mal«, erwiderte sie, »wenn du deine Muskeln nicht mehr bewegst, sitzen sie einfach da und werden immer länger, bis sie eines Tages zusammenbrechen.« »Aber wenn du die Sache rational betrachtest, meine Liebe, nach den Gesetzen der Physik…« »Die Gesetze der Physik.« Maja lachte. »Genau damit habe ich es hier zu tun. Schwerkraft. Und wie dein Gesicht dir letztendlich bis auf den Hals fällt.«
Durch das Leben mit Maja kam mir mein ganzes Leben mit Josef und den Kindern wie ein Traum vor. Wenn ich meine Augen schloß und ihren Kochgeräuschen zuhörte, sie in unserem gemieteten Zimmer beim Stopfen summen hörte, ihr zusah, wie sie sich das Gesicht puderte und ihre schwarze Patenthandtasche schloß, um auszugehen, konnte ich mir beinahe vorstellen, daß alles so wie früher war, wie zu der Zeit, als ich keine anderen Sorgen hatte, als eine Theorie von Zeit und Raum zu entwickeln und Rache an meinem Vater zu nehmen. Das alles schien jetzt so weit entfernt zu sein. Der einzige Mensch, an dem ich mich rächen wollte, war Herr Weiss. Ich
wollte sein Gesicht unter meinen Füßen zerquetschen. Er war die einzige Person, an der ich mich rächen wollte, und er war die einzige Person, an die ich nicht herankam.
8. Dezember 1941 Meine Kinder waren jetzt seit drei Jahren verschwunden. Maja hatte durch ihre eigenen Kanäle lange nach ihnen gesucht, aber sie waren spurlos verschwunden. Keine Geschichte, nicht das kleinste Gerücht gaben einen Hinweis darauf, wo sie sein könnten. Wenn ich jetzt auf der Straße an Paul vorbeiginge, dachte ich, würde ich ihn vielleicht nicht mehr erkennen. Er wäre groß geworden in diesen schnellen Jahren der Kindheit, die einen Menschen so verändern. Seine Haare wären dunkler geworden, sein rundlicher Körper hätte sich gestreckt, und seine Ausdrucksweise wäre mir fremd. Tina, so stellte ich mir vor, würde noch genauso sein wie immer, aber auch das war nur eine Vermutung. Im Labor arbeiteten wir am zweiten Prototyp, aber in diesen neuen Zahlen steckte etwas, das mich störte. Ich zeigte es Habbel. In der Millionstelsekunde, die wir brauchten, würde sich der Kern der Bombe von Metall in Flüssigkeit und dann in Gas verwandeln. Ich hatte versucht, herauszuarbeiten, wie gut die Spaltungsreaktion unter diesen Umständen weitergehen könnte, aber jetzt schien es so, als ob der Hitzeaufbau möglicherweise eine Fusionsreaktion zur Folge haben könnte. Statt daß die Dinge gespalten wurden, würden sie verschmelzen. »Also?« fragte Habbel. »Wenn diese Fusionsreaktion mit Stickstoff stattfindet, haben wir Probleme.«
»Ach.« Ich brauchte Habbel nicht zu erzählen, daß die Atmosphäre zu achtzig Prozent aus Stickstoff bestand. Ich brauchte ihm nicht zu erzählen, daß daher die Möglichkeit bestand, daß eine atomare Explosion die gesamte Erdluft entzündete. Ich konnte an seinem bleichen Gesicht sehen, daß ihm das schon selbst aufgegangen war. »Was werden Sie tun?« fragte er mit blassem Gesicht. »Es Heisenberg nicht sagen«, antwortete ich. »Er wird uns aufhalten.« »Wir würden auch aufgehalten, wenn wir die Erde in Brand setzen würden.« »Das ist nicht sicher«, sagte ich. »Ich muß die Zahlen für den Hitzeverlust durch Strahlung noch einmal durchgehen. Das könnte es ausschalten.« »Könnte?« »Ja, es könnte.« »Sie sagen mir Bescheid, ja?« Ich dachte, wenn sie tot sind, interessiert es mich nicht, ob die ganze Erde brennt. Es interessiert mich nicht.
8. Januar 1942 Der vierte Reaktor – LIV – war größer als die anderen. Eingeschlossen in zwei Aluminiumhalbkugeln, wurde er langsam in einen großen Wassertank gesenkt. Dann wurde die Neutronenquelle, die, wie wir hofften, die Spaltung des Urans im Reaktor auslöste, durch einen Schaft in das Zentrum eingeführt. Dann begann ich mit den Messungen. Kurze Zeit später war klar, daß der Reaktor mehr Neutronen produzierte, als eingeführt worden waren. Ich erlaubte mir ein
kleines Lächeln. Zum ersten Mal auf der Welt konnte man den Beginn einer Kettenreaktion sehen. Ich notierte meine Vermutung, daß wir, wenn wir die Größe des Experiments ungefähr um Faktor fünfzehn steigerten, in der Lage wären, diese Reaktion zu erhalten. Ich präsentierte meine Schlußfolgerungen Heisenberg mit dem Gedanken, daß dieser Erfolg sicher eine Reaktion, ein Wort hervorrufen mußte. Ich hoffte, daß ich vielleicht sogar genug getan hatte, um ihre Rückkehr zu garantieren, obwohl ich eigentlich wußte, daß nur die Waffe selbst Herrn Weiss zufriedenstellen würde. Vom Erfolg angespornt begann ich jedoch, die Größe der Basisstruktur zu berechnen, die ich brauchte, wenn ich aus diesem Ding jemals eine Waffe machen wollte. Ich hatte eine ungefähre Schätzung von der durchschnittlichen theoretischen Distanz, die ein Neutron zurücklegen mußte, bevor es mit einem anderen Atom kollidierte, und daraus leitete ich ab, daß eine Kugel von zwanzig Zentimeter Durchmesser genug Neutronen enthalten könnte, damit die Reaktion erfolgen konnte. Dieses Projekt, das so lange nur Theorie gewesen war, verwandelte sich jetzt langsam in definitive, berechenbare Tatsachen. Heisenberg reagierte jedoch nicht so, wie ich erwartet hatte. »Woher wollen Sie wissen«, fragte er mich, »wann die Reaktion aufhört?« »Ach«, entgegnete ich, »das habe ich bisher noch nicht berechnet.« »Selbst wenn wir einen geeigneten Zünder fänden, wäre es möglich, daß dieses Experiment so zerstörerische Kräfte entwickeln würde, daß Berlin und der größte Teil des Reichs in Schutt und Asche gelegt würden.« »Das liegt nicht in meiner Absicht«, entgegnete ich und versuchte, beruhigend zu klingen.
»Absicht oder nicht«, sagte Heisenberg, »auf jeden Fall besteht die Möglichkeit.« »Aber sie ist nicht wahrscheinlich«, vermutete ich. »Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen«, sagte Heisenberg. »Also werden wir es nicht machen.« Ich war fassungslos. »Aber…« sagte ich. Ich konnte es nicht glauben. Angeblich war er doch auf meiner Seite! »Wir haben hier lediglich die theoretische Möglichkeit einer Bombe bewiesen. Wir waren bisher nicht in der Lage, ernsthaft in die industrielle Produktion zu gehen. Und wenn wir das versuchten, Fräulein Hansbach, wissen Sie, was dann passieren würde? Noch bevor diese Bombe funktionierte, wäre Deutschland besiegt.« »Wieso?« »Denken Sie einmal an die Arbeiter, die wir brauchen. Denken Sie an das Material. Wenn wir unsere Ressourcen so ausbeuten, dann kann das Vaterland keine Panzer und Flugzeuge mehr produzieren.« »Wenn wir Erfolg hätten, bräuchte das Vaterland die Panzer nicht mehr.« »Wir können nicht warten. Deutschland braucht die Panzer jetzt.« Bis jetzt hatte Deutschland den Krieg mit solchem Erfolg geführt, daß niemand außer Herrn Weiss ernsthaft glaubte, das Vaterland könne eines Tages eine solche Bombe brauchen. Das Vaterland kam hervorragend mit den Waffen zurecht, die es bereits hatte. Der Sieg war fast sicher. Doch im Augenblick war das Pendel dabei, in die andere Richtung auszuschlagen. »Ich weiß, daß es schlecht steht, Herr Heisenberg.« Das war verräterisches Geschwätz, und deshalb zögerte ich, bevor ich fortfuhr. Heisenberg unterbrach mich. »Die Lage ist zu gespannt für technische Projekte. Lassen Sie es uns einmal so formulieren.«
»Ja, sicher, aber…« »Es hat keinen Sinn zu widersprechen, Fräulein Hansbach. Ich habe gerade Befehl erhalten, alle technischen Experimente, die länger als ein halbes Jahr dauern, zu unterbinden. Und wie lange würde Ihres dauern?« »Wenn ich nur ein bißchen mehr Zeit zur Verfügung hätte…« »Sie hatten einige Jahre zur Verfügung, Fräulein Hansbach, und Sie sind kaum vorangekommen.« »Aber die Ergebnisse von heute…« »Das sind die Ergebnisse eines kleinen Experiments. Daraus kann man keine Schlußfolgerungen ziehen. Die Alliierten drängen vorwärts. Es wird effizienter für uns alle sein, wenn wir uns auf die Raketenproduktion konzentrieren. Das verspricht rascheren Erfolg. Und den brauchen wir jetzt. Denken Sie über Raketen nach, Fräulein Hansbach, oder arbeiten Sie weiter an der jüdischen Relativitätstheorie. Damit haben Sie doch ursprünglich begonnen, oder?« Die Worte gelangten zu mir wie aus einem anderen Jahrhundert. Die Relativitätstheorie hatte ich schon seit langem hinter mir gelassen. Angesichts der Ereignisse kam mir die Relativität vor wie die unwichtigste Theorie, die jemals aufgestellt worden war.
20. Mai 1942 Wir sollten aufgelöst werden. Es war eine direkte Anweisung vom Führer. Alles, die Arbeit – unser neues Labor, die endlosen Berechnungen –, alles umsonst. Ich war taub bis in die Fingerspitzen. Wenn ich meine Hände zusammenpreßte, wie ich es tat, als ich die Nachricht erfuhr, sah man die Narben von der Infektion deutlich wie dünne Silberlinien. Habbel wurde anderweitig zugewiesen. Heisenberg schlug mir vor,
mich ebenfalls in die dunkle Provinz Deutschlands zurückzuziehen, wo Hitlers Rachewaffen entstehen sollten. Habbel war ganz aufgeregt. »Denken Sie nur, Fräulein Hansbach. Eine raketengetriebene, fliegende Bombe!« Die Tatsache, daß eine raketengetriebene Bombe weiter und schneller fliegen müßte als alles andere bisher und daher genauso theoretisch war wie meine Bombe, entging ihm völlig. Er ging mit der gleichen Begeisterung daran wie ein Kind an ein neues Spielzeug. In den nächsten zwei Wochen, bis seine Transitpapiere kamen, redete Habbel nur noch von Toleranzlevels, Führungssystemen, die die Krümmung der Erde berücksichtigten, und von der noch jungen Wissenschaft der Elektronik. Zwei Wochen lang gab ich vor, interessiert zu sein, tat sogar so, als käme ich mit ihm. Ich wartete darauf, daß Herr Weiss anrief und mir sagte, was er tun würde. Aber es herrschte Schweigen. Selbst Maja hatte ihn nicht gesehen. »Möchten Sie Ihre Unterlagen nicht mitnehmen, Fräulein Hansbach?« Habbel sah, wie ich sie in den Verbrennungsofen stopfte. »Nein«, entgegnete ich. Ich war zu sehr damit beschäftigt, sie hineinzustopfen, als daß ich ihm erklären konnte, daß ich sie nicht brauchte, daß das, was darauf stand, mir so klar, offensichtlich und unvergeßlich war wie mein eigener Name. »Ich trinke aber gern eine Tasse Tee, wenn Sie welchen machen.« Habbel lächelte, der gute und treue Diener, und verschwand in die Küche, um dort Wissenschaft zu betreiben. Ich sah zu, wie ein weiterer Stapel Papiere an den Kanten braun wurde und zerfiel. Diese Dinge waren nur für andere geschrieben worden, um zu erklären, was ich sah. Für mich existierte das, was diese Papiere enthielten, als strahlend klares Bild in meinem Kopf. Es stand nichts darin, was ich nicht
mitnehmen konnte. Obendrein hatte ich noch Heisenbergs Schreibtisch aufgeräumt und auch von Habbel ein paar wichtige Papiere genommen. Wenn dieses Projekt zu Ende sein sollte, wollte ich nicht, daß jemand anders diese Informationen in die Hand bekam. Wenn ich keine Atombombe machen durfte, sollte auch niemand anders eine machen. Seiten um Seiten von Zahlen, jede von ihnen wunderschön, ging in Flammen auf. Die Zahlen selbst waren frei von menschlichen Unzulänglichkeiten, nicht fähig zum Verrat, sie leuchteten rein wie Frost unter einem dunklen Himmel. Aber sie waren jetzt bedeutungslos geworden. Geometrie, Differential: Sie waren so wunderschön und kompliziert und so nutzlos jetzt. Was spielte es für eine Rolle für Tina, ob die Seiten eines Dreiecks sich zu mehr oder weniger addierten als der Euklidschen Norm? Was kümmerte es Paul, wenn die Muster ungenau wurden und parallele Linien sich trafen? Klarheit und die elegantesten Gleichungen konnten sie mir nicht zurückbringen. Nur Herr Weiss konnte das. Irgend etwas fiel mir ins Auge. Die Zahlen waren nicht ganz richtig. Ein rascher Blick zeigte es mir. Aufgrund meiner Beschäftigung mit Radioaktivität, dem alltäglichen Leben und dem Halb-Leben wußte ich, daß der Logarithmus von 2 zur Basis e 0,69315 war. Heisenberg hatte beim Niederschreiben zwei Stellen hinter dem Komma vertauscht. Der Gedanke, daß der Verfasser der Unschärferelation, der immer so ruhig und beherrscht war, Zahlen unkorrekt aufschrieb, brachte mich zum Lachen. Der Gedanke war beruhigend, daß selbst der Vollkommenste von uns Fehler machen kann, aber ich lachte freudlos, als mir auffiel, daß ich selbst in einem Moment wie diesem mathematische Irrtümer entdeckte.
Müßig blickte ich auf die Papiere in meiner Hand, den nächsten Stapel für den Ofen. Überrascht fand ich weitere Irrtümer. Und noch nicht einmal nur einzelne. Ich sah genauer hin. Eine Zahl nach der anderen, Bericht für Bericht. Nach und nach dämmerte es mir, daß dies keine menschlichen Fehler waren. Sie waren systematisch und beständig gemacht worden. Mir wurden die Knie weich. Mein Gleichgewichtssinn verließ mich, und ich mußte mich auf den Boden setzen, wobei ich mir die Hand am heißen Metall des Ofens verbrannte. Meine Experimente waren in den Berichten mit den falschen Ergebnissen weitergegeben worden. In den Berechnungen fehlten wichtige Elemente. Trotz der Hitze, die das brennende Papier ausstrahlte, wurde mir kalt. Ich wußte, was das bedeutete. Ich wußte, daß es nur eins bedeuten konnte. Heisenberg war nicht der gute Deutsche, für den ich ihn hielt. Er hatte die Nachricht darüber, wie erfolgreich unser Projekt sein konnte, zurückgehalten, Herrn Weiss fehlerhaft Bericht erstattet und auch den anderen, denen er berichten mußte, diesen dunklen Schattenfiguren, von denen ich nur eine vage Vorstellung hatte. Heisenberg hatte Berichte zusammengestellt, die aus Lügen bestanden. Er hatte ihnen erklärt, wir seien noch nicht viel weitergekommen, und sie hatten ihm geglaubt. Kein Wunder, daß wir aufgelöst wurden. Er hatte immer weitergelogen, und meine Kinder waren mir ferner als je zuvor. Ich schrie wütend auf, sinnlos, durchdringend und lange, und schlug so laut auf das heiße Metall des Ofens ein, daß Habbel aus der Küche gelaufen kam. »Es ist vorbei«, sagte ich zu ihm. »Alles vorbei.« Was immer Heisenberg auch getan hatte, war geschehen, und ich konnte nichts dagegen machen. »Oh, Fräulein«, sagte Habbel verwirrt.
»Sie verstehen es nicht«, sagte ich. »Wir sind betrogen worden. Sie können gar nicht wissen, wie sehr wir betrogen worden sind.« Ich knallte die Tür des Verbrennungsofens zu und ein paar Minuten später auch die Tür des Labors. Es war mir egal, wer es hörte, es kümmerte mich nicht, wer angerannt kam. Den Rest der Papiere hatte ich in meine Handtasche gestopft und nahm sie mit. Ich dachte, das könnte die letzte Chance sein, die absolut letzte Chance.
»In der Kabbala steht«, sagte Maja, »daß Gott die Tränen der Frauen zählt.« Da schluchzte ich bereits seit eineinhalb Stunden ununterbrochen und lag unkontrolliert zitternd auf dem Bett in unserem Zimmer, obwohl ich in die Decke eingewickelt war, die ich aus Novi Sad mitgebracht hatte. »Meine kann Er nicht zählen«, entgegnete ich. »Es sind zu viele. Und außerdem glaube ich nicht an Ihn.« Maja seufzte. Sie konnte mich mit nichts trösten. Wir waren in die Systole und Diastole des zwanzigsten Jahrhunderts hineingezogen worden – es saugte Kinder auf und gab uns Soldaten und Knochen zurück. Ich wußte immer noch nicht, was mit Tina und Paul passiert war, aber ich wußte, wenn ich diese Papiere unkorrigiert ließ, dann würden sie nur noch Knochen sein, Knochen und Staub. »Was willst du jetzt tun?« fragte Maja. Sie starrte auf die Papiere, die ich auf dem Fußboden ausgebreitet hatte, die absichtlichen Fehler mit ärgerlichem Rot markiert, eine Grammatik der Lügen, die für alle Augen sichtbar aufgezeigt war. »Ich werde es Herrn Weiss sagen«, sagte ich.
»Das könntest du«, entgegnete Maja ruhig. »Und was würde dann passieren?« Das wußte ich. Wenn Heisenberg aufflog, würde das seine Hinrichtung bedeuten. »Sag mir«, erwiderte ich, »warum ich diesen Bastard am Leben lassen sollte?« »Er wußte doch nichts von Tina, oder?« sagte Maja, die Stimme der Vernunft, ganz ruhig. »Er wußte nichts von Paul.« »Nein, das weiß niemand außer dir und Herrn Weiss.« »Also gib ihm doch nicht die Schuld an etwas, wovon er nichts wußte.« »Ich möchte gern wissen, warum«, sagte ich. »Warum hat er das überhaupt getan? Warum hat er das riskiert? Ich verstehe es nicht.« »Ich verstehe es vollkommen«, sagte Maja. Ich starrte sie an. »Er hat es getan, weil er wußte, daß es richtig war.« Heisenberg hatte den Tod riskiert, damit Deutschland keinen Vorteil im Krieg hatte. Er wollte nicht, daß die falsche Seite gewann. Ich starrte auf das rote Schuldbekenntnis auf dem Fußboden. Er hatte aus edelsten Beweggründen gehandelt. Welches Motiv hätte noch edler sein können? Aber mit seinem Versuch, das Vaterland vor der ultimativen Waffe zu schützen, hatte mein ruhiger und sicherer Direktor Paul und Tina zum Tode verurteilt. »Er tat es«, sagte Maja und blickte auf die Papiere, »weil er es tun mußte. Er kannte das Risiko, aber er nahm es auf sich. Niemand würde wagen, das Dritte Reich im dunkeln tappen zu lassen, es sei denn, die Sache bedeutete ihm mehr als das eigene Leben.«
»Aber das da unten in den roten Stellen ist nicht sein Leben«, sagte ich. »Auch nicht meines. Diese roten Striche sind das Leben meiner Kinder.« Maja seufzte. »Oh, Helga.« Ich blickte scharf auf. »Weißt du etwas?« »Nein, ich weiß überhaupt nichts. Das ist ja das Problem. Nicht das kleinste bißchen.« »Hör zu, Maja«, sagte ich, »ich hätte als Kind gefunden werden können. Ich war da. Ich hätte gefunden werden können, wenn die richtigen Leute nach mir gesucht hätten. Aber sie sind nicht gekommen und haben nicht nach mir gesucht, Maja. Er ist nicht gekommen. Mein Vater. Ich weiß, wie man sich dann fühlt. Und das möchte ich Paul und Tina nicht antun. Ich muß weiter nach ihnen suchen, ganz gleich, wie lange es dauert und was es mich kostet.« »Ich muß mit Herrn Weiss reden«, sagte Maja. »Überlaß es mir.«
Aber was auch immer sie vorhatte, sie führte ihren Plan nicht aus. An diesem Abend – es war zwar noch nicht spät, aber wir waren bereits zu Bett gegangen – kam Herr Weiss zu uns. »Bleib hier«, sagte Maja, als die Klingel ertönte. »Es ist besser, wenn ich das allein erledige.« Sie stieg aus dem Bett und zog ihren weißen Bademantel über, um Herrn Weiss in unsere Wohnung zu lassen. Als ich auf ihr glänzendes blauschwarzes Haar sah, fand ich, daß sie noch nie so schön gewesen war. »Wo ist Frau Hansbach?« Seine Stimme, leicht betrunken und ziemlich laut, schallte durch das Zimmer. »Sie schläft«, sagte Maja. »Weck sie nicht, sie hat den ganzen Tag geweint und braucht jetzt ihren Schlaf.« »Hat sie dir erzählt, was passiert ist?«
»Daß das Projekt vorbei ist? Ja.« »Es ist ein direkter Befehl. Vom Führer selbst. Nichts mehr daran zu ändern.« »Ich weiß«, entgegnete Maja beschwichtigend. »Und Helga weiß es auch. Komm, ich gebe dir etwas zu trinken.« Ich hörte die Geräusche und stellte mir vor, wie sie eine Flasche Riesling öffnete, wie Herr Weiss den Hut absetzte und sich auf dem quietschenden Sofa niederließ. Ich stand auf und preßte mein Auge ans Schlüsselloch. Viel konnte ich nicht sehen, aber ich konnte alles hören. Ich kannte Maja so gut, daß ich wußte, sie würde ihm erst nach einigen Stunden und viel Wein die einzige Frage stellen, die sie ihm stellen wollte, und ich hatte recht. Ich wickelte mich fest in mein Nachthemd, damit mir nicht kalt wurde, und machte es mir bequem. Maja saß auf dem Sofa, schenkte Wein ein und ließ sich von Herrn Weiss über seinen Ausflug ins besetzte Paris, seine Reise ins besetzte Dänemark, den Zustand seines eingewachsenen Zehennagels und wie gut oder nicht gut sich die Raketenforschung in Peenemünde entwickelte erzählen, bevor sie das Thema auf die Kinder brachte. Eiswürfel klimperten im Glas. »Wer?« fragte Herr Weiss. Er war schläfrig, und ich hatte den Eindruck, er hatte vergessen, mit wem er redete. »Tina«, sagte Maja und strich ihm sanft über die Stirn. »Paul.« »Oh«, sagte Herr Weiss. »Mittlerweile wohl tot, könnte ich mir vorstellen. Die Lager sind voll.« Irgend etwas zerriß in meinem Gehirn. Das Bild, das mir Trost gegeben hatte, mich hatte weitermachen lassen, das Bild von Paul und Tina in einem glücklichen Haus, wurde in Fetzen zerrissen. Es wurde zerfetzt, und ich spürte, wie die Fetzen sich über alles legten, was ich gewußt hatte. Ich griff mit beiden Händen nach den niederfallenden Fetzen. Nur so
konnte ich verhindern, daß Herr Weiss hörte, wie ich laut aufschrie und klagte. »Und Helga«, sagte Maja mit der gleichen sanften Stimme, »was soll ich ihr sagen?« Ich vergrub den Kopf in den Händen. Meine Kinder waren seit langem tot, und ich hatte es noch nicht einmal gewußt. Meine Hände wurden taub, dann mein Gesicht, dann mein ganzer Körper. Völlig vernichtet saß ich neben der Tür, und niemand würde mich je dort wieder fortbewegen können. »Du brauchst ihr gar nichts zu sagen«, entgegnete Herr Weiss leichthin. »Sie ist schließlich auch Jüdin, oder?« Um mich herum herrschte Dunkelheit, absolute Dunkelheit. Ich unterdrückte einen Schrei. Ich würde nicht weinen, noch nicht. Dafür ging diese Verletzung zu tief. Im Moment empfand ich nur Wut, grellrote Wut und eine tiefe Dunkelheit im Innern. Maja stand auf und griff nach ihrer schwarzen Patenthandtasche. Sie nahm die goldene Kompaktpuderdose von Guerlain heraus, die Josef ihr vor acht oder neun Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, und sagte zu Herrn Weiss: »Wenn du das nächste Mal in Paris bist, könntest du sie dann bitte für mich auffüllen lassen?« Er setzte sich auf und blickte sich suchend um, vielleicht suchte er nach seiner Brille, um zu sehen, was sie ihm zeigte. »Denk daran, es muß der richtige Farbton sein«, sagte Maja. »Guerlain Nummer 42. Du mußt auf das Etikett achten. Hier.« Herr Weiss beugte sich vor, um das verblaßte Etikett zu betrachten, und konnte daher nicht sehen, daß Maja noch einmal in ihre Patenthandtasche griff, die Mauser .98 herauszog und ihn erschoß. In der Stille, die dem Schuß folgte, hörte ich nur meinen eigenen Herzschlag. »Helga«, rief Maja, »komm her!«
Ich öffnete die Tür und ging hinein. Mir war schon früher kalt gewesen, in einem Winter in Österreich, so kalt, daß mein Körper durchgefroren war, aber das war nichts gegen die Kälte, die ich jetzt empfand. Sie drückte mir die Pistole in die Hand, klappte die GuerlainPuderdose wieder zu und steckte sie rasch wieder in ihre Handtasche. Der Lauf war noch heiß und verbrannte mir die Finger. »Au«, sagte ich. »Ich sollte ein Etui dafür nähen«, sagte Maja. Ich konnte die Augen nicht von dem Loch im Kopf von Herrn Weiss abwenden. Es war glatt und rot. Die Stille war entsetzlich. Ich wußte, daß die Leute über und unter uns den Schuß gehört hatten, daß die Leute lauschten. Ich wußte aber auch, daß niemand kommen und Fragen stellen würde. Nicht vor dem Morgengrauen. Es war zu gefährlich. Obwohl ich im Moment Angst hatte, waren wir vermutlich nicht in Gefahr. Maja durchwühlte Herrn Weiss’ Taschen, zog jedes Papier heraus, das sie finden konnte und steckte es in ihre Handtasche. Dann nahm sie mir die Pistole wieder ab. »Immer noch zu heiß. Ein kleines rotes Samtetui vielleicht«, sagte sie. »Wenn ich sie wieder in die Handtasche stecke, bevor sie abgekühlt ist, verbrennt sie mir das Innenfutter.« Also legte sie sie vorsichtig auf den Schreibtisch, während wir das schlimmste Blut aufwischten, damit es nicht durch die Bodendielen sickerte. Als wir das erledigt hatten, hielt Maja ihre kostbare Pistole für kalt genug, um das Futter nicht mehr anzusengen, und steckte sie wieder ein. »So«, sagte sie. Ich starrte sie an. Ich wußte nicht mehr, was ich denken oder fühlen sollte, geschweige denn, was ich tun sollte. »Was schlägst du jetzt vor?« fragte ich.
»Am besten weglaufen«, sagte Maja. »Ich will nicht mehr weglaufen«, sagte ich. »Außerdem bin ich zu alt dafür.« »Vierzig ist doch nicht alt«, sagte Maja. »Doch, viel zu alt. Im Winter bekomme ich Schmerzen im linken Knie. Vielleicht Rheuma, vielleicht Arthritis – ich kenne meine Familiengeschichte nicht, woher sollte ich es also wissen?« Ich zuckte mit den Schultern. Mir war es mittlerweile egal, was passierte. »Ich denke nicht daran, wegzulaufen, Maja, und vor allem nicht in die falsche Richtung.« »Wir wohnen erst seit kurzem hier«, sagte Maja, »und wir waren schon lange nicht mehr auf der Flucht. Ich sehe nicht, warum wir hierbleiben sollten.« Sie schüttelte ein Sofakissen auf und bemerkte den kleinen roten Blutfleck in der Ecke, der bereits langsam braun wurde. »Paul…« sagte ich. Ich trieb in einem Nebel. Ich versuchte mich an den hoffnungslosen Glauben zu klammern, daß Herr Weiss gelogen hatte und ich meine Kinder doch noch finden konnte, wenn ich nur beharrlich genug nach ihnen suchte, wenn ich nur wüßte, wo ich suchen sollte… »Was ist mit ihm?« Majas Stimme war scharf und präzise. »Er ist mein Sohn«, sagte ich. »Und Tina ist deine Tochter«, entgegnete sie. Wenn ich es nicht besser gewußt hätte, hätte ich ihre Stimme brutal gefunden. »Das wird sich nie ändern.« »Wie kann ich dann gehen?« sagte ich. »Wie kann ich auch nur daran denken, sie zu verlassen?« Wir sind alle durch Blutsbande verbunden. Ich habe es gesehen. Ich habe es gefühlt. Immer fühlen wir diese Blutsbande in uns. Wo immer wir hingehen, in welchen Teil der Welt, egal nach wie vielen Jahren, das Zuhause ist immer der Ort, wo deine Familie ist. Ich wußte das besser als irgend jemand anders. Und meine Kinder waren hier. Hier. Sie
würden Deutschland jetzt nicht verlassen, also würde auch ich nicht weggehen. »Hör mir zu, Helga. Setz dich.« Maja setzte sich ebenfalls, auf den Teil des Sofas, der nicht von Herrn Weiss eingenommen wurde. Ich war zu traurig und eigentlich nicht bereit dazu, aber ich tat, wie mir gesagt wurde, wie mir immer gesagt worden war, ich solle stillsitzen und mich sauberhalten. Diese Gewohnheit war zu tief in mir verwurzelt, als daß ich anders gekonnt hätte. »Du kannst nichts für deine Kinder tun, wenn du jetzt hierbleibst«, sagte Maja. »Ich weiß etwas«, sagte ich. »Ich weiß, wie die Bombe gemacht wird.« »Und wenn du das auch nur einer Menschenseele erzählst, dann reichst du sie Hitler auf einem goldenen Tablett.« »Du sagst mir, es sei an der Zeit zu gehen«, sagte ich. »Du weißt, daß es so ist«, entgegnete sie. »In deinem Herzen weißt du es schon. Und wir haben nicht mehr viel Zeit.« In diesem Punkt mußte ich ihr vertrauen, da ich wenig wußte von dem, was draußen in der Welt vor sich ging, und erst heute erfahren hatte, daß es schlecht war. »Wenn du es sagst«, gab ich nach und ließ die letzten Fetzen des glücklichen Bildes von Paul und Tina aus meinem Kopf fallen. Sie flatterten davon wie Blätter bei leichtem Wind. »Ich sage es«, erwiderte Maja. »Und außerdem, wenn wir hierbleiben, bringen sie uns um.« »Ich bin bereit«, sagte ich, öffnete die Hände und bewegte meine Finger in der Luft. Die Fetzen des Bildes legten sich auf die verstreuten Papiere mit ihren roten Anmerkungen in einem Chaos, das nichts bedeutete. Ich würde gehen. Ich würde mit ihr gehen, weil ich nichts mehr zu verlieren hatte.
9 Die Bibliothek
21. Mai 1942 Das einzige, was in der Wissenschaft die Vergangenheit von der Zukunft unterscheidet, ist die Anhäufung von Unordnung. Je mehr wir uns weiterentwickeln, desto unordentlicher wird alles, trotz all unserer Anstrengungen. Tassen zerbrechen, Autos werden zerbeult, Raketen explodieren. Die Entropie gibt der Zeit ihre Richtung. Während wir vorankommen, sind wir anscheinend zu einer Welt verurteilt, die immer chaotischer wird. Gegen dieses Chaos kämpfte Maja jede einzelne Minute ihres bewußten Lebens an. Maja verbrachte den größten Teil des Abends, an dem sie Herrn Weiss erschossen hatte, damit, ihr Haar in einem roten Farbton zu tönen, der hell im Dämmerlicht des Zimmers schimmerte. »Kastanienbraun heißt die Farbe, glaube ich, Helga.« Und sie zog ihre Haare wie ein Pfauenrad über ihre Bürste. »Wenn du das sagst.« Wie auch immer sie die Farbe nannte, sie war jetzt nicht länger als Herrn Weiss’ einstige Geliebte mit dem blauschwarzen Bob zu erkennen. Herr Weiss lag immer noch tot auf dem abgewischten Sofa. Ich konnte meine Augen nach wie vor nicht von dem Loch auf seiner Stirn abwenden. Ich saß auf dem Stuhl mit Majas schwarzer Patenthandtasche auf dem Schoß und sah ihn an. Um unsere Abreise an einen noch nicht genau benannten Ort, aber ganz bestimmt nicht innerhalb Berlins, vorzubereiten,
blieb Maja die ganze Nacht über wach und wusch nacheinander jedes Kleidungsstück, das wir besaßen, und alle Decken und Kopfkissen, alle Matten, Sofakissen und Staubtücher, und jetzt, im ersten Licht des Morgens, trockneten sie alle in dem einen Zimmer, und der süße Geruch frisch gewaschener Wäsche durchzog die Wohnung, eine Stätte der Reinlichkeit, und verbarg beinahe das, was darunter lag. Tote Körper haben einen besonderen Geruch. Wenn man ihn erst einmal kennengelernt hat, kann man ihn nie wieder vergessen, und man wird ihn auch nie mehr für etwas anderes halten. Ich hatte ihn schon früher kennengelernt. Deshalb zweifelte ich auch nicht daran, daß Herr Weiss tot war, und in seinem Geruch spürte ich die Tode von Tina und Paul. Noch frische, erst kürzlich erfolgte Tode, auch wenn sie vielleicht in Wahrheit schon vor langer Zeit gestorben waren, vielleicht nur Tage oder Wochen, nachdem Herr Weiss sie mir genommen hatte. Irgendwann in den frühen Morgenstunden stand ich von meinem Stuhl auf und brach nacheinander mit meinen eigenen Händen die toten Finger von Herrn Weiss. Am Himmel war ein schwachgelber Schimmer, selbst in der völligen Dunkelheit, als ob es ein Gewitter geben würde. Die Matten und Sofakissen würden wir dalassen, beschloß Maja. Auch die Kissen und das meiste an Bettzeug. Wir würden Ferdis graue Reisetasche und Majas braunen Koffer und ihre schwarze Patenthandtasche mit der Pistole darin mitnehmen und uns auf die Reise begeben, als würden wir einfach nur wieder Desanka verlassen, als wäre in den Jahren dazwischen nichts vorgefallen, das uns im Weg stehen könnte. Aber natürlich war das nicht so. Neben meinen üblichen Besitztümern, wie der Decke aus Novi Sad und Hans Alberts magischem Stein, nahm ich eine von Tinas Puppen, Pauls
Muscheln und den Elfenbeinrahmen mit, in dem einst das Bild von Majas fiktivem Ehemann Wolfgang gewesen war und der jetzt ein Bild von Josef in seinem Büro enthielt – nicht die beste Aufnahme von ihm, aber die einzige, die ich mochte. Während des Packens fielen mir die sauber geschriebenen Seiten von »Eine allgemeine Theorie für das Universum« in die Hände. Maja hatte sie aufgehoben. Meine große, noch unveröffentlichte Arbeit. Meine große Arbeit, die jetzt nie mehr veröffentlicht werden würde. Maja nahm die Papiere mit Heisenbergs in Rot geschriebenem Todesurteil und verbrannte sie. Ich brauchte sie nicht mitzunehmen, denn alles, was ich über Bomben und Detonationen wissen mußte, war klar und deutlich in meinem Kopf notiert, in dieser leuchtenden Zahlenkolonne, die nichts schwächen konnte, noch nicht einmal die Fetzen des glücklichen Bildes meiner Kinder, jenes glücklichen Bildes, mit dem ich mich so lange getröstet hatte. Schließlich bedeckte Maja Herrn Weiss mit einem sauberen Laken, erklärte das Zimmer für zufriedenstellend sauber und machte Butterbrote für die Reise. Sie zog ihren guten Wollmantel an, ein neues Paar Lederhandschuhe und forderte mich auf, mir meine festesten Schuhe anzuziehen. Wir gingen aus der Wohnung und warfen die Schlüssel in den Briefkasten. Die Sonne ging gerade auf.
Ich hatte das Gefühl, den größten Teil meines Selbst zurückzulassen. Mit jedem Schritt, den ich die schmale Treppe hinunterging, leugnete ich Paul, mit jedem Schritt durch den schmalen Flur zur Haustür leugnete ich Tina. Jetzt konnte ich sie nie mehr finden, und wenn sie nach mir suchten, würden sie auch mich nicht mehr finden können. Ich würde fort sein.
Maja und ich würden kein Heim mehr haben, sondern von diesem Tag an nur noch uns beide, und ich haßte sie dafür, so sehr wie ich sie liebte und brauchte. »Wohin sollen wir gehen?« fragte Maja. Sie setzte ihren Koffer ab, winkte mich auf die Straße und zog die Tür leise zu, damit sie niemanden aufweckte. Dann machte sie die für sie typische Geste mit der Hand, um anzudeuten, daß ganz Europa vor uns lag. Ich dachte ein letztes Mal daran, zu bleiben, aber ich wußte, daß es sinnlos war. Alle waren sie tot, Josef war tot, und oben, auf einem Laken, damit das Blut nicht durchsickerte und die Nachbarn alarmierte, lag Herr Weiss und war tot. Das Labor war aufgelöst, die Papiere waren verbrannt. Habbel war in Peenemünde, und Heisenberg war in Dahlem und testete lächerliche Zünder für Raketen, die niemals funktionieren würden. Wohin sonst? Ich spreizte meine Finger, als ob ich die richtige Richtung erfühlen könnte. Meine Mutter war in Zürich und pflegte meinen schizophrenen Bruder Eduard. Immer weiter spreizte ich meine Hände. Desankas Hof war zerstört. Noch weiter. Mein Vater und seine Kusine lebten an der Ostküste der Vereinigten Staaten in einem Schindelhaus an einer baumbestandenen Straße. Hans Albert und seine Familie waren auch in Amerika, wohin sie vor dem Krieg geflohen waren. Aber auch das war es nicht, auch das war nicht der Ort, an den ich gehen mußte. Es war einfach nicht klar, wo der richtige Ort für mich lag. »Ich weiß es nicht«, sagte ich zu Maja. »Laß uns einfach gehen und abwarten, wohin wir kommen.« »Wir müssen so schnell wie möglich das Land verlassen, das ist dir doch wohl klar«, entgegnete Maja. »Sie werden nach uns suchen, wenn er nicht zur Arbeit erscheint.«
»Dann nach England«, sagte ich. Das war der einzige Teil Europas, der nicht von den Deutschen besetzt war. Und wir sollten uns fest auf der anderen Seite einrichten. »Wir müssen am Ende wahrscheinlich sogar noch viel weiter weg. Ich bin nur nicht ganz sicher, wohin.« »Darüber kannst du dir später Gedanken machen«, befand Maja. »Für den Augenblick mache ich mir lieber Gedanken darüber, wie wir heil hier rauskommen. Und ich glaube, wir sollten eine schnellere Fortbewegungsart wählen, als nur schnell zu gehen, meine Liebe. Züge, nicht zu Fuß.« So übernahm sie also die Führung, und ich folgte ihr. Zuerst gingen wir zu Fuß, wie wir es unzählige Male sonntags mit den Kindern gemacht hatten, durch den Tiergarten zum Brandenburger Tor, und jedesmal, wenn ich stehenblieb und das Gras, die Bäume oder die sauberen Wege betrachtete, drehte sie sich um und sagte: »Komm schon.« Wir standen am Bahnhof Zoo und warteten auf den Zug, als Maja in letzter Minute Panik befiel. »Die Dokumente, die Dokumente!« Hektisch begann sie ihre Handtasche, Ferdis Reisetasche und ihren braunen Koffer zu durchsuchen – und dann fiel ihr ein, wo sie sie hingetan hatte. Sie ertastete die kostbaren Dokumente in ihren neuen Lederhandschuhen. Das sah ihr so wenig ähnlich, daß ich sie danach fragen mußte. »Was ist denn daran so wichtig?« »Geld. Das Geld von Herrn Weiss. Ich habe die Unterlagen für sein Schweizer Bankkonto.« Ihre Panik war so groß gewesen, daß mir langsam dämmerte, wieviel Geld auf jener Bank wohl versteckt sein mochte. Unsere Reisekasse belief sich auf zehn Mark, die Summe, die man damals außer Landes bringen durfte, und wenn wir erst einmal an der Grenze waren, wußte Maja, war es praktisch wertlos. Selbst die zusätzlichen Zehnmarkscheine, die sie in
unsere Butterbrote gepackt hatte, würden uns dann nichts mehr nützen. Das Schweizer Geld war also lebenswichtig. Die Lok schnaufte und puffte die Strecke entlang, über Grenzen, durch Tunnels und wieder an die Sonne, ohne daß wir uns in unserem gemütlichen Abteil der Reise bewußt gewesen wären, abgesehen von kurzen Unterbrechungen an verlassenen Bahnhöfen, wo Soldaten und Schaffner der einen oder anderen Sorte die Koffer der Leute öffneten, sie aufforderten, ihre Taschen zu leeren, und ständig barsch nach Pässen verlangten. Unsere untadeligen Papiere inspizierten sie vielleicht ein dutzendmal. Wir hatten Glück, daß wir Deutschland verließen, bevor die Luftwaffe an Stärke verlor und das Bombardement der Alliierten ernsthaft begann. Maja wußte, daß die Gefahr bestand. Ich wußte es nicht. Ich wußte überhaupt wenig von dem, was im übrigen Europa passiert war. Der Einmarsch in Belgien, Frankreich. Ich wußte, daß es Kämpfe gegeben hatte, einen Krieg, aber meiner Meinung nach war er fast vorüber. Europa würde sich in den neuen Grenzen wieder einrichten, und alles würde so weitergehen wie früher. Maja erzählte mir jetzt, daß es ganz anders war. In ihren Geschichten starben Menschen. Es gab Flammen und Schreie. Ein gewisser Prozentsatz jedes Bombenangriffs, so sagte sie, galt nur dem reinen Terror. Ein paar Bomben auf die Häuser, ein paar sogar auf die Felder, weit weg von den Hauptzielen. Damit wurde der Zufallscharakter des Ereignisses unterstrichen, es erinnerte die Menschen daran, daß, ob sie lebten oder starben, nichts damit zu tun hatte, ob sie von Grund auf gut oder wertvoll oder auch böse waren. Es hatte einfach nur etwas mit Glück zu tun. Das war ungerecht, aber so funktionierte die Welt eben. So wurde jeder ein bißchen unsicherer, vertraute ein bißchen weniger darauf, daß er auch
das erntete, was er säte. Also säten alle sorglos vor sich hin. Und litten nicht einmal zwangsläufig darunter. Es war in der Tat ein gefährliches Land. Kurz bevor wir Deutschland verließen, kauften wir an einem Bahnhof einen Laib Brot und Rotkohl und aßen beides in kleinen Bissen. Als wir über die Grenze fuhren, irgendwo nach Dänemark hinein, sah ich ein Licht hinter den Wolken. Es war blaß und diffus – es hätte leicht übersehen werden können. Ich vermutete, daß es der Mond war. Ich wußte nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war, und es war mir auch egal.
Wieder war es dunkel, kurz bevor der Himmel im Morgengrauen hell wurde, kurz bevor die vertrauten Arme in einem unvertrauten, fremden Bett sich an die gewohnte Stelle um mich legten. Die Zeit, in der sich die Welt verschiebt. Die Beugung ihres Ellbogens unter meinem Kopf, mein Haar, das sich über ihren Körper ergoß. Wir waren in einer fremden Stadt, auf fremden Straßen, aber schon eine Welt entfernt, mit einer glänzenden neuen Identität, die in allen erforderlichen Papieren auf der Kommode lag. Sie zerriß meinen deutschen Paß in winzige Fetzen. »Wer bist du?« fragte ich und drehte mich zu ihr, um ihr einen Gutenmorgenkuß zu geben. »Ich bin Luitgarde. Deine Tante.« »Wer bin ich?« »Du bist Greta. Mein Gretchen. Meine Nichte. Wir fahren heim nach Schweden, weil deine Mutter, meine Schwester, krank ist.« »Freut mich, dich kennenzulernen, Luitgarde.« Ich küßte sie noch einmal und kuschelte mich enger an ihren üppigen, weichen, tröstlichen Körper.
»Benimm dich, Gretchen. Das ist ein gefährliches Land.« Auf dem Bahnhof wimmelte es von Soldaten in Braun und Grau und ihren Freundinnen in engen Stiefeln und Pelzen. Viele tranken, viele waren betrunken. Die, die auf dem Bahnsteig zurückblieben, winkten durch die Dampfwolken. Wir teilten uns das Abteil mit einem Soldaten, der die ganze Fahrt über schlief, den Kopf an Luitgardes Schulter gelehnt. Sie ließ ihn gewähren und schlief dann auch ein. Wie angsterregend es auch sein mochte, in dieses dunkle, tiefe Wasser zu tauchen, ich beneidete Luitgarde darum. Seit wir Berlin verlassen hatten, war Schlaf für mich nie mehr gewesen als eine turbulente, lärmende Untiefe, in der ich hin und wieder freudlos herumpaddelte, eher aus Pflicht und sorgfältig darauf bedacht, die Küste nicht aus den Augen zu verlieren. So meiner Bequemlichkeit und meines Trosts beraubt, dank Luitgarde und dem Soldaten, die tief in ihren gegenseitigen Träumen verstrickt waren, holte ich etwas aus meiner Reisetasche. Ich lehnte mich aus dem Zugfenster. In der kalten, dunklen Luft ließ ich die sauber mit der Hand geschriebenen Seiten von »Eine allgemeine Theorie für das Universum« eine nach der anderen in die Nacht flattern. Ich würde sie nicht mehr brauchen. Dann setzte ich mich wieder hin und legte meinen Kopf an das ratternde Fenster des Zuges. In unserem überfüllten Abteil leuchtete schwach ein gelbes Licht über unseren Köpfen. Draußen sah man schwere, massige Umrisse – Hügel, Abhänge, ohne Farben, nur eine lauernde Dunkelheit, die man allein durch ihr Gewicht erspürte. Ich reiste durch ein Land, das nicht auf einer Landkarte beschrieben werden konnte, das in meinem Kopf gesichtslos war und verschwommen.
In Stockholm veränderten wir uns noch einmal. Ich ging mit ihr, um zu sehen, wie sie das machte. In einer Bar wurde ich in die Ecke gesetzt, und sie sagte mir, ich solle still sein und es ablehnen, wenn irgend jemand mir einen Drink spendieren wollte. Sie legte noch einmal scharlachroten Lippenstift auf und kämmte ihr mahagonibraunes Haar, bis es glänzte. Innerhalb weniger Augenblicke fand sie die richtige Ansammlung von Männern an der Bar, und es dauerte nur Minuten, bis sie ihnen etwas zu trinken spendierte. Und nach einer Stunde schon brachte sie mich zu einer Pension, in der niemand Fragen stellen würde. Es dauerte zwei Tage, bis die Papiere kamen, und in der Zwischenzeit mußten wir noch mehr Geld bezahlen, und dann dauerte es noch einmal drei Tage, bevor wir auf ein Boot kamen. Wieder sah ich sie keine Nacht, solange wir da waren, aber ich machte mir keine Sorgen. Sie hatte ihre eigenen Wege, und sie würde Zeit brauchen, aber sie war bisher immer noch zurückgekommen. Wir zeigten unsere Pässe im Hafen in einer Nacht, die von orangefarbenen Lichtern erhellt wurde. Wir zeigten unsere neuen Pässe mit unseren neuen Namen. »Helene Krauss?« Sie trat vor, ohne Angst, in ihrem guten Wollmantel und ihren untadeligen Lederhandschuhen. »Elisabeth Krauss?« »Sie ist hier. Meine Schwester.« Ich verlor den Überblick, wer ich war oder mit wem ich verwandt sein mochte. Ich mußte einfach hoffen, daß niemand Fragen stellte. Man hatte uns gewarnt, daß die nächtliche Überfahrt über die Nordsee höllisch sein würde. Eine grüne Helene Krauss bestätigte dies am nächsten Morgen. Ich hatte mich sofort übergeben, kaum daß ich das erste Schlingern bemerkt hatte.
Das Schaukeln, das Schwindelgefühl, die Art und Weise, wie mein Körper sich auf Wasser reduzierte, machte mir das Meer unsympathisch. Helene wusch mich und zog mir andere Kleider an, obwohl ich zugeben mußte, daß ich mich besser fühlte, als mein Magen erst einmal leer war. Ich lag in der dämmerigen Kabine, in die sie mich gesteckt hatte, und versuchte aus Gewohnheit meine Kinder wiederzufinden, streckte die Arme nach ihnen aus. Wie immer traf ich nur auf das Nichts. Die Spur war kalt. In dieser engen Kabine, mit nichts mehr im Magen, ohne jede Hoffnung, verschlief ich die ganze Überfahrt. So verpaßte ich den großartigen Augenblick, als ich das europäische Festland verließ.
Es dämmerte bereits, als Land in Sicht kam. Zunächst hatte die Welt noch keine Farbe. Man sah nur grobe Umrisse, keine erkennbaren Linien an der Küste. Im Osten wurde der Himmel heller, machte ein schwaches Glitzern von Feuchtigkeit im Wetter sichtbar. England war grau. Ich hatte weiße Felsen erwartet, die hell in der Sonne leuchteten, aber statt dessen sah ich nur Regen, flaches Land und Feuchtigkeit. Helene hatte beschlossen, die üblichen Einwanderungsprozeduren zu umgehen, damit wir nicht als unerwünschte Ausländer in irgendeinem Internierungslager endeten. Aus diesem Grund wurden wir gegen eine nicht unbeträchtliche Summe zu einer flachen Stelle an der Küste von Norfolk gerudert, wobei mir schon wieder schrecklich übel wurde, und Helene schrie herum, daß die Wellen das Gepäck durchnässen würden. Wir saßen so lange am Strand, bis wir einigermaßen trocken waren, unsere Haare gekämmt und uns geschminkt hatten, dann machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Alle waren recht freundlich und höflich, aber langsam. Der
Schalterbeamte fragte uns erst nach unseren Papieren, bevor er uns Fahrkarten ausstellte. Helene zeigte ihm unsere ausländischen Registrierdokumente und wies ihn darauf hin, daß wir vor der Unterdrückung durch die Nazis geflohen seien. Er lächelte mitfühlend. Der Stempel, der uns die Einreise nach England ermöglichte, war einfach so auf die Mitte der Dokumente gedrückt. In London gab es in jeder Straße ausgebombte Häuser, und an den Straßenecken lagen Schutthaufen, aber es wirkte nicht verlassen, dazu waren die Straßen viel zu belebt. Leute liefen herum, fuhren mit den Bussen, der Untergrundbahn und hatten zu tun. Helene seufzte vor Vergnügen. Die Londoner Filiale von Herrn Weiss’ Schweizer Bank stand als erstes auf ihrem Plan. Sie war besorgt. Das war der springende Punkt. Wenn das nicht klappte, dann würde unser Leben schwierig werden. Wie sich herausstellte, hätte sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sie waren offensichtlich daran gewöhnt, daß Leute auf Nummernkonten Geld einzahlten und es wieder abhoben, und fragten gar nicht erst nach den Gründen. Die National Provincial Bank am Piccadilly zahlte ihr anstandslos das Geld aus. Sie legte einen britischen Paß vor, hinterließ eine unvertraute Unterschrift auf ein oder zwei Formularen und nahm eine Summe entgegen, mit der wir länger als ein Jahr auskommen würden. Unabsichtlich war Herr Weiss sehr großzügig gewesen. »Da ist noch mehr«, sagte Helene. »Du würdest gar nicht glauben, wieviel. Das machen die Offiziere alle so, daß sie gestohlenes Geld aus Deutschland wegschaffen, für den Fall, daß sie den Krieg verlieren. Ich betrachte es lediglich als meine patriotische Pflicht, einen Teil des Geldes zurückzuverlangen.« Wir gingen zum Lyons Corner House in der Coventry Street und bestellten echten Kaffee, frisch gepreßten Orangensaft und
weiches, weißes Brot und Butter, zwar nur kleine Mengen, da alles rationiert war, aber trotzdem so reichhaltig, daß mir schon wieder übel wurde. Helene holte zum Frühstück englische Zeitungen. Ich konnte ganz gut Englisch lesen, da sie es mir jahrelang eingepaukt hatte, hatte allerdings Schwierigkeiten zu verstehen, was die Leute um mich herum sagten. Es gab nur ein Thema, das mich wirklich interessierte. Ich las nicht zum ersten Mal in den Zeitungen Berichte über die Kämpfe in meinem Heimatland, und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Berichte, die allein durch ihr Vorhandensein, durch Anfang, Mitte und Ende besagten, daß die Welt geordnet werden konnte, klar werden durch Vernunft. Doch es funktionierte nie. Ich las jeden Bericht bis zu Ende durch und war um nichts klüger, sondern steckte immer noch im gleichen Nebel von Wirrwarr und Unglauben, in dem ich von Anfang an gesteckt hatte. Und immer noch seufzte ich, daß ich diese Dinge einfach nicht glauben, sie nie würde verstehen können. Und ich gab mich damit zufrieden, weil ich wußte, daß ich, wenn ich tiefer unter die beruhigend dicke Schicht von Anfang, Mitte und Ende ginge, herausfinden würde, daß sich die Wörter selbst in Chaos und Wahnsinn auflösten. Zum Beweis dafür brauchte ich mich bloß umzusehen. Und, was noch schlimmer war, ich vermutete, daß ich nichts ändern konnte, selbst wenn ich alles verstehen würde. Desanka wäre immer noch verloren. Der Hof wäre immer noch zerstört, und letztendlich war das der einzige Sinn, den ich brauchte. »Ist denn alles so schlimm?« fragte ich Helene. »Schlimmer«, erwiderte sie. »Du weißt nicht einmal die Hälfte.« »Erzähl es mir.«
»Nein. Elisabeth, ich habe dort drüben so grauenvolle Dinge gesehen, daß ich es kaum glauben konnte. Aber sie sind geschehen. Ich werde sie dir jetzt bestimmt nicht auflisten.« »Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?« »Du hattest deine Arbeit. Du hast an etwas gearbeitet. Und was hättest du schon davon, wenn ich es dir jetzt erzählte?« »Vielleicht würde ich es dann verstehen. Ich würde dann verstehen, was mit meiner Familie passiert ist.« Ich seufzte. »Ich könnte vielleicht sogar verstehen, warum man Tina und Paul fortgebracht hat.« »Wenn du nicht weißt, was geschehen ist, dann täte es dir nur weh, wenn ich es dir erzählte. Wenn du aber weißt, was geschehen ist, dann würdest du vergessen wollen, genau wie ich. Es lohnt nur eines dazu zu sagen – daß es nie wieder geschehen sollte.« Doch obwohl wir danach schwiegen, wußten wir, daß es eines Tages, irgendwo, ohne jeden Protest wieder geschehen würde.
22. Juni 1942 Helene fand zwei Zimmer in Marylebone, in denen es heißes Wasser und ein Gasometer gab, das ständig mit Schillingen gefüttert werden mußte. Ich lebte mich in London leicht ein. London bestand aus hellen Straßenlaternen und verriegelten, glänzend lackierten Türen über hohen Eingangstreppen. Wenn man mitten in der Nacht auf dem Land aufwacht, herrscht beinahe völlige Stille. Wenn man dann in seinen Garten geht, der voller Moos und Farn ist, kann man beinahe hören, wie die Schnecken kauen und über die frischen grünen Blätter kriechen, aber besonders gesellig ist das nicht.
In Städten ist es jedoch anders. In London gab es auch in den Nächten, wenn ich wach dalag, immer etwas, auf das man lauschen konnte. Verkehr, Sirenen, Schreie. Explosionen. Wir konnten jederzeit von einer Bombe getroffen werden, aber wir waren schon lange darüber hinaus, uns deswegen Sorgen zu machen. Helene wollte nicht mit anderen in einem Luftschutzkeller zusammengepfercht sein, und ich stimmte ihr zu. Was auch immer wir taten, der zufällige Tod war nie ausgeschlossen. Also lagen wir im Bett und lauschten auf das, was die Nacht uns brachte. Vor uns war nichts – nur äußerste Schwärze und Dunkelheit, die fast mit Händen zu greifen war. Nirgendwo Lichter. Wir konnten einander noch nicht einmal sehen. In dieser Schwärze begann ich jedoch, etwas anderes zu sehen. Irgend etwas in meinem Kopf, irgendeinen Weg nach vorn. Ich konnte ihn noch nicht klar erkennen, und seine Ränder waren noch unbestimmt, aber ich bewegte mich blindlings vorwärts. Ich dachte an den jungen Mann, der auf dem Eis herumgerutscht war, um die Überreste seiner Papiere aufzusammeln, die mein Vater dort hingeworfen hatte. Er war so leidenschaftlich, so lebendig gewesen. Früher einmal war ich auch so gewesen, wenn ich mich mit Physik beschäftigte. Es war für mich das einzige gewesen, was zählte. Das einzige, was meinem Leben einen Sinn gab. Und dann war mir aller Sinn genommen worden. Da Tina und Paul tot waren, hatte ich geglaubt, ich könne nie wieder sehen. Aber jetzt war es wieder da, dieses seltsame Talent zu sehen, es kam in der Dunkelheit langsam zurück. Ich fragte mich, nicht zum ersten Mal, ob ich dieses Talent geerbt hatte. Wenn mein Vater sehen konnte wie ich, was sah er dann jetzt wohl? Ich hatte seit Jahren nichts mehr von ihm gehört, außer ein paar Versuchssprüngen in die Quantenmechanik, aus der er sich verwirrt wieder
zurückgezogen hatte. Vielleicht ließ sein Talent, zu sehen, nach. Meines nicht. Es kam zurück und war genauso stark wie früher. Vielleicht würde mein Sehen mich dieses Mal mitten in die Grauzone bringen, den Bereich mitten in der alltäglichen Welt, wo Mathematik und Moleküle seltsam wurden. Ich hoffte es, weil ich gern dorthin gelangen wollte. Es war der einzige Ort, der seltsam genug war, um mir zu gefallen. Ich fragte mich auch, wohl zum ersten Mal, ob es womöglich etwas gab, wofür ich meinem Vater dankbar sein sollte. Ohne dieses Talent, zu sehen, wäre das Leben wirklich trostlos gewesen. Aber jetzt, in der Schwärze, mit Helenes Arm um mich, kam es mir so vor, als ob dieses Talent mir eine Chance gäbe, etwas aus den Ruinen zu retten. Irgendwo konnte irgend jemand immer noch dafür bezahlen.
9. Juli 1942 In unserem zweiten Monat in London bekam ich eine Stelle für drei Pfund in der Woche, bei einer Versicherungsgesellschaft in der Baker Street, die von einem Mann geleitet wurde, der zu nett war, um Erfolg zu haben. Ich mußte mein Englisch üben, obwohl es schwierig war, jemanden zu finden, der einen Flüchtling aus Nazideutschland einstellen wollte. Er hatte mich genommen, weil er vor dem Krieg Geschäfte mit den Deutschen gemacht hatte und weil es ihm leid tat, was mit dem Land passierte. Wir setzten uns jeden Nachmittag zu Tee und Kuchen zusammen. Er plauderte gern. »Waren Sie jemals in Berlin?« fragte mein Chef interessiert. »Ach, vor dem Krieg. Auf der Durchreise.«
Berlin bedeutete mir nicht mehr als ein leeres Labor. Es gab dort jetzt nichts mehr für mich, noch nicht einmal die Hoffnung auf meine Kinder. Ich brachte das Gespräch auf das Wetter, ein unerschöpfliches Thema, das ihn stets faszinierte.
Die Tage vergingen mit Schreibmaschine schreiben. Stundenlang füllte ich Versicherungsformulare aus. Jeden Nachmittag aß ich Kuchen und redete über Kricket, den Zustand des Krieges und das Wetter, meine Vokale wurden runder, und mein Akzent glättete sich und verschwand schließlich. An den Abenden freute ich mich auf Helene, die mir warme Aufläufe kochte. Beinahe war es so, als hätte ich nie etwas anderes getan. Aber die Bibliothek reizte mich. Ich konnte mich nicht von ihr fernhalten. In der British Library gab es Zeitungen aus der ganzen Welt. Bis zur letzten Minute wurden sie in ganz Europa frei ausgetauscht. In Berlin hatte ich natürlich viele von ihnen gar nicht bekommen können. Jetzt erfuhr ich, daß auch andere Forschungsteams in der ganzen Welt an der Kernspaltung arbeiteten. Das Team in Chicago war offenbar am weitesten. Ich fragte mich, wie weit sie wohl gekommen sein mochten, in was für einem Labor sie wohl arbeiteten, welche Messungen sie durchgeführt hatten. Ich fragte mich, wie sie mit den experimentellen Bauteilen vorankamen, ob sie sich vorstellten, das erste Stück des unterkritischen Urans mit einem Gewehr in das zweite Stück des unterkritischen Urans zu schießen. Das war ein Mechanismus, von dem ich erst vor kurzem festgestellt hatte, daß er möglich war. In der Bibliothek begann der silberne Strang in meinem Kopf klarer zu leuchten, und ich drückte ihn an mich. Mein Hoffnungsstrang.
13. September 1942 Auf der Treppe in Marylebone wehte mir ein starker Ammoniakgeruch entgegen, interessanter als der Kohlgeruch, der aus dem Erdgeschoß kam, aber nicht annähernd so appetitlich. Als ich die Tür zum Wohnzimmer öffnete, saß Helene da und mischte zwei Pulver in einer blauen Porzellansauciere. »Was machst du?« »Ich habe die erste Mischung zu stark gemacht«, sagte sie, »und sie hat die Glasur vom Teller gefressen.« Das stimmte. Der Teller stand in der Spüle, die blaue Glasur war aufgelöst, und darunter kam die braune Keramik zum Vorschein. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, was du da machst.« »Eine Überraschung«, erwiderte Helene, nahm die Sauciere mit und schlug die Tür des Badezimmers hinter sich zu. Es war Samstag. An Samstagen war sie oft ausgelassen. Ich zog die Notizen hervor, die ich mir an diesem Nachmittag bei der Lektüre einer neuen Ausgabe von Nature gemacht hatte, und breitete sie auf dem Tisch am Fenster aus, nachdem ich die letzten Reste von Helenes Pulvern weggewischt hatte. Es würde eine gute Stunde dauern, bevor sie wieder auftauchte, schätzte ich, und es hatte keinen Sinn, die Schränke nach einer Kartoffel oder Karotte, die sie von den Lebensmittelkarten für eine Suppe zurückgelegt hatte, zu durchforsten – an den Tagen, an denen sie sich ihrem Aussehen widmete, hatte sie weder Zeit noch Lust, Essen zu kochen. Sie würde statt dessen ausgehen wollen, um neue Verehrer, neue Piloten kurz vor dem Einsatz, zu verwirren. Ein wenig später hörte ich sie singen, also hatte die Ammoniakmischung dieses Mal wohl gewirkt. Kurz darauf lag
ein leichter Brandgeruch in der Luft, der Geruch eines Experiments, das nicht so ganz gelungen war, aber es gab keinen begleitenden Aufschrei. Dann klopfte sie von innen an die Badezimmertür. »Herein«, sagte ich. »Mach dich auf eine Verwandlung gefaßt«, sagte Helene durch die Tür. Ich holte tief Luft. »Ich bin bereit«, sagte ich. Ich war darauf vorbereitet, sie nicht mehr wiederzuerkennen. Und so war es auch. Sie rauschte in einer Dampfwolke ins Wohnzimmer und brachte noch mehr von dem stechenden Geruch mit sich. Mir blieb der Mund offenstehen. Ihr mahagonibraunes Haar, das rote, rote Haar, das sie so hingebungsvoll während unserer Überfahrt gepflegt hatte, war weggebleicht. »Helene«, sagte ich. »Warte«, erwiderte sie, »du kannst die volle Wirkung jetzt noch nicht sehen. Ich habe noch keinen Lippenstift aufgelegt. Und die Augenbrauen habe ich auch noch nicht nachgezogen.« Der Lippenstift war vor ein paar Tagen erworben worden und das Thema zahlreicher Gespräche gewesen. Helene freute sich ganz besonders darüber, daß er aus Frankreich kam, weil sie der Überzeugung war, daß die besten Kosmetika französischen Ursprungs waren. Was die Augenbrauen anging – ich hatte bemerkt, daß sie seit kurzem wieder vorhanden waren –, so hatten sich immer mehr ihrer bisher ausgezupften Härchen wieder zu dem Bogen eingefunden, den sie sonst aufgemalt hatte – ein Bogen, der jetzt in der Mitte irgendwie flacher wirkte. Sie fuhr sich mit ihrem französischen Lippenstift über die Lippen, puderte die künstliche Blässe ihrer Haut noch ein bißchen weißer und fragte mich dann nach meiner Meinung.
»Wie nennst du das?« fragte ich und wies auf ihr Haar, von dem ich bisher meine Augen nicht hatte abwenden können. Es war fast völlig weiß, auf der Seite gescheitelt, und fiel von der Stirn in kleinen, ondulierten Wellen herunter. Sie war nicht besonders bewandert in dieser Prozedur, und einige Haare waren an den Spitzen angesengt, was den Geruch nach Verbranntem erklärte. Sie murmelte etwas Unbestimmtes. »Plutonium?« »Platin.« »Hübsch.« Sie legte noch ein bißchen Puder auf ihre Wangen, die mittlerweile aussahen wie Marmor. Man hätte schwören können, sie sei gemeißelt. Sie wandte mir ihre Marmorwange zu, diesen ätherischen Anblick. »Weißt du inzwischen, wo wir noch hingehen müssen?« »Fast.« »Wohin?« »In die neue Welt.« In Chicago, so hatte ich in den jüngsten Berichten gelesen, war Fermi die erste selbstinduzierte Kettenreaktion gelungen. Wenn das wirklich der Fall war, wollte ich dahin gehen. Aber es gab überall Aktivitäten, auch in den Randbezirken, seltsame Nervositäten. Prominente Mitglieder von Forschungsprojekten verschwanden plötzlich, strahlende Lichter von wissenschaftlichen Abteilungen waren auf einmal wie vom Erdboden verschluckt. Ich mußte wissen, wohin sie gingen. Ich mußte meine Zeit nutzen und herausbekommen, wo das Projekt stattfand. »Die neue Welt ist groß.« »Ich arbeite daran. Noch habe ich nicht alle Einzelheiten, aber bald.«
»Gut«, sagte Maja und zog vor dem Spiegel erst die eine, dann die andere Augenbraue hoch. »Es ist Samstag abend. Laß uns ausgehen.«
2. Dezember 1942 Während ich tippte, wurde es mir plötzlich ganz klar. Es war der einzig mögliche Ort. Geographisch lag er optimal für ein Bombenprojekt – meilenweit von allen anderen Orten entfernt und vor allem kein Ort, den man draußen in der Wüste freiwillig aufsuchen würde. Das würde auch erklären, wohin alle verschwunden waren. Es gab nichts auf der Welt, was man nicht berechnen konnte. Der leuchtende Strang in meinem Kopf glänzte hell und stark. Ich konnte etwas aus den Trümmern meines Lebens bergen, und vor allem konnte ich das bergen, mit dem ich angefangen hatte: Rache. Mein Vater hatte den Nobelpreis bekommen, und der Platz in der ewigen Halle des Ruhmes war ihm sicher. Und was hatte ich? Niemand hatte je von mir gehört. Ich besaß noch nicht einmal mehr meinen Namen. Mein Vater hatte alles, was er je gewollt hatte, und ich hatte nichts. Wie konnte ich zulassen, daß er nachts ruhig schlief? Es gab nur eine Methode, um ihn zu verletzen. Wenn ich erreichen würde, daß seine Arbeit letztendlich zu dem führte, was er über alles haßte, dann wäre das die beste Rache. Mein Vater, der Pazifist, verantwortlich für die schlimmste Waffe, die die Menschheit je geschaffen hatte. Seine Gleichung. Diese Waffe. Eins führte zum anderen. Der junge Mann mit seinen eigenartigen Papieren im Schnee hatte mir das als erster gezeigt. Ich würde beweisen, daß er recht gehabt hatte. Mein Vater hatte die Grundlage geschaffen, und ich würde
sicherstellen, daß es zur Schlußfolgerung kam. Und wenn ich das tat, würde er sich selbst hassen. Und auch die meisten anderen Menschen würden ihn hassen, wenn auch nicht so tief wie ich. Es war sein eigener Fehler. Er hätte mich nie verlassen dürfen. Wer tat das einem Kind schon an? Er würde dafür zahlen müssen. Und ich würde dafür sorgen, daß er bezahlte. Es war möglich. Die Amerikaner waren nicht so dagegen wie die Europäer; sie hatten Zeit, Ressourcen und Geld. Ich glaubte sogar, daß sie gerade jetzt wahrscheinlich mehrere Reaktoren bauten. Ich stellte mir vor, wie überall im Land Atomreaktoren aus dem Boden schossen und so viel Uran brüteten, wie ich mir nur wünschen konnte. Ich hatte gesagt, ich wolle ihn quälen, und ich wußte, daß das der beste Weg dazu war. Ich blieb bis Punkt fünf Uhr, legte das letzte Formular ab, warf dem Mann, der zu gutmütig fürs Geschäft war, eine Kußhand zu, fuhr mit dem Bus durch die feuchten, nebligen Straßen nach Hause und tanzte die Treppe hinauf. Unter uns aßen sie wieder Kohl. »Ich weiß, wo sie alle hingehen«, sagte ich zu Helene und vor lauter Aufregung überstürzten sich die Wörter. »Und dahin müssen wir auch gehen.« »Wohin?« »In das Land der Verzauberung.« Sie runzelte die Stirn. »Brauchen wir Pässe?« Ich sagte: »Helene, wir brauchen mehr als nur Pässe, wir brauchen Empfehlungsschreiben von General Eisenhower höchstpersönlich.« Helene lächelte. »Das mag außerhalb meiner Möglichkeiten liegen, aber ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Und ich sage dir noch was«, fuhr ich fort, »wo ich gerade darüber nachdenke: Ich bin froh, daß du mich 1919 gezwungen hast, Steno zu lernen.« »Tatsächlich?« »Weil, was brauchst du mehr als alles andere, wenn du eine Bombe baust?« »Steno«, sagte Helene. »Schreibmaschine schreiben«, ergänzte ich. »Ablage.« »Ein gutes Ohr fürs Diktat«, sagte Helene.
Zwei Monate später packte sie Schminke, Puder und flüssige Mascara zusammen, drehte ihre scharlachroten Lippenstifte auf, um zu überprüfen, ob sie noch in Ordnung waren – all ihre subtilen Waffen im Krieg der Verführung und der Sekretariatsqualifikationen. »Bist du bereit zu gehen?« Sie packte meinen letzten Schuh in den Koffer und setzte sich darauf. Es gab kein Zögern. Wir hinterließen nirgendwo Verpflichtungen. »Ich bin schon seit langem bereit.« »Dann komm.« Ich würde bloß Helene und den glänzenden Strang der Mathematik aus Europa mitnehmen. Der glänzende Strang, der mich zu meiner Rache führen würde. Alles andere würde ich hinter mir lassen. Und so reisten wir im Frühjahr 1943 in der Gesellschaft von Hunderten anderer Flüchtlinge, die auch bereit waren, den möglichen Tod gegen den gewissen Tod auf sich zu nehmen, von Europa in die Neue Welt, obwohl der Atlantik nicht sicher war. Wir blieben so lange in New York, bis Helene alle wichtigen Papiere beisammen hatte, ein paar kriegsfreie Abende
genossen und ein paar stoffsparende amerikanische Kleider erstanden hatte, und bis ich mit Gewißheit wußte, daß sich die Hauptmilitärbasis in New Mexico befand – das war nicht schwer zu erraten, da dies der einzige Ort war, den jeder sorgfältig nicht zu erwähnen versuchte. Dann nahmen wir den Zug nach Santa Fe. Wir waren in London zwei Wochenmieten für die Wohnung schuldig geblieben. Die Geschwindigkeit war atemberaubend.
10 Das Land der Verzauberung
14. Mai 1943 Helene fand ein Motelzimmer am Rand von Santa Fe und kaufte sich die Zutaten für eine kupferfarbene Tönung. Ich hüpfte vor Aufregung auf und ab und sah nicht ein, warum wir die Reise unterbrechen sollten, schon gar nicht wegen einer erneuten Veränderung der Haarfarbe. »Die Tönung ist nicht für mich«, sagte Helene, »sondern für dich.« »Nein.« Aber mein Protest blieb wirkungslos. »Wir werden alle nicht jünger«, bemerkte Helene und drückte die Paste auf mein Haar. Ich versuchte zwar, sie davon zu überzeugen, daß die Quantenphysik in dieser Beziehung Ungenauigkeiten aufwies, aber sie hatte über dieses Thema ihre eigene Meinung. Zumindest war es kein Grund, warum sie nicht versuchen sollte, dem Alterungsprozeß entgegenzuwirken. Oder ich. Sie hielt eine Strähne hoch und hielt sie mir zur Begutachtung hin. »Du hast graue Haare.« Sie verzog das Gesicht. »Na und?« »Sekretärinnen dürfen keine grauen Haare haben.« Zufrieden warf sie ihre eigenen Haare, die kürzlich erblondet waren, nach hinten. Eine Stunde später bewunderte ich das Ergebnis im Spiegel und mußte zugeben, daß es wirklich einen Unterschied machte. »Fünf Jahre«, sagte Helene. »Sieben. Ja, du siehst mindestens sieben Jahre jünger aus.«
Sie schickte mich Nagellack kaufen und ein Korsett, in der Hoffnung, daß dies weitere Jahre wegmogeln würde, so daß ich wie ungefähr Ende Zwanzig wirkte – das geeignete Alter für eine amerikanische Chefsekretärin, wie Helene mich informierte. Während ich im Supermarkt über die seltsamen Dinge auf den Regalen grübelte, erweiterte ich mein Vokabular. Als ich an der Kasse das Bündel Banknoten hinhielt, lächelte ich den Angestellten in der Hoffnung an, er würde mich nichts fragen. Ich wußte, daß mein Akzent mich noch einige Zeit verraten würde. Ich brauchte ein bißchen mehr Übung, bis ich die Kunst der amerikanischen Vokale beherrschte. In der Bäckerei, in der ich Plätzchen kaufte, und in der Buchhandlung, in der ich nachsah, ob sie Zeitschriften hatten – ja, aber nur solche, mit denen Helene etwas anfangen konnte, mit Artikeln über Rocklängen und Sodabrot –, war ich höflich, aber nicht mehr. Im Bekleidungsgeschäft dagegen war ich mutig und wechselte mit dem Verkäufer ein paar Worte über die Farben dieser Saison. Ich lächelte unzählige Leute an, die erstaunt gewesen wären, wenn sie gewußt hätten, was in ihrem Staat vor sich ging. Denn wenn auch Helene und ich viel wußten, sie wußten gar nichts. Los Alamos war eines der bestgehüteten Geheimnisse des Krieges. Jeden Tag hörte ich Radio und plapperte die Sätze der Krimis, der Comedy-Serien und der Werbung nach und wiederholte alles so lange, bis ich jede Silbe, jede transatlantische Nuance perfekt beherrschte. Und während ich darauf wartete, daß der Knoten platzte, beschloß ich, mit dem Rauchen anzufangen. Helene mißbilligte das zwar, aber es vertrieb mir die Zeit. Ich war im Motelzimmer, übte laut die richtige Aussprache von allen möglichen Floskeln und wedelte mit meiner Zigarette in der Luft herum, als Helene mit den gestempelten
und gesiegelten Papieren zurückkam. Unsere Qualifikationen und Zeugnisse waren hervorragend. »Ich mußte bis an die mexikanische Grenze fahren«, sagte sie zu mir, »um Leute zu finden, die Papiere fälschen können. Sie sind hier nicht so daran gewöhnt wie in Europa.« »Die Tinte ist noch nicht ganz trocken«, bemerkte ich, da sich das Licht darin spiegelte. »Sie wird über Nacht schon trocken werden.« Und das tat sie auch. Am nächsten Tag fuhr sie mit unseren erstaunlichen Papieren in einem gemieteten Ford zum Hill, und tags darauf kam sie mich mit einem Auto abholen, das sie vom Koordinator des Rapid Rupture selbst ausgeliehen hatte. »Sie haben mir die Pässe innerhalb von einer halben Stunde gegeben«, teilte sie mir mit. »Ein Kinderspiel.« »Wie hast du das so schnell geschafft?« »Glücklicherweise«, entgegnete sie, »braucht man ein bißchen mehr als einen Klumpen radioaktives Metall, um eine Atombombe zu bauen.« »Ich weiß«, sagte ich. »Du brauchst explosive Vorrichtungen, elektronische Komponenten…« »Du brauchst ein paar Tassen Kaffee«, sagte sie, »du brauchst Papier, Doughnuts zum Frühstück, Schreibmaschinen, Stenotypistinnen, Wasserkühler, und jeder braucht einen Platz zum Schlafen, also brauchst du Gebäude, Bettzeug und Leute, die die Zimmer saubermachen.« »Aber die Sicherheitsmaßnahmen sind doch so streng.« »Sie sind streng, aber nicht streng genug. Sie sehen an den falschen Stellen nach. Natürlich überprüfen sie alle Wissenschaftler bis in die letzten Winkel. Aber wir sind Sekretärinnen. Sekretärinnen. Sie haben Hunderte davon. Was sollten wir schon für eine Bedrohung darstellen?«
Wir packten unsere Siebensachen und fuhren aus der Stadt, unsere ordentlichen Koffer sorgfältig im Kofferraum verstaut, unsere glänzenden platin- und kupferfarbenen Haare sorgfältig frisiert, einen Eselspfad entlang in das Jemez-Gebirge nach Los Alamos. An der letzten Biegung fuhr Helene das Auto an die Seite und hielt an. Diese letzte Biegung, hoch in der Mesa, wo der Himmel weiter ist, wo der Himmel blauer ist, als man es sich je vorstellen kann, und wo, gegen den weiten Horizont, das Manhattan-Projekt wuchs, war die Stelle, an der Helene mich wissen ließ, zu wem wir jetzt geworden waren. »Warum halten wir an, Helene?« »Clare, bitte«, sagte sie. »Clare Walker.« »Klingt gut«, erwiderte ich. »Nett und einfach.« Sie gab mir eine grüne Karte und ein braunes Zertifikat. Ich sah sie unsicher an. »Mary-Jo?« fragte ich. »War das alles, was du tun konntest?« »Das war absolut alles, was ich tun konnte. Wir haben nur beschränkte Mittel, und dieser Name war verfügbar.« »Na ja, dann hallo, Clare«, sagte ich. »Ich bin Mary-Jo Forrest. Nett, dich kennenzulernen.« »Sieh dir das an, Mary-Jo.« Die Frau in dem Auto machte eine Handbewegung, und in diesem Moment wurde Clare aus ihr. Helene, Luitgarde und Maja fielen von ihr ab, und Clare wies mit ihrer Hand auf die hohen Berge, den blauen Himmel und die Durchsichtigkeit der dünnen Luft. »Oh, Mary-Jo, ist ein Teil von dir nicht einfach nur froh zu leben?« Die Luft war warm an meinen Händen, und ich spürte die Sonne auf meiner Stirn. »Ich bin nicht wegen der Landschaft hier«, sagte ich. »Ich rechne mich selbst noch nicht so sehr zu den Lebenden.«
Der Horizont ging weiter, als ich es je für möglich gehalten hätte. Er war so weit, daß man sich allein und verlassen vorkam. In dieser unmöglichen Landschaft kam ich mir vor, als ginge ich auf dem Wasser, als ob ich jedes Gleichgewichtsgefühl verloren hätte. Ich dachte an den Geruch in den Kissen meiner Kinder und wappnete mich so gegen die Weite dieses Horizonts. Wir fuhren durch Stacheldraht und vorbei an Militärs mit Gewehren zu einer baufälligen Ansammlung von Baracken. Der Hill. Der Ort wuchs rasch. Jeden Tag kamen neue Mitarbeiter. Auf dem Schild über dem Haupteingang stand »Zeigen Sie bitte Ihre Ausweise«, also stieg ich aus dem Auto, um meinen zu zeigen. »Hallo«, sagte ich zu der Wache. Der Ausweis war natürlich einwandfrei, trotz gründlicher Überprüfung, da er tatsächlich echt war. Die Schranke schloß sich hinter uns, doch als wir erst einmal drinnen waren, fühlte ich mich freier als in der einsamen Landschaft. Hier waren Kernspaltung, Uran und Neutronen. Alles Dinge, die mir vertraut waren. In diesen Dingen konnte ich mich verlieren. Nur bei diesen Dingen konnte ich meine Kinder vergessen, hier drin, wo sie genug Uran-235 hatten.
9. Juni 1943 Hinter dem eilig errichteten Kasernentor lag Los Alamos. Wie eine Stadt – eine staubige neue Stadt –, die aus dem hochgelegenen Felsen geschossen war, mit vorgefertigten Gebäuden und Brettern als Gehsteigen. In jenen ersten Monaten waren noch zahlreiche Laster und Bagger am Werk. Die Luft war erfüllt von Staub und Lärm.
Trotz der Größe des Ortes war das eigentliche Wunder nicht, daß er geheimgehalten wurde. Das eigentliche Wunder war, wie viele Leute an diesem Ort geheimgehalten wurden. Alles war in Abteilungen aufgeteilt: In der ganzen Zeit, in der ich dort war, sah ich nicht einmal die Plutoniumreaktoren. Aber ich wußte, daß sie da waren. Und ich konnte Berechnungen anstellen. Das war das Wichtigste. Ein Physiker namens Feynman ließ mich an einer der endlosen Berechnungen arbeiten, die reihenweise vor sich gingen. Es waren Zahlen, nur Zahlen, aber ich konnte aus ihnen ersehen, daß die Hauptarbeit, mit der sie beschäftigt waren, eine sorgfältige Bestimmung der Spaltungs-NeutronenErträge war, die man aus dem mit Neutronen beschossenen Uran erhielt. Sie kannten die kritische Masse noch nicht. Obwohl die Arbeit in halsbrecherischem Tempo voranschritt, mußten alle Berechnungen auf mechanischen Maschinen erstellt werden, die ständig kaputtgingen, und um die Dinge zu beschleunigen, hatten sie jede Summe auf eine Reihe von einfachen Schritten heruntergebrochen. Das erste Mädchen addierte zwei Zahlen, reichte sie dem nächsten Mädchen weiter, das irgend etwas abzog, weiter zu dem nächsten, das das Ergebnis kubierte, weiter zu dem nächsten, das wieder etwas addierte… Den ganzen Tag über tat ich nichts anderes, als eine gelbe Karte von dem Mädchen zu meiner Linken entgegenzunehmen, die Zahl zu kubieren und sie weiterzugeben. Es mag ja als Prozeß ganz effizient gewesen sein, aber es war nicht besonders befriedigend. In fast jedem Gespräch wurde darüber spekuliert, wie weit die Nazis wohl mit ihrer Entwicklung von Atomenergie sein mochten. Ich hätte ihnen natürlich sagen können, daß Europa meilenweit hinter ihnen zurücklag – was größtenteils daran lag, daß weder Heisenberg noch ich ein vernünftiges Experiment zustande gebracht hatten –, aber ich hatte das
Gefühl, das hätte dem Ganzen ein wenig von seiner Panik genommen, und Selbstzufriedenheit war das letzte, was ich in diesem Stadium wollte. Ich hatte zu viele Jahre darauf gewartet, ich wollte nicht, daß der große Tag hinausgezögert wurde, nur weil die Eierköpfe herumsaßen und sich gegenseitig gratulierten, wie weit sie den Deutschen voraus waren. Wenn sie wußten, daß ihnen keine Gefahr drohte, würden sie vielleicht überhaupt nicht mehr mit Los Alamos weitermachen, und dann hätte ich wirklich ein Problem. Außerdem ging aus den Gesprächen im Kasino hervor, daß sie sowieso Probleme hatten. Das Manhattan-Projekt bestand eigentlich aus zwei Projekten, weil sie sich noch nicht hatten entscheiden können, welchen Weg sie denn nun einschlagen sollten. Zwei Teams arbeiteten getrennt an einer Uran- und einer Plutoniumbombe. Das war interessant. Bis vor wenigen Wochen war immer noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen worden, daß Plutonium wirklich existierte. Und um die Dinge weiterhin zu erschweren, kommt Plutonium in der Natur überhaupt nicht vor. Man muß es in einer kontrollierten Reaktion aus Uran herstellen, wobei die Struktur der Atome so verändert wird, daß sie sich in dieses neue Metall verwandeln. Und was in den Augen aller noch schlimmer war, diese Transformation konnte nur in einer sorgfältig kontrollierten Umgebung stattfinden: in einem Reaktor. Wenn Plutonium ein dichteres Element war, so vermutete ich, brauchte man wahrscheinlich weniger davon. Das war nützlich, weil das Projekt von dem gleichen Problem beeinträchtigt wurde, das ich auch gehabt hatte – niemand kam an genügend spaltbares Material heran. Es gab überall im Land Reaktoren und endlose Experimente mit gasförmiger Diffusion und elektromagnetischer Trennung. Aber es waren eben nur Experimente. Nicht eines von ihnen brachte die wirklichen Dinge zustande, das reine Isotop in seiner strahlenden Form.
Ich grübelte über Papieren, die jemand auf seinem Schreibtisch liegengelassen hatte, während ich die Schreibmaschine ölte. Niemand sah bei einer Sekretärin zweimal hin. Sie ließen ihre Papiere überall liegen, und ich konnte mir so viele Notizen machen, wie ich wollte. Gelegentlich mußte ich einen der komplizierteren Safes öffnen, die sie eingebaut hatten, nachdem irgendein Schlaumeier festgestellt hatte, daß die Aktenschränke nicht sicher genug waren, aber das war leicht zu machen. Meistens trugen die Sekretärinnen die Kombination in ihren Kalender oder ihr Adreßbuch ein, da sie sie nicht vergessen wollten, und schleppten sie in ihrer Tasche mit sich herum. Und einen Blick hineinzuwerfen war auf der Damentoilette ganz leicht. Ich wußte, daß ich nach einer Sequenz von sechs Zahlen Ausschau halten mußte, weil die Zahlenschlösser an den Safes das erforderlich machten, und die meisten dieser Leute, diese Wissenschaftler, waren so leicht zu durchschauen: Sie benutzten eine sechsstellige Zahl, die sie bestimmt nicht vergessen würden, wie eine mathematische Konstante zum Beispiel. Man konnte mehr Safes mit den Dezimalstellen von Pi -31 41 59- öffnen, als Sie sich vorstellen können, und die anderen auf der Grundlage des natürlichen Logarithmus, 27 18 28. Ich hätte jedes Geheimnis über die Atombombe erfahren können, weil ich Pi kannte, aber jeder annahm, ich würde es nicht kennen. Und an die meisten Geheimnisse kam ich sogar heran, ohne je einen Safe zu öffnen, weil sie glaubten, eine Frau verstünde nichts von Gleichungen, und ihre Papiere überall herumliegen ließen. Obwohl diese Einschätzung meiner Fähigkeiten deprimierend war, heiterte es mich etwas auf, wenn ich mir meine Notizen machte, weil ich ganz genau wußte, daß niemand von ihnen Steno konnte.
Steno war praktisch die einzige »Sprache«, die man klugerweise benutzte. Die Hälfte der Wissenschaftler auf dem Hill kam aus Osteuropa. Hans Bethe war Deutscher. Fermi war Italiener. Kistiakowsky, der später kam, war Russe. Ich hätte mich mit ihm wahrscheinlich auf ungarisch verständigen können, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Als Fermi einmal vorbeikam, fragte ich ihn aus Interesse, ob auch Ungarn an dem Projekt beteiligt seien. »Meinen Sie Magyaren?« »Ja.« »Ein asiatisches Volk unklarer Herkunft, das keine indogermanische Sprache spricht?« »Das ist richtig.« Ein Nobelpreisträger muß wohl pedantisch sein. »Nein«, antwortete er. »Sie wären zu deprimierend. Ich habe noch nie einen Ungarn kennengelernt, der nicht unablässig trübsinnig war.« War ich auch so trübsinnig? Heftig goß ich einen Ölstrahl in das Innenleben der Schreibmaschine. Wahrscheinlich war ich das. Das Öl ergoß sich über die Papiere, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich las sie trotzdem weiter. Ich hatte recht mit dem Plutonium – die Experimente zeigten deutlich, daß man viel weniger davon brauchte, und in Hanford war eine Fabrik, in der es eifrig hergestellt wurde. Das Problem mit Plutonium bestand jedoch darin, die unterkritischen Teile schnell genug zusammenzubringen. Wahrscheinlich benutzten sie einen Alpha-Emitter, der die Neutronen so unkontrolliert ausschickte, daß sie gerade genügend Spaltung erzeugten, um nur die Bombe selbst auseinanderzusprengen und nicht mehr. Nicht sehr sinnvoll. Ein Schießmechanismus würde bei Plutonium nie
funktionieren, dazu war er einfach nicht schnell genug. Was würden sie also tun? Verzweifelt öffnete ich den Schrank mit den Personalakten und ordnete mich selbst der T-Abteilung unter Bethe zu. Dort spielte sich die theoretische Physik ab, und dort wollte ich sein. Ich wollte keine Zeit mehr damit vergeuden, in der technischen Abteilung zu sitzen und Zahlen zu kubieren. Als ich, zufrieden mit meiner Leistung, nach Hause kam, kämpfte Clare wie gewöhnlich mit dem schwerfälligen Holzkohleherd in unserem Zimmer. Ich war jeden Tag mit Leuten zusammen, die den Nobelpreis gewonnen hatten, und auch von ihnen konnte ihn keiner anzünden. Es gab haufenweise Nobelpreisträger, und sie kamen alle bereitwillig. Zwei Dinge waren auf dem Hill knapp: Wasser – es kam nur ab und zu, und im Winter froren die Rohre völlig ein – und Frauen. Allerdings waren sie wahrscheinlich nur deshalb bereit, ihre ganze Freizeit mit Sekretärinnen zu verbringen, weil es sowenig Frauen gab. Neun von zehn Malen konnten auch sie den Herd nicht anzünden, und wir mußten ein kaltes Abendessen einnehmen. Clare war ziemlich glücklich. Nach dem kalten Abendessen zog sie eines ihrer New Yorker Kleider an, legte roten Lippenstift auf und eilte zum Vergnügungscenter oder zu einer Party. Da wir den Stützpunkt nicht verlassen durften, gaben viele Leute Partys.
In der T-Abteilung hatten sie das gleiche Problem, auf das ich einst gestoßen war: wie man die Kettenreaktion sicher in Gang bringt. Sie arbeiteten an Implosion. Die Vorteile lagen für mich klar auf der Hand. Statt zwei Metallstücke aufeinanderzuschießen, formte man das spaltbare Material zu einer hohlen Kugel und umgab es mit Explosionsstoff. Die
hohle Kugel würde unterkritisch sein. Wenn der Explosionsstoff detonierte, zwang man dadurch die hohle Kugel zu implodieren, sie fiel zu einer kritischen Masse zusammen, und an diesem Punkt fand die nukleare Explosion statt. Während ich mir die Zahlen ansah, dachte ich, daß der Punkt, an dem sie kritisch wurde, sicher fast augenblicklich erfolgen würde, bestimmt schneller als bei der Schießmethode. Es würde allerdings ein Problem sein, eine gleichmäßige Schockwelle zu erzeugen. Schockwellen, Druckgefälle… Ich wußte jedoch, daß meine Mathematik dafür ausreichte.
27. Juli 1943 Da die Geometrie von Kugeln zu kompliziert war, machten wir kleine Experimente an Zylindern. Sie machten sie. Natürlich. Ich machte Notizen. In Steno. Das Experiment bestand hauptsächlich daraus, daß man dicke Metallzylinder nahm und sie mit Explosionsstoff und Dämmaterial umgab. Wenn die Explosion erfolgt war, holten sie das zerschmetterte Zylinderstück da heraus, wohin es durch den Druck geschleudert worden war, und betrachteten es aufmerksam. Es erinnerte mich an ein Schullabor. Natürlich hegten alle die Hoffnung, daß das Rohr gleichmäßig zusammenfallen würde, aber sie kamen alle verbogen und deformiert heraus und nicht im geringsten ordentlich. »Mehr Explosionsstoff«, sagte Seth, der die Aufsicht führte. Ich wies ihn darauf hin, daß das lächerlich war. Ich formulierte es ungefähr so: »Wird denn mehr Explosionsmaterial die Röhre nicht einfach in winzige Einzelteile zerfetzen?« Und ich klimperte mit den Wimpern.
Wenn die Röhre zerstört würde, würden wir den einzigen Beweis dafür verlieren, ob der Test erfolgreich gewesen war oder nicht. Als Seth das merkte, funkelte er mich noch finsterer an. Also begannen sie sich Methoden auszudenken, wie man den Moment der Explosion automatisch aufnehmen könnte, denn dann würden wir die Röhre nicht mehr brauchen, wir hätten statt dessen die Messungen. Er gab nie zu, daß ich es war, die ihn auf die richtige Spur gebracht hatte. Die anderen hätten es ihm sowieso nicht geglaubt.
Clare hatte einige Leute zu Martinis eingeladen, und da wir keinen Platz hatten, saßen wir alle auf dem Bett. »Stört es dich nicht manchmal, Mary-Jo?« sagte Joe, der höflich neben meinem Kissen saß. Ich mochte Joe. Er war einer der wenigen Wissenschaftler, der sich die Mühe machte, mir ernsthafte Fragen zu stellen. »Was?« »Diese Dinge, an denen wir hier arbeiten, so eine Bombe – sie würde keinen Unterschied machen, wen sie tötet: Soldaten oder Zivilisten. Wo sie herunterkommt, bringt sie jeden um.« Er schwenkte sein Glas und verschüttete ein bißchen Martini auf dem Holzfußboden. »Sie werden sie nie einsetzen«, entgegnete ich. »Sie dient nur zur Abschreckung. Eine große Explosion in der Wüste. Mehr nicht. Mehr brauchen wir auch nicht. Die Leute werden nicht riskieren wollen, daß ihnen das Ding auf den Kopf fällt. Sie werden sich lieber gleich ergeben.« »Aber es ist doch immerhin möglich, daß sie eingesetzt wird, oder?« »Und?« fragte ich.
»Es ist nicht richtig«, erwiderte er. »Es gibt viele Dinge auf der Welt, die nicht richtig sind«, sagte ich. »Warum bist du denn überhaupt noch hier?« »Ich arbeite daran, weil ich hoffe, daß die Menschheit, wenn wir gewonnen haben und der Krieg vorbei ist, nie wieder kämpfen muß.« »Joe«, sagte ich, »das ist eine hochherzige Einstellung. Und ich möchte dich nie wieder so reden hören. Das ist Volksaufwiegelung.« Und damit kannte ich mich aus. Ich hatte meine Lektion gelernt. Ich würde nie wieder zulassen, daß jemand das mit mir machte, was Heisenberg gemacht hatte. Dieses Mal würden sie alle Informationen bekommen, die sie brauchten, und sie würden es richtig machen.
24. November 1943 Sie hatten immer noch Probleme damit, wo die Explosionsstoffe genau plaziert werden sollten: Das Plutonium würde sich offensichtlich in zwei Halbkugeln in der Mitte befinden, aber was war mit dem Zeug, das sie benutzten, um eine ebenmäßige Schockwelle zu erzeugen? Sollte eine Lücke dazwischen sein? Keine Lücke? Sollte es ein Feststoff sein oder nicht? Und was noch interessanter war – wenn die Explosion einmal gezündet worden war, würde sie dann jemals wieder stoppen? Es war eine faszinierende Sackgasse, daß die erste Atomexplosion das Ende des Universums auslösen konnte, aber ich hatte das schon vor langer Zeit, wie Bethe, als erledigt betrachtet. Dies war das Land der Theorie, in dem wir alle so glücklich spielten wie Kinder im Sandkasten. Ich wußte jedoch von Clares Schnüffelei in den Aktenschränken und von dem
Partygeschwätz, daß es immer noch schwierig war, an das Material heranzukommen, das in der Bombe verwendet werden sollte. Das Produkt der Fabrik am Oak Ridge war so unrein, daß man es nur für einen der Trennungsprozesse verwenden konnte. Im Land der Realität war dies die größte Hürde. Und was noch besorgniserregender war, wenn das Explosionsmaterial nicht eine ganz gleichmäßige Schockwelle um die hohle Kugel herum erzeugte, dann würde diese Kugel zerbersten, bevor sie kritisch wurde. Das hatte nicht allzuviel mit streunenden Neutronen und Prä-Detonation zu tun, sondern einfach damit, daß die Kugel solch erstaunlichen Kräften ausgesetzt war, daß schon ein winziges Ungleichgewicht ausreichte, um sie auseinanderzureißen. Es war zwar schön und gut, perfekte Gleichungen zu konstruieren, um zu zeigen, wie eine idealisierte Welle durch ein uniformes Feld ging. Hier jedoch hatten wir es mit der mangelhaften Landschaft von hartnäckig unvollkommener Realität zu tun. Eine gleichmäßige und völlig symmetrische Schockwelle würde sehr schwer zu erzeugen sein. Ich hielt sie eigentlich für unmöglich. Aber ich arbeitete daran.
16. Dezember 1943 Das Team, für das Clare arbeitete, bestand nur aus Vertretern der Schießmethode. Darauf richteten sich auch die Hauptanstrengungen des Labors, und alle Experimente, die sie aufschrieb, funktionierten. Sie erzählte mir, daß die U-235Neutronen fast alle in weniger als einer Tausendmillionstelsekunde ausgestoßen wurden.
»Schnell genug, wenn du mich fragst«, sagte sie, »damit eine Reaktion stattfinden kann, bevor das Gewehr selbst sich in die Luft jagt.« »Ich habe dich aber nicht gefragt. Seit wann interessierst du dich für Wissenschaft?« »Ich hatte früher nie Gelegenheit, mich dafür zu interessieren.« »Ich habe dir jahrelang etwas über Relativität erzählt. Du hast mir einfach nicht zugehört.« »Das lag daran, daß Relativität nicht so besonders praktisch ist. Das hier ist es aber.« »Ich wünschte, du würdest mich in Ruhe lassen, damit ich mir weiter Gedanken machen kann.« »Ich möchte nur nicht, daß du so weit kommst und dann keinen Erfolg hast, das ist alles. Besinn dich doch, Mary-Jo. Eine Uranbombe ist machbar. Eine Plutoniumbombe nicht. Deine Experimente führen einfach zu nichts.« »Das liegt daran, daß wir nicht genug Plutonium haben.« »Es gibt auch nicht genug Uran. Du hast mir doch selbst gesagt, wieviel Leute in dem Unternehmen in Oak Ridge angestellt sind. Zehntausend?« »Dreizehntausend.« »Dreizehntausend Leute, und was machen sie daraus? Ein paar Gramm Schwarzpulver.« Sie schniefte. »In Hanford«, sagte ich, »arbeiten fünfundvierzigtausend Menschen an der Erzeugung von Plutonium.« »Und was kommt dabei heraus?« Ich antwortete ihr nicht, weil sie die Antwort so gut kannte wie ich. Nichts. Aber sie war nicht nur deshalb plötzlich an Wissenschaft interessiert, weil sie mich von der falschen Spur abhalten wollte, sondern auch, weil wir ein praktisches Problem hatten.
Ein Problem, das gelöst werden mußte. Und sie liebte Herausforderungen. »Ich bezweifle nicht«, seufzte sie, »daß Gott die Dinge so entworfen hat, daß Er sie versteht, auch wenn wir es nicht können.« »Du brauchst Gott nicht, um die Welt zu erklären«, sagte ich. »Dazu reichen die Gesetze der Physik aus. Und die verstehen wir alle letztendlich.« »Nicht unbedingt«, erwiderte Clare. Sie zuckte mit den Schultern in der selbstgefälligen Art eines Menschen, der auf ein ganzes Leben von Kirchgängen zurückblicken konnte. »Gott hat diese Gesetze gemacht. Glaubst du nicht, daß Er sie auf alle möglichen Arten hätte machen können?« »Ich möchte nicht über Gott nachdenken«, entgegnete ich. »Selbst wenn ich an ihn glaubte, könnte ich ihm immer noch nicht vergeben.«
Ich stellte fest, daß ich nicht die einzige war, die sich Notizen machte. In Bethes theoretischem Physikteam war ein deutscher Deserteur, der vor Jahren zu den Engländern übergelaufen und dann von ihnen zu dem Projekt geschickt worden war. Ich traf ihn häufiger bei den Safes an, als normal war. »Kann ich Ihnen helfen, Klaus?« »Ich spreche kein Deutsch mehr, Mary-Jo.« »Kein Problem, Klaus«, sagte ich. »Kann ich Ihnen helfen?« »Nein.« Er hatte die Theorie über die kritische Masse für das Plutonium schneller an die Russen weitergeleitet, als ich sie abtippen konnte. Mir war das egal. Je mehr Leute darüber Bescheid wußten, desto besser. Ich wollte es nicht mehr geheimhalten, im Gegensatz zu den Amerikanern. Ich wollte sogar, daß jeder auf der Welt es erfuhr. Ich wollte, daß sich
alle damit beschäftigten, wenn wir endlich Erfolg hatten. Ich wollte, daß sie erfuhren, was wir getan hatten und wer letztlich dafür verantwortlich war. Mein Vater. Ohne seine Gleichung hätte es gar nicht anfangen können. Je mehr Menschen darüber Bescheid wußten, desto besser, denn nur dann konnte mein Vater den Konsequenzen dessen, was er getan hatte, nicht entkommen und konnte nicht vorgeben, er habe nichts damit zu tun. Ich schickte Klaus weg. Ich hatte zu tun. Ich hatte ein paar Berechnungen über die Implosionsexperimente angestellt, und diese zeigten, daß es nur eine fünfprozentige Abweichung in der Symmetrie der Schockwelle geben konnte. Ich mußte noch mehr Berechnungen machen, um mir ganz sicher zu sein. Und was würde in den Bruchteilen einer Sekunde passieren, bevor das Plutonium eine Nuklearexplosion auslöste? Die Temperatur würde 50 Millionen Grad Celsius erreichen. Der Druck würde größer sein als im Erdmittelpunkt. Ich rechnete blind, aber das taten alle. In der Hauptsache fütterte ich meine Ergebnisse lediglich in die Berichte und Zusammenfassungen ein, und alle dachten, jemand anders hätte sie gemacht. Niemand stellte Fragen. Niemand bemerkte mich. Sekretärinnen sind unsichtbar. Und das paßte mir gut. Ich wollte keinen persönlichen Ruhm. Ich wollte es ihm nur heimzahlen.
6. März 1944 Kleine Mengen Plutonium waren aus Oak Ridge angekommen. Sie wurden hinter einem Schirm aufbewahrt und mit Greifzangen bewegt. Tests zeigten, daß sie viel mehr von dem Isotop Pu-240 enthielten, das eine Quelle von Hintergrundneutronen war, als frühere Mengen. Alles andere
würde nur noch stärker kontaminiert sein. Wie ich vorausgesagt hatte, erzeugte es so viele streunende Hintergrundneutronen, daß die einzige Hoffnung, es zu verwenden, darin bestand, daß die Implosionsmethode funktionierte. Ich dachte an zerschmetterte und verformte Röhren, die durch die staubige Luft der Wüste taumelten und uns wegen der nackten Hoffnungslosigkeit auslachten. Über dem Hill lag eine allgemeine Verzweiflung. Wir hatten jetzt eine Explosionskammer, in der wir verschiedene Hochgeschwindigkeitsphototechniken entwickelt hatten, um die Ergebnisse der Experimente zu messen. Allerdings machten wir nicht besonders viele Experimente. Wir hatten Form und Art des Explosionsmaterials und die Position und Anzahl der Zünder verändert, hatten aber das wesentliche Problem immer noch nicht gelöst: Die Schockwellen, die von einem Punktzünder ausgingen, bewegten sich durch die explodierende Umgebung wie eine Welle, wie eine Welle, die im Wasser von einem Stein ausgelöst wird. Deshalb trifft immer eine gebogene Wellenfront auf die Oberfläche des Kerns, und um eine gleichmäßige Symmetrie zu erreichen, mußte die Welle flach sein. Und schlimmer noch: Wenn mehrere Zünder beschossen wurden, begegneten sich die Wellen und interferierten in jenen vertrauten alten Interferenzmustern, die jede Möglichkeit der Symmetrie zerstören. Bisher hatten wir allerdings noch keine Experimente mit Kugeln gemacht. Und wir wußten alle, daß wir eine Kugel brauchen würden. »Fortschritt?« sagte ich zu Clare, als sie mich auf dem Weg in den 12-Cent-Film danach fragte. »Der Fortschritt ist minimal. Und bevor sie nicht mit Kugeln anfangen, kann ich nichts tun.«
»Es sei denn, du hättest genug Plutonium«, bemerkte sie. »Ich glaube immer noch, daß du das Team wechseln solltest. Du hast so hart gearbeitet, um bis hierher zu kommen. Wirf nicht alles weg.« Zumindest hatte ich nachts keine Einschlafschwierigkeiten mehr, weil ich so lange aufblieb und mit den Konfigurationen der Zünder und Explosionsstoffe, den Diffusionen, der Geometrie und den Wahrscheinlichkeiten herumjonglierte, daß ich sofort, wenn ich dann endlich unter die Decke schlüpfte, ins Dunkel versank.
15. Juni 1944 Eine Linse. Eine Explosionslinse. Das gleiche Prinzip wie eine optische Linse. Die Schockwellen, die durch das dicke Zentrum der Linse gingen, würden verlangsamt werden, die, die durch die dünnen Ränder hindurchgingen, würden am wenigsten verlangsamt. Wenn wir den Kugelkern mit einer Reihe von Linsen umgaben, die alle gleichzeitig gezündet wurden, müßte es möglich sein, die symmetrische Schockwelle zu erzeugen, nach der wir gesucht hatten – bis jetzt vergeblich. Durch die Linsen würden alle Wellen gleichzeitig auf den Kern treffen. Die Idee war mir mitten in der Nacht gekommen. Ich wußte sofort, daß es funktionieren würde, und stellte sicher, daß alle es erfuhren. Innerhalb weniger Minuten tippte ich es herunter. Damit dies jedoch geschah, mußten die Berechnungen bis auf mehrere Dezimalstellen genau sein. Die Detonationen mußten zeitlich absolut aufeinander abgestimmt sein. Eine perfekte Spezifikation für einen Initiator, eine Neutronenquelle, um die Reaktion auszulösen. Vollkommene
Präzision bei dem Explosionsmaterial. Es gab keinen Raum für Irrtümer. Meine Füße schmerzten, vor allem an der Stelle, wo meine Zehen gewesen waren. In meinem Rückgrat war ein kaltes Gefühl, das von niedrigem Blutdruck herrührte. Ich blickte verwirrt auf meine Fingerspitzen, und erwartete, sie von den Fingern abgelöst zu finden. Je mehr Zeit ich mit Theorie verbrachte, desto weniger real kam ich mir vor. Ich fragte mich, ob ich wohl unsichtbar werden und schließlich ganz verschwinden würde, ohne es selbst zu merken, während ich meinen Vater als Gespenst erschreckte.
19. Oktober 1944 Die Anfangstests zur Entwicklung der Linse waren ermutigend. Im Prinzip würde es funktionieren. Um dieses Prinzip in die praktische Realität umzuwandeln, waren noch zahlreiche Experimente und endlose Berechnungen zur Analyse der Ergebnisse erforderlich. Auch das machte mir keine Sorgen. Ich liebte Berechnungen. In jenen Tagen wurden die Canyons um die Mesa herum ständig von Explosionen erschüttert. In den frostkalten Nächten saß ich in wollener oder Thermo-Unterwäsche an meinem Schreibtisch und verlor mich, vergaß sogar die Kälte, vergaß alles in einer Zahl nach der anderen, während ich die Testergebnisse analysierte. Als ein Prototyp-Computer von IBM ankam, um die Zahlen zu zerlegen, liebte ich die Berechnungen sogar noch mehr. Hier war die Chance, von den Standarddifferentialgleichungen abzuweichen, kreativ mit der Mathematik umzugehen. Hier war Zeit und Raum für die Vermutungen, die alle Wissenschaftler anstellen, wenn sie den
nächsten Schritt nach vorn tun. Hier war die Gelegenheit, alles zu glätten, von der Infinitesimalrechnung zum Unendlichen, und um sicherzustellen, daß vollkommene Symmetrie erreicht wurde. Ich hatte das Gefühl, auf der Suche nach etwas Sauberem und Reinem, nach etwas Makellosem zu sein. Obwohl es kein angenehmes Bild war, kam es mir immer häufiger in den Kopf. Meine Kinder waren wie Blutegel, die ihr eigenes Betäubungsmittel absondern, so daß man den Biß nicht spürt; während sie an einem haften, spürt man nichts, und erst wenn sie weggerissen werden, beginnt der Schmerz. Die Kälte und die Berechnungen betäubten den Schmerz ein wenig. Nicht genug, aber ein bißchen.
27. Dezember 1944 Zu Weihnachten bestellte ich Clare ein Set professioneller Schminkpinsel bei einem der Hollywood-Studios, und sie schenkte mir einen Papierlampenschirm mit einer handgezeichneten Weltkarte darauf. Wir nahmen uns zwei Tage frei, und als ich wieder zur Arbeit kam, stellte ich fest, daß die Gruppe zu einer G-Abteilung umorganisiert worden war und sich auf Nuklearphysik konzentrierte. Ich stellte sicher, daß ich bei ihnen blieb. Ein echter Test stand an, und ich wollte ihn nicht verpassen. Vor Weihnachten hatten wir große Fortschritte gemacht, und die symmetrische Schockwelle war jetzt durchaus möglich. Praktisch möglich, nicht nur theoretisch, obwohl die Geometrie unvollkommener Kugeln immer noch mathematische Komplikationen verursachte. Und trotzdem machte ich mir Sorgen. Die Leute begannen zu reden, jetzt wo die Verwirklichung dessen, was sie da eigentlich schufen, näherrückte. Ich zog kostbare Zeit von den Berechnungen ab
und leistete Notfallarbeit, indem ich in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr bei trockenen Martinis die von ihrem Gewissen Geplagten wieder aufrichtete. »Sie tragen nicht die Verantwortung dafür, wie sie eingesetzt wird«, besänftigte ich die Wissenschaftler. »Doch, das tun wir«, erwiderte Joe. Ich füllte sein Glas. »Das ist die Aufgabe der Politiker.« »Sie wissen nicht ein Zehntel von dem, was ich weiß. Ich weiß einfach, wie mächtig dieses Ding ist.« Ich weiß es auch, dachte ich, werde es dir aber bestimmt nicht sagen. »Es wird vielleicht nie benutzt«, sagte ich. »Denken Sie daran. Sie können den Fortschritt nicht aufhalten, nur weil Sie sich Sorgen darüber machen, was die Welt mit Ihrer Erfindung vielleicht anfängt. Wir würden immer noch auf Bäumen leben, wenn wir alle so dächten.« »Sie verstehen es nicht, Mary-Jo, oder? Wenn wir die Bombe haben, setzen wir sie auch ein. Eines Tages. Bald schon. Gegen irgend jemanden.« Das sah ich nicht. »Niemand wird je so dumm sein, dieses Ding einzusetzen. Es würde diejenigen, die sie abwerfen, genauso zerstören wie diejenigen, auf die sie abgeworfen wird. Sicher nicht gleich, aber letztendlich doch.« Einer der Wissenschaftler, der unter Frisch arbeitete, hatte bereits eine tödliche Dosis Strahlung abbekommen. Manche betrachteten das als Vergeltung. Ich war da pragmatischer. Es bestätigte lediglich, daß wir die Bombe nur in der Wüste zünden durften. Da wir mittlerweile die Wirkung eines radioaktiven Fallout kannten, konnte niemand ernsthaft daran denken, diese Waffe gegen Menschen einzusetzen. Ein spektakulärer Knall und Glanz in der Wüstenluft. Das wollte ich. Das war alles, was ich wollte. Und es war alles, was ich brauchte, um meinen Vater in die Knie zu zwingen.
Aber noch war ich nicht annähernd soweit. Meine Berechnungen zeigten, daß die Implosionswaffe nur das Äquivalent von 850 Tonnen TNT hergab. Spektakulär, aber nicht spektakulär genug. Es sollte meine Rache sein – nicht ein feuchter Feuerwerkskörper.
30. Januar 1945 Gerade als wir dachten, es könne nicht mehr geschehen, änderte sich die Welt. In der Wochenschau im Freizeitcenter sahen wir, wie die russische Armee Treblinka entdeckte. Endlich war das Geheimnis aufgedeckt. Hatte Clare das gewußt und sich nur geweigert, mich damit zu belasten? Ich hielt den Atem an. Wenn sie auch nur ein Zehntel von dem gewußt hatte, was vor sich ging, wie hatte sie mir das vorenthalten können? Ich sah die Schwarzweißaufnahmen von den Kindern von Auschwitz, die überlebt hatten, eine Reihe von Zwillingen, vollkommene Geschöpfe vor dem Berg von Leichen. Wie die meisten anderen Frauen in der Halle hörte Clare an diesem Abend gar nicht mehr auf zu schluchzen. Ich weinte nicht. Tränen waren wertlos, bedeutungslos. Ich hatte schon ganze Ströme von Tränen vergossen wegen all der verwundeten Waisen und der Mütter, denen der Krieg ihre Kinder genommen hatte, und es hatte mich nirgendwohin geführt. »Wozu soll das gut sein?« fragte ich, als ich sie über die Planken, die in den Schnee gelegt worden waren, nach Hause brachte. »Wozu soll das ganze Weinen und Klagen gut sein? Du könntest genausogut über jeden Spatz, der einen Flügel verloren hat, über jedes Gänseblümchen, das nicht aufblüht, weinen, es würde keinen Unterschied machen.«
»Es hilft mir«, sagte Clare. »Es ist alles, was ich tun kann.« »Tränen haben noch nie einen Arm oder ein Bein wieder heil gemacht. Weinen fügt nichts zusammen, was gebrochen ist.« »Was ist mit dir los?« Sie sah mich an, während ich den Schlüssel zu unseren Zimmern herauszog. »Was ist bloß mit dir los?« Mein Gesicht war hart. Keine Anzeichen von Trauer. Selbst im Innern war der Brunnen wohl versiegt. »All unsere Tränen«, sagte ich, »heilen nichts, was einmal verletzt worden ist.« Ich öffnete die Tür und schob sie hinein. »Ich weine zu meinem Besten«, sagte sie. »Ohne die Tränen, die es zusammenhalten, würde mein Herz brechen.« Ich dachte an Tina, die ihre rosa Puppe in ihre Wiege legte, an Paul, der eine Sandburg baute, die der Flut trotzte. »Nichts, was du sagst, hilft ihnen jetzt«, sagte ich. »Nichts, was du sagst, kann das je wiedergutmachen.« Ich war grausam zu Clare, weil sie es verdiente. Weil sie meine Kinder nicht gerettet hatte. Weil sie gesehen hatte, was kam, und meine selbstbezogene Besessenheit nicht beendet hatte, damit auch ich es sehen konnte. Sie hätte dafür sorgen müssen, daß sie sicher aus Deutschland hinausgebracht wurden, bevor es zu spät war. Aber sie hatte es nicht getan. Ich sagte: »Du weißt nichts darüber, wie man Dinge zusammenhält.« Dann knallte ich die Tür zu und ging in die Nacht hinaus, um so viel Wodka zu trinken, bis ich irgendwo anders schlafen konnte.
26. Februar 1945 In meinen Träumen gingen Kinder. Ich versuchte, immer weniger zu schlafen, damit ich weniger träumte. Jede Stunde,
die ich wach war, arbeitete ich. Die Arbeit war das einzige, was mir geblieben war. Es sah so aus, als könne Oak Ridge bis zum Ende des Jahres nur so viel Uran produzieren, wie wir für eine Uranbombe brauchten. Und die Plutoniumbombe würde nur funktionieren, wenn die Implosion richtig funktionierte. Die augenblicklichen Schwierigkeiten standen hundert zu eins gegen jede andere Arbeit. Das Projekt brauchte alle Hilfe, die ich geben konnte. Bis tief in die Nacht grübelte ich über Zahlen, Ausdrucken und den Summen unzähliger kleinerer Kollisionen, und ich sah Clare wochenlang nicht. Ich war immer noch zu wütend auf sie, um höflich mit ihr zu reden. Doch dann, als der Winter voranschritt und die Kälte immer beißender wurde, sah ich sie tagsüber zwar immer noch nicht, kroch aber des Nachts neben sie in das schmale Bett und drückte meine kalten Gliedmaßen an ihre warmen, um warm zu werden und um mich zu wärmen. Was spielte es jetzt schon noch für eine Rolle, daß sie versucht hatte, mich zu schützen? Ihr einziger Fehler hatte darin bestanden, daß sie mich zu gut beschützt hatte und daß ich deshalb die wahre Gefahr nie erkannt hatte. Ich versuchte, ihr zu verzeihen. Es stand allerdings außer Frage, daß ich mir selbst nie verzeihen würde. Ich hatte in der letzten Zeit Gewicht verloren, weil ich vergaß, zu essen, und meine Arme waren trotz der dicken Wollschichten dünn und kalt. Ich rauchte immerzu, selbst wenn ich kein Verlangen danach hatte. Zudem sah ich älter aus. Jeden Morgen, wenn ich durch das enge Tor in die TAI, den Haupttechnikbereich, ging, dachte ich, daß ich, wenn ich mir nicht das Gesicht mit einer so dicken Make-up-Schicht zukleisterte, bestimmt auffallen würde. Dabei mußte ich noch ein bißchen länger unsichtbar bleiben. Ich mußte dieses Ding
zum Funktionieren bringen, sonst würde alles andere bedeutungslos werden.
23. März 1945 Es gab zwei gute Nachrichten. Die kritische Masse würde nur ungefähr fünf Kilo betragen, weniger, als wir erwartet hatten, solange wir nur theoretische Berechnungen durchführen konnten. Und jemand hatte einen Zünder entwickelt, der so akkurat feuern konnte, wie die Implosion es brauchte. Es war jetzt ebenfalls klar, daß die Deutschen den Krieg verlieren würden, und die Leute um mich herum wurden weniger von ihrem Gewissen bedrückt. Wir würden diese Waffe nie einsetzen müssen, weil der Krieg vorüber wäre, bevor sie fertig war. Clare, die in den täglichen Gottesdienst ging, schrieb diese Entwicklung der Kraft ihrer Gebete zu. »Ich halte Beten für noch sinnloser als Weinen«, sagte ich. »Wenn man weint, fühlt man sich hinterher zumindest besser. Beten macht alles nur noch schlimmer. Wenn du da kniest, baut sich dein Schuldgefühl auf, bis du ihm nicht mehr ausweichen kannst.« »Das kannst du sowieso nicht«, entgegnete sie. Ich widersprach ihr nicht, weil es mir genauso ging.
13. April 1945 Überall auf dem Hill waren die Fahnen auf halbmast geflaggt, weil unser Präsident tot war. Ich jedoch war in einer besseren Stimmung, weil es Fortschritte gegeben hatte. Wir planten eine Generalprobe mit
100 Tonnen TNT. Der Balanceakt mit der Geometrie der Explosionslinsen gelangte zu einem Ende, weil wir der Perfektion immer näher kamen, und die T-Abteilung hatte einen Initiator entwickelt, der vielversprechend aussah. Die Dinge wurden immer symmetrischer, gerieten immer mehr ins Gleichgewicht. Ich tippte ein Telegramm, in dem Truman mitgeteilt wurde, daß die Bombe im Juli bereit zum Test wäre. Wahrscheinlich bekam er daraufhin einen Schock.
7. Mai 1945 Clare hatte die ganze Woche über zusammenfassende Berichte getippt, sagte sie, weil Harry Truman über jede Einzelheit, die unter den Bergen vor sich ging, informiert werden mußte – er hatte nichts davon gewußt. »Truman ist ein Trampel«, sagte sie. »Es kann gar nicht anders sein. Er versteht überhaupt nicht, was hier vor sich geht. Ich schreibe Sachen wie ›Das ist ein GROSSER Explosionskörper‹.« »Das spielt keine Rolle«, entgegnete ich. »Nichts spielt mehr eine Rolle. Der Krieg in Europa ist vorbei.« »Aber der Krieg im Pazifik nicht«, sagte Clare. »Das hat nichts mit uns zu tun«, erwiderte ich. Es hatte jedoch insofern damit zu tun, als dieses Unternehmen dort oben in der Mesa kein Rennen mehr auf Leben oder Tod war. Das Ende des Krieges machte mir noch deutlicher, daß es bei unserer Arbeit nur um das reine Interesse ging. Um nichts anderes. Niemand konnte etwas riskieren. Der radioaktive Abfall bei dem Versuch mit den 100 Tonnen TNT sollte eine harmlose Fallout-Simulation ergeben, nach der Explosion und einem allgemeinen Hurra jedoch waren die
Ergebnisse niederschmetternd. Die Wolke aus der Explosion war von den Höhenwinden weiter weggetragen worden, als wir es uns in unseren kühnsten Träumen vorgestellt hatten, Hunderte von Meilen. Der Ausstoß von der echten Bombe würde noch weiter weggetragen. Und dem Regen, der aus der Wolke kam, wäre es egal, auf welcher Seite die Menschen standen.
12. Juni 1945 Ich schlief noch weniger, weil ich spürte, wie es näherrückte. Das Team, für das ich Steno schrieb, fuhr nach Trinity, um sich den Turm anzusehen, der am Point Zero für den Test dort gebaut wurde, und ich fuhr mit. Der Entwurf der Plutoniumbombe war immer noch so instabil, daß Oppenheimer darauf bestand, ihn im geheimen zu testen. Dann würde es niemand erfahren, wenn sie versagte. Der Ort war ein Alptraum. Trinity war voller GIs, Physiker, Meteorologen und Telefonisten, die überall herumwimmelten und sich gegenseitig anschrien. Es gab giftige Spinnen, Skorpione, Schlangen und Reptilien in der Wüste. Obwohl wir morgens um fünf Uhr aufstanden, um die kühleren Stunden zu nutzen, trocknete uns die Hitze die Gehirne aus. Jeder war mit jedem in Funkkontakt, und obwohl es angeblich eine sichere Frequenz war, waren wir auf dem gleichen Kanal wie ein Eisenbahndepot 600 Meilen weit entfernt in San Antonio, und Kommentare über die voraussichtlichen Wetterbedingungen wurden unterbrochen von Eisenbahnleuten, die ihre rollenden Lager verschoben. Staub und Sand gerieten in die Meßinstrumente, und alle hatten schlechte Laune. Und es gab so viele Meßvorrichtungen dort draußen, daß es ein Wunder war, daß sie überhaupt etwas
Vernünftiges zustande brachten und sich nicht nur gegenseitig maßen. In Holzkästen wurden Bodenbetagrammonitore, Meßuhren, Zähler, Lesegeräte, Drucker aufbewahrt – endlose Dinge, mit denen andere Dinge gezählt werden konnten. Ich mußte lachen. Wir hofften auf eine nie dagewesene Explosion, und wir maßen sie mit Bergen von Papier. Einer der Wissenschaftler nahm Wetten entgegen, wie hoch die Durchschlagskraft der Bombe sein würde. Die offizielle Vorhersage lag bei 5000 Tonnen TNT. Bethe wettete auf 8000, Kistiakowsky auf 1000 und Teller auf 45000. Geld wurde eingesetzt, und jeder hatte eine gute Chance zu gewinnen, da die Situation so ungewiß war. Der Staub klebte an unseren Gesichtern. Das Wasser, mit dem wir uns wuschen, war stark alkalihaltig, und die Haut schuppte sich. Die Leute waren gereizt, Wutausbrüche an der Tagesordnung. Auch meine Stimmung war angegriffen, aber ich ließ mir nichts anmerken. Ich hatte schlechte Laune, weil die theoretisch so perfekten Detonatoren einfach unzuverlässig waren. Nur einer von den Dutzenden um die Bombe herum mußte versagen, und die Symmetrie wäre zum Teufel. Dann wäre die Durchschlagskraft minimal. Und die Zünder, die noch vor kurzem voller Stolz von der Ingenieursabteilung präsentiert worden waren, versagten regelmäßig und unerklärlich, ohne Vorwarnung. Ich wünschte, das Team, das an ihnen gearbeitet hatte, wäre besser. Ich wünschte, ich könnte eingreifen und ihnen ein paar von meinen Berechnungen zeigen, aber ich konnte nicht an zwei Stellen zugleich sein. Und neben meiner nächtlichen Arbeit an all den kleinen Korrekturen, die ich in den Berichten vornahm, wenn ich sie abtippte, hatte ich schließlich auch noch meine reguläre Arbeit.
Ich blickte zu dem Turm hinauf. Man wollte die Bombe auf der Spitze plazieren, um die Größe der Staubwolke und ihre tödlichen Konsequenzen zu verringern. Aber keiner von uns wußte, was wirklich passieren würde, ob diese Vorsichtsmaßnahme auch nur den kleinsten Effekt haben würde. Es war nur eine von vielen Vermutungen, und wir mußten uns sowieso auf unser Glück verlassen. Ganz abgesehen von der Windrichtung, konnten wir immer noch nicht ganz die Möglichkeit ausschließen, daß die Detonation die Erdatmosphäre in Brand setzen würde. Im Schatten dieses hohen Turms herrschte Panikstimmung. Niemand wollte es zugeben, alle taten mutig und geschäftig, aber unterschwellig war sie da. Manchmal wurde aus der Panik Verzweiflung. Es spielte keine Rolle, ob jetzt noch jemand Gewissensbisse hatte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Es war zu spät. In den Nächten hielt Clare mich im Arm, damit ich nicht zitterte, etwas, das mir trotz des warmen Wetters immer noch passierte. Sie sagte nichts, ich sagte auch nichts.
1. Juli 1945 Anfang Juli war alles wesentlich besser geworden. Wir hatten eine definitive Zahl für die kritische Masse. Wir hatten bessere Zünder. Noch erfreulicher war die Tatsache, daß die Niederlage Japans jetzt unvermeidlich war. Die japanische Marine war zerstört, die meisten größeren Städte niedergebombt. Der Krieg war fast vorbei, der Turm war gebaut, und wir waren bereit. Wir hatten sogar eine neue Initiatoreinheit. Ich hatte mir eine zeitweilige Beschäftigung im Labor gegönnt und nach ein paar Tagen herausbekommen, wo ihr Problem lag. Für mich
leuchtete es natürlich hell wie die Sterne, ein einfacher Fehler in der Basisgeometrie, aber sie konnten es nicht sehen. Ich schrieb Seiten voller Gleichungen, damit sie endlich erkennen konnten, daß meine Veränderungen sinnvoll waren. Und ich präsentierte sie ihnen als einen alten Bericht, den ich bei meiner Arbeit ganz hinten in einem staubigen Aktenschrank entdeckt hatte. Als sie ihn durchlasen, verstanden sie, worauf der Bericht hinauslief. Sie mußten zwar das Ganze selber noch einmal durchrechnen, um sicherzugehen, aber das Team hatte es jetzt geschafft, und sie gratulierten sich selbst zu ihrer Erkenntnis. Mit der Einrichtung der neuen Initiatoreinheit hatte ich endlich das letzte Rädchen in Gang gesetzt; jetzt lag es nicht mehr an mir. In den vergangenen Tagen war der endgültige Zusammenbau des Kerns heimlich vonstatten gegangen. Das Explosionsmaterial war von Los Alamos hergebracht worden. Der Kern war tief in das Explosionsmaterial versenkt worden. Alles war fertig. Ich konnte nichts mehr tun. Ich kam mir vor wie ein Theaterregisseur, der nach der Generalprobe alles den Schauspielern überlassen muß und einfach nur hilflos dasitzen und sich die erste Vorstellung ansehen kann. Ich hatte die beste Zeit meines Lebens auf diesen Tag gewartet, aber jetzt war es an den anderen, einen Erfolg daraus zu machen. Ich war schon fast eingeschlafen und lag zitternd unter dem Wüstenhimmel, als ich plötzlich etwas spürte, das ich schon seit Jahren nicht mehr gespürt und beinahe schon vergessen hatte. Fingerspitzen auf meinem Arm, hinauf bis zu meiner Schulter, wieder hinunter bis zu meinem Handgelenk. Es war eine vertraute Berührung, leicht und sanft, nicht bedrohlich, nicht angsteinflößend, nur seltsam. Noch lange, nachdem es aufgehört hatte, lag ich wach und dachte darüber nach, wer das wohl gewesen sein mochte.
15. Juli 1945 Das Wetter war umgeschlagen. Nach Monaten unerträglicher Hitze in diesem verzauberten Sommer war der Himmel bedeckt. Stürme waren angesagt. Die ganze Nacht über hatten wir beobachtet, wie die Wetterballons über uns segelten, und den ganzen Morgen über war der Himmel mit Wolken bedeckt. Clare kam von der Südstation, um mir von einem Memo zu erzählen, das sie gerade gesehen hatte. Sie konnte es mir nicht über Funk sagen, weil sie nicht Gefahr laufen wollte, neben der ganzen Mannschaft auch noch die Eisenbahnleute in San Antonio zu informieren. »Sie haben auf der Basis einen Durchlauf mit einem Dummy gemacht, um die symmetrische Explosion zu testen.« »Und?« »Sie war nicht nur asymmetrisch, es war das komplette Chaos.« »Warum erzählst du mir das?« »Ich möchte nicht, daß du dir zuviel erhoffst, Mary-Jo. Ich glaube, du solltest dich darauf einstellen, daß es vielleicht nie funktioniert.« Wir sahen zu, wie sie die Bombe langsam den Turm hochzogen. Sie sah häßlich aus, ein Gewirr von Drähten und Kabeln, das die vierundsechzig Zünder mit dem Kern verband. Auf den Boden darunter hatten sie ungefähr 20 Fuß hoch Matratzen gelegt. Wenn sie herunterfiel, würde es allerdings nicht den geringsten Unterschied machen, ob sie weich landete. Wenn sie funktionierte. Und das schien zunehmend unwahrscheinlich. Der Wind wurde stärker und blies uns den Staub ins Gesicht. Ich war darauf angewiesen, daß sie funktionierte. Wozu wäre
mein ganzes Leben sonst gut gewesen, wenn sie nicht funktionierte? »Laß uns abwarten«, sagte ich. »Ich muß zurück«, erwiderte Clare. »Ich muß Kameras überprüfen. Ist mein Lippenstift in Ordnung?« Ich küßte sie. »Perfekt.«
16. Juli 1945 Ich war nicht im Bett gewesen. Mein vorgesetzter Offizier auch nicht, aber das hielt ihn nicht davon ab, in den frühen Morgenstunden Pfannkuchen mit Ahornsirup zu bestellen. Während er sich den Sirup darübergoß, runzelte er die Stirn. »Was ist los, Sir?« fragte ich ihn. »Machen Sie sich Sorgen, daß es nicht funktioniert?« »Nein«, sagte er. »Ich mache mir Gedanken darüber, daß es das tut.« Es hatte neue Eintragungen im Buch gegeben. Manche der Wissenschaftler hatten Wetten darüber abgeschlossen, wie weit die Reaktion sich ausbreiten würde, ob sie zur Zerstörung allen menschlichen Lebens auf dem Planeten oder nur des menschlichen Lebens in New Mexico führen würde. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Sir?« Er wandte sich um und musterte mich. »Wenn die Explosion erfolgt, können Sie mit den anderen da rausgehen und photographieren. Wenn es funktioniert, brauchen wir die Aufnahmen. Wenn es nicht funktioniert, brauchen wir sie auch.« Ich bekam eine Ausrüstung und stand wartend mit dem Rest der Menge da, bis wir neue Anweisungen bekamen. Wenn sich der Wind nicht drehte, würden wir alles aufschieben müssen.
Regen rauschte auf das Dach. Ein Nachlassen des Sturms würde nichts nützen: Wenn wir kurz vor dem Regen zündeten, dann würden wir vom Fallout durchweicht. Der Himmel mußte aufklaren. Es waren nur noch drei Stunden bis zum Morgengrauen. Wir mußten die Bombe im Dunkeln testen, damit wir sie richtig sehen konnten. Wenn wir also nicht bald eine Entscheidung trafen, müßten wir wegen der Helligkeit den Test aufschieben. Um vier Uhr morgens hörte der Regen auf. Eine Dreiviertelstunde später hörten wir den endgültigen Bericht: »Leichter Wind. Die Bedingungen halten für die nächsten zwei Stunden. Der Himmel ist jetzt aufgerissen.« Eine kleine Gruppe von Soldaten ging zum Turm, um die Mechanismen in Gang zu setzen. Der Zeitpunkt wurde für 5.30 Uhr festgesetzt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Also stieg ich in einen der Busse, die uns in die Wüste brachten, nach White Sands. Ich legte mich mit einem anderen Photographen namens Mike in ein Loch. Er war einer der Photographen, die das Militär hinzugezogen hatte und die sowenig Informationen wie möglich bekommen hatten, nur für den Fall, daß alles schiefging. Wenn das ganze Experiment aufgedeckt werden mußte, dann war es besser, wenn die meisten Leute nur wenig wußten. Wenn das Ding jedoch wundersamerweise funktionierte, dann brauchte man uns zur Dokumentation. »Hallo, Mike«, sagte ich. »Wissen Sie, welche Belichtungszeit ich wahrscheinlich brauche?« fragte er. Ich setzte meine Sonnenbrille auf. »Normal«, erwiderte ich. Wenn ich vom Licht von einer Million Sonnen geredet hätte, wäre das wahrscheinlich nicht allzu gut angekommen. Zero minus zwanzig Minuten. Abgesehen von einer Chirurgenmaske aus dünner Gaze hatte man uns keine
Schutzkleidung gegeben. Ich sagte Mike, das sei völlig ausreichend, aber ich cremte mein Gesicht mit Sonnenschutzcreme ein und wand mir auch einen Schal um den Hals. Wir waren zwar acht Meilen von der Explosion entfernt, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Ich hörte über Funk den Countdown und wußte nicht, was ich erwarten sollte. Hauptsächlich dachte ich, es würde nichts passieren oder wir hätten vielleicht eine Teilexplosion, nicht spektakulärer als die Bombenexplosionen, die wir alle im Krieg gesehen hatten. Aber nur der volle Effekt konnte mich jetzt zufriedenstellen. Totale Rache. Ich war verlassen worden, und dies war endlich der Moment, in dem ich es ihm heimzahlen konnte. Minus eine Minute. Minus fünfundfünfzig Sekunden. Es mußte funktionieren. Bei minus fünfundvierzig Sekunden legten sie den Schalter für den automatischen Zeitmechanismus um. Bei minus fünf Sekunden betätigten sie den manuellen Schalter. Zero. Ohne einen Laut verschwand alle Dunkelheit und Farbe. Nichts als erstaunliches Weiß, wohin ich auch blickte. Intensives weißes Licht. Ich fühlte sein Strahlen auf meinem Gesicht, und es versengte mir die Haut. Langsam bekam das Licht einen gelblichen Schimmer. Es war überall. Es war sehr hell, aber ich sah trotzdem weiter hin und blinzelte; ich wollte nichts verpassen. Ich vermutete, daß nur ultraviolette Strahlen meinen Augen schaden konnten, und dagegen hatte ich die Sonnenbrille aufgesetzt. Ich sah weiter hin, und das Licht verwandelte sich entlang des Spektrums langsam in Orange. Die tiefe Stille begann mich zu beunruhigen. Eine kleine Sonne ging gemächlich über einer Säule aus wirbelndem Staub auf.
Es war völlig still. In den Filmen heutzutage werden Geräusch und Bild immer so zusammengeschnitten, daß sie gleichzeitig wirken, aber natürlich sind sie das nicht, nicht aus dem menschlichen Blickwinkel. Die Welt war still und blieb still. Mike begann das Licht zu photographieren, das langsam an Intensität verlor. Mindestens dreißig Sekunden vergingen. Das war nicht das, was ich erwartet hatte. Ich sagte zu Mike: »Es hat nicht funktioniert.« Um die Säule herum war jetzt ein blauer Schimmer ionisierter Luft. In meinem Magen bildete sich ein Klumpen der Enttäuschung. »Was hat nicht funktioniert?« Ich wartete zehn Sekunden, dann öffnete ich meinen Mund. Ich konnte es ihm ebensogut erzählen. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. In diesem Augenblick bebte der Boden, und wir hörten den plötzlichen Knall der Detonationswelle, so scharf und laut, daß es in den Ohren schmerzte, gefolgt von einem leisen Grollen, wie Donner. »Was war das?« sagte Mike. »Das«, erwiderte ich, »war…« Und dann spürte ich einen Druck, der so stark war, daß er weh tat, als stemmten sich hundert Hände gegen mich. Aber es war das Gegenteil von Kraft, etwas wie zwischen den Gezeiten, die Antithese jeder Explosionswelle. Und mit der spürbaren Verringerung des Drucks kam ein seltsames Gefühl in meine Ohren. Ein ähnliches Gefühl habe ich erst Jahre später wieder in einem Flugzeug empfunden, das rasch an Höhe verlor. Diese Erfahrung vermittelte auch ein Gefühl von kurz bevorstehendem Tod. Der Feuerball wuchs. Ich jubelte vor Entzücken. »Ich habe es geschafft«, sagte ich zu Mike. »Ich habe es geschafft. Mindestens 20000 Tonnen TNT. Teller war wahrscheinlich am nächsten dran.«
Mike kletterte aus dem Graben und begann zu photographieren. Der Wüstensand sah aus wie ein Kuchen, der ein wenig zu lange im Ofen gewesen war, fest und glänzend, aber trocken und unappetitlich. Ich kletterte auch hinaus und sprang vor Aufregung auf und ab. Ich schwenkte meine Arme über dem Kopf und tanzte vor und zurück und fühlte dabei, wie die Hitze auf meinen Armen und Beinen und meinem Nacken brannte. Die Schockwelle grollte immer noch unter meinen Füßen, und ich tanzte immer weiter, schrie vor Freude und blickte auf die Flammen und das Feuer. Tausende winziger Wüstenkreaturen rannten aus ihren Erdlöchern auf uns zu, verrückt vor Angst, weg vom Explosionszentrum. Dann wurde alles wieder ruhiger, und wir riskierten einen Blick in den Himmel. Ich hatte noch kein einziges Photo geschossen und konnte auch noch nicht damit anfangen. Ich konnte nur auf die Wolke starren, die sich über unseren Köpfen bildete. »Was war das?« fragte Mike noch einmal. »Das«, sagte ich, »war die praktische Demonstration, daß Einsteins Masse-Energie-Gleichung richtig war. Winzige Mengen von Masse. Riesige Mengen von Energie.« Mike sah mich an, als sei ich verrückt geworden. »Es ist eine Atombombe«, fuhr ich fort. »Wenn er das erfährt, wird er es bereuen, je etwas in den Annalen der Physik veröffentlicht zu haben, das kann ich Ihnen sagen.« Früher einmal war alles nur Wunder und Anbetung gewesen. Die Menschen konnten nur starren, verwirrt, zufrieden, unfähig, auch nur irgendein Phänomen der Natur zu erklären. Aber in unserer Zeit gab es nur Wissenschaft und keine Wunder. Ich wußte, daß es nur Wissenschaft gab, und trotzdem empfand ich an diesem Tag in der Wüste etwas, was Anbetung sehr nahe kam. Es war der 16. Juli 1945. Ich war acht Meilen
entfernt vom Ground Zero, und ich sah, wie der Sand verdampfte und die Felsen darunter in der Hitze und dem Licht zu grünem Glas wurden. Ich hatte es geschafft, und ich war voller Erstaunen. Erstaunen und tiefer, tiefer Freude. Er hatte ganz recht gehabt, der junge Mann mit seinen Gleichungen im gefrorenen Schnee, und mein Vater hatte es leugnen wollen. Ich würde es nicht zulassen. Er konnte es nicht mehr leugnen. Er konnte mich nicht mehr verleugnen. Es hatte zwanzig Jahre gedauert, aber ich hatte es geschafft. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, ehe mein Vater erfuhr, was ich getan hatte. Nur eine Frage der Zeit, bevor meine Rache vollendet war. Ich wünschte nur, ich könnte sein Gesicht sehen, wenn er die Nachricht erhielt. Ich wünschte, ich könnte sie ihm selbst überbringen. »Du«, würde ich sagen. »Sieh, was du geschaffen hast. Alles, was du angefaßt hast, hat sich in Zerstörung verwandelt. Und weißt du, wer dir das sagt? Ich. Deine Tochter. Die du zurückgelassen hast. Die du verlassen hast. Die eine, die du vergessen wolltest.« Ich hatte ihn endlich mit Schwerkraft und Licht bekämpft. Und ich hatte gewonnen. Das Licht, das ich an diesem Tag erschaffen hatte, das Licht, das über Trinity leuchtete, war so hell, daß es blind machte. Plötzlich wurde der Schatten, den dieses neue Licht über den Sand warf, bedrohlich, dämonisch. Auf einmal war ich nicht mehr stolz auf mich selbst. Ich wurde sehr müde.
Eine erstaunte Fliege flog durch den Graben. Es war nur eine Fliege, aber sie hielt uns in Bann. Mittlerweile hatte Mike seinen ganzen Film verschossen, und wir warteten darauf, daß uns der Bus abholen käme. Die Fliege summte dahin, tödlich
und langsam, eine Killer-Schmeißfliege wie ein Sturzkampfbomber, die in der heißen Jahreszeit stirbt. Mike zog seinen Schuh aus und erschlug sie. Zwanzig Minuten später wurde unser Bereich für »schmutzig« erklärt, und wir wurden evakuiert. Mittlerweile war aus der Wolke ein häßlicher Fleck am blauen Himmel geworden, der das Licht wegnahm. Wir zogen unsere Kleider aus – natürlich nicht unsere Unterwäsche, die Sorge um die Sicherheit erstreckte sich nicht auf unsittliche Körperteile –, duschten, duschten noch einmal, holten uns etwas zu trinken und ein paar Salztabletten und zogen uns wieder an. »Da«, sagte ich zu Mike und reichte ihm meinen radioaktiven Schal und die Sonnenbrille. »Wirf sie in die entsprechenden Behälter.« Wir fuhren zurück zur Basis. Ich fühlte mich erregt, aber erschöpft. Ich hatte zuwenig geschlafen, und die ganze Tipperei, die vor mir lag, war endlos. Der Bus rumpelte, und mein Kopf flog gegen das Fenster. Überall im Bus redeten die Leute. Wir leben, das war eines der Gesprächsthemen. Wir haben die Sonne auf der Erde gesehen, war ein anderes. Das hörte ich immer wieder. Viele Leute schrieben in ihren Berichten über den heiligsten aller Orte in der Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts, daß das, was wir gesehen hatten, wie die Sonne war, aber jetzt, wo ich eingehender darüber nachdachte, kam es mir nicht mehr so vor. Die Macht, die ich an diesem Tag geschaffen hatte, war unbegrenzt und unendlich, aber es war keine lebensspendende Kraft, sie ließ nichts wachsen. Meine Bombe war eine ins Gegenteil verkehrte Sonne: unbegrenzte Zerstörung, nicht unbegrenztes Leben. Aber selbst eine neue Sonne war nicht genug für sie. Das entnahm ich dem Ausdruck auf ihren Gesichtern. Sie wollten
nur eines wissen: »Wann können wir diese Bombe wirklich einsetzen?« Sie träumten bereits den Traum, dessen Grundlage ich allen an diesem Tag geschenkt hatte: den Traum von unvorstellbarer Macht. Seit Zeus seine Blitze losgelassen oder Thor den Hammer geschleudert hatte, um die Erde zu zerschmettern, war die Menschheit dem mythologischen Traum von der universellen Zerstörung nicht mehr so nahe gekommen. Und ich hatte ihnen das Mittel dazu gegeben. Doch dann wurde mir langsam übel, und mir dämmerte die Erkenntnis, daß etwas schrecklich schiefgegangen war.
1. August 1945 Ich forderte Clare auf, mir alles zu sagen, was sie wisse, alles. »Die Wahrheit«, sagte ich. »Die Wahrheit macht dich frei, vergiß das nicht.« »Wir haben dem Präsidenten in Potsdam mitgeteilt, daß der Trinity-Test erfolgreich verlaufen ist.« »Wie?« »Per Telegramm.« »Text?« »Das Baby ist geboren.« Ich mußte beinahe lachen. Baby war nicht das Wort, das ich gewählt hätte. Auf jeden Fall wußte Truman nun, daß er Manhattan besaß. Er besaß es und sonst keiner. »Was wird er damit tun?« »Den japanischen Bürgern wird gesagt, sie sollen Bambusstäbe anspitzen und bei der Verteidigung ihres Heimatlandes für den Kaiser sterben.« »Werden sie sich je ergeben?«
»Die Armee wird bis zum letzten Mann für den Kaiser kämpfen. Schließlich ist er ihr Gott.« »Gibt es keine Hoffnung?« »Die japanische Führung hat versucht, den Krieg durch Vermittlung der Sowjetunion zu beenden.« »Du bist bemerkenswert gut informiert«, sagte ich. »Ich bin befördert worden«, erwiderte sie. »Persönliche Assistentin.« »Wissen die Leute, daß die Japaner gern möchten, daß der Krieg zu Ende geht?« »Truman hat beschlossen, daß Nachrichten von dem japanischen Wunsch nach Frieden geheimgehalten werden sollen.« »Zeig mir die Akten.« »Mary-Jo…« »Zeig sie mir.« Sie zeigte sie mir. Sie waren in einem staubigen Büro, in einem Aktenschrank. Ich brauchte fünf Sekunden, um sein Kombinationsschloß aufzubrechen. »Die erste Akte«, sagte Clare. »Sie können vorschlagen: ›keine technische Demonstration, die den Krieg wahrscheinlich beendet. Es gibt keine akzeptable Alternative zu militärischer Verwendung.‹ Da. Jetzt hast du’s.« »Das ist noch nicht alles«, sagte ich. »Da muß noch mehr sein.« »Kaum…« »Da muß noch mehr sein, ich weiß es. Ich möchte es sehen.« Wir durchforsteten die anderen Aktenschränke und fanden die Protokolle des Interim-Komitees. Dieses ausgewählte Komitee gab drei wichtige Empfehlungen: - daß die Bombe gegen Japan eingesetzt werden sollte - daß das Ziel militärischer Art sein, aber in Wohngebieten der Zivilbevölkerung liegen sollte
- daß die Bombe ohne vorherige Warnung abgeworfen werden sollte. »Das wollte ich nicht«, sagte ich. »Das wollte ich ganz bestimmt nicht.« »Du meinst, du hast sie diese Millionensummen ausgeben lassen, um deine neue Waffe zu entwickeln, und willst mir jetzt erzählen, du hast nicht geglaubt, daß sie sie auch einsetzen?« Clare wandte sich mir zu, erwartungsvoll, zweifelnd, kaum fähig zu glauben, was sie gleich hören würde. Es klang schwach, selbst in meinen Ohren. »Nein«, sagte ich. »Ich habe nie geglaubt, daß sie sie einsetzen würden.«
Zwei Tage später stellten sie Oppenheimer die gleiche Frage. Er holte tief Luft, als ob er über dieses Ansinnen ernsthaft nachdächte, und dann redete er. Ich hörte zum ersten Mal die Worte, die die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beherrschen sollten: »Kein Kommentar.« Was hätte er sonst sagen sollen? Was hätte ich sagen sollen? Selbst wenn wir gesagt hätten, nein, wir haben nicht geglaubt, daß sie sie einsetzen, wenn wir das hundertmal gesagt hätten, hätte uns das niemand abgenommen. In den Zeitungen wurde Oppenheimer immer öfter der Vater der Atombombe genannt. Das war, bevor er anfing, sich als Zerstörer der Welt zu bezeichnen, bevor er über Sünde redete, als er noch froh war, daß sie ihm zugeschrieben wurde. Aber ich wußte, daß er schließlich über Sünde reden würde, weil ich wußte, was der anfänglichen Euphorie folgte. Ich hatte meine Rache auch nur ein paar Augenblicke lang genießen können, bevor mir die Augen für die Realität dessen, was ich getan hatte, geöffnet wurden. Ich hatte etwas Falsches getan.
Jetzt wußte ich das, und dieses Wissen würde mich immer verfolgen. Und trotz dieses Wissens und dieser Schuld sah ich keine Möglichkeit zur Buße. Plötzlich sehnte ich mich nach der Zeit, von der Desanka mir in ihren Geschichten erzählt hatte, nach den alten Tagen, als alles verläßlich war, als Bauern ihre Kühe hüteten, Prinzessinnen in entfernten Schlössern lebten und Hexen verbrannt wurden. Die Tage, bevor wir wußten, daß Moleküle tanzten. Die dunkle Zeit, in der ich – verwundert und unwissend – vielleicht vor Freude getanzt hätte und nie aus Kummer hätte aufhören müssen.
»Du hast wirklich geglaubt, sie würden sie nicht einsetzen?« Clares Worte hallten in dem staubigen Büro. Ich konnte nur an Mütter, Ehemänner und Kinder denken, die nicht früh genug gewarnt werden würden. »Ja.« Ganz gleich, wo ich jetzt hinging, ganz gleich, wieviel Zeit in der Welt verging, ich war schuldig und würde immer schuldig bleiben. »Manchmal, Mary-Jo, bist du unglaublich dumm.« Clare knallte den Aktenschrank zu. Sie mußte fort, um das Protokoll des Zielkomitees aufzunehmen. Als sie wiederkam, um mir zu sagen, daß sie Hiroshima ausgewählt hatten, war ich schon weg.
11 Das Tal
6. August 1945 Die Bombe explodierte um 8.14 Uhr morgens über der Brücke in Hiroshima, 1800 Fuß über dem Boden. Oben auf dem Hill war ich isoliert gewesen. Ich hatte mich abgesondert, genau wie im Berliner Labor, obwohl es mir dort nicht aufgefallen war, weil ich keine Zeit gehabt hatte, darauf zu achten. Weil ich nicht zugelassen hatte, daß ich es merkte. Nun aber, auf der anderen Seite der Tore, begann die Welt wieder. Zur Zeit der Explosion, stellte ich später fest, stand ich gerade auf dem Bahnsteig im Bahnhof von Santa Fe, meinen Passierschein sicher in der Handtasche für den Fall, daß ein Militär überwachsam sein wollte. Niemand durfte ohne endlose Überprüfungen in den Hill oder wieder heraus. Die grünen Bäume zu beiden Seiten des Schienenstrangs schienen kühl, groß und unbeeindruckt. Den Raum zwischen ihren Stämmen hatte kein menschlicher Atem getrübt, seit die Schienen vor einem Jahrhundert gelegt worden waren. Sie hatten das Baby auf der Insel Tinian der Luftwaffe übergeben. Sie wollten bedingungslose Kapitulation. Keine Versprechungen. Keine Sicherheiten. Keine Garantien. Ich setzte mich ans Fenster und stellte meine Reisetasche neben die Tür. Mir gegenüber saß ein Geschäftsmann mit einem Aktenkoffer voller Papiere, die er auf dem Tisch zwischen uns ausbreitete. Sie wählten Hiroshima, weil es bisher von Luftangriffen verschont geblieben war und man deshalb die volle Wirkung
der Bombe besser messen konnte. Es war eine Bombe gegen Zivilisten. Ich schob die Papiere des Geschäftsmannes für meine Tasse heißen Kaffee und ein paar Zeitschriften beiseite. Ich freute mich darauf, den Kaffee zu trinken, solange er noch heiß war – in den letzten Jahren hatte ich höchstens lauwarmen Kaffee getrunken. Aber da war ich auch beschäftigt gewesen. Jetzt hatte ich nichts mehr zu tun. Ich wußte, ich würde die Zeitschriften nicht lesen, aber ich konnte mit ihnen meinen Platz markieren. Später sah ich in der Wochenschau, daß die Stadt dem Erdboden gleichgemacht worden war. Ein oder zwei Stahlgerüstbauten blieben übrig, der Rest lag in Trümmern, und diese erstreckten sich bis in die Ferne. Durch das Zugfenster blickte ich hinaus auf die Wüste. Als die Sonne aus meinem Blickfeld verschwunden war, waren wir bereits in einem anderen Staat, und der Kaffee war kalt.
7. August 1945 Die Leute auf dem Bahnhof, an dem ich beschlossen hatte, auszusteigen, waren ganz aufgeregt. »Die Tommies sterben vor Neid«, sagte der Mann, der meine Fahrkarte überprüfte. »Die Russkis haben nicht annähernd so was.« Auf dem Bahnhofsvorplatz herrschte eine Jubelstimmung, die ich seit Wien nicht mehr erlebt hatte. Die Menschen küßten einander, lächelten und tätschelten Babys die Köpfe. Bänder flatterten. Mütter freuten sich, Kinder seufzten vor Erleichterung. Jetzt gab es keinen Grund mehr, in Japan einzumarschieren. All ihre Jungs würden heil nach Hause kommen.
»Von jetzt an können wir unsere Bedingungen diktieren«, sagte der Taxifahrer. »Sie werden schon sehen.« Man konnte dem Gerede auf den Straßen nicht ausweichen. Es stand in allen Zeitungen. Jedermann sprach über die Neuigkeiten. Ich war gut im Aussuchen von Pensionen. Ich wußte, wie man nach sauberen Laken, heißem Wasser und einer Vermieterin suchte, bei der man nicht um elf das Licht ausmachen mußte. Um so mehr war ich abgestoßen, als die Frau mir das Zimmer zeigte und, nachdem sie mir den Mietpreis pro Woche genannt hatte, mit zufriedenem Gesichtsausdruck verkündete: »Wir scheuen uns nicht, wirklich große Sachen zu tun. Wir kämpfen mit harten Bandagen.« Ganz gleich, wohin ich ging: Ich konnte dem, was ich getan hatte, nicht entkommen. Die Zeitungen berichteten in endlosen Artikeln darüber. Über 100000 Menschen waren sofort tot. In den darauffolgenden Jahren starben weitere Zehntausende an den Folgen der Strahlung. Allein hätte ich es nicht geschafft, das wußte ich. Aber sie hätten es ohne mich auch nicht geschafft. Wenn ich während der Forschungsphase ihre Berechnungen nicht korrigiert hätte, wenn ich nicht die richtigen Gleichungen eingesetzt hätte, während ich die Berichte abtippte, und wenn ich nicht gegen Ende das Problem der Initiatoreinheit gelöst hätte, dann wären sie immer noch draußen in der Wüste und würden sich überlegen, ob das verdammte Ding wohl jemals funktionierte. Wenn ich nicht dagewesen wäre, dann hätte die Bombe vielleicht erst in drei oder vier Jahren gebaut werden können. Das Schlimmste war, daß ich, selbst nachdem ich unzählige Artikel darüber gelesen hatte, immer noch keinen Grund dafür
erkennen konnte, warum die Bombe gezündet worden war. Der Test allein wäre genug gewesen, um größtmögliche Abschreckung zu garantieren. Freiheit. Gerechtigkeit. Toleranz. Alle Leute um mich herum behaupteten, daß sie diese Werte schützen wollten. Ich hörte wie alle anderen der Rede des Gottkaisers im Radio zu – zum ersten Mal vernahm sein Volk seine Stimme –, als er die Kapitulationsurkunde unterzeichnete und die Niederlage eingestand. Sieg über Japan. Allen anderen schien eine Atombombe ein Preis zu sein, der es wert war, bezahlt zu werden, aber ich wußte, was ich auf die Welt losgelassen hatte. Hinter dem hellen Licht und der Explosion floß das Plutonium ins Grundwasser, kroch der Fallout in jede Wolke. Sogar unter der Erde von New Mexico lagerte tonnenweise radioaktiver Abfall. Wer würde ihn jemals beseitigen? Man kann ihn nicht sehen, man kann ihn nicht fühlen, er hat keine Farbe. »Warum sollen wir uns also Sorgen machen?« fragte meine Vermieterin. »Nun«, sagte ich, »wo kein Verstand ist, ist auch kein Gefühl.« Der Test allein hätte ausgereicht. Dieses helle Licht wäre genug gewesen. Für mich wäre es genug gewesen. Es hätte für alle genug sein müssen. Und was war mit meiner Rache? In den zahlreichen Zeitungsberichten, die kurz nach dem Krieg veröffentlicht wurden, als jeder mit seiner Macht prahlte, las ich, daß Leo Szilard meinem Vater gesagt hatte, daß man bereits im Juli 1939 eine Kernspaltung vorgenommen habe. Weiterhin war mein Vater detailliert über das militärische Potential der nuklearen Kettenreaktion und seiner destruktiven Kraft informiert worden.
Szilard hatte meinen Vater aufgefordert, an Roosevelt zu schreiben, was er im August dann auch tat. In diesem Brief bat er ihn um ein Team, mit dem er an der Bombe bauen konnte. Ob es nun auf den Brief meines Vaters zurückzuführen war oder nicht, die Gruppe, zu der ich gehört hatte, hatte kurz darauf ihre Arbeit aufgenommen. Die ganze Zeit über, in der ich draußen in der Wüste arbeitete und heimlich plante, ihn mit meiner großen Überraschung zu verblüffen, hatte mein Vater also nicht nur alles über Kernspaltung gewußt, sondern sich auch aktiv dafür eingesetzt, daß die Arbeit an der Bombe beginnen konnte. Wo war sein teurer Pazifismus geblieben? Was war mit seinem abgrundtiefen Haß auf Waffen geschehen? Vielleicht hatte mein Vater – der Mann, der stets geäußert hatte, er würde nie kämpfen – begriffen, daß es bestimmte Dinge gab, für die man kämpfen mußte. Und nicht nur das, er hatte es lange vor mir begriffen. Wenn er den Bau der Atombombe vorangetrieben hatte, dann war er natürlich genauso schuldig wie ich, als sie abgeworfen wurde. Doch ich hatte keinen Triumph, keine Freude, keine Rache. Unsere einzige Gemeinsamkeit bestand jetzt in Schuld. Aber es war mir keineswegs ein Trost, zu wissen, daß er schuldig war wie ich.
29. September 1945 Was tat ich, als der Krieg endlich vorüber war? Ich schlief. Tage und Nächte in Pensionen und Motels, in Zimmern in unterschiedlichen Städten, bezahlt mit den jahrealten Löhnen, die ich nicht ausgegeben hatte. Ich tauchte tief in diese Dunkelheit ein, hielt bloß inne, um ein Kissen umzudrehen, um am hellen Mittag oder im Dämmerlicht ins Badezimmer zu
gehen, wobei ich nicht mehr unterscheiden konnte, ob es sich um das Ende des einen Tages oder den Beginn des nächsten handelte, und um ein oder zwei Wodka zu trinken, deren Marke mir egal war. Ich zog so oft um, daß niemand mich kennenlernte, niemand mich gut genug kennenlernte, um an meine Tür zu klopfen und mich zu fragen, wie es mir ging. So war es mir am liebsten: daß niemand sich die Mühe machte, an meine Tür zu klopfen. Alle schlechten Gefühle, die ich zu verdrängen versucht hatte, kehrten zurück und lagen mir wie ein Stein im Magen, wo sie sich einnisteten wie ein kleines schwarzes Geschöpf, wie das Kaninchen, das Desanka und ich in dem Stall auf unserem Hof außerhalb von Novi Sad gehalten hatten. Hans Albert hatte gesagt, es könnte doch mein Haustier sein, und deshalb hatte ich angefangen, dieses Kaninchen als Haustier zu sehen und es Sami genannt, und als Desanka Sami für das Weihnachtsessen kochte, hatte es tagelang zitternd mit dem Kopf auf den Pfoten in meinem Magen gelegen. Ich stellte mir vor, daß es sich um Gräser und Blätter sorgte, wie es das immer in seinem Stall gemacht hatte, und ich fühlte mich krank, anstatt glücklich und gesund zu sein, wie jedes Bauernmädchen es sein sollte. Ich zog von einem Zimmer in das nächste und fragte mich jedesmal, wenn ich ein neues betrat, ob es das wohl wäre, ob dieses das letzte wäre, ob ich hier meinem Leben ein Ende setzen sollte, ob ich endlich den Mut aufbrächte, allem ein Ende zu setzen. Ich fuhr mit meinen Händen über die fahlweißen Becken, die angeschlagenen Holzleisten der Nachttische und dachte eine Zeitlang darüber nach, wie ich es tun sollte, und dann stieg ich in die breiten Betten mit ihrer wüsten Sammlung nicht zusammenpassender Bettwäsche und schlief ein.
Eine Zeile von einem Gedicht, das einer der Techniker im Lager aufgesagt hatte, spät eines Nachts, als der Kaffee schon kalt war, die Zahlen nicht mehr richtig herauskamen und er vor lauter Müdigkeit sentimental wurde, fiel mir wieder ein: »Das Zuhause ist der Ort, wo sie dich hineinlassen müssen, ganz gleich, wann und warum du dort ankommst.« Wohin konnte ich gehen? Mein Vater saß mit seiner Kusinenfrau gemütlich in seiner Universität. Meine Brüder lebten über den Globus verstreut. Sie waren wie Gesichter aus einem Familienalbum, das nicht meiner Familie gehörte, interessant in ihrer eingefrorenen Schwarzweiß-Haltung, aber nicht vertraut. Vielleicht eine leichte Ähnlichkeit in der hohen Stirn, mehr aber auch nicht. Josef war tot. Das Haus an der Oberlandstraße in Schutt und Asche gebombt. Meine Kinder… Die meiste Zeit meines Lebens war die Frau, die ich zuerst als Fräulein Freister kennengelernt hatte, meine Familie gewesen. Sie war meine einzige Konstante gewesen. Und sie konnte ich nicht bitten, mich einzulassen. Ich konnte es nicht ertragen, mit einer Person zusammenzuleben, an deren Händen das Blut unzähliger Menschen klebte, warum sollte sie es dann ertragen können? Ich wollte noch nicht einmal, daß sie es versuchte. Es gab noch eine Person, die mich aufnehmen würde, dachte ich. Meine Mutter. Sie lebte noch, lebte immer noch in Zürich. Mehr als alles andere wollte ich noch einmal ihre Hände über meinen spüren, ihre Stimme hören, meinen Kopf an ihre Schulter legen. Aber sie hatte mir gesagt, ich solle ein braves Mädchen sein. Ihre letzten Worte an mich. Und was war ich in meinem ganzen Leben gewesen außer böse? Früher einmal waren wir alle heil, und jetzt waren wir zerrissen. Das passiert jedem. Manchmal passiert es plötzlich, mit scharfen Waffen. Manchmal langsam mit Strahlung. Manchmal zufällig, im Auf und Ab des Lebens. Manchmal
absichtlich, schleichend, im geheimen. Jemand mag denken, daß er heil durchs Leben gekommen ist, aber tief in seinem Inneren nehmen die Zellteilungen, die ihn töten, ihre Arbeit auf. Tief in mir steckten seit meiner Kindheit Eifersucht und ein Haß, der jetzt herausgekommen war und sich über die ganze Welt ergossen hatte. Er sollte doch nur einer einzigen Person schaden. Wie hatte ich also zulassen können, daß die Dinge so außer Kontrolle gerieten? Ich schlief, weil der Schlaf der einzige Ort war, an dem ich dem Schmerz entkommen konnte. Ich hatte keine Träume, nur Schwärze und Fühllosigkeit, und das war mir gerade recht. Und dann hörte auf einmal das Schlafen auf. Als ich eines Tages merkte, daß ich mit offenen Augen dalag und an die Decke starrte, erwog ich die Möglichkeit, daß die Phase, die ich durchgemacht hatte, jetzt wohl vorbei war. Hier lag ich, und ich war ruhig. Ein paar Tage lang blieb ich einfach wach. Ich versuchte, nicht soviel an Selbstmord zu denken. Ich hörte sogar auf, so viel Wodka zu trinken. Und dann begann ich mich zu waschen. Der Schmutz saß tief in jeder Pore. Die Folgen waren wie Wunden. Wenn man sich selbst verletzt, wird die Haut erst blaß, und man sieht ihr noch nichts an. Erst später beginnt sie anzuschwellen, bekommt rote Streifen, und die Weichheit der geschwollenen Haut verdeckt den Schmerz. Und erst lange nach der Verletzung wird der wirkliche Schaden sichtbar. Jetzt mußte ich wach bleiben und den Konsequenzen ins Auge sehen. Mein Körper war in einem Zustand, den man als »heruntergekommen« bezeichnen kann, was bedeutet, daß alles mit dir stimmt und du aufstehen kannst und deinen Verrichtungen nachgehen, wenn du nur die Energie aufbringst und ein Ziel hast. Ich hatte nur wenig Energie, aber eine vage Zielvorstellung, und diese war auf den unsichtbaren Schmutz gerichtet. Unter meinen Fingernägeln waren Infektionsherde.
Sobald der Schmutz im Abfluß versickerte, schien sich jede Pore meines Körpers sofort wieder mit dem Eiter der Katastrophen zu füllen, und mein Immunsystem kam nicht dagegen an. Die Zehen an meinem rechten Fuß schwollen derart an, daß ich dachte, sie würden platzen. Ich stach wiederholt mit den Zirkeln, die ich aus einem Mathematikkasten entwendet hatte, darauf ein und ließ die Flüssigkeit ablaufen. Schließlich ging die Schwellung der steinharten roten Säulen zurück, und ich konnte wieder laufen, wenn auch stärker hinkend als zuvor, und die Haut schälte sich und wurde gelb, weiß an den Kanten, wo ich sie abzog. Ich achtete sorgfältig darauf, daß alles Strandgut von den Gezeiten weggespült wurde, damit ich sauber, frisch und neu anfangen konnte, strahlend und normal. Ich blickte in den Spiegel und stellte fest, daß die kupferfarbene Tönung längst herausgewachsen war, und ohne das Korsett war auch meine Taille dicker. Ich sah meinem Alter entsprechend aus, nicht mehr und nicht weniger, meine besten Jahre waren schon lange vorbei. Aber ich beschloß, damit zu leben, ich hatte genug vom Lügen. Und dann überkam mich das Verlangen, Dinge zu essen, von denen ich noch nicht einmal wußte, daß man sie essen konnte. Ich wachte morgens auf und roch frische Ananas, so frisch, daß sie von selbst in Stücke zerfiel, in Scheiben geschnittene Bananen, die in der Schüssel reiften, Orangensaft in Kristallgläsern, so viel Schokolade – Vollmilch oder halbbitter –, wie ich essen konnte. Während ich aß und meine frisch gefeilten Fingernägel betrachtete, die sich um den Löffel schlossen, versuchte ich, alles ganz rational zu sehen: Im Krieg hatte ich das getan, was die meisten Leute taten – ich kümmerte mich um mich, ich lebte mein eigenes Leben und tat die Dinge, die ich tun wollte.
Weiter hatte ich nicht gesehen. Wer machte das schon? Das würden die meisten Leute sagen. Aber genau an dieser Stelle hatte ich falsch gehandelt. Natürlich habe ich mittlerweile die Bilder so oft gesehen, in Schwarzweiß und später in Farbe, die Knochenhaufen, die Platanen- und Erlenalleen, die Schornsteine, das Gras, das friedlich bis hinunter zum Fluß wächst, den Stacheldraht, daß ich nicht glauben kann, daß ich gar nicht darüber nachgedacht habe, was in diesen Lagern vor sich ging, daß auch Maja sich keine Gedanken darüber gemacht hat. Ich wollte es nicht bemerken, ich wollte nicht hinsehen. All die vollkommenen Körper, geschändet, geschändet. Josef starb in Dachau, eines der Opfer des Winters 1943. Er war der erste, den ich durch das Rote Kreuz zu finden versuchte, als ich mit meiner Reisetasche und meiner glänzenden Nachkriegshaut in Kalifornien ankam. Ich trug mich bei der Agentur unter Helga Hansbach ein, nahm mir ein Zimmer in der Stadt und wartete drei Wochen lang auf Nachricht. Als die freundliche Frau hinter dem Schreibtisch mir mitfühlend die Hand auf den Arm legte, wehrte ich sie ab und preßte meine Lippen zu einer geraden Linie zusammen, als sei Josef Hansbach nur ein entfernter Verwandter gewesen und nicht mein Ehemann. Ich wollte ihr Mitleid nicht. Herr Weiss hatte recht gehabt, als er mir gesagt hatte, daß er für Josef nichts tun könne. Ich wußte, daß Josef seit langem tot war. Ich wollte nur wissen, wann genau er gestorben war. Ich hatte zuviel Angst, um nach den Kindern zu fragen. Solange ich nicht genau wußte, was aus ihnen geworden war, gab es immer noch die Möglichkeit, daß Herr Weiss zumindest in ihrem Fall gelogen hatte. Wahrscheinlich wäre es gar nicht schwierig, etwas über sie herauszufinden. Protokolle wurden aufbewahrt, Namen
aufgeschrieben, Statistiken geführt. Alles war sehr ordentlich, sehr effizient. Aber ich fragte gar nicht erst. Ich wollte nicht in ganz Europa nach ihnen suchen, weil ich immer noch nach ihren Schatten hinter mir suchte, weil ich immer noch hoffte, im Spiegel einen Blick auf sie zu erhaschen. Solange es keine Urkunden über sie gab, ihr Schicksal nicht protokolliert war, konnte ich mir noch einreden, daß sie irgendwo lebten. Und ohne diese Hoffnung hätte ich nicht weitermachen können.
10. November 1945 Meine Stimme verschwand. Ich füllte Regale im Supermarkt der Kleinstadt auf, in der ich schließlich gelandet war, und wenn Kunden mich nach Grapefruits und Orangen fragten, schlichen sich gelegentlich mein Akzent und ein sie oder ein la in mein Vokabular. Meine Syntax ließ mich im Stich. Als ich die offizielle Bestätigung von Josefs Tod bekam, im Büro des Roten Kreuzes mit den Namenslisten an den Wänden, begann ich zum ersten Mal wirklich zu realisieren, wie hoch die Leichenberge waren, wie groß die Schuld war, die mich traf. Zuerst dachte ich, es würde eine kollektive Schuld sein, eine allgemeine Überprüfung des Bluts an unseren Händen, eine Schuld, die einfach nur daraus resultierte, daß wir Menschen waren, von der gleichen Rasse wie die Vollstrecker des Entsetzens. Vielleicht konnte ich sie ein bißchen verringern. Ja, ich war schuldiger, weil ich auf dem gleichen Kontinent gelebt hatte, sogar in Hörweite zu den Schreien. Und schlimmer noch, ich sprach Deutsch. In jenen Tagen war Europäer zu sein gleichbedeutend mit, der Feind zu sein. Ich kam aus Europa. Ganz egal, welches
Land ich als mein Geburtsland nannte – Ungarn, Jugoslawien – es war alles das gleiche. Für die Leute war alles gleich, jede Stadt sah den Rauch aus den Schornsteinen, jeder Nachbar war ein Kollaborateur. Ja, es ist meine Schuld, wollte ich sagen. Wenn ihr einen Sündenbock für dieses Jahrhundert braucht, nehmt mich. Wohin hatten mich meine Rachepläne letztendlich geführt? Wohin hatten Newton, die Gesetze der Thermodynamik, Maxwells Feldgleichungen, spezielle Theorien, allgemeine Theorien und Schwerkraft mich gebracht? Nicht nur nirgendwohin, sondern sogar weit hinter den Ort, von dem ich ausgegangen war. Früher einmal war ich ein kleines Mädchen gewesen, das tanzte. Was war ich jetzt? Ich verbrachte die Tage damit, mich von redseligen Kunden fernzuhalten und Regale mit Erdnußbutter, Pfirsichen und Schinken in Dosen aufzufüllen. Ich wohnte in zwei Zimmern und hörte abends Radio. Die Comedy-Serien war endlos. Sie brachten mich nicht zum Lachen. In den Nächten träumte ich nur.
4. August 1948 Es war früh am Abend, und ich döste nach meinem Abendessen im Dämmerlicht vor mich hin. Das Radio in der Ecke war an, ein leises, fernes Geräusch. Eine leichte Berührung von Fingern auf meinem Arm. Rauf, runter. Rauf, runter. Eine Erinnerung, mehr als eine Erinnerung, denn ich konnte die warme Haut meiner Mutter und den Duft von Milch riechen, ihre Stimme hören, ihre liebliche Stimme, die mir etwas vorsang, während sie mich in eine weiche Decke
wickelte und mich an ihre Schulter hob, wo ich einen Babyarm um ihren Hals schlang. Ich blickte auf die Wanduhr. Sie war stehengeblieben. Ich begann zu weinen. Die Schmerzen meiner Mutter waren vorüber. Die schwache Chance, sie noch einmal wiederzusehen, war vorbei. Was für ein Leben hätten wir leben können, wenn mein Vater uns nicht so überschattet hätte? Was wäre geschehen, wenn Mileva seine Anweisungen mißachtet und mich zu sich geholt hätte? Was wäre geschehen, wenn ich, statt im Feuerschein von Desankas Küche einen Racheplan auszuhecken, den einfacheren Weg gewählt hätte: meine Mutter zu finden? Ich hatte mein ganzes Leben lang nach der falschen Person Ausschau gehalten, und jetzt war es zu spät, um es ihr zu sagen. Ich hörte nicht auf zu weinen, wegen allem, das hätte sein können, und wegen allem, das hätte vermieden werden können, wenn meine Mutter und ich uns nur genug geliebt hätten. Und ich weinte immer noch, als ich das Klopfen an der Tür hörte, das Hämmern an der Tür, und während Clare immer weiter klopfte, konnte ich nur mit Mühe aufstehen und sie hereinlassen. Sie hatte mich gefunden, sie fand mich weinend und wollte wissen, warum, und ich konnte ihr sagen, daß meine Mutter tot war. »Oh, mein Schatz, es tut mir so leid«, sagte sie, legte ihren Kopf an meinen und wiegte mich in ihren Armen. »Ich wünschte, du hättest sie kennengelernt. Ich wünschte, du wärst ihr wenigstens einmal begegnet.« »Das spielt jetzt keine Rolle mehr.« »Doch, das tut es. Die Verluste werden immer mehr. Es ist kein Ende abzusehen. Es gibt für mich nichts anderes mehr im Leben, nichts, als die Menschen sterben zu sehen.«
»Ich bin hier«, sagte Clare. »Du hast mich, und ich habe dich.« Ich musterte sie. Seit dem Tag, an dem ich sie zuletzt gesehen hatte, schien sie keine Minute älter geworden zu sein, immer noch das gleiche glänzende blonde Haar, immer noch die gleiche weiße Haut, die Wimpern, die aussahen, als seien sie in Tinte getunkt. »Wie hast du mich gefunden?« »Du bist nicht schwer zu finden.« »Wenn man weiß, wo man suchen muß.« »Ich wußte, wo ich suchen mußte. Es dauerte eben nur eine gewisse Zeit. Aber es ist deine Entscheidung. Ich habe dir gesagt, daß ich dich immer gehen lasse. Jetzt mußt du entscheiden, ob ich bei dir bleiben soll.« Sie war zu mir nach Hause gekommen, an den Ort, wo sie hingehörte. Es gab nur noch einen letzten Streit, früh am Morgen, als die Sonne aufging und wir die ganze Nacht über die Erinnerung an meine Mutter gepflegt hatten. »Ich kann es immer noch nicht glauben, daß du um deine Mutter geweint hast, als ich kam. Du hast jahrelang nicht an sie gedacht. Du weißt noch nicht einmal, ob sie je an dich gedacht hat. Warum weinst du um sie und nicht um Josef oder die Kinder?« »Ich habe geweint, weil ich traurig war, das ist alles. Sie war immer meine Mutter, auch wenn ich ihr nur einmal begegnet bin. Auch wenn ich mich nur daran erinnern kann, ihr einmal begegnet zu sein.« Der Tag, an dem sie auf den Hof gekommen war, war deutlich in meinem Gedächtnis eingebrannt, aber ich würde nie wissen, ob die Erinnerung an die warme Haut, die Milch und das Singen wahr war oder nur ein Traum. »Ich werde nie erfahren, ob sie so oft an mich gedacht hat, wie ich an sie«, sagte ich. »Ich werde auch nie
erfahren, ob sie mich vielleicht völlig vergessen hat. Deshalb war ich traurig, wegen allem, was hätte sein können.« »Und du bist nicht traurig wegen der Kinder? Wegen Josef?« »Was willst du von mir hören?« fragte ich und schob ihre streichelnde Hand beiseite. »Ich bin nicht traurig. Ich kann immer noch nicht die richtigen Worte für das finden, was ich fühle: Schmerz, Schuld und Trauer, das ist nur der Anfang. Ihr Verlust ist wie… wie das Nichts.« Ich starrte in den leeren Himmel, der vor dem Fenster heller wurde, und redete weiter. Es schien mir wichtig zu erklären, was ich empfand, selbst wenn ich nicht sicher war, ob ich recht hatte. »Aber was soll ich deiner Meinung nach denn tun, Clare? Wenn ich jetzt für sie Tränen vergießen würde, wäre ich nur sentimental. Mehr nicht. Ich kann ihnen jetzt nicht mehr helfen. Ich hätte es einmal gekonnt, und da habe ich es nicht getan. Ihre Schmerzen sind vorüber. Ihre Schmerzen sind vorüber, denk daran. Und wir sind verantwortlich dafür, daß ihre Schmerzen niemals jemand anderem widerfahren.« »Dafür sind wir verantwortlich?« »Wir alle. Wir alle, die wir überlebt haben. Wer sonst sollte dafür sorgen?« »Jemand anders.« Sie schüttelte den Kopf, als sei sie nicht mehr bereit, jemals wieder Verantwortung zu übernehmen. »Wir haben selbst genug Schmerzen.« »Eines Tages wird es wieder Menschen wie Herrn Weiss geben, Clare. Und wir müssen dafür sorgen, daß man sie erkennt.« Ich dachte daran, wie ich Herrn Weiss die Finger gebrochen hatte, langsam, einen nach dem anderen. Ich erinnerte mich an das Geräusch der brechenden Knochen. Wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, hätte ich das gern gemacht, solange er noch lebte.
Ich wandte meinen Kopf ab und spürte, wie die Kristalle in meinen Muskeln knackten und knirschten. Der Tag lag vor uns. Die Zeit holte mich langsam ein.
12. September 1948 Alles, was vor dem Krieg Teil meines Lebens gewesen war, kam mir jetzt wie ein Relikt aus einem anderen Jahrhundert vor. Selbst die Physik, an deren Erschaffung ich beteiligt gewesen war, war nur noch ein surreales Überbleibsel altmodischer Begriffe. Relativität war weder hier noch dort. Atome waren weder das eine noch das andere, nur eine verschwommene Wolke von Wahrscheinlichkeiten, aber das spielte keine Rolle. Und es spielte auch ganz bestimmt keine Rolle, daß ich ein einzelnes Atom genommen und gespalten hatte. Was jedoch eine Rolle spielte, war die Quantenphysik, Heisenbergs Matrix-Mechanik und Schrödingers Wellentheorien. Wen kümmerte es schon, daß der eine im Krieg auf der einen Seite und der andere auf der anderen Seite gewesen war? Wen kümmerte es schon, daß die akzeptierte Form von Schrödingers Gleichungen die winzige Verbesserung enthielt, die ich ihm 1933 vorgeschlagen hatte? Zuzugeben, daß man Interesse daran hatte, wie die Welt geordnet war, war in diesem Land nicht nur kurios, sondern gefährlich kommunistisch. Intellektualismus war verdächtig, und ich war es zu leid, verdächtigt zu werden, als daß ich daran teilhaben wollte. Ich las immer weniger. Ich hatte nicht das Gefühl, daß das ein besonderer Verlust war. Die Welt, in die ich durch die Physik immer eingetaucht war, hatte sich verändert. In den Zeitschriften stand nichts mehr über fleißige Raumfahrer, die sich fröhlich gegenseitig
zeigten, was sie konnten. Statt dessen las ich über teuflische Vorrichtungen mit diabolischen Konsequenzen. Stellen Sie sich eine Schachtel vor. Eine kleine Schachtel. Sie enthält ein Elektron. Denken Sie daran, Elektronen können sowohl Welle als auch Teilchen sein, aber wir können sie nie als beides zugleich sehen. Wenn Sie Wellen messen wollen, bekommen Sie Wellen. Wenn Sie Teilchen messen wollen, bekommen Sie Teilchen. Erinnern Sie sich? Das war altbekannt. Ich hatte zuerst 1935 etwas darüber gelesen, aber dann war der Krieg dazwischengekommen, und ich hatte mich nur noch mit Kernspaltung beschäftigt. Da ich zu sehr mit der aktuellen Situation beschäftigt gewesen war, hatte ich die Wahrscheinlichkeitstheorie vergessen. Also nehmen Sie jetzt die Schachtel, und teilen Sie sie. In welcher Hälfte der Schachtel ist das Elektron? Das wissen wir nicht. Die Wahrscheinlichkeitswelle, wo es sein könnte, ist gleichmäßig über die ganze Schachtel verteilt; die Chance, daß es sich auf irgendeiner Seite befindet, ist 50:50. Die Wahrscheinlichkeitswelle trifft nur auf ein Elektron, wenn jemand hineinsieht und feststellt, wo das Elektron ist. Der Beobachter verändert alles. Die Person, die hinsieht, verändert alles. Bis zu diesem Punkt ist es so, als seien zwei Elektronen»Gespenster« in den beiden Schachtelhälften, die auf einen Beobachter warten, der eines von ihnen wirklich macht. In dem Moment, in dem auf eines geblickt und es dadurch real gemacht wird, verschwindet das andere Gespenst. Jetzt kommt die diabolische Vorrichtung ins Spiel. Nehmen Sie wieder Ihre geteilte Schachtel, und stellen Sie sie in einem geschlossenen Raum ohne Fenster auf den Tisch. Die Trennungslinie geht mitten hindurch. Die Wahrscheinlichkeitswelle breitet sich aus. In einer Ecke dieses geschlossenen Raums sitzt eine Katze, die sich mit sich selbst
beschäftigt, sich die Pfoten leckt. Neben dieser armen Katze steht ein Behälter mit Giftgas. Dieser Behälter ist mit einem Elektronendetektor verdrahtet. Wenn der Detektor ein einziges Elektron im Zimmer aufspürt, strömt das giftige Gas aus. Der Deckel der einen Hälfte der Schachtel geht auf. War das Elektron in dieser Seite der Schachtel oder nicht? Wie immer stehen die Chancen 50:50. Wenn es in dieser Hälfte der Schachtel war, ist der Detektor angesprungen, das Gas ist ausgeströmt, und die Katze ist tot. Wenn nicht, leckt sich die Katze immer noch die Pfoten. Aber das können wir erst wissen, wenn wir hinsehen, wenn wir beobachten. Denken Sie daran, der Raum ist fensterlos, und bevor wir hinsehen, ist die Katze weder tot noch lebendig. Alles in diesem Raum ist nur Wahrscheinlichkeit. Wir machen es erst real, wenn wir hinsehen. »Das ist eine alberne Geschichte«, sagte Clare. »Natürlich ist die Katze entweder tot oder lebendig.« »Unter Quantenregeln nicht«, erwiderte ich. »Erst, wenn wir hinsehen.« Deshalb konnte mein Vater die Quantenmechanik nicht ausstehen. Er hatte sein Leben mit dem Versuch verbracht, eine Beschreibung des Universums zu perfektionieren, die unbefangen und unabhängig von menschlicher Beobachtung war. Er stellte sich vor, wie das Universum auf sein Ende zustrebte, die Galaxien und Schwerkräfte sich in Übereinstimmung mit den ihnen zugeteilten Gesetzen verhielten, ob nun die menschliche Rasse zusah oder nicht. Und jetzt schien es so, als sei dies keineswegs so. Beobachter beeinträchtigen das, was sie beobachten, und die Beobachtung selbst verändert Dinge. Eine vertraute Aussage: Wenn Sie den Ort kennen, kennen Sie die Geschwindigkeit nicht. Und wenn Sie den Ort eines Elektrons bestimmen, kann seine Geschwindigkeit nicht gemessen werden, und umgekehrt. Du
meine Güte, das wußte ich seit Heisenbergs Unschärferelation, aber jetzt waren die Ansprüche höher. Zum Teufel, wenn wir nicht hingesehen hätten, wäre das Universum vielleicht gar nicht da. Aber auch das wissen wir nicht. Und da die Physikzeitschriften nun voller ziemlich trauriger Katzen waren, die in fensterlose Räume eingesperrt und weder tot noch lebendig waren, bis jemand hinsah, beschloß ich, daß ich mir das alles nicht so genau anzusehen brauchte. Es erinnerte mich zu sehr an meine Kinder, die seit Jahren weder tot noch lebendig waren, weil ich mich weigerte, hinzusehen, nie hinsehen würde, nicht hinsehen wollte.
1. Januar 1949 Clare bekam eine Skierotherapie nach ihrer eigenen Erfindung. Sie überredete einen Arzt, Glyzerin in die Adern ihrer Wangen zu injizieren, die seit dem kalten Winter 1918 aufgeplatzt waren. Er zögerte, hauptsächlich weil er nicht einsah, was das nützen sollte. Als Clare ihn darauf hinwies, daß es aber wohl auch nicht schadete, versuchte er es. Durch die von dem Glyzerin verursachte Entzündung fielen die Wände der Kapillaren in sich zusammen, das Blut konnte nicht mehr zirkulieren, und die Äderchen waren nicht mehr rot. Clare triumphierte. Eine Zeitlang hatte sie noch ein paar rote Stellen, war ein bißchen aufgeschwemmt, und eine kleine Narbe blieb zurück. Aber diesen Preis fand Clare so gering, daß er kaum der Rede wert war, und selbst das Risiko von größerer Narbenbildung war das Ganze wert. Ihre Haut war wieder so makellos, wie sie es seit dem Beginn des Jahrhunderts nicht mehr gewesen war. Stolz puderte sie ihre Wangen und holte die Lockenwickler heraus.
Als deutlich wurde, daß der Krieg wirklich vorbei war, wurden die Frisuren der Frauen fast auf der Stelle erstaunlich frivol. Clare war entzückt. Sie nahm es als Herausforderung und übte hingebungsvoll. Kleine Kußlocken hier, kleine Anflüge von haselnußbrauner Tönung dort. Es war ein Affront, und das sagte ich ihr auch. »Versuch es doch auch mal.« Sie bot mir einen Lockenwickler an. »Warum sollte ich meine Zeit damit vergeuden, vor dem Spiegel meine Locken in das vorgeschriebene Muster zu zwängen?« »Weil es wunderschön ist«, sagte sie und warf einen mißbilligenden Blick auf meine graue Frisur. »Gib dir einen Ruck.« Sie schwenkte die heiße Lockenschere in meine Richtung. Ich lehnte das Angebot ab und sah statt dessen auf meine Hände. An den Händen sieht man das Alter zuerst. Lockere Haut um die Knöchel, trockene Fingernägel. Während ich meine Hände betrachtete und ein loses Hautfetzchen abbiß, stellte ich fest, daß ich sehr viel älter geworden war. Clare ging mit mir auf eine Silvesterparty. Vorher hatte sie sich sorgfältig ihre Kußlocken gelegt, sich mit Wasserstoffsuperoxyd und Enthaarungswachs bearbeitet. Es gab Hähnchenkeulen, Maiskuchen und Chilirelish zu essen, und zu trinken gab es tröstliche Martinis. Ich trank einige. Im Laufe des Abends wurde die Tanzmusik abgeschaltet, weil die Tochter des Hauses ihre musikalischen Fähigkeiten zum besten geben wollte. Sie war ein großes Mädchen mit dem breiten Lächeln, das allen Amerikanern eigen ist, mit guten Zähnen und weichem Haar, und bevor sie anfing, lächelte sie uns allen zu. Die Tochter saß in der Mitte des Zimmers auf einem kleinen Hocker und spielte Cello. Lieblich zuerst, dann klagender –
tieftraurige Saitenklänge und widerhallende Bässe –, und Clare wurde ganz blaß. Ich wußte, daß sie trauerte. Immer wieder brach die Trauer in ihr auf, als ob das Weinen in ihr sie nie ganz verlassen würde. Um Paul, um Josef, um Kätzchen, um den jungen Mann, den sie im Krieg verloren hatte. In welchem Krieg? Dem Großen Krieg, dem Letzten Krieg, dem Krieg aller Kriege, dem Krieg der Serbischen Aggression, dem Krieg, der alles bewahren sollte, was bewahrenswert war, oder dem Krieg, der die Zivilisation retten sollte? Spielt es eine Rolle, welcher Krieg? Was konnte schon bestehen gegen so viele Kriege, von denen jeder gerecht, jeder rechtskräftig, jeder zu seiner Zeit absolut wichtig war, auch wenn nur noch wenige sich – abgesehen von einem leichten Hauch von Patriotismus – an die Gründe erinnern? Und sie trauerte um Tina. In den Bögen und Windungen dieser klagenden Musik trauerte sie am meisten um Tina. Sie hatte Tina immer geliebt. Ich hatte nichts, um das ich trauern konnte, nichts, an das ich mich halten konnte. Ich wußte nicht, ob Tina und Paul tot waren. Ich hatte kein Grab, an dem ich Josef besuchen konnte, ich konnte nirgendwohin Blumen schicken. Ich hatte nichts, um das ich mich trauern lassen konnte. Als die Musik aufgehört und die Tochter des Hauses die Gratulationen wie ein scheuer Star entgegengenommen hatte, dachte ich, daß ich wohl den Rest meines Lebens treibend verbringen würde, ungebunden und mich weigernd, in die eine oder andere Richtung zu sehen, auf immer ein Geist, und daß ich meine Kinder zu einem Halbleben verurteilte, in dem sie Geister waren, weil ich es nicht ertragen konnte, nachzusehen, ob sie tot oder lebendig waren. Und deswegen war ich traurig, und ich war traurig, weil ich nicht wußte, was ich sonst tun konnte.
Aber nicht lange danach kam in diese amerikanische Vorstadt, in der die Cellomusik noch in meinen Ohren klang, die Nachricht, daß Tina noch lebte. Jemand hatte sie gefunden und sie lebendig gemacht. »Nein«, sagte ich. »Nein.« »Doch«, sagte Clare und hob den Arm gegen meine Wut. »Ich habe sie gebeten, nach ihr zu suchen. Ich bat sie darum. Ich konnte es nicht ertragen, es nicht zu wissen.« Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben schlug ich sie.
9. Juni 1949 Ich fuhr nach New York, um Tina am Schiff abzuholen, wo sie mir von einer diensteifrig aussehenden alten Vettel mit Schwesternhaube übergeben wurde. Ich erkannte sie sofort. Meine Tochter war inzwischen eine junge Frau, in grauer Anstaltskleidung, aber immer noch mit denselben blanken Augen und dem goldenen Haar, den Zügen, die sich immer mehr rundeten wie bei Josef – demselben Schwung der Ohren, derselben Entschlossenheit des Kinns. Als ich sie fest an mich drückte, hörte ich denselben unregelmäßigen Herzschlag, den sie immer gehabt hatte, und ich wußte, daß sie meine Tochter war. Zum Frühstück gab es Orangensaft, Champagner und Austern im besten Hotel, das ich finden konnte. Tina hatte eine Puppe mitgebracht, ein müdes altes Ding, dem die Hälfte der Haare und ein Bein fehlte. In den nächsten Tagen ging ich mit ihr durch die Kaufhäuser in New York, um sie mit amerikanischer Kleidung auszustatten, und sie kaufte sich acht weitere Puppen, alle mit blonden Locken und rosafarbenen Kleidchen mit Blumenmustern, und jeden Abend brachte sie
sie einzeln zu Bett. Manche hatten ihre eigenen Betten. Zumindest eine besaß ihr eigenes Fläschchen. Es dauerte Stunden, sie schlafen zu legen. Ich bürstete ihr die Haare, während sie die Haare der Puppen bürstete, und fragte mich, wer ihr wohl in all den Jahren die Haare gekämmt haben mochte. Ich wusch ihr das Gesicht und fragte mich, ob sie wohl sauber oder schmutzig zu Bett gegangen war. In der Welt ohne Sprache, in der meine Tochter lebte, gab es keine Antworten, weil sie keine Fragen stellen konnte. Ich konnte mich fragen, was ich wollte, aber sie würde mir nie antworten können. Tina drehte die Gesichter aller Puppen weg vom Licht, küßte sie und achtete darauf, daß sie nie unbequem dalagen. Wenn ich sah, wieviel Leben sie in sie investierte, entschuldigte ich mich im stillen bei einem besonders arroganten Geschöpf mit harten blauen Augen und einem wissenden Zug um den Rosenknospenmund, daß ich es so lieblos in den Koffer gestopft hatte, als ich für die Heimreise packte. Heim, wo Clare auf uns wartete. Tina war in eine Welt gekommen, in der alles neu war. New Jersey, New York, New Hampshire. Bei der Zugfahrt durch das Land, zurück zu Clare, machten wir Station in New Falls, Ohio, wo wir Schnecken aßen – wie in der alten Heimat: fetter Blätterteig, in Muschelspiralen gelegt –, so reichhaltig und voller Milch wie auf den Weiden des Rheinlands, daß unsere Zungen, als wir sie berührten, so weich wurden, wie das Gras nach dem Regen grün wird. Weiches Gras, warmes Gras, nordeuropäisches Gras. Wir schmeckten es ein letztes Mal, und dann fuhren wir durch die Prärie. Clare und ich hatten beschlossen, daß wir Tina eine endlose Kindheit schenken wollten: keine Waffen, kein Europa, keine Nazis, keine Erinnerungen. Tina sagte nie etwas, und sie verriet auch mit keinem Seufzer oder Traum, was in diesen
verlorenen Jahren mit ihr geschehen war. Das Vermißtenamt konnte mir auch nur die Information geben, daß man sie in Berlin gefunden hatte, mit ihrer Geburtsurkunde und zehn Mark, die an der Schulter festgesteckt waren. Vielleicht war das glückliche Bild meiner Kinder letztendlich gar nicht so falsch gewesen, dachte ich. Sie küßte ihre Puppen immer noch. Vielleicht bedeutete das, daß jemand sie geküßt hatte. Vielleicht. Aber es schien, als sei die Wahrscheinlichkeitswelle dadurch, daß wir Tina gefunden hatten, völlig zusammengebrochen. Im gleichen Moment. Als ich mit ihr zurückkam und Clare Tina in die Arme schloß, sah ich das Telegramm auf dem Schreibtisch. Schwarz auf weiß. Kein Entkommen. Als Clare sie gebeten hatte, Tina zu finden, hatte sie auch darum gebeten, Paul zu finden. Und sie hatten alles herausgefunden. Paul war vor fünf Jahren gestorben. Clare zog Tina an sich, umarmte und küßte sie, wusch ihr das Gesicht, zog ihr eines ihrer neuen Nachthemden an, deckte ihre Puppen zu – und ich fiel in tiefe Dunkelheit. Weil Clare das riskiert hatte, hatte ich sie geschlagen. Sie hart auf die Wange geschlagen. Wenn sie Tina nicht gefunden hätte, hätte ich den Rest meines Lebens weiter hoffen können, daß Paul irgendwo lebte. Sie hatte Tina gefunden, aber nicht Paul. Mein Sohn war tot. Mein Sohn mit seiner Muschelsammlung und seinem feinen braunen Haar, so fein, daß es wie Seide durch die Finger glitt. Für immer und ewig war er jetzt für mich verloren.
20. November 1952 Nachdem Tina angekommen war, zogen wir in eine Stadt mit einem Gittermuster von Straßen. Die Straßen von Norden nach
Süden trugen Zahlen, und die Straßen von Westen nach Osten Buchstaben. Eine Stadt in einer flachen Gegend, wo niemand über etwas anderes redete als über Getreide und Trauben, das Wetter und seine Auswirkung auf die ersten beiden Dinge. Während dieses Umzugs wurde aus Clare Terri, weil sie fand, das paßte zu ihr, und ich mußte ihr zustimmen, und aus mir wurde Lisa. Das war meinem Taufnamen so nahe, wie ich es im Moment zulassen konnte. Tina war Tina und würde immer Tina sein, und da Tina nie sprach, redete sie uns sowieso nicht mit Namen an. Die Wohnung in der D-Straße, die wir kauften, hatte Fenster auf drei Seiten und eine Küche mit glänzendem Linoleum und strahlendweißem Kunststoff – alles Dinge, die ich an Amerika liebte. Auch leicht sauberzuhalten, sagte Terri. Ich fuhr mit meinen Fingern über das weiße Porzellan im Badezimmer. Ich stand im Flur und knipste ein paarmal das Licht an und aus. Mittlerweile war ich fünfzig Jahre alt und hatte endlich elektrisches Licht in meiner Wohnung. Wir konnten es uns leisten. Das Geld auf Herrn Weiss’ Schweizer Konto hatte reichlich Zinsen getragen, während wir in New Mexico waren. Es war mehr als genug zum Leben. Terri sagte, sie frage sich manchmal, was Herr Weiss wohl nach dem Krieg damit hatte machen wollen. Mir war es egal. Seine Pläne mußten in der Tat grandios gewesen sein, wenn man sich die Größe der Summe ansah, die er zurückgelegt hatte, und er hatte sich bestimmt in Sicherheit gewiegt. Daran zweifelte ich nicht, ganz gleich, welche Seite gewonnen hätte. Ich füllte keine Regale in Supermärkten mehr auf. Ich mußte mich um Tina kümmern. Während wir in der D-Straße wohnten, beschäftigte ich mich nicht mit Wissenschaft. Ich dachte noch nicht einmal besonders viel nach, weil ich nicht mehr daran gewöhnt war. Ich hatte mich seit Jahren, abgesehen von der Zeit in Los
Alamos, nicht mehr mit Wissenschaft beschäftigt, und das war weniger Wissenschaft als Technik gewesen. Und Denken hatte mich noch nie allzu weit gebracht. Der Tag begann mit der Sonne, die in unser Schlafzimmer schien, und Terri wurde als erste wach, schlürfte ihren Morgenkaffee im Bett und räkelte sich in der Wärme der Baumwollaken. Tina wachte auf, wenn ich sie weckte, und brauchte sofort Frühstück. Später am Morgen ging Terri, wenn sie ihre Toilette beendet hatte, ins Wohnzimmer, wo die Mittagssonne am hellsten schien, folgte der Hitze und dem Licht, lackierte ihre Fußnägel, blätterte Modezeitschriften durch und kommentierte die Kollektionen. Ich ging einkaufen, wobei ich Terris Liste genau befolgte, und nahm Tina mit, die jedes Teil sorgfältig prüfte. Jeden Tag brachte ich frische Zutaten zum Kochen mit. Nachmittags spielte Terri etwas Bridge oder ging mit anderen Frauen zum Golfspielen. Sie sah wirklich außergewöhnlich gut aus. Ich machte mir nichts aus Golf oder Bridge, strickte aber ganz gern, wie ich entdeckte. Obwohl ich eine Weile brauchte, bis ich es heraushatte. Und da die Frauen, die zum Bridgespielen kamen, Enkelkinder hatten, gab es einen unerschöpflichen Bedarf an Decken, Mützchen und Fäustlingen. Ich strickte ganze Sets in Blau und Rosa, während Tina ihre Puppen anzog, und dabei sahen wir fern. Am späten Nachmittag stand Terri in der Küche, die nach Westen ging, und kochte Fisch oder Fleisch oder briet Eier mit Butter zum Abendessen. Sie war wie eine Blume, die sich nach der Sonne dreht. Selbst im Winter, wenn es früh dunkel wurde, wollte sie nicht, daß ich die Lampen anmachte, solange noch Licht am Himmel war, selbst wenn nur noch ein paar Streifen des orangefarbenen oder roten Sonnenuntergangs zwischen den Akazien durchschimmerten. Wir mußten warten, bis der
Tag zu Ende war, und erst dann, wenn nichts mehr zu verlieren war, wenn die Lichter in den anderen Gebäuden hell nach draußen schienen und wir unsere Spiegelbilder in den dunkel gewordenen Fensterscheiben sehen konnten, zog Terri die Jalousien herunter und ließ uns zu Geschöpfen der Nacht werden. Ich wußte, daß der Abend offiziell begonnen hatte, wenn Tina sicher im Bett lag und die Lockenwickler und Sprays hervorgeholt wurden. In einem Jahr fing Terri an, Tennis zu spielen. Sie sprang in gestärktem Weiß auf den Plätzen herum und trainierte, bis sie schwitzte, was sehr undamenhaft war, aber sie sagte, das sei es wert, weil ihr Bizeps und ihr Trizeps sich dadurch entwickelten. In jenen Tagen des New Look war Tennisspielen nicht besonders modern, aber sie sagte, sie dächte dabei an den Langzeitnutzen. Im Jahr darauf trat sie einer Antibomben-Protestgruppe bei. Fortan waren ihre Tage damit und mit Tennisspielen ausgefüllt. Ich begleitete sie zu keiner ihrer Aktivitäten. Ich mochte anstrengende Bewegung nicht, und die Diskussion darum, ob sich die Wissenschaft überhaupt noch in der Forschung engagieren sollte, interessierte mich nicht mehr. Was immer Wissenschaftler auch taten, wie großartig sie es auch immer machten, es wurde ja doch nur für böse Zwecke ausgebeutet. Wenn irgend jemand irgendwo eine Waffe daraus machen konnte, tat er es. Bei den subatomaren Teilchen, die entdeckt wurden – anscheinend wurden jeden Tag neue entdeckt –, lauerten Gefahren, die jetzt noch nicht zu sehen waren, aber ich wußte, daß sie da waren. Solange die Forschung weiterging, würde es Ausbeutung geben und noch Schlimmeres. Jeden Sonntag entzündete Terri in der kleinen weißen Kirche unten an der Straße Kerzen zur Erinnerung an Paul, Josef und
Kätzchen. Tina verbrachte einen Tag wie den anderen. Uns konnte nichts mehr behelligen, wenn wir es nicht wollten. Zum Gedenken an alte Zeiten las ich gelegentlich noch eine Ausgabe von Physics Today oder Nature. Mittlerweile wußte jeder, daß sich das Universum ausdehnte, und jeder hielt es für selbstverständlich, daß dies immer bekannt gewesen war. Trotzdem waren die Gleichungen, die mein Vater und ich für unsere allgemeinen Theorien der Relativität geschrieben hatten, noch gültig. In seinem Fall konnten die Gleichungen endlich ohne diese kosmologische Konstante auskommen, diesen kleinen Buchstaben, den ich nie gemocht hatte und der in der letzten Minute eingesetzt worden war, um das Universum stillzuhalten. Die Gleichungen hielten stand, selbst wenn man sie zurückverfolgte, fast den ganzen Weg zurück bis an den Beginn der Zeit. Alles rückte näher und immer näher zusammen, wenn man die Zeit rückwärts laufen ließ, bis alles im Universum einen Punkt unendlicher Dichte erreichte. An diesem Punkt brachen die Gleichungen zusammen, weil alles zusammenbrach. Immer noch trugen die mathematischen Beschreibungen, die wir entwickelt hatten, allem Rechnung, was im Universum in den letzten fünfzehn Milliarden Jahren passiert war, abgesehen von dem entscheidenden ersten Zehntel einer Sekunde vielleicht. Ich fand das keine so schlechte Leistung. Abgesehen von der Übereinstimmung über die Ausdehnung des Universums war die theoretische Physik an einem Punkt angelangt, wo totales Chaos herrschte. Wenn ich die Theorien richtig verstand – und es gab viele –, dann existierten wahrscheinlich zahlreiche Universen, wobei sich jedes von anderen an dem Punkt abspaltete, wo Entscheidungen zu treffen waren. Und eine »Entscheidung« konnte etwas so Kleines und Unbedeutendes sein wie ein Teilchen, das mit
einem anderen interagierte. Und wenn man bedachte, wie viele Teilchen es im Universum gab… dann war alles möglich. In einem anderen Universum hatte mein Vater mich deshalb nie gehen lassen. In einem anderen Universum hatte meine Mutter mich zurückgeholt. In diesen anderen Universen hatte ich ein glückliches Leben gelebt, und die Atombombe war noch nicht erfunden. In einem anderen Universum lebte Paul, und Tina hatte mich nie verlassen, und jede Nacht konnte ich Josef in unserem Bett festhalten, in dem sicheren und bestimmten Wissen, daß er für immer mein war. Ich fand eigentlich, daß diese Theorien in einen dieser Zeichentrickfilme gehörten, die Tina sich so gern ansah, und nicht in Fachzeitschriften. Von seinem Schloßturm aus kämpfte auch mein Vater gegen diese Ideen, aggressiv schoß er die vereinte Feldtheorie über die Schlachtfelder und versuchte immer noch, klassische Theorien gegen die barbarischen Horden der Quantenfeinde zusammenzuschließen. Jahrelang versuchte er, eine Theorie zu entwickeln, mit der man die Gesetze der Quantenmechanik von beobachtbaren Fakten statt von statistischen Wahrscheinlichkeiten ableiten könnte. Aber das war unmöglich. Man konnte die subatomare Welt nicht einfach beobachten, und jedesmal, wenn man sie beobachtete, veränderte sie sich. Wir hatten nur die Unschärferelation, wir konnten nur auf Wahrscheinlichkeiten hoffen, und damit würden wir zurechtkommen müssen. Und so endete mein Vater als historische Figur in einer theoretischen Position, die ein Witz war, und an einem Ort, der ein noch größerer Witz war: New Jersey. Er war in New Jersey gelandet. Wenn etwas Seltsames in Amerika passierte, so waren die Chancen groß, daß es in New Jersey passierte, daß sie einem Mann aus New Jersey passierten.
Das Institute for Advanced Studies in New Jersey bezahlte meinen Vater dafür, daß er nur herumsaß und nachdachte. Und die ganze Zeit über dachte er niemals etwas Richtiges. Nicht ein einziges Mal in all diesen Jahren. Er versuchte es. Natürlich versuchte er es. Er hoffte darauf, eine Theorie von Allem zusammenzubringen, eine großartige Idee, die das ganze Universum erklären würde, von den Rändern der Galaxien bis zur kleinsten Struktur der Atome, aus denen wir bestehen. Er versagte. Die Tatsache, daß es bis heute niemandem sonst gelungen ist, eine Theorie von Allem zu entwickeln, ist keine Entschuldigung. Ich konnte verstehen, warum er kämpfte. Wenn man den Quantentheorien bis zu ihrer logischen Schlußfolgerung nachging, dann mußte mein Vater seine Niederlage bei allem eingestehen. Stellen Sie sich vor, Sie nehmen noch einmal diese geteilte Schachtel und trennen sie in zwei Hälften auseinander. Lassen Sie die eine Hälfte von einem Raumschiff 10000 Lichtjahre in die eine Richtung bringen, und die andere Hälfte 10000 Lichtjahre in die entgegengesetzte Richtung. In welcher Hälfte ist das Elektron? Sie wissen es immer noch nicht. Die Wahrscheinlichkeitswellen breiten sich aus. Sie haben immer noch zwei Geister in einem Zustand der Unsicherheit, nur dieses Mal auf entgegengesetzten Seiten des Universums. Und immer noch bricht die Wahrscheinlichkeitswelle zusammen, wenn ein Beobachter seine Hälfte der Schachtel öffnet. Entweder sieht er das Elektron, oder er sieht es nicht. Es ist entweder da, oder es ist nicht da. Und weil der Geist des einen Elektrons verschwindet, ist im gleichen Augenblick auf der anderen Seite des Universums der Geist des anderen auch verschwunden. Die Welle bricht zusammen. Das Elektron ist entweder da, oder es ist plötzlich nicht mehr da. Die beiden Dinge geschehen zur gleichen Zeit
auf entgegengesetzten Seiten einer Galaxie. Ein Ereignis beeinflußt das andere. Und doch wissen wir alle, daß kein Einfluß schneller ist als Licht. Mein Vater hatte das bewiesen – ich hatte das bewiesen –, vor vielen, vielen Jahren. Und doch war in diesem Fall etwas so schnell wie der Gedanke selbst durch das Universum gereist. Wenn also die Quantenphysiker recht hatten, war die Relativität falsch. Und mein Vater hatte schreckliche Angst, daß sie recht hatten. Ich auch. Der Stoff des Universums wirkte dünner als jemals zuvor, als ob es eines Tages einfach unter unseren Füßen zerreißen könnte und wir ins Nichts fallen würden. Manchmal schien es so, als ob das ganze Universum nur durch Hoffnung und guten Willen existierte, und wenn wir alle nur eine Sekunde lang aufhörten, es zu beobachten, würde es völlig zusammenbrechen.
Ich war in jenen Jahren sehr oft müde. Ich war viel zu alt, um wieder Mutter zu sein, aber Tina würde mich noch lange als Mutter brauchen, und ich war entschlossen, ihr alles zu geben, was sie brauchte. Und doch ließ mich mein Körper im Stich. Ich konnte mich nicht mehr so beweglich wie damals in Berlin nach ihren Spielzeugen bücken. Ich fand es schwer, mit ihren plötzlichen und geheimnisvollen Wünschen nach Honig und Brot mitten in der Nacht zurechtzukommen, auch wenn ich es ihr brachte. Ich kümmerte mich um Tina, und Terri kümmerte sich um mich. Eines Morgens kam Terri in die Küche, wo ich wie gewöhnlich Tina gerade ihr Frühstück machte, und sagte: »Ich
habe gehört, dein Vater ist als Präsident des Staates Israel vorgeschlagen worden.« Ich hielt damit inne, Frühstücksflocken in den Teller zu löffeln, und sagte: »Er hat doch nicht angenommen, oder?« »Bis jetzt nicht.« Terri stellte einen Spiegel auf den Tisch und begann, in ihrem Gesicht herumzutupfen. »Was machst du da?« Sie hatte einen kleinen braunen Stift, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, und mit diesem malte sie sich im Gesicht herum. »Falsche Sommersprossen von Chanel«, sagte sie. Ich löffelte weiter Frühstücksflocken. »Wofür soll das gut sein?« »Eine kleine Sommersprosse wirkt so jugendlich«, sagte sie. »Findest du nicht auch?« »Woher weißt du, ob es eine Sommersprosse oder ein brauner Altersfleck ist?« Ich blickte auf meine Hände, die zahlreiche von letzterem aufwiesen. Terri entgegnete mit ihrem Mangel an Humor, für den ich sie so sehr liebte: »Altersflecken sind hellbraun. Meine Sommersprosse ist dunkel.« Ich konnte ihr in diesem Punkt nicht widersprechen: Die Fakten standen mir vor Augen und waren nicht zu übersehen. Mit jedem Tag, den ich älter wurde – wie zu erwarten war, und mir machten die Falten, die ich im Spiegel sah, nichts aus, da sie mein Gesicht weniger gehetzt aussehen ließen als früher –, wurde Terri um einen Tag jünger. Sie bewegte sich so rasch wie eh und je. Keine Falten, keine Krähenfüße. Es war, als befände sie sich ständig im freien Fall, wo alle Wirkungen der Schwerkraft aufgehoben sind. Tina aß ihre Flocken auf, und ich stellte den Teller in die Spüle.
19. November 1954 Dachau sieht aus wie ein Bild. Wir fuhren mit Tina dahin, damit sie sich an ihren Vater und ihren Bruder erinnern konnte, damit ich mich an die Menschen erinnern konnte, die ich geliebt hatte. Wir waren alle wieder in Europa, aber jetzt als Touristen, auf Besuch. Es war Winter, und der Schnee deckte alles zu, machte die Landschaft irgendwie weicher, weniger rauh, als ich sie in Erinnerung hatte, und ich konnte mich an ein tief verschneites Deutschland erinnern. Aber Tina war in ihrem Kopf zu jung, um sich zu erinnern, oder vielleicht war sie auch alt genug, um vergessen zu wollen. Sie reagierte nur auf die Friedlichkeit des Ortes, das ruhige Schlagen des Flusses gegen die vereisten Ufer und auf die Wintervögel, die sich in den Bäumen gegenseitig Warnschreie zuriefen. Es war ein blauer, klarer Tag, an ein paar Ästen hingen noch Blätter, aber man roch beim Atmen und im Geriesel des Schnees bereits den Winter. Die Schreie von einst waren gestorben, und die Gebete, ausgestoßen in das Dunkel der Nacht als Flehen um Schutz vor den Flammen, waren von der Zeit in Fetzen gerissen worden, und der Wind hatte sie mit Schnee bedeckt. Welche Worte ich auch sagte, sie reichten nicht aus, waren nicht groß genug, nicht laut genug und nicht stark genug, um den Schmerz zu enthalten, den Schmerz zu beschreiben, der über diesem glänzenden Schnee lag. Sie konnten nie laut genug sein, weil ich auch für diesen Schmerz verantwortlich war. Ich fragte mich immer wieder, wie mein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn ich nicht im Feuerschein in Desankas Küche gestanden und beschlossen hätte, meinen Vater zu erschrecken. Ich hätte mich auch auf eine andere Art mit der Arbeit meines Vaters beschäftigen können: Statt die weiße
Hitze der Spaltung zu erforschen, hätte ich die Kälte erforschen können. Bei einer Temperatur, die tief genug ist – viele, viele Grade unter Null –, verschmelzen alle Gase, feste Stoffe und Flüssigkeiten ihre Atome miteinander, in einer Form, die wir nur vermuten können. Mein Vater schrieb natürlich nur theoretisch darüber. Aber es könnte machbar sein. Statt daß wir alle in unseren jeweiligen Zuständen voneinander getrennt sind, könnten wir miteinander verschmolzen sein, unauflöslich und vollständig. Ich hatte das Gefühl, daß das letztendlich vielleicht befriedigender gewesen wäre, als Explosionen hinterherzujagen. Wenn ich vielleicht nicht im Feuerschein getanzt hätte und dem Feuerschein nachgejagt wäre, wäre Paul noch bei mir, mein kleiner Junge, und Josef, der gegangen war, ohne sich zu verabschieden. Einen Moment lang dachte ich, ich spürte sie, dachte, daß ich den Widerhall der Schreie in der Luft spürte, daß die letzten Gebete immer noch bei uns wären, gefangen in den Ästen und wirbelnd im Wind, aber dann blickte ich auf Tina und ihr glückliches Gesicht, ihre großen Augen und ihre rosigen Wangen, und ich wußte, daß diese Felder die Vergangenheit waren, sie waren Geschichte. Ich war mein ganzes Leben lang zurückgegangen. Nun wollte ich vorwärtsgehen, aber noch nicht gleich. Noch nicht. Zuerst mußte ich noch einen letzten Blick auf alles werfen, bevor ich weitergehen konnte. Der Himmel über uns war vollkommen klar, und im Frühling würde das Gras wieder grün werden, und überall würde Mädesüß blühen, und darunter würden die Kanten verschwinden und die Linien weicher werden. Und bald würden sogar die, die sich an die Wahrheit erinnerten, nicht mehr in der Lage sein, darauf zu zeigen; unter diesem blauen Himmel hätte sich alles aufgelöst.
Auf den Feldern, deren Schollen naß waren vom Blut der Söhne von Müttern, würde Kohl angebaut werden, in ordentlichen Reihen. Es ist immer das gleiche gewesen, seit unsere Spezies aufrecht gehen kann, dieses Überwuchern, dieses Vergessen. Langsam und anmutig wuchs der Wald wieder. Im Herbst würden Pilze und Farne im Dunkel die Knochen verdecken. Während wir uns umsahen, begann frischer Schnee zu fallen, und ich erschauerte. An diesem Abend, wie jeden Abend zur Schlafenszeit, kämmte ich Tina, sauber in ihrem Nachthemd, das lange gelbe Haar aus, teilte es in drei dicke Strähnen und zog immer abwechselnd eine fest über die anderen beiden. Sie wollte sich mir entwinden, aber ich zog nur um so fester. Ein ordentlicher, glänzender Zopf entstand, eine perfekt ineinander verschlungene Reihe, zu Ehren ihrer Großmutter. Ich packte sie in das ungewohnte Bett, und sie war unruhig. »Wir sind in der falschen Zeit geboren«, sagte ich zu Terri. »Red dir das bloß nicht ein«, sagte sie. »Wann sollte es deiner Meinung nach besser sein als jetzt?« »In fast jeder anderen Zeit«, sagte ich. »In jeder Zeit außer dieser. Jeder Zeit außer der, die wir durchlebt haben.« »In jedem Jahrhundert vor diesem gab es unvorstellbare Greuel«, sagte sie. »Denk doch mal nach! Möchtest du auf einem Sklavenschiff sein oder in einer elenden Hütte ohne Heizung kauern oder der jüngsten Durchfallwelle zum Opfer fallen? Das sind deine Alternativen. Irgend etwas davon, oder etwas gleichermaßen Gräßliches, hat die meisten menschlichen Wesen, die vor uns gelebt haben, erwartet. Du würdest das nicht einen Tag lang aushalten. Und was wäre mit Tina? Sie würden sie wie eine Hundemeute in Stücke reißen.« Die Frau, der die Pension gehörte, war sauber und tüchtig und sagte, daß das Geschäft seit ungefähr einem Jahr ganz gut
liefe. In Deutschland wurde jetzt alles wieder besser. Man konnte den Unterschied zwischen den Schuldigen und den Opfern, den edlen Überlebenden und denen, die mit heiler Haut davongekommen waren, schon nicht mehr erkennen.
1. Dezember 1954 »Sind wir soweit?« fragte Terri. Sie faltete die Kleider in einen Koffer. Es klang, als hätten wir eine Pilgerreise zufriedenstellend beendet und uns einen guten Platz im Himmel gesichert. »Nein«, antwortete ich. »Noch nicht.« Wir waren von Deutschland nach Zürich gefahren, um uns das Haus anzusehen, in dem meine Mutter gewohnt hatte. Wir hatten vor dem Burghölzli gestanden – der Irrenanstalt in Zürich, in der mein jüngerer Bruder Eduard seit Jahren eingesperrt war. Ich wollte ihm nicht begegnen, ich kannte ihn nicht, hatte jedoch sein Photo in den Zeitungen gesehen, nachdem meine Mutter gestorben war und sie die Vergangenheit ausgegraben hatten. Ich kannte Eduards trauriges, aufgequollenes Gesicht, seine Wutausbrüche, sein kindisches Entzücken, mit dem er Eiscreme als das Beste, was dieses Universum anzubieten hatte, liebte. Ich wollte nur draußen stehen und wissen, daß er dort drin war. Er würde mich nicht erkennen. Mein anderer Bruder. »Ich finde«, sagte Terri, »du hast jetzt genug Erinnerungen aufgewühlt.« »Nein«, antwortete ich, »noch nicht. Meiringen.« Ich mußte in die Berge nach Meiringen fahren, weil dort im Altersheim eine alte Dame lebte – eine alte Dame, die als junges Mädchen vielleicht die einzige gewesen war, die meinen Vater verstanden hatte. Marie Winteler, die
wunderschöne Marie, der der junge Albert das Herz gebrochen hatte. Mein Vater wohnte bei Pauline Winteler und ihrer Familie, als er in der Schweiz studierte. Pauline hatte eine Tochter, Marie. Sie verliebten sich ineinander, aber dann verließ mein Vater Marie wegen Mileva. Kurze Zeit später schrieb er an Pauline und bekundete seinen Kummer darüber, daß er das »liebe Kindchen« verletzt habe. Damit hatte er vielleicht das einzige Mal in seinem Leben Kummer zugegeben, bis er mir begegnete, einem noch ärmeren Kind, dessen Herz er ebenfalls brach. Pauline verzieh ihm und hätte ihm vielleicht auf alle Zeit verziehen, wenn sie nicht im Winter 1906 von ihrem eigenen Sohn erschossen worden wäre. Terri war mit ihrer Geduld am Ende. Ruhelos trat sie vor den Eisentoren von einem Fuß auf den anderen, wartete mit Tina auf mich, ganz begierig darauf, aufbrechen zu können. Sie mochte dieses Zurückgehen in alten Fußspuren nicht. »Breitet sich Wahnsinn so in Familien aus?« fragte ich sie. »Wieviel von dem, was wir tun, ist ererbt, und wieviel hängt von uns selbst ab?« Wir blickten beide zu Tina, die uns anlächelte und in der Kälte zitterte. Woher kam ihr Wahnsinn? »Bist du hierhergekommen, weil du das wissen wolltest?« Terri war skeptisch. Das war sie immer. »Ich glaube, ja.« »Du suchst an den falschen Orten nach Antworten.« »Es ist nicht der einzige Grund, warum ich hier bin. Ich möchte mit Marie reden, weil ich glaube, daß sie die letzte lebende Person ist, die meinen Vater geliebt hat.« »Es ist zu kalt, um hier zu warten«, sagte Terri. Ihr Atem war weiß in der dünnen Luft, und sie nahm Tina an der Hand. »Wir trinken im Ort eine heiße Schokolade.«
Falls Marie meinen Vater einmal geliebt haben sollte, so tat sie es jetzt nicht mehr. Ja, Pauline Winteler hatte dem jungen Albert verziehen, aber Marie nie, nicht einen Augenblick lang. Das war einer der wenigen klaren Kommentare, die sie in dem Altersheim in Meiringen, wo ich sie 1954 besuchte, abgab. Die alte Dame war froh, mit einer Person reden zu können, die, wie ich vorgab, eine alte Freundin der Familie war. Wenn sie den Kopf wandte, ahnte man noch etwas von der Schönheit, die sie in den frühen Jahren des Jahrhunderts besessen hatte, als mein Vater sich in sie verliebt hatte. Aber sie konnte sich nur daran erinnern, daß er sie wegen Mileva verlassen hatte, und außer Bitterkeit und Wahnsinn gab es jetzt nichts mehr in Maries Kopf. Die Tiefe ihres Hasses überstieg sogar meinen. Es war tröstlich zu merken, daß ich nicht allein war. »Ich glaube, jetzt weiß ich fast alles«, sagte ich, packte das letzte Teil in den Koffer und setzte mich darauf. »Ich sehe den Sinn in dem Ganzen nicht«, sagte Terri. Sie hatte das Zimmer für unsere Abreise früh am Morgen aufgeräumt, und es sah so aus, als wären wir nie dagewesen. »Aber ich muß es wissen«, sagte ich. »Ich muß alles wissen. Es ist alles, was mir geblieben ist.« »Niemand weiß alles«, entgegnete sie. »Irgend jemand vielleicht doch.« »Das ist nur eine Hypothese«, sagte sie. »Noch nicht einmal das kannst du mit Sicherheit wissen.« »Aber ehe wir nicht wissen, was es zu wissen gibt, worin liegt dann der Sinn, wenn wir versuchen zu erfahren, was wir nicht wissen?« »Selbst wenn du alles weißt, was es zu wissen gibt, würde dir das nichts nützen«, sagte sie. »Oder mir.«
»Es nützt mir nichts, um die Vergangenheit zu verstehen«, entgegnete ich. »Soviel weiß ich auch. Aber es könnte mir helfen, damit fertig zu werden. Es könnte mir helfen zu verstehen, was sein könnte.« »Glaubst du wirklich, es gibt von nun an noch ein ›Was sein könnte‹?« fragte Terri. »Könnte sein«, antwortete ich. »Wer weiß das schon?« »Tina weint«, sagte Terri, und das stimmte. Sie lag in ihrem gemieteten Bett in dem angrenzenden Zimmer, wo sie von Feldern voller Mangold und Butterblumen träumte, Felder, an die Tina sich nicht erinnern konnte und an die sie sich nie wieder erinnern würde, wenn sie aufwachte und richtig wach war. Tina weinte, und ich ging zu ihr. Ein Weinen in der Nacht. Eine Kindheit, die nie aufhörte. Tina – das Kind, das mich lehrte, daß es nur Wahrscheinlichkeiten gibt. Keine Gewißheiten. Ich nahm Tina in den Arm und tröstete sie, brachte sie zurück aus den Erinnerungen, die sie aus diesem blauen Himmel, diesem weißen Schnee überfluteten, und schließlich beruhigte sie sich. Ich setzte mich auf den Boden neben ihrem Bett und hielt die ganze Nacht über ihre Hand in meiner. Sie war wirklich. Tina war wirklich und das Wichtigste, das ich besaß. Man kann eine Hypothese kritisieren und in Fetzen zerreißen – aber dadurch bekommt man keine neue Hypothese, keine neue Theorie. Woher kommen sie, diese plötzlichen Theorien? Aus welchem Reich stammen sie, diese Funken des Möglichen? Sie liegen außerhalb der rohen Daten der Welt, sie haben nichts zu tun mit der Analyse der Fakten. Mitten in der Nacht schlüpfen sie in das Gehirn, aus dem dunklen See, in dem meine ganze Familie schläft, in Träumen, in Warnungen. Ich hatte die allgemeine Theorie der Relativität eines Nachts geträumt, um dem Verhungern zu entgehen. Ich hatte mir die Atombombe hypothetisch vorgestellt aus dünner Luft und aus
Rache, und jetzt war sie real. Es waren Theorien, die ich der Welt hinterlassen hatte, und ich glaubte nicht, daß die Welt mir auch nur für eine danken würde. Vielleicht hatte Terri unrecht. Vielleicht war noch eine weitere Hypothese für mich übriggeblieben. Eines Morgens erwachte ich vielleicht und sagte zu mir: »Was wäre, wenn…?«, und ich würde dieses seltsame Gefühl von etwas, das real wurde, empfinden. Aber in meinem Herzen wußte ich, daß Terri recht hatte. Ich ging jetzt über altbekannten Boden, wenn ich mir bei der Lektüre der Physikzeitschriften Notizen machte. An meiner Arbeit war nichts Originelles mehr. Manchmal schlichen sich Irrtümer in meine Berechnungen. Vermutlich waren die Tage der Theorien für mich vorüber. Wenn etwas Neues entdeckt werden mußte, dann mußte das jemand anders tun.
»Es ist Zeit«, sagte Terri. »Ich habe am Flughafen angerufen.« Ich war ganz steif, weil ich die ganze Nacht über neben Tina auf dem Fußboden gesessen hatte, und zögerte noch, aufzubrechen. »Wir müssen früh da sein, damit wir drei Plätze nebeneinander bekommen.« Terri war unerbittlich. »Laß uns fahren.« Sie blickte in den Spiegel und überprüfte ihr Gesicht. Sie hatte kürzlich ernsthafte Forschungen in Dermatologie betrieben, mit dem Resultat, daß sie Anfang des Jahres zwei chemische Peelings über sich hatte ergehen lassen. Ich stellte fest, daß ich in all den Jahren zuvor recht gehabt hatte: Zeit verging unterschiedlich in feststehenden und sich bewegenden Systemen, und irgendwie war ich stehengeblieben, während Maja ständig in Bewegung blieb. »Wie lautet der Urteilsspruch?« fragte ich, während ich sie beobachtete.
»Ich überlege, ob ich mir Collagen spritzen lassen soll.« »Warum?« »Wenn sie es mit einer Spritze direkt in die Dermis injizieren«, sagte sie, »dann füllt es diese Falten sofort auf.« Sie wies mit unbarmherziger Distanz auf ein paar Fältchen unter ihren Augen. »Woher nehmen sie das Collagen?« fragte ich. »Aus deinen Beinen?« »Aus dem Schlachthaus vermutlich«, sagte Terri. »Iihh«, sagte ich. »Das ist es mir wert.« »Du brauchst das doch gar nicht. Sieh dich doch an. Du gehst doch sowieso für Anfang Vierzig durch.« »Bitte«, entgegnete sie, »lenk nicht vom Thema ab. Es ist Zeit, nach Hause zu fahren.« »Noch nicht«, sagte ich. »Ich komme mit euch über den Atlantik, aber dann übernimmst du Tina. Sie muß wieder nach Hause. Aber ich muß noch einen letzten Umweg machen. Ich muß noch etwas erledigen.« Terri verließ das Zimmer, um sich die Zähne zu putzen, auf eine Art, die keinen Zweifel daran ließ, wie sie dieses Thema sah.
Sie war nicht besonders lang, meine Umleitung, nur nach Berkeley, gar nicht weit von dem Ort entfernt, in dem wir seit Jahren wohnten. Aber ich traf dort jemanden, dessen Akzent und Sensibilität nur zu jemandem gehören konnten, der mitten in dieser zerrissenen, zerfaserten Ansammlung von Staaten groß geworden war, die sich von Zeit zu Zeit selbst gern als Europa bezeichneten.
Ich brauchte nicht lange, um ihn aufzuspüren. Beim Mittagessen. In der Cafeteria. Wenn man wirklich jemanden finden möchte, sind die Hinweise immer dieselben. Ich wußte, daß er es war, noch bevor er den Mund aufmachte. Seine Nase war genauso geformt wie meine, er hatte genau wie ich das entschlossene Kinn Milevas, ihre dunklen Augen geerbt. »Szervusz, Hans Albert«, sagte ich. Er drehte sich um und wußte sofort, wer ich war. »Lieserl« Es spielte keine Rolle, daß ich das letzte Mal, als er mich gesehen hatte, ein kleines Mädchen in einem gestärkten Baumwollkleid gewesen war. Ich war seine Schwester. Hans Albert ist der einzige Mensch, der jemals wußte, wer ich wirklich war. Deshalb hatte ich ihn auch finden müssen. Er stellte sein Tablett ab und ergriff meine Hand. »Ich habe von dir gewußt«, sagte er. »Ich habe immer von dir gewußt. Aber nie hat jemand von dir geredet.« »Ich erinnere mich so deutlich an dich«, sagte ich. »Du warst sehr ernst. Ein ernster kleiner Junge in einem gebügelten weißen Anzug.« »Ich bin immer noch ernst«, entgegnete er. »Ich bin fröhlich. Zumindest einer von uns sollte fröhlich sein.« »Ich habe oft gefragt, was aus dir geworden ist. Mama wollte nicht darüber reden. Papa hat sich so benommen, als gäbe es dich gar nicht. Dann, nach einer Weile… Ich habe manchmal für dich gebetet. Ich tue es immer noch. Wir dachten, du wärst tot. Wir lasen, was mit Jugoslawien passiert ist. Wir dachten, du wärst da.« »Du kannst dir nicht vorstellen, wo ich gewesen bin«, sagte ich. Die Leute gingen um uns herum. Wir störten die ordentliche Schlange.
»Komm mit zu mir nach Hause«, sagte er. »Ich koche Ente mit Kirschen für dich. Genau wie Mutter sie immer gemacht hat.« »Du kochst?« fragte ich. »Warum nicht?« Also fuhren wir los. Zusammen, in seinem Auto. Er freute sich, reden zu können. In meinem Bruder hatte sich eine Menge Haß aufgestaut. Natürlich, wenn dein Vater mit sechsundzwanzig Jahren Raum und Zeit in der Hand gehalten, die Wissenschaft und den Blick der Menschheit auf das Universum verändert, tatsächlich das Universum erklärt hat, dann bleibt für dich nicht viel übrig, nicht wahr? »Bestimmt nicht soviel, wie ich tun wollte«, sagte er. »Bestimmt nicht soviel, wie ich tun konnte«, erwiderte ich, »draußen auf dem Hof.« »Außer Rache«, sagte er. »Genau«, erwiderte ich. »Das ist mein Leben gewesen«, sagte er. »In jeder Beziehung. Vielleicht kann niemand außer dir verstehen, wie sehr ich ihn hasse.« »Weiß er das?« »Er weiß es. Aber ich habe nie den Mut gehabt, es ihm ins Gesicht zu sagen.« Bei ihm zu Hause überließ ich ihn für einige Zeit seinen Töpfen und Pfannen, und wir redeten über allgemeine Sachen, was er gewesen war, was er getan hatte und wer er geworden war. Manchmal kann man ein ganzes Leben an einem Nachmittag erzählen und hat trotzdem nicht das Gefühl, etwas Wichtiges ausgelassen zu haben. »Du kannst kochen«, sagte ich. »Ich habe eine solche Kirschsauce nicht mehr gegessen seit… Ich weiß nicht, seit wie vielen Jahren. Kulinarische Künste.«
»Kirschen und Ente so zuzubereiten?« sagte er. »Kulinarische Wissenschaft. Ich bin wissenschaftlich trainiert.« »So oder so«, antwortete ich. »Für mich ist es ein kulinarisches Geheimnis.« »Keine Wissenschaft?« »Ich kann nicht einmal den richtigen Sender im Radio einstellen«, sagte ich. »Ich kann nicht Auto fahren.« »Ich glaube dir nicht«, erwiderte er. »Du könntest schon, wenn du nur wolltest.« »Wenn ich wollte«, sagte ich. »Ja. Du kennst mich gut. Du hast mir deinen magischen Stein dagelassen.« »Ach, den Magneten.« »Den Magneten. Du wußtest, daß ich es herausbekomme.« »Du hast von Rache geredet.« »Ich habe meine Rache gehabt.« »Wie?« »Ich habe die Bombe gemacht.« »Das ist eine mächtige Rache«, sagte Hans Albert und stellte sein Glas hin. »Vielleicht«, erwiderte ich. »Jetzt ist es Schuld.« »Lieserl, in den vergangenen Jahrhunderten sind mehr Menschen durch Schwerter umgekommen. Durch Gewehre, Verkehrsunfälle, bloße Hände. So ist der Krieg eben. So ist das Leben. Wie viele Menschen sind deines Wissens durch die Atomtests umgekommen?« »Keiner«, sagte ich. »Aber darum geht es nicht. Was ich da draußen in der Wüste gemacht habe, war primitiv. Die Bomben, die sie auf Japan geworfen haben, waren Babys im Vergleich zu den Riesen, die wir jetzt haben.« »Und alles, weil unser Vater ein Pazifist war?« »Es war die beste Rache, die mir eingefallen ist«, sagte ich. »Es war der größte Knall, den ich mir vorstellen konnte. Es
war das einzige, was ich tun konnte, was er nicht ignorieren konnte. Aber hinterher war es dann ganz anders. Danach fühlte ich mich einfach nur elend.« »Wenn du es nicht getan hättest«, sagte Hans Albert, »hätte es jemand anders getan.« »Dadurch fühle ich mich auch nicht besser.« »Das ist das Problem bei Rache, denke ich.« »Das und Schuld.« »Du hast es zumindest versucht«, sagte Hans Albert. »Ich war irregeleitet.« Hans Albert sah mich mißtrauisch an. »Tust du, äm… tust du jemals gute Werke?« fragte er. Ich lachte. »Was zum Beispiel?« »Wohltätige Dinge?« »Nein.« »Freiwillige Arbeit für die Armen?« »Niemals.« »Rettest du verhungernde Tiere vor dem Tod?« Ich machte mir nicht einmal die Mühe, ihm darauf zu antworten. »Gut«, sagte er. »Warum bist du so begierig, die schlechteren Seiten meines Charakters zum Vorschein zu bringen?« fragte ich. »Eine Heilige in der Familie ist genug«, antwortete er. Ich lachte. »Ach, Hans Albert, da stimme ich dir zu.« »Hier, auf uns.« »Prost.« Ich hob mein Glas. »Prost.« Wir tranken. Er war mein Bruder. An diesem Abend bekam ich einmal das Gefühl dafür, wie es sein konnte, einen unbeschwerten Abend zu Hause mit einem Blutsverwandten zu verbringen, und ich war fest entschlossen, es zu genießen.
Mein Bruder stellte sein Glas hin. »Lieserl, bist du verbittert?« Ich knallte meine Gabel auf den Teller. Da ging sie hin, meine Chance, den Abend zu genießen. »Natürlich bin ich verbittert.« »Das dachte ich mir.« »Wahrscheinlich haben sie sich eingeredet, es sei zu meinem Besten.« »Sie waren nicht verheiratet, sie hatten kein Zuhause, Lieserl, als du zur Welt kamst.« »Aber sie haben mein Leben weggeworfen. Sogar jetzt, Hans Albert, wo wir hier in deinem hübschen Zimmer sitzen, habe ich das Gefühl, kein Zuhause zu haben. Du bist kaum zwei Jahre nach mir zur Welt gekommen. Haben sie dich im äußersten Winkel Europas versteckt? Natürlich nicht. Du wurdest in Bern gehegt und gepflegt. Du hattest eine Mama und einen Papa. Ich nicht. Wieviel Wärme es auch in unserer Familie gegeben haben mag, du hattest von uns allen das meiste davon.« »Lieserl…« »Nein, Hans Albert. Die Tatsache bleibt bestehen. Du hattest eine Mutter. Ich nicht. Wenn jemand Grund hat, sich zu rächen, bin ich es, nicht du.« »Aber du solltest etwas wissen. Ich habe dich beneidet.« »Warum?« »Du warst aus dem Ganzen heraus. Du konntest du selbst sein. Du mußtest nicht die ganze Zeit über mit diesen endlosen Anspielungen und Vergleichen zu deinem Vater leben.« »War das ein solches Problem?« »Sie sehen mich immer noch so an, als ob ich ein Monster wäre«, sagte er. »Selbst heute noch. Als ob ich jeden Moment anfangen würde, in Gleichungen zu reden.«
»Na ja, das könnte ja auch gut sein. Du kennst schließlich genug Gleichungen, um eine Brücke bauen zu können«, erwiderte ich. »Das ist etwas Nützlicheres, als ich je geschaffen habe.« »Es gibt eine in Jugoslawien«, sagte er, »die ich gebaut habe. Wußtest du das?« »Ja«, sagte ich. »Das wußte ich.« »Das dachte ich mir.« »Was würdest du jetzt gern tun, Hans Albert? Was tust du normalerweise an einem regnerischen Montagabend?« »Ich trinke Bier«, sagte er, »und sehe mir Football an.« »Dann laß uns das tun«, sagte ich. »Ein ganz normaler Abend zu Hause mit meiner Familie, und wir tun das, was wir immer tun. Was will ich mehr?« Also machten wir den Fernseher an, setzten uns bequem auf das Sofa und sahen das Spiel. So hätte es gewesen sein können, so hätte es sein sollen. Wir saßen da, sahen fern und unterhielten uns, wie Bruder und Schwester, die nicht ihr ganzes Leben lang getrennt gewesen waren. Draußen, im Raum, im Mittelpunkt der Sterne, werden Teilchen paarweise geschaffen. Sie kreisen umeinander, kollidieren und löschen einander aus. Als ob sie nie existiert hätten. Das ist kein wissenschaftliches Märchen, doch Sie können sicher verstehen, warum mein Vater es ablehnte, oder? Es klingt albern. Sie löschen einander aus. Materie und Antimaterie. Hans Albert und ich sahen fern und lachten, bis uns die Tränen kamen. »Mama hat eine Zeitlang Physik am Gymnasium unterrichtet, aber es war schwierig, weißt du. Eduard brauchte die ganze Zeit jemanden, der auf ihn aufpaßte.« »Und Papa war weg.« »Schon lange. Mama wollte, daß er die Scheidung einreichte.«
Ich dachte an Mileva, ihr entschlossenes Kinn und den harten Ausdruck in ihren Augen. Ja, sie hatte sicher gekämpft. Sie hatte alles für ihn aufgegeben, ihr Studium, ihr Land, sogar ihre Tochter, damit das Babygeschrei den großen Mann nicht bei seiner Wissenschaft störte, und dann wollte er sie verlassen. »Ja, ich kann mir vorstellen, daß sie nicht kampflos aufgegeben hat«, sagte ich. »Was hatte sie für einen Vorteil davon, ihn ziehen zu lassen? Sie hatte euch zwei Jungen – sie brauchte ihn eigentlich. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie einen hohen Preis forderte.« »Sie hat ihn bekommen.« »Das Geld vom Nobelpreis?« »Kannst du dir das vorstellen?« sagte Hans Albert. »Sie hat es von ihm verlangt, noch bevor er ihn gewonnen hatte. Es gab keine Garantie dafür, daß er ihn bekam. Aber sie war fest davon überzeugt. Und sie hat gesiegt.« »Hat sie alles bekommen?« »Alles. Über hunderttausend Kronen.« »Sie hätten ihm den Nobelpreis nie geben dürfen«, sagte ich. »Warum nicht?« »Er ist für ein Werk vorgesehen, das von größtem Nutzen für die Menschheit ist. Aber welchen Nutzen hat schon eine Theorie? Wie wendet man Relativität in der Praxis im Alltag an? Ich brauche keine Erklärung von Schwerkraft, um meiner Tochter Frühstück zu machen, keine Beschreibung der Raumzeit, um ein Babymützchen zu stricken.« »Ich bin froh, daß du damals keinen Einspruch erheben konntest«, entgegnete er. »Wir brauchten das Geld. Damit hatten wir für eine Weile mehr als genug. In jener Zeit war Mama sogar glücklich.« »Ich freue mich darüber«, sagte ich. »Ich freue mich für dich.«
Er streckte die Hand aus und berührte meinen Arm. »Ich bin froh, daß du mich gefunden hast«, sagte er. »Ich habe oft an dich gedacht.« Seine Finger lagen leicht auf meinem Arm. Und plötzlich hatte ich die Erklärung für diese seltsamen Berührungen, die ich manchmal aus heiterem Himmel gespürt hatte, als ob jemand mit den Fingern meinen Arm hinauf- und hinunterglitte. Es war nicht mein Vater. Es war auch nicht meine Mutter. Es war Hans Albert gewesen, der an mich dachte. Ich war eingewebt in Hans Alberts Gedanken, als ob sie mich nach Hause bringen könnten. »Du siehst ihr ähnlich«, sagte er. »Sehr sogar.« Das überraschte mich. Ich hatte auf Bildern immer nur Ähnlichkeit mit meinem Vater feststellen können, aber jetzt, wo Hans Albert es erwähnte, fiel mir auf, daß es stimmte. Ich hatte ihre dunklen Haare und Augen. In den letzten Jahren hatte ich auch ihren harten Gesichtsausdruck. So überraschend war es eigentlich gar nicht. Ich war in so vielen Dingen wie sie. Sie hatte ihre Tochter verloren, ich hatte meinen Sohn verloren. Derselbe Mann hatte unser Leben verwandelt und verzerrt. Wir waren beide vom selben Mann verlassen worden. »Und das Schlimmste ist«, sagte ich, »er hatte unrecht.« »Dich zu verlassen?« »Nein. Relativität. Deswegen hat er mich verlassen. Seine große Theorie. Ein paar der Gleichungen waren falsch. Wir haben all das erlitten, und er hatte unrecht.« »Papa haßte es, unrecht zu haben«, sagte mein Bruder. »Das siehst du an Sprüchen wie ›Gott würfelt nicht‹. So was mußten wir uns jeden Tag anhören.« »Er war wie die meisten Wissenschaftler«, erwiderte ich. »Wenn er Gott erwähnte, befand er sich auf schwankendem Boden.«
»Deshalb hat er sich auch wie die meisten Wissenschaftler mit Gott überworfen.« Ich fand, daß Hans Albert mit der Tiefe seines Hasses sogar Marie Winteler übertrumpfte. Da es der einzige Abend war, den wir je zusammen verleben würden, und da ich ihn so normal wie möglich verbringen wollte, beschloß ich, daß wir nicht mehr über Gott, Wissenschaft, Haß oder Rache reden sollten. Ich sah auf das Spiel im Fernseher. »Was kommt deiner Meinung nach als erstes?« fragte ich. »Ein Touchdown oder ein Field Goal?« »Ein Touchdown«, erwiderte er. »Ich wette um fünf Dollar.« Ich gewann. Der Stoff des Universums enthält auch Glück. Hans Albert gab mir die fünf Dollar, rief mir in den frühen Morgenstunden ein Taxi und nahm mich fest in den Arm, bevor ich in der Dunkelheit verschwand.
12 Das Institut
18. April 1955 Ich war allein hingegangen. Terri hatte recht, das war wahrscheinlich meine letzte Chance. Sie hatte beobachtet, wie ich wegen dieser unerledigten Sache immer ruheloser geworden war, seitdem wir aus Europa zurückgekommen waren. Sie hatte mich mehr als einmal gemahnt, daß ich so gut wie jeder andere wissen sollte, daß die Zeit nur in eine Richtung lief, und im Fall meines Vaters liefe sie aus. Er war schon seit langem krank. Wer wußte schon, wie lange ich noch Zeit hatte, das letzte Puzzleteil an seinen Platz zu legen? Also fuhr ich hin. Marie Winteler hatte meinem Vater nie gesagt, wie sehr sie ihn gehaßt hatte. Hans Albert hatte nie den Mut gehabt, es ihm ins Gesicht zu sagen. Mileva war tot, und Eduard konnte nicht für sich selbst sprechen. Also würde ich es für alle tun. Ich würde meinem Vater die Meinung sagen. Ich ließ Terri mit Tina zu Hause und stieg ins Flugzeug. Das Krankenhaus war ein niedriger grauer Block mit langen grauen Korridoren und grauen Wänden, und Krankenschwestern in weißen Schuhen liefen schweigend herum. Ich verbrachte den ganzen Sonntag mit Warten. Ständig gingen Leute hinein und heraus. Ich wußte nicht, ob es Verwandte, Freunde oder Kollegen waren. Ich hatte keine Ahnung, wie das Leben meines Vaters in den letzten Jahren in New Jersey verlaufen war. Er lebte ganz für sich, und derweil warteten die Menschen, ob der alte Mann seine große vereinigte Feldtheorie, die Theorie von Allem, entwickeln würde. Aber das hatte er nicht geschafft: alles miteinander zu
verbinden. Raum und Zeit konnte er bewältigen, bei der Quantenphysik jedoch versagte er völlig. Ich saß im Wartezimmer und spürte die Müdigkeit vom Flug in meinem Nacken und meinen Füßen. Je älter ich wurde, desto weniger gern flog ich, diese Gewichtslosigkeit, dieses Entfernen von den Kräften der Schwerkraft. Ich achtete darauf, unsichtbar zu bleiben, las jene Zeitschriften, die überall in den Wartezimmern von Krankenhäusern liegen, Zeitschriften, in denen ich etwas über Stämme in Neuguinea und die beste Methode, seinen Mann zu halten, erfuhr, und trank eine Tasse nach der anderen von dem bitteren Kaffee auf der Warmhalteplatte und einen Pappbecher nach dem anderen von dem kalten Wasser aus der Flasche in der Ecke. Ich nahm eine abweisende, aber wachsame Haltung ein, als ob ich jede Minute schlechte Nachrichten erwartete, und verhinderte so jede willkürliche Frage. Besucher und Schwestern lächelten mich mitfühlend an und gingen mit einem verständnisvollen Nicken weiter. Vielleicht entzieht sich uns allen letztendlich die Theorie von Allem, dachte ich. Aber nicht alle von uns versuchen darüber nachzudenken. Gegen Abend wurde der Besucherstrom schwächer, als ob sie alle nach Hause in ihre warmen, erleuchteten Zimmer zum Abendessen gegangen wären. Ich wäre auch gern nach Hause gegangen, in mein warmes Zimmer, und hätte all das vergessen, das Warten, die Nervosität durch das Koffein und die Müdigkeit von der Reise. Ich war nervös. Ich hatte nur eine Chance, und ich mußte alles richtig machen. Immer wieder rollte ich die Worte über meine Zunge. Haß. Wir alle hassen. Verachtung. Abscheu. Meine Schultern schmerzten. Im Wartezimmer wurde die grelle Deckenbeleuchtung eingeschaltet, und ich sah viel älter aus. Ich fühlte mich auch so.
Um elf Uhr, gerade als ich dachte, die Luft sei rein, kam ein weiterer Besucher. Frustriert warf ich die Zeitschrift hin und klopfte mit den Fingerspitzen auf den Tisch, wartete, daß er wieder herauskam und verschwand. Wußtest du, wie sehr wir dich haßten? Wußtest du, wie sehr wir dich verabscheuten? Es war ein kurzer Besuch. Als die Tür zugeschlagen war, wartete ich noch fünf Minuten, um ganz sicherzugehen, aber die ganze Etage blieb still. Zehn Minuten vor Mitternacht schlich ich in das Zimmer, in dem mein Vater lag. Endlich war es leer. Ich war in Sicherheit. Er lag mit dem Kopf auf einem weißen Kissen, mit einem weißen Laken zugedeckt. Er war unverkennbar. Die große Nase, das volle weiße Haar. Seine Kopfhaut war so dünn wie Papier. Darunter konnte ich die blauen Venen sehen, die verhärteten Arterien, die scharf auf der breiten Stirn hervortraten und darum kämpften, sein Leben zu erhalten. Das war der Mann, den ich mein ganzes Leben lang gehaßt hatte. Hier lag er vor mir. Auf dem Nachttisch waren eine Flasche Mineralwasser und ein Löffel. Man hatte drei oder vier Plastikstühle neben das Bett gestellt, um es der Flut von Besuchern bequem zu machen, und sie waren noch nicht wieder weggeräumt worden. Zwei zusätzliche Kissen lagen auf dem Boden, halb unter dem Bett, als seien sie heruntergefallen und niemand habe sich die Mühe gemacht, sie aufzuheben. Im Zimmer war es ganz still. Man hörte noch nicht einmal das Geräusch des Atmens. Aber er atmete. Ich konnte sehen, wie sich sein Brustkorb in abgehackten Zügen hob und senkte. Ich nahm eines der Kissen vom Boden. Jetzt könnte ich es tun, dachte ich, und es würde nie jemand erfahren. Ich konnte diesen abgehackten Atemzügen ein Ende machen. Wir alle hassen. Verachten. Niemand würde mir die Schuld geben. Niemand würde es je erfahren.
Ich stand da, hielt das Kissen fest, hielt es fest an mich gedrückt, und fühlte zum ersten Mal in meinem Leben, was es heißt, echte Macht zu haben, Macht über Leben und Tod eines anderen Menschen. Ich dachte an all die Leben, die er zerstört hatte: das meiner Mutter, Marie Wintelers, Hans Alberts, Eduards. Mein Vater hatte Macht über die Leben der Menschen gehabt, und er hatte nicht gezögert, sie zu gebrauchen. Ich dachte an das kleine Baby in Novi Sad, das Baby, um das er sich nie gekümmert hatte, das Baby, das er nur wegen einer Theorie verlassen hatte. Und dann schlug er die Augen auf. »Ich habe darauf gewartet, daß du kommst«, sagte er. Ich stand da mit dem Kissen. Es würde leicht sein. Diese dünnen Arme hatten keine Kraft mehr. »Weißt du, wer ich bin?« »Natürlich«, sagte er. »Mein kleines Mädchen. Der Säugling.« Er sprach in langen, tiefen, gutturalen deutschen Wörtern. »Der Säugling.« Unendlich liebevoll, unendlich traurig. Es war eine sanfte Stimme, zwar schwach jetzt, aber die Art von Stimme, die ich während meiner Kindheit gern jeden Tag gehört hätte. Ich hatte nicht geglaubt, daß er mich kennen würde. Ich hatte mir vorgestellt, daß ich ihn daran erinnern müßte, wer ich war, mit dem Fuß aufstampfen, vor Haß spucken, ein Leben vor ihm aufzeichnen, das vor einem halben Jahrhundert stattgefunden hatte, daß ich hatte zu ihm kommen müssen, um ihn endlich zu erschrecken. Statt dessen setzte ich mich auf den Stuhl, der dem Bett am nächsten stand, und legte das Kissen auf meinen Schoß. »Du weißt, warum ich hier bin, nicht wahr?« »Weil ich sterbe.«
Wir sprachen Deutsch, ohne nachzudenken, weil es am einfachsten schien, weil es die Sprache war, in der wir beide am meisten zu Hause waren, selbst nach dieser langen Zeit, in der wir nur Englisch geredet hatten. Und wir konnten keine Zeit mit Höflichkeiten verschwenden. Das wußten wir beide. »Ja, ich bin hier, weil du stirbst. Weil ich Fragen habe. Weil du der einzige bist, der sie beantworten kann. Und weil…« Er blickte auf das Kissen in meinem Schoß. Ich ließ es nicht los. Er schloß die Augen und sagte: »Ich habe mir mein ganzes Leben lang Fragen gestellt. Du ähnelst mir vermutlich.« »Ich weiß, daß ich dir ähnlich bin. Deshalb bin ich hier.« »Also frag. Frag, was du fragen möchtest. Fang am besten gleich damit an.« Eigentlich gab es nur eine einzige Frage. »Papa, warum hast du mich weggeschickt?« Plötzlich war ich wieder ein kleines Mädchen in Desankas Küche, das sich fragte, ob wohl je der Tag käme, an dem es Prinzessin würde. Er antwortete nicht sofort. Er nahm sich Zeit zum Überlegen und glitt mit geschlossenen Augen in seine eigene Vergangenheit. »Mein Vater«, begann er. Er zögerte. Ich wartete, weil ich wußte, daß er antworten würde. »Hermann. Er war sehr sanft. Er konnte niemandem etwas abschlagen. Und deswegen kam er zu nichts. Nichts. Nichts! Und es gab Dinge, die ich tun mußte. Tun wollte. Tun mußte. Deshalb sagte ich nein.« »Nein?« »Zu deiner Mutter. Als sie fragte. Ich wollte nicht von dem ›Privaten‹ behindert werden. Und als deine Mutter dich mitbringen wollte…« Er hob seine Hand vom Laken und schwenkte sie durch die Luft. »Ich sagte nein.« »Nein.« »Das stimmt. Ich sagte nein.«
»Wenn sie mich wirklich gewollt hätte«, sagte ich und dachte an ihre grobknochigen Hände, diesen harten Ausdruck, der sich mit der Milch und der warmen Haut vermischte, »dann hätte sie mich mitgebracht, ganz gleich, was du gesagt hättest. Ist es nicht so?« »Oh, nein, sie wollte dich«, sagte er. »Ich war es. Ich wollte dich nicht.« »Aber warum?« Es war mir noch immer unbegreiflich. »Ich hatte zu tun. Ich wollte die Wissenschaft nicht einem schreienden kleinen Mädchen opfern. Und weißt du, du hast ständig geschrien. Das hat Mileva jedenfalls gesagt.« »Ich habe seitdem immer weiter geschrien«, antwortete ich. Er öffnete die Augen und musterte mich, sah auf meine Augen, die genauso braun waren wie seine, mein Haar, das an den Schläfen schon weiß wurde. »Manchmal habe ich mich gefragt«, sagte er, »was wohl aus dir geworden ist.« »Nicht oft genug, um wirklich zu fragen.« »Nein.« Er seufzte. »Ich hatte ja nichts mit dir zu tun.« »Hast du je geglaubt, daß ich dich finde?« »Ich wußte es. Wenn du erst einmal alles über eine Situation weißt, dann kannst du voraussagen, was als nächstes passiert. Es ist nur eine Frage der Zeit.« »Da irrst du dich, Papa. Du kannst dir nicht über alles sicher sein. Nicht auf der Quantenebene.« »Blödsinn«, sagte er, »dummes Zeug.« »Du bist wie Terri«, sagte ich. »Sie beharrt immer noch darauf, daß die Katze in der Schachtel entweder tot oder lebendig sein muß. Beharrt immer noch darauf, daß Gott nicht würfelt.« »Wenn ich ein bißchen mehr Zeit hätte«, sagte er, »hätte ich Gleichungen entwickelt, die das beweisen.«
»Ich weiß nicht, warum du dich so gegen Wahrscheinlichkeiten sträubst. Gegen die Unschärferelation. Zu würfeln. Schließlich hast du mit mir gewürfelt. Du hast mich weggerollt und gehofft, ich käme nie wieder.« »Ich wußte immer, daß du eines Tages wiederkommen würdest.« »Ich hätte genausogut wegbleiben können.« »Nein, hättest du nicht.« Er kniff vor Schmerzen die Augen zusammen. »Du hättest nicht wegbleiben können. Du bist meine Tochter.« »Aber du mußt zugeben, daß es möglich wäre. Ich hätte genausogut nicht in dieses Flugzeug zu steigen und hierherzukommen brauchen. Fast hätte ich es auch nicht getan. Ich hasse es, zu fliegen.« »Nein. Jede Handlung hat vorhersagbare Konsequenzen. Ich habe dich weggeschickt, aber ich wußte, du würdest zurückkommen, und ich wußte, du würdest mich dein ganzes Leben lang hassen für das, was ich getan habe. Das willst du doch nicht abstreiten, oder?« »Nein«, sagte ich. »Ich habe dich gehaßt.« Ich überlegte einen Moment. »Ich hasse dich immer noch.« Er zuckte mit den Schultern. »Das wußte ich auch.« »Was hast du anderes erwartet? Du hast mich verlassen, Papa. Du hast mich einfach weggeschickt, als wäre ich nichts. Als wäre ich weniger als nichts. Wie konntest du das einem Kind nur antun? Wie konntest du das mir nur antun?« »Du mußt nicht glauben«, sagte er, »daß ich mich deswegen nicht schuldig fühle. Daß wir beide uns deswegen nicht schuldig fühlten. Manchmal.« »Du hast noch nicht einmal nach mir gefragt«, sagte ich. »Nicht ein einziges Mal.«
»Ich habe ein- oder zweimal gefragt«, erwiderte er. »Und sie sagte mir, es ginge dir gut. Wieweit soll denn deiner Meinung nach die Schuld gehen?« »Sehr weit«, sagte ich. »Darüber weiß ich alles. Aber hast du wegen der Schuld bedauert, was du mir angetan hast?« Er blickte mich prüfend an, mein Gesicht, meine Hände, das Kissen. Hier standen wir am Abgrund. Warum sollte er jetzt nicht die Wahrheit sagen? »Nein«, sagte er. »Nie.« »Deshalb hasse ich dich so sehr.« »Deshalb wußte ich, daß du zurückkommen würdest.« »Du kannst nicht über alles so sicher sein.« Ich stand auf und ließ das Kissen fallen. Was sollte ich mit einem Kissen? Ich wollte ihn schlagen. »Warum nicht?« »Weil auch meine Gesetze die Gesetze des Zufalls sind. Auf der menschlichen Ebene kannst du dir nicht über alles sicher sein, und schon gar nicht auf der Quantenebene. Tina hat mich das gelehrt.« »Tina?« Er richtete sich leicht auf. »Tina?« »Deine Enkelin.« »Noch ein Mädchen.« »Sie heißt nach dir. Albertina.« »Armes Kind.« »Sie ist reizend, Papa. Sie ist wunderschön. Sie hat blonde Haare und ein süßes Gesicht. Und ungefähr siebenundzwanzig Puppen. Und sie hatte einen Bruder.« »Hatte?« »Hatte. Paul ist tot. Das Dritte Reich hat ihn umgebracht.« Ich zögerte einen Augenblick lang. »Nein. Ich habe ihn umgebracht. Und meinen Mann, Josef. Ihn habe ich auch umgebracht.«
Ich sah, wie sich der Brustkorb meines Vaters hob und senkte, sah, wie seine dünnen Hände mit den langen Fingern auf der Bettdecke lagen. »Du hättest Josef gemocht, Papa. Du würdest Josef gern gekannt haben. Ich weiß das. Ich habe ihn geliebt.« Die Hände bewegten sich nicht. Mein Vater beobachtete mich. »Und weißt du, warum sie tot sind, Papa? Weil ich mehr bin wie du, als du dir je vorstellen kannst. Ich opferte meine Kinder für die Wissenschaft. Ich verlor Paul, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, meine Rache an dir zu planen. Josef starb, weil ich die Gefahr nicht sehen wollte. Weil ich über nichts anderes als über Vergeltung nachdenken wollte.« »Und wirst du mir sagen«, fragte er, »worin diese Vergeltung bestand?« »Das beweist, daß ich verloren habe, nicht wahr? Wenn ich es dir sagen muß. Wenn du es nicht schon weißt.« »Wenn du es mir nicht sagst, werde ich es nie erfahren.« »Erinnerst du dich an diesen jungen Mann in Berlin, auf dem Eis, vor vielen Jahren? Den mit all den Papieren? Du hast ihn weggeschoben. Ihm gesagt, seine Ideen wären Unsinn, Geschwätz.« »Masse in Energie. Es wäre besser leeres Geschwätz geblieben.« »Du hast als erster die Mathematik dazu gemacht, Papa. Du hast die Gleichung geschrieben. Du kannst den Konsequenzen dessen, was du getan hast, nicht entkommen.« »Du kannst mich nicht dafür verantwortlich machen.« »Hast du nicht einen Brief an Präsident Roosevelt unterschrieben, in dem stand, es sei eine gute Idee, den Bau einer Atombombe voranzutreiben?« Er bewegte sich unbehaglich auf dem Kissen.
»Du hast wirklich überhaupt keine Prinzipien, oder? Was ist aus deinem sogenannten Pazifismus geworden? Du warst doch angeblich völlig gegen Waffen. Waffen jeder Art. Und dann forderst du sie auf, Atombomben zu bauen!« »Es gibt eine Rechtfertigung dafür, Mädchen. Zu jener Zeit dachten wir noch, daß Deutschland zuerst eine hätte.« »Zu jener Zeit«, sagte ich, »dachte ich das auch. Und als klar wurde, daß die Deutschen es nicht schaffen würden, bin ich nach Los Alamos gegangen.« »Ach, du warst es also?« »In der Hauptsache ich, ja. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten sie es nicht geschafft. Als sie in Trinity die Bombe zündeten, habe ich vor Freude getanzt. Das Feuer war heller als alles, was die Welt bisher gesehen hatte. Trinity war meine Rache.« Er zuckte mit den Schultern. »Dann hast du also auch keine Prinzipien.« »Es sieht nicht so aus«, entgegnete ich. Er sagte mir nichts, was ich nicht schon wußte. »Und hast du dich über deine Rache gefreut?« »Du weißt, was nach Trinity passiert ist. Das hatte ich nicht gewollt.« »Das ist keine Entschuldigung. Das hast du selbst gesagt.« »Ich weiß«, erwiderte ich. »Ich bin verantwortlich. Ich nahm diese eine deiner Gleichungen und machte sie wahr.« Zum ersten Mal setzte er sich auf, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen wäre, an das er vorher nicht gedacht hatte. »Glaubst du, das ist alles, woran sich die Menschen aus meinem Leben erinnern? Daß ich den Weg für die Bombe freigemacht habe?« »Nein.« Auch ich konnte so nahe am Abgrund nicht lügen. »Ich glaube, du bist genauso dafür verantwortlich wie ich. Das ist ein Grund, warum ich heute gekommen bin, um zu hören,
wie du das zugibst. Aber ich glaube, sie werden sich wegen der Relativität an dich erinnern.« Seine Schultern entspannten sich, und auch aus seinem Körper wich die Anspannung. »Zumindest, wenn sie endlich deine dumme kosmologische Konstante aus den Gleichungen genommen haben…« Er gab ein schwaches Geräusch von sich, das wohl Lachen sein sollte. »Der größte Blödsinn, den ich je gemacht habe.« »Wenn du die herausnehmen würdest, würden die Gleichungen gut funktionieren. Fast so gut wie meine. Ich habe Milevas mathematische Begabung geerbt, weißt du.« »Da hast du Glück gehabt.« »Das ist Ansichtssache. Aber es sind gute Gleichungen. Und ihre Voraussagen sind endlos.« Ein Gedanke aus der Physical Review kam mir in den Sinn. »Hast du je darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn die Dichte der Materie so groß wäre, daß die Raumzeit sich darumbiegen würde und nichts entkommen könnte?« »Nicht einmal das Licht?« »Nicht einmal das Licht.« »Ja«, sagte er. »Ich habe darüber nachgedacht. Aber die Berechnungen wird jemand anders anstellen müssen.« »Ich nicht«, sagte ich. »Ich bin fertig mit der Physik.« »Ich auch«, erwiderte er. »Leider.« »Woher willst du das wissen?« »Ich werde bald alles wissen«, sagte er. »Für mich gibt es keine Ungewißheiten mehr.« »Und was ist mit Bedauern?« Ich dachte an Mileva, die allein gestorben war, an Eduard in der Heilanstalt. »Daß ich durch meine Arbeit die Welt nicht besser gemacht habe«, sagte er »das bedauere ich.« Er bewegte sich unruhig unter der Decke. Die Schmerzen forderten ihren Preis.
»Manchmal«, sagte ich zu ihm, »glaube ich, daß ich, wenn ich irgendein Gefühl für das hätte, was wahr und wertvoll ist, den Rest meiner Tage mit Bedauern zubringen würde, daß ich weinen würde um die Toten und die Unschuldigen, um meine Mutter, um Paul, um Josef, um alle die Kinder, die verlassen im Regen stehen, um alle die, denen ich hätte helfen sollen, sogar um alle die, denen ich gar nicht helfen konnte.« »Ach, Mädchen, was hättest du schon tun können?« »Mehr, als ich getan habe. Mehr, als ich getan habe. Ich möchte ihnen allen sagen: ›Ich, ich als Mitglied der menschlichen Rasse, hätte euch nicht den Rücken zuwenden dürfen Ich war mein ganzes Leben lang einsam, Papa, weil du mir den Rücken zugewandt hast. Wie mag es wohl sein, wenn einem die ganze Menschheit den Rücken zuwendet?« »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich weiß nicht.« »Deshalb sind wir Überlebende, Papa. Deshalb. Ob gut oder schlecht, ob wir es verdient haben oder nicht, wir haben überlebt. Und das ist eine schreckliche Last.« »Ja«, sagte mein Vater. »Eine Verantwortung.« »Und wir beide haben unsere abgelehnt«, sagte ich. »Wir haben soviel gemeinsam.« »Deine erste Rache ist danebengegangen«, sagte er. »Bist du vielleicht hierhergekommen, um es ein zweites Mal zu versuchen?« »Ja«, antwortete ich. »Und jetzt?« Ich hatte die Wahl. Ich konnte ihn weiter hassen, oder ich konnte damit aufhören. Ich ergriff seine Hand. »Ich bin gekommen, um auf Wiedersehen zu sagen.« Er lächelte. »Auf Wiedersehen.« Dann, nach einer Minute, sagte er: »Es tut mir leid.«
»Wenn die Quantenphysiker recht haben«, sagte ich, »können wir eines Tages schneller als Licht reisen. Und wenn wir das tun, reisen wir in der Zeit zurück. Weißt du, was ich dann tun würde?« »Was?« »Ich würde dich nicht nein sagen lassen. Ich würde dafür sorgen, daß du mich nimmst.« »Weißt du…« Seine Stimme wurde undeutlich. Er war mittlerweile zu schwach, um ohne Schwierigkeiten zu reden. »Weißt du, was ich tun würde?« »Ich möchte es nicht wissen«, sagte ich. »Ich will nicht, daß du es mir sagst.« Ich legte mich auf das Bett neben ihn, meinen Kopf auf das Kissen neben seinem Kopf. Der Krankenhausgeruch nach gestärkter Baumwolle war warm und tröstlich. Es fiel mir nicht ein, warum – es fiel mir nicht ein, warum ich den Geruch genoß, bis ich mich erinnerte, wann ich diesen Duft das letzte Mal gerochen hatte: als Desanka meine Kleider für die Ankunft meiner Mutter gestärkt und gebügelt hatte. Ich hatte stundenlang auf der Bank in der Küche gesessen, und es war das letzte Mal in meinem Leben gewesen, daß ich mir wirklich sicher gewesen war, wo und was und wer ich war. Wir denken, wir gehen vorwärts, wir denken, wir erschaffen Dinge und entwickeln uns weiter. Aber ich begann zu erkennen, daß wir eigentlich immer nur rückwärts gehen. Und wenn wir Pech haben, zerstören wir im Vorbeigehen etwas. Und dann strömten die Tränen, die ich seit dem Moment aufbewahrt hatte, in dem meine Mutter sich von mir abgewandt und mit Hans Albert in der Kutsche durch den roten Staub weggefahren war. Sie ergossen sich über die Bettlaken. Sie war wieder da, die Erinnerung an die Zurückweisung, schmerzlich und stark wie die Farben des Oleanders und der Paprikaschoten in meiner Kindheit. Jahrelang hatte ich die
Tränen zurückgehalten, und immer gewartet, gewartet auf etwas, was ich nicht kannte – und jetzt waren sie da. Meine Tränen fielen auf sein Gesicht, Tropfen um Tropfen, bis wir beide salzig und naß waren. Alles, was vorher verschwunden war, kam an diesem einzigartigen Punkt zusammen, und es gab nichts im Universum als mich und meinen Vater. Mühsam beugte er sich über mich. »Lieserl«, sagte er. »Lieserl.« Und dann übermannten ihn die Schmerzen, die geschwächte Wand seiner Schlagader platzte, und er sank auf das Kissen zurück. Ich sah, wie sich seine Augen schlossen, wie die letzten Blutstropfen durch die Venen auf seiner durchsichtigen Stirn pulsierten und dann aufhörten. Die Theorie von Allem war für immer außerhalb seiner Reichweite. Die endgültigen Gleichungen würden für immer ungeschrieben bleiben. Ich blieb noch kurze Zeit und hielt seine kalte Hand in meiner, dann stand ich auf und wischte mir die Tränen ab. Ich fröstelte. Ich hatte das gleiche kalte Gefühl, das mich immer überkommt, wenn ich zuviel getrunken habe. Diese Gefühllosigkeit bis in die Fingerspitzen, die Taubheit, das Freisein von Schmerzen. Neben seinem Bett lagen ein paar Papiere. Nicht sehr interessant. Notizen über den Nahen Osten. Aufrufe für den Erhalt von Israel. Da es beinahe das letzte war, was ich für ihn tun konnte, zerriß ich sie und warf sie in den Papierkorb.
Lieserl. Dieses allereinzige Mal, daß mein Vater mich je bei meinem wirklichen Namen genannt hatte, wurde am nächsten Morgen von der diensthabenden Schwester den Zeitungen
gegenüber als »er hat etwas auf deutsch gemurmelt« beschrieben. Sie kam herein, als sie das Murmeln hörte, aber sie sah mich nicht. Ich war schon wieder unsichtbar geworden. Ich hatte seine kalte Hand losgelassen und war in den Schatten zurückgetreten. Sie erwartete gar nicht, jemanden anzutreffen, und deshalb sah sie auch nicht genau hin. Es gab ein paar halbherzige Spekulationen darüber, welche endgültigen Geheimnisse der alte Mann wohl dem Universum zugeflüstert haben mochte, aber ich gehörte nicht zu den Spekulationen. Danach fuhr ich zu der Wohnung meines Vaters in der Mercer Street 112, einer komfortablen Wohnung in einer Straße mit Holzhäusern und ordentlichen Gärten, wohin ich nicht gehörte und wo ich auch keinen Grund hatte, an die Türen zu klopfen. Ich nahm den Bus nach New York, um nach Hause zu fliegen, und die hellen Lichter der Stadt waren um mich herum und setzten sich endlos ins Dunkel fort. Ich streckte die Hände aus und griff mit den Fingerspitzen nach der Helligkeit der Hügel und der Dunkelheit der Täler, griff weit über den Kontinent nach Terri und Tina, und so lange, wie sie da waren, war ich in Sicherheit.
Tina begrüßte mich zu Hause fast genau im selben Moment, als im Krankenhaus das Gehirn ihres Großvaters entfernt wurde. Sie studierten das Gehirn aufmerksam, konnten aber nichts Besonderes finden. Sie legten die Geheimnisse in Formaldehyd ein. Sie schnitten es in dünne Scheiben, wie Parmaschinken. Sie machten Tücher schmutzig. Das Gehirn meines Vaters stellte sich in jeder Beziehung als normal heraus, obwohl sie wußten, daß es das nicht war. Das
war der Punkt. Sie schneiden schließlich nicht jedermanns Gehirn auf. Sie suchten nach etwas. Etwas, das sie gebrauchen konnten. Aber was immer es auch war, sie fanden es nicht.
In den Nachrufen hörte ich die Leute von dem Mann, seinen Frauen, seinen Kindern reden, und ich erkannte ihn nicht. Sie redeten, als sei das moderne Universum sein Kind gewesen, ein Baby, das er gesäugt hatte. In seinem Testament hatte mein Vater seine beiden Söhne bedacht. Seine Tochter erwähnte er nicht. Ich war zu Hause. Terri zog eine schwarzlackierte Puderdose hervor und puderte über eine glänzende Stelle auf ihrer Nase. Der Puder war golden und babyweich. Sie goß mir einen sehr trockenen Martini ein. Die Zeit stand auf Null. Mitternacht. Sie saß auf dem Sofa und klopfte auf den Platz neben sich. »Überlebende«, sagte Terri und hob ihr Glas. »Überlebende«, sagte ich, setzte mich und erhob ebenfalls mein Glas.
Das Ende der Zeit
Ich tat für Tina alles, was ich konnte. Ich begleitete sie bis ans Ende ihres Lebens. Tina starb überraschend im Schlaf, im Herbst 1963, an der Herzkrankheit, von der ich immer gewußt hatte, weil ich den unregelmäßigen Rhythmus ihres Herzschlags gekannt hatte. Sie wachte einfach nicht mehr auf, als ich am Morgen zu ihr kam. Sie starb in dem Wissen, daß ihre Mutter sie abends im Bett gut zugedeckt hatte, und mehr konnte ich nicht verlangen. Kinder zu haben und sie sicher durchs Leben zu geleiten, kann man überhaupt mehr verlangen? Ich fand nie heraus, was Tina in den Jahren, in denen sie nicht bei mir gewesen war, geschehen war, aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Nichts spielte mehr eine Rolle. Ich begrub sie hier, mit all ihren Puppen, an dem Ort, an dem auch wir unser Leben beschließen. Der Ort, an dem ihre Kindheit endete. Soviel von mir starb mit ihr, daß ich glaubte, ich würde nie wieder vollständig sein. Es war der letzte Verlust, und der schlimmste.
Wir haben uns immer nach Westen bewegt, Maja und ich. Vom Österreichisch-Ungarischen Reich über Kontinente und über Ozeane. Hier, am Rande des Pazifiks, wo aus dem Westen der Osten wird, wenn wir nach Westen blicken, blieben wir stehen. Wir waren frei. Nach fünfzig Jahren hatten Maja und ich ein Stadium erreicht, in dem wir genug Geld, genug Zeit und keine Verantwortung mehr, außer füreinander, hatten.
Nachdem ich erst einmal akzeptiert hatte, daß Tina gegangen war, war ich sogar glücklich.
Da es eine so schwierige Entscheidung war, nahmen wir uns Zeit, sie zu treffen. Maja brachte endlose Broschüren mit nach Hause, und wir verglichen die Annehmlichkeiten: Aufenthaltsräume, Vierundzwanzigstundenpflege, wenn erforderlich, Speisekarten und Temperaturanzeigen. Und wir machten Besichtigungsbesuche. »Sieh mal«, sagte Maja und wies auf den Stuhl, der uns an einem Ort angeboten wurde. »Echtes Furnier.« Am Ende kamen wir erwartungsgemäß zum gleichen Entschluß und entschieden uns für das »Sunset Heim im Heim« in Mesa Verde, wo wir stets einen wunderbaren Ausblick auf die Pazifikküste und das ganze Jahr über Wärme haben würden – was wichtig ist, wenn man sich wie ich mit beginnender Arthritis und verschiedenen anderen Leiden herumschlägt. Maja hielt die Entropie mit wöchentlicher Maniküre und neuen Frisuren in Schach und einmal auch mit einer Operation, bei der eine Krampfader entfernt wurde. Ich ließ sie gewähren. Ich hasse Operationen. Ich hatte sieben Stiche mit äußerst feinem Katgut, als Paul geboren wurde, und wenn die ersten Winterwinde blasen, spüre ich immer noch jeden einzelnen von ihnen. »Einstein?« Die Leiterin des Altenheims lachte. Sie hieß Ruby. Ich mochte den Namen, und ich mochte sie. Sie war der Hauptgrund, warum wir in diesem Heim im Heim waren. »Mrs. Einstein? Irgendwie verwandt?« Wir lachten alle, als wäre so etwas auf jeden Fall lächerlich. Ich hatte jedoch darauf bestanden, unter meinem Geburtsnamen, meinem wirklichen Namen, im Altenheim
eingetragen zu werden. Und es ist ein Maß der Zeiten, daß niemand vermutet, daß dieser Name nicht echt sein könnte. Ich mußte mich als Mrs. eintragen lassen, nicht nur, um erklären zu können, daß Maja meine Tochter war – denn als etwas anderes ging sie mittlerweile nicht mehr durch –, sondern auch, weil ich von Zeit zu Zeit über meinen Mann Josef redete.
Josef. Ich habe fast vergessen, wie sein Nachname lautete. Abgesehen von Maja bin ich jetzt allein, aber ich rede immer noch über Josef, und über meine anderen Kinder, Tina und Paul. Ich weiß nicht, welche Vergangenheit Maja für sich erfunden hat. Sie kann tun und lassen, was sie will. Aber ich bin eine Einstein, und so will ich sterben. Jeden Morgen macht Maja in einem neonfarbenen Lycraanzug eine Stunde lang Aerobic, um vor ihrem Müsli mit hausgemachtem Joghurt gegen die örtlichen Auswirkungen der Schwerkraft anzukämpfen. Im gleichen Zeitraum könnte ich mir Gedanken über ein Superatom machen, und wie es am besten geschaffen werden könnte. Ich finde Physik zu faszinierend, um mich nicht über die Entwicklungen auf dem laufenden zu halten. Maja ist immer noch nicht so besonders davon beeindruckt. »Die Hauptgefahr«, sagte sie heute morgen, als sie ihr Spiegelbild betrachtete, »sind im Moment hängende Pobacken und schlaffe Brüste. Nicht das Superatom.« Maja fährt jetzt alle sechs Monate in eine Klinik in die Schweiz, wo sie ihr gegen Tausende von Dollars eine Lösung aus getrockneten Zellen von Schafföten injizieren. Maja ist begeistert von der verjüngenden Wirkung dieses geheimnisvollen Prozesses.
»Doktor Remagen hat seine eigene Herde auf dem Berg hinter der Klinik«, erzählte sie mir, als würde das etwas bedeuten. Sie versuchte, auch mich zu ein paar besonderen Injektionen zu überreden: Schafspankreas gegen meine Altersdiabetes, Knorpelzellen gegen Osteoporose. Ich sagte nein. Kürzlich hat sie sich auch die Haut mit Laser behandeln und die obersten Hautschichten abdampfen lassen. Frei von allen Hindernissen konnte die darunterliegende Dermis wieder Collagen und Elastogen produzieren und so die Struktur neu bilden, die normalerweise junger Haut eigen ist. Sie jubelt und strahlt. »Ihre Tochter sieht gut aus heute«, sagte Ruby, als Maja mich auf dem Weg zum Garten mit dem Rollstuhl an ihrem Büro vorbeischob. »Dank der Schafe«, sagte ich. »Keiner von uns wird jünger«, sagte Maja. »Jedenfalls nicht wirklich.« »Du doch«, erwiderte ich. »Es ist eben modern«, sagte sie. Es scheint modern zu sein, daß alle wie Babys aussehen. Blasse Haut, blasse Lippen, dunkle Augen und Spielanzüge. Es ist bizarr. Maja hat sich dem vollkommen angeschlossen. »Bei dir ist es mehr als nur eine Mode«, sagte ich. »Die Leute merken es langsam.« »Die Leute?« »Ich.« »Lieserl«, sagte sie, »vor dir kann ich eben die Wahrheit nicht verbergen.«
Das kann sie tatsächlich nicht. Jede Nacht gegen Mitternacht kehrt die einzige Konstante in meinem Leben zurück. Ich liege
wach und lausche auf das vertraute Geräusch des Schlüssels im Schloß, die Ankündigung, daß Maja fertig ist und zu mir zurückkommt, daß die Welt wieder in Ordnung ist. Ich bereite mich darauf vor, die Nachttischlampe auszuschalten und meine Arme an dem angestammten Platz um sie zu legen, mich warm in den geliehenen Glanz ihrer Nacht in der Stadt einzukuscheln. Was kann einem die Erde an Gerechterem bieten? Ein Zimmer im »Sunset Heim im Heim«, in die weichen Kissen zu sinken und Wiederholungen von The Lucy Show anzusehen. Maja sagt, in der Stadt reden alle von DNA und Genen. Früher hat niemand besonders viel darüber geredet, aber jetzt ist es die Sache. Ich notiere es mir pflichteifrig, um nachzuschlagen.
Gegen Ende des Jahres 1965 starb mein Bruder Eduard, in der Anstalt, in der er sein ganzes Leben verbracht hatte. Eduards Leben bestand nur aus Traurigkeit und Schmerzen; ich glaube, er war letztendlich froh, erlöst zu sein. Einsteins Kinder – wir schienen nicht vom Glück begünstigt zu sein. »Lieserl«, sagte Maja streng, »versink nicht in Selbstmitleid. Du mußt das Glück packen, wo du es kriegen kannst. Du mußt danach greifen.« Machten Eduards Gene ihn zu dem, was er war? Ließen meine Gene mich im Feuerschein tanzen? Ich glaube nicht. Ich erinnere mich nur daran, daß ich allein, verlassen, abgeschoben war. Mein Vater machte mich zu dem, was ich war. Nach all diesen Jahren war das das einzige, dessen ich mir sicher war, diese Einsamkeit. Das einzige, an das ich mich erinnerte. Der Hof, das Feuer und die Sterne.
Ich erzähle Ruby Geschichten über den Hof, und sie sieht mich an, als redete ich von einem anderen Planeten. »Nicht ganz«, sage ich. »Aber es klingt fast so.« Ruby, die Pragmatikerin. Ich lächle, weil ich weiß, daß sie recht hat. Ruby geht in ihrem Büro unten mit einem Fax, einem Photokopierer, einem Telefon, einem Anrufbeantworter und einem Computer um. Sie verschwindet in der Dunkelheit und kommt in einer Aura von Technologie wieder. Mittlerweile erkenne ich wohl die Leute wieder, die ich in den Nachmittagsfilmen im Fernsehen sehe, auch wenn sie mir eigentlich vollkommen fremd sind. Das geht nicht nur mir so. Ruby, die an manchen Nachmittagen, wenn Maja ausgegangen ist, bei mir sitzt, behauptet auch, mit einem Großteil von ihnen bekannt zu sein. Nach allem, was ich weiß, könnte es sogar stimmen. Sie weist mich darauf hin, daß es bei mir auch stimmen könnte, daß ich es nur vergessen habe. Das macht das Alter. Ich sage zu Ruby, daß ich, wenn ich in früheren Jahren Umgang mit Joan Crawford und Greta Garbo gehabt hätte, jetzt nicht hier säße und Rührei mit Toast essen und mich darüber beklagen würde, daß Maja zuviel Butter in die Eier getan hat. Sie möchte wissen, was ich denn dann täte, da versagt meine Vorstellungskraft, was ungewöhnlich ist. Ruby sagt, es sollte was mit Geld und vielen Männern zu tun haben, und ich sage, ich habe Sonne und Rührei, was will ich mehr? »Immer wenn ich Rührei esse«, sage ich zu ihr, »mache ich die Ordnung im Universum größer.« »Was Sie nicht sagen, Schätzchen, was Sie nicht sagen.« Sie ist glücklich. Ich bin glücklich. Was wollen wir noch mehr? Jeden Mittwoch fährt Ruby in die Stadt, um den Ort zu besuchen, wo ihre beiden Söhne begraben liegen. Nicht, um ihnen Blumen zu bringen, nicht, um nachzudenken, sich zu
erinnern, noch nicht einmal, um zu beten, nur um sich zu vergewissern, daß niemand den Grabstein mit Farbe besprüht hat, Slogans über ihre Namen geschmiert oder, noch schlimmer, sie ausgegraben hat. Ruby hat schlimme Träume. Ich kenne das. Alles, was ich getan habe, wurde aufgeschrieben, dokumentiert und in massiven Stahlschränken abgelegt und für die nächsten hundert Jahre unter Verschluß gehalten. Es ist alles da, wenn man weiß, wo man nachsehen muß. Meine Gleichungen. Meine Berechnungen. Meine sauber getippten Berichte. Meine Fußspur in der Geschichte. Es ist alles da, wenn man weiß, wo man nachsehen muß.
Gelegentlich nahm Maja mich auf eine Reise mit, und wir taten Dinge, die nur Touristen tun: Ansichtskarten kaufen, einheimisches Kunsthandwerk unterstützen, bare amerikanische Dollars in die örtliche Ökonomie einführen. Einmal fuhr sie mit mir nach Los Alamos, das jetzt ein Touristenzentrum ist. Maja war äußerst glücklich. Sie schob mich in meinem Rollstuhl und sang dabei. Und selten wächst am Ufer des Flusses ein giftiges Kraut. Ihre klare Stimme schallte über die Gebäude in der Wüste. Sie nahm meine Hand und wies auf das Haus, in dem sich unser gemeinsames Zimmer mit dem störrischen Holzkohleherd befunden hatte, wo sie die Planken gelegt hatten, damit man zum Freizeitcenter gehen konnte.
Ich kaufte ein Andenken an meinen Vater. Sie hatten ihn in einen flauschigen Dachs oder Maulwurf verwandelt, irgendwas mit vielen netten weißen Haaren und einem wissenschaftlichen Aussehen, was sich kleine Mädchen mit nach Hause nehmen und auf ihre Kissen setzen konnten, damit es dort die ganze Nacht auf sie aufpaßte. »Was mache ich hier eigentlich?« fragte ich Maja und hielt das Knuddeltier fest, zu dem mein Vater geworden war. »Was tue ich hier?« Sie schob meinen Rollstuhl grob vorwärts, als wolle sie gegen die Tränen ankämpfen, die sie kommen sah. »Tränen sind nutzlos«, sagte Maja. »Das hast du mir selbst gesagt.« »Mittlerweile kommen sie mir nicht mehr so nutzlos vor.« Maja schob mich in einen Andenkenladen. »Ein für allemal«, sagte sie und befingerte einen silbernen Armreif, »in diesem Leben ist es erlaubt, ein Tourist zu sein.« »Solange du nicht nur aus sicherer Entfernung glotzt, solange du dich nicht weigerst, Verantwortung für das zu übernehmen, was direkt vor deinen Augen passiert.« »Ich übernehme Verantwortung«, sagte Maja. »Desanka hat mir die Verantwortung für dich übertragen. Und die habe ich doch immer noch, oder?« »Ja. Oh, ja. Niemand kann dir Unverantwortlichkeit vorwerfen«, sagte ich. Maja blickte überrascht auf. »Ich habe gedacht, du würdest es nie sagen«, meinte sie.
Als Apollo 8 auf dem Mond landete, dachten die Wissenschaftler, es seien die Bilder vom Mond, an denen wir interessiert seien. Sie übertrugen Hunderte, aus allen möglichen Blickwinkeln, auf alle möglichen Arten. Dieser Krater, jener Schatten. Sie dachten, der Anblick der dunklen
Seite des Mondes sei alles, was wir wollten. Aber das war nicht so. Blicken Sie zurück. Lassen Sie die Videobänder rückwärts laufen. Die Leute wollten nicht die Bilder vom Mond sehen – sie wollten die Bilder von der Erde sehen. Zum ersten Mal hatten wir den Beweis dafür, daß die Erde wirklich rund war. Einen Beweis. Natürlich war uns das schon vor 500 Jahren gesagt worden, als Kolumbus nach Amerika gesegelt war, aber jetzt konnten wir es zum ersten Mal sehen. Die Erde war nicht flach. Endlich, seufzten wir, wußten wir es. Wir sahen auf die blaue Krümmung der Erde, die im schwarzen Raum versank, und wir wußten es. Wir sahen, wie allein wir waren. Im Raum gibt es kein auf und nieder, kein Norden oder Süden, kein links oder rechts, kein richtig oder falsch. Ich verstehe, was daran so attraktiv ist. Denn hier auf der Erde sehen wir die Kante des Bildes. Den Rahmen um die Photographie. Im Raum ist das nicht so. Das Universum geht immer weiter. Wenn ich etwas in meinem Leben wirklich gern gehabt hätte, so wäre es das gewesen, der Blick ohne die Bildkante. Das Universum, das immer weiter geht.
»Sie irren sich mit der Zeit«, sagte ich zu Maja. »Die Uhren gehen in einem Gravitationsfeld vielleicht langsamer, aber nicht langsam genug. Zeit ist keine Konstante. Sie läuft für uns alle schnell, wenn wir älter werden.« »Es sei denn«, sagte Maja, »du lebst in China.« »Was hat China getan, um gegenüber der Relativität immun zu sein?« »In China schätzen sie das Alte. In China ist die goldene Aussicht auf hohes Alter ein sonniger Traum, nach dem man sich sehnt, nach dem man strebt. Wenn du neunzehn bist, gilt
deine Meinung überhaupt nichts. Mit neunzig ist sie alles. Schweine werden auf dein Wort getötet. Ganze Ortschaften beugen sich unter deiner Peitsche. Du kannst Reis in unbegrenzten Mengen bekommen.« »Ich verstehe«, sagte ich zweifelnd. »Und wenn diese Zeit uneingeschränkter Macht für die Jüngeren näherkommt, dann geht es auf einmal langsamer. Die Zeit verlangsamt sich. Es wirkt so, als käme der goldene Tag nie.« »Leider«, sagte ich, »bin ich nicht in China.« »Nein«, sagte Maja, »und du wirst es auch nie sein.« Also verging für mich die Zeit natürlich immer schneller, bis sie tatsächlich stehenblieb… Wann? Irgendwann im Sommer 1973, glaube ich, als eine schwere Hirnblutung mein alltägliches Funktionieren und die meisten meiner logischen Gedanken außer Kraft setzte. Vor zwanzig Jahren? Vor fünfundzwanzig Jahren? Ich kann sie nicht zählen. Ich kann es nicht mehr einordnen. In einem Augenblick gab es noch Wärme und Bewegung, und im nächsten Kälte und Stillstand. Niemand wußte damals, und am allerwenigsten ich selbst, daß dieses zeitweilige Unwohlsein mir für den Rest meines Lebens bleiben würde. Alles begann zusammenzufließen, kam näher und ist seitdem noch näher gekommen. Alles in meinem Körper versammelt sich, schrumpft. Ich werde kleiner und kleiner, sinke immer mehr in mich zusammen. Eines Tages werde ich mich selbst ausgelöscht haben. Hauptsächlich sehe ich jetzt die Welt in grauem Dunst. Ich gehe, wenn ich irgendwohin gehe, wenn ich irgendwohin gehen muß, in Wände. Ich bewege meine Hände über den Tisch und werfe Tassen voller Kaffee, der kalt geworden ist, mein Glas mit Wasser für die Medikamente um. Maja schreit, wenn sie mir etwas sagen will, aber ich kann kaum noch hören, also ist es auch egal.
Ich habe keine Ahnung, was sie sagt. Ob sie wohl wußte, als sie mich von Desanka mitnahm, daß ihre Verantwortung für mich andauern würde, bis ich fast hundert Jahre alt bin? Wenn man mich bitten würde, die Geschichte dieses Jahrhunderts zu erzählen – und heutzutage werden viele darum gebeten, also warum sollte man mich nicht auch fragen –, würde ich sagen, daß es Majas Jahrhundert war. Sie hat sich durchgeschlagen, sich selbst gefunden und dabei ihre Verantwortlichkeiten nicht aufgegeben. Letztendlich ist es ihre Geschichte, ihr Jahrhundert. Nicht meine, denn ich habe auf halbem Weg aufgegeben. Irgendwann stellten sie in Washington DC eine Statue von meinem Vater auf, aus Stein gemeißelt, so daß alle ihn sehen und bewundern konnten. Die größte Theorie meines Vaters sagte voraus, daß alle Theorien, einschließlich ihrer selbst, unter den besonderen Bedingungen, die zu Beginn des Universums geherrscht haben, zusammenbrechen würden. Und am Ende werden sie wieder zusammenbrechen. Ich fühle, wie sie für mich jetzt zusammenbrechen. Mein Gedächtnis splittert und zerbricht, die Einzelheiten ertrinken im Nebel. Ich weiß nicht mehr, was wahr ist und was nicht, was wirklich ist und was ich geträumt habe.
Gestern war mein Geburtstag. Glaube ich. Maja fuhr mit mir an einen Ort mit Regency-Tapeten in geschmackvollem Streifendekor; üppige Rosen – rosa und beige, aber keine roten – vor dem Spiegel im Flur. Maja bestellte für mich: Vanilleund Schokoladeneis. Das kann ich mit dem Löffel essen, und ich brauche es nicht zu schneiden, es zeigt jedoch, daß ich nur noch wenige Zähne habe. Oft kommen Maja und ihre jungen Freunde vorbei, und es sind Kerzen auf dem Kuchen, obwohl ich schon lange den
Versuch aufgegeben habe, sie zu zählen. Ich werde es schon wissen, wenn ich hundert glückliche Jahre erreicht habe, weil dann wahrscheinlich mehr Freunde als gewöhnlich dasein werden und vielleicht ein Photograph von der Lokalzeitung, der mein verfallenes Gesicht über einem hoffnungslosen Berg von Kerzen zur Erbauung der Leute im Tal veröffentlichen möchte. Als Slowenien wieder Kriegsgebiet wurde, interessierte ich mich zum ersten Mal seit Jahren wieder für diesen Teil von Europa und bat Ruby, mir laut aus der Zeitung vorzulesen. Ich lutschte an meinem Zahnfleisch und dachte über das nach, was ich hörte. Ich hörte Majas Stimme über Rubys: Wenn du nicht weißt, was passiert ist, dann würde es dir weh tun, wenn ich es dir erzählte. Wenn du aber weißt, was passiert ist, dann wirst du vergessen wollen, so wie ich. Es gibt jetzt nur eins zu sagen – daß es nie wieder geschehen sollte. Aber auch als Maja sprach, als Ruby sprach, wußten wir, daß es wieder geschehen würde, daß es jetzt geschieht, und daß wir taub sind denen gegenüber, die schreien. Die Kroaten wandten sich gegen die Serben, und die Serben wandten sich gegen die Kroaten, und jedes überlebende Mitglied von Desankas Familie, von meiner Familie, wurde getötet oder weit von seinem Geburtsort vertrieben. Alles sieht dunkel aus, auf den Bildern in körnigem Schwarzweiß in den Zeitungen, obwohl dies jetzt geschieht und die Bilder farbig sein könnten. Im Krieg wurde meine Geburtsurkunde verbrannt. Das auf den Balken verborgene Kristallglas, in das Desanka Wein gegossen hatte, das Glas, aus dem ich meine Mutter geschmeckt hatte, wurde nach hundert Jahren Sicherheit in den Staub getreten. Leute besuchten mich, logischerweise, als die Briefe und Papiere, die im Haus meines Vaters in New Jersey verborgen
waren, endlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden und sie Wind davon bekamen, irgendwann in den achtziger Jahren. Aber wenn Serben nicht wollen, daß man etwas sieht, dann sieht man auch nichts. Wir können Dinge erscheinen und verschwinden lassen: Kaninchen in Hüte, Geschenke, Süßigkeiten, Grenzen und Kinder. Ich, Lieserl Marie Einstein, war unsichtbar für die meisten in unserem Jahrhundert. Ich wollte mich verstecken, und alle waren nur zu froh, mich im Verborgenen halten zu können. Außerdem, vergessen Sie nicht, ich bin 1902 geboren, in einem kalten Januar, früh am Morgen, und erst später, in den Kriegen, die Ehemänner und Kinder verschluckten, begann die Welt den Nutzen von Papieren zu erkennen. Wenn man jemanden einziehen will, muß man seine Spur verfolgen können. In jenem lange vergangenen Januar des Jahres 1902 aber konnte ich geboren werden und verschwinden wie ein Kiesel in einem Brunnen. Für einen zufälligen Betrachter sah es so aus, als sei ich gestorben. Als sei ich niemals geboren worden. Natürlich bin ich geboren worden. Hier bin ich, lebendig und beruhigend, esse Rührei mit meiner Freundin Ruby, blicke auf den Pazifik mit meiner Tochter Maja. Aber jede Spur von mir wurde vernichtet, als die Soldaten über die Donau zogen, mit ihren Stiefeln die Felder zu Schlamm zertrampelten, als Flüchtlinge durch Europa jagten, verstreut wie die zufällige Bewegung winziger Teilchen.
An manchen Tagen schiebt Maja mich durch die Dünen und den Strandhafer. Ich liebe das Rauschen der Wellen, das Dröhnen der Brandung. Wenn Maja aus dem Wasser kommt, liegt sie auf einem Handtuch, und das trocknende Wasser hinterläßt weiße Salzkristalle auf ihrem Körper. Sie blickt über
das glasige Wasser. Die Sonne steht schon hoch, und auf dem Sand ist nur wenig Schatten. Manchmal bleiben wir bis in die Nacht, und der Sand hält die Wärme des Tages fest. Im Dunkeln rollen die Wellen taumelndes Licht auf uns zu. Ich dachte immer, es sei eine optische Täuschung, aber Maja sagt nein, es ist wirklich da, dieses phosphoreszierende Leuchten von Plankton in diesen südlichen Breitengraden, aber es wäre genauso schön, wenn ich es nur träumte. Das Licht spült die ganze Nacht über an die Küste, bis uns trotz der Decken so kalt ist, wie uns vorher warm war, und dann sagt Maja, wir sollten gehen, und wir gehen nach Hause. Wenn ich darüber nachdenke, weiß ich, das sind die glücklichsten, glücklichsten, glücklichsten Jahre meines Lebens. Maja leuchtet für mich, über mich und über die Lichtgeschwindigkeit hinaus. Etwas weiter südlich ist ein Flughafen, aber ich bin zu weit weg, um den Lärm zu hören oder auch nur um am Tag die Flugzeuge zu sehen. In den Nächten jedoch sehen die Dinge anders aus, und oft bin ich wach, um sie zu beobachten. Ich brauche nur wenig Schlaf, er entzieht sich mir, nicht wegen der Alpträume oder sonstiger störender Träume, sondern einfach, weil man wenig Schlaf braucht, wenn man mein Alter erreicht hat, da der Körper tagsüber wenig Energie verbraucht und sich nicht regenerieren muß. Alle Gleichungen, die ich geschrieben habe, zeigen, daß der Weg der Zeit nach vorn eine Illusion ist. Illusion mag er auf dem Papier sein, aber die Illusion verschwindet sicher nicht, wenn man mit den Augen blinzelt. Ich bin sehr alt, und ich weiß das. In den Nächten kann ich die Lichter der Flugzeuge sehen, eins nach dem anderen, wie sie über den Dächern nach und nach tiefer gehen, um zu landen. Manchmal, wenn man genau
hinsieht, kann man das beständige Dahinziehen einer Raumstation sehen: ein winziger heller Fleck, der sich unablässig und still über die Krümmung des Himmels fortbewegt, wie einer der Uhrenplaneten in Frau Mehanovics’ Äther. In den neunziger Jahren haben sie endlich das Superatom geschaffen, wie ich und mein Vater es vorhergesagt hatten: der vierte Zustand der Materie. Und es scheint so weit entfernt vom Äther zu sein, daß ich ganz verwirrt bin. In meiner Jugend gab es keinen mechanisierten Klang. Keine Motorengeräusche. Es drehten sich noch nicht einmal besonders oft Räder. In der Küche hatten wir Öllampen und Feuerschein; draußen gab es nur die Sterne in der Nacht, denn wir gingen zu Bett, wenn es dunkel war, und standen auf, wenn es dämmerte. Und jetzt haben wir eine Vielzahl von Universen. Die Hoffnung auf das, »was sein könnte«, hörte nie auf. Wir erreichen nie das Ende dessen, was möglich ist. Ich bin gern hier, und ich mag den Gedanken, daß der Flughafen ganz in der Nähe ist. Wenn ich wollte, könnte ich wieder reisen. Aber ich glaube nicht, daß ich will. Die Welt wird jedoch ohne mich anders sein. Obwohl sie mich nicht vermissen wird. Sie wußte ja noch nicht einmal, daß es mich gab. Ich lege diese Papiere in eine Schachtel, die ich dann wieder verschließe. Wenn du diese Worte liest, bin ich tot. Sei nicht traurig, Maja. Ich bin auch nicht traurig. Ich habe länger gelebt als meine Zeit und mehr erlitten, als ich ertragen konnte. Wenn die Menschen die Wahrheit wüßten, wenn sie wüßten, was ich getan habe, würden sie mich verfluchen. Und wenn Tina noch leben würde, würde auch sie verflucht, da die Sünden der Mütter bis in die siebte Generation auf die Töchter zurückfallen. Deshalb bin ich froh, daß niemand je die Wahrheit erfuhr. Ich habe dies nicht geschrieben, damit die
Menschen die Wahrheit erfahren. Und ich habe dies nicht geschrieben, um dich zurückzuhalten. Du kannst weitergehen, immer schneller. Wo immer du hingehst, was immer du als nächstes tust, du hast deine Verantwortlichkeiten erfüllt, Maja, und jetzt bist du frei. Nein, Maja, ich habe dies geschrieben, weil ich dir sagen wollte, daß es nur zwei Dinge gibt, die ich bedauere: das eine ist, daß ich meine Kinder und meinen Mann nicht retten konnte, und das andere, daß ich keinen besseren Weg zur Rache finden konnte als die Kernspaltung. Wenn ich mit den Augen zwinkern und die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich diese Dinge anders machen. Der Rest ist ohne Bedeutung. Und nichts sonst kann mich verletzen.
Das »Heim im Heim« liegt hoch oben auf einem Hügel. Der Wind weht hauptsächlich von Westen – er bringt das Salz des Pazifiks, Pollen aus Japan, Sporen aus Südostasien mit sich. Sie rollen mich hinaus in die Sonne, und die weiche, vertraute Decke, die ich aus Novi Sad mitgenommen habe, liegt auf meinen Knien. Der Himmel über mir ist schwer und hell von Sternen. Wenn man genau hinsieht, kann man sehen, daß manche leicht unterschiedliche Farben haben – Blau und Rot und Orange. Wenn ich daran interessiert gewesen wäre, hätte ich versuchen können, ihre Namen herauszufinden. Ich könnte am Strand entlanggehen und sagen: »Das ist Pegasus, das ist Orion, das ist Sirius.« Aber ich war nicht an ihren Namen interessiert, mich hat nur interessiert, ob sie auf mich fallen würden, und ich weiß immer noch nicht, warum sie nicht auf mich fallen, und jetzt werde ich es nie mehr erfahren. Das alles sind Dinge, die keine Rolle spielen.
Was ich bin und was ich getan habe, wird keine Rolle spielen. Für mich vielleicht, aber für sonst niemanden. Aber dies sind meine Einzelheiten, und jetzt weißt du sie. Ich bin die Einzelheit des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich bin das, was unter den Teppich gekehrt und vergessen wird. Jetzt weißt du es. Und nichts und niemand, obwohl größere Geister als ich es versucht haben, kann sich diesen endgültigen Triumph der menschlichen Vernunft zu eigen machen und uns sagen, wofür das alles gut war. Niemand kann und niemand wird je wissen, warum. Alles vergangen in einem Lidschlag. In einem dunklen, dunklen Wald stand ein dunkles, dunkles Haus, und in diesem dunklen, dunklen Haus war ein dunkles, dunkles Zimmer, und in diesem dunklen, dunklen Zimmer war eine dunkle, dunkle Tochter. Lieserl. Dieses Haus liegt hoch, hoch über dem Wasser und unter der Sonne und den Sternen. Von hier branden die Wellen an den Strand, und sie machen kein Geräusch.
Der Hintergrund
1887, als Albert Einstein an der Schweizer Staatshochschule für Polytechnik studierte, lernte er die serbische Studentin Mileva Marie kennen. Sie kam aus Novi Sad, einer Stadt in Südungarn, die damals Teil des Österreichisch-Ungarischen Reichs war und später ein Teil von Jugoslawien wurde. Mileva war zum Polytechnikum gekommen, weil es eine der wenigen Universitäten in Europa war, die Frauen annahmen. Sie war die einzige Frau, die Physik studierte. Mileva und Einstein verliebten sich ineinander. Die Korrespondenz aus dieser Zeit in den Einstein-Archiven besteht aus Liebesbriefen zwischen den beiden, und diese Briefe sind eine Mischung aus Romantik – er nennt sie »Liebes Doxerl« – und Physik. Einstein spürte, daß Mileva ihm intellektuell gewachsen war. Er redet davon, daß sie die Berechnungen für ihn machen soll, und sie redet von »unserer Arbeit« an dem Aufsatz, der in den Annalen der Physik veröffentlicht werden sollte. Einsteins Familie war mit Mileva nicht einverstanden; auch die meisten seiner Freunde nicht, die sich abfällig über ihr Humpeln (das aus einer verschobenen Hüfte in der Kindheit resultierte) und ihre dunklen Stimmungen äußerten. 1900 schreibt er jedoch: »Liebes Doxerl, ich werde den Widerstand meiner Eltern gegen dich überwinden«, und sie begannen, Heiratspläne zu machen. Aber Einstein hatte keine Stelle; er war ein eifriger Student gewesen und hatte nur wenige Freunde unter den Tutoren am Polytechnikum, Das sprach gegen ihn, als er Examen machte und versuchte, eine Stelle an der Universität zu bekommen. Er bewarb sich um
zahlreiche akademische Positionen und wurde überall abgelehnt. 1901 stellte Mileva fest, daß sie schwanger war. Sie mußte ihr Universitätsstudium abbrechen und fuhr nach Hause zu ihren Eltern nach Novi Sad. Einstein begleitete sie nicht, sie schrieben sich jedoch häufig. Neben Fragen über ihre Gesundheit und das Kind, das sie erwartete – er nennt es Hanserl und besteht darauf, daß es ein Junge wird –, redet Einstein in seinen Briefen über Experimente mit Kathodenstrahlröhren, von denen er Mileva erzählen will. 1902 bringt Mileva in Serbien ein Mädchen zur Welt, Lieserl. Als er die Nachricht erfährt, schreibt Einstein: »Ist es (das Lieserl) auch gesund und schreit es schon gehörig? (…) Ich hab es so lieb & kenns doch noch gar nicht!« Aber sie behielten das Baby nicht. Ihre Geburt wurde sogar vor ihren engsten Freunden geheimgehalten – das Stigma eines unehelichen Kindes hätte Einsteins Chancen, eine Stelle zu bekommen, noch weiter verringert – und es gibt keinen Beweis dafür, daß Einstein seine Tochter jemals gesehen hat. Als Mileva sieben Monate nach der Geburt wieder in der Schweiz mit Einstein zusammentraf, brachte sie Lieserl nicht mit. Danach wird sie anderthalb Jahre lang auch in den Briefen zwischen den beiden nicht mehr erwähnt. Es ist nicht bekannt, wer in dieser Zeit für das Kind gesorgt hat, aber die schwierige wirtschaftliche Lage des Paares und Einsteins Entschlossenheit, die Arbeit an den Theorien, die er zu formulieren begonnen hatte, fortzusetzen, machen es wahrscheinlich, daß sie das Mädchen zur Adoption freigaben. Im September 1903 wird Lieserl noch einmal erwähnt. Mileva war in ihr Elternhaus zurückgekehrt und stellte fest, daß ihre Tochter Scharlach bekommen hatte. Als sie es
Einstein erzählte, schrieb er an Mileva: »Die Geschichte mit dem Lieserl thut mir sehr leid. Es bleibt so leicht vom Scharlach etwas zurück. Wenn nur alles gut vorbeigeht. Als was ist denn das Lieserl eingetragen? Wir müssen sehr Sorge haben, daß dem Kinde nicht später Schwierigkeiten erwachsen.« Im folgenden hören wir nie wieder etwas von ihr.
Im Juni 1902 erhielt Einstein eine Anstellung am Berner Patentamt – ein schlechtbezahlter Posten im öffentlichen Dienst, aber das Geld reichte aus. Mileva und Albert heirateten 1903 endlich und bekamen in den folgenden Jahren zwei Söhne, 1904 Hans Albert und 1910 Eduard. Ebenfalls 1904 begann Einsteins Arbeit über Schwerkraft und Licht konkrete Formen anzunehmen. Er stellte fest, daß er, wenn die Lichtgeschwindigkeit fest und unveränderlich war – eine Ausnahme von allen Bewegungsgesetzen, die auf der Erde galten –, etwas anderes in den Gleichungen, die das Universum beschrieben, variieren mußte. Seine Erkenntnis war, daß die Zeit selbst sich änderte. Die Erkenntnis, daß Zeit nicht für uns alle die gleiche ist, daß sie unterschiedlich ist, je nachdem ob sich jemand bewegt oder stillsteht, steht im Herzen aller Einsteinschen Theorien. Einstein brauchte mehrere Monate, um diese Erkenntnis in die Spezielle Relativitätstheorie einzuarbeiten, die 1905 in den Annalen der Physik als Aufsatz mit dem Titel »Über die Elektrodynamik sich bewegender Körper« erschien. Obwohl er an Mileva über »unsere Arbeit an relativer Bewegung« geschrieben hatte, tauchte Milevas Name in dem Aufsatz nicht auf. Wenn man diese Theorie auf Masse und Bewegung anwendet, bekommt man die Gleichung E = mc2. Die Energie (E), die in jedem Objekt enthalten ist, ist gleich seiner Masse
(m) mal der Lichtgeschwindigkeit im Quadrat (c2): eine riesige Menge an Energie. Aber die Implikationen dieser Gleichung wurden jahrelang nicht durchdacht. Einstein selbst schien nicht bereit, die Möglichkeiten zu erforschen. Bei einer Konferenz in Prag kämpfte sich ein junger Mann durch den Schnee und versuchte, Einstein das Eingeständnis zu entlocken, was seine Gleichung tatsächlich bedeutete, aber Einstein wollte nichts mit ihm zu tun haben. Einsteins Genie wurde durch den Aufsatz, den er 1905 in den Annalen der Physik veröffentlicht hatte, bald anerkannt, und er erhielt eine Reihe von Lehrstühlen, bis er sich schließlich in Berlin niederließ. Obwohl es Mileva und Einstein nun wirtschaftlich gutging, zerbrach ihre Ehe langsam. Sie ließen sich 1918 scheiden, und kurz darauf heiratete Einstein seine Kusine Elsa. Als Teil ihrer Scheidungsvereinbarung forderte Mileva das Geld, das Einstein bekommen würde, wenn man ihm je den Nobelpreis verlieh. Wenn dies ein Zeichen ihres Vertrauens in seine Fähigkeiten als Physiker war, so wurde sie nicht enttäuscht: 1922 bekam er den Nobelpreis, und die gesamten 100000 schwedischen Kronen wurden an Mileva und die Jungen gezahlt. 1933 wurde Einstein im Nazideutschland zum Feind erklärt, während er auf Lesereise durch Europa war. Er stellte fest, daß es zu gefährlich war, nach Berlin zurückzukehren, und ließ sich schließlich in den USA nieder, wo er einen Lehrstuhl am Institute for Advanced Studies an der Universität von Princeton, New Jersey, bekam. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er mit der Suche nach einer Theorie, die die Quantenmechanik und die Relativität miteinander verband, aber er fand sie nicht. Mileva ließ sich in Zürich nieder und arbeitete als Lehrerin, um ihre Familie zu unterhalten. Sie wurde zunehmend
melancholisch und unglücklich. Hans Albert wurde Ingenieur und folgte seinem Vater nach Amerika, wo er sich in Berkeley niederließ. Eduard war schizophren und wurde schließlich ins Burghölzli eingewiesen, die Züricher Nervenheilanstalt, wo er 1965 starb. Mileva starb 1948, offenbar mittellos. Lieserls Existenz wurde jahrelang geheimgehalten. Helene Dukas, Einsteins Sekretärin in den letzten Jahren seines Lebens, hütete Einsteins Ruf als Professor und Heiliger sorgfältig. Sie verwehrte Forschern den Zugang zu Einsteins Papieren und hielt alles geheim, was den Ruf ihres Helden hätte angreifen können. Erst 1986, nachdem Dukas gestorben war und nach zahlreichen gerichtlichen Auseinandersetzungen mit den Treuhändern der Papiere und den noch lebenden Mitgliedern der Familie Einstein, wurden die Liebesbriefe zwischen Mileva und Einstein veröffentlicht, und Lieserls Existenz wurde bekannt. Einstein redete nie öffentlich von seiner Tochter, und wenn diese Briefe nicht gefunden worden wären, würden wir nicht wissen, daß sie überhaupt existiert hat. Es ist möglich, daß sie die Scharlachepidemie nicht überlebt hat, aber es ist genauso möglich, daß sie am Leben blieb. Daß Einstein letzteres glaubte, wird an einem Zwischenfall deutlich, der sich 1935 ereignete, als eine Frau namens Grete Markstein auftauchte und behauptete, sie sei seine verschollene Tochter. Einstein nahm ihre Behauptung immerhin so ernst, daß er einen Privatdetektiv engagierte, um die Geschichte zu überprüfen. Markstein war eine Betrügerin. Nachforschungen ergaben, daß sie zu alt war, um Lieserl sein zu können, da sie 1894 in Wien geboren worden war. Aber Einsteins Verhalten zeigt nicht nur, daß er dachte, Lieserl könne womöglich am Leben sein, sondern auch, daß er nicht wußte, was aus ihr geworden war.
Nach der Veröffentlichung der Briefe versuchten Forscher, Spuren von Lieserls Geburt oder Adoption in der Stadt zu finden, in der sie zur Welt gekommen war, aber da befand sich Jugoslawien bereits mitten im Bürgerkrieg. Alle noch vorhandenen Unterlagen waren vernichtet.
Danksagung
Dieses Buch wurde mit der großzügigen Unterstützung durch eine Spende aus dem Kathleen Blundell Trust, zugewiesen durch die Society of Authors in London, fertiggestellt. Dafür danke ich. Zuerst erfuhr ich von Lieserls Existenz durch The Private Lives of Albert Einstein von Roger Highfield und Paul Carter, erschienen bei Faber & Faber 1993. Die Briefe, in denen Hinweise auf ihre Existenz enthalten sind, werden in diesem Buch ausgiebig zitiert, und auch in dem Katalog, der zu dem Verkauf der Briefe bei Christie’s als Teil des Erbes von Mileva Einstein-Marie im November 1996 erschien. Ein sehr nützliches Buch hinsichtlich des Wissens über Licht, Schwerkraft und das Universum vor dem zwanzigsten Jahrhundert ist Schrödinger’s Kittens and the Search for Reality von John Gribbin, erschienen bei Weidenfeld and Nicholson 1995. Die Information über die Safes, die beim Manhattan-Projekt verwendet wurden, stammt aus einem Essay mit dem Titel »Los Alamos from Below« in Surely You’re Joking, Mr. Feynman von Richard Feynman, erschienen bei Norton, New York, 1985. Die deutschen Sätze stammen von Peter Fox. Das Buch selbst ist für meine Mutter und meinen Vater.