W. K. Giesa & Volker Krämer
Überleben verboten! Professor Zamorra Hardcover Band 13
ZAUBERMOND VERLAG
Der STERNENJÄ...
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W. K. Giesa & Volker Krämer
Überleben verboten! Professor Zamorra Hardcover Band 13
ZAUBERMOND VERLAG
Der STERNENJÄGER unter dem Kommando des Ewigen Al Cairo trifft über Gaia, der Erde, auf die geheimnisvollen Gkirr – und Al Cairo rätselt, weshalb diese ihm so verhasste Rasse ausgerechnet die Erde als Ziel gewählt hat. Eine erste Spur, die zur Lösung des Rätsels führen könnte, weist zum Tongagraben. Dieses Ziel aber hat auch Professor Zamorra, der über den Wissenschaftler Artimus van Zant längst ebenfalls in diesen mysteriösen Fall verwickelt wurde …
Vorwort An genau dieser Stelle erwarten Sie, die Leser, die einführenden, erklärenden Zeilen von Werner K. Giesa. Bei diesem Buch wird dies anders sein, denn ich, der Co-Autor dieses Bandes, habe Werner gebeten, diese Aufgabe für ihn übernehmen zu dürfen. Es gibt dafür natürlich einen Grund – ich wünschte, es würde ihn nicht geben … Am Samstag, den 8. Januar dieses Jahres klingelte abends gegen 21 Uhr mein Telefon. Es war Werner Giesa, der mich mit brüchiger Stimme fragte, ob ich einen von ihm begonnenen Roman übernehmen und beenden könnte. Ich sagte natürlich zu, fragte aber warum er diesen Job weitergab. Seine Antwort werde ich in meinem Leben nie mehr vergessen können: »Heike ist tot … tot!« Ich habe Werner und seine Frau Heike 1986 kennen gelernt. Aus einer geschäftlichen Zusammenarbeit wurde sehr schnell eine enge Freundschaft mit intensivem Briefkontakt. In all den Jahren hatten wir immer auf die eine oder andere Art und Weise Kontakt. Giesas ließen mich nie hängen, vergaßen mich nicht. Das gab es bei den beiden nicht – auf keinen Fall! Viele Jahre später holte Werner mich dann in das Zamorra-Team. Und da dämmerte mir so langsam, was wohl nur die allerwenigsten Leser, vielleicht sogar nicht einmal alle Co-Autoren wussten: Heikes Einfluss auf die Zamorra-Serie war um vieles größer, als man es vermutete. Sie war oft Ideengeberin, stand Werner als sein erster Kritiker zur Seite, lektorierte alle seine Manuskripte, las Korrektur bei jedem der Romanhefte. Sie war uns Netz und doppelter Boden zugleich, der all die kleinen Unzulänglichkeiten bemerkte und für uns ausmerzte. Und das alles still und unauffällig im Hintergrund. Zu still, liebe Heike! Um so überraschter war ich, als ich als Reaktion auf mein Manuskript zum Hardcover Band 8 (»Dhyarra-Jäger«) plötzlich eine
E-Mail mit folgendem Inhalt bekam: Moin Volker! Klasse Themenverarbeitung! Es ist ein tolles Buch geworden! Ich hab es gerne gelesen und bin jetzt gespannt auf die Leserreaktionen. Wie immer das Leserecho ausfallen wird: Meiner Ansicht nach ist das Buch Klasse! Gruß – Heike. Ganz ehrlich – das war und ist für mich das schönste Lob, das ich je bekommen habe! Heike … du fehlst Werner so sehr. Du fehlst all deinen Freunden. Du fehlst mir … Und du fehlst der Professor Zamorra-Serie. Du fehlst schmerzhaft! Wir sehen uns – Dein Freund Volker Krämer Gelsenkirchen, Mai 2005
»Niemand weiß, wie es ist, der böse Mann zu sein …« (The Who, 1973: ›Behind blue eyes‹)
Mein Dank gilt Dagmar und Benjamin Rückert für ihre Hilfe.
1 Wartephase – Eindruck: 01 Aktualisiertes Wissen blieb auch weiterhin mangelhaft. Informationen über alle Bereiche strömten nach wie vor. Ohne Unterlass. Doch der wichtige Kontakt existierte nicht mehr. »I« nahm alles Wissen problemlos in sich auf. Neues wie Altes, das erweitert, oft korrigiert wurde. Es gab Momente, da fragte sich sein ruhendes Bewusstsein, ob er all das je würde anwenden können. Denn die Form, in der er darüber verfügen konnte, war ausschließlich theoretischer Natur. Was war hell, was dunkel? Grün, blau, rot und gelb … Was bedeutete laut, was leise? Wohlklang, Missklang, Singen, Schreien, Lachen … Konnten diese Dinge eine wirkliche Bedeutung haben, bevor man seine Augen geöffnet hatte, bevor die eigenen Ohren gehört hatten? »I« hatte seine Augen noch nie geöffnet, seine Ohren hatten in all der vergangenen Zeit nie gehört. Er war das perfekte Wissen. Ein Wissen, das er für sich selbst nur mutmaßen konnte. Von Phase zu Phase wuchs der Wunsch nach Klarheit bis ins Unermessliche. Lange konnte er nicht mehr warten. Die Phasen waren nahezu aufgebraucht. Es wurde Zeit … oder es würde enden, ohne für ihn je wirklich begonnen zu haben. In Ungeduld gab sich »I« dem Warten hin.
2 Saitentanz Die Melodielinie löste sich auf. Ein rasender Lauf über die ersten fünf Bünde brach sich seinen Weg, der in hastig gesetzten Jazzakkorden endete. Und unvermittelt klang die Hauptlinie wieder durch, schwang sich hoch, brach weg und hetzte sich selbst über den gesamten Hals des Instrumentes. Die Kadenz wiederholte sich in geraffter Form, wurde schrill, beinahe unerträglich … und endete in drei gehauchten Flagolett-Tönen. Die Gitarre, ohne jeden Effekt direkt in die Anlage gespielt, erzeugte praktisch kein Sustain – der Ton ebbte rasch ab, überließ der Stille seinen Raum. Die linke Hand des virtuosen Spielers zog den Klinkenstecker aus der E-Gitarre. Er war zufrieden. Ein weiteres Take musste er nicht einspielen, da war er sicher. Sein Blick ging nach vorn zu der Glasscheibe, die den Aufnahmeraum von der Mischzentrale trennte. Im Halbdunkel der akustisch isolierten Kabine wurde das Glas beinahe zu einem Spiegel. Man konnte nicht einmal erahnen, wer sich im Raum dahinter aufhielt. Ein Knacken ertönte, das die aktivierte Sprechverbindung signalisierte. Clamor Salomos beruhigende Stimme klang auf. »Mel, kommst du rüber?« Ein erneutes Knacken beendete die spartanisch kurze Ansage. Ein großer Redner war Clamor noch nie gewesen, doch das eben klang ja geradezu gelangweilt. Mel Amber stieß sich von der Stehhilfe ab, die er bei Aufnahmen immer benutzte. Solche Studiotage konnten lang werden. Mel war nie ein Sitzspieler gewesen, doch wer einmal zwölf und mehr Stunden mit einer Gitarre um den Hals verbracht hatte, der sah sich umgehend nach einem Hilfsmittel für solche Fälle um. E-Bassisten erging es da noch weitaus übler. Deren Instrumente wogen um einiges mehr.
Amber stellte seine Telecaster in einen der Gitarrenständer. Die Fender-Gitarre war seit unzähligen Jahren so etwas wie sein Markenzeichen. Er besaß gut zwei Dutzend weitere E-Gitarren, darunter sogar einen Prototyp, den man bei Fender für ihn angefertigt hatte. In Serie war das Teil dann allerdings nie gegangen. Aber sie hätten ihm wahrscheinlich noch eine weitere LKW-Ladung ihrer Bretter vor die Tür stellen können, er wäre sicher trotzdem bei seiner Tele geblieben. Mel schloss die Tür hinter sich. Clamor saß in seiner für ihn so typischen Haltung hinter dem Mischpult, auf dem sich Hunderte von Reglern, Schaltern und Leuchtdioden befanden. Amber hatte nie versucht, hinter den Sinn dieser Pulte zu steigen. Das war einfach nicht sein Ding. Mit rundem Buckel hing Salomo halb über dem Mischpult. Seine Finger drehten, schnippten, klickten in rasender Geschwindigkeit. Diese Sitzhaltung und sein reichlich langes Riechorgan hatten dem Mann den Branchennamen Geier eingebracht. Mel warf sich in den Schalensitz neben Clamor. »Und? Was sagst du dazu?« Er war von seinem letzten Solo wirklich mehr als überzeugt. »Hmm, nett.« Amber hatte begonnen, in den ausgebeulten Taschen seiner Weste nach einem Päckchen Zigaretten zu kramen. Er stoppte seine Bemühungen und wandte den Kopf in Richtung seines Produzenten, Toningenieurs und – wie er bisher zumindest gedacht hatte – besten Freundes. »Nett? Wie – nett? Kannst du mal aufhören, in Minimalsätzen zu reden, Alter?« Clamor Salomo schien zu zögern, als müsse er erst einmal seinen ganzen Mut zusammennehmen. Das war jetzt wohl der Augenblick, vor dem er sich bereits seit Monaten drückte. Der Moment, in dem die Wahrheit heraus musste. Ein Stoßseufzer der tiefsten Sorte drang aus ihm heraus. Es musste dann wohl sein. Salomo drehte seinen Sitz zu Amber. »Dein wievieltes Soloalbum ist das jetzt? Außerdem – ich dachte, du hättest mit dem Rauchen aufgehört?«
Mel hatte das Päckchen nun doch gefunden und sich instinktiv einen der Glimmstängel zwischen die Lippen geschoben. Nun steckte er ihn mit zwei Fingern wieder in die Schachtel zurück. Ja, eigentlich war er jetzt seit drei Monaten Nichtraucher. Doch im Studio fiel er beinahe automatisch in alte Gewohnheiten zurück. »Was soll die Frage? Du weißt genau, dies ist mein neuntes Album. Schließlich hast du sie ja allesamt produziert, du Spinner. Was ist los mit dir? Hat dir der Take eben nicht gefallen? Dann sag gefälligst etwas. Das ist dein Job, mein Freund.« Kritik war für Amber nichts Neues, doch Salomo hatte bislang nie etwas in dieser Richtung geäußert. »Nein, der Take war okay. So wie alle deine Takes okay sind, Mel. Okay für deine alten Fans, die in der Zwischenzeit bereits die Windeln ihrer Enkelkinder wechseln. Oder sich so langsam aber sicher auf ihren Ruhestand vorbereiten.« Clamor stand auf und begann in dem kleinen Raum auf- und abzugehen. Nie zuvor war es ihm so schwer gefallen, einem seiner Musiker die Wahrheit zu sagen. Und in Salomos Studio am Stadtrand von New York hatten sich die Großen der Rockszene die Klinke in die Hände gegeben. Die absoluten Heros der progressiven Rockmusik waren zu ihm gepilgert; Musiker, die den Mut zu Neuem hatten, zur Veränderung – die ihre Instrumente bis zur Perfektion beherrschten. Clamors Büro war tapeziert mit ihren Fotos, den Gold- und Platinauszeichnungen, die sie zu einem Teil auch ihm zu verdanken hatten. Von Yes bis Gentle Giant reichte die Palette, auf die Salomo zurückgreifen konnte. Mehr als zwanzig Jahre war es her, als sich eine Band bei ihm vorgestellt hatte, deren Gitarrist und Songschreiber vor Talent geradezu platzte. ›Teach it‹ hatten die ganze Szene aufgemischt. Doch nach nur drei Alben zerbrach die Band, und nur der Gitarrero hatte auch weiter von sich reden machen können. Die anderen Musiker versanken in der Vergessenheit. Und dieses blonde Musikgenie saß nun mit verwundertem Blick direkt hinter Clamor, der es kaum wagte, ihm in die Augen zu schauen. Aber es musste sein. Jetzt oder nie. »Du bist jetzt zweiundvierzig Jahre alt, Mel. Deine CDs verkaufen
sich so lala, das weißt du. Aber du wirst nicht ewig von deinem großen Namen zehren können.« Salomo nahm wieder im Sessel Platz und sah dem Freund direkt ins Gesicht. Harte Worte verdienten Ehrlichkeit, sonst verletzten sie über die Maßen. Und verletzen wollte er Mel nun wirklich nicht. »Der Arbeitstitel zu diesem Album lautet ›No reason‹. Das trifft die Sache auf den Punkt. Es gibt definitiv keinen Grund, es einzuspielen. Mel, du stagnierst.« Wenn Clamor mit einer heftigen Reaktion Ambers gerechnet hatte, so wurde er enttäuscht. Hätte Mel ihn nun angebrüllt, sich verbal zur Wehr gesetzt, wäre dem Produzenten alles leichter gefallen. Doch die Verblüffung in den Augen seines Gegenübers war ihm schier unerträglich. Mit mechanischen Bewegungen zündete sich Amber nun doch die Zigarette an, die er ganz sicher nicht rauchen wollte. »Erklär mir das, Clamor.« »Erklären? Gut, dann will ich dir sagen, was die Bosse deines Plattenlabels denken. Sie denken nicht in Qualität, sie denken in Dollarnoten! An Künstlern, deren Verkaufszahlen rückläufig sind, haben die keinen Spaß, das kannst du mir glauben. Und wenn du nicht mehr in der Lage bist, denen einen echten Knaller zu präsentieren, dann servieren sie dich eiskalt ab.« Salomo holte tief Luft. Jetzt war es raus. »Mel, du hast nur noch eine Chance, wenn du innovativ bist. Hast du noch einmal über eine Reunion mit ›Teach it‹ nachgedacht? Nur für ein Album, Mann. Das wäre er, der Knaller!« Amber drückte die nur angerauchte Zigarette im Ascher aus. Das Zeug schmeckte ihm nicht mehr. Ein Grund sich zu freuen, doch danach war ihm jetzt ganz und gar nicht. »Kommt nicht in Frage. Du weißt das. Also warum sprichst du es überhaupt noch an? Ich weiß nicht einmal, wo man die Jungs finden könnte. Und selbst wenn … ich will es nicht. Hörst du, Clam? Ich will es nicht.« Minutenlang herrschte Schweigen im Mischraum. Dann wagte Salomo einen letzten Versuch. Das Ergebnis ahnte er bereits, doch er musste auch die letzte Option ins Spiel bringen. »Mel, und wenn du mich erschlägst – was ist mit deinem Alten?
Ich meine, mit seinen unveröffentlichten Werken. Hör mir zu, ehe du unter die Decke gehst.« Amber entspannte sich wieder. Es war nicht das erste Mal, dass die zwei diese Thematik durchkauten. »Dein alter Herr war nun einmal unumstößlich ein Genius. Und er hatte nie Berührungsängste mit den verschiedensten Stilrichtungen. Ich denke nur an sein Ding, das er mit Miles Davis durchgezogen hat. Mann, wenn ich einen Vater in der Hinterhand hätte, der mir einen ganzen Berg an Musik vererbt hat … ich wüsste genau, was ich tun würde. Mel, sei klug. Da schlummert ein Potential, dass du nur umsetzen musst. Du …« Die Tür zur Aufnahmekabine war nur zwei Schritte von Ambers Sessel entfernt. Wortlos holte er sich aus dem Raum seine Telecaster und ging zu Salomo zurück. Selten hatte Clamor seinen Freund so ernst gesehen. »Clam, die Sachen, die Lix mir hinterlassen hat, die gehören nur ihm und mir. Niemandem sonst, hast du gehört? Ich denke, wir unterbrechen die Aufnahmesession. Wenn du willst, kannst du sie auch als beendet ansehen. Das überlasse ich dir und den Bossen, wie du sie so schön genannt hast. Wenn ihr mich nicht mehr wollt, dann geht das von mir aus klar. Mach's gut, Clamor.« Das satte Schmatzen, mit dem die schallisolierte Tür ins Schloss fiel, hatte etwas Endgültiges. Clamor Salomo fuhr das Pult auf Null herunter. Für heute war Schluss. Morgen hatte eine vielversprechende Gruppe sein Studio gemietet. Er hatte die Demos der Knaben mehrmals durchgehört. Sie hatten verstanden, wohin die progressive Rockmusik zu Beginn des 21. Jahrhunderts steuern musste. Vielleicht waren ja gerade sie die Zukunft der Szene. Salomo wusste, wie wenig man so etwas vorhersagen konnte. Und selbst wenn … ja, wenn sie die Stars von morgen waren, so hatte Mel Amber im kleinen Finger seiner linken Hand doch mehr Können als diese Kerle in all ihren Pfoten zusammen. Wenn er es doch nur noch einmal umsetzen würde. Clamor Salomon hatte einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. Den Geschmack, den er immer hatte, wenn er das Ende einer Karriere miterleben musste …
Samuel ›Lix‹ Amber war in seinem Haus am Stadtrand von Boston gestorben. Irgendwie hatte er es nicht geschafft, sich von dieser Stadt zu trennen. Auch nicht, nachdem er mit einer gewaltigen Gala den Abschied von seinem Posten gefeiert hatte. Den Zeitpunkt für seinen Start in den Ruhestand hatte er selbst gewählt. Anders wäre das auch wahrscheinlich so schnell nicht passiert, denn kein Mensch konnte sich hier das Boston Symphonie Orchestra ohne seinen musikalischen Leiter vorstellen. Mehr als zwanzig lange Jahre hatte er dem Orchester als Kopf und Herz dieser Einrichtung vorgestanden. Samuel war vierundsiebzig Jahre alt, als er starb. Zumindest hatte das in seinem Pass gestanden. Hätte er sich als Mann am Beginn seines fünften Jahrzehnts ausgegeben, wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, daran zu zweifeln. Mel hoffte stark, die zeitlose Jugendlichkeit seines Vaters geerbt zu haben. Als er den Chevy Van auf das Anwesen seiner Familie zusteuerte, fiel sein Blick in den Rückspiegel des Wagens. Mit einem bedauernden Grinsen musste er sich eingestehen, dass diese Hoffnung wohl ungerechtfertigt war. Mel war zweiundvierzig Jahre alt, aber jetzt schon hätte man seinen Vater sicher für einen nur unwesentlich älteren Bruder des Gitarristen gehalten. Nun, man konnte schließlich nicht alle guten Eigenschaften der Eltern abstauben. Mel Amber war sich bewusst, dass der Trip hierher nichts anderes als eine Flucht aus New York war. Salomons Ehrlichkeit lag dem Musiker wie ein Geschwür im Magen. Schlimm war, dass er völlig sicher sein konnte, dass Clamor bei der Sache nicht ein Wort zu viel gesagt hatte. Mel schüttelte den Kopf, als er den Wagen auf der Auffahrt zum Stehen brachte. Nein, am härtesten wog bei all dem doch die Tatsache, dass er, Mel, es im Grunde schon lange gewusst hatte. Die Musikszene wandelte sich ständig. Immer kam da jemand, der die ganze Chose in tausend Teile zerbrach, um sie gleich darauf neu zu erfinden. Beispiele für diesen sich pausenlos wiederholenden Prozess gab es ohne Ende. Miles Davis hatte einmal ganz selbstbewusst von sich
behauptet, die Musik gut und gerne vier-, vielleicht sogar fünfmal revolutioniert zu haben. Und der gute Mann hatte da sicher nicht übertrieben. Mel hatte das leibhaftige Beispiel ja ständig direkt vor Augen gehabt. Sein Vater war ein weltweit anerkannter Pianist und Dirigent gewesen. Zudem Komponist zeitgenössischer Klassik – auch wenn den alten Samuel dieser Begriff immer auf die Palme gebracht hatte, weil diese Wortschöpfung ihre eigene Unlogik in sich barg. Wie oft war er von den Klassik-Päpsten der Welt in Stücke gerissen worden! Mel hatte als Kind und Jugendlicher nie so ganz begriffen, wie sein Dad solche teils boshaften Kritiken mit einem Lächeln hatte abtun können. Die Tatsache, dass man ihn und seine musikalischen Ideen ganz einfach noch nicht verstand, war ihm wohl immer klar gewesen. Als Mel sich dann immer deutlicher in Richtung Rockmusik orientierte, rechnete er fest mit Konflikten zwischen ihm und seinem Vater. Seine Mutter lebte damals schon nicht mehr. Das Leben war aus ihr geflohen – einfach so. Ganz ohne einen erkennbaren Grund. Samuel ›Lix‹ Amber hatte sich die unfertigen, damals noch kantigen und rauen Lieder seines Sohnes angehört. Dann war er aufgestanden und hatte nur einen kurzen Satz von sich gegeben. »Du kannst nicht singen, Mel.« Als wenn der Junge das nicht selber gewusst hätte. Über seine Musik wollte er die väterliche Meinung einholen – nicht über sein Gekrächze. Am folgenden Tag war Samuel mit einem Gitarrenkoffer im Zimmer seines Sohnes erschienen. »Wenn ich mich nicht irre, dann verlangen die Soli in deiner Musikrichtung nach einem brillanten und klaren Klang, der sich gegen alle anderen Instrumente durchsetzen kann.« Mel hatte den Koffer geöffnet und die 50er Fender Telecaster gesehen, eine Sonderanfertigung, denn wie sein Vater war auch Mel Linkshänder. Samuel hatte ihn angelächelt. »Man sagte mir, das sei das perfekte Instrument dazu.« Mel Amber hatte seine Spielkunst in den kommenden Jahren perfektioniert. Er hatte sie alle ausprobiert: Gibson, Rickenbaker, Gretsch, alle die berühmten Marken, die gerade bei den Musikern
der progressiven Musik überaus beliebt waren. Er hatte experimentiert. Halbresonanz, Vollresonanz – Effektgeräte vom Delay bis zum Flanger; selbst Gitarren-Synthesizer hatten ihn über beinahe zwei Jahre hinweg beschäftigt. Am Ende war er immer wieder bei seiner Telecaster gelandet. Sicher auch etwas, das Clamor und die Geldsäcke der Musikbranche ihm übel genommen hatten. Und seine Fans? Gut, sie mochten in die Jahre gekommen sein, doch Mel bildete sich ein, dass gerade seine Beständigkeit in einigen Dingen bei ihnen ankam. Andere hielten das wohl für verstaubt und out. Verstaubt … wie der uralte Türklopfer aus Messing, der die Eingangstür schmückte. Doch der war ja auch nur zur Zierde hier angebracht. Samuel Amber war technisch immer auf der Höhe der Zeit gewesen. Mel wusste, dass die unanständig teure Überwachungsanlage des Hauses ihn bereits mit ihren Kameras im Visier hatte. Er hätte jetzt nur ein wenig zu heftig an der Türklinke rütteln müssen, dann wäre keine drei Minuten später ein hübscher Kabelbinder aus äußerst stabilem Kunststoff um seine Handgelenke geschnallt worden. Die Dinger waren preiswerter als echte Handschellen – und noch dazu äußerst effektiv. Samuel Amber konnte sich immer darauf verlassen, dass die Standleitung direkt zur Polizeizentrale bevorzugt behandelt wurde. Die Beamten hier waren sehr kunstverständig … und der gute ›Lix‹ hatte ja auch immer großzügig gespendet, wenn es eine Sammlung für den Polizeifond gab. Mel berührte den versteckten Sensor, der die Schutzklappe neben dem Türpfosten aufspringen ließ. Die Zehnertastatur wurde sichtbar. Mit sicheren Bewegungen gab er die neunstellige Kombination ein. Der Sesam öffnete sich bereitwillig für den verlorenen Sohn, der in das leere Haus seiner Kindheit zurückkehrte. Über sechs Monate war er nicht mehr hier gewesen. Nach Samuels Tod hatte es so viel an Schriftkram zu erledigen gegeben, dass Mel reichlich kopflos die Flucht ergriffen hatte. Seines Vaters Anwalt hatte alles für ihn erledigt. Doch das Schlimmste blieb ihm dennoch vorbehalten. Er wollte hier ganz sicher nicht selber einziehen. Also musste das Haus verkauft werden. Mel war kein nostalgischer Mensch. Sicher war es keine emotions-
lose Geschichte, wenn man im Nachlass der Eltern zu wühlen hatte. Doch das war es nicht einmal. Er musste sich eingestehen, einen gehörigen Respekt vor dem Berg an Unterlagen, Daten und all den anderen Dingen zu haben, die sein Vater hier angehäuft hatte. Niemand hetzte ihn – Samuel Amber war ganz sicher kein armer Mensch gewesen, und nach seinem Tod verfügte nun Mel über diese Mittel. Trotzdem musste er irgendwann mit dem Unabwendbaren beginnen. Vielleicht war ja jetzt der perfekte Moment dazu gekommen? Musikalisch schien Mel in seiner ganz persönlichen Sackgasse zu stecken; sie hatten ihn auf Eis gelegt, und er hatte es erst bemerkt, als der Kälteblock ihn bereits fest umschlossen hielt. Schulterzuckend ließ er die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Zumindest würde er sich bemühen, eine erfolgsversprechende Grundlage zu schaffen, einen Überblick, der Hoffnung auf ein absehbares Ende machte. Mel Amber begann das Haus seiner Kindheit neu zu entdecken.
Der Lieferwagen des Stores rollte auf die Straße zurück. Der Fahrer beschleunigte, winkte Mel noch einmal vertraulich zu und betätigte zu allem Übel auch noch das heftig laute Signalhorn. Dann endlich war er verschwunden. Die Leute hier hatten Samuel Amber tief in ihr Herz geschlossen. ›Lix‹ wohnte in ihrem Viertel – darauf waren sie immer stolz gewesen. Und nun, da der große Alte nicht mehr lebte, hatte es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass sein Sohn in das Haus zurückgekehrt war. Als Mel am Tag nach seiner Ankunft in das kleine Einkaufzentrum gefahren war, um sich mit dem Notwendigsten einzudecken, hatte man ihn dort zunächst wie einen kleinen König begrüßt, ihn dann anschließend beinahe aus dem Supermarkt geworfen. Die Händler bestanden darauf, ihn wie seinen Vater zu beliefern. Anruf genügt! Mel gab die Gegenwehr rasch auf. Heute war bereits der siebte Tag, den er in dem großen Haus verbrachte. Und es war an der Zeit gewesen, sich die Dinge liefern zu
lassen, die er hier ganz einfach dringend benötigte: Cola, Kaffee und Zigaretten. Ein paar andere Lebensmittel waren schon auch noch dabei, doch die bestanden in erster Linie aus dem, was sein Vater immer als Ping-Essen bezeichnet hatte. Also Schnellgerichte für die Mikrowelle … deren Zeitschaltuhr mit ihrem Glockenton die Hungrigen zu Tisch rief. Mel mochte diese Wohlstandspampe nicht sonderlich, so wie er auch nie ein Freund von Fastfood gewesen war. Doch ihm fehlte ganz einfach die Zeit, sich hier auch noch um gesunde Nahrung zu kümmern. Zudem waren seine Kochkünste eher berüchtigt … Mit schlechtem Gewissen brach er eine der beiden Stangen mit den Zigaretten auf und fischte sich eine Schachtel heraus. Die vergangenen Tage hatten seinen Nichtrauchervorsatz in die Tiefen der Hölle verjagt. Langsam ging er in den ausladend großen Wohnraum zurück, den sein Vater auch wie ein Arbeitszimmer genutzt hatte. Einen ganzen Tag hatte Mel gebraucht, um die Unmengen an Papieren in grobe Kategorien zu unterteilen, die er hier gefunden hatte. Post – erledigt/unerledigt – das meiste davon Briefe von Samuels Fans aus der ganzen Welt. Rechnungen – erledigt/unerledigt –, wobei letztere nur unbedeutende Kleinigkeiten waren, die Mel rasch aus der Welt schaffen konnte. Entwürfe/Notizen Partituren Sonstiges – der eindeutig größte Stapel. Fotos fand er natürlich ebenfalls, doch das war ein vergleichsmäßig kleiner Posten. Die Erklärung dafür war einfach: Sein Vater hatte vor Jahren einen Narren an der digitalen Fotografie gefressen. Als Mel den Rechner einschaltete, da war ihm bewusst, welch Wust an Bildordnern ihn erwartete. Und er wurde nicht enttäuscht. Der Löwenanteil der überdimensionierten Festplatte war mit Bildern vollgestopft. Und dabei handelte es sich ausschließlich um Fotos von Tourneen, Galas, Erstaufführungen, sowie den wenigen Urlaubsreisen, die Samuel Amber sich geleistet hatte. Die privaten Bilder – viele von ihnen noch schwarz-weiß aufgenommen und für heutige Verhältnisse von schwacher Qualität – befanden sich auf der
»externen Festplatte No. 1«. Samuel hatte die alten Papierfotos und Dias eingescant und so für die Ewigkeit konserviert. Mel wanderte mit den Augen am zweiten Tag seines Hierseins quer durch die eigene Jugend. Erst in diesen Stunden wurde ihm klar, wie sehr sein alter Herr ihn geliebt haben musste. Es fand sich kaum ein Bild, auf dem der kleine Mel nicht zu sehen war. Und immer wieder lachte ihm das fröhliche Gesicht seiner Mutter vom Bildschirm entgegen … Der folgende Tag gehörte der »externen Festplatte No. 2«. Die dem Rechner angeschlossene Zusatzhardware war ordentlich mit beschrifteten Aufklebern gekennzeichnet. Auch das hatte zu Mels Vater gehört, diese kleinen Anfälle von Pedanterie, über die er sich selber oft genug lustig gemacht hatte. »Wenn ich auf den Scanner irgendwann einmal Scanner schreibe, dann darfst du mich entmündigen lassen, Mel. Woher habe ich nur diesen kleinen Preußen in mir?« Die besagte Festplatte kostete den Gitarristen ganze drei Tage. Der Datenträger war prall gefüllt mit Musik. Einzelne Notenaufzeichnungen, ganze Partituren – Fragmente, Konzepte für mehrere Opern inklusive der Libretti, drei komplette Klavierkonzerte … Mel hatte große Mühe, in seiner Begeisterung nicht den Überblick zu verlieren. Denn all dies war zu Samuels Lebzeiten nicht aufgeführt worden. Was er hier vor Augen hatte, war ein Schatz für jeden KlassikFreund. Ganz kurz nur kam Mel der Gedanke, dass dieses Erbe, das der Vater dem Sohn hinterlassen hatte, ihn für den Rest seines Lebens finanziell absolut unabhängig machten würde. Ein Gedankenfetzen, der schnell weiterzog, denn Mel fühlte die Hitze des Entdeckers in sich aufwallen. Natürlich besaß Mels Vater die entsprechenden Computerprogramme, die in der Lage waren, eingegebene Notensätze in Musik umzuwandeln. ›Lix‹ Amber hatte die Ergebnisse stets als Froschquaken abgekanzelt, und sein Sohn musste ihm da Recht geben. In Mels Kopf begannen sich die Tonzeichen in Melodien umzuformen … und sein Blick fiel auf den tiefschwarzen Flügel, der unzweifelhaft der Blickfang in Raum war.
Mel war kein Pianist. Doch eine seiner ersten Erinnerungen war die: Er saß auf dem Schoss des Vaters, der den für ihn wichtigsten Platz im Haus eingenommen hatte – den Klavierschemel. Die Finger Samuels flogen über die wunderbar glänzenden Tasten, und der kleine Mel konnte seine Patschhände natürlich nicht bei sich behalten. Das Ergebnis war ein denkwürdiges Konzert, das jede Katze im Umkreis mehrerer Meilen verjagt haben musste. Es war nur logisch, dass der Sohn versuchte, dem Vater nachzueifern. Mel lernte schnell, doch ebenso schnell wurde klar, dass er es auf den Elfenbeintasten nie zu mehr als einer recht ordentlichen Mittelmäßigkeit bringen würde. Der Flügel war nicht Mels Welt – die fand er später im Tanz der stählernen Saiten einer Gitarre. Entschlossen schaltete er den Laserdrucker ein. Von zwei Klavierkonzerten druckte er sich die jeweils ersten Sätze aus und setzte sich an den Steinway-Flügel. Es war lange her, doch nach wenigen Minuten war das Gefühl für die Klaviatur wieder da. Die Fingersätze überstiegen Mels Fähigkeiten, doch nun bestätigte sich das, was er zuvor nur erahnt hatte. Melodien, die Tempi … das war unverkennbar Barockmusik. Samuel hatte eine ganze Reihe von Platten und CDs mit Werken von Bach bis Händel aufgenommen. Sie hatten den Grundstein zu seiner Weltkarriere als Pianist gelegt. Doch nicht einmal im Traum wäre es ›Lix‹ Amber eingefallen, ein Klavierkonzert im Barockstil zu verfassen. Und doch gab es in diesen Konzerten unverkennbar die ganz eigene Klangfarbe, die einzigartige Melodieführung, die seinen Vater so ausgezeichnet hatten. Die Tage vergingen in wachsender Verwirrung, die sich in Mels Kopf ausbreitete. Dieses Vermächtnis war nicht dazu bestimmt, an die Öffentlichkeit zu gelangen. Wenn er als Sohn das alles schon nicht begriff, wer dann? Mel fuhr den Rechner hoch. Irgendwo musste es in Samuels Aufzeichnungen doch eine Erklärung, zumindest einen Hinweis auf diese Werke geben. Er musste ganz einfach suchen. Doch die Antwort konnte er sicher nicht in Noten und Partituren finden. Er muss-
te andere Wege gehen. Er durchforstete die gesamte gespeicherte Korrespondenz seines Vaters. Es war bereits am späten Nachmittag, als ihn sein Magen eingehend informierte, dass er heute selbst das Frühstück ausgelassen hatte. »Also wieder einmal ein Ping-Essen …« Mel ging in die Küche und stellte irgendeines der Fertiggerichte in die Mikrowelle. Die Gedanken an die Musik des Vaters ließen ihn auch nicht los, während er die Pampe verzehrte, die wohl Kartoffelpüree sein sollte; an die Fleischfetzen hatte er sich noch nicht herangewagt, denn sie hatten etwas Undefinierbares an sich. Er suchte sicher nicht effektiv genug. Eine simple Idee ließ ihn die Reste der denkwürdigen Mahlzeit vergessen. Mel setzte sich vor den Computer und rief den Dateimanager auf. In der integrierten Suchfunktion gab er seinen Vornamen ein und klickte auf den Start-Button. Das Ergebnis waren dreiundvierzig Meldungen – allesamt Briefe und Mails, die er von seinem Vater erhalten hatte. Darin würde er keinen Hinweis finden. Eine zweite Suche initiierte er mit dem Begriff Sohn. Sechsundsechzig Meldungen erschienen, und in den kommenden Stunden bis kurz vor Mitternacht las Mel die Briefe, in denen sich sein Vater über ihn geäußert hatte. Und mehr als nur einmal rieb er sich verwundert die Augen, wenn er las, wie hoch Samuel Amber das Können seines Sohnes eingeschätzt hatte. Er wünschte sich, sie hätten viel öfter über Musik miteinander geredet. Nicht nur über Musik … wie sehr er den Alten vermisste, war ihm erst in den vergangenen Tagen so richtig bewusst geworden. Die letzten vier Dateien waren einfache Textdateien, die mit einem Editor geschrieben waren. Notizen – sicher nichts von Belang. Doch Mel wollte auch das noch durchziehen, obwohl ihm beinahe schon die Augen zufielen. Auch der stärkste Kaffee wollte nun nicht mehr wirken. Die ersten beiden Dateien mit der Endung txt. beinhalteten tatsächlich kurze Anmerkungen: In der einen war Mels neueste Handynummer gesichert, die zweite diente als eine Art Erinnerung dar-
an, dass Samuel seinem Sohn einige neue CDs zukommen lassen wollte. Mel musste grinsen – das hatte Dad dann wohl trotz dem Vermerk ›Dringend‹ verschwitzt. Als sich die dritte Datei öffnete, war der Gitarrist mit einem Schlag hellwach. Es waren nur wenige Zeilen, doch sie sprangen ihn direkt an: Mein Sohn, wenn Du das Geheimnis suchst, so wirst du es im Geschenk der Musik finden können. Was du damit auch anfangen wirst, ist ganz allein deine Sache. Erst der Tod gestattet mir, das ganze Arkanum zu offenbaren. Eines vergiss bitte niemals: Selbst dem Menschen, den man in seinem Leben am meisten und bis zum Schmerz liebt, kann man nicht immer alles sagen. Und dieser Mensch bist für mich immer du gewesen. In Liebe, dein Vater – Samuel ›LIX‹ Amber Immer und immer wieder flogen Mels Augen über die Worte. Und für einen Herzschlag lang war ihm, als würde er die Stimme seines Vaters hören, laut und deutlich … In Liebe … In Liebe …
Um 6 Uhr am Morgen hatte das Telefon zum ersten Mal geläutet. Mel hatte es ignoriert, denn er konnte sich denken, wer ihn da zu erreichen versuchte. Es gab nicht viele Menschen, die Samuel Ambers Rufnummer kannten. Mel nahm sich vor, die Leitung nun endlich zu kündigen. Eines der vielen Dinge, die es hier zu erledigen gab. Doch das alles erschien ihm nun belanglos. Eine Stunde später schrillte der nervende Ton erneut auf. Er kannte nur einen Menschen, der um diese Uhrzeit schon wach genug war, um andere zu belästigen. Und er wusste, diese Person würde nicht aufgeben. Genervt und unkonzentriert schaltete er die Verbindung frei. Es war natürlich Clamor Salomo. »Also bist du doch bei deinem Alten. Ich mache mir hier Sorgen, weil du kommentarlos abgetaucht bist, Mel. Wir müssen reden. Und
zwar möglichst noch heute. Die Jungs von deinem Label sind sauer …« Mel ließ ihm nicht die Zeit, um ausführlich zu werden. So genau wollte er das alles nicht wissen. Im Grunde wollte er es überhaupt nicht wissen. Sein Kopf war voll mit dem, was er hier vorgefunden hatte. »Clam, hör bitte zu und akzeptiere, was ich dir nun sagen werde. Ich steige aus der Produktion aus. Und wenn die mich zum Teufel jagen wollen, dann sollen sie es tun. Und nun – sei nett und stör mich hier nicht mehr. Ich melde mich wieder.« Am anderen Ende wurde ganz kurz lautstarker Protest hörbar, doch dann hatte Mel das Gespräch schon beendet. Er schaltete das Gerät auf stumm. Je öfter er die Zeilen des Vaters las, um so unverständlicher erschienen sie ihm. Mel hatte kein Auge zugemacht, denn sein Adrenalin kochte beinahe über. So wunderschön sie im Bewusstsein des Sohnes auch klangen, so sehr waren sie doch irgendwie falsch. Mel zündete sich eine Zigarette an. Erst in diesem Augenblick bemerkte er, wie verräuchert der große Raum war. Er hatte in dieser Nacht Unmengen Nikotin in sich gesogen. Als die automatischen Jalousien hochgefahren waren, öffnete er alle Fenster. Eine herrlich würzige Luft machte seinen Kopf klar und wieder denkfähig. Bis zum Zentrum von Bosten war es nicht sehr weit, dennoch hatte das hier ländlichen Charakter. Samuel hatte sich den perfekten Ort für sein Anwesen gesucht. Mel kehrte an den Rechner zurück. Was stimmte nicht mit diesem Text seines Vaters. Erst der Tod gestattet mir, das ganze Arkanum zu offenbaren … Arkanum – kein Mensch verwendete diesen Begriff für das Wort Geheimnis. Es passte nicht zu Samuel, mit lateinischen Floskeln um sich zu werfen. Sein Wesen, die ganze Art zu denken, war stets auf der Höhe der Zeit gewesen. Doch etwas anderes fiel Mel nun schon zum x-ten Mal in die Augen. Unterzeichnet hatte Vater mit »Samuel ›LIX‹ Amber«. Es war nicht ungewöhnlich, dass er seinen eigenen Spitznamen be-
nutzte. ›Lix‹ – Mel hatte nie herausfinden können, woher der Kosename stammte. Warum hatte Samuel ihn so demonstrativ in Großbuchstaben geschrieben? Das hatte Mel zuvor nie gesehen. Auch in der Korrespondenz nicht, die er mühsam durchforscht hatte. Absicht? An Zufalle wollte Mel einfach nicht glauben. Doch was Mels Kopf wirklich zum Zerspringen bringen wollte, war natürlich der Hauptsatz in der Nachricht: »Wenn du das Geheimnis suchst, so wirst du es im Geschenk der Musik finden können …« Samuel war also klar gewesen, dass Mel die Ungereimtheiten und Stilbrüche im Musiknachlass nur als ein Geheimnis werten konnte. Das war die Musik seines Vaters … und doch konnte sie es nicht sein! Denn in ihr steckten alle Einflüsse der vergangenen drei- oder sogar vierhundert Jahre. So hätte Samuel Amber nie gearbeitet. Zumindest nicht der Samuel, den Mel seinen Vater genannt hatte. Das Geschenk der Musik sollte das große Geheimnis bergen. Nur … wo sollte er da suchen? Vor allem wonach? Mel begann wieder wie ein Panter im Käfig durch den Raum zu wandern. Er war kein Sherlock Holmes, kein Hercule Poirot – er war Musiker. Mit dem rechten Fuß stieß er gegen einen Gegenstand, der mit einem dumpfen Geräusch umkippte. Mel bückte sich. Es war der Gitarrenkoffer mit seiner Telecaster. Er hatte die Gitarre benutzt, weil er auf diesem Instrument absolut sicher war. Einige der Stücke, die er aus dem Fundus Samuels angespielt hatte, überstiegen sein Können auf dem Klavier bei weitem. Doch die Melodiebögen standen deutlich vor seinem geübten Auge. Also hatte er sie auf der geliebten Gitarre nachgespielt. Die Telecaster … natürlich, sie war das Geschenk der Musik! Sie hatte Samuel gemeint, als er seinem Sohn einen Hinweis geben wollte. Der Vater hatte sie seinem Sohn gegeben, um ihm zu zeigen, dass er dessen Ideen akzeptierte und unterstützte. Er hatte ihm damit Musik geschenkt. Mel legte den Koffer auf das Sideboard bei einem der Fenster und nahm die Fender-Gitarre heraus. Sie konnte er zunächst einmal vernachlässigen, denn er kannte jeden einzelnen Millimeter von ihr.
Dort würde er nicht fündig werden. Wenn, dann musste etwas an oder im Koffer selbst sein. Mit den Fingerkuppen fuhr Mel langsam über den Samtbezug, mit dem der Hartschalenbehälter ausgeschlagen war; blauer Samt, nach all den vielen Jahren an manchen Stellen reichlich abgewetzt, doch noch immer edel wirkend. Es dauerte nicht lange, da ertastete er die winzige Erhebung. Optisch war sie kaum zu erfassen. Das perfekte Versteck für … ja, für was? Vorsichtig begann Mel die Innenverkleidung zu lösen. Er war verblüfft, wie leicht ihm das gelang. Er wusste selbst nicht, was er hier zu finden glaubte, doch des Rätsels Lösung war simpel: eine Speicherkarte, wie man sie in Digitalkameras oder als transportablen Datenträger bei Computern einsetzte; nur fünf mal zwei Zentimeter in der Abmessung und nicht einmal drei Millimeter dick, hatte sie dennoch eine Speicherkapazität von 256 Megabyte. Mit zitternden Händen steckte Mel den Datenträger in den Kartenleser des Rechners. Ein Ordner öffnete sich auf dem Flatscreen. Er trug den Titel ›Vita‹. Das bedeutete Leben, die Lebenszeit – meist im Zusammenhang mit der literarisch verarbeiteten Biographie einer bekannten Persönlichkeit verwendet. Vita – das sagte nichts und doch auch alles. Mel versuchte sich zu entspannen, ehe er mittels Doppelklick weiter in die Struktur der Daten vordrang. Was ihn hier auch erwartete, es würde sein Leben verändern, es komplett auf den Kopf stellen. Er ahnte dies nicht – er wusste es. Er hörte überlaut, wie der Atem aus seinen Lungen entwich, als er die vier Unterordner sah. Jeder von Ihnen hatte eine klare, eine unmissverständliche Bezeichnung: LIX – 17. JAHRHUNDERT LIX – 18. JAHRHUNDERT LIX – 19. JAHRHUNDERT LIX – 20. JAHRHUNDERT
In Mels Ohren klangen noch die Töne des 1. Klavierkonzertes … der Ouvertüre zu der Oper, die den Arbeitstitel ›Der Schlafende‹ trug. Barocke Klänge – die Leichtigkeit eines Mozart – intensive Arien à la Verdi – Tschaikowsky, Schostakowitsch, Mahler … Mels Verstand weigerte sich weiterzudenken. Alles hatte in den Werken seines Vaters mitgeklungen. Es war, als würde jemand anders Mels Hand führen, als er mit dem Trackball einen der vier Ordner öffnete. Es geschah wahllos, unkontrolliert von Logik und Willen. Dann lag sie vor ihm – die Vita des Mannes, dessen Leben er zu kennen glaubte. Die Vita öffnete sich wie ein Bilderbuch vor den Augen des Sohnes … er wurde zum Reisenden in das 19. Jahrhundert.
BERICHT – »HELIOS-SYSTEM« – (A) »Ortung positiv. Resonanzkontakt in 218-300 Lichtminuten. Berechne Kursvektor und Geschwindigkeit.« Die Stimme des Mannes am Ortungspult klang irgendwie mechanisch, künstlich. Natürlich – an Bord der STERNENJÄGER verzichtete man auf Unnötiges. Der Mann war wie alle anderen schwarz gekleidet. Seine Hände steckten in ebenfalls schwarzen Handschuhen, seine Augen waren hinter einer fast schwarzen Brille verborgen. Er benötigte kein normales Licht. Per Laserscan tastete er seine Umgebung ab, präziser als jedes menschliche Auge es gekonnt hätte. Auf seinem Kopf befand sich ein schwarzer Hut. Geradezu lächerlich an Bord eines der schnellsten Raumschiffe der DYNASTIE DER EWIGEN. Aber es gab niemanden, der darüber lachte. Die anderen nicht, und der Kommandant erst recht nicht. »Klassifizierung«, befahl er. »Erfolgt.« Umgekehrt dürfte es etwas schwieriger sein, dachte der Kommandant und lächelte einige Sekunden lang. Die STERNENJÄGER war eine Sonderanfertigung, wie sie niemals aus den Werften der Ewigen kam. Auf einem abgelegenen Planeten war sie gewissermaßen
in Handarbeit konstruiert worden und unterschied sich grundsätzlich von allen Raumschifftypen der Ewigen. Wer diesen Jäger vor sich sah, kam niemals auf die Idee, es mit einem Raumer der Dynastie zu tun zu haben. Das einzige identische Teil der Konstruktion war die Energieversorgung des Antriebs, ein großer Dhyarra-Schwarzkristall. Die technische Ausstattung dagegen bis hin zur Computeranlage stammte aus irdischer Technologie. Modern und narrensicher. »Warum«, hatten die Konstrukteure des Raumers gesagt, »soll man etwas neu erfinden, was andere bereits erfunden haben?« Die Besatzung des Jägers war programmiert, mit dieser Technik zu arbeiten. Cyborgs, gesteuert von einem Dhyarra-Kristall, der nicht nur Energie lieferte, sondern auch als Prozessor des Programmgehirns arbeitete. Organisch gezüchtete Kreaturen, die erst durch ihre Programmgehirne zum »Leben« erwachten – sofern man es Leben nennen konnte. Lebende Roboter, durchsetzt von Implantaten, die ihnen Fähigkeiten verliehen, die über alles Menschliche hinausgingen. Und doch sahen diese Cyborgs äußerlich wie Menschen aus. »Men in Black« nannten die Irdischen sie. Die legendären »Männer in Schwarz«. Sie wurden als Agenten eingesetzt, aber auch als Raumschiffbesatzungen. Die Ewigen waren, obwohl sie Hunderte, vielleicht Tausende von Welten besetzten und ausbeuteten, ein zahlenmäßig relativ kleines Volk. Sie setzten lieber Cyborgs ein, als sich selbst in Gefahr zu bringen. Der Kommandant des Jäger war kein Cyborg. Er war ein Mensch, ein Ewiger. Er war von kleinwüchsiger, hagerer Statur, verfügte aber für seine knapp einhundertundsiebzig Zentimeter über eine enorme Präsenz, die einen Raum ausfüllen konnte. Eine bemerkenswerte Aura ging von ihm aus. Seine eisgrauen Augen wirkten wie Spiegel, durch die man geradewegs in die Unendlichkeit sah. Sein Gesicht drückte Entschlossenheit und eine grenzenlose Selbstsicherheit aus. Mehr noch. Unverhohlene Arroganz.
Der Man in Black an der Ortung meldete sich. »Kursvektor drei-fünf-sieben. Geschwindigkeit zeropunkt-zerozero-drei-eins-eins fallend. Resonanz in 218-120 fallend.« »Distanz halten, Commander?«, erkundigte sich der Pilot. »Eigengeschwindigkeit bleibt unverändert«, forderte der Kommandant. »Klassifikation?« »Erfolgt«, meldete sich der zuständige MiB. »Nach Energiespektrum drei Spürboote der Tri-Klasse, flugverbundgekoppelt. Vermutung: Sie wollen Energie sparen oder ein falsches Echo erzeugen.« Was sie bei einem unserer normalen Jagdboote oder Kreuzer wohl geschafft hätten, dachte der Kommandant. Zumindest auf diese Distanz. »Tri-Klasse«, murmelte er. »Diese Mistdinger bauen sie wohl noch, wenn das Universum untergeht.« Diese Spürboote waren sehr klein, kaum bewaffnet und für nur drei Personen geeignet. Ihr Operationsradius war natürlich relativ gering; sie brauchten ein Mutterschiff, das sie ausschleuste und wieder aufnahm. Es musste sich irgendwo im Umkreis von zehn Lichtjahren befinden. Wahrscheinlich außerhalb des Scanbereichs der STERNENJÄGER. Das war riskant. Was wollten sie hier? »Die Tri-Klasse ist handlich und effizient«, wagte der Pilot zu behaupten. »Deshalb wird sie wohl immer noch gebaut.« Der Kommandant lachte spöttisch auf. »Handlich und effizient«, wiederholte er. »O ja, und wie! So handlich und so effizient, dass damals zwei von ihnen in der planetaren Region New Mexico nahe der Ortschaft Roswell kollidierten und abstürzten. Dumm, dass die Gaianer die Wracks und die Besatzungen teilweise lebend bergen konnten.« Die Überlebenden waren in einer NSA-Spezialklinik in Savannah, Georgia, eingelagert worden, und die technischen Überreste zur Erforschung in der so genannten AREA 51 … Das könnte es sein!, durchfuhr es ihn. Deshalb sind die vielleicht jetzt hier. Um AREA 51 zu erkunden und die Gefangenen zu bergen. Na, da würden sie nicht viel Spaß kriegen. Die Sicherheitszonen waren selbst für die Ewigen nicht zu knacken. Sonst hätten die MiB
sich die Gefangenen längst für die Dynastie unter den Nagel gerissen und die Forschungsstätten vernichtet, in denen die Gaianer sich mit der erbeuteten Gkirr-Technologie befassten. Schrott-Technologie … Der Kommandant warf einen neuerlichen Blick auf den Holo-Bildschirm, der einen kleinen Leuchtpunkt zwischen den Sternen zeigte. Noch war die Distanz zu groß, als dass ein Echtbild projiziert werden konnte. Der Kommandant hatte allerdings auch nicht die Absicht, so nah heranzugehen. Er kannte die Reichweite der feindlichen Ortungen und wollte auf jeden Fall außerhalb bleiben. »Daten an Zentralrechner überspielen. Log öffnen«, befahl er. »Erfolgt«, kam die Bestätigung. »Offizielles Log Commander Cairo«, sagte er. »Trotz des Risikos, dass sich ein Mutterschiff der Gkirr in der Nähe befindet, werde ich den Tri-Klasse-Spürverbund – siehe Datenspeicher Ortungsresultate – vernichten. Versuche Überlebende zu bergen zwecks Befragung. Log Ende. Log schließen.« »Überlebende?«, fragte der Pilot mit seiner unmodulierten Stimme. »Bedenken Sie, Commander, dass die Distanz für solche Präzisionsschüsse zu groß ist.« Der Kommandant winkte ab. »Bedenken zur Kenntnis genommen und übergangen. Phasentorpedo auf Ziel ausrichten. Feuer bei Resonanzdistanz 280-180.« »Jetzt«, sagte der Pilot. Sekundenlang zeigte der Holoschirm eine Lichtspur, die sich blitzschnell in Raumtiefen verlor. Der überlichtschnelle Torpedo war unterwegs.
Für die Insassen der drei gekoppelten Spürer musste der Angriff aus heiterem Sternenhimmel kommen. Sie konnten den Jäger der Dynastie unmöglich entdecken. Immer noch befand er sich außerhalb der Reichweite ihrer Ortungen. »Treffer«, meldete der Cyborg an der Ortung. »Auswertung!«, verlangte der Kommandant.
»Erfolgt. Warten.« Warten … warten … warten … Dann endlich kam die Meldung. »Trümmer in Trefferzone. Dreierverbund wurde aufgesprengt. Zwei Echos driften im Dreißig-Grad-Winkel auseinander.« »Das heißt, eines der Objekte ist zertrümmert?«, hakte der Kommandant nach. »Bestätigt.« »Lebenszeichen?« »Dafür ist die Distanz zu groß«, erwiderte der Cyborg emotionslos. »Geh auf Überlicht. Kurzetappe zum Trümmerfeld.« »Dann bekommen die beiden anderen uns aber direkt in die Ortung«, warnte der Pilot. »Und wir sie direkt vor unsere Waffen. Bereithalten für schnelle Laserschussfolge. Ortung auf Waffensystem schalten. Rechner übernimmt Zielerfassung.« »Warnung«, meldete der Pilot erneut. »Das Risiko …« Der Kommandant unterbrach ihn schroff. »Befehl ausführen.« »Befehl wird ausgeführt.« Im nächsten Moment beschleunigte die STERNENJÄGER mit Maximalwerten. Praktisch übergangslos wurde das Raumschiff schneller als das Licht. Beharrungskräfte schlugen nicht durch. Sie wurden perfekt neutralisiert. Kurzfristig wurden die punktförmigen Abbildungen der Sterne am Holoschirmrand zu dünnen Strichen. Dann war die überlichtschnelle Flugetappe bereits wieder beendet. Auch als die maximale Negativbeschleunigung den Jäger radikal auf seine Ausgangsgeschwindigkeit zurückbrachte, kamen keine Beharrungskräfte durch. »Ortung«, forderte der Kommandant. »Ursprüngliche Daten bestätigt.« »Speichern in Log.« Der Holoschirm schaltete ab. Nur für einen Sekundenbruchteil kam etwas von der Lichtflut durch, die den Jäger einhüllte. Das
Kleinraumschiff der Ewigen wurde stark erschüttert. Elmsfeuer tanzten über die Instrumente. Gaia-Technik, durchfuhr es den Kommandanten. Das Problem kriegen sie nie in den Griff! Er wusste, was passiert war, noch ehe die Meldung kam. »Einschlag. Schadensbericht folgt. Autodiagnose läuft.« »Stopp!«, befahl der Kommandant, der nur zu gut wusste, wie viel Rechnerkapazität dieses vollautomatische Diagnoseprogramm fraß. »Cairo an Waffensteuerung: Feuer!« Die Lasersalven blitzten aus den Emittern der STERNENJÄGER. Die Einschlagmeldungen kamen schneller, als sie verarbeitet werden konnten. Der Holoschirm blendete gerade wieder auf, als einer der Spürer in einer Lichtorgie verging. »Richtfunkstrahl mit extremer Bündelung«, erfolgte eine andere Meldung, wurde überlagert von der Stimme des Cyborgs an der Ortung. »Verbliebener Spürer setzt sich überlichtschnell ab. Kursvektor unverändert.« »Phasentorpedo!«, befahl der Kommandant. »Nicht ratsam. Ungewollte Zerstörung eines anderen Zieles wäre möglich. Flüchtendes Objekt ist nicht mehr zu erfassen.« »Status nach Feuerschlag. Wurden Schäden registriert?« »Analyse noch nicht beendet.« Der Kommandant verzog das Gesicht. Es ging ihm nicht schnell genug, aber daran konnte er nichts ändern. Er war einmal an Bord des letzten großen Sternenschiffs gewesen, damals, nur wenige Tage nach der Inbetriebnahme. Da lägen die Ergebnisse längst vor. Da gab es aber auch ganz andere Rechnerkapazitäten als an Bord der vergleichsweise winzigen STERNENJÄGER. »Was ist mit diesem verdammten Richtfunkstrahl?«, wollte er wissen. »Konnte nur anhand des energetischen Kanalechos erkannt werden. Die Bündelung war zu extrem. Laut Hochrechnung handelt es sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 72 Prozent um eine geraffte Datensendung, die an das Mutterschiff gesandt wurde.« »Lass mich raten«, knurrte der Kommandant. »Es handelt sich um
unsere.« »Korrektur. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent handelt es sich um einen Statusbericht und die Positionsdaten der Auseinandersetzung.« »Was ja wohl auf dasselbe hinausläuft …« »Schadensbericht STERNENJÄGER liegt vor, da Autodiagnose nach Beendigung der Kampfhandlung fortgesetzt wurde. Wirksamkeit aller Systeme ist nicht beeinträchtigt. Lediglich einige eher optische Schäden an der Außenhülle.« »Na, wenigstens etwas«, murmelte der Kommandant. »Dann wollen wir mal sehen, ob wir Überlebende von unserem Ferntreffer bergen können. Der zweite Spürer ist ja schon geschmolzen und verdampft.« Und bestand jetzt aus winzigen erkalteten Partikeln, die im Raum schwebten, der Gravitation naher Himmelskörper und dem Sonnenwind ausgeliefert und durchaus geeignet, Raumanzüge zu perforieren. »Umgebung nach Lebenszeichen scannen«, befahl der Kommandant. Aber noch ehe das geschehen konnte, passierte etwas anderes. Die Gkirr waren schnell – sehr schnell!
Sekundenlang schien alles zu verschwimmen und sich aufzulösen. Die Hände des Kommandanten glitten in die Armlehnen seines Sessels zurück. Der Holoschirm zeigte ein wirres Durcheinander an Lichteffekten, und die Digitalanzeigen der Instrumente spielten verrückt. Im nächsten Moment war wieder alles normal. »Strukturerschütterung«, meldete der MiB an der Ortung. »Aufriss des Raum-Zeitgefüges auf 000-115 Vektor elf. Energieentwicklung sieben-sieben-drei. Dauer null punkt fünf acht Sekunden. Energiemuster entspricht Gkirr-Technologie.« »Volle Abwehrbereitschaft. Kurswechsel«, befahl der Kommandant.
»Vektor und Geschwindigkeit?« »Nach eigenem Ermessen.« »Fremdobjekt erfasst«, fuhr der MiB an den Ortungsinstrumenten ungerührt fort. »Größe und Energieaufwand entspricht einem Schnellen Kreuzer der Dynastie.« »Verdammt«, murmelte der Kommandant. »Möge das nächste Black Hole sie fressen! Waffensteuerung: Feuer frei mit allen Waffen! Phasentorpedosalve zuerst!« »Warnung! Sicherheitsdistanz unterschritten!« »Ignorieren!« Der Kommandant hieb mit der Faust auf die Armlehne. Die STERNENJÄGER schoss. Fünf Phasentorpedos zugleich rasten aus den Abschussschächten. Im nächsten Moment jagten die Emitter Dutzende von Laserschüssen hinterher. Kommandant Cairo wusste, dass sie das Gkirr-Schiff zumindest schwer beschädigen mussten, ehe dieses seinerseits das Feuer eröffnete. Wenn ein Raumer dieser Größenordnung eine Breitseite abfeuerte, hatte der Jäger keine Chance. Daher gab es nur zwei Möglichkeiten: zuerst schießen oder flüchten! Das Schießen bot sich an, weil der Gkirr ihnen genau vor den Waffen hing und auf diese Kurzdistanz auch die Laser stark genug wirkten, hässliche Löcher in die Druckzelle des Gegners zu schneiden. Der Holoschirm blendete wieder ab. »Trefferquote 100 Prozent«, kam die Meldung. »Wirkung?« »Analyse läuft.« »Feuer!«, schrie der Kommandant. »Und Feuer! Und wieder! Bis zur Vernichtung des Feindobjekts!« »Feindobjekt rotiert.« Cairo gab einen erneuten Fluch von sich. Die Gkirr drehten ihr Schiff, um mit einer unversehrten Seite den Gegenschlag zu führen. Der Kommandant schaltete die Pilotenkonsole zu sich herüber und übernahm die Steuerung. »Trefferquote 100 Prozent …«
»Energiewandler im Gkirr-Schiff erhöhen Abgabe auf Maximum!« Oh, jetzt schon? Dann haben wir sie aber böse erwischt, und sie wollen dem Spiel ein schnelles Ende bereiten! Die nächste Salve ging ab. Die Waffensteuerung warnte erneut. »Vorrat an Phasentorpedos fast aufgebraucht.« Der Kommandant berührte Steuertasten. Der Jäger beschleunigte mit maximaler Leistung und ging auf Überlichtgeschwindigkeit. Es war zu riskant, knapp darunter zu bleiben; die Zeitdilatation ließ sich nicht unterdrücken. Jenseits der Lichtgrenze spielte sie keine Rolle mehr. Und stopp! Er bremste den kleinen Raumer wieder ab. Hinter ihnen ging eine kleine Sonne auf, die rasch wieder erlosch. Wenn wir noch da wären, hätten sie uns verdampft, dachte Cairo wütend. »Sieht so aus, als hätte dieses Pack eine neue Waffe entwickelt!« »Fremdortung. Sie haben uns wieder erfasst.« Und wir hoffentlich sie auch! »Feuer!« »Trefferquote 100 Prozent. Energiepegel des Feindobjektes sinkt rapide. Achtung, Funkstrahl. Richtfunkkanal wird aufgebaut.« »Feuer! – Das fehlt gerade noch, dass sie jetzt auch noch Verstärkung rufen!« »Aufbau Richtfunkkanal abgebrochen. Keine Sendung.« »Wenigstens das«, murmelte der Kommandant. »Trefferquote 100 Prozent. Massestruktur des Feindobjektes verändert. Packungsdichte reduziert. Masseverlust.« Cairo beugte sich leicht vor. Seine Lippen öffneten sich etwas. »Starker Energieausbruch. Feindobjekt vermutlich zerstört.« »Wahrscheinlichkeit?« Cairo schrie es fast. »98 Prozent!« Er ließ sich wieder gegen die Sitzlehne zurückfallen. Ein Tastendruck gab die Steuerung wieder frei. Vor dem Piloten zeigten die Instrumente wieder Werte an. »Vorsichtig anfliegen«, befahl der Kommandant. »Kurze Überlichtetappe, dann Annäherung mit Normalgeschwindigkeit.«
Er atmete tief durch. Ein paar Minuten später atmete er auf. Die Ortung erfasste nur noch Trümmer, die im Atombrand vergingen. Von dem Raumer würde nichts bleiben als Energiefilmente, die der Sonnenwind verwehte. Sie hatten es geschafft. Es war unglaublich, aber sie hatten es geschafft! Der kleine Jäger hatte den großen Kreuzer abgeschossen! »Dann wollen wir mal nach Überlebenden suchen«, sagte Cairo leise.
3 Ma Alchemy Zu viel Leiden. Zu viel Tod … … in seinen Ohren spulte sich immer wieder eine Szene ab, die er nur akustisch wahrgenommen hatte. Die visuelle Umsetzung konnte sich nur in seiner Phantasie entwickeln. »Zamorra!« Die Stimme Sarkanas überschlug sich hysterisch, denn der Vampirdämon hatte sein Ende vor Augen. »Das kannst du nicht machen … das kannst du doch nicht tun!« »Ich tue nichts, was du nicht auch getan hättest. Oder siehst du das anders, Dämon?« Zamorra hatte unglaublich ruhig geantwortet. Der verfluchte Dämon war vernichtet worden – endgültig und unumkehrbar. Warum habe ich mich nicht umgedreht? Warum habe ich es mir nicht angesehen? Dr. Artimus van Zant stellte sich diese Frage immer wieder. Auch jetzt, da er allein in dem kleinen Raum saß, dessen Fenster mit karmesinroten Vorhängen verdunkelt waren. Draußen war heller Tag, doch van Zant wollte ihn nicht zu sich lassen. Nicht jetzt. Nicht heute. Seine Gedanken eilten wieder zurück in die trapezförmige Halle, in der Sarkana in die Falle des Zamorra-Teams gegangen war. Er, Artimus van Zant, hatte sie erschaffen, gefertigt aus Teilen einer Technologie, die aus den Tiefen des Weltalls stammte. O ja, er war ein guter Mann, Doktor der Physik, ein Techno-Tüftler der Sonderklasse, der auch vor Alien-Raumschiffen nicht kapitulierte. Doch wenn es darauf ankam, die zu beschützen, die er liebte … Seine geschiedene Frau Julie Skinner war bei einem Angriff der DYNASTIE DER EWIGEN ums Leben gekommen. Artimus hatte hilflos zusehen müssen. Nur um Haaresbreite war er damals selbst
dem Tod entronnen. Dann hatte er die kleinwüchsige Khira Stolt kennen gelernt – 133,5 Zentimeter Power! Und er – ein Fleischberg von annähernd zwei Meter Größe – hatte sich hoffnungslos in die Mikrobiologin verliebt. Das eigentliche Wunder dabei war aber, dass sie diese Gefühle wohl erwidert hatte. Vielleicht wären sie miteinander alt geworden, so, wie sich das zwei Menschen oft wünschen. Nicht immer erfüllen sich Wünsche. Nein, ganz sicher nicht … Khira war bei der Aktion um Sarkanas Ende ums Leben gekommen. Artimus van Zant hatte erneut daneben gestanden. Hilflos wie ein Kind. Als Sarkana starb, da war van Zant mit der tödlich verletzten Khira auf den Armen aus der Halle geflohen. Vielleicht hätte der Anblick von Sarkanas Vernichtung seine Seele leichter gemacht. Doch das war wohl auch nur ein Trugschluss, eine Wunschvorstellung. Geändert hätte es auch nichts. Zwei Frauen, die er verloren hatte. Fremde Intelligenzen, Vampire, Dämonen – van Zant war in eine Welt geraten, die nicht die seine war. Er war Physiker, geboren und aufgewachsen in den Südstaaten der USA. Er liebte Rockmusik, seine elektronischen Basteleien, Tage mit guten Freunden und Essen. Ja, letzteres war tatsächlich eine wahre Leidenschaft von ihm – um genau zu sein, konnte man ihn mit gutem Gewissen einen Fleischfresser nennen, oder T-Rex, was Khira vorgezogen hatte. Sie, die strikte Vegetarierin, hatte nur zu gerne ihre Späße mit Artimus gemacht, wenn er sich wieder wie ein Ertrinkender an einer Schlachtplatte festgeklammert hatte. Van Zant war ein Genussmensch, kein Kämpfer gegen die Mächte des Dunklen! Doch er wusste ja, dass er in den Augen von Professor Zamorra, dessen Lebensgefährtin Nicole Duval und Robert Tendyke längst fest zum Team gehörte, das seinen ewigen Kampf gegen die Kreaturen der Finsternis kämpfte. Khira … ihr Fluch war es gewesen, dass sie den Keim des Antidämonischen in sich getragen hatte. Kein anderes Wesen hatte Sarkana
so gefürchtet, wie die kleine Frau. Van Zant glaubte ihr Lachen hören zu können. Nein, er durfte nicht verzweifeln. Khira hätte das ganz sicher nicht gewollt. Der Physiker legte sich erschöpft auf das Bett. Ein kleines Lächeln konnte er sich nicht verkneifen, als er das so charakteristische Quietschen vernahm. In seiner Jungend hatte er mit allen nur erdenklichen Mitteln versucht, dieses verräterische Geräusch zu beseitigen. Öl, Fett … selbst einige der Stahlfedern hatte er ausgetauscht. Sinnlos, das Teil quietschte munter weiter. Und seine Eltern hatten, wenn sie sich etwas Mühe gaben, immer die Kontrolle, was ihr liederlicher Sohn oben in seinem Zimmer wieder trieb. Artimus war nun nicht unbedingt ein Frauenheld gewesen, aber die ein oder andere Kommilitonin oder Bekannte hatte sich doch in sein Zimmer verirrt. Die Zeiten waren locker, die Südstaaten waren es nicht! Und seine Eltern waren waschechte Südstaatler, die ihre eigenen Vorstellungen von Anstand und vorehelichen Beziehungen pflegten. Dass sie das in erster Linie bei ihrem Sohn taten – weniger bei sich selbst –, hatte Artimus erst spät erkannt. Seine Eltern … Vater war vor acht Jahren gestorben. Der »ehrenwerte Bankier Joseph Clement van Zant« war eine Zierde seiner Heimatstadt Jacksonville gewesen. Ein Gentleman des Südens, wie er im Buche stand. Immer ehrlich, immer geradeaus. Er hatte es zu einem ordentlichen Reichtum gebracht, war in der politischen und gesellschaftlichen Welt dieser Stadt einfach nicht wegzudenken gewesen. In Wahrheit war Joseph das, was sein Sohn nie geschafft hatte: ein Frauenheld, der stets mehrere kleine Affären am Laufen hielt. Und zu Hause war er nichts weiter als ein lebender Filzpantoffel, der unter der strengen Knute seiner Frau stand. Artimus' Mutter war der starke Part in der Beziehung seiner Eltern. Seine Mutter … Van Zant erhob sich von seinem alten Bett. Sein Zimmer lag in der ersten Etage des Hauses, und direkt darunter war das elterliche Schlafzimmer. Dort lag sie nun – Bessy van Zant, promovierte Chemikerin mit Lehrstuhl an der Universität von Atlanta, Verfasserin von gut einem Dutzend Lehrbücher zur angewandten Chemie – und starb.
Ma Alchemy war also nicht unsterblich. Als Kind war es für den kleinen Art völlig klar gewesen, dass sein Dad alt werden würde, so wie dessen Vater und Mutter. Die Großeltern starben kurz hintereinander. Als der Erste ging, wollte der übriggebliebene Teil nicht allein weiterkämpfen. Artimus war elf oder zwölf Jahre, als er kurz hintereinander an zwei offenen Gräbern stehen musste. So würde es Dad also irgendwann auch ergehen. Daran schien kein Weg vorbeizuführen. Ma Alchemy schien die große Ausnahme zu sein. Zunächst mochte es daran gelegen haben, dass sie keine Eltern hatte; Bessy war als Waisenkind aufgewachsen. Artimus hatte da also keine Vergleiche, die er zwischen ihr und ihrer Mutter hätte ziehen können. Ein weiterer Grund war sicher die erstaunliche Tatsache, dass Ma nicht zu altern schien. Sie kleidete sich nicht übertrieben jugendlich, was ihr die Klatschbasen in Jacksonville auch übel genommen hätten, Schminke besaß sie überhaupt nicht. Trotzdem schien sie ihre Jugend in eine Dose gepackt und fest verschlossen zu haben. Artimus' Freunde pfiffen ihr hinterher – und mehr als einmal geriet er in eine heftige Prügelei, wenn einer seiner Kumpanen eine anzügliche Bemerkung über seine Ma abgelassen hatte. Er war nicht blind. Seine Mutter war eine begehrenswerte Frau. Irgendwie konnte er die Freunde ja sogar verstehen, doch sie war seine Ma! Und über die machte man keine schweinischen Witzchen. Die Schönheit von Bessy war ein Grund dafür, dass Artimus die Seitensprünge seines Vaters niemals hatte begreifen können. Was hatte der Mann bei anderen Frauen gesucht? Erst später wurde es ihm klar: Joseph van Zant hatte die Nähe zu Frauen gesucht, die ihn wie einen Mann behandelten, wie ein gleichwertiges Wesen. Nicht wie einen Diener, ja, beinahe einen Sklaven, dem man turmhoch überlegen war. Der größte Schmerz für Artimus' Vater mochte die Einsicht gewesen sein, dass Bessy tatsächlich meilenweit über ihm stand. Er konnte seiner Frau in keiner Weise das Wasser reichen. Van Zant lächelte, als er sich daran erinnerte, wie Mutter zu ihrem Spitznamen gekommen war. Arts bester Freund hatte der schönen Frau mit melancholischem Blick nachgesehen und gesagt: »Professo-
rin der Chemie? Nie im Leben, Arti! Sie ist eine Alchemistin – eine wahre Zauberfrau, weißt du? Deine Ma hat sich auf ewig schön gezaubert.« Ma Alchemy war geboren. Als Bessy ihren Nickname spitz bekam, lächelte sie nur. Er schien ihr zu gefallen. Wie abgöttisch ihr Sohn sie liebte, das hatte sie niemals bemerkt …
Der Anruf hatte Artimus van Zant mitten in der heißen Phase einer Experimentreihe gestört. Was ihm Cousine Hill in ihrer typischen schnatternden Sprechweise mitzuteilen versucht hatte, war nur schwer in seinen Kopf eingedrungen. Jacksonville, das Anwesen seiner Eltern, Ma … das alles war für ihn zurzeit so unendlich weit weg. Zwei Stunden später saß Artimus bereits in einem Helikopter, der ihn in Richtung Jacksonville brachte. Robert Tendyke – van Zants Chef – war ein Mensch, der schnell und kompromisslos zu handeln verstand. Als er von van Zants kranker Mutter hörte, nahm er Artimus das Zepter aus der Hand. Widerstand war zwecklos, denn Tendyke hatte bereits alles in die richtigen Bahnen gelenkt. Nach der Landung wurde van Zant von einer Limousine erwartet, die ihn zum Besitz seiner Familie chauffierte. Tendyke Industries war in praktisch jeder Stadt der USA vertreten; es kostete Tendyke kaum mehr als ein oder zwei Telefonate, um solche Transportprobleme zu lösen. Van Zant wusste das sehr zu schätzen, denn in seinem Denken war für solche Dinge momentan einfach kein Platz. Bei der Anfahrt auf das Haus zu betrachte der Physiker das Gebäude mit den Augen eines Fremden. Es war nicht gerade eine dieser Operettenvillen, wie man sie aus den Südstaaten-Filmen Hollywoods kannte, doch der Bau machte eine Menge her. Und schließlich war das hier nicht Texas, sondern Jacksonville. Im Haus angekommen wurde er von den Bediensteten seiner Mutter begrüßt. Einige der Gesichter kannte Artimus noch aus früheren Jahren, andere schien Ma ausgetauscht zu haben. So weit er auch
zurückdenken konnte, fand er keinerlei Erinnerung daran, dass seine Mutter im Haus etwas selbst getan hätte. Putzen, waschen, Einkäufe erledigen – alles Dinge, für die in ihrem Leben kein Platz war, denn sie konzentrierte sich einzig und allein auf ihre Arbeit. Sein Vater und er hatten wohl auch zu den Dingen gezählt, die sie für nicht wichtig genug gehalten hatte. Dann schon eher den jungen Gärtner oder den gut aussehenden Chauffeur, die beide reichlich unsanft und ohne Angabe von Gründen vom Vater aus dem Haus entfernt worden waren. Auch das hatte Artimus erst viele Jahre später wirklich begriffen. Die Ehe seiner Eltern war nichts weiter als eine Farce gewesen, eine billige Komödie, die aus unendlich vielen Akten bestand. Dr. Leyland war ihm aus dem Schlafzimmer der Eltern entgegen gekommen. Der alte Mann praktizierte nun schon seit vierzig Jahren in diesem Bezirk. Van Zant stellte dem Alten die einzig wichtige Frage. »Woran ist meine Mutter erkrankt, Doktor?« Doc Leyland sah zu ihm hoch. Der Doktor war nicht eben ein Riese. »Sie hört auf zu leben, Artimus.« Van Zant war nicht in der Stimmung für Metaphern. Bedrohlich nahe trat er an den Arzt heran. »Wenn ich eine idiotische Antwort hören will, dann frage ich einen Idioten. Sind Sie einer, Doc? Wenn nicht, dann sagen Sie mir nun klar und deutlich, was mit meiner Mutter geschieht.« Dr. Leyland nahm die Brille von seiner Nase und begann umständlich, das museumsreife Stück mit einem Lappen zu reinigen. »Ich verstehe deine Aufgeregtheit und auch deine Wut, Artimus. Aber ich kann dir nichts anderes sagen – sie hört auf zu leben. Und ehe du nach Detail fragst, sage ich es dir gleich: Herz, Kreislauf, Lunge, Leber, einfach alles … es wird schwächer, schwindet dahin. Es klingt dumm, aber es ist, als wäre ihr Akku einfach leer. Sie hat keine Schmerzen. Sie ist auch psychisch nicht angegriffen. Nein, Artimus, es ist einfach alles.« Dr. Leyland sah in das vom Nichtverstehen geprägte Gesicht seines Gegenübers. »Geh zu ihr. Sie schläft gerade, aber am Nachmittag wird sie sicher noch einmal aufwachen. Dann kannst du mit ihr reden.«
»Doktor, ich … wann …« Artimus van Zant war in diesen Sekunden wieder ein hilfloses Kind, das seine Ängste nicht in Worte fassen konnte. Der Arzt wusste dennoch, was er ihn hatte fragen wollen. »Mit ziemlicher Sicherheit noch heute, Artimus. Ich glaube nicht, dass sie die Nacht überlebt.« Er schlug dem Physiker auf die Schulter. Dann humpelte der alte Mann zum Ausgang. Mit schleppendem Schritt steuerte Artimus auf die hohe Doppelflügeltür zu. Sie schlief also? Er wollte nur kurz nach Ma sehen, sie ganz sicher nicht wecken. Sie hatte es nie gemocht, wenn man sie unsanft aus dem Schlaf drängte. Erst recht nicht, wenn es ihr Sohn war, der wieder einmal um ihre Aufmerksamkeit bettelte …
Mit einem Ruck zog van Zant die dicken Vorhänge auf. Tageslicht blendete ihn für Sekunden. Dann hatten seine Augen sich daran gewöhnt. Sie hatte tatsächlich tief und fest geschlafen. Minutenlang war er nicht in der Lage gewesen, das Zimmer wieder zu verlassen. Er konnte sich an diesem jugendlichen Gesicht einfach nicht satt sehen. Schließlich hatte er sich selbst diszipliniert und war nach oben in sein altes Zimmer gegangen. Man würde ihn rufen, wenn Ma aufwachte. Viel verändert hatte sie in dem Zimmer nicht. In den Regalen standen noch jede Menge der Bücher, mit denen er im Studium gearbeitet hatte. Physik – sein Vater hatte gelächelt, als Artimus ihm und Bessy damals sein Studienziel genannt hatte. Für einen kurzen Moment hatte Art damals in den Augen der Mutter etwas wie Widerwillen aufflackern sehen. Vielleicht hatte sie ja doch gehofft, der Sohn würde ihr nacheifern. Doch statt Chemie hatte er sich für Physik entschieden. Der Moment war jedoch vorüber, ehe er begonnen hatte. Und wahrscheinlich hatte Artimus sich diese Reaktion überhaupt nur eingebildet. Was folgte, war Gleichgültigkeit. Von beiden Elterntei-
len. Mit dem Ende seines Studiums kam auch das Ende für seine Zeit in diesem Haus. Er hatte es satt, wie ein Schatten zwischen zwei Menschen hin- und herzuhuschen und nur dann wahrgenommen zu werden, wenn er unangenehm auffiel, sich außerhalb der Norm bewegte, die hier herrschte. Als Kind und Jugendlicher hatte er diese Grenze immer wieder überschritten, denn nur so wurde er zumindest für eine gewisse Zeit der Mittelpunkt im Leben seiner Eltern. Alkohol, Drogen jeglicher Couleur – er ließ nichts aus, nicht einmal Körperverletzung. Joseph und Bessy hatten ihn jedes Mal aus seinen Schwierigkeiten herausgezogen, denn der Name van Zant stand schließlich auf dem Spiel. Und die unbefleckten Westen ihrer Karrieren. Irgendwann hatte Artimus das Spiel resignierend aufgegeben. Sein Blick fiel durch das Fensterglas auf die weite Rasenfläche hinter dem Haus. Und dann war ihm, als würde er die Menschenmenge sehen können – luftige Kleider in allen Farben des Regenbogens; die Männer in groben Jeans und Baumwollhemden, hohen Stiefeln an den Füßen und die Stetsons auf den Köpfen. Der Geruch nach einem Riesenbarbecue. Unmengen an Bier und Whiskey flossen. Lachende Kinder mit Zuckerwatte und großen Eistüten in den Händen … Zweimal im Jahr stieg bei den van Zants die Riesenfete. Die erste zum Frühlingsbeginn, die zweite, wenn Sommer herrschte. Artimus liebte diese Tage, denn sie waren oft die einzigen im Jahr, an denen er das Gefühl hatte, in einer intakten Familie zu leben. Es war nicht nur die gesamte Nachbarschaft eingeladen, sondern auch die ganze Familie. Und selbst wenn nur ein kleiner Teil von denen kam, platze hier alles aus den Nähten. Der Name van Zant hatte im ganzen Süden der USA einen guten Klang – und zwar wortwörtlich. Die van Zants waren eine Musikerfamilie. Country, Blues und der berühmte Southern-Rock waren regelrecht belagert von den van Zants der unterschiedlichen Generationen. Bei den Festen spielten Live-Bands, die man sich sonst nur für teures Eintrittsgeld ansehen konnte. Ausgerechnet der einzige unmusikalische Spross der van Zants
war Artimus' Vater Joseph. Und seine Gene hatten auch das latente Talent seines Sohnes schwer überlagert. Art liebte Musik über alles. Doch am ersten Barre-Akkord, den ihm sein Vetter x-ten Grades Donnie van Zant beibringen wollte, hatte Artimus sich beinahe die Finger verknotet. Donnie sang heute die Lead Vocals bei ›38 Special‹, einer der erfolgreichsten Bands dieser Richtung – Art jagte Vampire … es war müßig zu fragen, wer beim Strohhalmziehen den Kürzeren erwischt hatte. Bei einem dieser Feste – Artimus war gerade vierzehn geworden – hatte er in seinem Zimmer nach einem Poster suchen wollen, das ihm eines der Nachbarsmädchen abgeschwatzt hatte. Zwei Zimmer weiter war die Tür nur angelehnt. Es war ein kleines Gästezimmer, das eigentlich nie belegt war. Neugierig hatte Artimus durch den Türspalt geschaut. Er sah seinen Vater splitternackt auf dem Bett liegen. Und auf ihm hockte genau das Mädchen, das Art mit dem läppischen Poster für sich hatte gewinnen wollen. Sie war wunderschön in ihrer Nacktheit … Als er sich verwirrt abwenden wollte, stand seine Mutter hinter ihm. Ausdruckslos sah sie ihren Sohn an. »Komm, vergiss, was du gesehen hast. Das ist nichts für dich.« Mit sanftem Druck führte sie ihn zurück zum Fest. Damals hatte Artimus in den nächsten Nächten nicht schlafen können. Er hatte Mitleid mit seiner betrogenen Mutter. Dass sie sich bei besagtem Fest ihren Spaß an anderer Stelle geholt hatte, wäre ihm damals nie in den Sinn gekommen. Doch es gab noch einen Grund, der ihm den Schlaf raubte. Er konnte den nackten Körper nicht vergessen, der auf seinem Vater geschwitzt hatte. Vater hatte auch ihn betrogen. Mit einem halben Kind … »Mister van Zant.« Artimus hatte nicht bemerkt, dass die Tür geöffnet worden war. Es war das Zimmermädchen, das er vorhin zum ersten Mal im Leben gesehen hatte. Eine hübsche junge Frau, die sich ihren Hungerlohn auf diese Weise verdiente. Ma Alchemy stand in dem Ruf, äußerst geizig zu sein. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ihre Frau Mutter aufgewacht ist.« Artimus murmelte einen Dank. Das Schlafzimmer seiner Eltern war ein überdimensionierter
Raum. Wenn Artimus daran dachte, in welchen Löchern oft mehrköpfige Familien hausen mussten, weil sie einfach kein Geld für eine größere Wohnung hatten, so konnte er dies hier nur als unnötige Platzverschwendung aunsehen. Überrascht registrierte er, dass seine Mutter die Vorhänge hatte aufziehen lassen. Alle Fenster standen weit offen, die milde Luft kämpfte gegen den Geruch des nahenden Todes an, doch sie musste verlieren. Bessy van Zant schaffte es, ein mildes Lächeln um ihre Lippen zu zaubern, als Artimus sich zu ihr auf den Rand ihres Bettes setzte. Ein flüchtiger Wangenkuss – mehr an Zärtlichkeiten hatte es zwischen Mutter und Sohn nie gegeben. Beide sahen keinen Grund, warum sie das heute ändern sollten. »Sie haben dich also von deiner Arbeit weggeholt. Ich wette, Doc Leyland ist dafür verantwortlich. Und dabei kannst du ja doch nichts für mich tun, Art.« Etwas in der Stimme von Ma Alchemy war anders als gewöhnlich. Ein Teil ihres sonst so glockenhellen Redeklangs schien gebrochen zu sein. Sie starb … und ihre Stimme war der letzte Beweis für Artimus, dass der alte Doktor sich nicht geirrt hatte. Der Klang ging ihr voran – ein Riss hatte sich in ihm gebildet, der sich von Sekunde zu Sekunde zu verbreitern schien. »Ma, du siehst mich an, als hättest du einen fremden Menschen vor dir.« Ihre Augen huschten tatsächlich forschend über Artimus' Gesicht. Bessy ließ das Lächeln einfrieren. »Ich sehe dich nicht zum ersten Mal – ich sehe dich zum letzten Mal, mein Kind. Mein verbotenes Kind.« Artimus runzelte die Stirn. Es schien, als würde sich der Verstand seiner Mutter bereits umwölken. »Ja, ein verbotenes Kind – ein Vita-Kind eines Vita-Kindes. Schau mich nicht so mitleidig an, Art. Ich bin nicht verrückt. Ich fühle nur, dass die Konditionierung in mir schwindet.« Bessy schloss für Sekunden die Augen, dann nahm sie van Zants Hand. Eine Berührung, die ihn erzittern ließ. So zärtlich konnte sie also sein? Artimus fühlte eine dumpfe Trauer in sich aufsteigen. Nicht um seine Mutter, sondern um all die versäumten Umarmun-
gen, die kleinen Streicheleinheiten, die er sich als Kind so herbeigesehnt hatte. »Noch bin ich nicht wirklich frei von dem auferlegten Zwang, mein Junge. Wenn er völlig verschwindet, dann kann ich frei sprechen – endlich, nach dieser gelebten Ewigkeit. Doch dann werde ich auch sterben. Wir alle konnten nicht darüber reden. Verstehst du? Wir konnten es nicht, auch wenn wir den unstillbaren Wunsch in uns brennen fühlten, unseren Kindern die Wahrheit zu erzählen.« Ein Hustenanfall schüttelte Bessy van Zants Körper. Erschöpft ließ sie sich in die Kissen zurückfallen. Ihre Augenlider flackerten – Artimus wollte hochspringen und Doc Leyland holen lassen. Doch die Hand seiner Ma ließ ihn nicht los. »Bleib, noch ist es nicht soweit. Und wenn, dann kann mir der alte Knochenklempner auch nicht mehr helfen. Er weiß das auch ganz genau.« »Ma, was willst du mir hier sagen? Ich verstehe kein Wort … VitaKinder? Was soll denn das sein? Bitte, ich …« »In meinem Privatzimmer gibt es einen kleinen Tresor. Du kennst ihn. Schüttle nicht den Kopf – du kennst ihn. Du wirst in ihm finden, was du wissen musst. Art … und dann halte dich fern von den VitaKindern!« Ihr Gesicht verzog sich schmerzvoll. Die letzten Worte schienen eine Reaktion hervorgerufen zu haben, die Artimus nicht einordnen konnte. Und ihre nächsten Worte schienen völlig aus dem Zusammenhang gerissen. »Hör zu. Erinnerst du dich noch an den verletzten kleinen Hund, den Vater einmal mitgebracht hat?« Artimus nickte. Natürlich erinnerte er sich – er war da wohl so um die neun Jahre alt gewesen. Vater hatte das Tier im Straßengraben gefunden, offensichtlich war es von einem Wagen angefahren worden. Doch der Fahrer hatte sich nicht um den Hund gekümmert, war sicher einfach weitergefahren. Das arme Tier hatte eine gebrochene Pfote und ziemlich hässliche Fleischwunden. Art hatte solange gebettelt, bis die Eltern ihm den Hund gelassen hatten. »Er braucht einen Namen. Fällt dir einer ein?« Joseph hatte seinen Sohn angesehen, der sich intensiv um den Mischling kümmerte,
nachdem sie ihn in einer Tierarztklinik hatten versorgen lassen. Artimus sah zu seiner Mutter. Sie wollte den Hund nicht im Haus. Aber vielleicht würde er sie so milder stimmen können. »Ma soll ihm einen Namen geben. Ach bitte, Ma, machst du das?« Bessy ließ sich erweichen. »Gut, er soll Four-O-Three heißen.« Vater und Sohn hatten sich achselzuckend angesehen. Dann also FourO-Three. Artimus war alles recht, wenn er das Tier nur behalten durfte. Keine sechs Monate später wurde Four, wie ihn alle der Einfachheit halber nannten, erneut überfahren. Der Verstand des Hundes reichte anscheinend nicht aus, um zu begreifen, dass Lastwagen nicht seine Freunde waren, die mit ihm spielen wollten. Artimus hatte lange getrauert. Einen anderen Hund wollte er nicht haben – und seither hatte es in diesem Haus kein Tier mehr gegeben. Und wie er sich daran erinnerte! Er sah Ma Alchemy fragend an. »Sein Name wird dir helfen. Frage nicht weiter, ich kann nicht mehr sagen.« Sie schloss die Augen. Gleichmäßig hob und senkte sich ihr Brustkorb. Sie war eingeschlafen, doch ihre Hand hielt nach wie vor die ihres Sohnes umklammert. Artimus rührte sich keinen Millimeter. Er würde diesen Platz hier nicht verlassen … noch lebte sie, noch konnte er endlich die Nähe zu ihr genießen, die ihm immer so gefehlt hatte. Ein frischer Wind ließ die Vorhänge wehen. Artimus van Zant war glücklich, das er hierher gekommen war … … er musste kurz eingeschlafen sein. Als er den Schlaf von sich schüttelte, blickte er direkt in die wunderschönen Augen seiner Mutter. Sie war wach! Und er hatte es nicht bemerkt. Dabei zählte jetzt doch jede Sekunde … er wollte sie noch so viel fragen. »Arti, was war ich nur für eine miese Mutter.« Van Zant wollte aufbegehren, ihr sagen, wie sehr er sie trotz allem geliebt hatte, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Du musst dich hüten, mein Sohn. Die letzte Phase … sie ist nie
gestartet worden. Und nun sterben wir … vielleicht bin ich schon die Letzte von uns allen. Artimus, ich beschwöre dich …« Ein Hustenanfall schüttelte den geschwächten Körper von Bessy van Zant durch. Mit Entsetzen sah der Physiker, wie ein dünner Rinnsal Blut in ihrem linken Mundwinkel erschien. Bessy holte tief Luft. Ihre Finger krallten sich um die Hand des Sohnes. »Sucht nicht nach dem ERSTEN! Ihr dürft ihn nicht wecken, sonst ist das euer aller Tod. Und der dieser Welt …« Artimus van Zant spürte, wie ihre Hand an Kraft verlor. Mit seinen Händen umfasste er die Schultern der zierlichen Frau, wollte sie an sich drücken. Doch da wusste er schon, dass kein Leben mehr in seiner Mutter war. Ma Alchemy war tot.
BERICHT – »HELIOS-SYSTEM« – (B) Sie fanden einen Überlebenden. Alle anderen, die es noch geschafft hatten, das im Atombrand vergehende Raumschiff zu verlassen, waren von Trümmern oder hochradioaktiven Strahlungsausbrüchen getötet worden. Auch die, die anfangs den Abschuss ihres Kleinraumers überlebt hatten, zeigten jetzt keine Biowerte mehr an. Entweder hatte die Technik ihrer Raumanzüge versagt, oder die Anzüge waren von treibenden Trümmerstücken aufgerissen worden – vielleicht hatten sie ja auch Selbstmord begangen. Eventuell hatte sie auch die Strukturerschütterung getötet, die durch den Kreuzer hervorgerufen worden war. Die Cyborgs untersuchten dieses Phänomen. Zwei MiB holten den einzigen Überlebenden an Bord der STERNENJÄGER. Der Kommandant selbst ließ sich herab, ihn zu verhören. Als sie ihm den Raumanzug in Streifen vom Körper schnitten, begriff er, dass er nie wieder frei sein würde. Commander Cairo machte sich nicht die Mühe, ihn nach der neuen Technik des Kreuzers zu befragen. Ganz gleich, ob es sich um einen Mannschaftsdienstgrad oder einen Offizier handelte – es war nicht davon auszugehen, dass er die Neuentwicklung so weit kann-
te, dass er sie nachkonstruieren konnte. Wahrscheinlich waren auch die Ingenieure an Bord nur der Wartung mächtig. Man hatte ihnen dieses Raumschiff gegeben, und sie flogen es. Jemand, der einen Computer benutzte, wusste auch nicht, wie er den Prozessorchip herstellten sollte. Er drückte einfach auf die Tasten, und das Gerät lief – oder auch nicht. Der Kommandant hätte den Antrieb der STERNENJÄGER auch nicht zerlegen und wieder richtig zusammensetzen können. Er hoffte, dass die Aufzeichnungen, die gemacht worden waren, ausreichten, sodass die MiB wenigstens etwas an Grundlagen erarbeiten konnten. Wenn nicht – es gab Experten dafür, die mehr mit den Daten würden anfangen können. Sowohl auf dem Kristallplaneten als auch auf Cairos Welt. Dem Gkirr, diesem schmächtigen, grauhäutigen Wesen mit den großen Augen, dessen Körper geradezu lächerlich wirkte, setzten sie eine Encephalohaube auf, die eigens auf seine Spezies abgestimmt war. »Weshalb habt ihr das Helios-System angeflogen? Was wollt ihr auf Gaia?«, fragte er. Der Gkirr antwortete nicht. Cairo machte eine Handbewegung. Der MiB, der das Encephalo steuerte, berührte eine Sensortaste der Fernbedienung. Er wiederholte die Frage des Kommandanten. Der Gkirr schwieg weiter. Das Encephalo verstärkte seine willensbrechende Energieabgabe weiter und löste Schmerz aus. Immer noch gab der Gkirr keine Antwort. Es war ihm anzusehen, dass er auf Schmerz und Zwang reagierte, dies aber noch unterdrücken konnte. Der Kommandant runzelte die Stirn. Sollte der Gkirr auf irgendeine Weise präpariert worden sein, sodass er der Dynastie-Verhörmaschine erfolgreich Widerstand leisten konnte? Cairo dachte nicht daran, Zeit zu verschwenden. »Gehirnsektion«, ordnete er an. Der Gkirr begann zu zittern. Er verspürte deutlich Angst. An seiner Stelle wäre es Cairo nicht anders ergangen. Die Gehirnsektion
war das Letzte, was der Gkirr erlebte. Als sie ihm die Haube abnahmen, begann er zu schreien und um sich zu schlagen. Die Laute, die er von sich gab, waren schrill und lagen beinahe im Ultraschallbereich. Er geriet in Panik. Aber die MiB hielten ihn fest, hinderten ihn an jeder weiteren Bewegung. Gegen ihre Cyborg-Kräfte kam er nicht an. »Du hast es so gewollt, Winzling«, sagte Cairo im gebräuchlichsten der diversen Gkirr-Dialekte. »Wenn du gleich geantwortet hättest, wäre dir das Kommende erspart geblieben.« Der Grauhäutige kreischte. Zu seiner Todesangst kam noch das Entsetzen hinzu, dass der Ewige seine Sprache beherrschte. Sie zerrten ihn in einen anderen Sessel. Spangen aus Panzerplastronit schnellten aus Halterungen hervor und fixierten alle Gelenke des Gkirr, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. Seine Augen flackerten. Unangenehmer Geruch bildete sich; der Graue hatte seine Schließmuskeln nicht mehr unter Kontrolle. »Atemmaske!«, verlangte der Kommandant und streckte die Hand aus. Einer der Cyborgs reichte ihm die Maske, die den Gestank ausfilterte. »Anfangen«, befahl er. Einer der Cyborgs öffnete den Schädel des Gkirr und legte das Gehirn frei. Der Graue schrie und wimmerte immer noch. Cairo kannte kein Mitleid. Dieses Volk hatte einst die DYNASTIE DER EWIGEN fast ausgelöscht, hatte Hunderttausende auf dem Gewissen. Wegen dieser kleinen Bestien hatten sich die Ewigen vor tausend Jahren von allen beherrschten und besiedelten Planeten zurückgezogen, hatten die Galaxis verlassen. Langfristig war das als einzige Möglichkeit angesehen worden, zu überleben, da man seinerzeit noch nicht einmal wusste, wer der Feind tatsächlich war, und deshalb nicht zurückschlagen konnte. Erst viele Jahrhunderte später kam ein erster Verdacht. Und erste Agenten der Dynastie, unter ihnen der damalige ERHABENE Erik Skribent persönlich, waren in die Galaxis zurückgekehrt. Der ERHABENE suchte Gaia auf, übernahm dort eine wirtschaftli-
che Machtposition. Bis das auf seinen Einsatz wartende, endlich fertiggestellte Sternenschiff im Helios-Planetensystem erschien und von zwei absolut gegensätzlichen Männern – Professor Zamorra und Asmodis – zerstört wurde … Dafür hasste Cairo weder Zamorra noch Asmodis. Sie hatten mit ihrer Untat eine Entwicklung ausgelöst, die den Kommandanten an die Position gebracht hatte, die er heute innehatte, und sein Weg nach oben war noch längst nicht beendet. Er hasste nur die Gkirr. Ein Cyborg führte Sonden in das freiliegende Gehirn des Grauhäutigen. Kein einziger Blutstropfen floss. Der Gkirr winselte nur noch. Vor seinen Augen warf der Kommandant die abgelöste Schädelplatte in den Abfallschacht, wo sie dem Konverter zugeführt wurde, um dem Raumschiff ein kleines bisschen Energie zu liefern. Seltsame Laute erklangen. Ein Name, Koordinaten. Ein Begriff. Mehr nicht. Der Gkirr lallte nur noch unverständlich vor sich hin. »Er hat den Verstand verloren. Die Wissenszentren in seinem Gehirn zerfallen, die Synapsen schmelzen und gehen neue chemische Verbindungen ein, Commander. Er nützt uns nichts mehr. Er wird keine weiteren Informationen mehr liefern«, erklärte einer der Cyborgs ungerührt. Ohne eine weitere Anweisung zu benötigen, lösten sie die Gehirnsonden und die Haltespangen. Der Kommandant streckte die Hand aus. »Den Datenspeicher«, verlangte er. »Und dann räumt das da weg.« Er wies auf den Gkirr und den Abfallschacht. Dann verließ er den Verhörraum. Er riss sich die Atemmaske ab und ließ sie einfach fallen. Es tat gut, wieder ungefilterte Luft zu riechen.
Der Kommandant hatte wieder in seinem Sessel in der Zentrale Platz genommen. Er überlegte. Es konnte wohl nicht schaden, über kurz oder lang Verstärkung anzufordern, obgleich er das gern ver-
mieden hätte. Seine eigene Flotte wollte er dazu nicht einsetzen. Warum sollte er seine Karten zu früh aufdecken? Also Unterstützung vom Kristallplaneten. Am besten gleich ein Dutzend Schneller Kreuzer. Die waren gut bewaffnet und konnten mit den Gkirr noch am ehesten fertig werden – hoffte er. Zumindest waren sie aber äußerst wendig. Was ihn verblüffte, waren zwei Dinge. Zum ersten, dass die kleinen Spürboote so überraschend stark bewaffnet waren. Offenbar hatten die Gkirr nach so vielen Jahrhunderten diese Dinger doch endlich modernisiert. Und das auf eine Weise, die den Ewigen gar nicht gefallen konnte. Das zweite war das Schiff vom Kreuzerformat, das die Struktur des Raum-Zeitgefüges so enorm erschüttert hatte. Es musste etwas mit dem Antrieb zu tun haben. Gab es da auch Neuentwicklungen? Cairo war nicht der Einzige, dem längst klar war, dass die bisherige Überlichttechnik nicht das Gelbe vom Ei war. Der größte Mangel waren Beschleunigungs- und Verzögerungsphase, die beide in den hochrelativistischen Bereich führten. Zwar nur für eine sehr kurze Zeitspanne, und man arbeitete daran, sie weiter zu verkürzen. Aber irgendwie setzte die Ansprech- und Variationszeit der Masse-Trägheitsabsorber Grenzen. Und im Bereich zwischen halber und ganzer Lichtgeschwindigkeit machte sich die Zeitdilatation mehr oder weniger stark bemerkbar. Das bedeutete, dass die Zeit innerhalb des Raumschiffs wesentlich schneller ablief als außerhalb. Raumgefechte bei fast Lichtgeschwindigkeit waren daher praktisch unmöglich. Offenbar hatten die Gkirr hier einen Sprung nach vorn gemacht. Der Kommandant bedauerte, dass sie den Antrieb des Kreuzers nicht aus dem verbrennenden Schiff hatten heraustrennen und bergen können. Die MiB befassten sich immer noch mit dem Phänomen und schienen keinen Schritt weitergekommen zu sein. Wieder dachte Cairo an die eventuellen Folgen des Gefechts. Der Kreuzer hatte seinen Notruf zwar nicht mehr senden können, aber beizeiten würde man sich fragen, warum sich eben dieses Raumschiff nicht mehr meldete. Eine Raumpatrouille würde kommen und
Ausschau halten – und die Trümmer und Staubreste finden. Vielleicht ließ sich noch ein zeitlicher Aufschub herausholen, indem auch das Patrouillenschiff zerstört wurde. Aber spätestens danach würde ein Kampfgeschwader zwischen den Planeten der Sonne Helios erscheinen. Was machst du dir darüber Sorgen?, fragte sich der Kommandant. Damals, als die beiden Spürer über New Mexico kollidierten und von dem gaianischen Geheimdienst NSA in Savannah sichergestellt wurden, ist auch kein Geschwader gekommen. Gaia ist den Gkirr einfach nicht wichtig genug. Wenn die wüssten … Der Kommandant schob die Gedanken zurück. Es gab wichtigere Dinge: Die Begriffe, die der Gkirr gelallt hatte, und der Inhalt des Datenspeichers. Ein winziger Chip, halb so groß wie ein Fingernagel und mit einer Speicherkapazität, dass die tronischen Systeme eines Schnellen Kreuzers komplett darin Platz fanden. Aber hier lagen weit weniger Daten vor, die dem Gehirn des Gefangenen entnommen worden waren. »Tonga-Graben«, murmelte Cairo. Er rief Daten aus dem GaiaSpeicher auf und schaltete sie auf den Holo-Schirm. »Tonga-Inseln, auch Freundschaftsinseln genannt, nördlich von Neuseeland, nahe dem südlichen Wendekreis, Tiefe bis 10683 Meter.« Die Gkirr-Koordinaten zeigten Negativ-Werte an. Das bedeutete, dass das Ziel unter der Wasseroberfläche lag. Und zwar verdammt tief! »Fixieren«, befahl der Kommandant. »Taktische Darstellung.« Der Bildschirm, der eben noch den betreffenden Bereich des Planeten Gaia zeigte, änderte sein Bild. Feine Koordinatenlinien durchliefen die Wiedergabe. Diverse Einblendungen zeigten Objekte unter und über Wasser, beschriftet und mit Zahlen versehen. »Zoom.« Das Bild wuchs rasend schnell, schien förmlich zu explodieren. Nur noch ein Ausschnitt war zu sehen – mit wesentlich mehr Details. In beträchtlicher Tiefe blinkte ein sphärisches Fadenkreuz.
»Da unten also liegt das Zielobjekt«, murmelte der Kommandant. »Was soll das sein?« Er erwartete von den Cyborgs keine Antwort und bekam auch keine. »Es wird wohl keine andere Möglichkeit geben, als nachzuschauen«, entschied er schließlich. »Zielkoordinaten in Anflugautomatik. Ortung, gibt es irgendetwas von dem Spürer?« Gab es nicht. Das Objekt war und blieb verschwunden. Entweder war er auf der anderen Planetenseite, oder er befand sich im Ortungsschutz der Sonne – oder wo auch immer. »Zielanflug Start«, befahl Cairo. Seine STERNENJÄGER raste Gaia entgegen!
4 Wartephase – Eindruck: 02 Etwas hatte sich verändert. Einfluss von außen – Fühlen = Wahrnehmen des eigenen Körpers; Erkennen von veränderten Einflüssen wie Kälte, Wärme, Druck, Beschaffenheit der Umgebung. »I« erschrak. Ihm war plötzlich bewusst, dass sein Körper, von dem er nur die reinen Daten durch Informationen kannte, den er jedoch nie zuvor gespürt hatte, tatsächlich existierte. Fiktive Zahlen, Maße und Gewichtsangaben verwandelten sich in etwas wirklich Greifbares. Schnell lernte »I« dieses Fühlen in ein Denkmodell umzusetzen. Er existierte nicht in einer Leere. Etwas umhüllte ihn, schloss ihn rundum dicht ein. Zwischen seinem Körper und diesem Etwas gab es keinen Raum. Er war ein Teil davon, vielleicht sogar der wichtigste. Der Teil, auf Grund dessen das Etwas seine Berechtigung bekam. Die Berührung des Etwas war nicht unangenehm. »I« erkannte angenehme Wärme – und Bewegung. Das Etwas war in Bewegung – und er mit ihm. Lange Zeit verhielt »I« sich neutral. Dann erst begann er für sich abzuwägen, ob ihm diese Veränderung gefiel. Er entschied, dass sie für sich allein genommen noch keinen nennbaren Unterschied ausmachte. Er hätte also durchaus ohne sie auskommen können. Dennoch war sie unglaublich bedeutend! Das ruhende Bewusstsein spielte alle Eventualitäten durch. Eines war klar: »I« erlebte den Beginn der letzten Phase. Unklar blieb, was dies für ihn bedeuten würde. Es gab unzählige Möglichkeiten, doch er konnte sie alle logisch sortieren und im Ausschlussverfahren nahezu jede von ihnen als falsch einstufen. Zwei blieben am Ende übrig. Nur zwei … Möglichkeit 1 – alles verlief nach Plan. Es begann also …
Möglichkeit 2 – er, »I«, durchlief seine Werdungsphase und starb. Bei Abwägung unter den Aspekten der reinen Logik war die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass es sich um Möglichkeit 2 handelte. Die Phasen waren bis zu ihrer letzten Reserve ausgereizt. Also konnte er davon ausgehen, dass etwas Nichtvorhersehbares innerhalb der Phasenzeiten geschehen sein musste. Wenn das so war, akzeptierte er es. »I« nahm sich vor, seine Werdung zu genießen. Freudig erwartete er die nächste Veränderung.
5 Zahlenspiel »Mein lieber ›Lix‹, ich hoffe, ich darf mich dieser vertraulichen Anrede bedienen? Sollte sie Ihnen zu plump erscheinen, dann bitte ich um Entschuldigung. Aber in unserem Briefwechsel spüre ich seit langem, dass wir beide verwandte Seelen sind. Ich hoffe wirklich, in diesem Punkt nicht auf Ihre Ablehnung zu stoßen. Unsere Freundschaft – wenn ich sie denn so nennen darf – bedeutet mir sehr viel. Ihren letzten Brief (ich habe ihn sicher an die einhundert Mal gelesen) beantworte ich – wie sollte es auch anders sein? –, während ich in einer Kutsche sitze, die mich erneut in das Land bringen wird, das ich zu lieben gelernt habe: Italien! Nichts hält mich in dieser Zeit in Dänemark. Odense, Kopenhagen – ach, sie sind mir fad geworden. Das Mediterrane lockt mich, scheint laut meinen Namen zu rufen. Doch das alles ist ja auch Ihnen, mein lieber Freund, nur zu bekannt. Um gleich die erste Frage zu beantworten, die Sie mir stellten: Ja, die neueste Sammlung meiner Märchen schickt sich an, ein großer Erfolg zu werden. Wohl höre ich von meinem Herrn Verleger, er hätte dies und jenes lieber anders gewollt, doch sind sie da nicht alle gleichen Typs? Und Ihr, als Musikus, habt Gleiches wohl schon selbst erlebt. Doch nun zu dem, was uns gemeinsam die Zukunft bringen soll: Ich bin kein Musiker, kann eine Note kaum von ihrer Nachbarin unterscheiden. Doch in Kopenhagen bat ich einen mir bekannten Konzertmeister, einen kurzen Blick auf das zu werfen, was Ihr, lieber ›Lix‹, mir übersandt habt. Und sein Urteil lautete – ein Meisterwerk! Nun bin ich, Ihr könnt es Euch ja denken, begeistert von der Idee, eines meiner Märchen in einer Oper umgesetzt zu finden. Das, mein
Wort darauf, wird mich in Italien beschäftigen. Und nur das! Nun lob ich Euch hier ohne Unterlass, sodass Ihr sicher glauben werdet, der alte Mann will sich einschmeicheln. Jedoch – ich muss damit fortfahren. Die Idee, die Ihr zu dieser Märchenoper hattet, hat sich so tief in meinen Kopf gegraben, dass ich sie gewiss aufnehmen werde. ›Der schlafende Prinz‹ – die wenigen Zeilen, die Ihr dazu verfasst habt, werden den Grundstock zu dieser Märchenoper bilden. Doch nun, mein lieber Freund, will ich für heute schließen. Der Kutscher mahnt zur Nachtruhe. Der gute Mann will sein müdes Haupt auf weiche Daunen legen. Ich gönn es ihm von Herzen. Die Herberge ist bereits in Sicht. So warte ich denn auf Ihre freundliche Antwort. Bis dahin will ich meine Gedanken in unsere gemeinsame Arbeit versenken – ich fühle, es wird ein großes Werk! Mit freudigem Gruß – Ihr Hans Christian Andersen Im März 1865«
Mel Amber lehnte sich zurück. Mit beiden Händen bedeckte er sein Gesicht. Er rieb sich die Augen. Irgendwo im Haus musste es Aspirin geben. Die Kopfschmerzen begannen den Gitarristen zu übermannen – er musste etwas dagegen unternehmen, wenn er hier weitermachen wollte. Kaffee und Nikotin in großen Mengen trugen schlussendlich auch nicht zu seinem Wohlbefinden bei. Dabei war das längst keine Frage des Wollens mehr. Er konnte nicht mehr aufhören, die Unterlagen zu erforschen, die sich auf dem Datenträger befanden. Die meisten davon waren eingescant: Zeitungsberichte, Buchseiten, Verträge und Briefe. Viele davon über oder von Personen, deren Namen Mel nichts sagten. Andere hingegen … Mel schwankte ständig zwischen ungläubigem Staunen und hysterischen Lachanfällen, die er einfach nicht unterdrücken konnte.
Was war das, was Samuel Amber seinem Sohn hier hinterlassen hatte? Ein Witz? Nur eine riesige über vier Jahrhunderte reichende Sammlung von Fälschungen? Sein Vater war alles andere als ein Joker gewesen, der sich mit einem solchen Fake über andere lustig gemacht hätte. Erst recht nicht über Mel. Aber was war es dann? Es gab nur noch eine weitere Möglichkeit. Die jedoch wollte Mel Amber ganz einfach nicht akzeptieren. Denn sie lautete, dass er hier das Leben eines Menschen vor sich hatte, das 400 Jahre umfasst hatte. Und dieser Mensch war sein Vater gewesen. Die Unterlagen waren natürlich nicht alle an die namentliche Person Samuel Amber gerichtet. Dieser Vierhundertjahre-Mann hatte viele Nachnamen – Peterson, Vauen, Goridin, Sindorio, Freiherr zu Nieburg und noch eine Menge mehr. Der Vorname blieb in Varianten erhalten, denn Samuel, Sam, Sammy – der Namenstamm war auf praktisch alle Sprachstämme und Länder anwendbar. Nahezu allen vorhandenen Dokumenten wiesen jedoch eine Gemeinsamkeit auf. An irgendeiner Stelle tauchte der Spitzname seines Vaters auf. Vauen bis Sindorio, selbst dieser ominöse Freiherr wurden von vertrauten Personen als ›Lix‹ bezeichnet. Ein Zufall war da sicher völlig auszuschließen. Noch einmal las Mel den Brief von Hans Christian Andersen. Dem Andersen! Schöpfer von so unglaublich schönen Märchen. 2005 war international als Andersen-Jahr ausgerufen worden. Der Geburtstag des Dänen jährte sich zum 200. Mal; die Verleger überschlugen sich im Veröffentlichen diverser Luxusausgaben der Märchen vom ›Standhaften Zinnsoldaten‹ oder dem ›Mädchen mit den Schwefelhölzern‹. Die TV-Sender, denen noch ein Rest an kulturellem Denken geblieben war, hatten sich in Dokumentationen und Nacherzählungen von Andersens Leben bemüht, dem oft verkannten Mann wirklich gerecht zu werden. Mel erinnerte sich an eine solche Sendung, in der es um die beinahe zwanghafte Reiselust des Dichters gegangen
war. Italien … Wie auch in dem Brief erwähnt, war Andersen dem Zauber des europäischen Landes erlegen gewesen. Der schlafende Prinz – Mel hatte die Partitur der Oper als Ausdruck direkt neben der Tastatur liegen. Samuel hatte sie geschrieben, doch soweit Mel sich erinnerte, existierte kein gleichnamiges Märchen von Andersen. War es aus irgendwelchen Gründen dann doch nicht zu der Zusammenarbeit der beiden Künstler gekommen? Mel Ambers rechte Handfläche knallte auf den Schreibtisch! Was tat er hier? Das alles waren doch Nebensächlichkeiten. Er hatte vielleicht noch ein halbes Leben Zeit, die Antworten zu erforschen, deren Fragen sich in all diesen Daten verbargen. Jetzt war die Zeit dazu noch nicht gekommen. Er musste sich auf ein einziges Ziel konzentrieren. Die Antwort auf eine einzige Frage: Wer war Samuel ›Lix‹ Amber gewesen? Vielleicht konnte er eine Antwort darauf ja in der jüngsten Vergangenheit finden. Bisher hatte sich Mels Augenmerk einzig und allein auf die früheren Jahrhunderte gelegt. Doch nun öffnete er den Ordner mit dem Titel »LIX – 20. JAHRHUNDERT«. Die ersten Eintragungen stammten aus den Jahren 1901 und 1905. Sie bestanden aus einem Briefwechsel zwischen Samuel ›Lix‹ Stirnfeld, Pianist und Komponist jüdischer Abstammung, der in Berlin lebte, und Edward Grieg, dem genialen norwegischen Komponisten. Die beiden versicherten sich gegenseitiger Wertschätzung und vereinbarten, dass sie gemeinsam eine Konzerttournee planen wollten. Grieg war zu dieser Zeit bereits ein kranker Mann, was in seinen Briefen immer wieder durchblitzte. Dann war als letzte Datei dieser Epoche ein Zeitungsausschnitt angefügt, in dem von Griegs Tod im September 1907 berichtet wurde. Es war ein grob gerastertes Foto zu sehen, das die Beerdigung zeigte. Die Bevölkerung nahm enormen Anteil am Tod des Komponisten. Als Mel das Foto heranzoomte, wurde ihm schwindelig, denn hinter den Angehörigen entdeckte er ein Gesicht, das nun endgültig jeden seiner Zweifel auslöschte. Er sah seinen Vater … oder besser gesagt Samuel Stirnfeld. 1907 … der Mann, den Mel als Samuel Amber gekannt hatte, war
irgendwann um 1930 geboren worden. Als Waisenkind, wie er stets erzählt hatte. Über seine Jugend hatte Samuel nur ungern geredet. Niemand denkt gern an eine Kindheit in Waisenhäusern zurück, hatte er auf entsprechende Fragen immer geantwortet. Mel wusste nun, warum er dieses Thema so konsequent abgewiegelt hatte. Er schloss den Bildbetrachter und kehrte zum Dateimanager zurück. Vielleicht fand er in der jüngsten Vergangenheit einen Hinweis. Die letzte Datei war nicht einmal ein Jahr alt. Kein Scan, sondern eine Textdatei. Und ihr Titel ließ Mel einige Sekunden zögern, erst dann öffnete er sie. »ENDE LIX« – ein bezeichnender Name, wie er fand. Was er vor sich sah, war der Aufschrei eines Mannes, der zum Schweigen verdammt gewesen war:
Es lässt nach – mit jedem Tag wird es schwächer. Ich kann nach wie vor nicht darüber reden, mich keinem Menschen mitteilen, doch ich kann es aufschreiben. Nicht alles – nicht die Details. Aber es ist ein Anfang, der mir gleichzeitig deutlich das Ende zeigt. Es ist nicht geschehen. Die Schlussphase hat längst begonnen, doch das, was meine so lange währende Existenz rechtfertigen würde, traf nicht ein! Sie haben Fehler begangen. Die Konditionierung schwächelt, ja, sie bröckelt ganz langsam. Zunächst habe ich es überhaupt nicht wahrgenommen, doch dann wurde es mehr als nur ein Verdacht. Wenn sie ganz verschwindet, werde ich sterben. Oder sollte ich besser »enden« sagen? Vierhundert Jahre habe ich das getan, wozu ich erschaffen wurde. Ich könnte jederzeit – wenn es sein muss noch heute – das tun, was meine mir eingegebene Aufgabe ist. Ich habe meine Zeit sinnvoll genutzt. Die anderen werden es mir gleichgetan haben. Ich kenne nur wenige von ihnen. Kontakt haben wir nicht untereinander. Wir alle haben gewartet. Es ist nichts geschehen. Doch seit Mels Geburt ist in mir die Angst gewachsen. Sie haben wirk-
lich große Fehler begangen. Meinen Sohn hätte es niemals geben dürfen! Unter keinen Umständen.
Mel Amber spürte die Hitze, die in ihm aufstieg. Die Worte seines Vaters versetzten ihm einen Schock. Dennoch – er konnte den Blick nicht vom Flatscreen nehmen. Er musste weiterlesen.
Bin ich die Ausnahme unter den Vitas? Ist Mel die große Ausnahme? Ich hoffe es, doch irgendwie weiß ich doch genau, dass es nicht so ist. Wenn alles vorüber ist für uns, was geschieht dann mit unseren Kindern?
Die Datei wies hier einen Bruch auf. Mel musste mit dem Trackball weit nach unten scrollen, ehe er die nächste Zeile fand.
Was mag mit IHM geschehen sein? Gibt es IHN noch? Vielleicht sind auch dort, wo ER sich noch immer befinden muss, gravierende Probleme aufgetreten. Weitere schwere Fehler? Nichts scheint mehr unmöglich. Ich merke, dass all meine Gedanken nur noch aus Fragen bestehen. Zum ersten Mal in meinem Dasein erhalte ich nun eine Ahnung von dem, was Krankheit bedeutet. Mein Körper scheint zu degenerieren. Er verfällt. Ich habe morgens nach dem Aufstehen Schmerzen in Armen und Beinen. Sie wollen mir sagen, dass ich besser liegen bleiben soll. Doch ich weigere mich, ihnen zu gehorchen. Noch nicht – ein wenig Zeit soll mir noch bleiben. Ich will Mel noch einmal sehen. Ich muss wissen, wie viel von mir in ihm ist. Und wenn es zu viel sein sollte, wenn es genau die Dinge sind, die ich so fürchte, dann muss ich versuchen, ihn zu warnen. Oder das Undenkbare tun. Ich will diese Gedanken nicht haben … aber was, wenn Mel den Keim in
sich ruhen hat, der auf ein einziges Kommando hin aufgehen kann? Ich war nie ein gläubiger Mensch. Doch die Bibelstelle, an der Gott von Abraham verlangt, er solle ihm seinen Sohn Isaak opfern, geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Was, wenn ich meinem »Gott« den Sohn vorenthalten muss, den er an meiner Stelle benutzen will? Es muss einen anderen Weg geben. Es muss …
Mel las den letzten Absatz erneut. Was für wahnsinnige Gedanken waren im Kopf seines Vaters umgegangen? Hatte er tatsächlich die Möglichkeit erwogen, seinen eigenen Sohn zu töten? Warum? Die für Mel unsinnigen Andeutungen in diesem Text ergaben allesamt keinen Sinn. Diese belegten 400 Jahre, waren sie vielleicht doch nur die Ausgeburt eines sehr kranken Gehirns gewesen? Perfekte Fälschungen, die … Mel stoppte den Gedankengang. Nein, er musste die erstaunliche Langlebigkeit seines Vaters akzeptieren. Doch warum nun diese Andeutungen? Was sollte da in Mel schlummern? Er las weiter. Erneut schien ein unbestimmter Zeitraum bis zum nächsten Eintrag vergangen zu sein:
Ich habe Kontakt zu einem der anderen bekommen. Nur ein kurzer Brief, ein belangloser Text. Zumindest muss er für jeden Unwissenden so klingen. Für mich bewies er die Gefahr, die ich erahnt habe. Mel ist kein Einzelfall. Die Vita, die mir geschrieben hat, gebar vor über 40 Jahren einen Sohn. Wie viele mögen von uns noch existieren – wie viele von ihnen haben Nachkommen gezeugt? Es war oberstes Gesetzt, dass es keine Nachkommen geben darf. Mehr noch – nicht geben kann. Welch ein gravierender Fehler! Sie stirbt. Das hat sie mir mit ihren ganz eigenen Worten mitgeteilt. Und sie weiß, dass man ihren Sohn rufen wird, wenn es soweit ist. »Das Leben nach uns wird der Verantwortung gerecht werden. Es wird erfolgreich sein. Ich bin sicher, mein Sohn weiß, was er zu tun hat.« Es klang
wie der Brief, den eine alte Frau einem Jugendfreund schreibt. Dabei kann ich mich an sie überhaupt nicht erinnern. Wir waren so viele. Ich werde sicher nie erfahren, woher sie meine Adresse hatte. Doch sie hat einen Entschluss in mir reifen lassen. Auch ich werde meinem Sohn voll und ganz vertrauen. Wenn es den ERSTEN noch gibt, wenn er nach meinem Tod Mel rufen sollte, dann wird der wissen, was zu tun ist. Ich bin müde. Warum nur habe ich das Gefühl, vollkommen versagt zu haben? Ich? Die Kinder der Vita – sie hatten doch niemals eine Chance, sich zu entscheiden. Gut oder böse, schwarz oder weiß – das lag doch nie in unserer Macht. Warum dann dieses Gefühl? Es ist nicht fair. Heute kommt Mel. Wir sehen uns viel zu selten. Vielleicht ist es ja unser letztes Treffen? Ich freue mich auf meinen Sohn. ›LIX‹ Amber
Mel griff auf die Dateieigenschaften zu. Zuletzt gespeichert war sie gut fünf Wochen vor dem Todestag Samuels. Er erinnerte sich. Die Club-Tour hatte ihm damals zwei auftrittsfreie Tage vergönnt. Es waren zwei Tage geworden, die Vater und Sohn mit intensiven Gesprächen verbracht hatten. Bis in die tiefe Nacht hinein hatten sie beisammen gesessen, Wein getrunken und Musik gehört. Viele Gespräche hatten sich um Mels Mutter gedreht. Von einer Todesahnung Samuels war keine Spur gewesen. Nicht einmal in beiläufigen Bemerkungen oder Wortspielereien, die zwischen einem Vater und seinem Sohn üblich waren. ›Lix‹ schien so voller Leben und Zukunftsplänen zu stecken. Heute wusste Mel, wie sehr er sich hatte täuschen lassen. Die Müdigkeit wollte sich nun nicht mehr verleugnen lassen. Mit aller Macht drängte sie sich in Mel Amber, übernahm die Kontrolle. Er musste schlafen. Die Rätsel waren um keinen Deut kleiner geworden, sein Unbehagen hatte sich hingegen um einige Stufen in die Höhe geschraubt.
Er verstand die Andeutungen Samuels nicht. Was war es, das er zu fürchten hatte? Science Fiction oder Mystik waren ganz sicher nicht die Lieblingsgenres seines alten Herrn gewesen, doch was er da an Andeutungen hinterlassen hatte, das klang verdammt genau danach. Verschwörungstheorien gab es doch nun wirklich in ausreichender Menge. Mel konnte nicht glauben, dass Samuel eine weitere erfunden hatte. Mel musste nicht erst in sich hineinhorchen, um zu wissen, dass ihn jedenfalls niemand gerufen hatte. Und wenn, dann hätte er wohl weggehört. Musiker reagierten nun einmal am ehesten auf Musik – am wenigsten auf Kommandos von irgendwelchen ERSTEN. Mel Amber wusste, dass er in den kommenden Tagen eine Entscheidung treffen musste. Das Leben seines Vaters, sein gesamter unglaublicher Nachlass, all das schrie nach Veröffentlichung. Doch niemand würde ihm die Geschichte von dem 400 Jahre lebenden Mann abnehmen. Es gab also tatsächlich doch nur eins, was er tun konnte. Mel fuhr den Rechner herunter. Er würde sich selbst 72 Stunden geben, sich diese Zeit schenken. Ein begrenzter Zeitraum, in dem er das alles genießen wollte, was auf den Festplatten des Computers noch an Schätzen schlummerte. Er würde es genießen. Niemand anderes sonst. Denn nach Ablauf dieser Frist plante Mel den gesamten Datenbestand zu vernichten. Es war ein Verbrechen an der Kunstwelt, darüber war er sich im Klaren. Aber es ging nicht anders, wenn er nicht wollte, dass der geschätzte und geliebte Samuel ›Lix‹ Amber nach seinem Tod für alle Welt zum Monster mutierte. Oder zu einem geistesgestörten Künstler, der sich eine Art ewiges Leben ausgedacht hatte. Mel schaffte es gerade noch in sein Zimmer. Er lag noch nicht ganz auf dem Bett, als der Schlaf über ihn hereinbrach. Schon halb im Land der Träume, die in den kommenden Stunden wirr und beängstigend ausfallen mussten, blieb ein kleiner Rest an Wachbewusstsein an einer Sache hängen, die ihm aufgefallen war: ›Lix‹ oder ›LIX‹? Es war seltsam, doch grundlos hatte Samuel die
unterschiedlichen Schreibweisen sicher nicht gewählt. Darum wollte Mel sich als Erstes kümmern, wenn er ausgeschlafen hatte. Die folgenden zwölf Stunden schlief er durch, ohne sich auch nur zu bewegen. Er träumte von einem Zinnsoldaten, einer Prinzessin, die von einer winzigen Erbse gequält wurde, und von einem schlafenden Prinzen, der die Gesichtszüge seines Vaters trug …
… und van Zant wachte schweißgebadet auf. Für Sekunden hallten die wirren Träume noch in ihm nach, denen er beim besten Willen keine Bedeutung zuweisen konnte. Waren das tatsächlich seine eigenen Nachtmahre gewesen, die jetzt in seinen Gedanken wild umherspukten? Er wusste von Sekten, deren Lehre auf angeblichen Kollektivträumen basierte. An solche Spinnereien hätte er noch vor gar nicht langer Zeit natürlich keinen Gedanken verschwendet. So wenig wie an Dämonen, Vampire … oder an den sprichwörtlichen Teufel, der sich von ihm eine künstliche Hand anpassen ließ. Van Zant fragte sich, wie Asmodis mit dem kleinen technischen Wunderwerk zurecht kam. Andererseits brauchte er sich um den ehemaligen Fürsten der Finsternis keine Sorgen zu machen. Artimus wälzte sich aus dem Bett. Jeder einzelne Knochen schmerzte ihn. Sein geliebtes Bett, das er nach dem Auszug aus dem elterlichen Haushalt so sehr vermisst hatte – heute folterte es ihn regelrecht. Wie ein Prinz auf der Erbse … Verwundert schüttelte er über diesen an den Haaren herbeigezogenen Vergleich den Kopf. Wie kam er nun gerade auf diesen Vergleich? Fett schützt! Das war ein wahrlich dummer Spruch, denn die Matratze ließ sich von van Zants Wohlstandsrollen in keiner Weise beeindrucken. Kaum zu fassen, wie viele Knochen man so hatte. Das wurde ihm nun bewusst, als sie einzeln bei ihm vorstellig wurden. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihm an, dass draußen noch finstere Nacht herrschte. Es war nicht nur die durchgelegene, an geringe-
re Körpergewichte gewöhnte Matratze, die ihn um den Schlaf brachte. Das wusste er nur zu genau. Der vergangene Tag ließ ihn nicht mehr los. Mit schlurfendem Gang stieg er die Treppe nach unten. Am hinteren Ende der Eingangshalle lag das Zimmer, zu dem es ihn unwiderstehlich zog. Ma Alchemys Arbeitszimmer, Heiligtum und verbotene Zone im Haus der van Zants. Ma … wie ein kleiner Junge hatte er am Mittag des Vortages an ihrem offenen Grab gestanden. Der Stiel der kleinen Schaufel, die in einem Erdhügel steckte, reckte sich seiner rechten Hand entgegen. Artimus hatte ihn ignoriert. Er hatte es noch nie geschafft, dieses seltsame Ritual einzuhalten. Warum sollte er eine Hand voll Erdreich auf einen Sargdeckel werfen? Wer dachte sich so etwas eigentlich aus? Dieses entsetzliche Geräusch, wenn die klumpige Erde auf das Holz klatschte – es barg etwas Endgültiges und zur gleichen Zeit Abwertendes in sich. Wenn er etwas zu seiner Ma in das kalte Loch senden wollte, dann war das ein Abschiedsgruß, den er still für sich formulierte. Die Feier nach der Beerdigung hatte sich in die Länge gezogen. Feier – was gab es bei einem solchen Anlass zu feiern? Jacksonville war nicht gerade Saint Louis, doch auch hier war es nicht unüblich, solche Zusammenkünfte in ein zünftiges Fellversaufen ausarten zu lassen. Die van Zants waren ein lustiges Völkchen, doch zu Artimus' Erstaunen hielten sich alle zurück. Dennoch war der letzte Familienangehörige samt Anhang, Kind und Kegel erst nach 22 Uhr gewichen. Der Physiker hatte sich anschließend schnell schlafbereit gemacht. Heute wollte er die Sorgen und den Schmerz ruhen lassen. Keine Grübelei mehr – alles weitere hatte bis morgen zu warten. Doch die Nacht war bereits um 3 Uhr 5 beendet gewesen. Sein Unterbewusstsein machte bei van Zants Plänen wohl nicht mit. Es wollte mehr. Und zwar jetzt. Das Deckenlicht im Arbeitsraum erstrahlte hart und kalt. Von augenschmeichelnder Beleuchtung hatte Artimus' Mutter nicht viel ge-
halten. Sie wollte hier arbeiten, was nichts mit einem romantischen Kerzenlichtabend vor dem Kamin zu tun hatte. So ähnlich hatte sie sich einmal geäußert, als ihr Mann zu indirekten Lichtquellen geraten hatte. Ma war in Sachen Romantik nicht sehr bewandert gewesen. Dafür um so mehr in Sachen Funktionalität. Der Raum beinhaltete ausschließlich Metallregale, die sämtliche Wände bedeckten, und einem großen Schreibtisch. Wenn man schon den Begriff Ambiente dafür missbrauchen wollte, dann konnte man es wohl am ehesten mit der Umgebung eines Lagerbüros beschreiben. Eines Raumes also, in dem man sich nur aufhielt, um hastig irgendwelche Unterlagen zu suchen oder abzulegen. Zu mehr lud es ganz sicher nicht ein. Ma Alchemy jedoch hatte hier unendlich viele Stunden verbracht. Sie hasste bei der Arbeit jegliche Art von Ablenkung. Und die gab es hier ganz sicher nicht. Artimus setzte sich auf den harten Schreibtischstuhl, der hier schon vor dreißig Jahren gestanden hatte. Unbequemer ging es sicherlich kaum, doch das war exakt das, was seine Mutter wohl gewollt hatte. Nichts sollte sie in ihrer Konzentration ablenken. Keine hübschen Bilder an den Wänden, keine frischen Blumen auf dem Schreibtisch, ganz sicher auch kein gemütlicher Arbeitssessel, der zum Entspannen einlud. Ihre Erfolge auf dem Gebiet der Chemie hatten ihr Recht gegeben. Sie hatte den Ruf einer knallharten Arbeiterin, die niemals aufgab, sich auf keinen Fall von dem Weg abbringen ließ, den sie erst einmal eingeschlagen hatte. Dennoch musste van Zant grinsen. Außer Ruhm und Geld hatte ihr diese Methode ganz sicher noch etwas eingebracht: Schwielen am Hinterteil. Artimus Blick fiel auf die Uhr, die man mit Fug und Recht als einziges Accessoire auf dem Schreibtisch bezeichnen konnte. 4 Uhr – er sollte sich nicht länger mit Erinnerungen aufhalten, wenn er herausfinden wollte, was hier auf ihn wartete. Der kleine versteckte Tresor. Ma hatte also gewusst, dass er ihn als Kind gefunden hatte. Dieser
Raum hatte für den kleinen Art eine Anziehungskraft gehabt, der ein neugieriges Kind nicht widerstehen konnte. Neugierde – »curiousity kills the cat«, das war einer der Lieblingssprüche seines Vaters gewesen, den Artimus immer wieder zu hören bekam, wenn sein alter Herr ihm wieder einmal aus einer Klemme hatte helfen müssen. Und Artimus hatte diese Hilfe als Kind und Jugendlicher über die Gebühr in Anspruch genommen. Oft hatte er es nicht geschafft, sich unbeobachtet hier hineinzuschleichen. Ma hatte den Schlüssel für die Tür immer bei sich und vergaß nur selten, ihn auch zu benutzen. Ab und an hatte es aber doch geklappt. Und bei einer dieser Gelegenheiten war es dann geschehen. Interessiert am alten Zifferblatt der Schreibtischuhr hatte er sie näher untersuchen wollen. Doch sie ließ sich nicht von der Stelle bewegen. Keinen einzigen Millimeter. Ansporn genug für einen jungen Forscher! Art konnte keine Verschraubungen entdecken, keine Klebestellen … Er versuchte, die Uhr um die eigene Achse zu drehen, nach links und rechts zu kippen, aber nichts geschah. Um so verblüffter war er, als sie sich spielerisch leicht nach hinten klappen ließ. Und zeitgleich ertönte hinter dem Jungen ein metallisches Knacken. Eines der Regalfächer, in dem sich Aktenordner befanden, war aufgesprungen. Die Ordnerrücken entpuppten sich als Atrappen, die nichts anderes waren als eine dickwandige Safetür. Artimus Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Lächelnd setzte er den Geheimmechanismus in Gang. Damals war ihm das ungemein spannend erschienen – ganz so, wie in alten englischen Krimifilmen. Da gab es auch ständig geheime Türen und getarnte Verstecke. Der Physiker trat an die aufgesprungene Tresortür. Hinter ihr befand sich heute wie damals ein Eingabefeld. Ohne den richtigen Code würde er Ma Alchemys Geheimnis wohl nur mit roher Gewalt lüften können. Die Eingabetastatur bestand aus den sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets. Ungewöhnlich, denn eine Zahleneingabe war bei solchen Geräten eher üblich. Artimus rief sich ins Gedächtnis, was seine Mutter ihm gesagt hat-
te: Sein Hund Four-O-Three – sein Name würde ihm helfen. Van Zant tastete die Buchstaben ein, doch nichts geschah. Damit hatte er auch nicht gerechnet, denn eine so einfache Lösung hätte nicht zu seiner Ma gepasst. Four-O-Three = 403 oder 4, 0, 3? Der vierte und dritte Buchstabe des Alphabets? Welcher sollte aber dann für die 0 stehen? In den nächsten Minuten ging Artimus alle Varianten durch, die ihm in den Sinn kamen. Er ging bei der 0 vom A aus – zäumte die ganze Sache von hinten auf, drehte das Alphabet um; er setzte den Nullpunkt bei praktisch jedem Buchstaben an, doch es stellte sich kein Erfolg ein. Als sein Blick wieder auf die Uhr fiel, zeigte sie bereits 5 Uhr 20 an. Die Uhr … Es mochte durchaus Zufall sein, dass ihr Blatt römische Ziffern aufwies, doch das war van Zant in diesem Moment vollkommen gleichgültig. Seine Finger flogen regelrecht über die Tasten. 403 laute umgesetzt in römische Ziffern »CDIII« – ein dumpfes Plopp ertönte, und die innere Safetür sprang um einige Zentimeter auf. Artimus van Zant grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Ma, sei stolz auf deinen Sohn! Wo du auch jetzt bist …« Der Safe enthielt nur einen einzigen Gegenstand. Es war ein Tonbandgerät, eines von diesen altmodischen Teilen, von denen Artimus eigentlich vermutet hatte, dass sie längst allesamt auf dem Schrottplatz gelandet waren. Doch wenn er ehrlich war, dann passte dieses Relikt aus den 60er Jahren des letzen Jahrhunderts wunderbar zu seiner Mutter. Es war funktionell, unkompliziert in der Handhabung – und es hatte nichts an sich, was Ma Alchemy abgelenkt hätte. Das Band, das im Gerät war, hatte laut Etikett eine Laufzeit von 240 Minuten. Dr. Artimus van Zant schloss die Stromversorgung an und drückte die Start-Taste. Nach einigen Sekunden, in denen nur Rauschen zu hören war, ertönte die Stimme von Bessy van Zant. »Hier spricht deine Mutter, Artimus. Es ist für mich ein Wunder, dass ich in dieses Mikrofon reden
kann. Ich habe es so oft versucht, mich mitzuteilen …« Eine Pause von gut einer Minute folgte, in der wieder nur Rauschen zu hören war – und noch etwas, das der Physiker zunächst nicht einzuordnen wusste. Dann plötzlich wurde ihm bewusst, dass seine Mutter weinte. Van Zant drehte den Ton auf die Maximumeinstellung. Er konnte es nicht fassen, denn Bessy hatte nie geweint. Niemals. Nicht einmal an dem Tag, als sie ihren Mann beerdigt hatte. Dann war die Pause vorbei. »Du musst es mir glauben, Junge. Ich wollte es gerade dir immer erzählen. Es ging nicht. Die Blockade war viel zu stark. Nun lässt sie nach. Ich werde also bald sterben. Also hör zu, was ich dir nun zu sagen habe. Ich bin CDIII – die Nummer 403 der Vita-Kinder. Es gibt … nein, es gab nahezu tausend von uns. Ich bin sicher, die meisten existieren nicht mehr. Über die Jahrhundert hin sind sicher viele gewaltsam ums Leben gekommen. Wir sind erschaffen worden, Artimus. Nicht geboren – gemacht! Und seit dieser Zeit warten wir darauf, dass die letzte Phase beginnt. Niemand hat uns erklärt, was genau das ist, was genau dann geschehen wird. Wir hatten nur unser Programm zu erfüllen, bis der Moment kommen würde. Hör mir zu, Sohn, den ich niemals hätte bekommen dürfen. Jedes Wort kann wichtig für dich sein. Ich bin nun seit 400 Jahren auf dieser Welt …«
Mel Amber erwachte bereits nach nur wenigen Stunden. Wahrscheinlich war es der wirre Traum, der ihn hatte hochschrecken lassen. Oder doch zumindest das, was als Quintessenz davon übrig geblieben war. Er hatte im Traum seinen Vater getroffen. Natürlich – nach all dem, was er in den letzten Stunden und Tagen über Samuel Amber erfahren hatte, gab es in Träumen erst einmal keinen Platz für einen anderen Protagonisten. Mel hatte seinen Dad im Gefängnis besucht. Ja, so irre es auch
klang, aber es war regelrecht eine filmreife Szene, die ihm sein Unterbewusstsein da geschickt hatte. Ein großer Raum, in seiner Mitte der Länge nach durch eine Glasscheibe geteilt. Davor einige Stühle, auf die sich die Besucher hocken konnten, wenn man ihre Angehörigen oder Freunde hinter der Panzerscheibe in den Saal führte. Samuel hatte Anstaltsdrillich getragen. Querstreifen. Wie in einem Laurel & Hardy Film oder bei Disneys Panzerknackern. Mel hatte verwundert auf die Brust seines Vaters gestarrt, denn dort hatte er eine Nummer erwartet; Gefangene nummerierte man gern durch. »Warum steht auf deinem Hemd ›LIX‹?« Mel sah nach den anderen Häftlingen, die links und rechts von seinem Vater saßen und ihre weinenden Frauen und Kinder zu trösten versuchten. Sie alle trugen Ziffern auf der Brust. »Was bedeutet das?« Samuel Amber war in Mels Traum mit hölzernen Bewegungen aufgestanden. Sein Blick ruhte auf seinem Sohn, doch es schien, als sehe er ihn überhaupt nicht. Wortlos bewegte er sich rückwärts zum Ausgang. »Bleib! Vater, geh doch nicht fort …!« Mel schrie so laut er nur konnte. Vielleicht war er ja davon aufgewacht? Doch nun wusste er, was ›LIX‹ bedeutete – und warum sein Vater es in Großbuchstaben geschrieben hatte. Keine Buchstaben. Es waren Zahlen. Römische Zahlen. Wenn er sich nicht sehr irrte, dann ergab das in arabischen Ziffern die 59. Den Sinn verstand er dennoch nicht. Oder gab es da in Samuels geheimnisvoller Vergangenheit noch eine Lücke, die es zu schließen galt? 59 – Mel ahnte, wie bedeutend diese Zahl für Samuel gewesen sein musste. Doch in welchem Bezug? Der Musiker atmete tief durch. Ihm war ein wenig schwindelig. Zu schnell aus den Federn gehopst, bist auch keine zwanzig mehr … Durch den Türschlitz drang Licht. Mel warf sich den Morgenmantel über, den er bereit gelegt hatte. Irgendwer würde seinen Schlaf sicher stören, und er wollte nicht unbedingt splitternackt an die Tür gehen. Die Leute hier waren da doch ein wenig empfindlich. Er war ganz sicher, dass er alle Lichter gelöscht hatte, als er sich zum Schlafen hingelegt hatte. Vorsichtig bewegte er sich aus dem
Zimmer in Richtung der Lichtquelle. Einbrecher konnten es kaum sein, denn die Alarmanlage des Hauses funktionierte wirklich einwandfrei. Der Lichtschein kam aus dem Raum, in dem Mel die vergangenen Stunden und Tage verbracht hatte. Die Tür stand weit auf, die kleine Schreibtischleuchte direkt vor dem Flatscreen brannte. Und der Rechner lief … Mel schaltete die Deckenfluter an. Es war niemand hier, wie hätte es auch anders sein können? Minuten später war er sicher, dass er sich vollkommen allein im Haus befand. Mel hatte wirklich jeden Raum, jede Kammer kontrolliert. Nachdenklich setzte er sich vor den Computer. Die Verbindung zum Internet stand noch. Mel kontrollierte, welche Seiten zuletzt aufgerufen waren. Verblüfft sah er die Seiten irgendwelcher Fluggesellschaften, deren Namen er nicht einmal kannte. Mel Amber war Realist – zumindest schätzte er sich selbst so ein. An Gespenster wollte und konnte er nicht glauben. Also war es doch nur logisch, dass er selbst den Rechner genutzt und nicht ausgeschaltet hatte. Was dann jedoch bedeutete, dass er so etwas wie ein Schlafwandler war. Was machte sein Unterbewusstsein hier mit ihm? Andererseits war es ja nicht verwunderlich, dass sein Ich durchzudrehen drohte. Wem wäre nicht Ähnliches passiert, wenn er gezwungen wurde, zu akzeptieren, einen Vater zu haben, der vier Jahrhunderte gelebt und gewirkt hatte? Damit klarzukommen, war ganz bestimmt kein Kinderspiel. Mel Amber fuhr den Rechner herunter und löschte alle Lichter. Bevor er erneut einschlief, fielen ihm noch einmal die eigentümlichen Fluggesellschaften ein, deren Internetseiten er ja wohl offensichtlich aufgerufen hatte. War das vielleicht ein Schrei seines Inneren gewesen, von hier zu verschwinden. Irgendwohin. Südsee vielleicht. Oder wieder einmal nach Europa. Einmal etwas ganz anderes sehen. Mel Amber schlief volle zwölf Stunden durch. Dann machte er
sich auf den Weg. Doch von diesem Weg wusste er da noch nichts …
BERICHT – »HELIOS-SYSTEM« – (C) Der Kommandant versuchte seine Überlegungen zu verdrängen. Es war sinnlos, zu spekulieren, was sie in diesem ominösen TongaGraben finden würden. Alles war möglich, von einem weiteren Technik-Depot der EWIGEN, wie es in einer Dimensionsfalte unter dem Haus seines zeitweiligen Weggefahrten Ted Ewigk existiert hatte, bis hin zu einem Gkirr-Raumschiffwrack wie in Roswell. Jetzt waren die Gkirr gekommen, um nachzuschauen, und dabei Cairo in den Weg geraten. Er hatte den geflüchteten Spürer nicht vergessen. Vielleicht befand der sich sogar schon in der Tiefe vor Ort, weil er die Ablenkung durch das Raumgefecht genutzt hatte …? »Atmosphäre-Eintritt«, meldete der Pilot. Der Kommandant hatte es bereits registriert. Der Winkel, in dem sein Jäger eintauchte, war extrem flach; gerade steil genug, um nicht wie ein über den See hüpfender Stein wieder abzuprallen, gleichzeitig aber flach genug, um eine Lichtspur zu verhindern, die durch Reibungshitze entstand. Cairo war nicht daran interessiert, ein Feuerwerk zu entfachen, durch das die Gaianer aufmerksam wurden. Ohnehin war ihre Luftraumüberwachung verdammt gut, die Satelliten umkreisten den Planeten recht dicht gestaffelt. Vermutlich würde es in fünfzig oder hundert Jahren bereits eine Raumpatrouille geben, die auch den Planetenraum der Sonne Helios überwachte. Je nachdem, was die Gaianer an Ressourcen einzusetzen gewillt waren, um die Entwicklung der Raumfahrt voranzutreiben. Cairo war der Einzige, der wusste, dass Gaia die Ursprungswelt seines Volkes war. Das hieß, er war der einzige Ewige. Es gab noch drei Gaianer, die darüber informiert waren: der Parapsychologe und Dämonenjäger
Zamorra und seine Gefährtin Nicole Duval. Beide würden jedoch darüber schweigen. Cairo wusste, dass er sich auf dieses Versprechen verlassen konnte. Der dritte Eingeweihte war Ted Ewigk, der die Gene des einstigen ERHABENEN Zeus in sich trug und selbst für eine Weile ERHABENER gewesen war. Auch er würde schweigen. Die Datenkapsel, die sie von einer der Welten des giftigen Sterns Zeta Reticuli geborgen hatten, war jetzt sicher in Zamorras Safe untergebracht. Absolut sicher. Cairo entsann sich, dass er mit Ewigk noch Pläne hatte. Später, nicht jetzt. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun. »Kollisionskurs mit Verkehrsflugzeug«, meldete der MiB an der Ortung. »Ausweichen über Koordinate Rot«, befahl der Kommandant. Der Anzeige des Holoschirms nach musste dort alles frei sein. »Sobald wir aus dem Blickfeld und einer eventuellen Tastung sind, Rückkehr auf alten Kurs.« Er lehnte sich zurück, streckte die Finger. An den Enden der Armlehnen befanden sich Schaltflächen. Cairos Finger schwebten darüber, wirbelten ein schnelles Muster, berührten die Sensortasten aber nicht. Nur eine kleine Übung, um sich zu vergewissern, für den Notfall schnell zugriffsklar zu sein. Kurz tauchte das Flugzeug auf dem Holoschirm auf und verschwand wieder. Vorsintflutlich und viel zu gefährlich mit den riesigen Flügeln. Die waren bei hohen Windgeschwindigkeiten sehr anfällig. Die Ewigen benutzten längst eine bessere Technologie. Schon seltsam, dass alle Primitivvölker mit den gleichen Standards loslegten. Gab es auf keinem einzigen Planeten Ingenieure, die in anderen Bahnen dachte? Es war nicht sein Problem. Aber er bedauerte, dass die Gaianer sich seit damals, als die Ewigen den Planeten verließen, noch nicht wieder richtig weiterentwickelt hatten. Alles ging über Jahrtausende, Jahrzehntausende, Jahrhunderttausende. Erst in den letzten hundert Jahren hatte sich die Entwicklung hier radikal beschleunigt.
Seltsamerweise vor allem in der Computertechnik. Da waren sie den Ewigen längst überlegen. In der STERNENJÄGER gab es nur gaianische Computer modernster Konstruktion, Teil eines schon vor etlichen Jahren vereinbarten Deals zwischen den Ewigen und Tendyke Industries: Tausche Computer gegen andere Hightech. Um ein Haar hätte das damals zu einem Fiasko geführt. Einer der an dem Deal beteiligten Gaianer hatte die gelieferten Computer mit versteckten Spezialprogrammen ausgestattet, mit denen es ihm möglich gewesen wäre, die gesamte Dynastie-Raumflotte mit einem einzigen Knopfdruck unter seine Kontrolle zu bringen. Er hatte sich etwas zu früh verraten … »Rückkehr auf alten Kurs. Angleichung erfolgt«, unterbrach die Meldung des Piloten Cairos Gedanken. Im nächsten Moment dröhnte der Druckkörper des Jägers auf wie eine gesprungene Glocke. »Treffer!«
Noch bevor der Kommandant einen entsprechenden Befehl erteilen konnte, ging der Pilot bereits auf Ausweichkurs. Er zog den Jäger in einer weiten Schleife herum. »Schadensmeldung«, verlangte Cairo. »Keine strukturellen Schäden. Druckzelle ist nach wie vor fest und undurchlässig. Das Geschoss traf in spitzem Winkel auf und hatten daher kaum Durchschlagskraft.« »Ortung?« »Zwei Flugobjekte. Gleichen sich unserem Ausweichkurs an. Mit erneutem Angriff ist zu rechnen.« Zwei Flugobjekte, dachte Cairo. Also scheidet der Gkirr-Spürer aus. »Objekte identifizieren.« »Kampfflugzeuge. Nationale Kennung …« Plötzlich wurde das Bild einer der Maschinen in den Holoschirm gezoomt. Auf der silbrigen Hülle waren die taktischen Zellen und das kreisförmige Natio-
nalitätssystem deutlich sichtbar. Der Kommandant rief die Datenbank auf. »China«, murmelte er. »Die sind aber verdammt weit draußen.« Nun, immerhin waren sie selbst ja auch noch ziemlich weit von Tonga entfernt. Noch befanden sie sich über dem Pazifik zwischen Nördlichem Wendekreis und Äquator, wie ein kurzes Umschalten auf die entsprechende Positionsdarstellung dem Kommandanten verriet. »Werden angerufen.« Die tronische Übersetzung lief. »Wir rufen unbekanntes Flugobjekt. Sie sind unberechtigt in unseren Luftraum eingedrungen. Ändern Sie unverzüglich Ihren Kurs und begleiten Sie uns zum Flughafen …« »Deren Luftraum?« Cairo lachte spöttisch auf. »Dafür sind die Jungs aber wirklich sehr weit draußen. Wir sind in der Nähe von Hawaii, da dürften eher die Amerikaner zuständig sein, nicht die Chinesen.« »Aus der Aufforderung schließe ich, dass man uns irgendwo zwangslanden will, Commander«, sagte der Pilot. »Wir lassen uns auf nichts ein. Keine Antwort. Abfangkurs, Pilot! Ortung: Objekte scannen und Daten an Waffensteuerung überspielen. Waffensteuerung: Klar bei Laser. Feuer eröffnen auf Munitionsdepots und Antrieb.« »Zerstörung?« »Ja«, bestätigte Cairo. Die STERNENJÄGER schwang herum. Das kleine Raumschiff war handlicher als die gestreckten Jagdflugzeuge der Chinesen. Die konnten nicht schnell genug reagieren. Noch ehe sie begriffen, wie ihnen geschah, hing der Raumer ihnen bereits im Nacken. Lasersalven blitzten auf, kaum sichtbar im hellen Sonnenlicht. Die taktische Darstellung im Holoschirm zeigte die Energiefinger besser an als die Realwiedergabe. Zweimal flammte es bei jedem der Flugzeuge grell auf. Aus den entstehenden Feuerbällen jagten Schleudersitze empor. Die Insassen versuchten sich zu retten.
»Viel Spaß dabei«, wünschte Cairo sarkastisch. Wenn die Chinesen es nicht schafften, irgendwie über Funk auf sich aufmerksam zu machen, waren sie auf den Pazifikwogen erledigt. »Feuer einstellen. Abdrehen und zurück auf ursprünglichen Kurs. – Ich hasse diese Störungen«, knurrte der Kommandant. Er fragte sich, weshalb die eigene Ortung die beiden Jagdflieger nicht rechtzeitig bemerkt hatte. Zu dieser Konfrontation hätte es gar nicht erst kommen dürfen. Kurz darauf überquerten sie den Äquator. Die Geschwindigkeit der STERNENJÄGER, anfangs auf ein »normales« Maß reduziert, wurde wieder drastisch erhöht. Das bedeutete, dass sie jetzt mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit flog. Die Tronik rechnete ständig neue Zeiten aus bis zum Erreichen des Zieles. Nicht mehr lange, dann würden sie erfahren, womit sie es zu tun hatten – wonach die Gkirr suchten!
6 Wartephase – Ende/Beginn Weil man ihm einen Namen gab, war er erhöht über all die anderen seiner Art. Und so hatte Ühgo dann recht schnell für sich beschlossen, dass er diese Erhöhung auch optisch deutlich machen sollte. Er musste sie dokumentieren. Weithin sichtbar sollte sich sein Kommen für die anderen ankündigen. Doch dann erwies es sich als Problem, dies entsprechend in die Tat umzusetzen. Ühgo fehlte am Anfang ganz einfach die notwendige Zeit, sich um seine eigenen Belange zu kümmern. Es gab so viel für ihn zu tun. Kontrolle war wichtig, überaus entscheidend. Schließlich hatte man ihn ausgesucht. Es dauerte gut fünfzig Menschenjahre, bis Ühgo erkannte, dass es hier im Grunde nur sehr wenig gab, um das er sich wirklich zu kümmern hatte. Zweimal im Jahr erschienen die Kontakte. Ihre Berichte waren zumeist belanglos. Ein Handeln wurde nie erforderlich. Und wenn es wirklich einmal so gewesen wäre, dann hätte Ühgo keine Entscheidung treffen können. Die war längst festgelegt. Die Kontakte waren wirklich die einzige Abwechslung für ihn. Der Rest war Routine, nur unterbrochen durch die Tatsache, dass er befugt und fähig war, die ständig eingehenden Informationen aufzunehmen. Denn das war es, was ihm das Recht auf einen eigenen Namen gab. Der, für den der Wissensfluss geschaffen war, würde bei einem Notfall nicht handeln können. Ühgo konnte zumindest das auslösen, was dann zu geschehen hatte. Er war ein Diener, doch immerhin der erste aller Dienenden. Beinahe hundert Menschenjahre vergingen, ehe er sich wieder an seinen alten Plan erinnerte. Was konnte Ühgo nur tun, um sich nach außen hin vom Rest der Wartenden abzuheben? Menschen waren
große Meister auf diesem Gebiet. Sie nannten es Mode oder Couture; manche von ihnen taten alles, um nur nicht in der Masse unterzugehen. Ühgo war wild nach den Informationen, die solche Dinge beinhalteten. Oh, er bewunderte Könige, die ihre Untertanen verhungern ließen, sich selbst jedoch mit edlen Gewändern und Schmuck behängten. Er liebte die Geschichten von Generälen, die ihre Huren in Paris mit Samt und Seide verwöhnten. Oder diese wunderbaren Seeleute, deren Körper mit Bildern bedeckt waren. Sie alle waren außergewöhnlich. Er war nur nackt und grün – so wie alle Wartenden nackt und grün waren. Er hatte nicht einmal ein eigenes Geschlecht. Und das – so deute Ühgo die meisten dieser Wissensbrocken – machte ja einen großen Teil des Reizes aus: das Äußerliche für das andere Geschlecht interessant zu machen. Dennoch wollte er nun sein ganz eigenes Zeichen setzen. Er versuchte sogar, es den Seefahrern nachzumachen. So eine Tätowierung, vielleicht am besten direkt auf seinem kahlen Kopf, hätte jedem gezeigt, dass Ühgo etwas Besonderes war. Doch seine Haut ließ sich nicht mit einer Nadel durchstechen. Dazu war sie viel zu dick. Ühgo fand etwas anderes, das sein Haupt schmücken und ihn einzigartig machen würde. Sein handwerkliches Geschick ließ sehr zu wünschen übrig, doch schließlich hatte er ausreichend Zeit. Die Kontakte hatten ihn mit dem notwendigen Material versorgt. Sicher würde nie ein Meister aus ihm werden, aber nach ungezählten Fehlversuchen gelang es schließlich doch. Stolz trug er den gut und gerne fünfzig Zentimeter hohen Zylinderhut zur Schau. Der Hut bestand aus dickem feuerroten Filz und war nun wirklich nicht zu übersehen. Er stach so herrlich von Ühgos grüner Haut ab. Ühgo war glücklich. Die anderen sahen ihn mit stumpfen Blicken an, verstanden nicht den Sinn in Ühgos Handlung. Sie würden es nie begreifen. Schließlich war ja auch er es, der einen Namen erhalten hatte – nicht sie. Ja, das war der große Unterschied zwischen ihnen und ihm. Er war sich seiner selbst bewusst, sie waren wie Tiere, wie die Hunde der Menschen: Die bellten sich selbst an, wenn sie sich in einem
Spiegel sahen, hielten das eigene Abbild für einen Gegner, der ihnen ihr Territorium streitig machen wollte. Ühgo stolzierte durch die Gänge und Kammern wie der Herr einer uneinnehmbaren Festung. Und bei jedem seiner gewichtigen Schritte wackelte der Zylinder auf seinem Kopf hin und her. Doch irgendwie blieb er dann doch an seinem angestammten Platz sitzen …
Phase um Phase verging ereignislos. Irgendwann blieb dann der erste der Kontakte fort. Ühgo hatte schon damit gerechnet. Man konnte Menschen wohl gegen Krankheit und ihr rasches Altern schützen. Doch sie waren verletzbar – angreifbar. Es war überhaupt kein Problem, sie zu töten. Ühgo wusste das, denn er verfolgte die Kriege dieser Lebensform mit großem Interesse. Dann fielen der zweite, der dritte Kontakt aus. Noch gab es genügend von ihnen. Ein Kontakt schleppte sich schwer verletzt hierher. In einem der Kriege war er in eine Schlacht geraten. Ühgo verstand nicht, was der Kontakt sich von seinem Kommen erhoffte? Sollte er ihm etwa helfen? Er konnte es nicht. Selbst wenn, er hätte es nicht getan. Ühgo brach dem Mensch mit einem schnellen Griff das Genick. Anschließend fühlte er sich besonders gut. Sicher war das etwas, was die Menschen mit Gnade bezeichnet hätten. Ühgo glaubte fest daran. Immer seltener sah er in dieser Zeit nach ihm. Eigentlich gab es dafür keinen Grund, doch Ühgo wollte einfach nicht mehr sehen, dass sich nichts veränderte. Das war es – nichts geschah. Dann kam der Zeitraum, in dem Ühgo zum Zweifler wurde. Der dritte Jahrhundertablauf ging seinem Ende entgegen. Ühgo beobachtete die Dinge genau, die auf der Menschenwelt vor sich gingen. Sie unterschieden sich nicht gravierend von denen, die vergangen waren. Die menschliche Rasse strebte auf, doch sie beging
ein um das andere Mal die gleichen Fehler. Regime, Kriege, Religionen kamen und gingen; alles begann sich in anderen Facetten und Ansätzen zu wiederholen. Welches Ereignis würde es wohl sein, das den Plan auslösen sollte? Ühgo wurde immer deutlicher, dass er vollkommen ahnungslos war. Der Plan. Was beinhaltete er? Die Kinder … wie sollten sie ihr erarbeitetes Wissen und Können einsetzen, wenn es soweit war? Ühgo entwickelte Theorien, ganz eigene Ideen. Sie wären so falsch wie sie richtig sein mochten. Er merkte nicht, dass ihn diese Denkspiele davon abhielten, in eine tiefe Lethargie zu verfallen. Am Ende seiner Zweifelphase hatte er den geistigen Status eines Wartenden, eines reinen Dieners und Bewahrers des EINEN längst hinter sich gelassen. Hätte er es sich bewusst gemacht, dann wäre wahrscheinlich die Lossagung von all dem hier erfolgt. So aber blieb Ühgo und wartete weiter. Ein Menschenalter später blieb auch der letzte der Kontakte aus. Ein großer Krieg hatte die Erde überzogen. Brutaler, mörderischer und unsinniger als alle anderem vor ihm. Viele Millionen verloren ihr Leben. Es stand Ühgo nicht an, das Verhalten dieser Spezies zu bewerten. Dennoch – sie waren doch so stolz auf ihre Kultur, die Erfolge ihrer Wissenschaft. Sie liebten und vergötterten Kunst und ihre Künstler. Ihre Religionen setzten sich selber hohe Maßstäbe; Familie und Nachkommen gingen ihnen über alles. In diesen Jahren schienen sie alles das vergessen zu haben. Ühgo spürte Mitleid mit den Opfern und Ekel vor den Tätern. Mit jedem neuen Kriegstag rechnete er mit dem Start des Planes. Doch der Krieg endete irgendwann, ohne dass hier etwas geschah. Und es wurde noch stiller um Ühgo herum. Die Kontakte, die er immer als eher störend empfunden hatte, fehlten ihm nun sehr. Er ging davon aus, dass sie alle in den Kriegswirren umgekommen waren. So wie die Vita-Kinder? Wie viele von ihnen mochten noch existieren? Es gab für den Zylinderträger keinerlei Möglichkeit, Klarheit darüber zu erlangen. Ühgo begann wieder damit, sich intensiv um IHN zu kümmern.
Der Fluss an Informationen, die nun seit mehr als 350 Menschenjahren zu IHM kamen, war in der gesamten Zeit nicht ein einziges Mal gestört worden. Störungen gab es keine. Ühgos Kümmern war vollkommen überflüssig. Er wusste es. Doch etwas anderes gab es nicht für ihn zu tun. Die Phasen flossen, wurden irgendwann zu einem Rinnsal, aus dem weitere entstanden … und entstanden … und entstanden … Ühgo begann sich auf die letzte Phase vorzubereiten. Denn an irgendeinem weiteren belanglosen Tag war die Erkenntnis ganz plötzlich da gewesen: Es würde nie beginnen. Warum? Ühgo war ratlos, ganz ohne Idee. Doch die Tatsache hatte Bestand. Der Plan war gescheitert, ohne je begonnen zu haben. Jetzt, so kurz vor dem sinnlosen Ende, begriff Ühgo, das es doch noch etwas für ihn zu tun gab. Er war es, der »I« die Tatsachen offen zu legen hatte. Es war grausam, denn Ühgo sah, wie das Werden des Wesens einsetzte. Und er verstand, warum das so sein musste. »I« wurde geboren, um alles zu beenden. Geboren, um schließlich auch sich selbst zu töten …
»I« hörte! Die Tatsache, einen realen Körper zu besitzen, war für ihn nun nicht mehr neu. Der Schock des aufbrandenden Geräusches war also erträglich. Was er hörte, ordnete er als ›Rauschen‹ ein. Oder konnte er es doch besser als ›Fließen‹ bezeichnen? Beides mochte irgendwie stimmen. Die Erfahrungen fehlten ihm ganz einfach. Details würden sich sicher später leichter einordnen lassen. Jetzt erlaubte er sich den Luxus des Genießens. Die Zeit dazu blieb ihm jedoch nicht. Plötzlich schien alles rasend schnell abzulaufen. Die Dinge überschlugen sich regelrecht. Wie viele Phasen hatte er als ruhendes Bewusstsein ohne jegliche Körperlichkeit verbracht? Und nun schien dieser Zustand regelrecht wie in einer Explosion von ihm abzufallen.
»I« öffnete die Augen und sah. Er rief das Wissen um die Farblehre ab. Rosa? Sehr helles und durchscheinendes Rot. HKS 21 – höchstens 40 Prozent vom Vollton. Er nahm die Bezeichnung vorerst als gegeben an. Alles um ihn herum erschien in dieser Mischfärbung. Vorsichtig begann er mit den Versuchen, seinen Körper zu beherrschen. Das Ergebnis war zunächst unbefriedigend. Er hatte seine Position ein wenig nach links verändern wollen. Offenbar hatte er noch kein Maß, wenn es um die eigene Kraft ging. Die Bewegung fiel zu heftig aus. »I« begann um seine eigene Achse zu rotieren. Nach und nach wurde dieser Kreisel jedoch langsamer und erlaubte ihm, seine Umgebung zu analysieren. Alles war rosa – alles im Fluss. Drei Seiten jedoch hatten eine Begrenzung, die natürlichen Ursprungs war. Die vierte war durchsichtig. Ein Behälter? Ein Bassin? Das Fließende passte dazu. »I« war umschlossen von Flüssigkeit. Dies ließ die Vermutung zu, dass dies eine Nährlösung war, die ihn am Leben hielt. Sein Wissen sagte »I«, dass es üblich war, tote Lebewesen in bestimmten Lösungen zu konservieren. Diese Möglichkeit stellte er hinten an. Er lebte. Schnell lernte er seine Arme und Beine entsprechend einzusetzen. Schwimmbewegungen, vorsichtig und dosiert ausgeführt, brachten Erfolg. Die Richtung, in die er sich bewegte, war klar. Die durchsichtige Seite des Pools zog seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Durch die Flüssigkeit erkannten seine endlich sehenden Augen einen Schemen, den Umriss eines humanoiden Wesens. Es war nur undeutlich zu erkennen. Breite Schultern, ein kurzer Hals, auf dem der runde Kopf saß. Alles nur eine Ahnung. Gänzlich undefinierbar war das hohe und Runde, das auf dem Kopf ruhte. »I« spürte, wie die Fließgeschwindigkeit der Lösung sich deutlich erhöhte. Er selbst hatte noch kein deutliches Erkennen von oben und unten, doch wenn er den Schemen als Fixpunkt benutzte, dann floss alles um ihn herum nach unten hin ab. Ein Blick in die entgegengesetzte Richtung bewies seine Annahme: Der Pegel fiel zusehends!
Etwas wie Panik kam in »I« auf. Wenn die Lösung ihn nicht mehr umgab … würde er dennoch leben können? Oder waren das nun die letzten Sekunden seines Daseins?
Ühgo hatte nicht nur einen Namen erhalten. In ihm schlief das Wissen um die Abläufe. Auf eine Aktion hatte eine Reaktion zu erfolgen. Als er »I« erwachen sah, da war er sicher, dass die letzte Phase endete. Und sie endete … wie hätten es die Menschen wohl ausgedrückt? In einem Flop? Einer Niederlage? In Ühgos Sichtweise endete sie in einem Desaster. Um den Plan zu starten, hätten ganz bestimmte Ereignisse ablaufen müssen. Welche, das war Ühgo nach wie vor nicht klar. Er wusste nur, dass sie nicht existierten. Die Vita-Kinder würden sterben, »I« würde sterben – und Ühgo mit ihnen. Was wäre wohl Ühgos Aufgabe gewesen, wenn der Plan angelaufen wäre? Sicherlich eine ehrenvollere als die, die ihn nun erwartete. Die Flüssigkeit im Bassin lief immer schneller ab. Ihr Pegel lag nur noch wenig über dem Kopf des Schläfers, dessen Augen Ühgo anstarrten. Unsicherheit war deutlich in ihnen zu erkennen. »I« wusste nicht, was nun mit ihm geschah, er konnte nicht ahnen, dass er die Lösung nun nicht mehr benötigte. Ühgo betrachtete ihn. »I« war den Menschen nachgebildet, so wie die Kinder es alle waren. Er war sicher um einiges größer als Ühgo, eher hager in seinem Körperbau. Es waren die Augen, die Ühgo überraschten. Trotz der Furcht, die das Wesen nun durchlebte, hatten sie einen harten Glanz. In ihnen lag Angst, doch keine Spur von Unterwürfigkeit. »I« würde lieber sterben, als um Hilfe bitten. Ühgo wollte sich das gut merken. Die Nährlösung bedeckte den Körper des Schläfers nun nur noch bis zu dessen Schultern – und »I« schnappte wie ein Ertrinkender nach Luft. Es dauerte einige Sekunden, dann begann er die überflüssige Lösung, die sich in seinem Körper verteilt hatte, in Schüben zu
erbrechen. Warum hatte er in seiner Todesfurcht nicht alles versucht, den Kopf in der Lösung zu belassen? Er hätte sich hinknien oder gar auf den Boden legen können. Es hätte ihm Sekunden der Sicherheit geschenkt. Ühgo bewunderte den Stolz des Wesens hinter der Scheibe. Gleichzeitig begann er sich vor »I« zu fürchten. Er war unbeugsam … Als der letzte Rest der rosa Flüssigkeit versickert war, begann sich die gläserne Scheibe lautlos in den Boden zu versenken. Für lange Sekunden standen sich die beiden so ungleichen Wesen schweigend gegenüber. »I« atmete nach wie vor schwer. Seine Lungen mussten sich erst langsam an ihre neue Funktion gewöhnen. Ühgo brach das Schweigen, das auf dem Wartenden wie ein schweres Gewicht lastete. Seine Stimme schwankte ungewohnt. Er war sicher, dass »I« die Furcht in ihr sofort erkannte. »Ich bin Ühgo, einer der Wartenden. Ich bin dein Diener.« Er deutete eine Verbeugung an; eine Geste dieser Art schien ihm angebracht, auch wenn er nicht wissen konnte, ob »I« sie überhaupt richtig einzuordnen wusste. »Also beginnt es.« Ühgo wurde klar, dass der Schläfer sich für seine Person nicht im mindesten interessierte. Der Wartende rang nach den richtigen Worten. Er fürchtete, die Reaktion würde auf jeden Fall unangenehm für ihn werden. »Nein, Schläfer. Es ist zu Ende. Die letzte Phase ist vorüber.« Sein Gegenüber sah ihn verständnislos an. Seine Gesichtszüge schienen einzufrieren, doch dann brach er in eine Mischung aus Lachen und Husten aus. Letzte Reste der Lösung spritzten ihm aus Nase und Mund. Doch »I« bemerkte nichts davon. Zu sehr schienen ihn Ühgos Worte zu belustigen. »Was für einen Dummkopf hat man mir da als Diener abgestellt! Du redest Unsinn, Grüner. Es kann nicht vorüber sein, was nicht einen Anfang genommen hat. Und nun zeig mir den Weg zu den
Kindern. Es gibt unendlich viel zu tun.« Er machte ein paar unsichere Schritte vorwärts, dann hatte er das Gefühl für den Vorgang des Gehens verinnerlicht. Ohne sich um Ühgo zu kümmern, schritt er am Wartenden vorbei. Als müsse er sich zunächst orientieren, stoppte der Schläfer schließlich. Mit gesenktem Kopf verharrte er, den Rücken seinem Diener zugewandt. Er weiß es. Er wusste schon vorher um diese Möglichkeit – und er ahnt, dass ich ihn nie belügen würde. Ühgo fühlte in diesem Moment Mitleid mit »I«. Die Stimme des Schläfers war kaum zu vernehmen. »Bist du ganz sicher? Besteht nicht die Möglichkeit eines Irrtums?« Noch immer drehte er sich nicht um. Ühgo fühlte sich mit einem Mal schuldig. Als läge der Grund für das Ende in ihm. »Nein, Schläfer, ich irre nicht. Die letzte Phase ist beendet. Die Kontakte sind eine Ewigkeit überfällig. Niemand von ihnen wird noch leben. Und die Kinder … die Zeit ist abgelaufen, Schläfer. Man hat uns vergessen. Es wird keine Übernahme geben.« Ühgo hätte sich gewünscht, dass »I« seine Worte zum Anlass für einen Wutausbruch nahm. Dass der Schläfer tobte, schrie – ja, er hätte sogar Gewalt gegen seine eigene Person dem vorgezogen, was nun die Realität war. »I« schien nicht fähig, seine Gefühle auszuleben. Wann hätte er das auch lernen sollen? Er stand nur da, tief in sich selbst versunken, als suche er in seinem Bewusstsein nach einem Strohhalm, an den er sich klammern konnte. Zum ersten Mal wünschte Ühgo sich, namenlos zu sein, ein simpler Wartender, wie all die anderen. Dann wären ihm diese Momente erspart geblieben. »Sie können doch nicht alle tot sein?« Die Stimme des Schläfers war zu einem Wispern verdorrt. »Ich muss es prüfen. Ich muss nach ihnen rufen. Diese Zeit will ich mir nehmen.« Er drehte sich zu Ühgo um und sah den Wartenden mit fragendem Blick an. Ühgo verstand die Frage, als hätte »I« sie laut ausgesprochen: Habe ich die Zeit dazu? Der Grüne nickte ihm zu.
»Diesen temporären Spielraum wird die letzte Phase dir nicht verweigern. Du bist ›I‹ – es ist dein Recht.« Erneut verbeugte er sich vor dem Schläfer und verließ mit raschen Schritten den Teil der Anlage. »I« wollte jetzt alleine sein. Ühgo würde ihm jeden Wunsch erfüllen, denn allein dazu hatte man ihn erhöht.
Einst war da ein Baum. Zählte man seine Blätter, so fand man deren MCXX-XIII. Der Vater aller Bäume pflanzte ihn in eine Welt hinein, denn dort hatte er eine wichtige Aufgabe für seinen Sohn. Er holte tief Luft … und blies die Blätter über die ganze Welt. Nur eines von ihnen blieb am obersten Zweig hängen. Ihm war vorbestimmt, einmal der oberste von ihnen allen zu werden – der Erste Rat des Ganzen! Und viele Blätter welkten dahin, verdorrten, gebrochen und zerstört. Die Vögel fraßen sie, Menschen traten mit ihren Füßen darauf. Doch der Erste Rat wollte sich nicht damit abfinden, keines von ihnen mehr lebend und im vollen Saft vorzufinden … Die Symbolik half »I«. Es fiel ihm ungeahnt schwer, sich in sich zurückzuziehen. Vier Jahrhunderte lang war er das ruhende, das Wissen aufsaugende Bewusstsein gewesen. Nur eine lächerlich kurze Zeit der Körperlichkeit hatte ausgereicht, um ihm die rein geistige Ebene nun so schwer erreichbar zu machen. Das war wohl der Fluch, den jedes physische Leben beinhaltete. Die andere Welt rückte in beinahe unerreichbare Weiten. Nur in winzigen Schritten begann seine Suche nach den Blättern des großen Baumes. Er erinnerte sich an sie – an jedes einzelne von ihnen. Schwestern und Brüder, Teile des Plans, die nur gemeinsam ein Bild ergaben. Er rief nach ihnen. Die Antwort bestand aus einem feinen Wispern, den gehauchten
Tönen Sterbender. Er war zu spät gekommen – viel zu spät. Warum nur war sein Werden nicht früher aktiviert worden? Auch wenn der Plan nicht zur Ausführung kommen sollte, so hätten sie doch zumindest hier ihr Leben beenden können. Hier, bei den Schwestern und Brüdern. Doch so sehr »I« auch forschte, so sehr er auch nach Emotionen des Bedauerns über den einsamen Tod suchte … so wenig konnte er sie finden. Sie starben unvorbereitet. Sie starben plötzlich und ohne wirklich krank zu sein. Ihr Leben endete ganz einfach. Und doch waren sie glücklich, zufrieden und eins mit sich und ihrem Schicksal. Wie konnte das sein? Wenn alles endete – sinnlos und ohne den Zweck des eigenen Lebens erfüllt zu haben –, wie konnte man da Glück empfinden? »I« begann sich zurückzuziehen. Es machte keinen Sinn, dem schwindenden Leben der letzten Vita-Kinder beizuwohnen. Nichts machte für ihn nun noch einen Sinn. »I« stutzte. Für einen lächerlich kurzen Moment war ihm, als hätte er den Funken von etwas gefühlt, das es nicht geben konnte. Nicht geben durfte, weil es von vorneherein nicht vorgesehen war. Trotz dieses Wissens schaffte »I« es nicht, sich diesem winzigen Aufflackern zu verschließen, das nun einmal unleugbar da gewesen war. Er vertiefte die Suche, grenzte sie ein, konzentrierte sich auf den Funken, den er so schnell wieder verloren wie gefunden hatte. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, doch schließlich wurde er fündig. »I« konnte einfach nicht fassen, was er nun deutlich vor sich sah. Aus Altem und Verwelktem sprossen Knospen hervor! Junges, frisches Grün, das voll Energie neben dem Graubraun des Toten erblühte. So unglaublich und weit ab vom Wissen des Schläfers es auch war: Die letzten der Vita-Kinder hatten neues Leben geboren. In diesem Augenblick wurde »I« klar, warum die Sterbenden Glück empfanden. Sie waren nicht alleine. Sie verließen die Welt, doch etwas von ihnen würde bleiben …
»I« war um klares Denken bemüht. Es bereitete ihm beinahe körperliche Schmerzen zu akzeptieren, was er gefunden hatte. Kinder der Kinder – das genetische Programm der Vita-Kinder hatte dies nicht vorgesehen. In keinster Weise. Und doch war es geschehen. Sie hatten sich … vermehrt, hatten Nachkommen gezeugt und geboren. Männliche und weibliche Nachkommen, die ihr jeweiliges Potential in sich trugen. Der Schläfer hatte bei seiner Suche natürlich keine Details erkennen oder prüfen können, doch sein Eindruck war der, in unwissende Bewußtseine zu blicken. Die Kinder der Kinder waren ohne Wissen – sie kannten nicht die Bedeutung der Phasen, wussten nicht um den Plan. Auch nicht vom Scheitern dessen, wofür ihre Eltern 400 Jahre lang gestanden hatten. Wie hätten sie es wissen können, wenn doch selbst die Vita-Kinder nicht eingeweiht waren? »I« versuchte zu verdrängen, dass er einen großen Fehler des Ganzen entdeckt hatte. Die Unfruchtbarkeit hatte also in der letzten Lebensphase der übrig gebliebenen versagt. Und? Das änderte nichts an dem, was nun bevorstand. Alles würde vergehen, sich selbst zerstören, denn er musste den letzten Impuls nun noch geben. Warum tat er das nicht ganz einfach? Jetzt, in diesem Moment. Warum die Sache weiter herauszögern? Vielleicht war Sterben um vieles leichter, als mit der Verzweiflung des Scheiterns zu leben? Er würde es gleich wissen. Würden die Kinder der Kinder weiter leben? Oder war auch ihre Existenz mit dem Impuls beendet? »I« wusste keine Antwort, denn er kannte den Grad der Verschmelzung nicht, die auf die Nachkommen übergegangen war. Er wünschte ihnen den Tod nicht. Warum auch? Sollten sie leben. Für ihn war Werden und Vergehen zu einer Einheit geworden. Die Zeitspanne dazwischen war lächerlich kurz. Gerade erst hatte sie begonnen – jetzt war sie schon vorbei. Aber so sollte es wohl sein.
»I« startete den Impuls, der sich nur langsam, aber beständig aufbaute …
Artimus van Zant sah zu den beiden Personen, mit denen er in dem geräumigen Zimmer allein war. Mehrere Stunden hatten die drei so unterschiedlichen Menschen geschwiegen. Ihre ganze Konzentration hatte sich auf das Tonbandgerät fokussiert, das auf dem niedrigen Tisch lag, der zwischen ihnen stand. Van Zant sah in das schöne Gesicht der Französin, die es sich auf der breiten Couch gemütlich gemacht hatte. Sie trug ein Oberhemd, das wohl ihrem Lebenspartner gehörte. Bei ihr wirkte das schlichte Teil jedoch wie ein verführerisches Minikleid – zumal es ihr einziges Bekleidungsstück war. Zumindest vermutete Artimus das, denn er kannte die Gepflogenheiten in diesen Mauern mittlerweile recht gut. Prüderie stand hier sicher nicht auf der Tagesordnung, erst recht nicht, wenn gute Freunde zu Besuch kamen. Nicole Duval war ganz einfach eine Klassefrau – da gab es nichts dran zu rütteln. Und alles, was sie ab und an auch recht offenherzig zur Schau stellte, war echt. Nicole Duval war eine richtige Frau. Als van Zant ihr das einmal als Kompliment gesagt hatte, da hatten einige Anwesende zunächst gestutzt – bis auf Nicole selbst. Die hatte sofort erkannt, was Artimus damit sagen wollte. Die zweite Person saß in dem breiten Ledersessel rechts von van Zant. Professor Zamorras Mimik war verschlossen. Der Parapsychologe schien das Gehörte für sich zu verarbeiten. Nicole brach die Stille, die ihr überhaupt nicht gefiel. Was die Stimme von Artimus' Mutter in den vergangenen Stunden zu ihnen gesprochen hatte, das hätte jedem unbedarften Zuhörer wie ein spannendes Hörspiel erscheinen müssen. Das klang eindeutig nach einer Lesung aus einem Fantasy-Buch, nein, doch wohl eher wie eine Science-Fiction-Story, die mit bekannten Namen aus der Vergangenheit spielte. Da hatte ein Autor schlau und ganz bewusst Geschehnisse aus gut 400 Jahren der Menschheitsgeschichte vor dem Auge des geneigten Lesers bzw. Zuhörers
ablaufen lassen. Clevere Idee, obwohl die auch alles andere als neu war. Doch das hier war kein Verlagsbüro, kein Besprechungsraum bei einem der unzähligen TV-Sender, sondern das Château Montagne. Und der Mann, der Nicole und Zamorra das Tonbandgerät unter die Nase gehalten hatte, war auch nicht ein x-beliebiger Drehbuchautor. Van Zant und seine Gastgeber verband eine lange Freundschaft. Man wusste, was man vom anderen zu halten hatte – denn mehr als nur einmal hatten sie füreinander ihr Leben riskiert, sich aufeinander blindlings zu verlassen gelernt. Dass sie alle drei hier noch bei voller Gesundheit zusammensaßen, war das Ergebnis einer Teamarbeit, die ihresgleichen sicherlich suchen, aber wahrscheinlich nirgendwo finden konnte. »Bunsen, die Curies, Scheele – die Namen schwirren mächtig in meinem Kopf umher. Universalgenies wie Leibniz oder Newton … mit halben Sachen hat deine Mutter sich offenbar nicht abgegeben, richtig?« Nicoles Versuch, die ganze Sache ein wenig aufzulockern, war nur mäßig geglückt. Zamorra schien ihr überhaupt nicht zugehört zu haben, Artimus quälte sich ein schiefes Grinsen ab. Er hob beinahe entschuldigend die Schultern. »Ich weiß, wie das alles klingt. Wie die Lebensbeichte einer senilen Frau, die schleunigst in psychologische Behandlung gehört. Aber ich denke, dahinter steckt viel mehr.« Nicole war überrascht, als sich Zamorra plötzlich zu Wort meldete. Noch vor wenigen Sekunden schien er in anderen Sphären zu schweben – nun war er wieder sicher im Château Montagne gelandet. »Es ist nicht der erste Fall von extremer Langlebigkeit, mit dem wir konfrontiert werden. Aber das hier …« Er deutete auf das Bandgerät. »Das hat eine ganz andere Qualität. Deine Mutter spricht eindeutig unter der Resteinwirkung einer Blockade. Immer wieder deutet sie Dinge an, die sie dann schließlich doch nur in Bildern verpackt aussprechen kann. Die Vita-Kinder – was soll das sein?« Zamorra hatte diese Frage rein hypothetisch ausgesprochen.
Er rechnete mit keiner Antwort, die natürlich auch nicht kam. »Wenn ich mir das alles zusammenreime, dann entsteht in mir ein Bild, eine vage Vorstellung. Da war – oder ist? – jemand, der seine Kinder ausschickt …« »… um das Fürchten zu lernen.« Nicole hob entschuldigend die Hände. Es war ihr einfach so herausgerutscht. »Eher um uns das Fürchten zu lehren, Cheri«, murmelte Zamorra und wandte sich wieder an van Zant. »Artimus, deine Ma hat keine konkreten Zahlen genannt, doch sie sprach von einem Heer, von ungezählten Köpfen, die sich über den Globus verteilten. Am meisten befremdet mich der Satz, den sie ziemlich am Anfang benutzt hat: ›Wir sollten lernen, um zu herrschen, wenn man uns am Ende rufen würde.‹ Herrschen und Lernen passen für mich nicht so gut zueinander. Zumindest nicht im friedlichen Sinn.« Van Zant nickte. »Also? Was denkst du nun wirklich darüber?« Ihm war nicht entgangen, dass Zamorra sich eine zumindest vorläufige Meinung gebildet hatte. Er kam nur über Umwege auf den Punkt. Artimus wollte dieses Verfahren gerne abkürzen. Denn es gab noch eine weitere Sache, die er seinen Freunden bisher verschwiegen hatte. Zamorra zögerte mit einer Antwort. Irgendetwas flüsterte ihm zu, einer äußerst gefährlichen Sache auf die Spur gekommen zu sein. Doch der Parapsychologe wollte diesem altbekannten Wispern noch keinen wirklichen Glauben schenken. Eine konkrete Gefahr war schließlich nirgendwo zu entdecken. Andererseits konnte man Gefahren sicher wirkungsvoller eindämmen oder gar ersticken, bevor sie voll zum Ausbruch kamen. »Setzen wir voraus, dass es diese Vita-Kinder gab. Und nehmen wir auch als Tatsache an, dass ihre Lebenszeit abgelaufen ist. Dann ergibt sich folgende Feststellung: Man hat sie nicht gerufen. Sie dürften alle mehr oder weniger friedlich in ihren Betten gestorben sein – oder zumindest bald sterben. Also gibt es diese imaginäre Bedrohung nicht mehr, wenn es denn überhaupt eine war. Das wäre die für uns einfachste Lösung der ganzen Sache.« Er sah Nicole und Artimus nacheinander an. Nicole war es, die Zamorras Theorie weiterspann.
»Aber da gibt es unseren lieben Fleischfresser hier.« Van Zant verzog nicht einmal das Gesicht. Die Frotzeleien ließen ihn mittlerweile eiskalt. »Es hätte ihn aber nicht geben dürfen. Und nicht nur ihn, denn wenn ich Bessy van Zants Worte richtig deute, dann haben auch andere dieser Vita-Kinder eigene Kinder bekommen. Stimmt die Richtung?« Zamorra nickte ihr zu. Manchmal schien sie seine Gedanken tatsächlich zu erraten. »Ja, verbotene Kinder. Es endet nicht alles nach diesen 400 Jahren. Da gibt es eine ungeplante Fortsetzung. Was, wenn diese KindesKinder das tun sollen, was ihre Eltern nicht tun mussten? Gewagt, ich weiß, aber …« »Kotzende Pferde vor Apotheken, nicht wahr? Die hatten wir schon so verdammt oft. Solange es diese vage Möglichkeit gibt, solange gibt es da auch unter Umständen eine Gefahr, die wir nicht kennen, nicht einschätzen können.« Nicole hatte ungezählte Male die Tatsache akzeptieren müssen, dass immer genau das eintrat, was die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten war. Zamorra sah Artimus van Zant direkt in die Augen. »Ich weiß, dass du zu uns gekommen bist, weil du weißt, dass solche Dinge hier gut aufgehoben sind. Und weil wir deine Freunde sind – gleichgültig, was geschieht. Aber du hast noch einen anderen Grund, nicht wahr? Sonst wärst du nicht nonstop nach Frankreich gekommen. Ich kenne dich, mein Freund. Also, heraus mit der Sprache.« Van Zant konnte seine Verblüffung nicht verbergen. War er so leicht zu durchschauen? »Bist du unter die Hellseher gegangen, Zamorra?« Nicole lachte. »Eher unter die Südstaatler-Flüsterer, Art. Es steht dir auf der Stirn geschrieben, dass es da noch etwas gibt.« Van Zant nickte. Das bestätigte ihm doch nur, dass seine Entscheidung, Zamorra und Nicole aufzusuchen, exakt die richtige gewesen war. »Ihr erinnert euch? Meine Mutter sprach mehrfach von der Tiefe. Einmal als Ausgangsort, dann wieder im Zusammenhang mit den Vita-Kindern und ihrer eigenen Geburt; letztere nannte sie die Werdung, aber ich denke, das ist nur ein anderer Begriff für ein und die-
selbe Sache.« Zamorra war sich da nicht so sicher, doch er unterbrach den Physiker nicht. »Ich soll mich von den Vita-Kindern fernhalten – das waren ihre Worte. Klingt beinahe wie ›Spiel nicht mit den Schmuddelkindern‹, nicht wahr? Und ich soll nicht nach dem Ersten suchen, wer das auch immer sein mag.« Van Zant kramte in der Innentasche seiner Lederweste; gekleidet war er wieder einmal eher wie ein Southern-Biker, als ein angesehener und hochdotierter Physiker im Dienst eines Weltkonzerns. Umständlich förderte er einen DIN-A5 großen Umschlag ans Tageslicht, den er vor sich auf den Tisch legte. »Die Vita-Kinder warteten also auf eine Art Rückruf, wenn ich Ma einmal so interpretieren darf. Ich habe keinen Ruf erhalten. Zumindest habe ich keinen gehört oder sonst wie vernommen.« Er schob den Umschlag zu Nicole. »Dafür bekam ich gestern dies zugestellt. Per Express und allem Pipapo.« Nicole zog die Unterlagen aus der Hülle. Es fand einige Werbeflyer einer Fluggesellschaft und ein Einwegticket. Die Französin blickte den Südstaatler nichtverstehend an, während sie das Ticket an Zamorra weiterreichte. »Nuku'alofa? Sei mir nicht böse, aber wo liegt denn das? Ich dachte eigentlich, uns habe es schon wirklich überallhin verschlagen, aber Nuku'alofa sagt mir nichts.« Zamorra sparte sich seinen Kommentar. Ihm erging es nicht viel besser als seiner Lebensgefährtin. Van Zant grinste. »Na, bei der Millionenfrage wärt ihr nun erbärmlich durchgefallen, aber tröstet euch – mit ging es exakt wie euch. Ich musste meinen Rechner befragen. Nuku'alofa ist die Hauptstadt des Tongaarchipels. Das liegt am äußeren Rand der indo-australischen Platte, und hat gerade einmal eine Bewohnerzahl von 100.000. Und jetzt könnt ihr euch auch mein verblüfftes Gesicht vorstellen, als man mir diesen Umschlag in die Hände drückte.« »Jetzt sollen wir dich fragen, was du dort willst, korrekt? Was hiermit geschehen ist – also spann uns nicht so auf die Streckbank.« Nicole war offensichtlich neugierig geworden.
Van Zant stand auf und begann wie ein Panther im Käfig seine engen Runden zu drehen. »Wenn ich das wüsste! Ich habe sofort bei der Fluggesellschaft angerufen und wollte mich lautstark beschweren. Die haben mich rasch ruhig bekommen, denn sie konnten mir die Internetbestellung nachweisen, die ich am Vorabend getätigt hatte. Ich kann mich nur nicht mehr daran erinnern. Die Order ging von meinem Laptop aus, nicht von dem Rechner im Haus meiner Eltern. An den hätte ja jeder andere kommen können. Aber mein Notebook ist gesichert wie Fort Knox. Ihr kennt ja meine Vorliebe für technische Spielereien. Da könnte sich selbst Asmodis die Hörner dran abstoßen. Nichts zu machen – für niemanden, außer mir selbst.« Der Südstaatler hatte sich regelrecht in Rage geredet. Erst langsam kam er wieder herunter von seiner Wutwolke, auf der er es sich bequem gemacht hatte. Er ließ sein gesamtes Gewicht wieder in den Sessel rauschen und sah seine Freunde an. »Habe ich den Flug geordert? Sagt ihr es mir. Und sagt mir auch, was zur Hölle ich in Nuku'alofa zu suchen habe?« Der Professor winkte ab. »Die Fragen hast du dir doch bereits selber beantwortet. Ich denke, deine Sicherungen knackt tatsächlich so schnell niemand. Also hast du geordert; und was du suchst, das ist die Tiefe selbst. Du weißt es doch – hättest du sonst von den Worten deiner Ma gesprochen? Sie hat vom Werden in der Tiefe geredet – der Tongagraben ist an manchen Stellen bis zu 10.000 Meter tief.« Zamorra sah in van Zants Gesicht. Das waren genau die Dinge, die der Physiker geahnt, sich selbst zurecht gereimt hatte. Nun bekam er die Bestätigung seiner Ahnungen. Zamorra fuhr fort. »Du hast den Ruf erhalten. Und ich denke … nein, ich fürchte, nicht nur du. Keine Frage, dass du dort hinfliegen wirst. Aber nicht alleine. Ich denke, wir sind da zwar sicher nicht willkommen, aber haben wir je danach gefragt?« Nicole grinste den Parapsychologe schelmisch an. »Wer viel fragt, der bekommt nur dumme Antworten. Aber ganz sicher keine freundliche Einladung.« Genau in diesem Moment wurde van Zant klar, wie sehr er auf
eine solche Reaktion gehofft hatte. Nuku'alofa … wer oder was mochte dort auf ihn warten?
7 Kinder der Kinder »I« gab sich dem Impuls hin. Ganz kurz beschäftigte er sich mit dem Gedanken, wie die Station sich wohl selbst zerstören würde. Er selbst bekam davon sicher nichts mehr mit. Musste hier alles in einer großen Kettenreaktion vergehen? Relativ wahrscheinlich. Doch es gab ja auch noch andere Möglichkeiten. Möglich, dass man den ungeheuren Druck nutzte. Es sollte ausreichen, die Stabilatoren an gewissen Stellen abzusprengen. Den Rest würden die Wassermassen erledigen. Sicher war, dass es in diesem letzten Prozess keine Fehler oder Unzulänglichkeiten geben konnte. Fehler … Sie waren ganz sicher in den temporären Vorausberechnungen enthalten, die vor langer Zeit als Grundlage gedient hatten. Fehler … am deutlichsten waren sie jedoch in der Fruchtbarkeit der letzten Phase zu erkennen. Nachkommen – Sprösslinge. Das hätte es niemals geben dürfen. Vorbei war eben vorbei. Doch hier bekam dies alles einen neuen Aspekt. Es war ja noch gar nicht vorbei. Die Kinder der Kinder existierten ja noch. Das waren Gedankenspiele. Nichts weiter. Sie sollten ruhig existieren. Die Langlebigkeit hatten sie gewiss nicht von ihren Eltern geerbt. Und selbst wenn dem so sein sollte, dann spielte das für »I« nun auch keine Rolle mehr. Das geistige Potential der Eltern, ja, das mochten sie in sich haben, die Kindeskinder der Vita. Vielleicht wären sie ja sogar durchaus in der Lage gewesen, die Aufgaben ihrer Eltern zu übernehmen? »I« konnte es so nicht sagen. Dazu hätte er entsprechende Tests mit ihnen durchführen müssen. Hier, in der Tiefe. Dem Hier, das schon in wenigen Momenten nicht mehr existent sein würde.
Und wenn es nun überhaupt kein Fehler war? Wenn du es nur nicht erkennst, dass alles seine Richtigkeit hat? Was, wenn es weiter gehen sollte? Dann hätte man »I« informiert – oder diesen Grünen, mit dem lächerlichen Rohr auf dem Kopf. Oder? Und wenn nicht? Was, wenn das alles eine Prüfung für DICH ist? Irgendetwas in dem Bewusstsein, das über so viele Jahre geruht hatte, veränderte sich bei diesem Gedanken, dieser Vorstellung. »I« griff mit zitternden Fingern nach der Konsole, die sich direkt vor ihm befand. Er zwang sich zur Ruhe, denn nun, da er wieder ganz bei sich war, vernahm er das schreckliche Heulen, das die gesamte Station durchdrang. STOPP ES! KEHRE ES UM! Von Sekunde zu Sekunde gewann er immer mehr an Kontrolle über sich zurück. Und dann tasteten seine Fingerkuppen mit fliegenden Bewegungen einen gegensteuernden Code in den Rechner, der die Vernichtung bereits initiiert hatte. Erschöpft sank er nach hinten in die Formmasse, die seinen Körper perfekt umschloss und weich stützte. Die Sekunden des Wartens verrannen quälend langsam. Dann veränderte sich die Tonhöhe des heulenden Infernos merklich – wurde schwächer, verklang schließlich. Die Stille war nahezu betäubend. »I« genoss sie, denn er war sicher, die Prüfung bestanden zu haben. Der Anfang war gemacht, denn er hatte das Ende einfach nicht zugelassen. Minuten vergingen, dann hörte er tapsende Schritte, die sich ihm näherten. Als der ehemalige Schläfer sich umwandte, sah er, dass eine kleine Armee dieser Grünhäutigen in den Saal gekommen waren. Sie nannten sich die Wartenden, diese Information wurde ihm nun wieder bewusst. Sie waren nichts anderes als Diener, Instandhalter und – wenn es wirklich nicht anders ging – auch Krieger. Ganz vorne stand der Grüne mit dem rohrähnlichen Ding, dass
ihn in diesem Heer von Zwillingsfröschen einmalig machte; das immerhin erreichte er mit dieser Maskerade. »Frosch, komm näher zu mir!« Die Stimme erschien dem Schläfer zunächst selber fremd. Was geschehen war, hatte also auch auf diesem Sektor Veränderungen gebracht. Alles war anders geworden. Wirklich alles! »Ich heiße Ühgo, ›I‹ … und ich frage mich …« Weiter kam er nicht, denn der Schläfer baute sich wie ein Berg vor ihm auf. »Du bist Frosch – von dieser Sekunde an, hast du verstanden? Und ich bin nicht mehr ›I‹!« Im Gesicht des Grünhäutigen war Verwunderung zu erkennen, die den Schläfer nicht im mindesten interessierte. »Ich bin der Erste Rat – der Einfachheit halber dürft ihr mich weiter ›I‹ nennen. Ich herrsche hier.« Da es keinen Einwand gab, fuhr er fort. »Ich bin der Herr über beide Mächte – uneingeschränkt. Und ich habe den letzten Test bestanden. Frosch, rufe die Lernenden, rufe die Kinder zurück. Es ist soweit. Der Plan beginnt!« »›I‹ … die Vita-Kinder haben ihre ihnen gegebene Lebensgrenze nun überschritten. Ich kann sie nicht rufen.« Ühgo begann zu ahnen, das der Schläfer geistigen Schaden erlitten haben musste. Er hatte das Ende verhindert! Und nun befahl er, die Toten zu rufen. Der Schläfer lachte hysterisch auf. »Du weißt nichts, Frosch. Geh, rufe die Kinder der Kinder. Und zweifele nie mehr an meinen Befehlen. Ich bin der Erste Rat, vergiss das nie wieder!« Mit einer winzigen Bewegung seiner rechten Hand wies er auf Ühgo. Der Wartende wurde mit ungeheurer Kraft nach hinten geschleudert und gegen die Mauer aus Leibern seiner Artgenossen geworfen, die diese Szene mit tumben Blicken verfolgten. Ein hässliches Knacken verriet Ühgo, dass er dabei einem der anderen das Genick gebrochen hatte. Der Unglückliche hatte tief geduckt direkt hinter Ühgo gestanden. Unruhe kam in die Reihen der Grünen. Sie zogen sich zurück, ließen Ühgo und den Toten allein zurück. »I« war ebenfalls gegangen. Ühgo rückte den Zylinder auf seinem Kopf zurecht.
Er würde den Befehl des Schläfers besser ausführen, auch wenn es keine Reaktion auf diesen Ruf geben konnte. Kinder der Kinder … »I« musste dem Wahnsinn verfallen sein. Nicht lange darauf begriff Ühgo, dass er sich zumindest in einem Punkt irrte. Die Kinder der Kinder ereilte der rufende Impuls.
Die Stewardess gefiel Mel. Keines der Barbie-Püppchen, wie sie noch heute von vielen Fluglinien bevorzugt angeworben wurden. Ungefähr auf halber Flugstrecke übermannte ihn die Müdigkeit. Als er aufwachte, sah er dicht vor sich das Gesicht dieser in seinen Augen außergewöhnlichen Flugbegleiterin. Sie erschrak, als Mel sie so unvermittelt ansah. »Sir, Sie sind ja wach. Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Deshalb …« Mel Amber setzte das netteste Lächeln auf, das er in seinem Repertoire finden konnte. »Nichts zu entschuldigen, ich freue mich. Aber Sorgen? Warum denn? Es geht mir doch gut.« Die Stewardess rang um die richtigen Worte. »Ich weiß auch nicht, aber schon beim Einchecken hatte ich das Gefühl, als würden Sie nicht … nun ja, nicht wirklich hierher gehören. Es kam mir so vor, als wäre das nicht der Ort, an dem Sie sein wollten. Oder sollten.« Mit einem kleinen Lächeln machte sie sich wieder auf ihren Rundgang. Es gab hier schließlich noch jede Menge Passagiere, die auf ihr Lächeln warteten. Mel sah ihr verwundert nach. Nicht hier sein sollten? Wo – hier? Was war denn falsch daran, in einem Jet direkt in Richtung …? Mel warf einen Blick aus dem Seitenfenster. Es kam ja selten vor, doch hier hatte er tatsächlich einen der begehrten Fensterplätze erwischt. Ein Wolkenmeer schien direkt unter der Maschine zu liegen. Unmöglich auch nur zu erahnen, wo das Flugzeug sich gerade befand. Aber Mel musste das doch wissen. Zumindest aber, wo es denn
landen sollte. Wahrscheinlich war er eben zu schnell wieder aufgewacht. Er schloss erneut die Augen. Langsam, Alter, ganz langsam. Nur keine Panik. Es fällt dir gleich wieder ein. Instinktiv griff er neben sich. Der Platz war leer. Dass dort kein Passagier saß, war für ihn ja auch normal, aber wo, zum Teufel, war seine Telecaster! Wenn Mel fliegen musste, und ab und an ließ sich das als Musiker nun einmal nicht verhindern, dann kam es für ihn überhaupt nicht in Frage, seine geliebte Fender-Gitarre in den Frachtraum verstauen zu lassen. Niemals. Das mochte für einen Nichtmusiker spleenig und durchgeknallt wirken, doch Mel waren die Kosten für das zusätzliche Ticket stets gleichgültig gewesen. Die Tele gehörte hier neben ihn – nirgendwo anders war ihr Platz. Doch sie war nicht da. Mel winkte die Stewardess zu sich, die ihn mit einem seltsamen Blick betrachtete. Helfen konnte sie ihm jedoch auch nicht, denn als er in den Flieger gestiegen war, hatte er definitiv keinen Gitarrenkoffer bei sich gehabt. Mel glaubte ihr. Es gab keinen Grund, warum sie ihn hätte anlügen sollen. Erst kurz vor der Landung hatte er sich wieder im Griff. Hier geschah etwas, das er nicht verstand. Nirgendwo in seiner Erinnerung war etwas über eine geplante Flugreise zu finden. Nirgendwo … außer der vagen Erinnerung an die Nacht im Haus seines Vaters. Der Rechner mit der stehenden Internetverbindung. Die letzten aufgerufenen Seiten waren die von Fluggesellschaften gewesen. Die Stimme des Kapitäns mahnte die Fluggäste, sich für die bevorstehende Landung bereitzumachen. Mel spürte, wie sich kalter Schweiß auf seiner Stirn bildete. Er wagte nicht, die hübsche Flugbegleiterin nach dem Zielflughafen zu fragen, auf dem sie in wenigen Minuten aufsetzen würden. Die Angst, den Verstand zu verlieren, verdichtete sicl in Mels Bewusstsein. Vielleicht würde sich ja alles aufklären, wenn er das Flugzeug verließ. Er wusste genau, dass er sich belog. Es war nicht mehr sein eigener Wille, der die Schritte Mel Ambers
lenkte. Er fürchtete sich davor, dem zu begegnen, der diese für ihn übernommen hatte …
BERICHT – »HELIOS-SYSTEM« – (D) Die STERNENJÄGER tauchte sanft in die Wellen ein. Innerhalb weniger Augenblicke hatten die Fluten das kleine Raumschiff verschluckt. Die Ortung wurde umgeschaltet auf Echolot. Die Systeme, die in einer Atmosphäre und im Weltraum nützlich waren, halfen hier nicht weiter. Sie würden einfach falsch anzeigen – unendliche Massewerte in Nulldistanz. »Tauchgeschwindigkeit erhöhen«, ordnete der Kommandant an. Er wollte so schnell wie möglich in die Tiefe vordringen. Bis zu 10683 Meter sollte der Tonga-Graben tief sein, wenn die Angaben der Datenbank stimmten. Und warum sollten sie falsch sein? Es gab über keinen anderen Planeten der Galaxis so exakte und umfangreiche Daten wie über Gaia. Die Gkirr-Koordinaten waren etwas diffus, die Umrechnung unsicher. Das Objekt befand sich in einer Tiefe zwischen 7000 und 8000 Metern. So tief musste die STERNENJÄGER also auf jeden Fall hinab. »Warnung«, sagte der Pilot ruhig. »Eine Erhöhung der Tauchgeschwindigkeit bedeutet höhere Kompressionswerte in kürzerer Zeit. Es könnte Ihre Lungen zerquetschen. Den Innendruck müssen wir anpassen, weil sonst die Schiffszelle …« »Das weiß ich alles«, unterbrach Cairo ihn. Der Pilot hatte ja Recht. Dennoch beharrte der Kommandant auf der Ausführung des Befehls. »Kommandant verlässt Leitstand. Pilot übernimmt«, ordnete er an. Er erhob sich aus seinem Sessel und ging zum doppelten Sicherheitsschott, das sich automatisch öffnete und hinter ihm wieder schloss. In seinem Quartier nahm er den Schutzanzug aus einem Schrankfach und legte ihn an. Er war foliendünn, aber ungeheuer druckfest.
Cairo schaltete auf eine verträgliche Innendruckerhöhung, die seiner Lunge nicht schaden konnte. Der Schutzanzug würde ihn bis zum endgültigen Druckausgleich sicher bewahren. So konnte die STERNENJÄGER schneller abtauchen. Nur würde Cairo dann vor Ort eine Weile warten müssen, bis er in das geheimnisvolle Fremdobjekt hinüberwechseln konnte. Aber er wollte es ohnehin nicht als erster betreten. Angesichts dessen, dass er nicht wusste, worum es sich dabei handelte, ging er auf Sicherheit. Zuerst würde eine Handvoll Cyborgs hinüberwechseln, erkunden und sichern. Cairo kehrte in die Zentrale zurück und nahm wieder in seinem Kommandosessel Platz. »Übernehme«, schnarrte er. »Vorkommnisse in meiner Abwesenheit?« Das Lautsprechersystem übertrug seine Stimme verzerrungsfrei nach außen, so wie die Mikrofone alles aufnahmen, was sich an Geräuschen außerhalb des geschlossenen Schutzanzugs bildete. »Tauchtiefe 500 Meter. Kein Kontakt zum gesuchten Objekt.« Die in die Helmfolie eingespiegelten Daten zeigten dem Kommandanten, dass es bereits einen meßbaren Druckunterschied zwischen ihm und der Zentrale gab. Das Echolot tastete nach dem fremden Objekt. Ping – ping – ping – ping …
In einer Tiefe von 7315 Metern wurde aus dem langsamen Ping – ping – ping – ping ein hektisches Pingpingpingping. »Resonanzkontakt«, meldete der Pilot. »Das Objekt befindet sich unmittelbar vor uns.« »Scheinwerfer auf«, befahl der Kommandant. Der Holo-Schirm zeigte drei Lichtfinger, die nach dem Objekt tasteten. Messerscharf konturiert durchschnitten sie die submarine Schwärze. Das Scheinwerferlicht war extrem scharf gebündelt, um Streuverluste weitgehend zu vermeiden. Seit langem schon befanden sie sich in tiefster Dunkelheit. Das
Sonnenlicht hatte niemals auch nur den Hauch einer Chance, bis hierher vorzudringen. Aber es gab hier und da Meeresbewohner, vorwiegend Fische, deren Körper leuchteten wie kleine Sterne. In dieser Tiefe gab es aber auch keine Fische mehr. Hier war alles Leben wie ausgestorben. Das Einzige, was sich bewegte, war das kleine Raumschiff. In seinem Schutzanzug runzelte Cairo die Stirn. »Habe ich gerade etwas von ›alles Leben ausgestorben‹ gedacht?« murmelte er. Pflanzen waren doch auch Leben, und sie überwucherten die unbekannte Station. Seltsame Knollen mit winzigen Tentakeln, die eine schwache Ähnlichkeit mit Korallen aufwiesen, aber gehörten Korallen nicht auch ins Tierreich und nicht in die Pflanzenwelt? »Analysieren«, befahl Cairo. Im Scheinwerferlicht schimmerten die Tentakelknollen in einem seltsam düsteren Grün. Cairo war nicht sicher, ob ihnen hier eine Farbe vorgegaukelt wurde und die Dinger nicht in Wirklichkeit braun, grau oder hellviolett kariert waren. Wovon ernährten sie sich in dieser Tiefe? Sowohl Pflanzen als auch Tiere brauchten Nahrung, in welcher Form auch immer. Vielleicht ernährt sich diese Lebensform von der Strömungsenergie des Wassers, überlegte Cairo. Die war trotz oder gerade wegen der Tiefe enorm. Er wusste, dass das Leben im Universum sich in unendlicher Vielfalt präsentierte und zuweilen selbst das Vorstellungsvermögen eines Ewigen überstieg. Er war schon auf Tausenden von Planeten gewesen, und wurde doch immer wieder überrascht. Sogar auf Welten, die als absolut lebensfeindlich galten. Die Resultate der Analyse ergaben nichts Brauchbares. Das Einzige, was der Kommandant erfuhr, war, dass sich diese Knollen, deren Tentakel sich in der Grundströmung des Wassers nur ganz schwach bewegten, über den gesamten Bereich kilometerweit um die ominöse Station erstreckten. Das ist es!, begriff er plötzlich. Die Tentakelchen sind Antennen, über die die Knollen die Strömungsenergie aufnehmen! Und davon kann die Tronik natürlich keine Ahnung haben, weil es in der Da-
tenbank entsprechende Eintragungen nicht gibt! Mit leichtem Druck auf eine Sensortaste rief er eine virtuelle Tastatur auf und gab seine Erkenntnis in die Tronik ein. Die Antwort kam unmittelbar. Wahrscheinlichkeit für diese Hypothese beträgt 78 Prozent. Sollen Daten gespeichert werden? Cairo gab den gewünschten Speicherort ein und antwortete mit Ja. Vor ihm erschien ein neuer Schriftzug aus dem Nichts. Vorgang erfolgreich abgeschlossen. Daten können jederzeit abgerufen werden. Neuer Vorgang? Nein. Dann schaltete Cairo das virtuelle Terminal der Tronik ab. Inzwischen hatte die STERNENJÄGER den Bereich der Station weiter abgetastet. Die Tentakelknollen waren eine gute Tarnung. Nur eine starke konvexe Wölbung verriet, dass sich hier nicht nur gaianischer Fels befand. »Eingang suchen.« »Commander«, wandte der Pilot ein, »es wird einfacher sein, uns einen eigenen Zugang freizulasern.« »Das«, sagte Cairo mit mildem Spott, »könnte man da drinnen als einen feindlichen Akt ansehen. Brennt nur die Knollen weg. Dahinter wird sich der normale Zugang befinden.« »Ist das kein feindlicher Akt?«, wollte der Pilot wissen. Cairo winkte ab. »Nur eine spezielle Form des Anklopfens.« Die Laser der STERNENJÄGER begannen mit schwacher Leistung zu arbeiten.
Feuer und Wasser ergeben – Dampf. Das Wasser wurde entlang der Strahlbahnen enorm aufgeheizt, sorgte für wilde Wirbel. Der Dampf wurde in der Tiefe sofort komprimiert und ging für Sekunden in den Plasmazustand über, wurde dann aber wieder zu Wasser und normalisierte sich. Cairo hätte sich ungern draußen in dieser kleinen Hölle aufgehalten. Es gab Dinge, vor denen ihn auch der Schutzanzug nicht bewahren konnte … Als sich das Wasser beruhigt hatte, lag ein großer Teil der Station
frei vor ihnen. Es handelte sich um grau schimmerndes Metall. Zumindest auf den ersten Blick. Der Versuch einer Analyse schlug fehl. Auch der Versuch, mit den Ortungssystemen hinter die graue Wand zu schauen, scheiterte. In dieser Hinsicht hatte der Kommandant nichts anderes erwartet. Selbst auf die kurze Distanz störte das Wasser immer noch, das in dieser Tiefe zudem sehr kompakt war. Etwas wie ein Eingang zeichnete sich ab. Er schien gerade groß genug, dass zwei oder drei Personen zugleich hinein konnten. Cairo verzichtete darauf, abermals die Laser zu benutzen und den Eingang mit kurzem, aber wirksamem Punktbeschuss zu öffnen. Das Inferno von vorhin reichte ihm, so nötig es auch gewesen sein mochte. »Fünf ›Men in Black‹ ausschleusen«, ordnete er an. »Versucht, in die Station einzudringen. Nach Eindringen ständigen Funkkontakt halten.« Der Pilot glaubte wieder warnen zu müssen. »Gkirr befinden sich in der Nähe. Die Gefahr besteht, dass sie die Transfunk-Verbindung entdecken und mithören.« »Glaubst du denn immer alles besser zu wissen?«, seufzte Cairo. »Erstens glaube ich nicht, dass die Gkirr unbemerkt hier auftauchen, um eine Richtfunkverbindung aufzunehmen …« »Commander, der Transfunk ist überlichtschnell. Der Funkstrahl könnte durch uns oder die Station hindurchgehend den Gkirr-Spürer berühren, auch wenn er sich weitab befindet.« »Zweitens hat keiner etwas von Transfunk gesagt. Wir verwenden ganz normale Ultrakurzwellen.« »In dieser Tiefe kommen die nicht einmal ein paar Zentimeter weit …« »Schnauze, Robot!«, fuhr Cairo den Cyborg an, dessen Programmgehirn entschied, ein beleidigtes Aussehen zu zeigen. »Ich erwarte die sofortige Ausführung meines Befehls. Sobald die fünf ›Men in Black‹ in der Station sind, docken wir unmittelbar an. Damit spielt das Wasser für die UKW keine Rolle mehr. Endlich begriffen? Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Gkirr auch weiter einen
Richtfunkstrahl aufnehmen könnten, dermaßen gering, dass jede Tronik bei der Berechnung versagen muss.« »Verstanden, Ausführung.« Cairo lehnte sich zurück. »Wenn ich etwas hasse, sind es endlose Diskussionen mit besserwisserischen Maschinen«, murmelte er vor sich hin.
Das Aussteigen der fünf Cyborgs ging unter Wasser nicht anders vonstatten als im Weltraum. Die Mannschleuse wurde ganz normal benutzt. Der einzige Unterschied bestand darin, dass in das Vakuum, das durch das Absaugen der Atemluft entstand, erst einmal Wasser hereingelassen wurde. Nachdem die MiB die STERNENJÄGER verlassen hatten, wurde die Schleuse für ihre Rückkehr in diesem Zustand belassen. Die Männer in Schwarz trugen keine Schutz- oder Taucheranzüge. Sie waren unabhängig von Atemluft und von den Druckverhältnissen in mehr als 7000 Metern Tiefe. Sie stießen sich ab und glitten zur Station hinüber, suchten nach einem Schalter, der ihnen den Eingang öffnete. Aber das funktionierte so nicht. Einer der Cyborgs berührte die graue Wand neben den Türfugen. Ständig sandte er tronische Impulse aus, während er sich an der Kante entlang bewegte. Die anderen schirmten ihn mit ihren Körpern von der Tiefenströmung ab. Plötzlich fand er den gesuchten Kontakt. Er überlud ihn einfach. Ein Kurzschluss erfolgte. Danach ließ sich die Eingangstür leicht beiseite drücken. Lautlos schwang sie nach innen auf. Offenbar war die Eingangskarnmer so eingestellt, dass sie jederzeit von draußen betteten werden konnte. Es handelte sich um eine wassergefüllte Schleusenkammer. Ein weiteres Tor führte ins Innere der Station. Pausenlos erstattete der Cyborg Bericht. Ein anderer drückte die Tür wieder zu. Der Vorgang lief servounterstützt, die Tür schloss,
nur verriegelte sie nach dem Kurzschluss nicht mehr. Sie konnte mit leichtem Druck oder Zug von außen oder innen jederzeit betätigt werden. Die sonstige Elektrik funktionierte einwandfrei. Der Cyborg ließ das Wasser absaugen und die Schleuse mit Luft füllen. Die äußere Tür hielt dem Wasserdruck des Tonga-Grabens stand. Die Innentür ließ sich nun mit einem Schalter öffnen. Der Cyborg trat in einen größeren Raum. Und ein unbeschreibliches Ungeheuer senkte kurz den Kopf, packte ihn mit den Zähnen und riss ihn vom Boden hoch. Dann schluckte es ihn einfach hinunter. Es rülpste nicht einmal zufrieden.
Die anderen Cyborgs setzten sofort ihre Waffen ein. Die Blasterstrahlen trafen das riesige Ungeheuer … nicht! Sie gingen glatt hindurch, fraßen hinter ihm Brandlöcher in die Wand. Die Cyborgs verteilten sich, um von verschiedenen Seiten her anzugreifen. Einer versuchte einen körperlichen Angriff. Aber er bekam das Ungeheuer nicht zu fassen. Das drehte gelassen den mächtigen, klobigen Schädel mit den halbmeterlangen Reißzähnen hin und her und nahm die Angreifer näher in Augenschein. Dann spie es ein Skelett und einen Dhyarra-Splitter aus, der das Programmgehirn des vernichteten MiB darstellte. Augenblicke später löste es sich einfach auf. Die Cyborgs versuchten, gespeicherte Daten über das Ungeheuer abzurufen. Aber da war nichts gespeichert. Sie hatten nichts erfasst! Es sah so aus, als wäre die Bestie nicht real gewesen. Dennoch hatte sie einen MiB ausgelöscht. Das war Realität genug! Warum aber gab es dann keine Daten? Und warum hatten die Laserstrahlen nichts ausgerichtet? »Weiter vorstoßen«, kam der Befehl aus dem Raumschiff. »Und weiter berichten.« Cairo fragte sich, womit sie es zu tun hatten, obgleich ihm ein Verdacht gekommen war. Doch der musste erst verifiziert werden. Auf
jeden Fall war er froh, nicht mitgegangen zu sein. Er hätte selbst das Opfer dieses imaginären Ungeheuers werden können. Der Verlust eines Cyborgs war dagegen leicht zu verschmerzen. Es handelte sich ja um kein wirkliches Lebewesen. Drei Korridore, von denen einer nach einem Dutzend Metern aufwärts und der andere abwärts führte, taten sich am Ende der kleinen Halle auf. »Den benutzen, der auf dieser Ebene bleibt«, entschied Cairo. Er wollte die kleine Gruppe nicht aufteilen. Nach einer Weile verzweigte sich der Korridor. Die seitwärts führenden Gänge waren allerdings recht kurz. Sie hatten Türen, die in kleine Räume führten. Einer der Cyborgs öffnete probeweise die erste Tür. Und stand sich selbst gegenüber!
Die MiB waren nicht alle identisch konstruiert, was das Äußere anging. Dick, dünn, groß, klein, altes oder junges Gesicht – die Ewigen legten Wert auf kleine Unterschiede. Schließlich wollten sie, wenn sie mit mehreren MiB zusammen arbeiteten, diese auseinander halten können. Manche gaben diesen künstlichen Wesen sogar Namen. Das hielt Cairo doch für etwas übertrieben. So jedenfalls war es möglich, dass der Cyborg an kleinen Merkmalen erkannte, es mit einer identischen Produktion zu tun zu haben. Einem Doppelgänger! Zufall oder Absicht? Deutete die Anwesenheit dieses MiB darauf hin, dass es sich um eine Station der Ewigen handelte? Das war zwar höchst unwahrscheinlich, aber immerhin noch im Bereich des Möglichen. Vieles war in den Jahrtausenden einfach verloren gegangen, in Vergessenheit geraten. Auch von dem Arsenal unterhalb von Ted Ewigks Villa hatte niemand mehr etwas gewusst, bis der Kontrollknoten der Transmitterstraßen wieder in Betrieb genommen wurde. Erst da hatte die Dynastie registriert, dass sich an diesem Ort noch ein Relikt aus fernster Vergangenheit befand. Der
Materietransmitter einschließlich der Kontrollstelle war kurz darauf von der Dämonin Stygia zerstört worden. Seitdem führte keine Sternenstraße mehr nach Gaia. Und jetzt war auch das Arsenal selbst fast völlig zerstört worden, nach einem Angriff der Ewigen unter Nazarena Nerukkars Kommando. Cairo drängte die Gedanken zurück und lauschte weiter dem Bericht seines MiB. Der trat langsam in den Raum, auf den Doppelgänger zu. Er sprach ihn an, aber der andere reagierte nicht. Er stand nur starr da, wie abgeschaltet. Aber plötzlich flammte sein Kopf auf! Rasend schnell breitete sich das Feuer über die gesamte Gestalt aus. Der Doppelgänger krümmte sich zusammen und begann zu schmelzen. Aber nicht nur er. Auch das Original stand in Flammen! Der MiB schrie. Er war durchaus in der Lage, Schmerzen zu empfinden. Das gehörte zu seiner Programmierung. Wenn etwas Schmerzen auslöste, konnte er andere warnen, es nicht zu berühren. Aber normalerweise konnte er sein künstliches Nervensystem blockieren. Diesmal nicht. Die Blockierung fand nicht statt. Er schmolz dahin wie sein Doppelgänger, schreiend, während der andere stumm blieb. Es dauerte mehrere Minuten, bis es vorbei war – bis von beiden nur noch eine verkohlte Substanz und der Dhyarra-Splitter übrig blieben. Der Doppelgänger dagegen hatte kein Programmgehirn besessen. Einer der anderen Cyborgs barg auch diesen Splitter, wie jenen vorhin. »Weiter«, befahl der Kommandant, in dem sich Unbehagen ausbreitete. Innerhalb kurzer Zeit hatte er zwei MiB verloren. Und sein Verdacht verstärkte sich.
Angst um ihre Existenz verspürten die Cyborgs nicht. Sie gehorchten ihren Befehlen, das war alles. Also drangen sie weiter in dem Korridor vor, der immer düsterer wurde. Hier und da zeichnete sich hinter nicht richtig verschlossenen Wandluken eine fremde Technik ab. Mit der der Ewigen hatte sie nicht das geringste zu tun, und soweit Cairo sich erinnerte, ähnelten die Beschreibungen auch nichts, was er von den Gkirr her kannte. Wer dann hatte diese Anlage in der Tiefsee errichtet? Noch deutete nichts auf eine Beantwortung dieser Frage hin. Rein gar nichts. Der Korridor mündete schließlich in eine Art Verteiler. Immer düsterer wurde es, und trotz ihrer ausgefeilten optischen Systeme sahen die Cyborgs nicht, was sie da betraten. Erst als die Linien schwach grünlich zu leuchten begannen, merkten sie es, aber da befand sich der Vorderste bereits mitten im Kreis. Ein Kreis mit einem Drudenfuß, dessen Spitzen ihn nicht ganz berührten, und überall waren seltsame Schriftzeichen verteilt. Als der Cyborg den Kreis wieder verlassen wollte, gelang ihm das nicht. Er war von den Linien gefangen! Kreis und Drudenfuß begannen zu schrumpfen. Der Cyborg auch. Der Vorgang war nicht zu stoppen. Als der MiB nur noch ein Zehntel seiner ursprünglichen Größe besaß, wurde ihm sein Dhyarra-Splitter aus dem Kopf gedrückt. Lautlos brach das künstliche Wesen zusammen, nicht mehr gesteuert und nicht mehr mit Energie versorgt. Der Splitter kullerte über den Rand des Kreises hinaus, und der Sammler nahm auch ihn sofort an sich. Immer noch fand der Schrumpfungsprozess kein Ende. Kreis und MiB wurden zu einem winzigen Punkt auf dem Boden und verschwanden dann völlig. In der STERNENJÄGER war es dem Kommandanten nun endgültig klar, womit er es zu tun hatte. Aus seinem Verdacht war Gewiss-
heit geworden. »Umkehren«, befahl er. Er wollte die beiden verbliebenen MiB nicht auch noch opfern. Gegen Magie hatten sie keine Chance. Unangefochten konnten die beiden Übriggebliebenen die Station verlassen. Die STERNENJÄGER dockte ab, die Eingangskammer der Station wurde mit Wasser gefüllt, und die Cyborgs kamen ins Freie. Sie erreichten die Schleuse des Raumschiffs, aus der das Wasser wieder hinausgepresst und durch Luft ersetzt wurde. »Wir steigen wieder zur Oberfläche auf«, ordnete Cairo an. Wenn er herausfinden wollte, was es mit der Station auf sich hatte, benötigte er Hilfe. Er brauchte die Unterstützung eines Mannes, der sich mit Magie bestens auskannte. Er brauchte Professor Zamorra.
Innerhalb kürzester Zeit stieg die STERNENJÄGER wieder an die Oberfläche. Cairo musste seinen Schutzanzug noch eine Weile länger tragen, bis der Druckausgleich hergestellt war; so wie es beim Abtauchen einige Zeit gedauert hatte, seinen Körper nach Erreichen des Zieles anzupassen, dauerte es auch jetzt. Das hinderte ihn natürlich nicht daran, den Kontakt mit Zamorra zu suchen. Wo der zu finden war, wusste er: im Château Montagne in Frankreich. Und sollte er dort gerade nicht anwesend sein, gab es im Château auf jeden Fall Menschen, die über seinen aktuellen Aufenthaltsort informiert waren und ihn dort erreichen konnten. »Transfunk-Verbindung zum Château Montagne«, ordnete Cairo an. »Exakte Zielkoordinaten der Datenbank entnehmen und mit unserer Position korrelieren.« Der Pilot begann: »Angesichts der eventuellen Nähe der Gkirr …« »Schnauze!«, blaffte Cairo. »Ich habe diesen permanenten Blödsinn satt. Beim nächsten Mal kommst du in den Konverter.« Der Pilot schwieg. Was er von diesem freundlichen Angebot hielt, blieb dem Chronisten unbekannt. Der Kommandant wartete darauf, dass die Transfunk-Verbindung aufgebaut wurde. Er wusste, dass Zamorra im Château und auch in
seinen Autos Geräte installiert hatte, die ihm die überlichtschnelle Kommunikation ermöglichte. Der ERHABENE Erik Skribent, der selbst als Agent auf Gaia aktiv gewesen war, hatte damals als Geschäftsführer des weltumspannenden Möbius-Industriekonzerns diese Funktechnik eingeführt. Bodenloser Leichtsinn war es gewesen, das eine wie das andere. Bei jener gescheiterten Invasion, bei der auch das soeben erst fertiggestellte neue Sternenschiff der Dynastie vernichtet wurde, hatte Skribent hinübergehen müssen. Damit nicht genug, war der Transfunk im Besitz des Konzerns geblieben, und der Juniorchef Carsten Möbius hatte seinem persönlichen Freund Zamorra diese Technologie zur Verfügung gestellt, einschließlich einer Code-Bezeichnung, die Zamorra bei Funkkontakten mit der Konzernzentrale verwendete. »Verbindung steht«, kam es vom Funkterminal her. »Wurde auf Kommandant geschaltet. Sie können sprechen.« »Al Cairo ruft Charlemagne«, sagte der Kommandant. »Bitte dringend melden.« Er wusste, dass sich das Empfangsgerät in Château Montagne jetzt automatisch auf den Absendeort des Richtstrahls einregelte. Im Grunde brauchte Zamorra jetzt nichts anderes mehr zu tun, als aufs Knöpfchen zu drücken und seine Antwort herunterzurasseln. Solange die STERNENJÄGER ihre Position nicht veränderte, war für einen sauberen Kontakt garantiert. Es kam keine Antwort. Cairo wiederholte seinen Anruf mehrfach. Endlich, beim fünften Mal, kam die Antwort. Aber nicht von Professor Zamorra!
»Wer ruft?«, erklang eine fremde Stimme. Der Kommandant lauschte ihrem Klang nach. Da war eine vage Erinnerung, und sie war positiv. Die Stimme schien einer Person aus Zamorras Umfeld zu gehören. »Al Cairo, Alpha der DYNASTIE DER EWIGEN. Ich war vor nicht
langer Zeit zu Besuch im Château und habe mit dem Professor und Ted Ewigk eine Aktion im stellaren Bereich Zeta Reticuli durchgeführt.« »Ihr verwendeter Code ist nicht mehr gebräuchlich, seit Herr Carsten Möbius ermordet und der Konzern von Tendyke Industries übernommen wurde. Das sollten Sie wissen. Wer sind Sie?« Cairo lächelte dünnlippig. Natürlich konnte der andere das nicht sehen, trotz Sichtsprechverbindung. Denn der Kommandant hielt den Helm seines Schutzanzugs nach wie vor geschlossen. Aber umgekehrt erkannte er den Sprecher im Château jetzt wieder. Das war William, der Butler, der Mann, der in alles eingeweiht war, was Zamorra tat oder ließ. Das mit dem Code hatte Cairo tatsächlich nicht gewusst. Er besaß zwar das wohl umfangreichste Archiv über Gaia, das es bei den Ewigen jemals gegeben hatte, aber in diesem Punkt war es wohl nicht auf dem aktuellsten Stand. »In Professor Zamorras Arbeitszimmer gibt es einen versteckten Wandsafe«, sagte er langsam und deutlich. »In dem Safe befindet sich ein kleines Behältnis mit einem Informationskristall darin. Wir brachten dieses Behältnis von Zeta Reticuli mit. Sie waren dabei, als es deponiert wurde.« Kurz beschrieb er das fragliche Objekt. Außer Zamorra und William wussten nur Nicole Duval, Ted Ewigk und Al Cairo davon. »Akzeptiert«, sagte William. »Ich wusste doch, dass ich Ihre Stimme irgendwoher kennen müsste. Der Professor und seine Assistentin sind nicht anwesend. Aus welchem Grund rufen Sie an?« »Ich brauche seine Hilfe. Dringend.« »Ich kann Ihre Nachricht an ihn weiterleiten. Ob er aber sofort Zeit hat … das sollten Sie besser nicht hoffen. Es scheint eine zeitaufwändige Aktion zu werden.« »Vielleicht kann ich ihn ja überreden, seine Prioritäten ein wenig anders zu setzen. Können Sie mir wenigstens sagen, worum es bei seiner Aktion geht und wo ich ihn finden kann?« »Worum, ist mir unklar. Wo: derzeit in einem Flugzeug nach Nuku'alofa.«
»Nie gehört«, gestand Cairo. »Was ist denn das für ein lauschiges Kannibalendörfchen?« William räusperte sich. »Ich denke, Mister Cairo, Seine Majestät wird von dieser despektierlichen Einstufung nicht sonderlich amüsiert sein. Nuku'alofa ist die Hauptstadt des Königreichs Tonga.« Tonga! Das konnte kein Zufall sein. Was wollte Zamorra ausgerechnet hier? Cairo war sicher, dass es etwas mit der Tiefsee-Station zu tun hatte. Aber wie war Zamorra darauf gestoßen? Man würde es erfahren. Er unterbrach die Transfunk-Verbindung und befahl, die Hauptinsel anzufliegen, um dort unerkannt zu landen. Sicher war es nicht besonders gut, die STERNENJÄGER direkt auf dem Airport zu parken … Es wäre eine Möglichkeit gewesen, anhand der Flugnummer festzustellen, mit welchem Jet Zamorra unterwegs war und aus dem Flugzeug den Kabinenteil, in dem sich der Parapsychologe befand, herauszulasern und mit einem Traktorstrahl an Bord des Raumschiffs zu nehmen; was danach aus dem Flugzeug wurde, interessierte den Ewigen nicht. Aber William hatte ihm leider nicht verraten können, mit welchem Flug sein Chef unterwegs war. So musste er auf diese Option verzichten. Der Pilot unterflog in einem waghalsigen Manöver die Radarüberwachung und näherte sich im Terrainfolgeflug der Stadt und dem Airport so weit wie möglich. Dann setzte er die STERNENJÄGER auf und verzichtete darauf, die Teleskopstützen mit den Landetellern auszufahren. Das Raumschiff duckte sich mit dem flachen Rumpf direkt auf dem Boden in der Landschaft und sank immerhin fast zwei Meter tief ein, bis der Boden unter dem Gewicht des Raumers so kompakt zusammengepresst war, dass er ein weiteres Einsinken verhinderte. Ein solches Verstecken barg allerdings auch ein gewisses Risiko. Musste es zu einem Fluchtstart kommen, würde die Antriebsenergie nur teilweise wirksam; der Rest verbrannte die Umgebung Dutzende von Kilometern weit und gefährdete auch das Schiff.
Aber das Risiko ging Cairo ein. Er schätzte die Insulaner als nicht besonders besorgt um die Sicherheit ihres Ländchens ein. Wenn ihre Mentalität der anderer Südseevölker entsprach, kümmerten sie sich lieber um sich selbst. Cairo stieg über eine Mannschleuse auf dem Oberdeck aus. Seinen Schutzanzug brauchte er inzwischen nicht mehr zu tragen und verzichtete auch auf die in Silber und Blau gehaltene Uniform, sondern trug ganz normale Kleidung. Von zwei Cyborgs ließ er sich im Sprintertempo dem Airport entgegen tragen, um dort auf das Flugzeug zu warten, dem Zamorra entsteigen würde.
Zamorra hatte nicht lange gebraucht, um van Zant zu überreden, den kürzesten Weg zu nehmen. Und der führte nicht zum nächsten Flughafen, sondern in den Keller des Châteaus. Dort wuchsen in einem Kuppeldom Regenbogenblumen. Über ihnen schwebte eine künstliche Miniatursonne, von der niemand bisher herausgefunden hatte, wer sie einst dort frei schwebend installierte und woher sie ihre Energie bezog. Zamorra überlegte, irgendwann einmal ein Forscherteam von Tendyke Industries darauf anzusetzen. Vermutlich war dies sogar eine Herausforderung für van Zant selbst. Zamorra sah, wie es in dessen Augen funkelte, während er die Sache betrachtete. Bevor sie hinunter gingen, hatten sie sich ausgerüstet. Zamorra trug wie üblich sein Amulett bei sich, Nicole einen der DhyarraKristalle. Dazu nahmen sie beide ihre E-Blaster mit, die dem Arsenal Ted Ewigks entstammten. Eine weitere Strahlwaffe hatten sie van Zant gegeben, der den Blaster kommentarlos hinter seinem Rücken in den Hosenbund klemmte. Nun traten sie zwischen die Regenbogenblumen und ließen sich nach Sydney, Australien, versetzen. Dort gab es in einem Park eine magisch geschützte Kolonie dieser wundersamen Transportpflanzen. Sie riefen ein Taxi und ließen sich zum Flughafen fahren. Van Zant verzog mürrisch das Gesicht und rutschte auf der Rückbank hin und her.
Nicole grinste ihn an und deutete in Gürtelhöhe auf seinen Rücken. »Etwas unbequem, Art?«, stichelte sie. »Du hättest vielleicht doch das Magnetholster nehmen sollen.« »An meinem stattlichen Sportlerkörper fällt das Ding doch bei offener Jacke sofort auf«, murrte er. Kurz darauf waren sie am Airport. Zamorra zahlte per Kreditkarte, und sie betraten das große Gebäude. Zielbewusst steuerte van Zant das Terminal der Fluggesellschaft an, bei der er via Internet seinen Langstreckenflug nach Tonga gebucht hatte, und verlangte, dass man ihm das Geld für den nicht genutzten Fernflug zurückerstattete. »Das ist nicht möglich, Sir«, raunte die attraktive junge Dame am Schalter. »Und warum nicht?« »Irgendwie müssen Sie ja wohl bis hierher gekommen sein.« »Ich habe eine andere Reisemöglichkeit gefunden.« »Sorry, aber das ist dann Ihr Problem. Sie haben gebucht, Sie sind hier, also müssen Sie auch geflogen sein. Falls Sie die Konkurrenz bemüht haben, können Sie froh sein, dass wir Ihnen nicht noch eine Fehlbelegungsabgabe belasten …« »Das wollen wir doch mal sehen«, grollte der Südstaatler. »Ich will mit Ihrem Boss reden, und das möglichst vorgestern Mittag.« Als die Dame sich nicht befleißigte, seiner Forderung nachzukommen, beugte er sich über die Tischfläche und brüllte so laut, dass es in der ganzen Halle hörbar war: »ZACK-ZACK!« »Nun beruhigen Sie sich doch bitte erst mal …« »Ich will mich nicht beruhigen. Ich will den Boss sprechen!« Die Dame war jetzt sichtlich überfordert und sprach etwas in ein Telefon. Zamorra und Nicole sahen sich an, einträchtig kopfschüttelnd. Diplomatie war wohl nicht van Zants Stärke. Wenig später tauchte ein modisch overstylter Jungspund auf, mit einem schmalen Namenskärtchen auf dem Revers, das ihn als Peter Hunt, Executive Managing Director auswies. Van Zant überfiel ihn sofort mit einem wilden Redeschwall und
wedelte dann mit seinem Ticket durch die Luft. »Und nun schauen Sie sich die Flugzeiten näher an«, forderte er zum Schluss und breitete das geöffnete Heftchen und zusätzlich seinen Firmenausweis vor Hunt aus. »Wie Sie sehen, ist die Maschine gerade erst in den USA gestartet. Wie also könnte ich hier sein, wenn ich tatsächlich mit dem Rostbomber geflogen wäre? Der landet hier erst in ein paar Stunden. Oder können Sie mir das Gegenteil beweisen?« »Und wie bitte, Sir, sind Sie dann hierher gekommen?«, fragte Hunt mit süffisantem Lächeln. Nicole wies mit einer theatralischen Geste auf Zamorra. »Mein Chef hat ein bisschen gezaubert«, flüsterte sie laut. »Hokus Pokus Fidibus und dreimal schwarzer Kater … und da ist Mister van Zant.« »Gezaubert«, seufzte Hunt. »Aber sicher. Gezaubert, was sonst? Hören Sie, wenn Sie mich verkaspern wollen …« »Ich glaube, ich schmeiße den Kerl in die Bratpfanne und verputze ihn als Vorspeise«, grollte van Zant. »Hunger kriege ich nämlich auch.« Nicole trat näher an den Schalter und damit an den EMD heran. Sie präsentierte ein schmelzendes Lächeln. »Ich würde das ernst nehmen, Sir«, flötete sie. »Der Mann ist ein Karnivore.« »Ein – was?« »Fleischfresser«, übersetzte van Zant. »Sie haben Ihr Latein wohl in der Baumschule gelernt, was?« »Lass es, Artimus«, mahnte Zamorra. »Der kann doch nichts dafür. Stell der Fluggesellschaft das Geld über ein Anwaltsbüro der Tendyke Industries in Rechnung. Nach Tonga fliegen wir mit der Konkurrenz weiter.« Van Zant nickte grimmig. »Aber nur, weil du es bist.« »Vielleicht könnten wir eine Kompromisslösung finden«, keuchte der EMD. Mit einem Großkunden wie der TI wollte er sich wohl doch nicht auf einen Kleinkrieg einlassen. Zu leicht konnte es geschehen, dass dabei sein eigener Kopf zuerst rollte. »Und wie soll die aussehen?«
»Ich nehme an, Sie wollen von hier aus jetzt nicht mehr allein, sondern zu dritt nach Tonga fliegen?« »Sieht man das? – Ja.« »Dann biete ich Ihnen an, die beiden zusätzlichen Flüge zum halben Preis pro Person zu buchen und den Rest in eine Gutschrift umzuwandeln …« »Keine Gutschrift, sondern Rückbuchung«, forderte van Zant. »Außerdem fünf richtig schöne, rundum sättigende Mahlzeiten.« »Fünf?«, staunte Hunt. »Je eine für meine Begleiter und drei für mich.« »Einverstanden«, hauchte Hunt. Van Zant grinste ihn an. »Na also, geht doch? Warum nicht gleich so?«
Zwei Stunden später waren alle drei rundum satt. In der Tat hatte der Südstaader seine drei Mahlzeiten mühelos verputzt. Zamorra machte ihm Vorwürfe wegen seines wilden Auftritts. »Hättest du das nicht etwas höflicher gestalten können?« »Sei du mal höflich mit Kohldampf bis unter beide Arme. Bei euch hat's ja nichts Kräftigendes gegeben, von wegen die Köchin kommt erst später und so. Und immerhin haben wir -zigtausend Meilen hinter uns. So was strengt an und zehrt aus.« »Jetzt rastet er endgültig aus«, seufzte Nicole. »Zigtausend Kilometer, die nach ein paar Schritten durch die Regenbogenblumenkolonien hinter uns lagen … Mann, Art …« »Wenn ich höflicher gewesen wäre«, fuhr der unverdrossen fort, »hätten wir garantiert nix zu futtern auf lau gekriegt. Und wer weiß, wann's wieder was gibt …« Nicole seufzte. »Kannst du eigentlich an überhaupt nichts anderes denken als ans Fr … ans Essen?« »Das ist im Moment eine Verdrängungstherapie«, sagte van Zant. Er betrachtete die neuen Tickethefte und las die Eincheck- und Abflugzeit. »Oh«, staunte er, »die setzen uns in eine frühere Maschine. Haben es wohl verdammt eilig, uns loszuwerden.«
»Oder die beiden zusätzlichen Plätze sind in der ursprünglichen Maschine nicht verfügbar«, vermutete Zamorra. Van Zant erhob sich. »Auf, auf, hopp, Kinder«, drängte er. »Die Zeit wird allmählich knapp. Wir müssen schnellstens einchecken.« Dabei kam es zu einem erneuten Problem: die Strahlwaffen, die sie bei sich trugen. Nicole führte ihre immerhin offen am Magnetholster ihres Overalls spazieren. Die Argumentation, es handele sich doch nicht um Schusswaffen, eher um Spielzeuge, griff ebensowenig wie das Aussehen der Blaster, das sich zumindest durch die Kühlrippen am Lauf und die leicht trichterförmige Mündung mit dem Projektionsdorn von normalen Pistolen unterschied. Zamorra machte es kurz und hypnotisierte das Personal. Man führte sie an den Metalldetektoren vorbei, und die Sache war erledigt. Zamorra zeigte sich etwas erschöpft. Menschen zu hypnotisieren, auch noch mehrere zugleich, kostete Kraft. Aber während des Fluges hatte er ja Gelegenheit, sich von dieser Anstrengung zu erholen. Eine halbe Stunde später saßen sie im Flugzeug. Es war eine kleine, 30sitzige Passagiermaschine, deren Plätze aber nur zur Hälfte belegt waren. Zamorra nutzte das sofort aus und streckte sich über eine komplette Sitzreihe aus, um seinen Erholungsschlaf zu halten. Der Flug ging zuerst nach Wellington, der Hauptstadt von Neuseeland. Nach einer halben Stunde ging es dann weiter zu den Tonga-Inseln. Hier befand sie nur noch ein anderer Passagier an Bord, ein Japaner im Geschäftsanzug, statt mit einem Dutzend Kameras mit einem flachen Aktenkoffer und einem Notebook ausgerüstet, auf dessen Tasten er mit flinken Fingern einhackte. Offenbar war der Publikumsverkehr ins Inselkönigreich heute doch arg eingeschränkt. Zamorra und seine beiden Begleiter störte das nicht weiter. Ruhig zog die Maschine ihre Bahn. Fast zu ruhig, fand Zamorra …
Pule'anga Fakatui'i 'o Tonga heißt schlicht und ergreifend Königreich Tonga in der Landessprache. Es erstreckt sich über eine Menge kleiner Inseln mit einer Gesamtfläche von 748 Quadratkilometern. Die Hauptstadt Nuku'alofa auf der Insel Tongatapu hat allein schon über 22 000 Einwohner. Das Königreich lebt zu etwa 29 Prozent von der Landwirtschaft, schlappe 15 Prozent Industrie und der Rest Dienstleistungen. Bezahlt wird in Pa'anga zu je 100 Seniti, ein Pa'anga oder auch Tonga-Dollar entspricht etwa 0,40 Euro. Landessprachen sind Tongaisch und Englisch; was Religionen angeht, sind die Christen in der überwiegenden Mehrheit … Zamorra und Nicole trauten wirklich ihren Augen nicht. Womit sie hier auf Tonga gerechnet hatten, konnten sie natürlich nicht sagen – und Artimus van Zant erging das nicht anders –, doch ganz sicher nicht mit dem Alpha Al Cairo, dem arroganten und über Leichen gehenden Ewigen, mit dem sie auf Zeta Reticuli gewesen waren, dem giftigen Stern, dem sie sein Geheimnis entlockt hatten. Nicole schloss für Sekunden die Augen, als sie den nicht eben groß gewachsenen Alpha entdeckte, den sie ganz besonders in ihr Herz geschlossen hatte. Dort allerdings in die tiefste und schwärzeste aller Kammern. »Nein, nun nicht unbedingt Sie! Sie werden mir nicht böse sein, aber Ihre Gesellschaft brauche ich ganz sicher nicht, Cairo.« Der Alpha grinste anzüglich und überheblich. »Ich sehe, wir haben wieder einmal die größten Übereinstimmungen, Nicole … oder haben Sie neben der Haarfarbe vielleicht auch den Namen gewechselt?« Zamorra stöhnte. »Bitte, reißt euch zusammen, ja?« Artimus van Zant betrachtete den Alpha von oben herab, was bei seiner Körpergröße für ihn kein Problem war. Der Südstaatler hatte eine Antenne, wenn es um blühende Feindschaften ging. Und er war selbstverständlich augenblicklich auf Nicoles Seite. »Wer ist der Halbling? Mann, dem hätte ja sogar Khira locker in die Augen sehen können – ohne Nackenstarre.« Der aggressive Unterton in Artimus' grollendem Bass war nicht zu überhören. Und dass ihn mit einem Mal zwei dunkel gekleidete Gestalten flankierten, die sich wie Bodyguards des Kleinen hier aufführten,
beeindruckte den Physiker nun wirklich nicht. Ein Blick in die Gesichter der beiden Figuren reichte ihm voll und ganz aus. »Ah, MiB – richtig? Also ist der hier ein Ewiger.« Die Wut begann in van Zant zu brodeln. Er hatte nicht vergessen, dass es die DYNASTIE DER EWIGEN war, die damals die unterirdische Forschungsstation von Tendyke Industries zerstört hatte. Julie – seine geschiedene Frau – war dabei ums Leben gekommen. Zamorra umklammerte van Zants rechtes Handgelenk, das sich in Richtung des Blasters in dessen Hosenbund bewegte. »Lass gut sein, Art. Er ist zwar ein – vorsichtig ausgedrückt – egozentrischer Bursche, aber mit Nazarena Nerukkar hat er nichts zu schaffen. Im Gegenteil.« Nazarena Nerukkar, die ERHABENE der DYNASTIE war es gewesen, die den Angriff damals in die Wege geleitet hatte. »Okay …« Van Zant entspannte sich. »Wenn du es sagst, dann lass ich ihn in einem Stück. Vorerst.« Zamorra sah Cairo an. »Lassen Sie mich raten, Cairo. Sie haben uns erwartet – also haben Sie nach uns gesucht. Schlussfolgerung meinerseits: Sie brauchen uns. Also? Sie sind an der Reihe.« Al Cairo nickte. Warum sollte er um den heißen Brei herumreden? Das war noch nie seine Art gewesen. »Ich habe bei einer Aktion gegen die Gkirr etwas entdeckt. Eine Art Station, würde ich es mal nennen. Fremde Technik – und Magie. Das ist Ihr Gebiet, Zamorra. Ich muss wissen, was es mit dieser Anlage unter Wasser auf sich hat. Ich …« Van Zant unterbrach den Alpha. »Unter Wasser? Wo? Etwa hier im Tongagraben? In welcher Tiefe. Los, machen Sie schon den Schnabel auf, Mann!« Cairo sah den Mann mit einem seltsamen Blick an. Er musste ihm wie ein Gewitter erscheinen, das von oben herab seinen Donner auf ihn niederließ. »Ich weiß zwar noch immer nicht, wer Sie sind und was für einen Status Sie besitzen, aber bitte. Ja und ja – unter Wasser und im hiesigen Tiefseegraben. Tiefe etwa bei etwas mehr als 7000 Metern. Und? Befriedigt Sie diese Auskunft nun? Oder wollen Sie mich weiterhin anbrüllen?« Van Zant achtete nicht auf Cairos Worte. Er wechselte einen Blick
mit Zamorra. Der nickte ihm zu. »Dort müssen wir hin, Artimus. Es kann gar nicht anders sein. Und ehrlich gesagt ist es ein großes Glück, dass unser Typ hier gefragt scheint. In diese Tiefe zu gelangen, dürfte ansonsten ein Problem sein. Aber mit einem EWIGENRaumer eine Kleinigkeit, nicht wahr, Alpha?« Zamorra fragte sich, was Cairo mit »Aktion gegen die Gkirr« genau gemeint hatte. Andererseits konnte er es sich beinahe schon ausmalen – Cairo hasste die Gkirr abgrundtief. Sollte er einen oder mehrere ihrer Raumschiffe hierher verfolgt haben, dann existierten die sicherlich nicht mehr. Fremde Technik … und Magie. Zamorra ahnte, dass Bessy van Zants Geheimnis sich zu einem großen Problem entwickeln würde.
Zamorra war überaus beeindruckt. Wenn die STERNENJÄGER ein Prototyp war, eine speziell gefertigte Ausführung, die sich tatsächlich noch im Stadium der Erprobung befand, dann hatte sich bei den EWIGEN tatsächlich einiges getan. Und auch wenn Cairo das natürlich nie zugegeben hätte, so deutete das auf einen progressiven Prozess hin, an dem Nazarena Nerukkar sicher nicht völlig unbeteiligt war. Zamorra ahnte, das Cairo in seinem Hinterstübchen bereits den Plan hegte, der ERHABENEN irgendwann den Posten streitig zu machen. Er bestritt das natürlich vehement. Was hätte er auch sonst machen sollen? Es offen zugeben? Die Agenten der ERHABENEN hatten ihre Ohren sicherlich überall. Und sie verfügte über eine unglaubliche Assassin-Truppe. Alwa Taraneh – Zamorra musste an das engelsgleiche Mädchen denken, das sich als kälteste aller Mörderinnen entpuppt hatte. Sie war nur eine aus einem Heer von Spezialisten, die Nazarena Nerukkar zur Verfügung standen. Cairo tat also gut daran, seine Machtgelüste nicht quer durch die Galaxis zu brüllen. Der Alpha war schlau. Und gefährlich …
Van Zant stolzierte durch die STERNENJÄGER, als gehöre sie ihm. Niemand hinderte ihn daran. Zamorra sah ihn kopfschüttelnd vor Schaltanlagen und Konsolen stehen. Nicht, dass er in tiefe Ehrfurcht über die technische Leistung verfiel – im Gegenteil. Ständig brummelte er etwas von Schrott und Pfusch. Zamorra fragte sich oft, woher der Südstaatler seine an Unverschämtheit grenzende Selbstsicherheit nahm. Er glaubte tatsächlich, das hier alles viel besser machen zu können. Und Zamorra wollte keine Wette darauf abschließen, ob van Zant das nicht im Ernstfall sogar gelingen mochte. Der Raumer glitt der Position entgegen, an der das Eintauchmanöver erfolgen sollte. Dicht über der Meeresoberfläche jagte die STERNENJÄGER dahin, unerreichbar für jede Radarüberwachung und zwischen den hier und da recht hohen Wellenkämmen auch vor der Satellitenüberwachung geschützt. Schiffe, deren niedrige Radarebene den Jäger erfassen konnte, befanden sich nicht in der Nähe. »Diese Wellen steigen auf, als wollte sich hier der nächste Tsunami entwickeln«, murmelte van Zant unbehaglich. Auf dem Land fühlte er sich wesentlich sicherer als auf dem Wasser. Und auch wenn der Tonga-Graben unendlich weit von dem Katastrophengebiet des Jahreswechsels 2004/2005 entfernt lag, weckten diese Wellenberge in ihm Erinnerungen an die Schreckensbilder von damals, die um die ganze Welt gegangen waren und die größte Hilfsaktion ausgelöst hatten, an die er sich erinnern konnte. »Hier kann es allenfalls zu einem Seebeben kommen, falls die Tiefseestation explodiert«, sagte Cairo düster. »Halten Sie das für möglich?«, fragte Zamorra. »Alles ist möglich«, erwiderte der Kommandant. Im gleichen Moment meldete sich der MiB an der Ortung. »Resonanzkontakt. Schnell näherndes Objekt. Das Energiespektrum entspricht dem eines Gkirr-Spürers, Tri-Klasse.« »Ach, da ist er ja wieder, unser verschollener Freund«, sagte Cairo. Ein diabolisches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. »Kommt ein wenig zu spät, das Bürschlein.« »Annäherung mit siebenfach Überschall. Gkirr-Spürer befindet
sich auf Kollisionskurs. Errechnetes Ziel: der Eintauchpunkt. Wahrscheinlichkeit 97 Prozent.« »Und wer zu spät kommt, den bestrafen die Ewigen«, fuhr Cairo ungerührt fort. »Waffensteuerung!« »He«, wandte Zamorra ein. »Was haben Sie vor?« »Zielerfassung auf Gkirr-Spürer. Feuer mit Phasentorpedo.« »Nein!«, widersprach Zamorra. »Nicht zerstö …« Ein MiB trat neben Zamorra und legte ihm schwer die Hand auf die Schulter. »Monsieur«, schnarrte er, »ich weise Sie darauf hin, dass es niemandem zusteht, dem Commander zu widersprechen. Er – und nur er – ist berechtigt, Entscheidungen zu treffen und Befehle zu erteilen.« »Aber es ist doch nicht nötig, das Gkirr-Objekt abzuschießen!«, protestierte Zamorra. »Vielleicht – vielleicht können wir die Insassen sogar als eine Art Kanonenfutter voranmarschieren lassen, falls sie sich auch für die Station interessieren! Außerdem zeigen sie keine aggressive …« »Seien Sie endlich still, Monsieur, oder Ihnen steht der Weg in den Konverter bevor!« »Soll das eine Drohung sein?«, fuhr Zamorra auf. Seine Hand griff zum Blaster. Notfalls würde er den Cyborg kampfunfähig schießen! »Es ist gut«, schlichtete Cairo. Sofort trat der MiB zurück. Im gleichen Moment erfolgte die Meldung: »Abschuss erfolgt.« Der Holo-Schirm zoomte den Gkirr-Spürer heran. Ein grelles Aufblitzen im Frontbereich, dann eine Feuerwolke, durch die ein Teil des Hecks weiter raste. Die Antriebsdüsen feuerten nach wie vor ihr blassblaues Licht. »Der Letzte macht das Triebwerk aus«, sagte Cairo sarkastisch. »Klick.« Laserstrahlen tasteten nach dem Triebwerksfragment, zerschnitten es. Was der Phasentorpedo übriggelassen hatte, wurde jetzt zerstört. Explosionen tobten über das Wasser, in die Wogen einbrechendes Feuer verlosch. »Tadel für die Waffensteuerung«, sagte Cairo. »Das Objekt hätte schon beim Torpedotreffer vollständig vernichtet werden müssen.«
»Commander, die atmosphärischen Verzerrungen …«, begann der Cyborg in der Waffensteuerung. »Es lagen exakte Ortungsdaten vor«, sagte Cairo und wandte sich ab. In Zamorra tobte es. Er hielt die Vernichtung des Gkirr-Spürers für überflüssig. Andererseits konnte er den Ewigen sogar irgendwie verstehen. Die beiden Völker waren Todfeinde seit der ersten Begegnung, und einst wäre es den Gkirr beinahe gelungen, die Ewigen auszulöschen … Trotzdem brauchte er mehrere Minuten, um sich wieder zu fangen und zu beruhigen. Währenddessen tauchte die STERNENJÄGER ein und sank in die Tiefe. 7315 Meter unter der Meeresoberfläche zeichnete sich das Eingangstor der Station im Scheinwerferlicht ab. Diesmal war der Tauchgang wesentlich langsamer vonstatten gegangen; Cairo nahm Rücksicht auf seine Fluggäste. »Und wie kommen wir jetzt da hinein?«, grübelte Zamorra. Van Zant schwieg und betrachtete nur die Bildwiedergabe; er versuchte bereits, sich in die fremde Technik hineinzudenken. Zunächst, was den Öffnungsmechanismus anging. Er sah so aus, als versuche er eine tief in seinem Unterbewusstsein vergrabene Erinnerung zu wecken … »Ich schicke einen Cyborg voraus, der die Schleuse öffnet«, sagte Cairo. »Dann schleusen wir Sie drei mit einem Traktorstrahl aus und pressen Sie hinüber. Sie sind innerhalb des Hüllfelds geschützt und können trockenen Fußes hinüber.« »Das könnt ihr?«, staunte Zamorra. »Wir haben in letzter Zeit einige Neuentwicklungen machen können«, sagte Cairo leichthin. »Aber wie soll das gehen?«, hakte Nicole nach. »Was ist dieser Traktorstrahl überhaupt?« »Ein bipoliges Kraftfeld, das nach Belieben zwischen Plus, also Druck, und Minus, also Zug, hin- und hergeschaltet werden kann.
Es wird ähnlich einem Energiestrahl gesteuert, der aber nicht unendlich ist, sondern an seiner Spitze die zu befördernden Objekte oder Personen erfasst. Zugleich hüllt er sie ein und schützt sie damit gegen jeden äußeren Einfluss. Es ist eine dieser Neuentwicklungen.« »Aber wenn wir damit ausgeschleust werden …«, sann Nicole. »Dann müsste dieser Traktorstrahl doch gewissermaßen um die Ecke schießen. In die Schleuse hinein, um uns zu erfassen, uns dann rausziehen, zum Stationseingang weiterpressen und … Das kann nicht funktionieren. Der Strahlprojektor müsste dafür doch an einem ausfahrbaren Gelenkarm sitzen. Aber die nötige Energie wird den doch zerschmelzen! Ein solcher Strahl braucht doch wahnsinnig viel Strom!« »Wie ich schon sagte, es ist eine Neuentwicklung. Sie funktioniert nicht so, wie Sie denken.« Van Zant runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Noch nicht. »Wäre es nicht einfacher, uns in Schutzanzüge zu packen und hinüberschwimmen zu lassen?« »Wir haben nur zwei Anzüge an Bord«, wehrte Cairo ab. »Einen, den ich trage, und einen als Reserve, falls eine der technischen Komponenten ausfällt. Auch diese Anzüge sind eine Neuentwicklung, die wir derzeit testen, für Weltraum und extrem lebensfeindliche Planeten.« »Der Kerl nervt mit seiner herablassenden Arroganz«, grollte van Zant, der selbst ein Tüftler, Erfinder und Entwickler war und Tendyke Industries schon so manches neue Schmankerl verschafft hatte, das die Firma ihren Konkurrenten immer wieder eine Nasenlänge voraus brachte. »Gehen Sie jetzt zur Schleuse«, sagte Cairo. »Wir schicken zunächst den Türöffner-Cyborg hinüber, dann folgen Sie per Traktorstrahl.« »Und kommen zwar trocken drüben an, kriegen dann aber nasse Füße, weil die Stationsschleuse doch voll Wasser ist!« »Der Traktorstrahl wird in die Schleuse stoßen und nebenbei das Wasser hinauspressen. Der Cyborg wird den Eingang schließen, damit den Strahl unterbrechen, und Sie bleiben trocken. Außerdem bekommen Sie andere Waffen. Die Blaster, die Sie da tragen, sind doch
Kinderspielzeuge!« »Eines ist mir als Physiker noch absolut unklar«, brummte van Zant. »Dieser Traktorstrahl soll uns vor der Außenwelt abschirmen, also vor dem Wasser mit seinem hohen massiven Druck. Trotzdem soll er durch ein Türschott zu durchbrechen sein? Das ist doch ein Widerspruch der Eigenschaften.« »Nicht im Bereich der Hyperphysik. Genau verstehe ich's auch nicht, aber glauben Sie mir, Doktor – es funktioniert!« »Das hat der Kollege Gunther Held auch immer gesagt, der glaubte, den Materietransmitter erfunden zu haben. Er ist gestorben, ohne seine Erfindung jemals praktisch erprobt zu haben.« »Und? Haben Sie es dann gemacht?«, fragte Cairo neugierig. »Haben wir«, sagte van Zant. »Es hat nicht funktioniert. Aber er ist mit seinem Traum gestorben, was konnte ihm Besseres passieren?«
Es hatte tatsächlich funktioniert; Zamorra, Nicole und van Zant waren trocken geblieben. Klatschnass war nur der MiB, der die Schleusentür bedient hatte. Zamorra betrachtete den Blaster, den ihm Al Cairo anstelle seiner eigenen Waffe gegeben hatte, die in der STERNENJÄGER zurückgeblieben war. Äußerlich unterschieden sich die beiden Blaster nur durch die Kapazitätsanzeige voneinander, die hier einen wesentlich höheren Wert angab. So ungern Zamorra Waffen benutzte, so sehr war er trotzdem darauf gespannt, wie sich diese erhöhte Leistung in der Praxis zeigte. Sie bewegten sich durch die Korridore. So weit die Cyborgs zuvor bei ihrem verlustreichen Einsatz gekommen waren, spielte sich weiter nichts ab; alles blieb ruhig. An einer Stelle nahm van Zant plötzlich den Blaster, stellte ihn auf minimale Energieabgabe und brannte innerhalb von Sekunden eine mehrere Quadratmeter große Wandplatte weg. Das Material verdampfte einfach und schlug sich beim Erkalten in Form von Staubpartikeln nieder. Im Reflex zerrte Zamorra den Südstaatler und Nicole vorsichtshal-
ber einige Meter zurück, damit sie die Partikel nicht einatmeten. Als diese den Boden erreicht hatten, jagte van Zant einen gefächerten Laserstrahl darüber hinweg, der sie mit dem Material verschweißte. »Sieht aus wie Plastronit, ist aber keins«, brummte er. Aus Plastronit, einer Mischung aus synthetischem Stahl und Kunststoff, bauten die Ewigen ihre Raumschiffe. »Ich würde dieses Zeugs liebend gern mal mit dem vergleichen, das die NSA in AREA 51 herumliegen hat. Von diesem abgestuften UFO.« »Zwei UFOs«, korrigierte ihn Zamorra. Derweil betrachtete van Zant die Technik, die hinter der Wandplatte versteckt gewesen war. »Simples Zeug«, brummte er. »So was baue ich blind mit Legosteinen und dem großen Fischer-Baukasten nach. Und danach funktioniert's garantiert besser. Hier hat einer versucht, ein technisches System zusammenzupfriemeln, ohne was davon zu verstehen. Dass das überhaupt funktioniert, ist mir ein Rätsel.« Artimus' Größenwahn hätte wunderbar zu einem Alpha gepasst. Ob er wirklich ernst meinte, was er hier so großspurig von sich gab, blieb unklar. Zamorra jedenfalls hielt die Technik, die hier offen vor ihnen lag, für hochentwickelt. Aus eigener Kraft – ohne jede Hilfe von anderen Lebensformen – würde die Menschheit noch Jahrhunderte benötigen, um etwas Gleichwertiges zu entwickeln. Aber … für einen Südstaatler war das eben nicht mehr als ein Stück vom Legoland. »Was soll es denn darstellen?«, wollte Nicole wissen. »Eine Lufterneuerungs- und Austauschanlage. Siehst du die ganz kleinen Düsen? Da kann statt unserer Atemluft auch eine MethanWasserstoff-Atmosphäre eingeblasen werden, oder Chlor-SiliziumVerbindungen, oder was auch immer.« »Davon verstehe ich nichts«, gestand sie. »Gehen wir weiter, oder hast du dich in deine Legosteine verliebt?« Bald darauf erreichten sie die Stelle, wo die Cyborgs zurückbeordert worden waren. »Wohin jetzt?«
»Nach rechts«, schlug Zamorra vor. Und nach dem nächsten Schritt änderte sich ihre Umgebung schlagartig!
Sie befanden sich in einer Vulkanlandschaft, und dieser Vulkan brach soeben aus! An mehreren Stellen zugleich hatten sich Öffnungen gebildet, die Rauch und Lava ausspien. Aber das war längst nicht alles. Da tobte eine ganze Horde seltsamer Kreaturen heran! Sie sahen fast menschlich aus mit ihrer grünen, etwas glibberig erscheinenden Haut. Sie waren völlig unbehaart und geschlechtslos. Und sie griffen die Menschen und den Cyborg an! Der MiB feuerte aus zwei Blastern zugleich, versuchte den drei Menschen Deckung zu geben. Aber seine Strahlschüsse gingen einfach durch die grünen, muskelbepackten Kreaturen hindurch, die prachtvolle Reißzähne bleckten und fauchten. »Die haben doch wohl nicht mich auf ihrer Speisekarte?« Das kam von van Zant, der jetzt ebenfalls feuerte. Aber auch seine Schüsse konnten die seltsamen Bestien nicht stoppen, auch nicht Nicoles wildes Abwehrfeuer. Wo die Blasterstrahlen einschlugen, entstanden weitere Lavaschlünde. Hitze breitete sich aus; die gelbweiß glühende Masse rollte den Menschen entgegen und schloss sie bereits ein. Zamorra versuchte es mit dem Amulett. Aber es wirkte nicht. Merlins Stern reagierte in keiner Form! »Wie, verdammt, sind wir denn hierher gekommen?«, tobte van Zant. Die ersten Bestien hatten ihn erreicht. Er schlug um sich. Die Angreifer wurden zurückgewirbelt; einige tauchten in die Lava und gingen in Flammen auf. Sie versuchten wieder freizukommen, schafften es aber nicht mehr. »Magie!«, schrie Zamorra den anderen zu. »Das ist eine magische Falle, in die wir geraten sind!« Aber Schwarze Magie konnte es nicht sein, sonst hätte das Amu-
lett reagiert! Dass es passiv blieb, zeigte an, dass die Magie zumindest neutral war. Oder von einer ganz speziellen Art … Zamorra unterdrückte den Gedanken. Dazu war jetzt nicht die Zeit. Und doch kam ihm das irgendwie bekannt vor. Plötzlich war van Zant verschwunden! »Wo ist er hin?«, schrie Nicole entsetzt. Zamorra sah, wie vier, fünf der Grünen sich auf den Cyborg warfen. Im nächsten Moment verschwanden auch sie. Einer Idee folgend, schaltete Nicole ihren Blaster um. Statt der Laserschüsse zuckten die verästelten elektrischen Blitze aus der Mündung. Die Schockstrahlen zeigten endlich Wirkung! Wo sie die Grünen berührten, bildete sich Rauch, in dem die Unheimlichen sich auflösten. »Es ist alles eine verrückte Illusion«, stieß Zamorra hervor. Im nächsten Moment traf ihn ein heftiger Schlag am Hinterkopf. Er flog nach vorn und direkt in die Arme dreier Grüner. Alles um ihn herum wurde schwarz. Die Welt verschwand.
Die Dunkelheit wich. Zamorra konnte wieder sehen, nur gefiel ihm das, was er sah, überhaupt nicht. Es gab zwar keine Vulkanlandschaft mehr, aber dafür einen großen Raum, an dessen Wänden und der Decke sich unverkleidete Technik zeigte. Mehrere der Grünen standen mit verschränkten Armen da, stumm und reglos, und sahen die Menschen an. Ihre Gefangenen! Zamorra versuchte sich aus seiner liegenden Position aufzurichten, aber es gelang ihm nur, sich mit den Ellenbogen abzustützen. Irgendwie war er von unsichtbaren Kräften an die Plattform gefesselt, auf der er lag. Immerhin konnte er sich umschauen. Es gab insgesamt fünf dieser Platten, die frei in dem Raum zu schweben schienen. Auf einer lag der Cyborg, auf zwei anderen Nicole und van Zant, der dabei irgendwie den Eindruck eines Gebir-
ges machte. Auf der fünften Plattform lag die ganze Ausrüstung der kleinen Erkundergruppe. Die Grünen waren gründlich gewesen. Alles Metallische hatten sie ihren Gefangenen abgenommen. Feuerzeug, Zamorras mit einer dünnen Bleischicht gefütterte Kreditkartenhülle, die bei Flughafenkontrollen die Chips und Magnetstreifen vor Löschung bewahren sollte, Gürtelschnallen, die Magnetplatten mit den Blastern, Nicoles Dhyarra-Kristall und Zamorras Amulett. Sogar die Silberbeschläge von van Zants Stiefeln hatte man abgerissen und ein paar Ringe von den Fingern gezogen. Zamorra vernahm ein schwaches Summen. »Schlag doch mal einer diese verdammte Fliege tot«, mokierte sich van Zant mit geschlossenen Augen über eben dieses Geräusch. »Du bist auch wach?«, fragte Zamorra nach. »Wir sind alle wach, wie's aussieht«, sagte Nicole. »Ich hatte einen Albtraum. Wir waren in einer Vulkanlandschaft …« »Das war kein Albtraum«, sagte Zamorra. Plötzlich fiel ihm etwas auf. Seine Kleidung begann sich aufzulösen! Der Stoff wurde immer dünner, wurde Schicht für Schicht abgetragen. Und nicht nur bei ihm, sondern auch bei den anderen! Jetzt merkte auch van Zant etwas. »Verdammt«, zürnte er und sah an sich herunter. »Das ist ja wohl wirklich unnötig!« Er versuchte, von der Plattform herunterzukommen, aber es gelang ihm ebensowenig wie den anderen. Ab einem gewissen Punkt war ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Nur der Cyborg lag ganz ruhig auf seiner Platte. »Der Auflösungsprozess erfolgt durch das Summen«, sagte er plötzlich. »Es geht von den Deckenprojektoren über diesen vier Plattformen aus.« »Das muss doch irgendwie zu stoppen zu sein«, hoffte Nicole. »Art, hast du keine brauchbare Idee?« »Mit einem der Blaster könnte ich die Dinger kaputt schießen«, knurrte der. »Aber woher nehmen und nicht stehlen?« Er streckte
die Hand nach dem fünften Tisch aus. »Ich bin leider kein Jedi«, sagte er in einem Anflug von Galgenhumor. »Die Macht ist heute wohl gerade mal nicht mit mir.« Zehn Minuten später waren sie nackt; alle vier. Aber bei dem Cyborg ging dieser Prozess seltsamerweise weiter. Er wurde so aufgelöst wie zuvor die Kleidung. Bis nur noch der Dhyarra-Splitter seines Programmgehirns übrig war. »Und was kommt als Nächstes?«, fragte Nicole. Es ließ nicht lange auf sich warten …
ALS EINES TAGES DER MÄCHTIGE GOTT TANGAROA VON DER HÖHE SEINES HIMMELS HERAB IM OZEAN FISCHTE, SPÜRTE ER AUF EINMAL EIN UNGEWÖHNLICHES GEWICHT AN SEINER ANGEL. DA ER GLAUBTE, ER HÄTTE EINEN BESONDERS GROSSEN FISCH GEFANGEN, BEGANN ER, MIT ALLER KRAFT DIE VERMEINTLICH FETTE BEUTE AUS DEM WASSER ZU ZIEHEN. ER ZOG UND ZOG. IN WIRKLICHKEIT HATTE SICH SEIN ANGELHAKEN ABER AM MEERESBODEN VERFANGEN. TANGAROA STAUNTE DESHALB NICHT SCHLECHT, ALS ER SAH, WIE AUS DEM WASSER RIESIGE FELSEN AUFTAUCHTEN, IMMER MEHR UND IMMER GRÖSSERE. DER GRUND DES MEERES STIEG SCHNELL EMPOR, UND ES HÄTTE SICH VIELLEICHT EIN NEUER KONTINENT GEBILDET, WENN NICHT PLÖTZLICH DIE ANGELSCHNUR GERISSEN WÄRE. WAS BEREITS AN DIE WASSEROBERFLÄCHE GEKOMMEN WAR, BILDETE FORTAN DIE TONGAINSELN. So berichtet es die Legende …
Mel Amber las den Text, der hinter dem Glas des Werbedisplays zu
sehen war. Es war eines dieser beinahe zwei Meter hohen Gebilde, die von drei Seiten her betrachtet werden konnten. Alle dieser Ansichten zeigten das Gleiche – den für Touristen zurechtgeschneiderten Text der uralten Legende um die Entstehung des Tongaarchipels und eine Karte mit Hinweisen zu Sehenswürdigkeiten – vor allem aber den schnellsten Weg zum Strand. Tonga. Mel war als Musiker wirklich schon weit auf der Welt umhergereist. Aber … Tonga? Im Traum wäre ihm nicht eingefallen, sich ein Ticket hierher zu ordern. Er war kein Strandtyp, kein Beach Boy und das nicht nur in der musikalischen Bedeutung dieses Begriffes. Doch nun fand er sich in der Hauptstadt Nuku'alofa wieder, irrte hier nun seit ungezählten Stunden umher, getrieben von einer inneren Unruhe, die er sich nicht erklären konnte. Der Strand. Warum zog es ihn dorthin? Mel schlug sich diesen Drang aus dem Kopf. In einem Restaurant sitzend, resümierte er seinen Ist-Zustand: Der war in einer bestimmten Richtung rasch geklärt – ein Blick in seine Geldbörse zeigte ihm, dass er sich mit ganzen 40 Dollar auf den Weg an das andere Ende der Welt gemacht hatte. 40 lausige Dollar. Damit wagte er sich in New York ja kaum aus dem Haus, wenn er sich ein paar Zigaretten kaufen wollte. Mel spürte die Gier nach einem Glimmstängel in sich aufkeimen, doch er unterdrückte sie rasch wieder. Zigaretten? Zum einen hatte er doch damit aufhören wollen, zum anderen hätte auch nur ein einziges Päckchen ein riesiges Loch in seine Reisekasse gestanzt. Was konnte ihm deutlicher beweisen, dass er nicht aus freien Stücken in dieses verfluchte Flugzeug gestiegen war? Ohne Geld, ohne seine Gitarre – never! Also konnte es nur eine Erklärung geben. Dieser sogenannte ERSTE – war er denn wirklich kein Hirngespinst seines Vaters gewesen? Und hatte Mister Unbekannt Mel nun tatsächlich gerufen? Mel schob die Grübeleien von sich. 40 Doller oder 40.000 Bucks – er hatte Hunger. Die Speisekarte, die auf dem Tisch vor ihm lag, war
glücklicherweise mehrsprachig. Mit dem holprigen Englisch kam Mel einigermaßen klar. Steak war Steak – mal besser, mal schlechter –, aber nachdem es in seinem Magen angekommen war, fühlte sich der Musiker wieder in der Lage, klar zu denken. Er fragte sich jedoch, ob all seine Gedanken auch tatsächlich ihm entsprangen? Die Vorstellung, einem fremden Willen Untertan zu sein, schnürte ihm regelrecht die Kehle zu. In seinem Kopf tauchte immer und immer wieder dieses Strandbild auf. Und das entsprang ganz sicher nicht seinen eigenen Vorstellungen. Es brachte auf Dauer nur nichts, sich dem zu entziehen. Mel dachte kurz an Flucht, an ein Telefonat in die USA. Er hatte Freunde, die ihn aus dieser misslichen Lage holen würden, keine Frage. Doch damit wäre nichts beendet. Rein gar nichts. Und wenn er die Antworten auf seine Fragen bekommen wollte, dann musste er sie sich hier beschaffen. Hier und jetzt. Wieder auf der Straße bemerkte er, dass selbst seine Kleidung hier vollkommen unangebracht war. Daran konnte er jetzt jedoch nichts ändern. Mel Amber zog die Jeansjacke aus und hängte sie sich gehalten von einem Finger über die linke Schulter. Dann gestatte er seinem Unterbewusstsein endlich, die Führung zu übernehmen. Viel wusste er nicht über die Inselgruppe. Wenn sich Mel richtig erinnerte, dann sagte man, dass sich hier die schönsten Mädchen der Welt tummelten, bekleidet mit Mini-Stofffetzen, die sie fälschlicherweise als Tangas bezeichneten. Und tatsächlich bekam Mel einige dieser Exemplare zu sehen. Wie üblich war aber auch hier maßlose Übertreibung am Werk gewesen, denn zum einen hatte er schon eine Menge schönerer Frauen gesehen, zum anderen wirkte die unnatürlich hohe Ansammlung von braungebrannter Haut auf Dauer äußerst ermüdend. In den Gesichtern einiger dieser Damen – und Mel war sich nicht immer ganz sicher, dass es wirkliche Damen waren – konnte er im Bruchteil einer Sekunde deren ganzes Leben abchecken. Sonne, Männer, immer wieder die Hoffnung, doch noch entdeckt
zu werden, solange man noch jung und schön war … War das wirklich das so angepriesene schöne Leben? Oder nur Fassade, ähnlich der, die sich so mancher Musiker aufgebaut hatte. Sex, Drogen, wilde Partys – immer auf Achse, immer gut drauf. Wer ernsthaft und auf viele Jahre in dem Geschäft bleiben wollte, der vergaß diesen ganzen Quatsch besser sofort wieder. Geschichten von Rockstars, die auch noch mit sechzig Jahren wilde Sauf- und Sexorgien veranstalteten, gehörten zwischen die Deckel eines Märchenbuchs. Nach und nach bemerkte Mel, dass es mit jedem Meter, den er am Strand entlang lief, menschenleerer wurde. Nur noch hier und da sonnten sich kamerabehängte Touristen, machten die x-ten Digitalfotos von immer der gleichen Sandburg, ihren tobenden Kindern, dem eingeborenen Gigolo, der sich an ihre Frau heranschmiss. War ihr Leben das, was man erstreben sollte? Mel war sich auch hier nicht sicher … Der Strand war hier von Felsbrocken begrenzt. Das war sicher der Grund, dass die Touristen nicht in Scharen zu sehen waren. Mel fand eine Bucht, die von außen kaum einsehbar war. Die Frau saß mit dem Rücken zu ihm, die nackten Füße im Wasser. Er wusste nicht warum, aber als er sie da so auf dem Boden hocken sah, war ihm klar, dass sie hier nicht hingehörte. So wenig wie er. Wortlos setzte er sich neben sie in den Sand. Sie mochte im gleichen Alter sein wie er. Und sie war außerordentlich attraktiv. In jeder anderen Situation als gerade dieser, hätte Mel alles daran gesetzt, einen Flirt mit ihr zu starten. Jetzt saß er nur schweigend da und blickte auf das Meer – so wie sie es tat. Aus den Augenwinkeln heraus sah er ihr feingeschnittenes Gesicht, das von einer Prinz-Eisenherz-Frisur umrahmt wurde. Ihre Augenfarbe konnte er bei diesem Licht nur erraten. Mel tippte auf ein Katzengrün. »Phyllis Lang.« Es dauerte einen kurzen Moment, bis Mel begriff, dass sie sich ihm vorgestellt hatte. »Ich komme aus York, England. Mein Vater ist vor neun Monaten gestorben. Er ist … er war Berater der Regierung. Politikwissenschaftler, weißt du? Vor zwei Wochen erhielt ich von seinem Notar einen Brief, den er für mich hinterlassen hat.« Sie wandte ihr Gesicht Mel zu. Ihre Augen waren wirklich
so grün wie die einer Katze. »Du weißt sicher, was darin stand, richtig?« Mel nickte nur stumm. Ja, er konnte es sich gut vorstellen. Phyllis wies mit der linken Hand zu den Felsen, die diese Bucht dort begrenzten. Mel sah acht oder zehn Menschen, die dort hockten oder es sich so gut es ging zwischen den Steinen bequem gemacht hatten. Bisher hatte er sie überhaupt nicht bemerkt. »Zwei Deutsche, ein Italiener, ein Russe. Zwei Frauen und ein Mann aus China, zwei weitere Frauen aus Afrika. Du bist Amerikaner, nicht wahr?« Als Mel erneut nickte, fuhr Phyllis fort: »Es werden sicher noch mehr kommen, viel mehr. Sie haben alle eine beinahe identische Geschichte. Atomphysiker, Mediziner, Wissenschaftler und Künstler, Politologen. Alle von höchsten Rang auf ihrem jeweiligen Gebiet. Die Eliteansammlung schlechthin.« Noch immer war Mel nicht in der Lage zu sprechen. Menschen aus allen Erdteilen – keiner kannte den anderen, doch sie alle versammelten sich hier, ohne den Grund dafür zu kennen. Und sie warteten. Ohne zu klagen, ohne zu wissen, auf wen oder was. Phyllis' Stimme klang brüchig. »Wer sind sie? Was will man von uns?« Mel fiel nichts anderes ein, als ihre Hand zu nehmen. »Wir werden es bald wissen.« Als die Dämmerung hereinbrach, zählte Mel 83 Frauen und Männer. Niemand konnte sagen, ob sie nun alle versammelt waren. Die Spekulationen brandeten mit jedem Neuankömmling erneut auf, doch Mel und Phyllis, die sich zumeist einige Meter von der diskutierenden und wild gestikulierenden Hauptgruppe entfernt aufhielten, beteiligten sich nicht daran. Es war so sinnlos, irgendwelche Möglichkeiten durchzuspielen, Gedankenschlösser zu erbauen, großartige Szenarien zu entwerfen. Sinnlos vergeudete Energie. Die Realität holte sie kurz darauf alle ein. Und sie ließ auch die größten Schreihälse sofort verstummen.
Zunächst war es nur ein schwacher Eindruck, ähnlich einem stechenden Kopfschmerz. Doch in nur wenigen Sekunden wandelte sich dieser Schmerz zu einem dumpfen Druck, der Mels Denken lähmte. Nach wie vor funktionierten all seine Sinne, schienen sogar geschärft und intensiver zu arbeiten, doch sein freier Wille war abgeschottet, wie unter einer Käseglocke. Jeder Vergleich hinkte, dieser kam der Wahrheit jedoch schon recht nahe. Er wandte sich zum Meer hin. Und alle anderen Anwesenden taten es ihm gleich. Wie die Figuren eines Schachspiels standen sie reglos und gleichgerichtet, starrten auf die Wellen, die in der nahenden Dunkelheit nur noch bedrohlicher wirkten. Dann tauchte es auf. Mel hielt es erst für eine Art von Kuppel, die sich da geradezu majestätisch langsam aus dem Wasser heraus nach oben schob. Doch schon bald wurde deutlich, welche Form das Objekt wirklich hatte. Es war eine Kugel, sicher sechs Meter im Durchmesser, durchsichtig und zerbrechlich wie eine riesige Seifenblase. Genau wie bei einer solchen Blase konnte Mel auch hier keine Nähte, keinen Ansatz sehen. So mächtig das Gebilde auch wirkte, so fragil schien es zu sein, als es einem gläsernen Ball gleichend auf den Wellen hin- und herschwankte. Mel begann sich zu fragen, aus welchem Material dieses Ding wohl bestehen mochte. Eine Glaskugel von dieser Größe? Kaum glaubhaft – und dennoch konnten er und die anderen ungehindert in diese Sphäre hineinblicken. Was sie dort sahen, raubte ihnen den Atem. Mit Sicherheit wären die allermeisten der Anwesenden in Panik geflohen, wenn sie Herren über ihre Körper gewesen wären. So mussten sie unbeweglich ertragen, was ihnen ihre Augen zeigten. Mitten in der Kugel stand ein Wesen. Es war splitternackt, vollkommen geschlechtslos und so grün wie Phyllis' Augen! Mel glaubte den Verstand zu verlieren. Hatte das dort sie alle hierher gerufen? Es fiel ihm keine treffende Bezeichnung für dieses Etwas ein, das auf seinem vollkommen haarlosen Kopf etwas trug, was mit viel Fantasie als Zylinderhut bezeichnet werden konnte. Und dann ertönte in den Köpfen der Versammelten die Stimme
des Grünhäutigen. »Ich grüße die Kinder der Kinder! Der Erste Rat hat euch zu sich gerufen. Ihr alle seid diesem Ruf gefolgt. Ich bin Ühgo, der Diener des ›I.‹ – und ich bringe euch nun von eurer Welt in die Ursprungswelt eurer Eltern.« Der Grüne machte eine kunstvolle Pause, in der er sich umständlich den Hut auf seinem Kopf zurechtrückte. Vielleicht wollte er den Menschen einige Sekunden lassen, um das zu verarbeiten, was sie eben gehört hatten. Vielleicht wollte er aber auch nur seinen Auftritt ein wenig theatralischer gestalten. Wer konnte das schon sagen? Schließlich fuhr er fort: »Dieses Gebilde hier ist der Pendler. Nach und nach werdet ihr von ihm in die Tiefenstation gebracht werden. Mehr als zehn von euch werde ich bei einer Fahrt nicht mitnehmen.« Mel verspürte einen Impuls in seinen Beinen die sich gleich darauf in Bewegung setzten; ohne sein Dazutun, denn noch immer gehorchte sein Körper ihm nicht. Instinktiv griff er nach Phyllis' Hand. Er wollte nicht von ihr getrennt werden. In den wenigen Stunden hatte sich eine Vertrautheit zwischen ihnen entwickelt, die erstaunlich war. Erleichtert spürte er, dass auch die Engländerin zu denen gehörte, die sich in Richtung der Wasserkante bewegten. Mel stellte sich die Frage, wie die Auserwählten denn zu diesem so genannten Pendler gelangen sollten, denn die gläserne Kugel befand sich vom Wasserrand aus gesehen gut und gerne fünfzehn Meter weit entfernt im Meer. Die Antwort erhielt er in der Sekunde, da seine Füße das Wasser berührten. Besser gesagt: nicht berührten! Mel fühlte sich um einige Zentimeter in die Höhe gehoben. Seine Beine stellten ihre Vorwärtsbewegung ein, denn von diesem Augenblick an schwebte er über das Wasser – geradewegs auf den Pendler zu. Und seinen Leidensgenossen erging es nicht anders. Wenige Handbreit vor dem Glasball entfernt wollte der Musiker instinktiv die Augen schließen, denn da er keine Öffnung erkennen konnte, rechnete er mit einem harten Aufprall. Doch seine Augenlider reagierten nicht. Und so erlebte er, wie sich sein Körper durch die Außenhaut des Pendlers hindurchbewegte, als wäre die nicht vorhanden.
Übergangslos begann das seltsame Gefährt zu sinken, als alle an Bord waren. Und plötzlich fiel die Lähmung von Mels Körper. Er war wieder Herr über sich selbst. Die Versuchung, sich auf diesen grünen Schwätzer zu stürzen, war groß, doch Mel wagte nicht, ihn zu attackieren. Mit beiden Handflächen berührte er die Hülle des Pendlers, der sich bereits einige Meter unterhalb der Wasseroberfläche befand. Die Außenhaut fühlte sich glatt an … und warm, als lebe das Material. Mel zuckte zurück. Phyllis begann zu stöhnen. Die Angst, hier keine Atemluft zu bekommen, übermannte sie plötzlich. Der Grüne war darauf vorbereitet. »Ihr alle braucht keine Sorge zu haben. Der Pendler ist auf Sauerstoffatmer eingerichtet. Seit mehr als 400 Jahren pendelt er nun bereits hin und her – und es ist nie zu Zwischenfällen gekommen. Auch der Tiefendruck muss euch keine Furcht bereiten. Alles ist gut, alles ist perfekt.« Mel war in die Hocke gegangen und sah durch den Boden der Kugel. Ihm fehlten die Worte, als er entdeckte, auf welche Weise sich der Pendler seinen Weg in die Tiefe bahnte. Die Sphäre hatte keinen eigenen Antrieb, von welcher Art auch immer. Sie fiel in die Dunkelheit der See hinein! Mel kratzte all sein mageres Science Fiction-Wissen zusammen, das er ausschließlich aus Filmen wie Star Wars oder Alien bezog. Aber selbst dort konnte hatte es Vergleichbares nicht gegeben. Ühgo, wie der Grüne sich genannt hatte, stand direkt hinter ihm. »Ich weiß genau, was du denkst. Schau gut hin – das Wasser ist freundlich zu uns, nicht wahr? Es formt einen Trichter, immer nur so tief unter dem Pendler, damit er sanft und unbeschädigt nach unten gelangt.« Der Musiker legte seinen Kopf in den Nacken. Weit über dem Scheitelpunkt der Sphäre konnte er erkennen, wie sich das Wasser dort wieder schloss. Der Grüne sagte also die Wahrheit. Mel sah Ühgo direkt in die Augen. Doch die Millionen Fragen, die er gerade noch hatte stellen wollen, kamen ihm einfach nicht über die Lippen. Der Grüne lachte. »Zauberei? Magie? So nennt ihr Menschen es doch, nicht wahr?
Oh, ich bin gut informiert über euch. Hexenkram, Höllenspiele, Teufelszeug – nenn es, wie du magst. Bei uns ist es etwas Normales. So normal wie die Technik, die wir beherrschen. Es ist eine Kraft, die hilfreich wirkt. Doch sie kann auch ein entsetzliches Antlitz zeigen. Man darf sie nicht falsch einsetzen.« Er wandte sich ab, war nicht zu weiteren Gesprächen bereit. Irgendwie hatte Mel für Sekunden den Eindruck, als würde Ühgo die wirkliche Überzeugung für all das hier fehlen. Als wäre er besorgt. Aber die Gründe, wenn es sie denn gab, legte er ganz sicher keinem Menschen offen. Mel legte einen Arm um Phyllis Schulter. Sie hatte sich beruhigt, atmete wieder tief und normal durch. Sie konnten jetzt nichts tun. Nur abwarten. Abwarten, wo diese Fahrt schließlich ihr Ziel finden würde …
8 Wahrscheinlichkeitsrechnung Alles, was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch. René Descartes (1596 – 1650) französischer Philosoph und Mathematiker »Himmel, wer ist denn so pervers veranlagt, mich unbedingt nackt sehen zu wollen?« Artimus van Zant ließ seiner Wut freien Lauf. Und von der hatte er eine ganze Menge zur Verfügung. »He, ihr! Glotzt nicht so blöde. Noch nie einen Kerl mit Bauch gesehen, oder was?« Wie Zamorra und Nicole – denen ihre Nacktheit nicht sonderlich peinlich war – konnte auch Artimus maximal den Oberkörper so weit anheben, damit er die Grünhäutigen sehen konnte, die wie Schaufensterpuppen in Unbeweglichkeit erstarrt schienen. Mit einer Reaktion von ihnen hatte er nicht wirklich gerechnet, doch an wem hätte er seine aufgestauten Aggressivitäten wohl sonst abreagieren sollen? Nicole versuchte ein wenig beruhigend auf van Zant einzuwirken. »Nicht aufregen. Niemand schaut dir etwas weg. Und außer mir sehe ich hier auch keine Frau.« Ein Grollen kam von van Zants Plattform. »Ich bin nicht prüde … glaube ich zumindest. Außerdem ist vielleicht von den Figuren dort einer Frau Frosch. Weiß ich's?« Er beließ es dabei. Unentwegt schwirrten seine Blicke über die technischen Anlagen, die hier offen vor ihm lagen. Vorhin hatte er noch einige seiner typischen abfälligen Anmerkungen über die Technologie dieser Station abgelassen, doch wenn er ehrlich war, dann bewunderte er die Erbauer dieser kleinen Wunderwerke, die überall zu sehen waren. Mit Meegh-Technik oder der EWIGEN-Technologie hatte das alles
jedoch nichts zu tun. Hier und da entdeckte der Physiker allerdings Teile, die ihm durchaus eine Menge sagten. Ersatzteile, mehr nicht, aber immerhin – man hatte sich mit dem begnügt, was die Erde zu bieten hatte. Also war diese Station von jeder Nachschubversorgung abgeschnitten. Sie musste autark funktionieren. Und offensichtlich war man nicht in der Lage, alles selber nachzubauen, defekte Teile in Eigenregie zu fertigen. Das mochte im Moment eine unwichtige Erkenntnis sein, doch sie war in Artimus' Gehirn gespeichert. »Ich grüße das erste Kindeskind, das den Weg in die Tiefe gefunden hatte.« Van Zant verrenkte sich den Hals, um den zu sehen, der ihn offenbar direkt ansprach. Was er sah, war nichts weiter als einer dieser Grünlinge, wenn auch einer, der zumindest sprechen konnte. Ein Fortschritt, wenn man seine Artgenossen so betrachtete. »Warum aber kamst du auf diesem Weg? Der Ruf war eindeutig. Und warum bringst du Menschen mit, die der Erste Rat nicht gerufen hat?« Van Zant ging auf die Fragen des eigenartigen Wesens nicht ein. Er verstand den Sinn nicht. »Sag mal, wenn du den Kerl triffst, der dir den Deckel auf deinem Kopf verkauft hat, dann verklag ihn, okay? Den Prozess gewinnst du ohne Anwalt.« Der Grünhäutige verdrehte seine Augen, als versuchte er zu erkunden, was mit seinem Kopf nicht stimmte. Dann trat Verstehen auf seine Gesichtszüge. »Oh, du meinst meinen herrlichen Hut, nicht wahr? Ein Prachtstück, oder? Von mir selbst entworfen und gefertigt.« »Wer's mag.« Zamorra mischte sich ein. »Warum sind wir hier gefangen? Bist du der Herr dieser Station? Wir mögen es überhaupt nicht, wenn man uns bewegungsunfähig macht, uns die Sachen klaut und unsere Kleidung vernichtet. Also los, gib mir Antwort!« Ein wenig verwirrt wandte sich der Zylinderträger zu dem Parapsychologen. »Ihr seid Gefangene, weil ihr unberechtigt hier einge-
drungen seid. Wir konnten nicht davon ausgehen, dass einer von euch ein Kindeskind ist. Bestohlen hat euch niemand – alles wurde sichergestellt, was vernünftig ist, oder? Eure Kleidung war mit Krankheitserregern verseucht. Sie musste zerstört werden. Auch das werdet ihr verstehen.« Er machte eine Handbewegung, und einer der stummen Grünen bediente mit flinken Fingern eine kleine Schaltkonsole. Eine Klappe öffnete sich in der Wand. Dahinter konnte Zamorra Overalls erkennen – in sattem Grün … »Solltet ihr als positive Elemente eingestuft werden, erhaltet ihr natürlich neue Kleidung. Wir wissen, wie sehr Menschen darauf wert legen.« Der Grüne wandte sich wieder van Zant zu. »Deine Begleiter könnten jedoch durchaus als negative Elemente gewertet werden. Dann werden wir uns von ihnen trennen müssen.« Van Zant ahnte, was trennen bedeutete. Doch er blieb vorerst stumm. »Ich verstehe noch immer nicht, warum du nicht den Weg zum Strand gewählt hast?« Der Grüne redete in Rätseln, doch Professor Zamorra ahnte zumindest was gemeint war. Kindeskinder – offenbar sollten die anderen Nachkommen der Vita-Kinder auf einem ganz bestimmten Weg hierher gelangen. Und van Zant machte da eigentlich keine Ausnahme. Bis auf die Tatsache, dass er – wie jedes Mitglied des Zamorra-Teams – mental auf magischem Weg geschützt war. Er hatte die Flugbuchung vorgenommen, aber weiter hatte die Beeinflussung nicht reichen können. Seinen freien Willen hatte er behalten. Das konnte der Grüne natürlich nicht ahnen. Dem Physiker reichte es mit der belanglosen Rederei, die niemanden auch nur einen Schritt nach vorn brachte. »So, jetzt ist genug geredet. Warum bin ich hier? Was sind die Vita-Kinder? Wie viele von ihnen gibt es – und, und, und. Rede, Grüner – und dann befrei mich und meine Begleiter endlich von diesen Mistplatten, auf die ihr uns gebannt habt. War das klar und deutlich genug für dich?« »Ühgo – meine Name ist Ühgo, denn man hat mich erhöht, indem man mich benannte. Warum bist du so hastig in deinem Wollen?« Zamorra registrierte die an manchen Stellen recht eigentümliche Ausdrucksweise des Grünen. »Der Erste Rat wird bald erscheinen.
Dann werden die Kindeskinder alles erfahren, was die Zukunft ihnen bringen wird. Also sei ein klein wenig duldsamer. Ich bitte dich darum.« Ühgo wandte sich um, ehe das Kindeskind oder seine Begleiter eine Erwiderung machen konnten. Mit gemessenen Schritten verließ er den Raum. Es wurde Zeit, mit dem Pendler erneut zur Wasseroberfläche vorzudringen. Es warteten noch gut und gerne vier solcher Fahrten auf Ühgo. Erst dann würden alle Kindeskinder in der Station sein. Und dann würde »I« den Plan starten. Den Plan … Ühgo spürte ein seltsames Kribbeln in seinen Nackenmuskeln, wenn er daran dachte. Der Erste Rat hatte beschlossen, dass der Plan nicht gescheitert, nicht beendet war. Er lebte in den Kindern der Vita-Kinder weiter. Und die Zeit war gekommen, den Plan zu initiieren. »I« hatte die Macht, dies zu tun. Ühgo würde ihm gehorchen, ihm folgen und beistehen. Schließlich war dies seine Aufgabe, für die man ihn erhöht hatte. Ühgo betrat den Pendler, der von der Automatik ausgeschleust wurde. Die Kraft brachte ihn sanft nach oben. Ühgo fuhr sich mit einer Hand über den Nacken. Das Kribbeln ließ sich nicht beseitigen. Der Grüne konzentrierte sich auf das schwache Licht, das hoch über seinem Kopf von Sekunde zu Sekunde intensiver wurde. Die Oberfläche war fast erreicht. Er war froh, eine Aufgabe zu haben. Zu viel Grübeln erzeugte Zweifel. Zweifel, die ihm nicht zustanden. Er sollte es sich abgewöhnen, so viel zu denken. Das erledigte »I« schließlich für ihn mit …
Als die Kleidung der vierzig Menschen sich aufzulösen begann, war es beinahe zu Tumulten gekommen. Viermal hatte der so genannte Pendler je zehn von ihnen in diese Station gebracht. Man hatte sie in einen Saal geführt, den Mel instinktiv als eine Art Auffangstation betitelt hatte. Es gab pneumatische Liegen und Sessel, die sich perfekt auf Kör-
per und Gewicht einstellten. Es gab Getränke, sogar eine Art von Kraftnahrung, die Mel jedoch skeptisch verschmähte. Er trank nur etwas Wasser. Binnen kürzester Zeit waren sie allesamt nackt. Die Reaktionen der Anwesenden hätten kaum unterschiedlicher ausfallen können. Die einen versuchten weinend ihre Blöße zu verdecken, während andere lautstark protestierten, sich um ihre blanke Haut jedoch kaum kümmerten. Phyllis sah beschämt zu Boden, hielt sich jedoch ganz dicht bei Mel. Sie fühlte sich bei ihm zumindest ein wenig geborgen. Mel ärgerte sich über sich selbst, doch er kam nicht umhin zu bemerken, dass Phyllis eine verflixt schöne Frau war, deren Körper man die mehr als vierzig Lebensjahre einfach nicht ansah. Er versuchte, die Engländerin möglichst nicht anzustarren. Nur kurz darauf öffneten sich einige der Verkleidungsplatten an den Wänden. Die Menschen stürzten sich mehr oder weniger gierig auf das, was sie darin vorfanden. Es waren Overalls, die aus einem Material bestanden, dessen Eigenschaften Mel in Erstaunen versetzte. Stretchmaterial war natürlich keine sensationelle Neuheit – das gab es auf der Erde bereits eine lange Zeit. Doch diese Dinger waren sensationell. Eine Größe für dick, dünn, groß und klein. Das Material gab bereitwillig in alle Ausdehnungsrichtungen nach. Mel ließ es zwischen den Finger gleiten. Es machte einen beinahe halbstofflichen Eindruck. »Man hat unsere Kleidung vernichtet und uns sicher gleichzeitig bakterienfrei gemacht.« Mel nickte. Phyllis mochte richtig damit liegen. Die Engländerin versuchte so etwas wie ein Lächeln. »Hübsches Grün. Solange wir nicht auch noch Zylinder aufsetzen müssen.« Selbst in diesem Drillich sah sie überaus attraktiv aus. Einer der Männer hatte es geschafft, eine der Wandverkleidungen abzunehmen. Dahinter wurden Schaltungen, Kabelstränge und andere unverständliche Dinge sichtbar, die zumindest Mel nicht zuordnen konnte. Den anderen erging es wohl ebenso. Der Bastler zuckte jedenfalls mit den Schultern. »Ich dachte eigentlich, dass ich etwas von Tech-
nik verstehe. Aber das hier …« Er ließ den Satz unbeendet und setzte sich auf einen der Sessel. »Was wird mit uns geschehen, wenn sie alle hierher gebracht haben?« Eine dunkelhäutige Frau stellte die Frage laut in die herrschende Stille hinein. Niemand antwortete ihr. Mel spürte Phyllis' Hand, die sie in seine schob. Eine Geste der Ratlosigkeit. Auch Kinder nahmen sich bei den Händen, wenn sie mit ihrem noch jungen und unvollständigen Wissen am Ende waren. Nähe war dann der letzte Ausweg, den sie suchten. Die Nähe zu jemandem, von dem sie Hilfe und Antworten erhofften. Mel zog die Engländerin sanft zu sich heran. Ja, sie waren hier wirklich nicht mehr als Kinder. Hilflos und voller Angst. Dazu verdammt, auf das zu warten, was andere bereits für sie bestimmt, für sie entschieden hatten. Die Kinder der Kinder hatten keine andere Wahl.
Alpha Al Cairo zweifelte langsam an seinem eigenen Verstand. Seit annähernd drei Stunden hatte seine STERNENJÄGER ihre Position nun nicht mehr verändert. Warteposition für drei Menschen. Lächerlich für einen Alpha der DYNASTIE DER EWIGEN. Gut, er hatte Zamorra und seine Begleiter schließlich abgefangen und hergebracht. Doch es war ja wohl schlussendlich auch ihr Ziel gewesen; im Grunde hatte er ihnen einen großen Gefallen getan, ja, genau so war es. Und nun tat sich überhaupt nichts. Cairo resümierte für sich – die Gkirr waren vernichtet. Wenn ihr Ziel tatsächlich diese Station hier gewesen war, und davon konnte der Alpha wohl ausgehen, dann war es wohl um einen Vernichtungsschlag gegangen. Die Station musste über einen unglaublichen Ortungsschutz verfügen – oder zumindest verfügt haben, denn auch die DYNASTIE DER EWIGEN hatte sie bei ihren Erdbesuchen nie aufgefunden.
Warum also hatten die verfluchten Gkirr die Tiefseebastion zerstören wollen? Was Cairo an Technik aus dem Inneren der Station gesehen hatte, war ihm fremd. Absolut fremd. Also eine Fremdrasse, mit der die Gkirr im Clinch lagen? Offensichtlich, denn der Spürer hatte nicht den Anschein gemacht, einen Freundschaftsbesuch abstatten zu wollen. Für Cairo allerdings spielte es keine Rolle, welchen Part die Erbauer dieser Unterwasserfestung inne hatten. Von dem Moment an, da Magie die Bühne betreten hatte, war das nicht mehr sein Ding. »Commander, Zeitmessung seit unserem letzten Stopp: 180 Minuten Planetenzeit, gleich drei Gaia-Stunden, gleich …« »Ja, ja, ja … schon gut. Ich kenne die Zeiteinheiten. Meldung verstanden – und aus.« Cairo hatte die Anweisung gegeben, zu jeder vollen Erdenstunde informiert zu werden. Die Cyborgs nahmen seine Befehle sehr ernst. So gehörte sich das auch, doch bei deren Ausführung waren sie dem Alpha oft ganz einfach zu übereifrig, penetrant und in ihren Meldungen viel zu ausufernd. Cairo wusste genau, dass man dieses Problem kaum in den Griff bekommen würde. Die Cyborgs arbeiteten buchstabengetreu – »schöpfe Wasser aus dem See« hätte als Befehl die Auswirkung, dass besagter See in einen, trockenen Krater verwandelt würde. Bis zum allerletzten Tropfen. Und wenn dabei die ganze Ewigkeit vergehen musste … Aber das war nun sicher nicht das Thema. Das Thema hieß: Warum meldet Zamorra sich nicht? Wer oder was hinderte ihn daran? Und warum konnte auch von der STERNENJÄGER aus die Dreiergruppe nicht angemessen werden? Und: Wie lange sollte Cairo warten? Es juckte ihn in den Fingern, aus dieser Station einen kleinen Unterseekrater zu machen. Sollten der Professor und seine Begleiter nicht rasch Erfolg haben, würde Cairo dafür sorgen, dass kein zweites Gkirr-Geschwader den Weg hierher suchen musste. Was nicht mehr da war, konnte auch nur schlecht angemessen werden. Diese Philosophie gefiel dem Alpha – sie gefiel ihm sogar außerordentlich gut.
»Commander – Ortung – in östlicher Richtung. Ein … Gefährt, das sich mit niedriger Geschwindigkeit der Station nähert.« Cairo zog die Augenbrauen in die Höhe. War da ein Zögern in der Meldung des Ortungs-Cyborgs gewesen? »Was, bitte sehr, habe ich unter Gefährt zu verstehen? Ein wenig deutlicher, ja?« Der Cyborg legte das Ortungsbild direkt auf Cairos Schirm. Der Alpha sah, wie das Objekt herangezoomt wurde, bis die maximale Vergrößerung erreicht war. Dann verstand er das Zögern in der Meldung. Gefährt … wie anders hätte man es auch ausdrücken sollen? Cairo sah eine Kugel, Luftblase, Sphäre oder was auch immer, die geradezu majestätisch in die Tiefe schwebte. Oder fiel sie? Cairo war sich nicht sicher. Sicher war er jedoch, dass sich im Inneren Menschen befanden. Oder doch zumindest humanoide Lebensformen. »Eliminieren, Commander?« Der Cyborg an der Waffensteuerung wartete einige Sekunden. Als er keine Antwort erhielt, fragte er erneut nach. »Befehlen Sie die Vernichtung, Alpha?« Cairo atmete tief durch. Die ganze Sache entglitt seiner Kontrolle. Was, wenn Zamorra sich dort in diesem Ding befand? Das Bild war nicht klar genug – einzelne Personen konnte man nicht erkennen. »Nein, ignorieren. Wir warten ab. Weiter beobachten, aber ansonsten ignorieren.« Cairo traf für sich eine Entscheidung. Weitere drei Stunden wollte er Zamorra zugestehen. Das war mehr, als man von ihm erwarten konnte. Sollten die drei dort umkommen, wäre es irgendwie schade um den Professor. Weniger um seine Begleiterin, deren Mundwerk Cairo mit Vergnügen einmal heftig gestopft hätte. Und dieser … Doktor van Zant … Manchmal wunderte sich der Alpha über seine eigene unermessliche Geduld und Güte. Cairo sah auf den Zeitgeber. Die Minuten vergingen rasch. Zamorra sollte sich besser beeilen. Schließlich hatte der Alpha noch andere Dinge zu erledigen …
Es wäre für Professor Zamorra eine Kleinigkeit gewesen, Merlins Stern zu sich zu rufen. Im gleichen Augenblick wäre das Amulett in seiner Hand materialisiert. Doch was sollte ihm das in dieser Situation helfen? Die Silberscheibe hatte vorhin auf die Magie, mit der man sie angegriffen hatte, in keinster Weise reagiert. Sie hätte Zamorra schützen und zur gleichen Zeit einen Gegenangriff starten müssen. Nichts von alledem war geschehen. Und das lag in diesem Fall ganz sicher nicht an einer der immer wieder einmal vorkommenden Ausfallerscheinungen, die Zamorra schon oft das Leben – das Überleben – schwer gemacht hatten. Nein, es lag ganz eindeutig an der Art der hier verwendeten Magie. Nicht weiß, nicht schwarz, nicht gut oder böse. Und auch keine der existierenden Zwischenschattierungen. Das hier war anders. Eine vollkommen eigenständige Variante. Und die war für den Parapsychologen nicht gänzlich neu. Er kannte sie, hatte es mit ihr zu tun gehabt. Mehr sogar noch: Er hatte mit ihr kooperiert, sie sich zu Nutze gemacht! Doch das spielte für den Augenblick noch keine Rolle. Zamorra war sich seiner Sache da noch nicht vollständig sicher. Zu einer wirklichen Analyse war hier wohl weder der Ort noch die Zeit. Zeit – sie brannte ihm auf den Nägeln. Er wusste nicht, wie lange Cairo sich in seiner STERNENJÄGER gedulden mochte. Der Alpha war in Zamorras Augen unberechenbar. Ein Vulkan von einem EWIGEN! Insofern ein absoluter Ausnahmetyp, denn die meisten EWIGEN hatten eher den Hang zur Trägheit. Nazarena Nerukkar ähnelte Cairo mehr, als dem das lieb sein konnte. Die ERHABENE war ganz sicher nicht umsonst an die DYNASTIE-Spitze gekommen; ihr Ehrgeiz und der von Al Cairo trugen ganz ähnliche Züge. Gut, dass sie kein Team waren, denn gemeinsam mochten sie eine echte Bedrohung für die Erde darstellen. Artimus verhielt sich auf seiner Scheibe seit einiger Zeit ruhig. Der
Physiker war vernünftig genug, um zu begreifen, dass ihm jetzt auch die derbsten Südstaatenflüche nicht weiterhelfen konnten. Zamorra war sicher, dass sich van Zant mit der Technik beschäftigte, die hier überall offen zu sehen war. Nicole wandte den Kopf in Zamorras Richtung. Sie hatte längst bemerkt, dass ihre Bewachung lediglich aus fünf der stummen Grünen bestand. Man war sich wohl sehr sicher, die Menschen auf Nummer sicher zu haben. »Fällt dir etwas ein?« Damit war eigentlich alles gesagt. Nicole jedenfalls schien mit ihrem Latein am Ende zu sein. »Ich sehe keine Möglichkeit, an unsere Waffen zu gelangen, wenn du das meinst.« Er machte sich nicht die Mühe, leise zu reden. Wozu auch? Es gab nichts zu sagen, was nicht jeder hier hätte mithören dürfen. Im Gegenteil – Zamorra hoffte sogar, dass der wirkliche Herr dieser Station ihn verstand, wenn er denn lauschen sollte. »Dieser ominöse Erste Rat wird nicht lange auf sich warten lassen. Dann sehen wir weiter.« »Ich hoffe, er beeilt sich.« Nicole hatte Zamorras Strategie verstanden und spielte voll mit. »Ein Kampfraumer der DYNASTIE DER EWIGEN kann verflixt ekelig werden, wenn man ihn an der falschen Stelle kitzelt. Und erst sein Commander … Mit dem würde ich mich nicht anlegen.« Wenn sie mit einer Reaktion gerechnet hatten, wurden sie zunächst enttäuscht. Nichts geschah. Zamorra startete unbemerkt von den beiden anderen den Versuch, zunächst einmal etwas an seiner Bewegungseinschränkung zu ändern. Er hasste es, zur absoluten Passivität verdammt zu sein. Er wollte agieren. Zumindest aber wollte er in der Lage sein, im Notfall zu reagieren, doch selbst dazu hätte ihm im Moment jede Möglichkeit gefehlt. Es war nichts Spektakuläres, was er versuchte. Zumindest im Vergleich zu den magischen Fähigkeiten, über die er mit Merlins Stern oder seinem Dhyarra verfügte. Der Parapsychologe griff tief in die Kiste der Zaubersprüche, die ihm hier nützlich sein konnten. Minutenlang murmelte er Worte, deren Sinn jedem Uneingeweihten verschlossen bleiben mussten – und er bediente sich dabei Sprachen, die seit Urzeiten vergessen und aus dieser Welt verbannt waren.
Seine Finger, die er ja immerhin bewegen konnte, zeichneten die seltsamsten Figuren in die Luft. Ganz kurz stieg aus seinen Fingerkuppen Rauch, eine winzige Flamme züngelte empor – doch sie erlosch im gleichen Moment wieder. Zamorra ließ sich erschöpft nach hinten sinken. Sinnlos. Mit seiner Magie erreichte er hier nichts. Es war so, wie er es schon vorhin empfunden hatte. Diese fremdartige Magie überlagerte hier alles, neutralisierte jeden seiner Versuche. Magie war für ihn also nicht der Schlüssel, den er benötigte, wenn er die Tür zur Lösung dieser rätselhaften Station öffnen wollte. Er gab es nur ungern zu, aber ein Blaster würde ihm jetzt um einiges nützlicher sein. Beinahe sehnsüchtig sah er zu der Plattform, auf der die Ausrüstung fein säuberlich abgelegt war. Das Ende der Untätigkeit kam dann viel überraschender, als die drei Menschen es sich erhofft hätten. Erneut ertönte über ihren Köpfen das schwache Summen, das zur Auflösung ihrer Kleidung geführt hatte. Doch in diesem Fall löste es nichts Stoffliches auf – nur das wache Bewusstsein von Zamorra, Nicole und Artimus van Zant. Erneut legte jemand in ihren Köpfen einen Schalter um. Und wieder war da nur tiefe Schwärze.
Mel Amber und Phyllis York ließen sich nicht voneinander trennen. Einen ernsthaften Versuch machte auch niemand in diese Richtung, doch als drei grüne Humanoide die vierzig Menschen mit Gesten aus ihrem Aufenthaltsraum dirigierten, schafften es die beiden, dass sich niemand zwischen sie drängen konnte. Mel starrte die Grünen direkt an, als er mit Phyllis an ihnen vorbeiging. Sie waren äußerlich identisch mit diesem Ühgo. Dennoch schienen sie geistig auf einem niedrigeren Niveau zu liegen. Jeglicher Ausdruck fehlte in ihren Gesichtern – die Mimik entbehrte aller Emotionen. In Phyllis' Augen konnte er erkennen, dass sie große Angst vor diesen Gestalten hatte. Es war schwer zu akzeptieren, dass dies alles kein Albtraum sein sollte. Ein fleischgewordener Horrortrip blieb es
dennoch. Mel konnte Phyllis' Empfindungen sehr gut verstehen. Die Menschen verließen in völligem Schweigen den Raum, in dem sie zumindest unter sich gewesen waren. Schweigen, das aus Angst und Unsicherheit geboren war. Furcht vor dem, was auf sie warten mochte. Nur wenige Meter, dann bog der breite Gang nach rechts ab. Vor ihnen öffnete sich ein weitausladender Raum, dessen Decke sich kuppelförmig über ihnen wölbte. Und diese Kuppel war durchsichtig wie die gläserne Sphäre, mit der man sie alle hierher gebracht hatte. Mel begann die enormen Ausmaße der Station zu erahnen. Dieser Kuppelsaal war nur die obere Ebene der ganzen Anlage, die sich entsprechend nach unten hin erheblich verbreitern musste. Wer das auch erbaut hatte, er durfte sich einen wahren Meister der Konstruktion und Architektur nennen, besonders in Hinsicht auf den ungeheuren Wasserdruck, der auf das Bauwerk einwirkte. Ein großer und mehr als wohlgenährter Mann gesellte sich zu ihnen, der zwar beinahe eine Glatze hatte, am Hinterkopf jedoch einen langen, mit einem Lederband gehaltenen Zopf aufwies. Er trug ebenfalls den grünen Overall. Die zwei anderen Menschen – ein Mann und eine außerordentlich gut geformte Frau – waren unbekleidet und wurden von einem Dutzend der Humanoiden bewacht, von denen noch weit mehr anwesend waren; sie standen unbeweglich an den Wänden, als würde sie das alles überhaupt nicht interessieren. In der Mitte des Saales schwebte eine Plattform gut einen Meter über dem Boden. Auf ihr stand Ühgo, der den korrekten Sitz seines lächerlichen Zylinders überprüfte. Mel mochte sich täuschen, aber es schien ihm, als würde der Grüne ein unzufriedenes Gesicht ziehen. Dazu war er nämlich im Gegensatz zu seinen Artgenossen sehr wohl in der Lage. »Ich grüße nun alle Kindeskinder. Endlich seid ihr alle hier. Es ist nun an der Zeit, dass der Erste Rat, der euch seinen Ruf gesandt hat, den Plan in eure Köpfe und Herzen bringt.« Die Schwebeplatte sank zu Boden. Ühgo gesellte sich zu den Menschen, die alle wie gebannt auf die Mitte des Saales starrten. Mel konnte die Anspannung der anderen regelrecht fühlen, doch er ent-
zog sich dieser kollektiven Erwartung, die sich plötzlich breit zu machen schien. Standen sie wieder unter der geistigen Kontrolle von … ja, von wem? »Zirkusvorstellung. Verdammt, wenn ich nur den Blaster hätte.« Mel wandte sich um. Hinter ihm stand der Mann, der als Letzter zu ihnen gestoßen war. Offenbar ließ auch er sich von diesem seltsamen Syndrom nicht anstecken. Zwei der Grünen flankierten den großen Mann, bereit, ihn aus der Gruppe zu entfernen, wenn er nicht schweigen würde. So zumindest interpretierte Mel die Szene. Was stimmte hier nicht? Wie aus dem Nichts heraus erschien die Antwort auf seine Fragen – mitten im Raum und ebenfalls auf einer Plattform schwebend. Das konnte nur dieser Erste Rat sein. Da gab es für Amber keine Zweifel. Ein Mensch – immerhin. Mel hatte schon die wildesten Befürchtungen. Der Mann trug ebenfalls einen dieser Overalls, doch der seine strahlte in einem feurigen Rot. Besonders groß war er nicht, sicher nicht mehr als 175 Zentimeter; sein Körperbau war kräftig und muskulös, seine Schultern breit, der Hals ein wenig zu kurz geraten. Am auffälligsten schien Mel seine breite Nase und die Augen, die in einem kalten Grau jeden einzelnen der Anwesenden fixierten. Als sie Mel trafen, lief dem Musiker ein Schauer über den Rücken. Augen sind das Fenster zur Seele, sagt man. Wenn dem so war, dann fror die Seele dieses Mannes unter einer dicken Schicht aus Machthunger und Gefühlskälte. Seine Stimme hingegen klang warm und einnehmend, als er endlich zu sprechen begann. Und Mel bemerkte erneut, wie weit die meisten der Kindeskinder bereits im Bann dieser irrealen Situation gefangen waren. Selbst Phyllis schien sich da nicht ausnehmen zu können. Warum er? Vor allem – wie lange würde er sich dem entziehen können? Mel kämpfte. »Kinder meiner Brüder und Schwestern – Kindeskinder der Vita. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre um das Wissen eurer Existenz betrogen worden. Doch meine Augen haben euch gefunden.
Ich bin der Erste Rat – ich bin ›I‹. Ich habe gerufen, ihr seid gefolgt.« »Sicher nicht so ganz freiwillig, oder?« Der Zwischenruf kam von dem Mann, der mit der Frau von den Grünen gefangen gehalten wurde. Ein heftiger Schlag traf ihn auf den Mund. Die Frau begann sich nach Leibeskräften zu wehren, doch sie hatte keine Chance. Aus dem Mundwinkel des Mannes lief ein dünnes Blutrinnsal. »Mit euch beschäftige ich mich gleich.« Ein kaltes Lächeln machte sich auf dem Gesicht des Mannes breit, der sich auf seiner Schwebeplatte nicht einmal zu den Störern umgesehen hatte. Mel blickte nach links. Dort – nur wenige Meter von ihm und Phyllis entfernt – stand Ühgo. Der Grüne schien zur Salzsäule erstarrt. In seinem Gesicht rührte sich kein einziger Muskel. Etwas ging in ihm vor. Mel würde ihn im Auge behalten. »Der Plan beginnt heute. Hier und jetzt. Eure Eltern waren dazu erschaffen, mit ihrem ungeheuren Wissen die Machtstellen dieser Welt zu besetzen. Und ihr werdet gemeinsam mit mir dieses Erbe nun antreten.« Der Riese hinter Mel schob ihn wie eine Puppe beiseite und trat aus der Gruppe der Kindeskinder hervor. Nur wenige Meter vor der Plattform blieb er stehen. »Sind wir hier im Comic? Oder hast du zu viele Mangas im TV gesehen, Mann? Der Bösewicht, der die Macht über die Erde begehrt. Mach mal halblang, okay? Und nun rück mit der Sprache heraus. Wir alle hier wollen etwas über unsere Väter und Mütter von dir erfahren. Nicht mehr, nicht weniger. Und dann ziehen wir uns diese Spielhöschen aus und gehen nach Hause.« Mel fürchtete, dass der mutige Bursche zu weit gegangen war. Der Blick des Mannes, der sich selber als »I« bezeichnet hatte, wurde starr. Dann hob er die rechte Hand – und der Aufmüpfige sackte leblos zu Boden. Die beiden Gefangenen begannen zu toben – ihnen erging es in der nächsten Sekunde nicht besser. Die Grünen legten die drei leblosen Körper nebeneinander. »I« betrachtete sie nachdenklich von oben herab. »Schade, ein Kindeskind wird uns nun verlassen. Aber fürchtet euch deshalb nicht, ihr anderen. Wir sind stark genug, das zu kom-
pensieren.« Er machte eine Bewegung mit dem Kopf. Drei Grüne schulterten die Besinnungslosen und trugen sie aus dem Kuppelsaal. Mel ahnte, dass er sie nicht lebend wiedersehen würde. Sie alle würden sterben … der Kerl dort war ein Wahnsinniger. Doch Mel schwieg. Nicht jetzt – nur nicht auffallen. Unruhe war unter die Anwesenden gekommen. Mel sah im Blick von »I«, dass der sich alles ein wenig anders vorgestellt hatte. Diese Störung brachte ihn aus dem Konzept. Vielleicht war das noch einmal eine Chance für sie alle. Mel ahnte, dass es nicht mehr viele Chancen geben konnte. »I« hatte sich wieder unter Kontrolle. Zumindest schien es so. »Ihr müsst euch beruhigen, meine Kinder. Unsere Aufgabe ist groß. Wir müssen uns konzentrieren. Das Potential in euch ist mächtig, doch nur im Verbund reicht es aus, um die wahre Kraft freizusetzen. Die Erde braucht uns, sonst ist sie verloren.« Mel begriff nichts mehr. Von einem Augenblick zum anderen mutierte dieser »I« vom Diktator zum Retter der Welt. Mel blickte zu Ühgo. Er sah gerade noch, wie sich der Zylinderträger aus dem Saal stahl. Ja, stahl – Ühgo war bestrebt, ungesehen zu verschwinden. Und zwar in die Richtung, in die man die drei Bewusstlosen gebracht hatte. Mel sah in Phyllis' Gesicht. Sie schien nun auch vollkommen im Bann dieses Burschen dort vorn zu sein. Es blieb dem Musiker keine Wahl – er musste sie hier zurücklassen. Vorsichtig begann er sich rückwärts zu bewegen. Dass er dabei auf unzählige Füße trat, interessierte ihn nicht. Die getretenen Menschen offenbar auch nicht, denn niemand beschwerte sich. Sie waren nur noch Marionetten von »I«! Woran mochte es liegen, dass er, Mel Amber, sich dem entziehen konnte? Er musste das jetzt als gegeben hinnehmen, als verdammt glücklichen Umstand. Mel schaffte es, unbemerkt den Ausgang zu erreichen. Nicht einmal die Grünen, die überall herumstanden, beachteten ihn. So rasch er nur konnte, machte er sich an die Verfolgung von Ühgo. Instinktiv wusste Mel Amber, dass er nur von ihm Antworten erhalten konnte.
Und Antworten waren genau das, was er nun dringend benötigte. Die Wahrheit – etwas anderes konnte hier nun niemandem mehr helfen.
Ühgo hastete den breiten Gang entlang. Er, der sich stets um eine angemessene Art der Bewegung bemüht hatte, die seiner Ansicht nach dringend zum Status des Erhöhtseins gehörte, hatte nun erhebliche Probleme mit seinen Gehwerkzeugen. Nur zu gerne wäre er in einen gemessenen Schritt verfallen. Er spürte deutlich die brennenden Stiche an seiner Hüfte. Mit einer Hand hielt er die ganze Zeit über den Zylinder fest, der immer wieder von seinem Kopf rutschen wollte. Und trotz allem holte er das Letzte an Energie aus seinem Körper heraus. Es musste sein, wenn er noch rechtzeitig sein Ziel erreichen wollte. Ühgo musste verhindern, was »I« angeordnet hatte. Es war falsch! Der Grüne schnaubte; vor seinen Augen tanzten helle Lichtpunkte einen wilden Reigen. Er blieb stehen, stützte sich an der Gangwand ab. Tief atmete er durch, versuchte seinen Körper zu einer künstlichen Ruhe zu zwingen. Es war falsch! Ühgo stolperte weiter. Man hatte ihm keinen Namen gegeben, ihn nicht erhöht, damit das alles hier nun in die falsche Richtung verlief. Das konnte unter keinen Umständen im Sinn derer sein, die den Plan in die erste Phase gebracht hatten. Wenn »I« wusste, welchen Wissensstand Ühgo hatte, wie konnte er dann glauben, dass der Grüne, der als Wartender die Station bewacht und in Stand gehalten hatte, der ihn – den Schlafenden – bewacht und behütet hatte, schweigend zusehen würde? Zusehen, wie ein großes Unrecht, ein gewaltiger Verrat an der Sache geschah! Die tanzenden Sterne vor Ühgos Augen wollten einfach nicht verschwinden; die Luft in den Lungen des Grünen brannte wie flüssi-
ges Feuer. Wenn er so weiterhetzte, würde er nach wenigen Metern zusammenbrechen. Wenn er aufgab, starben drei Lebewesen – drei Menschen, auf die Ühgo seine ganzen Hoffnungen setzte. Drei, die nicht unter dem Einfluss des Schläfers standen. Erneut gestattete er sich eine winzige Verschnaufpause. Das Rauschen in seinen Ohren wurde zu einem angsteinflößenden Brummen. Er würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Letztlich musste er hier versagen. Ühgo schrie in heller Panik auf, als ihn plötzlich etwas an der Schulter berührte. Er wirbelte herum – und sah in das Gesicht eines der Kindeskinder. Er erinnerte sich an den Mann. Er hatte zur ersten Gruppe gehört, die mit dem Pendler zur Station gekommen war. Ühgo sah die Augen seines Gegenübers. Und darin war nur zu deutlich ein freier Wille zu erkennen. »Was tust du hier, Kind …« Mel Amber unterbrach den Grünhäutigen. »Schluss mit Kind und Kindeskind. Meine Name ist Mel. Und was ich hier tue? Das könnte ich genau so gut dich fragen? Hören wir mit dem Versteckspiel auf. Dieser ›I‹ ist ein Wahnsinniger, habe ich Recht?« Ühgo antwortete ihm nicht, doch seine Körperhaltung sprach eine deutliche Sprache. Der Grüne stimmte Mel zu. »Also – wohin bringt man die drei Gefangenen? Was geschieht mit ihnen? Los, Mann, wir haben keine Zeit mehr für Spielchen.« Ühgo nickte. »Hilf mir! Ich bin körperlich an meinen Grenzen angelangt. Stütze mich ein wenig, dann schaffen wir es vielleicht doch noch. Da entlang!« Der Gang führte hier steil nach unten, schien in die nächsttiefere Ebene zu führen. Der Grüne legte einen Arm um Mels Schultern, ließ sich von dem Musiker mitschleppen. Nach relativ kurzer Zeit stoppte er. »Jetzt geht es wieder alleine. Ich danke dir, Kind … Mel. Hinter der nächsten Biegung liegt einer der vier Energiezentralen der Station. Dorthin bringt man die Gefangenen. Schnell jetzt, vielleicht kommen wir ja nicht zu spät!« Was Mel nur Sekunden später vor sich sah, ließ ihn jedoch heftig
an Ühgos Hoffnung zweifeln.
Artimus van Zants Bewusstsein war ebenso übergangslos wieder voll da, wie es ihm vorhin regelrecht ausgeknipst worden war. Aus – an … das war so, als würde man über einen schlafenden Menschen einen Kübel mit Eiswasser auskippen. Artimus würgte. Sein Magen rebellierte, weil sein Gehirn diesem Stress ausgesetzt war. Mit Mühe konnte er verhindern, dass er sich hier heftig übergab. Als er sich wieder einigermaßen im Griff hatte, realisierte er die Lage, in der er und Zamorra und Nicole sich befanden. Und er begriff, dass er mit ziemlicher Sicherheit nie wieder Magenschmerzen haben würde. Die drei befanden sich auf einer dieser Schwebeplatten, deren Durchmesser jedoch um einiges größer als bei den ihn bekannten war. Sie bot ausreichend Platz für sicherlich sechs oder sieben menschliche Körper. Oder eben für Gegenstände, die man mit ihr transportieren wollte. Denn nichts anderes war sie – ein Transportmittel, das zu einem Schacht führte. Über diesem Schacht wölbte sich ein grellweißer Lichtbogen, der links und rechts in Maschinenblöcken verschwand. Energieversorger für einen Konverter, wie van Zant sofort vermutete. Diese Station arbeitete autark. Selbst wenn sie über ungeheure Energielieferanten verfügte, die wie auch immer technisch geartet sein mochten, war sie auf Dauer doch auf Recycling angewiesen. So ein geschlossenes System konnte es sich nicht erlauben, auf die noch so kleinste Rückführung in den Kreislauf zu verzichten. Van Zant hatte sich lange mit ähnlichen Konzepten beschäftigt – sie alle wiesen das exakt gleiche Grundschema auf. Rückführung in den Energiekreislauf – so lautete eine der entscheidenden Formeln dabei. Diese Plattform war sicher nicht in erster Linie dazu gedacht, Lebewesen in den Schacht zu transportieren, der sich unter dem Lichtbogen weit öffnete. Es war da bestimmt eher an totes Material gedacht worden, doch man war hier wohl nicht so wählerisch, was das Schüttgut anging. Und das Schüttgut, das waren in diesem Fall die
drei Freunde! »Könnt ihr euch bewegen?« Noch hing die Plattform starr über dem Boden, bewacht von gut einem Dutzend der grünen Humanoiden. Zamorra wandte den Kopf zu van Zant. »Du bist wach – endlich. Anscheinend haben Nicole und ich mehr Übung im Aufwachen nach derartig unfreundlichen Aktionen. Und – nein, wir kleben hier fest wie die Fliegen am Leimtopf.« Van Zant sah, dass ihre komplette Ausrüstung – vom Blaster bis hin zu Merlins Stern – keine fünf Meter von ihnen entfernt auf dem Boden lag. Anscheinend wollte man sich auch dieser Gegenstände entledigen, da man mit ihnen nichts anzufangen wusste. Nicole erriet Artimus' Gedanken. »Leider verfügen wir über keinerlei telekinetische Begabung. Was würde ich jetzt für einen Blaster geben … oder für meinen Dhyarra. Die Hände kann ich schließlich bewegen.« Wie beim ersten Mal, war es in erster Linie der menschliche Rumpf, der auf dieser Schwebeplatte absolut bewegungsunfähig war. Kopf und Hände ließen sich in gewissem Umfang durchaus heben und senken. Einen Nutzen konnten die Gefangenen daraus jedoch nicht ziehen. Zamorra sah zu van Zant. »Du kannst dir ja denken, was die mit uns vorhaben, oder?« Ihm war klar, dass der Physiker und TechnikFreak längst die Lage durchschaut hatte. »Zum ersten Mal im Leben hoffe ich, dass ein Alpha die Geduld verliert.« »Wenn Al Cairo die Station angreift, bleibt entweder von ihm oder von uns nichts übrig. Ich möchte auf beide Varianten keine Wetten abgeben.« Van Zant glaubte nicht an ein rettendes Eingreifen des EWIGEN. »Zumindest könnte das Verwirrung stiften. Und vielleicht einen Aufschub für uns. Als Energielieferung im Sinne des Wortes wollte ich eigentlich nicht enden.« Nicoles Humor klang gequält. Ohne jeden erkennbaren Ansatz setzte sich die Plattform in Bewegung. »Verdammt, Zamorra, was ist mit deinen Zaubersprüchen? Lass dir einen passenden einfallen!« Van Zant spürte, wie sich Panik in ihm ausbreitete. Von gespielter Gelassenheit war da nun keine Spur
mehr. So wollte er nicht sterben. »Sinnlos, Art. Alles schon versucht. Meine Magie wird hier vollständig überlagert. Wenn uns nun kein Wunder in Form Al Cairos zu Hilfe kommt …« Die Plattform bewegte sich mit quälend langsam, als solle die Angst der Delinquenten so gesteigert werden. Der Grund für die geringe Geschwindigkeit war sicher ein anderer – etwas von dem Schüttgut hätte trotz Fesselstrahl bei hoher Geschwindigkeit zu Boden fallen können, da ja nicht die komplette Fläche gesichert wurde. Doch den Menschen erschien es wie eine zusätzliche Psychofolter. Van Zant schloss die Augen. Noch zwei Meter, dann war es vorbei. Und so oft er in der jüngsten Vergangenheit dem Tod auch von dessen Schippe hatte springen können, hier endete wohl diese Glückssträhne. Und mit ihr van Zants Leben. Die Grünen, die hier wohl so etwas wie ein Exekutionskommando bildeten, trotteten neben der Plattform her, blieben jedoch nun zurück, da der Schacht bedrohlich nahe kam. Zamorra und Nicole wollten sich nicht aufgeben. Mit ihren ganzen Kräften stemmten und bäumten sich die beiden gegen die unsichtbaren Fesseln. Es blieben verzweifelte Versuche, mehr nicht. Und in diesem Augenblick entschied van Zant, mit geöffneten Augen sein eigenes Ende zu erleben. Aus den Augenwinkeln registrierte er, wie die Grünen ihren Begleitgang beendeten. Und dann vernahm er das knackende Geräusch, das so gar nicht zu der Situation zu passen schien. Einmal, zweimal – und der Körper eines Grünen taumelte seitlich gegen die Plattform, konnte die Kontrolle nicht wiederfinden und verschwand am ganzen Körper übersät von winzigen Blitzen kopfüber in dem Schacht. Ein zweiter Körper krachte gegen die Plattform, brachte sie ins Schwanken. Artimus sah, wie sich eine grüne Hand über den Rand der Platte schob, wieder abrutschte und verschwand. Schüsse? Natürlich – das waren Schüsse aus einem E-Blaster. »Verdammt, wer da auch sein mag: Umschalten auf Energie, schnell! Schießt auf die Plattform!« Zamorra schrie, so laut er nur
konnte. Alles spielte sich im Rücken der drei Menschen ab. Es war ihnen nicht möglich, die Köpfe zu drehen. Sie konnten nur hoffen, dass es wirklich Hilfe war, die da eingriff. Oder war es nur ein durchgeknallter Grüner, der da mit den Blastern spielte? »Umschalten? Wie?« Zamorra kannte die Stimme nicht, die ihm da antwortete. Doch das war ihm in dieser Sekunde vollkommen gleichgültig. »Taster von Grün auf Rot! Schnell!« Noch immer schwankte die Plattform leicht, doch sie setzte unbeirrt ihren Weg fort. Knapp ein Meter noch … Ein Schlag schüttelte die drei Menschen durch. Irgendetwas hatte die Platte empfindlich und hart getroffen. Ruckartig kippte sie zur Seite weg. Und exakt in dieser Sekunde existierte die Fesselung nicht mehr. Zamorra, Nicole und van Zant wurden mehr als unsanft von ihrer Unterlage abgeworfen, doch das interessierte die drei nicht. Sofort waren sie auf den Beinen. Nicole machte zwei lange Schritte und riss die beiden Blaster an sich, die dort achtlos auf dem Boden lagen. »Zamorra!« Eine der Feuerwaffen flog durch die Luft, landete präzise in der rechten Hand des Parapsychologen. Und der feuerte sofort! Zwei der Grünen brachen tödlich getroffen zusammen. Zum Umschalten auf Paralysestrahl hatte dem Professor die Zeit gefehlt. Erstaunt registrierte er, dass die nadelfeinen Hochenergiestrahlen absolute Wirkung zeigten. Als sie in die Station eingedrungen waren, da waren bei ersten Aufeinandertreffen mit den Grünen alle Feuerstöße ganz einfach durch die Körper der Angreifer gedrungen. Wie er schon vermutet hatte: alles nur eine magisch erzeugte Illusion. Das hier jedoch war die harte Realität. Und die bekamen die Grünhäutigen nun zu spüren. Kopflos flohen sie aus der Halle. Erst jetzt konnten die drei erkennen, wer ihnen das Leben gerettet hatte. Den Mann, der mit zitternden Händen den Blaster hielt, hatte van Zant schon mal gesehen. Er erinnerte sich vage, dass er vorhin in der
Kuppelhalle direkt vor dem Physiker gestanden hatte. Bereitwillig übergab der Mann die unheimliche Schusswaffe dem Südstaatler. »Mel. Ich meine, mein Name ist Mel Amber. Wir müssen etwas gegen diesen Wahnsinnigen unternehmen. Keine Ahnung was, aber da geschehen seltsame Dinge …« »Und du bist nicht beeinflusst davon?« Van Zant wunderte sich. Doch auch das spielte im Augenblick keine Rolle. Wichtig war nur, dass es so war, sonst wären Zamorra, Nicole und er nun bereits reine Energie. »Du bist uns gefolgt?« »Aber nicht allein. Ohne ihn hätte ich euch doch hier nie gefunden. Das ist hier ein Labyrinth.« Zamorra hob instinktiv den E-Blaster, als der Grüne aus seiner Deckung trat. Als er linkisch und mit einem entschuldigenden Lächeln die Karikatur eines Zylinderhutes kurz anlupfte, brach Nicole in ein leicht hysterisches Lachen aus. Das war Slapstick! Und unter anderen Umständen hätte auch Zamorra seinen Spaß an dieser Gestalt gehabt, doch sie schwebten nach wie vor alle in größter Gefahr. »Du bist doch dieser Erhöhte, nicht wahr?« Zamorra blieb äußerst vorsichtig, denn Ühgo war schließlich so etwas wie die rechte Hand von diesem »I«. »Warum solltest gerade du uns helfen wollen? Ich traue dir nicht, Grüner. Sag, was du zu sagen hast. Und sag es möglichst überzeugend.« Der Parapsychologe hielt den Finger nahe am Abzug des Blasters. Ühgo schien von der auf ihn gerichteten Waffe unbeeindruckt. »Wenn mein Dasein mit Gewalt beendet werden soll, dann macht das für mich keinen Unterschied, denn ich dürfte ja bereits nicht mehr leben. Es ist falsch, was hier geschieht. Es hätte alles bereits ein Ende finden müssen.« Er machte eine alles umfassende Bewegung mit seinen Händen. »Das alles hier sollte nicht mehr existieren. Die letzte Phase ist vorüber. Der Plan sollte nicht beginnen. Wir müssen verhindern, dass der Schläfer ihn nun doch startet. Die Gefahr ist ungeheuer groß. Wir …« Zamorra stoppte den Redefluss Ühgos mit einer Handbewegung. »Ich habe eine leise Ahnung, worüber du sprichst. Doch das müssen wir ihm verdeutlichen, nicht uns. Also, wir sollten schleunigst
zur Kuppelhalle zurück. Vielleicht fällt uns auf dem Weg etwas ein.« Ühgos Blick glitt an Zamorra entlang. »Ich bitte bemerken zu dürfen, dass Sie noch immer bar jeder Bekleidung sind.« Zamorra hörte im Geiste seinen Butler sprechen. Aber Ühgo hatte Recht. So würden sie nur unnötig früh auffallen. Der Grüne trat an eine Wandverkleidung und betätigte irgendeinen versteckten Kontakt. Erneut öffnete sich eine der Platten und gab einen tiefen Hohlraum frei, in dem unter anderem einige dieser seltsamen Overalls lagen. Eine Minute später unterschieden sich Zamorra und Nicole äußerlich nicht mehr von den Kindeskindern. Zamorra hatte sich Merlins Stern um den Hals gehängt, Nicole war wieder im Besitz ihres Dhyarras. Die Französin blickte wenig begeistert an sich herab. »Sitz wie eine zweite Haut. Aber diese Farbe …« Zamorra enthielt sich jeder Antwort darauf. Sie folgten Ühgo, der sie zielsicher in die Kuppelhalle bringen würde. Was dort geschehen sollte, war Zamorra noch immer ein Rätsel.
Je näher sie der Kuppelhalle kamen, um so stärker wurde das Summen in Mel Ambers Ohren. Natürlich wusste er, warum es in seinen Ohren summte und rauschte. Doch manchmal dachte er einfach wochenlang nicht an dieses Symptom. Warum es ihm gerade hier wieder so deutlich wurde, verstand er zwar nicht, doch es mochte mit dem psychischen Druck zusammenhängen, dem er hier nun einmal ausgesetzt war. Er verdrängte diese Gedanken einfach. Jetzt ging es um andere Dinge. Mel und Ühgo betraten ungehindert den Kuppelsaal. Sie gehörten schließlich hierher. Zamorra und Nicole drückten sich so unauffällig wie nur möglich an den Grünen vorbei, die überall standen. Doch auch sie wurden mit keinem einzigen Blick beachtet. Niemand hatte hier für etwas anders Aufmerksamkeit als für den
Mann, der in der Mitte des Raumes auf seiner Schwebeplatte stand. Mel blickte zu van Zant. Der Südstaatler war ebenfalls unbehelligt eingetreten. Wo waren die Grünen geblieben, die sie beim Konverter in die Flucht getrieben hatten? Sie mussten doch Alarm schlagen. Dann war sowieso alles vorbei. Ühgo stand direkt neben Mel. »Ich weiß, dass du dir Sorgen um die Wartenden machst. Sie irren nun sicher durch die Station.« Als er Mels ungläubigen Blick bemerkte, setzte Ühgo hinzu: »Sie können nicht eigenständig denken. Sie können kämpfen, taugen als Wächter – mehr aber nicht. Die Gabe des eigenständigen Denkens und Handelns hat man nur mir erteilt.« Mel begann sich zu fragen, was wirklich an Fähigkeiten in diesem Ühgo steckten. Die hypnotische Stimme von »I« nahm ihn gefangen. Nur schwer konnte er sich ihr entziehen. Was für eine Art von … Zauber geschah hier? Mel fiel kein besserer Begriff ein. Das Rauschen in seinen Ohren schwoll beinahe unerträglich an. Irgendetwas versuchte zu ihm durchzudringen, doch es wurde abgeblockt. Der Gitarrist hoffte inständig, dass dieser Zustand anhielt. Er wollte kein Zombie werden wie all die anderen, die mit leerem Blick um ihn herumstanden; sie hingen an den Lippen dieses Scharlatans, verloren sich in seinen Augen, die ihnen einen fremden Willen aufzwangen. Seinen Willen! »Unser aller magisches Echo wird die Erde retten. Wir werden die Schaltpulte der Macht übernehmen. Vereinigt euer Erbe mit meinem Willen. Kinder der Kinder, der Vita-Plan lebt. Lasst uns jetzt vollenden, was lange Zeit vor uns auf den Weg gebracht worden ist.« Zamorra brachte sein Gesicht dicht an das von Nicole. Er wollte nicht das Risiko eingehen, doch noch frühzeitig entdeckt zu werden. »Etwas baut sich hier auf. Eine magische Größe, die mir ernsthaft beginnt, Angst zu machen. Es muss schnell etwas geschehen. Ich fürchte, wenn Cairo auf die Idee eines Angriffes kommt, pustet ihn die jetzt schon vorhandene Kraft aus dem Ozean bis direkt zu den Sternen.« Nicole sah ihren Lebensgefährten ungläubig an. »So stark? Kannst du diese Magie nicht irgendwie beeinflussen oder neutralisieren?« Der Parapsychologe schüttelte den Kopf. »Nicht machbar. Aber so
langsam dämmert mir, woher ich dieses Magiemuster kenne. Nur nützt uns das auch nicht viel. Wir müssen den besten Moment abwarten und diesen Größenwahnsinnigen dort oben angreifen. Ich …« Jemand hatte sich in diesen Sekunden entschieden, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen und zu beenden. Und diese Hände waren grün.
»Was vor langer Zeit auf den Weg gebracht worden ist, Erster Rat, das hat schon lange sein Ende gefunden. Willst du es denn nicht endlich einsehen? Willst du diese Menschen und ihre ganze Welt unglücklich machen?« »I« stockte in seiner Rede, denn diese Worte waren laut und deutlich an ihn gewandt worden. Unruhe kam in die Reihen der Kindeskinder, die sich plötzlich zu bewegen begannen; die Starre schien zu einem Teil von ihnen abzufallen. »Was soll das? Wer wagt mich zu unterbrechen?« Die Reihen teilten sich mit einem Mal. Und alle Blicke waren nun auf den Grünen mit dem Zylinder gerichtet. Langsam, beinahe schon mit provozierender Gelassenheit, schritt er in Richtung der Schwebeplattform, auf der sich der Erste Rat befand. Kaum zwei Meter davon entfernt blieb Ühgo stehen. »Ich wage es, Schläfer! Ich bin es, der Wartende, der deine Ruhe über 400 Planetenjahre hinweg bewacht hat. Ich habe dafür gesorgt, dass der Fluss der Informationen zu dir niemals gehemmt wurde. Ich habe die Kontakte empfangen, die als Verbindung zwischen uns und den Vita-Kindern fungierten. Ihre Informationen habe ich ausgewertet und dir zukommen lassen. Ich habe die Station funktionsfähig erhalten, habe um die Vita-Kinder getrauert, die ihr Leben in Kriegen und durch andere Gewalt verloren, war stolz auf die Erfolge derer, die überlebten. Dann – als die letzte Phase endete – war ich da, um dich zu empfangen. Und um mit dir zu gehen …« Zamorra erwartete, dass »I« Ühgo mit seiner Magie beiseite fegen, ihn auf der Stelle tötete. Der Grüne hatte einen Auftritt hingelegt,
den der Parapsychologe ihm niemals zugetraut hatte. Doch Ühgo musste klar sein, dass er zu weit gegangen war. Andererseits – »I« stand wie gelähmt auf der Plattform und starrte den Wartenden nur nichtverstehend an. Er schien nicht zu begreifen, dass es jemand wagte, sich ihm zu widersetzen. Es musste unvorstellbar für sein inneres Selbstbild sein – er war »I«, der Erste Rat! Ühgo nutze die Zögerlichkeit und fuhr fort. »Du gehst fehl, Schläfer. Was du hier tust, das ist gegen alles, was der Plan vorgesehen hat. Es ist vorbei. Sieh es ein. Lass diese Menschen gehen. Und dann sende den richtigen Impuls aus.« Unvermittelt endete die Verblüffung des Ersten Rates. »Dafür wirst du nun sterben, das weißt du, nicht wahr, Grüner? Wie kannst du mein Tun anzweifeln?« Nicole stieß Zamorra an. »Wir müssen einschreiten. Hast du eine Idee?« Der Parapsychologe sah, wie der Mann auf der Schwebeplatte die Hand erhob. Und er sah, dass Ühgo keine Anstalten machte, dem zu erwartenden Angriff auch nur irgendwie auszuweichen. Zamorra pflügte sich mit den Ellbogen rücksichtslos einen Weg durch die Menschenmenge, die ihm im Weg stand. Was er benötigte, das war freie Schussbahn. Jetzt war keine Zeit mehr für Ideen und Pläne. Er handelte. Als »I« die Hand senken wollte, feuerte Zamorra. Der feine Strahl löste sich aus der Mündung des Blasters und schlug in die rechte Schulter des Mannes ein. Wie ein Stein fiel er nach vorne von der Plattform und schlug hart auf dem Boden auf. Das Loch in seiner rechten Schulter war beachtlich. Unruhe wurde zu Panik. Mehr als achtzig Menschen fanden mit ihrem Bewusstsein nur langsam den Weg zurück in die Wirklichkeit, aus der sie »I« mit seiner Magie gerissen hatte. Sie alle drängten sich nun eng aneinander, wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Zamorra hörte Männer und Frauen weinen, aufeinander einreden oder wirre Selbstgespräche führen.
Mel Amber war bei Phyllis, die erstaunlich schnell wieder zu sich fand. Zamorra, Nicole und van Zant umringten »I«, der mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihnen hoch sah. Und erneut war es Ühgo, der die Initiative übernahm. Er bestieg die Plattform, die leise summend nach wie vor in der Raummitte schwebte. Als er beide Arme hob, wurde es still. Jeder hörte ihm zu. »Ich war immer nur der Diener. Aber ich bin vielleicht der Einzige, der die Wahrheit zu euch bringen kann. Also hört mir zu und begreift.« Van Zant sah zu Zamorra, der ihm zunickte. Die so genannten Kindeskinder hatten ein Anrecht darauf zu erfahren, was es mit ihnen und ihren Eltern auf sich hatte. Und mit dem, was hier geschehen war. Ühgo begann zu berichten. »Vor unendlichen vielen Jahren entdeckte eine Macht eure Welt. Und sie beschloss, sie im Auge zu behalten. Die Menschen entwickelten sich, doch es war beinahe abzusehen, was irgendwann einmal geschehen musste. Mehrere Faktoren bedrohten diesen Planeten: Einmal war es der Mensch selber. Er war in seinem Drang nach Fortschritt in der Lage, sich irgendwann selber auszurotten. Wahrscheinlich würde es danach nie wieder Leben auf dieser Welt geben. Doch da waren noch die dunklen Mächte, die eine ebenso große Gefahr darstellten. Wenn sie die Erde übernahmen, war das Ende abzusehen. Der dritte Faktor bestand in der Bedrohung aus dem Weltraum. Mehr als eine machtorientierte Spezies streckte ihre Finger nach dieser Welt aus. Diese Gefahr war die größte von allen. Es wurde eine Analyse für die Zukunft der Welt erstellt, eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Das Ergebnis lautete, dass in den kommenden 400 Jahren einer dieser Faktoren zur Vernichtung der Menschheit führen konnte. Mit einer Wahrscheinlichkeit von hohem Wert. Und man fasste einen Entschluss: Wer diesen Planeten schützen wollte, musste Vorkehrungen tref-
fen. Und das tat man. Wenn eine Katastrophe geschah, eine Invasion drohte, wollte man helfend eingreifen. Doch nur solange, bis die Gefahr gebannt war. Danach mussten die Menschen wieder eigenverantwortlich handeln können.« Zamorra malte sich die Szenarien vor seinem inneren Augen aus. Diese ominöse Macht, von der Ühgo sprach, hatte also eine Schutzfunktion geplant, die direkte Hilfe bei Bedrohung beinhaltete. Zamorra stellte sich die Frage, wo diese Macht dann gewesen war, als die DYNASTIE DER EWIGEN die Erde zu ihrem Territorium machen wollte. Oder in den Tagen, da der Höllensturm bevorstand. Unzählige Beispiele fielen ihm ein. Warum hatten sie nicht den zweiten Weltkrieg verhindert, den Konflikt zwischen dem Terrorismus und der so genannten freien Welt? Wo zogen sie ihre Grenze, wo war der point of no return, der überschritten werden musste, um sie auf den Plan zu rufen? Oder existierte diese Macht in der Zwischenzeit vielleicht nicht mehr? Er konzentrierte sich wieder auf den Grünen. »Dann würden Menschen gebraucht, die mit Weitsicht und großer Erfahrung die wichtigsten Entwicklungspunkte besetzen konnten. Sofort und ohne erst eine schmerzhafte temporäre Lücke in die Entwicklung dieser Rasse zu reißen. Kunst, Kultur, Politik und Wissenschaft – große Ärzte, Maler, Physiker, Chemiker, Politologen, Musiker, Pädagogen aller Richtungen … Sie waren es, die eine solche schwere Zeit dennoch fruchtbar und unersetzbar für die Zukunft machen sollten. Und so baute man diese Station. 1133 Vita-Kinder sollten über die Erde verteilt werden. Sie wurden hier geboren, entwickelten sich in einer Nährlösung – keine künstlichen Wesen, sondern entstanden aus befruchteten Eiern von weiblichen Wesen dieser Erde. Und das war vielleicht das einzig Unmoralische, das die Macht getan hat. Doch sie nahm diesen Makel in Kauf. Niemand kam dabei zu körperlichem Schaden. 400 Jahre lebten und lernten sie auf der Erde. Immer bereit, im entscheidenden Moment an den richtigen Platz gesetzt zu werden. So viele kamen in Kriegen, durch Unfälle oder andere Gewalt um. Es
blieben nur wenig mehr als hundert übrig. Doch sie gebaren oder zeugten Kinder.« Ühgo sah in die Runde. »Euch. Das war ein Fehler, doch er ließ sich nicht mehr korrigieren.« Mehr als hundert – also waren von den Kindeskindern auch einige nicht mehr am Leben. Es gab unzählige Gründe dafür. Schließlich waren sie normale Erdenbewohner, die auch gegen Krankheiten nicht immun waren. Der Grüne sah zu »I«, der ihm mit trotzigem Gesichtsausdruck zuhörte. Mit der linken Hand hielt er sich die Wunde. Ühgo deute auf den Schläfer. »Der Erste Rat schlief während dieser Zeit hier in der Station. Er sog alles Wissen in sich auf. Denn wenn der schlimmste aller Fälle eintreten sollte, dann war er es, der den Einsatz der Vita-Kinder zu koordinieren hatte. Von hier aus würde er sie leiten. Zum Wohl der Menschheit, denn niemals war etwas anders geplant.« Zamorra unterbrach die Schilderung, wollte sie abkürzen. »Doch als die 400 Jahre vorüber waren, war nichts von alledem geschehen, nicht wahr? Die Station hatte ihren Sinn verloren – die Vita-Kinder starben. Ihre unvorhergesehenen Nachkommen konnte sie vernachlässigen. Sie hatten Wesen und Talent ihrer Eltern in sich, aber nicht deren extreme Langlebigkeit geerbt. Die Station war also überflüssig geworden.« Ühgo nickte. »Und ›I‹ hätte sie zerstören müssen. Mit sich und den Wartenden. Aber er tat es nicht, sondern rief die Kindeskinder zu sich.« Ühgo blickte erneut auf den Schläfer. »Du weißt, was die letzte Phase als Enddirektive beinhaltete: ÜBERLEBEN VERBOTEN! Und außer dir hat das hier auch jeder akzeptiert. Es wird keine Machtübernahme geben, Erster Rat. Wieso nur hast du nicht getan, was zu tun war? Welchen Grund kann es geben, der dich zum Verräter an denen macht, die Welten eine Zukunft geben wollten. Sie hatten nie geplant, sie zu versklaven, ihnen ihren Willen aufzuzwingen.« »Weil es erst dann vorbei ist, wenn ich es will!« Zamorra horchte auf, als er die Entschlossenheit in der Stimme des Ersten Rates vernahm. Doch da war es schon zu spät. Mit einem Sprung war der Schläfer wieder auf den Beinen. Seine Wunde hatte
sich vollständig geschlossen. Eine knappe Bewegung seiner Hand reichte aus, um Zamorra, Nicole und van Zant von den Beinen zu fegen. Sie hatten keine Chance zu reagieren. Van Zant drückte den Auslöser seines Blasters, doch der Strahl fuhr in die Wand, richtete dort kaum Schaden an. Als Nicole ihren Dhyarra zum Einsatz bringen wollte, war »I« bereits verschwunden! »Das gibt es doch nicht. Beherrscht der den zeitlosen Sprung?« Nicole spielte auf die Fähigkeit der Silbermond-Druiden an, sich ohne Zeitverlust über große räumliche Distanzen bewegen zu können. »Den nicht, aber er scheint zu lernen.« Nicole sah Zamorra fragend an. Sie hatte nicht verstanden. »Denk nach. An wen erinnert dich diese Art zu verschwinden denn noch?« Zamorra wartet Nicoles Antwort nicht ab. Er wandte sich an Ühgo. »Draußen vor der Station wartet ein Raumschiff auf Meldung von uns.« Der Grüne nickte. Zamorra fuhr fort: »Wenn wir nicht bald ein Lebenszeichen von uns geben, verschwindet es – aber sicher nicht, ohne die Station in ihre Atome zu zerlegen. Ich will nicht, dass diese Menschen hier für das büßen müssen, was bei euch schief gelaufen ist.« Der Grüne nickte. »Folge mir. Es ist kein Problem, das Raumschiff per Funk zu kontaktieren. Und dann verlasst mit diesem Schiff die Station. Um alles weitere werde ich mich kümmern. Es muss beendet werden.« Und es konnte erst dann wirklich enden, wenn der Schläfer sein Leben ausgehaucht hatte. Zamorra hielt sich dicht bei Ühgo. »Ich habe da einige Fragen an dich, Erhöhter.« Der Grüne war über diese Anrede erfreut. »Ich werde gerne Auskunft geben.«
»Commander, Funkkontakt mit der Station. Professor Zamorra ruft.« Cairo grinste. Dieser Geisterjäger schien wirklich verdammt zäh zu sein. Im Grunde hatte der Alpha schon nicht mehr damit gerechnet, noch etwas von den drei Menschen zu hören. »Durchschalten – sofort.« »Zamorra ruft Cairo. Zamorra ruft die STERNENJÄGER, bitte melden.« »Professor, es wird Zeit. Nur noch wenige Minuten, dann wäre ich wieder auf dem Weg zu den Sternen gewesen. Ohne Sie und Ihre Anhängsel. Also – kommen Sie jetzt wieder an Bord? Kann ich die Station als eingenommen betrachten? Oder torpedieren wir sie?« »Alles anders, Cairo. Wir haben ein paar Gäste, die ebenfalls bitten, an Bord kommen zu dürfen. Platz haben Sie auf der STERNENJÄGER ja ausreichend.« »Was meinen Sie mit ein paar? Und um wen handelt es sich dabei?« Cairo hatte kein Interesse daran, dass die STERNENJÄGER zum Touristenfrachter verkam. »Bitte bereiten Sie die Übernahme vor. Eine Schleuse wird sich in einigen Minuten öffnen. Dort bitte andocken. Zamorra – Ende.« Der Alpha kochte innerlich. Doch das ließ er sich nicht anmerken. Gut, wenn es denn sein sollte, dann würde Zamorra seinen Willen bekommen. Wer konnte schon wissen, wozu dieser Professor noch gut sein konnte? Cairo konnte Verbündete brauchen. Auch wenn er sie manchmal eher wie Feinde behandelte. »Andocken vorbereiten. Kompatibilität der Systeme natürlich vorausgesetzt.« Niemand widersprach. Das war auch besser so …
Der Erste Rat presste seine Hand gegen die Schulter. Die Wunde hatte er mit der Kraft verschließen können, doch der Schmerz blieb.
Erschöpft lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er war in der Lage, sich von einem Ort zu einem anderen zu bewegen! Diese Entdeckung setzte Euphorie in ihm frei, die neue Kräfte mobilisierte. Was für eine Gabe! Was für ungeahnte Möglichkeiten taten sich ihm da auf. Er konnte es kaum fassen. Doch nun war nicht der Augenblick, in dem er sich damit auseinandersetzen konnte. Der Plan schien gescheitert. Sein Plan! Dieser verfluchte Ühgo hatte vor den Kindeskindern die Vergangenheit ausgebreitet. »I« war bloßgestellt. Doch noch immer hätte er sein großes Vorhaben durchziehen können. Wenn man ihm nur ein wenig mehr Zeit gelassen hätte … Zeit war jedoch der Faktor, von dem ihm nun die geringsten Mengen zur Verfügung standen. Er konnte fühlen, wie die Kindeskinder von der Station flohen. Das Raumschiff – er hätte es nicht vernachlässigen sollen. Jetzt nahm es ihm das Menschenpotential, auf dem er seine Macht aufbauen wollte. »I« zwang sich dazu, realistisch zu denken und zu handeln. Um den Willen der Kinder mit dem seinen zu vereinen, um einen erneuten Anlauf in dieser Richtung zu starten, würde man ihm nicht die notwendige Ruhe zugestehen. Er war nun ein Gejagter in seinem eigenen Haus. Einem Haus, das verloren schien. Man würde es einreißen, zerstören! Er musste es aufgeben … »I« lief weiter den Gang entlang, der nach unten geneigt war. Die Station stand in ihrem komplizierten Grundriss klar und deutlich vor seinem inneren Auge. Er musste sich orientieren. Was er brauchte, war ein Ort, an dem er sich für kurze Zeit erholen konnte. Er fühlte, dass er nicht lange an Regeneration benötigte, bis er ausreichend Kraft aufbringen konnte, einen neuen Sprung zu machen. Doch dieser sollte eine wesentlich größere Entfernung überbrücken. »I« hatte beschlossen, aus der Station zu fliehen, sie endgültig aufzugeben. Irgendwo auf der Erdoberfläche wollte er in Ruhe seine wahren Fähigkeiten ausloten und dann erneut nach dem greifen, was sein erklärtes Ziel war: Macht! Ob er die Kindeskinder überhaupt noch benötigte, um dieses Ziel zu verwirklichen, ließ er dahingestellt. Es
würde sich dann schon erweisen. Der Gang mündete in einen quadratischen Raum. Dessen Mittelpunkt war eine Art Container – vielleicht vier mal vier Meter in seiner Grundfläche und drei Meter in der Höhe. Seine Wandung schien außerordentlich dick zu sein. Von außen führten Sprossen nach oben. »I« konnte sich nicht vorstellen, wozu dieses Behältnis diente. In seinen Erinnerungen fand er jedenfalls keinen Hinweis darauf. Neugierig erklomm er die wenigen Sprossen. Oben angekommen, konnte er problemlos auf dem Rand des Bassins stehen. Das Material war tatsächlich außergewöhnlich stark, sicher mehr als einen halben Meter dick. Der Behälter war bis annähernd an den oberen Rand gefüllt. Die Flüssigkeit, die sich in ihm befand, war in einer ständigen Bewegung. Kleine Elmsfeuer tanzten auf ihrer unruhigen Oberfläche, die unentwegt durch Miniaturwellen, Wirbelstrudel und Blasengebilde aufgewühlt wurde. »I« durchforstete sein Wissen. Das alles sah nach einem durch Technologie gesteuerten Reinigungsverfahren aus. Wahrscheinlich befand sich die erforderliche Technik in der Wandung, was deren Stärke erklärte. »I« konnte seinen Blick nicht von dem wenden, was er hier vor sich sah. Er zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als die ruhige Stimme hinter ihm erklang. »Erkennst du es wieder, Erster Rat?« »I« starrte auf das grünhäutige Wesen, das am Fuß des Behälters stand und zu ihm aufsah. Der skurrile Hut saß wie angeklebt auf seinem haarlosen Kopf, im Gesicht Ühgos zuckte kein Muskel. So ausdruckslos hatte »I« den ersten Wartenden noch nie gesehen. Und dennoch war die Entschlossenheit zu spüren, die in ihm ruhte. »Erkennst du es denn wirklich nicht? 400 Jahre hast du in ihr geruht – es ist die Nährlösung, die dich am Leben gehalten hat. Hier wurde sie aufgefangen und gereinigt.« »Was willst du von mir?« »I« fühlte, dass es für einen zweiten Sprung noch zu früh war. Er
beherrschte diese Technik noch nicht gut genug. Er musste den Grünen aufhalten, Zeit schinden. Oder ihn töten! »Verschwinde, Ühgo. Bald wird sich dein Wille ja erfüllen. Wenn ich nicht mehr in der Station bin, wird sie sich selbst zerstören, nicht wahr? Also gib mir noch ein wenig Zeit. Dann bist du mich los.« Ühgo trat noch näher an das Bassin heran. »Ja, wenn du die Station verlässt oder wenn du nicht mehr existierst, dann ist endlich alles so, wie es sein sollte.« Der Grüne setze einen Fuß auf die erste der Sprossen. »Aber du wirst die Station nicht verlassen. Das ist der Grund, warum ich zu dir gekommen bin, Schläfer.« Bedächtig stieg Ühgo in die Höhe. »Bleib stehen. Ich kann dich jederzeit vernichten. Und nenn mich nicht Schläfer. Ich bin erwacht. Und eine große Zukunft liegt vor mir. Du wirst mich nicht daran hindern, sie zu durchleben. Du bist doch nur eine Witzfigur. Mehr nicht …« Zwei Sprossen noch, dann würde Ühgo den Beckenrand erklommen haben. »I« wartete nicht mehr länger. Mit einer einzigen Handbewegung konnte er den Grünen mit der Kraft wieder zu Boden schleudern – ihn vernichten. Ein Schmerzensschrei entfuhr ihm, als sein rechter Arm kraftlos herabsank. Die Wunde war erneut aufgebrochen. Hellrotes Blut färbte seinen Overall. Er hatte sich überschätzt. Doch noch war Zeit genug da … Zwei grüne Arme schlangen sich beinahe zärtlich um seinen Oberkörper und hielten ihn fest, als hätte man ihm Eisenringe umgelegt. »Komm, es ist vorbei. Wir müssen nun endlich gehen, Erster Rat. Komm …« »I« hätte nie geglaubt, welche Kraft in den Armen dieses Wartenden ruhte. Verzweifelt versuchte er blindlings einen Sprung zu initiieren, doch nichts geschah. Wie ein Baby auf den Armen des Vaters fühlte er sich plötzlich in die Höhe gehoben. Ühgo lächelte ihn freundlich an – und ließ sich seitlich fallen! Dann schwappte die Nährlösung über den Körpern der beiden so unterschiedlichen Wesen zusammen. Flüssigkeit ergoss sich über
den Rand des Beckens, in dem sich elektrische Entladungen ihren Weg suchten. Für wenige Momente schien alles in hellen Flammen zu stehen. Dann ebbte das Chaos langsam ab. Nur wenige Minuten vergingen, bis die Oberfläche der Lösung gänzlich zur Ruhe kam. Und in der Mitte des Bassins tauchte etwas auf, das mit viel Fantasie als das zu erkennen war, was es einmal hatte darstellen sollen: Ein roter Zylinderhut …
Die STERNENJÄGER hatte sich in sicherer Entfernung in Warteposition begeben. »Meine Güte, Zamorra. Die ganze Aktion hat mir nun wirklich überhaupt nichts gebracht. Und nun verderben Sie mir auch noch den allerletzten Spaß. Lassen Sie mich diese nutzlose Station doch ganz einfach in ihre Atome zerlegen.« Zamorra ließ sich vom Gejammer des Alphas nicht erweichen. Mit den Waffen der STERNENJÄGER hätte man die Station leicht vernichten können, doch die Auswirkungen mochten an der Wasseroberfläche gewaltig sein. Eine künstlich erzeugte Tsunami-Welle brauchte die Welt nun wirklich nicht. Der Parapsychologe war sicher, dass sich das Problem von selbst erledigen würde. Und das tat es dann auch auf eine so beeindruckende Art und Weise, die selbst den Alpha verstummen ließ. Die Meldung des Cyborgs kam seltsam stockend. »Commander. Die Station, äh, bitte … sehen Sie am besten selbst.« Cairo wollte den Cyborg zurechtstutzen, doch dann sah er, was gemeint war. Es war tatsächlich kaum zu beschreiben. Die Station blähte sich auf! Für Sekunden nur schien sie von innen heraus zu leuchten, dann fiel tiefste Dunkelheit über sie – und sie war nicht mehr da. Weg. Verschwunden. »Messungen – sofort – das ganze Programm!« Cairos Kommando kam präzise.
Zamorra hatte sich direkt hinter den Sessel des Alphas gestellt. »Sie werden dort nichts mehr finden, Cairo. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass sich die Sache von alleine regelt. Ühgo hat Wort gehalten. Selbst im Akt der Selbstzerstörung war alles darauf angelegt, der Erde in keinem Fall einen Schaden zuzufügen. Ich bin jedenfalls tief beeindruckt.« Cairo atmete tief durch. »Ühgo … Magie … Schläfer … all diese Menschen, die Sie mir an Bord geschleppt haben. Zamorra, ich verstehe kein Wort. Aber – ich frage auch nicht. Kein Bedarf an Ihrem Hokuspokus.« Die Ergebnisse der Messungen liefen ein. Sie bestätigten Zamorras Verdacht. Keine messbaren Werte mehr vorhanden. »Cairo, wenn Sie uns alle jetzt noch irgendwo absetzen, wo wir Kontakt zu Tendyke Industries bekommen, wäre ich Ihnen überaus dankbar. Sie müssen keine Sorge haben, ich kümmere mich um die Menschen. Oder wollen Sie Taxi spielen und jeden bis vor die Haustür bringen?« Der Alpha stand kurz vor einem Ausbruch. »Taxi? Was ist denn das nun wieder für ein Unsinn? Ich komme mir hier schwer veralbert vor. Ich …« Artimus van Zant schüttelte nur den Kopf. »Der Giftzwerg hat ja wohl von nichts einen Plan, oder?« Die Entgegnung des EWIGEN überhörte der Südstaatler einfach …
Nicole Duval legte das kleine Päckchen direkt vor Zamorra auf den Tisch. Der Parapsychologe blickte seine Gefährtin an. »Seit wann gibst du mir ungeöffnete Sendungen? Jetzt wundere ich mich aber doch mächtig. Hat der Neugierfaktor bei dir nachgelassen? Da mache ich mir ja schon so meine Sorgen.« Draußen schüttete es kräftig. Das war exakt das Wetter, um exakt nichts zu tun! Jedenfalls nichts von Wichtigkeit – erst recht nichts, was mit Arbeit zu tun hätte. Also hatte Zamorra sich entschlossen,
endlich wieder einmal in den dicken Stapel von neuen Büchern zu schauen, die hier teilweise seit Monaten jungfräulich auf ihn warteten. Er wusste ja genau, dass er es niemals schaffen konnte, sie alle zu lesen. Aber sollte er deshalb an interessanten Neuerscheinungen vorbeigehen? Er schaffte das einfach nicht. Nicole tippte mit dem Zeigefinger auf das Absenderfeld, das links auf dem Päckchen zu finden war. »Lies selbst. Dann wirst du dir auch denken können, was in dem Päckchen ist.« Mel Amber. Der Name des Absenders weckte Zamorras Interesse nun endgültig. Es war erst wenige Monate her … »Ich habe dich nie richtig gefragt.« Nicole setzte sich neben den Parapsychologen. »Hast du eine Erklärung gefunden, warum sich Mel der Beeinflussung dieses Ersten Rates im entscheidenden Moment entziehen konnte? Ohne seine Hilfe wären wir sicher so eine Art Heizbrikett geworden.« Zamorra grinste. »Ich habe mit Mel darüber gesprochen. Vielleicht irre ich mich – vielleicht gibt es einen ganz anderen Grund, aber ich glaube, Mel hatte das seinem Syndrom zu verdanken.« Nicole zog die Augenbrauen hoch, was sie wirklich entzückend aussehen ließ. Zamorra ließ sich davon nicht einfangen. Jetzt jedenfalls nicht. »Mel ist seit einer Ewigkeit Musiker. Progressive Rockmusik – Studioarbeit, Tourneen. Du glaubst nicht, wie viele Musiker an Tinnitus leiden. Ohrengeräusche, immer und pausenlos. Manchmal heftig, manchmal kaum wahrnehmbar. Rauschen, Zischen – das muss einfach grässlich sein. Und ich vermute, dass der Einfluss von ›I‹ auf die Kindeskinder zum Teil über die Audio-Schiene lief. Wie gesagt, eine Vermutung, doch Mel hat mir berichtet, dass er seinen Tinnitus selten so intensiv wahrgenommen hat wie in der Nähe des Schläfers.« »Ich glaube, wir werden nie wirklich erfahren, wer diese angeblichen Wohltäter der Menschheit waren, die diese Station in den Tongagraben gesetzt haben.« Für Nicole war die Sache erledigt, abgehakt – schon weit entfernt. Zamorra sah das anders. »Bevor die Kindeskinder in die STERNENJÄGER gewechselt sind, habe ich mit Ühgo gesprochen. Ich
wusste, dass er es für seine Pflicht hielt, den Ersten Rat selbst zu finden. Aber ich habe ihm Fragen stellen können. Er konnte sich schwach an die Wesen erinnern, die wohl die Erbauer waren. ›Sie sind, wie Ihr es seid‹, hat er gesagt. Also menschliches Aussehen. Allerdings keine Vampire.« Nicole war aufgestanden, doch nun wandte sie sich noch einmal zu Zamorra um. »Vampire? Wie kommst du gerade auf dieses mehr als schmale Brett?« Der Professor hob die Schultern. »Die Magie in der Station, ›I‹ plötzliche Fähigkeit, sich einer Art von Teleportation zu bedienen. Ich weiß nicht, aber das alles kam mir zu bekannt vor. Ich wunder mich, dass du nicht selbst schon auf die Idee gekommen bist. Dalius Laertes – seine eigentümliche Magie ist nahezu deckungsgleich mit der in der Station. Und auch er beherrscht den zeitlosen Transport. Aber Dalius ist eben ein Vampir. Wie das zusammenpasst, das weiß ich wirklich nicht.« Nicole gab keine Antwort. Zamorras Theorie stand auf tönernen Beinen. Dalius Laertes war sicher kein normaler Vampir. Aber sollte er zu einer Rasse gehören, die … Nicole glaubte nicht daran. Zudem war noch immer nicht sicher, ob Laertes auf ihrer Seite stand. Er hatte geholfen, die Sarkana-Bedrohung zu beenden, ja, doch das reichte der skeptischen Französin noch lange nicht als Beweis echter Loyalität. Zamorra riss das Päckchen an dessen Sollbruchstelle auf. Im Umschlag befand sich eine CD – eine so genannte Vorabkopie, wie aus dem kurzen, aber herzlichen Brief hervorging, den Mel Amber und Phyllis York unterzeichnet hatten. Die zwei schienen ein dauerhaftes Paar zu werden. Das Cover war sicher nicht die endgültige Fassung der CD, die in einigen Wochen auf den Markt kommen sollte. Doch der Titel stand schon fest. In klaren Lettern prangte er Nicole und Zamorra entgegen: »MEL AMBER PLAYS – ›LIX‹ – THE LOST SYMPHONIES« Als Nicole die CD in den Player legte, klang den beiden lyrische Klassik entgegen, über der eine sanfte, in reinster Perfektion gespielte E-Gitarre schwebte.
Artimus van Zant schnippte das Streichholz über die Reibfläche des dazugehörigen Päckchens. Die Flamme züngelte reichlich gierig in die Höhe, als suche sie dringend nach Futter. Sie sollte es bekommen. Die Tonbandspule war so knochentrocken, dass sie sofort Feuer fing. Artimus lächelte zufrieden. Was seine Ma auf diesem Band für ihren Sohn verewigt hatte, sollte nun niemand mehr zu Ohren bekommen. Es hätte bei den Chemikern dieser Welt auch nur Unglauben und Verwirrung gestiftet. Lange hatte van Zant gezögert. Das Haus gehörte nun ihm. Was sollte er damit? Wie viele Tage im Jahr würde er sich hier wohl aufhalten können? Die Arbeit bei Tendyke Industries ließ ihm keine Zeit – und aus der Vampirjäger-Branche konnte er sich auch nur noch schlecht heraushalten. Er steckte zu tief drin. Das Andenken an Khira Stolt war es, was ihn dort immer weitertrieb. Als dann die ersten Interessenten für das Anwesen der van Zants auftauchten, hätte Artimus sie am liebsten vom Gelände gejagt. Schließlich riss er sich zusammen und verkaufte. Nette Leute mit einem großen Herz für Kinder. Das war okay. Als das Tonband vollkommen verkohlt war, fühlte Artimus, wie er sich endlich innerlich von seine Mutter lösen konnte. Sie, die ihm nie das hatte geben können, was er als Kind so dringend gebraucht hätte. Nun endlich war er mit ihr im Reinen. Er dachte an die anderen Kinder der Vita-Kinder. Hoffentlich konnten auch die mit dem umgehen, was nun einmal zu ihrer Vergangenheit gehörte. Und zu der ihrer Eltern. Vita heißt Leben. Ein guter Name, auch wenn er beinahe zum Synonym für eine Katastrophe geworden wäre … ENDE
Vorschau Merlins Stern von Christian Montillon und Susanne Wiemer
Louis de Montagne wird von düsteren Visionen gequält. Das Amulett seines Vorfahren Leonardo spielt darin die zentrale Rolle … und sein Neffe Zamorra de Montagne. Er will Zamorra warnen, aber dämonische Mächte blockieren jeden Versuch – und Karinjo, Herr der Feuerdämonen, beendet sein jahrhundertelanges Exil in der Hölle. Der Roman »Merlins Stern«, in dem Christian Montillon eine packende Geschichte um das Geschehen aus Heft 1 der Zamorra-Serie, »Das Schloss der Dämonen« spinnt, bietet einen nie gekannten Blick auf die Anfänge der Zamorra-Serie!