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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 8 FÜR MENSCHEN VERBOTEN von Achim Mehnert Im Jahr 2041 kommt es zu einer folgenschweren Invasion der Erde. John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis, irdische Astronauten, werden im Zuge der Ereignisse durch das JupiterWurmloch an einen unbekannten Ort der Galaxis geschleudert. Hier stellt sich heraus, dass der ungewollte Transfer sie nicht nur räumlich, sondern vor allem zeitlich versetzt hat - in eine Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden und sich offenbar zur verhassten Geißel der Galaxis entwickelt haben. Die Schiffbrüchigen der Zeit geraten zwischen alle Fronten. Als sie von irdischen Raumern gejagt werden, können sie nur mit knapper Not in den geheimnisumwitterten Aqua-Kubus flüchten. Der Außerirdische Darnok, der die Menschen des Mordes an seinem Volk, den Keelon bezichtigt, verspricht ihnen Zuflucht in dem gigantischen, mit Welten gefüllten Wasserwürfel, bei dem es sich um das Werk einer fremden Zivilisation handelt. Doch dann wird einer der GenTecs - Jarvis - von der Gruppe getrennt. Er gerät, ebenso wie wenig später Cloud, in die Gewalt der Kubusbewohner. Einzig Scobee und Resnick können aktiv an der Befreiung der Gruppe arbeiten. Unterstützung erhalten sie dabei von einem Luuren namens Rurkka, der sich selbst als Meister der Materie bezeichnet...
1. Tick -tick-tick... Die Zeit ist ein gefräßiges Tier mit unersättlichem Hunger, von Gier getrieben und durch nichts aufzuhalten. Wen sie sich einmal als Beute auserkoren hat, den lässt sie nicht mehr aus ihren Fängen. Man weiß stets, dass sie da ist, und doch scheint sie noch so weit hinter einem zu liegen, dass man glaubt, ihrem Fluch entkommen zu können. Welch tragischer Irrtum! Denn die Zeit lässt sich nicht abschütteln, nicht einmal vom Schnellsten. Mit jedem Tag wird selbst der Schnellste langsamer, während die Zeit beständig schneller läuft. Jahre verstreichen rascher, als sie es früher taten, und manche Tage neigen sich dem Ende entgegen, kaum dass sie begonnen haben. Jährlich wiederkehrende Rituale und Feste folgen immer dichter aufeinander. Der Verstand verneint diese Verk ürzung der Intervalle, aber dem Gefühl entgehen sie nicht. Da ist die Zeit, mächtig wie ein Moloch, der die Tage verschlingt, die einem noch bleiben... Rurkka blickte geradewegs in die Unendlichkeit, und er wunderte sich, auf welche Handspanne Zeit sich die Ewigkeit komprimieren ließ. Einst hatte er gedacht, unsterblich zu sein und für alle Zeit seinen Forschungen nachgehen zu können. Nun dachte er nur noch an eines. Das gleichmütige, unhörbare Ticken, das in seinen Genen verankert war, drohte, ihm den Verstand zu rauben. Meister der Materie. Herr über die Protowiesen. Erster Verwerter. Altersweiser. Der Angesehenste unter den Luuren. Günstling der Vaaren-Königin... Nichts von alldem war ihm geblieben. Die Zeit hatte ihm seine Titel gestohlen und ihn zu einem Ausgestoßenen gemacht. Zu einem Gejagten. Alles hatte Rurkka aufgegeben im Bewusstsein des unmittelbar bevorstehenden Todes. All seine Ziele hatte er verraten und gegen seine innerste Überzeugung gehandelt. Das Monster Zeit hatte ihn dazu getrieben, sein gesamtes bisheriges Leben in eine Farce zu verwandeln!
Lähmende Müdigkeit hatte Besitz von ihm ergriffen. Von seinem alten, faltigen Körper und seinem schwachen, willenlosen Geist. Rurkka hatte keine Ideale mehr - und keinen Stolz. Alles, was er je geleistet hatte, war ihm unwichtig geworden. Er wollte nur noch eines: Leben! Draußen waren nur das Wasser und die darin eingebetteten Welten, aber vor seinem inneren Auge schimmerte eine Vision von seidigem Schwarz - das unendliche Weltall. Würde es ihm Zuflucht bieten? Würde er es erreichen? So oder so, er hatte die Weichen gestellt, sein Schicksal würde sich erfüllen. * Tick -tick-tick... »Rurkka, komm endlich zu dir!« Die eindringliche Stimme riss den Luuren aus seiner Erstarrung. Vor seinen Augen löste sich die Schwärze des Weltalls auf und machte der Wirklichkeit Platz. Dennoch brauchte der ehemalige Herr über die Protowiesen einige Sekunden, bis ihm bewusst wurde, wo er sich befand. An Bord des gekaperten Jadeschiffs - zusammen mit Golgerd und den anderen entführten Vaaren. Rurkka staunte über sich selbst, wie wenig ihn der Gedanke berührte, der ihm noch vor kurzem als reine Blasphemie erschienen wäre. Sich gegen die Vaaren zu stellen, die mächtigen, nur aus dem Dunkel heraus operierenden Herrscher von Tovah'Zara, stellte ein schweres Verbrechen dar. Nun aber kam es ihm vor wie ein vernachlässigbarer Faktor seiner Flucht. Verrückt. »Wir haben angehalten«, sagte die Menschenfrau Scobee. Gemeinsam mit ihr und dem zweiten Menschen, Resnick, hatte er die Flucht angetreten. »Die Vaaren wollen verschwinden!« Rurkka erkannte sofort, dass er einen Fehler begangen hatte. Statt sich weiter auf Golgerd zu konzentrieren, hatte er sich von seinen eigenen Gefühlen ablenken lassen. Ansonsten hätte er früher bemerkt, was die entführten Vaaren planten. Sie schwebten durch das Innere des Jadeschiffs und versuchten, einen Ausgang zu erreichen. Gelang es ihnen, bedeutete dies das Ende der Flucht, denn
die lebenden Schiffe lie ßen sich nur mittels der Psi-Kraft der Vaaren bewegen. Kein anderes Wesen vermochte, sie zu navigieren. »Halte sie auf!«, forderte Resnick. »Sonst wirst du den AquaKubus niemals verlassen!« Aqua-Kubus nannten die draußen beheimateten Geschöpfe Tovah'Zara. Und dieses Draußen zog Rurkka geradezu magisch an. Seine Gedanken überschlugen sich. Wenn die Vaaren erst einmal nach außerhalb des Schiffs gelangt waren, hatte er keine Möglichkeit mehr, sie unter seine Kontrolle zurückzuzwingen. Seine trübsinnigen Selbstzweifel waren wie weggewischt. Wenn er die Geiseln nicht aufhielt, waren die Konsequenzen für ihn unabsehbar. Mit fahrigen Fingern tastete er nach dem selbst erschaffenen Gerät, mit dem er selbst Vaaren unterwerfen konnte, den Rezeptor, und löste ihn aus. Sofort drangen schmerzerfüllte Schreie aus dem Linguator, der die semitelepathische Bildsprache der Vaaren in akustische Töne umwandelte. Die Bewegungen der Vaaren wurden träger, doch sie gaben nicht auf. Rurkka erhöhte die Leistung des Rezeptors, der äußerlich wie ein kleiner Kasten aussah. Er musste ein Exempel statuieren, wenn er die Gefangenen dauerhaft unter Kontrolle halten wollte. Sie mussten begreifen, dass sie ihm dank seiner eigenen Möglichkeiten unterlegen waren. Ansonsten würden sie jede sich bietende Gelegenheit zu einem weiteren Fluchtversuch nutzen. Rurkka konnte sie nicht die ganze Zeit über beaufsichtigen. Die unwirklichen Schemen glitten jetzt ziellos durcheinander, als versuchten, sie sich zu orientieren. Dann konzentrierten sie sich wieder in der Mitte des Jadeschiffs. Von dort aus hatten sie das Schiff zuletzt gesteuert. Die übermittelten Schmerzensschreie schwollen erst an, dann brachen sie unvermittelt ab. »Vorsicht!«, zischte Resnick. »Da geschieht etwas!« Eine Gestalt formte sich aus den Schemen. Langsam wuchs sie in die Höhe. Misstrauisch beobachtete Rurkka die Verwandlung, Die geisterhafte Vaaren-Erscheinung wurde zu einem Luuren mit schwarzer Lederhaut, auf der stumpfe rote Flecken zu erkennen waren.
Rurkka keuchte entsetzt auf und fragte sich, in welcher Gestalt wohl die Menschen den Vaaren gerade sahen. Diese Wesen präsentierten sich ihrem Gegenüber häufig in dessen Gestalt. Doch Rurkka erkannte, dass die Vision diesmal nicht willentlich gesteuert war, es handelte sich um eine instinktive Reaktion. Im Todeskampf? Der Pseudo-Luure schwankte jedenfalls bedrohlich. Mit kraftlosen Bewegungen griff er nach Rurkka, ohne den Altersweisen jedoch zu erreichen. Dann knickten seine Beine ein, und er schlug der Länge nach hin. »Er stirbt«, sagte Scobee. Entsetzen schwang in ihrer Stimme. »Du sollst niemanden umbringen, Rurkka! Versuch, ihm zu helfen! Oder vielleicht können die anderen Vaaren das tun.« »Zu spät«, drang eine Stimme aus dem Linguator an ihre Ohren. Scobee warf einen verwirrten Blick zu den im Wasser schwebenden Vaaren. Ihre Aufregung hatte sich gelegt, sie verharrten regungslos einen Meter über dem Boden. Die Worte waren von ihnen gekommen. Der Pseudo-Rurkka zuckte, dann zerstob seine Gestalt wieder in ihren Ursprungszustand zurück. Die Erscheinung bildete keine Fäden aus, sondern schrumpfte in sic h zusammen. Sekunden später war sie verschwunden, als hätte eine Strömung sie davongeweht. Krampfhaft hielt Rurkka den Rezeptor umfasst. Er hatte einen schrecklichen Fehler begangen. Er hatte die Vaaren nur einschüchtern wollen, stattdessen hatte er einen von ihnen getötet. »Wir müssen von hier verschwinden! Ich bin sicher, dass man uns bald jagen wird. Wir müssen zum Wonak -Matul, wo Jarvis festgehalten wird - wenn es nicht ohnehin schon für Rettungsmaßnahmen zu spät ist.« »Du hast Jaglon getötet, Schöpfer!« Rurkka erkannte, dass der Vaare Hulog zu ihm sprach. Vaaren kannten zwei Möglichkeiten, sich anderen Spezies gegenüber verständlich zu machen. Da war zum einen eine semitelepathische Bildersprache, die körperliche Berührung voraussetzte. Zum anderen existierte die Möglichkeit, Protomaschinen dafür einzusetzen, um die telepathischen Impulse in Laute umzuformen. Hulog entschied sich für Letzteres. »Das habe ich nicht gewollt.« Rurkkas Stimme zitterte.
»Damit hast du dein Schicksal besiegelt. Die Flucht wird dir nicht gelingen. Du kannst nur noch eines tun: dich Königin Lovrena stellen und um Gnade bitten!« Rurkka starrte diejenigen an, die Zeugen seines Mordes geworden waren. Rurkka hatte keine Vorstellung davon, was mit jemandem geschah, der einen Vaaren tötete. Zu ungeheuerlich war dieser Vorfall, als dass er in der Vergangenheit schon einmal vorgekommen sein konnte. Der Luure wagte nicht, sich eine mögliche Strafe auch nur vorzustellen. Die GenTec hatte Recht. Nun gab es endgültig kein Zurück mehr für ihn. Jede verstreichende Zeiteinheit brachte ihn seinem Ende näher. Rurkka zwang sich zu sprechen. »Das war ein Unfall, aber ihr wisst jetzt, dass ich es ernst meine.« Seine Zunge war schwer und jedes einzelne Wort eine Qual. »Bringt uns sofort nach Lurr, zum Wonak -Matul, oder ihr werdet das Schicksal eures Gefährten teilen.« Scobee warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Traute sie ihm zu, dass er weitere Vaaren tötete? Rurkka gestand sich ein, dass er es selbst nicht genau wusste, was er sich zutrauen konnte. Er war ein Schöpfer, aber er hatte Leben genommen. Nachdem er diesen Schritt einmal getan hatte, hielt er alles für möglich. »Wir werden tun, was du verlangst, Schöpfer.« Klang Spott oder Mitleid aus Golgerds Worten? Rurkka schob den Gedanken beiseite. Die DAALGOR nahm wieder Fahrt auf. 2. Darnok war allein. Wirklich allein. Sein Volk lebte nicht mehr, es war untergegangen. Die skrupellosen Erinjij, die Menschen, hatten die Keelon ausgerottet, selbst für ihre Verhältnisse gnadenlos und unerbittlich. Er fragte sich, was sie in ihrer rücksichtslosen Expansion antreiben mochte, welches Motiv sie leitete, doch noch immer konnte er nicht mehr als Vermutungen anstellen. Vielleicht, eines Tages, würde sich dies ändern - falls sie den Kubus überlebten, und falls dann noch Menschen bei ihm waren, die ihm bei seiner Suche
nach Antworten helfen konnten... Die Einsamkeit drohte ihn von innen heraus zu zerfressen, besonders in Augenblicken wie diesen, da er seine vertraute Umgebung verlie ß. Doch er hatte schon fast zu lange tatenlos beobachtet und abgewartet. Darnok warf einen Blick zurück zu seinem Karnut, das ihm mehr war als ein Fortbewegungsmittel. Er lie ß es ungern zurück. Darnok hatte beobachtet, wie fremde Wesen John Cloud mit unbekanntem Ziel abtransportiert hatten. Dabei hatte der Erinjij keinen Schutzanzug getragen, hätte also eigentlich ertrinken müssen. Stattdessen war Cloud aus eigener Kraft geschwommen. Etwas hatte ihn offensichtlich so verändert, dass er unter Wasser atmen konnte. Vaaren-Technik. Inzwischen war Cloud ebenso wie die beiden GenTecs Scobee und Resnick verschwunden, und Darnok hatte keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als seine Untätigkeit aufzugeben. Er musste sie finden, denn nur zusammen mit ihnen, davon war er überzeugt, konnte ihm gelingen, was noch keinem Volk gelungen war: die Erinjij zu enträtseln. Das Karnut stand am Rand eines kleines Landefelds, wo es ausgeschleust worden war, nahe bei einigen Rochenschiffen. Jadeschiffe wurden sie von den Vaaren genannt. Darnok hoffte, das Karnut an gleicher Stelle wiederzufinden, wenn er zurückkehrte. Mit einem Ruck wandte er sich ab. Das Wasser, durch das er glitt, war erfüllt von einem permanenten grünen Hintergrundleuchten, dessen Quelle sich nicht lokalisieren lie ß. Es schien von überallher gleichzeitig zu kommen und keinen bestimmten Ausgangspunkt zu besitzen, so als würde es aus sich selbst heraus illuminiert. Unter sich erkannte er künstlich erschaffene Strukturen. Die meisten von ihnen waren flach und scheinbar ohne architektonischen Sinn. Sie ähnelten keinen Gebäuden, die er jemals gesehen hatte, sondern glichen riesigen erstarrten Tropfen und unterschieden sich in zahlreichen Details. Trotzdem konnte er sie kaum auseinander halten. Aus der Höhe hatte Darnok einen guten Überblick, aber zwischen ihnen hätte er sich ohne Hilfsmittel verirrt. Darnok vermutete, dass er die Stadt der Vaaren unter sich hatte. Bei der körperlosen, unwirklichen Erscheinungsform der Vaaren
schienen ihm die unförmigen Tropfen zweckmäßig. Er fragte sich, wie es im Innern aussehen mochte. Verwunderlich war, dass er bisher auf keinen Vaaren getroffen war. Hielten sie sich alle in den Gebäuden auf? Oder waren sie sogar um ihn, in einer für ihn so schwer erkennbaren Gestalt, dass er ihre Gegenwart bislang nicht wahrnahm? Nach einer Weile blieben die Tropfen hinter ihm zurück. Dafür schälten sich andere, viel größere Konturen aus dem Nichts. Darnok wandte sich in ihre Richtung. Unter ihm zog eine prächtige Parkanlage mit kunstvoll ins Bild gerückten Korallenstöcken dahin, die in sämtlichen Farben des Spektrums blühten. Die reichhaltige Farbenpracht beeindruckte den Keelon. Durch das grüne Licht wirkten die Korallen geheimnisvoll und schienen über ein unheimliches Eigenleben zu verfügen. Darnok betrachtete sie abschätzend. Sie waren wesentlich kleiner als die riesigen Stöcke, die auf ihren vielleicht vorgegebenen Bahnen durch den gigantischen Wasserkubus zogen. Diese hier waren sorgsam arrangiert und kultiviert worden. Während er durch eine blühende Allee schwamm, sicherte er in alle Richtungen. Noch immer war er allein, aber das konnte sich jeden Augenblick ändern. Irgendwo musste sich zumindest die Besatzung des Rochenschiffes aufhalten - wenn schon nicht in den Gebäuden hinter ihm, dann vielleicht in dem riesigen palastähnlichen Gebäudetrakt, der vor ihm emporwuchs. War John Cloud dorthin gebracht worden? Gewissenhaft kontrollierte Darnok noch einmal seinen Schutzanzug. Er hatte die Prozedur bereits vor dem Verlassen des Karnuts durchgeführt, aber das reichte ihm nicht. Innerhalb des Kubus, das hatte er zu spüren bekommen, vermochte er sein Magoo nur höchst unzulänglich einzusetzen. Eine Art Hintergrundstrahlung dämmte es ein, erstickte es fast. Normalerweise konnte er die Zeit nach Belieben modellieren und verbiegen, lebte er doch in einer einzigartigen Symbiose mit der vierten Dimension - in dieser Umgebung jedoch fühlte er sich wie ein Schatten seiner selbst. Benutzte er seine Kräfte - wie in diesem Fall zur Aufrechterhaltung seines Zeitschirms -, hatte er ein Gefühl, als würde stetig die Lebenskraft aus seinem Körper gesogen. Es blieb ihm jedoch keine andere Wahl, als diese Gefahr auf sich zu nehmen, wollte er aktiv bleiben. Der palastähnliche Bau leuchtete in intensivem Blau. Zwei weit
ausladende Flügel säumten einen flachen, kreisrunden Trakt. Bizarre, viel kleinere Gebäude erstreckten sich nach allen Richtungen. Offenbar hatten die Vaaren John Cloud zu einer zentralen Einrichtung gebracht. Vielleicht handelte es sich um eine Art Regierungssitz, Eine eigenartige Trübung des Wassers erregte Darnoks Aufmerksamkeit. Eine Ansammlung milchiger Flecken trieb in seiner unmittelbaren Nähe vorbei. Sie bewegten sich im Verbund, so filigran, als könnten sie sich kaum im Wasser halten. Zuckende Nesselfäden gingen von ihnen aus. Darnok erkannte die Vaaren augenblicklich wieder. So hatte er sie bereits bei der Museumsstadt wahrgenommen. Unversehens änderten sie ihre Richtung. Sie bewegten sich auf ihn zu, konnten ihn aber nicht bemerken. Darnok hielt mit Mühe den ihn innerlich aushöhlenden Zeitschirm aufrecht. Rasch brachte er sich aus der Bahn der Vaaren und erreichte den Palast. Er betrachtete die gewölbte blaue Wand. Sie passte zu den intensiven Farben, die im gesamten Kubus vorherrschten. Viele Bauwerke waren dem farbenprächtigen Spiel der Natur nachempfunden. Im Fall des Palastes hatten die Gestalter sogar übertrieben. Das konnte bedeuten, dass die Vaaren über andere optische Sinneseindrücke verfügten als ein Keelon. Darnok inspizierte die geschwungenen Wände. Sie waren glatt und fugenlos. Durchlässe, wie er sie gewohnt war, existierten entweder gar nicht, oder sie waren so gut verborgen, dass er sie nicht als solche erkannte. Er fragte sich, wie ein Eingang beschaffen sein mochte, der ideal für einen Vaaren geeignet war. Winzig und formlos? Am Boden oder irgendwo in der Höhe - an der Oberseite des Gebäudes womöglich? Aber er entdeckte nicht die geringste Unregelmäßigkeit in der wie aus einem Guss wirkenden Fassade. Nach einer Weile gab Darnok die Suche auf und sank langsam zu Boden. Nachdenklich betrachtete er die wulstige Wölbung. Wenn er keine andere Möglichkeit fand, musste er sich gewaltsam Zutritt verschaffen. Plötzlich verfärbte sich das Blau an einer Stelle. Es wurde blass und begann zu flimmern; ein unregelmäßig geformtes Loch entstand.
Tastend streckte Darnok, ohne auf Widerstand zu stoßen, eine seiner Extremitäten aus. Er hätte nicht nach einem Eingang suchen müssen, erkannte er, denn der Eingang war zu ihm gekommen. Darnok bezweifelte nicht, dass dieser Vorgang an jeder beliebigen Stelle der Wand eingetreten wäre, wenn er nur kurze Zeit davor verharrt hätte. Der Keelon stie ß sich vom Boden ab und glitt durch die entstandene Öffnung ins Innere. * Scobee hatte den Eindruck, dass die Vaaren wie erstarrt waren. Regungslos hielten sie ihre Position, es war zu keinen weiteren Zwischenfällen gekommen. Sie machte sich Vorwürfe. Immerhin war eines dieser Wesen in ihrer Gefangenschaft gestorben, und zwar keines natürlichen Todes. Dafür leisteten die verbliebenen Vaaren keinen Widerstand, sondern befolgten strikt Rurkkas Anweisungen. Trotzdem blieb ein bitterer Beigeschmack. Rurkka ging zum Erreichen seiner Ziele offenbar über Leichen. Scobee nahm sich vor, ihn im Auge zu behalten. Zwar schien der Luure ebenso auf sie angewiesen zu sein, wie sie auf ihn, aber seit dem Vorfall mit Jaglon war er ihr suspekt. Es gab keine Garantie, dass er seine Absichten nicht noch einmal überraschend änderte und sich dabei vielleicht gegen sie wandte. Scobee fragte sich, ob Rurkkas Rezeptor auch auf Menschen wirkte... Davon abgesehen war sie beeindruckt von den Fähigkeiten des Jadeschiffs. Angetrieben von psionischen Impulsen, erreichte es eine für Unterwasserverhältnisse gerade enorme Geschwindigkeit. Das Wasser schien dem lebenden Fahrzeug keinen Widerstand entgegenzusetzen. Auf diese Weise lie ß sich jeder Ort innerhalb des Kubus binnen kürzester Zeit erreichen. Die DAALGOR raste durch das grünlich schimmernde Wasser, bis ein pockennarbiger kleiner Mond vor dem Schiff auftauchte. Aus der Ferne wirkte er wie ein dunkelgrüner Ball, der sich nur träge aus dem trüben Licht schälte. »Lurr ist beinahe vollständig von Protopfla nzen bedeckt«, erklärte Rurkka. »Hier liegt das Wonak-Matul.« »Wonak -Matul muss ein Eigenname sein - ich verstehe seine
Bedeutung nicht«, sagte Resnick. »Wonak und Matul waren Propheten der Heukonen. Beglücker, wie sie selbst sich nennen.« »Dort sind keine Vaaren tätig?«, fragte Scobee, ohne auf das seltsame Wort einzugehen. »Zum Glück nicht«, antwortete der alte Luure. »Ich könnte sie nicht auch noch unter Kontrolle halten. Im Wonak -Matul arbeiten ausschlie ßlich Heukonen, stoffliche Wesen wie wir. Die Heukonen sind Forscher und Wissenschaftler. Ein weiteres geknechtetes Volk innerhalb von Tovah'Zara. Sie sind treue Diener, die in ihrer Aufgabe aufgehen.« »So wie die Luuren«, konnte sich Resnick einen spöttischen Einwurf nicht verkneifen. »Die Heukonen besit zen nicht den Stellenwert der Luuren, jedenfalls nicht den der Schöpfer. Denn auch bei uns gibt es niedere Klassen, die nur für einfache Aufgaben taugen.« Rurkka warf sich in die Brust und wandte sich demonstrativ von dem GenTec ab. »Wir Schöpfer sind in der Minderzahl, dafür stehen wir geistig an der Spitze unseres Volkes. Die Heukonen bedeuten für uns nicht mehr als... Handlanger.« »Handlanger, die vielleicht schon von deinem Verrat wissen.« »Das bedeutet nicht, dass sie unsere Ankunft erwarten.« Scobee bemerkte, dass Rurkka Resnick einen langen Blick zuwarf. Das Wort Verrat schien ihm nicht zu gefallen. Doch es entsprach den Tatsachen. Schlie ßlich hatte der Luure sie vor Sorkka gerettet und ihnen zur Flucht verhelfen - gegen den ausdrücklichen Wunsch der geheimnisvollen Vaaren-Königin. Es war nicht auszuschlie ßen, dass Sorkka auf der Suche nach ihnen war, da sie für ihn und seine Zukunft einen erheblichen Wert darzustellen schienen. Und Rurkka war nicht nur ein Verräter, er war auch ein Mörder. »Finde dich mit den Tatsachen ab«, sagte sie. »Wenn die Heukonen auf die Idee kommen, dass mit diesem Schiff etwas nicht stimmt, werden sie misstrauisch. Wärst du aus dem Kubus geflohen, wäre das registriert worden. Also ist bekannt, dass du dich noch innerhalb von... wie sagst du... Tovah'Zara aufhältst.« »Dass wir alle das tun«, erwiderte der Gestalter. Scobee glaubte,
eine unterschwellige Drohung aus seinen Worten zu vernehmen. »Aber wir werden es gleich wissen, wir werden nämlich gerufen.« Scobee stie ß eine Verwünschung aus, obwohl sie nicht erwartet hatte, sich dem Mond unbemerkt nähern zu können. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich nicht irrten. Jarvis musste sich einfach auf Lurr aufhalten! Inzwischen füllte der Mond den gesamten Bildschirm aus. Auch der Monit or bestand aus veränderter Protomaterie. Rurkka hielt seinen Rezeptor umklammert. »Ich fordere euch auf, vernünftig zu sein«, wandte er sich an Golgerd. »Ich mochte niemandem schaden, sondern nur den Fremden namens Jarvis befreien. Identifiziert euch, erstickt jeden Verdacht, der gegen uns gerichtet sein könnte, dann wird euch nichts geschehen.« Aufmerksam verfolgte er die Aktivitäten der entführten Vaaren. Sie beugten sich seinen Forderungen. »Dies ist ein reiner Informationsbesuch«, gab Golgerd durch. »Wir wünschen keinerlei Unterbrechung der Tätigkeiten, auch keine Empfangsdelegation. Wir kennen uns auf Lurr aus und wollen alles unbehelligt inspizieren.« * Langsam senkte sich die DAALGOR auf die Oberfläche des Mondes hinab. Zwischen den wallenden Protogewächsen zeichneten sich weiträumige Gebäudetrakte ab. Sie umrahmten ein Landefeld, auf dem die DAALGOR schlie ßlich landete. Scobee wurde sich zum wiederholten Mal bewusst, wie stark innerhalb von Tovah'Zara die Eingriffe ins normale Gefüge der Natur waren. Es gab Schwerkraft, die es ermöglichte, auf den Kubuskörpern zu landen und sich sogar gehend zu bewegen, auch wenn man dazu den Wasserwiderstand überwinden musste. Aber man wurde nicht einmal weg von einer der Welten getrieben. Diese Gravitation aber, das hatten sie ebenfalls festgestellt, war manipuliert, setzte erst in einer bestimmten Hohe über dem jeweiligen Ort voll ein. Hatten all dies die Vaaren vollbracht? Falls ja, dann waren sie das mächtigste Volk, mit dem sie bislang Kontakt bekommen hatten. Sie würden die Menschen - oder Erinjij - nicht zu fürchten haben. Ob sie
sie überhaupt kannten? Ob sie Verbindung nach draußen hatten? Nach Darnoks Aussagen war der Kubus ein seit Äonen abgeschottetes Objekt. Ein wassergefüllter Würfel mit einer Lichtstunde Kantenlänge, der seine Bahn durch die unendliche Weite der Galaxis zog. Ein Gigant, der nur von Giganten erdacht und erbaut worden sein konnte... ... seltsam, dass sie die Vaaren, die sie bisher gesehen hatte, damit so schlecht in Verbindung setzen konnte. Trotz - oder gerade wegen ihrer Parakräfte. Darauf schienen sie sich in der Hauptsache zu verlassen. Auf ihre Geisteskraft und auf die Protomaterie, die die Luuren nach ihren Bedürfnissen und Wünschen gestalteten. Wenn sie solche Macht besaßen - warum beschränkten sie sich dann auf den Kubus? Warum waren sie nicht die Drohung, unter der alle anderen Milchstraßenvölker ächzten? Sprach dies nicht dafür, dass sie - eigentlich - durch und durch friedliebend waren? Gequälte Schreie rissen sie aus ihren Gedanken, steigerten sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo, das einige Sekunden anhielt. Dann herrschte plötzlich wieder lähmende Stille. Noch immer schwebten die Vaaren in der Luft, aber sie bewegten sich nicht mehr. Das »Ektoplasma« ihrer geisterhaften Erscheinung hatte jegliche Farbe verloren, ihre eben noch aktiven Fäden hatten sich zusammengezogen und wirkten leblos. »Rurkka!«, rief Scobee alarmiert. »Du hast sie - getötet!« Aus unergründlichen Augen blickte der Luure sie an. »Ich habe sie nicht getötet, sie sind nur inaktiv. Schlie ßlich brauchen wir sie noch für unsere Weiterreise.« Scobee fühlte einen Zorn, wie sie ihn noch nicht gekannt hatte, in sich aufsteigen. Diesem »Gestalter«, begriff sie, war Leben nicht annähernd so heilig, wie es der Fall hätte sein sollen - wäre es nach ihr gegangen... * Zwölf entfernt barock wirkende Stühle waren um einen lang gestreckten Tisch platziert. John Cloud saß im Thronsaal der Vaaren-Königin auf einem Ding, das aus der gleichen Protomaterie geformt war wie die übrigen
Einrichtungsgegenstände, beispielsweise die Wandmonitore. Clouds Erleichterung lie ß sich nicht beschreiben. Soeben hatte er erfahren, dass seine Gefährten nicht tot waren, wie er die ganze Zeit angenommen hatte! Nachdenklich betrachtete er die geisterhafte Erscheinung der Vaaren-Königin. Sie schwebte einen halben Meter über dem Boden, eine grazile, beinahe filigrane Gestalt von vollendeter Schönheit. Er hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um sie zu berühren, schreckte aber davor zurück. Er hatte keinen Grund, ihr zu vertrauen, solange sie ihn wie einen Gefangenen behandelte. Und er war ein Gefangener, da machte er sich keine Illusionen. »Weshalb behandelt ihr uns so?« Er konnte sich nicht erinnern, wie oft er die Frage bereits gestellt hatte. »Wir sind nicht eure Feinde.« »Das beteuerst du immer wieder, trotzdem seid ihr in unseren Lebensbereich eingedrungen - wie es zuvor noch kein Wesen tat. Eure Technik ist uns fremd, die Grenzen sind sonst sicher...« Cloud hatte den Eindruck, dass die Königin ihn eingehend musterte. Konnte sie in seinem Gesicht lesen? Vermochte sie, in seinen Augen zu deuten, wie es in seinem Inneren aussah? Wenn es so war, musste sie erkennen, dass er sie nicht belog. »Uns blieb keine andere Wahl, als hierher zu fliehen«, sagte er. »Andernfalls wären wir vernichtet worden. Wir suchten nur ein vorübergehendes Versteck. Hätte man uns nicht in jeder Weise behindert, wären wir vielleicht längst wieder verschwunden.« »Wenn du die Wahrheit sagst, dann erkläre nur, weshalb deine Freunde geflohen sind.« »Sie hätten nicht fliehen müssen, wenn ihr sie nicht gefangen genommen hättet.« Mit Schaudern erinnerte er sich daran, was ihm dort draußen in der Wasserwelt widerfahren war. Etwas war in seinen Körper eingedrungen. »Ich glaubte, ihr wolltet mich töten. Meinen Freunden wird es nicht anders gegangen sein.« »Die Protomaschinen dienten lediglich eurer Sicherheit. Nur dank ihnen kannst du atmen.« Sie drehten sich im Kreis, und er konnte Lovrena keinen Beweis für seine Behauptungen liefern. In gewisser Weise konnte er ihre Skepsis daher nachvollziehen. Aber das änderte nichts an den
Tatsachen. Man hielt ihn zu Unrecht gefangen. Die weißen Fäden, die von Lovrena ausgingen, strichen sanft über seine Brust. Durch die direkte Nähe empfing er ihre semitelepathische Bildersprache ohne Hilfsmittel und war in der Lage, sie zu verstehen. »Ständig wiederholst du, auf der Flucht gewesen zu sein. Auf der Flucht vor wem oder was? Ich möchte jede Einzelheit erfahren, wenn ich dir glauben soll.« Clouds Gedanken gingen zurück, wenige Tage nur, aber die seit ihrem Start von der Erde verstrichene Zeit schien eine Ewigkeit zu sein. Seitdem hatte er Dinge erlebt, die er nie für möglich gehalten hätte. Es war mehr auf ihn und die Reste der RUBIKON-Besatzung eingestürzt, als er jemals einem Menschen gewünscht hätte. Er öffnete seine Gedanken und lie ß sie an seiner Odyssee teilhaben. Er wollte, dass sie seine Erinnerung las und ihm glaubte. Gleichzeitig sparte er alles aus, was sich mit Darnok beschäftigte. Aber genau das schien ihr Misstrauen zu wecken. Lovrena glitt einmal um Cloud herum. Sie war ihm jetzt näher als jemals zuvor. »Deine Erinnerungen sind lückenhaft und wirr - sie scheinen manipuliert.« Es war sinnlos. 3. Als er sich von der Wand entfernte, schloss sic h die zuvor entstandene Öffnung wieder. Darnok befand sich in einem Raum, der bis auf eine Reihe kastenförmiger Aufbauten leer war. Niemand hielt sich darin auf. Auch im Innern des Gebäudes herrschte dasselbe grüne Leuchten vor wie überall im Kubus. Darnok studierte die Anzeigen, die ihm sein Anzug lieferte. Sie bestätigten, dass er allein war. Doch auch hier lieferten sie keine Erkenntnisse über den Ursprung des Lichts. Dafür empfing er zahlreiche Lebensimpulse aus anderen Bereichen. Sie gehörten verschiedenen Spezies an, von denen alle mehrfach vertreten waren. Bis auf eine, die sich deutlich von allen anderen Anzeigen unterschied. Handelte es sich um John Cloud? Mit einem kurzen Vergleich
verschaffte der Keelon sich Gewissheit. An Bord des Karnuts hatte er die Merkmale der menschlichen Biologie in die Systeme seines Anzugs gespeichert. Sie stimmten mit denen der einzelnen Lebensform überein. Darnok hatte sich nicht geirrt, John Cloud hielt sich irgendwo in seiner Nähe auf. Doch selbst mit Hilfe seiner Sensoren würde es nicht einfach sein, den menschlichen Kommandanten zu finden. Oberflächlich untersuchte Darnok die Aufbauten, plumpe, grobe Sarkophage, die nicht recht zur Bauweise der Vaaren passten. Sie ließen sich nicht öffnen. Auch seine Messinstrumente konnten nicht erkennen, was sich in ihrem Innern befand, daher stellte Darnok seine Bemühungen wieder ein. Als er seine Erkundung fortsetzte, brauchte er nicht auf ein plötzliches Öffnen einer der Wände zu hoffen. Er entdeckte eine Art Schott. Es war drei Meter hoch und etwa ebenso breit. Als Darnok sich dem Schott näherte, öffnete es sich automatisch. Ein Korridor von quadratischem Querschnitt befand sich dahinter. Während Darnok in ihn eindrang, dachte er über die vorhandenen Systeme nach. Sperren existierten scheinbar nicht. Wenn die Vaaren die Beherrscher dieser Anlage waren, fürchteten sie offenbar keine unbefugten Eindringlinge. Andere Völker betraten dieses Bauwerk demnach nicht. Dieser Überlegung widersprachen jedoch die baulichen Beschaffenheiten. Sowohl die Form des Schotts als auch des Korridors lieferten Rückschlüsse auf humanoide Benutzer. Die Vaaren wären aufgrund ihrer körperlichen Konstitution nicht darauf angewiesen gewesen. Wer also hielt sich außer ihnen noch im Palast auf? Er dachte an die unterschiedlichen Werte, die seine Biosensoren lieferten. Gab es außer John Cloud noch andere Gefangene? Oder handelte es sich um Hilfskräfte der Vaaren? Die Sensoren zeigten die ständige Präsenz einer weiteren biologischen Lebensform an, aber es gelang Darnok nicht, sie zu lokalisieren. Sie schien überall gleichzeitig zu sein, vergleichbar mit dem allgegenwärtigen Hintergrundrauschen des Weltalls. Darnok kontrollierte die Systeme seines Anzugs, konnte aber keine Fehlfunktion feststellen. Möglicherweise ortete er ein Wesen, das in der Struktur des Bauwerks lebte. Allerdings hielt er diese Erklärung für unwahrscheinlich.
Waren es Lebensimpulse der Protomaterie? Darnok griff auf die Module seines Anzugs zur ück. Sie lieferten ihm im Wasser die gleichen Dienste wie im freien Raum und sparten ihm Kraft bei der Fortbewegung. Er glitt den Gang entlang, bis er eine Stelle erreichte, an der sich der Korridor in mehrere Richtungen aufteilte. Von einem zentral angebrachten Zylinder ging ein rhythmisches Pulsieren aus. Es versetzte das Wasser in Schwingungen. Darnok erkannte keinen Sinn darin, aber er kam zu dem Schluss, dass der Vorgang keine Gefahr darstellte. Eine unüberschaubare Zahl an Bedienungselementen bedeckte die Oberfläche des Zylinders. Verschiedene Skalen, die Aktivität verrieten. Leuchtbalken schlugen heftig aus. Darnok war versucht, einige Experimente durchzuführen, unterdrückte diesen Drang aber. Er hatte keine Ahnung, welche Reaktion er mit möglichen Manipulationen auslöste. Zweifellos würde sein Tun wahrscheinlich nicht unbemerkt bleiben. Deshalb entschied er, seine Suche fortzusetzen. Während er noch überlegte, für welche Richtung er sich entscheiden sollte, schlugen seine Sensoren an. Jemand näherte sich. Rasch zog sich Darnok von dem Zylinder zurück. Im Schutz seines Zeitfelds wartete er, bis die fremden Wesen auftauchten. Sie waren etwa dreimal so lang wie er selbst, dabei extrem dünn und biegsam. Ihre Körper waren mit zahlreichen kleinen Greifarmen versehen, die regungslos an der silbrig geschuppten Haut anlagen. Über einem wenig Vertrauen erweckenden, breiten Maul glühten zwei dunkelrote Augen. Blubbernde Geräusche erreichten Darnoks Außenmikrofone. Zweifellos handelte es sich um intelligente Wesen, darauf deutete schon die »Kleidung« hin, die aus verschiedenfarbigen Kunststoffbändern bestand und an der hier und da auch Gegenstände aus Protomaterie befestigt waren. Ihr zielgerichtetes Vorgehen zerstreute letzte Zweifel. Sie machten sich an dem Zylinder zu schaffen, bis das Pulsieren seine Frequenz änderte. Dann verschwanden sie in einem anderen Gang. Darnok beschloss, ihnen zu folgen. Solange die Mikrofone ihr »Gespräch« empfingen, hatte das Anzugsystem die Möglichkeit, ihre Sprache zu entschlüsseln. Vielleicht erhielt Darnok von den
Unbekannten Informationen, die ihm bei seiner weiteren Suche von Nutzen sein konnten. * Rurkka verwünschte die Menschen und ihre Starrköpfigkeit, Jarvis unbedingt befreien zu wollen, war ihm unverständlich. Wieso begriffen sie nicht, dass es ebenso gefährlich wie aussichtslos war, einen Gefangenen aus der Gewalt der Heukonen befreien zu wollen? Am liebsten hätte Rurkka sich zurückgezogen und sie dieses zum Scheitern verurteilte Vorhaben allein ausführen lassen. Doch er brauchte sie, um Tovah'Zara zu verlassen und das offene Weltall zu erreichen. Ihm war klar, dass er die Vaaren-Besatzung nicht unter ständiger Kontrolle halten konnte. Irgendwann würde es ihnen gelingen, dem Einfluss des Rezeptors genügend Gegenwehr zu leisten, um ihn zu überwinden. Irgendwann. Gewaltige Braag-Algen versperrten die Sicht auf die Einrichtungen des Wonak -Matul. »Du hast behauptet, dass du dich hier auskennst«, sagte Resnick. »Aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass du nicht einmal weißt, in welche Richtung du dich wenden sollst. Wenn es nach mir ginge, würden wir ins nächstbeste Gebäude eindringen und uns durchfragen.« »Erwartest du, dass die Heukonen dir bereitwillig Auskunft geben?« »Ich habe eine eigene Art zu fragen«, mischte sich Scobee ein. Rurkka bedachte sie mit abschätzigen Blicken. »Ich verstehe, was du meinst. Aber wir haben es nicht mit ein paar vereinzelten Heukonen zu tun. Tausende von ihnen bevölkern das Wonak-Matul.« »Das klingt, als glaubtest du nicht an den Erfolg unserer Mission«, sagte Resnick. Rurkka zögerte. Er legte sich seine Worte sorgfältig zurecht, um seine Begleiter nicht zu verärgern. »Wir werden die Heukonen überraschen, aber wir offenbaren uns ihnen nicht sofort. Je länger sie nichts von unserem Hiersein ahnen, desto besser für uns.« »Sie haben das Schiff gesehen«, erinnerte Resnick. »Natürlich, aber sie rechnen nur mit Vaaren.«
Rurkka missfielen Resnicks ständige Einwände. Mit seiner Ungeduld würde der Mensch noch alles zunichte machen. Alles hing davon ab, ob die Heukonen bereits informiert waren, dass sich der ehemalige Herr über der Protowiesen gegen die Königin gewandt hatte. Er rechnete sich eine große Wahrscheinlichkeit aus, dass sie dies noch nicht wussten, denn die Informationspolitik der Vaaren war stets sehr zurückhaltend. Außerdem: Wenn Rurkkas Flucht publik wurde, würde dies vielen den vaarischen Hilfsvölkern zu denken geben. Die Herren würden so wenig Bewohner wie möglich ins Vertrauen ziehen. Rurkka rechnete damit, dass zahlreiche Jadeschiffe auf der Suche nach ihm waren. Darin lag seine und die Chance der Menschen. Zudem verfügte er immer noch über seine herausragenden Fähigkeiten. Früher hatte er sie nur zum Erschaffen angewendet, doch nun würde er nicht zögern, sie auch zu seinem eigenen Nutzen einzusetzen. »Dort kommt jemand«, zischte Resnick. Dank seiner ausgeprägten Beobachtungsgabe bemerkte Rurkka, dass sich die Muskeln des Mannes anspannten. In der Ferne waren Bewegungen zwischen den Braag-Algen zu erkennen. Rurkka erkannte Heukonen. Fünf oder sechs, sie waren noch zu weit entfernt. Hoffentlich hatten sie die drei Ankömmlinge nicht ebenfalls entdeckt. »Wir gehen ihnen aus dem Weg. Dort hinüber.« Der Altersweise schlug einen Haken und verschwand zwischen den Algen. * Was für ein Anblick, dachte Scobee. Sie folgte Rurkka mit Resnick und tauchte zwischen den wogenden Pflanzen unter, die in Größe und Struktur an die Bäume eines irdischen Waldes erinnerten. Für eine Weile behielten sie die Richtung bei, dann nahm Rurkka wieder den ursprünglichen Kurs auf. »Biologische Untersuchungen werden in den nördlichen Gebäuden des Wonak-Matul vorgenommen.« »Biologische Untersuchungen?«, echote Resnick. »Der Ausdruck gefällt mir nicht. Ich hoffe, dass die Heukonen, Jarvis nichts angetan
haben. Wir hätten gleich dort vorn landen sollen, das hätte uns viel Zeit gespart.« Rurkka machte keine Anstalten, sich dazu zu äußern, worauf Scobee an seiner statt antwortete: »Damit hätten wir bei den Heukonen Verdacht erregt.« Als Zeichen seiner Zustimmung wedelte Rurkka heftig mit der Spitze seines Reptilienschwanzes. Vor ihnen endete der Wald aus Braag-Algen. Hinter einem unbewachsenen Streifen lagen die ersten Gebäude des Wonak-Matul, kantige Quader, die rechtwinklig zueinander angeordnet waren. Die schmucklosen Wände waren von tristem Grau. »Wohin jetzt?«, drängte Resnick. Rurkka schien um Orientierung bemüht zu sein. »Ich habe euch gesagt, dass mein Wissen von Plänen und aus Berichten herrührt. Selbst war ich noch nicht hier... Aber dort - dort ist die historische Turmuhr von Lurr'Jorg zwischen den Quadern! Ganz in ihrer Nähe liegen die medizinischen Labors und die Kryo-Kammern. Er ist hoch wahrscheinlich, dass Jarvis in diesem Bereich untergebracht ist.« »Also dort hinüber!«, entschied Scobee. Bis auf die Heukonen, denen sie zwischen den Algen aus dem Weg gegangen waren, hielt sich offenbar niemand im Freien auf. »Wir sind hier verdammt leicht zu entdecken«, fügte sie hinzu. »Es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen uns auf unser Glück verlassen.« Rurkka wirkte nicht wirklich zuversichtlich, was das Gelingen ihres Unternehmens anging. Dicht über dem Boden huschten sie mit dem Luuren dahin. Rurkka dirigierte sie in eine bestimmte Richtung. Dabei hatte Scobee den Eindruck, dass Resnick ihn nicht aus den Augen ließ. Anscheinend traute er dem Gestalter ebenso wenig wie sie selbst. Doch es schien Rurkka gleichgültig zu sein, was Resnick von ihm hielt. Unbeschadet erreichten sie die Mauern des Wonak-Matul. »In manchen Bereichen des Kubus ist die Protomaterie so konfiguriert, dass sie das Näherkommen von Lebewesen registriert und automatisch einen Einlass bildet«, erklärte Rurkka. »Hier ist das anders.« »Dann müssen wir nach einem Eingang suchen.« »Das ist nicht nötig«, wehrte der Altersweise ab. »Für einen
Gestalter existieren keine Wände und keine Schranken. Er kommt auch dort hinein, wo anderen der Zutritt verwehrt ist.« »Dann lass deine Zaubertricks mal sehen«, forderte Resnick ihn auf. »Ihr habt meine Fähigkeiten bereits erlebt. Ohne sie wärt ihr längst tot.« Scobee musste ihm zustimmen. Sie und Resnick konnten nur deshalb unter Wasser atmen, weil der Gestalter Schwärme von Protomaschinen in ihre Körper eingeschleust hatte. Rurkka konzentrierte sich auf das Material des Gebäudes. Sein Geist benötigte nur Sekundenbruchteile, um darauf einzuwirken. Im nächsten Moment begann ein kreisrunder Ausschnitt der Wand zu flimmern, wurde durchsichtig und verschwand. Rurkka schwamm voraus, geradewegs in einen beleuchteten Laborkomplex. Hektische Aktivität empfing die kleine Gruppe. Unüberschaubare Maschinenzeilen waren mit Monitoren übersät. Vor den meisten davon waren Heukonen in ihrer Tätigkeit versunken. Geradewegs in die Höhle des Löwen, ging es Scobee durch den Kopf, während sich Resnick zum Angriff bereit machte. Die Heukonen waren etwa einen Meter große Humanoide, deren Arme und Beine in flossenähnlichen Ausläufern endeten, die sie als Greifwerkzeuge benutzten. Ihre schmalen Köpfe mit zwei riesigen tiefblauen Augen und dem vorspringenden Fischmaul waren von türkisfarbenem Flaum bedeckt, der sich auch auf den Rest des Körpers erstreckte, soweit Scobee dies erkennen konnte. Ihre Körper steckten in eng anliegender, wie gewickelt aussehender Kleidung, die in allen Farben des Spektrums schillerte. Ein spitzer Schrei ertönte, als einer der Heukonen die Eindringlinge entdeckte. Rurkka schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Stoisch setzte er seinen Weg fort. Vielleicht glaubte er, dass sie ohnehin verloren waren, wenn die Heukonen Verdacht geschöpft hatten. »Ruhig bleiben«, wandte sich Scobee an Resnick. »Warten wir ab, was geschieht.« »Ein Schöpfer!«, rief einer der Heukonen überrascht. Dank Rurkkas Linguator konnte Scobee die Worte, die einem hypnotischen Singsang ähnelten, mühelos verstehen. »Und er bringt
Wesen wie diesen Jarvis mit!« Sekunden später waren die Eindringlinge von Wissenschaftlern umringt. »Wir sind mit den Vaaren gekommen«, beeilte sich Rurkka zu sagen. »Sie warten in der DAALGOR auf uns. Ihr kennt ja ihre Zurückhaltung.« »Es ist Rurkka, der Herr der Protowiesen«, erkannte einer der Heukonen. »Dann will er sich bestimmt mit seinem Schüler Sorkka treffen.« Rurkka zuckte sichtlich zusammen. »Sorkka?«, fragte er. »Er ist hier?« »Ja, Schöpfer. Er ist bereits auf dem Weg zu Jarvis.« Sorkka! Scobee warf Resnick einen viel sagenden Blick zu. »Wir müssen uns beeilen«, drängte sie daraufhin den Luuren. Doch Rurkka war wie gelähmt.
4. Lovrena schwebte immer noch vor Cloud, als sich ihr Verhalten urplötzlich änderte. Sie schien in Aufregung zu geraten. In... Zorn. »Wer ist Darnok?«, stellte sie auch schon die Frage, die Cloud klar machte, dass er zwar alles, was den Keelon anging, in seiner »Bildkommunikation« hatte aussparen wollen - ihm dies aber zweifellos nicht so perfekt gelungen war wie beabsichtigt. Er wollte etwas erwidern, einen letzten Versuch unternehmen, sie zu täuschen, als sie erneut innehielt und noch weiter von ihm abrückte. Die Nesselfäden - ihre Verbindung - lösten sich. Sie verschwand ohne Erklärung aus Clouds Blickfeld, und als er schon glaubte, allein zu bleiben, kehrte sie ebenso überraschend wieder zurück. Sie kam mit einer Unausweichlichkeit auf ihn zugelitten, als wollte sie sich auf ihn stürzen. Die Substanz, aus der sie bestand, schien sich zu einem netzartigen Überwurf zu formen, den sie regelrecht über ihn stülpte. Für Momente, war er in ihr - was immer das bedeuten mochte.
Und dann kamen auch schon die Bilder. Die Vorwürfe. Die Anklage! »Du bist Schuld!« »Woran?« Er kämpfte gegen das erstickende Gefühl an, das sein Eingeschlossensein begleitete. »Daran!« Erst jetzt wurden die Bilder klar - erst jetzt konnte er sie verstehen. Cloud hatte die kampfstarken Raumgiganten, die sie ihm zeigte, bereits mehrfach in Aktion erlebt. Einen davon hatte er in Großaufnahme vor sich gesehen, und auf seiner Hülle hatte PEKING gestanden. Erdschiffe! Lovrena zeigte ihm eine ganze Flotte von Erdschiffen, die offenbar vor dem Aqua-Kubus Stellung bezog! Die Schiffe, die jetzt vor den »Toren« von Tovah'Zara kreuzten, waren dem Anschein nach von Menschenhand erbaut - oder von Erinjij-Hand, wenn man der Terminologie Darnoks folgte. Doch Clouds Wissen um die weiteren Hintergründe war praktisch nicht vorhanden. »Du kennst diese Schiffe.« »Wir sind vor ihnen geflohen.« »Du bist sicher, dass ihr nicht ihre Vorhut wart? « Er begriff, wessen sie ihn verdächtigte und empörte sich: »Ich dachte, du hättest in mir gelesen? Ich habe dir meine Erinnerungen geöffnet...« »Wie sollte ich dir vertrauen? Du hast mir nicht alles offen gelegt. Dieser Darnok - wer ist er? Ich sehe es nur verschwommen. Du blockierst...« »Er ist keine Gefahr.« Im gleichen Moment, als er es formulierte, begriff er, dass er sich genau dessen nicht sicher sein konnte. Nicht einmal für sich selbst. Dazu handelte Darnok zu undurchsichtig. Und das Wenige, was er bislang preisgegeben hatte, rückte ihn kaum in die Nähe eines friedfertigen Freundes. »Also hält sich dieser Darnok noch in unserem Lebensbereich auf? Wir werden uns darum kümmern.« Cloud zuckte zusammen.
»Er stellt keine Gefahr dar«, beteuerte er noch einmal - aber er fürchtete, dass sie seine Zweifel spürte. »Und die Schiffe?« »Ich weiß nicht, was sie vorhaben. Sie sind uns gefolgt, ja. Das sagte ich die ganze Zeit. Und nun haben sie offenbar Verstärkung erhalten. Mächtige Verstärkung. Ich kann nicht ausschlie ßen, dass sie versuchen werden, uns zu folgen.« »Nach Tovah'Zara?« »Nach Tovah'Zara.« Er kannte inzwischen den Namen, den die Vaaren ihrer obskuren Welt gegeben hatten. »Das«, sagte Lovrena, »werde ich zu unterbinden wissen.« * Während Darnok die länglichen, fast gliederlosen Geschöpfe verfolgte, nahm er ständig Messungen vor. Die hoch entwickelte Technik seines Schutzanzugs verfügte nicht nur über ein beträchtliches Arsenal an Defensivwaffen, sie konnte auch zahlreiche Untersuchungen gleichzeitig durchführen. Mit simpelsten Basisanordnungen lie ßen sich komplizierte Prozesse initiieren. Im Grunde war Darnok in seinem Anzug autark und verfügte über die wissenschaftlichen Möglichkeiten eines vollständig eingerichteten Labors. Bald war sich der Keelon sicher, dass das gesamte Gebäude aus stabilisierter organischer Materie bestand. Seine Sensoren lieferten ihm eine Fülle von Daten, die diese Erkenntnis bestätigten. Die Ursache für das Hintergrundrauschen lag also tatsächlich darin begründet. Die Wände waren auf eine nie gesehene Weise... lebendig. Vor ihm weitete sich der Korridor zu einer geräumigen Halle. Blaue Wände umgaben ihn, die in ein kuppelförmiges Dach übergingen, das mit zahlreichen Ornamenten und Zeichnungen verziert war. Die Bilder zeigten abstrakte Darstellungen, deren Bedeutung sich Darnok nicht erschloss. Die Halle war mit Maschinen gefüllt, an denen sich Dutzende jener Wesen zu schaffen machten, wie er ihnen hierher gefolgt war. Ein durchdringendes Summen war zu hören. Zwischen den
Maschinenblöcken wuchsen mehrere Meter hohe verzweigte Pflanzen. An manchen Stellen waren sie mit den Maschinen verwachsen. Die technischen und natürlichen Komponenten bildeten eine faszinierende Einheit. Vorsichtig näherte sich Darnok einer dieser ungewöhnlichen Hybriden. Die Pflanzen bedeckten Teile der Verschalungen wie Parasiten. Unzählige Wurzeln drangen als feines Gespinst darin ein. Doch das hier war etwas anderes. Der Keelon kam zu der Überzeugung, es nicht mit Parasiten zu tun zu haben. Was er sah, war eine beabsichtigte Verbindung, geschaffen von den Vaaren oder eines ihrer Hilfsvölker. Er vergewisserte sich, dass auch die maschinellen Bauteile biologische Vitalfunktionen besaßen. Seine Entdeckung passte zu der Struktur des Bauwerks. Alles auf dieser Welt lebte. Er fragte sich, ob diese Tatsache für den gesamten Aqua-Kubus Gültigkeit besaß. Nach allem, was er bisher gesehen hatte, lag die Vermutung nahe. »... Abweichungen in den baulichen Aufstockungen rückläufig...« Die Übersetzungseinheit von Darnoks Anzug hatte inzwischen genügend Informationen gesammelt, um die Sprache der hier aktiven Spezies umwandeln zu können. »... kommenden sechs Perioden werden die Zuchtimpulse stabil bleiben, danach müssen wir die Frequenzen erneut regulieren...« »Ich habe einen schwachen Abfall der luurischen Mentalschwingungen festgestellt «, antwortete eines der Wesen. »Wenn sich dieser Vorgang wiederholt, müssen wir die Königin warnen. Dann muss sich ein Schöpfer des Problems annehmen.« »Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt. Die Königin mag nur ein paar Räume von uns entfernt sein, aber ihr kennt ihre Zurückhaltung. Sie möchte selten gestört werden.« »Sei vorsichtig. Die Wände des Palasts haben Ohren...« »Ich fürchte, es interessiert sie gar nicht, was geschieht. Seit ihr der Gefangene überstellt wurde, beschäftigt sie sich fast nur mit ihm. Sie meldet sich nicht einmal mehr, um sich nach dem Fortgang unserer Untersuchungen zu fragen. Es heißt, er komme von außerhalb.« Darnok horchte auf. Bei diesem Gefangenen konnte es sich um
John Cloud handeln. Oder um einen der anderen, die mit in dem Karnut gereist waren. Seine Überlegungen hatten den Keelon also vielleicht in doppelter Hinsicht nicht getrogen. Er befand sich in einer Anlage von herausragender Bedeutung, augenscheinlich im Palast der hiesigen Dominanz, und er war auf der richtigen Fährte, was die Suche nach Cloud anging. Eine kurze Konsultation der Biosensoren unterstützte diese These. Trotzdem konnte er den genauen Ort, an dem Cloud sich aufhielt, nicht lokalisieren. Da die Wände und praktisch jeder Einrichtungsgegenstand über aktive Biowerte verfügten, war Darnok klar, woher diese Beeinträchtigung der Sensorenleistung rührte. »Ja, von außerhalb«, vernahm er wieder eine Stimme. »Eine Tatsache, die der Königin überhaupt nicht gefällt. Ich möchte nicht in den Schuppen dieses Fremden stecken.« »Angeblich besitzt er keine Schuppen, sondern eine glatte blasse Haut.« »Das rette t ihn auch nicht, wenn er im Verhör keine Auskunft gibt. Der Verrat von Schöpfer Rurkka belastet die Königin so sehr, dass sie noch keinen Großalarm ausgelöst hat. Sie hofft, dass die Patrouillen der Vaaren den Verräter finden, ohne dass ganz Tovah'Zara von diesem ungeheuerlichen Vorfall erfährt.« »Wir sollten nicht darüber reden. Vergiss nicht, dass wir Geheimnisträger sind. Ich möchte nicht eines verfrühten Todes sterben.« »Wir sind allein hier. Niemand erfährt von unseren Worten. Ich hätte Abhörvorrichtungen längst entdeckt, wenn es welche gäbe.« Nüchtern nahm Darnok die Informationen in sich auf, während er beobachtete, wie sich die Wesen, denen er gefolgt war, neu gruppierten. Sie sonderten sich von ihren Artgenossen ab und schwammen dem jenseitigen Raumende entgegen. »Wir müssen zur nächsten Protokammer«, verkündete eines von ihnen. »Ihr seid nicht die Einzigen, die Probleme haben.« Schnell setzte Darnok sich ebenfalls in Bewegung. Was er sah, bannte ihn in gewisser Weise, aber hier würde er keine weiteren Informationen über den Verbleib John Clouds erhalten. Er musste sich bei seiner Suche auf das Glück verlassen. Immerhin deutete nun einiges darauf hin, dass Cloud tatsächlich irgendwo in diesen
Räumen gefangen gehalten wurde. Die Wesen verlie ßen die Halle durch ein sich automatisch öffnendes Schott. Darnok huschte hinter ihnen durch die Öffnung. Für einen Moment war er abgelenkt, als es sich hinter ihm wieder schloss. Und so verlor er die Wesen aus den Augen. Vor ihm lag ein lang gezogener Schlauch, der zu beiden Seiten von regelmäßig angelegten Durchlässen gesäumt wurde. Sie öffneten und schlossen sich in rhythmischen Abständen. Darnok warf einen Blick durch eine Öffnung, konnte dahinter aber nichts Genaues erkennen. Nur eine stete Abfolge von Bewegungen war zu erahnen. Unzählige Geschöpfe wimmelten auf viel zu engem Raum durcheinander. Plötzlich stie ß eine schattenhafte Schnauze von der anderen Seite gegen die Aussparung, vermochte sie aber nicht zu durchdringen. Dann schloss sich der Durchlass wieder. Darnok fühlte sich an eine Zuchtstation erinnert, aber er konnte nicht einmal sagen, ob er Tiere oder Pflanzen, die sich bewegen konnten, gesehen hatte. Nach seiner Erfahrung mit den HybridPflanzen hielt er beides für möglich. Er untersuchte einige weitere Öffnungen mit dem gleichen entmutigendem Resultat. Es war nicht zu erkennen, was sich auf der anderen Seite befand. Darnok fragte sich, ob Cloud in akuter Gefahr schweben mochte. Die belauschte Unterhaltung hatte darauf hingedeutet. Darnok griff wieder auf die anzugeigenen Systeme zurück und glitt weiter. Vor ihm lag Schwärze, die unversehens gleißender Helligkeit wich. Waren die fremden Wesen dort verschwunden? Sein Schwung trieb den Keelon durch eine transparente Energiemembran. Ganz schwach fühlte er den Widerstand, ohne jedoch davon aufgehalten oder gar verletzt zu werden. Vor ihm funkelte ein farbenprächtiges Lichtermeer. Darnok schwebte über einem Abgrund, der bis weit in die Tiefe reichte. Anscheinend war der Palast um den natürlichen Abgrund herum errichtet worden, von dessen Existenz man von außerhalb nichts ahnen konnte. Wie zahlreiche ganz kleine Sonnen schwebten Lichtpunkte unter der Decke des gewachsenen Felsens. Vergeblich versuchte Darnok Kraftwerke oder andere Energiequellen auszumachen. Er entdeckte
keine. Wie das immer währende grüne Leuchten behielten auch diese Lichter das Geheimnis ihrer Kraftquelle für sich. Farbenprächtige Korallenstöcke waren zu sinnverwirrenden Kunstwerken zusammengefügt, die unbeweglich an festen Positionen im Wasser schwebten. Die Anordnung der Lichter verlieh ihnen einen zusätzlichen Zauber. Darnok hatte nur einen kurzen Blick dafür übrig. Schönheit war ein irrationaler Eindruck, der mit seinem Volk untergegangen war. Zu ganz seltenen Anlässen nur noch konnte sie dem Keelon einen Hauch ihrer Magie vermitteln. Er wollte sich abwenden. Im selben Moment wurde das Feuer auf ihn eröffnet. * Cloud wusste, dass Lovrena in ihm alles andere als einen harmlosen Fremden sah. Sie hielt ihn immer noch für einen Feind und Aggressor... Und mit diesem gewonnenen Eindruck hatte sie ihn allein gelassen. Seine Gedanken schienen ihm zu entgleiten. Orientierungslosigkeit erfasste ihn. Er fühlte das Erwachen der Gespenster in seinem Hirn - der Gespenster, die ihn nun schon eine Weile unbehelligt gelassen hatten, aber nicht verschwunden waren, natürlich nicht. Fremde Bewusstseinssplitter, »Nebenwirkungen« der noch auf der Erde erhaltenen Wissensimpla ntate... Es gelang ihm wider Erwarten, sie zurückzudrängen. Dennoch bereitete es ihm plötzlich Schwierigkeiten sich zu erinnern und zu erkennen, wo er sich befand. Wie in weiter Ferne gewahrte er sieben prächtige Kunstwerke an der Wand, Gemälde, die Symbole zeigten, von denen ein jedes für... ja, wofür stand? Es sind die Sieben Hirten. Wesen, die für die Vaaren offenbar etwas Gottgleiches darstellten. Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona. Cloud wandte den Blick ab, weil er, einhergehend mit dem Bilderstrom, eine flüchtige Berührung an seiner Brust gespürt hatte. Ein bezauberndes Lächeln dicht vor seinem eigenen Gesicht nahm
ihn gefangen. Lovrena! Sie war zurückgekehrt, und plötzlich sah er sie so, wie sie wirklich war. Die Härte und Unerbittlichkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden, und mit ihr sämtliche Distanz, die zuvor noch zwischen ihnen geherrscht hatte. Da Cloud die Wahrheit gesagt hatte, nichts als die Wahrheit, hatte sie auch keinen Grund, länger an ihm zu zweifeln. Entsprechend strahlte sie Dankbarkeit und Güte aus. Nie zuvor hatte Cloud jemanden gesehen, der ihn so magisch und unwiderstehlich angezogen hatte. Gegen ihre überirdische, sphinxhafte Erscheinung verblasste jede andere Frau. Ihr Körper drängte sich an seinen und vermittelte ihm die Wärme, die sie ausstrahlte. Beinahe schien sie in ihn einzudringen. Doch ihre sanfte, weiche Haut blieb auf der seinen kleben, ihre Arme umschlangen ihn wie in verlangendem Rausch, und ihre Nesselfäden jagten ihm unzählige Wonneschauer durch den Leib. »Ich war blind«, teilte sie ihm mit. »Von Anfang an hätte ich nicht an dir zweifeln dürfen. Aber noch ist es nicht zu spät für uns beide. Noch können wir neu beginnen.« Cloud spürte sein Blut kochen. Es rauschte durch seine Adern und pulsierte heftig in seinen Schläfen. In seinen Armen bebte es, in seinen Händen, die Lovrenas Schultern umfassten, war ein Kribbeln wie von tausend Ameisen. Seine Finger zitterten, während sie dem Verlauf ihrer Wirbelsäule folgten. Wirbelsäule? - Ein Gedanke, zu schwach, um sich durchzusetzen. »Ich wollte dich niemals belügen«, antwortete Cloud. »Ich werde dich niemals belügen, was auch immer geschehen mag.« Ihr Kopfschmuck, halb Haar, halb filigrane Fühler, strich über sein Gesicht. Das irisierende Gleißen vor seinen Augen drohte, ihm das Bewusstsein zu rauben, aber auf eine nie erlebte Weise glückseligen Taumels. Cloud war gleichzeitig innerhalb und außerhalb seines Körpers, auf eine seltsame Art verschmolz er mit Lovrena, die ihn freudig empfing. »Wir werden gemeinsam gegen unsere Feinde kämpfen«, bot sie ihm an. »Sobald ich mehr über sie weiß. Wir teilen unsere Informationen, du und ich, und wir werden auf ewig
zusammengehören.« »Ja«, erwiderte Cloud. »Das wäre schön.« Lovrenas Lippen fanden die seinen, und es war mehr als ein Kuss zwischen zwei Liebenden. Es war eine Vereinigung miteinander und mit dem Universum. Dies war das Ziel, das ihm schon als kleiner Junge vorgeschwebt hatte. Das Universum entdecken. Es fühlen und sein. Genau das geschah nun. Er erfuhr die Bedeutung allen Seins... »Dann sag mir jetzt, was ich wissen muss.« Wie von selbst strömten die Informationen aus Cloud heraus, ohne dass es ihm bewusst wurde. Alles, was er Lovrena bereits zuvor mitgeteilt hatte, beric htete er ihr noch einmal. Sie war die Frau, die er liebte, die Partnerin, die er sein Leben lang gesucht hatte. Er war hoffnungslos in Lovrena verliebt, und sie erwiderte dieses Gefühl... Bis sie ihn barsch von sich wegstie ß. »Das ist nicht alles«, fuhr sie ihn an. »Du sagst mir nur, was ich bereits weiß. Berichte mir endlich von dem, was du bisher verschwiegen hast. Was ist der wahre Grund eures Eindringens in unseren Lebensbereich?« Verständnislos blickte Cloud sie an. Er griff nach ihr, doch sie entzog sich ihm. Cloud stie ß einen verzweifelten Schrei aus und setzte ihr nach. Schlie ßlich ließ sie ihn wieder gewähren. »Aber du musst mir weitere Informationen geben«, drängte sie ihn. »Du weißt mehr über die Schiffe draußen, als du zugibst. Was wollen sie von uns? Sollst du uns ausspionieren? Wollen sie Tovah'Zara erobern? Komm, verrate es mir, und unsere einzigartige Verbindung wird bis ans Ende aller Zeiten dauern.« »Ja... ja!«, stammelte Cloud verzweifelt. Ein wilder Kampf tobte in seinem Innern, ein Kampf gegen sich selbst, ein Kampf den er nicht gewinnen konnte. Zerrissen von seiner Liebe zu Lovrena und der Erkenntnis, ihr nicht geben zu können, was sie von ihm verlangte, brach Cloud zusammen. Er merkte nicht, dass das Wesen Lovrena voller Verachtung auf ihn herabschaute. * »Der Schöpfer scheint überrascht zu sein«, sagte eine der
Gestalten. Scobee war nicht wohl in ihrer Haut. Sie registrierte einen Chor aufkommender Laute. Einige der Heukonen zogen sich zurück und tuschelten miteinander. Offenbar geschah genau das, was Rurkka hatte vermeiden wollen, nämlich dass sie Verdacht erregten. Doch durch seine Unbeherrschtheit war er es, der den Heukonen Anlass zum Misstrauen gab. Unauffällig stie ß sie Rurkka an. »Wir müssen den Auftrag der Vaaren erfüllen«, drängte sie ihn. »Wenn Sorkka bereits unterwegs ist, müssen wir uns beeilen, uns mit ihm zu treffen.« Der alte Luure sah sie an. Sie hatte den Eindruck, dass Verständnis in seinen Augen aufblitzte. Ja, sie mussten seinen Ziehsohn aufhalten oder ihm zuvorkommen, schien ihm zu dämmern. Falls dieser sein Ziel nicht bereits erreicht hatte. Zumindest waren sie ihm gegenüber im Vorteil. Sie wussten von seiner Anwesenheit im Wonak-Matul, während er noch ahnungslos war, was das Eintreffens des Altersweisen anging. Endlich löste sich Rurkka aus seiner Erstarrung. »Gebt Sorkka keinen Bescheid über mein Hiersein«, wandte er sich an die Heukonen. »Ich möchte ihm eine Überraschung bereiten.« »Er hat gesagt, im Auftrag der Königin zu kommen«, antwortete einer der Heukonen. »Er sagt, dieser Jarvis gehört ihm. Er hat die Genehmigung von Königin Lovrena, dessen Biomasse zu verwenden. Was ist denn mit diesen Fremden hier? Sollen wir sie ebenfalls untersuchen?« »Dieser Jarvis ist gefährlich«, sagte Rurkka rasch. »Die Fremden helfen uns, ihn unter Kontrolle zu halten.« »Wir haben ihn unter Kontrolle, er kann nicht entfliehen. Wenn du es wünschst, Schöpfer, veranlasse ich dennoch weitere Sicherheitsmaßnahmen.« Scobee atmete erleichtert auf. Das bedeutete zumindest, dass Jarvis noch le bte. Doch Rurkkas Vorgehen hielt sie für ungeschickt. Da die Heukonen noch nichts von seinem Verrat ahnten, sondern ihn offenbar verehrten, hätte er jede Diskussion im Keim ersticken müssen. Stattdessen lie ß er sich in die Ecke drängen. »Nicht nötig«, mischte sie sich ein. »Aber der Schöpfer muss unverzüglich zu Jarvis geführt werden, um Sorkka vor ihm zu
warnen.« Der Heukone schwieg. Es war nicht zu übersehen, dass ihm die ganze Sache merkwürdig vorkam. Scobee registrierte Resnicks Anspannung. Zwar hatte er sich unter Kontrolle, war aber bereit, jederzeit loszuschlagen. Sie hatte den Eindruck, dass der Heukone Resnick und sie intensiv musterte. Wahrscheinlich fragte er sich, wieso Jarvis wie ein Feind behandelt wurde, andere von seiner Rasse aber Verbündete darstellten, die in Begleitung eines Schöpfers und sogar der Vaaren reisten. »Ich möchte mit den Vaaren reden«, sagte er schlie ßlich. Die Worte waren wie ein Schlag. Resnick machte einen Schritt nach vorn und hob die Arme. Rasch deutete Scobee ein Kopfschütteln an, worauf er innehielt. Nun kam alles auf Rurkka an. Machte er einen Fehler, war die Rettungsmission bereits im Ansatz gescheitert. Schweigen war unter den Heukonen eingetreten, scheinbar waren auch sie von der Entwicklung und den Ansinnen der Forderung ihres Wortführers überrascht. »Nein!«, bellte Rurkkas ärgerliche Stimme. »Wer bist du, dass du dir eine solche Forderung erdreistest? Die Vaaren wollen nicht mit dir reden.« Verächtlich streifte sein Blick über die versammelten Wissenschaftler hinweg. »Die Vaaren möchten mit keinem von euch reden. Haben sie euch das nicht gesagt? Sie wünschen, dass ich, der Herr über die Protowiesen, mich um diese Angelegenheit kümmere. Wie könnt ihr es wagen, die Wünsche der Vaaren in Frage zu stellen?« Na also, dachte Scobee. Es geht doch! Während Rurkka eine Pause machte, zogen sich die ersten Heukonen unauffällig zurück und widmeten sich wieder ihren unterbrochenen Tätigkeiten, als sei nichts geschehen. Wieder war Scobee beeindruckt von der Macht, über die die Vaaren geboten. Allein ihre bloße Nennung reichte aus, ihre Hilfsvölker in die Schranken zu weisen. Dennoch verstrich wertvolle Zeit, die dem jungen Sorkka einen Vorsprung verschaffte. Er hatte sie und Resnick töten wollen, um aus ihnen sein Meisterstück als Schöpfer zu gestalten. Da sie ihm entkommen waren, hatte er sich nun wohl Königin Lovrenas Einverständnis
eingeholt, sich an dem ahnungslosen Jarvis schadlos halten zu dürfen. »Wir wollen nur behilflich sein, Schöpfer«, erklärte der Heukone. »Wenn eure Hilfe erwünscht ist«, polterte Rurkka, »werde ich es euch sagen. Ansonsten habt ihr euch um eure ureigenen Angelegenheiten zu kümmern. Oder muss ich den Vaaren mitteilen, dass ihr eure Arbeit vernachlässigt, sobald ihr Besuch erhaltet?« Seine Worte zeigten Wirkung. Rasch zogen sich auch die letzten Heukonen zurück. »Du nicht«, hielt Scobee den Wortführer zurück. »Du hast nun die Gelegenheit, dem Schöpfer zu helfen, wenn du nicht vollends in Ungnade fallen willst. Führe ihn zu Jarvis.« Eilig setzte sich der Heukone in Bewegung. Rurkka und die GenTecs folgten ihm mit gemischten Gefühlen. Bisher hatte ihr Bluff funktioniert, doch die Wahrheit konnte das Wonak -Matul jederzeit erreichen. Spätestens wenn sie auf Sorkka trafen.
5. Dunkelheit umgab Jarvis, obwohl er die Augen geöffnet hatte. Das grüne Leuchten war bis auf ein Minimum reduziert und hüllte die Umgebung ins Ungewisse. Oder lag seine eingeschränkte Sicht an ihm selbst? Er war sich nicht sicher, ob er wach war, schlief oder sich in einer Art Schwebezustand dazwischen befand. Undeutlich erkannte er bizarre Einrichtungsgegenstände an den Wänden, wissenschaftliche Geräte - mit denen er untersucht und getestet worden war? Er versuchte, sich an ihre Funktionen zu erinnern, scheiterte aber an einer großen Leere in seinem Gehirn. Wer waren die Fremden, an die er sich erinnerte? Weshalb hatten sie ihn entführt? Und was hatten sie mit ihm angestellt? Er konnte sich erinnern, ihnen entkommen zu sein, aber sie hatten ihn schnell wieder eingefangen. Offenbar war ihm die Flucht nur gelungen, weil sie es so gewollt hatten. Sie hatten seine Reaktionen studiert, und er hatte mitgespielt, ohne es zu ahnen. Jarvis registrierte eine huschende Bewegung und erkannte eines
der kleinwüchsigen Wesen. Er befürchtete, dass es kam, um die Untersuchungen fortzuführen, doch dann verschwand es wie es gekommen war. Jarvis war wieder allein in seinem Kerker. Er lag auf dem Rücken, festgeschnallt auf einer Art Liege. Metallische Greifarme mit martialisch aussehenden Werkzeugen ragten von einem Podest hinter seinem Kopf in sein Blickfeld. Möglicherweise handelte es sich um Sonden, die seine Körperfunktionen überwachten. Oder sie dienten einem ganz anderen Zweck, den er lieber nicht ergründen wollte. Über ihm schwebte eine durchsichtige Halbkugel, bei der ihn eine bedrohliche Ahnung befiel, doch wieder versagte sein Erinnerungsvermögen. Mit aller Kraft rüttelte Jarvis an den Fesseln, die ihn hielten. Sie waren nicht einfach nur an der Liege befestigt, sondern bildeten eine Einheit mit ihr, so als wuchsen sie buchstäblich daraus hervor. Er bäumte sich auf. Seine Muskeln zeichneten sich unter dem Schutzanzug ab, doch er kam nicht frei. Die Fesseln widerstanden. Der GenTec realisierte endgültig seine erbärmliche körperliche Verfassung. Offenbar war er am Ende seiner Kräfte. Wie lange konnte er noch durchhalten? Zwar waren seine Kräfte denen eines normalen Menschen um ein Mehrfaches überlegen, doch irgendwann streikte selbst der leistungsfähigste Metabolismus. Er fragte sich, was aus seinen Freunden geworden war. Lebten sie überhaupt noch? Oder waren sie ebenfalls den Wesen in die Hände gefallen, die ihn malträtierten? Wenn es ihnen gut ging und sie in Freiheit waren, suchten Cloud, Scobee und Resnick unter Garantie nach ihm, daran hatte er keinen Zweifel. Doch seine Hoffnungen, dass sie ihn jemals fanden, schwanden mit jeder verstreichenden Minute. Sein Zeitempfinden war gestört. Weder gab es einen Wechsel von Tag und Nacht, an dem er sich hätte orientieren können, noch hatte er Zugriff auf die Instrumente seines Anzugs. Allein die Luftversorgung funktionierte, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis auch sie ihre Tätigkeit einstellte. Oder bis die Fremden auf die Idee kamen, ihn sich näher anzusehen - den für sie Fremden... Er hatte mit dem Gedanken gespielt, seine Winterschlaffähigkeit einzusetzen, um sich quasi tot zu stellen und gleichzeitig seine Kräfte zu regenerieren. Doch genau damit hätte er sich vielleicht sein eigenes Grab geschaufelt. Denn wenn die Fremden ihn für tot
hielten, gab es keinen Grund mehr, seinen Anzug geschlossen zu halten. Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Als er den Kopf ein wenig anhob, registrierte er eine Bewegung im Zwielicht. Unbemerkt war ein Wesen in den Raum getreten. Es war anders als die Kleinwüchsigen, die er zuvor gesehen hatte. Es erinnerte ihn an einen mannsgroßen, aufrecht gehenden Salamander, der mit flinken Bewegungen auf ihn zugeschwommen kam »Ich bin Sorkka«, sagte das Wesen in verständlicher Sprache. »Ich freue mich, dass wenigstens du mir geblieben bist. Die anderen sind fort, aber aus dir werde ich mein Meisterwerk schaffen. Das edelste Objekt, das je ein Luure formte... Künftig wird niemand mehr von Rurkka sprechen. Wenn man die kreativsten Schöpfer erwähnt, dann wird nur noch von Sorkka die Rede sein.« Verzweifelt schloss Jarvis die Augen. Er begriff kein Wort, aber er hatte das unangenehme Gefühl, dass ihm das Schlimmste erst noch bevorstand. * Der Heukone führte Rurkka und die Menschen durch lange Gänge und zahlreiche Einrichtungen. Drei weitere Heukonen hatten sich ihnen aus falsch verstandenem Pflichtgefühl angeschlossen. Rurkka hatte nicht gewagt, sie zurückzuweisen, um kein weiteres Misstrauen zu wecken, eine Entscheidung, die Scobee für richtig hielt. Überall waren die Wissenschaftler mit ihren Forschungen beschäftigt. Viele, die ihnen begegneten, hielten inne und schauten ihnen nach. Scobee konnte nicht entscheiden, ob die Verwunderung über ihre und Resnicks Anwesenheit größer war oder darüber, den leibhaftigen Herrn über die Protowiesen zu Gesicht zu bekommen. Niemand wusste, dass Rurkka inzwischen andere Ziele verfolgte. Anderenfalls hätte man sie ä l ngst aufgehalten. Scobee versuchte, sich nicht auszumalen, was ihnen im Falle einer neuerlichen Gefangennahme drohte. Sie und Resnick würden Sorkka zur weiteren Verwendung zur Verfügung gestellt werden - eine Ehre, auf die sie keinen gesteigerten Wert legte.
Ihr Führer beeilte sich und wagte nicht, noch einmal das Wort an den Luuren zu richten. Er hoffte wohl, sich trotz seiner anfänglichen Respektlosigkeit glimpflich aus der Affäre ziehen zu können. Rurkka hingegen würdigte ihn keines Blickes und gab ihm durch seine Körpersprache zu verstehen, dass es schlecht um die Karriere des Heukonen bestellt war, sofern er sich noch einen einzigen Fehler erlaubte. Schließlich erreichten sie einen weiteren Trakt. Eine Membran versperrte ihnen den Weg, ähnlich jener, durch die Rurkka die Protomaschinen in ihre Zelle geschickt hatte, um ihnen die Fähigkeit zu verleihen, unter Wasser zu atmen. Unbewusst hielt Scobee inne, doch Rurkka und die Heukonen wurden nicht langsamer, sondern durchdrangen die schwach schillernde Membran, als sei sie überhaupt nicht vorhanden. Scobee gab sich einen Ruck und folgte ihnen. Übergangslos änderte sich die Umgebung auf der anderen Seite. Auch hier herrschte das grüne Leuchten vor, aber es war viel dunkler. Schmalere Gänge als zuvor führten in verschiedene Richtungen und verloren sich schon nach kurzer Entfernung in der Dunkelheit. Selbst die Wände machten einen düsteren Eindruck. »Wie in einem Gefängnis«, bemerkte Resnick. »Ich würde eher sagen, wie in einem mittelalterlichen Verlies«, erwiderte Scobee. »Ich frage mich, ob man uns hier etwas vorgaukelt, was vor unserer Ankunft so gar nicht da und nötig war...« »Korrekt. Jeder Besucher sieht diese Kammern anders.« Rurkka verringerte sein Tempo und wartete, bis die Heukonen die Führung übernommen hatten. Allein hätte auch er sich in diesem Bereich verlaufen. »Wir haben jetzt den inneren Kreis erreicht. Nicht jeder hat hier Zutrittsberechtigung.« Dennoch war der Eingang mühelos zu passieren. Scobee fragte sich, ob das an einer bestimmten Aura des Schöpfers oder den sie begleitenden Heukonen lag. Oder war die allgemeine Disziplin an diesem Ort so groß, dass niemand auf die Idee kam, einen Fuß dorthin zu setzen, wo er nichts zu suchen hatte? Bei der Willfährigkeit und dem Gehorsam dieser Wesen war auch dies durchaus denkbar.
»Das sind die Unterkünfte für Gäste«, fuhr Rurkka fort. »Hier drin sind sie sicher.« »Sicher? Du meinst sicher aufgehoben, damit sie nicht fliehen können«, warf Resnick ein. »Mit anderen Worten: wir haben den Zellentrakt für eure Gefangenen erreicht. Allzu weit scheint mir eure Zivilisation nicht fortgeschritten zu sein.« Scobee, die gleich neben ihm schwamm, versetzte Resnick einen Stoß. Zwar reagierten die Heukonen nicht, aber fraglos wunderten sie sich darüber, welchen Tonfall ein Fremder dem allseits geachteten Schöpfer gegenüber anzuschlagen wagte. »Ist es noch weit?«, fragte Rurkka. »Wir sind gleich da, Schöpfer.« Der Wortführer der Heukonen bog rechts in einen düsteren Gang ein, dessen Wände von braunen Algen bewachsen waren, und folgte ihm bis zum Ende, wo er vor einer markierten Fläche innehielt. Er berührte die Markierungen in bestimmter Reihenfolge. Scobee nickte unmerklich. Hier taten sich die Wände also nicht einfach vor einem auf. Wenn sich auf der anderen Seite tatsächlich ein Verlies befand, hätte der Gefangene ansonsten ja auch mühelos entkommen können. Dann öffnete sich vor ihnen ein Stück der Wand. Auch im dahinter liegenden Raum herrschte Zwielicht. Trotzdem erkannte Scobee eine Art Liege, auf der ein Mensch festgeschnallt war. Ihr Herz übersprang einen Takt. Es konnte sich nur um Jarvis handeln. Allerdings konnte sie nicht erkennen, wie es ihm ging, denn er bewegte sich nicht. In diesem Moment geriet ein Luure in ihr Blickfeld. Scobee glaubte nicht, die salamanderartigen Wesen auseinander halten zu können, trotzdem hätte sie geschworen zu wissen, um wen es sich handelte. »Sorkka!«, rief Rurkka auch schon mit bebender Stimme. * Cloud vernahm einen wummernden Bass, bis er begriff, dass es der in seinem Kopf wütende Schmerz war, der das vermeintliche Dröhnen erzeugte. Noch immer war sein Bewusstsein getrübt, die Wirklichkeit wie in weite Ferne gerückt. Was war geschehen?
Allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Als er die Augen aufschlug, bohrte sich etwas wie Eis in seine Eingeweide. Er saß wieder auf dem Stuhl, und Lovrena schwebte vor ihm im Wasser. Sie hatte sich von ihm entfernt. Aber wieso? Er hatte doch erfahren, dass sie seine Gefühle erwiderte. Wieso also lag sie nicht in seinen Armen? Regungslos betrachtete sie ihn, nicht wie einen Mann, den sie liebte, eher wie ein Forschungsobjekt. Wie ein... Insekt. Instinktiv wollte Cloud sich erheben, um sie in die Arme zu nehmen, aber ihr abweisender Gesichtsausdruck hielt ihn zurück. Die Kälte, die von ihr ausstrahlte, versetzte ihm einen Stich. »Du bist stark«, sagte die Königin. »Ich verstehe nicht, wie es dir gelingt, dich mir zu widersetzen. Noch kein Wesen hat das vor euch geschafft.« Euch? Es fiel Cloud schwer, ihren Worten zu folgen. Sein Herz raste vor Begierde, und alles in ihm drängte nach ihrer Berührung. Seine Zuneigung drohte, ihn zu übermannen. Es gelang ihm nicht, den Blick von ihr abzuwenden. Ihre unfassbare Schönheit ließ ihn erschauern. »Ich widersetze mich nicht. Ich habe dir alles gesagt, was es zu sagen gibt.« Nach wie vor war der Monitor, auf dem er einen Blick in den Weltraum erhaschte, aktiv. Zu seinem Entsetzen sah er, dass die irdische Flotte noch größer geworden war, und stetig stie ßen weitere Einheiten dazu. »Du lügst!« Lovrenas Gedanken waren wie ein Schlag. »Was macht dich so wertvoll für die Menschen, dass sie eine derartige Flotte entsenden, um dich zu befreien?« »Du irrst dich. Sie wollen mich nicht befreien. Ich kenne die Menschen - falls es Menschen sind - auf den Schiffen nicht. Warum auch immer sie hier sind, sie sind es nicht meinetwegen.« Wieder hatte er Zweifel, ob das der Wahrheit entsprach. Zweifel, die sich auf Lovrena übertrugen. Unweigerlich. Sie forderte ihn auf: »Dann nenn mir den wahren Grund.« »Ich kenne ihn nicht - vielleicht weißt du viel mehr darüber als ich.« »Ergründe deine Gefühle, John Cloud. Du kannst mich nicht
hintergehen, und in Wahrheit willst du das auch gar nicht.« Langsam wich Clouds Verwirrung. Die Erscheinung vor ihm besaß eine gewisse Faszination, keineswegs jedoch die unendliche Schönheit, von der er sich überwältigt geglaubt hatte. Cloud durchschaute den Schwindel, aber ein Rest von Zweifel blieb. Noch immer war eine undefinierbare Wärme in ihm, eine Hingabe, wie er sie lange niemandem entgegengebracht hatte. Doch er musste sich von diesem Einfluss befreien, um wieder Herr seiner Sinne zu werden. Lovrena hatte ihn umgarnt und offenbar mit mentalem Druck eine Zuneigung erzeugt, die gar nicht existierte. »Nein! Es stimmt nicht. Du hast mir etwas vorgegaukelt!«, rief John. Nebel senkte sich über Clouds Verstand. Sofort waren die Gefühle wieder da. Sie übermannten ihn und drohten, ihm das Herz zu zerreißen. Cloud schrie innerlich auf. Lovrena gab nicht auf. Erneut setzte sie ihre sirenenhafte Macht ein, um ihn zu verführen, doch diesmal war er darauf vorbereitet. »Niemals! Ich falle nicht mehr darauf herein. Du musst dir etwas anderes einfallen lassen. Aber ich versichere dir, dass ich dir alles gesagt habe. Du hast selbst behauptet, dass es niemandem gelingt, sich dir zu widersetzen. Du weißt, dass du auf deine mentale Kraft vertrauen kannst. Dann tu es auch in diesem Fall. So wie jeder andere habe auch ich mich deiner Macht gefügt.« »Ich würde dir gern glauben, aber ich kann es nicht. Du verfügst über eine besondere Gabe, die dich immun macht gegen meine Macht. Aber wiege dich nicht in Sicherheit. Ich besitze noch ganz andere Möglichkeiten.« Cloud konnte sich denken, worauf die Königin hinauswollte. »Es ist sinnlos, mich zu foltern. Auch dann kann ich dir nicht mehr verraten.« Plötzlich stürzte Lovrena auf ihn herab. Ihr liebliches Gesicht verwelkte und verzerrte sich zu einer Maske des Todes. Ein silbriger Schweif folgte ihr nach, als sie Cloud wie ein Orkan streifte. Cloud stürzte von seinem Stuhl zu Boden. Wie eine Furie, die nichts Menschliches mehr an sich hatte, raste sie über ihn hinweg - nun wieder ein geisterhafter Schemen, unwirklich und ungreifbar. Cloud rappelte sich auf. Sah so die Vaaren-Königin in Wahrheit aus - oder war auch dies
nur Blendwerk? Nichts war geblieben von ihrer Maske aus Freundlichkeit und Sympathie. Sie gebärdete sich so wild, dass Cloud befürchtete, sie würde die Kontrolle über sich verlieren. Was immer er auch einmal für sie empfunden hatte, es war erloschen. Was er geglaubt hatte, f ür sie zu empfinden! Denn natürlich war es nicht so gewesen. Cloud war froh, wieder er selbst zu sein. Ein zweites Mal würde Lovrena eine solche Charade nicht gelingen. »Du irrst.« Lovrenas Botschaft kam wie Peitschenhiebe über ihn. »Ich werde dich nicht nur foltern, sondern töten. Es macht mir nicht das Geringste aus. Doch bevor du stirbst, wirst du mir alles offenbaren, was ich wissen will. Sieh endlich ein, dass dein Widerstand keinen Zweck hat. Was immer dein Plan war, er ist gescheitert. Du hast nur noch eine Chance, dein Leben zu retten, und wenn schon nicht deines, dann zumindest das deiner Freunde. Öffne dich mir!« Ein weiterer Bluff, erkannte Cloud. Denn Lovrena konnte seinen Freunden nichts antun. Scobee und Resnick waren, vermutlich dank fremder Hufe, auf der Flucht - und Darnok ebenso. Nur um Jarvis musste er sich Sorgen machen, aber Cloud war überzeugt, dass die beiden in Freiheit befindlichen Gefährten ihren Kameraden nicht im Stich lassen würden. Seine Gedanken wurden ausgelöscht, als eine flammende Woge puren Schmerzes durch seinen Körper raste und ihn ausradierte. * Eine rötlich irisierende Spirale fraß sich durch das Wasser und kam auf Darnok zu. Dort, wo der Keelon sich eine Sekunde zuvor noch aufgehalten hatte, verdampfte der Energiestrahl einen Teil der Wand. Urplötzlich waren die Angreifer hinter den Korallen aufgetaucht. Ohne Vorwarnung hatte einer von ihnen das Feuer eröffnet - was nichts anderes bedeutete, als dass er seinen Zeitschirm vernachlässigt hatte... Die anderen vier hielten sich im Hintergrund, sie trugen keine erkennbaren Waffen.
Darnok konzentrierte sich, stie ß sich ab und raste in die Tiefe. Er hielt auf einen Korallenstock zu, auch wenn dieser ihm nicht lange Schutz bieten konnte. Ein einziger direkter Treffer würde ihn in Stücke sprengen. Und wenn der Zeitschirm vollends versagte... Doch das tat er nicht. Darnok war wieder unsichtbar. Selbst seine Fortbewegung hinterlie ß im Wasser kaum Spuren. Darnok nahm Geschwindigkeit zurück und beobachtete die Verfolger. Ein neuerlicher Schuss - der wiederum fehlging. Das Wesen sah ihn nicht, ahnte ihn bestenfalls. Darnok änderte seine Strategie. Statt seine Flucht fortzusetzen, beschrieb er einen Bogen, der ihn hinter die Angreifer brachte. Gleichzeitig aktivierte er die leistungsstarken Richtmikrofone, die mit den anzugeigenen Übersetzungseinrichtungen gekoppelt waren. »Du irrst dich«, vernahm Darnok eine Stimme, die nicht an ihn gerichtet war. »Ich irre mich nicht. Ihr habt doch selbst gesehen, dass etwas die Membran hindurch durchdrungen hat.« »Wir haben ein Pulsieren der Membran gesehen, mehr nicht. Vielleicht müssen wir sie ebenfalls einer eingehenden Untersuchung unterziehen.« »Die Membranen werden nicht von Zuchtimpulsen gesteuert«, wehrte das Wesen mit dem Strahler ab. »Jemand verfolgt uns schon seit einer ganzen Weile. Ich spüre es.« »Du spürst es.« Hohn klang in den Worten mit. »Ein Unsichtbarer, der uns verfolgt? Den nur du bemerkst? Wenn es einen Eindringling gäbe, hätten die Wächter ihn längst entdeckt und vor Königin Lovrena geschleppt. Wer soll denn dieser Unsichtbare sein?« Eine zögerliche Pause trat ein, als hätte der Bewaffnete keine plausible Antwort. Darnok hatte sich der kleinen Gruppe inzwischen bis auf kurze Distanz genähert. Ihm gefiel nicht, dass die Wesen Verdacht geschöpft hatten. Er fragte sich, von welchen Wächtern sie sprachen. Bisher waren ihm keine aufgefallen, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht ebenso plötzlich vor ihm stehen konnten wie diese Wesen hier. »Vielleicht dieser Rurkka«, verteidigte der Bewaffnete seinen Standpunkt. »Wer weiß, wozu die Schöpfer fähig sind.«
»Die Luuren sind keine Götter. Mir haben die Legenden, die um sie gestrickt wurden, niemals gefallen. Sie haben eine besondere Gabe, na und?« Aufgeregtes Gemurmel setzte unter ihnen ein. Darnoks Systeme konnten es nicht übersetzen. Schlie ßlich drang zu ihm: »Die Schöpfer kennen viele Wege, die Materie der Protowiesen zu gestalten. Bestimmt hat dieser Rurkka eine Möglichkeit gefunden, ein Feld zu formen, das ihn unsichtbar macht. Ich glaube, dass er es ist, der uns verfolgt.« »Welchen Grund sollte er dafür haben?« »Vielleicht will er die Königin ermorden. Es heißt doch, er sei verrückt geworden. Ich werde Königin Lovrena vor ihm warnen.« Darnok ließ das Wesen nicht aus den Augen. Es war richtig gewesen, diesen Geschöpfen zu folgen. John Cloud war offenbar Gefangener erwähnter Königin. Möglicherweise führte das Wesen ihn genau zu ihm. Darnok durfte sich keinen weiteren Fehler leisten, keine noch so kleine Schwäche, mit der er das Tarnfeld vernachlässigte. »Ich werde dich nicht begleiten. Ich habe gehört, was die Königin mit denen macht, die sie belästigen.« Auch die anderen wandten sich ab und verschwanden zwischen den Korallen. Schlie ßlich blieb nur noch das Wesen zurück, das auf Darnok geschossen hatte. Es hielt den Strahler fest in der Hand. Wenn Darnok gewollt hätte, hätte er es jetzt wahrscheinlich mühelos überwältigt, aber er wagte es nicht. Es verharrte noch eine Weile an Ort und Stelle, und der Keelon erkannte, dass es nach allen Richtungen spähte. Vermutlich wähnte sie den Verfolger noch in seiner Nähe. Es war misstrauischer, als er gedacht hatte. Als es sich endlich in Bewegung setzte, hielt er respektvollen Abstand, allerdings nie so viel, dass er es zwischen den Korallen-Wundern aus den Augen verlor. Das Wesen glitt in die Tiefe. Darnok zögerte nicht, ihm zu folgen. Wartete dort unten Königin Lovrena? * Unruhe kam unter den Heukonen auf. Sie wurden zu Boden
geschleudert, als eine menschlic he Dampframme sie achtlos zur Seite stie ß und durch die Öffnung raste. Resnick stie ß Sorkka von den Beinen, dessen Schuss sich in die Decke bohrte, ohne Schaden anzurichten. Mit geschmeidigen Bewegungen suchte Sorkka hinter der Liege Schutz und versuchte, auf sein Ziel anzulegen. Doch mit der unglaublichen Schnelligkeit seiner angezüchteten Reflexe gelang es GT-Resnick, nicht getroffen zu werden. »Rurkka, du musst Jarvis losbinden!«, rief Scobee und warf sich auf die Heukonen, die eben versuchten, sich zu erheben. Offenbar hatten sie noch gar nicht richtig begriffen, was geschah. Doch nun wurden sie munter. Sie versuchten, in verschiedene Richtungen auszuweichen und dabei gleichzeitig ihre Waffen zu ziehen. Doch sie waren viel langsamer als Scobee. Zwei von ihnen bekam sie zu fassen. Die Waffen entglitten ihnen, als sie die Heukonen mit voller Wucht gegeneinander krachen lie ß. Der Dritte suchte das Weite. Scobee hörte, dass er Hilfe anforderte. Einen Herzschlag lang dachte sie daran, ihn zu verfolgen, dann hielt sie inne. Es war zu spät, in Kürze würde Verstärkung auftauchen. Wenn sie Jarvis bis dahin nicht befreit hatten, saßen sie in der Falle. Rurkka hatte sich an die Wand geschmiegt. Er schien zu keiner Bewegung fähig, lediglich sein Reptilienschwanz zitterte aufgeregt hin und her. Scobee ignorierte ihn, damit er sich beruhigen konnte, und schwamm durch die Öffnung, die sich zum Glück nicht wieder schloss. Wahrscheinlich bedurfte es auch dazu eines mechanischen Auslösers. Aus dem Dunkel tauchte Resnick auf. Als eine rötliche Strahlenbahn sich ihren Weg durchs Wasser fraß, sah Scobee, wie er gedankenschnell über die Liege huschte und Sorkka mit einem harten Schlag außer Gefecht setzte. Bevor der junge Luure überhaupt begriff, wie ihm geschah, sackte er bewusstlos in sich zusammen. Ein Stöhnen lenkte Scobee ab. Es stammte von Jarvis, der leicht den Kopf hob. »G.T.«, stieß sie aus. »Wir holen dich hier raus.« »Ihr... ihr atmet unter Wasser? Wie ist das... möglich?«
»Keine Fragen jetzt. Zunächst müssen wir zusehen, dass wir heil hier rauskommen.« Jarvis sah schrecklich aus. Trotz seiner übermenschlichen Konstitution wirkte sein Gesicht eingefallen, und er schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Tiefe Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet. Er blickte Scobee matt an. Dennoch brachte er ein schwaches Lächeln zustande, als sich Scobee an den Fesseln zu schaffen machte. Sie fand keine Möglichkeit, sie zu öffnen. »Endlich«, brachte Jarvis mühsam hervor. »Ich dachte schon, ihr hättet mich vergessen.« Sein Blick flatterte, als er ihr vergebliches Tun bemerkte. »Die kriegt man nicht auf. Ich habe es auch schon versucht.« »Jetzt soll unser Wunderknabe mal zeigen, was er kann«, mischte sich Resnick ein. Er riss einige der kranähnlichen Ausleger aus ihren Halterungen, die sich als wesentlich weniger widerstandsfähig erwiesen. »Rurkka!« schrie Scobee, und endlich tauchte der alte Luure in der Öffnung auf und glitt ins Innere der Zelle. »Hilf mir! Ich bekomme diese Fesseln nicht auf.« »Wunderknabe?«, fragte Jarvis verwirrt. »Der sieht genauso aus wie dieser Verrückte, der ein großes Meisterwerk aus mir formen wollte. Was denn für ein Meisterwerk? Versteht das irgendwer?« Rurkka hielt inne und betrachtete die Liege mit dem Gefangenen darauf. »Unternimm endlich etwas!«, forderte Scobee ihn auf. Sie hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als Jarvis sich stöhnend aufrichtete. »Schon passiert«, entgegnete Rurkka. Die Fesseln waren verschwunden, als hätten sie nie existiert. »Das reinste Kinderspiel. Aber es wird uns nichts nützen, denn bald werden die Heukonen kommen. Ihr mögt noch so stark sein, aber sie sind bewaffnet und uns an Zahl weit überlegen.« »Dann sollten wir hier keine Wurzeln schlagen.« Resnick war bereits wieder an der Öffnung und spähte in den dahinter liegenden Gang. »Keine Wurzeln schlagen?«, fragte Rurkka verständnislos. »Verschwinden«, erklärte Jarvis mit krächzender Stimme. »Und
zwar bevor diese Heu-wie-auch-immer hier auftauchen.« »Schon etwas von ihnen zu sehen?«, fragte Scobee an Resnick gewand, während sie Jarvis mit sich zog. »Noch nicht, aber es kann nicht mehr lange dauern. Dann laufen wir ihnen genau in die Arme.« Resnick stutzte. »Ich korrigiere mich, da sind sie schon!« Ehe er sich versah, war die Öffnung verschwunden. »Das war ich«, sagte Rurkka. »Wir müssen in die andere Richtung.« »In die andere Richtung?« Jarvis schüttelte den Kopf. »Was redet der Kerl denn da? Es gibt keine andere Richtung.« »In jeder Richtung gibt es Fluchtmöglichkeiten«, belehrte ihn Rurkka. Er konzentrierte sich auf die rückwärtige Wand. Ihre Struktur zu erfassen und sie zu verändern war eins für den Schöpfer. Da er nichts daraus kreierte, sondern sie lediglich zur Auflösung brachte, ging es noch schneller. »Ein Schlupfloch.« Jarvis deutete zu der Stelle, wo eben noch scheinbar undurchdringliches Gemäuer gewesen war. »Wie macht euer Wunderknabe das?« »Erkläre ich dir später. Raus jetzt hier.« Resnick hielt Sorkkas Strahler in der Hand und deutete damit auf den ursprünglichen Eingang. »Die Wand beginnt zu glühen. Gleich sind sie durch.« »Die Heukonen haben begriffen, dass ich den Öffnungsmechanismus unbrauchbar gemacht habe«, bestätigte Rurkka. Er kletterte als Erster durch die von ihm geschaffene Öffnung. »Sie brennen sich einen Weg frei.« Scobee half dem geschwächten Jarvis bei der Kletterpartie, schlie ßlich folgte Resnick. Hinter ihnen brachen die Heukonen durch die Protowand. Wie eine Flut ergossen sie sich in den Kerker und eröffneten sofort das Feuer. Resnick als Nachhut zögerte nicht. Er schoss und traf einen der Heukonen mitten in die Brust. Mit einem gurgelnden Aufschrei wurde das Wesen zurückgeworfen und behinderte die anderen für einen Augenblick. Dann stie ßen sie umso wütender vorwärts. Rechts und links neben Resnick bohrten sich irisierende Strahlenbahnen in die sich verflüssigenden Wandstellen. »Ich kann sie nicht aufhalten!«, schrie Resnick. »Es sind zu
viele!« Jeden Moment erwartete er, dass sich einer der Strahlen in seinen Körper fraß. Vor ihm kam Jarvis nur langsam voran. Trotz Scobees Hilfe stolperte er mehr als er lief. Diesen Waffen hatte selbst ein drahtiger, im Nahkampf kaum zu bezwingender GenTec nichts entgegenzusetzen. Resnick schloss mit seinem Leben ab, als die Heukonen auf ihn zurückten. Dann verschwanden sie vor seinen Augen. Alles, was er sah, war eine undurchdringliche Wand, hinter der die Helfer der Vaaren zurückblieben. Resnick hielt inne und versicherte sich, dass sich die Lage nicht erneut änderte, aber die Heukonen brachen nicht durch die Barriere hindurch. Hinter ihm wuchs die Protomaterie weiter zusammen und verdickte die Mauer, die zwischen Verfolgern und Verfolgten lag. Rurkka, schoss es Resnick durch den Kopf. Das hat der alte Knabe gut gemacht! Mit diesem Gedanken folgte der GenTec seinen Gefährten. * Auch weiter unten in der Tiefe waren die Lichtpunkte sauber angeordnet. Sie verteilten ihren hellen Schein so gleichmäßig, dass der Schacht unter dem Planetenboden gleichmäßig beleuchtet war. Dabei gaben sie kaum Wärme ab, stellte Darnok fest, als er in unmittelbarer Nähe eines der Lichter vorbeischwamm. Mit zunehmender Distanz zur Oberfläche stie ß er auf immer mehr der Korallenstöcke. Sie waren zu imposanten Arrangements zusammengefügt. Auf jeder anderen Welt hätte ein Lebewesen bei dieser Wassertiefe längst vor dem Druck kapitulieren müssen, doch im Aqua-Kubus herrschten andere Verhältnisse. Eigentlich hätte der gesamte Kubus unter dem eigenen Druck kollabieren und jedes Gebilde in seinem Innern zerquetschen müssen. Zu gern hätte Darnok die Mechanismen erkundet, die diesen physikalischen Gesetzmäßigkeiten entgegenwirkten. Er stie ß ein unbewusstes Geräusch aus. Er hatte dieses Dilemma als unermüdlicher Forscher schon häufig kennen gelernt. Immer wieder begegneten ihm Phänomene, deren Erforschung lohnenswert gewesen wäre. Doch wie sollte er alles bewältigen? Er war allein,
ganz allein, seit Lisee tot war... Häufig musste er sich in seinem Eifer bremsen, denn auch seine Existenz war nur von begrenzter Dauer. Das war eine Tragik, die ihn früher nicht gestört hatte, denn stets hatte er alles in dem Wissen getan, dass nach seinem Tod ein anderer Keelon seine Forschungen fortsetzen würde. Doch diese Aussicht gab es nicht mehr. Wenn er starb, starb das Wissen der Keelon insgesamt... Darnok kämpfte die trüben Gedanken zurück und betrachtete die Umgebung. Zerklüftet fielen die Felswände ringsum ab, und noch immer war kein Boden zu erkennen. Gelegentlich sah das von Darnok verfolgte Wesen sich um, aber es entdeckte ihn nicht. Unter Darnok huschten verirrte Lichtreflexe über ein silbernes Gespinst, das sich beim Näherkommen als ein unentwirrbares Gebilde aus blitzenden Röhren und Würfeln entpuppte. Darunter entdeckte er das vertraute Blau, das ihm bereits beim Betreten des Palasts begegnet war. Dann hatte er den Boden erreicht. Selbst hier wuchsen Pflanzen. Die Röhrenkonstruktion folgte keiner Geometrie, sämtliche Teile schienen wahllos ineinander verkeilt worden zu sein. Das blaue Gebäude nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Darnok hatte den Eindruck, dass die Außenhaut sich bewegte wie schwappendes Wasser. Er nahm einige Messungen vor und stellte fest, es mit einer optischen Täuschung zu tun zu haben. Vieles im Aqua-Kubus war nicht so, wie es sich dem Augenschein nach darstellte. Plötzlich glitten drei huschende Reflexe aus den silbernen Würfeln. Sie waren irreal und beinahe so durchscheinend wie Geister, unruhig flatternde Erscheinungen, die sich erst noch formen mussten. Sie dehnten sich aus und bildeten lange, schlanke Fäden. Sie verharrten für einige Sekunden, scheinbar schwerelos, als hätten sie Schwierigkeiten, sich zu orientieren, dann nahmen sie wieder Fahrt auf. Vaaren! Darnok erkannte sie wieder. Ein Vertreter dieses Volks war an Bord des Karnuts gekommen und hatte es durchsucht. Er hatte den zu diesem Zeitpunkt völlig entkräftete Keelon nicht bemerkt und seine Behausung für einen Einrichtungsgegenstand des Karnuts
gehalten. Darnok schaute den Vaaren hinterher, die gemächlich in die Höhe stiegen, bis er sie aus den Augen verlor. Dann setzte er die ursprüngliche Verfolgung fort. Vor dem Wesen mit der Waffe hatte sich die Wand geöffnet. Inzwischen hatte Darnok sich daran gewöhnt. Rasch glitt er hinterher, bevor sich die Öffnung schloss und er sie neu aktivieren musste. Wie erwartet, hielt das Wesen inne und schaute sich um. Gemächlich schwamm Darnok an ihm vorbei. Für einen Moment befiel ihn der irrationale Gedanke, dass ausgerechnet jetzt sein Zeitschirm wieder durchlässig werden könnte, dann drückte er sich in eine Nische, um dem Wesen wiederum den Vortritt zu lassen. »Was willst du, Eindringling?« Die schnarrende Stimme hielt es kurz darauf auf, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand geschwommen. »Rurkka«, stammelte sie. »Der Schöpfer Rurkka ist unterwegs, um Königin Lovrena zu töten - wenn ich mich nicht täusche. Ich bin hier, um sie zu warnen, Wächter.« Darnok betrachtete den Wächter, eine große, ballonförmige Gestalt mit drei kräftigen Greifarmen und zwei stämmigen, säulenähnlichen Beinen. Halb schwimmend, halb gehend näherte sie sich. Dabei stie ß sie Laute aus, die Darnoks Übersetzungseinrichtung unmöglich zu interpretieren vermochte. »Der Feigling Rurkka ist auf der Flucht. Von ihm droht niemandem Gefahr - am allerwenigsten der Königin! Du allein wagst es, sie zu stören.« Der Ankömmling setzte zu einer Antwort an, kam aber nicht mehr dazu, sie auszusprechen. Ein rotes Feld erfasste ihn und schleuderte ihn zurück. Er durchschlug die Wand, die sich sofort wieder hinter ihm schloss - dann war er verschwunden. Darnok ignorierte den Wächter und setzte seinen Weg fort. Ein schmerzerfüllter Schrei weckte seine Aufmerksamkeit. * Hinter ihnen blieb das pure Chaos zurück. Rurkka nahm keine Rücksicht, sondern brachte Räume und Korridore zum Einsturz oder
ließ sie mit seinen Fähigkeiten zuwuchern, sodass den Verfolgern kein Weiterkommen mehr möglich war. »Es ist nicht nötig, dass jemand dabei stirbt«, ermahnte ihn die Menschenfrau, aber er ignorierte es. Seit er sich gegen die ehernen Regeln seiner Art gestellt hatte, war ihm alles gleichgültig. Nur eines zählte noch für ihn, und dazu musste ihm die Flucht gelingen. Leben! Ich will leben! Nichts anderes war mehr wichtig für ihn. * Immer wieder schaute Scobee sich um, doch niemand folgte ihnen. Sie traute dem Frieden nicht. Sie schleppte Jarvis mit sich, der noch unter den Folgen seiner Gefangenschaft litt. Hinter ihnen blieben die tristen grauen Gebäude zurück. Kein Verfolger war dort zu sehen. Die Gefahr kam aus einer anderen Richtung. »Heukonen!«, schrie Resnick plötzlich. »Drei, nein vier!« Sie tauchten seitlich zwischen den Braag-Algen auf, wo sie sich versteckt gehalten hatten. Augenblicklich eröffneten sie das Feuer, doch vollkommen ungezielt. Sie wagten nicht, in Rurkkas Richtung zu schießen. Also hatten sie offenkundig immer noch keine Ahnung von seinem Verrat. Resnick erwiderte das Feuer mit Sorkkas Waffe und schaltete einen der Heukonen aus. Dann stürzte er sich auf Rurkka und benutzte ihn wie einen lebenden Schutzschild. Er zog ihn mit sich und brachte ihn zwischen Scobee und Jarvis und den Verfolgern in Position. »Sie werden mich töten!«, jammerte der alte Luure. »Lass mich los, oder sie töten uns alle!« »Das tun sie nicht. Begreif doch endlich. Sie wagen nicht, auf dich zu zielen. Das ist unsere Rettung.« Rurkka war sich dessen nicht sicher. Er zitterte am ganzen Körper. »Zurückbleiben!«, schrie Scobee. »Oder wir töten den Schöpfer!« Verwirrung erfasste die Heukonen. Offensichtlich wussten sie nicht, wie sie sich verhalten sollten. Sie kamen nicht näher, stellten
ihre Verfolgung aber auch nicht ein. Resnick hielt sie mit einigen gezielten Schüssen auf Distanz. Sie wagten nicht, sie zu erwidern. Als die DAALGOR in Sichtweite kam, beruhigte sich Rurkka allmählich. Das Schiff stand dort, wo Golgerd es gelandet hatte. Rasch öffnete Rurkka eine Luke und wartete ab, bis die Menschen an Bord waren. Dann schwang auch er selbst sich ins Innere. Er aktivierte seinen Rezeptor und weckte die Vaaren aus ihrer Starre. Unter Drohungen trieb er sie zu einem Blitzstart an. »Deine Flucht ist sinnlos, Schöpfer«, sagte Golgerd, führte Rurkkas Anweisungen aber aus. »Wohin willst du?« »Zunächst einmal fort von diesem Planeten.« »Aber wohin? Welchen Kurs soll ich einschlagen?« »Möglichst weit weg vom Einflussbereich der Heukonen«, warf Jarvis düster blickend ein. »Das wird euch nichts nützen. Nun, da euch die Flucht gelungen ist, werden die Heukonen Alarm schlagen und Königin Lovrena verständigen.« Scobee atmete erleichtert auf, weil die Heukonen das nicht längst getan hatten. Denn dann hätten sie bereits gewusst, dass Rurkka kein treuer Anhänger der Königin mehr war. Über kurz oder lang würden sie aber nun doch zu diesem Schluss gelangen. »Ich schätze, dass meine Luftreserven allmählich zu Ende gehen«, sagte Jarvis. »Irgendwer könnte mir mal diesen Trick mit dem Atmen unter Wasser erklären. Dann könnte ich es vielleicht auch versuchen.« »Kein Problem, G.T., Rurkka wird sich darum kümmern, dass du dich bald wie ein Fisch im Wasser fühlst - nicht wahr, Rurkka?« Der Gestalter machte sich daran, auch Jarvis' Körper mit den notwendigen Protomaschinen auszurüsten - während die DAALGOR mit Irrsinnswerten beschleunigte und tiefer in den Kubus hineinraste.
6. Cloud litt Schmerzen, die nicht von einem zentralen Punkt ausgingen, sondern überall zugleich entstanden. Sie durchdrangen jede Faser seines Körpers, fraßen sich durch seine Nervenbahnen
und trugen den Stempel von Lovrenas Ungeduld. »Warum haben die Menschen dich geschickt? Was ist dein Plan?« Wie aus unendlicher Ferne stie ßen die Fragen in Clouds Geist vor. Es bereitete ihm Mühe, ihren Sinn zu begreifen, während er in einen endlosen Abgrund der Qual stürzte. Er starb tausend Tode, bis er endlich zerschmettert am Boden liegen blieb. »Ich habe deine Antwort nicht verstanden.« Die Schmerzen lie ßen nach. Cloud begriff, dass es noch etwas anderes gab als sie. Wie lange? Wie viel Zeit war vergangen? Er vermochte es nicht zu sagen. Sein Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell. »Niemand hat mich geschickt. Wie oft muss ich es noch beteuern? Wir mussten fliehen.« Es bereitete Cloud Mühe, die Gedanken zu formulieren. »Dieses Äskulap-Schiff, mit dem du angeblich von der Welt Mars geflohen bist, es existierte gar nicht. Ist es nicht vielmehr so, dass du mit einem der irdischen Schiffe gekommen bist?« »Ich habe noch nie eines dieser Schiffe betreten. Haben dir Scobee und Resnick nicht das Gleiche berichtet?« »Ihr habt euch gut abgesprochen, aber nicht gut genug.« John Cloud krümmte sich zusammen. Sein Körper stand in Flammen. Lovrena entzündete unzählige Brände, die ihn von innen heraus verzehrten. Das schwelende Feuer ging von seinem Magen aus und strebte in alle Richtungen, flammte in seiner Brust auf und züngelte in seine Arme und Beine. Glosend erreichte es Hände und Füße und verwandelte sie in unförmige Schlackehaufen. Clouds Kopf brannte lichterloh, sein Mund und seine Augen trockneten aus und verdorrten. Wie machte sie das? Es gab nur eine Möglichkeit. Die Protomaschinen in seinem Körper mussten daran mitwirken! »Woher stammen die Äskulap-Schiffe? Du kennst das Volk, das sie gebaut hat. Also verrate mir endlich seinen Namen.« Cloud hatte keine Ahnung. Und das sagte er Lovrena. Zumindest glaubte er das. Wirklich sicher war er jedoch nicht. Der beißende Geruch seines eigenen verbrannten Fleischs bereitete ihm Übelkeit. Sein Körper schrie nach Wasser, das ihm vielleicht Linderung verschafft hätte.
Er schwamm in Wasser. Aber dann war Feuer doch unmöglich... Aus verquollenen Augen glaubte er seine Hände zu sehen. Es fiel ihm unendlich schwer, sie zu heben und vor sein Gesicht zu führen. Nichts war geschehen - aber die Schmerzen waren real. »Du lügst!« Die Worte ertränkten Clouds Verstand. Immer wieder schleuderte Lovrena sie ihm entgegen. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf zu schütteln. Er fühlte Lovrenas Nähe, ihre körperliche Berührung, doch jeglicher Wunsch danach war längst von ihm gewichen. Die Gedanken entströmten Cloud und verrieten die elementarsten Geheimnisse seiner Seele, doch sie reichten der Königin nicht aus. Cloud erkannte es und erwartete die nächste Welle von Schmerzen. Sie blieb aus. Nach einigen Minuten - oder waren es Stunden? - klärte sich seine Sicht. Vorsichtig rappelte er sich auf. Er war allein. Mit unendlicher Mühe gelang es ihm, sich vom Boden abzustoßen und den Stuhl zu erreichen. Er bildete sich ein, schweres Atmen zu vernehmen. War es sein eigenes, oder war er doch nicht allein? Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. In seiner Brust pulsierte noch immer ein heftiger Schmerz, der sich aber ertragen ließ. »Sprichst du endlich?« Königin Lovrena. Cloud hatte sich geirrt. Nicht einen Moment war sie von seiner Seite gewichen, um ihm eine Ruhepause zu gönnen. »Du siehst doch, dass dein Tun sinnlos ist«, entgegnete er. »Du täuschst dich. Auch wenn du dich nicht mehr erinnerst, hast du mir bereits eine Menge verraten. Du bist ein Spion, ebenso wie deine Freunde. Doch noch immer bist du nicht vollkommen aufrichtig zu mir.« Versuchte sie einen neuerlichen Bluff? »Du lügst!« Diesmal benutzte Cloud ihre Worte. Lovrena heulte vor Zorn auf. »Wer ist Darnok? Wo hat er sich versteckt? « Darnok. Der Keelon. Es bereitete Cloud Genugtuung, dass er noch in Freiheit war. In Gedanken begann er vor sich hin zu summen.
This is the end, my only f riend, the end. Dass Lovrena ihn auf die Beine zog, registrierte er wie in Trance. Als sie seine Brust berührte, hatte er den Eindruck, Funken sprühende Blitze zu sehen. Wahrscheinlich bildete er sie sich nur ein, doch wie so vieles andere konnte er auch das nicht mehr mit Gewissheit sagen. Unversehens blieb ihm die Luft weg. Cloud knickte in den Kniekehlen ein und fiel haltlos zu Boden. Seine Hände umklammerten seinen Hals. Plötzlich konnte er nicht mehr atmen. Clouds Gedanken überschlugen sich, während er um Luft rang wie ein Fisch auf dem Trockenen. Lovrena musste die Protomaschinen in seinem Innern manipuliert haben. War sie dazu in der Lage? Sein Körper bäumte sich auf, und plötzlich spürte er nach langer Zeit wieder das Wasser in seinen Lungen. Panik befiel ihn. Ein schwaches Summen in seinem Kopf steigerte sich zu einem infernalischen Rauschen, und vor seinen Augen bildeten sich rote Kreise. Verzweifelt versuchte er zu atmen, aber es gelang nicht. Sämtliche Kraft strömte aus seinem Körper. Der Druck drohte, ihm die Brust zu zerreißen, seine Hände tasteten ziellos umher. Seine Augenlider flatterten hektisch, während ihm die Augen aus den Höhlen zu quellen drohten. This is the end! Dann bekam er wieder Luft. Gleichzeitig mit ihr strömten Lovrenas Gedanken in ihn. »Wer hat euch von Tovah'Zara erzählt? Ihr seid doch nicht durch Zufall auf unseren Lebensraum gestoßen.« Cloud pumpte den Sauerstoff in seine Lungen. Längst hatte sich seine auf gezwungene Liebe zu Lovrena in Wut und Abscheu verwandelt. Nie zuvor hatte er Hass gegen jemanden empfunden, nun hatte er diesen Punkt erreicht, und die Erkenntnis erschütterte ihn. Gleichzeitig überlegte er, ob er Lovrena etwas über Darnok verraten hatte. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Dann fing es von Neuem an. Die Protomaschinen verhinderten seine Atmung. Er wollte sich auf Lovrena stürzen, aber sie war fast körperlos, und er verfügte auch kaum noch über körperliche Kraft. Cloud wehrte sich nicht mehr. Er versuchte auch nicht mehr zu
atmen, denn die Sinnlosigkeit seiner Versuche war ihm klar geworden. Doch schlie ßlich gewannen wieder die Instinkte die Oberhand, die nicht zulassen wollten, dass er sich mit dem unabwendbaren Schicksal abfand. Er hatte nicht geahnt, wie viel Lebenswille in einem Menschen steckte - doch selbst der stärkste Wille musste sich am Ende dem Unausweichlichen beugen. Aber würde Lovrena ihn wirklich sterben lassen? Noch immer stellte sie ihre Fragen. Cloud trieb in einem tödlichen Strudel, der ihn nicht mehr entkommen lie ß. Der Tod! In Gedanken la chte Cloud verächtlich auf. Er würde sein eigenes Ende nicht einmal begreifen, bedauern schon gar nicht - nicht in diesem Zustand. Er wollte nur, dass die Pein aufhörte, gleichgültig wie der Preis dafür lautete. Er hätte jede einzelne von Lovrenas Fragen beantwortet, wenn er eine Antwort gehabt hätte. So jedoch blieb ihm nur noch ein letzter Weg aus der Qual. Doch selbst, wenn er starb, würde sie ihm nicht glauben. »Beende mein Leiden! Mach endlich Schluss!« Mit einem letzten Rest wachen Geistes vernahm er einen durchdringenden Heulton. * Alarm! Ungläubig starrte Lovrena auf den Monitor. Es war ein Fehler gewesen, ihn nicht zu beachten. Viel zu sehr hatte sie sich in die Befragung des Menschen vertieft und dabei vernachlässigt, was außerhalb Tovah'Zaras geschah. Mit Erschütterung erkannte sie es nun: Die Flotte der Menschen war auf Angriffskurs gegangen - auf Angriffskurs! Schon nahmen die ersten Schiffe den Energieschirm, der die Welt der Vaaren und ihrer Hilfsvölker zusammenhielt, unter Feuer. Sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass sie angreifen würden. Noch immer ging sie davon aus, dass es das Ziel der Flotte war, John Cloud zu befreien. Wenn sie die gigantische Wasserwelt zerstörten, war auch er dem Tod geweiht. Hatte Cloud womöglich doch die volle Wahrheit gesagt? Wie auch immer, sie, die Herrscherin, hatte einen Fehler begangen. Einen
Irrtum, der sich als tragisch erweisen konnte, wenn sie nicht unverzüglich Gegenmaßnahmen einleitete. Lovrena stellte eine Verbindung zu ihren Beratern her. »Jadeschiffe zusammenziehen und den Angreifern entgegenstellen«, ordnete sie an. »Keine Warnanrufe! Wir gehen keine Kompromisse ein. Vernichtet die Menschenschiffe, wo ihr sie trefft!« Sie warf ihrem Gefangenen einen kurzen Blick zu. Regungslos schwamm er im Wasser. Von ihm ging keine Gefahr aus. Lovrena würde sich später um ihn kümmern - falls sie dann überhaupt noch auf seine Informationen angewiesen war. Sie wandte den Blick ab und verlie ß den Thronsaal.
Diesmal war es kein Trick, die Vaaren-Königin war tatsächlich verschwunden und hatte ihn allein zurückgelassen. Mit unendlicher Mühe gelang es Cloud, seinen Blick auf den aktiven Monitor zu richten. Was er sah, erschütterte ihn bis ins Mark. Die irdischen Raumschiffe griffen den Aqua-Kubus an! Das Kraftfeld, das ihr Geschützfeuer - noch - abwehrte, war identisch mit dem, das den Wasserkubus zusammenhielt. Mit Schrecken malte Cloud sich aus, was passieren würde, wenn es zusammenbrach. Cloud versuchte, seinen Körper unter Kontrolle zu bekommen, aber es gelang ihm nicht. Er war viel zu schwach, und das wusste Lovrena genau. Ansonsten hätte sie ihn bewachen oder wieder einsperren lassen. Seine Augen fielen zu, und er drohte, das Bewusstsein zu verlieren. Cloud zwang sich, regelmäßig zu atmen. Da die Königin ihn nicht länger malträtierte, gelang ihm zumindest das, doch letztlich half es ihm auch nicht weiter. Erneut schlug er die Augen auf. Die Menschen-Flotte war inzwischen zu Punktbeschuss übergegangen. Gemeinsam feuerte die gesamte Flotte auf eine bestimmte Stelle des Energieschirms - noch ohne ihn zu durchdringen. Was war mit den Rochenschiffen? Wo blieb die Gegenwehr der Vaaren? So stark das Kraftfeld auch sein mochte, früher oder später
musste es kollabieren und damit den Anfang vom Ende aller Lebewesen im Aqua-Kubus einleiten... Oder? Ihm wurde klar, dass sie nichts über das Feld, nichts über das wahre Potenzial der Vaaren wussten. Ich muss hier raus, ging es Cloud durch den Kopf. Scob und die anderen finden. Und dann geschah, was er insgeheim erwartet hatte. Wie Schatten rasten die Rochenschiffe heran. Unter Schmerzen richtete Cloud sich ein wenig auf. Er hatte die unglaubliche Schnelligkeit dieser Fahrzeuge bereits aus nächster Nähe beobachtet, trotzdem erstaunte sie ihn auch dieses Mal. Eine wahre Flut von Schiffen ergoss sich in den Bildausschnitt, den ihm der Monitor lieferte. Sie zögerten keine Sekunde, sondern eröffneten augenblicklich das Feuer auf die außerhalb befindlichen Angreifer. Deren Strahlengeschütze vermochten den Energieschirm nicht zu durchdringen - die Waffen der Rochenschiffe hingegen schon. Cloud zogen sich die Eingeweide zusammen. Fassungslos verfolgte er das Drama, dessen Zeuge er wurde. Die mächtigen Waffen der Rochen dezimierten die Erdschiffe binnen kürzester Frist. Sie hatten der Feuerkraft der Verteidiger nichts entgegenzusetzen. Nach wenigen Minuten zogen sich die Überlebenden fluchtartig zurück, doch für den überwiegenden Teil der Flotte war es da bereits zu spät. Er existierte nicht mehr. Das reinste Massaker! Cloud fand keinen anderen Ausdruck für die Überlegenheit und die Rücksichtslosigkeit, mit der die Rochenschiffe vorgingen. Natürlich war ihr Lebensraum bedroht und attackiert worden, aber sie hatten überhaupt keinen Versuch unternommen, den Angriff unblutig abzuwenden. Stattdessen hatten sie ihre geballte Macht demonstriert, als käme es ihnen nur darauf an, ein Exempel zu statuieren. Immer deutlicher erkannte er die lebensverachtende Philosophie der Vaaren. Sie nahmen weder Rücksicht auf Individuen, noch auf ganze Versammlungen von Lebewesen, wie die kurze aber heftige und überaus einseitige Schlacht soeben gezeigt hatte. Cloud fragte sich, wie viele Leben innerhalb weniger Minuten ausgelöscht worden waren.
Er verdrängte die Gedanken, denn jeden Moment konnte Lovrena zurückkehren. Er nahm alle Kraft zusammen und machte eine vorsichtige Schwimmbewegung. Sie misslang gründlich. Der Schmerz in seiner Brust lie ß ihn aufschreien. Er musste schlafen, sich erholen. In seinem angegriffenen Zustand hatte er keine Chance zu entkommen. Lovrena jedoch würde ihm diese dringend benötigte Zeit zur Erholung nicht gönnen...
7. Darnok unterdrückte die Schmerzen nicht; es gab keinen Weg, sie zu verdrängen. Sie waren da, und er wusste, dass sie ihn niemals loslassen würden. Keine physischen Schmerzen, dafür umso intensivere psychische Qual, die ihm ein treuer Begleiter geworden war. Sie war sein Dämon geworden, der sich jeden Tag in einer neuen Variante offenbarte. Jeden Tag mit einem neuen Gesicht, mit einer neuen Provokation aufwartete. Einer Herausforderung, die ihn zu sich selbst führen wollte, bis auf den Grund seiner Seele, die er längst verloren zu haben glaubte. Zumindest in seinen rationalen Reflexionen über sich selbst. Doch was davon war geblieben? Was war noch wirklich und hatte sich nicht deformiert unter den drohenden Fakten aus dem Dunkel? Er schaute hervor aus der Schwärze und blickte geradewegs in die brennende Erkenntnis des Untergangs. Licht und Feuer, denen er nachgejagt war, hatten ihn eingeholt, und er war in ihrer Offenbarung verbrannt wie ein Insekt im heißen Licht. So wie Welten verbrannten, mit einem kurzen und heftigen Flackern, das die Schöpfung nicht einmal wahrnahm. Doch welche Konstanten erwartete das Leben? Es gab keine. Es kam und ging, wie es wollte. Die Keelon hatten es erfahren, wenn vielleicht auch nicht begriffen, weil alles viel zu schnell gegangen war. Er selbst und Lisee waren an Orten gewesen, von denen kein Keelon je zuvor gehört hatte, hatten Dinge geschaut, die an den
Grundfesten der Schöpfung und des Seins rührten. Einst war er aufgebrochen, um Wahrheit und Weisheit zu erfahren. Um Wissen zu erlangen, das nicht ihm zur Ehre gereichen, sondern es den Keelon als Volk ermöglichen sollte, nie geahnte Wege zu beschreiten. Doch alles war umsonst gewesen. Alles. Der Schmerz wurde unerträglich. Er fraß sich in sein Fleisch und in seine Gedanken und überlagerte alles andere. Und doch war es nicht sein eigener Schmerz. * Der Wächter war verschwunden, aber es gab noch mehr von ihnen. Darnok hatte die Worte der hiesigen Dominanz nicht vergessen. Jederzeit konnte ein anderer in der unübersichtlichen Umgebung auftauchen. Eine unheimliche Stille herrschte ringsum, bis auf den Schrei, den der Keelon vernommen hatte. Mit seinen Instrumenten registrierte Darnok menschliche Lebenszeichen. Sie hatten ihren Ursprung ganz in der Nähe. Langsam glitt er durch eine mit zahlreichen Ausschmückungen versehene Höhle. Reihen gewaltiger Tanks reichten von einem Ende bis zum anderen. Eine flüchtige Untersuchung ergab keinen Aufschluss über ihren Inhalt. Dafür waren sie durch meterdicke Kabelbäume verbunden, in denen Darnok elektrische Aktivität anmessen konnte. Etwa in der Mitte der Phalanx entdeckte er einen Durchlass, einen schmalen Gang, der sich wie ein Trichter erweiterte. Während Darnok eine weitere Reihe Tanks passierte, schlug die Anzeige menschlicher Lebensimpulse heftiger aus. John Cloud war unmittelbar vor ihm. Ein silberner Streif zischte an Darnok vorbei und hielt inne. Im flüchtigen Kontakt mit den Nesselfäden wurde ein Schwall von Gedankenbildern über dem Keelon ausgeschüttet. Sie waren zu verschwommen, um sie deuten zu können, aber er bekam eine vage Ahnung von einer riesigen Raumflotte, die sich dem Kubus näherte. Auch John Clouds Bild sah er vor sich. In dem Gang hatte Darnok keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Er verharrte an Ort und Stelle und vertraute auf die
Wirkung seines Zeitschirms, der ihn für andere unsichtbar machte. Darnok betrachtete den silbernen Streif, der einen Rest von Menschlichkeit erkennen lie ß. Der Vaare verfügte über das rudimentäre Aussehen einer menschlichen Frau. War das die Königin? Darnok fand keine andere Erklärung. Dann war auch nicht verwunderlich, dass er Clouds Impulse in unmittelbarer Nähe registrierte. Schlie ßlich war der Mensch ihr Gefangener... Unruhig bewegte sich das Wesen vor und zurück, als suchte es nach ihm. Bemerkte es Darnoks Anwesenheit, so wie er seine flüchtigen Gedankenbilder empfangen hatte? Darnok rührte sich nicht. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, dann verschwand die mutmaßliche Königin so schnell, wie sie aufgetaucht war. Darnok hatte den Eindruck, dass sie in großer Eile war. Wegen der Raumflotte? Darnok fragte sich, was draußen, außerhalb des Kubus, vor sich ging. Um es herauszufinden, hätten jedoch nicht einmal die Instrumente des Karnuts ausgereicht. Der Keelon gab sich einen Ruck und schwamm in die Richtung, aus der die Königin gekommen war. Nach wenigen Metern erreichte er eine Wand, die er einfach durchdrang. Ein beeindruckender Saal breitete sich vor Darnok aus. Und da war auch John Cloud. Während sich der Keelon zu dem Menschen hinbewegte, verschaffte er sich einen Überbück. Außer ihnen beiden hielt sich niemand im Saal auf. Eine der Wände war mit inaktiven Monitoren und anderem technischen Gerät bestückt, an einer anderen Wandseite befanden sich sieben Gemälde, von denen eine eigenartige Faszination ausging. Die kryptischen Symbole, die darauf zu erkennen waren, stellten ein uraltes Geheimnis dar. Darnok glaubte in einem Buch zu lesen, das aber in einer Sprache verfasst war, von der er nur einen Bruchteil der Vokabeln beherrschte. Darnok nahm den Zeitschirm zurück. Seine Bewegungen glichen sich wieder dem normalen Fluss an. Clouds erschrockene Reaktion entging ihm nicht, das hektische Zucken, das aussah, als wollte er fliehen. Scheinbar hatte er jemand anderen erwartet.
»Darnok...« Clouds Stimme war schwach, aber sie bewies, dass er bei Bewusstsein war. Offenbar ging es ihm aber nicht gut. Er schaffte es kaum, sich aus eigener Kraft zu bewegen. »Ich bringe dich zum Karnut«, sagte Darnok. Cloud schlang, so gut es ihm möglich war, einen Arm um den Keelon. »Immer wieder tauchst du auf, wenn man dich am wenigstens erwartet.« »Eine Tatsache, die leider auch auf dein Volk zutrifft. Aber spare deine Kräfte. Wir müssen das Karnut erreichen, bevor die VaarenKönigin zurückkehrt.« »Dann hat sie sich dir bereits vorgestellt?« Clouds gekünsteltes Lachen wurde zu einem qualvollen Stöhnen. »Wirklich eine zuvorkommende Herrscherin.« Darnok hielt ihn fest. »Schweig jetzt!« »Gern. Aber man wird unsere Flucht bemerken. Die Vaaren und ihre Helfer sind nicht blind.« »Ich sorge für ihre Blindheit «, erklärte der Keelon und baute den Zeitschirm wieder auf. Dank des direkten Körperkontakts zu Cloud war auch der Mensch in die Wirkung des faktisch unsichtbar machenden Felds eingebunden. Spielerisch zog Darnok ihn mit sich durch die Gänge des Palasts bis zum Ausgang. In diesem Moment durchdröhnte ein unheilvolles Geräusch den Palast - es war selbst auf der beschleunigten Zeitlinie wahrnehmbar, auf der sie sich bewegten. »Sie haben mein Verschwinden bemerkt«, brachte Cloud seine Ahnung zum Ausdruck. »Ja«, bestätigte Darnok. »Jetzt werden sie uns unerbittlich jagen.«
8. Im gesamten Kubus waren Jadeschiffe unterwegs. Seit Jarvis' Befreiung hatte sich ihre wahrnehmbare Zahl vervielfacht. Sie patrouillierten in der Nähe von Planeten und sicherten die Grenzen des Aqua-Kubus.
»Zahlreiche kleinere Staffeln sind ausgeschwärmt«, sagte Rurkka, der Golgerd und die anderen Vaaren nicht aus den Augen ließ. Sie befolgten jede seiner Instruktionen, weil sie sicher waren, dass die Flucht der gekaperten DAALGOR ohnehin nicht mehr lange dauern würde. »Allerdings folgt uns niemand.« »Weil sie nicht wissen, wo sie suchen sollen«, antwortete Scobee. »Wären wir zu den Grenzen des Kubus unterwegs, hätten sie uns längst geortet.« »Die müssen doch«, warf Resnick ein, »mit der Möglichkeit rechnen, dass wir tiefer in den Kubus vorstoßen.« Rurkka war anderer Meinung. »Unser Kurs rettet uns im Augenblick, aber auf Dauer bietet er keine Lösung. Entkommen können wir nur ins Weltall, jeder andere Weg ist eine Falle, aus der es kein Entrinnen gibt. Warum sollten die Vaaren also einen größeren Aufwand betreiben, als nötig ist? Wir können uns hier nicht ewig verstecken. Sie spekulieren darauf, dass wir früher oder später umkehren oder uns ergeben müssen.« Die Instrumente arbeiteten ohne Pause, doch an der Lage änderte sich nichts. Wenn ihnen eines der anderen Jadeschiffe zu nahe kam, würde es sie orten. »Wenn du dir der Ausweglosigkeit deiner Lage bewusst bist, solltest du aufgeben, Schöpfer«, forderte Golgerd. »Ihr werdet unseren Lebensraum niemals verlassen, wenn es euch nicht gestattet wird.« »Willst du damit die Möglichkeit andeuten, die Königin könnte es uns gestatten?« Golgerd schwieg viel sagend - und konzentrierte sich wieder auf die Steuerung der DAALGOR. »Das dachte ich mir«, versetzte Rurkka. »Also müssen wir es auf unsere Weise versuchen.« Scobee betrachtete ihn zweifelnd. Auch sie hatte keine Vorstellung davon, wie es ihnen gelingen sollte, aus dem Kubus zu entfliehen. Und noch eines war ihr klar: Auf Dauer konnten sie sich nicht verbergen. Schlie ßlich waren sie völlig auf sich allein gestellt, während die Vaaren auf eine unbekannte Helfer- und Verbündetenzahl bauen konnten. Eine Entscheidung hatte sich bei alledem jedoch nicht geändert.
»Wir bleiben hier, solange wir John nicht gefunden haben«, bekräftigte sie noch einmal. »Ich habe mich mit Rurkka besprochen und bin zu dem Schluss gelangt, dass er sich nur an einem Ort befinden kann.« Rurkka hatte die Prozedur mit Jarvis inzwischen problemlos abgeschlossen. Seit der GenTec nun ebenfalls speziell programmierte Protomaschinen in sich trug, konnte er in der gefluteten DAALGOR ebenso wie außerhalb in den Wassern des Kubus atmen. »Und wo?«, fragte Resnick spürbar gereizt. »Wenn ich diese Königin wäre, von der Rurkka ständig spricht, wäre ich garantiert neugierig auf einen der Fremden. Ich würde ihn zu mir bringen lassen.« Nachdenklich nickte Resnick. »Wo befindet sich der Sitz dieser Königin? Können wir dorthin gelangen?« Der alte Luure reagierte, indem er erschrocken zurückwich. Seine ohnehin stumpfe Lederhaut wurde noch eine Spur matter. »Man kann sich nicht einfach zum Palast begeben.« »Das kann man durchaus«, erreichte ihn Golgerds Widerspruch. »Aber es wird euch nichts nützen.« »Hast du eine bessere Idee?«, fragte Scobee. Natürlich erwartete sie keine Antwort. Sie war den gefangenen Vaaren gegenüber immer noch misstrauisch, obwohl sie keine Fluchtversuche unternahmen. Zu groß war ihre Angst vor einer Bestrafung durch Rurkka. »Ich stimme Scobee zu«, mischte sich Jarvis ein. »Wenn wir John finden, dann be i dieser Königin. Und selbst wenn nicht, ein Ansatzpunkt ist so gut oder schlecht wie jeder andere, solange wir keine neuen Hinweise besitzen.« »Vergesst nicht, dass Königin Lovrena mich aufgegeben hat. Sorkka ist jetzt ihr neuer Liebling, mich hat sie verstoßen«, erinnerte der Gestalter. »Dann kann es ja nicht mehr schlimmer werden«, befand Resnick. »Ich stimme auch dafür, der weiblichen Intuition zu folgen.« Er grinste schief. Und schon kurz darauf nahm die DAALGOR Kurs auf Lovrenas Palast, die Residenz der Vaaren-Königin - wer oder was immer sich hinter diesem Titel verbergen mochte.
* Währenddessen plagten Cloud ganz andere Sorgen. »Ich habe noch immer Schmerzen«, erklärte er Darnok, während sich das Karnut viel zu langsam vom Palast entfernte. »Die Protomaschinen sind weiterhin aktiv. Anscheinend gibt es eine Restwirkung von Lovrenas Manipulationen, die sie in Gang hält.« »Besteht eine Gefahr für dein Leben?«, fragte der Keelon, als könnte Cloud darauf eine verbindliche Antwort geben. »Ich glaube nicht, aber die Unannehmlichkeiten reichen mir schon. Ich wäre diese unheimlichen Winzlinge gern los!« Cloud schwamm in einem Tank mit Wasser, denn das Karnut war ansonsten mit Luft geflutet, die er zurzeit nicht atmen konnte. Von seiner Position aus konnte er Darnok sehen. »Ich werde mich darum kümmern«, versprach dieser. »Um die Protomaschinen? Du?« Cloud machte keinen Hehl aus seinen Zweifeln. »Ich hatte keine Ahnung, dass du dich damit auskennst.« Allerdings musste er sich eingestehen, dass Darnok ihn schon mehrmals überrascht hatte. Der Keelon verfügte über ein gewaltiges Wissen, das offenbar auch Hintergründe und Zusammenhänge beinhaltete. »Ich muss genauere Untersuchungen anstellen, aber ich denke, es könnte mir gelingen, die Protomaschinen zu entfernen. Vorerst haben wir aber andere Sorgen. Die Vaaren haben sich nicht lange Zeit gelassen.« »Das bedeutet, wir werden verfolgt. Dann sieh zu, dass du ein wenig mehr rausholst. Bei unserer Geschwindigkeit können wir uns gleich ergeben.« Darnok griff unsichtbar in die Kontrollen seines Karnuts ein. Dabei war ihm klar, wie sinnlos seine Bemühungen waren. »Das Karnut ist für Flüge im freien Raum ausgelegt«, teilte er Cloud mit. »Nicht für Unterwasserfahrten. Es ist nicht für einen solchen Widerstand konzipiert, wie du bemerkst.« »Auf Schleichfahrt also.« Cloud nickte frustriert. Nur allmählich erhöhte sich die Geschwindigkeit des Karnuts. Der Gravoantrieb war wie gefesselt innerhalb des Mediums, durch
das sich das schildkrötenartige Schiff bewegte. »Drei Jadeschiffe steigen vom Palast auf«, informierte der Keelon seinen Menschenbegleiter. »Das war's dann wohl«, seufzte Cloud. »Verfügst du über keine Waffen, mit denen wir uns die Vaaren vom Leib halten können?« »Ich war nie ein Krieger - und mein Schiff nie zum Kämpfen gebaut.« Cloud wurde bewusst, wie wenig er nicht nur über Darnok selbst, sondern auch über dessen gesamte Geschichte wusste. Er fand sich damit ab, erneut in die Gefangenschaft der Vaaren zu geraten. Da erreichten ihn Darnoks Worte: »Jadeschiff nähert sich von voraus.« Es schnitt den Fluchtkurs des Karnuts und hielt dann frontal darauf zu. »Die Vaaren haben uns in der Zange. Ich stimme dir zu, John Cloud. Wenn mir nicht schnell eine Idee kommt, war deine Befreiung völlig sinnlos. Im Gegenteil, dann verliere auch ich meine Freiheit.« Darnok schlug einen Haken, ein plumpes Manöver angesichts der Schnelligkeit und Wendigkeit der Rochenschiffe. Die Verfolger trieben das Karnut dem einzelnen Rochen genau entgegen. Immerhin schossen sie nicht. Cloud fragte sich, wie wohl die Defensivsysteme des Karnuts beschaffen waren. Es hatte über Kalser Treffer ohne ernste Schäden eingesteckt, konnte folglich nicht völlig hilflos sein. Aber er hatte auch die Feuerkraft der Vaaren erlebt und bezweifelte, dass das Karnut über wirksamere Schilde verfügte als die Erdschiffe. »Sie legen Wert darauf, uns wieder lebendig in ihre Pseudofinger zu bekommen...«, vertrat Cloud eine Ansicht, die mehr auf Hoffnung als auf Überzeugung fußte. Inzwischen war es Darnok gelungen, noch ein wenig mehr Schub zu erzeugen. Dennoch hatten die Verfolger weiter aufgeholt, behielten momentan aber den Abstand konstant, als wären sie sich ihrer Beute völlig sicher. »Kollisionskurs!«, rief Cloud. Darnok reagierte spürbar verständnislos. »Keine Ausweichversuche mehr«, wurde Cloud konkreter. »Halte direkt auf den einzelnen Rochen zu!«
»Eine solche Kollision übersteht nicht einmal mein Karnut.« Cloud schüttelte den Kopf. »Die Vaaren werden es so weit nicht kommen lassen, schlie ßlich wollen sie mich oder uns lebendig. Wenn sie merken, dass wir ernst machen, werden sie uns ausweichen.« Angestrengt dachte Cloud nach. Natürlich war ihm klar, dass sie damit nur ein paar Sekunden gewannen, aber er war für jeden Aufschub dankbar. Darnok gab keine Antwort, aber er hielt sein kleines Schiff auf Kurs. Das einzelne Jadeschiff wurde rasch größer und behielt ebenfalls seinen Kurs bei. Doch dann zog es plötzlich nach oben weg und reduzierte gleichzeitig seine Geschwindigkeit. »Meine Instrumente müssen sich irren«, sagte Darnok in diesem Moment. »Sie zeigen menschliche Lebenszeichen an Bord an.« Er nahm eine Reihe von Schaltungen vor und überprüfte die Ergebnisse seiner Ortung. Doch sie änderten sich nicht, wurden nur bestätigt. Cloud spürte Hoffnung in sich aufsteigen. Wenn Darnoks Geräte nicht fehlerhaft arbeiteten, gab es nur eine Erklärung. »Jetzt werden wir gerufen«, meldete der Keelon und aktivierte die Verbindung zu dem Jadeschiff. Ein Bildschirm erwachte zum Leben. Cloud stie ß einen überraschten Laut aus, als er Scobees Gesicht erkannte. Neben ihr stand ein Wesen, das einem riesigen Salamander ähnelte. Im Hintergrund entdeckte er mehrere Vaaren. »Keine Zeit jetzt für Erklärungen«, begann Scobee mit gehetzter Stimme. »Dieses Rochenschiff befindet sich unter unserer Kontrolle. Wir nehmen euch an Bord. Jarvis befindet sich auch hier, wir konnten ihn befreien. Darnok muss die Geschwindigkeit drosseln, damit wir das Karnut einschleusen können.« »Was ist mit unseren Verfolgern?«, fragte Cloud. »Sie rufen uns, scheinen aber noch keinen Verdacht geschöpft zu haben. Bis sie merken, was gespielt wird, müssen wir schon von hier weg sein.« Nachdem Scobees Bild erloschen war, schloss Cloud erleichtert die Augen. Sie hatten Jarvis wieder - und offenbar Verbündete gewonnen.
Wenige Minuten später war das Karnut eingeschleust. Die DAALGOR beschleunigte und glitt tiefer in die unbekannten Gefilde des Aqua-Kubus. Da endlich begriffen auch die Vaaren an Bord der Jadeschiffe den Betrug - und setzten der DAALGOR nach. * Die Wiedersehensfreude war nur von kurzer Dauer und verwandelte sich in Besorgnis, als die GenTecs erfuhren, in welch schlechtem körperlichen Zustand sich Cloud befand. Doch es bereitete Rurkka keine Probleme, die Protomaschinen zu neutralisieren und sie so einzustellen wie bei den drei GenTecs. Jarvis ging es dank seiner besonderen Konstitution da bereits besser. Aus abgehörten Funksprüchen und dank dem permanenten Einsatz der Ortungssysteme erfuhren die Gefährten, dass zahlreiche Einheiten der Vaaren den Kubus nach außen hin abschirmten. Es blieb also gar keine andere Möglichkeit, als immer weiter in sein Inneres vorzudringen. Ihnen allen aber war bewusst, dass sie irgendwann umkehren mussten. »Aber zunächst lecken wir unsere Wunden«, formulierte es Cloud. Daneben wurde die Zeit genutzt, sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Inzwischen waren weitere Rochenschiffe zu ihren Verfolgern gestoßen, die sich nicht abschütteln ließen. Sie feuerten auf die DAALGOR, ohne sie zunächst jedoch in ernsthafte Gefahr zu bringen. »Sie setzen nur einen Bruchteil ihrer Vernichtungskraft ein«, erkannte Rurkka. »Sie wollen uns gefangen nehmen, aber nicht umbringen.« Verärgert beobachtete Jarvis den Pulk der Verfolger auf einem der Monitore. »Wir sollten das Feuern erwidern und ihnen zeigen, dass wir uns wehren können.« Rurkka überging den Vorschlag, während das Rochenschiff mit unverminderter Geschwindigkeit durch das trübe grüne Licht jagte. »Gib endlich auf!«, forderte Golgerd. »Du musst erkennen, dass
deine Flucht gescheitert ist, Schöpfer. Wenn du dich ergibst, wird Königin Lovrena sich gnädig erweisen.« Rurkka ignorierte den Einwand, auch wenn ihm sein Verstand sagte, dass Golgerd Recht hatte. Statt aus dem Tovah'Zara zu fliehen, wie er es geplant hatte, wurden sie immer weiter zum Zentrum dieser Welt getrieben. Der ehemalige Herr über die Protowiesen steckte in einer Klemme, aus der es kein Entkommen mehr zu geben schien. Trotzdem dachte er nicht daran aufzugeben. Er war schon zu weit gegangen. »Sie kommen von zwei Seiten«, sagte Scobee alarmiert. »Und sie holen unaufhaltsam auf.« Die Bildschirme bestätigten ihre Worte. Die Jadeschiffe flogen ein Zangenmanöver und wollten die DAALGOR einkesseln. »Wir müssen sie auf Distanz halten«, forderte Jarvis wider besseren Wissen. »Ich habe keine Lust, denen noch mal in die Hände zu fallen. Rurkka, du musst dich überwinden.« »Ich werde auf keinen Fall schie ßen«, wehrte der Altersweise ab. »In dem Fall würden die Vaaren nämlich das Feuer konzentriert erwidern, und dann sind wir alle tot.« Scobee versuchte, in Jarvis' Zügen zu lesen. Sie gewann den Eindruck, dass er den Tod einer erneuten Gefangenschaft bei den Heukonen oder Vaaren vorgezogen hätte. »Dort hinüber«, dirigierte sie Golgerd. »Vielleicht können wir uns zwischen den Korallenstöcken dort verstecken.« »Unsere Verfolger werden uns orten. Wir können uns nicht verstecken«, wehrte Rurkka ab. Dennoch zwang er den Vaaren, den Kurs zu ändern. Vor dem Rochenschiff wucherten die Korallen besonders ausgedehnt. Wie ein riesiger Wald erstreckten sie sich in mehrere Richtungen. Unwillkürlich erwartete Scobee, dass ein Schuss der Verfolger ihre Flucht beenden würde, bevor sie zwischen den Korallen untertauchen konnten. Ein anderer Bildschirm zeigte ihr, wie die Schiffe ihre Zangenformation beibehielten. Zum Glück waren sie nicht wesentlich schneller als die DAALGOR, sonst hätten sie sie längst zwischen sich eingekeilt. Golgerd schlug einige Haken, während Scobee die offenbar natürlich gewachsene bizarre Konstruktion betrachtete. Das Geflecht
verdichtete sich, je weiter sie eindrangen. Der vaarische Pilot nahm keine Rücksicht darauf. Mit Brachialgewalt bahnte er sich einen Weg und ließ eine Schneise der Zerstörung zurück. Immer wieder wich er scharf vom Kurs ab, um die Verfolger zu irritieren, oder tauchte geschickt zwischen den riesigen Ästen hindurch. »Sie fallen nicht darauf herein«, stellte Scobee fest. Die Verfolger erwiesen sich als hartnäckig. Aber das war nicht ihre einzige Sorge. Wenn die Vaaren vorausschauend handelten, umschifften ein paar ihrer Fahrzeuge den Korallenstock und erwarteten die DAALGOR auf der anderen Seite. Auch wenn sie nicht wissen konnten, wo genau die Flüchtigen wieder auftauchte, konnten sie die jenseitigen Randgebiete weiträumig im Auge behalten. Wieder führte Golgerd ein wirklich haarsträubendes Manöver durch, bei dem er zahlreiche Korallen zertrümmerte. Eine Ortung war gar nicht nötig, denn auch optisch blieb hinter der DAALGOR eine Spur zurück, die unübersehbar war. »Siehst du diesen Tunnel dort? Vielleicht können wir uns darin verstecken.« Rurkka ließ den Vaaren nicht aus den Augen, und Golgerd reagierte sofort. Er drosselte die Geschwindigkeit und dirigierte das Rochenschiff in einen schmalen Durchlass, der sich zwischen den Korallen hindurchschlängelte. Rurkka hantierte an Kontrollen, die Augenblicke zuvor noch nicht da gewesen waren. Sie entstanden wie aus dem Nichts, aber Scobee wusste, dass der alte Schöpfer sie mittels seiner besonderen Gabe aus der Protomaterie des Schiffes formte. »Sind sie immer noch hinter uns?«, fragte Resnick. »Ich sagte es bereits«, erwiderte der Luure. »Die Jadeschiffe können uns orten.« Er überprüfte einige Einstellungen. »Wartet! Ihre Echos werden schwächer. Anscheinend herrschen hier drinnen besondere Bedingungen, die uns zu Gute kommen...« »Du meinst, sie verlieren uns?«, fragte Scobee. »Die Ortung wird erschwert. Wir gewinnen vielleicht etwas Zeit. Golgerd wird jetzt versuchen, den Abstand zu vergrößern.« Noch immer traute Scobee dem Piloten nicht wirklich. Sie an seiner Stelle hätte sich jedenfalls nicht so willfährig verhalten. Sie fragte sich, ob der Vaare irgendeine Möglichkeit hatte, die Verfolger unbemerkt zu kontaktieren. Bei der angenommenen Macht der Vaaren musste sie davon ausgehen. Dennoch verhielt er sich
scheinbar kooperativ. Das allgegenwärtige grüne Licht blieb hinter ihnen zurück. Nur ein diffuses Leuchten lieferte noch verschwommene Eindrücke der Umgebung. Einzelne Korallenverästelungen, die durch den Tunnel strebten, erschienen wie bizarre Greifarme, die versuchten, die Flüchtlinge aufzuhalten. Golgerd hatte keine Chance, ihnen auszuweichen. Als zersplitterte Fragmente trieben sie hinter der DAALGOR im Wasser. »Ich registriere heftige Erschütterungen. Die Vaaren bahnen sich ihren eigenen Weg«, sagte Rurkka unvermittelt. »Das klingt, als suchten sie auf gut Glück nach uns.« Der Gestalter gab keine Antwort, sondern konzentrierte sich auf die Überwachung des vaarischen Piloten, der den Rochen steuerte. Voraus wurde das grüne Leuchten wieder intensiver. Der Tunnel erweiterte sich allmählich, bis eine trichterförmige Öffnung die DAALGOR ausspie. Scobee warf einen Blick auf den Bildschirm, der die Richtung zeigte, aus der sie kamen. Die Korallen hatten sich dort zu einem sinnverwirrenden Gespinst zusammengeschlossen, das eine scheinbar undurchdringliche Mauer von gewaltigen Ausmaßen bildete. Kilometerlange Stöcke wuchsen wie Tentakel daraus hervor und schufen ein farbenprächtiges Monument. Ein gleißender Strahl fraß sich aus dem Innern der Kolonie. Teile der Korallen lösten sich unter heftigen Farberuptionen in Nichts auf, während unwirkliche Schemen in Gedankenschnelle durch das Wasser zu eilen schienen. Alarmiert schrie Scobee: »Ausweichen!« Die Vaaren schienen zu befürchten, dass ihnen ihre Beute entkam. Deshalb intensivierten sie ihr Feuer, um die DAALGOR zu stellen. »Die wollen uns aus dem Universum pusten!«, stieß Jarvis aus. »Rurkka, wir müssen uns wehren!« Der Luure dachte nicht daran, sondern trieb lediglich Golgerd an. Der Vaare beschleunigte das Schiff daraufhin offenbar mit Höchstwerten. Hinter ihnen wurde das gigantische Korallengebilde kleiner. »Rechts von uns!« Resnick hatte sie als Erster gesehen. »Vier Rochen! Sie halten direkt auf uns zu!«
Sie kamen schräg von vorne, genau wie Scobee es befürchtet hatte. Diesmal feuerten sie jedoch nicht. Die DAALGOR schien kurz zu bocken und raste dann in die Tiefe. Golgerd zwang sie in eine Schleife, hatte aber keine Möglichkeit umzukehren. Denn hinter ihnen brachen weitere Verfolger aus dem treibenden Atoll. Er ging auf Zick-Zack-Kurs. Bange Sekunden vergingen, dann hatte Golgerd ihnen ein wenig Luft verschafft. Doch lange würde die DAALGOR die Hatz nicht mehr durchstehen. »Sie rufen uns«, sagte der Altersweise. »Wenn wir uns nicht sofort ergeben, zerstören sie uns.« »Ist ja mal ganz was Neues. Die Kerle werden mir mit jeder Minute sympathischer«, knurrte Jarvis. Scobees Blick wechselte zwischen den verschiedenen Bildschirmen hin und her. »Rurkka, versuch sie hinzuhalten. Verlang eine Garantie, dass uns nichts geschieht, wenn wir uns ergeben.« »Sie wiederholen nur ihre Forderung, dass wir kapitulieren«, zerstörte er ihre Illusionen. Im nächsten Moment zerschnitt eine sonnenhelle Lanze das Wasser vor ihnen. Ein leuchtendes Kreuz bildete sich. »Ein energetisches Fangnetz«, erklärte der Schöpfer. »Aber das ist Spielerei. Sie sollten wissen, dass sie uns damit nicht aufhalten können.« Von allen Seiten näherten sich die Vaaren nun. »Rurkka, der Kreis schlie ßt sich. Wir kommen hier nicht mehr raus!« Das war Resnick. »Wollt ihr unbedingt sterben?«, erwiderte er kalt. Scobee hatte den Eindruck, dass die Frage des Luuren rhetorischer Natur war. Denn er war es, der offenkundig auf gar keinen Fall aufzugeben gedachte. Golgerd bremste radikal ab und brachte die DAALGOR damit in eine extreme Schieflage. Sie begann zu trudeln und verlor weiter an Geschwindigkeit. »Sie werden das Schiff nicht zerstören, solange sich Vaaren in unserer Gewalt befinden«, behauptete Rurkka scheinbar gelassen. »Wenn ihr weiter vordringt, werden sie keine Rücksicht mehr auf uns nehmen«, warf Hulog ein. »Sie lassen nicht zu, dass ihr den Heiligen Bezirk erreicht.« »Den Heiligen Bezirk?«, fragte Jarvis.
»Was ist das?« Niemand gab ihm eine Antwort. »Ich brauche mehr Zeit«, bemerkte Rurkka stattdessen. »Hätte ich sie, würde ich mehr Leistung aus der Protomaterie des Schiffs herauskitzeln.« Scobee schüttelte den Kopf. »Dafür bliebe uns mit Sicherheit keine Zeit, ohne dir und deinen Fähigkeiten zu nahe treten zu wollen.« Der Alterweise spürte einen schmerzhaften Stich. Keine Zeit... Meine innere Uhr... Plötzlich war sie wieder gegenwärtig, seine Crux, und er konnte sich nicht dagegen stemmen. Sein Ende war vielleic ht schon näher, als er es wahrhaben wollte. Tick -tick-tick. Die DAALGOR vollführte ein weiteres waghalsiges Manöver und raste zwischen den Rochenschiffen hindurch, die sich für Sekunden gegenseitig behinderten. Sie konnten auch nicht das Feuer eröffnen, ohne Gefahr zu laufen, sich gegenseitig zu treffen. »Wir haben eine letzte Möglichkeit «, erklärte Rurkka. »Hulog hat es ausgesprochen.« »Nein, das darfst du nicht, Schöpfer!«, schrie Golgerd regelrecht gequält auf. »Willst du all deinen Verbrechen auch noch dieses hinzufügen? Es wäre das Schlimmste von allen!« Jarvis stie ß einen Fluch aus. »Eine letzte Möglichkeit? Verdammt, unser Wunderknabe scheint irgendein Himmelfahrtskommando zu planen!« Er sah sich kopfschüttelnd um. »Wenn ich nur wüsste, wie bei dieser Kiste die Waffensysteme funktionieren.« In diesem Moment hatten sich die Verfolger offenbar endgültig formiert. Sie eröffneten das Feuer. Golgerd vollführte weitere haarsträubende Manöver, die nur Jarvis einen anerkennenden Pfiff entlockten. »Ich würde auch nicht gern von meinen eigenen Leuten umgebracht werden«, kommentierte der GenTec. »Wobei - wir standen dicht davor...« Kein Zweifel, dass er die irdischen Schiffe meinte, die ihnen seit der Wurmloch-Passage ans Leder wollten. Rurkka warf dem GenTec einen undeutbaren Blick zu. Dann wandte er sich wieder den Bildschirmen zu.
Ein schwerer Schlag erschütterte die DAALGOR und riss sie aus der Bahn. Sekundenlang tanzte sie unfreiwillig um ihre eigene Achse. Aus!, dachte Scobee. Das ist das Ende. Offenbar hatten sie die Fähigkeiten ihres vaarischen Piloten, seinen zahlenmäßig überlegenen Artgenossen zu entkommen, überschätzt. Viel zu langsam driftete die DAALGOR dahin, jeden Moment musste sie den finalen Treffer erhalten. »Sie haben das Feuer eingestellt!« Verblüffung sprach aus Resnicks Stimme, die Scobee in die Wirklichkeit zurückholte. »Ich verstehe das nicht«, fügte er hinzu. »Warum schie ßen sie nicht weiter? Sie hatten uns doch schon. Seht ihr das? Sie... sie drehen ab.« Scobee brachte ein knappes Nicken zustande. Es war unverkennbar, dass die Verfolger wie auf Kommando abgebremst hatten und sich nun aus unerfindlichem Anlass zurückzogen. »Was bedeutet das?«, wandte sie sich an den Luuren, Statt einer Antwort empfing sie Anzeichen von Furcht und Panik. Sie waren so intensiv, dass sie diesmal nicht auf Rurkkas Linguatoren angewiesen war, denn sie stand gleich neben Hulog, der sie mit seinen Nesselfäden berührte - ob absichtlich oder unbewusst, war nicht zu bestimmen. Die intensiven Bilder brannten sich förmlich in ihren Geist. Tod... Von nun an sind wir verflucht... Werden alle sterben... Scobee hatte das Gefühl, geradewegs in einen unendlichen Abgrund aus seelenloser Schwärze zu blicken, auch wenn es nur Bilder waren, die der Vaare übertrug, die seine Ängste skizzierten. Sie sah das Ende aller Zeit und damit allen Seins. Dann war es, als würde ein stürmischer Wind eine brennende Kerze ausblasen. Und diese Kerze war sie... 9. »Wir müssen wenden«, flehte Golgerd. »Wir müssen sofort wieder aus diesem Bereich heraus - ehe es zu spät ist!« »Was ist der Heilige Bezirk?«, fragte Scobee. »Wenn wir seine Bedeutung nicht kennen, können wir euch keine Zusagen machen.«
»Fliehen...«, wimmerten die Vaaren wie in einem unheimlichen Chor. »Müssen fliehen...« Zu einer anderen konkreten Aussage waren sie nicht zu bewegen. Rurkka hielt unterdessen die Bildschirme im Auge. »Die Jadeschiffe sind in Warteposition gegangen«, sagte er. »Auch wenn sie uns nicht weiter folgen, können wir nicht umkehren. Darauf lauern sie nur.« Offenbar rechneten die Verfolger damit, dass die DAALGOR den Bereich, in den sie eingedrungen war, umgehend wieder verlassen würde. Und wenn es nach den entführten Vaaren an Bord gegangen wäre, hätten sie damit auch zweifellos Recht behalten. Was jagte den Beherrschern des Aqua-Kubus eine solche Furcht ein, dass sie eher den Verlust ihres Schiffes in Kauf nahmen, als an diesem Ort zu verweilen? Gab es eine Gefahr, die weder Mensch noch Keelon bislang erkannt hatten? Und wie sah es mit dem Luuren aus? »Rurkka«, wandte Scobee sich an den alten Gestalter. »Welche Informationen hast du über diesen so genannten Heiligen Bezirk?« »Ich habe den Begriff schon einmal gehört«, antwortete der Altersweise. »Aber ich kann nicht mit konkreten Fakten dienen. Dieser Bezirk hat etwas mit der Mythologie der Vaaren zu tun. Mehr kann ich dir leider nicht sagen.« Noch einmal befragte er Golgerd und die anderen Vaaren, doch sie gaben keine Antwort, sondern fuhren in ihrer angsterfüllten Litanei und dem Drängen auf sofortige Umkehr fort. »Was ist das dort draußen?« Resnick deutete auf den Bildschirm, auf dem sich aus trübem Gr ün eine Silhouette herausschälte. Da die DAALGOR sich noch immer bewegte, wuchs das Gebilde rasch an. »Sieht aus wie eine... Tafel«, überlegte Jarvis laut. »Da sind noch mehr davon...« »Golgerd, Schiff anhalten!«, befahl Rurkka, während weitere der Tafeln in Sicht kamen. Es waren Dutzend, Hunderte - vielleicht Tausende. Sie hingen im Wasser, ohne ihre Position merklich zu verändern. Rasch kam der vaarische Pilot der Aufforderung zum Stopp nach, aber seine Angst verringerte sich dadurch nicht. Immer wieder vermischte sich seine geisterhafte Erscheinung mit der der anderen Vaaren. Scobee hatte den Eindruck, dass sie dichter
zusammenrückten, um so ihre geradezu panische Furcht besser unter Kontrolle zu bekommen - doch das gelang ihnen offenkundig nicht. Zögerlich kam die DAALGOR zum Stillstand. Unruhig zuckte Golgerd umher. Scobee beobachtete ihn. Sie war sich sicher, dass er die erstbeste Gelegenheit zur Umkehr beim Schopf ergriffen hätte. Die Furcht vor dem, was vor ihnen lag, war größer als seine Angst vor Rurkkas Rezeptor. Er steuerte das organische Schiff mittels seines Geistes und war damit auf keine manuellen Bedienungselemente angewiesen, wie sie Rurkka für seine eigenen Zwecke aus Protomaterie geformt hatte. Falls er sich von seiner Hysterie hinreißen ließ, würden sie es erst merken, wenn das Jadeschiff bereits Fahrt in die Richtung aufnahm, aus der es gekommen war... Eine der Tafeln befand sich jetzt direkt vor der DAALGOR, sodass Einzelheiten zu erkennen waren. Ein phosphoreszierendes Leuchten ging von der Tafel aus. Sie wirkte, als würde sie von innen heraus pulsieren. Kolonnen fremdartiger Symbole zeichneten sich auf der Oberfläche ab. »Schriftzeichen«, erkannte Resnick. »Aber fragt mich nicht, was sie bedeuten.« »Das ist vaarische Schrift, eine Abart zumindest«, erklärte Rurkka. »Golgerd, was steht da geschrieben?« Der vaarische Pilot hatte sich mit seinen Artgenossen zu einer unentwirrbaren Zusammenballung vereint. Unvermindert hielten ihre panischen Impulse an, die von den nach unten geregelten Linguatoren dezent in eine verständliche Sprache übertragen wurden. Doch viel kam dabei nicht heraus. Die Vaaren fassten offenbar keine kla ren Gedanken mehr, waren in völliger Konfusion versunken. Mit einer raschen Bewegung griff Scobee in das lebendige Knäuel, stellte den notwendigen Kontakt her und schleuderte den Vaaren ihre Verärgerung entgegen. Einige Sekunden vergingen, dann löste sich der Verbund in die einzelnen Individuen auf. Verunsichert flatterten sie umher. Immerhin gab Golgerd zu verstehen, dass er wieder ansprechbar sei. »Eine Botschaft in vaarischer Schrift«, drängte ihn Scobee. »Wir wollen wissen, was sie bedeutet.«
Golgerds Antwort kam jetzt prompt. »Dort steht, was wir euch bereits mitteilten: Wir haben den Heiligen Bezirk erreicht, Unbefugten ist der Zutritt bei Todesandrohung verboten.« Es folgten klägliche Laute, die sich nicht in verständliche Worte übersetzen lie ßen. Wie ein Derwisch fegte Golgerd umher. Die anderen Vaaren schlossen sich seinem Beispiel an. »Das ist doch nicht alles«, drängte Scobee. »Wenn ich mich nicht irre, steht auf den Tafeln noch viel mehr. Und wenn du es uns nicht verrätst, können wir auf euch Vaaren keine Rücksicht mehr nehmen. Dann müssen wir eben auf eigene Faust weiter in den Heiligen Bezirk vordringen, um uns ein eigenes Bild der Verhältnisse zu machen.« Weder Golgerd noch ein anderer Vaare reagierte auf die unverhohlene Drohung. »Wir missachten das heilige Gesetz!«, war ihm noch zu entlocken, dann verfiel er erneut in hysterische Raserei. Dafür meldete sich Darnok. »Wir sollten eine dieser Tafeln bergen«, schlug er vor. »Vielleicht gelingt es mir, sie zu entschlüsseln. Aber für eine genauere Untersuchung muss ich sie an Bord des Karnuts nehmen.« »Rurkka, irgendwelche Einwände?«, fragte Scobee. »Ich weiß nicht, was geschieht, wenn wir eine Tafel entweihen«, wehrte der Luure ab. »Darnok soll es trotzdem versuchen, eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.« Scobee nickte entschlossen, während die Vaaren-Besatzung immer mehr in Agonie versank. Aus Panik und Hysterie wurde lähmende Starre. Sie sterben vor Angst, erkannte Scobee - aber sie wusste nicht, was sie dagegen hätte tun können. Die von den Vaaren erflehte Umkehr hätte schwer wiegende Folgen für alle anderen an Bord gehabt, vielleicht Tod, vielleicht Folter. Nein! Sie hatte nicht all die Verstrickungen auf sich genommen, um jetzt aufzugeben. Sie hatte bereits Unmögliches möglich gemacht im Grunde konnte nichts sie mehr schrecken. Aber irgendwann - bald - werde ich den anderen die Wahrheit sagen müssen, dachte sie. Über mich. Und sie nahm sich vor, dies spätestens zu tun, wenn sie den
Kubus wieder lebend hinter sich lie ßen. Die Reaktionen derjenigen, mit denen sie in Zeit und Raum gestrandet war, lie ßen sich nicht vorhersagen. Aber das war momentan ihre geringste Sorge... * »Ihr wollt mir etwas sagen«, wisperte Darnok, während die Bildschirme des Karnuts ihm die Umgebung außerhalb der DAALGOR und damit die Tafeln zeigten. Zwar wurden ihm sämtliche Daten und Beobachtungen des Jaderaumers übermittelt, in dessen Hangar das Karnut untergebracht war, aber der Keelon verließ sich lieber auf die Systeme des eigenen Schiffes. Was er sah, erschien ihm unwirklich. Die entdeckten Schrifttafeln in dem von grünlichem Licht durchwobenen Wasser glichen einer gigantischen Bibliothek, die nur darauf wartete, dass jemand ein Buch daraus entlieh. Das hatten die Menschen getan. Sie hatten ohne lange nachzudenken eine der Tafeln aus dem Wasser geborgen. Natürlich hatte Darnok sich sofort bereit erklärt, die Untersuchung zu übernehmen. Denn seine eigene Neugier war nicht geringer als die ihre. Während er die Tafeln betrachtete, meldete sich die Erinnerung an alles, was letztlich dazu geführt hatte, dass er hier war. Hier im Kubus. Im Reich der Vaaren, über die er nicht mehr wusste als ein paar Geschichten, die man sich in der Galaxis erzählte. Der Vaaren-Kubus war Niemandsland. Tabuzone. Gewesen. Denn er hatte das Tabu gebrochen. Schmerz befiel Darnok, weil er daran dachte, wie alles gekommen war, und einmal mehr überstrahlte das tragische Schicksal der Keelon jede andere Empfindung. Von Schmerzen übermannt, stöhnte Darnok auf. Er riss sich von dem auf den Bildschirmen gebotenen Anblick los und wimmerte vor sich hin. Niemand konnte ihn hören. Er wartete, bis sich seine Lebensimpulse beruhigten und normale Werte erreichten, dann wandte er sich dem Tisch zu, auf dem das Artefakt lag. Unschlüssig betrachtete Darnok das aus dem Wasser geborgene Objekt. In der Tat hatten die gefangenen Vaaren nur einen Teil des
Inhalts offenbart, denn die Tafel war über und über mit Schriftzeichen bedeckt. Dort stand noch viel mehr geschrieben, aber er konnte die Worte nicht lesen. Noch nicht, aber Darnok war zuversichtlich, dass ihm ihre Entschlüsselung mit den technischen Möglichkeiten des Karnuts, in das alles Können seines Volkes eingeflossen war, gelingen würde. Mit einer seiner Extremitäten fuhr der Keelon über die Oberfläche der Tafel. Sie war kalt, eisig kalt, und er spürte das Pulsieren, das davon ausging. Zu seiner Überraschung stellte Darnok fest, dass es sich nicht um Protomaterie handelte. Eine unbekannte Metalllegierung. Widerstandsf ähiger als alles, was ich je gesehen, alles, wovon ich je gehört habe... Wie viele Tafeln genau mochte es geben - und von wem waren sie einst ausgestreut worden? Von den Wesen, die die Vaaren als Die Sieben Hirten verehrten, von denen John Cloud berichtet hatte? Die Messungen ergaben, dass im Heiligen Bezirk nicht Tausende dieser Gebilde trieben, sondern ihre Zahl in die Hunderttausende ging. Noch erstaunlicher war die Aura, die sie umgab - und dass sie mentale Botschaften aussandten. Irritiert lie ß Darnok von seiner optischen Betrachtung ab und versenkte seinen Geist in das, was er selbst auf geistiger Ebene zu empfangen glaubte. Rasch erkannte er, dass das Phänomen sich nicht empirisch belegen lie ß. Er fragte sich, ob er einem Trugschluss aufsaß. Angestrengt lauschte er auf die vermeintliche Botschaft, doch je mehr er sich darauf konzentrierte, desto schwächer wurden die Eindrücke, die ihn erreichten. Nach einer Weile erloschen sie vollständig. Erneut stellte Darnok eine körperliche Verbindung zu der Tafel her, berührte sie, doch diesmal blieb sie stumm. Der Keelon kam zu dem Schluss, einem Irrtum aufgesessen zu sein. Seine eigene Erwartungshaltung hatte ihm offenbar etwas vorgegaukelt, was gar nicht existierte. Trotzdem wich die Faszination nicht. Unter Umständen enthielt die Tafel sogar bedeutende Informationen über die Entstehung und die Herkunft Tovah'Zaras, wie Rurkka und die Vaaren den Kubus nannten. Das völlig irrationale Verhalten der Geiseln an Bord sprach
jedenfalls nicht gegen eine solche Vermutung. Die Botschaft der Tafeln hatte unstrittig einen Inhalt, der die Vaaren bis ins Innerste erschütterte. So sehr, dass es ihnen unmöglich war, gegenüber einem Fremden darüber zu sprechen. Vielleicht würde es ihm gelingen, die Inschriften zu entziffern. Er setzte die Technik des Karnuts ein. Viele Stunden vergingen, und er kam nur mühsam voran. Doch das störte Darnok nicht. Einsam, wie er war, verfügte er über alle Zeit des Universums. Mehr sogar als jedes andere Individuum, das er kannte. Eine fiebrige Unruhe hatte ihn ergriffen und trie b ihn an weiterzuforschen, und schlie ßlich machte er eine Entdeckung, die er nicht für möglich gehalten hätte. Die Tafeln sprachen! Wenn auch ausschlie ßlich zu den Vaaren an Bord. Und offenbar waren sie einst von den geheimnisvollen Sieben Hirten an der Grenze zum Heiligen Bezirk platziert worden... * Die DAALGOR trieb in unmittelbarer Nähe der von unsichtbaren Kräften im Wasser gehaltenen Tafeln. Momentan gab es nichts, was die menschliche Besatzung des Karnuts zur Untersuchung der geborgenen Tafel hätte beitragen können. Ihre Enträtselung blieb Darnok überlassen, der dabei allenfalls noch von Rurkka unterstützt wurde. Die Vaaren an Bord schienen sich in ihr Schicksal gefügt zu haben und waren nach vorübergehendem Tumult in einen Zustand trügerischer Ruhe verfallen. Hin und wieder kamen Sendungen über das Protonetz herein. Sie gaben über das Geschehen an der Kubus-Grenze und im freien Raum Aufschluss und bestätigten die Ereignisse, deren Zeuge Cloud in Königin Lovrenas Thronsaal geworden war: Die angreifende Erdflotte war vernichtend geschlagen worden; die Überlebenden hatten ihr Heil in der Flucht gesucht. Trotzdem hoben die Vaaren die verstärkte Präsenz im Grenzgebiet noch nicht wieder auf, als rechneten sie mit einer Rückkehr des Gegners.
Die Jadeschiffe, die die DAALGOR verfolgt hatten, waren zwar nicht in den Heiligen Bezirk eingedrungen, aber sie lauerten unmittelbar davor. »Wir empfangen einen Funkspruch.« Rurkkas Stimme zitterte vor Erregung. »Es ist eine direkte Nachricht von Königin Lovrena.« »Dann lass mal hören, was eure liebreizende Königin uns mitzuteilen hat«, forderte Jarvis ihn auf. Er lachte humorlos. »Vielleicht war ja alles nur ein Missverständnis, und zur Wiedergutmachung lädt sie uns zum Dinner ein.« Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als Lovrenas Worte erklangen. »Verlasst sofort den Heiligen Bezirk! Ergebt euch - sonst wird geschehen, was ihr nie wieder gutmachen könnt!« Der laute Hall aus der Übertragungseinheit wurde von betroffener Stille abgelöst. Cloud und die GenTecs blickten einander an. Schlie ßlich kommentierte Scobee: »Deine Einladung zum Essen klingt eher nach einer Henkersmahlzeit. - Was meinst du, John? Eine leere Drohung, oder steckt mehr dahinter?« Cloud zuckte die Achseln. Es passte nicht zu Lovrenas Mentalität, sich auf leere Drohgebärden zu verlassen. »Ich würde es ernst nehmen«, sagte er. »Was nicht heißt, dass wir ihrer Aufforderung folgen sollen.« »Was hat sie mit ›nicht mehr gutmachen‹ gemeint?«, fragte Jarvis. »Müssen sich Aristokraten immer so umständlich ausdrücken? Sie hätte doch einfach sagen können, dass sie uns genüsslich umbringt, wenn wir nicht brav ihrem Ultimatum folgen.« Cloud blickte ihn nachdenklich an. Jarvis' lockerer Tonfall änderte nichts an der Tatsache, dass ihre Situation im Grunde genommen aussichtslos war. »Ich weiß nicht«, seufzte er. »Ich bin mir nicht sicher, ob noch immer wir es sind, die sie in ihre Hand bekommen will.« »Was genau willst du damit sagen, Ex?«, fragte Resnick. »Ich hatte den Eindruck, als läge ihr in erster Linie daran, Schaden zu vermeiden. Irreparablen Schaden, den wir anrichten könnten.« »Wie?«
»Wenn ich das wüsste...« Nein, selbst er ahnte in diesem Moment noch nicht die volle Bedeutung von Lovrenas Drohung. Sonst wäre wohl auch nie geschehen, was geschah. ENDE
BAD EARTH Wiedervereint sehen sich John Cloud und die GenTecs mit dem rigorosen Ultimatum der Vaaren-Königin konfrontiert. Aber welche schrecklichen Konsequenzen hat es tats ächlich, wenn sie sich nicht ergeben? Warum ist die von »sprechenden Tafeln« markierte Kubus -Zone den Vaaren überhaupt heilig? In Verbindung damit scheinen die ominösen Sieben Hirten zu stehen, auf die Cloud schon während seiner Gefangenschaft aufmerksam wurde. Doch handelt es sich dabei um reale oder rein mythologische Gestalten? Ungeachtet der harschen Drohung beschlie ßt die Besatzung des Karnuts, tiefer in den brisanten Bereich vorzudringen. Aber ihre Flucht endet jäh, als sich
DIE GRENZE ZUM NICHTS vor ihnen erhebt. Der gleichnamige Roman stammt aus der Fe der von W. K. Giesa, Bastei-Lesern auch als Robert Lamont bekannt. In 14 Tagen bei Ihrem Zeitschriftenhändler.