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Manfred Schütz
FLAMMEN UM DUXABELL Menschliche Schreie, angstvolles Pferdewiehern mischen sich in die Lautspreche...
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Manfred Schütz
FLAMMEN UM DUXABELL Menschliche Schreie, angstvolles Pferdewiehern mischen sich in die Lautsprecherdurchsage, lassen sie unverständlich werden, abbrechen. »Die Teilnehmer am Stechen werden gebe…, gebe…« Noch lauter, bis an die Schmerzgrenze des menschlichen Gehörs reichend, wird das Wiehern der aufgeregten Tiere, ist geeignet, Panik ausbrechen zu lassen. Eine Stichflamme färbt die Blätter der alten Pappeln hinter dem Dorfkrug in Blumenhagen für Sekunden grellgelb, verändert die Farben der aufgezogenen Fahnen, läßt die hochgespannte Erwartung auf die Entscheidung im Springen beim Turnier der Junioren zusammenfallen, sich dem zuwenden, was auf dem Vorbereitungsplatz geschieht. »Bewahren Sie Ruhe!« versucht der Platzsprecher die aufgeregte, farbenfroh gekleidete Menge zu beruhigen. »Bitte, behalten Sie Ihre Plätze! Beunruhigen Sie die Tiere nicht! Behalten Sie Ihre Plätze! Das Turnier wird nach kurzer Unterbrechung fortgesetzt!« Vergeblich seine beschwörenden Versuche, seine Appelle. Die Menge drängt, sich gegenseitig schubsend und stoßend, einer zu erwartenden Sensation zu. Nichts also mit ruhigem Wochenende, Frühschoppen und ähnlichem, denkt Oberleutnant Kiesel, der Abschnittsbevollmächtigte von Blumenhagen und einigen zum Gemeindeverband gehörenden umliegenden Ortschaften. Mit Zustimmung seiner Vorgesetzten hat er an diesem Wochenende freibekommen. Was aber bedeutet das in seinem Beruf, den er vor Jahren
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freiwillig und begeistert aufgenommen hatte? Nichts anderes, als eigentlich jederzeit »im Dienst« zu sein. Selbst wenn er, wie jetzt, zum leichten Sommeranzug, zum blütenweißen Hemd und zu den bequemen Schuhen die nagelneue Krawatte trägt, ein Geschenk zu seinem Geburtstag vor wenigen Tagen. Für das Turnier und dessen ordnungsgemäße Absicherung genügte die Arbeit seiner freiwilligen Helfer, die er durch einige Jungen der FDJOrdnungsgruppe verstärkt hatte. Stürze, leichtere und manchmal auch gefährlichere, kamen auf Turnieren öfter vor. Sie sind in erster Linie Sache der Sanitäter, des immer anwesenden Platzarztes. Das war bisher immer in Ordnung gegangen. Kaum jemand regte sich über ein solches Vorkommnis noch sonderlich auf. Es mußte also Schlimmeres passiert sein. »Wenn ich schon mal ’nen Anzug aus’m Schrank hole«, er seufzt, blickt zur Theke hin und wischt sich den Bierschaum von den Lippen, »… aber, das Leben richtet sich nun einmal nicht nach der Dienstzeit. Und das hab’ ich schließlich gewußt, damals.« Im Hinausgehen lockert er den Krawattenknoten. In Sekundenschnelle haben die Reiter nach dem Ausbruch des Feuers, die meisten der Tiere losgebunden. Ein Schlag mit der flachen Hand, mit der Reitgerte genügt, die Pferde, aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu bringen. Es hätte keinen Sinn, gewaltsam zu versuchen, sie am Strick zu halten. Es wäre lebensgefährlich. Von panischem Schrecken erfüllte, sich mit geblähten Nüstern hochaufbäumende Pferde, keilende Hufe und wild schlagende Schweife, weit aufgerissene Augen, in denen das tot wirkende Weiße hervortritt – das ist kein Anblick für ängstliche Gemüter. Die inzwischen hell aufzüngelnden Flammen waren in einem der Transportwagen ausgebrochen, mit dem die Tiere zum Turnierort gefahren werden. An den Außenseiten der hölzernen Aufbauten sind Ringe angebracht, an denen die Pferde während der Wartezeiten angebunden werden können. Einigen Tieren ist es gelungen, sich loszureißen. Ziellos jagen sie davon, werden erst später irgendwo zur Ruhe kommen. Hartes Metall herabgerutschter Steigbügel schlägt schmerzhaft in ihre Flanken. Sättel
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verschieben sich, Bauchgurte zerreißen. Ständig steigert sich die Angst der Tiere. Den Hörer in der Hand, kann Oberleutnant Kiesel vom Fenster seiner Wohnung aus beobachten, wie die freiwilligen Helfer und beherzte LPGBauern die Brandstelle und die Umgebung abzusperren versuchen. Kein leichtes Unternehmen, zumal sich viele Fremde unter den Zuschauern befinden, die nicht alle die Notwendigkeit der Absicherung sofort begreifen wollen, denen ein bißchen Sensationsgier wichtiger erscheint. Der Oberleutnant muß laut in den Apparat sprechen, um seinen Vorgesetzten im Volkspolizeikreisamt zu verständigen. Das Jaulen der Sirene vom Dach des Dorfkrugs macht es fast unmöglich. Wenige Minuten später sind die Männer der Freiwilligen Feuerwehr am Brandort. Oberleutnant Kiesel kann sich trotz der offenbar ernsten Situation ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Wie vor kurzem noch bei ihm selbst, wehen aus manchem eilig übergezogenen Overall sonntäglich festliche Schlipse.
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Die suchende Flamme hat inzwischen das feuchte Lagerstroh im Transporter erreicht. Dicker, beißender Qualm entquillt dem Wageninnern, läßt das Atmen schwer werden. Die Männer haben sich zum Schutz feuchte Tücher vor den Mund gebunden. In Leder gekleidete Gestalten eilen zwischen Pferden und rauchgeschwärzten Reitern umher, haben mitgeholfen, die Tiere loszumachen, versuchen danach, sich davonzuschleichen, ihre am Dorfrand geparkten Maschinen zu erreichen. Zischende Wasserstrahlen bereiten dem Feuerspuk ein schnelles Ende. Vorsichtig ziehen helfende Hände einen zusammengekrümmten Körper in verschmutzter Reiterkleidung unter dem Wagen hervor, heben eine von Hufen zertretene Reitkappe auf, tupfen das Blut ab, das in dünnen Fäden aus Mund und Nase des Ohnmächtigen rinnt. In geringer Entfernung steht abwartend, niemanden an sich heranlassend, statuengleich Duxabell, das favorisierte Springpferd Steffens; ein kräftiger dunkelbrauner Wallach mit kurzgeschorener schwarzer Mähne und frech abstehendem Schopf, der seinem Gesicht etwas Lustiges gibt. Auch die noch ängstlich blickenden Augen können daran nichts ändern. »Darum also hat Steffen immer nach einem Messer geschrien«, bemerkt einer der Reiter und deutet dabei auf den Hals des Wallachs. Am Anbindehalfter baumelt ein mehrfach verknoteter, zerfetzter Strick. Die deutlich sichtbare Rißstelle läßt die Kraft, mit der sich das Tier befreit haben muß, nur ahnen. Jedem versierten Reiter wäre es gelungen, den Sicherungsknoten mit einem Griff zu lösen. Zwischen den einzelnen Durchgängen des Turniers aber versorgen Helfer die Tiere. Nicht immer bieten sie Gewähr für die exakte Einhaltung aller Anweisungen. Der Platzsprecher wiederholt seine Aufforderung zur Ruhe; verkündet den Beschluß der Verantwortlichen: Abbruch des Turniers. Kein Stechen also zwischen Steffen Hansen und seinem Rivalen. Keine Entscheidung zwischen zwei gleichwertigen Springreitern. Kein Vergleich zwischen den favorisierten Pferden Duxabell und Oleg.
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Während sich Oberleutnant Kiesel durch die drängelnden Menschen einen Weg zum Brandherd bahnt, bemerkt er unter den Jungen und Mädchen der Sektion Reitsport Blumenhagen enttäuschte und traurige Gesichter, Tränen sogar in den Augen der jüngsten. Wochenlang haben sie sich auf den ShowTeil der Veranstaltung vorbereitet, haben in der Bezirksbibliothek Bücher gewälzt, sich mit den Kostümleuten des Theaters beraten, selbst geschneidert, den Western-Style geprobt, dazu Zaumzeug und Sättel verändert. Schließlich sollte der »Überfall auf die Postkutsche« so originalgetreu wie nur möglich aussehen. Das alles umsonst? Keine Ungarische Post, keine Quadrille, keine Vorführung des Viererzuges? Behutsam wischt der Oberleutnant Tränen aus den Augen eines flachsblonden Nachwuchs-Cowboys. »Mensch, Hannes, Cowboys heulen nicht. Wir holen das alles nach!« Schluchzend schiebt der Neunjährige seinen Plast-Colt in die sternverzierte, selbstgebastelte Hülle. Daß er »Mist verdammter!« sagt, kann Kiesel nicht mehr hören. Fast gleichzeitig mit den Männern und Frauen der Freiwilligen Feuerwehr ist Eberhard Pinnow, praktischer Arzt des Landambulatoriums, eingetroffen. Er will seinem offiziell diensttuenden Kollegen nötigenfalls helfen. Eine seltsam kostümierte Gesellschaft ist an der Unfallstelle versammelt. Feuerwehrleute im Sonntagsanzug mit Helmen, der ABV in Zivil, Jugendliche in Reitertracht, in Western-Kostümen, als ungarische Hirten verkleidet, dazwischen das Publikum aus den Dörfern der Umgebung, aus der nahen Bezirksstadt. Als Verantwortlicher für den Show-Teil trägt der Arzt selbst auch Cowboy-Tracht. Die Blumenhagener und die Leute aus der Umgebung nennen den Fünfunddreißigjährigen mit dem kleinen Bauchansatz liebevoll »unseren humanmedizinischen Tierarzt«. Wer darauf gekommen ist, weiß niemand. Der rotgesichtige, jungenhafte Typ mit den leicht gekrümmten Beinen ist aktiver Reiter in der Sektion, kümmert sich als Übungsleiter am liebsten um die Mädchen, wie er ständig selbst betont, und genießt als »Doktor« Vertrauen bei alt und jung. Als er die von seinem Kollegen über Steffen gebreitete Decke zurückschlägt, ist der Junge bereits in tiefer Bewußtlosigkeit. Sein bleiches Gesicht mit dem Blut im Mundwinkel hat Ähnlichkeit mit dem eines Toten.
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Der Arzt wendet sich an seinen Kollegen. »Ich kümmere mich…« Der nickt zustimmend. »Sie wissen, wie wichtig es ist, daß jemand bei ihm ist…« »Habt ihr sauber hingekriegt das Ding«, knirscht Karsten Kiesel, der älteste Sohn des ABV, zwischen den Zähnen hervor. Mit kaum verborgener Wut schaut er dabei Alec an, der jenseits der Absperrung dicht neben ihm steht, den Sturzhelm unter den Arm geklemmt, den Kaugummi betont lässig von einer Mundseite in die andere schiebend. Alec gilt als »Vizechef« einer Gruppe Jugendlicher, die in der nahen Bezirksstadt durch rowdyhaftes Benehmen und groben Unfug, durch Provokationen und direkte Aggressionen aufgefallen sind. Verweise und erhaltene Ordnungsstrafen kleben sie nicht so auffällig an ihre Motorräder wie grellfarbene Reklamesprüche irgendwelcher Ölfirmen. Alec verzieht keine Miene, wehrt sich nicht gegen die fast direkt ausgesprochene Verdächtigung, zuckt nicht einmal mit den Schultern. Bedeutet der Abbruch des Turniers kampflosen Titelgewinn für Steffens sportlichen Gegner? Bedeutet der Abbruch auch indirekten Sieg für einen anderen, einen möglicherweise unsportlichen, gefährlicheren Rivalen? Uwe Petersen, den die Bewohner von Blumenhagen immer nur »Spaghetti« oder den »Blutarmen« nannten, weil man ihm das »Alphabet durch die Rippen pusten könne«, war dick mit Steffen befreundet gewesen. Damals, als er noch in Blumenhagen wohnte. Zu einer Zeit, als die heranwachsenden Jugendlichen Partner in den Eltern suchten und brauchten, ließen sich Uwes Eltern scheiden. Sie, die sich kaum um die Kinder gekümmert hatten, zogen in die Stadt. Im Dorf hatten sie die Konsum-Gaststätte bewirtschaftet, nach anfänglichen Bemühungen bald Schlamperei einreißen lassen. Sie wurden daraufhin versetzt. Uwes Heimat waren die Freunde der Sportgruppe. Auch noch kurze Zeit nach seinem Umzug in die Stadt bemühte er sich, Kontakt zu halten. Regelmäßig kam er mit seinem Motorrad zum Training, hielt lange Zeit mit Steffen die Leistungsspitze der Sektion. Allmählich aber siegte der Motor, fanden sich andere Freunde in der Stadt, bildete sich die Gruppe. Christina oder Chris, die »Disko-Lady« von Blumenhagen, bislang beider Freundin, begann deutlich, Steffen zu bevorzugen.
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Wie alle im Dorf, so weiß auch der Oberleutnant um die Entwicklung Uwes, die seit einiger Zeit deutlich eine Tendenz nach unten aufweist. Suchen seine Blicke deshalb die des Jungen? Überlegt er darum, ob an der geäußerten Vermutung des Leiters der Freiwilligen Feuerwehr: »… den Umständen entsprechend könne es sich auch um bewußte Brandstiftung handeln!« etwas dran sei? Gab es da eine böse Absicht? Wenn ja, welche? Gilt es, einen Schuldigen zu suchen und damit auch die kleinste Spur zu sichern? Neid, Eifersucht, billige Rache? Das alles paßt nicht auf Uwe. Es wäre zu vordergründig, vertrüge sich außerdem nicht mit Uwes früherem Verhalten, als er noch im Dorf wohnte. Trotzdem; Zweifel beginnen sich im Kopf des ABV einzunisten. Sentimentalität ist kein Ratgeber für die Aufklärung krimineller Handlungen. Kiesel kennt die Mentalität der Jugendlichen seines Dorfes sehr genau. Mehr zu sich selbst als zu dem neben ihm knienden Arzt sagt er nachdenklich: »Wer Tiere so liebt wie unsere Jungen ihre Pferde, der kriegt so was nicht fertig, nein, der tut so was einfach nicht.« Wie zur Bestätigung nickt der Arzt. Auch er, der jetzt nur um Steffen bemüht ist, beobachtet beim Training sehr genau die Verhaltensweisen zwischen Mensch und Tier, versucht herauszukriegen, was den Reiz des Pferdesports bei den Jungen und Mädchen ausmacht. Ist es bloße Liebe zur lebendigen Kreatur, Anhänglichkeit, der Hang zum Risiko? Die meisten besitzen inzwischen ein Moped, manche ein Motorrad. Eberhard Pinnow hat beobachtet, wie ganz anders sie damit umgehen. Mit der geballten PS-Kraft dieser chromglänzenden Konstruktion kann man nicht reden. »Mistkrücke!«, »Kalter Ofen!« kann man da allenfalls fluchen, wenn sie mal nicht anspringen. Metall antwortet nicht. Aber: Wenn keiner hinsah, strich manche Jugendhand fast zärtlich über den Tank oder den Lenker. Eberhard Pinnows ernste Miene verheißt nichts Gutes. Zweifel ist darin. Unruhig fragt er immer wieder nach dem Rettungswagen aus der Kreisstadt, dabei kein Auge von dem Jungen lassend. »Hoffentlich ist er transportfähig; die Straße ist nicht die beste«, gibt Karl Henning, der LPG-Vorsitzende, zu bedenken. Wie zur Bestätigung stellt der Arzt die flacher werdende Atemtätigkeit des Jungen fest, tasten seine Finger vorsichtig prüfend über den Körper des
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Verletzten. »Ein paar Rippen sind gebrochen!« Er macht eine Pause, wie um sich selbst über seinen nächsten Satz klarzuwerden. Ein leichtes Anheben des Oberkörpers erbringt auch für die Umstehenden die sichtbare Bestätigung für das Vorliegen einer schweren inneren Verletzung: Heftiger quillt Blut aus Mund und Nase des Verletzten. »Ich glaube, Steffen ist mit dem Kopf gegen die Eisenkante des Transporters geknallt«, bemerkt einer der Reiter, die mit dem Losbinden der Pferde beschäftigt gewesen sind. »Ich habe ihm noch geholfen, Duxa loszumachen. Dabei hat er gekeilt, so aus Angst wahrscheinlich.« Duxabell ist im Dorf und darüber hinaus unter Turnierreitern und Sommertouristen, die während der Saison in Blumenhagen ihre Ferien als Hobby-Reiter verbringen, bekannt. Spaßmacher und Entfesselungskünstler nennen ihn manche. Ihn muß man schon besonders fest anbinden, will man nicht riskieren, ihn irgendwo in der Gegend anzutreffen. Nicht, daß er weglaufen würde. Duxabell macht einfach von seiner Abneigung gegen alles ihn Beengende Gebrauch. Mit seinen Lippen zieht er jeden Knoten auf, streift Halfter oder Trense ab, zieht am heimischen Stall die Riegel auf, geht zur Futterkiste, um sich selbst zu bedienen. Manchmal öffnet er auch die Boxen anderer Tiere, dreht den Wasserhahn im Stallgang auf, und nicht selten ist Steffen nachts aus dem Bett geholt worden, weil ein zufällig vorübergehender Urlauber im Stall auffällige Bewegungen wahrgenommen hatte. Keiner der Neugierigen, der den Wallach nur ein paar Schritte von seinem verletzten Herrn stehen sieht, will glauben, daß seine Hufe Schuld an der in ihrem Umfang noch nicht erkannten Verletzung sein sollen. Nur schwer dürfte nachzuweisen sein, ob nicht eines der anderen Pferde, die am Wagen angebunden waren, die schrecklichen Schläge ausgeteilt hatte. Auskunft darüber würde nur Steffen selbst geben können. Der Arzt hebt den Kopf. Aus seinem Gesicht ist die sonst allen bekannte Fröhlichkeit gewichen. »Steffen ist transportunfähig!« Oberleutnant Kiesel hat in seinem langjährigen Dienst auf dem Lande gelernt, nicht vorschnell nach Äußerlichkeiten zu urteilen, viel weniger noch zu verurteilen. Drei eigene Söhne, zwei davon im besten »Disko-Alter«, haben »die Verbindung zur Basis«, wie die Söhne es leicht ironisch nennen, nicht abreißen lassen. Oberleutnant Kiesel hält nicht viel von jener leider noch nicht ausgestorbenen Sorte Mitbürger, die wegen jeder Kleinigkeit
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gleich eine Eingabe an den Staatsrat verfassen und damit die wirklich ernsthaften Fragen und Probleme möglicherweise sogar zeitlich verzögern. Um so mehr schätzt er die anderen. Vor allem auf den Zeltplätzen sorgen sie ohne viele Worte tatkräftig für Sicherheit und Ordnung und damit für die verdiente Ruhe und Freizeit der Urlauber. Mit vielen von ihnen macht die Zusammenarbeit sogar Freude. Sich nicht gleich alles gefallen lassen, sich nicht dem Willen einer noch so lautstark vorgetragenen Minderheitsmeinung zu beugen, ein bißchen mehr Zivilcourage, das wünscht sich der ABV von Blumenhagen noch für manche seiner Mitbürger. Der Alltag, seine großen und kleinen Probleme haben ihn in jahrelanger Tätigkeit gelehrt zu differenzieren. Darum kann er heute auch über einiges, was trockene Lehrbücher in gutgemeinter Absicht vermitteln wollen, nur schmunzeln. Die Bewohner der Gemeinde mögen ihren »Kiesel«. Er kann, wenn Not am Mann ist und er zufällig vorbeikommt, im Abkalbestall seine Uniformjacke ausziehen und mit geschickter Hand ein Jungtier ans Tageslicht befördern und wie nebenbei über die letzten Streiche der »Damen und Herren des Wohnheims«, wie er manche Lehrlinge nennt, Kenntnisse einholen. Seine Vorgesetzten im Kreisamt kennen diese unkonventionellen Methoden, die er im Umgang mit »seinen Leuten« pflegt, schätzen seine in sich gefestigte, kontaktfreudige Persönlichkeit, wenn auch seine Berichte fast immer so knapp ausfallen, als mangele es ihm an Schreibpapier. Auf ihn ist Verlaß, das zählt. Uwe und seine Leute stehen zusammen mit anderen Jugendlichen von den umliegenden Zeltplätzen isoliert auf der einen Seite der Absperrung. Ihre bunten Integralhelme baumeln über den Armen. In den meisten Gesichtern, vor allen in denen der Mädchen, nur schlecht verborgenes Erschrecken. Schließlich geht es zumindest um den Verdacht der Brandstiftung; von dem, was mit Steffen geschehen ist und vielleicht nur wie ein Unfall aussieht, ganz zu schweigen. Unbemerkt hatte der Oberleutnant seine Anordnungen getroffen. Die genaue Brandursache zu ermitteln war sowieso Aufgabe der Genossen von der K. Er konnte nur durch sorgfältige Sicherungsarbeit Unterstützung geben.
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Als die Gruppe gemeinsam verschwinden will, finden sie auf dem Parkplatz ihre Maschinen von einigen »Cowboys« umringt. Mit ihren breitkrempigen Hüten, den bunten Halstüchern und dem Lasso in der rechten Hand sehen sie verdammt echt aus. Nicht ohne Neid bemerkt Uwe, daß sie sogar den Western-Style beim Reiten richtig beherrschen, die linke Zügelhand angewinkelt über dem Pferdehals halten. Ruhig umkreisen sie den Platz. Die rote Armbinde über manchem karierten Hemd stört dabei den entschlossenen Gesamteindruck der Reiter überhaupt nicht, sieht eher wie eine dazugehörige Ergänzung aus. »Ihr spinnt doch wohl? Ihr looft woll nich janz rund, eh? Sacht ma euerm Sheriff, daß det mächtig nach Freiheitsberaubung stinkt, eh!« Uwe mahnt zur Ruhe. Trotzdem: Drohungen fliegen hin und her. Die Reiter bleiben nichts schuldig; Beschimpfungen, von denen »beknackte Dorfidioten« auf der einen Seite und »Schmalspurheinis, Betonchaoten« auf der anderen Seite noch zu den Liebenswürdigkeiten zählen, wechseln die Fronten. Der Oberleutnant bleibt ruhig. »Jedenfalls brauche ich eure Personalien! Dazu kommt ihr alle mit zur Kneipe!« sagt er bestimmt und registriert, daß einige, besonders die Stadtmädchen, erstaunt aufblicken, weil er Kneipe statt Konsum-Gaststätte sagt. Auf der anderen Seite der Absperrung stehen die Teilnehmer des Turniers unschlüssig herum. Die ersten Pferde sind inzwischen eingefangen. Zitternd, noch immer die Köpfe hochreißend, lassen sie sich von ihnen vertrauten Menschen beruhigen. Noch immer ziehen die Nüstern ängstlich den inzwischen fast verflogenen Brandgeruch ein, scheinen die Tiere bereit, beim kleinsten Anlaß davonzustürmen. Mit abgestellter Sirene ist endlich der Rettungswagen heran, Türen werden aufgerissen. Zwei Männer bringen eine Trage. Die Notärztin, eine noch sehr junge Frau, schließt die notwendigen Geräte an. Atmung und Kreislauf müssen stabilisiert, eine innere Infektion muß unbedingt verhindert werden. Alles geschieht fast wortlos. Sieht man nur flüchtig hin, erscheint es wie Routine, eingespielt und exakt, wortlos und sicher.
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Der Landarzt und seine Kollegin sprechen sehr leise miteinander. Ihre Mienen bleiben ernst, verraten nichts. »Wo ist Karl?« Der suchende Blick des Arztes kann den LPGVorsitzenden nicht finden. »Er holt Steffens Vater, muß gleich zurück sein«, sagt eins der Mädchen. »Wir brauchen einen Hubschrauber!« Die Ärztin nickt bestätigend. »Anders ist der Transport nicht zu verantworten.« Minuten später hat sich der ABV mit dem Volkspolizeikreisamt in Verbindung gesetzt und den Ernst der Lage geschildert. Die Genossen melden zurück, daß eine in der Nähe stationierte sowjetische Hubschraubereinheit einen Hubschrauber zur Verfügung stellt. »Laßt Karl über Lautsprecher ausrufen«, rät ein anderer. »Nützt nichts«, sagt das Mädchen. »Er ist draußen bei den Silos.« Schärfer als beabsichtigt herrscht der Arzt Uwe an: »Vielleicht sitzt bald einer von euch auf seiner Karre. Wozu habt ihr denn die Dinger? Oder kennst du den Weg zu den Silos nicht mehr? Der Vorsitzende soll sofort Major Korolenko anrufen! Nein, besser: Er soll sofort hinfahren! Es besteht Lebensgefahr. Major Korolenko weiß seit dem strengen Winter, wie man unser Dorf am besten anfliegt und wo man runterkommt. Du fährst vorweg! Mach dir mit Hupe und Scheinwerfer die Straße frei. In zehn Minuten könnt ihr es schaffen! Bloß beeilt euch um Himmels willen!« Oberleutnant Kiesel reicht Uwe einen Helm. »Los, komm! Ich fahre, da dürfen wir ein bißchen über hundert! Ihr anderen wartet hier, verstanden!« Mit durchdrehenden Reifen und hochgerissenem Vorderrad jagt die MZ davon. »Een echter Croß-Hirsch, euer ABV«, sagt einer der Jugendlichen anerkennend. Durch transparente Plastschläuche des Tropfgerätes sickert das stimulierende Medikament. Noch immer sind Steffens Augen geschlossen, ist die Atmung nur für die Ärzte wahrnehmbar. Die Zeit läuft mit dem Leben des Jungen um die Wette. Immer wieder blickt die Ärztin auf die Uhr, dann in den Himmel, der sich strahlendblau über der Landschaft wölbt. Nicht weitab verbringen Hunderte von Erholungshungrigen am Seeufer verdiente Sommerferien. Sie ahnen nichts von dem, was im nahen Blumenhagen passiert ist. Letzte
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Rauchfetzen haben sich aufgelöst. Der Brand wurde so schnell gelöscht, daß am Transporter kaum schwarze Brandstellen zurückblieben. Alle Tiere sind von den Reitern und ihren Helfern inzwischen wieder eingefangen, abgesattelt und in ausreichender Entfernung auf eine Koppel getrieben worden. Zwei Tiere lahmen, haben sich während der Flucht verletzt. Für sie wird der Tierarzt sorgen müssen. Noch immer aber ist Angst in den Augen der Pferde. Die Entscheidung der Turnierleitung findet bei den Zuschauern, bei denen es sich meist um Sport- und Tierfreunde handelt, volle Zustimmung. Einer der untätig herumstehenden Kampfrichter tröstet braun angemalte Kinder mit Bussardfedern in den Haaren. »Eure Schau holen wir nach, bald schon, klar! Hebt man eure Sachen gut auf. Umsonst habt ihr sie auf keinen Fall geschneidert.« Eberhard Pinnow spricht mit der jungen Ärztin: »Der Vorsitzende ist mit Major Korolenko befreundet. Seit damals, als das Dorf tagelang durch Schneeverwehungen von der Außenwelt abgeschnitten war.« Die Ärztin hört zu. Sie weiß natürlich um die Sache mit der Brotversorgung durch sowjetische Armeehubschrauber in jenem strengen Winter. Sie läßt dabei den Jungen nicht aus den Augen, obwohl beide ihm nicht weiter helfen können, als sie es bisher getan haben. Immerhin, das Gespräch hilft endlos scheinende Minuten verkürzen. Noch immer kein Surren wirbelnder Rotoren in der Luft. Erste Vermutungen, leise ausgesprochen, machen die Runde. Selbst wenn einer der Helfer oder Reiter in der Nähe des Wagens geraucht haben sollte, obwohl es streng verboten ist: Eine Stichflamme hätte das nie gegeben. Etwas anderes mußte im Spiel gewesen sein. Der Brandursachenermittler der Kriminalpolizei würde es bald herausgefunden haben. Noch immer streng getrennt voneinander stehen die Dorfjugend, die UweGruppe, die Leute vom Zeltplatz sowie Reiter und Zuschauer, aufmerksam bewacht von den »Cowboys«. Einer der Jungen, Silbernieten an jeder Naht seines hautengen Lederoveralls, versucht immer wieder, sich abzusetzen. Eine leichte Andeutung mit dem Lasso genügt, ihm klarzumachen, daß er keine Chance hat. Er tuschelt, redet beschwörend auf ein Mädchen ein.
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Die Hände über dem Schoß gekreuzt, in den Knien wippend, fragt sie einen der Bewacher: »He, Kollege Hilfssheriff! Ick muß mal ablassen. Janz dringend!« »Okay! Aber Stiftenjehn is nich, klaro! Sonst komm’ ich hinterher!« »Kannst ja nich. Mußt ja schön aufpassen, gelle?« Dabei bewegt sie ihren runden Hintern in der hautengen Lederhose so verführerisch, daß dem Jungen entgehen muß, wie sie Alec zublinzelt. Irritiert gibt er dem Mädchen den Weg frei, blickt ihr so lange hinterher, bis die anderen ihn aufzuziehen beginnen. »Haste mit deinem Pferdearsch noch nich jenuch?« »Det grenzt ja schon an Vernachlässigung der Dienstpflicht, eh!« »Eigentlich müßteste och det ’Jeschäft’ bewachen, wenn man’s jenau nimmt.« »Mann, Junge, mach dich hinterher! Det is die Jelegenheit.« Christina, der »Disko-Lady«, sind weder das Getuschel aus der Gruppe noch die Blinzelei des Mädchens und Alecs entgangen. Alec, den »Vizechef«, mochte sie sowieso nicht. Mit seinem auffälligen Getue, seiner Herumprotzerei mit Beziehungen, seinen angeberischen Klamotten war er nicht ihr Typ. Schon während der Vorläufe war er dem Mädchen unangenehm aufgefallen. Wann immer er sich unbeobachtet glaubte, warf er Steine und Sandklumpen nach den Pferden, versuchte sie zu beunruhigen. Ein paarmal hatte ihn Uwe mit zum Training gebracht. Auch dort hatte er, wenn die Pferde im Dressurviereck dicht an ihm vorbeigingen, blöde Witze gemacht, über die andere dann laut auflachten. Wenn ein Pferd zum Sprung ansetzte, stellte er sich dicht an das Hindernis, zog ein blütenweißes Taschentuch von besonderer Größe heraus und schneuzte sich laut. »Diese Scheiß-Erkältung aber auch…« Häufig scheuten die Pferde, verweigerten den Sprung oder sprangen falsch ab, rissen die Stangen. Mehrere Verwarnungen blieben wirkungslos. Selbst von Uwe ließ sich Alec, der eigentlich Albert hieß, kaum etwas sagen. Seine Mutter leitete die Ersatzteilversorgung für Zweiräder in der Bezirksstadt, beseitigte somit Beschaffungsprobleme, die Gruppe war immer mobil. Als ehemalige Freunde hatten Steffen und Chris Uwe gebeten, sich von diesem Typ zu trennen oder ihn gemeinschaftlich in die Mangel zu nehmen.
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»Bei uns in der Sektion geht so was doch auch. Warum nicht in eurer Truppe?« Doch Alecs Einfluß auf Uwe scheint unbegrenzt. Den »Chef« den Gruppe wollte er nicht machen, ihm genügte es, Idol der anderen zu sein, der »Vize«, wie er sich gern nennen ließ.
Auf Steffens Antrag hatte man auf Grund der Vorkommnisse Uwe aus der Sektion ausgeschlossen, seinem »Vize« Platzverbot während des Trainings erteilt. Nein, denkt das Mädchen Christina, als sie der anderen vorsichtig folgt, aus diesen kleinlichen Gründen steckt man keinen Transporter in Brand, gefährdet Menschen und Tiere. Mag Uwe geworden sein, wie er ist, das hier ist ihm nicht zuzutrauen. In dem Mädchen hat sie Monika oder Puppie, wie sie die Leute aus der Gruppe nennen, erkannt; Alecs derzeitige Nummer Eins. Nein, geht es ihr durch den Kopf, das würde Uwe auch jetzt weder zulassen noch selbst ausführen. Auch daß sie ihn hatte abfahren lassen, konnte nicht genügen;
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schließlich ist er mit achtzehn trotz seiner Schüchternheit kein gekränkter kleiner Junge mehr, hat seine Erfahrungen im Umgang mit Mädchen. Ganz schön zickig hat sich die Stadtmieze! Läuft durchs ganze Dorf, bloß um zu pinkeln, denkt Chris. Dann zieht sie den Kopf ein. Peitschende Rotoren zerschneiden die Luft über ihr. Ein starker Sog zieht die Bänder ihres Ungarnkostüms nach oben, läßt den weiten Rock aufbauschen wie einen bunten Fallschirm. Soll sie jetzt zurück? Zurück zu Steffen, den sie abholen? Wann wird sie ihn wiedersehen? Kurz ist der Moment des Zögerns, ausreichend, das andere Mädchen verschwinden zu lassen. »Mist verdammter! Steffen wird schließlich auch ohne mich versorgt. Weit kann die andere sowieso nicht mehr gehen. Nach einer Häuserzeile ist das Dorf zu Ende, da wird sie sich ja endlich hinhocken.« Der Helikopter senkt sich zur Erde. Kaum haben die Räder den Boden berührt, wird die Tür aufgeschoben, springen zwei weißgekleidete Männer mit einer Spezialtrage heraus, verlassen durch eine zweite Tür Major Korolenko in ungewohntem Zivil und der LPG-Vorsitzende den Helikopter. Steffens Vater sitzt neben dem Piloten, bleibt dort. In Minutenschnelle haben die sowjetischen Helfer den noch immer bewußtlosen Steffen vorsichtig umgebettet. Den Kopf des Jungen vor dem Sog der Rotoren abdeckend, heben sie die Trage in den Helikopter. Türen schließen sich. Ungewißheit bleibt zurück, wird auch durch letzte Wünsche, daß alles gut gehen möge, nicht beseitigt. »Wird er durchkommen?« fragt der zurückgebliebene Major, den viele im Dorf seit jenem schrecklichen Schneewinter kennen. »Er wird«, antwortet Pinnow. Dabei blickt er dem nur noch als winzigen Punkt am Sommerhimmel erkennbaren Helikopter nach. Inzwischen sind auch der Oberleutnant und Uwe mit dem Motorrad zurück. Fragende, unsichere Blicke empfangen sie. Gesenkte Köpfe, verlegen im Sand scharrende Fußspitzen, im Mund heftig hin und her geschobene Kaugummis.
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Ob Uwe gequatscht hat? Dieser Gedanke kreist in Alecs Kopf. Ob ihn Kiesel nicht schon unterwegs in die Mangel genommen hat? Auch Puppie ist noch nicht zurück! Aufmerksam registriert der Oberleutnant die Nervosität des Jungen. Die Verständigung mit Major Korolenko, den sie aus seiner Wohnung holen ließen, war eine Sache von Minuten gewesen. Alles lief in von Notwendigkeit bestimmtem Tempo ab. Der Major spricht fließend deutsch und kann im Dorfkrug beim Skat mit Spezialausdrücken wie »Luschen, Hosen runter« und ähnlichem aufwarten. Ein Sowjetbürger, ein Offizier noch dazu, der in einer deutschen Dorfkneipe Skat spielt. Als Oberleutnant Kiesel das im Kreisamt nebenbei einmal erwähnte, hoben die Zuhörenden erstaunt die Köpfe. »Ich dachte immer, die Freunde spielen nur Schach!« sagte einer und: »Korolenko ist sowieso ’ne seltsame Type«, ein anderer. »Trinkt Bier und ißt Eisbein statt Wodka mit Speck. Ein halber Germane ist aus dem schon geworden.« »Stimmt nicht«, hatte der erste geantwortet. »Ich kenne einige Frauen in der Stadt, die wittern eher den feurigen Ukrainer und kriegen bei dem bloßen Gedanken an ihn umflorte Augen.« »Ihr könnt draußen bleiben oder euch in die Kneipe setzen. Ich ruf euch einzeln rein. Die Bewachung«, damit deutet er auf die Reiter, »ist ja wohl nicht mehr nötig, was?« Beim Hineingehen bemerkt er nicht, daß Puppie zurückkommt und ihr wenig später Chris folgt. Die Jugendlichen bleiben in zwei Gruppen getrennt. Gelegentlich fliegen nicht gerade freundliche Blicke hinüber und herüber, als stünden sich Freund und Feind kurz vor dem Ausbruch eines offenen Kampfes gegenüber. Niemand denkt daran, daß einer der herumstehenden, heftig diskutierenden Erwachsenen durch eine achtlos weggeworfene Zigarette das Unglück verursacht haben könnte. Der Verdacht der Brandstiftung, einmal ausgesprochen, verdichtet sich zur vorläufig noch unbewiesenen Tatsache. Wer die Schuldigen sind, scheint, soweit man aus den Blicken der Dorfleute lesen kann, für diese zweifelsfrei festzustehen. Bevor der Oberleutnant mit der Befragung beginnt, gönnt er sich eine kurze Pause. Das Notwendige ist getan, vor allem für Steffen.
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Fast wie nebenbei notiert er inzwischen alle nicht in Frage kommenden Personen. Es würde die Arbeit der Genossen von der K, die jeden Augenblick eintreffen mußten, erleichtern, manchen Sachverhalt bereits vorher klären. Er kennt die Jungen und Mädchen der Gruppen, die sich große Abenteuer und Aktionen versprechen, ihren Idolen Uwe und Alec nacheifern, im Beruf, in der Schule nicht die schlechtesten sind. »Was ist es, was einigen fehlt, was sie die eigene Freizeit mit dem Geld der Eltern, auf Kosten anderer totschlagen läßt?« Aufmerksam hat Major Korolenko, der ihm gegenübersitzt, die laut gedachte Frage vernommen. Wortlos schauen sich die beiden Männer für einige Augenblicke an, scheinen in ihren Köpfen ähnliche Gedanken zu kreisen. »Haben Sie die Blicke gesehen, Major?« Und, ohne eine Antwort abzuwarten: »Ein bißchen wie hilflose kleine Kinder. Irgendwie können sie einem sogar leid tun. Ist das bei Ihnen drüben auch so? Woher diese immer noch anzutreffende Aggressivität einiger Menschen? Woher diese vorschnellen Urteile?« Aufmerksam hört Major Korolenko dem Freund und Genossen zu, lächelt. »Auch früher gab es immer einmal Stunk. Vor allem beim Dorftanz, da flogen die Fetzen eigentlich sogar mehr noch als heute, wenn man alte Gerichtsberichte liest. Liegt es nun daran, daß einige Jungen und Mädchen nicht lernen wollen, mit der länger gewordenen Freizeit trotz vielfacher Angebote vernünftig umzugehen? Liegt es nur daran, daß sie das Moped, den Recorder mitunter zu mühelos erhalten?« Jedesmal, wenn er darüber nachdenkt, stößt der Oberleutnant an den Punkt, der ihm sehr wichtig erscheint, um diesen Zustand zu verändern: das Fehlverhalten mancher Erwachsener, sich mit dem anderen Menschen nicht intensiv genug zu beschäftigen. Der sonst so besonnene ruhige Kiesel gerät fast in Eifer, als er fortfährt: »Ist dann irgendwas passiert, schreien sie als erstes gleich nach Polizei und Staat.« »Na, na, Genosse Kiesel«, versucht der Major den ungewohnten Redefluß des Oberleutnants zu dämmen, »sehen Sie da nicht ein bißchen zu schwarz?« Dabei weiß er, wie wichtig auch für den vielbeschäftigten ABV eine Unterhaltung dieser Art ist. »Manchmal kann ich richtig wütend werden, wenn ich mitkriege, wie manche unsere gute Sache gefährden. Wir sind dann dazu da, Scherben zusammenzuleimen. Sie haben die Verantwortung delegiert. Einfach so! An
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die Schule, die Pionierorganisation, die FDJ oder den Lehrbetrieb.« Aufatmend lehnt sich Kiesel im Stuhl zurück, blickt den Major an, lächelt: »Mußte eben mal wieder raus, Major. Entschuldigen Sie.« »Sie müssen sich nicht entschuldigen, Towarisch Kiesel.« Auch um die Mundwinkel des Majors zuckt ein Lächeln. »Bei uns gibt es Ähnliches, wie Sie wissen. Denken Sie nur an Filme und Bücher der letzten Jahre, die sich ernsthaft und engagiert mit diesem wichtigen Thema beschäftigen, weil es für den Sozialismus immer wichtig sein wird, dem Menschen zu dienen.« »Ich weiß«, stimmt Kiesel ihm zu, »Schukschin, Trifonow und Tendrjakow.« »Genau das ist es«, unterbricht der Oberleutnant. »Ständiges und mitunter gedankenloses Daherbeten der Gesetzmäßigkeiten des Sozialismus nutzen sich, wie alles Gute, leider allzu schnell ab und verlieren ihre Wirksamkeit. Verbote und Strafen sind dann nur allerletzte und meist ungeeignete Lösungsversuche! Was tun…?« »… sagte nicht nur Lenin«, beendet der Major das Gespräch und drückt seine geliebte Papirossa aus. »Reden wir mehr miteinander. Geduldig vor allem wir Älteren. Nehmen wir uns dafür mehr Zeit. Die Erziehung der Gefühle kann und darf nicht per Verordnung und Dekrete geschehen.« »Also, fangen wir mal wieder damit an. Versuchen wir’s!« Mit einem Seufzer legt sich der Oberleutnant Schreibblock und Bleistift zurecht. Beide Männer wissen: Das alles spricht sich leichter aus, als es zu verwirklichen ist. Vorurteile, diese Bazillen jeglichen Mißverständnisses in der Beziehung zwischen Menschen, in der Familie als auch in der Gesellschaft, sie vor allem gilt es zu reduzieren, abzubauen, auf ein Mindestmaß zu beschränken. Das kann nicht neben der Arbeit im Alltag, auf den Feldern, in den Ställen geschehen, das muß ständig gegenwärtige Selbstverständlichkeit werden. Über dem tieffliegenden Hubschrauber ziehen sich vereinzelte weiße Haufenwolken zusammen, bilden sehr schnell einen hellgrauen Kern, der dunkler und dunkler wird, drohen, die sich mit grellen Lichtpfeilen wehrende Sonne zu verschlingen. Entgegen kommt die noch in vollem Licht liegende Stadt mit ihren alten Kirchtürmen, den kantigen Umrissen der neuen Stadtrandsiedlung, dem hellen Neubau des Bezirkskrankenhauses. Schattengleich gleitet der Helikopter über sanft gewölbte, erntereife Felder, ausgedehnte dunkle Wälder und nachtschwarze Seen. Täuschung,
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Wunschdenken oder herbeigesehnte Wirklichkeit? Wie gebannt beobachtet Steffens Vater seinen Jungen. Für Bruchteile von Sekunden glaubt er zu sehen, wie sich dessen Lider, kurz flatternd, öffnen. Ohne den Verletzten aus den Augen zu lassen, blickt er, Zustimmung erflehend, den sowjetischen Sanitäter an. Der nickt verlegen, öffnet den Mund zu einem kurzen »da, da«, möchte seinem Gegenüber mehr sagen, möchte ihm wenigstens die vorläufige Diagnose nennen, die Major Korolenko ihm in dem Lärm der Rotoren zugeschrien hatte, merkt schon nach wenigen Worten, daß der besorgte Mann ihn nicht versteht. Er wird sich gedulden müssen. Vorsichtig tupft er das wieder stärker rinnende Blut von Nase und Mundwinkeln des Jungen. Der Pilot dreht sich um, hebt den Daumen, macht mit Mittel- und Zeigefinger derselben Hand das optimistische V-Zeichen. Der Parkplatz vor dem Krankenhaus ist inzwischen geräumt worden. Streifenwagen der Volkspolizei mit kreisendem Blaulicht sperren ihn ab. Der Hubschrauber setzt zur Landung an. Aus dunkelgrau gewordenen Wolken fallen erste schwere Tropfen.
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Auf einem schmalen, betonierten, sonst den Futterfahrzeugen vorbehaltenen Wegstreifen am Rande der Koppel parken die Motorräder und Mopeds der Gruppe. Karsten Kiesel sitzt auf dem Koppelzaun. Er ist wütend auf die Bande, würde am liebsten alle Feuerstühle zu Klump schlagen, den eigenen ausgenommen, der abseits geparkt ist. Auf jede Seite des Tanks ist ein springendes Pferd gemalt, von dem einige im Dorf sagen, es sehe aus wie eine Mischung zwischen rachitischem Jaguar und galoppierendem Maultier. Vom Regen, der als kleiner Wolkenbruch fast zur selben Zeit über der Bezirksstadt niedergeht, künden lediglich ein paar dunkle Wolken am Horizont, weit genug von Blumenhagen entfernt. Karsten hat den Hut in den Nacken geschoben, läßt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Sein Auftrag lautet: die Jungens erst dann auf ihre Maschinen zu lassen, wenn die Personalien festgestellt, eventuelle Aussagen protokolliert sind. »Ohne rote Armbinde machen die Kleinholz aus mir«, hatte er dem Vater gesagt. »Brauchst keine Angst zu haben«, hatte der geantwortet, ihm den CowboyHut über die Ohren gezogen und mit der flachen Hand freundschaftlich eins auf den Schädel geknallt. »Wir sind ja in der Nähe. Du solltest eigentlich als Sohn eines ABV unsere, meine Möglichkeiten besser kennen! Aber so kurz vor dem Abi, da ist so was verständlich, klar.« Seitdem sitzt Karsten auf dem Zaun, döst in der Sonne, hinter sich die Pferde, starrt mit halbgeschlossenen Augen auf die, wie er findet, idiotisch beklebten Feuerstühle, bemerkt nicht den Ölfleck auf dem Beton unter einer knallig rotschwarz gespritzten Maschine. Blöder Auftrag, hier zu hocken, nicht zu wissen, was jetzt vielleicht im Dorf bei der ersten Vernehmung geschieht, was mit Steffen ist. Nichts, absolut gar nichts tut sich. Es ist, als hätte der Vater bereits die ganze Gruppe verhaftet, und er, Karsten, darf sie »bewachen«. Die beiden Mädchen, die sich in kurzen Abständen nacheinander neben der knallig gespritzten Maschine ins Gras hocken, übersieht er diskret, wendet sich deutlich ab. Im Büro des Vorsitzenden telefoniert Eberhard Pinnow mit dem Aufnahmearzt des Bezirkskrankenhauses. Die Ärztin und Chris sind bei ihm, haben seine Bemühungen verfolgt, die Aufnahme Steffens im Krankenhaus vorzubereiten.
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Besorgt hat Chris die vorläufige Diagnose der Ärzte gehört, keine der lateinischen Bezeichnungen verstanden. Ein Begriff nur ist haftengeblieben: Commotio cerebri. Ihn hat der Arzt nach einer Rückfrage mit dem Zusatz »Verdacht auf schwere« wiederholt. Fragend und erschreckt bitten ihre Augen die Ärztin, erwarten Antwort, Befreiung von Ungewißheit durch die Übersetzung der fremden Begriffe. Leise flüstert die junge Frau dem Mädchen die deutsche Bezeichnung zu: »Gehirnerschütterung.« Dabei macht sie eine beschwichtigende Geste, legt ihre Hand dann leise auf die zitternde des Mädchens, dabei jedes Wort ihres Kollegen genau registrierend. Während der Arzt auf die Nachricht vom Eintreffen des Hubschraubers wartet, kritzelt er etwas auf einen Zettel, schiebt ihn den Frauen hin. »Versuchen Sie oder Chris, die Anschrift von Steffens Mutter herauszukriegen. Sie soll zur Kur sein, irgendwo im Thüringischen. Besser noch, eine Telefonnummer, über die man sie erreichen kann.« »Erledigst du das?« fragt die Ärztin das Mädchen, schiebt ihr den Zettel zu. Eberhard Pinnow nickt bestätigend, versucht ein tröstendes Lächeln. Aus dem Hörer, den er vom Ohr weghält, kommt ein knatterndes Geräusch. »Die müssen das Telefon direkt neben dem Landeplatz stehen haben«, sagt er. »Jedenfalls sind sie gelandet. Wenn du zurückkommst, Chris, wissen wir mehr.« Damit schiebt er das Mädchen in Richtung Tür. Commotio cerebri, schwere Gehirnerschütterung! Mit ihren Gedanken nur bei Steffen, überquert Chris den ehemaligen Gutshof, bemerkt nicht, daß sie noch immer im Ungarnkostüm ist, hat keinen Gedanken mehr für ihre Beobachtungen, die sie bei der Verfolgung von Puppie gemacht hat. Commotio cerebri, schwere Gehirnerschütterung! Ob Steffen sie erkennen würde; beim ersten Besuch? Wann würde der sein? Die Adresse von Steffens Mutter muß her. Die Lohnbuchhaltung müßte Bescheid wissen.
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Im kleinen Zimmer neben der großen Gaststube beginnt Oberleutnant Kiesel hinter einem der Tische, auf den sonst die Skatblätter knallen, mit der Vernehmung. In seiner »Stammecke« im Gastraum, Major Korolenko. An den Wänden die Urkunden der letzten Skatturniere; aufgeklebt und mit den Namen der Sieger versehen. Auf einem kleinen Regal die Trophäen der Reitsportler, verschiedenfarbige Schleifen, die meisten von Duxabell mit Steffen erstritten. Auch Uwes Name ist einmal in Verbindung mit Duxabell zu finden. Die Tür zum Gastraum bleibt geöffnet. Die ersten der Gruppe, deren Personalien der Oberleutnant notiert hat, bleiben in der Gaststube sitzen, stecken die Köpfe zusammen. Betretene und verlegene Mienen bei den meisten. Eine Doppeltür führt in den kleinen Saal. Am Abend soll hier der Reiterball stattfinden. Ob nach dem Abbruch des Turniers daran noch jemand Interesse haben würde? Nicht nur der Oberleutnant bezweifelt das. Die Turnierleitung ist für diese Entscheidung nicht zuständig, die gehört in die Kompetenz der Gaststättenleitung. Viel Arbeit, Ideen und Mühe hatten die Jugendlichen in die Ausschmückung des Saales gesteckt. Die abgeschlossene Saaltür verbarg manche Überraschung. Sollten auch diese Mühen umsonst sein? Würde das nicht die Stimmung, die sich nach dem Wegfall der Schaubilder breitmachte, auf den Nullpunkt sinken lassen, die weitere. Arbeit in der Sektion lähmen? Wäre nur erst Genaueres über Steffens Zustand bekannt. Der Notizblock des Oberleutnants füllt sich mit Geschriebenem, wieder Durchgestrichenem; Personalien ordentlich auf der linken Blattseite, Aussagen auf der rechten, dem Namen des jeweils Befragten zugeordnet. Viel ist mit dem, was die Jugendlichen beobachtet haben, nicht anzufangen. Eine vorsätzliche Störung des Turniers wäre allenfalls zu rekonstruieren; für eine geplante Brandstiftung spricht bisher nichts. »Im Augenblick können Sie wirklich nichts für Ihren Sohn tun«, versucht der verantwortliche Aufnahmearzt Steffens Vater zu beruhigen. »Wir können Ihnen ein Zimmer geben, bis wir die genaue Diagnose haben. Das kann bis morgen dauern, vielleicht länger.«
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Steffens Vater steht an einem großen, buntverglasten Fenster des Bezirkskrankenhauses. Sein Blick geht nach draußen, nimmt nicht wahr, daß der Parkplatz inzwischen wieder von Autos besetzt ist, äußerlich kaum mehr etwas auf die Dramatik der letzten Stunde deutet. Der Arzt merkt, daß seine Worte bei dem verstört wirkenden Mann nicht ankommen. Er weist eine Schwester an, in seiner Nähe zu bleiben, das Angebot zu wiederholen. Für ihn ist Steffen ein Fall unter vielen. Selbst die nicht alltäglichen Umstände der Einlieferung sind für ihn nicht so bedeutungsvoll. In den Jahren, in denen er im Bezirkskrankenhaus arbeitete, war es schon mehrmals vorgekommen, daß die Hubschrauber des sowjetischen Stützpunkts schnell und unkompliziert geholfen hatten. An normalen Tagen bestimmen die Sirene der Rettungswagen, das kreisende Blaulicht seinen Tag- oder Nachtablauf. Eine genauere Diagnose würde ohnehin erst möglich sein, wenn der Junge aus seiner Ohnmacht erwacht war. So lautet die für Außenstehende lapidar klingende Nachricht, die er wenig später telefonisch an den Arzt in Blumenhagen übermittelt: »Den Umständen entsprechend geht es dem Jungen gut, er scheint außer Lebensgefahr, die Gehirnblutung ist zum Stillstand gekommen, die angebrochenen Rippen und die Schlüsselbeinfraktur sind dagegen relativ harmlos.« Eberhard Pinnow atmet erleichtert auf. Steffen lebt. Das allein zählt vorerst. Das allein wird er als beruhigende Nachricht an die Mutter weitergeben lassen. Der Arzt allein weiß, wie hoch die Wahrscheinlichkeit möglicher Folgeschäden sein kann. Für Steffens Vater stehen die Schuldigen am »Unfall« seines Sohnes fest. Ein kalt geplanter Racheakt war es, nichts anderes. Rache Uwes an dem besseren, dem ehemaligen Freund, auf dessen Antrag er schließlich aus der Sektion geflogen war. Gekränkte Eitelkeit wegen Christina, der verlorenen Freundin, für die seit dem Rausschmiß Uwes nur noch Steffen zählte. Neid auf funktionierende Freundschaften innerhalb der Sektion Reitsport Blumenhagen.
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Motive über Motive also. Kiesel würde der Kripo einen leichten Fall übergeben können. Der Oberleutnant kennt wie er die Gruppe, jedes einzelne Mitglied. Nur Gefängnis, Einzug der Fahrzeuge kommen für Steffens Vater in Frage; Schadenersatz für die Brandstiftung außerdem. Die Beschäftigung mit den Schuldigen, wie sie für ihn zweifelsfrei feststehen, lenkt ihn ein wenig von der Sorge um den Zustand des Sohnes ab. Absichtlich hat sich Oberleutnant Kiesel die Befragung von Uwe und Alec bis zum Schluß aufgehoben. Erst von ihnen erwartet er die Bestätigung seiner Gedankenkombinationen. Die anderen hatten sich als das erwiesen, was er ohnehin wußte: in der Gruppe angeberische, großmäulige Helden; als Einzelwesen eher schüchtern wirkende Jungen und Mädchen mit Resten von Freundlichkeit und natürlichen Umgangsformen, willensschwaches Spielzeug in den Händen derer, die diese Schwächen erkannten und für sich auszunutzen wußten. Darin lagen die Anfänge von Gefahren, die Widerstand erforderten. Brandstiftung nahm sich dagegen vergleichsweise harmlos aus. Daß die Ausschaltung Steffens vom Turnier mit einem Anschlag auf dessen Leben beabsichtigt gewesen ist, das will Kiesel vorläufig noch nicht glauben. Mögen sie sich noch so stark gebärden, der Volkspolizei, ihm persönlich ihre Verachtung zeigen; eines wissen sie alle ziemlich genau einzuschätzen: daß ihre Chancen, unentdeckt, unbestraft zu bleiben, äußerst gering sind. Bevor der Oberleutnant Alec hereinruft, betritt Karl Henning in Begleitung eines Feuerwehrmannes das Zimmer, die Tür hinter sich offen lassend. Der Oberleutnant schüttelt den Köpf, Major Korolenko versteht ihn, schließt die Tür wieder so weit, daß die im Saal sitzenden, schon befragten Jugendlichen, die gespannt jeden einzelnen erwarten, nicht wahrnehmen können, was der Feuerwehrmann auf den Tisch des Oberleutnants legt, was er ihm leise zuflüstert. »Das da lag im verkohlten Stroh des Transporters!« Der Major ist am Tisch stehengeblieben. Beide Männer schauen sich an. »Also doch; Brandstiftung!« Der Oberleutnant nickt, seine eigene Vermutung bestätigend. »Somit doch ein klarer Fall für die K.« Die halb zusammengeschmolzene Flasche riecht noch immer nach Benzin. Kiesel stellt sie unter seinen Sessel. Spuren dürften nach dem Brand schwer festzustellen sein.
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Er ruft den Feuerwehrmann zurück. »Wenn ihr noch was findet, meldet es mir, und laßt niemanden in die Nähe des Transporters. Trampelt selber nicht zuviel auf dem Boden herum; aber das wißt ihr ja alles selbst. Vielleicht haben wir Glück.« Danach gehen beide in die große Gaststube. Zu Alec sagt er wie nebenbei: »Sie können schon immer reingehen.« Die Tür bleibt offen, als er den Hörer des Telefons hinter dem Tresen aufnimmt, eine Nummer anwählt, die nur er kennt. Gespanntes Schweigen lastet in der Gaststube. »Ich glaube, es gibt was für euch zu tun. Genau; hier bei uns in Blumenhagen. Auf dem Turniervorbereitungsplatz; Spurensicherung, Verdacht auf Brandstiftung! Beeilt euch! Es riecht nach Regen. Ende!« An Karl Henning gewandt, der die Armbinde des freiwilligen Helfers trägt, ergänzt er: »Versucht, die Umgebung des Transporters mit Planen abzudecken, falls es regnen sollte. Viel Hoffnung ist sowieso nicht nach dem chaotischen Getrampel auf dem Platz.« Mit einem Seitenblick hat der Oberleutnant bemerkt, wie über Alecs betont auf gleichgültig gemachtes Gesicht ein beruhigtes Lächeln huscht. Die anderen sind verstummt. Puppie erhebt sich, will aus dem Saal gehen. »Ich muß euch leider bitten, den Saal erst nach Abschluß meiner Arbeit zu verlassen.« »Scheiße verfluchte«, zischt das Mädchen, während sie sich nervös eine neue Zigarette an der noch nicht zu Ende gerauchten ansteckt. »Mensch, reiß dich am Träger!« Ihr Nachbar stößt sie mit den Ellenbogen an. Nicht lässig in den Sessel geflegelt, eher abwartend freundlich sitzt Alec dem Oberleutnant gegenüber, gibt bereitwillig seine Personalien zu Protokoll, lehnt die angebotene Zigarette ab. »Danke, ich rauche nicht.« Du läßt es nur rauchen, kann sich Kiesel gerade noch verkneifen zu antworten. Statt dessen steckt er sich selbst eine von Korolenko herübergereichte Papirossa an. »Positive Eigenschaft in dem Alter; hab’ ich leider nicht.« Fast mitleidig lächelt sein Gegenüber. »Alles eine Willensfrage, sagt mein Onkel immer. Er ist Psychologe!« »Anständige Verwandtschaft also, wie man so sagt. Was willst du eigentlich mal werden?«
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»Möglicherweise auch Psychologe oder Mediziner. Genaues weiß man noch nicht. Erst einmal wird gelebt, dann kommt die Fahne, na ja, Sie wissen das ja alles.« »Irrtum, Herr Albert Schulz…, stimmt doch so, oder?« »Wenn Sie freundlicherweise noch ein kleines ›e‹ dranhängen würden, dann ja.« Der Bursche ist eine harte Nuß, denkt Kiesel. Ohne handfeste Beweise werde ich ihn nicht zu sachdienlichen Aussagen bewegen können. Dieser Junge aus der zwölften Klasse der erweiterten Oberschule der Bezirksstadt verfügt über ein Maß an Intelligenz, das er taktisch geschickt einzusetzen vermag. Major Korolenko beißt sich auf die Lippen. Er mag Ähnliches empfinden wie der Oberleutnant, würde wahrscheinlich lieber einen härteren Kurs mit dem »Vizechef« der Truppe fahren; aber ohne handfeste Beweise? »Also hat Uwe das Ding eingefädelt, und ihr anderen habt nur so ein bißchen mitgespielt, wie ihr das schon öfter getan habt, ohne daß man euch etwas nachweisen konnte?«
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Noch immer ist Alec keinerlei Verlegenheit anzumerken. »Ich habe Ihnen, Herr Oberleutnant, ja keine Fragen zu stellen, ich weiß; aber solche Späße würde Uwe nie zulassen. Noch dazu bei seiner Tierliebe. Sie kennen ihn doch!« Der Ton des Oberleutnants wird schärfer. »Wieweit ich Uwe kenne, das dürftest du schon mir überlassen. Eure Späße aber, wie du es nennst, die kann ich dir aufzählen. Ich weiß, daß ihr es spaßig findet, als ›Zuschauer‹ das Training der Sektion zu stören, indem ihr neben dem Parcours eure Motoren jaulen laßt, bis die Pferde nicht mehr auf die Reiter reagieren. Wenn’s dann brenzlig für euch wird, haut ihr ab, wollt euch beölen vor Vergnügen.« Wie verständnislos zuckt Alec mit den Schultern. »Ich weiß auch, was mit Uwe los ist, seit er aus dem Dorf weggezogen ist. Zum mädchenscheuen Einzelgänger ist er geworden, von den lieben Eltern mit reichlich Taschengeld versorgt, sonst als lästiges Nebenbei betrachtet. Erst bei euch glaubte er neue Freunde gefunden zu haben, seit ihn die Sektion ausgeschlossen hat. Als ausgestoßenes Opfer betrachtet er sich nun, sucht die Schuld bei allen anderen, nur nicht bei sich. Seit ihr ihn in der Gruppe ›gewählt‹ habt«, der Oberleutnant betont das Wort »gewählt« besonders, »muß er sich ständig als der ›Chef‹ bestätigen. Keine leichte Sache für einen labilen Typ wie ihn, den ihr lange genug wegen seiner ›Hoppy-Hoppy-Reiterei‹ aufgezogen habt.« Das Gesicht seines Gegenübers ist ernster geworden. Verschwunden ist der leichte Anflug von Ironie in den Zügen. Trotzdem, am liebsten würde Kiesel das Verhör jetzt beenden. Doch es gilt, die Zeit zu nutzen, bis die Genossen von der K dasein würden. »Lassen wir das Psychologisieren über Ihren Freund und Boß, kommen wir zu den Tatsachen, soweit sie feststehen.« Während dieser Worte holt der Oberleutnant die zerschmolzene Flasche hervor, legt sie auf den Tisch. Alec sieht ihn verunsichert an. Chris ist es gelungen, vom Lohnbüro aus direkt mit Steffens Mutter zu sprechen, ihr die bis dahin bekannte Diagnose vorsichtig mitzuteilen. Auf dem Rückweg zum LPG-Büro macht sie einen Umweg, zieht sich das ihr jetzt lächerlich erscheinende Ungarnkostüm aus, schlüpft in ihre Jeans, den weiten Pullover. Plötzlich fällt ihr die Beobachtung vom Parkplatz ein.
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Als Pinnow mit der Ärztin aus der Tür des Büros tritt, fragt sie ihn nach Steffens Befinden. »Unverändert! Wir müssen warten, bis Steffen aus der Ohnmacht erwacht. Es sieht nicht sehr gut aus. Doch das behältst du für dich.« »Wird er…, wird Steffen…?« »Die akute Lebensgefahr scheint vorbei. Es wird wirklich alles für ihn getan.« »Den haben diese Ratten um Uwe auf dem Gewissen, diese…« Plötzlich ausbrechende Tränen ersticken jedes weitere Wort. »Beruhige dich, Chris. Am besten kannst du Steffen helfen, wenn du deine Beobachtungen dem Oberleutnant berichtest. Er ist noch immer drüben im Krug.« Auf dem Weg beruhigt sich das Mädchen, erinnert sich der Zeit vor einem halben Jahr, als Uwe noch Mitglied der Sektion war, denkt an weiter zurück liegende Jahre. Duxabell war damals noch ein Fohlen, wurde auf der Fohlenschau als Hengstanwärter ausgesucht. Beide Jungen, Steffen und Uwe, hatten das Tier betreut, wurden damals fast verrückt vor Freude. Es war ihr gemeinsamer Sieg gewesen. Wochenlang hatte das Fohlen an einer Erkältung gelitten, kaum noch Nahrung aufgenommen. »Aus dem wird nichts mehr, den könnt ihr abschreiben«, hatte der Tierarzt jedesmal gesagt, wenn er dem Fohlen eine Spritze gab. »Heusamen müßt ihr aufkochen. Inhalieren muß der Kleine, alle paar Stunden. Aber das macht Arbeit; nichts für einen überbeschäftigten Viehdoktor.« Diesen Rat des alten Krischan, der sein ganzes Leben mit den Arbeitspferden des Gutes verbracht hatte und ihnen heute noch zerfetztes Zaumzeug flickte, wenn es nötig war, befolgten beide Jungen. Abwechselnd wachten sie bei dem Tier, erneuerten Umschläge, kochten Tag und Nacht Heusamen auf, wuschen Tücher, schliefen auf Strohballen im Stall, vernachlässigten die Schule bis zu dem Tag, an dem das Fohlen, noch wacklig auf seinen staksigen Beinen, aber doch wieder aus eigener Kraft, im Auslauf herumtrabte. Nein, von diesem Uwe war kaum etwas, war fast gar nichts übriggeblieben, seit er in der Stadt wohnte, seine Freunde gewechselt hatte. Und trotzdem, einem ehemaligen Freund ans Leben wollen, das traute Chris nicht einmal Alec zu, den sie überhaupt nicht leiden konnte, seit er ihr
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auf einer Disko zu dicht an die Wäsche gekommen war. Schon nach ein paar Reitstunden, die er bei ihnen in der Sektion genommen hatte, hatte Kiesel gesagt: »Aus dem wird nie ein Reiter. Da fehlt’s hinten und vorne. Da soll das Pferd den Menschen bestätigen, falschen Ehrgeiz befriedigen.« Woher der Oberleutnant immer seine verdammt guten Menschenkenntnisse nahm. Chris betrachtet den unscheinbaren Dichtungsring in ihrer Hand, wundert sich über das Tun einiger VP-Helfer und Feuerwehrleute, die den Boden um den angebrannten Transporter mit Heuplanen abdecken, bemerkt kaum die ersten weichen Regentropfen, bevor sie den Dorfkrug betritt. Mit echter Verwunderung betrachtet Uwe die unförmig geschmolzene Flasche, die der Oberleutnant auf den Tisch stellt. Verständnislos blickt er den Älteren, den er seit Jahren kennt, der zu ihm noch immer du sagen darf, an. Uwe war die ganze Sache mit dem Turnier zu heiß gewesen. Ein bißchen herumstänkern, abends im Dunkeln eine kleine Keilerei aus dem Hinterhalt, ’ne Abreibung für Steffen, damit er nicht »zu übermütig« wurde, das entsprach seiner Vorstellung. »Kinderkram, Weiberkrieg!« Alec hatte ihn vor der Gruppe zusammengestaucht, sich dabei auf seine »demokratische Meinungsfreiheit« berufen: »Immerhin sind wir freiwillig zusammen, keiner wird zu irgendwas gezwungen«, lautete sein Kommentar. Alec wollte an diesem Turniertag in Blumenhagen »ein Ding steigen lassen; einfach nur so zum Spaß«. Wieder einmal sah der »Vize« eine Gelegenheit, dem ihm an Körperkraft überlegenen Uwe vor der versammelten Gruppe eins auszuwischen, die wirklichen Machtverhältnisse zu demonstrieren. »Aber du bist der Chef. Wenn du was dagegen hast, lassen wir’s!« Zu spät. Schon hatte der Funke bei den anderen gezündet. Den blöden Pferdeknechten von Blumenhagen wollten sie’s schon lange mal zeigen. »Du weißt, Uwe, was das bedeutet. Brandstiftung und…«, der Oberleutnant macht eine Pause, und danach, jedes Wort betonend, fährt er fort: »… mögliche fahrlässige schwere Körperverletzung.« »Also ist Steffen nicht…?« »Was ist Steffen nicht? Wenn du damit sagen willst, daß er nicht tot ist, hast du recht! Noch atmet er, noch ist er aus seiner Ohnmacht nicht erwacht
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und…«, seine Stimme wird eiskalt und hart, »… es ist möglich, daß er keinen von uns mehr erkennt.« »Aber das…, aber das können Sie uns, können Sie mir doch nicht in die Schuhe…« »Niemandem wird hier etwas in die Schuhe geschoben, wie du es nennst. Und außerdem ist die eigentliche Ermittlung Sache der Kriminalpolizei. Ich führe nur die Vorermittlungen. Wenn du es als ›Chef‹ eurer Truppe nicht selbst warst, solltest du wenigstens wissen, wer.« Nach kurzem Schweigen stottert Uwe: »Ich weiß es wirklich nicht, aber…« »… aber was? Du kannst es dir denken, denkst wahrscheinlich sogar in ähnlicher Richtung wie ich. – Gut, du willst es mir nicht sagen. Den Genossen der K wirst du es sagen müssen, sicher auch wollen, denn es liegt in deinem persönlichen Interesse. Und…«, der Oberleutnant macht eine Pause, »… Blumenhagen kann doch noch nicht ganz vergessen sein? Hier hattest du Freunde, hast sie vielleicht noch, auch wenn der heutige Tag dagegen spricht.« Uwe kaut verlegen auf seiner Unterlippe. »Interessieren würde mich nur«, fragt Kiesel weiter, »ob ihr die Sache geplant habt oder ob sie einfach so spontan entstanden ist, als ihr, als du gesehen hast, dein ehemaliger Freund Steffen ist auf dem besten Wege, ein weiteres, wichtiges Turnier zu gewinnen!« Inzwischen sind die Genossen von der K eingetroffen, haben sofort mit ihrer Arbeit begonnen. Hauptmann Peters, der Leiter der Einsatzgruppe, läßt sich knapp von Oberleutnant Kiesel unterrichten, beschäftigt sich danach intensiver mit den bisherigen Notizen des ABV, fordert diesen aber zum Weitermachen auf. Nur gelegentlich blickt er auf, nickt zustimmend. Der Oberleutnant, den er seit ihrer gemeinsamen Zeit auf der Volkspolizeischule kennt und schätzt, hat, wie für ihn nicht anders zu erwarten, sorgfältige Arbeit geleistet. Eigentlich hat Peters nie so recht verstanden, daß Kiesel nicht auch zur K gegangen ist. Doch der Freund scheint mit der Wahl, ABV auf dem Lande zu sein, zufrieden und sogar glücklich zu sein; und nur das allein zählt, obwohl ein höherer Dienstgrad damit für ihn ausgeschlossen ist.
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Manchmal aber beneidet er den Freund. Vor allem dann, wenn er sieht, wie er zu Pferde durch das Land, das sie beide lieben, reitet. Dann erscheint ihm seine eigene wichtige Arbeit in der Bezirksstadt bei aller Neuheit eines jeden Falles mitunter doch als Routine. Einige seiner Männer sind inzwischen bemüht, noch vorhandene Spuren zu sichern. Henning und andere halten die Planen hoch, stehen dabei fast auf den Zehenspitzen wie Ballettänzer, nur damit der stärker gewordene Regen nicht auch noch die letzten Spuren verwischt. »Wird sowieso ’ne Sauarbeit«, sagt einer der Männer, die Gips in verschiedene Schuhabdrücke gießen. »Das meiste ist von Hufen zertrampelt!« »Ich verstehe deinen Pessimismus nicht, Jürgen«, sagt Leutnant Behrend, der leitende Genosse der Kriminaltechniker. Aus seiner Stimme klingt Freude über einen wichtigen Fund. Zwischen zwei Trittlatten der heruntergelassenen Ladeklappe sitzt ein dicker Klumpen Erde, in den deutlich eine Spur eingedrückt ist. »Fast wie im Lehrbuch.« Der Kriminaltechniker gießt sorgfältig den Abdruck aus. »Pferdepfleger laufen nun mal nicht barfuß herum«, versucht ein anderer den Finder zu dämpfen. »Schon deshalb nicht, damit sie die kostbaren Äpfelchen nicht zertreten.« Nach kurzer Zeit ist die Arbeit draußen für sie beendet, suchen die Genossen weiter im Innern des Wagens, bringen Kriminaltechniker die ersten fest gewordenen Abgüsse in den Dorfkrug. Die Genossen von der K haben die bisher trotz aller Spannung ruhige Atmosphäre durch ihre konkrete Arbeit aufgelockert. Neue Vermutungen tauchen auf, werden vor allem bei den Jugendlichen im Saal erregt diskutiert. Unruhe macht sich breit. Oberleutnant Kiesel weiß, jetzt ist der Punkt erreicht, Schluß zu machen. Nach einigen vergeblichen Bemühungen gelingt es Chris endlich, an ihn heranzukommen, ihm zu berichten, was sie bei der Verfolgung des Stadtmädchens gesehen hat. Dabei legt sie eine Flasche mit Benzin auf den Tisch. Es ist eine flache Whiskyflasche Marke »Johnny Walker«. Beide Verschlüsse, der der geschmolzenen und der der unbeschädigten Flasche, tragen die gleiche Aufschrift.
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»Die hat Puppie unter dem Sitz der Zweihundertfünfziger rausgeholt. Sie wollte sie wahrscheinlich verschwinden lassen. Warum sie’s nicht getan hat, weiß ich nicht. Vielleicht hat sie mich bemerkt, oder sie hat gesehen, daß Karsten doch zu uns schielte. Jedenfalls hat sie die Pulle wieder unter dem Sitz deponiert, und da hab’ ich sie mitgebracht.« »Und da habe ich meinem Herrn Sohn eingeschärft aufzupassen!« »Hat er ja auch. Bloß wenn sich hintereinander zwei Mädchen ins Gras hocken, denkt sich ein Junge sein Teil, dreht sich um oder tut zumindest so; selbst als amtierender Helfer. Oder sehe ich das falsch?« Die Gedanken des Oberleutnants eilen der Szene voraus, kombinieren mögliche Zusammenhänge, die eigentlich klar sind. Der Kreis beginnt sich zu schließen. »Würden Sie bitte noch einmal kommen«, fordert er Puppie auf. Verständnislos sitzt Uwe am Tisch, scheint für den Oberleutnant unwichtig geworden zu sein. »Nur ein bißchen Unterstützung für euch, Genossen«, bemerkt Oberleutnant Kiesel lächelnd zu den ähnlich erstaunt blickenden Männern der K, während er mit Chris und dem Stadtmädchen in den großen Saal geht. Seit mehr als einer Stunde läuft Alec hier wie ein gefangenes Tier herum. Ungewißheit über die Aussagen der anderen nagt an seiner bisher gut gespielten Sicherheit. Am liebsten würde er die ganze Dekoration im Saal, die fotografierten und gemalten Pferdebilder, die Girlanden, den Blumenund Laubschmuck herunterreißen, den Laden aufrollen. Bloß jetzt nicht die Nerven verlieren. Hastig drückt der »Nichtraucher« Alec die zehnte Zigarette innerhalb einer Stunde im Ascher aus, als die Saaltür geöffnet wird, der Oberleutnant, Chris und Puppie eintreten. »Positive Eigenschaft, nicht zu rauchen. War da nicht so was Ähnliches vorhin?« Kiesels Sicherheit wächst. Wortlos hält er Alec die unbeschädigte Flasche hin. »Lag unter einer Sitzbank von einer rotschwarzen Zweihundertfünfziger mit ’ner Menge Chrom dran.« Der Oberleutnant macht eine Pause, betrachtet die Gesichter der drei Jugendlichen. Zorn läßt Chris älter erscheinen, als sie ist. Die aufgeworfene Unterlippe bei Puppie spricht von hilflosem Trotz.
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Querfalten auf der Stirn des »Vizechefs« zeugen von krampfhaften Bemühungen, ein Schlupfloch zu finden, Schuld abzuwälzen. Bewußt dehnt der Oberleutnant die Pause aus. »Also gut. Herr Albert Schulz mit ›e‹ oder Alec oder ›Vize‹. Machen wir Schluß. Alles Weitere ist jetzt Sache meiner Genossen von der K. Daß wir uns bei Ermittlungen gelegentlich ein bißchen mehr unterstützen, als es die Dienstvorschriften verlangen, dagegen werden Sie sicher nichts haben. Einen Augenblick noch!« Beschwichtigend hebt er seine rechte Hand, die linke schon auf der Klinke zur Saaltür. »Ich darf mir doch denken, was Sie jetzt sagen wollen? Zuerst einmal, daß Sie natürlich nur so in die Sache hineingeschlittert sind; daß alles Uwes Idee war. Ferner, daß der Sprit aus Ihrem, Tank nicht absichtlich in die Flasche geraten ist, sondern für Ihr Feuerzeug bestimmt war. Zufälle gibt’s. Mit einem Kanister anzureisen, wäre ein bißchen zu auffällig geworden. Vielleicht sollten Sie die Führung der Gruppe doch besser Uwe überlassen. Er hat sicher nicht Ihre Intelligenz, scheint mir aber doch besserungsfähig. Übrigens, was ich vorhin schon bemerken wollte; flotte Schuhe haben Sie an. Marke DDR-Salamander, wenn ich da ganz auf dem laufenden bin. Markantes Profil.« »Irgendwie sprechen Sie in Rätseln, Genosse Oberleutnant«, versucht Alec seinen alten Ton zurückzufinden. »Bitte kommen Sie!« Damit öffnet Kiesel die Saaltür. Im Hinausgehen sagt er leise zu Alec: »Ach, würden Sie mir zuliebe den rechten Schuh einmal ausziehen?« »Ich denke nicht daran!« »Bitte!« Der Ton der Aufforderung duldet keinen Widerspruch. Wortlos reicht der Oberleutnant dem erstaunten Mann von der Spurensicherung den Schuh. »Da! Der Rest ist dann wohl eure Sache, und ich kann mich endlich wieder meiner Alltagsarbeit hingeben, mittlere Familienkräche beseitigen, Schwarzangler aufspüren, Prügeleien schlichten und so weiter und so weiter.«
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Der doch stattfindende abendliche Ball im Dorfkrug läßt die Ereignisse des Tages verblassen. Keiner von der Gruppe ist dageblieben. Mit normaler Phonzahl waren sie nach Abschluß der Ermittlungen geschlossen in die Stadt zurückgefahren, Uwe, Alec und Puppie als Verdächtige mit dem Barkas der K. Ihre Maschinen schiebt Karsten wütend auf eine Scheunentenne. Wenigstens ’ne richtige Beule müßt’ man da reintreten können oder die Schmuckstücke im Regen stehenlassen, tagelang. Aber nein, Vater Kiesel war da eben anderer Meinung. Am nächsten Tag ist wieder Alltag in Blumenhagen, erinnert äußerlich nichts mehr an das, was am Vortage hier geschah. Friedlich grasen auf den Koppeln die Pferde, bewachen Stuten argwöhnisch und eifersüchtig ihre Fohlen, hat Duxabell seine Position wieder eingenommen, steht mit aufgerichteten Ohren am Zaun zur Nachbarkoppel, auf der noch immer die Pferde der Gäste weiden. Die Gäste selbst schlafen im Dorfkrug; länger, als sonst üblich, nach den Anforderungen des Vortages. In der Praxis von Eberhard Pinnow klingelt das Telefon.
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»Zustand von Steffen unverändert, jedoch keine akute Lebensgefahr mehr. Besuche noch nicht möglich. Eventuell in der nächsten Woche.« Knappe Sätze, sachliche Information, Hoffnung für ein Menschenleben, das gerade erst begonnen hat.
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1. Auflage y © Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik (VEB) – Berlin, 1984 y Lizenz-Nr. 5 y Printed in the German Democratic Republic: Druckerei des Ministeriums für Nationale Verteidigung (VEB) – Berlin – 3 2312-5 y Lektor: Helga Paulus y Umschlaggestaltung und Illustrationen: Bernd Kluge y Typografie: Anne-Katrin Engelstädter y LSV: 7004 00045
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