Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:251–252 DOI 10.1007/s11757-009-0027-x
Editorial
Psychotrope Substanzen
Psychotrope Substanzen dienen Menschen – wie auch manchen Tieren – dazu, positive Effekte in Bereichen wie Stimmung, Antrieb, Selbstwertgefühl, Leistungsvermögen oder Kontaktfähigkeit zu erzielen. Eng damit verbunden sind Gefahren des Missbrauches, der süchtigen Fehlentwicklung und der schweren Abhängigkeitserkrankung mit vielerlei desaströsen Auswirkungen. Hierzu gehören nicht nur die körperlichen Gesundheitsschäden, sondern auch die schweren psychosozialen Folgeerscheinungen wie Persönlichkeitsdepravation, intellektueller Abbau oder Zerstörung der beruflichen und sozialen Existenzgrundlagen. Viele der Einflüsse psychotroper Substanzen begünstigen kriminelle Verhaltensweisen und werden so Gegenstand psychiatrischer, psychopathologischer und kriminologischer Expertise. Hauptthemen dabei sind epidemiologische und kriminalstatistische Fragen, Beurteilung von Schuldfähigkeit und Prognose, die Behandlung und die Rückfallprävention. Deshalb stehen Probleme des schädlichen Gebrauches und der Suchterkrankungen im Umfeld von Alkohol, Rauschdrogen und sonstigen psychotropen Substanzen im Mittelpunkt dieses Themenheftes von FPPK. Eine Einführung in die rechtlichen Aspekte gibt der Beitrag von W. Pfister, der aus Sicht eines Richters am BGH grundsätzlichen Fragestellungen nachgeht und insbesondere auf die nötige Zusammenarbeit zwischen psychowissenschaftlichen Sachverständigen und den verschiedenen Instanzen der Justiz hinweist, dies ganz im Sinne der Grundkonzeption unserer Zeitschrift. In den zentralen forensisch-psychiatrischen Bereich führt der Beitrag von E. Gouzoulis-Mayfranck über psychopathologische und kognitive Veränderungen unter Rauschdrogen. Dabei wird vor allem auf die subtile Analyse der kognitiven und affektiven Funktionsstörungen Wert gelegt, die der Autorin durch die experimentelle Psychoseforschung unter Einsatz von Stimulanzien und Psychotomimetika gut bekannt sind. Nicht die pauschale Be-
rufung auf Drogeneinfluss und auf Berauschtheit, sondern nur die genaue psychopathologische Beschreibung der Tatzeitverfassung und nachweisbarer Leistungsausfälle erlauben Aussagen über das Einsichts- und Steuerungsvermögen. Die epidemiologische Situation des Drogenkonsums in Deutschland und die damit verbundenen kriminologischen Auswirkungen werden im Artikel von Heilmann und Scherbaum analysiert. Die Veränderungen der letzten Jahre zeigen charakteristische Entwicklungen, dies auch im innerdeutschen Ost-West-Vergleich und im Prozess der europäischen Einigung, die mit einiger Latenz ihren Niederschlag in der Kriminalstatistik finden werden. Loddo et al. aus der Kölner Rechtsmedizin behandeln mit den sogenannten Ko-Tropfen eine kriminologisch höchst interessante Spezialform des Missbrauchs psychotroper Substanzen, die hier nicht dem Eigengebrauch dienen, sondern der Ermöglichung von Straftaten an anderen Personen. Dem wichtigen Thema der Maßregelvollzugsbehandlung gemäß § 64 StGB widmet sich Schalast mit einem Beitrag über die Möglichkeiten suchtspezifischer medikamentöser Interventionen. Diese auch in der allgemeinen Psychiatrie und in der Suchtmedizin noch keineswegs durchgängig anerkannten Behandlungsformen bedürfen auch im forensischen Setting der Erprobung und Evaluation. Mit zunehmendem Wissen über äthopathogenetische, psychopharmakologische und pharmakogenetische Zusammenhänge bei der Entstehung, der Aufrechterhaltung und der therapeutischen Beeinflussung von Suchtverhalten steht zu hoffen, dass sich aus der Gesamtheit der betroffenen Patienten Subpopulationen definieren lassen, die von bestimmten Substanzen bzw. Kombinationen medikamentöser und verhaltenstherapeutischer Maßnahmen profitieren können. Die therapeutischen Möglichkeiten im Rahmen der §§ 35, 36 des Betäubungsmittelgesetzes sind anfangs z. T. euphorisch überschätzt worden, auch hat sich im
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Editorial
Laufe der Zeit ein erhebliches Missbrauchspotential gezeigt. Eine nüchterne Bewertung von Chancen und Gefahren nimmt der Beitrag von Gerasch vor, der sich auf einen besonders reichhaltigen staatsanwaltlichen Erfahrungshintergrund in Berlin stützen kann. Auch in kommenden Themenheften von FPPK werden wir auf die Probleme durch psychotrope Substanzen im forensischen Umfeld zurückkommen. Wer sich
aktuell weiter informieren möchte, sei auf den Themenschwerpunkt Suchterkrankungen im Septemberheft von „Der Nervenarzt“ hingewiesen [1–5], ferner auf die einschlägigen Beiträge im Berichtsband über die Jahrestagung der Gesellschaft für Kriminologie [6]. Henning Saß, Aachen
Literatur 1. Fallgatter AJ, Jakob CP (2009) Komorbidität von Suchterkrankungen und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Nervenarzt 80:1015–1021 2. Batra A, Friedrich HM, Lutz U (2009) Therapie der Nikotinabhängigkeit. Nervenarzt 80:1022–1029
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3. Wölfling K, Bühler M, Leménager T, Mörsen C, Mann K (2009) Glücksspiel und Internetsucht. Nervenarzt 80:1030– 1039 4. Kiefer F, Großhans M (2009) Beitrag der Suchtforschung zum Verständnis der Adipositas. Nervenarzt 80:1040–1049
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Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:253–263 DOI 10.1007/s11757-009-0020-4
Übersicht
Wolfgang Pfister
Drogenkonsum und Strafrecht
Drug consumption and criminal law
7 Zusammenfassung Drogenkonsum ist ein kriminogener Faktor. Nahezu jeder unerlaubte Umgang mit Betäubungsmitteln ist in Deutschland unter Strafe gestellt. Konsumenten und Händler beschäftigen die Justiz deshalb in erheblichem Maß. Diese ist dabei nicht selten auf die Hilfe von psychowissenschaftlichen Sachverständigen angewiesen. Ihnen gilt dieser Beitrag. Er vermittelt die Grundzüge des Betäubungsmittelstrafrechts und beschreibt, welche Bedeutung Eingegangen: 27. August 2009 Angenommen: 31. August 2009 Online publiziert: 26. September 2009 RiBGH W. Pfister ()) Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45 a 76133 Karlsruhe, Deutschland E-Mail:
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der Drogenkonsum bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit von Straftätern sowie bei der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung aus der Sicht der Rechtsprechung hat. Außerdem befasst er sich mit den rechtlichen Konsequenzen einer Teilnahme am Straßenverkehr unter Drogeneinfluss. Darüber hinaus werden Anforderungen an das Sachverständigengutachten bei der strafrechtlichen Beurteilung von Drogenabhängigen formuliert.
7 Schlüsselwörter Drogen konsum · Betäubungsmittelgesetz · Sucht · Schuldfähigkeit · Hang · Entziehungsanstalt · Begutachtung 7 Abstract Drug consumption is a criminogenic factor. Almost all unauthorized contacts with narcotic drugs are punishable by German law. Users and dealers tie up significant resources within the
Einleitung Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist in Deutschland eine erhebliche Zunahme nicht nur des Alkoholmissbrauchs, sondern auch des Drogenkonsums zu beobachten. Es gibt schätzungsweise 120.000 bis 150.000 Opiatabhängige. 400.000 Personen betreiben einen missbräuchlichen oder abhängigen Cannabis-
judiciary, which in turn often requires help from psycho-scientific experts. Aiming at those experts, this article imparts basic knowledge of the criminal law on narcotics. Furthermore, it is meant to outline the impact of drug consumption on the assessment of offenders’ criminal responsibility as well as on ordering measures for the prevention of crime and the reformation of offenders from the jurisdictional point of view. Moreover, the article discusses the legal consequences of driving under the influence of drugs. Additionally, requirements for expert opinions on the criminal responsibility of drug addicts are summarised.
7 Keywords Drug consumption ·
Narcotics law · Addiction · Criminal responsibility · Inclination · Treatment centre for drug addicts · Expert opinion
konsum. Da Sucht ein kriminogener Faktor und nahezu jeder unerlaubte Umgang mit Betäubungsmitteln unter Strafe gestellt ist, schlägt sich diese Entwicklung auch bei der Strafverfolgung nieder. 2005 waren 5,0% aller Tatverdächtigen der Polizei als Konsumenten harter Drogen Zahlen aus dem „Drogen- und Suchtbericht 2005“; zitiert nach Schöch in Leipziger Kommentar StGB 12. Aufl. § 64 Rdn. 10.
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bekannt. 6,4% aller im Jahr 2007 Verurteilten mussten sich wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) verantworten. In 458 Fällen wurde gegen diesen Täterkreis deshalb die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) angeordnet.
Grundzüge des Betäubungsmittelstrafrechts Die Bemühungen, dem Drogenkonsum mit den Mitteln des Strafrechts zu begegnen, setzten in Deutschland relativ spät ein. Erst aufgrund einer Verpflichtung im Versailler Vertrag ratifizierte das Deutsche Reich das Haager Internationale Opiumabkommen von 1912, in dem sich die Vertragsstaaten verpflichtet hatten, den Handel und die Produktion von Opiaten und Kokain gesetzlich zu regeln. Das Gesetz vom 30.12.1920 zur Ausführung des internationalen Opiumabkommens war das erste deutsche Betäubungsmittelgesetz. Ihm folgten, stets von internationalen Abkommen befördert und inhaltlich beeinflusst, 1929 das Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Opium-Gesetz) sowie dessen Neufassung vom 22.12.1971 (Betäubungsmittelgesetz 1972). Grundlage des derzeit geltenden Rechts ist das Betäubungsmittelgesetz – BtMG – 1982, das seither wiederum zahlreiche Änderungen erfahren hat. Die Entwicklung des Betäubungsmittelstrafrechts ist im Wesentlichen von zwei Komponenten geprägt: Zum einen sind über die Jahrzehnte hinweg die Strafrahmen massiv erhöht worden. Die vom Opiumgesetz 1929 angedrohte Höchststrafe betrug drei Jahre, die des BtMG 1972 bereits zehn Jahre und die des BtMG 1982 fünfzehn Jahre; 1992 und 1994 wurden Qualifikationstatbestände der bandenmäßigen sowie der bewaffneten Begehung von Drogendelikten sowie der Verstrickung junger Menschen in die Betäubungsmittelkriminalität eingeführt, die mit einer Mindeststrafe von fünf Jahren bedroht sind. Zum anderen sind seit 1982 die Therapiemöglichkeiten erweitert, die rechtliche Stellung von Suchtmittelberatungsstellen gestärkt sowie Regelungen über die Abgabe an Schwerstabhängige und die Zulässigkeit von Drogenkonsumräumen geschaffen worden. Was ein Betäubungsmittel ist, bestimmt § 1 Abs. 1 BtMG nicht mittels abstrakter Merkmale, sondern folgt dem Prinzip der so genannten Positivliste. Betäubungsmittel im Sinne des BtMG sind nur diejenigen Stoffe und Polizeiliche Kriminalstatistik für 2005; zitiert nach Schöch aaO. Statistisches Bundesamt Strafverfolgung 2007, Tab. 2.1: 897.631 Verurteilte; davon 57.116, bei denen der Verstoß gegen das BtMG den Schwerpunkt bildete. Statistisches Bundesamt Strafverfolgung 2007, Tab. 5.1. Zu den Einzelheiten der Entwicklung des Betäubungsmittelrechts vgl. Endriß/Malek, Betäubungsmittelstrafrecht 2. Aufl. S. 1 f.; Weber, Betäubungsmittelgesetz 3. Aufl. Einleitung Rdn.3 ff.
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W. Pfister
Zubereitungen, die in den Anlagen I bis III des Gesetzes erfasst sind. Die Anlage I enthält ca. 150 Positionen (Stoffe und Isomere) von nicht verkehrsfähigen Betäubungsmitteln. Sie können, sofern nicht ausnahmsweise zu wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Verkehrserlaubnis erteilt worden ist (§ 3 Abs. 2 BtMG), nur illegal umgesetzt werden. Zu ihnen gehören Cannabis, Cannabisharz, Cathinon, Heroin, LSD, Ecstasy (MDA, MDMA, MDE). Die Anlage II enthält ca. 50 Positionen von verkehrsfähigen aber nicht verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln. Auch hier bedarf es zum legalen Umgang einer Verkehrserlaubnis des Bundesinstituts (§ 3 Abs. 1 BtMG), die allerdings nicht an so enge Voraussetzungen geknüpft ist. Diese Betäubungsmittel dienen in der Regel der Pharmaindustrie als Roh- und Ausgangsstoffe. Zu ihnen gehören der Cocastrauch, Mohnstrohkonzentrat und Türkenmohn. Die Anlage III enthält ca. 100 Positionen von verkehrs- und verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln. Ihre Verschreibung liegt nach § 13 Abs. 1 BtMG in der Hand der Ärzte. Zu ihnen gehören Amphetamin, Kokain, Codein, Flunitrazepam und Opium. Den Inhalt dieser Anlagen – in denen zahlreiche psychowirksame Substanzen, darunter Coffein, Nikotin und Alkohol, nicht enthalten sind – hat bei Erlass des BtMG der Gesetzgeber bestimmt. Um ihre rasche Anpassung an die wechselnden Konsumgewohnheiten, an den Vertrieb und den Konsum neuer Stoffe und Zubereitungen sowie an neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu ermöglichen und sicherzustellen, sind die Bundesregierung und (in Eilfällen) das Bundesministerium für Gesundheit ermächtigt, die Anlagen durch Rechtsverordnung zu ändern oder zu ergänzen. Demzufolge hat es von 1982 bis Anfang 2009 bereits 22 Änderungsverordnungen gegeben, mit denen Stoffe und Zubereitungen den Anlagen hinzugefügt oder aus ihnen gestrichen worden sind. Das Betäubungsmittelgesetz ist Verwaltungsrecht. Es regelt (ergänzt um mehrere Rechtsverordnungen) im Wesentlichen die Voraussetzungen für den erlaubten Umgang mit Betäubungsmitteln sowie die sich daraus für die Beteiligten ergebenden Pflichten. Allein der Sechste Abschnitt (§§ 29–34 BtMG) beschreibt die Straftaten sowie Ordnungswidrigkeiten und enthält Besonderheiten bei der Strafverfolgung. Der Siebente Abschnitt (§§ 35–38 BtMG) regelt Sonderformen im Umgang mit betäubungsmittelabhängigen Straftätern. Wer Betäubungsmittel anbauen, herstellen, mit ihnen Handel treiben, sie – ohne mit ihnen Handel zu treiben – einführen, ausführen, abgeben, veräußern, sonst in den Zu einzelnen Betäubungsmitteln sowie dem Inhalt der Anlagen I bis III vgl. Weber (FN 5). Betäubungsmittel-AußenhandelsVO, -BinnenhandelsVO, -VerschreibungsVO, -KostenVO; zu den Einzelheiten vgl. Weber (FN 5).
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Verkehr bringen oder erwerben will, braucht grundsätzlich eine Erlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. Damit ist jede Umgangsform erlaubnispflichtig. Dementsprechend ist auch jede Form des unerlaubten Umgangs unter Strafe gestellt. Strafbar ist selbst der Besitz, sofern er nicht auf einem vorangegangenen erlaubten Erwerb beruht (§ 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG). Dies führt zu einer Vielzahl von Straftatbeständen, die ineinander übergehen, einander umgreifen oder ausschließen. Dies macht die einschlägigen Vorschriften des BtMG recht unübersichtlich und führt zu vielfachen Konkurrenzproblemen (Fragen des Vorrangs oder des Nebeneinanders von einzelnen Tatbeständen). Das bereitet dem Strafrechtspraktiker manche Sorgen, ist indes für den psychowissenschaftlichen Sachverständigen ohne Belang. Die wohl bedeutendste unerlaubte Umgangsform mit Betäubungsmitteln stellt das Handeltreiben dar. Es ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs definiert als „jede eigennützige auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit“. Handeltreiben ist – wegen des Bemühens um eine umfassende Verfolgung illegalen Drogenhandels – ein sehr weit gefasster und von der Rechtsprechung auch kaum einengend ausgelegter Tatbestand. Eines tatsächlichen Güterumsatzes bedarf es für die Vollendung des Delikts nicht. Wer bei einem Rauschgifthändler anruft und fragt, ob dieser Betäubungsmittel liefern könne, um diese sodann später mit Gewinn weiterverkaufen zu können, hat deshalb mit Betäubungsmitteln gehandelt auch dann, wenn der Händler bedauernd sagt, er sei heute ausverkauft und könne nicht liefern. Bezieht sich das Gespräch gar auf eine „nicht geringe Menge“ des Betäubungsmittels, dann ist der Verbrechenstatbestand des § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG erfüllt, der mit Freiheitsstrafe von einem bis zu 15 Jahren – in minder schweren Fällen von drei Monaten bis zu fünf Jahren – bedroht ist. Um zu einer differenzierten Beurteilung des Schuldgehalts der Betäubungsmittelstraftaten zu kommen, unterscheidet das Gesetz zwischen verschiedenen „Mengen“, d. h. verschiedenen Quantitäten von Betäubungsmitteln. Nur bei einer „geringen Menge“ Rauschgift besteht die Möglichkeit zu einer erleichterten Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft (§ 31 a BtMG) oder zum Absehen von der Verurteilung durch das Gericht (§ 29 Abs. 5 BtMG). Die Rechtsprechung hat diesen Begriff dahin konkretisiert, dass es sich um eine Menge hanAusnahmen nach § 4 BtMG (Apotheken, Bundes- und Landesbehörden) und § 10 a BtMG (Drogenkonsumräume). Vgl. hierzu BGHSt 50, 252 = NJW 2005, 3790 (GSSt 1/05); verfassungsrechtliche Bedenken bestehen gegen diese weite Auslegung nicht, vgl. BVerfG NJW 2007, 1193 [Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs werden im Folgenden jeweils auch mit dem Aktenzeichen zitiert. Dies erleichtert das Auffinden bei einer Recherche unter http://www.bundesgerichtshof.de.].
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deln muss, die zum einmaligen bis höchstens dreimaligen Gebrauch bestimmt ist. Es dürfen also nicht mehr als drei Konsumeinheiten sein. Wie groß eine Konsumeinheit ist, hängt im Prinzip vom jeweils konsumierten Betäubungsmittel und von der Gewöhnung des Konsumenten ab. Da es sich hier aber um die Privilegierung von Gelegenheitskonsumenten und Ausprobierern handelt, hat die Rechtsprechung die übliche Einstiegsdosis zum Maßstab genommen (z. B. 0,15 g Amphetamin-Base; 6 g Cannabisgemisch – eigentlich 0,015 g THC; 0,03 g Heroinhydrochlorid). Auf der entgegengesetzten Seite der Skala steht die „nicht geringe Menge“. Sie ist Merkmal für verschiedene Qualifikationen, die sämtlich als Verbrechen eingestuft und deswegen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr (bei Einfuhrtaten von zwei Jahren [§ 30 Abs. 2 BtMG], bei bandenmäßiger Begehung [§ 30 a Abs. 1 BtMG] oder bei bewaffneter Begehung [§ 30 a Abs. 2 Nr. 2 BtMG] von fünf Jahren) bedroht sind. Auch hier hat die Rechtsprechung im Lauf der Zeit für die einzelnen Rauschgifte Grenzwerte festgelegt. Dabei spielen die Beschaffenheit, Wirkungsweise und Gefährlichkeit des Rauschgifts sowie die Konsumgewohnheiten eine Rolle. Ausgangspunkt ist ebenfalls die Einzelmenge, die Konsumeinheit (die äußerst gefährliche Dosis, hilfsweise die durchschnittliche Konsumeinheit). Zur Abstufung des Betäubungsmittels aufgrund seiner Eigenschaften (Rauschwirkung, Toxizität, Suchtpotential) wird die nicht geringe Menge jeweils als ein Vielfaches dieser Einzelmenge bestimmt, bei Heroin z. B. das 150fache einer Konsumeinheit, bei Haschisch das 500fache. Das führt zu folgenden Grenzwerten, bei deren Überschreitung eine nicht geringe Menge vorliegt: Cannabis: 7,5 g THC; Heroin: 1,5 g HHCl; Kokain: 5,0 g CHCl; Ecstasy: 35 g MDE/MDEA-, MDA-, MDMA-HCl. Die Grundlage für die Festlegung bieten jeweils durch pharmakologische Gutachten vermittelte Erkenntnisse. So hat der Bundesgerichtshof jüngst aufgrund neu gewonnenen Wissens über die Gefährlichkeit von Methamphetamin den Grenzwert von 30 g auf 5 g Methamphetamin-Base herabgesetzt.10 Obwohl sprachlich etwas anderes zu erwarten wäre, reicht die „geringe Menge“ nicht unmittelbar an die „nicht geringe Menge“ heran. Es gibt vielmehr zwischen beiden Polen einen breiten Bereich (bei Haschisch zum Beispiel von vier bis 499 Konsumeinheiten). Es handelt sich um die – vom Gesetz allerdings nicht mit einer besonderen Bezeichnung versehene – Normalmenge. Der einzige straflose Umgang mit Betäubungsmitteln besteht im Konsum. Der Konsument wird hierfür nicht bestraft. Wer die Drogen aber vorher besitzt (ohne zugleich im Besitz einer schriftlichen Erlaubnis für den Erwerb zu sein), ist deswegen strafbar (§ 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG). Gleiches gilt für denjenigen, der die Droge zum Konsum an 10
BGHSt 53, 89 = NJW 2009, 863 (2 StR 86/08).
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andere unerlaubt abgibt (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG). Das Gesetz enthält aber zwei Regelungen, die – über die sonstigen Opportunitätsvorschriften der Strafprozessordnung und des Jugendgerichtsgesetzes hinausgehend – im Bagatellbereich der Drogenkriminalität einen Verzicht auf Verfolgung oder Bestrafung ermöglichen. Wenn der Täter die Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge (also bis zu drei Konsumeinheiten; vgl. oben) anbaut, herstellt, einführt, ausführt, durchführt, erwirbt, sich in sonstiger Weise verschafft oder besitzt, kann das Gericht von einer Bestrafung absehen (§ 29 Abs. 5 BtMG). Unter denselben Voraussetzungen kann die Staatsanwaltschaft von der Strafverfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht (§ 31 a Abs. 1 Satz 1 BtMG). Die meisten Bundesländer haben Richtlinien erlassen, um eine einheitliche Verfahrensweise bei den Staatsanwaltschaften zu sichern. Da es eine bundeseinheitliche Regelung nicht gibt, bestehen zwischen den einzelnen Bundesländern teilweise erhebliche Unterschiede in der Verfolgungspraxis.11 Neben der Strafbarkeit, die schon aus dem unerlaubten Umgang mit Betäubungsmitteln selbst folgt, führt vor allem der süchtige Konsum von Drogen zu weiteren Straftaten. Kriminologisch wird dabei unterschieden zwischen der Folgekriminalität, also Delikten, die unter dem Einfluss von Drogen begangen werden, und der Versorgungskriminalität, also Delikten, die entweder mit der Lieferung oder mit dem Erlangen von Betäubungsmitteln verbunden sind. Die letztgenannte Untergruppe ist auch unter der Bezeichnung Beschaffungskriminalität bekannt. Hier ist erneut zu differenzieren: Die direkten Beschaffungsdelikte zielen unmittelbar auf die Erlangung von Drogen. Zu ihnen gehören die Tatbestände aus dem Betäubungsmittelgesetz – z. B. der Erwerb oder der Besitz von Drogen; daneben aber auch der Diebstahl und die Fälschung von Rezepten, der Einbruch in Apotheken oder der Raubüberfall auf einen Dealer zum Zweck der unmittelbaren Erlangung von Rauschgift. Die indirekten Beschaffungsdelikte (z. B. Diebstahl einschließlich Wohnungseinbruch, Hehlerei, Raub, Erpressung und Betrug) dienen hingegen der Erlangung von Geld oder von Sachwerten, die zu Geld gemacht werden können, um damit Betäubungsmittel erwerben zu können. Die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Beschaffungskriminalität ist für die Schuldfähigkeitsbeurteilung von Bedeutung. Manche Autoren vertreten die Ansicht, dass bei der direkten Beschaffungskriminalität stets von erheblich verminderter Schuldfähigkeit auszugehen sei.12
Um an die Hintermänner des Rauschgifthandels heranzukommen, dem einzelnen Betäubungsmitteltäter den Ausstieg aus der Kriminalität zu erleichtern und um die Verfolgungsmöglichkeiten zu verbessern, gibt es seit 1982 im BtMG eine Kronzeugenregelung. § 31 BtMG ermöglicht eine Strafmilderung oder (bei geringeren Delikten) sogar ein Absehen von Strafe, wenn der Täter entweder begangene Betäubungsmittelstraftaten über seinen eigenen Tatbeitrag hinaus aufzudecken hilft oder durch rechtzeitiges Offenbaren seines Wissens dazu beiträgt, dass schwerere Betäubungsmitteldelikte verhindert werden können. Es handelt sich um eine bereichsspezifische Regelung, d. h. der Täter kann nur dann in ihren Genuss kommen, wenn er diejenige Tat aufklärt, an der er beteiligt war oder die zumindest mit der eigenen strafbaren Tätigkeit in Zusammenhang steht. Es reicht demzufolge nicht aus, dass der Drogenkurier zur Aufdeckung von anderen Straftaten (z. B. einem Bankraub oder einem Einbruch) beiträgt. Bis vor kurzem war eine Kronzeugenregelung im deutschen Strafrecht die Ausnahme.13 Seit dem 1.9.2009 gilt mit § 46 b StGB eine allgemeine Kronzeugenregelung für die Hilfe zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten. Ob es sich dabei um einen „Sündenfall des Rechtsstaats oder ein unverzichtbares Mittel zur Strafverfolgung“14 handelt, war 1982 für § 31 BtMG und ist heute für § 46 b StGB umstritten. Die Praxis hält § 31 BtMG für ein unentbehrliches Instrument zur Aufklärung von Straftaten, die sich in der Hierarchie des Betäubungsmittelhandels oberhalb der Straßenverkäuferebene abspielen. Der Sachverständige, der mit Aussagen von Beschuldigten oder auch Zeugen, sofern sie in anderen Verfahren ihrerseits als Beschuldigte ausgesagt haben, zu tun hat, sollte jedenfalls die folgenden Umstände im Auge behalten: Zum einen setzt § 31 BtMG einen Aufklärungserfolg durch die Aussage voraus. Ein solcher ist nur dann gegeben, wenn die Aussage wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Tat über den eigenen Tatbeitrag des Täters hinaus aufgedeckt werden konnte. Durch die Mitteilung seines Wissens muss der Aufklärungsgehilfe die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass gegen den von ihm belasteten Dritten voraussichtlich mit Erfolg ein Strafverfahren geführt werden kann.15 Die Chance dieser Regelung besteht darin, an Hintermänner im Drogengeschäft heranzukommen, zumindest aber an die in der Lieferanten- oder Abnehmerkette an jeweils nächster Stelle stehenden Personen. Ihr Risiko liegt hingegen darin, dass ein Kronzeuge, wenn er denn einmal wirklich entscheidende Hintermänner benennt, erheblich gefährdet ist. Neben einem „Straf-
Vgl. Weber (FN 5) § 31 a Rdn. 82 ff. Nachweise bei Theune NStZ 1997, 57, 59; kritisch zu dieser Differenzierung Kreuzer FS für Schewe 1991 S. 87, 90 f.
13 Eine vergleichbare Regelung galt nur für das Delikt der Geldwäsche (§ 261 Abs. 10 StGB). Im Bereich des Terrorismus (§ 129 a StGB) war eine früher bestehende Regelung bis Ende 1999 befristet. 14 So der Titel eines Aufsatzes von Mülhoff/Pfeiffer ZRP 2000, 121. 15 Zu den Einzelheiten vgl. Weber (FN 5) § 31 Rdn. 73 ff.
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rabatt“ müssen die Strafverfolgungsbehörden in einem solchen Fall erhebliche Aufwendungen zum Schutz des Zeugen machen. Zuletzt darf nicht übersehen werden, dass eine Kronzeugenregelung ein klassisches Motiv für eine Falschbelastung schafft. Die Rechtsprechung hat darauf in den letzten Jahren reagiert. Sie verlangt in den Fällen, in denen die Verurteilung allein auf der Aussage eines Kronzeugen beruht, zunehmend eine besonders eingehende Beweiswürdigung unter Berücksichtigung dieses Falschbelastungsmotivs.16 Auch der Gesetzgeber hat diese Gefahr gesehen und mit der Schaffung des § 46 b StGB zugleich die §§ 145 d, 164 StGB ergänzt: Mit erhöhter Strafe wird bedroht, wer Straftaten vortäuscht oder andere falsch beschuldigt, um eine Strafmilderung oder ein Absehen von Strafe nach § 46 b StGB oder § 31 BtMG zu erlangen. Unter dem Schlagwort „Therapie statt Strafe“ ist 1982 die Möglichkeit einer Zurückstellung der Strafvollstreckung und der Anklageerhebung in das BtMG eingeführt und 1992 behutsam erweitert worden. Der Slogan erweckt den unzutreffenden Anschein, das Gesetz verzichte auf Strafe und reagiere bei diesem Täterkreis nur mit einer Wohltat.17 Zutreffend ist, dass der Verurteilte durch eine erfolgreiche Drogentherapie im günstigsten Fall die Strafvollstreckung vermeiden kann. Richtig ist aber auch, dass zuerst eine Strafe verhängt wird und Fehlschläge bei der Therapie zur Vollstreckung dieser Strafe führen.18
Betäubungsmittelkonsum und Schuldfähigkeit Der Konsum berauschender Mittel kann Einfluss auf die Schuldfähigkeit haben. Zwischen Alkohol und Betäubungsmitteln besteht insoweit kein Unterschied. Aber während die Rechtsprechung bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung von Tätern unter Alkoholeinfluss 1997 einen Schwenk vollzogen und der Blutalkoholkonzentration ihre bis dahin zugebilligte wesentliche Bedeutung für die Feststellung erheblich verminderter Schuldfähigkeit abgesprochen hat,19 sind die Leitlinien der Rechtsprechung zur entsprechenden Beurteilung bei Drogenabhängigen seit Jahrzehnten unverändert geblieben. 1976 hat der Bundesgerichtshof ausgeführt: „Die Abhängigkeit von Betäubungsmitteln begründet für sich allein noch nicht die Aufhebung oder erhebliche Vermin16 BGH NStZ-RR 2003, 245 (1 StR 88/03); NStZ 2004, 691 (5 StR 71/04); NStZ-RR 2005, 88 (5 StR 480/04); NStZ 2007, 166 (1 StR 493/06); StV 2008, 451 (2 StR 147/08); vgl. auch Pfister FPPK 2008, 3, 10. 17 Weber (FN 5) vor §§ 35 ff. Rdn. 2. 18 Zu den Einzelheiten vgl. Gerasch in diesem Heft, doi 10.1007/ s11757-009-0024-0. 19 BGHSt 43, 66 = NJW 1997, 2460 (1 StR 511/95).
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derung der Schuldfähigkeit. Derartige Folgen sind bei einem Rauschmittelsüchtigen nur ausnahmsweise gegeben, z. B. wenn langjähriger Betäubungsmittelgenuss zu schwerster Persönlichkeitsveränderung geführt hat oder der Täter unter starken Entzugserscheinungen leidet und durch sie dazu getrieben wird, sich mittels einer Straftat Drogen zu verschaffen, ferner unter Umständen dann, wenn er das Delikt im Zustand eines akuten Rausches verübt.“20 Diese Sätze haben zwischenzeitlich nur insoweit eine Ergänzung erfahren, als die Rechtsprechung neben den starken Entzugserscheinungen auch die Angst des Täters vor Entzugserscheinungen, die er schon als äußerst unangenehm erlebt hat und als nahe bevorstehend einschätzt, als möglichen Grund für eine Einschränkung der Schuldfähigkeit anerkennt.21 Die Schuldfähigkeitsbeurteilung beginnt deshalb mit der Frage, ob der Angeklagte akut berauscht war, ob er unter erheblichen Entzugserscheinungen litt oder solche aus früherer Erfahrung unmittelbar befürchtete bzw. ob es bei ihm aufgrund langjährigen Drogenmissbrauchs zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen gekommen ist. Dabei geht es in erster Linie um Tatsachen zur bisherigen Drogenkarriere und zum Grad einer tatzeitnahen Intoxikation bzw. eines Drogenmangelzustands, die der Richter aufzuklären hat. Häufig stehen belastbare Daten (Blut-, Urin- oder Haarproben) nicht zur Verfügung. Wenn der Angeklagte hierzu Angaben macht, darf nicht außer Acht bleiben, dass die Erwartung, bei Zubilligung verminderter Schuldfähigkeit würde die Strafe geringer ausfallen, ein Motiv sein kann, hinsichtlich dieser Umstände zu übertreiben. Der Richter ist verpflichtet, die Angaben des Angeklagten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.22 Hierzu braucht er vielfältige Kenntnisse – von der Wirkungsweise einzelner Drogen über vorherrschende Konsumgewohnheiten bis hin zur Höhe marktüblicher Preise. Verfügt er darüber nicht, so muss er sich sachverständig beraten lassen. Durch Darlegungen etwa des Inhalts, dass der vom Angeklagten geschilderte – dauerhafte und aktuelle – Drogenkonsum mit dem Erscheinungsbild des Angeklagten nicht in Einklang zu bringen ist bzw. dass die konkrete Tat bei den geschilderten Entzugserscheinungen wohl nicht durchführbar gewesen wäre, kann der Sachverständige auf die Überzeugungsbildung des Gerichts und damit auf die Feststellung derjenigen Tatsachen, die er sodann seiner Begutachtung der Schuldfähigkeit zugrunde zu legen hat, Einfluss nehmen. Die Entscheidung über diese Tatsachen hat aber das Gericht zu treffen. Auf der Grundlage der richterlichen Überzeugung von einer Drogeneinnahme sind zunächst die allgemeine Wirkung des eingenommenen BetäubungsmitBGH, Beschl. v. 28.10.1976 – 2 StR 242/76. BGH NStZ 1989, 430 (5 StR 175/89); NStZ-RR 1997, 227 (1 StR 65/97); kritisch hierzu Schramm/Kröber Med Sach 1994, 205. 22 BGH NStZ 2000, 86 (4 StR 376/99). 20 21
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tels und danach die individuelle Wirkung auf den Angeklagten zu klären. Ergebnis dieser Klärung kann die Annahme einer akuten Intoxikationspsychose, also einer krankhaften seelischen Störung (§ 20 StGB – erstes Eingangsmerkmal) sein. Soweit es um eine akute Unterversorgung mit Drogen, um Entzugserscheinungen geht, ist näher aufzuklären, wie diese bei der jeweils süchtig konsumierten Droge im Allgemeinen aussehen können und was der Angeklagte davon schon erlebt hat. Bei langjähriger Drogenabhängigkeit ist das Maß der dadurch eingetretenen Persönlichkeitsveränderung näher zu untersuchen. Ergebnis kann die Bejahung einer schweren anderen seelischen Abartigkeit (§ 20 StGB – viertes Eingangsmerkmal) sein. In einem weiteren Schritt ist sodann zu prüfen, ob zwischen der akuten Intoxikation, den Entzugserscheinungen (bzw. der Angst vor diesen) bzw. der suchtbedingten Persönlichkeitsveränderung und der konkreten Straftat ein kausaler Zusammenhang besteht. Zuletzt ist darüber zu entscheiden, ob aufgrund der festgestellten Störungsbilder die Schuldfähigkeit des Angeklagten erheblich vermindert oder ausgeschlossen war. Es handelt sich dabei um die Entscheidung einer Rechtsfrage, die der Richter in eigener Verantwortung auf der Basis dessen, was ihm der Sachverständige zuvor über die Befindlichkeit des Angeklagten vermittelt hat, beantworten muss.23 Da die Schuldfähigkeit zum Zeitpunkt der Tathandlung zu untersuchen ist und zwischen Drogenaufnahme und Drogenwirkung eine gewisse Zeit vergehen kann, ist eine Konstellation denkbar, bei der der Angeklagte zwar zum Tatzeitpunkt schuldunfähig ist, an die Tat indes zuvor im schuldfähigen Zustand bereits gedacht hat. Dies wird im Strafrecht als „actio libera in causa“ – als „vorverlegte Verantwortlichkeit“ – bezeichnet: Im Zustand der Schuldfähigkeit vorgenommene Handlungen, die nach allgemeinen Grundsätzen nicht Teil einer rechtswidrigen Tat sind, können eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für diese spätere Tat auch dann begründen, wenn der Täter bei der Tat aufgrund des ihm zurechenbaren Vorverhaltens schuldunfähig ist.24 Dabei sind zwei Formen zu unterscheiden: Eine vorsätzliche actio libera in causa ist gegeben, wenn der Täter eine rechtswidrige Tat zwar im Zustand der Schuldunfähigkeit begeht, der nicht schuldunfähige Täter diesen Zustand aber vorher mindestens bedingt vorsätzlich herbeigeführt hat und weiß oder damit rechnet und einverstanden ist, dass er eine bestimmte Tat begeht und damit einen konkreten strafrechtlichen Erfolg in dem erwarteten Zustand verursacht. Fahrlässige actio libera in causa liegt vor, wenn der Täter den Zustand der Schuldunfähigkeit vorsätz23 Vgl. hierzu Maatz Blutalkohol Supplement 2003, 7; zur Kompetenzabgrenzung bei der Schuldfähigkeitsbegutachtung vgl. auch Boetticher u. a. FPPK 2007, 3. 24 Fischer, StGB 56. Aufl. § 20 Rdn. 49.
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lich oder fahrlässig herbeigeführt und dabei fahrlässig nicht bedacht hat, er werde in diesem Zustand eine bestimmte Tat begehen, oder darauf vertraut hat, es werde nicht zu einer solchen Tat kommen. Diese Rechtsfigur ist zwar zur Berauschung durch Alkohol entwickelt worden, indes nicht darauf beschränkt. Auch bei Intoxikationen durch Betäubungsmittel kann sich deshalb eine vorverlagerte Verantwortlichkeit ergeben.
Hinzuziehung eines Sachverständigen Der Hilfe eines Sachverständigen bedarf der Richter – abgesehen von den Fällen gesetzlich vorgeschriebener Beteiligung, insbesondere bei der Anordnung oder Beendigung freiheitsentziehender Maßregeln (§§ 246 a; 463 Abs. 3 Satz 4 StPO) – immer dann, wenn seine eigene Sachkunde nicht ausreicht. Wann deren Grenze erreicht und deshalb die Hinzuziehung eines Sachverständigen geboten ist, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls.25 Liegen nach dem Akteninhalt und den Beobachtungen in der Hauptverhandlung in Tatbild und Täterpersönlichkeit keine Anzeichen dafür vor, dass der Angeklagte in geistiger Hinsicht von der Norm abweicht, kann das Gericht die Schuldfähigkeit selbst einschätzen.26 Eine bloße Drogenabhängigkeit des Angeklagten ohne weitere Auffälligkeiten oder sonstige besondere Umstände gibt noch keinen Anlass, einen medizinischen Sachverständigen zur Frage einer etwaigen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit hinzuzuziehen.27 Anlass dafür geben erst konkrete Anhaltpunkte für eine Drogenabhängigkeit mit schwerwiegenden Persönlichkeitsveränderungen28 oder für eine Tatbegehung unter akutem Suchtdruck.29
Eingeschränkte Schuldfähigkeit und Strafmilderung Die Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) eröffnet dem Richter die Möglichkeit, die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB zu mildern, d. h. den Rahmen, aus dem die Strafe entnommen wird, nach unten 25 Die Einzelfallentscheidung unterliegt revisionsgerichtlicher Überprüfung, bei der durchaus unterschiedliche Akzente gesetzt werden können; vgl. zur Notwendigkeit eines Sachverständigen bei Tötungsdelikten einerseits BGH NStZ 2008, 644 (5 StR 193/07), RuP 2008, 68 (5 StR 197/07) sowie andererseits BGH NJW 2008, 1329 (1 StR 648/07). 26 Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 244 Rdn. 74 b. 27 BGH bei Holtz MDR 1977, 105, 106 (3 StR 292/76). 28 BGH NStZ 2001, 82 (3 StR 224/00); NStZ 2003, 370 (5 StR 573/02). 29 BGH NStZ 2006, 151 (2 StR 389/05).
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zu verschieben. Die hierin liegende Attraktivität für den Angeklagten hat der Bundesgerichtshof, soweit es um die akute Alkoholintoxikation geht, seit einigen Jahren deutlich geschmälert: Eine Strafrahmenverschiebung kommt nach einer Entscheidung aus dem Jahr 2003 regelmäßig nicht mehr in Betracht, wenn die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit auf verschuldeter, d. h. uneingeschränkt vorwerfbarer Trunkenheit des Täters beruht30 bzw. wenn sich aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls das Risiko der Begehung von Straftaten vorhersehbar signifikant infolge der Alkoholisierung erhöht hat.31 Die Trunkenheit ist dem Täter jedenfalls dann nicht uneingeschränkt vorwerfbar, wenn dieser alkoholkrank oder alkoholüberempfindlich ist. Eine Alkoholerkrankung, bei der schon die Alkoholaufnahme nicht als Schuld erhöhender Umstand zu werten ist, kann vorliegen, wenn der Täter den Alkohol aufgrund eines unwiderstehlichen oder ihn weitgehend beherrschenden Hanges trinkt, der seine Fähigkeit, der Versuchung zum übermäßigen Alkoholkonsum zu widerstehen, auch nur einschränkt.32 Diese Grundsätze können auch auf die selbstverschuldete Intoxikation mit Betäubungsmitteln Anwendung finden.
Betäubungsmittel und Unterbringung in einer Entziehungsanstalt Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird (§ 64 Satz 1 StGB). Die Voraussetzungen für eine Unterbringung sind danach die folgenden: ein Täter mit einem Hang zu Rauschmitteln, eine Straftat, die für diesen Hang symptomatisch ist, sowie eine von dem Täter ausgehende Gefährlichkeit. Hinzukommen muss eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht der Suchtbehandlung (§ 64 Satz 2 StGB). Hang im Sinne von § 64 StGB ist nach der ständigen Rechtsprechung die eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu konsumieren. Ein solch übermäßiger Ge30 BGH NStZ 2003, 480 (3 StR 435/02); NStZ 2005, 151 (1 StR 254/04); NStZ-RR 2009, 230 (3 StR 3 StR 505/08). 31 BGHSt 49, 239 (5 StR 93/04); NStZ 2009, 202 (5 StR 456/08). 32 NStZ 2008, 330 (3 StR 479/07).
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nuss von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene auf Grund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint. Dies kommt etwa dann in Betracht, wenn der Täter berauschende Mittel in einem solchen Umfang zu sich nimmt, dass hierdurch seine Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt werden, oder beim Vorliegen von Beschaffungskriminalität.33 Immer wieder hat der Bundesgerichtshof die Verneinung dieses Merkmals durch die Tatgerichte beanstandet und darauf hingewiesen, dass eine Reihe von Umständen (so z. B. physische Abhängigkeit, Entzugserscheinungen, erheblich verminderte Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt, Depravation, Beeinträchtigung von Gesundheit, Arbeitsund Leistungsfähigkeit) nicht zwingende Voraussetzungen für die Annahme eines Hangs sind. Aus diesen Entscheidungen kann nicht geschlossen werden, diese Umstände seien ohne Bedeutung. Vielmehr gilt: Liegen einer oder mehrere von ihnen vor, so ist dies ein Indiz für das Bestehen eines Hangs. Allein mit ihrem Fehlen darf nach der Rechtsprechung der Hang nicht abgelehnt werden.34 Insbesondere ist die Depravation, der Persönlichkeitsverfall aufgrund von Suchtverhalten, nur ein Indiz, keinesfalls aber Voraussetzung für die Annahme eines Hangs.35 Die Tat muss auf den Hang zurückgehen. Das liegt, wenn sie im hangbedingten Rausch begangen worden ist, klar zutage. Ansonsten ist im Einzelfall zu untersuchen, ob zwischen dem Hang und der Tat ein symptomatischer Zusammenhang besteht. Haben neben dem Hang auch andere Umstände in der Persönlichkeit des Täters zur Tat beigetragen, ist z. B. für die Raubtat sowohl die Alkoholabhängigkeit als auch eine antisoziale Persönlichkeitsstörung auslösend gewesen, so wird dadurch der symptomatische Zusammenhang nicht ausgeschlossen.36 Bei Beschaffungskriminalität ist der Symptomcharakter typischerweise gegeben.37 Dabei ist es unerheblich, dass der drogenabhängige Täter mit dem aus der Straftat erlangten Geld nicht neue Betäubungsmittel gekauft, sondern nur die Altschulden bei dem „Dealer“ beglichen hat.38 Selbst Sexualdelikte kommen als Anlass taten in Betracht, sofern ein langjähriger Drogenmissbrauch zu einer tatbegünstigenden Enthemmung und Entdifferenzierung der Persönlichkeit beim Täter geführt hat.39 Es muss die Gefahr weiterer, durch den Hang bedingter rechtswidriger Taten bestehen. Dies kann nur ange33 BGH NStZ 2005, 210 (2 StR 329/04); Einzelheiten bei Schöch (FN 1) § 64 Rdn. 44 ff. 34 BGH StV 2008, 405 (3 StR 38/08). 35 BGH NStZ 2007, 697 (1 StR 332/07). 36 BGH NStZ-RR 1997, 231 (2 StR 470/96). 37 BGH StV 2008, 405 (3 StR 38/08). 38 BGH NStZ-RR 2009, 48 (3 StR 275/08). 39 BGH NStZ-RR 2000, 365 (2 StR 589/99).
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nommen werden, wenn die begründete Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass der Täter infolge seines Hanges rückfällig wird. Die bloße Wiederholungsmöglichkeit genügt nicht.40 Aus dem Wortlaut von § 64 StGB („Gefahr“) einerseits und von § 63 StGB („Erwartung“) andererseits mag man entnehmen, dass das Gesetz für die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus einen höheren Grad von Wahrscheinlichkeit verlangt. Es handelt sich aber um „allenfalls geringfügig unterschiedliche Wahrscheinlichkeitsgrade“.41 Es müssen erhebliche Taten sein. Anders als bei der Unterbringung nach § 63 StGB wird eine Gefahr für die Allgemeinheit nicht gefordert. Hieraus und aus dem geringeren Grad des mit § 64 StGB verbundenen Eingriffs wird gefolgert, die Anforderungen an die Erheblichkeit lägen hier unter denen einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus.42 Wenn nur der Erwerb kleinerer Rauschgiftmengen zum Eigenverbrauch zu erwarten ist, reicht dies für eine Unterbringung nicht aus.43 Gleiches gilt für geringfügige Eigentumsdelikte aus dem Bereich der indirekten Beschaffungskriminalität.44 Hingegen sind der Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie die Abgabe von Drogen an Minderjährige erhebliche, die Unterbringung rechtfertigende Straftaten.45 Ob ein Angeklagter gefährlich im Sinne von § 64 StGB ist, hat der Richter zu entscheiden, da es sich um eine Rechtsfrage handelt, die nicht der Beurteilungskompetenz des Sachverständigen unterfällt.46 Es wäre deshalb für den Richter nicht sachgerecht, vom Sachverständigen Ausführungen „zur Gefährlichkeit“ des Angeklagten zu verlangen. Wie auch bei vergleichbaren Prognosestellungen ist vielmehr zu fragen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Angeklagte erneut Straftaten begehen wird, welcher Art sie sein, welche Häufigkeit und welchen Schweregrad sie haben werden und mit welchen Maßnahmen das Risiko zukünftiger Straftaten beherrscht oder verringert werden könnte.47 Die Unterbringung darf nach § 64 Satz 2 StGB nur angeordnet werden, „wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen“. Mit dieser seit 20.7.2007 geltenden Neufassung hat der GeBGH NStZ 1994, 30 (4 StR 374/93). BGH aaO. 42 Schöch (FN 1) § 64 Rdn. 87 f. 43 BGH, Beschl. v. 3.8.2004 – 1 StR 192/04. 44 BGH StV 1998, 74 (2 StR 608/96). 45 BGH NStZ-RR 2008, 234 (3 StR 148/08). 46 BGH, Beschl. v. 8.8.2008 – 2 StR 337/08. 47 Vgl. hierzu Boetticher u. a. FPPK 2007, 90, 92. 40 41
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setzgeber die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994 aufgegriffen, wonach es für die Anordnung der Maßregel nicht ausreichen dürfe, dass der Erfolg der Entziehungskur lediglich nicht „von vornherein aussichtslos erscheint“.48 Der strengere, an die Maßregelverhängung höhere Anforderungen stellende Maßstab gilt deshalb schon seit 15 Jahren. Nicht die Aussichtslosigkeit, sondern das Fehlen hinreichend konkreter Erfolgsaussicht ist seither Ausschlussgrund für § 64 StGB.49 Nach dem Gesetzeswortlaut liegt der Erfolg in der Heilung des Maßregelpatienten oder zumindest in der Vermeidung des Rückfalls in die Sucht über eine „erhebliche Zeit“. Der Gesetzgeber hat sich für diese Formulierung in bewusster Abkehr von der vom Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgeschlagenen Formulierung („nicht unerhebliche Zeit“) entschieden, die lediglich Fälle ausschließen wollte, in denen ein Suchtrückfall „fast unmittelbar nach der Entlassung im Abstand von wenigen Tagen oder Wochen“ zu erwarten ist.50 Der Zeitraum der erwarteten Drogenfreiheit nach Ende der Unterbringung muss deshalb deutlich länger sein, also mindestens ein halbes Jahr betragen.51 Entgegen der früheren Regelung ist die Anordnung der Maßregel bei Vorliegen der Voraussetzungen seit dem 20.7.2007 nicht mehr zwingend vorgeschrieben; vielmehr „soll“ das Gericht in diesem Fall die Unterbringung anordnen. Das bedeutet, dass es beim Vorliegen der Voraussetzungen die Unterbringung „in der Regel anordnen muss“; es darf nur in besonderen Ausnahmefällen (Angeklagte mit mangelhaften oder fehlenden Sprachkenntnissen; Angeklagte mit zu erwartender Ausweisungsentscheidung; Angeklagte, bei denen die Disposition von Straftaten wesentlich durch Persönlichkeitsmängel begründet wird) davon absehen.52 Häufig wollen sich drogenabhängige Angeklagte an Stelle der Maßregel nach § 64 StGB lieber einer Drogentherapie unter Nutzung von § 35 BtMG unterziehen. Diesem Wunsch steht regelmäßig das Gesetz entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geht § 64 StGB der Sonderregelung des § 35 BtMG vor, von der Anordnung der Maßregel darf deshalb nicht schon wegen der Möglichkeit der vollstreckungsrechtlichen Zurückstellung abgesehen werden.53 An dieser Rechtsprechung hat sich durch die Änderung BVerfGE 91, 1 = NStZ 1994, 578. Gleichwohl muss der BGH auch heute noch gelegentlich die Verwendung des alten Maßstabs beanstanden; vgl. zuletzt Beschl. v. 11.3.2009 – 2 StR 537/08 (vorangehend LG Bonn). 50 BGH, Beschl. v. 16.9.2008 – 5 StR 378/08. 51 Strenger hingegen Schöch (FN 1) § 64 Rdn. 136: mehr als ein Jahr. 52 Diese Fallgruppen waren in dem Gesetzentwurf des Bundesrats (BT-Dr 16/1344, S.12) enthalten, auf den der Rechtsausschuss zur Begründung der Soll-Vorschrift Bezug genommen hat (BT-Dr 16/5137). 53 BGH NStZ-RR 2003, 12 (4 StR 330/02); Beschl. v. 20.7.2004 – 3 StR 228/04. 48 49
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von § 64 StGB in eine Soll-Vorschrift nichts geändert.54 Auch wenn die Maßregel nicht mehr zwingend anzuordnen ist, so ist ein Angeklagter, der die Voraussetzungen des § 64 StGB erfüllt, doch im Sinne dieser Vorschrift gefährlich. Für seine Therapie ist die freiheitsentziehende Maßregel die gebotene Maßnahme. Die offenen Therapieformen kommen schon aus Gründen des Schutzes der Bevölkerung nicht in Betracht. Ebenfalls zum 20.7.2007 hat der Gesetzgeber die Vorschrift über die zwingende Hinzuziehung eines Sachverständigen bei der Maßregelverhängung geändert. § 246 a Satz 1 und 2 StPO lauten nun: „Kommt in Betracht, dass die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden wird, so ist in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten zu vernehmen. Gleiches gilt, wenn das Gericht erwägt, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen.“ Mit der Änderung sollte das Gesetz an die Rechtsprechung angepasst werden, die den alten Wortlaut – Hinzuziehung des Sachverständigen, wenn mit einer Maßregelanordnung „zu rechnen“ ist – dahin ausgelegt hatte, dass die Anhörung eines Sachverständigen bereits dann zu erfolgen hat, wenn die Maßregel „in Betracht kommt“.55 Der Gesetzeswortlaut entspricht jetzt der weitergehenden, die Hinzuziehung eines Sachverständigen in größerem Umfang fordernden Rechtsprechung. Dieser Maßstab gilt allerdings nicht für die Unterbringung nach § 64 StGB. Hier ist die Beauftragung eines Gutachters daran geknüpft, dass das Gericht eine Anordnung der Unterbringung nach § 64 StGB „erwägt“. Gleichwohl soll die Beauftragung eines Gutachters nicht erst dann notwendig werden, wenn das Gericht die Anordnung der Unterbringung nach § 64 StGB konkret in Betracht zieht; die Pflicht zur Hinzuziehung soll nur in den Fällen entfallen, in denen eine Unterbringung unter Ausschöpfung des dem Gericht nunmehr eingeräumten eng begrenzten Ermessensspielraums offensichtlich nicht in Frage kommt.56 Damit unterscheidet sich die neue Regelung in ihrer praktischen Anwendung in den allermeisten Fällen nicht vom alten Recht. Sofern sich erst im Verlauf einer Hauptverhandlung herausstellt, dass eine Unterbringung „zu erwägen“ ist, kann der Sachverständige auch dann noch hinzugezogen werden. Einer Wiederholung des bereits durchgeführten Teils der Verhandlung bedarf es nicht.
54 BGH StV 2008, 405 (3 StR 38/08); Beschlüsse v. 8.8.2008 – 2 StR 277/08 und 2 StR 337/08. 55 Vgl. Bericht des Rechtsausschusses (BT-Dr 16/5137 S.11) unter Hinweis auf den Gesetzentwurf des Bundesrats (BT-Dr 16/1344 S.17). 56 So der Bericht des Rechtsausschusses (BT-Dr 16/5137 S.11).
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Dem Sachverständigen können auch auf andere Weise deren Ergebnisse vermittelt werden.57 Die Neufassung des § 64 StGB hat auch nichts daran geändert, dass der Tatrichter gehalten ist, die Frage einer Unterbringung in den Urteilsgründen (unabhängig von § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO) zu erörtern, wenn diese sich aufdrängt. Dies ist dann der Fall, wenn im Urteil eine Suchtkarriere des Angeklagten beschrieben wird, die einen Hang nahe legt, zugleich ein symptomatischer Zusammenhang zwischen dieser Sucht und der Straftat möglich erscheint und zuletzt keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine Behandlung keine Erfolgsaussicht hätte. Stellt das Gericht beispielsweise fest, dass ein 40jähriger Angeklagter seit fünf Jahren Cannabis, seit vier Jahren auch Kokain (2 bis 3 g am Wochenende), später auch Ecstasy und Amphetamin sowie in der letzten Zeit auch Heroin konsumiert hat und der begangene Drogenhandel der Finanzierung der eigenen Polytoxikomanie diente, dann muss sich das Urteil zur Frage einer Maßregelverhängung verhalten.58 Immer wieder führt das Fehlen entsprechender Erörterungen zur zumindest teilweisen Aufhebung von Urteilen durch den Bundesgerichtshof. Möglicherweise sprechen Gerichte in manchen Fällen den § 64 StGB in den Urteilsgründen nicht an, weil sie von der Drogenkarriere und der Intoxikation zum Tatzeitpunkt, wie sie der Angeklagte in seiner Einlassung geschildert hatte, nicht überzeugt waren. In einem solchen Fall dürfen diese Umstände aber bereits nicht als „festgestellt“ ins Urteil aufgenommen werden. Vielmehr muss in den Urteilsgründen eine Darstellung der Einlassung des Angeklagten und eine Auseinandersetzung mit ihr erfolgen und begründet werden, warum das Gericht ihr nicht zu folgen vermochte. Auch die Vollstreckung der Unterbringung nach § 64 StGB hat im Jahr 2007 eine wesentliche Neuregelung erfahren. Zum einen soll das Gericht bei Freiheitsstrafen von über drei Jahren bestimmen, dass ein Teil der Strafe vor der Unterbringung in der Entziehungsanstalt zu vollziehen ist (§ 67 Abs. 2 Satz 2 StGB). Der Gesetzgeber hat damit die Nöte berücksichtigt, die der Maßregelvollzug mit Verurteilten hatte, deren hohe Strafreste eine sinnvolle Vollzugsgestaltung einschließlich eines Erprobungsprogramms in Freiheit erschwerten. Es sind in diesen Fällen keine einzelfallbezogenen Begründungen für einen teilweisen Vorwegvollzug der Strafe mehr nötig. Zum anderen bestimmt § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB nunmehr, dass die Dauer des Vorwegvollzugs der Freiheitsstrafe so zu bemessen ist, dass nach der Maßregel „eine Entscheidung nach Absatz 5 Satz 1 [d. i. Entlassung nach der Hälfte der Strafe] möglich ist“. Es muss deshalb zwingend auf den Halbstrafenzeitpunkt abgestellt werden. Der Tatrichter hat im Erkenntnisverfah57 58
Meyer-Goßner (FN 26) § 246 a Rdn. 2. BGH NStZ 2009, 393 (3 StR 224/08).
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ren dabei keinen Beurteilungsspielraum mehr. Darauf, ob es naheliegend erscheint, dass die zuständige Strafvollstreckungskammer zu gegebener Zeit eine solche Halbstrafenaussetzung auch gewähren wird, oder ob ein solches Ergebnis letztlich nicht zu erwarten ist, kommt es nicht an.59 Diese großzügige Regelung, die auch erheblich vorbestraften Bewährungsbrechern eine Aussicht auf eine sehr vorzeitige Entlassung verschafft, soll die Therapiemotivation steigern.60 Welchen Effekt sie hat, muss die Erfahrung zeigen.61 Um das Maß des notwendigen Vorwegvollzugs der Strafe zutreffend zu bestimmen, ist auch eine Prognose der erforderlichen Therapiedauer erforderlich. Der Sachverständige wird deshalb auch danach gefragt werden. Die Rechtsprechung verlangt, die Therapiedauer „genau zu bestimmen“,62 mag dies im Einzelfall auch schwierig vorherzusagen sein. Die Hälfte der erkannten Freiheitsstrafe, vermindert um die voraussichtliche Therapiedauer ergibt sodann den notwendigen Vorwegevollzug der Freiheitsstrafe. Unter der Annahme einer sechsjährigen Freiheitsstrafe und einer für nötig erachteten Therapiedauer von zwei Jahren würde der Ausspruch in der Urteilsformel lauten: „Ein Jahr der Freiheitsstrafe ist vor der Maßregel zu vollziehen.“ Dass der Angeklagte Untersuchungshaft verbüßt hat und ggf. vom Urteilszeitpunkt bis zur Rechtskraft weiter verbüßen wird, ist für den Ausspruch ohne Bedeutung, da die Untersuchungshaft auf die Dauer des vor der Unterbringung zu vollziehenden Teils der Strafe anzurechnen ist.63
Betäubungsmittel und Straßenverkehr Betäubungsmittel gehören zu den „anderen berauschenden Mittel“ i. S. d. §§ 315 c, 316 StGB. Wer im Straßenverkehr ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses von Betäubungsmitteln nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, ist wegen „Trunkenheit im Verkehr“ (§ 316 StGB) oder, sofern er dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet, wegen „Gefährdung des Straßenverkehrs“ (§ 315 c StGB) strafbar.64 Zentraler Begriff beider Vorschriften ist die Fahrunsicherheit. 59 BGH NStZ-RR 2008, 182 (1 StR 103/08); StV 2008, 635 (2 StR 237/08). 60 Schöch (FN 1) § 64 Rdn. 97. 61 Berichten aus der Praxis zufolge haben absolut drogenfreie GroßDealer bereits versucht, sich im Strafverfahren als suchtmittelabhängig darzustellen, um nach einer Unterbringung die „Segnungen“ des § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB ausnutzen zu können. 62 BGH NStZ 2009, 87 (1 StR 478/08). 63 BGH NStZ 2003, 257 (2 StR 333/02); NStZ 2008, 213 (3 StR 390/07). 64 Zu den Einzelheiten vgl. König in Leipziger Kommentar 12. Aufl. § 316 Rdn. 59 ff. und 144 ff.
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In der praktischen Anwendung haben sich die Begriffe der „absoluten“ und der „relativen“ Fahrunsicherheit herausgebildet. Es handelt sich dabei nicht um unterschiedliche Grade eines Zustands, sondern um Wege zu dessen Feststellung. Bei der absoluten Fahrunsicherheit wird diese allein aus der Wirkstoffkonzentration im Blut unwiderleglich vermutet. Es handelt sich um eine prozessuale Beweisregel, die allerdings nur für die Wirkung von Alkohol existiert. Hier ist bei einer Alkoholkonzentration von 1,1 Promille beim Führen von Kraftfahrzeugen sowie von 1,6 Promille beim Radfahren von absoluter Fahrunsicherheit auszugehen. Für die Beeinflussung durch Betäubungsmittel gibt es solche Grenzwerte nicht, da es insoweit an validen unfallstatistischen und experimentellen Forschungsergebnissen fehlt.65 Der Nachweis von Drogenwirkstoffen im Blut eines Fahrzeugführers rechtfertigt deswegen für sich allein noch nicht die Annahme der Fahruntüchtigkeit. Hierfür bedarf es vielmehr regelmäßig der Feststellung weiterer aussagekräftiger Beweisanzeichen; die Beeinträchtigung der Sehfähigkeit aufgrund einer drogenbedingten Pupillenstarre genügt hierfür nicht ohne weiteres.66 Fahrunsicherheit aufgrund Betäubungsmittelkonsums kann deshalb – vergleichbar mit dem Verfahren bei Blutalkoholkonzentrationen unterhalb der Grenzwerte – nur als „relative“ Fahrunsicherheit festgestellt werden. Sie ist gegeben, wenn eine Intoxikation vorliegt und die konkreten Umstände der Tat erweisen, dass diese zur Fahrunsicherheit geführt hat. Hier treffen also mehrere Indizien (Berauschung und rauschbedingter Fahrfehler oder sonstige Auffälligkeiten aus dem Zustand und dem Verhalten des Fahrers) zusammen. Die Feststellung obliegt dem Richter unter umfassender Würdigung aller Beweisanzeichen. Hierzu ist von Bedeutung, welche Substanz konsumiert worden ist, welche fahrsicherheitsmindernde Wirkung diese Substanz auslösen kann und welche Auswirkungen die Substanz im konkreten Fall hatte. Soweit ein Fahrfehler nicht festzustellen ist, sind sonstige Auffälligkeiten erforderlich, so z. B. schwerwiegende Einschränkungen der Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit, mangelnde Ansprechbarkeit, Unfähigkeit zu koordinierter Bewegung, extrem verlangsamte Reaktion. Allgemeine Merkmale des Drogenkonsums (gerötete Augen, erweiterte Pupillen, „verwaschene“ Sprache) reichen hingegen nicht aus.67 Die Strafnorm des § 316 StGB wird bei Rauschmittelkonsum ergänzt durch die Ordnungswidrigkeit des § 24 a Abs. 2 StVG. Danach handelt ordnungswidrig, „wer unter der Wirkung eines in der Anlage zu dieser Vorschrift genannten berauschenden Mittels im StraKönig (FN 64) Rdn. 148 a. BGHSt 44, 219 = NStZ 1999, 407 (4 StR 395/98). 67 Vgl. König (FN 64) Rdn. 164 f. 65 66
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ßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt. Eine solche Wirkung liegt vor, wenn eine der in dieser Anlage genannten Substanzen im Blut nachgewiesen wird.“ Die Anlage zu § 24 a StVG vom 6.6.200768 enthält die folgenden berauschenden Mittel: Cannabis, Heroin, Morphin, Cocain, Amfetamin, Designer-Amfetamin (MDA, MDE, MDMA) und Metamfetamin. Als Nachweis der Substanzeinnahme kommt nur die Blutprobe in Betracht. Nach dem klaren Wortlaut scheiden Urinproben oder etwa ein Geständnis des Konsumenten als Grundlage für eine Ahndung aus. Bei Cannabisprodukten hat das Bundesverfassungsgericht wegen der verbesserten Nachweismethoden die Gleichsetzung von Nachweis mit der Wirkung beanstandet. § 24 a Abs. 2 StVG ist verfassungsgemäß auszulegen: Festgestellt werden muss eine Konzentration, die es entsprechend dem Charakter der Vorschrift als eines abstrakten Gefährdungsdelikts als möglich erscheinen lässt, dass der untersuchte Kraftfahrzeugführer am Straßenverkehr teilgenommen 68
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hat, obwohl seine Fahrtüchtigkeit eingeschränkt war. Das wird in der Wissenschaft zum Teil erst bei Konzentrationen von über 1 ng/ml angenommen.69 Bei einer Verurteilung nach §§ 315 c, 316 StGB ist der Täter regelmäßig als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen; ihm ist deshalb im Strafverfahren die Fahrerlaubnis zu entziehen (§ 69 StGB). Die Ordnungswidrigkeit nach § 24 a Abs. 2 StVG führt hingegen nur zu einem Fahrverbot von einem Monat bis zu drei Monaten (§ 25 Abs. 1 Satz 2 StVG). Daneben bestehen Möglichkeiten der verwaltungsbehördlichen Entziehung der Fahrerlaubnis. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG bzw. nach § 46 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde eine bestehende Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist.
7 Interessenkonflikt Es besteht kein Interessenkonflikt. 69
BVerfG NJW 2005, 349; vgl. dazu Krumdiek VRR 2008, 368.
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Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:264–275 DOI 10.1007/s11757-009-0021-3
Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
Psychopathological and neurocognitive effects of drugs of abuse in the context of criminal responsibility
7 Zusammenfassung Die Einschätzung der strafrechtlichen Relevanz des Drogenkonsums setzt differenzierte Kenntnisse über die Qualität und den zeitlichen Verlauf der psychopathologischen Phäno- mene im Rausch, sowie über das Eingegangen: 3. August 2009 Angenommen: 10. August 2009 Online publiziert: 8. Oktober 2009
Ü bers i c h t
Psychopathologische und kognitive Veränderungen unter Rauschdrogen – Relevanz für die strafrechtliche Beurteilung
Ausmaß der Substanzabhängigkeit und die Stärke etwaiger Entzugssymptome voraus. In der vorliegenden Übersicht werden die akuten und subakuten Wirkungen der wichtigsten Rauschdrogen systematisch beschrieben. Dabei werden sowohl die anekdotischen Berichte und die Ergebnisse systematischer Befragungen in der Drogenszene als auch die Daten aus experimentellen Studien mit gesunden Probanden berücksichtigt. Abschließend wird die Relevanz der psychopathologischen Phänomene unter den verschiedenen Rauschdrogen für die strafrechtliche Beurteilung reflektiert und kritisch bewertet.
Prof. Dr. med. E. Gouzoulis-Mayfrank ()) Allg. Psychiatrie II, LVR-Klinik Köln Wilhelm-Griesinger Str. 23 51109 Köln, Deutschland Tel.: +49-221-8993-629 E-Mail: euphrosyne.gouzoulis-mayfrank@ lvr.de
7 Schlüsselwörter Rausch drogen · Psychopathologie · Kognition · Entzug · Schuldfähigkeit
Prof. Dr. med. E. Gouzoulis-Mayfrank Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität zu Köln, Kerpener Str. 62 50924 Köln, Deutschland
7 Abstract To properly estimate the effect of drug consumption in the context of criminal responsi-
Einleitung Drogenmissbrauch oder -abhängigkeit sind in unserer Gesellschaft verbreitet. Die Beurteilung der Relevanz dieser Störungen für die Schuldfähigkeit bei begangenen Straftaten gehört zur Alltagspraxis von Juristen, gutachterlich beraten von forensischen Psychiatern und Psychologen. Pauschale Aussagen sind in diesem Bereich weder
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bility it is important to understand the nature and course of psychopathological alterations whilst under the influence of each particular drug. In addition, it is important to know about the addictive potential of the different street drugs and the pattern of withdrawal symptoms. In this review we are summarizing the existing evidence for the most widely used illegal drugs. We have considered both anecdotal evidence from and systematic surveys within the illegal drug scene as well as the results of experimental research with healthy volunteers. Finally, we evaluate how acute or subacute psychopathological drug effects effect the degree of criminal responsibility.
7 Keywords Drugs of abuse ·
Psychopathology · Cognition · Withdrawal · Criminal responsibility
möglich noch gerechtfertigt. Vielmehr erfordert die Einschätzung der strafrechtlichen Relevanz eines Drogenkonsums differenzierte Kenntnisse über das Ausmaß der Substanzabhängigkeit und die Stärke etwaiger Entzugssymptome, sowie vor allem über die Qualität und den zeitlichen Verlauf der psychopathologischen Phänomene im Rausch selbst. Diese variieren erheblich zwischen den verschiedenen Substanzgruppen.
Psychopathologische und kognitive Veränderungen unter Rauschdrogen – Relevanz für die strafrechtliche Beurteilung
Etwas vereinfacht lassen sich die Akutwirkungen der Suchtstoffe in drei Hauptqualitäten bzw. Hauptpole einteilen: dämpfend, aktivierend und bewusstseinsverändernd/halluzinogen [9]. Alle relevanten Rauschdrogen lassen sich zu einem dieser Hauptpole einordnen oder sie stehen im Zwischenbereich zwischen zwei oder drei Polen. Eine erste, orientierende Einordnung der Suchtstoffe nach diesem Prinzip findet sich in der Abb. 1. Die Tab. 1 bietet eine Übersicht über die pharmakologischen Mechanismen, Wirkdauer, Abhängigkeitspotenzial, Konsummuster und toxikologische Nachweismöglichkeiten für die wichtigsten Rauschdrogen. Neben den anekdotischen Berichten aus der Szene über die Substanzwirkungen liegen Ergebnisse systematischer Befragungen und eine Reihe experimenteller Studien aus den letzten 10–20 Jahren insbesondere zu Amphetaminen, Halluzinogenen, Ecstasy und Cannabis vor. Im Folgenden wird auf einige wichtige Originalarbeiten, überwiegend aber auf Übersichtsarbeiten verwiesen, da ansonsten bei der großen Zahl von Einzelstudien der Rahmen dieser Arbeit gesprengt würde.
Opiate Konsumformen, Abhängigkeitspotenzial Der Prototyp der suchtmedizisch relevanten Opioide ist Heroin. Heroin verfügt über ein starkes Abhängigkeitspotenzial und führt rasch zu einer psychischen und körAbb. 1 Einteilung der verschiedenen Rauschdrogen nach ihren psychopathologischen Wirkungen (mod. nach [9])
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perlichen Abhängigkeit mit Toleranz (Tendenz zur Dosissteigerung) und einem starken Entzugssyndrom beim Absetzen. Diese ist beim i. v.-Konsum am stärksten.
Intoxikation, Entzug Heroin hat starke euphorisierende und dazu entspannend-abschirmende Effekte. Die Konsumenten wirken nach dem „Schuss“ verlangsamt, apathisch und in sich gekehrt, sie sitzen zumeist untätig und beschreiben sich dabei selbst als glücklich, wohlig-warm und „von allem erleichtert“ („Kick“). Die Sprache ist verwaschen und die Pupillen erscheinen durch die parasympathikotone Wirkung stark verengt („stecknadelkopfgroß“). Bei einer Überdosis kann es zur Atemdepression und Koma mit tödlichem Ausgang kommen (akzidentell oder als Suizid: „der goldene Schuss“). In der Abstinenz tritt bei Heroinabhängigen ein z. T. schweres Entzugssyndrom auf (ICD-10: F11.3). Die Symptome fangen bereits 6–8 Stunden nach dem letzten Konsum an, erreichen nach 2–3 Tagen ihren Höhepunkt und klingen nach ca. einer Woche ab. Dominierend sind das starke Unwohlsein (Dysphorie, Depressivität, „Elendsgefühl“), das Verlangen nach der Droge (“craving”), die Unruhe und die Schlafstörungen. Hinzu kommen mehr oder weniger ausgeprägte körperliche Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Gliederschmerzen, Bauchkrämpfe, Durchfälle, Schwitzen und Tachykardie oder Hypertonie [20]. Der Versuch diese quälenden Entzugssymptome zu verhindern oder zu been-
dämpfend angstlösend entspannend Abschirmend euphorisierend
Opiate (z. B. Heroin)
Aktivität Antrieb
Cannabis atypische Halluzinogene z. B. Engelstrompeten, Fliegenpilze Amphetamine Kokain
bewußtseinsverändernd (-erweiternd) halluzinogen
stimulierend euphorisierend Aktivität Antrieb Ecstasy
klassische Halluzinogene z. B. LSD, Psilocybin-Pilze
(MDMA)
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Tab. 1 Die wichtigsten Rauschdrogen: Übersicht über Substanzgruppen, Mechanismen, Abhängigkeitspotenzial und toxikologische Nachweismöglichkeiten
Heroin Straßennamen: lady, horse, brown sugar, junk
Vorkommen, Präparationen, Applikationsart, Wirkdauer
Pharmakologische Mechanismen
Abhängigkeitspotenzial
Toxikologischer Nachweis mit Routine-Screeningmethoden
halbsynthetisch (Morphin aus Schlafmohn, chemisch modifiziert)
Agonismus an körpereigenen Opioidrezeptoren
starke psychische und körperliche Abhängigkeit, bes. beim i. v.-Konsum mit starkem initialen „Kick“ bei rascher Anflutung
im Urin über 2–3 Tage nachweisbar
intravenös (i. v.), Rauchen, Sniefen Wirkdauer 3–6 Std
Kokain/Crack
aus Blättern des Kokastrauches
Straßennamen:
meistens Sniefen, Rauchen, i. v.
Snow, Powder, Dust
Beim Sniefen Einsetzen der Wirkung innerhalb weniger Minuten, Dauer ca. 20–90 Minuten
Affinität zum Opiatµ-Rezeptor korreliert mit Wirkstärke und Abhängigkeitspotenzial indirekt adrenerg/ serotonerg: verstärkte Freisetzung und Hemmung der Wiederaufnahme von Dopamin (DA), Serotonin (5-HT), Noradrenalin (NA)
Beim Rauchen von Crack Einsetzen der Wirkung binnen Sekunden, Rauschdauer ca. 5–10 Minuten Amphetamine Straßennamen: speed, meth, crank, crystal, ice
Synthetisch oral, Sniefen, seltener i. v. Wirkdauer 4–12 Std
Toleranz (sukzessive Dosissteigerung um gleiche Wirkung zu erhalten) schweres Entzugssyndrom in der Abstinenz [20] starke psychische Abhängigkeit mit ausgeprägtem Verlangen in Abstinenz (craving) keine körperliche Abhängigkeit
im Urin über einige Stunden nachweisbar; Stoffwechselprodukt Benzoylekgonin bis zu 3Tage
Runs = Binges: extreme Konsumepisoden mit völligem Kontrollverlust und erneutem Konsum, sobald Wirkung nachlässt [7, 37]
indirekt adrenerg: verstärkte Freisetzung von DA und NA
mittelstarke psychische und körperliche Abhängigkeit, beim i. v.-Konsum mittelstark bis stark
im Urin über 2–3 Tage nachweisbar
bei i. v.-Konsumenten bisweilen ausgeprägte Toleranz mit extremen Dosissteigerungen [19, 37]
Halluzinogene
unterschiedlich, s. Tab. 2 überwiegend oral
unterschiedlich, s. Tab. 2
kaum; überwiegend Probierverhalten oder sporadischer Konsum
mit Routine-Screeningmethoden nicht nachweisbar
Ecstasy
Synthetisch
Indirekt dopaminerg/ serotonerg: verstärkte Freisetzung von DA und 5-HT und Blockade der Wiederaufnahme
in der Regel gering; überwiegend Muster des Freizeit- oder Wochenendkonsums
im Urin über 2–3 Tage nachweisbar
oral Pillen mit überwiegend reinem MDMA, seltener mit anderen MDMA-ähnlichen Derivaten, Amphetaminen oder anderen Stoffen Cannabis
Wirkdauer 3–5 Std aus Cannabis Sativa Rauchen, seltener oral (Ha schischplätzchen) Wirkdauer 1–3 Std
Hauptwirkstoff Tetrahydrocannabinol (∆9-THC): Agonismus an körpereigenen Cannabinoid-CB1Rezeptoren im Gehirn
Cave: bei ca. 10 bis 20% Missbrauch mit häufigerer bis hin zu täglicher Einnahme [12] körperliche Abhängigkeit bislang nicht überzeugend gezeigt
In der Regel gering; überwiegend sporadischer oder kontrollierter Freizeitkonsum [3, 21]. Cave: bei ca. 8–9% Missbrauch, bei 4–7% (überwiegend psychische) Abhängigkeit mit mehrfach tägli chem Konsum [29, 21]; (leichteres) körperliches Entzugssyndrom bei heavy users möglich [2].
den wird für viele chronische Heroinabhängige im Laufe ihrer Drogenkarriere mehr und mehr zum Hauptmotiv für die Fortsetzung des Konsums und die damit assoziierte Beschaffungskriminalität. Das typische Bild des chronischen Heroinabhängigen mit gesundheitlicher und sozialer Verelendung und Illegalität wird weniger durch direkte (pharmakologische) Opiatwirkungen, sondern vorrangig durch die verheerenden indirekten Folgen der Abhängigkeit geprägt.
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bei einmaligem Konsum über 7–10 Tage, bei regelmäßigem Konsum bis zu 8 Wochen nachweisbar Nutzen in der Akutdiagnostik begrenzt; hilfreich für Monitoring der Abstinenz in der Entwöhnungsbehandlung [2].
Kokain Konsumformen, Abhängigkeitspotenzial Kokain war früher eine Droge der high society. Sogenannte „Kokainisten“, die nahezu ausschließlich Kokain sniefen, finden sich heute noch unter bestimmten Berufsgruppen wie Künstler, Schriftsteller, Models, Berater u. ä. Diese Untergruppe ist in der Regel sozial in-
Psychopathologische und kognitive Veränderungen unter Rauschdrogen – Relevanz für die strafrechtliche Beurteilung
tegriert und finanziell gut gestellt. Häufiger werden jedoch neben Kokain weitere Drogen, insbesondere Heroin, in abhängiger Weise konsumiert (Polytoxikomanie). Das Rauchen der basischen Form Crack ist wesentlich preiswerter und deswegen vor allem in bestimmten Ballungszentren und bei sozial schlechter gestellten Gruppen verbreitet [7, 37]. Das psychische Abhängigkeitspotenzial von Kokain ist ausgeprägt (s. Tab. 1).
Intoxikation, Entzug, Komplikationen In der Intoxikation sind die Konsumenten nach Berichten aus der Szene überwach und aktiv, in der Regel sind sie auch euphorisiert mit übersteigerter Selbsteinschätzung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit, Kreativität und Intelligenz. Das Urteilsvermögen ist häufig beeinträchtigt, das Verhalten kann in sozialer und/oder sexueller Hinsicht expansiv und enthemmt sein, die Geselligkeit kann leicht in Unruhe oder Streitlust umschlagen [37]. Bei starker Ausprägung der psychopathologischen Symptome können im Rahmen der Intoxikation Angst, Anspannung und psychomotorische Agitiertheit, repetitive bzw. stereotype Verhaltensweisen, akustische, optische bzw. taktile Illusionen, Halluzinationen sowie paranoide Wahnvorstellungen und Situationsverkennungen auftreten [7]. Diese komplizierten angstdominierten und psychotischen Rauschverläufe (ICD-10: F14.03/F14.04) sind entsprechend der kurzen pharmakologischen Wirkdauer von Kokain zeitlich limitiert; sie werden entsprechend selten vom Kliniker gesehen und werden selten strafrechtlich relevant. Sie müssen von ebenfalls eher seltenen kokaininduzierten Psychosen abgegrenzt werden (ICD-10: F14.5x), die eine Dauer von Tagen bis (selten) Wochen aufweisen. Direkt nach Abklingen der stimulierenden Rauschwirkung von Kokain kommt es regelmäßig zu Nachwirkungen, die gelegentlich auch als depressives Rauschstadium bezeichnet werden; hierbei handelt es sich um eine dysphorische Verstimmung, Niedergeschlagenheit und Erschöpfung. Diese Nachwirkungen führen häufig zum nächsten Konsum oder sie gehen ggf. nahtlos in das Kokainentzugssyndrom über (ICD-10: F14.3) [33, 37]. Dieses stellt sich bei einem Teil der Konsumenten innerhalb weniger Stunden bis zu einem Tag nach Beendigung oder Reduktion eines schweren und langdauernden Kokaingebrauchs ein. Das Hauptmerkmal ist die Dysphorie und Lustlosigkeit, begleitet von Erschöpfung, Antriebshemmung, Mattigkeit, Schlafstörungen mit lebhaften und unangenehmen Träumen und vermehrtem Appetit. Diese Störungen, die bis hin zu suizidalen Ideationen reichen können, und das Verlangen nach der Droge (craving) sind besonders ausgeprägt in den ersten wenigen Tagen nach dem letzten Konsum (crash) und sie halten etwa 7–10 Tage an.
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Amphetamine Konsumformen, Abhängigkeitspotenzial Amphetamine sind synthetisch hergestellte Derivate des β-Phenethylamin (Abb. 2). Sie sind in der Partyszene stark verbreitet, werden jedoch auch in der harten Drogenszene unter anderem intravenös konsumiert. Das Abhängigkeitspotenzial ist mindestens mittelstark, beim i. v.-Konsum bisweilen stark [19].
Intoxikation Unter Amphetaminen fühlen sich die Konsumenten überwach, leistungsstark und selbstsicher; sie können über viele Stunden arbeiten oder feiern und tanzen ohne zu ermüden und sie sind in der Regel euphorisiert, manchmal aber auch gereizt und im Verhalten expansiv, so dass aggressive Entgleisungen resultieren können. Bei kontrollierten, experimentellen Untersuchungen aus den letzten Jahren konnte bei einer gewissen interindividuellen Variabilität eine Dosisabhängigkeit bei den psychotropen Effekten gezeigt werden, bis hin zu ausgeprägt maniformen Syndromen unter Einmaldosen von etwa 1mg/kgKG [15, 42]. Aus tierexperimentellen Studien ist bekannt, dass die Akutwirkungen der Amphetamine bei wiederholter Applikation sukzessive stärker werden können. Dieses Prinzip der Sensitivierung konnte humanexperimentell für die Antriebsteigerung bestätigt werden [36]. Die kognitiven Effekte der Amphetamine sind ebenfalls dosisabhängig, allerdings zeigt sich hier keine Linearität. In niedrigen Einmaldosen können Amphetamine nach experimentellen Untersuchungen tatsächlich zu einer Verbesserung frontaler exekutiver Funktionen und Arbeitsgedächtnisleistungen führen [1]. Hierzu passen auch die Ergebnisse funktioneller Bildgebungsstudien (fMRT, PET), die unter mittleren Amphetamindosen eine Fokussierung der neuralen Aktivität auf die für die jeweilige kognitive Aufgabe relevanten Hirnregionen zeigen [26, 40]. Die höhere „Effizienz“ der neuralen Systeme wird als Ausdruck der Stimulation von Dopamin-D1-Rezeptoren im präfrontalen Kortex durch die Amphetamin-induzierte Freisetzung von Dopamin interpretiert. Allerdings ist bekannt, dass die Stimulation der D1-Rezeptoren in einer umgekehrten U-förmigen Funktion mit der Arbeitsgedächtnisleistung assoziiert ist. Passend hierzu konnte bei experimentellen Studien mit hohen Amphetamindosen eine Beeinträchtigung von Arbeitsgedächtnisleistungen und eine abnehmende „Effizienz“ im neuralen Arbeitsgedächtnisnetzwek gezeigt werden [23, 38].
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Abb. 2 Chemische Verwandtschaft von Stimulanzien, Ecstasy und Phenethylamin-Halluzinogenen (mod. nach [12])
PhenethylaminHalluzinogene
5 4
R2
H3CO
6 H
1
NH2
R1
NH2 2 3 Phenethylamin
OCH3
R1 = H3CO; R2 = H
: Meskalin
R1= CH3; R2= CH3
: DOM
R1= Br; R2= CH3
: DOB
Ecstasy R2 N O O
Stimulanzien CH3
R1
R1 = H; R2 = CH3 : MDA 3,4-Methylenedioxyamphetamin
N H R=H
H
R1 = CH3; R2 = CH3 : MDMA 3,4-Methylenedioxymethamphetamin
R
: MDE R1 = C2H5; R2=CH3 3,4-Methylenedioxyethamphetamin
: Amphetamin
R = CH3 : Methamphetamin
R1 = CH3; R2 = C2H5 : MBDB N-Methyl-1,1,3-benzodioxol-5-yl-2-butanamin
Komplikationen und Entzug
Halluzinogene
Als Komplikation des Amphetaminkonsums treten auch bei üblichen Dosierungen atypische oder psychotische Rauschverläufe mit ängstlichem Misstrauen, Agitiertheit, Missempfindungen an der Haut („Wanzen“) und Beeinträchtigungs- bzw. Verfolgungserleben (speed paranoia) auf (ICD-10: F15.03/F15.04); diese dauern entsprechend der pharmakologischen Wirkdauer der Amphetamine über mehrere Stunden. Die amphetamininduzierten Psychosen (ICD-10: F15.5x) dauern über mehrere Tage bis Wochen und gehen damit deutlich über die pharmakologische Wirkung der Substanz hinaus; sie ähneln phänomenologisch einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie mit Verfolgungswahn [5]. Bei einer Gewöhnung treten im Amphetaminentzug (ICD-10: F15.3) häufig ängstlich-depressive Verstimmungen und Erschöpfung auf, die eine bis zwei Wochen andauern und als Komplikation Suizidalität mit sich bringen können [19; 37]. Die Stärke des Entzugssyndroms ist selten so ausgeprägt wie bei Kokain, allerdings dauern die Symptome in der Regel länger an.
Konsumformen, Abhängigkeitspotenzial
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Halluzinogene sind eine große und chemisch sowie pharmakologisch heterogene Gruppe natürlicher und synthetischer Stoffe (Tab. 2) [10, 28]. Am stärksten verbreitet sind die psilocybinhaltigen Pilze und das synthetische Lysergsäurediethylamin (LSD). In den letzten zehn Jahren fand Ketamin, ein im Handel befindliches und in der Notfallmedizin gebräuchliches Kurznarkotikum (Ketanest®), Eingang in die Partyszene. Bei den Halluzinogenen bleibt es in der Regel beim einmaligen Probieren oder beim sporadischen Konsum. Das Abhängigkeitspotenzial ist gering.
Intoxikation Die eindrucksvolle Phänomenologie des Halluzinogenrausches wurde in historischen Arbeiten und in neueren, kontrollierten experimentellen Studien ausführlich beschrieben [22, 15, 11]. Unter den klassischen Halluzinogenen (s. Tab. 2) ist das Zeiterleben deutlich verändert, Umwelt und die eigene Person werden auf eine besondere, traumartige Weise erlebt; es kommt zu Entgrenzungs- und Verschmelzungserlebnissen, die als
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Tab 2 Halluzinogene: Übersicht über die wichtigsten suchtmedizinisch relevanten Substanzen, ihre Mechanismen und Wirkungen Substanzgruppe Indolderivate [28, 10]
Auswahl Einzelsubstanzen
Lysergsäurediethylamid (LSD)
Vorkommen, Präparationen
Pilze; oral
Meskalin
8–12 Stunden
4-Brom-2,5-Dimethoxyphenethylamin (2-CB)
4–8 Stunden
Kakteen oder synthetisch; oral
2,5-Dimethoxy-4-methylamphetamin (DOM)
pharmakologische Mechanismen
14–20 Stunden
synthetisch; oral synthetisch; oral
direkt serotonerg: partieller Agonismus am Serotonin-5-HT2A Rezeptor
„bewusstseinserweiternd“: Veränderungen des Zeiterlebens, assoziative Lockerung, Wahrnehmungsveränderungen, Halluzinationen, Synästhesien, abnorme Bedeutungserlebnisse, Depersonalisation, Derealisation, affektive Veränderungen
atypische Halluzinogene (Halluzinogene 2. Ordnung) (nach [25]) 2–3 Stunden synthetisch; oral, i.v. antiglutamaterg: Antagonismus am NMDA-Rezeptor
„dissoziative“ Anästhetika [10]
Ketamin (Ketanest Straßennamen: Keta, K, Special K, Vitamin K)
Tropanalkaloide[31]
Atropin, Hyoscyamin, Skopolamin
wenige Stunden
Atropa belladonna, Blütenpflanzen (Stechapfel, Datura, Engeltstrompete, Bilsenkraut); oral
anticholinerg
Ibotensäure, Muscimol
wenige Stunden
Pilze (Fliegenpilz, Amanita); oral
GABAerg
R;
psychotrope Effekte
klassische Halluzinogene (Halluzinogene 1. Ordnung) (nach [25]) 12–24 Stunden synthetisch; oral 3–6 Stunden
Psilocybin Phenethylaminderivate [34]
Wirkdauer
transzedentale oder mystische Elemente angenehm bis ekstatisch, oder aber angstvoll erlebt werden können. Die Affektivität ist stark verändert, wobei Glücksgefühle und Lust, manchmal aber auch Traurigkeit, Angst, Affektarmut und/oder rasch wechselnde Affekte erlebt werden. Das Verhalten kann explorativ oder passiv und in sich gekehrt sein. Häufig haben die Erlebnisse für den Betroffenen eine tiefe Bedeutung und Evidenz, die in das normale Wachbewusstsein hinein wirksam bleiben kann. Optische Wahrnehmungsveränderungen und Halluzinationen gehören zu den typischen Phänomenen des Halluzinogenrausches. Verändertes Körperempfinden und akustische Wahrnehmungsveränderungen, sowie gelegentlich Körperhalluzinationen und akustische Halluzinationen gehören auch zu dem Spektrum der psychotropen Effekte. Bei den atypischen Halluzinogenen (s. Tab. 2) sind in der Regel Dämpfung und Denkverlangsamung prominenter, und das Bild kann fließend in ein Delir mit im Vordergrund stehender Verwirrtheit übergehen. Ein ähnlicher traumartiger, dissoziationsähnlicher Zustand ist in der Medizin als Durchgangsyndrom in der Aufwachphase nach einer Ketaminnarkose bekannt (Ketanest®); er wird manchmal als lustvoll, häufig aber als unangenehm und ängstigend beschrieben. In der Szene erleben einige Konsumenten unter Ketamin einen euphorischen Zustand, andere berichten jedoch von einem emotionsarmen oder angstvoll-gequälten Rauscherleb-
wie Halluzinogene 1. Ordnung; zusätzlich Vigilanzminderung, Orientierungsstörungen; dosisabhängig Verwirrtheit, Delir
nis (Horror-Trips und Nahtodeserfahrungen) und sie sind von der Intensität der Effekte bisweilen überwältigt. Bei den experimentellen Studien wurden unter i. v.Gaben von Ketamin Veränderungen des Körpererlebens mit z. T. bizarren Körperschemastörungen, psychomotorische Verlangsamung, mimische Starre mit z. T. kataton anmutenden Elementen in Körperhaltung und bewegung, emotionale Indifferenz, Rückzug und Desinteresse an sozialem Austausch beschrieben [22, 13]. Dabei erschienen und beschrieben sich die Probanden selbst nicht als schläfrig, sondern als „distant“ bzw. von der Umwelt auf seltsame Weise „entkoppelt“ oder „isoliert“ [22]. Beim unkomplizierten LSD- oder Psilocybinrausch ist trotz intensiver psychopathologischer Veränderungen die Bewusstseinslage intakt und die kognitiven Funktionen zumindest grob erhalten. Auch bei diesen klassischen Halluzinogenen wurden allerdings bereits in den frühen Studien aus den 1950er und 1960er Jahren dosisabhängig Ablenkbarkeit und Beeinträchtigungen der Konzentration, Reaktionsbereitschaft, Gedächtnis und Lernen beschrieben [11]. Die aktuellen experimentellen Studien bestätigen Einschränkungen der Reaktionsgeschwindigkeit, der Daueraufmerksamkeit bzw. des Arbeitsgedächtnisses, der assoziativen Gedächtnisleistungen und der Zeitwahrnehmung [11]. Im Allgemeinen erscheinen jedoch die kognitiven Leistungen unter den klassischen Halluzinogenen weniger stark
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oder weniger umfassend beeinträchtigt im Vergleich zu den atypischen Halluzinogenen (vgl. Tab. 2). Die umfangreichen experimentellen Studien aus den letzten Jahren mit subanästhetischen Dosen von Ketamin zeigen die deutlichsten Defizite bei der Merkfähigkeit und bei Lernleistungen, darüber hinaus aber auch Störungen der Daueraufmerksamkeit, stärkere Ablenkbarkeit, mehr Perseverationsfehler („frontale“ Funktionen, exekutive Kontrolle) und Leistungseinbußen bei Arbeitsgedächtnisaufgaben [22, 23, 27].
Komplikationen Die psychotropen Effekte der Halluzinogene sind sehr psychose-ähnlich, allerdings werden sie im Regelfall im Bewusstsein ihrer artifiziellen Natur erlebt, d. h. der sog. „reflektierende Ich-Rest“ ist erhalten [24]. Manchmal, insbesondere bei höheren Dosierungen und bei reizreicher Umgebung kann jedoch die kritische Distanz zum Erlebten nicht mehr aufrechterhalten werden. In diesen Fällen kann es über ein abnormes Bedeutungserleben zu wahnhaften Situationsumdeutungen und somit ggf. zu einem psychotischen Rauschverlauf mit Angst und Agitation kommen ( Bad- oder Horror-Trip) (ICD-10: F16.03/ F16.04). Dieser dosisabhängig fließende Übergang vom „normalen“ Halluzinogenrausch zur „toxischen Psychose“ wurde sowohl in den frühen psychopathologischen Arbeiten als auch in den neueren experimentellen Studien eindrucksvoll geschildert [24, 15, 13]. Über die psychotischen Rauschverläufe hinaus kann es bei wiederholtem Konsum zu induzierten Psychosen von mehrwöchiger Dauer kommen. Diese halluzinogeninduzierten Psychosen (ICD-10: F16.5x) weisen häufig deutliche affektive Anteile in der Symptomatik auf, letztlich ist jedoch allein aus dem psychopathologischen Querschnittsbild eine schizophrene oder schizoaffektive Störung schwer differentialdiagnostisch abzugrenzen. Eine weitere Komplikation des Halluzinogenkonsums stellen die sog. Flash-Backs, oder Echopsychosen bzw. persistierende Wahrnehmungsstörungen dar (ICD-10: F16.70), bei denen nach einem freien Intervall von Wochen bis zu Monaten nach dem letzten Rauscherlebnis ein Teil der Rauschsymptomatik für Sekunden bis Minuten spontan wieder auftritt (z. B. Wahrnehmungsveränderungen, Depersonalisation, Derealisation) [28, 10]. In den meisten Fällen treten die Flash-Backs über einige Monate rezidivierend auf und klingen dann spontan ab; sie müssen nicht zwangsläufig belastend für die Betroffenen sein und sie haben nicht unbedingt einen Krankheitswert. In selteneren Fällen können jedoch die psychosenahen Phänomene chronifizieren und sind dann sehr belastend bzw. behindernd für die Betroffenen.
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Ecstasy Konsumformen, Abhängigkeitspotenzial Ecstasy ist eine relativ neue Droge, die erst Mitte bis Ende der 1980er Jahre in Europa auf dem illegalen Markt „auftauchte“ und vor allem in der Partyszene verbreitet ist. Es handelt sich um eine Gruppe synthetischer Stoffe mit enger chemischer Verwandtschaft sowohl zu den Amphetaminstimulanzien als auch zu einer Gruppe von Halluzinogenen (Abb. 2). Der bekannteste Repräsentant der Ecstasy-Gruppe ist das MDMA (3,4-Methylendioxymethamphetamin), die weiteren Derivate haben ähnliche Wirkungen. Das Abhängigkeitspotenzial von Ecstasy ist in der Regel gering und die meisten Konsumenten zeigen das Muster des Freizeit- oder Wochenendkonsums. Hinweise auf einen Missbrauch mit häufiger bis hin zu täglicher Einnahme finden sich bei ca. 10–20% der Konsumenten.
Intoxikation Die charakteristischen psychotropen Effekte von Ecstasy sind in erster Linie emotionaler Natur. Erstmalig wurde in den 1970er Jahren anekdotisch von tiefer Entspannung und Glücksgefühlen, Angstfreiheit und Gefühlen der Empathie und Nähe zu anderen Menschen berichtet. Aufgrund dieses Wirkprofils wurde MDMA etwa Anfang der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre in den USA und in der Schweiz als Hilfsmittel bei psycholytischen Psychotherapien und Paartherapien eingesetzt [17, 14]. In diesem Zusammenhang wurden einzigartige Effekte wie friedliche Selbstakzeptanz, verbesserte Introspektionsfähigkeit und Einfühlungsvermögen, Offenheit und Minderung kommunikativer Hemmungen und Ängste beschrieben [17]. Diese Effekte konnten im Rahmen systematischer Fragebogenuntersuchungen unter Konsumenten [30, 35, 4] sowie bei experimentellen, kontrollierten Untersuchungen mit gesunden Probanden [18, 41, 15] nachvollzogen werden und sie grenzen diese neue Stoffklasse von Stimulanzien und Halluzinogenen ab. Allerdings rufen MDMA und MDMA-ähnliche Derivate zusätzlich auch deutliche stimulierende, amphetamin-ähnliche Wirkungen hervor wie Überwachheit, Euphorisierung, Rededrang und vermehrte motorische Aktivität; diese Effekte sind entscheidend für die Verbreitung von Ecstasy in der Tanzszene. Schließlich gehören leichte halluzinogene Effekte wie intensivere sensorische Wahrnehmung, Depersonalisation, Derealisation und verändertes Zeiterleben ebenfalls zum Spektrum der psychotropen Wirkungen von Ecstasy (vgl. Abb. 1).
Psychopathologische und kognitive Veränderungen unter Rauschdrogen – Relevanz für die strafrechtliche Beurteilung
Unter niedrigen bis mittleren Dosen von MDMA sind die kognitiven Funktionen in der Regel nicht grob beeinträchtigt, aber auch nicht verbessert wie unter niedrigen Amphetamindosen. Im Rahmen experimenteller kontrollierter Studien zeigten sich regelrechte Leistungen bei einfachen Aufgaben des Kurzzeit-, Arbeits- und visuellen Gedächtnisses, aber Schwierigkeiten bei der Fokussierung der Aufmerksamkeit, Reaktionsverlangsamung und beeinträchtigte Urteilsfähigkeit bei komplexeren Problemstellungen [41, 18, 16]. Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Konsumenten unter dem Einfluss von Ecstasy bei hoher Motivation in der Lage sind, sich zumindest kurzfristig auf einfache Aufgaben zu konzentrieren und übliche Leistungen zu erbringen, sofern kein Zeitdruck besteht; dass sie jedoch bezüglich eines schnellen Reaktionsvermögens und anspruchsvollerer kognitiver Aufgaben eindeutig beeinträchtigt sind.
Komplikationen Nach Abklingen der Akutwirkungen treten häufig, aber nicht obligat, Abgeschlagenheit, ängstlich-depressive Verstimmung, Kopfschmerzen, Appetitminderung und Frösteln auf, die über wenige Tage andauern können [12]. Derzeit ist umstritten, ob es sich bei diesem Postakutsyndrom um ein Entzugssyndrom handelt; am ehesten könnten die Beschwerden mit einer vorübergehenden Serotonindepletion im Hirngewebe zusammenhängen, wie sie im Tierexperiment gezeigt werden konnte (Verarmung des Hirngewebes an Serotonin als Folge der massiven Freisetzung nach Einnahme von MDMA mit Latenz bis zur Wiederauffüllung der Speicher). Als Komplikationen des Ecstasykonsums können atypische Rauschverläufe mit dysphorischer Stimmung, Agitiertheit und Panik auftreten. Diese unangenehmen Effekte wurden auch im Rahmen einer experimentellen, kontrollierten Studie bei einmaliger oraler Verabreichung beschrieben [8, 18]. Als weitere Komplikationen können induzierte depressiv-ängstliche Störungen mit einer Dauer von Wochen bis Monaten auftreten, die häufig hartnäckig und schwer zu behandeln sind. Darüber hinaus kommen auch bei Ecstasy wie bei den Stimulanzien psychotische Rauschverläufe und drogeninduzierte Psychosen vor [12].
Cannabis Konsumformen, Abhängigkeitspotenzial Der Cannabiskonsum ist in der Allgemeinbevölkerung, vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen stark verbreitet [3, 21]. Die Mehrheit der Cannabiskon-
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sumenten betreibt einen sporadischen oder kontrollierten Freizeitkonsum, der in der Regel keine klinische Relevanz besitzt. Dementsprechend war es lange umstritten, ob Cannabis überhaupt „süchtig macht“. Zwischenzeitlich gilt es jedoch als gesichert, dass ca. 15% der Konsumenten einen Missbrauch oder gar Abhängigkeit entwickeln [29, 21, 2]. An dieser Stelle sollte auch Spice, die neueste Partydroge, erwähnt werden. Es handelt sich um eine Kräuter- bzw. Gewürzmischung, die seit 2007 getrocknet in verschiedenen Sorten und in Tüten portioniert von einer englischen Firma vertrieben wurde. Die Kräuter sollten beim Rauchen angeblich cannabis- oder halluzinogen-ähnliche Wirkungen entfalten. Im letzten Jahr ergaben chemische Analysen, dass Spice synthetische Cannabinoide enthält, die offenbar gezielt der Kräutermischung zugefügt wurden, welche für sich nicht psychotrop wirkt.
Intoxikation Beim szenetypischen Konsum wirkt Cannabis in erster Linie entspannend, euphorisierend und leicht „bewusstseinserweiternd“, bei manchen Konsumenten auch aktivierend (vgl. Abb. 1). Experimentelle Studien mit oraler Gabe von Δ-9-THC bestätigen diese relativ milden „subpsychotischen“ Phänomene des szenetypischen Konsums [11]. Hinsichtlich der kognitiven Leistungen zeigen die experimentellen Untersuchungen, dass das Rauchen oder die orale Einnahme von Δ-9-THC in szeneüblichen, mittleren Dosierungen zu überwiegend diskreten Leistungseinbussen im Bereich des Arbeitsgedächtnisses und der Merkfähigkeit führen, während Reaktionszeiten und Vigilanz unbeeinträchtigt sein können [32, 11].
Komplikationen, Entzug Bei hohen Dosierungen oder als Komplikation beim regelmäßigen Konsum sind ausgeprägtere Depersonalisations-/Derealisationserscheinungen und psychotische Rauschverläufe mit Halluzinationen, Verwirrtheit und wahnhaften Situationsverkennungen keine Seltenheit (ICD-10: F12.03/F12.04). Das psychotomimetische Potenzial hoher Δ9-THC-Dosen wurde durch eine experimentelle Studie mit intravenöser Bolusinfusion bestätigt, bei der innerhalb weniger Minuten hohe Plasmaspiegel erreicht werden: hier zeigten sich intensive psychotische Phänomene wie Ich-Störungen, akustische Wahrnehmungsveränderungen, Desorganisiertheit, Gedankenabreissen, assoziative Lockerung, Agitiertheit und paranoide Umdeutungen der experimentellen Situation [6]. Bei hohen Dosen werden unter Δ9-
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THC auch eine deutliche Ablenkbarkeit, Zunahme perseverativer Fehler und Einschränkungen von Arbeitsgedächtnis, Merkfähigkeit und Lernleistungen beschrieben. Diese Effekte konnten bei experimentellen Untersuchungen mit i.-v. Verabreichung in psychotomimetischer Dosierung eindeutig belegt werden [32]. Neben den zeitlich eng umgrenzten psychotischen Rauschverläufen treten bei Konsumenten häufig auch cannabisinduzierte Psychosen mit einer Dauer von Wochen bis Monaten auf (ICD-10: F12.5x). Bei einer Cannabisabhängigkeit beginnt die Entzugssymptomatik (ICD-10: F12.3) ca. 12 Stunden nach dem letzten Konsum und sie kann bis zu drei Wochen andauern. Die häufigsten Entzugssymptome sind Unruhe, dysphorische Verstimmung, Reizbarkeit, Verlangen nach Cannabis (Craving), Schlafstörung und Appetitminderung, manchmal kommen auch Schwitzen und erhöhte Schmerzempfindlichkeit hinzu. Somit hat der Cannabisentzug qualitative Ähnlichkeiten zum Opiatentzug, ist allerdings deutlich schwächer ausgeprägt im Vergleich zum letzteren [2].
Liquid Ecstasy Der Vollständigkeit halber wird an dieser Stelle das in der Partyszene seit etwa 10 Jahren als Liquid Ecstasy bekannt gewordene γ-Hydroxybutyrat (GHB) kurz besprochen. GHB hat keinerlei Verwandtschaft mit der Ecstasy-Gruppe; es ist chemisch mit dem Neurotransmitter GABA (γ-Aminobuttersäure) verwandt und hat selbst Eigenschaften eines Neurotransmitters [39]. Nach anekdotischen Berichten hat GHB höchstens in sehr geringen Dosen leichte MDMA-ähnliche und enthemmende psychotrope Wirkungen, deren pharmakologische Grundlage ungeklärt ist. In höheren Dosen verstärkt es die dämpfende Wirkung von GABA und es wirkt muskelrelaxierend und narkotisch, wobei der Schlaf plötzlich und imperativ auftreten kann. GHB wurde medizinisch als Kurznarkotikum und als Medikament zur Behandlung der Narkolepsie zugelassen [39]. In der Szene wird GHB als Feststoff oder als Lösung zur oralen Einnahme angeboten. Aufgrund der narkotischen und atemdepressiven Wirkungen höherer Dosierungen ist der Konsum insbesondere in Kombination mit Alkohol oder anderen dämpfenden Substanzen riskant. Seit etwa fünf Jahren wurden mehrere Fälle eines kriminellen Einsatzes von GHB bekannt; hierbei wird den Opfern GHB ins Getränk gemischt und sie wurden im schlafenden Zustand vergewaltigt und/oder ausgeraubt (k.o.-Tropfen). Für diesen kriminellen Einsatz scheint wichtig zu sein, dass GHB rasch vollständig metabolisiert wird und nur über wenige Stunden im Urin nachweisbar ist.
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E. Gouzoulis-Mayfrank
Forensische Relevanz Vor dem Hintergrund der beschriebenen Wirkungen und möglichen Komplikationen der Rauschdrogen sind Einschränkungen der Schuldfähigkeit bei begangenen Straftaten vorstellbar. Dies trifft vor allem für Delikte zu, die unter der unmittelbaren Substanzwirkung verübt wurden, und nur eingeschränkt für Delikte, die bei einer schweren Abhängigkeit im Entzug begangen wurden. In diesem Zusammenhang müssen das Einsichtsund das Steuerungsvermögen stets getrennt voneinander betrachtet werden. Eine Aussage über die Schuldfähigkeit kann niemals pauschal erfolgen. So bedeutet selbst eine schwere Opiatabhängigkeit nicht zwangsläufig eine verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des §21 StGB, sondern es müssen stets die Besonderheiten des konkreten Falles analysiert und gewürdigt werden. Somit ist es nicht möglich, verbindliche, allgemein gültige Richtlinien für die Begutachtung zu erstellen. Entsprechend sollten die zusammenfassenden Aussagen in der Tab. 3 lediglich als Orientierung verstanden werden. Unter Stimulanzien können die Konsumenten aufgrund der häufig vorherrschenden Gereiztheit, Expansivität und Antriebssteigerung ihr Verhalten nur einge schränkt kontrollieren und steuern [19]. So ist selbst beim unkomplizierten Kokain- oder Amphetaminrausch denkbar, dass es bei Streitereien zu aggressiven Handlungen und Impulsdurchbrüchen kommt, wobei bei eingeschränktem Steuerungsvermögen die Voraussetzungen für den §21 StGB erfüllt sein können. Bei anderen Rauschdrogen dürfte ein solcher Zusammenhang nur sehr schwer herstellbar sein. Allerdings kommen bei allen Drogen mit aktivierenden oder bewusstseinsverändernden Wirkungen (Stimulanzien, Ecstasy, Halluzinogene, Cannabis, vgl. Abb. 1) atypische bzw. komplizierte Rauschverläufe vor mit Angst/Agitation oder mit Depersonalisation/Derealisation oder gar mit psychotischen und deliranten Symptomen bis hin zum völligen Verlust der Übersicht über die Situation und der Einsicht in die künstliche und passagere Natur des Erlebten. Relativ häufig werden agitierte/angstdominierte Rauschverläufe bei Ecstasy und bei Cannabis gesehen [2, 12]. Dabei kann das Steuerungsvermögen so weit herabgesetzt sein, dass bei einer Straftat die Voraussetzungen für den §21 StGB als erfüllt gelten können. Die Frage nach der strafrechtlichen Relevanz wird jedoch eher selten gestellt. Bei den Straftaten handelt es sich typischerweise nicht um Gewaltdelikte, sondern eher um Begebenheiten, bei denen „versehentlich“ oder „zufällig“ Andere zu Schaden kamen. Ein Beispiel wäre das ÜberRot-Fahren in einem schlecht steuerbaren Zustand von Panik und Unruhe (allerdings ohne psychotische Situationsverkennung) mit Überfahren von Passanten.
Psychopathologische und kognitive Veränderungen unter Rauschdrogen – Relevanz für die strafrechtliche Beurteilung
273
Tab. 3 Rauschdrogen und Strafrecht: Anhaltspunkte für die Einschätzung der Relevanz von Intoxikation und substanzinduzierten Störungen bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit
ICD-10 Code Heroin
Intoxikation ohne Komplikationen
Intoxikation mit Angst/ Agitiertheit oder mit Depersonalisation/Derealisation
Intoxikation mit psychotischen Symptomen (Wahrnehmungsstörungen, Delir)*
induzierte Psychose
F1×.00 Rel
§ StGB
kein gesonderter Code Rel § StGB
F1×.03/F1×.04 Rel § StGB
F1×.5x Rel
− bis (+)
21
∅
∅
∅
Flash-Back
§ StGB
F16.70 Rel
Entzugssyndrom
F1×.3 Rel
§ StGB
∅
++
21
§ StGB
Kokain
+
21
(+) bis +
21
++
20, 21
+
20, 21
∅
++
21
Amphetamine Halluzinogene Ecstasy
+
21
(+) bis +
21
++
20, 21
++
20, 21
∅
+
21
(+)
21
(+) bis +
21
+ bis ++
20, 21
+
20, 21
− bis (+)
− bis (+)
21
(+) bis +
21
+
20, 21
+
20, 21
(∅)/−
∅
− bis (+)
21
(+) bis +
21
+ bis ++
20, 21
++
20, 21
∅
− bis (+)
Cannabis
21
∅
21
Abkürzungen: Synonyme: psychotischer Rauschverlauf, Drogenpsychose Rel Relevanz; Maß für die relative Häufigkeit der Fragestellung und die Wahrscheinlichkeit, dass im Einzelfall die Voraussetzungen für eine Minderung der Schuldfähigkeit feststellbar sein werden ø Störung kommt bei dieser Rauschdroge praktisch nicht vor − irrelevant; Einschränkung der Schuldfähigkeit sehr unwahrscheinlich (+) wenig relevant; Einschränkung der Schuldfähigkeit eher unwahrscheinlich + relevant; Einschränkung der Schuldfähigkeit denkbar ++ sehr relevant; Einschränkung der Schuldfähigkeit wahrscheinlich § StGB Bezug auf die §20,21 StGB (aufgehobene, verminderte Schuldfähigkeit) 21 verminderte Schuldfähigkeit im Einzelfall denkbar; aufgehobene Schuldfähigkeit sehr unwahrscheinlich 21,20 verminderte oder aufgehobene Schuldfähigkeit im Einzelfall möglich *
Bei den psychotischen Rauschverläufen mit Halluzinationen, Wahnstimmung und Beziehungs- und Beeinträchtigungsideen können hingegen Steuerungsund Einsichtsvermögen erheblich eingeschränkt oder gar aufgehoben sein, so dass der Sachverständige unter Umständen sogar das Vorliegen der Voraussetzungen für den § 20 bejahen wird. Besonders häufig werden solche psychotischen Rauschverläufe bei Stimulanzien („Speed Paranoia“) gesehen [19], sie kommen jedoch auch unter Cannabis, Halluzinogenen und selbst unter Ecstasy vor. Typischerweise handelt es sich hier um Gewaltdelikte, die im subjektiven Erleben der Bedrohung bzw. Notwehr begangen wurden. In diesen Fällen ist es besonders wichtig die psychopathologischen Phänomene im Rausch im konkreten Fall möglichst detailliert nachträglich zu explorieren und den Zusammenhang mit dem begangenen Delikt herauszuarbeiten. In der Regel können sich die Konsumenten selbst nach längerer Zeit an ihre eindrücklichen Rauscherfahrungen erinnern und sie können selbst bei geringer Differenziertheit die Phänomene ausreichend detailliert schildern, so dass die entscheidenden Fragen nach einer psychotischen Missinterpretation, nach dem subjektiven Erleben der Bedrohung und dem Einsichts- und
Steuerungsvermögen beantwortet werden können. In Ausnahmefällen kann allerdings die Erinnerung an die Rauscherfahrungen nur schemenhaft oder fragmentarisch sein; dies trifft für Rauschverläufe mit deliranten Zügen zu, wie sie sich vor allem unter atypischen Halluzinogenen, manchmal aber auch unter Cannabis entwickeln. In diesen Fällen ist die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit besonders erschwert. Ähnliches gilt für die längerdauernden drogeninduzierten Psychosen, bei denen je nach Ausmass und Intensität der Symptomatik ebenfalls verminderte oder aufgehobene Schuldfähigkeit für begangene Strafdelikte feststellbar sein kann. Am häufigsten werden solche induzierten Psychosen mit strafrechtlicher Relevanz bei Amphetamin- und Cannabiskonsumenten gesehen, grundsätzlich können sie jedoch auch nach Konsum von Kokain, Halluzinogenen und Ecstasy auftreten. Schließlich ist es theoretisch vorstellbar, dass während eines FlashBack bzw. bei persistierender Wahrnehmungsstörung nach Halluzinogenkonsum im Zustand verminderter Schuldfähigkeit eine Straftat begangen wird. Praktisch kommt jedoch diese Frage bei der zumeist sehr kurzen Dauer der Flash-Back-Episoden so gut wie nicht vor.
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E. Gouzoulis-Mayfrank
Schwierig und in der Praxis sehr relevant ist die Beurteilung der Schuldfähigkeit für Delikte, die durch Drogenabhängige im Entzug begangen wurden. In diesen Bereich gehören häufig Diebstähle, Erpressungen, Nötigungen und andere Delikte im Rahmen der Beschaffungskriminalität. Alleine die Tatsache, dass jemand abhängig ist und Entzugssymptome hat, reicht jedoch in der Regel nicht aus, um die grundsätzliche Schuldfähigkeit anzuzweifeln. Lediglich bei sehr starker Abhängigkeit mit ausgeprägter Entzugssymptomatik in der Abstinenz bzw. bei Nachlassen der Substanzwirkung kann ein eingeschränktes Steuerungsvermögen aufgrund des erheblichen „Suchtdrucks“ (craving) angenommen werden; dieses kann schließlich eine verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB bedeuten. Eine derart starke Entzugssymptomatik findet sich in erster Linie bei i. v.-Konsumenten von Heroin, manchmal auch bei Kokainisten und bei i. v.-Konsumenten von Amphetaminen. Bei den anderen Rauschdrogen mit geringerem Abhängigkeitspotenzial wird sich ein solcher Zusammenhang kaum glaubwürdig darstellen lassen. Für die Beurteilung der Schuldfähigkeit ist auch hier wichtig, das Befinden des Probanden zum Zeitpunkt des Begehens der Straftat möglichst detailliert zu rekonstruieren und den Zusammenhang mit dem begangenen Delikt herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang wird es auch darum gehen, ehrliche Berichte von „Schutzbehauptungen“ abzugrenzen.
Resumee Drogenkonsum oder -abhängigkeit kann nicht zwangsläufig mit einer Herabsetzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für begangene Straftaten gleichgesetzt werden. Für die Einschätzung der strafrechtlichen Relevanz eines Drogenkonsums sind differenzierte Kenntnisse über die „üblichen“ Rauschwirkungen der verschiedenen Substanzen und die atypischen, komplizierten Rauschverläufe bedeutsam. Gerade bei psychotischen Rauschverläufen, die nicht nur unter Halluzinogenen und Cannabis, sondern durchaus auch unter Stimulanzien und Ecstasy vorkommen, ist es denkbar, dass nicht nur das Steuerungs-, sondern auch das Einsichtsvermögen so weit herabgesetzt werden, dass Schuldunfähigkeit vorliegen kann. Hingegen kann im Entzug höchstens eine Einschränkung der Schuldfähigkeit aufgrund des verminderten Steuerungsvermögens unter einem erheblichen „Suchtdruck“ erwartet werden, aber niemals eine komplette, zur Exkulpierung führende Aufhebung der Schuldfähigkeit. Überhaupt ist eine derartig starke Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens im Entzug bei schwerer Heroin-, vereinzelt auch bei Stimulanzienabhängigkeit denkbar, aber kaum beim Missbrauch anderer Drogen mit geringerem Abhängigkeitspotenzial.
7 Interessenkonflikt Es besteht kein Interessenkonflikt.
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Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4 2009
Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:276–286 DOI 10.1007/s11757-009-0019-x
Übersicht
Martin Heilmann Norbert Scherbaum
Zur Epidemiologie des Drogenkonsumes in Deutschland
The epidemiology of drug consumption in Germany Eingegangen: 18. Juli 2009 Angenommen: 14. August 2009 Online publiziert: 21. Oktober 2009 Dr. med. M. Heilmann ()) Oberarzt der Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin LVR-Klinikum Essen, Kliniken/Institut der Universität DuisburgEssen Virchowstraße 174 45147 Essen, Deutschland E-Mail:
[email protected]
7 Zusammenfassung Diese Übersichtsarbeit gibt einen zusammenfassenden Überblick zur Epidemiologie des Drogenkonsums in der Bundesrepublik Deutschland inklusive dessen medizinischer und kriminologischer Folgeerscheinungen. Es finden die offiziellen Statistiken für die Jahre 2007 und 2008 Berücksichtigung. 7 Schlüsselwörter Drogen ·
7 Abstract This review is about the epidemiology of drug-consumption in the Federal Republic of Germany including its associated medical and criminological problems referring to the latest official statistics of 2007 and 2008. 7 Keywords Drugs ·
Criminality · Latest German epidemiological data
Kriminalität · Aktuelle epidemiologische Daten
Prof. Dr. med. N. Scherbaum Direktor der Klinik für abhängiges Verhalten und Suchtmedizin
Suchtmittelkonsum in Deutschland Der Konsum von Suchtmitteln, also Tabak, Alkohol, Medikamenten und illegalen Drogen stellt eine führende Wirtschaftsnation wie die Bundesrepublik Deutschland vor erhebliche medizinische, gesundheitspolitische, gesundheitsökonomische, kriminologische und ökonomische (z. B. Schattenwirtschaft) Probleme. Dem Ausmaß dieser Problematik angemessen, stehen viele gut geführte Datenquellen zur Verfügung. Die folgende epidemiologische Übersichtsarbeit greift im wesentlichen auf das aktuelle Datenmaterial der Deutschen Referenzstelle für die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Sucht (DBDD), niedergelegt in den Berichten des nationalen REITOX- Knotenpunktes an das European Monitoring Centre for Drugs
Reitox: europäisches Informationsnetzwerk zu Drogen und Sucht.
Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4 2009
and Drug Addiction (EBDD) 2007 und 2008, auf die Polizeilichen Kriminalstatistiken 2007 und 2008, den World Drug Report 2008, den Drogen- und Suchtbericht 2009 sowie auf das Jahrbuch Sucht 2009 der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen zurück. Die folgende Zusammenfassung der aktuellen epidemiologischen suchtmedizinischen Erkenntnisse fokussiert auf die medizinischen und kriminologischen Aspekte der Drogenproblematik in Deutschland. Da aber das Gros der Drogenkonsumenten zumindest ein polyvalentes Konsummuster aufweist, muss die Thematik des Alkohol- und Medikamentenkonsums in dieser Übersicht zumindest angerissen werden. Von den 82,4 Mio. Bürgern der Bundesrepublik Deutschland sollen 9,5 Mio. Bundesbürger einen sogenannten riskanten Alkoholkonsum riskanter Alkoholkonsum: bei Frauen mehr als 12 g bis 40 g, bei Männern mehr als 24 g bis 60 g Reinalkohol pro Tag.
Zur Epidemiologie des Drogenkonsumes in Deutschland
277
Tab. 1 Konsummuster im ambulanten Setting in 2007. (MDMA als Hauptwirkstoff bei Ecstacy-Präparaten) [15] weitere Drogen im Suchtmuster
Hauptdroge
Alkohol
Benzodiazepine
Kokain
Opiate
27,5%
15,2%
27,1%
Kokain
41,2%
4,6%
Cannabis
29,7%
1,3%
11,7%
16,0%
1,2%
1,8%
1,5%
Alkohol
betreiben, 1,3 Mio. sollen alkoholabhängig sein. Darüber hinaus sollen 250.000 bis 300.000 Bundesbürger illegale Drogen (exklusive Cannabiskonsum) und 2 Mio. Bundesbürger regelmäßig Cannabis konsumieren. Bis zu 1,9 Mio. Bundesbürger sollen medikamentenabhängig sein. Diese Zahlen geben nur das geschätzte Ausmaß der stoffgebundenen Suchtproblematik in der Bundesrepublik Deutschland wieder. Sie zeigen aber eindrücklich, wie hoch die Verfügbarkeit von Suchtmitteln in Deutschland ist. Dabei soll die Prävalenz des problematischen Konsums illegaler Drogen mit 3,3 Personen auf 1.000 Einwohner im Alter von 15 bis 64 Jahren im europäischen Vergleich noch eher niedrig sein [9]. Viele der Suchtmittelkonsumenten suchen entweder im ambulanten oder stationären Setting Hilfe. Sie treffen im Allgemeinen in der Bundesrepublik Deutschland auf ein gut aufgestelltes Suchthilfesystem. Im Jahre 2005 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 934 Suchtberatungsstellen, mehr als 2.078 stationäre Entgiftungsplätze und 5.260 Entwöhnungsplätze für Drogenkonsumenten vorgehalten [11]. Im Jahre 2007 (2006) sollen gemäß der Deutschen Suchthilfe-Statistik 40.077 (55.246) Menschen in einer ambulanten Drogenberatungsstelle Beratungskontakte begonnen haben. Davon waren 49,6% (50,7%) Opiat-, 32,5% (31,1%) Cannabis-, 7,6% (7,0%) Kokain- und 6,7% (6,3%) Stimulanzienkonsumenten [10, 11]. Tabelle 1 bringt Daten zum Suchtmuster von Patienten im ambulanten Setting. Im Jahr 2007 (2006) sollen sich gemäß der Deutschen Suchthilfe-Statistik 34.186 (32.474) Personen in einer stationären Behandlung befunden haben. Darunter befanden sich 6.855 (6.915) Personen mit substanzbezogenen Störungen (illegale Substanzen und Medikamente), mit weiter Mehrheit Männer (5.710 bzw. 5.503) [10]. problematischer Konsum: Mindestens eines der Merkmale ist erfüllt: 1. Mit Risiken verbundener Konsum. 2. Entweder schädlicher Gebrauch oder Abhängigkeit. 3. Es entstehen Schäden für Dritte. 4. Negative soziale Konsequenzen oder Delinquenz.
Amphetamine
Cannabis
MDMA
Heroin
Methadon
8,9%
35,7%
5,7%
19,1%
48,1%
10,7%
12,0%
1,7%
9,7%
3,2%
0,4%
0,9%
1,4%
0,2%
5,7%
41,7%
Unter den stationär behandelten Patienten stellen die Opiatkonsumenten mit 48,6% (41,8%) die größte Gruppe dar, gefolgt von der Gruppe der Cannabiskonsumenten mit 19,6% (17,6%) und der Gruppe mit polyvalentem Konsum mit einem Anteil von 9,9% (ab 2007 neue Dokumentationsstandards, 25,7%) [10, 11].
Alkohol In Deutschland betreiben 9,5 Mio. Bürger einen riskanten Alkoholkonsum, ca. 1,3 Mio. Deutsche sind alkoholabhängig. Der Pro-Kopf-Konsum an reinem Alkohol betrug im Jahre 2007 9,9 Liter [4]. Insbesondere das sogenannte „flat-rate“- Trinken (auch „Binge Drinking“, „flatline-Saufen“) in bestimmten Diskotheken ist zur Zeit Thema heftiger Diskussionen. Hierbei werden fünf und mehr Gläser alkoholischer Getränke hintereinander getrunken [5]. Etwa 8,2% der Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren sollen einen riskanten oder gefährlichen Alkoholkonsum betreiben [5]. Jährlich sollen mindestens 73.000 Personen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs versterben [5].
Benzodiazepine und andere Sedativa Ca. 4 bis 5% [6] bzw. 5 bis 6% [4] der verordneten Arzneimittel verfügen über ein Suchtpotential. In der Bundesrepublik Deutschland sollen nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 0,7 [11] bzw. 1,4 und 1,9 Mio. Bürger abhängig von Medikamenten sein [5, 11]. Darunter soll es sich bei 70% um Frauen handeln [5]. Unter die konsumierten Substanzen fallen opioidhaltige Medikamente, Benzodiazepine und die Sedativa-Gruppe der sogenannten Z-Drugs (Zopiclon, Zolpidem und Zaleplon). Zolpidem soll Amnesien, visuelle Wahrnehmungsstörungen, Psychosen und optische Halluzinationen auslösen [6]. Der gefährlicher Alkohol-Konsum: bei Frauen mehr als 40 g bis 80 g, bei Männern mehr als 60 g bis 120 g Reinalkohol pro Tag.
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Anteil der problematischen Einnahme von Zolpidem unter den Gesamtnennungen erhöhte sich von 0% im Jahre 2002 auf 17,6% im Jahre 2006 [11]. Ca. ein Drittel der Medikamente werden allein zur Vermeidung von Entzugssymptomen verschrieben [5]. Es wird geschätzt, dass 1,1 bis 1,2 Mio. Deutsche abhängig von Benzodiazepinen sind [6]. Im Jahre 2007 betrug die Anzahl der verkauften Packungen an Schlaf- und Beruhigungsmitteln 29,5 Mio.! Mit 130.000 Packungen wurde Clomethiazol (Distraneurin®) sogar im ambulanten Bereich verordnet. Die Verordnung dieses Medikamentes kann sich infolge seines ausgeprägten Suchtpotentiales gemäß den Regeln der ärztlichen Kunst nur auf den stationären Alkoholentzug beschränken. Nur noch 0,1% der verordneten Packungen entfielen auf Barbitursäurepräparate [6]. Benzodiazepine werden in Deutschland vor allem älteren Frauen bei Schlafstörungen rezeptiert [6], was häufig zu einer „low-dose-dependency“ führt, d. h. die konsumierte Menge ist niedrig und wird nicht weiter im Verlauf der Abhängigkeit gesteigert. Ein, auch nach eigenen Erfahrungen, erheblicher Anteil der Benzodiazepine wird aber gesetzlich krankenversicherten Alkohol- und Drogenabhängigen auf Privatrezept verschrieben, um Kontrollen seitens der kassenärztlichen Vereinigung zu vermeiden [6]. Darüber hinaus werden legal ausgestellte Benzodiazepinrezepte auf dem Schwarzmarkt an meistens polyvalent Abhängige verkauft.
Cannabis Cannabis ist auch in Deutschland die am häufigsten konsumierte illegale Droge. Seine Bedeutung als Einstiegsdroge in den Konsum von Heroin und Kokain wird seit langem kontrovers diskutiert. Zu den Prävalenzen des Cannabiskonsums (und auch des Konsums anderer Drogen) sei auf Tab. 2 verwiesen. Die Dynamik der 12-Monatsprävalenzen des Konsums von Cannabis im Vergleich zu anderen Drogen im Zeitraum von 1990 bis 2006 gibt Abb. 1 wieder. Die Blütenstände hatten 2007 einen Wirkstoffgehalt an Tetrahydrocannabinol (THC), dem wichtigsten psychotropen Bestandteil der Cannabispflanze, von 10,0%, das Cannabiskraut hatte einen Wirkstoffgehalt von 2,4% [11]. Unter den Deutschen im Alter von 18 und 64 Jahren sollen 380.000 Personen Cannabis schädlich gebrauchen und 220.000 von Cannabis abhängig sein [5]. Einen regelmäßigen Cannabiskonsum betrieben im Jahre 2008 unter den 12- bis 25-Jährigen 2,3%, unter den 12- bis 17-Jährigen 1,1% [5]. Die Lebenszeitprävalenz unter den 12- bis 25-Jährigen wird im Jahre 2008 auf 28,3% beziffert, die der 12bis 17-Jährigen auf 9,6% [5].
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Tab. 2 Prävalenzen im Jahre 2007 in Abhängigkeit von konsumierter Droge und Geschlecht für die Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen. Mit freundlicher Genehmigung ift, München [10] Prävalenz (in %)
Geschlecht
Lebenszeit Cannabis Amphetamine Ecstasy LSD Heroin Kokain Crack Pilze
Gesamt 23,0 2,5 2,0 1,7 0,4 2,5 0,3 4,7
Männer 26,6 3,0 2,5 2,4 0,5 3,0 0,4 6,4
Frauen 19,2 2,0 1,5 1,1 0,4 2,0 0,2 2,9
12-Monate Cannabis Amphetamine Ecstasy LSD Heroin Kokain Crack Pilze
Gesamt 4,7 0,5 0,4 0,1 0,1 0,6 0,1 0,4
Männer 6,4 0,8 0,8 0,2 0,1 0,9 0,1 0,6
Frauen 2,9 0,2 0,1 0,0 0,1 0,3 0,0 0,2
30-Tage Cannabis Amphetamine Ecstasy LSD Heroin Kokain Crack Pilze
Gesamt 2,2 0,3 0,2 0,0 0,1 0,2 0,0 0,1
Männer 3,1 0,5 0,3 0,1 0,1 0,3 0,1 0,1
Frauen 1,3 0,1 0,0 0,0 0,1 0,1 0,0 0,0
Der Handel mit Cannabisprodukten ist hauptsächlich in der Hand von Deutschen, gefolgt von Türken und Italienern. Die höchste Menge an Cannabisharz wird aus Marokko eingeführt. Cannabiskraut stammt hingegen größtenteils aus Albanien, den Niederlanden, den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens sowie Angola und Südafrika. Der Preis für 1 g Cannabisharz betrug 2007 (2006) 5,80 Euro (6,40 Euro), für 1 g Marihuana 8,10 Euro (8,20 Euro) [11].
Amphetamine und Ecstacy In der EU beschlagnahmte Amphetaminlieferungen kommen vorwiegend aus den Herkunftsländern Belgien, den Niederlanden und Polen. Methamphetamine werden hauptsächlich in Tschechien hergestellt. Sie werden dort unter dem Namen „Pervitin“ angeboten
Zur Epidemiologie des Drogenkonsumes in Deutschland
14 12 Prävalenz (in %)
Abb. 1 12-Monats-Prävalenzen im zeitlichen Verlauf von 1990 bis 2006 für die Altersgruppe der 18- bis 39-Jährigen. Cannabinoide zeigen bis 2003 einen Anstieg in den 12-Monats-Prävalenzen, während die Prävalenzen für Amphetamine, Kokain/Crack, Ecstacy und Opiate relativ konstant blieben. Mit freundlicher Genehmigung ift, München [10]
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IIIeg. Drogen
Cannabis
Amphetamine
Kokain/Crack
Ecstasy
Opiate
10 8 6 4 2 0 1990
1995
1997
2000
2003
2006
Erhebungsjahr
[10]. Kristallines Methamphetamin („Crystal“) gelangt aus der Tschechischen Republik in die angrenzenden Bundesländer Bayern und Sachsen sowie in das nahegelegene Thüringen [11]. Es wurde im Grenzgebiet der Bundesländer Bayern und Sachsen zu Tschechien in einigem Ausmaß sichergestellt [10]. Anhand von sichergestellten Proben wurde im Median ein Amphetamingehalt im Jahre 2007 (2006) von 6,2% (7,1%) bestimmt [11]. Wesentliche Zusatzstoffe sind Koffein [10, 11] und Salicylsäure [11]. An Verschnittstoffen sind u. a. diverse Zucker zu benennen. Amphetamine waren im Jahre 2007 (2006) mit 12,60 Euro (12,90 Euro) pro Gramm im Straßenverkauf deutlich billiger als die wirkungsanaloge „Konkurrenzsubstanz“ Kokain mit 63,30 Euro (59,10 Euro) [10, 11]. Bezüglich der Prävalenzen sei auf Tab. 2 verwiesen. Im Jahre 2008 (2007) sollen 2.174 (2.038) Personen erstmalig Amphetamine konsumiert haben [5]. Ecstacy wird vorwiegend in den Niederlanden hergestellt. Unter im Jahre 2007 (2006) 960.602 (795.657) sichergestellten Tabletten befanden sich zu 99,97% (98,5%) Monopräparate, die zu 98,6% (98,5%) MDMA enthielten. Die übrigen Tabletten, 1,4% (1,6%) der Sicherstellungsmenge, enthielten 2 oder 3 Amphetaminabkömmlinge [10, 11]. Der Preis im Straßenverkauf betrug für 1 g 2007 (2006) 6,20 Euro (6,60 Euro) [11]. Einen internationalen Vergleich der Drogenpreise und Reinheitsgrade bringt Tab. 3. Im Jahre 2008 (2007) sollen 2.174 (2.038) Personen erstmalig Ecstacy konsumiert haben [5]. Bezüglich der Prävalenzen sei auf Tab. 2 verwiesen.
Heroin („Braunes“; „H“) Das in Europa erhältliche braune Heroin (Heroinbase) wird überwiegend in Afghanistan illegal hergestellt. Im World Drug Report der UNODC wird die Produktionsmenge von Opium in Afghanistan für das Jahr 2007 mit 8.870 Tonnen mit einem Exportpreis von 4 Milliarden
US-Dollar beziffert [16]. Der überwältigende Anteil von 92% des Heroins für den Welthandel wurde im Jahre 2007 in Afghanistan produziert, in Myanmar dagegen als immerhin zweitwichtigstem Welt-Opium-Lieferanten nur 5% [16]. Das aus Asien stammende weiße Heroin (als Salz) wird auf dem Markt immer seltener. Es werden in Deutschland Reinheitsgrade im Großhandelsverkauf zwischen 20 und 50%, im Straßenverkauf von 15,6% (Median) erreicht [11]. Zusatzstoffe (also pharmakologisch wirksame Bestandteile) sind vor allem Coffein und Paracetamol [10]. Die Anzahl der Menschen mit einem problematischen Heroinkonsum wird in Deutschland anhand der letzten beiden Reitox-Berichte 2006/2007 und 2007/2008 auf 76.000 bzw. 82.000 bis 161.000 bzw. 162.000 geschätzt [11]. Das entspricht einem Anteil von 1,4 bis 2,9 Personen auf 1.000 Deutsche im Alter von 15 bis 64 Jahren [10]. Der Anteil intravenöser Heroinkonsumenten wird auf 63,0% geschätzt [10, 11]. Der monovalent Opiatabhängige ist gegenwärtig eher die Ausnahme als die Regel. So sollen 27,5% der Opiatkonsumenten auch eine „Alkoholstörung“ (gemeint ist ein Alkoholmissbrauch oder eine -abhängigkeit) und 27,1% eine „Kokainstörung“ aufweisen [5]. Bei den monovalent Opiatabhängigen handelt es sich nach eigenen Erfahrungen im wesentlichen um Opiumkonsumenten aus dem nordafrikanischen, arabischen und asiatischen Raum. Heroin wird von vielen Abhängigen mit Kokain gemischt als sogenannter „Cocktail“ konsumiert. Der Preis im Straßenverkauf für 1 g Heroin lag 2007 (2006) bei 35,60 Euro (36,70 Euro) [11].
Kokain („Weißes“; „Schnee“) Das in Deutschland konsumierte Kokain stammt vorwiegend aus Kolumbien, Bolivien und Peru. Etwa ein Drittel der Kokainkonsumenten betreiben einen intravenösen Kokainkonsum [10]. Der Kokainkonsum ist
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Tab. 3 Vergleich der Drogenpreise in Deutschland, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 2006. Daten aus dem World Drug Report 2008 (Angaben in US $ und umgerechnet auf den Preis von 1 g bzw. 1 Tablette für Deutschland (D), das Vereinigte Königreich (UK) und die Vereinigten Staaten von Amerika (USA), [16] Straßenpreis
Großhandelspreis
Droge
Land
US $
Reinheit/%
US $
Reinheit/%
Heroin
D UK USA D UK USA D UK USA D UK USA D UK USA D UK USA D UK USA
46,10/g 71,00/g 172,00/g 74,20/g 87,00/g 94,00/g 10,30/g 5,00/g 15,00/g 6,40/g 3,70/g 100,00/g 16,20/g 18,90/g k. A. k. A. 53,10/g 112,50/g 8,30/Tabl. 7,50/Tabl. 25,00/Tabl.
0,1–63,0 31,0–53,0 0,1–89,0 0,5 – 1,0 1,0–99,0 71,0 0,1–7,2 k. A. 2,0–13,0 0,1–39,3 k. A. k. A. k. A. 1,0–73,0 k. A. k. A. k. A. 16,0–74,0 0,3–84,0 3,0–93,0 k. A.
22,51/g 28,32/g 87,72/g 45,32/g 50,94/g 30,50/g 4,69/g 2,74/g 2,00/g 2,38/g 2,74/g 9,00/g 5,16/g 3,58/g k. A. k. A. k. A. 31,35/g 2,44/Tabl. 1,82/Tabl. 10,00/ Tabl.
1,0–62,0 40,0–50,0 60,0–66,0 20,3–98,8 29,0–78,0 k. A. k. A. k. A. 4,0–13,0 0,1–21,4 k. A. 0,1–52,7 0,7–68,4 4,0–74,0 k. A. k. A. k. A. 37,0–99,0 0,8–57,0 k. A. k. A.
Kokain
Cannabis Kraut („Marihuana“) Cannabis Harz („Haschisch“) Amphetamine
Methamphetamine
Ecstacy
k. A. kein Datenmaterial vorhanden, Tabl. Tabletten
über alle Gesellschaftschichten in Deutschland verteilt. Die Droge ist teuer. Im Straßenverkauf kostete 1 g Kokain 2007 (2006) 63,30 Euro (59,10 Euro), 1 g „Crack“ (rauchbares Kokain) 2007 (2006) 35 Euro (35 Euro) [11]. Die Reinheitsgrade des Kokains lagen im Jahre 2007 im Straßenhandel bei 32,0% (Median), im Großhandel bei 75,3% (Median) [11]. Im Vergleich zu anderen Drogen fällt die Vielfältigkeit der (pharmakologisch aktiver) Zusatzstoffe bei den analysierten sichergestellten Proben auf: Phenacetin, Lidocain, Diltiazem, Coffein, Procain, Hydroxyzin, Tetramisol, Benzocain und Amphetamine. Verschnittstoffe (nicht pharmakologisch wirksam) hingegen sind vorwiegend verschiedene Zucker [10, 11]. Insbesondere der zeitnahe Konsum von Alkohol und Kokain ist nicht zu unterschätzen. Im Körper bildet sich Cocaethylen mit der Folge der Intensivierung des Kokainrausches und einer Verminderung des Alkoholrausches. In Deutschland beschränkt sich die Sicherstellung von „Crack“ im Jahre 2008 auf die Stadt Hamburg, was einen Absatzmarkt für diese Droge im Stadtstaat und
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dessen Umland nahe legt. Offenbar findet Crack nur in Hamburg und Frankfurt einen nennenswerten Absatzmarkt [11]. Im Jahre 2008 (2007) haben 3.970 (3.812) Personen erstmalig Kokain, dagegen nur 350 (498) erstmalig Crack konsumiert [5]. Bezüglich der Prävalenzen sei auf Tab. 2 verwiesen.
Drogentrends Im August 2008 sorgte die Droge „Spice“ (auch „Smoke“, „Scene“, „Yucatan Fire“ und „Skunk“) [17] für einiges Aufsehen. Dieses wurde als Gemisch getrockneter Pflanzenteile und aromatischer Extrakte von Räuchermischungen zur angeblichen Verbesserung des Raumduftes verkauft [5]. Aufgrund der berauschenden Wirkung wurde Spice als „joint“ oder mittels Wasserpfeife konsumiert. Bei der chemischen Analyse fanden sich in der Substanz Cannabinomimetika und zwar vor allem JWH-018 und CP-47,497 [5], welche ein Vielfaches der
Zur Epidemiologie des Drogenkonsumes in Deutschland
Wirkung von THC aufweisen sollen. Daraufhin wurde das Betäubungsmittelgesetz mit Inkrafttreten der Eilverordnung am 22.01.2009 (22. BtmG-Änderungsverordnung) geändert, und die Droge unter die Anlage II des BtmG subsummiert [5]. Ein schwer zu schätzender Anteil von Opioidabhängigen ist von initial bei diversen Schmerzsyndromen verschriebenen Medikamenten wie Tilidin, Tramadol, Piritramid etc. abhängig. Bei dieser Gruppe der Patienten ist oftmals ein ausgeprägtes Doctor-Hopping mit dem Ziel der Rezeptierung der Analgetika festzustellen. Ein vornehmlich im Raum Berlin vorkommendes Phänomen ist der Konsum von dem nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallenden Tilidin (Valoron NR), vornehmlich durch Jugendliche mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund. Hierbei wird offensichtlich die anxiolytische und euphorisierende Komponente der Substanz geschätzt. Rezeptfälschungen und Einbrüche in Apotheken dienten in Berlin der Beschaffung der Substanz [6] Eine weitere Trendsubstanz ist die Gammahydroxybuttersäure. Sie wird auch als „liquid ecstacy“ bezeichnet, obschon sie mit den Amphetaminen chemisch nicht verwandt ist. Sie wird als Flüssigkeit und als Tablette vertrieben. Die Wirkung wird als alkoholähnlich beschrieben. In niedrigen Dosen von 0,5 bis 1,5 g wirkt es stimulierend, anxiolytisch, leicht euphorisierend. Die Motorik wird zudem beeinflusst. In einer Dosis bis zu 2,5 g wirkt es weiter stimmungsaufhellend, antriebssteigernd und eventuell aphrodisierend, in höheren Dosen narkotisierend [8]. Die Substanz wird auch Dritten als sogenannte „K.o.Tropfen“ in Getränke gemischt, um gegen deren Willen sexuelle Handlungen vorzunehmen (sogenannte „drug facilitated sexual assaults“) oder sie zu bestehlen.
281
Identifizierung von Risikofaktoren für die Entwicklung einer Suchterkrankung Zur Etablierung sinnvoller Präventionsmaßnahmen (auch unter gesundheitsökonomischen Aspekten) ist die Identifikation von Risikofaktoren für die Entwicklung einer Suchterkrankung notwendig. Folgende Risikofaktoren lassen sich benennen: Das Geschlecht: Männer neigen zur Alkohol-, Frauen zur Medikamentenabhängigkeit [5]. Insbesondere ältere Frauen neigen zur Low-dose- Benzodiazepinabhängigkeit. Der Anteil der über 70-jährigen Frauen, denen ein Benzodiazepin rezeptiert wird, wird mit bis zu 8% angegeben [5]. Schulabbrecher, Schulverweigerer [10]: Dieses Verhalten geht zudem häufig mit einer dissozialen Entwicklung einher.
Kinder aus Risikofamilien: In der Bundesrepublik Deutschland sollen ca. 2,6 Mio. Kinder unter 18 Jahren mit alkoholkranken Eltern zusammenleben. Etwa 40.000 bis 60.000 Kinder wachsen bei Eltern auf, die substituiert werden oder Drogen einnehmen [11]. Etwa 20.000 drogenabhängige Mütter leben in Deutschland [10]. Etwa jedes 5. bis 6. Kind ist von einer Suchterkrankung in der Familie betroffen [11]. Etwa 10% der Deutschen sind oder waren in der Kindheit mit einem intrafamiliären Suchtproblem konfrontiert [10]. Ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS): Bei 2% der Kinder und Jugendlichen soll ein ADHS vorliegen [11]. Bei der Untersuchung von 152 Erwachsenen (alkoholabhängig n = 91 und multipel substanzabhängig n = 619) bestand bei 23.1% der Alkoholabhängigen und bei 54,1% der Substanzabhängigen retrospektiv in ihrer Kindheit ein ADHS. Bei 26,3% der Alkoholabhängigen und bei 65,5% der Substanzabhängigen besteht das ADHS im Erwachsenenalter fort [10]. Dies bedeutet für das Suchthilfesystem, die möglichst frühe Diagnostik eines ADHS anzustreben. Darüber hinaus werden durch die Kinder und Jugendlichen oftmals soziale Erwartungen nicht erfüllt, was zu Enttäuschung und vermindertem Selbstwertgefühl der Betroffenen führen kann. Cannabis und Kokain können dann temporär eine Besserung der Befindlichkeit im Sinne der Selbstmedikation schaffen [11]. Weitere psychische Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter: Ca. 20% aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind in verschiedenem Ausmaß psychisch auffällig [11]. Insbesondere depressive und bipolare Störungen, aber auch Angststörungen prädisponieren Jugendliche zum Cannabiskonsum [11]. Das Merkmal „psychische Auffälligkeit“ soll mit einem niedrigen sozioökonomischen Status einhergehen [11]. Auch nachlassende Erziehungskompetenzen der Eltern scheinen bei diesem Phänomen eine Rolle zu spielen. Gewalterfahrungen in der Familie sind zudem ursächlich für einen Substanzkonsum unter Kindern und Jugendlichen [10]. In Deutschland wird die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung von den niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiatern und institutionell von 281 Kliniken und Tageskliniken sowie 183 Ambulanzen sichergestellt [10]. Z. n. sexuellem Trauma [5]. Ethnische Gruppen: Bei Migranten sind die drei häufigsten psychischen Störungen psychosomatische und depressive Syndrome gefolgt von Drogenabhängigkeit [10]. Eine besonders gefährdete Gruppe unter den Migranten ist die Gruppe der jungen Rußlanddeutschen, bei denen es häufig zu Suchtmittelabhängigkeit und kriminellem Verhalten kommt [10]. Die
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Anzahl der Aussiedler an der Bevölkerung Deutschland beträgt 5,5%. Die Anzahl der Drogentodesfälle junger Aussiedler ist von 36 im Jahre 1999 auf 132 im Jahre 2006 gestiegen. Ihr Gesamtanteil an allen Rauschgiftopfern betrug 2006 10,2%. Diese Zahlen deuten auf die Notwendigkeit der Verbesserung der Integration in die deutsche Gesellschaft hin [10].
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Die Gruppe der jungen Aussiedler ist offensichtlich schwer in eine Substitutionsbehandlung zu vermitteln. Sofern sie sich substituieren lassen, dann vorrangig bei Ärzten, die Take-Home-Dosen verschreiben [11]. Ein hoher Prozentsatz der Substituierten mit Migrationshintergrund soll sich noch nie einer qualifizierten Entzugssyndrom- und Entwöhnungsbehandlung unterzogen haben [11].
Behandlungsmaßnahmen und -angebote für Suchtkranke Die Behandlungsmaßnahmen für Suchtkranke sind breit gefächert. Maßnahmen wie „harm reduction“ zielen auf das Überleben oder Vermeiden gesundheitlicher Schäden (z. B. durch Vergabe steriler Spritzbestecke, das Vorhalten von „Druckräumen“) ab und werden als niedrigschwellig bezeichnet. Die Substitution mit einem Opiatersatzstoff soll es anfänglich dem Patienten ermöglichen, den Heroinkonsum zu mindern. In einer späteren Phase der Substitutionsbehandlung soll dann die Freiheit vom „Beikonsum“ und ein möglichst gesundes Leben ohne Kriminalität stehen (sogenannte niedrig- bis mittelschwellige Maßnahmen). Hochschwellige Maßnahmen wie beispielsweise die Behandlung mit einem Opiatantagonisten wie Naltrexon (NemexinR) zielen auf das Erreichen von Abstinenz ab. Der suchtmittelkonsumierende Patient trifft in Deutschland auf ein gut aufgestelltes Suchthilfesystem mit differenzierten Angeboten. Unter 70.000 psychiatrischen stationären Behandlungsplätzen werden ca. 12.000 für Suchtkranke vorgehalten [5]. Bei einer mittleren Liegedauer von 14 Tagen werden 300.000 Behandlungen jährlich durchgeführt. Die Anzahl der psychiatrischen Institutsambulanzen wird mit 414 im Bundesgebiet angegeben. Von den dort jährlich durchgeführten 650.000 Behandlungen entfallen 12% auf Suchtkranke. Etwa 25.000 Suchtkranke werden jährlich in den Institutsambulanzen behandelt [5]. Es wird geschätzt, dass 167.000 bis 198.000 Deutsche illegale Drogen wie Heroin, Kokain, Amphetamine und Halluzinogene konsumieren. Insbesondere die Behandlungsmöglichkeiten der Heroinabhängigkeit sind breit gefächert. Behandlungsmaßnahmen sind:
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Die akzeptierende niedrigschwellige Drogenarbeit im Sinne von Streetworking und den Versuchen der Anbindung an das Suchthilfesystem. Diese Arbeit schließt als niedrigschwelligste Maßnahme die Akzeptanz der Nutzung von Drogenkonsumräumen nach § 10a BtmG ein. Im Jahre 2008 gab es in der Bundesrepublik Deutschland in 16 Städten 25 Drogenkonsumräume [5] mit 215 Konsumplätzen [11]. Diese 25 Drogenkonsumräume finden sich nur in 6 von 16 Bundesländern. Hier zeigt sich ein deutschlandweites Ost-West und Nord-Süd-Gefälle. Lediglich in Berlin finden sich Drogenkonsumräume, nicht jedoch in den neuen Bundesländern, Bayern und Baden-Württemberg. Auch Spritzenaustauschprogramme gehören zu den niedrigschwelligen Maßnahmen. Mindestens 250 von 1.000 anerkannten Beratungsstellen sollen Spritzenaustauschmöglichkeiten anbieten [11]. Die Verteilung von Spritzen in Justizvollzugsanstalten ist nach den Prinzipien der „harm reduction“ wünschenswert. Obschon es diesbezüglich Statistiken mit Mut machenden Tendenzen gab, sind solche Programme wohl aufgrund mangelnder Akzeptanz des Vollzugspersonales eingestellt worden [11]. Die „Echtheroinvergabe“, besser Diamorphinsubstitution: Diese zunächst in Deutschland von 2001 bis 2007 im Rahmen einer Studie angebotene Behandlungsform stellt eine sehr niedrigschwellige Behandlungsform der Opiatabhängigkeit dar. Sie ist für schwerst Heroinabhängige geeignet, die durch die herkömmlichen Substitutionsformen nicht erreicht werden. Die Patienten müssen sich 2 bis 3 Diamorphininjektionen täglich zur erfolgreichen Substitution in den Vergabestellen applizieren. Das Echtheroinprojekt wurde von den Ländern Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sowie von den Städten Bonn, Frankfurt am Main, Hannover, Karlsruhe, Köln und München getragen und durchgeführt. Die wissenschaftliche Evaluation erfolgte durch das Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung in Hamburg. Ende 2008 befanden sich ca. 300 Personen in der Diamorphinsubstitutionsbehandlung [5]. Substitutionsbehandlung: Im Jahre 2008 wurden ca. 72.200 Personen in Deutschland von 2.673 Ärzten substituiert. Die Zahl der substituierenden Ärzte stagniert, so kamen im Jahre 2003 auf 2.607 Substitutionsärzte 52.700 Patienten [5]. Es gibt aber nach wie vor erhebliche Probleme in der flächendeckenden Substitutionsbehandlung für Opiatabhängige. Insbesondere im Osten Deutschlands und dort in den ländlichen Gebieten ist eine Unterversorgung mit Substitutionsärzten vorzufinden. In Ostdeutschland (ohne Berlin) wurden 2007 1.988 Patienten von 106 Ärzten substituiert [11]. Zur Verbesserung der Versorgungssitua-
Zur Epidemiologie des Drogenkonsumes in Deutschland
tion der Substituierten trat am 25.03.2009 die 23. Betäubungsmitteländerungsverordnung in Kraft, durch die eine modifizierte Vertreterregelung für substituierende Ärzte ermöglicht wird und eine Verschreibung des Substituts für bis zu zwei Tagen möglich ist [5], und zwar, ohne dass die Kriterien für eine TakeHome-Verschreibung erfüllt sind. Im Jahre 2007 waren 9.665 Personen wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz inhaftiert, was einem Anteil von 14,9% unter den Inhaftierten entspricht [11]. Dennoch ist angesichts dieser einen Bedarf signalisierenden Zahlen die substitutionsgestützte Behandlung langjährig Opiatabhängiger in den Justizvollzugsanstalten problematisch. So sind zum Beispiel intermittierende Substitutionsbehandlungen für die Dauer von 3 bis 6 Monaten häufig vorzufinden. Die Neueinstellung auf ein Substitut liegt zudem oftmals im Ermessen des Anstaltsarztes [11]. Die Handhabe einer Behandlung mit einem Opiatersatzstoff ist also sehr uneinheitlich. Dies mag einerseits an den mangelnden personellen Ressourcen in den Justizvollzugsanstalten, andererseits aber auch an restriktiven Grundeinstellungen mancher Anstaltsärzte liegen. Die neuen Substitute wie z. B. SubutexR (Buprenorphin) und dessen Weiterentwicklung SuboxoneR (Buprenorphin und Naloxon) sind vielversprechende pharmakologische Bereicherungen in der Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigkeit, da sie deutlich nebenwirkungsärmer sind als die klassischen Substitute wie D,L-Methadon und Levomethadon. SuboxoneR ist zur Zeit als sicherstes Substitut zu werten, da es nur bei bestimmungsgemäßer Anwendung, also sublingualer Einnahme, wirkt. SubutexR dagegen wird missbräuchlich auch pernasal und intravenös konsumiert. Im Jahre 2008 wurden 59,7% der Suchtkranken mit D,L-Methadon, 18,9% mit Buprenorphin (SubutexR), 20,6% mit Levomethadon und 0,3% mit Diamorphin behandelt [5]. Eine komorbide Alkoholabhängigkeit lässt sich noch gut bei fehlenden Kontraindikationen mit Disulfiram (AntabusR) im Substitutionssetting behandeln. Dagegen stellen ein Benzodiazepin- und/ oder Kokainbeigebrauch oftmals schwer zu behandelnde Komplikationen dar. Der Verkauf von sogenannten Take-Home-Dosen ist eine mögliche Quelle für den Schwarzmarkthandel mit den Substituten. Eine Abstinenzerhaltung von Heroin ist durch Verabreichung des Opiatantagonisten Naltrexon (NemexinR) möglich. Problematisch für viele Niedergelassene ist aber die Budgetbelastung durch die Medikamentenkosten von zur Zeit 151,86 Euro für 30 Tabletten NemexinR [14]. Dies entspricht bei einer Vergabe von 50 mg NemexinR pro Tag täglichen Medikamentenkosten von 5,06 Euro. Eine solche medikamentöse Behandlung ist allerdings deutlich billiger als eine wiederholte stationäre qualifizierte Entzugsbehand-
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lung. Die Behandlung mit einem Opiatantagonisten ist selbstverständlich durch stützende Gespräche zu ergänzen. Entwöhnungsbehandlungen und die dazugehörigen Nachsorgeprogramme: Entwöhnungsbehandlungen werden in der Regel stationär in Suchtfachkliniken durchgeführt. Mittelfristige Abstinenzraten werden für Drogenabhängige mit 30 bis 40% angegeben.
Die spezifischen Behandlungsangebote für die Behandlung von Cannabis-, Kokain- und Amphetaminkonsumenten sind vor allem an großen Drogenberatungsstellen und den psychiatrischen Institutsambulanzen angesiedelt und deutschlandweit flächendeckend ausbauwürdig.
Suchtfolgeerkrankungen Das Robert-Koch-Institut beziffert für 2007 den Anteil der intravenösen Drogenkonsumenten unter den Patienten mit einer HIV-Erstdiagnose auf 5,5% [11]. Dieser Anteil betrug im Jahre 2000 noch 10,1%. Die absolute Zahl der Drogenkonsumenten mit einer erstdiagnostizierten HIV-Infektion lag 2007 bei 152 [11], retrospektiv 2006 bei 162 und 2002 aber nur bei 108! Insbesondere eine vorbestehende Syphilisinfektion führt einerseits über die durch sie bedingten entzündlichen Prozesse zu einer Erhöhung der Ansteckungswahrscheinlichkeit mit HIV. Andererseits können HIVpositive Menschen, die auch an einer Syphilis erkrankt sind, das HI-Virus leichter weitergeben [11]. Unter den Personen mit Erstdiagnose einer HIV-Infektion befanden sich 2007 mit 65% homosexuelle Männer. Menschen mit heterosexuellen Kontakten waren dagegen nur zu 17% vertreten. Darüber hinaus stammen 9,2% der Personen mit der Erstdiagnose der Erkrankung aus Ländern mit hoher Prävalenz einer HIVInfektion. Sie haben offenbar die HIV-Infektion schon im Heimatland erworben [11]. Daten der ambulanten Beratungsstellen geben die HIV-Prävalenz unter den Opiatabhängigen mit 5,6% (n = 198) an und unter allen Drogenkonsumenten mit 4,6% (n = 223) [5]. Von 10.000 bis 15.000 potentiell substituierbaren Inhaftierten sollen sich lediglich 500 bis 700 in einer kontinuierlichen Substitutionsbehandlung befinden [5]. Der Anteil intravenöser Drogenkonsumenten soll in den Haftanstalten zwischen 21,9 bis 29,6%, in der Allgemeinbevölkerung lediglich bei 0,3% liegen [5]. Zudem ist der Anteil der Hepatitis-C-Virus-positiven Personen unter den Inhaftierten mit 14,3% bis 17,6% deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung, in der er nur 0,4% bis 0,7% beträgt [5]. Der Anteil der HIV- positiven Menschen liegt unter den Inhaftierten bei 0,8% bis 1,2%, in
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der Allgemeinbevölkerung hingegen nur bei 0,05% [5]. Eine Inhaftierung erhöht somit zusätzlich das Risiko für den Erwerb einer HCV- und/oder HIV-Infektion durch den dortigen intravenösen Drogenkonsum. Im Jahre 2008 (2007) wurden 1.850 (2.204) Fälle einer akuten Hepatitis-B-Erkrankung gemeldet [12]. Bei der Möglichkeit der Mehrfachnennung des Infektionsweges wurden 340 Fälle einem sexuellen und lediglich 34 Fälle einem intravenösen Drogenkonsum als Übertragungsweg zugeordnet [11]. Die Durchseuchungsrate in Deutschland (Anti-HBs- positiv) soll 40 bis 60% unter den intravenös konsumierenden Drogenabhängigen betragen [11]. Aktuelle Schätzungen (2008) des Robert Koch-Institutes gehen von einer Anzahl von 400.000 bis 500.000 HCV-positiven Deutschen aus [13]. Die Anzahl der Neuinfektionen wird für das Jahr 2008 (2007) mit 6.195 (6.858) angegeben [5, 12]. In 35% der Fälle ist der intravenöse Drogenkonsum der berichtete Übertragungsweg (absolut 1.769 von 5.012 Fällen mit berichtetem Übertragungsweg). Die Durchseuchungsrate in Deutschland (HCV-Antikörper positiv) soll 60 bis 80% unter den intravenös konsumierenden Drogenabhängigen betragen [11].
Drogentote Nach jahrelangem Rückgang der Anzahl der Drogentoten im Zeitraum von 2002 mit 1.513 bis 2006 mit 1296, ist diese im Jahr 2007 auf 1.394 angestiegen [11]. Die Jahreskurzlage Rauschgift 2008 des Bundeskriminalamtes weist für das Jahr 2007 1.394 Drogentote aus, wovon 62% obduziert worden sind [2, 11]. Bei dieser Erhebung gab es die Möglichkeit von Mehrfachnennungen bei den Kriterien Überdosis und Suizid, so dass die Gesamtzahl der Nennungen größer als die Anzahl der Drogentoten ist! Eine Heroinüberdosis führte bei 550 Fällen, eine Drogenintoxikation mit sonstigen bzw. unbekannten Drogen in 135 Fällen und eine Mischintoxikation in 668 Fällen zum Tode. Hingegen waren Langzeitschäden bei 166 Personen und Suizide bei 81 Personen die Todesursachen. Das bedeutet, dass akute in ihren Auswirkungen schwer kalkulierbare Intoxikationen die Haupttodesursache bei einem Großteil der Drogentoten sind. Insbesondere akute reine Heroinintoxikationen oder Mischintoxikationen machen den Drogenkonsum auch für erfahrene Konsumenten schwer kalkulierbar [10, 11]. In den letzten 8 Jahren ist der Anteil der 40- bis 50-Jährigen an den Drogentoten gestiegen, was auf den Rückgang des Anteils junger Drogenkonsumenten zurückgeführt wird [11]. Zudem ist das Alter von über 70% der Drogentoten erstaunlicherweise über 30 Jahre, d. h., dass aller Wahr-
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scheinlichkeit nach schon eine längere Drogenkarriere bestand, und damit ein Erfahrungsschatz im Umgang mit Suchtmitteln zum Todeszeitpunkt vorausgesetzt werden muss. Man beachte, dass diese Entwicklung bereits langjährig besteht. Oftmals bleibt es unklar, ob die Suchtmittelapplikation in suizidaler Absicht erfolgt ist. Darüber hinaus sei zum Zwecke des Vergleiches erwähnt, dass in Deutschland ca. 74.000 Menschen an den Folgen eines Alkohol- sowie kombinierten Alkohol- und Tabakkonsums im Jahre 2007 gestorben sein sollen. Zwei Drittel davon waren Männer [4].
Verkehrssicherheit Im Jahre 2007 ereigneten sich in Deutschland 336.002 Unfälle mit 409.641 am Unfall beteiligten Kraftfahrzeugführern. Unter diesen 409.641 Kraftfahrzeugführern standen 19.466 unter Alkoholeinfluss und 1.354 unter dem Einfluss von Drogen [11]. Im selben Jahr machten Alkoholunfälle 6,2% der Unfälle mit Personenschäden aus, wobei allerdings 11,4% aller Verkehrsopfer verstarben und immerhin 9,4% schwer verletzt wurden [1]. Im Jahre 2008 waren 8.865.000 Personen im Verkehrszentralregister des Kraftfahrtbundesamtes eingetragen. Davon entfielen 1.314.000 Eintragungen auf Alkoholdelikte. Bei der Mehrzahl der Personen handelte es sich hierbei um Männer (Männer: 1.166.000, Frauen: 148.000) [7]. Es wurden insgesamt 221.800 Alkohol- und Drogendelikte im Jahre 2008 im Verkehrszentralregister erfasst, wobei die Anzahl der Alkoholdelikte mit 190.800 im Vergleich zum Vorjahr um 2,1% diskret abnahm, die der Drogendelikte mit 31.000 um 12,3% erheblich zunahm [7]. Der Vergleich der erfassten Alkohol- und Drogenverstöße ist verkehrsmedizinisch sehr sinnvoll, da eine Alkoholisierung bei einer polizeilichen Verkehrskontrolle allem Anschein nach eher erfasst wird als ein der Fahrt vorausgegangener Drogenkonsum, so dass die entsprechenden Statistiken aller Wahrscheinlichkeit nach ein verzerrtes Bild der Verkehrsrealität in Deutschland zeichnen.
Psychotrope Substanzen und Kriminalität Deutschland ist einerseits ein großer Absatzmarkt für Drogen, andererseits auch ein Transitland für den europäischen Drogenhandel. Die Lieferung rentabler Mengen an Drogen nach Deutschland kann aufgrund der komplexen logistischen Schritte bei der Ausführung nur im Rah-
Zur Epidemiologie des Drogenkonsumes in Deutschland
men der organsierten Kriminalität erfolgen. Die europäische Einigung und die Globalisierung bedeuten nicht nur einen erheblichen kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt, sondern auch zwangsläufig die Annäherung internationaler organisierter krimineller Strukturen. Die aktuelle geopolitische Entwicklung verschärft diese Problematik zusätzlich. Nach dem Fall des „Eisernen Vorhanges“, der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 sowie der Auflösung des Warschauer Paktes und der Weiterentwicklung der europäischen Einigung durch die Definition des „Schengen Raumes“, rückte die Bundesrepublik Deutschland geographisch von der Randlage in Westeuropa in das Zentrum Gesamteuropas. Die Zugehörigkeit zum Schengen-Abkommen bedeutet für die Europäer seit dem 21.12.2007 keine Grenzkontrollen sowohl an Land- und Seegrenzen als auch ab dem 30.03.2008 an Flughäfen in 22 von 27 EU-Mitgliedsstaaten. Dies hat für die Tatsache der Verfügbarkeit diverser Drogen in Deutschland eine Bedeutung. Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes waren im Jahre 2006 von 82,31 Mio. Menschen in der Bundesrepublik Deutschland 7,26 Mio. Ausländer (8,8%). Die Notwendigkeit der Integration verschiedener Kulturen bedeutet einerseits eine Chance zur Annäherung und zum kulturellen Austausch der Kulturen, andererseits verschiedene Probleme mit enttäuschten Erwartungen seitens der Einwanderer und einer langjährig versäumten aktiven Integrationspolitik in Deutschland (Stichwort „Subkulturen“). Diese sozialen Spannungen sind vielfach auch Nährboden für Kriminalität insbesondere die Drogenkriminalität. Vor diesen Hintergründen sind auch die folgenden Ausführungen zu sehen. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes blieben im Jahre 2008 große Einzelsicherstellungen von Heroin und Kokain aus. Es wurden 2008 503 kg Heroin (Rückgang um 53% im Vergleich zum Vorjahr) und 1.069 kg Kokain (Rückgang 43% im Vergleich zum Vorjahr) sichergestellt. Die Sicherstellungsmenge von Ecstacy mit 751.431 Konsumeinheiten nahm im Vergleich zum Vorjahr um 24% ab. Insgesamt wurden 1.283 kg Amphetamine und Methamphetamine sichergestellt (Zunahme um 56% im Vergleich zum Vorjahr). Die Sicherstellungsmenge von Haschisch betrug 2008 7.632 kg (Zunahme im Vergleich zum Vorjahr um 108%), die von Marihuana 8.932 kg (Zunahmen im Vergleich zum Vorjahr um 137%) [2]. Weitere Informationen zu Sicherstellungen im Jahre 2008 und den Nationalitäten der Tatverdächtigen bringt Tab. 4. Vor einer Überinterpretation dieser Daten ist zu warnen, da diese lediglich im Sinne von Momentaufnahmen das kriminologische Hellfeld beleuchten und im Jahre 2008 die Sicherstellungsmengen von Haschisch und Marihuana vor dem Hintergrund großer Sicherstellungsmengen durch „Einzelsicherung“ zu sehen sind [3].
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Tab. 4 Fallzahlen und die dazugehörigen Sicherstellungsmengen illegaler Drogen in Deutschland sowie die Nationalität der zugehörigen Tatverdächtigen im Jahre 2008 [2] Droge
Heroin Kokain Crack Amphetamine und Methamphetamine Ecstacy Haschisch Marihuana
Fallzahl
Sicher gestellte Menge
Nationalität Tatverdächtige
6.638 3.956 1.628 8.425
503 kg 1.069 kg 8 kg 1.283 kg
Deutsche > Türken Deutsche > Türken > Italiener Deutsche > Türken Deutsche > Türken und Polen
2.698
751.413 Tabletten 7.632 kg 8.932 kg
Deutsche > Türken > Polen
10.313 24.594
Deutsche > Türken Deutsche > Türken
Im Jahre 2008 wurden 6.114.128 Straftaten registriert, worunter 239.951 (das sind 3,9% aller Straftaten) Rauschgiftdelikte fielen [3]. Unter diesen 239.951 Rauschgiftdelikten erfolgten 28.177 im Zusammenhang mit Heroin, 18.173 im Zusammenhang mit Kokain, 35.302 im Zusammenhang mit Amphetaminen, Methamphetaminen und Ecstacy und 132.519 im Zusammenhang mit Cannabis [3]. Im Jahre 2007 wurden 2.540 Fälle der direkten Beschaffungskriminalität in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik ausgewiesen. Hierbei handelt es sich um Delikte, um an Betäubungsmittel bzw. Medikamente zu gelangen. Die Anzahl dieser Delikte ist von 2006 auf 2007 um 13,7% gestiegen. Bei den Handelsdelikten lag Cannabis mit 60% aller Handelsdelikte (absolut 38.460) vorn, gefolgt von Heroin mit 13,7% (absolut 8.752), Amphetaminen mit 10,0% (absolut 6.405) [11]. Der illegale Handel mit und der Schmuggel von Kokain wird mit einem Anteil von 47,5% nichtdeutschen Tatverdächtigen abgewickelt [3]. Unter den konsumnahen Delikten, das sind allgemeine Verstöße gegen § 29 BtmG (Besitz, Erwerb und Abgabe von Btm), sind die Verstöße im Zusammenhang mit Cannabis mit 60% dominierend, während diejenigen im Zusammenhang mit Heroin mit 12,2% und Kokain mit 7,5% vergleichsweise gering ausgeprägt sind [11]. Im Jahre 2006 wurden 52.165 Personen nach dem Betäubungsmittelgesetz verurteilt [11].
Ausblick Aus suchtmedizinischer Sicht ist bei Betrachtung der deutschen Gesamtsituation der flächendeckende Ausbau von niedrigschwelligen Behandlungsangeboten anzustreben. Hierbei ist unbedingt das Ost-West-Gefäl-
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le bei den Behandlungsangeboten an Konsumräumen, und Substitutionsmöglichkeiten sowie das entsprechende Stadt-Land-Gefälle auszugleichen. Auch das oben angeführte Nord-Süd-Gefälle bei der Anzahl der verfügbaren Konsumräume sollte ausgeglichen werden. Die positiven Erfahrungen mit dem „Echtheroinprogramm“ haben den Gesetzgeber veranlasst, dieses Angebot als suchtmedizinisches Angebot gesetzlich zu fixieren, was sehr zu begrüßen ist. Die Anerkennung der Diamorphinsubstitution als Behandlungsmaßnahme mit der Konsequenz der Kostenübernahme durch die Krankenkassen steht noch aus. Darüber hinaus ist vielerorts eine weitergehende Vernetzung des Suchthilfesystems von Nöten. Dies betrifft vor allem 3 kritische Schnittstellen: Vernetzung des bestehenden suchtmedizinischen Hilfesystems mit den Justizvollzugsanstalten und den Maßregelvollzugseinrichtungen: Die suchtmedizinische Behandlung in den Justizvollzugsanstalten und Maßregelvollzugseinrichtungen, die dortigen Entlassungsplanungen und nach der Entlassung die Zuführung der Patienten in ein ambulantes suchtmedizinisches Setting ist verbesserungswürdig. Auch die Behandlung suchtkranker Straftäter gemäß § 35 BtmG und § 64 StGB in einem ambulanten Setting verdient mehr Aufmerksamkeit.
Vernetzung des bestehenden Suchthilfesystems mit Einrichtungen der Migrantenversorgung: Die Verbesserung der Behandlung von suchtmittelabhängigen Migranten, insbesondere der schwer suchttherapeutisch erreichbaren Rußlanddeutschen, muss als ein Mittel zur Integration vordringlich betrieben werden. Ausbau der Vernetzung des Suchthilfesystems mit Einrichtungen der Jugendhilfe zwecks Erreichung von Schulverweigerern und von Kindern aus suchtbelasteteten Familien z. B. im Sinne von Präventivmaßnahmen und Beratungen.
Es bleibt an dieser Stelle festzustellen: Das Suchthilfesystem in Deutschland ist gut und fortschrittlich aufgestellt. Es gilt aber die multiplen Herausforderungen, die die umfassend erhobenen Statistiken aufzeigen, anzunehmen und zwar auch in Zeiten begrenzter finanzieller Ressourcen.
7 Interessenkonflikt Herr Dr. Heilmann erhielt von den Firmen Essex Pharma und Sanofi-Aventis finanzielle Unterstützung bei Kongreßbesuchen. Herr Prof. Scherbaum erhielt von den Firmen Essex-Pharma, Molteni und Sanofi-Aventis finanzielle Unterstützung bei Kongreßbesuchen und Ausrichtung wissenschaftlicher Veranstaltungen sowie Honorare für Vortragstätigkeit. Er ist im Advisory Board für SuboxoneR bei Essex Pharma.
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Übersicht
Catia M. Loddo Justus Beike Markus A. Rothschild
γ-Hydroxybuttersäure (GHB) als K.O.-Mittel und sexuelle Delinquenz
γ- Hydroxybutyric acid (GHB) as date rape drug in sexual assaults
7 Zusammenfassung Insbeso ndere wird der Einsatz von γ- Hy droxybuttersäure (GHB, „Liquid Ecstasy“) und seinen Vorstufen γButyrolakton (GBL) und 1,4-Bu tandiol (BDO), die im menschli chen Körper zu GHB umgewandelt werden, als K.O.-Mittel im Rah men der Sexualdelinquenz beob achtet. Bei einer geringen Einzel dosis GHB (bei Erwachsenen et wa 1 bis 2 g p.o.) wirkt GHB bei nicht gewöhnten Personen leicht berauschend, euphorisierend, an xiolytisch und entspannend. Mit steigender Dosierung (ab etwa 2,5 g) treten folgende Symptome in den Vordergrund: Schläfrigkeit, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Desorientiertheit, Agitiertheit, kör perliche Symptome wie Myoklonie und Bradykardie. Bei oraler Auf nahme von 3 bis 4 g stellt sich bei Erwachsenen innerhalb weniger Eingegangen: 21. August 2009 Angenommen: 1. September 2009 Online publiziert: 1. Oktober 2009 C. M. Loddo · Dr. J. Beike ()) · M. A. Rothschild Institut für Rechtsmedizin Universitätsklinikum Köln (AöR) Melatengürtel 60-62 50823 Köln, Deutschland E-Mail:
[email protected]
Minuten Bewusstlosigkeit mit Ge fahr der Atemdepression ein, bei 4 bis 5 g ist schließlich mit einem tie fen Koma zu rechnen. 2008 gelangten 22 Fälle mit Ver dacht auf K.O.-Mittelbeibringung im Zusammenhang mit einem Se xualdelikt zur toxikologischen Analyse in unser Institut: 11 Fäl le mit Blut und Urinprobe, 7 Fäl le nur mit Blutprobe, 4 Fälle nur mit Urinprobe. Zeitraum zwi schen Vorfall und Blutentnahme im Durchschnitt 6,2 h, zwischen Vorfall und Urinabgabe im Durch schnitt 14,6 h. In keinem Fall ge lang der Nachweis einer GHBKonzentration oberhalb des phy siologischen Wertes. In 12 Fällen wurden nachgewiesen: Cannabis (n = 7), Amphetamin (n = 2), Co cain (n = 1), Diazepam (n = 3) sowie Fluoxetin, Citalopram und Dihy drocodein (jeweils n = 1). Im Hinblick auf die kurze Halb wertszeit von GHB ist eine ra sche Blutentnahme und Urinab gabe bei Verdacht auf GHB-Bei bringung von erheblicher Bedeu tung. Wesentliches Gewicht kommt hier auch der Anamnese zu, insbe sondere zur Rausch- und zur Auf wachphase.
7 Schlüsselwörter K.-O.-Mittel ·
GHB · Drogenassoiiertes Sexualde likt · γ-Butyrolakton · 1,4-Butandi ol
7 Abstract Especially γ- Hydro xybutyric acid (GHB, „Liquid Ecs tasy“) and its precursors γ-Buty rolakton (GBL) and 1,4-Butandi ol (BDO) which are transformed to GHB in humans, have been obser ved as knock-out substances with sexual offences. A low single do se GHB (adults about 1–2 g per os) to a person that is not used to ta ke GHB can have a mild exhilara ting, euphoric, anxiolytic, and rela xing effect. With increasing dosa ge (from 2,5 g) drowsiness, vertigo, nausea, vomiting, disorientation, agitation, myoclonia, and brady cardia will arouse. A dosage of 3– 4 g per os (adults) results in consci ousness and respiratory depression within minutes. A dosage of 4–5 g can cause a comatous state. In 2008 22 sexual offence cases with hints for the use of narcotics were examined in our toxicological laboratory: blood and urine sam ples in 11 cases, blood only in 7 ca ses, urine samples only in 4 cases. The average time interval between the offence and blood taking was 6.2 hrs, and between offence and giving an urine sample 14.6 hrs. A GHB concentration higher than the physiological level could not be de tected in any of the cases. In 12 ca ses cannabinoides (n = 7), ampheta mine (n = 2), cocaine (n = 1), diaze pam (n = 3) as well as fluoxetin, ci
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talopram, and dihydrocodein (n = 1 each) could be detected. With a very short half life of GHB and its precursors a fast collecting of blood and urine is essential, when it is believed that GHB had been used.
J. Beike et al.
In these cases also a good and pro per interview of the victim is of sig nificant importance, especially con cerning the phase of the intoxicati on as well as the recovery phase.
7 Keywords GHB · Date rape
drug · Drug facilitated sexual assault · γ-Butyrolakton · 1,4-Butandiol
Einleitung
GHB und seine Vorstufen
Der Begriff K.O.-Mittel steht nicht für einen einzelnen Stoff oder eine spezifische Stoffgruppe, sondern er stellt einen Sammelbegriff für verschiedene Substanzen dar (u. a. Alkohol, Psychopharmaka, Muskelrelaxanzien, Narkotika, Antihistaminika, zentralwirksame Anti hypertensiva, illegale Drogen einschließlich GHB und seine Vorläufer etc.). Diesen Substanzen ist gemein, dass sie eine zentral wirksame Komponente besitzen und in der Regel eine narkotisierende Wirkung haben. Prinzipiell ist denkbar, dass die meisten zentralwirk samen Medikamente als K.O.-Mittel Verwendung fin den können, allerdings sind nicht alle diese Medika mente auf gleiche Art und Weise hierfür geeignet. So haben die Medikamente teilweise ein ungünstiges Wir kungsprofil, zu viele Nebenwirkungen oder eine zu un genau vorhersehbare Wirkungsweise. Als vom Täter erwünschte Wirkung beim Einsatz von K.O.-Mitteln scheint von außen betrachtet ein sedativ hypnotischer Effekt mit anterograder oder ggf. retro grader Amnesie zu sein, eine Verhaltensmodulation mit ggf. dämpfender, euphorisierender oder sexuell enthem mender Wirkung, eine Willenlosigkeit, Hilf- und Wehr losigkeit, ein relativ zeitnaher Wirkungseintritt mit Be wusstseinstrübung aber nicht vollständiger Handlungs unfähigkeit und Bewusstlosigkeit. Die als K.O.-Mittel verwendeten Substanzen müssen, um eine möglichst unauffällige Beibringung zu gewährleisten, bestimmte Eigenschaften erfüllen: geschmacksarm oder -neutral, geruchsneutral, farbneutral und eine unkomplizierte Applikationsform ermöglichen. Das Vorliegen in hoch konzentrierter, flüssiger Form erscheint sinnvoll, damit es nicht im Rahmen der Applikation z. B. in einem Ge tränkt zu auffälligen Mengenzunahmen kommt. Zudem sollte die Substanz unproblematisch zu beschaffen sein. Insbesondere ist der Einsatz von γ- Hydroxybutter säure (GHB) und seinen Vorstufen als K.O.-Mittel im Rahmen der Sexualdelinquenz ein häufig diskutiertes Thema. Auffällig erscheint dabei aus unserer Sicht, dass sich die Präsenz dieses Themas in den Medien nicht in der Häufigkeit des positiven Nachweises dieser K.O.Mittel widerspiegelt.
γ- Hydroxybuttersäure (GHB)
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γ- Hydroxybuttersäure (GHB) besitzt diverse Namen und wird u. a. als „Liquid Ecstasy“ bezeichnet. Letzte rer vermittelt den Eindruck, dass es sich bei GHB um einen dem Amphetaminderivat Ecstasy ähnlichen oder verwandten Stoff handeln würde. Aus chemischer Sicht sind die beiden Stoffe jedoch sehr unterschiedlich. Auch in ihrer Wirkungsweise gibt es deutliche Unterschiede. So steht bei Amphetaminderivaten vor allem die An trieb steigernde Wirkung im Vordergrund. GHB hat eine relativ geringe therapeutische Breite. Bei einer geringen Einzeldosis GHB (bei Erwachsenen etwa 1 bis 2 g, oral verabreicht) wirkt GHB bei nicht ge wöhnten Personen leicht berauschend, euphorisierend, anxiolytisch und entspannend. Es sollen sich unter GHB die Sinneseindrücke sowie die körperliche Sen sibilität verstärken. Außerdem wird ein erhöhtes Kon taktbedürfnis beschrieben. Nach Berichten von GHBKonsumenten wird bei niedriger Dosierung zudem die aphrodisierende Wirkung geschätzt. Mit steigender Do sierung (ab etwa 2,5 g) treten folgende Symptome in den Vordergrund: Schläfrigkeit, Schwindel, Übelkeit, Erbre chen, Desorientiertheit, Agitiertheit, körperliche Sym ptome wie Myoklonie und Bradykardie. Bei oraler Auf nahme von 3 bis 4 g stellt sich bei Erwachsenen inner halb weniger Minuten Bewusstlosigkeit mit Gefahr der Atemdepression ein, bei 4 bis 5 g ist schließlich mit einem tiefen Koma zu rechnen. Die Wirkung von Alko hol wird durch die Aufnahme von GHB sehr plötzlich um das 2- bis 3fache verstärkt. Nach dem Abklingen der GHB-Wirkung erfolgt das Erwachen aus der Bewusst losigkeit sehr rasch. Eine offensichtlich anterograd ver laufende Amnesie ist nach der Aufnahme von GHB sehr häufig zu beobachten. GHB ist eine Substanz, die in geringen Konzentratio nen auch endogen im menschlichen Körper vorkommt und im Gehirn als Neurotransmitter seine Wirkung ent faltet. GHB entsteht überwiegend als Abbauprodukt des Botenstoffes GABA (γ-Aminobuttersäure) im Gehirn [13] der eine überwiegend hemmende Wirkung hat. Weiterhin kann es im Muskelgewebe aus γ-Buteryllac ton synthetisiert werden [14]. Dabei hat GHB eine ähn liche Wirkung wie der Botenstoff Dopamin.
γ-Hydroxybuttersäure (GHB) als K.O.-Mittel und sexuelle Delinquenz
γ- Hydroxybuttersäure wurde früher in der Medi zin als Narkotikum eingesetzt. Aufgrund seiner relativ schlechten Steuerbarkeit hat es seinen Stellenwert im klinischen Einsatz als Narkotikum verloren. Heutzuta ge hat GHB in der Medizin nur noch wenige Indikatio nen z. B. zur Behandlung der Narkolepsie oder als Nar kosemittel in der Pädiatrie [10]. Allerdings hat GHB seit den 1990er Jahren als Partydroge an Interesse gewonnen und wird nicht zuletzt wegen seiner angeblich sexuell enthemmenden Wirkung eingenommen. GHB ist ver schreibungspflichtig und untersteht seit dem 01.03.2002 dem Betäubungsmittelgesetz. Das auf dem illegalen Drogenmarkt erhältliche GHB ist in der Regel eine farblose bis leicht gelblich gefärbte Flüssigkeit. Auf Grund des Syntheseweges durch Um setzung von γ-Butyrolacton (auch als GBL abgekürzt) mit Natronlauge und anschließender Neutralisation mit Salzsäure weist illegal hergestellte GHB meistens einen leicht salzigen Geschmack auf. GHB wird bei miss bräuchlicher Verwendung üblicherweise in Form des Natriumsalzes aus wässriger Lösung oral aufgenom men. Die GHB-Intoxikation zeigt eine ähnliche Sympto matik wie die Alkoholvergiftung. Als Symptome treten auf Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Schwindel, Sprachstörungen. Pathognomonisch für GHB ist eine plötzlich einsetzende Bewusstseinstrübung. Die Aufwachphase verläuft bei GHB relativ rasch. In nerhalb weniger Minuten sei der Konsument wieder zu allen Qualitäten orientiert. Es gibt keine Residuen und keinen „hang-over“ [10]. GHB zeigt mit ca. 15 min einen sehr raschen Wir kungseintritt. Die Wirkung hält bis ca. 4 h an. Proble matisch für den positiven Nachweis von GHB ist deren kurze Halbwertszeit von 30 min. Die Nachweisbarkeit im Blut beträgt ca. 6 h und im Urin ca. 12 h. In der Lite ratur werden Nachweiszeiträume im Urin bis maximal 36 h nach Einnahme von GHB angegeben [4]. Da GHB endogen im Körper produziert wird, ist erst die Überschreitung eines Schwellenwertes ein In diz für eine exogene Zufuhr. Als Schwellenwerte werden für Blut/Plasma eine GHB-Konzentration von > 4 mg/L und im Urin von > 10 mg/L diskutiert. Der Abbau von GHB erfolgt nicht über charakteristi sche Metabolite, sondern es wird in Wasser und Kohlen säure gespalten. Somit ist der Nachweis von GHB nur über die Ausgangssubstanz, nicht aber über entspre chende Abbauprodukte möglich. Ein Nachweis von GHB in Kopfhaaren ist bei chro nischem Missbrauch möglich. Der positive Nachweis einer einmaligen Einnahme von GHB oder anderen Stoffen anhand einer Haaranalyse ist ein erstrebenswer tes Ziel, stellt in der Praxis aber immer noch eine Her ausforderung dar und kann daher auch noch nicht als erfolgssichere Methode zu dieser Fragestellung angebo
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ten werden. Zudem geben Haaranalysen nur einen An halt für die zeitliche Zuordnung des Konsums, unter der Zugrundelegung, dass das Haupthaar pro Monat ca. 1 cm wächst. Es kann aber weder der genaue Einnah mezeitpunkt noch die eingenommene Dosis festgestellt werden. Somit ist die Analyse einer Haarprobe mehre re Wochen nach der Tat deutlich weniger aussagekräftig als eine Blut- oder Urinanalyse im zeitlich engen Kon text zur Tat. Kintz et al. [5] berichteten über einen Fall, bei dem der eindeutige Nachweis von GHB mittels Ana lyse einer vier Wochen nach der Tat erfolgten Haarpro benentnahme gelungen sei.
GHB-Vorstufen GHB hat zwei Vorläufersubstanzen, das γ-Butyrolakton (GBL) und das 1,4-Butandiol (BDO), die im menschli chen Körper zu GHB umgewandelt werden. Beide Subs tanzen finden ihren Einsatz in der Industrie. γ-Butyrolakton (GBL, auch genannt: GBL, Blue Ni tro, Renutrient, Revitalizer, Remforce) ist ein verbreite tes Lösungsmittel in der chemischen Industrie und ist hier unersetzlich. Missbräulich wird GBL als Droge und ggf. als K.O.-Mittel verwendet und dient als Grundstoff für die Herstellung von GHB. GBL unterliegt nicht dem BtMG, der Besitz ist nicht strafbar, wird aber durch das Chemikaliengesetz und die Gefahrenstoffverordnung geregelt. Der Missbrauch von GBL zur Herstellung von GHB ist strafbar. Die Abgabe von GBL wird in Europa durch die Vertreiber überwacht [11]. GBL wird nach oraler Aufnahme schnell resorbiert und in GHB umgewandelt. Im menschlichen Körper hat es eine Halbwertszeit von weniger als 60 s, das bedeutet, dass 5 min nach der Einnahme sind nur noch 3% der Muttersubstanz vorhanden sind [11]. 1,4-Butandiol (auch genannt: BDO, Thunder, Pro-G) wird in der Industrie als Weichmacher genutzt. BDO unterliegen nicht dem BtMG, der Besitz ist nicht straf bar und die Abgabe wird nicht überwacht. BDO wird nach oraler Einnahme im menschlichen Körper schnell resorbiert und zu GHB metabolisiert. Der Wirkungs eintritt erfolgt 5 bis 10 min nach Aufnahme. Die Wirk dauer beträgt 2 bis 3 h. Eine Dosis von ca. 4 mL hat eine schlaffördernde Wirkung. Auch von γ-Butyrolakton und 1,4-Butandiol treten bei der Verstoffwechselung im menschlichen Körper keine charakteristischen Metaboliten auf.
Weitere typische Vertreter von K.O.-Mitteln Stichwortartig seien noch weitere zentralwirksame Subs tanzen aufgeführt, die als K.O.-Mittel zur Begehung von Straftaten verwendet werden.
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Benzodiazepine breites Wirkungsspektrum, teilweise sedativ-hyp notischer Effekt und amnestische Zustände − Wirkungsdauer und Nachweisdauer sind individu ell sehr unterschiedlich, der Nachweis spezifischer Metabolite ist möglich z. B. Flunitrazepam (Rohy pnol® – HWZ: 10–20 h) [2], Bromazepan (Broma zanil® 10–20 h HWZ) [12]. Hypnotika − anxiolytische und schlafanstoßende Wirkung − Medikamente werden im Screeningverfahren häu fig nicht miterfasst, spezielle Testverfahren − z. B. Zopiclon (Ximovan® – HWZ: 3,5–8 h), Zolpi dem (Stilnox® – HWZ: 2–5 h) [6], Zalepon (Sona ta® – HWZ: 1 h) Imidazoline − Arterieller Hypertonus, Ausleitung Narkose, Dämpfung von Entzugserscheinungen − Geringe sedative Wirkung, Schmerzlinderung − Clonidin (Catapresan® – HWZ: 9–12 h) Neuroleptika − breites Wirkungsspektrum, teilweise sedierende Wirkung − z. B. Clozapin (Leponex® – HWZ: 8–14 h) Muskelrelaxanzien: Carisoprodol, Meprobamat − Muskelverspannungen, Spasmen − sedierende Wirkung − Wirkungseintritt nach 30 min, Wirkdauer: 2–6 h, HWZ: 8 h Barbiturate − Narkoseeinleitung, Epilepsie, Erregungszustände − schlaferzwingend, antikonvulsiv − Thiopental (Trapanal® – HWZ: 5–10 h, Wirkdauer 5–15 min), Phenobarbital (Luminal® – HWZ: 50– 120 h) [3] Ketamin (Ketanest®) − Narkose, Schmerzbehandlung, Hypnotikum, Miss brauch als Partydroge − Schlafinduktion, analgetisch − HWZ: 2–4 h Antihistaminika − Reisekrankheit, Schlafmittel − Sedierende und schlaffördernde Wirkung − Diphenhydramin (Benadryl® – HWZ: 6 h), Doxyla min (Schlaf Tabs® – HWZ: 8–10 h) Anticholinergika − Reisekrankheit, Augenheilkunde, Krämpfe − in geringer Dosis: beruhigend, hemmend auf Brechzentrum; In hoher Dosis: dämpfend, Apa thie − Lähmung, Willenlosigkeit, Amnesie − Skopolamin (HWZ: 2–3 h), Atropin (HWZ: 3 h),Wirkungseintritt: 15–30 min Flüchtige Substanzen − Stark gefäßerweiternde Wirkung, Angina Pectoris
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aphrodisierend, schmerzhemmend, empfindungs steigernde Wirkung − Wirkungseintritt: 5–15 s, Wirkdauer: 1–10 min − Isobutylnitrit („Poppers“), Ether Illegale Drogen − Cannabis: sedierende Wirkung − Kokain und Amphetamine: in geringeren Dosen eine enthemmende Wirkung und Steigerung der sexuellen Appetenz. Nach dem Rauschstadium Er schöpfungsphase mit tiefem Schlaf, z.T. Verwirrt heit, Orientierungslosigkeit. −
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Ergebnisse eigener Untersuchungen In dem Zeitraum von Januar bis Dezember 2008 wur den im Institut für Rechtsmedizin des Universitätskli nikums Köln in insgesamt 24 Fällen mit Verdacht auf eine verdeckte Substanzbeibringung Untersuchungen durchgeführt. Die Sicherung von Probenmaterial und die Beauftragung der chemisch-toxikologischen Unter suchungen erfolgten in allen Fällen auf Veranlassung der Polizei. In 22 Fällen bestand der Verdacht eines Sexualdelikts, in einem dieser 22 Fälle wurde zusätzlich ein Raub ver mutet. In zwei Fällen stand ausschließlich ein Raubde likt im Hintergrund. Bei den Geschädigten der 22 Fäl le mit Verdacht auf eine Sexualstraftat handelte es sich ausnahmslos um Mädchen/Frauen zwischen 14 und 44 Jahren (Median: 21). Die beiden geschädigten Männer der Raubdelikte waren 24 und 26 Jahre alt. In den 22 Fällen mit Verdacht auf ein Sexualdelikt wurde in 11 Fällen jeweils eine Blutprobe und eine Urin probe, in 7 Fällen nur eine Blutprobe und in 4 Fällen nur eine Urinprobe gesichert. Der Zeitraum zwischen dem Vorfall und der Blutentnahme betrug zwischen 1,8 und 23,8 Stunden (Median: 6,2 h), der Zeitraum zwischen Vorfall und Urinabgabe betrug zwischen 1,8 und 41,0 h (Median: 14,6 h). In 5 Fällen war der Vorfallszeitpunkt nicht bekannt. Bei den beiden geschädigten Männern der Raubdelikte waren die Vorfallszeitpunkte ebenfalls nicht bekannt. Die chemisch-toxikologischen Untersuchungen be inhalteten ein immunchemisches Screening auf Benzo diazepine, Opiate, Methadon, Cannabinoide, KokainMetaboliten, Amphetamin und Amphetaminderivate. Positive Ergebnisse wurden mit chromatographischen Verfahren (Gaschromatographie gekoppelt mit massen spezifischer Detektion oder Hochleistungsflüssigkeits chromatographie gekoppelt mit Diode Array-Detek tion) bestätigt und quantifiziert. Außerdem wurde ein hochleistungsflüssigkeitschromatographisches Scree ningverfahren zur Detektion zentralwirksamer Arznei stoffe und deren Metaboliten angewandt. Die Blutalko
γ-Hydroxybuttersäure (GHB) als K.O.-Mittel und sexuelle Delinquenz
holkonzentration (BAK) wurde gaschromatographisch und enzymatisch bestimmt. Die Analyse von Blut und Urin auf GHB erfolgte mit einer speziell für diesen Zweck entwickelten, sehr empfindlichen gaschromato graphisch-massenspektrometrischen Methode [8]. Die Bestimmung der BAK erfolgte in 11 der 24 Fäl le. In drei Fällen war kein Alkohol nachweisbar. In den 11 positiven Fällen wurden Konzentrationen zwischen 0,11 ‰ und 2,29 ‰ festgestellt. Durch Rückrechnung auf den Vorfallszeitpunkt unter der Annahme einer durch schnittlichen Abbaurate von 0,15 ‰ pro Stunde ergaben sich in den 11 positiven Fällen Blutalkoholkonzentratio nen zwischen 1,10 und 3,01 ‰ (Median: 1,96 ‰). Die Untersuchung von Blut und Urin bzw. Blut oder Urin auf GHB erfolgte in 18 der 24 Fälle. In keinem die ser Fälle konnte eine GHB-Konzentration oberhalb des physiologischen Bereichs festgestellt werden. In 6 dieser GHB-negativen Fälle lag die Zeitspanne zwischen Vor fall und Blutentnahme unterhalb von 6 h bzw. die Zeit spanne zwischen Vorfall und Urinabgabe unterhalb von 12 h, so dass davon ausgegangen werden kann, dass in diesen Fällen keine Beibringung einer narkotisch wirk samen Dosis an GHB erfolgt ist. In den übrigen 12 GHBnegativen Fällen kann aufgrund der längeren Zeitspan ne zwischen Vorfall und Sicherstellung des Probenma terials nicht ausgeschlossen werden, dass von den Ge schädigten im Zusammenhang mit dem Vorfall GHB aufgenommen wurde. In den 6 Fällen, in denen nicht auf GHB untersucht wurde, betrug die Zeitspanne zwi schen dem Vorfall und der Probensicherung zwischen 22 und 41 h. Mit dem Nachweis einer GHB-Konzentra tion oberhalb des physiologischen Bereichs war in die sen Fällen nicht zu rechnen. In 12 der 24 Fälle konnte durch die Untersuchung von Blut und/oder Urin die Aufnahme von illegalen Betäu bungsmitteln und/oder zentralwirksamen Arzneistoffen nachgewiesen werden. Bei den illegalen Betäubungs mitteln handelte es sich um Cannabis (n = 7), Amphe tamin (n = 2) und Kokain (n = 1), bei den zentralwirksa men Arzneistoffen um Diazepam und dessen Metaboli ten (n = 3), Fluoxetin (n = 1), Citalopram (n = 1) und Di hydrocodein (n = 1). Eine Kombination von 2 oder 3 il legalen Betäubungsmitteln bzw. zentralwirksamen Arz neistoffen lag in 3 Fällen vor. In 6 der 24 Fälle konn te eine Kombination aus illegalen Betäubungsmitteln und/oder zentralwirksamen Arzneistoffen und Alkohol nachgewiesen werden. So wurde z. B. bei einer 23 Jahre alten Geschädigten einer vermuteten Sexualstraftat eine Kombination aus Cannabis, Kokain, Amphetamin und Alkohol nachgewiesen, bei einer 36 Jahre alten Geschä digten einer vermuteten Sexualstraftat eine Kombina tion aus Cannabis, Amphetamin und Alkohol.
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Fallberichte In der Literatur werden diverse Fälle beschrieben, in denen jungen Frauen in einer Diskothek scheinbar un bemerkt K.O.-Mittel und insbesondere GHB beige bracht worden seien. Die Frauen, bei denen ein positiver Nachweis von GHB im Blut oder im Urin gelungen ist, haben über fol gende Symptome berichtet: Schwindel, Übelkeit, Lethar gie, Schläfrigkeit, Gefühl einer nahenden Ohnmacht, Erinnerungslücken. Teilweise gaben die Frauen an, das Gefühl zu haben, eine Penetration habe stattgefunden. In einem Fall wurde von einer Jugendlichen berichtet, die im komatösen, bradykarden Zustand, mit engen Pu pillen in die Klinik eingeliefert worden und nach drei Stunden erwacht sei [4, 17, 18]. Konz [7] berichtet über den Fall einer jungen Frau, die sich nach einem Baraufenthalt schwindelig gefühlt habe, stark benommen und überwältigt von einem Mü digkeitsgefühl gewesen sei. Drei Stunden später sei sie klar und orientiert gewesen, habe jedoch Erinnerungs lücken gehabt. Sie sei in einem Nachbarort zu sich ge kommen und habe an der Innenseite der Oberschenkels Hämatome aufgewiesen, wie sie teilweise nach einem erzwungenen Geschlechtsverkehr nachzuweisen sind. Eine Alkoholisierung von 1,60 ‰ habe nachgewiesen werden können, die chemisch-toxikologische Untersu chung gab keinen Nachweis einer K.O.-Mittelbeibrin gung. Glaum et al. [4] berichten über eine junge Frau, die gemeinsam mit ihrem Freundinnen in der Diskothek Sekt getrunken habe, dann nicht auffindbar gewesen sei und drei Stunden später verstört und weinend mit Schmerzen im Unterbauch im Eingangsbereich der Dis kothek angetroffen worden sei. In der Blutprobe sei eine Blutalkoholkonzentration von 1,10 ‰ gemessen wor den (entsprechend einer BAK von mindestens 1,50 ‰ und maximal 2,10 ‰ zur Vorfallzeit). Die retrospektive Studie in Großbritannien von Scott-Ham und Burton [15] im Hinblick auf drogenas soziierte sexuelle Übergriffe (drug-facilitated sexual as sault) umfasst eine Periode von drei Jahren. In den 1014 erfassten Fällen konnte in 46% (470 Fällen) ein positiver Nachweis von Alkohol geführt werden und in 34% (344 Fällen) konnten illegale Drogen nachgewiesen werden. Dabei stand Cannabis mit 26% an erster Stelle, Kokain konnte in 11% der Fälle nachgewiesen werden. Die un freiwillige Beibringung von Medikamenten spielt da gegen eine sehr geringe Rolle mit 1%. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Slaughter in seiner retrospektiven Studie [16]. Bei den 2003 erfassten Fällen, in denen innerhalb von 72 h Blut- und Urinpro ben gewonnen werden konnten, fand sich in zwei Drit teln der Fälle ein positiver Nachweis für Alkohol oder Drogen. Davon konnten in 63% Alkohol nachgewiesen
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werden, in 30% Cannabis und in < 3% GHB und Fluni trazepam. ElSohly u. Salomone [2] haben anhand einer landes weiten, retrospektiven Studie einen Zeitraum von 26 Monaten (1997–1998) untersucht. Es wurden 1179 Pro ben ausgewertet. Untersucht wurden die eingesandten Proben auf Alkohol, Amphetamine, Barbiturate, Ben zodiazepine, Kokainmetabolite, GHB, Cannabinoide, Opiate und Paroxyphen (opioidhaltiges Schmerzmittel). Bei 711 Proben (60,3%) wurde ein positiver Nachweis für eine oder mehrere Substanzen geführt. Am häufigs ten sei Alkohol nachgewiesen worden (40,8%). Canna bis habe in 18,5% nachgewiesen werden können, Benzo diazepine und Amphetamine jeweils in 8,2% der Fälle, GHB in 4,1% der Fälle. Opiate, Propoxyphen und Barbi turate wurden in unter 2,5% der Fälle nachgewiesen. Madea et al. [9] überblicken in einer retrospektiven Studien einen Zeitraum von 10 Jahren, in denen 86 Fälle mit Verdacht auf drogenassoziierte Sexualdelikte unter sucht worden seien. In 76 Fällen haben Blutproben vor gelegen, in denen in 32 Fällen ein positiver Nachweis ge führt werden konnten. Weiterhin haben 36 Urinproben zur Verfügung gestanden, die in 19 Fällen einen posi tiven Nachweis von K.O.-Mitteln erbracht haben. In 44,2% der Fälle habe eine Alkoholisierung vorgelegen. Bei den Opfern seien überwiegend sedierende Substan zen vor allem Benzodiazepine gefolgt von THC, Kokain und Amphetamine nachgewiesen worden. Christmann [1] überblickt den Zeitraum von 1995 bis 1998 aus dem Raum München. Hier lagen 92 Fäl le mit Verdacht auf K.O.-Mittelbeibringung vor. Die untersuchten Fälle schlossen verschiedene Delikte ein, in 44 Fällen handelte es sich um Raub (47,8%), in 12 Fällen um Vergewaltigung (13%), in 5 Fällen um Tö tung (5,4%), 16 Fälle entfielen auf Sonstiges (17,4%) und in 15 Fällen war das Delikt unbekannt. Nachgewiesen werden konnte, dass es sich in den meisten Fällen um männliche Opfer handelte mit Ausnahme in der Gruppe der Vergewaltigungen (91,7% Frauen). In 51% der Fäl le konnten in der chemisch-toxikologischen Untersu chung ein positiver Nachweis erbracht werden, in 32,6% der Fälle konnte Alkohol im Blut nachgewiesen werden und in 26,7% Fällen lagen Mischintoxikationen, Alko hol mit K.O.-Mittel, vor. In 50% der Vergewaltigungs fälle seien K.O.-Mittel nachgewiesen worden. GHB hat offensichtlich in dieser Untersuchung keine Berücksich tigung gefunden.
Problematik der Strafverfolgung Die Opfer eines Sexualdelikts nach K.O.-Mittelbeibrin gung kommen häufig erst Stunden nach der Tat wie der zu sich. Sie haben häufig das sichere Gefühl, ein Ge
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J. Beike et al.
schlechtsverkehr sei vollzogen worden, sie können sich an die näheren Umstände und an Details aber nicht er innern. Wenn die Erinnerungen wiederkommen, dann oft unvollständig und schleppend. Häufig bestehen Zweifel an den tatsächlichen Geschehen. Die Geschä digten machen sich selbst Schuldzuschreibungen, sind voller Scham und tragen die Erinnerungen häufig über Monate mit sich herum, bevor sie sich jemandem an vertrauen. Aus diesen Gründen wird die Polizei oft erst sehr spät oder gar nicht aufgesucht, zumal die Befürchtung be steht, dass ihnen nicht geglaubt werden könnte. Die se Zeitspanne, die zwischen der Tat und der offiziellen Meldung vergeht, reduziert die Wahrscheinlichkeit be täubende Substanzen im Urin oder im Blut nachweisen zu können. Diese zeitliche Latenz zwischen Tatgeschehen und Meldung ist ein möglicher Grund für die häufig nega tiven Ergebnisse für GHB in den chemisch-toxikologi schen Untersuchungen. Darüber hinaus kann die vom Geschädigten vermu tete Beibringung von K.O.-Mitteln ggf. einem anderen Zweck dienen. So berichten Glaum et al. [4] über eine 17-Jährige, die die Frauenklinik aufgesucht und eine K.O.-Tropfen-Beibringung mit einem Bewusstseins verlust von zwei Stunden geschildert habe. Wie sich herausstellte, hatte sie einvernehmlichen, ungeschütz ten Geschlechtsverkehr mit einem Verwandten ihres Freundes vollzogen und benötigte nun nachträglich eine Empfängnisverhütung sowie eine Rechtfertigung für ihr Handeln. Weiterhin wurden in der Literatur Fälle beschrieben, bei denen fälschlicherweise Sexualdelikte nach K.O.Mittelbeibringung angegeben wurden. Für die Vortäu schung einer solchen Straftat kommen diverse Gründe in Betracht u. a. aus Verzweiflung oder um die Ehre zu retten, insbesondere bei jungen Frauen mit Migrations hintergrund, die aufgrund religiöser oder kultureller Vorstellungen negative familiäre Konsequenzen zu er warten hätten; Jugendliche aus Angst vor Strafe im El ternhaus z. B. wegen verspätetem Heimkehren; Frauen, die sich z. B. nach übermäßigen Alkoholkonsum, mehr oder weniger gewollt, auf sexuelle Abenteuer eingelas sen haben; diverse andere Schwierigkeiten, die sich mit Partner/ Eltern/ Umfeld ergeben würden etc.
Vorgehen bei Verdacht auf K.O.Mittelbeibringung Bei Verdacht auf K.O.-Mittelbeibringung sollten sich die Geschädigten so früh wie möglich mit der Polizei in Verbindung setzten. Die sofortige Sicherung von Blut- und Urinproben unter Dokumentation des Sicherstel
γ-Hydroxybuttersäure (GHB) als K.O.-Mittel und sexuelle Delinquenz
lungszeitpunktes und der Identität des Geschädigten ist für eine evtl. Strafverfolgung von größter Wichtigkeit. Die Anamnese des Opfers einer Sexualdelinquenz sollten insbesondere im Hinblick auf K.O.-Mittel-Bei bringung nach Erinnerungslücken, Dämmerzuständen und einem Gefühl der Willenlosigkeit und Reglosig keit enthalten. Weiterhin sollte hinterfragt werden, ob eine bewusste Einnahme von Alkohol, Medikamenten oder Drogen erfolgt ist. Die Aufwachphase nach GHB-Einnahme entscheidet sich deutlich von der Aufwachphase nach einer Alkohol intoxikation. So verläuft die Aufwachphase nach GHBEinnahme relativ rasch und innerhalb weniger Minuten ist der Konsument wieder zu allen Qualitäten orientiert. Ein „hang-over“ oder Residuum besteht nicht. Eine ge zielte Befragung nach der Aufwachphase erscheint da her von elementarer Wichtigkeit.
Fazit Der Nachweis von K.O.-Mitteln im Zusammenhang mit Raubdelikten gelingt relativ häufig, da sich die Si tuation für den Geschädigten klar darstellt und er nicht
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durch Schamgefühle davon abgehalten wird, die Polizei zu verständigen. Die Sicherstellung von Probenmaterial gelingt in diesen Fällen mit nur kurzer zeitlicher Verzö gerung. Bei Verdacht auf sexuellem Missbrauch ist häufig eine relativ hohe Alkoholisierung bei den Geschädigten fest zustellen und teilweise in Kombination mit illegalen Be täubungsmitteln. Bei den nachgewiesenen Betäubungs mitteln insbesondere bei Cannabis oder Cokain ist eine verdeckte Beibringung als sehr unwahrscheinlich anzu sehen. Zwischen einer vermuteten Beibringung von K.O.Mitteln und der Probensicherung verstreicht häufig ein sehr langer Zeitraum. Der Nachweis von zentraldämp fenden Arzneistoffen kann auch nach vielen Stunden bis Tagen gelingen, der Nachweis von GHB ist jedoch nach unseren Erkenntnissen nach ca. 6 h im Blut und nach ca. 12 h im Urin nicht mehr möglich. Die Dunkelziffer bei GHB-Beibringung lässt sich aufgrund des kleinen Nachweisfensters aus unserer Sicht nicht abschätzen.
7 Interessenkonflikt Die Autoren versichern, dass kein Interes senkonflikt besteht.
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Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:294–301 DOI 10.1007/s11757-009-0017-z
Norbert Schalast
Treating addicted offenders in forensic mental hospitals in Germany (Art. 64 of the penal code): Might the rate of treatment failure be reduced by applying specific medications?
7 Zusammenfassung Behand lungen im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB haben oft einen unbe friedigenden Verlauf. Trotz Weiter entwicklung der therapeutischen Konzepte und Rahmenbedingun gen erfolgt seit Jahren bundesweit bei etwa der Hälfte der Patienten Eingegangen: 13. Juli 2009 Angenommen: 6. August 2009 Online publiziert: 8. Oktober 2009 Dr. N. Schalast ()) Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen Virchowstraße 174 45147 Essen, Deutschland E-Mail: Norbert.Schalast@ uni-duisburg-essen.de
Ü be r s i c h t
Drogenabhängige Patienten im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB: Verbesserung der Quote erfolgreicher Behandlung durch suchtspezifische Medikation?
eine „Erledigung“ mangels hinrei chender Aussichten auf einen Be handlungserfolg, woran sich in der Regel weitere Haftverbüßung an schließt. Der Beitrag diskutiert die Frage, ob bei drogenabhängigen Tätern in Einzelfällen durch eine suchtspezifische Medikation die Chance einer Stabilisierung und er folgreichen Rehabilitation erhöht werden kann.
7 Schlüsselwörter Entzie hungsanstalt · Drogenabhängige Straftäter · Substitution · Methadon · Opiatantagonisten 7 Abstract In Germany, addicted offenders can be sentenced to com pulsory addiction treatment in fo rensic mental hospital departments (Art. 64 of the penal code). A pre supposition to such a sentence is a fair chance of successful treat ment and rehabilitation. Common ly, an expert witness is asked by the court to assess this point in the tri
Einführung Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB soll gerichtlich angeordnet werden, wenn straf bare Handlungen in Zusammenhang mit einer Rausch mittelabhängigkeit stehen und wenn aufgrund dieser Abhängigkeit (des Hanges, Alkohol oder andere berau schende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen) erneute
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al. To date, the treatment in foren sic mental hospitals aims at total abstinence from any kind of drugs. But in at least half of the cases, a fair chance of successful treatment is no longer seen after a period of therapy. In most cases, these pati ents are returned to prison. The pa per pleads that in offenders addic ted to illegal drugs, a drug speci fic medication – in particular met hadone maintenance treatment or naltrexone medication – might be a useful option. The rate of “tre atment failure” might be reduced slightly by using this option with some of the patients.
7 Keywords Compulsory
addiction treatment · Art. 64 of the German penal code · Drug specific medication · Methadone maintenance treatment · Naltrexone medication
erhebliche rechtswidrige Handlungen drohen. Aller dings setzt die Anordnung voraus, dass die „hinrei chend konkrete Aussicht“ einer erfolgreichen rückfall prophylaktischen Behandlung besteht (vgl. § 64 StGB in der geltenden Fassung). Zu dieser Erfolgsaussicht hat sich in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger zu äußern (§ 246a StPO). Trotz dieses Versuchs einer unter dem Gesichtspunkt der therapeutischen Erreichbarkeit
Drogenabhängige Patienten im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB: Verbesserung der Quote erfolgreicher Behandlung durch suchtspezifische Medikation?
günstigen Vorauswahl verläuft ein erheblicher Teil der Behandlungen problematisch. Der Anteil der Patienten, der aus der Unterbringung tatsächlich mit relativ güns tiger Prognose zur Bewährung in die Freiheit entlas sen wird, ist in den letzten 10 Jahren deutlich zurückge gangen. Die Quote derjenigen, bei denen eine „Erledi gung“ gemäß § 67d Abs. 5 StGB erfolgt (weil die Voraus setzungen der Unterbringung, insbesondere Hoffnung auf einen Behandlungserfolg, nicht mehr vorliegen), hat sich bundesweit bei über 50% eingependelt [48]. Trotz einiger Bemühungen, Erkenntnisse über den Verlauf nach Unterbringungen in der Entziehungsanstalt zu ge winnen, kann der Gesamtertrag der Maßnahme kaum verlässlich eingeschätzt werden [8, 40]. Die Unterbrin gungen verlaufen bei drogenabhängigen Patienten im Durchschnitt wohl noch problematischer als bei alko holabhängigen. Im Rheinland lag die Erledigungsquote bei Drogenabhängigen in den letzten Jahren über 80%. Für die Gesamtgruppe der Untergebrachten berichtete Kemper [18] aus Nordrhein-Westfalen für das Jahr 2005 eine Erledigungsquote von über zwei Dritteln. Noch nicht einmal jede fünfte Entlassung erfolgte gemäß § 67d Abs. 2 StGB auf Bewährung in die Freiheit. Zur Aufgabenstellung des Maßregelvollzugs ist anzu merken, dass die Behandlung die störungsbedingte Ge fährlichkeit eines Patienten beseitigen oder ausreichend mindern soll. Zwar entspricht es der Logik der Unter bringung in der Entziehungsanstalt, zu diesem Zweck das Behandlungsziel Alkohol- oder Drogenabstinenz anzustreben. Doch ist dies im Grunde nur Mittel zum Zweck. Die Fortdauer der Unterbringung setzt voraus, dass vom Patienten noch hinreichende Risiken ausge hen. Können diese beseitigt werden, so ist er gemäß § 67d Abs. 2 StGB aus der Unterbringung zu entlassen. Kann die Gefährlichkeit eines Patienten therapeutisch beseitigt werden, obwohl sein Hang zum übermäßigen Konsum von Rauschmitteln fortbesteht, so hat die Un terbringung dennoch ihren Zweck erfüllt.
Drogenabhängige Patienten im Maßregelvollzug Berger et al. [2] sprechen von straffälligen Suchtkran ken als einem „Prototyp des schwierigen Patienten“. In verschiedenen Untersuchungen wurde die Klientel der nach § 64 StGB Untergebrachten, und besonders die Ab hängigen von illegalen Drogen, als eine ausgesprochen randständige Gruppe beschrieben, mit einem relativ hohen Anteil an Klienten ohne Schulabschluss, einem noch höheren Anteil ohne Berufsabschluss, mit meist schon früh sich manifestierenden Verhaltensauffällig keiten und auch frühen ersten Verurteilungen [14, 25, 37]. Die Befunde bestätigen die Feststellung von Küfner
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et al. [23], dass Drogenmissbrauch und -abhängigkeit eingebettet sind in eine Vielzahl devianter und delin quenter Verhaltensbereitschaften. Von der Vorstellung, dass eine Mehrzahl der Drogentäter in direkter Weise infolge ihrer Suchtprobleme straffällig werde, hat man sich weitgehend verabschiedet. Rautenberg [34] kommt zu dem Ergebnis, dass die Bereitschaft zu Straftaten und die Neigung zum Konsum illegaler Drogen Ausdruck eines sozial devianten Lebensstils und auf ähnliche Ursachen und Risikofaktoren zurückzuführen sind. Zu den Risikofaktoren gehören desolate Verhältnisse in der Ursprungsfamilie einschließlich Erfahrungen von Ge walt, von Bindungsunsicherheit und dem Verlust wich tiger Bezugspersonen. Auch wurde die Kombination aus Hyperaktivität und kindlicher Störung des Sozial verhaltens als eine besondere Risikobedingung im Hin blick auf spätere Drogenabhängigkeit identifiziert [36]. Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass bei den Untergebrachten recht häufig eine Persönlich keitsstörung diagnostiziert wird. Erstaunlich ist eher, wie erheblich sich die Kliniken hinsichtlich der Verga be entsprechender Diagnosen unterscheiden. Im Mit tel wird bei 36% der Patienten eine Persönlichkeitsstö rung festgestellt, wobei dissoziale und emotional insta bile Störungen im Vordergrund stehen [48]. Je Klinik streuen die Anteile allerdings zwischen unter 5 und fast 90%. Das ist kaum allein durch Patientencharakteristika zu erklären, sondern spiegelt unterschiedliche Stile und Traditionen im Umgang mit diagnostischen Kategorien wider. Reizbarkeit und Aggressivität von Patienten im Stationsalltag erhöhen die Bereitschaft zu entsprechen den Etikettierungen deutlich [42]. Letztlich erscheint es inadäquat, die Patienten in persönlichkeitsgestörte und angeblich nicht persönlichkeitsgestörte aufzuteilen, eine graduelle Beschreibung hinsichtlich Ich-Funktionen und Störungsbereichen wäre angemessen [45]. Ein wei terer Aspekt ist, dass die stützenden und stabilisieren den Bedingungen der stationären Unterbringung man che Patienten kompetenter und lebenstüchtiger erschei nen lassen als sie es tatsächlich sind. Manche Verhal tensdefizite werden nach langer stationärer Behandlung im Rahmen weitgehender Lockerungen der Unterbrin gung und bei Rehabilitationsversuchen wieder deutli cher erkennbar. Persönlichkeitsstörungen können auf zweierlei Wei se den Weg zu Suchtproblemen und insbesondere auch zum Konsum von illegalen Drogen bahnen: Die emo tionale Überreagibilität [17], die Menschen mit Bord erline-Persönlichkeitsstörungen charakterisiert, macht empfänglich für den Konsum dämpfender und anxio lytischer Substanzen. Opiate, aber auch Benzodiazepi ne oder Alkohol können als ein Reizschutz fungieren, der Affektintensitäten mindert und die emotionale Ant wortschwelle erhöht. Dissoziale Persönlichkeitszüge ge hen andererseits mit einer Bereitschaft zu gefährlichem
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Verhalten und zur Missachtung von Normen und Re geln einher. Nach Cloninger et al. [7] ist der persönlich keitsgestörte Typus des Trinkers durch die Merkmal strias „Reizhunger“ (sensation seeking), „Selbstgefähr dung“ (geringe harm avoidance) und „geringe Beloh nungsabhängigkeit“ (low reward dependence) charakte risiert, was sich auf Drogenabhängige zwanglos übertra gen lässt: sie suchen jede Art von Stimulation, orientie ren sich kaum an sozialen Konventionen und scheuen Risiken weder für sich noch für andere. Dies macht ver ständlich, warum Menschen mit entsprechenden Diag nosen die Schwelle zum Konsum illegaler und gefährli cher, aber aufgrund ihrer Wirkung verlockender, Subs tanzen viel eher überschreiten als Normalpersonen.
Behandlung in der Maßregel gemäß § 64 StGB Vor etlichen Jahren konnten die Verhältnisse in foren sischen Abteilungen, und gerade auch in den Entzie hungsanstalten, als desolat bezeichnet werden [25]. In zwischen wurden die institutionellen und konzeptionel len Rahmenbedingungen deutlich weiterentwickelt [47]: differenzierte Behandlungsangebote, Therapieplanung, Teamsupervision und gestufte Rehabilitationskonzepte mit Nachsorge durch forensische Ambulanzen gehören vielerorts zu den Standards. In den letzten Jahren wur den auch Versuche unternommen, in der Literatur viel diskutierte Therapieverfahren im § 64-Maßregelvollzug zu implementieren, etwa die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) nach Linehan oder die Übertragungs fokussierte Therapie nach Kernberg [13, 32, 52]. Ange merkt sei, dass bisher kein therapeutisches Verfahren eine generelle Überlegenheit bei entsprechenden Per sönlichkeitsstörungen belegen konnte [1, 3] Als Ziele psychotherapeutischer Interventionen können zusam mengefasst werden: Emotionale Stabilisierung und Stär kung der Affekt- und Spannungstoleranz, Aufbau von Verhaltensalternativen zu Sucht und Delinquenz, Lin derung von Hyperaktivitätssymptomen, Förderung des Rechtsbewusstseins, Motivierung zu einer deliktfreien Lebensführung, in vielen Fällen auch schulische oder berufliche Qualifikation und Verbesserung von Kultur techniken [38]. Trotz solcher positiver Entwicklungen ist seit Jahren der Anteil der Patienten hoch, dessen Unterbringung nicht auf eine Entlassung zur Bewährung, sondern auf eine „Erledigung“ gemäß § 67d Abs. 5 StGB hinausläuft, worauf in der Regel die Verbüßung weiterer Strafhaft folgt. Dabei gilt der Strafvollzug im Hinblick auf Betäu bungsmittel als „Risikoumgebung“ [51] und ist fraglos nicht der beste Kontext, um eine ansatzweise vorhande ne Motivation zu einer rechtskonformen und suchtmit telarmen Lebensführung zu stabilisieren.
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Die Entziehungsanstalten stehen allerdings unter großem Druck. Immer nachdrücklicher wird von ih nen verlangt, dem Sicherungszweck der Unterbringung Priorität einzuräumen und bei Lockerungsentscheidun gen keine Risiken einzugehen [39]. Dies kann dazu füh ren, dass einzelne Patienten nicht angemessen gefordert und gefördert werden. Fallbeispiel 1 Der drogenabhängige Patient wird im Alter von 22 Jahren gemäß § 64 StGB in ein Landeskrankenhaus aufgenommen. Die Unterbringung erfolgt in einem nachträglich gesicherten 110 Jahre alten Backsteingebäude. Nach 11 Monaten stellt er selbst bei der Staatsanwaltschaft den Antrag, die Unterbringung wegen Aussichtslosigkeit zu „erledigen“. Lockerungen der Unterbringung waren ihm zuvor nicht zuteil geworden. Er lebte im genannten Gebäude und konnte sich täglich einige Zeit in dem durch einen hohen Zaun mit Natodraht gesicherten Garten aufhalten. Die Teilnahme an der Arbeitstherapie in einem Nachbargebäude wurde ihm nicht genehmigt, da er dem Behandlungsteam nicht zuverlässig genug erschien und ein Entweichungsrisiko gesehen wurde. Die Hauptbetätigung des Patienten bestand fast ein Jahr lang darin, dass er im Laufe einer Woche etwa zwei Stunden lang Handtücher und Bettwäsche einsortierte. Der Verfasser begegnete dem Patienten neun Monate nach dessen Entlassung aus der Klinik in den Strafvollzug. Er befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in einer Einrichtung des offenen Strafvollzugs, arbeitete in einem Industriebetrieb und besuchte an jedem dritten Wochenende seine Freundin in einem anderen Bundesland. Der Verfasser befürwortete in einer gutachterlichen Stellungnahme die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung.
Das Beispiel veranschaulicht einen unbefriedigen den Behandlungsverlauf, zu dem die übermäßige Si cherungsorientierung der Einrichtung beigetragen hat. Diese wiederum hat einen Hintergrund darin, dass Kli nikträger und Aufsichtsbehörde in der Vergangenheit auf „besondere Vorkommnisse“, insbesondere Entwei chungen, ausgesprochen missbilligend reagiert hatten. Eine andere Ursache negativer Behandlungsverläu fe ist natürlich in dem objektiv hohen Rückfallrisiko zu sehen, welches der Betäubungsmittelabhängigkeit im manent ist. Drogenabhängige sind wohl der Prototyp des unzuverlässigen Patienten oder Mitmenschen über haupt. Der intensive Gebrauch illegaler Drogen geht in der Regel damit einher, dass sich alle Lebensbelange um Drogenbeschaffung und -konsum organisieren und so ziale Verbindlichkeiten auf der Strecke bleiben. Betrof fene, die aktuell aufgrund äußerer Umstände abstinent leben, unterschätzen in der Regel ihre Rückfallgefähr dung und verdrängen die Intensität ihres Reagierens auf Schlüsselreize. Die Vertreter des Maßregelvollzugs erhoffen sich eine Verbesserung der Situation häufig durch eine zielgerich tetere Auswahl von Patienten. Qualifiziertere psychiat risch-psychologische Gutachten sollen zu einer geringe ren „Fehlunterbringungsquote“ führen (vgl. [33]). Die se Forderung ist fast so alt wie der Maßregelvollzug, und man muss bezweifeln, dass sich die Situation auf diese Weise entscheidend verbessern lässt [41].
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Alternativen zur abstinenzorientierten Therapie auch für Maßregelpatienten? Betrachtet man das Feld der freien Behandlung Drogen abhängiger, so ist die abstinenzorientierte Behandlung nicht die erste Option. Aufgrund der hohen Rückfall gefährdung und des oft chronischen Verlaufs einer Be täubungsmittelabhängigkeit hat sich als eine Alternative zur abstinenzorientierten Behandlung die kontrollier te Gabe leidlich gut verträglicher Ersatzstoffe etabliert, eben die „Substitution“. Für ihren Nutzen und Erfolg gibt es eine Fülle wissenschaftlicher Belege [35]. Für die stationäre Drogentherapie kritisiert Uhl [46] das dog matische Festhalten am Abstinenzprinzip. Zu einem be stimmten Zeitpunkt seien weniger als fünf Prozent der Opiatabhängigen motiviert und in der Lage, das Ziel Drogenabstinenz in einer Therapie anzustreben; von denen, die es versuchen, brächen viele die Therapie vor zeitig ab. Der Anteil der Abhängigen, der im Rahmen einer qualifizierten Langzeitbehandlung erreicht und stabilisiert werden kann, wird damit wohl etwas unter schätzt. Es gibt jedoch auch Bewegung in der Therapie landschaft: einige stationäre Einrichtungen betreuen in zwischen auch substituierte Klienten und bereiten sie auf eine selbständige Lebensführung vor. Reuter u. Küfner [35] haben die Ergebnisse einer Metaanalyse zur Substitution mit Methadon vorgestellt: Danach weisen die Substituierten durchgehende Verbes serungen in den Bereichen Gesundheitszustand, Arbeit und Delinquenz auf. Mehr als 85% der Klienten stehen nach einem Jahr noch in Kontakt mit der substituieren den Einrichtung. Der Beikonsum nimmt ab, ist jedoch bei mindestens 30% der Klienten ein Problem, für Al koholkonsum ist eine Zunahme zu verzeichnen. Eine Substitution ist kein zusätzliches Ausstiegshemmnis: die Abstinenzquoten substituierter und nicht substituierter Abhängiger sind nach 5 bis 10 Jahren vergleichbar [11]. Gebessert bzw. vermindert werden jedoch Sterblichkeit, Infektionsraten und weitere gesundheitliche Parameter [35]. Natürlich stellt die Gabe eines Ersatzmittels in gewis ser Weise eine Kapitulation vor dem Abhängigkeitssyn drom dar, einen zumindest vorläufigen Verzicht auf eine „restitutio ad integrum“. Ein solches Integrum hat je doch bei vielen Drogenabhängigen und vor allem auch vielen Patienten des Maßregelvollzugs kaum bestanden. Auf dem Hintergrund schwerer Sozialisationsschäden und Entwicklungsdefizite haben sie sich in eine Abhän gigkeitsstörung verbunden mit einer dissozialen Proble matik hineinentwickelt. Man begegnet in der Praxis des § 64-Maßregelvollzugs drogenabhängigen Patienten mit erschreckend geringen persönlichen Ressourcen und einem weitgehenden Sozialversagen in der Vorgeschich te, die nicht unbedingt hochkriminell erscheinen, aber häufig labil, unreif und unrealistisch hinsichtlich ihrer
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zukünftigen Perspektiven. Bei einigen hat man schon nach einer halbstündigen Exploration das Gefühl, dass völlige Abstinenz für sie mittelfristig keine realisierbare Perspektive darstellt. Moolchan und Hoffman [31] haben sich in einem Beitrag mit der sinnvollen Strukturierung einer Substi tutionsbehandlung befasst und unterscheiden eine Sta bilisierungs-, Selbstverpflichtungs- und Rehabilitations phase. Bemerkenswert ist, welche hohen Anforderun gen sie mit der Abdosierung im Laufe der Rehabilita tionsphase verbinden: der Klient solle stabile und be friedigende Lebensbedingungen in einem drogenfrei en Umfeld erreicht haben, sich stabil in Arbeit, Schu le oder Ausbildung integriert haben und über die finan ziellen Voraussetzungen verfügen, um dies aufrecht zu halten. Dies dürfte für viele Maßregelpatienten, durch aus auch auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse, eine kaum erreichbare Bedingungskons tellation sein. Dass eine substitutionsgestützte Behandlung nicht gleichzusetzen ist mit dem Scheitern einer „eigentli chen Therapie“, lässt sich mit dem von Küfner u. Ridin ger [24] unlängst vorgelegten Manual „Psychosoziale Behandlung von Drogenabhängigen unter Substitution“ veranschaulichen. Die umfangreiche Monographie ent hält eine Fülle von Arbeitsmaterialien, die viele Über schneidungen mit abstinenzbasierten Behandlungspro grammen für Suchtmittelabhängige erkennen lassen (z. B. [26]).
Substitution Allen Substitutionssubstanzen gemein sind eine gegen über Opiaten flachere Pharmakokinetik und eine deut lich längere Halbwertszeit. Opiat- und Heroinabhängige erleben mehrmals täglich Intoxikations- und Entzugs symptome; mit Hilfe der Substitutionsmittel wird eine Stabilisierung erreicht. Die wichtigsten in der Bundes republik eingesetzten Substitutionssubstanzen sind Me thadon (Polamidon) und Buprenorphin (Subutex). Bei de verdrängen Heroin von den Opiatrezeptoren. Unter suchungen weisen auf eine ähnliche Wirksamkeit von Buprenorphin und Methadon im Hinblick auf Opiat freiheit hin, bei einer etwas ungünstigeren Haltequote und einem etwas günstigeren Nebenwirkungsspektrum des Buprenorphins [12, 29, 50]. Die beiden Substan zen haben einen guten substituierenden Effekt im Sin ne einer Minderung des Drogenverlangens, wobei mit tels höherer Dosierung auch das Kokain-Craving redu ziert werden kann. Die Wirkung von Methadon ähnelt etwas stärker der substituierten Droge selbst: deutlicher empfundene Sedierung, raschere Toleranzbildung, pro blematischere Interaktionen mit anderen Medikamen
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ten, größeres Risiko bei Überdosierung, eher Neben wirkungen wie Obstipation und Schlafstörungen. Bu prenorphin beeinträchtigt psychomotorische und kog nitive Funktionen sowie die Libido noch weniger oder seltener als Methadon, kann in größeren Zeitintervallen verabreicht werden und hat zudem einen antidepressi ven Effekt. Es ist allerdings etwa doppelt so teuer wie Methadon [30]. Die Praxis einer Substitutionsbehandlung kann in diesem Beitrag nicht detailliert dargelegt werden. Es wird auf die einschlägige Literatur verwiesen [16, 30]. Einen knappen Überblick geben Klausen und Gölz [21, 22]. Ausgeklammert wird auch die Frage nach der dif ferentiellen Indikation zweier Varianten des Methadon, des Levomethadon und des Methadon-Razemat [43]. Eine aktuell viel diskutierte Alternative zur Substitu tion im engeren Sinne ist die kontrollierte Heroinverga be in Form standardisierten Diamorphins. Das Angebot soll sich insbesondere an Schwerstabhängige richten, die nicht erfolgreich in Substitutionsprogramme einge bunden werden können. Heroin ist eigentlich eine recht gut verträgliche Substanz, doch gehen gerade die illega le Beschaffung verunreinigten und gestreckten „Stoffs“ auf der Szene sowie riskante Applikationsformen mit er heblichen gesundheitlichen Risiken einher und fixieren außerdem soziale Devianz. Insofern erscheint die Ver gabe der „sauberen“ und standardisierten Droge unter strukturierten Bedingungen als sinnvolle Option. Die Ergebnisse eines bundesdeutschen Modellprojektes zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger werden insgesamt recht positiv bewertet [9, 15]. Kritischer, mit dem Tenor früherer Kommentare der Ärzteschaft zur Methadonsubstitution, äußern sich Thürmann u. Ves per [44]. Anfang 2010 wird in der Bundesrepublik die Möglichkeit einer kontrollierten Verordnung von Dia morphin an Schwerstabhängige eingeführt werden. Be denkt man, wie groß innerhalb des Maßregelvollzugs noch die Vorbehalte gegen jede suchtspezifische Medi kation sind, braucht die Option der Diamorphinvergabe an dieser Stelle wohl nicht weiter erörtert zu werden.
Naltrexon als Alternative zur Substitution Substitutionsmittel sind Opiatagonisten: sie haben ähn liche Wirkungen wie Opiate, allerdings eine deutlich fla chere Pharmakokinetik, und verdrängen diese von den Rezeptoren. Die Wirksubstanz Naltrexon ist ein Opiat antagonist, der die Opiatrezeptoren noch vollständiger blockiert, ohne dabei selbst zu sedieren oder zu eupho risieren. Die Substanz wird vermarktet unter dem Han delsnamen Nemexin und ist in Deutschland zugelassen zur medikamentösen Unterstützung einer psychothe rapeutisch geführten Entwöhnungsbehandlung Opiat
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abhängiger nach erfolgter Entgiftung. Naltrexon ist gut verträglich und hat praktisch keine unerwünschten Wir kungen auf Stimmung und kognitive Funktionen. Nach Einnahme von 50 mg werden sämtliche Opiatwirkun gen über 24 Stunden, bei 150 mg sogar über 72 Stun den blockiert (s. [21] mit weiteren Verweisen). Kritisch ist die Einnahme von Naltrexon bei akuter Opiatintoxi kation, da die plötzliche Verdrängung des Rauschmittels von den Opiatrezeptoren gefährliche akute Entzugsbe schwerden auslösen kann. Naltrexon hat selbst keine psychotropen Effekte und kein Suchtpotential. Die Einnahme führt einfach da zu, dass Opiate nicht mehr berauschen. Damit stellt Naltrexon für Drogenabhängige eine eher unattrakti ve Alternative zu einer Substitution dar. Weder befrie digt Naltrexon das Bedürfnis nach Stimulation oder Eu phorisierung, noch fungiert es als dämpfender Reizfil ter. Entsprechend hat sich auch gezeigt, dass die Halte quote einer alleinigen Naltrexon-Behandlung, im Ver gleich etwa zum Methadon, gering ist. So unterschie den sich in einer früheren Doppelblind-Studie [4] die mit Naltrexon Behandelten nach neun Monaten nicht mehr von einer Placebo-Gruppe. Anders sind die Er gebnisse jedoch, wenn Naltrexon im Rahmen struktu rierter (Nachsorge-) Programme eingesetzt wird. Hier werden die Abstinenzquoten zum Teil deutlich positiv beeinflusst [10]. Dabei hat Naltrexon gegenüber einer Substitution Vorteile: Eine tägliche Einnahme ist nicht erforderlich, eine „Diversion“ (Umlenkung des Mittels auf den Drogenmarkt) macht anders als bei Methadon keinen Sinn und die Verträglichkeit ist im Allgemeinen gut. Kirchmayer et al. [20] fanden in einer Metaanalyse einen signifikanten Effekt für Verhaltenstherapie mit vs. ohne Naltrexon dahingehend, dass die Naltrexongruppe eine geringere Reinhaftierungsquote aufwies. Frühere unbefriedigende Studienresultate erklären Kiefer et al. [19] damit, dass Naltrexon meist ohne ausrei chende psychotherapeutische und psychosoziale Unter stützung gegeben wurde. Koc und Poser (1996, zit. nach [19]) haben daher eine enge Indikationsstellung – u. a. Frühstadium der Opiatabhängigkeit, soziale Integra tion – vorgeschlagen, die die Klientel des § 64-Maßregel vollzugs praktisch ausschließen würde. Die strukturier ten Rahmenbedingungen einer (gelockerten) Unterbrin gung erscheinen jedoch gerade geeignet, eine Complian ce auch bei instabileren Patienten zu erreichen. Substanzabhängige Patienten können bei der Kon frontation mit konsumspezifischen Schlüsselreizen – aufgrund des ausgelösten enormen Craving [6] – wie ferngesteuert in alte Verhaltensmechanismen verfallen. Ein wichtiger Effekt einer Naltrexon-Medikation kann darin bestehen, die Abstinenzzuversicht des Patienten zu stärken. Das Bewusstsein, dass eine Drogeneinnahme wirkungslos bleiben würde, kann zu einem Schutzfaktor in Risikosituationen werden. Selbst im Falle eines Rück
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falls mit Opiaten erfolgt keine Auffrischung des Sucht gedächtnisses, eben weil die spezifisch berauschende Wirkung der Droge ausbleibt. Der befürchtete „absti nence violation effect“ [28], der zum Zusammenbruch jeglicher Abstinenzzuversicht und aller eingeübter Be wältigungsstrategien führen kann, dürfte daher eben falls ausbleiben. Natürlich kann die Gabe von Naltrexon nicht jegliche Rückfälligkeit verhindern, da die Substanz ja nicht gegenüber jeder Rauschmittelwirkung immuni siert. Wenn ein Patient auf Alkohol ausweicht und sich betrinkt, könnte ein Nebeneffekt der Medikation güns tige Auswirkungen auf das Straffälligkeitsrisiko haben: Alkoholkonsum hat nach Naltrexon-Einnahme keinen antriebssteigernden Effekt [27]. Den Berauschten über kommt vielmehr ein großes Schlafbedürfnis. Angemerkt sei allerdings auch, dass die Vermarktung der seit Jahrzehnten verfügbaren Wirksubstanz als Ne mexin noch immer zu einem recht hohen Preis erfolgt. Doch relativiert sich dies aufgrund der Kosten des Maß regelvollzugs: eine einjährige Medikation ist (mit ca. 1.500 €) etwa so teuer wie eine Woche in der stationären Unterbringung. Könnte man in Einzelfällen die Dauer der Unterbringung um einen Monat verkürzen oder gar die Rückverlegung in die Strafhaft vermeiden, wäre die Kostenbilanz eines gelegentlichen Einsatzes von Naltre xon hervorragend.
Überlegungen zur Strukturierung medikamentös gestützter Behandlungen Derzeit ist die Behandlung Drogenabhängiger im § 64Maßregelvollzug am Behandlungsziel Abstinenz orien tiert. Die gesicherten und kontrollierten Rahmenbe dingungen des modernen Maßregelvollzugs erlauben es auch, die Behandlung jedes Patienten zunächst auf Abstinenzbasis durchzuführen. Dies erscheint in prak tisch jedem Einzelfall sinnvoll. Nur auf der Grund lage von Abstinenz können der Patient und seine Be handler die Ich-strukturellen Eigenarten und Schwie rigkeiten des Patienten ungedämpft und ungefiltert er leben. Seine interaktionellen Probleme werden erfahr bar und können in der Behandlung aufgegriffen werden. Eine Naltrexon-Medikation in den ersten Monaten der Unterbringung wäre ebenfalls unsinnig, weil das Risiko einer Verleitung zum Heroinkonsum in der geschlosse nen Behandlungsphase relativ gering ist. Natürlich soll te in dieser Zeit auch geklärt werden, ob mit dem Pa tienten überhaupt ein Arbeitsbündnis geschlossen wer den kann und ansatzweise eine Bereitschaft bei ihm zu erkennen ist, ein regelkonformes, sozial angepasstes Le ben zu führen. Falls das nicht der Fall ist, liegt eine frü he Erledigung gemäß § 67d(5) StGB nahe.
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Eine erste Gelegenheit, mit dem Patienten die Pers pektiven einer weiteren Behandlung auf Abstinenzbasis in einem Bilanzgespräch zu erörtern, wäre unseres Er achtens der Zeitpunkt des ersten Behandlungsberichtes (Stellungnahme gemäß § 67e StGB) für die Staatsanwalt schaft. Orientierende Fragen für ein solches Gespräch könnten sein: Wie geht es Ihnen nach einigen Monaten (weitgehender?) Alkohol- und Drogenabstinenz? Wie schätzen Sie Ihre Fähigkeit, aber auch Ihre Motivation ein, langfristig auf Alkohol und Drogen zu verzichten? Welche Situationen, etwa im Rahmen von Vollzugslo ckerungen wären aus Ihrer Sicht riskant? Ist es Ihnen wichtig, die Behandlung auf Abstinenzbasis fortzuset zen? Kommt für Sie eventuell eine medikamentöse Hil festellung in Betracht, wenn es für Sie im Rahmen von Lockerungen oder einer Dauerbeurlaubung (eines Pro bewohnens) schwieriger werden sollte als erwartet? Man darf wohl davon ausgehen, dass nach einer er folgreichen mehrmonatigen Abstinenz die überwiegen de Mehrzahl der Patienten eine weitere abstinenzorien tierte Behandlung bevorzugen wird. Auch wenn ein Pa tient aus Sicht des Teams seine Stabilität dabei über Fallbeispiel 2 Der bei der Aufnahme 27 Jahre alte, polytoxikomane und wegen verschiedener Delikte vorbestrafte Patient wird nach Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz zur Unterbringung verurteilt. Man erlebt ihn in den ersten Monaten nach Klinikaufnahme als recht ungeduldig und anspruchsvoll fordernd. Er kooperiert jedoch in der Behandlung, nimmt alle Angebote wahr und bewährt sich auch im Rahmen erster Lockerungen. Nach über 2 Jahren stationärer Unterbringung unternimmt man den Versuch, ihn zur Vorbereitung der Entlassung zur Bewährung in ein Adaptionswohnheim in einer westdeutschen Großstadt zu beurlauben. Als Mitarbeiter einer forensischen Ambulanz wird der Verfasser gebeten, den Rehabilitationsversuch zu begleiten und mit dem Patienten etwa 14-tägig Gespräche zu führen. Der Patient gewöhnt sich recht schnell in der neuen Umgebung ein, nimmt die Kontakt- und Betreuungsangebote an, hält auch mit dem Verfasser eifrig Kontakt und begibt sich, wie im Wohnheim vereinbart, auf die Suche nach einem Praktikumsplatz in einem Handwerksbetrieb. Nach etwa 20 vergeblichen persönlichen Vorsprachen bei entsprechenden Betrieben erlebt man ihn zunehmend unzufrieden und gereizt. Er beklagt sich über einige Mitbewohner und über eine unzureichende Unterstützung durch Mitarbeiter des Wohnheims. Er scheint es immer schlechter zu ertragen, dass die Welt sich nicht nach seinen Bedürfnissen richtet. Nach vier Wochen berichtet er im Wohnheim, dass er mit Heroin rückfällig geworden sei. Auf seinen Wegen durch die Stadt sei er im Bahnhofsumfeld angesprochen worden und habe ein kleines Briefchen Heroin erworben, dessen Inhalt er geraucht habe. Er macht sich deswegen Vorwürfe und lobt sich brav dafür, dass er den Rückfall „gleich aufgemacht“ habe. Der Konsum des Heroins sei ein Fehler gewesen, er habe eigentlich nichts davon gehabt. Ein Gespräch darüber, mit welchen positiven Erwartungen er die Droge erworben und welche Wirkung er empfunden habe, wehrt er etwas gereizt ab, als könne dies weiteres Drogenverlangen in ihm auslösen. Zwischen Klinik und Wohnheim wird vereinbart, den Patienten zunächst für einige Monate weiterer stationärer „Stabilisierung“ in die Maßregeleinrichtung zurückzunehmen. Dem Verfasser drängte sich der Eindruck auf, dass eine solche Stabilisierung nicht gelingen wird, weil im Patienten trotz der langen Therapie ein Mechanismus tief eingeschliffen ist, auf die Unzulänglichkeiten der Welt in eine regressive, gereizte An spruchshaltung zu verfallen, die wiederum eng mit Drogenkonsum assoziiert ist. Es war zu befürchten, dass der aufwändige Behandlungsversuch auf eine späte „Erledigung wegen Aussichtslosigkeit“ hinauslaufen würde. Man hätte mit diesem Patienten die Option einer Substitution erörtern können. Natürlich kann auch ein solcher Versuch aus verschiedenen Gründen scheitern, etwa aufgrund unkontrollierten Beikonsums und zunehmender Annäherung an die Drogenszene oder an erneuter Straffälligkeit. Doch ist es nicht ganz ausgeschlossen, dass der Patient sich unter einer relativ niedrig dosierten Substitution stabilisiert hätte.
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schätzt, sollte diese Behandlungsform in aller Regel wei terverfolgt werden. Die Frage einer möglichen medika mentösen Hilfestellung könnte, etwa bei vierteljährigen Bilanzgesprächen, wiederholt thematisiert werden. Ins besondere wenn es zu Rückfällen und Krisen kommt, et wa im Rahmen einer Beurlaubung zur Entlassungsvor bereitung, sollte über das weitere Vorgehen unter Ein beziehung des Patienten neu verhandelt werden. Dem Patienten auf diese Weise, jedenfalls theoretisch, eine gewisse Wahlmöglichkeit einzuräumen und Schwie rigkeiten mit konsequenter Abstinenz nicht mehr mit Therapieversagen gleichzusetzen könnte unseres Erach tens die Motivation und Compliance mancher Patien ten stärken und Spielräume im Umgehen mit schwieri gen Situationen erweitern.
Fazit Bei drogenabhängigen Patienten, die in der Eingangs phase der Maßregelbehandlung eine Bereitschaft zur Mitarbeit gezeigt haben, sollte man die Option einer medikamentösen Unterstützung oder einer Substitution im Rahmen der Rehabilitationsbehandlung nicht vorn herein ausschließen. Es gibt Grund zu der Hoffnung, dass eine so flexibilisierte Behandlungsstrategie Druck von den Beteiligten nehmen, die Rate der „Therapiever sager“ zumindest geringfügig mindern und die Effek tivität der Maßnahme damit erhöhen kann. Problema tisch wäre es, wenn die Anstalten ihre Patienten zur Ab sicherung von Lockerungsschritten zu einer suchtspezi fischen Medikation drängten, was sich im Felde der Be handlung von Sexualstraftätern derzeit abzeichnet (vgl.
[5]). Der Patient sollte, mit Unterstützung seiner Thera peuten, eine möglichst eigenständige Entscheidung tref fen können, ob er unter bestimmten Umständen eine medikamentöse Hilfestellung in Anspruch nimmt oder nicht. Einschränkend muss zunächst festgestellt werden, dass natürlich auch medikamentöse Hilfestellungen kei ne Patentlösungen für schwierige Patienten des Maß regelvollzugs darstellen. Impulsivität, Reizbarkeit und (andere) dissoziale Persönlichkeitszüge erhöhen zum Beispiel das Risiko, dass ein Patient nicht in irgendei ne Struktur kontrollierender Nachsorge eingebunden werden kann. Zum zweiten hat der Verfasser persönlich zwar Erfahrung mit der Behandlung von Patienten des § 64-Maßregelvollzugs, nicht jedoch mit medikamen tösen Behandlungsstrategien. Die skeptische Zurück haltung vieler Vertreter des Maßregelvollzugs gegen über entsprechenden Überlegungen kann im Einzelfall durchaus in negativen Erfahrungen mit konkreten Be handlungsversuchen begründet sein. Zum dritten wird in der allgemeinen Psychiatrie aktuell der Ertrag psy chopharmakologischer Therapien kritisch diskutiert [49]. Man geht davon aus, dass dieser Ertrag aus vielen Gründen und unter dem Einfluss der Pharmaindustrie systematisch überschätzt wird. Es kann entsprechend nicht völlig ausgeschlossen werden, dass auch die Bilanz von Substitutionsstrategien in der Literatur etwas ein seitig positiv dargestellt wird. Die hohe Quote ungüns tiger Behandlungsverläufe in der Entziehungsanstalt drängt jedoch dazu, neue und ergänzende therapeuti sche Wege zu erschließen.
7 Interessenkonflikt Es besteht kein Interessenkonflikt.
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Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:302–308 DOI 10.1007/s11757-009-0024-0
Horst Gerasch
Some problems to realise ‘treatment instead of custody’ for drug addicted offenders
7 Zusammenfassung Der Beitrag schildert aus der Sicht der Eingegangen: 14. August 2009 Angenommen: 28. August 2009 Online publiziert: 23. September 2009 Staatsanwalt H. Gerasch ()) Staatsanwaltschaft Berlin 10548 Berlin, Deutschland Tel.: 030-9014 2524 E-Mail:
[email protected]
Übersicht
Die Vollstreckungsvorschriften der §§ 35, 36 BtmG und Probleme in der Praxis bei deren Anwendung
Staatsanwaltschaft als Strafvollstreckungsbehörde, welche Möglichkeiten das Prinzip „Therapie statt Strafe“ rechtlich eröffnet, und welche Probleme sich in der inzwischen langjährigen Praxis dabei ergeben.
7 Schlüsselworter Drogenabhängigkeit · Strafvollstreckung · Drogentherapie · § 35 BtmG 7 Abstract In Germany the department of public prosecution has also to organize the enforcement of
Vorbemerkungen 1. Dieser Beitrag soll dazu dienen, zunächst die Regelungen über die Zurückstellung der Strafvollstreckung (§ 35 BtMG) und die Aussetzung des Strafrestes nach Durchführung einer Therapie sowie die Anrechnung von Therapiezeiten (§ 36 BtMG) darzustellen und sodann die sich aus Sicht des Verfassers (der seit ca. 26 Jahren bei der Staatsanwaltschaft Berlin fast durchgehend mit diesen Bestimmungen befasst war und ist) ergebenden Probleme bei der praktischen Anwendung dieser Vorschriften zu schildern.
2. Mit den nunmehr schon seit 1982 geltenden, erst nach mehreren Jahren der Diskussion in Kraft getretenen Regelungen der §§ 35, 36 BtMG verfolgte der Gesetzgeber – Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4 2009
the prison sentences. For drug addicted offenders there is an option of therapy instead of custody, defined by sections 35, 36 BtmG (Narcotics Law). The author shows the prospects of this law and the problems in daily routine, based on his experience as a prosecutor in Berlin.
7 Keywords Drug addiction ·
Execution of sentences · Narcotic law · Drug therapy
basierend auf der Einsicht, dass die Drogensucht in erster Linie kein kriminelles, sondern ein gesellschaftliches und pathologisches Problem ist – die Ziele, die Zahl der von Betäubungsmittel abhängigen Verurteilten, die in Therapie gebracht werden können, zu erhöhen, die Haltequote und die Therapieerfolge auszudehnen, den Gesundheitszustand der Verurteilten zu verbessern, die Therapieergebnisse durch Nachsorgemaßnahmen im Rahmen der Bewährung abzusichern, die Therapieanreize durch Anrechnung von Therapiezeiten auf die Strafe zu erhöhen und letztlich im Ergebnis die Beschaffungskriminalität einzudämmen. Insofern wurde vom Gesetzgeber ein Sonderweg für von Betäubungsmitteln Abhängige, bei denen keine oder noch keine günstige Prognose vorliegt, geschaffen, was zu einer Ungleichbehandlung mit von anderen Stoffen (wie Alkohol, Medikamenten) Abhängigen und mit solchen Verurteilten, die an einer nicht stoffgebundenen Sucht (wie z. B. Spielsucht) leiden, führt. Diese Ungleichbehandlung sorgte für nach Einführung der
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genannten Regelungen für längere Zeit entstandene, inzwischen aber kaum noch geführte Diskussionen und Kritik. Intensiv wurde auch diskutiert, ob überhaupt Therapiemotivation durch Strafdruck erzeugt werden kann oder Strafe eher gegen eine Therapiemotivation wirkt, wobei schließlich nur festgestellt werden konnte, dass keine der genannten Thesen wissenschaftlich abgesichert werden kann. Befürchtet wurde schließlich, dass die Gerichte nach der Einführung der Vorschriften der §§ 35, 36 BtMG vermehrt zur Feststellung von negativen Prognosen kommen und daher sich die Zahl der Freiheitsstrafen ohne Bewährung erhöhen wird; dieser Effekt ist aber nicht eingetreten.
Die Zurückstellung der Strafvollstreckung (§ 35 BtMG) Nach der Vorschrift des § 35 BtMG kann die Strafvollstreckungsbehörde mit Zustimmung des erkennenden Gerichts die Vollstreckung von Freiheitsstrafen, die zwei Jahre nicht übersteigen (hier ist bei Gesamtstrafenbildung die Gesamtstrafe, nicht die höchste Einzelstrafe maßgebend) und/oder der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) zurückstellen, wenn die dem Urteil zugrundeliegende(n) Tat(en) auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde(n), sich der Verurteilte wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen und deren Beginn gewährleistet ist. Auch die Vollstreckung von mehreren Strafen, deren Summe zwei Jahre übersteigt, kann zurückgestellt werden. Eine Obergrenze, bis zu der die Vollstreckung zurückgestellt werden kann, ist gesetzlich nicht vorgesehen. Insbesondere beim Widerruf mehrerer früherer Strafaussetzungen zur Bewährung können häufig erhebliche „Strafsummen“ erreicht werden. Dem Verfasser sind viele Fälle bekannt, in denen insgesamt Strafen bzw. Strafreste von über fünf Jahren zurückgestellt wurden. Hier wird eine besonders sorgfältige Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für eine Zurückstellung vorzunehmen sein. Leider wird oft angenommen, dass nur bei staatlich anerkannten Therapien eine Zurückstellung erfolgen kann, was – wie sich aus dem Gesetzeswortlaut ergibt – nicht der Fall ist. Die Vorschrift des § 35 Abs. 1 Satz 2 BtMG, nach der auch der Aufenthalt in einer staatlich anerkannten Einrichtung, die dazu dient, die Abhängigkeit zu beheben oder einer erneuten Abhängigkeit entgegenzuwirken, als Behandlung im Sinne des § 35 BtMG dient, ist aus Sicht des Verfassers ziemlich überflüssig
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und hat wohl teilweise zu Verwirrung geführt, was insbesondere hinsichtlich des Bundeslandes Brandenburg auffiel, in dem es „mangels einer entsprechenden Verwaltungsvorschrift“ kein Verfahren zur staatlichen Anerkennung von Therapieeinrichtungen und damit auch keine entsprechenden Einrichtungen selbst gibt. Die Frage der staatlichen Anerkennung spielt daher de facto nur noch bei der Frage der Anrechnung von Therapiezeiten eine Rolle. Bei Gesamtstrafen, die teilweise wegen Taten, die auf Grund von Betäubungsmittelabhängigkeit und teilweise wegen anderer Taten begangen wurden, ist darauf abzustellen, wo der Schwerpunkt der Taten liegt. Nach Einholung der Zustimmung des Gerichts verfügt die Staatsanwaltschaft, die Zurückstellung der Strafvollstreckung für maximal zwei Jahre. Bei der Staatsanwaltschaft ist das gesamte, die Zurückstellung der Strafvollstreckung und auch die Anwendung des § 36 BtmG betreffende Verfahren in Zuständigkeit der Rechtspfleger/Rechtspflegerinnen zu bearbeiten. Bei Ablehnung der Zurückstellung ist die Einholung einer entsprechenden Entscheidung über die Verweigerung zur Zustimmung oder Stellungnahme des Gerichts nicht erforderlich, aber auch unschädlich. Die Ablehnung der Zurückstellung ist mit der Beschwerde nach § 21 der Strafvollstreckungsordnung anfechtbar, über die die zuständige Oberbehörde (dies ist in der Regel die Staatsanwaltschaft bei dem zuständigen Oberlandesgericht, in Berlin so z. B. die Generalstaatsanwaltschaft Berlin) entscheidet. Gegen die Entscheidung der Oberbehörde kann der Verurteilte das zuständige Oberlandesgericht bzw. Kammergericht anrufen. Die Versagung der Zustimmung durch das Gericht kann nur zusammen mit der Ablehnung der Zurückstellung angefochten werden und wird ggfls. durch das Oberlandesgericht ersetzt. Der Widerruf der Zurückstellung ist möglich, wenn der Verurteilte die Behandlung nicht fortführt und nicht zu erwarten ist, dass er eine Behandlung derselben Art wieder aufnimmt, den Therapienachweis zu den von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Terminen nicht erbringt oder wenn bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung oder Verhängung einer neuen Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nicht auch die neue Strafe zurückgestellt werden kann. Gegen den Widerruf der Zurückstellung kann die Entscheidung des erkennenden Gerichts herbeigeführt werden. Im übrigen besteht die Möglichkeit, sich an den Dienstvorgesetzten des/der zuständigen Rechtspflegers/ in (in Berlin ist dies eine Staatsanwältin oder ein Staatsanwalt) zu wenden, um eine Abänderung der von dem/ der Rechtspfleger/in getroffenen Entscheidung zu erreichen.
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Die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes und die Anrechnung von Therapiezeiten (§ 36 BtMG) Nach der Vorschrift des § 36 Abs. 1 Satz 1 BtMG sind nach erfolgter Zurückstellung der Strafvollstreckung Zeiten, die der Verurteilte in einer staatlich anerkannten Therapieeinrichtung verbracht hat, bis zum Erreichen des 2/3-Zeitpunktes auf die Strafe anzurechnen. Das Gericht entscheidet mit dem Beschluss über die Zustimmung zur Zurückstellung auch über die Frage dieser Anrechnungsfähigkeit, wobei diese letztgenannte Entscheidung mit der sofortigen Beschwerde sowohl vom Verurteilten als auch von der Staatsanwaltschaft angegriffen werden kann. Oft wird – auch von Gerichten – verkannt, dass die Entscheidung über die Anrechnungsfähigkeit keine Entscheidung über die Anrechnung selbst darstellt. Insofern ist zum entsprechenden Zeitpunkt – zumeist mit der Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung – eine weitere Entscheidung des Gerichts zu treffen. Diese Frage ist insbesondere bei der Anrechnung von Zeiten ambulanter Therapie von Bedeutung. Sind zwei Drittel durch die geschilderte Anrechnung erreicht oder ist eine Behandlung schon früher nicht mehr erforderlich, setzt das Gericht die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung aus, wobei die Vorschriften über die Strafaussetzung bei Bewährung durch Urteil (§§ 56a- 56g StGB) und des § 57 Abs. 5 Satz 2 StGB entsprechend anwendbar sind. Auch bei nicht staatlich anerkannten Einrichtungen oder hinsichtlich von Zeiten, die vor der Zurückstellung lagen, ist unter den Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 BtmG eine Reststrafaussetzung – und zwar auch hinsichtlich eines Zeitraums von mehr als einem Drittel bis zur vollen Strafe – oder nach § 36 Abs. 3 BtMG eine Anrechnung von Therapiezeiten (dort aber unter engeren Voraussetzungen) möglich.
Probleme bei der Anwendung der §§ 35, 36 BtMG 1. Ein generelles Problem bei der Zurückstellung von Strafvollstreckung ist die Tatsache, dass Therapien häufig abgebrochen bzw. nicht angetreten werden. Dies führt, insbesondere dann, wenn dies bei einem Verurteilten mehrmals geschieht und immer wieder neue Anträge mit wechselnden neuen Einrichtungen gestellt werden, zu einer im Anwachsen begriffenen kritischen Einstel-
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lung der zuständigen Rechtspfleger gegenüber dem Institut der §§ 35,36 BtMG. Sicherlich ist es- insbesondere bei hohen Strafresten wegen nicht unerheblicher Taten und sogar mehrerer neuer Taten während des Laufes von Therapien (solange nicht deshalb rechtskräftig Strafen verhängt wurden, die nicht zurückgestellt werden können) nur schwer nachvollziehbar, wie teilweise über Jahre hinweg Therapien abgebrochen und wieder neue Therapien angetreten werden, ohne dass der Vollstreckungsbehörde Möglichkeiten der bestandskräftigen „Gegenwehr“ zur Verfügung stehen. Dabei sollte aber nicht verkannt werden, dass die Abbruchquote – d. h. die Quote der Beendigung von Therapien ohne erfolgreichen Antritt einer neuen Therapie im Durchschnitt keinesfalls (wie der Verfasser oft hört) bei 80 oder gar 90 Prozent, sondern etwa bei 30 Prozent liegt und es im übrigen bei sorgfältiger und eingehender Bearbeitung durchaus Möglichkeiten gibt, bei ständig neuen Anträgen diese wegen – abgesichert festgestellter – fehlender Therapiebereitschaft, Therapiefähigkeit und Therapiemotivation zurückzuweisen und etwaige neue Taten bei der zu treffenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigen.
2. Ein weiteres häufig auftretendes Problem besteht darin festzustellen, ob überhaupt eine Tat „auf Grund von Betäubungsmittelabhängigkeit“ vorliegt. Schon die Frage, ob ein Verurteilter zur Tatzeit überhaupt abhängig von Betäubungsmitteln war oder diese nur mehr oder weniger regelmäßig konsumierte, ohne abhängig zu sein, macht oft erhebliche Schwierigkeiten. Auch die den Strafen zugrundeliegenden Urteile sind in diesem Punkt häufig wenig hilfreich, zumal wenn in den Urteilsgründen entweder überhaupt nichts über die Art und Häufigkeit des Drogenkonsums steht oder nichts zur Frage einer Abhängigkeit ausgeführt ist. Zwar wird oft im Urteilstenor bei den angewendeten Vorschriften die Regelung des § 17 des Bundeszentralregistergesetzes zitiert, nach der bei Taten auf Grund von Betäubungsmittelabhängigkeit dies im Bundeszentralregister einzutragen ist. Ob dies aber allein ausreicht, um die hinreichend sichere Feststellung zu treffen, dass die Tat tatsächlich auf Grund von Abhängigkeit begangen wurde, ist fraglich, zumal dem Verfasser sogar Entscheidungen in Erinnerung sind, bei denen Gerichte – zwar rechtskräftig, aber dennoch unzutreffend – infolge eines Irrtums davon ausgingen, dass die Medikamente, von denen der Verurteilte abhängig war, Betäubungsmittel waren. Ein schriftliches Sachverständigengutachten, das in den meisten Fällen die geschilderte Frage eindeutig beantwortet, liegt zumeist nicht vor.
Die Vollstreckungsvorschriften der §§ 35, 36 BtmG und Probleme in der Praxis bei deren Anwendung
In derart problematischen Fällen ist der zuständige Rechtspfleger gehalten, durch intensives Studium des gesamten Akteninhalts und unter Herbeiziehen anderer Erkenntnisquellen wie Akten früherer Verfahren, ärztlicher Berichte etc. die entsprechende Entscheidung zu treffen. Da dies sehr viel Zeit in Anspruch nimmt und bei einer Verneinung der Frage einer Abhängigkeit mit der Folge der Ablehnung der Zurückstellung ohne Anwendung dieser Arbeitsweise mit einer Aufhebung der Entscheidung durch die vorgesetzte Behörde gerechnet werden kann, führt dies nach Einschätzung des Verfassers in einigen Fällen dazu, dass das Ermessen großzügig zugunsten des Verurteilten ausgeübt wird. So sind hier z. B. Stellungnahmen von Therapieeinrichtungen bekannt geworden, die dahingehend lauten, man wisse nicht, was man mit dem Verurteilten machen solle, da dieser gar nicht abhängig war und sei. Dies ist oft bei reinem Cannabiskonsum, aber auch gelegentlich beim Konsum harter Drogen festzustellen. Hinzu kommt, dass die Vorschrift des § 35 BtMG durchaus bekannt ist und dies dazu führt, dass im Strafverfahren oft Angaben über angeblich genommene große Mengen Drogen gemacht werden, die mehr oder weniger ungeprüft von den Gerichten in die Urteilsfeststellungen übernommen werden. In solchen Fällen entfalten diese Feststellungen eine die Vollstreckungsbehörde bindende Wirkung mit der Folge, dass eine davon abweichende Beurteilung nur vorgenommen werden kann, wenn hinreichend sicher festgestellt werden kann, dass der Verurteilte falsche Angaben gemacht hat. Dies wird nur selten sicher möglich sein. Nach Einschätzung des Verfassers befinden sich daher einige von zum Teil zu erheblichen Strafen Verurteilten aufgrund einer Zurückstellung in Freiheit, obwohl sie eigentlich in Strafhaft gehören. Kommt man zur Feststellung einer Abhängigkeit von Betäubungsmitteln, so muss man weiter feststellen, dass diese Abhängigkeit auch zur Tatzeit bestand. Insbesondere bei Jahre zurückliegenden Taten ist dies für das Gericht – und erst Recht für die Vollstreckungsbehörde – oft äußerst schwierig. Vor allem, wenn zum Zeitpunkt der Verurteilung Abhängigkeit vorliegt, besteht die Gefahr, dass man der Darstellung des Verurteilten, auch zum Tatzeitpunkt schon abhängig gewesen zu sein, ungeprüft folgt. Auch hier gibt es nach Beurteilung des Verfassers nicht ganz wenige Fälle, in denen zu Unrecht Zurückstellungen erfolgten. Bei Feststellung von Abhängigkeit zur Tatzeit stellt sich schließlich dann noch die Frage, ob die Tat auf Grund dieser Abhängigkeit begangen wurde. Nach der Rechtsprechung ist dies der Fall, wenn die Abhängigkeit nicht weggedacht werden, ohne dass die Tat entfiele („conditio sine qua non“). Wer kann schon sicher wissen, ob jemand – insbesondere wenn er schon
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vor seiner Abhängigkeit ähnliche Taten begangen hat – die Tat nicht auch begangen hätte, wenn er nicht abhängig gewesen wäre? Absolut sicher wird man dies wohl in den Fällen direkter Beschaffungskriminalität – also beim Erwerb, Besitz und Sich-Verschaffen von Betäubungsmitteln, ggf. in Verbindung mit den entsprechenden Delikten wie Raub, räuberische Erpressung, Diebstahl, Unterschlagung etc. und bei Delikten wie Fahren im Zustand der Fahruntüchtigkeit infolge Drogenkonsums feststellen können. Auf der halbwegs sicheren Seite ist man auch bei einem (sicher festgestellten, also nicht nur auf Angaben des Verurteilten beruhenden) hohem Geldbedarf für die Beschaffung von Drogen und Begehung typischer Beschaffungskriminalität wie Diebstahl von Gegenständen, die leicht umgesetzt werden können. Was ist aber mit den zahlreichen anderen Fällen wie z. B. dem Diebstahl anderer Gegenstände und Gewaltdelikten wie Körperverletzung ? Hier helfen zumeist weder die Urteilsfeststellungen und leider auch nicht – wenn sie denn überhaupt existieren – die Sachverständigengutachten weiter, da diese sich naturgemäß nur mit der Frage der Abhängigkeit selbst und der sich daraus ergebenden Folge der verminderten oder ausgeschlossenen Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) befassen und die Urteile darüber hinaus teilweise Feststellungen zum Vorliegen von Abhängigkeit zur Tatzeit und dem Kausalzusammenhang zur Tat enthalten, obwohl offen bleibt, auf welchen konkreten Grundlagen diese Feststellungen beruhen. Für die Praxis wäre es hilfreich, wenn die erkennenden Gerichte in den Urteilsgründen zu dem Problem „Tat auf Grund von Betäubungsmittelabhängigkeit“ möglichst umfassende tatsächliche Ausführungen zu der behaupteten Drogenkarriere machen würden. Damit könnte nicht nur die Tätigkeit der Rechtspfleger hinsichtlich der von ihnen zu treffenden Ermessensentscheidungen erleichtert, sondern auch eine größere Sicherheit in der Entscheidung selbst erzielt werden.
3. Ein anderes, erhebliches Problem stellt sich bei der Frage, ob jemand eine Therapiemotivation und Therapieabsicht nur vortäuscht, um sich der Strafvollstreckung zu entziehen. Insbesondere bei langen Strafzeiten und bei ambulanten Therapien ist die Gefahr groß, dass so verfahren wird, da es mit Sicherheit angenehmer ist, sich ein oder zwei Mal wöchentlich im Rahmen einer ambulanten Therapie Gesprächen zu unterziehen, möglicherweise über einen begrenzten Zeitraum Urinkontrollen abzugeben (wobei oft auch bei positivem Ergebnis dieser Kontrollen oft keine Konsequenzen drohen) und dazu
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möglicherweise auch noch Methadon oder Polamidon verabreicht zu bekommen, als sich im Strafvollzug aufzuhalten. In Fällen, in denen sich der Verurteilte schon längere Zeit in Haft befindet, ist sicherlich eine entsprechende Stellungnahme des in der Haftanstalt zuständigen Psychologen hilfreich, aber wohl auch nicht ausreichend, um diese Gefahr hinreichend sicher auszuschließen; in anderen Fällen ist die Vollstreckungsbehörde zumeist aber auf sich selbst angewiesen, wenn sie nicht den kostenaufwendigen Weg der Beauftragung eines Sachverständigen zu dieser Frage gehen will (dies hat der Verfasser in seiner Dienstzeit noch nie erlebt).
4. Probleme ergeben sich aus Sicht des Verfassers ferner aus der zu beobachtenden starken Zunahme von ambulanten Therapien, die zumeist in Berlin in Form einer Substitution in Verbindung mit psychosozialer Begleitbetreuung erfolgen. Während früher nur in eng begrenzten, relativ wenigen Fällen Substitution erfolgte, ist der Kreis der Substituierten erheblich ausgeufert, wobei nach Einschätzung des Verfassers es zahlreiche Fälle gibt, in denen man es durchaus hätte verantworten können, den Verurteilten auf eine andere ambulante oder vor allem auch stationäre Therapie zu verweisen und zunächst die Substitution abzulehnen, da diese nicht zur Abstinenz führt und daher wohl nur als ultima ratio zur Verfügung stehen sollte, zumal sich für die Vollstreckungsbehörde oft das Problem stellt, dass dieser Täterkreis neue Straftaten begeht, die zum Teil auch erheblich sind und sich die Substitution häufig über viele Jahre erstreckt (dem Verfasser sind nur wenige Einzelfälle bekannt, in denen ein Entzug von Methadon oder Polamidon erfolgte). Bei neuen Taten gelangt man spätestens zum Ende der Zurückstellungszeit (maximal 2 Jahre) zur Frage, ob die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, die oft bei neuen Taten negativ mit der Folge zu beantworten ist, dass die Strafe dann doch zu vollstrecken ist, weil keine positive Zukunftsprognose gestellt werden kann.
5. Insbesondere bei ambulanten Therapien stellen sich erhebliche Probleme der Anrechnung von Therapiezeiten. Hier ist zu beobachten, dass in der Vergangenheit – manchmal sogar hinsichtlich desselben Verurteilten – von verschiedenen Stellen unterschiedliche Maßstäbe angewendet wurden. Wie bereits ausgeführt, ist zu dieser Frage unabhängig von der Frage der Anrechnungsfä-
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higkeit immer eine neue gerichtliche Entscheidung herbei zu führen. Schon dies wird manchmal verkannt, was in Einzelfällen dazu führte, dass von verschiedenen Stellen, die mit der Vollstreckung befasst sind, verschiedene Entscheidungen getroffen wurden, die im Extremfall dazu führten, dass bei derselben Fallkonstellation sich höchst unterschiedliche Strafreste ergaben. Überspitzt ausgedrückt bedeutete dies, dass es manchmal vom Zufall (oder Glück bzw. Unglück) abhing, wieviel Strafrest, der noch zu vollstrecken war, berechnet wurde. Manchmal wurden Zeiten vor der Zurückstellung in vollem Umfang oder teilweise angerechnet; manchmal Zeiten ambulanter Therapie gar nicht, in vollem Umfang (also auch hinsichtlich der Tage, an denen keine therapeutischen Maßnahmen erfolgten) oder mit unterschiedlichsten Ansätzen hinsichtlich der Tage, an denen z. B. therapeutische Gespräche erfolgten. Auch die Gerichte entschieden hier höchst unterschiedlich, wobei manche Gerichte sogar noch bei der nach der Neufassung des § 36 BtmG im Jahre 1992 nicht mehr vertretbaren Auffassung verblieben, ambulante Therapien dürften überhaupt nicht angerechnet werden. Der Verfasser geht davon aus, dass zumindest im Berliner Bereich durch eine kürzlich erfolgte Entscheidung des Kammergerichts (Beschluss vom 27.Mai 09 – 4 Ws 58/09) klargestellt ist, dass die Zeit der Behandlung bei staatlich anerkannten ambulanten Therapien wohl in der Regel mit dem Maßstab anzurechnen sind, dass jeder Tag, an dem ein therapeutisches Gespräch erfolgte, maximal einem Tag der Strafe entspricht.
6. Nicht selten ergeben sich Probleme, wenn mehrere Strafen zu vollstrecken sind und daher zum Teil zahlreiche Stellen (manchmal an verschiedenen Stellen des Bundesgebiets) über die Zurückstellung zu entscheiden haben. In jedem Verfahren muss der jeweilige Richter über die Frage der Zustimmung zur Zurückstellung entscheiden; eine Zuständigkeitskonzentration gibt es weder bei den Gerichten noch in den Fällen, in denen verschiedene Staatsanwaltschaften zuständig sind. Innerhalb der Staatsanwaltschaft Berlin ist wenigstens sichergestellt, dass die Zurückstellung hinsichtlich der bei dieser Behörde zu vollstreckenden Verfahren einheitlich konzentriert durch eine/n Rechtspfleger/in erfolgt. So kam es in mehreren Fällen zu unterschiedlichen Ansichten hinsichtlich der Frage, ob überhaupt noch zurückgestellt werden oder dies etwa wegen Fehlens einer Tat auf Grund von Betäubungsmittelabhängigkeit, zahlreicher früherer Therapieabbrüche oder wegen Ungeeignetheit der Therapie nicht geschehen soll und oft auch hinsichtlich der Fragen der Anrechnungsfähigkeit und Anrechnung. Wenn es überhaupt in solchen Fäl-
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len gelang, diese Unterschiede zu beseitigen, so dauerte dies sehr lange. Hier müsste aus Sicht des Verfassers das Schaffen einer gesetzlichen Regelung geprüft werden, die dahin geht, dass die Entscheidungen des Gerichts und der Vollstreckungsbehörde über die Zurückstellung der Strafvollstreckung hinsichtlich sämtlicher Verfahren für einen Verurteilten konzentriert in einem Verfahren – etwa wie im gerichtlichen Bereich für die Fälle der Gesamtstrafenbildung oder der Bewährungsüberwachung bereits geregelt – zu erfolgen haben.
7. Besondere Problemkonstellationen ergeben sich bei Verurteilten, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Abgesehen von erheblichen Problemen auf Grund der Sprache und den verschiedenen Mentalitäten, die oft dazu führen, dass keine passende Therapieeinrichtung gefunden werden kann, scheitern Therapien nicht selten bei diesem Personenkreis auch an der Kostenfrage, da oft die Kosten für Therapien nicht übernommen werden. Probleme in Zusammenhang mit der ausländerrechtlichen Situation der Verurteilten (drohende Abschiebung) waren früher häufiger. In den letzten Jahren ist die Berliner Ausländerbehörde jedoch dazu übergegangen, bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 35 BtMG den entsprechenden Verurteilten eine Duldung zu erteilen. Daher stellen sich diesbezüglich zumeist nur noch Probleme, in denen – dies ist nicht selten – Therapieplatzzusagen nur für den Fall erfolgen, dass der Verurteilte nicht bestandskräftig ausgewiesen ist, was häufig der Fall ist.
8. Probleme hinsichtlich der Kostenfrage gibt es in letzter Zeit auch bei vorherigen mehrfachen erfolglosen Therapien. Hier weigern sich manche Versicherungen oder andere Kostenträger inzwischen zunehmend, manchmal die Kosten zu übernehmen, weil sie davon ausgehen, dass der Verurteilte nicht therapiewillig oder therapiefähig ist.
9. Nicht selten besteht die Konstellation, dass im Zuge des Verfahrens über die Zurückstellung der Strafvollstreckung bekannt wird, dass neue oder ältere weitere Ermittlungs- oder Strafverfahren gegen den Verurteilten laufen. Die manchmal erfolgte Ablehnung eines Antrages auf Zurückstellung allein wegen der Existenz dieser Verfahren ist insbesondere in Hinblick auf die auch
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hier wirkende grundsätzliche Unschuldsvermutung unzulässig. Diese Unschuldsvermutung kann jedoch nach Ansicht des Verfassers nicht gelten, wenn zumindest ein Geständnis vor einem Richter erfolgt ist, da dies sogar einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ohne rechtskräftige neue Verurteilung ermöglicht. Die Schwierigkeit in derartigen Fällen besteht jedoch darin, dass man nicht weiß, welche Feststellungen das Gericht im neuen Verfahren zur Frage der Tat auf Grund von Betäubungsmittelabhängigkeit treffen wird und welche Strafe verhängt werden wird. Nur in diesen Punkten auch ohne rechtskräftige neue Entscheidung eindeutigen Fällen wird eine Ablehnung des Antrages auf Zurückstellung möglich sein. Aus der jüngsten Zeit ist dem Verfasser ein Fall bekannt, in dem in einem neuen Verfahren wegen neuer Taten 4 Jahre Gesamtfreiheitsstrafe und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet wurde, wobei der Angeklagte im genannten Verfahren hinsichtlich des überwiegenden Teils der neuen Taten geständig war. Bei dieser Konstellation dürfte trotz fehlender Untersuchungshaft im neuen Verfahren und trotz dort eingelegter Revision eine Ablehnung der Zurückstellung vorzunehmen sein, weil mit einem ordnungsgemäßen Abschluss der Therapie in Hinblick auf eine neue nicht zurückstellungsfähige Strafe nicht zu rechnen ist.
10. Auch die Fallgestaltung, dass mehrere Strafen zu vollstrecken sind, die nur teilweise zurückstellungsfähig sind, wirft oft Probleme auf. Nach § 454 Abs.2 StPO werden die Strafvollstreckungen jeweils zum Zeitpunkt der Halb- oder Zweidrittelverbüßung zum Zwecke der Vollstreckung der nachfolgenden Strafen unterbrochen. Ziel dieser Regelung ist, dass schließlich der frühestmögliche Zeitpunkt bestimmt wird, an dem von Gesetzes wegen eine Reststrafaussetzung nach § 57 StGB möglich ist. Dies führt dazu, dass die nicht zurückstellungsfähige Strafe oft die gesamte Zurückstellung blockiert. Abhilfe kann hier zwar dadurch geschaffen werden, dass nach § 43 Abs.4 der Strafvollstreckungsordnung die Vollstreckungsreihenfolge so geändert wird, dass die nicht zurückstellungsfähigen Strafen vorab vollstreckt werden; dabei darf aber das Recht des Verurteilten, möglichst früh die Chance einer Reststrafaussetzung zu erhalten, nicht beschnitten werden. Ob der Verurteilte wirksam auf die Einhaltung dieses Rechts verzichten kann, erscheint insbesondere in Hinblick auf die erheblichen Konsequenzen eines solchen Verzichts fraglich. Hier wäre zu erwägen, eine entsprechende klare gesetzliche Regelung zu schaffen.
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11. In Einzelfällen entstand das Problem, dass der/die Verurteilte beabsichtigte, sich in eine im Ausland – so etwa in Polen – befindliche Therapieeinrichtung zu begeben und sich schon dort aufhielt. Dass sich hier ganz erhebliche Probleme in Zusammenhang mit der Frage, ob die Einrichtung überhaupt geeignet ist und in Zusammenhang mit der Rückmeldung ergeben, ist offensichtlich. Grundsätzlich ausgeschlossen dürfte jedoch eine Zurückstellung auch bei ausländischen Einrichtungen nicht sein.
H. Gerasch
und den Verurteilten weigern sich Therapeuten in Einzelfällen, zu dieser Frage Auskunft zu erteilen. Die Fragestellung wird allerdings nur dann akut, wenn der Verurteilte behauptet, es sei kein Abbruch der Therapie auf Grund seines Verhaltens, sondern ein unberechtigter „Rauswurf “ erfolgt. Wenn man dies klarstellt, wird in der Regel Auskunft erteilt. Probleme bei der Feststellung der konkreten Therapietermine wegen der Anrechnung ambulanter Therapiezeiten bestehen in letzter Zeit nicht mehr, zumal die Therapieeinrichtungen diese Termine schon zur Abrechnung der Kosten erfassen und ihnen inzwischen die Anrechnungsproblematik bekannt ist.
12. Die Zusammenarbeit zwischen der Vollstreckungsbehörde und den Therapieeinrichtungen ist aus Sicht des Verfassers durchaus grundsätzlich zufriedenstellend. Dass natürlich die Therapeuten eine grundsätzlich andere Sichtweise von den Verurteilten haben – für diese sind die Verurteilten vor allem Kranke und die Kriminalität ist nur eine Nebenfolge – begründete in Einzelfällen eine abwehrende Haltung gegenüber Kontrollen durch die Justiz im Rahmen der Überwachung der Zurückstellung. Durch die Jahrzehnte, in denen inzwischen Strafen zurückgestellt werden, ist jedoch zumindest den meisten in diesem Bereich Tätigen bewusst geworden, dass diese Kontrollen gesetzlich gefordert sind und nicht auf Böswilligkeit der Strafvollstreckungsbehörde beruhen. Probleme entstehen manchmal bei Therapieabbrüchen und der Frage, warum diese erfolgt sind. Aufgrund des Vertrauensverhältnisses zwischen den Therapeuten
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Fazit Die Regelungen der §§ 35, 36 BtMG haben sich aus Sicht des Verfassers grundsätzlich in ihrer praktischen Anwendung bewährt. Viele Verurteilte würden mit Sicherheit weiter drogenabhängig sein und sich auch wieder in Haft befinden, wenn es diese Regelungen nicht gäbe. Zur Verbesserung der Qualität der Entscheidungen würde die entsprechende fachübergreifende Fortbildung der Entscheidenden beitragen. Eine Verbesserung der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung in Zusammenhang mit der Anwendung der genannten Vorschriften und auch eine Beschleunigung der Verfahren zur Zurückstellung könnte durch die Schaffung gesetzlicher und verwaltungsmäßiger Regelungen in den geschilderten Bereichen erfolgen.
7 Interessenkonflikt Es besteht kein Interessenkonflikt.
Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:309–317 DOI 10.1007/s11757-009-0015-1
Werner Laubichler Anton Kühberger
Homicide and manslaughter in the normal penitentiary system
7 Zusammenfassung In einer Untersuchung an 121 Tätern mit Tötungsdelikten im Normalvollzug wurde erhoben, wie viele Fälle von psychiatrisch „unauffälligen“ Tätern vorliegen, also Täter ohne psychiatrische Störungen. Knapp 30% des Probandengutes waren psychiatrisch unauffällige Täter; bei etwa 40% wurde eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, bei einigen wenigen Fällen (7%) Alkoholismus bzw. Polytoxikomanie, und bei den restlichen 23% Persönlichkeitsstörung und Alkoholismus bzw. Polytoxikomanie gleichzeitig. Die psychiatrisch unauffälligen Täter unterschieden sich in folgenden wesentlichen Merkmalen von
Eingegangen: 30. November 2008 Angenommen: 12. April 2009 Online publiziert: 23. Oktober 2009 Prof. Dr. W. Laubichler ()) Vollererhofstraße 682 5412 Puch bei Hallein, Österreich E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. A. Kühberger Fachbereich für Psychologie, Universität Salzburg Hellbrunnerstraße 34 5010 Salzburg, Österreich E-Mail:
[email protected]
Originalarbeit
Tötungsdelinquenten im Normalvollzug unter besonderer Berücksichtigung psychiatrisch unauffälliger Mörder
den psychiatrisch auffälligen Tätern: psychiatrisch unauffällige Täter verübten Tötungen (i) eher an Opfern aus dem Partner- oder Familienbereich, während bei psychiatrisch auffälligen Tätern Tötungen von unbekannten Personen häufiger waren; (ii) hauptsächlich durch Gift und durch Erschlagen, während Tötungen durch Erstechen, Erschießen, oder kombiniert, eher bei psychiatrisch auffälligen Tätern auftraten. (iii) Täter mit psychiatrischer Diagnose waren viel häufiger (beinahe 70%) vorbestraft. Insgesamt zeigte sich, dass psychiatrisch unauffällige Täter keineswegs vernachlässigbar selten sind und von psychiatrisch auffälligen Tätern sinnvoll unterschieden werden können.
7 Schlüsselwörter Tötungs delikte · Psychiatrisch Unauffällige Mörder · Strafvollzug · Psychiatrische Diagnose 7 Abstract We collected data on 121 cases of homicide and manslaughter in the normal penitentiary system and counted the cases of perpetrators with, and without, psychiatric diagnosis. About 30% of the sample consisted in perpetrators without any psychiatric diagnosis; in contrast, about 40% were diagnosed as personality disorder;
some few cases (7%) were classified as alcoholism or polytoxicomania, respectively; and the rest (23%) were cases of both personality disorder and alcoholism/polytoxicomania. Perpetrators without psychiatric diagnosis differed in systematic ways from perpetrators with psychiatric diagnosis. The former committed their offenses more on victims in partnership and family, while perpetrators with psychiatric diagnosis frequently offended strangers. Perpetrators lacking a diagnosis used poison, and striking to dead, relatively more frequently while homicide and manslaughter by stabbing, shooting, or some combination thereof were committed mainly by perpetrators with psychiatric diagnosis. Diagnosed perpetrators had more frequently been previously convicted (nearly 70%). In sum we found a considerable percentage of perpetrators who lacked a psychiatric diagnosis. We argue that this group can properly be distinguished from perpetrators who have some psychiatric diagnosis.
7 Keywords Killing ·
Manslaughter · Normal penitentiary system · Perpetrators without psychiatric diagnosis
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Einleitung Mord gilt als das klassische Kapitalverbrechen. Bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts war dieses Verbrechen in Europa von der Todesstrafe bedroht und in einigen Ländern der Welt hat sich daran bis heute nichts geändert. Da es sich dabei um das schwerste aller Verbrechen handelt liegt die Vorstellung nahe, dass ein Mord nur von psychisch abnormen Menschen begangen werden könne. Mit anderen Worten, man könnte erwarten, dass bei allen Mördern eine psychiatrische Diagnose vorliege, wodurch erklärbar sei, dass die betreffende Person überhaupt für die Tat fähig war. Andererseits wird in den Medien täglich von unvorstellbaren Gräueltaten in der ganzen Welt berichtet, was wiederum die Befürchtung nährt, dass die Hemmschwelle für die Tötung von Mitmenschen eventuell nicht so hoch liegt. Dass bei vielen Säugetierarten die Tötung von Artgenossen überhaupt nie beobachtet wird und bei anderen nur hin und wieder, speziell in Form eines Infantizides, interpretieren manche Autoren so, dass wir Menschen diese Hemmschwelle im Laufe der Evolution weitgehend verloren haben könnten [2]. Aus diesen Überlegungen würde folgen, dass Tötungshandlungen durchaus auch von „normalen“ Menschen, d. h. solchen ohne eine psychiatrische Diagnose nach ICD-10 gesetzt werden könnten. Als Mord gilt letztlich nur die gesellschaftlich unerwünschte Tötung; dieses Vergehen wird aus spezialund generalpräventiven Gründen gesetzlich schwer verfolgt. Der im Deutschen nicht eingebürgerte Begriff des „Homizid“ (d. h. Tötung von Menschen durch Menschen) erstreckt sich aber humanwissenschaftlich durchaus auch auf gesellschaftlich tolerierte Tötungen wie Hinrichtungen, sakrale Menschenopfer in archaischen Kulturen, den Heldentod auf dem Schlachtfeld, usw. Wenn aber Mord nur eine Form von ansonsten durchaus nicht so seltenen Tötungshandlungen darstellt, dann liegt die Annahme nahe, dass auch unter den Tötungsdelinquenten bzw. Mördern unserer Gesellschaft psychiatrisch „unauffällige“ Täter, d. h. Täter ohne psychiatrische Störungen nach ICD-10 aufscheinen müssen. Dieser Forschungsfrage wird in der vorliegenden Untersuchung nachgegangen.
Probandengut Die vorliegende Untersuchung stützt sich nicht auf Untersuchungshäftlinge, sondern auf bereits (manchmal vor langer Zeit) abgeurteilte Tötungsdelinquenten im Normalvollzug. Unter diesen stehen für diese Untersuchung wiederum nur diejenigen Fälle zur Verfügung, (i) die wegen einer allfälligen bedingten Entlassung
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W. Laubichler und A. Kühberger
einer psychiatrischen Untersuchung zugewiesen wurden, und – seltener – (ii) in denen von Seiten der Justizanstalt ein Gutachten beauftragt wurde mit der Fragestellung, ob Vollzugslockerungen, bis hin zum freien Vollzug, vertretbar wären. Untersuchungshäftlinge werden hier nicht berücksichtigt, weil sie ja in der Regel durch die meist erst kurz vorangegangene Tat bzw. den dazu führenden Konflikt und die nun anstehende Strafandrohung in einer Art Ausnahmezustand sich befinden, der diagnostisch eventuell als bereits länger bestehende Störung missdeutet werden könnte. Dies bedeutet, dass in dieser Arbeit die akute Belastungsstörung (F 43.0) bzw. Anpassungsstörung (F 43.2) nicht als psychiatrische Störung an sich betrachtet werden, weil sie vor der Tat bzw. vor dem zur Tat führenden Konflikt nicht bestanden haben, sondern als eine Reaktion auf das Geschehene aufzufassen sind. Ferner haben Langzeitstrafgefangene für diese Untersuchung den Vorteil, dass man die Entwicklung während der Haft mitberücksichtigen kann. Aus dem Probandengut von insgesamt 121 Fällen waren 36 Personen (30%) zum Untersuchungszeitpunkt bereits Freigänger, d. h. sie gingen zum Teil außerhalb der Anstalt einem Beruf nach und hatten regelmäßig kurzen Hafturlaub. Psychisch Kranke oder hochgradig auffällige bzw. gefährliche Täter sind (meist) nicht im normalen Strafvollzug, sondern im Maßnahmevollzug (entspricht dem Maßregelvollzug in Deutschland, siehe Anhang) untergebracht und werden daher in dieser Untersuchung nicht analysiert. Die Untersuchung bezieht sich auf insgesamt 121 selbst begutachtet Personen, denen Tötungsdelikte zur Last gelegt werden, welche im Zeitraum zwischen Anfang 1992 und Ende 2007 vorgestellt wurden. In Tab. 1 sind die Häufigkeiten nach Geschlecht und Lebensperiode (jugendlich: bis zum vollendeten 18. Lebensjahr) dargestellt. Zusätzlich wird berücksichtigt, ob es sich um eine vollendete Tötung handelte oder es beim Versuch blieb. Ferner wird auch gesondert die „Beihilfe“ zur Tötung berücksichtigt, die sich in der Statistik des BunTab. 1 Tötungsdelinquenz im normalen Strafvollzug getrennt nach Geschlecht, Lebensperiode und Tat Davon Ge schlecht
Lebenspe riode
N (%)
vollen det
ver sucht
Bei hilfe
Männlich
Erwachsen Jugendlich Erwachsen Jugendlich Summe
100 (82,6) 8 (6,6) 11 (9,1) 2 (1,7) 121 (100)
87 5 7 0 99
12 2 1 0 15
1 1 3 2 7
Weiblich
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desministeriums für Justiz (s. Tab. 5) nicht wiederfindet, da diese Fälle in der Statistik nicht gesondert festgehalten werden. Wie Tab. 1 zeigt, war der Großteil der Tötungshandlungen vollendete Tötungen (99 von 121, also 82%); versuchte Tötungen sind seltener (12%) und kommen in diesem Probandengut praktisch nur bei Männern vor. Im Gegensatz dazu findet sich die ebenfalls seltene Beihilfe (6%) häufiger bei weiblichen Tätern: bei erwachsenen Frauen zu etwa einem Viertel und bei den hier nur mit zwei Fällen aufscheinenden jugendlichen Täterinnen ausschließlich – was besondere Grausamkeit allerdings nicht ausschließt. So hatte z. B. eine 16-Jährige ihren Freunden Zutritt zur Wohnung ihrer Großmutter verschafft, wo sie bei deren Beraubung und Hinrichtung zusah.
Definition, Motive und Konfliktsituationen Zu definieren ist, was man unter einem „psychiatrisch unauffälligen Mörder“ zu verstehen hat. Folgende Kriterien werden der Definition zugrunde gelegt: (i) das Fehlen von psychiatrischen Störungen (im Sinne des ICD10) im frühren Leben und weiters im Strafvollzug. (ii) Es wurde bereits darauf eingegangen, dass die akute Belastungsstörung (F 43.0), bzw. Anpassungsstörung (F 43.2) infolge des Konfliktes im Zusammenhang mit der der Tat und der daraus resultierenden Strafandrohung nicht als psychiatrische Störung eingestuft wurden, da sie situationsbezogen sind. Die Tat selbst stellt zwar keine geglückte Problembewältigung dar, wenn es aber das einzige Versagen bzw. die einzige gröbere Verhaltensauffälligkeit bleibt, dann kann eine psychiatrische Diagnose daraus alleine nicht begründet werden. Überhaupt gilt, dass sozial abweichendes Verhalten nicht (automatisch) mit psychiatrischer Störung gleichgesetzt werden kann [9]. Bezüglich der erkennbaren Tatmotive bzw. der zugrunde liegenden Konfliktsituationen wurde für das Probandengut eine Unterteilung in Anlehnung an Rasch [8] vorgenommen. Dies vor allem deswegen, weil auch ältere eigene Untersuchungen von Tötungsdelinquenten [5, 6] der Unterteilung nach Rasch folgen. Allerdings wird im Gegensatz zu Rasch zwischen „Gattentötung durch die verlassene Person“ und „Geliebtentötungen durch die verlassene Person“ nicht unterschieden, sondern beides in „Tötung des Partners“ zusammengefasst. Ebenso scheint „Tötung bei Einbruch“ bei Rasch nicht als eigene Kategorie auf. Nach unserer Ansicht ist dies aber doch von einem primär beabsichtigten Raubmord abzugrenzen, obwohl sicherlich Übergänge möglich sind; z. B. wenn der Einbrecher sich bewaffnet hatte, um sich allenfalls den Fluchtweg freischießen zu können. Eine „Tötung während der Geburt“ scheint im vorliegenden Probandengut nicht auf. In einem Fall wur-
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de eine Schwangerschaft verheimlicht und im Krankenhaus entbunden. Die Mutter verließ kurzfristig unter Zurücklassung des Babys das Krankenhaus, um die Tötung vorzubereiten und holte dann ihr Kind dazu ab, womit nicht mehr die gesetzlichen Kriterien des §79 des Österreichischen StGB erfüllt sind (siehe Anhang). Das Motiv war hier Angst vor der Schande – die Mutter war Kurdin. Nur zweimal lag ein erweiterter Selbstmordversuch vor: ein Mann und eine Frau töteten ihre Kinder und scheiterten dann beim eigenen Selbstmordversuch; eine weitere Frau unternahm einen Tötungsversuch an ihren Kindern, um sich am Kindesvater zu rächen. Um das Probandengut zahlenmäßig nicht zu sehr aufzusplittern, erschien es somit zweckmäßig, Streit mit Familienmitgliedern und diese Kindestötungen zusammen zu fassen. In nur einem Fall erfolgte eine Verurteilung wegen Totschlags (§76 des Österreichischen StGB); alle anderen Fälle wurden verurteilt nach §75, d. h. Mord bzw. Mordversuch (siehe Anhang). „Totschlag“ ist letztlich auch Mord, aber wegen einer „allgemein bergreiflichen Gemütsbewegung“ vor der Tat mit einer geringeren Strafe privilegiert. Die Geschworenen haben zu entscheiden, ob Mord oder Totschlag vorliegt. Der Vorstellung und Besprechung der Ergebnisse dieser Untersuchung soll ein Fallbeispiel von einer psychiatrisch unauffälligen Mehrfachmörderin vorangestellt werden, der exemplarisch die Fragestellung aufzeigt. Vor etwa 20 Jahren musste die Öffentlichkeit schockiert zur Kenntnis nehmen, dass in einem Pflegeheim für demenzkranke und zum Teil mehrfach behinderte Patienten vier Pflegehelferinnen während des Nachtdienstes eine größere Anzahl der Patienten getötet hatten. Zwei Psychiater kamen unabhängig voneinander bei allen Täterinnen zu einem psychiatrisch unauffälligen Befund; sie wurden also als voll zurechnungsfähig beurteilt. Die zwei Haupttäterinnen, die zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurden, wurden 2007 nach 19 Jahren Haft zur Begutachtung vorgestellt und dann zur Jahresmitte 2008 entlassen. Die eigentliche Haupttäterin soll hier vorgestellt werden; die zweite begutachtete Täterin war gewissermaßen Mitläuferin, bzw. es hatte sich eine entsprechende Gruppendynamik entwickelt. Fallbeispiel: Die Täterin (Jahrgang 1958) entstammte einer eher traditionell eingestellten ländlichen Familie; der Vater Landwirt, vier Brüder und eine Schwester, sie selbst die Vierte in der Geschwisterreihe. Sie besuchte Volksschule, Hauptschule und zwei Jahre Schwesternschule, die sie aber abbrach. Sie arbeitete dann im Pflegehilfsdienst. Die Kindheit wurde als harmonisch beschrieben. Die Hauptschulzeit, während der sie in einem klösterlichen Internat untergebracht war, bezeichnete sie als stark belastet wegen des restriktiven Regimes, das mit „ärger als im Gefängnis“ beschrieben wurde. Die Täterin war nie verheiratet und hatte auch keine länger anhaltende Partnerschaft. Sie wohnte zu-
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sammen mit ihrer Schwester, die vorwiegend als Reinigungskraft arbeitete. Sie war unbescholten und präsentierte sie sich als eine wenig differenzierte, durchschnittlich intelligente, gut kontakt- und rapportfähige Persönlichkeit ohne psychopathologische Auffälligkeiten. Dem Strafakt ist zu entnehmen, dass sie im Zeitraum zwischen 1983 und Ende 1989 insgesamt 15 Patientinnen und Patienten meist durch Injektion von Flunitrazepam oder Prothipendyl getötet hatte. Zum Teil geschahen die Taten aber auch sehr grausam durch Ersticken infolge „Mundpflege“. Dabei wurde den hilflosen Patienten so viel Wasser in den Mund geschüttet, dass sie daran umkamen. Neunmal blieb es beim Tötungsversuch, einmal kam es zu Beihilfe, da sie einer Komplizin eine Spritze aufzog und sie ihr übergab. Auf die Frage, wie sie jetzt nach so vielen Jahren ihr Motiv einschätze, gab sie an, vorwiegend aus Frustration gehandelt zu haben, da die Schwestern im Nachtdienst mit unruhigen, schwierigen Patienten völlig alleine gelassen worden seien. Der zuständige Arzt sei niemals bereit gewesen, nachts auf der Station zu erscheinen, sondern habe nur telefonisch durchgegeben, was sie injizieren solle. Wenn dies nicht geholfen habe, habe er telefonisch eine andere Injektion verordnet. So sei es gekommen, dass sie – wie auch ihre Komplizinnen, aber wohl auch andere Kolleginnen, die niemanden getötet hätten – auf diese Telefonate zu verzichten begannen. Sie hätten selbständig nach Gutdünken injiziert, wobei sie schließlich allmählich die Grenze überschritten hätte und bewusst auch tödliche Dosen gegeben habe. Über die „Mundpflege“ zu sprechen, brachte sie in sichtliche Verlegenheit. Sie habe jetzt eigentlich keine Erklärung dafür und habe immer versucht, daran nicht mehr zu denken. Bezüglich ihres Verhaltens in der Haft ist zu sagen, dass ihre Familie den Kontakt zu ihr auch während der Haft nicht abbrach. In der Justizanstalt war sie zuletzt offen untergebracht, d. h. die Türen waren nicht versperrt, es bestand aber die Hausregel, dass sie unerlaubt die Wohneinheit nicht verlassen durfte, was sie auch einhielt. In der Justizanstalt arbeitete sie zur vollen Zufriedenheit in der Anstaltsküche und war laut Bericht der Justizanstalt zu allen Mitinsassinnen sehr verträglich. Innerhalb eines Quartals absolvierte sie je dreimal für 48 Stunden bzw. für 72 Stunden Freigang, den sie bei ihrer Schwester oder anderen Familienmitgliedern verbrachte. Einmal wöchentlich war Ausgang zum Einkaufen. Bei einem früheren Gesuch auf bedingte Entlassung machte man ihr zum Vorwurf, dass sie während der Haft eine Therapie nicht in Anspruch genommen hatte, was sie mit Betroffenheit registrierte. Sie gab dazu an, anfänglich hätten ihr therapeutische Gespräche sicher sehr geholfen. Man habe ihr diese aber nicht vorgeschlagen und von sich aus sei sie nicht auf die Idee gekommen, eine Therapie zu verlangen. Sie habe aber später selbst um therapeutische Gespräche gebeten, die sie dann als positiv empfunden ha-
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be. Für den Fall einer bedingten Entlassung wäre sie für Bewährungshilfe und die Fortsetzung sozialtherapeutischer Gespräche dankbar. Sie könne wie schon vor der Verhaftung wieder bei ihrer Schwester wohnen und eine Beschäftigung als Putzfrau in einer Druckerei sei ihr von ihrer Schwester sogar bereits besorgt worden. Die Führung wurde als vorbildlich bezeichnet und die Anstaltsleitung befürwortete eine bedingte Entlassung.
Ergebnisse Konflikte und Diagnosen. In den Tab. 2 und 3 sind die Zusammenhänge zwischen Konfliktsituationen, die zur Tat führten (in Anlehnung an Rasch [8]) und Diagnosen dargestellt. Tabelle 2 gibt die Zusammenhänge für Männer, Tab. 3 für Frauen wieder. Insgesamt lag bei 37 Personen (30,6%) keine psychiatrische Diagnose vor; etwa 1/3 der von uns begutachteten Fälle können damit nach unseren Kriterien als „psychiatrisch unauffällige Mörder“ gelten. Ihnen stehen insgesamt 46 (38%) Täter mit Persönlichkeitsstörung gegenüber und 38 (31,4%) mit Alkoholismus bzw. Polytoxikomanie, wovon allerdings mehr als die Hälfte (29, d. h. 24%) auch gleichzeitig eine Persönlichkeitsstörung zeigten (s. Tab. 2 und 3, Spalte „Beides“). Polytoxikoman waren lediglich zwei erwachsene Frauen und ein erwachsener Mann, 35 der Süchtigen waren ausschließlich alkoholabhängig (darunter eine Frau). Von den insgesamt 11 jugendlichen Tätern war keiner substanzmittelabhängig, und nur einer ohne psychiatrische Diagnose (Motiv: „Streit unter Alkohol“). Grob gesprochen teilen sich die Fälle etwa gleichmäßig auf die drei Gruppen auf: ein Drittel psychiatrisch unauffällige Mörder, ein Drittel Täter mit Persönlichkeitsstörung und ein Drittel Täter mit Alkoholismus bzw. Polytoxikomanie. Hinsichtlich der auslösenden Konfliktsituationen dominieren bei Männern zu jeweils etwa ein Viertel der Fälle Streit unter Alkohol und Raubmord. Bei Frauen ist Raubmord mit etwa einem Viertel ebenfalls eine häufige Kategorie (zusammen mit der Tötung von Familienmitgliedern). Sexualtat bzw. sexuelle Aversionstat kommt bei Frauen überhaupt nicht vor, bei Männern insgesamt immerhin in über 10% der Fälle. Opfer. Von den psychiatrisch unauffälligen Männern töteten 13 die Partnerin und weitere 2 andere Familienmitglieder, womit knapp die Hälfte aus dieser Gruppe Angehörige tötete. Von den 6 psychiatrisch unauffälligen Frauen töteten 3 Familienmitglieder; zwei weitere psychiatrisch unauffällige Frauen waren die beiden schon erwähnten Pflegehelferinnen. Es liegt nahe, einen Zusammenhang zwischen dem Vorliegen einer psychiatrischen Diagnose und der Nähe zum Opfer zu vermuten. In Tab. 4 ist dieser Zusammenhang dargestellt.
Tötungsdelinquenten im Normalvollzug unter besonderer Berücksichtigung psychiatrisch unauffälliger Mörder
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Tab. 2 Konfliktsituation und Diagnose bei männlichen Tätern Diagnose Konfliktsituation
Keine
Persönlichkeits störung
Alkoholismus/ Polytoxikomanie
Beides
Summe (%)
Partnertötung asoziale Partnerschaft Tötung von Familienmitgliedern Streit unter Alkohol Raubmord Tötung bei Einbruch Sexualtat Sexuelle Aversionstat Sonstiges Summe (%)
12 1 2 7 3 2 0 2 2 31 (28,7)
3 2 2 8 12 2 5 3 5 42 (38,9)
2 1 0 3 1 0 0 0 0 7 (6,5)
0 3 0 7 9 2 2 1 4 28 (25,9)
17 (15,7) 7 (6,5) 4 (2,8) 25 (23,1) 25 (23,1) 6 (5,6) 7 (6,5) 6 (5,6) 11 (10,2) 108 (100)
Insgesamt wurden – stets von Männern – 48 unbekannte Opfer getötet, 49-mal Angehörige (Partnerin bzw. Familienmitglied), und 24-mal Bekannte (wenn man alle Opfer der beiden Pflegehelferinnen zählt erhöht sich die Zahl der „Bekannten“ dramatisch). Die Gegenüberstellung in Tab. 4 zeigt einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Vorliegen bzw. Fehlen einer psychiatrischen Diagnose und der Person des Opfers (χ2 (3) = 9,1; p < 0,05): Täter mit psychiatrischer Diagnose töten wesentlich häufiger völlig unbekannte Personen (beinahe die Hälfte der Opfer war den Tätern völlig unbekannt), als Täter ohne psychiatrischer Diagnose. Zur Tötung von unbekannten Personen kommt es hauptsächlich bei Raubmord, Tötung bei Einbruch, sexueller Aversionstat und beim Streit unter Alkohol; nur vereinzelt kommen solche Taten aber auch bei psychiatrisch unauffälligen Tätern vor. Insgesamt gilt aber, dass bei Tötungen, die
von Personen ohne psychiatrische Diagnose begangen werden, die Opfer eher aus dem Partner- oder Familienbereich stammen, während bei psychiatrisch auffälligen Tätern Tötungen von unbekannten Personen viel häufiger sind. Tathergang. Eine weitere interessante Unterscheidung von Tötungen bezieht sich darauf, wie die Tat durchgeführt wurde. Eine deskriptive Darstellung der Häufigkeit der in unserem Patientengut gefundenen Tötungsarten wird in Abb. 1 gegeben. Für den Tathergang ist ebenfalls ein Zusammenhang mit dem Vorliegen oder Fehlen einer psychiatrischen Diagnose zu bemerken: Tötungen durch Erstechen, Erschießen, oder kombinierte Tötungen werden weit überwiegend von psychiatrisch auffälligen Probanden verübt (eine Kombination von mehreren Angriffsarten fand sich mit einer einzigen Ausnahme nur bei Tätern mit psychiatrischer
Tab. 3 Konfliktsituation und Diagnose bei weiblichen Tätern Diagnose Konfliktsituation
Keine
Persönlichkeits störung
Alkoholismus/Poly toxikomanie
Beides
Summe (%)
Partnertötung asoziale Partnerschaft Tötung von Familienmitgliedern Streit unter Alkohol Raubmord Tötung bei Einbruch Sexualtat Sexuelle Aversionstat Sonstiges Summe (%)
2 0 1 0 0 0 0 0 3 6 (46,2)
0 0 2 0 2 0 0 0 0 4 (30,8)
0 0 1 1 0 0 0 0 0 2 (15,4)
0 0 0 0 1 0 0 0 0 1 (7,7)
2 (15,4) 0 4 (30,7) 1 (7,7) 3 (23,1) 0 0 0 3 (23,1) 13 (100)
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Tab. 4 Vorliegen einer psychiatrischen Diagnose und Opfer Opfer Vorliegen einer psychiatrischen Diagnose
PartnerIn
Familienmitglied
Bekannte Person
Unbekannte Person
Summe (%)
Nein Ja Summe (%)
16 20 36 (29,8)
6 7 13 (10,7)
7 17 24 (19,8)
8 40 48 (39,7)
37 (30,6) 84 (69,4) 121 (100)
Diagnose). Tötungen durch Gift geschahen häufiger von Täter(inne)n ohne psychiatrische Diagnose (es gibt allerdings nur 4 solche Fälle); Tötungen durch Erschlagen sind ebenfalls vergleichsweise häufiger bei Tätern ohne psychiatrische Diagnose. Zu erwähnen ist, dass bei den fünf Frauen, die „Beihilfe“ zur Tötung begingen, männliche Komplizen mit Erschlagen oder Erstechen gegen das Opfer vorgingen. Alkoholisierung. Annähernd die Hälfte der Täter (50,4%) war zur Tatzeit alkoholisiert. Bei Partnertötung war der Anteil der Taten unter Alkoholeinfluss noch etwas höher: etwa zwei Drittel der Täter waren dabei alkoholisiert. Bei der Konfliktsituation „Streit unter Alkohol“ waren naturgemäß alle Täter alkoholisiert, ebenso bei den sexuellen Aversionstaten. Zum Beispiel bedrängte eine alkoholisierte homosexuelle Person eine heterosexuelle Person, die wiederum wohl ebenfalls durch alkoholische Enthemmung überreagierte und den Freier tödlich abwies. Es waren aber auch von den 28 Raubmördern 10 alkoholisiert sowie die Hälfte bei „Tötung bei Einbruch“. Vorstrafen. Von den 37 Tätern ohne Diagnose hatten nur 8 Vorstrafen (21,6%), während von den Tätern mit psychiatrischer Diagnose etwa zwei Drittel (57, d. h. Abb. 1 Tathergang bei 121 Tötungsdelikten
67,9%) vorbestraft waren. Es bestand damit ein signifikanter Zusammenhang zwischen Diagnose und Vorstrafe (χ2 (1) = 20,1; p < 0,001).
Statistische Erhebungen des Bundesministeriums für Justiz Um einen Vergleichsrahmen für unser Probandengut zu geben, ist eine Darstellung der Häufigkeit von unterschiedlichen Delikten in Österreich nützlich. Herrn Sektionschef a. D. Dr. M. Neider ist für die Übermittlung der Statistik des Bundesministeriums (BM) für Justiz zu danken, in der alle Verurteilungen nicht fahrlässiger Tötungsdelikte (bzw. Tötungsversuche) gem. dem Österreichischen StGB aus den Jahren 2001 bis 2005 aufscheinen. Zahlenmäßig von Bedeutung erscheint nur §75 StGB (Mord) sowie §76 StGB (Totschlag). Auffällig ist, dass gemäß §75 etwa 60% auf vollendeten und nur etwa 40% auf versuchten Mord entfallen, während sich dieses Verhältnis bei Totschlag umkehrt: der Versuch (knapp 60%) überwiegt hier gegenüber der Vollendung (gut 40%). Wesentlich erscheint aber, dass laut
40 39
Häufigkeit
30
26 20
22 17
10 10
4
3
0 Erstechen
Erschiessen
Erschlagen
Erwürgen Tötung durch
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Vergiften
kombiniert
Sonstige
Tötungsdelinquenten im Normalvollzug unter besonderer Berücksichtigung psychiatrisch unauffälliger Mörder
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Tab. 5 Delikthäufigkeit laut Österreichischem Bundesministerium für Justiz Jahr Delikt
Summe
2001
2002
2003
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Mord (§75 StGB) davon Versuch Totschlag (§76 StGB) davon Versuch Tötung auf Verlangen (§77 StGB) Mitwirkung am SM (§78 StGB) Tötung eines Kindes bei der Geburt (§79 StGB) Summe
244 98 24 14 0 2 6 276
44 15 6 3 0 0 3 53
50 18 6 3 0 0 1 57
65 32 6 3 0 0 1 72
36 12 3 2 0 0 1 40
49 21 3 3 0 2 0 54
dieser Statistik die Verurteilungen wegen Totschlag bzw. Totschlagversuch annähernd ein Zehntel im Vergleich zu Verurteilungen wegen Mord bzw. Mordversuch ausmachen (Tab. 5).
Diskussion Das Hauptinteresse dieser Untersuchung ist die Ermittlung der Häufigkeit sowie der Charakteristiken von „psychiatrisch unauffälligen“ Tötungsdelinquenten im Normalvollzug. Ein Vergleich mit der Statistik des Bundesminsiteriums für Justiz ergibt, dass im eigenen Probandengut diese mit ca. 31% vermutlich unterpräsentiert sind. Im eigenen Probandengut ist Totschlag nur mit einem Fall vertreten, alle anderen Fälle wurden gem. §75 (Mord, bzw. Mordversuch) verurteilt. Es liegt an der Definition des Totschlages (siehe Anhang), dass diese Tätergruppe wahrscheinlich am wenigsten psychische Störungen aufweist. Totschläger im Sinne des §76 des Österreichischen StGB (siehe Anhang) haben oft Ähnlichkeiten mit dem „Affekttäter“ in Deutschland [10], doch sind Affekttäter nach deutscher Rechtsprechung und „Totschläger“ nach österreichischer Rechtsprechung letztlich doch unterschiedlich. Ferner scheinen im eigenen Probandengut (s. Tab. 1) nur etwa 15% Fälle des versuchten Mordes, aber etwa 85% Fälle des vollendeten Mordes auf. In der Statistik des BM für Justiz hingegen betragen die Verurteilungen wegen versuchten Mordes 40%. Dies legt den Schluss nahe, dass Personen, die wegen Totschlag verurteilt wurden, bzw. solche, die wegen versuchten Mordes verurteilt werden, weniger häufig vor einer bedingten Entlassung einer psychiatrischen Prognosebegutachtung zugeführt werden als Täter, die wegen vollendeten Mordes gem. §75 StGB verurteilt wurden. Wahrscheinlich ist somit die Anzahl von psychiatrisch unauffälligen Tötungsdelinquenten
im Normalvollzug höher als im vorliegenden Probandengut und beträgt vermutlich mehr als ein Drittel. In der bereits erwähnten älteren eigenen Untersuchung [5, 6], die an Untersuchungshäftlingen vorgenommen wurde, war das Verhältnis vollendeter Mord zu versuchtem Mord ähnlich wie in Tab. 5. „Psychiatrisch unauffällige“ Täter haben nach unseren Daten hauptsächlich aus Konflikten im Zusammenhang mit persönlichen und intimen Beziehungen Angehörige angegriffen. Zumindest bei den Männern kommen aber auch andere Motiv gelegentlich vor. Es fehlen zwar im eigenen Probandengut Sexualmörder ohne psychiatrischen Befund, denkt man aber an Kriegsgräuel, dann ist zwingend anzunehmen, dass es auch Sexualmörder ohne psychiatrische Diagnose geben muss. Wie die beiden vorgestellten Pflegehilfskräfte zeigen, kann auch bei psychiatrisch unauffälligen Personen, wenn die Hemmschwelle einmal überschritten ist, Grausamkeit und Sadismus durchbrechen. Empathie, Mitleidsfähigkeit, Altruismus und andere Charaktereigenschaften, die den Tötungsimpuls hemmen können, sind offenbar auch bei psychisch gesunden Personen bisweilen nicht oder nur in Ansätzen vorhanden, bzw. ist der (zeitweilige) Verlust dieser Eigenschaften sicher nicht als an sich pathologisch einzustufen. Dies kann u.U. Tötungshandlungen im Krieg erklären, die von Menschen, die bisher völlig unauffällig und sozial angepasst waren, unter dem Druck von extremen äußeren Umständen begangen werden. So kann es selbst bei psychiatrisch unauffällige Personen, die sonst durchaus empathiefähig sind, unter entsprechenden Bedingungen zur Überwindung der Tötungshemmung kommen (siehe auch [4] zum Empathiebegriff). Die sozialpsychologischen Experimente von Stanley Milgram [7] zum Gehorsam wurden ja oft auch in diese Richtung interpretiert: dass ganz gewöhnliche Menschen, die nur ihre Aufgabe erfüllten ohne dabei persönliche Feindschaft zu empfinden, zu Tötungshandlungen veranlasst werden könnten.
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Im psychiatrischen Schrifttum findet sich über das Problem der Tötungsdelinquenz durch psychiatrisch unauffällige Personen nahezu nichts. In einer Untersuchung [3] wird bei 50 Tötungsdelinquenten angegeben, dass 7 (14%) keine Diagnose hatten. Es handelte sich um Untersuchungshäftlinge, die alle des vollendeten Mordes beschuldigt waren. Wie eingangs erwähnt, ist aber zu bedenken, dass die Konflikte, die Tat und die Strafandrohung eine schwere Belastung darstellen und durch eine Anpassungsstörung, die auf die Tat bzw. den Konflikt zurückgeht, eventuell der Anschein einer lang zurückreichenden psychiatrischen Auffälligkeit entstehen kann. Bei Prognosebegutachtungen von Personen, die gemäß §21 Absatz 2 des Österreichischen StGB als zurechnungsfähige, aber hochgradig geistig bzw. seelisch abartige Personen neben Strafe auch zu einem Maßnahmevollzug (entspricht dem Maßregelvollzug in Deutschland; siehe Anhang) eingewiesen wurden, tauchen aus diesem Grund manchmal viele Jahre nach der Tat wieder Zweifel an der Richtigkeit der Einweisungsdiagnose auf. Auf die Problematik, dass Tötungen auch von psychisch ungestörten Menschen durchgeführt werden können, geht vor allem Buss ein [1]. Sein Buch ist zwar populärwissenschaftlich für ein breites Publikum angelegt, doch bringt er aus Sicht der evolutionären Psychologie Argumente für die sogenannte „Normalität“ des Tötens vor. Eine österreichische Fernsehjournalistin hat das Thema ebenfalls aufgegriffen und eine umfassende Untersuchung zu diesem Problem publiziert [2], die allerdings die Möglichkeiten von Psychiatern weit überfordert. Insgesamt existieren in der Literatur aber eher Behauptungen und Annahmen als empirische Belege zu dieser Frage.
7 Interessenkonflikt Es besteht kein Interessenkonflikt.
Anhang Die nicht fahrlässigen Tötungsdelikte im Österreichischen StGB Mord (§75) Wer einen anderen tötet, ist mit Freiheitsstrafe von 10 bis 20 Jahren oder mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe zu bestrafen. Totschlag (§76) Wer sich in einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung dazu hinreißen lässt, einen anderen zu töten, ist mit Freiheitsstrafe von 5 bis 10 Jahren zu bestrafen. Tötung auf Verlangen (§77) Wer einen anderen auf ernstliches und eindringliches Verlangen tötet, ist mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis 5 Jahren zu bestrafen.
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W. Laubichler und A. Kühberger
Mitwirkung zum Selbstmord (§78) Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis 5 Jahren zu bestrafen. Tötung eines Kindes bei der Geburt (§79) Eine Mutter, die das Kind während der Geburt oder so lange sie noch unter der Einwirkung des Geburtsvorganges steht, tötet, ist mit Freiheitsstrafe von 1 bis 5 Jahren zu bestrafen.
Verhängung von freiheitsentziehenden vorbeugenden Maßnahmen im Österreichischen StGB § 21 (1) Begeht jemand eine Tat, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist, und kann er nur deshalb nicht bestraft werden, weil er sie unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes (§11) begangen hat, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht, so hat ihn das Gericht in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wenn nach seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Tat zu befürchten ist, dass er sonst unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde. (2) Liegt eine solche Befürchtung vor, so ist in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher auch einzuweisen, wer, ohne zurechnungsunfähig zu sein, unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höheren Grad eine Tat begeht, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist. In einem solchen Fall ist die Unterbringung zugleich mit Ausspruch über die Strafe anzuordnen.
Unterbringung in einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher im Österreichischen StGB §22 (1) Wer dem Missbrauch eines berauschenden Mittels oder Suchtmittels ergeben ist und wegen einer im Rausch oder sonst im Zusammenhang mit seiner Gewöhnung begangenen strafbaren Handlung oder wegen Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung (§287) verurteilt wird, ist vom Gericht in eine Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher einzuweisen, wenn nach seiner Person und nach der Art der Tat zu befürchten ist, dass er sonst im Zusammenhang mit seiner Gewöhnung an berauschende Mittel oder Suchtmittel eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen oder doch mit Stra-
Tötungsdelinquenten im Normalvollzug unter besonderer Berücksichtigung psychiatrisch unauffälliger Mörder
fe bedrohten Handlungen mit nicht bloß leichten Folgen begehen werde. (2) Von der Unterbringung ist abzusehen, wenn der Rechtsbrecher mehr als zwei Jahre in Strafhaft zu verbü-
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ßen hat, die Voraussetzung für seine Unterbringung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher vorliegen oder der Versuch einer Entwöhnung von vornherein aussichtslos scheint.
Literatur 1. Buss DM (2007) Der Mörder in uns. Warum wir zum Töten programmiert sind. Elsevier/Spektrum, Heidelberg 2. Frank D (2006) Menschen töten. Patmos, Düsseldorf 3. Griebnitz E, Rothuber H, Mühlbacher D, Mitterauer B (2006) Kommunikative Qualifikation von Tötungsdelikten als Aggressionstötung und Verwerfungstötung. 13. Forensisch-psychiatrische Tagung Wien, Kongressband 4. Kröber H-L (2008) Empathie. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 2:137–138
5. Laubichler W, Ruby M, Spielmann A (1988) Über die Tötungsdelinquenz mit besonderer Berücksichtigung von Alkoholisierung und tageszeitlicher Bindung. Arch Kriminol 181:172–182 6. Laubichler W, Ruby M (1991) Tageszeitliche Bindungen kriminellen Verhaltens unter Berücksichtigung einer gleichzeitigen Alkoholisierung. Blutalkohol 28:279–286 7. Milgram S (1963) Behavioral study of obedience. J Abnorm Soc Psychol 67:371–378
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Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:318–328 DOI 10.1007/s11757-009-0016-0
Martin Rettenberger Kathrin Gaunersdorfer Frank Schilling Reinhard Eher
The prediction of sexual offender recidivism risk using the Sexual Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) and the SORAG-Screening Version (SORAG-SV): Differential and predictive validity
7 Zusammenfassung Der Sex Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) gilt als einer der prominentesten Vertreter aktuarischer Kriminalprognosemethoden für Sexualstraftäter, dessen Anwendung bei entsprechenden prognostischen Fragestellungen als state of the art bezeichnet werden kann. Neben Kennwerten der Beurteilerübereinstimmung und der konvergenten Validität werden in der vorliegenden Arbeit Indizes der differentiellen und prädiktiven Validität für
Eingegangen: 19. Februar 2009 Angenommen: 10. August 2009 Online publiziert: 26. September 2009 Dr. M. Rettenberger ()) · K. Gaunersdorfer, Mag. · F. Schilling, Mag. · Priv.-Doz. Dr. R. Eher Begutachtungs- und Evaluationsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter (BEST) Gerichtsgasse 6 1210 Wien, Österreich Tel.: +43-127-8530034 Fax: +43-127-8530032 E-Mail:
[email protected]
Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4 2009
O r i g i n a l ar b e i t
Die Vorhersage der Rückfälligkeit entlassener Sexualstraftäter mittels des Sexual Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) und dessen Screening-Version (SORAG-SV): Darstellung der differentiellen und prädiktiven Validität
den SORAG sowie einer Screening Version des SORAG (SORAG-SV) vorgestellt, deren Bewertung – vorausgesetzt sie wird vom erfahrenen forensischen Psychologen oder Psychiater angewandt – ausschließlich auf Akteninformationen basieren kann. Nach Überprüfung der konvergenten Validität wurde anhand einer repräsentativen Stichprobe männlicher Sexualstraftäter (N = 519) nach einem durchschnittlich ca. 3½-jährigen Nachbeobachtungszeitraum die prädiktive Validität von SORAG und SORAG-SV überprüft. Zudem wurde die differentielle Validität der Instrumente erhoben, indem die Vorhersagegüte für unterschiedliche Subgruppen, die unter Verwendung forensisch relevanter Moderatorvariablen gebildet wurden, untersucht wurde. Dabei wurde die Gesamtstichprobe anhand der Altersvariable, des Index-Delikts sowie des Dissozialitätsausmaßes in Subgruppen mit unterschiedlichen Ausprägungsgraden unterteilt. Sowohl SORAG als auch SORAG-SV zeigten überwiegend zufriedenstellende Validitätsindizes, die Prognosegüte variierte allerdings je nach Subgruppe und vorhergesagter Rückfallkategorie.
7 Abstract The Sex Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) is one of the most important actuarial risk assessment instruments for sexual offenders. In the meantime, the application of actuarial instruments in recidivism risk assessment for sexual offenders is regarded as state of the art. In addition to results about interrater reliability and concurrent validity we present results about the differential and predictive validity of the SORAG and a screening version of the SORAG (SORAG-SV), which relies only on file information. In order to examine the predictive validity, we used a representative sample of 519 male sexual offenders released from a prison sentence served in one of Austrian´s prisons with a mean follow-up period of 3½ years. Furthermore, we tested the differential validity by dividing the whole sample in different subsamples regarding age, index offense type, and degree of antisociality. Both SORAG and SORAG-SV showed predominantly good predictive accuracy which, however, varied depending on offender subgroup and recidivism category.
7 Schlüsselwörter
assessment · Sexual offender · Validity · Recidivism
SORAG · Kriminalprognose · Sexualstraftäter · Validität · Rückfälligkeit
7 Keywords SORAG · Risk
Die Vorhersage der Rückfälligkeit entlassener Sexualstraftäter mittels des Sexual Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) und dessen Screening-Version (SORAG-SV):
Einleitung Statistisch-nomothetischen oder aktuarischen Prognosemethoden zur Einschätzung der Gefährlichkeit und Rückfallwahrscheinlichkeit verurteilter Sexualstraftäter wurde zuletzt auch im deutschsprachigen Raum zunehmend mehr Bedeutung eingeräumt [8, 34, 38]. Sie stellen somit trotz mancher methodenimmanenter Nachteile aufgrund zahlreicher Vorteile einen wichtigen Bestandteil der Prognosebegutachtung bei (Sexual-)Straftätern dar [5]. Für Sexualstraftäter sind die bekanntesten Vertreter dieser Methodengruppe der Rapid Risk Assessment for Sexual Offense Recidivism (RRASOR [19]), der Static-99 [20] sowie der Sex Offender Risk Appraisal Guide (SORAG [31]). Mittlerweile liegen für alle diese Instrumente und deren Manuale deutschsprachige Versionen und Adaptationen vor, die überwiegend zufriedenstellende Reliabilitäts- und Validitätswerte zeigten [11, 34]. Neben ihrer zufriedenstellen Vorhersagegüte liegt ein weiterer Nutzen derartiger Instrumente darin, dass sie eine empirisch ermittelte Grundlage für die Verteilung der in der Regel nur beschränkt vorhandenen Ressourcen darstellen und somit ein rückfallgefährdungsorientiertes Risikomanagement bei der Betreuung und Behandlung sicherstellen können [1]. Bislang orientieren sich derartige Entscheidungen oftmals nicht an fachlichen Standards, sondern an mehr oder weniger willkürlich festgelegten Cut-offs. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht der SORAG sowie eine Screening Version des SORAG (SORAG-SV), deren Konstruktion unter anderem auf Empfehlungen der Autoren des kanadischen Originals für den Fall einer nicht ausreichenden Datenlage bei der Anwendung des SORAG zurück geht. Der SORAG selbst stellt eine Modifikation des Violence Risk Appraisal Guide (VRAG [31]) dar und wurde konzipiert, um gewalttätige (inklusive sexuell motivierte) Rückfälle entlassener Sexualstraftäter vorherzusagen [31, 33]. Im Jahre 2007 wurden das Instrument und die zugehörigen Bewertungsregeln an den deutschsprachigen Begutachtungskontext adaptiert [32]. Bedingt durch die Unterschiede zwischen dem nordamerikanischen und deutschen Sprachraum, aber auch durch die Weiterentwicklung des Diagnosemanuals DSM, bestand die Notwendigkeit, Veränderungen an einzelnen Definitionen und Hier ist z. B. die Entscheidungsfindung, wer im Zuge des „Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ vom 26.01.1998 einer Behandlungsuntersuchung zugeführt werden muss, zu nennen: Es gilt die Bestimmung, dass alle Täter mit einer Straflänge über zwei Jahren entsprechend geprüft werden müssen, obwohl die Straflänge weder mit Gefährlichkeit noch mit Rückfallgefahr assoziiert ist. Der VRAG wurde zur Vorhersage gewalttätiger Rückfälle entlassener Täter aus Straf- und Maßregelvollzug entwickelt; neben der Originalpublikation [31] finden sich auch in deutschsprachigen Übersichtsarbeiten eine ausführliche Darstellung des Instruments [27].
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Operationalisierungen vorzunehmen. Die 14 Items des SORAG in der deutschsprachigen Version lauten demnach: Zusammenleben mit beiden biologischen Eltern (mindestens) bis zum 16. Lebensjahr, Schulprobleme, Alkoholmissbrauch, Beziehungsstatus, (allgemeine, gewalttätige und sexuell motivierte) Vordelinquenz, Opfercharakteristika, Verstöße gegen Weisungen und Auflagen, Alter sowie vier psychopathologische Variablen (Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie, sexuelle Devianz und Psychopathy nach Hare [24]), deren Bewertung eine ausführliche klinische Diagnostik voraussetzen. Der SORAG wurde sowohl im nordamerikanischen als auch im europäischen Raum einer Reihe von Validierungsstudien unterzogen und lieferte fast ausschließlich zufriedenstellende Vorhersageergebnisse [2, 10, 23, 28, 33]. Da aufgrund des Strafrechtsänderungsgesetzes (StRÄG) 2008 vulgo „Haftentlastungspaket“ in Österreich zuletzt eine erhöhte Notwendigkeit ökonomisch anwendbarer Prognosemethoden bestand, wurde von unserer Arbeitsgruppe der Versuch unternommen, eine aktenbasierte Screening Version des SORAG (SORAGSV) zu entwickeln. Um dies gewährleisten zu können, mussten zunächst manche Items adaptiert bzw. zum Teil – wenn eine aktenbasierte Adaption überhaupt nicht möglich erschien – entfernt werden. Entsprechend unseren Erfahrungen über die Inhalte des zugrundeliegenden Aktenmaterials verzichteten wir auf die Variablen „Zusammenleben mit beiden biologischen Eltern (mindestens) bis zum 16. Lebensjahr“, “Schulprobleme” und “Alkoholmissbrauch”. Hingegen wurden drei der insgesamt vier psychopathologischen Variablen (Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie und sexuelle Devianz), deren Bewertung eigentlich eine ausführliche klinische Diagnostik voraussetzen, an die zur Verfügung stehende Informationslage adaptiert: Die Items werden in der Screening-Version nicht anhand klinischdiagnostischer Befunde bewertet, sondern anhand von Hinweisen, die forensische Psychologen und Psychiater aus den jeweils zur Verfügung stehenden Unterlagen extrahieren können. So wird beispielsweise das Item „Sexuelle Devianz“ dann mit „liegt vor“ bewertet, wenn auf der Basis der in Anklageschrift und/oder Urteil dargestellten sexuellen Verhaltensweisen eine entsprechende Einschätzung im Sinne eines klinischen Screenings als
So ist nun vor jeder Entscheidung über die bedingte Entlassung eines Sexualstraftäters obligatorisch eine kriminalprognostische Stellungnahme der Begutachtungs- und Evaluationsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter (BEST) einzuholen, der allerdings gleichzeitig per definitionem keine Begutachtung des Täters zugrunde liegen kann, sondern die sich auf Vollzugsinformationen und – nach der Definition eigener Standards – auf reliable Methoden zur Abschätzung des Basisrisikos beschränken muss [14].
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naheliegend angenommen werden kann. Auf die Bewertung des Items “psychopathy” wurde verzichtet, da für die Erhebung dieser psychopathologischen Variable anhand der Psychopathy Checklist-Revised (PCL-R [24]) oder alternativ der Childhood and Adolescent Taxon Scale (CATS [31]) das Aktenmaterial in der Regel nicht ausreicht. Um in einem ersten Schritt die für den SORAG vorgeschlagenen Risikokategorien und Normwerte auch bei der Screening-Version anwendbar zu machen, wurde der SORAG-SV-Gesamtscore mittels eines, ursprünglich für den SORAG in seiner Originalform konzipierten, einfachen Algorithmus korrigiert [31, 32].
Fragestellungen Neben der Darstellung der Interraterreliabilität und der konvergenten Validität der SORAG-SV war das Hauptziel der vorliegenden Studie die Überprüfung der prädiktiven und der differentiellen Validität von SORAG und SORAG-SV. Die konvergente Validität wurde unter anderem dadurch überprüft, indem SORAG-SV-Werte mit den Prognoseurteilen, die anhand des Static-99 [20], der als das meist verwendete und am Besten validierte Prognoseinstrument für Sexualstraftäter [12, 23] gilt, korreliert wurden. Neben einer zufriedenstellenden Interraterreliabilität und konvergenten Validität wurde erwartet, dass sowohl SORAG als auch SORAG-SV eine zufriedenstellende prädiktive Validität im Sinne der gängigen Interpretationsrichtlinien [6] aufweisen, wobei gleichzeitig angenommen wurde, dass aufgrund der Itemreduzierung die Validitätsindizes der Screening Version möglicherweise niedriger ausfallen. Im Hinblick auf die differentielle Validität wurde erwartet, dass die Vorhersagegüte beider Prognoseverfahren bei unterschiedlichen Subgruppen nicht signifikant variierte.
Methode Datenerhebung und Datenauswertung Die zum unmittelbaren Vergleich der prädiktiven Validität von SORAG und SORAG-SV notwendigen Daten Falls vorhanden werden aufgrund der besseren Operationalisierung formale Bewertungskriterien gegenüber einer lediglich intuitiven Erfassung des Konstrukts bevorzugt. In Bezug auf die Einschätzung der sexuellen Devianz sei hier die Screening Scale for Pedophilic Interests (SSPI [37]) genannt, ein lediglich aus vier einfach zu erhebenden Items bestehendes Screening Instrument zur Identifizierung pädosexueller Interessen, das zur Bewertung der sexuellen Devianz im Sinne der SORAG-SV verwendet werden kann.
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M. Rettenberger et al.
wurden im Zuge eines prospektiv-längsschnittlichen Studienprojekts von forensisch erfahrenen und im Umgang mit aktuarischen Prognoseinstrumenten theoretisch und praktisch geschulten Mitarbeitern erhoben [14]. Das Konstrukt „Rückfälligkeit“ wurde anhand unterschiedlicher Kriterien erfasst [27]: Zunächst wurde nach den üblichen Deliktcharakteristika zwischen allgemeiner (jede neuerliche Eintragung im Strafregisterauszug, ohne Einschränkung auf bestimmte Delikttypen), einschlägiger (sexuell motivierter) und gewalttätiger (inklusive bzw. exklusive sexuell motivierter) Rückfälligkeit unterschieden. Des Weiteren wurde im Hinblick auf die Sanktionierung zwischen den beiden Kriterien „Verurteilung allgemein“ und „Verurteilung zu einer Haftstrafe“ differenziert, um auch die Schwere der Rückfalltat zu erfassen. Außerdem wurde das Rückfallkriterium „Schwere gewalttätige Rückfälligkeit“ definiert, das sowohl gewalttätige als auch sämtliche sexuell motivierte “Hands-on”-Delikte berücksichtigt, mit der zusätzlichen Forderung, dass diese zur Verhängung einer Freiheitsstrafe führten. Aus den Original-SORAG-Daten wurden die für die Ermittlung des SORAG-SV notwendigen Daten extrahiert, indem ausschließlich die Itembewertungen der zehn SORAG-SV-Items zum Gesamtscore verrechnet wurden (mit entsprechender Gesamtscore-Korrektur, wie von den Autoren der Originalversion angegeben). Die auf diese Weise konstruierten SORAG-SV-Daten der Stichprobe II stellen freilich lediglich eine – wenngleich aus unserer Sicht legitime – Annäherung an den korrekt ermittelten SORAG-SV-Wert dar, da auf konkrete Begutachtungsdaten zurückgegriffen wurde, während bei einer ganz korrekten Anwendung der SORAGSV diese nur anhand von Akteninformationen abgeschätzt werden können. Die Indizes der Interraterreliabilität und der konvergenten Validität wurden anhand von Intraklassenkorrelationen (ICC) bzw. von Produkt-Moment-Korrelationen quantifiziert. Aufgrund ihrer besonderen Eignung bei der Berechnung prädiktiver bzw. differentieller Validitätsindizes [6, 35] wurden die aus den ROC-Analysen (Analysen der Receiver Operation Characteristics) resultierenden AUC-Werte (Maßzahlen für die Area Under Curve) unter Verwendung des Programms Statistical Package for the Social Sciences (SPSS) 11.0 berechnet. Unter Verwendung der z-Statistik für unabhängige ROC-Kurven wurden Unterschiede zwischen den AUC-Werten unter Zuhilfenahme des Programms MedCalc, Version 10.4.0.0, auf Signifikanz hin überprüft [17, 18]. Zur Interpretation der Validitätsindizes wurden die folgenden Kriterien herangezogen [4, 6]: Demnach ist die prädiktive Validität bei Werten von AUC ≥ 0,72 als „hoch“, bei AUC ≥ 0,64 als “moderat” und bei darunter liegenden, signifikanten Werten als „schwach“ einzustufen.
Die Vorhersage der Rückfälligkeit entlassener Sexualstraftäter mittels des Sexual Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) und dessen Screening-Version (SORAG-SV):
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Tab. 1 Beschreibung der Stichprobe II anhand relevanter kriminologischer Variablen
Alter zum Zeitpunkt der Entlassung in Jahren** Bisherige Haftdauer aufgrund des IndexDelikts in Monaten Anteil vorbestrafter Probanden** Gesamtanzahl der Vordelikte* Gewalttätige (nicht sexuell motivierte) Vordelikte* Sexuell motivierte Vordelikte Nachbeobachtungszeitraum in Monaten (Mindestzeitraum 12 Monate) *
Gesamtstichprobe (N = 519)
Vergewaltigungstäter (n = 229)
Pädosexuelle Täter (n = 268)
M = 41,43 (SD = 13,38, Min = 18, Max = 72) M = 29,64 (SD = 28,77, Min = 1, Max = 247) 53,1% (n = 276) M = 3,72 (SD = 5,99, Min = 0, Max = 38) M = 1,25 (SD = 2,59, Min = 0, Max = 16) M = 0,41 (SD = 1,51, Min = 0, Max = 17) M = 42,23 (SD = 17,16, Min = 13,13, Max = 86,03)
M = 36,35 (SD = 10,98, Min = 18, Max = 69) M = 27,36 (SD = 24,26, Min = 1, Max = 161,23) 63,5% (n = 146) M = 3,97 (SD = 5,52, Min = 0, Max = 27) M = 1,59 (SD = 2,73, Min = 0, Max = 14) M = 0,21 (SD = 0,63 Min = 0, Max = 5) M = 43,15 (SD = 17,26, Min = 13,13, Max = 85,00)
M = 45,86 (SD = 12,59, Min = 18, Max = 72) M = 28,59 (SD = 21,23, Min = 3, Max = 131,27) 41,4% (n = 111) M = 2,89 (SD = 5,42, Min = 0, Max = 30) M = 0,93 (SD = 2,36, Min = 0, Max = 16) M = 0,36 (SD = 1,09, Min = 0, Max = 8) M = 41,02 (SD = 17,08, Min = 13,23, Max = 86,03)
Der Unterschied zwischen der Subgruppe der Vergewaltiger und der Subgruppe der pädosexuellen Täter ist auf dem Niveau von 0,05 (1-seitig) signifikant. Der Unterschied zwischen der Subgruppe der Vergewaltiger und der Subgruppe der pädosexuellen Täter ist auf dem Niveau von 0,01 (1-seitig) signifikant.
**
Stichprobe I (Konvergente Validität) Als Stichprobe I dienten Akteninformationen von 386 ausschließlich männlichen Sexualtätern, die zwischen Januar und Oktober 2008 der Begutachtungs- und Evaluationsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter (BEST) gemeldet wurden. An dieser Stichprobe wurde der SORAG-SV korrekt wie oben beschrieben ausschließlich anhand von Akteninformationen erstellt. Diese Daten wurden schließlich zur Überprüfung der konvergenten Validität der SORAG-SV herangezogen. Das durchschnittliche Alter der Probanden betrug zum Zeitpunkt der Meldung M = 41,40 Jahre (Standardabweichung SD = 13,22 Jahre), wobei der jüngste Proband 16 und der älteste 79 Jahre alt war. Von den 386 Probanden wurden 46,7% (n = 180) wegen Vergewaltigungsdelikten verurteilt, 48,2% (n = 186) wurden wegen eines pädosexuellen Delikts verurteilt. Bei 1,1% (n = 4) war Grund der Meldung ein Hands-off-Delikt (z. B. Kinderpornographie oder Exhibitionismus), 4,2% (n = 16) wurden aufgrund eines sexuell assoziierten Tötungsdelikts verurteilt. Aufgrund dieser Index-Delikte wurden 2,3% (n = 9) aller Probanden zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, bei den verbleibenden 377 Sexualstraftätern betrug das Strafmaß durchschnittlich M = 50,33 Monate (SD = 44,60). Bei 38,1% (n = 147) wurde im Zuge der Index-Delikt-Verurteilung gemäß § 21 Abs. 2 des österreichischen Strafgesetzbuches (StGB) die Unterbrin Die Ergebnisse der konvergenten Validität des SORAG wurden bereits an anderer Stelle veröffentlicht [34]. Gemäß § 21 Abs. 2 StGB wird in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher untergebracht, wer, ohne zurechnungsunfähig zu sein, unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad eine Tat begeht, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist. Die Unterbringung ist jährlich zu prüfen und ist so lange zu vollziehen, wie es ihr Zweck erfordert.
gung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher angeordnet. Die durchschnittliche kriminelle Vorbelastung im Hinblick auf sexuell motivierte Straftaten betrug M = 0,46 (SD = 1,15, Min = 0, Max = 11) und im Hinblick auf nicht sexuelle motivierte Delikte M = 3,75 (SD = 5,67, Min = 0, Max = 32).
Stichprobe II (Differentielle und prädiktive Validität) Die 519 Sexualstraftäter dieser Stichprobe wurden zwischen Dezember 1983 und November 2006 in Österreich aufgrund einer sexuell motivierten Straftat rechtskräftig zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe verurteilt und im Zuge dieser Haftstrafe begutachtet. 44,0% (n = 229) wurden aufgrund von Vergewaltigungsdelikten und 51,6% (n = 268) aufgrund von pädosexuellen Straftaten verurteilt. Von den verbleibenden 4,2% (n = 22) Untersuchten wurden 1,7% (n = 9) aufgrund eines “Handsoff-”Delikts, 1,3% (n = 7) aufgrund eines sexuell assoziierten Tötungsdelikts und 1,2% (n = 7) aufgrund einer anderen sexuell motivierten Straftat verurteilt. In Tab. 1 sind die wichtigsten kriminologischen Daten zur Beschreibung dieser Stichprobe – sowohl für die Gesamtstichprobe (N = 519) als auch für die Subgruppen der Vergewaltigungstäter (n = 229) und der pädosexuellen Täter (n = 268) – dargestellt. Zur Überprüfung der differentiellen Validität wurde die Stichprobe II zudem anhand der aufgrund ihrer Bedeutung für die Rückfallprognose von Sexualstraftätern [9, 26, 29] ausgewählten Moderatorvariablen Alter und Grad der Dissozialität (der über Scorewerte des Faktors 2 der Psychopathy Checklist-Revised [24] ermittelt wurde) in jeweils drei annähernd gleich große Subgruppen
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M. Rettenberger et al.
Tab. 2 Rezidivraten der Gesamtstichprobe (N = 519) sowie der Subgruppen der Vergewaltigungstäter (n = 229) und der pädosexuellen Täter (n = 268) Rückfallkriterium
Gesamtstichprobe (N = 519)
Vergewaltigungstäter (n = 229)
Pädosexuelle Täter (n = 268)
Allgemeine Rückfälligkeit (Verurteilung) Allgemeine Rückfälligkeit (Haft) Sexuell motivierte Rückfälligkeit (Verurteilung) Sexuell motivierte Rückfälligkeit (Haft) Gewalttätige Rückfälligkeit (Verurteilung) Gewalttätige Rückfälligkeit (Haft) Gewalttätige (inkl. sexuell motivierte) Rückfälligkeit (Verurteilung) Gewalttätige (inkl. sexuell motivierte) Rückfälligkeit (Haft)
30,6% (n = 159) 21,8% (n = 113) 6,7% (n = 35)
38,0% (n = 87) 27,5% (n = 63) 3,5% (n = 8)
22,8% (n = 61) 14,9% (n = 40) 8,6% (n = 23)
6,6% (n = 34) 13,9% (n = 72) 9,6% (n = 50) 19,8% (n = 103)
3,5% (n = 8) 23,1% (n = 53) 16,6% (n = 38) 24,9% (n = 57)
8,2% (n = 22) 6,0% (n = 16) 3,4% (n = 9) 14,6% (n = 39)
15,8% (n = 82)
19,2% (n = 44)
11,6% (n = 31)
mit niedrigem, mittlerem und hohem Ausprägungsgrad der jeweiligen Variable unterteilt. Die drei Subgruppen unterschieden sich jeweils nicht signifikant in der Länge des Nachbeobachtungszeitraums.
Ergebnisse Rezidivraten, Interraterreliabilität und konvergente Validität Die Rezidivraten der 519 Probanden der Stichprobe II, anhand der die prädiktive und differentielle Validität von SORAG und SORAG-SV überprüft wurde, sind für die Gesamtstichprobe wie auch für beide Subgruppen in Tab. 2 dargestellt. Die Interraterreliabilität des SORAG wurde bereits im Zuge vorangegangener Untersuchungen empirisch überprüft [34]. Sie betrug ICC (im Folgenden jeweils Single Measure) = 0,93. Die Interraterreliabilität der SORAG-SV war mit einem ICC-Koeffizient von 0,97 ebenfalls sehr hoch (jeweils p < 0,001). Die konvergente Validität der SORAG-SV wurde anhand der Stichprobe I durch die Berechnung der Produkt-Moment-Korrelation zwischen den Gesamtscorewerten der SORAGSV und des Static-99 ermittelt. Die Korrelation betrug r = 0,78 (p < 0,001).
Differentielle und prädiktive Validität In Tab. 3 sind die Ergebnisse der prädiktiven Validität von SORAG und SORAG-SV für die Gesamtgruppe sowie für die beiden Subgruppen der Vergewaltigungstäter und der pädosexuellen Täter dargestellt. Sowohl bei der Gesamtstichprobe wie auch innerhalb der beiden
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Subgruppen fanden sich hinsichtlich der Vorhersageleistung zwischen SORAG und SORAG-SV keine signifikanten Unterschiede. Beide Instrumente wiesen für die Subgruppe der pädosexuellen Täter eine höhere Vorhersagegüte auf als für Vergewaltigungstäter. Für den SORAG traf dies beim Rückfallkriterium der allgemeinen Rückfälligkeit (Haft, z = 2,16, p < 0,05) sowie tendenziell bei der sexuell motivierten (Verurteilung, z = 1,83, p = 0,07) und der gewalttätigen (inkl. sexuell motivierten) Rückfälligkeit (Verurteilung, z = 1,70, p = 0,09) zu. Bei der Screening-Version war hinsichtlich dieser beiden Gruppen ein signifikanter Unterschied beim Kriterium der gewalttätigen Rückfälligkeit (Haft, z = 1,98, p < 0,05) sowie eine Tendenz beim Kriterium der allgemeinen Rückfälligkeit (Haft, z = 1,79, p = 0,07) zu verzeichnen. In den Tab. 4 und 5 folgen die Ergebnisse der differentiellen Validität bezüglich der Moderatorvariablen Alter und Dissozialität. Sowohl SORAG als auch SORAG-SV wiesen in der mittleren und hohen Altersgruppe signifikant bessere Validitätsindizes auf als in der jungen Tätergruppe. Im Vergleich zur jungen Sexualstraftätersubgruppe zeigte der SORAG bei der mittleren Altergruppe (tendenziell) signifikant bessere Vorhersageleistungen im Hinblick auf die Rückfallkriterien der gewalttätigen (Verurteilung, z = 3,08, p < 0,01; Haft, z = 1,86, p = 0,06) und der gewalttätigen (inkl. sexuell motivierten) Rückfälligkeit (Verurteilung, z = 2,67, p < 0,01; Haft, z = 2,44, p < 0,05). Auch bei der Gegenüberstellung der älteren mit der jüngeren Tätergruppe wies der SORAG signifikante Validitätsunterschiede auf: Bei den Rückfallkriterien der allgemeinen (Haft, z = 2,11, p < 0,05), der gewalttätigen (Verurteilung, z = 3,03, p < 0,01) und der gewalttätigen (inklusive sexuell motivierten) Rückfälligkeit (Verurteilung, z = 2,42, p < 0,05) zeigte der SORAG bei der Gruppe der älteren Sexualstraftäter signifikant bessere Vorhersageleistungen. Die differentielle Vali-
Die Vorhersage der Rückfälligkeit entlassener Sexualstraftäter mittels des Sexual Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) und dessen Screening-Version (SORAG-SV):
323
Tab. 3 AUC-Werte für SORAG-SV und SORAG für die Gesamtstichprobe II (N = 519) und die Subgruppen der Vergewaltigungstäter (n = 229) und der pädosexuellen Täter (n = 268) Rückfallkriterium
Allgemeine Rückfälligkeit (Verurteilung) Allgemeine Rückfälligkeit (Haft) Sexuell motivierte Rückfälligkeit (Verurteilung) Sexuell motivierte Rückfälligkeit (Haft) Gewalttätige Rückfälligkeit (Verurteilung) Gewalttätige Rückfälligkeit (Haft) Gewalttätige (inkl, sexuell motivierte) Rückfälligkeit (Verurteilung) Gewalttätige (inkl, sexuell motivierte) Rückfälligkeit (Haft)
Gesamtstichprobe (N = 519)
Vergewaltigungstäter (n = 229)
Pädosexuelle Täter (n = 268)
SORAG
SORAG-SV
SORAG
SORAG-SV
SORAG
SORAG-SV
0,76** (0,71−0,80) 0,76** (0,71−0,80) 0,72** (0,65−0,79) 0,71** (0,64−0,78) 0,74** (0,68−0,80) 0,76** (0,70−0,82) 0,74** (0,69−0,79) 0,75** (0,70−0,80)
0,75** (0,71−0,80) 0,76** (0,72−0,81) 0,71** (0,63−0,79) 0,69** (0,61−0,78) 0,75** (0,70−0,81) 0,76** (0,70−0,82) 0,74** (0,69−0,80) 0,75** (0,69−0,80)
0,71** (0,64−0,77) 0,70** (0,62−0,77) 0,64 (n.s.; 0,49−0,78) 0,64 (n.s.; 0,49−0,78) 0,69** (0,61−0,77) 0,72** (0,63−0,81) 0,69** (0,61−0,77) 0,72** (0,63−0,80)
0,71** (0,64−0,77) 0,70** (0,63−0,77) 0,68 (n.s., p = 0,08; 0,57−0,80) 0,68 (n.s., p = 0,08; 0,57−0,80) 0,70** (0,62−0,77) 0,70** (0,62−0,78) 0,70** (0,62−0,77) 0,70** (0,62−0,78)
0,77** (0,70−0,84) 0,81** (0,74−0,87) 0,79** (0,71−0,87) 0,77** (0,69−0,85) 0,80* (0,69−0,91) 0,79** (0,67−0,91) 0,78** (0,71−0,86) 0,78** (0,71−0,85)
0,75** (0,67−0,82) 0,79** (0,72−0,87) 0,76** (0,66−0,86) 0,74** (0,63−0,84) 0,79** (0,68−0,90) 0,83** (0,73−0,93) 0,76** (,68-,85) 0,77** (0,68−0,85)
Die Korrelation bzw. der AUC-Wert ist auf dem Niveau von 0,05 (1-seitig) signifikant. Die Korrelation bzw. der AUC-Wert ist auf dem Niveau von 0,01 (1-seitig) signifikant. n.s. = nicht signifikant 95%iges Konfidenzintervall in Klammern *
**
Tab. 4 AUC-Werte für SORAG-SV und SORAG für nach Alter differenzierte Teilstichproben (Tertile) in der Stichprobe II Rückfallkriterium
Allgemeine Rückfälligkeit (Verurteilung) Allgemeine Rückfälligkeit (Haft) Sexuell motivierte Rückfälligkeit (Verurteilung) Sexuell motivierte Rückfälligkeit (Haft) Gewalttätige Rückfälligkeit (Verurteilung) Gewalttätige Rückfälligkeit (Haft) Gewalttätige (inkl. sexuell motivierte) Rückfälligkeit (Verurteilung) Gewalttätige (inkl. sexuell motivierte) Rückfälligkeit (Haft)
Junge Sexualstraftäter (n = 173, M = 27,77, SD = 4,98, Min = 16, Max = 34)
Mittlere Altersgruppe (n = 173, M = 40,97, SD = 3,35, Min = 35, Max = 46)
Ältere Sexualstraftäter (n = 173, M = 56,08, SD = 7,02, Min = 47, Max = 72)
SORAG
SORAG-SV
SORAG
SORAG-SV
SORAG
SORAG-SV
0,71** (0,64−0,79) 0,68** (0,60−0,77) 0,65 (n.s., p = 0,07; 0,54−0,76) 0,66 (n.s., p = 0,07; 0,54−0,78) 0,61* (0,50−0,71) 0,66* (0,54−0,79) 0,63** (0,54−0,73) 0,67** (0,57−0,77)
0,72** (0,64−0,79) 0,69** (0,61−0,77) 0,67* (0,57−0,77)
0,73** (0,64−0,82) 0,76** (0,66−0,85) 0,78** (0,68−0,87) 0,76** (0,65−0,87) 0,82** (0,73−0,91) 0,81** (0,72−0,91) 0,81** (0,72−0,89) 0,83** (0,75−0,90)
0,71** (0,62−0,81) 0,76** (0,67−0,85) 0,77** (0,65−0,89) 0,75** (0,62−0,88) 0,81** (0,73−0,90) 0,80** (0,71−0,90) 0,79** (0,70−0,88) 0,81** (0,72−0,89)
0,74** (0,65−0,84) 0,81** (0,73−0,88) 0,73* (0,58−0,87) 0,72* (0,59−0,85) 0,81* (0,73−0,89) 0,79** (0,70−0,88) 0,79** (0,70−0,87) 0,78** (0,69−0,87)
0,72** (0,62−0,82) 0,79** (0,71−0,88) 0,69* (0,52−0,85) 0,70* (0,55−0,85) 0,77** (0,64−0,89) 0,80** (0,73−0,87) 0,75** (0,65−0,86) 0,77** (0,67−0,87)
0,65 (n.s., p = 0,08; 0,55−0,76) 0,63* (0,53−0,73) 0,65* (0,54−0,77) 0,65** (0,57−0,74) 0,66** (0,57−0,75)
Die Korrelation bzw. der AUC-Wert ist auf dem Niveau von 0,05 (1-seitig) signifikant. Die Korrelation bzw. der AUC-Wert ist auf dem Niveau von 0,01 (1-seitig) signifikant. n.s. = nicht signifikant 95%iges Konfidenzintervall in Klammern *
**
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324
M. Rettenberger et al.
Tab. 5 AUC-Werte für SORAG-SV und SORAG für nach Dissozialität (PCL-R, Faktor 2) differenzierte Teilstichproben (Tertile) in der Stichprobe II Rückfallkriterium
Allgemeine Rückfälligkeit (Verurteilung) Allgemeine Rückfälligkeit (Haft) Sexuell motivierte Rückfälligkeit (Verurteilung) Sexuell motivierte Rückfälligkeit (Haft) Gewalttätige Rückfälligkeit (Verurteilung) Gewalttätige Rückfälligkeit (Haft) Gewalttätige (inkl. sexuell moti vierte) Rückfälligkeit (Verurteilung) Gewalttätige (inkl. sexuell moti vierte) Rückfälligkeit (Haft)
Niedrige Dissozialität (n = 185, M = 3,71, SD = 1,69, Min = 0, Max = 6)
Mittlere Dissozialität (n = 185, M = 9,49, SD = 1,62, Min = 7, Max = 12)
Hohe Dissozialität (n = 141, M = 15,00, SD = 1,63, Min = 13, Max = 18)
SORAG
SORAG-SV
SORAG
SORAG-SV
SORAG
SORAG-SV
0,64* (0,50−0,79) 0,77** (0,64−0,91) 0,86** (0,72−0,99) 0,83* (0,67−0,98) 0,61 (n.s.; 0,34−0,88) 0,75 (n.s., 0,57−0,94) 0,70* (0,51−0,89) 0,81** (0,68−0,93)
0,60 (n.s.; 0,45−0,75) 0,72* (0,56−0,88) 0,70 (n.s., p = 0,10; 0,48−0,92) 0,63 (n.s.; 0,40−0,86)
0,59 (n.s., p = 0,06; 0,50−0,67) 0,61* (0,51−0,70) 0,72** (0,61−0,84) 0,71** (0,59−0,82) 0,58 (n.s.; 0,46−0,69) 0,59 (n.s.; 0,46−0,73) 0,62* (0,52−0,72) 0,66** (0,58−0,76)
0,60* (0,52−0,69) 0,63** (0,55−0,72) 0,68* (0,58−0,81) 0,68* (0,56−0,80) 0,63* (0,52−0,73) 0,64* (0,51−0,76) 0,64** (0,55−0,74) 0,67** (0,57−0,76)
0,68** (0,60−0,77) 0,63** (0,54−0,73) 0,63 (n.s.; 0,49−0,78) 0,62 (n.s.; 47−0,76)
0,70** (0,61−0,78) 0,66** (0,57−0,75) 0,67* (0,53−0,81)
0,76 (n.s., p = 0,08; 0,47−1,0) 0,90* (0,81−0,99) 0,67 (n.s., p = 0,07; 47−0,86) 0,71 (n.s., p = 0,06; 0,52−0,90)
0,63* (0,52−0,74) 0,61 (n.s., p = 0,06; 0,49−0,74) 0,64** (0,55−0,74) 0,62* (0,52−0,73)
0,64 (n.s., p = 0,10; 0,50−0,79) 0,61* (0,50−0,71) 0,57 (n.s.; 0,45−69) 0,64** (0,54−0,73) 0,61* (0,50−0,73)
Die Korrelation bzw. der AUC-Wert ist auf dem Niveau von 0,05 (1-seitig) signifikant. Die Korrelation bzw. der AUC-Wert ist auf dem Niveau von 0,01 (1-seitig) signifikant. n.s. = nicht signifikant 95%iges Konfidenzintervall in Klammern *
**
dität der SORAG-SV fiel bezüglich der Altersvariable ähnlich aus: Bei den Rückfallkriterien der gewalttätigen (Verurteilung, z = 2,82, p < 0,01; Haft, z = 2,08, p < 0,05) und der gewalttätigen (inkl. sexuell motivierten) Rückfälligkeit (Verurteilung, z = 2,17, p < 0,05; Haft, z = 2,30, p < 0,05) zeigte die SORAG-SV bei der mittleren Altersgruppe signifikant bessere Vorhersageleistungen als bei der jungen Sexualstraftätergruppe. Im Vergleich der älteren Subgruppe mit der jungen Tätergruppe wies die SORAG-SV tendenziell Unterschiede bei den Kriterien der allgemeinen (Haft, z = 1,72, p = 0,09) und der gewalttätigen Rückfälligkeit (Verurteilung, z = 1,68, p = 0,09) sowie einen signifikanten Unterschied beim Kriterium der gewalttätigen Rückfälligkeit (Haft, z = 2,09, p < 0,05) auf. Hinsichtlich der Moderatorvariable „Dissozialität“ wies die SORAG-Vollversion stärkere differentielle Effekte als die Screening Version auf. So zeigte die SORAGVollversion für die niedrige Dissozialitätsgruppe signifikant höhere Validitätsindizes als für die mittlere Dissozialitätsgruppe beim Rückfallkriterium der allgemeinen (Haft, z = 1,94, p < 0,05) sowie tendenziell bei der gewalttätigen (inkl. sexuell motivierten) Rückfälligkeit (Haft, z = 1,83, p = 0,07). Im Vergleich zur hohen Dissozialitätsgruppe zeigten sich Unterschiede hinsichtlich des Rückfallkriteriums der sexuellen (Verurteilung, z = 2,24, p < 0,01; Haft, z = 1,94, p < 0,05) und gewalttäti-
Forens Psychiatr Psychol Kriminol 4 2009
gen (inklusive sexuell motiviert; Haft, z = 2,50, p < 0,05) Rückfälligkeit. Auch die SORAG-SV zeigte in der niedrigen Dissozialitätsgruppe signifikant höhere Vorhersagewerte als in der mittleren (z = 3,36, p < 0,01) bzw. hohen (z = 4,29, p < 0,01) Dissozialitätsgruppe, allerdings lediglich beim Kriterium der gewalttätigen Rückfälligkeit (Haft).
Zusammenhang zwischen aktuarischer Vorhersage und Rückfälligkeit Für die praktische Anwendung von besonderer Relevanz ist der Zusammenhang zwischen den Prognoseurteilen der Instrumente und der zu erwartenden Rückfallwahrscheinlichkeit. In Tab. 6 sind die Rückfallraten der Gesamtgruppe sowie der beiden Subgruppen in Abhängigkeit von der jeweiligen Risikokategorie dargestellt. Die Darstellung beschränkt sich dabei einerseits aus Platzgründen, andererseits aufgrund der konzeptionellen und praktischen Relevanz auf das Rückfallkriterium Die bisher publizierten Normwerttabellen [11] waren aufgrund zum Teil kleiner Subgruppen und relativ kurzer Nachbeobachtungszeiträume in ihrer Aussagekraft beschränkt. Wie bereits dargestellt handelt es sich bei der gewalttätigen (inklusive sexuell motivierten) Rückfälligkeit um das Rückfallkriterium, für das der SORAG auch ursprünglich entwickelt wurde [31].
Die Vorhersage der Rückfälligkeit entlassener Sexualstraftäter mittels des Sexual Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) und dessen Screening-Version (SORAG-SV):
325
Tab. 6 Rückfallraten der Gesamtgruppe (N = 519) sowie der beiden Subgruppen der pädosexuellen Täter (n = 268) und der Vergewaltigungstäter (229) in Abhängigkeit von der Risikokategorie (Gewalttätige [inkl. sexuell motivierte] Rückfälligkeit [Verurteilung]) Rückfallkriterium
SORAG Kategorie 1 (≤ −10) SORAG Kategorie 2 (−9 bis –4) SORAG Kategorie 3 (−3 bis +2) SORAG Kategorie 4 (+3 bis +8) SORAG Kategorie 5 (+9 bis +14) SORAG Kategorie 6 (+15 bis +19) SORAG Kategorie 7 (+20 bis +24) SORAG Kategorie 8 (+25 bis +30) SORAG Kategorie 9 (≥ +31)
Gesamtstichprobe (N = 519)
Vergewaltigungstäter (n = 229)
Pädosexuelle Täter (n = 268)
SORAG
SORAG-SV
SORAG
SORAG-SV
SORAG
SORAG-SV
3,3% (n = 60, r = 2) 5,2% (n = 77, r = 4) 9,0% (n = 89, r = 8) 18,3% (n = 71, r = 13) 24,1% (n = 58, r = 14) 29,5% (n = 61, r = 18) 34,0% (n = 47, r = 16) 51,3% (n = 39, r = 20) 47,1% (n = 17, r =8)
5,8% (n = 69, r = 4) 6,4% (n = 78, r = 5) 6,0% (n = 67, r = 4) 12,3% (n = 73, r = 9) 29,3% (n = 58, r = 17) 29,8% (n = 47, r = 14) 30,8% (n = 39, r = 12) 38,5% (n = 39, r = 15) 46,9% (n = 49, r = 23)
8,3% (n = 12, r = 1) 4,8% (n = 21, r = 1) 11,9% (n = 42, r = 5) 25,9% (n = 27, r = 7) 24,2% (n = 33, r = 8) 31,0% (n = 29, r = 9) 25,0% (n = 28, r = 7) 44,0% (n = 25, r =11) 66,7% (n = 12, r = 8)
10,0% (n = 10, r = 1) 3,8% (n = 26, r = 1) 7,1% (n = 28, r = 2) 14,3% (n = 28, r = 4) 33,3% (n = 30, r = 10) 32,3% (n = 31, r = 10) 31,6% (n = 19, r = 6) 36,0% (n = 25, r = 9) 43,8% (n = 32, r = 14)
2,1% (n = 48, r = 1) 5,6% (n = 54, r = 3) 6,4% (n = 47, r = 3) 12,5% (n = 40, r = 5) 22,7% (n = 22, r = 5) 32,1% (n = 28, r = 9) 41,2% (n = 17, r = 7) 60,0% (n = 10, r = 6) 0,0% (n = 2, r = 0)
5,2% (n = 58, r = 3) 7,7% (n = 52, r = 4) 5,3% (n = 38, r = 2) 9,5% (n = 42, r = 4) 22,2% (n = 27, r = 6) 30,8% (n = 13, r = 4) 35,3% (n = 17, r = 6) 40,0% (n = 10, r = 4) 54,5% (n = 11, r = 6)
n = Anzahl an Probanden r = Anzahl an Rückfälligen
der gewalttätigen (inkl. sexuell motivierte) Wiederverurteilung. Es zeigt sich sowohl bei der Gesamtgruppe als auch bei beiden Subgruppen – abgesehen von wenigen Ausnahmen – ein kontinuierlicher Anstieg der Rezidivraten mit höherwerdender SORAG bzw. SORAGSV Risikokategorie.
Diskussion Ziel der vorliegenden Studie war es, mittels aktueller Rückfalldaten die Fähigkeit des Sexual Offender Risk Appraisal Guides und einer von uns entwickelten Kurzversion, die sich auf üblicherweise vorhandene Akteninformation beschränkt, zu prüfen, bei unterschiedlichen Typen von Sexualstraftätern relevante Rückfallkategorien vorherzusagen. Dafür wurden im Zuge eines prospektiven längsschnittlichen Forschungsdesigns die notwendigen Daten für eine repräsentative Stichprobe strafgefangener Sexualstraftäter erhoben. Prospektive Studien zur Bestimmung der prädiktiven Validität von Prognoseinstrumenten liegen derzeit noch kaum vor. Da allerdings bei den Tätern erhobene Prognoseergebnisse nicht zuletzt aufgrund der dadurch angestoßenen und gesteuerten Interventionen das Prognoseergebnis selbst mit beeinflussen (können), ist der Wert derartiger Studien heute über denen mit ausschließlich retros-
pektiven Daten gewonnenen zu stellen [25, 34]. Die Beurteilerübereinstimmung wies unter Bezugnahme auf gängige Interpretationskriterien durchwegs zufriedenstellende Werte auf. Auch im Hinblick auf die konvergente Validität zeigte die SORAG-SV – wie zuvor auch das Originalinstrument [33] – zufriedenstellende Ergebnisse. Im Hinblick auf die prädiktive Validität konnten die vorliegenden Ergebnisse des SORAG die Resultate vorangegangener Studien [2, 10, 33] bestätigen, wobei sich zeigte, dass die Screening-Version praktisch idente Validitätsindizes lieferte. Der Großteil der Validitätsindizes von SORAG und SORAG-SV war nach den herkömmlichen Interpretationskriterien als gut einzustufen [6]. SORAG und SORAG-SV unterschieden sich betreffend ihrer Vorhersageleistung weder bei der Gesamtgruppe noch in beiden Subgruppen. Bei der Subgruppe der Vergewaltigungstäter ließen sich die ermittelten Validitätswerte des SORAG und SORAG-SV beim Kriterium der sexuell motivierten Rückfälligkeit allerdings nicht statistisch absichern. Dieses Resultat erschien zunächst in Anbetracht bisheriger Forschungsdaten zur sexuell motivierten Rückfälligkeit bei Vergewaltigungstätern nicht überraschend und wurde unter anderem auf den Um Für die Interpretation von Intraklassenkorrelationen wurden unter anderem die folgenden Kriterien formuliert [16]: ICC (jeweils Single Measure) ≥ 0,75 = exzellent, 0,60 ≤ ICC < 0,75 = gut, 0,40 ≤ ICC < 0,60 = moderat und ICC < 0,40 = schwach.
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stand der vergleichsweise niedrigen Anzahl rückfälliger Probanden bei diesem Rückfallkriterium zurückgeführt [29]. Überhaupt zeigt sich bei näherer Betrachtung der Ergebnisse der differentiellen Validität eine Tendenz zur Überlegenheit von SORAG und SORAG-SV bei der Gruppe der pädosexuellen Täter im Vergleich zur Gruppe der Vergewaltigungstäter – und das nicht nur hinsichtlich des Rückfalls in sexuell motivierte Straftaten, sondern über alle Rückfallkategorien hinweg. Überraschend erschien auf den ersten Blick die Tatsache, dass sich SORAG und SORAG-SV in ihrer Vorhersageleistung – wenn überhaupt – nur marginal unterschieden. Auch wenn von den Originalautoren bereits darauf hingewiesen wurde, dass auch bei einer Reduzierung des SORAG um maximal vier Items nach wie vor eine zufriedenstellende Vorhersagegüte erwartet werden kann [31], wurden trotzdem größere Unterschiede zwischen SORAG und SORAG-SV erwartet, bleiben doch in der Screening Version systematisch vier Items unberücksichtigt, unter anderem auch der bei der Entwicklung des Instruments als besonders relevant eingestufte PCL-R-Wert. In Anbetracht der prognostischen Relevanz des Persönlichkeitskonstrukts “psychopathy” [24] bei verschiedenen Straftäterpopulationen [30, 36] ließ der systematische Verzicht auf die PCL-R-Ergebnisse – das im SORAG am stärksten gewichtete Item – eine Reduzierung der Vorhersagegüte erwarten, was sich so allerdings nicht bestätigte. Es lässt sich hypothetisieren, dass sich die für die Prognoseleistung der PCL-R-relevanten Dimensionen (vor allem Impulsivität und Dissozialität) im SORAG bereits in anderen Items abbilden (u. a. Vordelikte) und es daher durch die Aufnahme der PCL-R zu keinem weiteren Zuwachs der Vorhersagegüte kommen kann. Darüber hinaus legen aktuelle Ergebnisse nahe, dass PCL-R-Ergebnisse keineswegs bei allen Sexualstraftätern für jede Rückfallkategorie zwangsläufig als prognoserelevant einzustufen sind [13]: So fand sich auch in dieser Studie eine Überlegenheit der PCL-R dahingehend, gerade bei der Gruppe der Kindesmissbraucher den Rückfall in ein Sexualdelikt vorherzusagen. Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum der Verzicht auf die drei biographischen Variablen („Zusammenleben mit beiden biologischen Eltern [mindestens] bis zum 16. Lebensjahr“, “Schulprobleme” und “Alkoholmissbrauch”) zu keiner Reduzierung der Vorhersagegüte des SORAG-SV gegenüber dem SORAG führte, erscheinen die Ergebnisse deutschsprachiger Studien über Rückfallentwicklungen bei Sexualstraftätern von Relevanz [39]: Auch hier konnte trotz der unumstrittenen Bedeutung dieser Variablen bei der Entstehung von sexuell missbräuchlichem Verhalten ein Zusammenhang mit einem eventuellen Rückfallgeschehen nicht bzw. nur bedingt bestätigt werden.
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M. Rettenberger et al.
Die eben genannten Studien liefern gleichzeitig eine mögliche Erklärung für die gute prädiktive Validität der SORAG-SV. Durch die Reduzierung des Instruments um vier (offensichtlich weniger prognoserelevante) Variablen wird gleichzeitig der Einfluss der verbleibenden Items erhöht. Somit wird beispielsweise das Gewicht der Vordelinquenz weiter erhöht, was – in Anbetracht der Bedeutung dieser Variable(n) in den genannten Untersuchungen zur Vorhersage von Rückfällen bei Sexualstraftätern – zu einer Verbesserung der Vorhersageleistung führt. Bei unseren Untersuchungen zur differentiellen Validität zeigten sich neben der bereits genannten tendenziellen Überlegenheit beider Instrumente zugunsten der Subgruppe der pädosexuellen Täter weitere nennenswerte Resultate. So lassen die vorliegenden Ergebnisse darauf schließen, dass es sich jedenfalls bei der Variable Alter um eine prognostisch relevante Moderatorvariable handelt, deren Bedeutung offenbar trotz starker Gewichtung im Instrument selbst nicht hinreichend berücksichtigt wird. Dieses Resultat geht Hand in Hand mit Befunden anderer Forschergruppen, die für die besondere – und damit über die durch die Instrumente geleistete Erfassung hinausgehende – Berücksichtigung der Altersvariable plädieren und zum Teil Korrekturmöglichkeiten für die Prognosepraxis vorlegen [7, 9]. Im Falle des SORAGs zeigte sich trotz starker Gewichtung der Variable im Instrument selbst für die Gruppe der jüngeren Sexualstraftäter ein deutlicher Abfall der Vorhersagegüte für die meisten Rückfallkategorien. Offenbar ließen sich in dieser Gruppe nur mehr diejenigen Delikte mit ausreichender Güte voraussagen, die einen besonderen Schweregrad nahelegen, da sie mit Haftstrafen geahndet wurden. Diese Ergebnisse lassen einmal mehr davor warnen, bei jüngeren Menschen allzu schnell Rückschlüsse auf ihr späteres Verhalten anzustellen. Andererseits könnte auch argumentiert werden, dass gerade bei einer Tätergruppe, die aufgrund ihres (geringen) Alters noch mehr Veränderungsmöglichkeiten hat, sich in einem prospektiven Forschungsdesign die Prognose öfters als unrichtig herausstellen muss. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist jedoch einschränkend darauf hinzuweisen, dass durch die Subgruppenbildung anhand von Tertilen die Altersgruppen sehr weit gefasst wurden und den einzelnen Subgruppen deshalb weiterhin ein beträchtliches Maß an Heterogenität innewohnen dürfte10. Die Ergebnisse der prädiktiven Validität des SORAG und SORAG-SV in Abhängigkeit von unterschiedlichen Dissozialitätsgraden waren uneinheitlich und können eine Über- oder Unterlegenheit der Instrumente für 10 So umfasste beispielsweise die Subgruppe der jungen Sexualstraftäter neben jugendlichen und heranwachsenden Tätern auch Probanden im jungen und mittleren Erwachsenenalter.
Die Vorhersage der Rückfälligkeit entlassener Sexualstraftäter mittels des Sexual Offender Risk Appraisal Guide (SORAG) und dessen Screening-Version (SORAG-SV):
eine der Kategorien nicht unterstützen. Die Vorhersageleistungen nahmen ganz generell ab, was eher nahelegt, auf derartige Unterscheidungen zu verzichten, da offenbar die Homogenität der Gruppen abnahm. Ganz allgemein erwies sich für die Vorhersagegüte des SORAG weder die PCL-R als notwendig, noch zeigte sich eine auf PCL-R Werten basierte Unterteilung in der Stichprobe als sinnvoll. Somit kann gefolgert werden, dass SORAG und SORAG-SV das Dissozialitätskonstrukt im Hinblick auf seine Prognoserelevanz ausreichend abdecken. Auf eine wichtige Limitierung ist hinzuweisen. Die Ergebnisse der prädiktiven Validität des SORAG-SV sind derzeit insofern zurückhaltend zu interpretieren, als im Zuge unserer Studie auf umfassende klinisch-diagnostische Informationen zurückgegriffen werden konnte, die üblicherweise bei einem Aktenscreening nicht zur Verfügung stehen. Dieser Umstand schränkt die Aussagekraft der Ergebnisse der prädiktiven Validität der SORAG-SV unseres Erachtens allerdings nur geringfügig ein, da zum einen der höchstmögliche Gesamtpunktwert-Unterschied durch die drei klinischen Variablen elf Punkte beträgt und zum anderen erfahrungsgemäß die geforderten Einschätzungen im Screeningverfahren – insbesondere der Verdacht einer schweren sexuellen Störung oder einer psychotischen Störung – durch den erfahrenen Forensiker auch bei begrenzter Informationslage relativ gut durchgeführt werden können. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bei SORAG und SORAG-SV – ähnlich wie beim Static-99 [12] – anhand einiger weniger relativ einfach zu erhebender Variablen eine beachtliche Vorhersagegüte erreicht werden kann. Vor allem in Entscheidungssituationen, in denen eine ausführliche klinische Diagnostik mangels Ressourcen nicht durchgeführt werden kann oder aus anderen Gründen nicht zweckmäßig ist, ist der Einsatz dieser reliablen und validen Prognosemethoden jeden-
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falls sinnvoller als der Einsatz von Differenzierungskriterien, die nicht gefährlichkeits- oder prognoseassoziiert sind. Bei allen empirischen Belegen für die prädiktive Validität besteht der hauptsächliche Wert aktuarischer Prognoseinstrumente allerdings immer nur darin, „eine fundierte und systematische Vorstellung vom Ausgangsniveau der Rückfallrisiken“ zu liefern sowie als „Kontrollinstrumente [zu dienen], um zu überprüfen, ob […] nichts Wesentliches […] übersehen wurde“ [8, S. 196]. Gerade im Umgang mit möglichen Rezipienten anderer Professionen erscheint es wichtig zu betonen, dass letztendlich jedes Prognosegutachten individuell im Sinne einer klinisch-ideographischen Prognosemethodik zu erfolgen hat [5]. Die begrenzte Nützlichkeit der aktuarischen Methodik zeigt sich bislang nicht zuletzt darin, dass die Vorhersagegüte augenscheinlich nach wie vor überwiegend durch den Einbezug statischer und deshalb u. a. einer therapeutischen Intervention nicht zugänglicher Konstrukte bestimmt wird. Der zusätzliche Einbezug von im weiteren Sinne klinischdiagnostischen sowie biographischen Variablen kann bislang die Vorhersagegüte der aktuarischen Prognose offensichtlich kaum erhöhen [21, 22, 23], obwohl die Wichtigkeit dieser Variablengruppen für das theoretische Verständnis sexueller Devianz und sexueller Delinquenz unbestritten ist [3, 15]. Es besteht somit nach wie vor großer Forschungsbedarf dahingehend, Zusammenhänge zwischen klinisch-dynamischen und Umweltvariablen einerseits und Rückfälligkeit andererseits theoretisch zu begründen und empirisch abzusichern.
7 Danksagung Die Autoren bedanken sich bei PD Dr. K.-P. Dahle für seine hilfreichen Anmerkungen und Anregungen beim Verfassen des vorliegenden Artikels.
7 Interessenkonflikt Es besteht kein Interessenkonflikt.
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Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:329–330 DOI 10.1007/s11757-009-0023-1
Hans-Ludwig Kröber
Trauma Der Begriff des Trauma erfreut sich bei Psychiatern, Psychologen und Cotherapeuten seit Jahren enormer Beliebtheit; die Zuschreibung von Traumen erfolgt ähnlich begeistert und einfallsreich wie früher in Therapien die Traumdeutung. Man kann zweifeln, ob die schlichte deutsche Übersetzung des Wortes, nämlich Verletzung, eine ähnliche Karriere hätte machen können. In Wahrheit, in der Behandlungs- und Forschungspraxis, ist Trauma auch gar keine (psychische) Verletzung, sondern allein ein Ereignis, das möglicherweise seelisch belastend sein könnte. Ob es wirklich bei einer bestimmten Person belastend, ja verletzend war, wird oftmals gar nicht nachgeprüft. Entsprechend werden in manchen Forschungsprojekten, z. B. bei Straftätern, kritische, potentiell belastende Lebensereignisse abgefragt, und wenn es derer viele gegeben hat, ist die dramatische Kunde, dass sie mehrheitlich massiv traumatisiert seien. Zu sichern ist aber nur, dass sie – bekanntermaßen – häufig unter sehr viel instabileren, belastenden Bedingungen aufgewachsen sind, und dass sie beispielsweise sehr viel mehr Gewaltsituationen – innerfamiliär und an entsprechenden „hot spots“ – erlebt haben. In der Engführung des Trauma-Konzepts (Belastung = Verletzung) fällt heraus, dass solche Lebensereig-
Prof. Dr. H.-L. Kröber ()) Institut für Forensische Psychiatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin Limonenstraße 27 12203 Berlin, Deutschland Tel.: +49-30-8445 1411 Fax: +49-30-8445 1440 E-Mail:
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Blitzlicht
nisse nicht nur „verletzen“ können, sondern dass sie belehren, trainieren, zu Reaktionsstilen führen, die keineswegs überwiegend pathologisch sein müssen; Belastungen führen zu Reaktionen, oftmals adäquaten Anpassungen, zur Herausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Insofern war die frühere Life-Event-Forschung, die aus dem Stress-Konzept abgeleitet war, sehr viel offener; sie wusste, dass ein und dasselbe Ereignis bei dem einen positiven, bei dem anderen negativen Stress bedeuten kann. So ist beispielsweise auch die Eheschließung, nicht zuletzt die wiederholte Heirat, ein „stressful life event“, das dann bei manchen auch nach einiger Zeit eine psychotherapeutische Behandlung nach sich zieht, aber eben nicht im engen Sinne verursacht. Die Tatsache aber, dass unterschiedliche Menschen auf bestimmte Belastungen sehr unterschiedlich reagieren, weist darauf hin, dass dem vermeintlichen Trauma oftmals nur eine Indikator-Funktion zukommt. Nicht die Heirat und auch nicht die Scheidung ist die Ursache der nachfolgenden psychischen Probleme, sondern die Bindungs- und Beziehungsstörung. Das Trauma-Konzept hat aber sicherlich gerade deswegen Karriere gemacht, weil es eine Entlastung von personaler Verantwortung verspricht zugunsten schicksalhaft einwirkender äußerer Faktoren. Offenbar war es insbesondere bei schweren Persönlichkeitsstörungen eine enorme Entlastung, wenn im Rahmen der Therapie ein entscheidendes Trauma gesucht und gefunden wurde (vor allem tatsächlicher oder vermeintlicher sexueller Missbrauch in der Kindheit), auf das nun die gesamte Symptomatik zurückgeführt werden durfte. Dabei hätte zum Nachdenken anregen können, wie gerade in solchen therapeutischen Konstel-
lationen das nun gefundene Trauma zum Ausgangspunkt dafür wird, die gesamte eigene Lebensgeschichte externalisierend umzuschreiben, nach Herzenslust zu spalten und zu verleugnen und insbesondere Hassgefühle ungehindert zu thematisieren („zuzulassen“), ohne dabei auf den Widerstand des Therapeuten zu treffen. Interessant war auch, dass von den Therapeuten – bis heute – oftmals die Auskunft kam, dass man nicht versucht habe in der Realität nachzuprüfen, ob es das Trauma gegeben hat und überhaupt geben konnte; dies werde nicht für wichtig gehalten. Ohnehin sind es vermutlich eben nicht so sehr schlimme Einzelereignisse, die nachhaltige seelische Folgen zeitigen, sondern die kontinuierliche Erfahrung von elterlicher Lieblosigkeit, Unzuverlässigkeit und Gewalttätigkeit, welche ungünstige Entwicklungen bahnt. Der dissoziale Jugendliche, der immer wieder loszieht, um seine Kräfte mit anderen zu messen, wird zumindest in dieser Phase nicht mehr einfach durch externale Gewalterfahrungen traumatisiert, sondern er reagiert mit eigener Aktivität auf frühe Erfahrungen mit Erwachsenen, indem er sich für ein Leben rüstet, in dem man sich gewaltsam durchsetzen können muss. (Für einige hunderttausend Jahre der Menschheitsgeschichte war dies durchaus vernünftig, und in manchen Regionen ist es dies immer noch.) Er rüstet sich so nicht für eine akademische Laufbahn, sondern für das von ihm konzipierte Leben in seinem Kiez, und das ist keine „Störung“ (Disorder). Dass viele eine posttraumatische Störung für sich reklamieren, führt sicherlich bisweilen dazu, dass die tatsächlich durch katastrophale Ereignisse psychisch Traumatisierten, die es ja unbestritten in nicht geringer Zahl gibt, in den Schatten
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gestellt werden von Menschen, die sich nun gerne als Opfer definieren wollen und zum Teil auch geldwerte Vorteile davon erwarten. Dies führt dann immer wieder zu Begutachtungsaufgaben, zum einen in asylund ausländerrechtlichen Verfahren, des weiteren in sozialrechtlichen, in Entschädigungs- und Haftpflichtverfahren, ja sogar im Strafrecht. Ein Polizeibeamter schildert sich als dauerhaft dienstunfähig wegen eines „Post-Shooting-Trauma“ nach einer Schießerei mit Gangstern, bei der er weder geschossen hat noch getroffen wurde; aber es war halt unübersichtlich und er hatte Angst. Bei Nachschau erweist sich eine tiefgehende Lebenskrise nach Scheitern fast aller privaten, sportlichen und beruflichen Lebenserwartungen, ausgezeichnet durch eine alles erfassende, zersetzende Dysphorie. Ein antiimperialistischer Kämpfer, der im Verdacht steht, seit längerem mit Fleiß besonders hässliche Autos wie den Porsche Cayenne oder aber auch Fahrzeuge der Paketpost und der Polizei angezündet zu haben, erleidet durch seine Festnahme auf frischer Tat und anschließende Untersuchungshaft ein Trauma, durch das er verhandlungsunfähig geworden zu sein vermeint. Völlig abwegig ist so etwas ja nicht: natürlich ist das Scheitern, die Festnahme, die Inhaftierung eine erhebliche seelische Belastung, mit der man erst einmal fertig werden muss, und nicht wenige Untersuchungsgefangene leiden insbesondere zu Beginn unter Niedergeschlagenheit, innerer Unruhe,
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H.-L. Kröber
Schlafstörungen, und brauchen einige Zeit, um sich auf die neue Situation einzustellen. Entscheidend für die Beurteilung ihrer Verhandlungsfähigkeit ist aber nicht das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines „Traumas“, sondern ihre aktuelle psychische Verfassung, also z. B. ihre Depressivität. Diese muss gegebenenfalls behandelt werden. Und sofern etwas in der Vergangenheit „bearbeitet“ werden muss, ist es nicht das „Trauma Inhaftierung“, sondern das damit indizierte Scheitern eines kriminellen Konzepts: mache ich etwas falsch, muss ich etwas ändern? Entgegen dem ersten Anschein ist nicht die Polizei, sondern der Straftäter selbst an seiner Inhaftierung schuld. Etwas anderes wäre zu erörtern, wenn jemand unschuldig inhaftiert und gar auch verurteilt wird. Hier mag ein Trauma-Konzept greifen in dem Sinne, dass hier ein gravierender, ungeplanter und unverschuldeter Eingriff in die eigene Lebensplanung und -gestaltung stattgefunden hat, der passager oder langdauernd zum Zusammenbruch des Selbstkonzepts von Eigenwirksamkeit führen kann und zu einer bleibenden Anfälligkeit für Situationen, in denen man sich ohnmächtig und ausgeliefert erlebt. Es gibt natürlich auch Beispiele schuldlos Inhaftierter, die dies ohne bleibende psychische Störung durchgestanden haben. Es gibt nun mancherorts Trauma-Spezialisten und -Spezialistinnen, die sich einer parteiischen Behandlung und Begutachtung ver-
pflichtet fühlen, weil sie sich dezidiert auf die Seite des Opfers stellen möchten. Dass das Opfer ein Opfer ist, wird hier nicht mehr angezweifelt. Teilweise verlangen diese selbsternannten Trauma-Spezialisten inzwischen, dass Trauma-Opfer nur von ihresgleichen begutachtet werden dürften, nachdem man bei ihnen ein Curriculum in Psychotraumatherapie absolviert hat. Eine vom DGPPN-Vorstand beauftragte Gruppe von Fachleuten [1] hat nun in einer Stellungnahme zu „Begutachtungsstandards bei posttraumatischer Belastungsstörung“ darauf hingewiesen, dass dafür keineswegs psychotraumatologische oder gar traumatherapeutische Spezialkompetenzen erforderlich sind, sondern eine solide psychiatrische Ausbildung mit der Fähigkeit, gerade ein breites Spektrum psychopathologischer Sachverhalte wahrzunehmen und gutachterlich neutral und distanziert zu würdigen; man muss dafür natürlich die aktuellen traumatologischen Konzepte kennen. Zu den Standards gehöre wie stets bei Gutachten auch die besondere Berücksichtigung der Simulationsproblematik. Oftmals schadet es aber gerade dem Probanden, wenn man seine psychischen Leiden einengt auf die Fehlbewältigung eines bestimmten belastenden Lebensereignisses; die Problematik ist oftmals wesentlich komplexer. Psychiatrische Therapie hat nicht selten wichtigere Aufgaben, als sich in die Rückschau auf ein einziges Ereignis zu flüchten und mit dem Pendel zu kurieren.
Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:331–332 DOI 10.1007/s11757-009-0018-y
Journal Club
Psychiatrischer Beitrag Dieter Seifert
Stellenwert anamnestischer und klinischer Prognosekriterien Unser heutiges Prognosewissen basiert weitgehend auf den Erkenntnissen retrospektiver Studien. In den „etablierten“ Checklisten überwiegen anamnestische, also durch Therapie nicht veränderbare Kriterien, während klinische Merkmale unterrepräsentiert sind. Letztere lassen sich jedoch retrospektiv aus Krankenblattunterlagen oder Gutachtenanalysen nur wenig präzise erheben. Daher ist es erfreulich, dass die niederländische Arbeitsgruppe um Philipse eine methodisch aufwendige prospektive Prognosestudie im dortigen Maßregelvollzug (Terbeschikkingstelling – TBS) durchgeführt hat, wobei der Schwerpunkt auf die Validierung klinischer Merkmale gelegt wurde [1]. Untersucht wurden diejenigen Patienten, die zwischen dem 01.01.1996 und 31.12.1998 aus insgesamt sieben der damals neun forensischen Kliniken der Niederlande entlassen wurden. Der Erhebungsbogen wurde zum Entlassungszeitpunkt bzw. zu Beginn der Dauerbeurlaubung ausgefüllt. 151 der 180 in Frage kommenden Patienten nahmen an der Untersuchung teil, von den 19 ausgeschlossen wurden, weil sie ins Ausland abgeschoben oder aber die Erhebungsbögen nur unvollständig Priv.-Doz. Dr. D. Seifert ()) Institut für Forensiche Psychiatrie der Universität Duisburg Essen Virchowstraße 174 45147 Essen, Deutschland E-Mail:
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bzw. mit großer Zeitverzögerung zurückgesandt wurden. Letztlich konnten Daten von 132 Probanden ausgewertet werden (73,3% – davon 7,6% Frauen). An Unterbringungsdelikten überwogen Straftaten gegen Leib und Leben (50,7%) sowie Sexualdelikte (19,7%), Brandstiftung (16,7%) und Raub (12,9%). Diagnostisch lag als Achse I-Störung vor allem eine psychotische Störung (29,6%) und eine Suchtproblematik (18,9%) vor; an Achse II-Störungen wurde bei 75% eine Persönlichkeitsstörung dokumentiert, überwiegend aus dem Cluster B. Die Unterbringungsdauer betrug im Mittel 4,9 Jahre (1,2 bis 11,4 Jahre), das Entlassungsalter 34,4 Jahre. Biografisch wiesen die Probanden erhebliche Probleme in mehreren Bereichen auf (Schule, Berufsausbildung, früherer Kontakt mit psychiatrischen Einrichtungen etc.). Demnach ist diese Stichprobe weitgehend mit der Population im deutschen Maßregelvollzug (§ 63 StGB) vergleichbar. Ein Unterschied stellt indes der Entlassungsmodus dar: Jeder siebte Patient wurde aus Verhältnismäßigkeitsgründen und gegen den Rat der Klinik entlassen, was in Deutschland allenfalls in Ausnahmefällen vorkommt. Der Erhebungsbogen (CIDRR) wurde von 43 forensisch erfahrene Mitarbeitern ausgefüllt [2]. Die 47 klinischen Merkmale wurden hinsichtlich ihrer Ausprägung auf einer 6-Punkte-Skala geratet und zu sechs Faktoren zusammengefasst. Zum Ende des Erhebungsbogens hatte der Rater die Deliktrückfallgefahr auf einer 6-Punkte-Skala einzuschätzen. Ein spezielles Training sei – im Gegensatz zu den Empfehlungen in den Handbüchern sonstiger Checklisten – nicht notwendig, eine klinisch-forensische Erfahrung
mit guter Kenntnis des Patienten indes Bedingung. Zusätzlich wurden 41 statische Risikokriterien erhoben, die von Nicht-Fachleuten ausgefüllt wurden. Als „Rückfall“ wurde jegliche juristische Sanktion wegen eines (versuchten) Gewalt u./o. Sexualdeliktes definiert und mittels der offiziellen Dokumentation des Justizministeriums registriert. Die Time-atrisk betrug im Mittel 6,2 Jahre (5,5 bis 8,5 Jahre), währenddessen 26 Probanden (19,7%) rückfällig wurden, davon 11 einschlägig. Als Hauptergebnis stellte sich heraus, dass keines der insgesamt sechs klinischen Faktoren oder 47 Einzelkriterien treffsicher einen Rückfall vorhersagen konnte. Auch die globale Einschätzung der forensisch erfahrenen Rater ließ keine prädiktive Wertigkeit erkennen (ROC-Analyse – AUC: .44). Mittels einer CoxSurvival-Analyse konnte ein Modell mit vier statischen Items als prognoserelevant extrahiert werden: Während die DSM-III-R-Diagnose Psychose zum Zeitpunkt der Unterbringung demnach das Risiko eines Deliktrückfalls mindert, weisen die Diagnosen Suchtproblematik und B-Cluster-Persönlichkeitsstörung (antisoziale, Borderline, histrionische oder narzisstische), eine CoMorbidität von Persönlichkeitsstörung mit einem Substanzmissbrauch sowie die Fehlzeiten während der Unterbringung (Entweichung und/ oder eigenmächtige Ausgangsverlängerung) auf ein erhöhtes Risiko hin. Mit diesen vier Merkmalen konnte mittels einer ROC-Analyse eine gute Treffsicherheit (AUC: .79) erzielt werden, die der anderer PrognoseChecklisten in etwa entspricht. Die Autoren weisen daraufhin, dass diese Erkenntnisse altbekanntes Wissen widerspiegeln, betonen aber ebenso,
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dass statische Items, die sich in vielen retrospektiven Prognosestudien als bedeutsam herausgestellt haben (z. B. Alter der ersten Verurteilung), nicht repliziert werden konnten. Demnach hat sich die Hoffnung, die prädiktive Validität klinischer Prognosekriterien empirisch belegen zu können, nicht erfüllt; zweifelsohne eine herbe Enttäuschung für klinisch denkende Forensiker. Schließlich besteht deren Aufgabe laut Gesetz darin, durch Behandlungsmaßnahmen eine Besserung (Therapieerfolg) ihrer Patienten anzustreben, verbunden mit dem Ziel, die Legalprognose zu verbessern und eine Entlassung zu ermöglichen. In den jährlichen Stellungnahmen zum Therapiestand sowie zur Legalprognose (§ 67e StGB) orientieren sich die Therapeuten zumeist an klinischen Kriterien. Anamnestische Merkmale, wie beispielsweise das Alter der ersten Inhaftierung, lassen sich nun einmal – mit welcher Therapieform auch immer – nicht verändern. Die Ergebnisse dieser Studie werfen neue Fragen auf. Wenn tatsächlich den klinischen Kriterien eine Prognoserelevanz aberkannt werden muss, stellt sich z. B. die Frage, wieso die Rückfallquote im Maßregelvollzug im Vergleich zum Regelvollzug deutlich niedriger ist. Die ursprünglich angenommene hohe Gefährlichkeit – ansonsten hätten sie nicht untergebracht werden dürfen – hat sich im Laufe der mehrjährigen Unterbringung nachweislich reduziert. An den anamnestischen Kriterien kann es schon deswegen
D. Seifert
nicht liegen, weil diese per definitionem statisch, also unveränderbar sind. Wenn nun auch die potentiell veränderbaren Kriterien keine Bedeutung besitzen, blieben letztlich unbekannte Einflussfaktoren, möglicherweise das Alter (Auswachsen der Delinquenz) oder der soziale Empfangsraum. Dass die Qualität des Risikomanagements einen bedeutsamen Einfluss auf die Deliktrückfallquote ausübt, kann mittlerweile als gesichert gelten. Allerdings wurde dieser Bereich in der niederländischen Studie nicht untersucht. Im Übrigen bleibt die vergleichsweise kleine Stichprobe von N = 132 mit „nur“ 26 Rückfälligen bei Nutzung eines umfangreichen Erhebungsbogens („Overfitting“) zu bedenken, so dass die Übertragung der hier analysierten Ergebnisse auf die Gesamtheit forensischer Patienten nur mit Zurückhaltung erlaubt sein dürfte. Bei einer größeren Stichprobe könnten evtl. die vier klinischen Variablen, die nun „lediglich“ eine tendenzielle Signifikanz aufweisen (Patient vermeidet Kontakt, Mangel an Empathie, komplette Verleugnung seines Delikts sowie Unfähigkeit allein, ohne jegliche professionelle Unterstützung zu leben), eine höhere prognostische Bedeutung besitzen. Dass die prädiktive Validität klinischer Prognosemerkmale als gering eingestuft wird, hat auch methodische Gründe. Neben dem oben bereits erwähnten Problem der retrospektiven Erhebung klinischer Kriterien bleibt anzumerken, dass sie im Vergleich zu anamnestischen Kriterien
schwieriger zu operationalisieren sind. Zudem weisen sie eine geringere Rerater- und Interrater-Reliablität auf. Auch konnte gezeigt werden, dass bei einigen klinischen Kriterien schwache Interrating- bei zugleich hohen Reratingwerten gefunden wurde [3]. Derartig ausgeprägte Diskrepanzen sind als Indiz für „stabile intrasubjektive Konstrukte“ zu werten; Therapeuten nutzen sozusagen ihre ganz persönliche Definition klinischer Kriterien. Der Begriff verliert somit an Präzision. Von den Autoren wurde zudem angemerkt, dass klinische Merkmale durch Patienten beeinflusst werden können und somit fälschlicherweise eine positive Entwicklung angenommen würde. Die Schlussfolgerungen der Autoren, dass klinische Kriterien keine gute Basis für die Risikoeinschätzung forensisch untergebrachter Patienten seien, ist als Fazit dieser prospektiven Studie sicherlich etwas zu negativ formuliert. Keinesfalls sollte die empirische Suche nach validen klinischen Prognosekriterien wegen vorschnell ausgesprochener Hoffnungslosigkeit aufgegeben werden. Die oben aufgeführten methodischen Probleme lassen sich in einem prospektiven Design jedoch auch nur zum Teil mindern. Für weitere wissenschaftliche Untersuchungen sollten daher klinische Kriterien präziser definiert und darüber hinaus der poststationäre Verlauf in das Studiendesign integriert werden.
2. Philipse MWG, Koeter MWJ, Van Den Brink W, Van Der Staak CPF (2004) The structural coherence of clinically derived dynamic indicators of reoffending risk. Crim Behav Ment Health 14:263– 279
3. Weber F (1996) Gefährlichkeitsprognose im Maßregelvollzug. Centaurus, Pfaffenweiler
7 Interessenkonflikt Es besteht kein Interessenkonflikt.
Literatur 1. Philipse MWG, Koeter MWJ, Van Der Staak CPF, Van Den Brink W (2006) Static and dynamic patient characteristics as predictors of criminal recidivism: a prospective study in a Dutch forensic psychiatric sample. Law Hum Behav 30(3):309–327
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Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:333–336 DOI 10.1007/s11757-009-0025-z
Journal Club
Kriminologischer Beitrag Christian Laue
Kriminologische Lebenslaufforschung Die Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform gestaltete die Hefte 2 und 3 des Jahres 2009 als monothematische Doppelausgabe, die ganz der Entwicklungskriminologie und kriminologischen Lebenslaufforschung gewidmet ist. Die Heftherausgeber Boers, Lösel und Remschmidt bezeichnen in ihrem Vorwort die Erforschung der Entwicklung von Delinquenten und ihrer Lebensläufe als ältesten und wohl bedeutsamsten Bereich der empirischen Kriminologie. Diese herausragende Bedeutung besteht insbesondere für die forensische Kriminologie. Wissenschaftlich fundierte Kenntnisse über die Einflussfaktoren und Verlaufsformen krimineller Karrieren stellen die unverzichtbare Basis einer wissenschaftlich fundierten Kriminalprognose dar. Die Erforschung krimineller Karrieren ist nach heutigen Standards sehr aufwändig. Kohortenuntersuchungen, die in der Kindheit der Probanden einsetzen und diese zum Teil bis ins fünfte Lebensjahrzehnt begleiten, sind nach der Natur der Sache sehr langfristige Forschungsvorhaben. Darüber hinaus kom-
Priv.-Doz. Dr. C. Laue ()) Institut für Kriminologie Universität Heidelberg Friedrich-Ebert-Anlage 6-10 69117 Heidelberg, Deutschland Tel.: +6221-547536 Fax: +6221-547495 E-Mail:
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binieren neuere Untersuchungen entwicklungspsychologische und psychiatrische (und auch biologische) Ansätze mit kriminalsoziologischen. Es ist idealerweise sowohl die Biografie und Persönlichkeit der Probanden mit ihrem engeren sozialen Umfeld (Erziehung im Elternhaus, schulische Entwicklung) zu erforschen als auch der weitere soziale Kontext und die Reaktionen der sozialen Kontrolle. Dies ist nur mit einem Team von Spezialisten zu bewältigen. Darüber hinaus erfordert die Analyse zahlreicher möglicher Einflussvariablen eine große Fallzahl. All dies führt zu einem großen Aufwand. Das erwähnte Sonderheft der Monatsschrift gibt einen Überblick über den Stand der (auch internationalen) Forschung und kann so hoffentlich zu einer besseren wissenschaftlichen Fundierung der alltäglichen Kriminalprognosen beitragen. Im Folgenden seien zwei Studien aus diesem Heft kurz vorgestellt, die in Deutschland durchgeführt wurden und sich mehr auf die persönlichkeitsbezogenen Einflussfaktoren krimineller Karrieren stützen als auf die kriminalsoziologischen. Die Marburger Kinder- und Jugendpsychiater Remschmidt und Walter [1] stellen eine aufwändige und anspruchsvolle Längsschnittuntersuchung vor: Sie begann 1972 und erfasste per Aktenerhebung zunächst alle männlichen strafunmündigen Tatverdächtigen der Jahre 1962 bis 1971 in Marburg. In die Untersuchung gingen insgesamt 1006 Jungen ein, die am Stichtag 31.12.1971 das 14. Lebensjahr bereits erreicht hatten; dabei handelte es sich um 749 Probanden, die nur einmal auffällig wurden (Einfachtäter) und um 257
Mehrfachauffällige (Mehrfachtäter). Nach vier Jahren wurde die strafrechtliche Entwicklung nochmals anhand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsakten überprüft. Von den kindlichen Einfachtätern waren 434 in der Jugendzeit ohne Eintrag geblieben, 158 hatten in der Zwischenzeit zwei oder mehr Delikte begangen. Von den 257 kindlichen Mehrfachtätern waren in der Jugendzeit 109 nicht mehr auffällig, 122 wurden mit mindestens zwei Delikten registriert. So konnten vier Gruppen gebildet werden, die sich hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Auffälligkeit vor und nach dem 14. Lebensjahr unterschieden: 1–0, 1–2, 2–0 und 2–2. Als Kontrollgruppen dienten gleichaltrige Personen, die vor ihrem 14. Lebensjahr nicht, zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr aber mindestens zwei Mal registriert worden waren (Gruppe 0–2) und Personen ohne jede polizeiliche Registrierung (0–0). Zwischen den Jahren 1975 und 1977 konnten insgesamt 263 der ausgesuchten Probanden persönlich untersucht werden. Die Untersuchung bestand aus einem standardisierten Interview, das biografische Daten erfragte, dem Freiburger Persönlichkeitsinventar, dem WIPIntelligenztest und einem Fragebogen von Herrmann, Stapf und Krohne aus dem Jahr 1971 zum wahrgenommenen Erziehungsverhalten der Eltern. Hierbei handelt es sich um ein zweifaktorielles Modell, das das Erziehungsverhalten in den Dimensionen „Strenge“ und „Unterstützung“ jeweils getrennt nach Vater und Mutter erfasst. Darüber hinaus wurde eine Dunkelfeldbefragung mit Fragen nach insgesamt 63 Gesetzesverstößen durchgeführt. Die drit-
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te und letzte Untersuchungsstufe bildete im Jahre 1996 eine Analyse des Erziehungs- und des Bundeszentralregisters zur Erhebung der Hellfeldauffälligkeiten bis mindestens annähernd zum 40. Lebensjahr der Probanden. Die Voraussagekraft der erhobenen Variablen wurde durch logistische Regressionen berechnet, die getrennt für die Kinderdelinquenz (unter 14), die Jugenddelinquenz (zwischen 14. und 17. Lebensjahr) und die Delinquenz im Lebenslängsschnitt durchgeführt wurden. Als Prädiktoren dienten die 13 Persönlichkeitsmerkmale des FPI, der Erziehungsstil sowie die unregistrierte Delinquenz vor dem 14. Lebensjahr. Von den biografischen Merkmalen wurden verwendet: körperliche Erkrankungen und Entwicklungsverzögerungen, familiäre Belastungen, Risikofaktoren der Eltern, Lernschwierigkeiten in der Schule, keine oder abgebrochene Berufsausbildung sowie die Summe der vor dem 14. Lebensjahr wirksamen sozialen und familiären Risikofaktoren. Bei der Auswertung wurde mit Hilfe des Vergleichs der gebildeten Gruppen und einer logistischen Regression versucht, die Faktoren herauszufinden, die für die Delinquenz in den drei verschiedenen Erhebungszeiträumen (bis 14, von 14 bis einschließlich 17 und im Lebenslängsschnitt) relevant waren. Bei der Erklärung der registrierten Delinquenz im Kindesalter stellte sich lediglich das Merkmal „Lernschwierigkeiten“ als relevant heraus. Die odds ratio betrug 2,8, das heißt Kinder mit Lernschwierigkeiten hatten eine 2,8-fache Wahrscheinlichkeit wegen eines Deliktes registriert zu werden als Kinder ohne Lernschwierigkeiten. Die Rate richtiger Klassifikationen lag jedoch mit 62,5% zwar über dem Zufall, aber nicht allzu hoch. Bei der Erklärung der registrierten Jugenddelinquenz erwiesen sich „abgebrochene Berufsausbildung“ (odds ratio = 3,2), „Summe der vor dem 14. Lebensjahr wirksamen sozialen und familiären Risi-
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kofaktoren“ (1,5) als bedeutsam. Die Trefferrate betrug hier 71,5%. Die Delinquenzanalyse im Lebenslängsschnitt erbrachte bei den 256 untersuchten Probanden 68 mit mehreren Einträgen. Sie wurden als chronische Straftäter bezeichnet; von ihnen hatten alle schon als Kinder und/oder Jugendliche Straftaten begangen. Von denjenigen Probanden andererseits, die bereits als Kinder oder Jugendliche auffällig geworden waren, verstießen mehr als zwei Drittel als Erwachsene nicht mehr gegen Strafgesetze. Auch hier führte der Gruppenvergleich zu den folgenden Ergebnissen: Auch mehrfache Delinquenz im Kindesalter führte nicht notwendig zu chronischer Straffälligkeit. Von der Gruppe 2–0 wurden nur 12,5% chronische Straftäter. Bedeutsamer ist die Delinquenz im Jugendalter: 48,8% der Gruppe 0–2 wurde chronisch delinquent, obwohl sie als Kinder nicht auffällig waren. Von den zur Erklärung der Erwachsenendelinquenz erhobenen Variablen erwiesen sich nach einer logistischen Regressionsanalyse als bedeutsam: „Summe der vor dem 14. Lebensjahr wirksamen psychosozialen Risikofaktoren“ (odds ratio = 2,5), „Extraversion“ (1,6) und „Emotionale Labilität“ (1,6). Schließlich wurden auch die Ergebnisse im Freiburger Persönlichkeitsinventar bei den Gruppen der „nicht registrierten Probanden“, der „nicht chronischen Täter“ und der „chronischen Täter“ verglichen. Auf dem 1%-Signifikanzniveau hatten chronische Täter bei den folgenden Merkmalen signifikant höhere Ausprägungen: Spontane Aggressivität, Depressivität, Erregbarkeit, reaktive Darüber hinaus nennen Remschmidt/Walter [1] auch noch die „mütterliche Erziehungsstrenge“ und die „Summe der vor dem 14. Lebensjahr begangenen, aber nicht polizeilich registrierten Eigentumsdelikte“ als bedeutsame Prädiktoren. Angegeben sind aber jeweils odds ratios von 1,0, was bedeutet, dass diese Variablen gerade keinen Einfluss hatten. Unklar bleibt, wie die Autoren zu ihrer Einschätzung als „bedeutsam“ kommen.
Aggression, Extraversion und emotionale Labilität. Die chronischen Täter hatten darüber hinaus auch signifikant mehr soziale und emotionale Risikofaktoren vor dem 14. Lebensjahr, gefolgt von den nicht chronischen Tätern und den unregistrierten Probanden. Von den einzelnen Risikofaktoren waren die meisten nicht signifikant unterschiedlich, eine Ausnahme bildeten u. a. die Kriterien „Schulprobleme“ und „fehlende Berufsausbildung“. Weitere logistische Regressionen ergaben aber, dass diese Faktoren als einzelne bewertet nur eine geringe Voraussagekraft haben. So verbleiben als Ergebnis beim Vergleich der unregistrierten Probanden mit den chronischen Straftätern die folgenden Prädiktoren bedeutsam: „Summe der vor dem 14. Lebensjahr wirksamen sozialen und familiären Risikofaktoren“ (odds ratio = 3,0), „Extraversion“ (1,6) und „Emotionale Labilität“ (1,5). Beim Vergleich von nichtchronischen Straftätern mit chronischen Straftätern sind „Schulprobleme” (2,5) und Depressivität (1,3) bedeutsam. Die Untersuchung benennt Faktoren als einflusseich für Kriminalität, die bereits von anderen Studien als bedeutsam erkannt wurden. Dennoch stehen ihrer Vergleichbarkeit einige – von den Autoren selbst genannte – Probleme entgegen: Die Daten über die Kindheit der Probanden wurden retrospektiv – auch ohne Befragung der Eltern, Lehrer etc. – erhoben und haben dadurch möglicherweise eine geringere Verlässlichkeit; die Übertragbarkeit auf heutige Problemfälle scheint darüber hinaus eingeschränkt, weil die Kindheit der Probanden in den 1960er Jahren und in einer eher kleinstädtischen Gegend ablief: mit den heutigen Kindheits- und Jugendproblemen insbesondere der großstädWiederum nennen Remschmidt/Walter [1] noch zusätzlich „Summe der unregistrierten Eigentumsdelikte vor dem 14. Lebensjahr“ als Prädiktor mit einer odds ratio = 1,0.
Kriminologischer Beitrag
tischen Ballungszentren waren die Probanden nicht konfrontiert. Pluspunkt der Untersuchung ist der lange Beobachtungszeitraum über insgesamt 34 Jahre. Bei der Beurteilung chronischer Straftäter kommt dem Verhalten in der Jugend bereits eine große Bedeutung zu; die registrierte – im Gegensatz zur nicht registrierten – Delinquenz im Kindesalter gibt dagegen wenig Aufschluss auf die kommende Entwicklung. Allerdings machen sich Problemlagen, die bereits in der Kindheit bestehen, später durchaus bemerkbar und können zu Jugendkriminalität und fortdauernder Erwachsenenkriminalität führen. Schule und Ausbildung erscheinen wichtig. Aus Untersuchungen wie der von Remschmidt/Walter [1] lassen sich Präventionsmodelle und konstruktive (jugend)strafrechtliche Reaktionen legitimieren. Die Untersuchung von Schmidt, Esser, Ihle und Lay [2] stellt eine Fortführung der bekannten Kurpfalzstudie dar. Aus 1.444 1970 in Mannheim geborenen und 1978 dort noch lebenden Kindern wurde eine Zufallsstichprobe von 216 Kindern gezogen, die noch um 183 Kinder mit erhöhten Screeningwerten bezüglich kinderpsychiatrischer Störungen erweitert wurden. Wegen Verweigerung oder Versterbens reduzierte sich diese Gruppe auf schließlich 321 Probanden, die jeweils im Alter von 8 (t1), 13(t2), 18 (t3) und 25 Jahren (t4) eingehend untersucht wurden. Erhoben wurde sowohl die Hellfeld- als auch die Dunkelfelddelinquenz, wobei letztere nicht die typischen Jugendsünden wie Fahren ohne Fahrerlaubnis oder Leistungserschleichung umfasste, sondern sich auf schwerer wiegende Delikte beschränkte. Gleiches gilt für die Hellfelddelinquenz, die auf mit Arbeitsauflage, Jugendar-
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rest oder Jugendstrafe sanktioniertes Verhalten beschränkt war. Als Risikofaktoren wurden erfasst: Prä- und perinatale Risiken (14 Einzelitems), individuelle Risiken (14 Items), Risiken durch Umweltstressfaktoren (18 Items); in t1 und t2 wurde der Family Adversity Index ermittelt, der sich aus 6 Variablen zusammensetzte (ungelernter Beruf des Vaters, Delinquenz des Vaters, psychiatrische Erkrankung der Mutter, enge Wohnverhältnisse, ständiger Ehestreit/ unvollständige Familie und Heimaufenthalt); akute Lebensereignisse wurden zum Zeitpunkt t2 erhoben und umfassten u. a. Krankenhausaufenthalte, Heimerziehung, Schulwechsel oder Verlust von Elternteilen oder anderen Bezugspersonen); in t3 wurden aktuelle Lebensereignisse und chronische Stressfaktoren aus dem Alter zwischen 13 und 18 erhoben und aufsummiert. Darüber hinaus wurden psychische Störungen durch ausführliche Interviews mit den Probanden und/oder Eltern ermittelt. Schließlich wurden auch jeweils die demographischen und soziographischen Daten erhoben. 228 der Probanden (71%) wurden ausgehend von den Befragungen zu t3 und t4 nicht delinquent. Wer nur in t3 delinquent war, galt als episodisch delinquent (n = 27), wer nur in t4 delinquent war als spät beginnend delinquent (n = 45) und wer zu beiden Zeitpunkten delinquent war als kontinuierlich delinquent (n = 27). Die so unterschiedenen Gruppen wurden nach den erhobenen Risikofaktoren untereinander verglichen. Aufgrund von multiplen logistischen Regressionen erwiesen sich folgende Faktoren als relevant: Für die episodische Delinquenz waren es widrige familiäre Bedingungen im Alter von 6 bis 8 Jahren mit einer odds ratio von 1,68, für die kontinuierliche Delinquenz spezifische Entwicklungs-
störungen zwischen 8 und 13 Jahren (odds ratio = 3,6) und widrige familiäre Bedingungen im selben Alter (odds ratio = 1,89); schließlich bei den spät beginnenden Delinquenten neben dem männlichen Geschlecht vor allem Störungen des Sozialverhaltens, hyperkinetische Störungen oder Substanzmissbrauch im Alter von 13 bis 18 Jahren (odds ratio = 8,91) sowie akute Lebensereignisse im selben Alter (odds ratio = 1,27). Die Darstellung der Ergebnisse dieser Untersuchung ist sehr knapp und zum Teil nicht nachvollziehbar. Einen Vorteil bildet aber die Einbeziehung von psychiatrischen Störungsbildern, deren Einfluss auf die Kriminalitätsentwicklung bedeutend ist. Aufgrund des gewählten Untersuchungsdesigns könnte eine Unterschätzung der Delinquenzbelastung naheliegen. Es zeigt sich – bereits bei der Darstellung nur zweier Studien, noch mehr aber bei der Lektüre des gesamten Sonderhefts – die starke Ausdifferenzierung der für möglicherweise einflussreich gehaltenen Risikovariablen. Dazu kommt die gegenseitige Abhängigkeit zahlreicher Risikofaktoren untereinander, die die Feststellung von Ursache-Wirkungszusammenhängen kaum möglich macht. Delinquenz wird dabei mitunter von der abhängigen zur unabhängigen Variablen. Die Quantifizierbarkeit von einzelnen Risikofaktoren wird erschwert. Insgesamt geben kriminologische Lebenslaufforschungen aber dennoch einen Hinweis auf die relevanten Risikofaktoren und leisten damit einen unverzichtbaren Beitrag zur Verbesserung der Prognose- und Behandlungsqualität.
7 Interessenkonflikt Es besteht kein Interessenkonflikt.
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Literatur 1. Remschmidt H, Walter R (2009) Die Bedeutung psychosozialer Risikofaktoren für die Entwicklung der Delinquenz. Monatsschr Kriminol 92:187–205
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2. Schmidt MH, Esser G, Ihle W, Lay B (2009) Die Bedeutung psychischer und familiärer Faktoren für die Delinquenzentwicklung bis ins Erwachsenenalter. Monatsschr Kriminol 92:174–184
Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009) 3:337 DOI 10.1007/s11757-009-0022-2
März 2010 08.–12.03.2010, Königslutter Curriculum Forensische Psychiatrie und Psychologie Psychiatrisch-psychologische Begutachtung im Strafverfahren, Teil 1 Prof. Dr. N. Konrad, Dr. Baltzer, Dipl.-Psych. Dr. Herbig Information: www.psychiatrie-akademie.de 17.–20.03.2010, Vancouver (Canada) Conference of the American Psychology-Law Society Westin Bayshore Hotel American Psychology-Law Society (Section 41 of the APA) Information: www.ap-ls.org
April 2010 12.–14.04.2009, Potsdam-Griebnitzsee 13. Basiskurs für Forensische Psychiatrie Prof. Dr. H.-L. Kröber Institut für Forensische Psychiatrie der Charité Information: www.forensik-berlin.de 12.–15.04.2010, München 15. Bundeskongress der Psychologinnen und Psychologen im Justizvollzug Generalisten und Spezialisten – Facetten einer Profession Arbeitskreis der Psychologen im bayerischen Justizvollzug e.V. zusammen mit dem Department Psychologie der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Information: www.buko-vollzugspsychologen.de 25.–30.04.2010, Niederpöcking 22. Fortbildungsseminar für Forensische Psychiatrie und Psychologie Niederpöcking Grundkursseminar sowie Seminare für Fortgeschrittene und Erfahrene Prof. Dr. N. Nedopil Information: www.forensik-muenchen.de
Kongressk alender Mai 2010 14.05.2010, Dresden 15. Dresdner Frühjahrstagung für Forensische Psychiatrie Dr. Sutarski, Dr. Lammel Information: www.forensik-dresden.de 22.–23.05.2010, New Orleans, USA Semiannual Meeting (with APA) American Academy of Psychiatry and the Law Information: www.AAPL.org 25.–27.05.2010, Vancouver (Canada) 10th Annual IAFMHS Conference Westin Bayshore Hotel International Association of Forensic Mental Health Services (IAFMHS) Information: www.iafmhs.org 28.05.2010, Wien, Allgemeines Krankenhaus Wien 4. Wiener Frühjahrstagung für Forensische Psychiatrie Kinder- und Jugendkriminalität im interdisziplinären Diskurs Information: Yasmin Haunold,
[email protected]
September 2010 01.–04.09.2010, Oslo, Norwegen 11th IATSO Conference International Association for the Treatment for Sexual Offenders Information: www.iatso.org/Oslo/Oslo
Oktober 2010 21.–24.10.2010, Tucson AZ, JW Marriott Starr Hotel, USA 41. Annual Meeting American Academy of Psychiatry and the Law Information: www.AAPL.org Hinweise für den Kongresskalender bitte an:
[email protected]
Juni 2010 11.06.2010, Berlin-Dahlem 14. Berliner Junitagung für Forensische Psychiatrie und Psychologie Institut für Forensische Psychiatrie der Charité Information: www.forensik-berlin.de (Veranstaltungen) 15.–18.06.2010, Göteborg, Schweden 20th Conference: Towards a positive legal psychology European Association of Psychology and Law (EAPL) Information: http://eapl2010.net/
Qualifizierung und Zertifizierung in kinder- und jugendpsychiatrischer Begutachtung Wegen der zunehmenden Bedeutung forensischer Fragestellungen im Bereich der Begutachtung von Kindern, Jugendlichen und ihrer Eltern haben die drei kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie/Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie/Bundesarbeitsgemeinschaft der leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie) die Einführung einer speziellen Weiterbildung, Qualifizierung und Zertifizierung für forensische Fragestellungen etabliert. Die inhaltliche Umsetzung und Zertifizierung erfolgt über die Weiterbildungskommission der drei Fachgesellschaften und wird überregional organisiert. Das Curriculum besteht aus insgesamt 60 Theoriestunden zu allen relevanten forensischen Themen sowie 60 Stunden Teilnahme an Gutachtenforen, in denen mindestens 15 eigene Gutachten aus unterschiedlichen Bereichen vorgestellt werden müssen. In einem abschließenden Fachgespräch wird die Qualifizierung der Teilnehmer festgestellt und ggf. zertifiziert. Informationen zu den jeweiligen Veranstaltungen finden sich im Internet unter http://www.weiterbildung-kinderpsychiatrie.de/seminare.html. Die Weiterbildungskommission der drei Fachgesellschaften hat darüber hinaus die Kenntnisse bislang forensisch ausgewiesener Kinder- und Jugendpsychiater überprüft und bei Vorhandensein entsprechender Vorleistungen ihnen die Zertifizierung für kinder- und jugendpsychiatrische Begutachtung erteilt. Informationen zum Curriculum sowie eine Liste der qualifizierten Gutachter finden Sie im Internet unter http://www. weiterbildung-kinderpsychiatrie.de/forensik-zertifikat.html.
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