Aus der Reihe »Utopia-Classics« Band 85
Hans Kneifel
Planet in Flammen Ein Fremder entfesselt das Inferno Der Atomsch...
79 downloads
826 Views
560KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Aus der Reihe »Utopia-Classics« Band 85
Hans Kneifel
Planet in Flammen Ein Fremder entfesselt das Inferno Der Atomschlag hat stattgefunden. Die Welle der Vernichtung ist über die Erde gerast und hat den Planeten in eine radioaktive Wüste verwandelt. Dennoch gibt es Überlebende des weltweiten Holocausts. Da ist die Besatzung der Mondstation, die den Weltuntergang unbeschadet überstand, und da gibt es eine Handvoll Menschen auf der Erde selbst, die der Vernichtung entgingen. Wenn die beiden Gruppen zueinanderfinden, besteht die Hoffnung auf eine Renaissance der Menschheit und die Möglichkeit, den Fremden von den Sternen zu stellen, der letztlich für die Entfesselung des atomaren Infernos verantwortlich war.
Hans Kneifel
Planet in Flammen Utopia-Classics Band 85
Scan by Tigerliebe K&L: tigger März 2004 Kein Verkauf!
VERLAG ARTHUR MOEWIG GMBH, 7550 RASTATT
UTOPIA CLASSICS-Taschenbuch Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt Copyright © 1965 by Hans Kneifel Copyright © 1986 by Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt – Erstmals als Taschenbuch Titelbild: Nikolai Lutohin Redaktion: Günter M. Schelwokat Vertrieb: Erich Pabel Verlag GmbH, Rastatt Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin Printed in Germany Januar 1986 ISBN 3-8118-5031-8
1. »Der größte Mißbrauch ist, wenn von der Macht sich das Gewissen trennt.« William Shakespeare. Englischer Dichter – 1564 bis 1616.
Caroline, siebenundzwanzig Jahre alt und hübsch, saß vor dem gekrümmten Fenster der Nachrichtenkuppel und sah hinaus, ohne zu registrieren, was ihre Augen erfaßten. Caroline Mauning wurde überall nur Carol genannt. Sie war Erste Nachrichtentechnikerin. Hinter der gekrümmten Luke erstreckte sich eine von der Schönheit absoluter Leblosigkeit erfüllte Wüste. Der Mond hatte Erdlicht, und tiefschwarze Schatten streckten sich über die dunkelgrauen Flächen des Kraters Graham. In achtundneunzig von hundert Fällen trägt ein Mann die Schuld, wenn ein Mädchen deprimiert ist. So auch hier. Carol verwünschte sich, daß sie erstens Crouden kennengelernt und zweitens ihn nicht eher durchschaut hatte und drittens mit ihm zusammen hierhergeflogen war. Jetzt war es zu spät, darüber zu grübeln – trotzdem tat sie es. Über der Fläche des Kraters leuchtete die blauweiße Vollkugel der Erde. Der Krater, dessen rund 100 000 Quadratkilometer Umgebung dem Meer der Gefahren angehörten, war nichts anderes als eine ringförmige Aufschüttung aus Urgestein. Mitten in dem kleinen Ring lag die irdische Mondstation – fast unsichtbar und in vielen Teilen in Bimssteinfelsen eingeschnitten. Nur die Kuppeln oberhalb der Mondoberfläche konnte man mit starken Refraktoren von der Erde sichten, und auch nur dann, wenn ihre Schatten sie hervorhoben. Die Station war angelegt wie ein Rechteck, das nur zu drei Vierteln ausgefüllt war. Jedenfalls boten die Gänge und Kuppeln, nach einem fast genialen Plan miteinander verbunden, 5
dieses Bild. Es gab zehn Kuppeln unterschiedlicher Größe. Der Rest bestand aus einem mächtigen Teleskop, einer riesigen Funkmastanlage, Solaranlagen und zahlreichen Schleusen, Rampen und in den Mond eingegrabenen Schuppen und Dächern. Das alles sah Carol nicht. Sie starrte in die Einsamkeit hinaus, hinter deren Horizont die Berge der Wallebene Cleomedes aufragten. Die zerklüfteten Gipfel waren im Nordosten unterbrochen durch den Einschlag eines Meteors, der vor Jahrmillionen niedergegangen sein mochte und den Krater Talles hinterlassen hatte. Carols Problem war nicht zu lösen. Wenn sie ihr Leben an sich vorüberziehen ließ, paßte der Gegenstand ihrer schwermütigen Betrachtungen nicht in die Linie, die sie sich vor neun Jahren errechnet hatte. Aber mit Menschen konnte man nicht rechnen – man verkalkulierte sich zu häufig. Auch mit Crouden hatte Carol sich erbärmlich verkalkuliert. Er war ehrgeizig, sah gut aus und war der erste Mann in ihrem Leben. Es ist nicht schwer, ein Mädchen an sich zu binden, wenn man Unerfahrenheit, Verliebtheit und stille Bewunderung ausnützt, die Mädchen, auch kritisch veranlagte, dem Manne ihrer Wahl zubilligten. Nicht nur das; Crouden war ein geschickter Taktiker. Unter der polierten Oberfläche verbargen sich Herz und Verstand eines Buchhalters. Ohne Phantasie, ohne innere Beweglichkeit, die andere Menschen Romane schreiben, Bilder malen oder irgendein Hobby treiben läßt. Was Crouden konnte, war nicht wenig, aber nicht genug. Genau das war es, was Carol wütend auf sich selbst machte. Deswegen haßte sie ihre eigene Schwäche, diejenige eines Mädchens, die einem Manne verfallen ist und selbst – bis auf Minuten, in denen der Verstand nicht mehr funktionierte – nicht weiß, weswegen sie diesen Mann nicht wie eine Rakete in den Weltraum schoß. Die automatische Kamera neben der linken Hand des Mäd6
chens machte »Klick«. Auf den Filmstreifen wurden jene Bilder gebannt, die ein Schlepper von der Mondoberfläche hierherfunkte. Carol stand mit dem Schlepper in ständiger Funkverbindung. Bilder wurden aufgenommen und verschwanden wieder. Ein anderes Gerät schnurrte sanft. »Hier Elf. Hast du etwas für unseren Routinebericht, Carol?« Jeder der vierzehn verschiedenfarbigen Raumanzüge der Stationsbesatzung trug eine Nummer auf Brust und Rücken. Nummer Elf war Zweite Nachrichtentechnikerin Corinne Scott. Corry, eine sechsundzwanzigjährige Engländerin, saß in der Funkkuppel und stellte die Sendung zusammen, die zweimal täglich zur Erde gestrahlt wurde. »Nein, Corry – nichts da. Young und Belin fahren mit dem Schlepper im Crisium Patrouille. Sie haben bis jetzt nichts gefunden, was bemerkenswert wäre.« »Danke.« Corinne Scott schaltete ab. Man hatte ein halbes Menschenalter Zeit gehabt, diese Station zu planen. Von den Einzelteilen der Ausrüstung bis zu dem Typ der menschlichen Besatzung war jedes Ding Teil einer gigantischen Rechnung, die langsam aufging. Raketen, die man jede Woche heraufschoß, waren nicht nur als Frachtraum zu gebrauchen, sondern konnten restlos zu Dingen umgebaut werden, die der Station weiterhalfen. Elektronische Steuergeräte wurden nach einem planvollen Puzzlespiel wieder zu Funkgeräten oder anderen Instrumenten. Die Tanks – gereinigt und mit anderen Anschlüssen versehen – konnten, in den Mondboden eingebettet, als Vorratsbehälter für Sauerstoff, Wasser, Säuren oder Laugen benutzt werden. Die Leitungen blieben, was sie waren, das Metall der Raketenwände wurde von den Maschinen der Technikergruppe umgeformt und ergab Traktordächer, Schuppen oder luftdichte Türen. Man konnte jede Schraube brauchen – alles war wie ein riesiger Metallbaukasten genormt und aufeinander abgestimmt. Erstaunlich war, daß die Station seit sechs Wochen hier 7
stand. In vierzig Tagen hatten die Männer der Technik die beiden Raumschiffe bis auf die Düsen auseinandergenommen und die erste menschliche Mondstation gebaut. Kaum schwiegen die Landedüsen, rollte ein Arbeitsprozeß ab, der gewissermaßen den Grundstein zu der ersten Siedlung gelegt hatte. Hier war eine gigantische Stadt geplant; Urbs Maris Crisium. Noch war es nicht soweit – erst zehn kleine Kuppeln standen. Die Entwicklung hatte das Stadium des Aufbaus hinter sich gelassen und befand sich im Ausbau, wurde größer und besser eingerichtet. Die Maschinen, die aus dem Mondgestein und den erforderlichen Mineralien unerschöpflich scheinende Mengen flüssigen, schäumenden und biegsamen Kunststoff herstellten, liefen gleichzeitig mit dem Aufbau der Kuppeln an. Zuerst wurden die halbkugeligen Kuppeln aufgeblasen, dann spritzten die Düsen der Plastikschläuche den Schaumstoff auf, der Sekunden später erstarrte. Aus der bereits ausgesparten Schleuse wurden die Hüllen wieder herausgezogen und an anderer Stelle aufgeblasen. Vorgefertigte Schleusen, transparente Dreifachscheiben mit der Blendenflüssigkeit, die Röhren der Luftversorgung und zahllose Stromanschlüsse wurden eingebaut, dann besorgten weitere Geräte die Verkleidung der Innenräume. Schallisolation fiel hier wegen des fast vollkommenen Vakuums aus; aber Wärmeverluste wurden auf einen derart niedrigen Wert heruntergedrückt, daß spätere Anlagen Strom restlos an die Maschinen und Geräte abgeben konnten. Vierzehn Menschen konnten, nach langjährigem Training und mit abgestimmten Maschinen, diese Arbeit leisten. Sobald die Kuppeln standen, fertigten Kunststofftechniker die Verbindungsgänge, brachten weite Dächer für den Meteorschutz und mechanische Riegel und Sicherungen der Schleusen und Luftsicherungsanlagen an. Verlor die Station an einem Punkt Luft, sorgte eine sinnvolle elektronische Anlage dafür, daß innerhalb von drei Sekunden fünfzig Schotte und Türen geschlossen 8
wurden. Bereits Monate vor dem projektierten Start hatte das Team alle diese Arbeiten auf der Erde hinter sich gebracht, von Technikern und Lunarpsychologen mit Stoppuhren und Arbeitsblättern kontrolliert. So wurden Pannen vermieden. Nummer Zwölf kam herein. Er trug ein Tablett und bediente die Türmechanismen mit seiner Stimme. Die zusätzliche Sicherung ermöglichte das Eindringen in ein beschädigtes Gebäude. Auf dem Tablett stand das Frühstück für Carol. »Herzlichen Gruß von Dominique. Sie vermißt nur die Eierschalen.« Zwölf – Michel Naira, ein dreißigjähriger Holländer, der hauptsächlich die Fahrzeugtechnik unter sich hatte, lächelte Carol an und kniff die Augen zusammen, als er ihren melancholischen Gesichtsausdruck bemerkte. »Ist was los?« fragte er. »Natürlich nicht«, sagte Carol und räumte das Protokollbuch weg. »Na?« meinte Michel zweifelnd. »Heimweh nach der Erde?« Carol schüttelte den Kopf und sah hinaus auf die staubige Ebene. »Höre auf, in Büchertiteln zu reden«, brummte Carol. Michel steckte sich seine dritte der vier täglichen Zigaretten an und stieß den Rauch in die Richtung auf einen Abzugskanal aus. »So ist’s recht«, sagte er nickend. »Miß Mauning, die Verkörperung der guten Laune, die Schönheit unseres Teams, befindet sich in einer Phase der Niedergeschlagenheit. Soll ich dir Beauregard schicken?« Carol drehte ihren Kopf herum und sah Michel Naira an. »Es soll immerhin vorkommen«, sagte sie leise und bedeckte dabei das Mikrophon mit einer Hand, »daß man gewisse Stunden hat, in denen man sich ziemlich verloren vorkommt. Und wenn dann noch ein netter Mann kommt wie du und bissige 9
Bemerkungen von sich gibt, dann könnte man losheulen wie ein kleines Kind. Willst du das mitansehen?« Naira schluckte und betrachtete das glühende Ende seiner Zigarette. »Was soll ich machen?« fragte er behutsam. »Irgendwen erschießen? Die Station sprengen oder dir einen doppelten Whisky bringen? Sag’s mir, ich laufe sofort.« »Letzteres, Michel«, sagte Carol. Naira verstand, machte den schwachen Versuch eines Lächelns und schloß das Schott hinter sich. Mit mäßigem Appetit machte sich Carol an ihr Frühstück. Es war nicht notwendig, dachte sie, daß sie auch zu allem Kummer noch abmagerte. Crouden. Wenn ein Staat der Erde ein derartig ehrgeiziges Projekt startete, konnte er mit Armeen von Freiwilligen rechnen. Es war nichts anderes als Selektionstheorie, was Psychologen und Ärzte trieben. Von einigen Tausend blieben achtundzwanzig Mann übrig. Vierzehn Mädchen und vierzehn Männer – jeder Platz in den zukünftigen Raumschiffen doppelt besetzt. Diese vierzehn Menschen waren in vieler Hinsicht gesiebt und ausgewählt. Sie verkörperten nicht nur eine wissenschaftliche und technische Elite, sondern besaßen auch menschlich beste Qualitäten. Dazu kam, daß sie drei Jahre lang die einzigen Lebewesen auf dem Trabanten der Erde sein würden, bis sich die ersten Großschiffe in Marsch setzten, um Urbs Maris Crisium zu bauen. Dreimal zweiundfünfzig Mondtage und Mondnächte, dreimal dreihundertundfünfundsechzig Tage. Sie waren als soziale Gruppe getestet. Sie paßten zusammen. Nur eines konnte die gesamte empirische und praktizierende Psychologie der Erde nicht voraussagen oder steuern: die zwischenmenschlichen Beziehungen – Haß, Liebe, Zuneigung oder Ablehnung. Kein Psychologe hatte erkannt, wie sehr Carol an Crouden hing und wie McKechnie sie verehrte. Allerdings wußte das nicht einmal Carol selbst, nur die derzeit stel10
lungslose Psychologin der Station, Dominique Beauregard, hatte eine leise Ahnung. Jetzt vergingen die Tage, indem die Männer in drei Schichten mit den Exkavatoren arbeiteten, um Gänge und Hohlräume in die Mondwelt zu schneiden. Die Maschinen, nichts anderes als Ultraschallsägen mit verschiedenen Messern, wühlten sich wie stählerne Maulwürfe unterhalb der Station in den Bimsstein und das quarzhaltige Gestein. Sie schufen Vorratsräume, ein Wohnzentrum und eine kleine Bar, deren Gestaltung in den Händen des Zweiten Leiters, Architekten, Ersten Technikers und Leiters der Bauzentrale lag: Ariel McKechnie. Ariel hatte die Pläne gezeichnet, führte die Exkavatorgruppen an und konstruierte mit Sven Nyevelt eine Maschinerie, die das zerstäubte Gestein hinausbeförderte. Bewegliche Schläuche aus Kunststoffgliedern mit großem Querschnitt, mit Saugdüsen ausgerüstet, krochen hinter den beiden Exkavatoren her und wirbelten den weißen Staub auf die Mondoberfläche hinaus. Auf der Erde hätte der Wind den Staub in weiten Schleiern davongeweht; hier senkte er sich langsam und beharrlich auf die Ebene des Kraters Graham. Immer länger wurden die Gänge und zahlreicher die Abzweigungen. Die Höhlen erhielten ebenfalls Kuppelcharakter, nur die Bar, der erklärte Liebling ihres Schöpfers, erforderte die gesamte Kunst des Dänen, der den kleineren Maulwurf steuerte. Demnach mußte dieser Raum ein architektonisches Wunderding werden. Jedenfalls verbrachten die beiden Männer – McKechnie und Nyevelt – einen Großteil ihrer Freizeit damit, sich über Zeichnungen zu streiten oder zusammen mit Cyriac, der Chemikerin, Farben und die Möglichkeiten zu deren Herstellung durchzusprechen.
11
Ostrand des Mare Crisium, Kraterhang des Picard. Zeit: Dritter März 1989. Vormittags elf Uhr siebzehn. Patrouille 009: Mitglieder Vier und Sechs. Ausrüstung: Desert-car II. Vier und Sechs, Techniker Lee Young und Gustl Belin, saßen mit dem Rücken an die Schalensitze gelehnt und aßen. Vor ihnen erstreckte sich der Hang des Kraters Picard im Crisium. Surrend lief die Fernsehkamera hinter dem Kabinenfenster, daneben tickte das Positionsgerät, das einen Dauerpeilimpuls nach der Station sendete. Young und Belin hatten die Kabine mit Atemluft geflutet und die Helme ihrer Schutzanzüge abgenommen. Sie sogen an den Halmen ihrer Trinkflaschen und versuchten, ohne zu bröckeln, die Sandwiches zu essen. In dem Sechstel der Erdschwere konnten herumfliegende Krumen nicht nur Mikroventile verstopfen, sondern auch in Kühlspalten von Elektronenrechnern schlüpfen und dort Verwirrungen anrichten. »Wie üblich«, sagte Belin und kaute konzentriert, »nichts Besonderes. Kniehoher Staub, gefüllt und tückische Spalten und viel Geröll unterhalb des Staubes.« »Ich weiß«, sagte Young und tippte mit dem behandschuhten Finger gegen den Wagenboden, »du hoffst immer noch darauf, die gebleichten Gerippe der Mondbewohner oder eine notgelandete Schaluppe eines extragalaktischen Schiffes zu finden. Pech, mein Lieber!« Belin schluckte seinen Bissen herunter, zog am Halm und räusperte sich. Dann sagte er mit gespieltem, aber nicht restlos unbegründetem Fanatismus: »Paß auf, Lee: Eines Tages werde ich auf dieser staubigen, geröllbedeckten Kugel ohne Luft und Leben etwas finden, das niemand vermutet. Ich weiß nicht, was es ist. Aber auf alle Fälle wird es etwas ganz Außergewöhnliches sein. Erinnere dich meiner Worte.« »Aber gern, Prophet Jesaias Belin. Wie wäre es, wenn der Herr Hellseher gelegentlich die Kupplung einlegen und diesen Karren hier an den Hang heranbringen würde?« 12
»Wir werden pauschal bezahlt, vergiß das nie, wenn du auf dem Mond arbeitest. Ob wir etwas finden oder nicht – dreitausend Dollar in der Woche sind uns sicher.« Lee Young starrte den Hang des Kraters an, der von Vollerde beleuchtet wurde. Der Planet hatte, analog der irdischen Nacht, fast das Zwölffache der Leuchtkraft des Mondes, so daß ein helles Zwielicht herrschte, in dem man ausgezeichnet arbeiten konnte. Die reflektierte Sonnenstrahlung ließ den Abhang wie einen schmutzigen Eisberg erscheinen. »Ich glaube«, sagte Lee leise, »daß ich nicht wieder zurückgehen werde. Jetzt glaube ich es – wie es in zweidreiviertel Jahren aussieht, weiß ich nicht. Abwarten.« »Richtig«, stimmte Gustl zu. »Warten wir. Haben wir eine andere Möglichkeit?« Der Schlepper steuerte mit fliegenden Raupen über den Staub der Wallebene auf den Abhang zu. Sacht bis auf knapp zweieinhalbtausend Meter ansteigend, erhob sich der Kraterrand. Der Desert-car brummte zuverlässig. Er sah entfernt aus wie ein irdischer Kriegspanzer, aber er war unbewaffnet. Wozu auch, dachte Young. Raupenketten, knapp zwei Meter breit, waren über federnden Führungsrädern befestigt. Die Antriebsachsen mündeten versiegelt in das Differential des Getriebes. Durch eine spezielle Steuerautomatik konnte der Schlepper auf der Stelle drehen. Auf ebener Strecke erreichte er fast hundert Stundenkilometer. Der Motor erfüllte die Kabine und das Fahrgestell mit einem dumpfen, vibrierenden Summen. Ein chemischer Umkehrprozeß wurde von dem heißen Atomgenerator angefacht; die entstehenden Gase verbanden sich und bewegten einen Kreiskolbenmotor, der entsprechend untersetzt worden war. Die erste Füllung des kleinen Meilers sollte eineinhalb Jahre reichen, bei einer sehr großzügig bemessenen Betriebsdauer. Reparaturen konnten jedoch nur außerhalb der Kuppel vorgenommen werden, denn die Strahlung war zu groß. 13
Über dem breiten Fahrgestell erhob sich der drehbare Turm mit fünf Sitzen und zahlreichen Instrumenten. Desert-car II war die fahrende Forschungsstation. Bohrgeräte, seismographische Anlagen und Erzsucher waren installiert, drei Funkgeräte und ein Doppelsatz von Fernsehkameras, davon je ein Gerät batteriegetrieben. Die irdische Mikrotechnik, auf Luna durch Tonika Shenton vertreten, hatte wahre Orgien gefeiert. Mikrochips, Kaltfunktionselemente und gedruckte Schaltungen, winzige Kontaktstellen und wenig Drähte – Funkgeräte und Fernsehkameras waren bei irdischen Versuchen von zehn Metern Höhe ungeschützt auf Betonplatten geworfen worden und funktionierten weiter, obwohl die Montageplatten verbogen waren. Auch im Vakuum und unter der direkten Sonnenbestrahlung war keinerlei Fading zu bemerken. Außerdem gab es jetzt, nach dem Eintreffen der zweiten Nachschubrakete, genügend Einzelteile, um komplette Sender zusammenzubauen. Auf einer riesigen Mondkarte waren einzelne Funde markiert: Hier ein Bimssteinlager, dort ein gefundener Meteor, der Eisen und Nickel enthielt, hier obsidianähnliches Gestein. Fundstellen, mit deren Ertrag Glasfabriken jahrhundertelang arbeiten konnten, waren lokalisiert. Die Mondkarte wurde topographisch auf den letzten Stand gebracht – jede Falte, jede Erhöhung wurde vermessen und genau beziffert. Das war die Arbeit der Patrouillen. »Der Mond ist reicher als die Erde«, sagte Belin in die Gedanken des Technikers hinein, der den Schlepper vorsichtig den Kraterhang hinaufsteuerte. Die breiten Spuren der Raupenglieder waren noch zehn Meter hinter dem Fahrzeug zu sehen, aber dann wurden sie von dem unglaublich feinen Mondstaub wieder verwischt. »Ja«, antwortete Lee, während er den Steuerknüppel verschob. Der Schlepper umrundete einen Felsblock. »Reicher – aber nicht in allem. Vorwiegend Chemikalien und Produkte aus dem Mineralreich werden unsere Fabriken produzieren können. 14
Metalle werden hochgeschossen werden müssen.« »Wir haben bisher rund viertausend Tonnen Metall gefunden, Lee«, gab Gustl zu bedenken. »Wobei alles von Meteoren stammt und vorwiegend der Ferrumgruppe angehört. Kupfer, Gold, Blei, Silber, all das fehlt.« »Ich vermute, daß Terra nicht allzuviel Gold oder Silber abgeben wird. Blei ist zu schwer, Kupfer wird vermutlich rationiert werden. Die Damen werden hier kupferne Armbänder tragen, wenn sie den Reichtum ihrer Männer zeigen wollen.« »Das ist wahrscheinlich, aber es dauert noch einige Zeit«, sagte Lee. Dann hielt der Schlepper an. Automatische Geräte fotografierten und vermaßen, stellten Höhenunterschiede und Entfernungen fest. Weit im Osten glühte eine Sternschnuppe durch die hauchdünne Atmosphäre des Mondes. Sie entsprach der irdischen Lufthülle in einem Zehntausendstel, gemessen auf Meereshöhe. Auch hier stellten die hochempfindlichen Massedetektoren den tief in der Mondoberfläche steckenden Meteor des Kraters fest. Ein Großteil der bisher untersuchten Krater war nachweisbar durch den Einschlag von Meteoren entstanden – aber auch von Steinmeteoren, die ihre Bewegungsenergie in Sekundenbruchteilen in Hitze umgesetzt und tiefe Krater geschmolzen hatten. Erzmeteore waren seltener, sie enthielten Ferrum, Nickel und Kobalt. Die schönste Entdeckung des Teams war ein Tektitkörper, der Silizium, Aluminium, Kalium und Kalzium enthielt. Diese Fundstätte lag unweit der Siedlung; später würde man sie würdigen können. »Mich interessiert nur, wann wir den Blechschrott der zahlreichen Sputniks, Luniks, Surveyors und ähnlicher Versuche finden. Der Abfallhaufen wird garantiert gigantisch«, sagte Lee lachend. »Ich werde morgen unser Lesegerät befragen«, versprach Belin. »Ich bin überzeugt, daß wir bisher noch nicht oft daran vorbeigekommen sind. Sie liegen woanders, glaube ich.« 15
»Läßt sich feststellen. Hinten ist noch Platz«, brummte Lee. Mit »hinten« meinte er die Schale, die als Ladefläche diente. Sie war oberhalb der Verstrebungen des Fahrgestells befestigt und konnte zwei Tonnen Gewicht aufnehmen, ohne den Desert-car zu überlasten. Eine Viertelstunde später waren die beiden Männer wieder beim Schlepper angelangt. Sie waren mit Meßgeräten über den Abhang hinaufgeturnt, hatten den Kraterraum vermessen und die Daten in den Speicher übertragen. Das Seil, mit dem sie sich gegenseitig gesichert hatten, wurde losgeknüpft und verstaut. Dann umrundete der Schlepper mit achtzig Stundenkilometern Geschwindigkeit einen kleinen Meteorkrater innerhalb des Schräghanges, glitt durch eine metertiefe Staubpfanne hindurch, schleuderte auf einem Geröllfleck und nahm dann am Fuß des Kraterberges Kurs auf die Station. Krater Graham lag innerhalb des Mare Crisium, so daß nicht mehr als hundertfünfzig Kilometer zu überwinden waren. Seit vier Tagen fuhren die beiden Männer mit dem Schlepper in immer weiter ausholenden Schleifen von der Station weg, um die Umgebung zu erforschen. Immer genauer wurden die Karten, immer vertrauter wurden den Mitgliedern des Teams der Mond, seine Gefahren und – Schönheiten. Schönheiten? Eine leblose Welt. Angefüllt mit Staub, schwarz und mit hohem Eisengehalt, durchfurcht von Spalten, verborgenen Fallen und stauberfüllten Senken, nur durch winziges Durchhängen der pulverigen Oberfläche zu erkennen. Keine Moose, eine fast nicht mehr feststellbare Lufthülle, Tage und Nächte, die je zwei Wochen dauerten und ein Temperaturdiagramm, das von Plus hundertdreißig bis Minus hundertfünfzig differierte. Gewaltige Ebenen innerhalb der Ringkrater, Berge, die jede Art von Formation aufwiesen, die man kannte – schroff, sacht oder bizarr. Das war der Mond. Schönheiten? Doch. Wenn die Sichel der Erde über die Ränder des Cleomedes stieg und die Schatten über die Fläche wanderten, wenn 16
die Vollerde ein warmes Licht über die Staubfelder warf und winzige Diamanten auf den Gipfeln auf gleißen ließ. Das war die Schönheit des irdischen Trabanten. Die absolute Stille konnte heilen. Sie schuf eine Zone des Abstands zwischen dem Menschen und seinen Gedanken, so daß Zeit blieb zu Überlegungen, zu Gesprächen, zu Auseinandersetzungen und zu geistiger Arbeit aller Art. Getrennt von ihren Sorgen – für drei lange, kurze Jahre – konnten die vierzehn Menschen ihr Bestes geben. Sie arbeiteten täglich zwölf Stunden lang, manche noch länger. Das aber war freiwillige Leistung. Lee Young und Gustl Belin fuhren den Schlepper unter die Rampe. Sie befanden sich jetzt über hundert Meter von der äußersten Kuppel entfernt und fuhren langsam in die künstlich geschaffene Senke ein. Lee schaltete den Antrieb aus, nahm den Datenspeicher aus der Halterung und öffnete die luftdichte Drucktür. Eine Sekunde lang kondensierte sich Nebel neben dem Fahrzeug, dann hatten sich die Sauerstoffatome so weit voneinander entfernt, daß man sie nicht mehr erkennen konnte. Lee stieg aus, warf die Tür zu und wartete, bis Belin auf der anderen Seite heruntergeklettert war. Die Männer drückten die Knöpfe für die erste Schleuse und traten ein, während sich das schwere Schott, einst Tankoberstück einer Rakete, wieder schloß. Dann kippten die schweren Funkhelme nach hinten. »Wieder ein Tag, Lee«, sagte Belin und verschloß seine Sauerstoffflasche. »Einer von rund tausend, Gustl. Ich fühle mich hier so wohl wie noch nie.« Gustl sah Lee scharf an, dann glitt ein Lächeln über sein fast schwarzgebranntes Gesicht. »Uns geht es so verdammt gut, daß es verdächtig ist. Ich hoffe nur, es bleibt so. Bisher verstehen sich alle noch prächtig. Aber Nähe erzeugt Spannungen.« »Deswegen bekommt jeder von uns eine Wohnkuppel oder 17
Höhle, wenn alles fertig ist«, widersprach Lee seinem Partner. »Ich habe andere Gedanken.« Langsam näherten sie sich der zweiten Schleuse, durchschritten sie und kamen in die angenehme Wärme des Zentralgangs unterhalb der Station. »Die Narren dort unten spielen noch immer mit ihren Bomben. Es herrscht Spannung. Machen Sie Ernst oder lassen sie es bleiben? Das ist die Frage.« Mit der sarkastischen Formulierung meinte Lee Young die beiden zentralen Regierungen der Erde, die sich im Kalten Krieg befanden. Die Gründung einer westlichen Raumstation auf dem Mond hatte nicht mitgeholfen, die Lage zu entspannen. Noch arbeitete die UNO daran, die vollständige Kontrolle aller nuklearen Anlagen und aller Abschußrampen der Bombenträger zu übernehmen, aber immer noch wurde die Weltorganisation von einem Veto und wieder einem und einem dritten blockiert. »Das ist es, Gustl, was mich schlecht schlafen läßt. Stell’ dir vor, die sprengen sich gegenseitig in die Luft. Kannst du dir denken, was hier geschieht?« Gustl Belin, geradezu ein Muster an Beherrschtheit und Ausgeglichenheit, blieb stehen, als hätte ihn eine unsichtbare Hand gefaßt. Seine Augen verloren für einen Moment ihre gewohnte Ruhe, als er Lee anstarrte. »Ich kann es mir vorstellen«, sagte Belin leise, »und ich bete, daß es niemals geschieht. Es wäre die Apokalypse. Verhungern, ersticken – gegenseitiger Mord.« »Eben dies«, sagte Lee. »Komm, vergiß es.« Eine in Bimsstein geschnittene Treppe nahm sie auf und brachte sie in den Waschraum. Hier befanden sich Raumanzüge, Geräte zur Säuberung und ein Teil derjenigen Maschinen, die für neuen Sauerstoff, Wasserrückgewinnung und Reinigung sorgten, und ein Teil der Ausrüstung der Patrouillen. Mit hundertfach geübten Griffen entledigten sich die Männer 18
der Anzüge, schlüpften in bequeme Dienstkleidung und zogen die dicken Wollsocken aus. Lee trug Texanerstiefel mit Steppverzierungen, Gustl zog weiche Mokassins vor. Individualismus war beschränkt möglich. »Carol ist niedergeschlagen«, sagte Gustl zu seinem Partner, »gehen wir und heitern sie auf – so es uns gelingt. Sie muß jetzt …«, er sah auf seine Armbanduhr, die verschiedene Stoppeinrichtungen und einen Strahlenmonitor enthielt, »… gerade den zweiten Routinebericht für Terra fertig haben. Hören wir, was es heute hier alles gegeben hat.« Lee nickte, zündete sich seine erste Zigarette an und stieß mit dem Zeigefinger einen selbstleuchtenden Knopf in ein Armaturenbrett neben der Tür hinein. Geräuschlos öffnete sich ein weiteres Schott, kontrollierte durch eine Selenzelle den Durchgang und schloß sich dann wieder. Wieder eine Treppe, diesmal nicht so lang wie die erste. Dann standen die Männer in der großen Zentralkuppel in der Mitte der Station. Die Kuppel war ein kleines technisches Meisterwerk. Sie bestand aus vier Schalen. Zwischen den äußeren Schalen befand sich die Abblendflüssigkeit. Die senkrechten Strahlen der Sonne wurden gemildert, wenn die braune Spezialflüssigkeit hochgepumpt wurde. Carry Cyriac, die zierliche Japanerin, half gerade Karen Imbaud, die Hydroponikanlage aufzustellen. Hier, unter Sonnenstrahlen und in Nährlösungen, größtenteils mit Spurenelementen und Aschen der Mondwelt angereichert, sollten Algen, Pflanzen und Zuchtblumen wachsen. »Na, ihr Gärtnerinnen, werden schon Blumenbestellungen entgegengenommen?« Lee grinste Karen an. Die siebenundzwanzigjährige Schwedin lächelte zurück. Neben ihr steckte Carry ihren Kopf hinter einem aufgebockten Tank hervor. »Wem willst du Rosen schicken, Lee?« fragte Carry. Lee freute sich jedesmal, wenn er Carry sah. Das Mädchen gefiel ihm mit jedem Tag mehr. 19
»Dir, Liebling«, sagte er und zeigte auf die Japanerin. Carry wurde rot und bückte sich hinter die flache Plastikschale. »He, Texasmann«, brummte Karen, »geflirtet wird nur außerhalb der Dienststunden.« »Komm«, sagte Gustl lakonisch. »Die Damen sind von einem Arbeitseifer, der auf normale Menschen tödlich wirkt. Laßt uns die Funkkuppel besuchen. Dort werden wir gerngesehene Gäste sein.« »Raus!« sagte Karen energisch, aber da öffnete sich bereits die Schleusentür. Die beiden Schlepperfahrer gingen unter dem Bogen der Schleuseneinfassung durch und liefen durch den Verbindungsgang auf der Oberfläche in die Funkkuppel. Neben der kleinen Kuppel wuchs die Antenne in den Himmel. Ein schlanker Stahlmast mit zehn Verbindungsgelenken, die je vier Meter besten Stahlrohrs hielten, reckte sich die Nadel zu den Sternen empor. Ihre Spitze wies genau auf die Erde, die schräg über der Station schwebte – blau, grün, weiß und unerreichbar fern, so schien es. Carol Mauning hantierte an dem Bandspulentisch, der die Sendung abspulen sollte. Ein Kontrollautsprecher war zwischen das Kodegerät geschaltet, das den Text in drei Phasen zerhackte und modulierte. Jeden Tag wechselte der Kode zweimal – auf der Erde lief nach dem Empfang der Vorgang rückläufig ab. Elektrotechnische Geräte steuerten den Vorgang. Carol sah auf, bemerkte die Männer, die es sich in Schalensesseln bequem machten, und nickte. »Es geht los. Wollt ihr mithören?« fragte sie. »Es ersetzt die tägliche Morgenzeitung. Besonders die Rücksendung interessiert uns.« Lee Young drückte seine Zigarette aus und wartete. »Hier«, sagte Carol und drehte einen Schalter herum. »Mondbasis Eins – Funkbericht 12/2 – Mauning. Gesamtbefinden: ausgezeichnet. Plan bis Position 197 erfüllt. Alles gesund, 20
keine Schwierigkeiten. Heute: Patrouille Mare Crisium. Vermessung, Bodenproben und Karthographie. Vier und Sechs – Tagschicht Eins …« Die Erde konnte anhand der Positionen kontrollieren, was erfüllt oder nicht erfüllt worden war. Ebenso erübrigte sich, die Personen mit vollem Namen durchzusagen. Nummern genügten. Eine dreiviertel Stunde lang lief das Band ab. Lange Stellen, an denen nicht gesprochen wurde, übertrugen Funkbilder. Die gesamte ausgewertete Arbeit eines halben Tages, also in diesem Fall von neun Uhr früh bis jetzt, wurde in den Archiven der Raumfahrtbehörde in Kap Canaveral gespeichert. Die Erde revanchierte sich, stellte die halbtäglichen Nachrichten zusammen und funkte sie, mit Kommentaren und Grüßen unterbaut, zur Station. Hier lief das Band entweder über Rundspruch oder während des gemeinsamen Essens ab, so daß jeder wußte, was »unten« vorging. Schweigend hörten die Teamkameraden, was die Menschen der Erde erlebten. Bilder wurden auf Spezialband aufgenommen, das gelöscht werden konnte. Es war fast halb zehn Uhr nachts, als der Summer ertönte. »Essen«, sagte Lee und stand auf. »Kommt ihr mit?« Der Gemeinschaftsraum lag neben dem Krankenzimmer – gottlob leer bis auf Operationsstuhl und Medikamentenschränke – und der Küche. Der Tisch war gedeckt; Faraggi und Scott hatten diese Woche Küchendienst. Ihre Kunst erschöpfte sich in den Möglichkeiten, Inhalte von Konservendosen und Plastikverpackungen in immer neuen Variationen zu servieren, nachdem sie erhitzt, gekühlt oder in Portionen aufgeteilt worden waren. Der Tisch bot Platz für alle Mitglieder des Teams. Oben, am Kopf der Tafel, saß Robert Crouden. Nummer Zwei, Leiter der Station. Ein hellblonder Sechsunddreißigjähriger, der direkt aus den ganzseitigen Anzeigen zu stammen schien, auf denen gutaussehende Männer Elche jagten, harte Getränke hinunterschütteten oder riesige Fische angelten. 21
Crouden sah gut aus, etwas zu gut. Außerdem neigte er dazu, Fett anzusetzen. Der Mond mit seiner geringen Schwerkraft tat nichts dazu, Croudens Arbeit zu unterstützen; der Erfolg war, daß Robert immer weniger aß. Während die Teamkameraden ihre Mahlzeit einnahmen, lief das Band mit den Erdnachrichten ab. Ariel McKechnie brach als erster das Schweigen. »Uns geht es gut, die Erde dreht sich noch, die UNO hat noch immer nicht die Kontrolle über die Atomwaffen, die nächste Rakete kommt in zwei Tagen, und ich bin satt. Es war fabelhaft, Claudia, was ihr den Dosen entlockt habt.« Ariel lehnte sich bequem zurück, wartete, während er sich seine Pfeife stopfte, bis alle ihr Besteck niedergelegt hatten und riß ein Zündholz an. Dann stand er auf, holte sich ein Glas und maß eine der Getränkerationen abs die ihm zustanden; schottischer Whisky, im Individualverkehr hier heraufgeschickt. Ein Prozent der normalen Ladung wurde aus einer langen Liste von persönlichen Wünschen der Menschen aufgefüllt und in der Rakete hochgeschossen. »Wie wäre es mit Musik?« fragte Karen Imbaud. »Ausgezeichnete Idee«, lobte Ariel. »Bach – Orchestersuite Drei«, brummte Sven Nyevelt, der bereits im Bandarchiv wühlte und die Kassette auflegte. Robert Crouden hob die Hand. »Müßt ihr denn immer dieses antike Zeug spielen? Ist nicht auszuhalten«, sagte er laut. »Fast jeder weiß, Crouden«, sagte Ariel langsam und blickte den Leiter an, »daß du zu Musik und wirklicher Kunst ein merkwürdiges Verhältnis hast. Oder keines, wie man’s nimmt. Deswegen mußt du aber uns anderen das Recht lassen, Bach oder Händel dann zu hören, wenn es uns Spaß macht. Und das, glaube ich, ist jetzt der Fall.« Ariel hob sein Glas, lächelte knapp und nickte Crouden zu. Es war merkwürdig, alle anderen Mitglieder wurden vom Zweiten Leiter mit den Vornamen angeredet, nur Crouden 22
nicht. Etwas, das sich Robert nicht erklären konnte. Sachliche Gespräche konnte er mit Ariel jederzeit führen, ging es jedoch in persönliche Bereiche, fand er einen Gegner, dem er nicht gewachsen war. Denn Ariel besaß die Phantasie des typischen Schotten. Shakespeare, Shaw, europäische Dichter und Musiker waren Bestandteile seines wendigen Geistes. Und das fehlte Crouden. Die Nachtwachen wurden eingeteilt. Sie trafen Carol und Ariel, die in einer Stunde ins Observatorium hinübergehen würden. Erdbeobachtung, das war das Stichwort. Die anderen brachten den Gemeinschaftsraum in Ordnung und suchten ihre Wohneinheit auf. Corinne Scott und Claudia Faraggi räumten das Geschirr ab und legten es in die Spülmaschine. Crouden griff nach der Materialliste und dem Dienstplan, warf einen langen Blick auf Carol, dann auf Ariel, und verschwand lautlos. Ariels Pfeil hatte wieder einmal gesessen. Ariel klopfte nachdenklich die Pfeife aus und überlegte. Was er seit drei Wochen trieb, war Intrige in ihrer unterschwelligsten Form. Ariel wollte nichts anderes, als Carol vor Augen führen, an welche Buchhalterseele sie sich klammerte. Natürlich kein reiner Beweggrund, sondern Absicht. Ariel liebte Carol. Bis zu der Erfüllung war es ein langer, mühseliger Weg. Der Einsatz, fand Ariel, lohnte sich. Und er verfolgte seine Idee mit schottischer Hartnäckigkeit. Er und sie waren die Asse der Station – Crouden war nichts anderes als ein lebendes Elektronengehirn. McKechnie ging in die Küche und suchte in dem Geschirrschrank nach seinen Tassen. Sie waren Erbstücke aus Familienbesitz; dicke Steingutdinger, in denen der Kaffee eine Stunde lang heiß blieb. Dann brühte der Techniker zwei Tassen auf und stellte sie mit Zucker und Dosenmilch auf eine Platte. Er steckte den Kopf durch die Tür zum Gesellschaftsraum, wo Carol saß und eine lange Zigarette rauchte. »Kommst du mit?« fragte er. Sie stand auf. Ein kurzer Gang 23
trennte den Raum von dem Observatorium. Carol öffnete die Schleusen und löschte das Licht hinter sich. Die schweigende Wärme des dunklen Observatoriums nahm den Mann und das Mädchen auf. Knackend schloß sich das Schott. Eine kleine Lampe wurde eingeschaltet und tauchte den Tisch und die schweren Raumschiffsessel in mattes Licht. Der Dreieinhalbmeterspiegel war hier zusammengesetzt worden. Teile der Raumschiffe und in den ersten drei Frachtraketen enthaltene Bauelemente bildeten in der Kuppel den Tubus. Ein kompliziertes System von Kunststoffschläuchen und Ringen ermöglichte, daß sich das schwere Teleskop drehen konnte und die Kuppel dennoch dicht blieb. Die Erde wurde beobachtet. Genauer gesagt, jetzt nur die östliche Hälfte. Truppenbewegungen, Bauten oder Straßen – dies alles konnte gesehen werden, wenn nicht eine Wolkendecke den Planeten umgab. Und jeden Tag viermal je drei Stunden trat der Suchdienst an und verglich die Karten mit der Wirklichkeit. Ariel stellte die beiden Tassen ab und steckte die kalte Pfeife in die Brusttasche seines Anzugs zurück. Jetzt mußte er vorsichtig sein. Summend sprangen die kleinen Elektromotoren an, die den zentnerschweren Koloß bewegten. Das helle Bild der Erde schwebte über die Station. Carol schwang sich in den Beobachtersessel und richtete den Brennpunkt auf Rußland ein. Nacheinander tastete die Optik die verschiedenen Gebiete ab, in denen strategisch wichtige Anlagen waren: Häfen, Übungsplätze, Rüstungsfabriken, Bauarbeiten größeren Umfangs. Der Fortschritt oder der jeweilige Stand einer Entwicklung wurde mit den letzten Eintragungen verglichen. Durch die 386 000 Kilometer Weltraum und neun Kilometer dichte Lufthülle des Planeten konnte das Präzisionsinstrument noch Gegenstände ausmachen, die einen Meter groß oder zwei Meter voneinander entfernt waren. Carol verglich die Ordina24
ten, die ihr Ariel gab, mit demjenigen Gebiet, das die Linsen zeigten. Ein schwarzer Stift unter einer kleinen Lampe beschrieb Linien und Kreise, füllte Symbole aus oder änderte Werte. So arbeiteten die beiden schweigend eine Stunde lang. »Pause«, sagte Ariel. »Setze dich zu mir, und schenke mir eine Zigarette.« Carol kletterte aus dem harten Schalensessel. Die Flamme ihres Feuerzeugs beleuchtete die Gesichter der beiden. Die Zigaretten brannten. Carol zog ihre Tasse zu sich heran. »Ariel?« meinte sie. »Ich habe eine Frage. Bitte halte mich nicht für kindisch.« Ariel lächelte. »Keine Angst – nicht dich, Carol.« Ariels Worte waren leise gesprochen worden. Sie forderten geradezu heraus, was jetzt kam. »Aus welchem Grund bist du gegen Crouden so bissig und sarkastisch?« fragte das Mädchen. »Es ist so«, begann der Schotte, »daß Crouden hier ein Fremdkörper ist. Er ist ein ausgezeichneter Buchhalter, aber eben nur dies. Er paßt nicht zu uns. Stelle Männer wie ihn an jede andere Stelle, sie werden den Anforderungen genügen. Wie ein Allzweckmotor. Aber ohne Steuerung. Ihm fehlt so vieles, was uns alle auszeichnet. Liebenswürdigkeit, Gelassenheit, Humor, Witz und Phantasie. Was er hat, sind Ehrgeiz, Intelligenz und ein trockenes Wissen vieler Dinge. Was will er damit hier anfangen?« »Du hast recht«, antwortete Carol. »Was hoffst du mit deiner Aktion zu erreichen?« »Nichts für mich«, sagte Ariel hart. »Aber eines Tages wird jemand mit einem Schraubenschlüssel auf Robert losgehen. Wenn nicht …« »… Crouden vorher eine E-Rakete anfordert«, vollendete das Mädchen. »Richtig«, sagte Ariel. »Das ist der Zweck, den ich verfolge.« 25
»Und du denkst, allein für das Wohl der Station entscheiden zu können? Denkst du auch an die anderen?« »Nicht auch – nur«, korrigierte Ariel sanft. »Mit deren Billigung?« fragte Carol blitzschnell zurück. Eine Unterhaltung mit ihr war ein reines Vergnügen, dachte McKechnie. »Ich frage niemals, wenn ich einen Entschluß gefaßt habe. Ich habe vorher drei Wochen lang die Reaktionen studiert. Crouden wird geduldet, nicht geschätzt. Das ist es.« Sie bewegten sich im Kreis wie Ringer, die ihre Kräfte abschätzten. Carol stieß endlich ins Zentrum vor. »Du weißt, daß Crouden und ich gut befreundet sind?« fragte sie lauernd. »Eine sehr milde Umschreibung für einen merkwürdigen Zustand«, verbesserte Ariel ironisch. »Du bist im Begriff, dich zu verschwenden.« »Du sähest es lieber«, sagte das Mädchen nach einer Weile betroffen, »wenn ich mich an jemand anderen verschwenden würde?« »Natürlich.« »An wen – deiner Meinung nach?« fragte sie, fast flüsternd. »Das werde ich sagen, wenn es an der Zeit ist.« Ariels Erklärung ließ keine weitere Diskussion mehr über diesen Punkt zu. Sie war sachlich, entschieden und endgültig – für Ariel. »Ich bin gespannt, was du mit mir vorhast«, sagte Carol nicht ohne bitteren Humor. »Wer garantiert dir, daß sich die Schachfiguren deines Spiels so verhalten, wie du es planst?« »Meine Fähigkeiten als Amateurpsychologe. Du kannst Beauregard hinzuziehen, wenn etwas unklar ist. Sie wird dir mit einer Unmenge von wissenschaftlichen Erklärungen kommen und zeigen, daß es anders nicht möglich war.« »Warten wir also auf Croudens E-Rakete.« »Das wird sehr lange dauern«, versprach Ariel. »Aber sie wird kommen, noch ehe ein Jahr herum ist. Das kann ich ga26
rantieren.« »Und ich?« »Crouden wird dich wie einen lästigen Gegenstand fallenlassen, wenn er den einzigen Platz in der Rakete zu der Rückfahrt belegt. Dann wird Komroy hochgeschossen.« »Komroy?« fragte Carol. »Komroy war der Ersatzmann, gegen den das Los entschied.« Carol schüttelte verwundert den Kopf. »Ich beginne dich in einem anderen Licht zu sehen, Ariel.« »Ich bitte darum.« Der Schotte grinste. »Zuerst machtest du den Eindruck eines netten, harmlosen Technikers, der freundlich für jede kleine Sorge da ist. Klug, voller Verständnis für die Lage der anderen, aber das Bild hat sich verändert. Du besitzt nicht nur die erwähnten Vorzüge, sondern bist in einem Maße gerissen, das erschreckend ist. Du hast ferner einen unbeugsamen Willen und eine Zähigkeit, die bemerkenswert ist.« »Vergiß nicht, ich bin Schotte – eine besondere Sorte Mensch«, erinnerte sie Ariel. »Das muß stimmen«, pflichtete sie zornig bei. »Weswegen regst du dich auf?« fragte McKechnie verwundert. »Weil ich dumm bin. Jetzt weißt du’s«, sagte sie und drückte ihre Zigarette eine Spur zu heftig aus. »Unangebrachte Selbstvorwürfe«, sagte Ariel. »Du bist schon richtig so, wie du bist – bis auf eines.« »Ich weiß. Crouden.« »Wie klar du es erkannt hast. Man sollte aus seinen Überlegungen die Konsequenzen ziehen.« »Wenn man liebt, Ariel, denkt man nicht.« »Hätte man gedacht, würde man nicht lieben – nicht den Falschen, Carol«, antwortete Ariel bedächtig. »Du hast recht, aber es ist schwer zu ändern.« 27
»Es wird dir eines Tages nichts anderes übrigbleiben. Darauf solltest du dich freuen.« Ariel stand auf und ging zum Kontrollpult hinüber. »Machen wir weiter«, sagte er und schaltete das Licht ein. Eine Landkarte wurde transparent und zeigte die Linien der vorhergegangenen Korrekturen. Kiew wurde sichtbar, und die Rampen der SS-20 innerhalb des schwer zugänglichen Gebirges. »Kiew – offensichtlich Überprüfung der Feuerbereitschaft«, sagte Ariel zu Carol. »Ich vergrößere«, sagte sie. Eineinhalb Stunden später erlosch das schwache Licht in dem Observatorium. Die Mitglieder suchten ihre Wohnkuppeln auf. Beauregard, die französische Psychologin, hatte die Nachtwache übernommen. Sie saß vor dem großen Pult, das Schleusen und Schotte steuerte und sowohl Energie als auch Luft und Feuchtigkeitsversorgung übernahm. Die Lämpchen zeigten Grün, es war überall ruhig. Die Stunden vergingen wie die Tage in schleichendem Gleichmaß. Niemand merkte es, denn alle arbeiteten zwölf Stunden. Fernziel des Unternehmens war, die Mondstation autark zu machen. Drei Jahre sollten ein für allemal zeigen, wie sehr oder wie wenig eine Station von der Erde abhängig sein konnte. Zu diesem Zweck brachten die Frachtraketen nacheinander chemische Ausrüstung und Algenkulturen hoch, die man in den Hydroponiktanks züchten mußte. Die Station sollte sich das letzte Jahr völlig von pflanzlichen Produkten ernähren können. Ausgesuchte Setzlinge und Samen wurden angepflanzt. Mondstaub, mit irdischem Humus und Bodenbakterien durchsetzt, befand sich bereits in den Plastikschalen. Eine andere Gruppe baute die Raketen auseinander und sortierte Einzelteile. Lee und Belin, die Schlepperfahrer, hatten einen Liniendienst aufgezogen. Während dieser Zeit fuhren sie mit zwei Desert-cars pausenlos zwischen der Ebene und der 28
Station hin und her und brachten die Stücke heran. Die langen Halbzylinder wurden auf Röhrengestellen gelagert und die Schutzüberzüge von den hochverchromten Innenseiten gezogen. In den Brennpunkt dieses Spiegels wurden Röhren gelegt, in denen Flüssigkeit verdampfte und eine Hochleistungsturbine antrieb. Während der Mondtage konnten sämtliche Batterien bis zum Bersten gefüllt, konnten Schweißarbeiten durchgeführt und eine ungeheure Strommenge verbraucht werden. In späteren Jahren würden diese Spiegelanlagen den Mond wie ein Netz überziehen. Zweihundert Meter von der Station entfernt wurden Aggregate in Felshöhlen verankert. Ein Bautrupp zog Gräben und verlegte isolierte Kabel. Sie mußten die sechzig Minusgrade des Mondbodens aushalten und eine Spannung von vier Kilovolt. Zwanzig Frachtraketen waren auseinandergenommen worden. Die Station wuchs unterhalb des Mondbodens. Noch eine Woche, dann hatten die Teams für jeden der vierzehn Menschen eine Wohnhöhle in den Fels geschnitten. Ein automatischer Webstuhl produzierte aus Kunststoffgarnen Stoffe für alle Zwecke. Bunt und farbig, in von McKechnie entworfenen und von Tonika Shenton in die Elektronik programmierten Mustern entstanden ballenweise die Stoffe. Die Autarkie rückte näher. In diesen Tagen verwertete McKechnie seine psychologischen Kenntnisse. Er benutzte einen geschriebenen Text von Robert Crouden, um einen Schreibfehler weiterzuleiten. Statt der angeforderten F-Rakete, einer Rakete mit genau bezeichneten Materialfrachten, tippte Ariel eine E-Rakete, eine Ersatzrakete. Die Antwortsendung fiel in die Funkwache von Crouden. Crouden verstand, welcher Fehler gemacht worden war. Instinktlos entschuldigte er die Fehlleistung Ariels, aber in dem Gespräch, das über Funk mit Kap Canaveral geführt wurde, 29
tauchte immer wieder der Begriff der Ersatzrakete auf. Croudens Gedanken würden sich in den nächsten Wochen ständig mit diesem Faktor auseinandersetzen. Die Pflanzen wuchsen, wucherten über die Kästen hinaus, und Carry Cyriac machte die ersten chemischen Versuche. Die Nahrungsmittel, die sie selbst probierte, sahen unansehnlich aus und schmeckten auch so – aber sie waren biologisch hochwertige Nahrung. Musgrave, der Arzt, half der Japanerin. Endlich kam eine Nachricht von Terra, die einige Leute aufatmen ließ. Die UNO hatte endlich, trotz kleinlicher Einschränkungen und müder Kompromisse, die Übersicht und die Kontrollmöglichkeit über die Atomwaffen und die Waffenträger erhalten. Die Verträge waren ratifiziert, aber man stritt sich darum, welche Nationen die Kontrolltruppen stellen sollten. Es würden noch Wochen vergehen, bis die nationalen Teams die Lager, Raketenbasen und Atomunterseeboote übernahmen. Die Erde feierte dieses Ereignis damit, daß verschiedene Städte ihre Lichter an- und ausschalteten, wenn sie im Brennpunkt der Linsen der Mondbeobachtung standen. Die Station merkte es auch materiell, denn eine Individualfrachtrakete brachte Bücher, Tonbänder und andere Dinge herauf, die sonst erst nach Monaten hier angelangt wären. Selbstgebackene Kuchen der Familienangehörigen, Videokassetten und Filmrollen waren in den Paketen. McKechnie war scheinbar überall. Das breite Spektrum seiner Fähigkeiten war es, das ihn an erster Stelle auszeichnete. Er war weder ein Amateur noch ein Spezialist. Er beherrschte die Nachrichtentechnik fast ebenso gut wie Carol, aber von Chemie hatte er keine Ahnung. Und immer mehr fiel Crouden ab. Er verwaltete die Station und wußte noch im Schlaf, an welcher Stelle welcher Gegenstand lag und welcher in drei Wochen mit der Rakete heraufkommen würde, aber das hätte auch ein Elektronengehirn speichern können. 30
Irgendwann hatte McKechnie grinsend eine Unterhaltung mitangehört. Außenposten zu Nachrichtenkuppel – Belin zu Corry Scott. Belin: »Frage doch Crouden, wo genau im Crisium, etwa beim Krater Peirce, die notgelandete Mondsonne liegt. Wir wollten sie mitbringen, statt Blumen.« Corry: »Moment.« Dann hörte man das Knacken der Kommunikationsanlage, dann die Stimme Corrys, die nach Crouden rief. Kaum hatte sie ihn erreicht, kamen die Ordinaten des Absturzplatzes. Corry: »Hier hast du sie. Paß auf …« Dann folgten Zahlen. Belin fragte zurück: »Crouden hat ein Hirn wie ein CRAYComputer. Weshalb haben wir nicht einen CRAY mitgenommen? Die Maschine würde nichts essen und weniger Platz wegnehmen.« Corry antwortete, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte: »Des Rätsels Lösung: Crouden war nicht so schwer wie CRAY. Er brauchte weniger Treibstoff und weniger Lagerraum.« Belin: »Das wird’s sein.« McKechnie, der den Lautsprecher in seiner Dunkelkammer aufgedreht hatte, lachte lauthals los. Es wurde ihm bewiesen, daß seine Aversion nicht unberechtigt war. Ein Leiter, über den sich die Mitglieder lustig machten? Die Erde wurde gefilmt, so wie das Wachsen der Mondstation auf der Erde vermerkt wurde. Mit der letzten Frachtrakete war ein langes Projektil mitgeschickt worden, das von den Treibstoffvorräten der ausgebauten Tanks aufgefüllt und startklar gemacht wurde. Die Nutzlast der kleinen Rakete betrug drei Zentner; dieses Gewicht machten hauptsächlich die isolierten Filmrollen aus, die den Lastraum füllten. Geologische Funde, Analysen und auf Mikrofiches wiedergegebene Berichte ergänzten die Sendung. Auf einem von Kap Canaveral ausgestrahlten Funkleitstrahl würde die Automatik die Rakete sicher vom Mond zur Erde bringen. Drei Tage spä31
ter startete das Projektil und landete nach vierundzwanzig Stunden sicher an ihrem Bestimmungsort. »Ich liebe diese Stunden in diesem Raum«, sagte Cobb Musgrave, der Arzt der Station, zu seiner Freundin. Er und Claudia Faraggi saßen in den schweren Sesseln des Observatoriums. Jetzt bestand die Station bereits vier Monate. »Es ist Nacht«, sagte Claudia. Über ihnen, im Brennpunkt der mächtigen Linsen und über dem transparenten Dach schwebte die Neuerde. Nur ein winziger Streifen Licht umgab den Heimatplaneten: der Widerschein der Sonne in der Lufthülle und deren Staubpartikeln. »Es ist Nacht. Alles schläft. Wir fühlen uns wohl. Ist es nicht rätselhaft?« fragte der Arzt leise. Der Bakteriologe, sechsunddreißig Jahre alt, hatte an den Schläfen ergrautes Haar. »So weit von der Erde entfernt, allein und abgeschnitten von aller scheinbaren Sicherheit – es ist die Stille, die uns so sicher macht«, sagte Claudia und strich das schwarze Haar nach hinten. Klick, machte die Kamera, die das Ultrarotbild filmte. In den Objektiven befand sich die Südspitze des skandinavischen Kontinents. Langsam verschoben sich die Achsen der Linsen, und die Konturen verschwammen. Schließlich erschien, nach einer Wanderung von einer Viertelstunde und einigen Tausend Kilometern, Ultima Thule auf dem Schirm. Die vorgeschobene westliche Station kam mit arktisfesten Iglus und mächtigen Radarschirmen ins Bild. »Ultima Thule«, sagte Claudia, die bereits wieder in dem Schalensessel Platz genommen hatte. »Ich vergrößere.« Das mächtige Gitter der Radarwarnung sollte jeden Angriff aus dem Osten registrieren und die Todesmaschinerie des atomaren Gegenschlags einleiten. Alles war friedlich in dem Vorposten. »Halt! Sieh dir das an, Cobb«, flüsterte Claudia. Cobb hörte aus der Stimme etwas Dringliches, Erschrockenes heraus, stand auf und ging an den Sekundarschirm. Was er sah, 32
erfüllte ihn mit Unruhe. Nein. Keine Unruhe. Es war Angst. Entweder hatten die Truppen in Ultima Thule einen Probeeinsatz, oder etwas anderes ging dort vor. Es schien fast unmöglich, aus dem Wirrwarr der Linien, Felder und Flächen einen Sinn heraussehen zu können, aber die Mitglieder des Teams waren darin geschult, an den Linien der aufgefangenen Wärmestrahlung auf das Geschehen schließen zu können. Ein furchtbarer Gedanke kam Cobb, aber er schwieg noch. Unterirdische Hangars öffneten sich und warfen Flugzeuge aus, deren Motoren liefen. Scheinwerfer flackerten und schufen Zonen diffuser Helligkeit in dem Okular des Mondteleskops. Die ersten Maschinen hoben ab, rauhreifbedeckte Raketenrampen öffneten ihre Schutzklappen. Die stählernen Spitzen der Abfangraketen schoben sich wie vergiftete Nadeln in den Himmel. Langsam kroch ein fahler Schein über die Landschaft. Über der Arktis ging die Sonne auf. Wenige Handgriffe bewirkten, daß der normale Spiegel die Beobachtung übernahm. Jetzt fegten die letzten Maschinen über die Piste und verschwanden mit schwarzen Rauchfahnen in Richtung Osten. Immer stärker wurden die Sonnenstrahlen. Die Pershing-Raketen zündeten; schwarzer Rauch quoll aus den Abgaskanälen und verwandelte sich in weiße Pyramiden, aus denen die schimmernden Projektile hervorschossen. Sie stachen senkrecht in den Himmel. »Dort beginnt etwas«, wisperte das Mädchen, »das verzweifelte Ähnlichkeit mit Szenen hat, die wir bisher nur gelesen haben.« Cobb faßte nach ihrer Hand. »Still«, sagte der Arzt. Ultima Thule lag verlassen unter den Linsen. Die Raketen schossen immer noch direkt in den Himmel, machten einen leichten Bogen und steuerten mit zehnfacher Schallgeschwindigkeit auf etwas zu, das außerhalb des Blickfelds des Teleskops lag. Dann erfolgten Explosionen mitten in der Luft. 33
»Cobb, was ist das?« fragte Claudia ängstlich. Cobb drückte ihre Hand und sagte: »Wahrscheinlich ein Probealarm.« »Ich glaube es nicht.« »Warte.« Die Luft war plötzlich von einem Kugelblitz erfüllt, der rasch verging und einen Hagel von Teilchen hinterließ, die nach allen Richtungen davonschossen. »Die Abfangraketen haben zwei Projektile abgeschossen«, sagte Cobb. Das Weitere folgte innerhalb von zwanzig Minuten. Die Linsen schoben sich zusammen und brachten die Umrisse von Nordeuropa ins Bild. Kontinent und Inseln lagen unter dem Licht der Morgensonne. Aus dem Osten schien eine Gefahr zu kommen. Ein Ring weißer, unterirdischer Helligkeit wuchs an der Stelle, an der sich Oslo befand, ein zweiter legte sich über Kopenhagen. Ein dritter breitete sich über Paris aus. Binnen einiger Sekunden waren die Stellen von dichten Rauchwolken verhüllt, die wuchsen und wuchsen und schwärzer wurden. Klick, machte die automatische Kamera. Die Menschen sahen zu, wie Atomraketen fielen. Die Städte lösten sich in einem Inferno aus Glut, Hitze und Explosionswogen auf. Die Fanale der pilzförmigen Wolken brodelten der Optik entgegen. Cobb und Claudia waren unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Das, was die Augen erblickten, weigerte sich das Hirn, aufzunehmen. Starr sahen sie, wie drei europäische Städte binnen einer Sekunde unwiderruflich vernichtet wurden. Andersens Meerjungfrau, der Louvre, das Schiffahrtsmuseum, die Strandanlagen, Notre Dame, der Eiffelturm – Europa begann zu sterben. Endlich rührte sich Claudia. Sie bedeckte ihre Augen mit den Händen und sank in sich zusammen. Cobb drehte sich um. Klick, machte die automatische Kamera. Sie filmte den Untergang Europas. 34
2. »… und warf es auf die Erde, da entstanden Donner und Stimmen und Blitze und großes Erdbeben.« Kap. 8, Vers 5 der Geheimen Offenbarung des Apostels Johannes, geschrieben auf Patmos, einer Insel Griechenlands.
Die nervösen Finger des Cunyaners lagen ausnahmsweise ruhig auf der Lehne des gepolsterten Stuhles, hinter dem die hagere Gestalt aufragte. Dugal Rahyr wies auf das Bild des Planeten, der weiß geädert und blau auf dem Riesenschirm des Beobachtungsgeräts sichtbar wurde. Die Kugel nahm fast die gesamte Fläche einer Wand ein. Von Sonnenstrahlen in grelles Licht getauchte Wolken zogen unmerklich über die Kugel. »Es ist ein offenes Geheimnis innerhalb des Rates, daß du entschieden zu tolerant bist. Nichts, das du nicht mit Nachsicht betrachtest. Das ist es, was dich zu einem voreingenommenen Beobachter macht, Nibloc.« Die schnarrende Stimme des Cunyaners schwieg. Neben dem Mann stand ein Roboter in stummer Reglosigkeit. Nur die kalten, grün glühenden Sichtlinsen zeigten, daß die Maschine jederzeit bereit war, zu handeln. »Es ist weder angebracht noch unserer Stellung würdig, wenn wir alles mit der kalten Unbarmherzigkeit sondieren, mit der du seit rund hundert Jahren vorzugehen beliebst.« Die Antwort des Apodeemannes war leise, aber eindringlich. »Und ich sage dir, es sind Barbaren, trotz ihrer technischen Fortschritte. Sie sind alles andere als würdig, in den Rat aufgenommen zu werden.« Rahyr legte die Hand wieder neben die andere, die ruhig auf dem Sessel lag. Die dunkelgrauen Augen des Cunyaners blickten auf die Apparaturen, die ständig die Projektion der Planetenkugel aufrechterhielten. Uhren und Meßgeräte waren von zweckmäßiger Nüchternheit. 35
»Hör zu«, antwortete Nibloc und setzte sich in seinen Beobachtersitz. Er sah Rahyr ruhig aus strahlenden, rötlichen Augen an. »Die jahrmillionenalte Geschichte des Planeten Cuny beweist, daß ihr ein hartes Kriegsvolk seid. Ich erinnere an die Territorialkriege der Nordländer gegen die Meeresvölker, in denen über Jahrhunderte hinweg unnötig Blut vergossen wurde. Als sich dann die Nordländer die Vormachtstellung gesichert und Raumschiffe gebaut hatten, begannen die Kriege wieder. Diesmal wart ihr in der Defensive. Aus ihr wurde nach drei Mondumläufen die Offensive, die dazu führte, daß der Galaktische Rat gegründet wurde. Er entstand auf den Ruinen des Planeten Apodee. Damals wurde ich geboren. In uns steckt jetzt noch eine Art heiliger Furcht vor der Arroganz und der Macht Cunys.« Rahyr unterbrach seinen Partner. »Die alles andere als unbegründet ist.« »Natürlich.« Nibloc lächelte. »Denn die einzigen Marken, an denen man den Wert einer Rasse messen kann, sind die Macht und die Fähigkeiten, andere Rassen anzugreifen und zu besiegen.« »Das nicht, aber …«, sagte Rahyr. Nibloc hob die Hand. »Das nicht, nein. Vielmehr tauchen andere Faktoren auf. Intelligenz, Kultur, Wissen und andere Werte, die ihr vielleicht nicht in dem Ausmaß besitzt wie andere Rassen. Rahyr!« »Unsinn«, knurrte der Cunyaner. »Dieser Planet, den wir seit vier Jahren beobachten, ist eine seltsame Sache«, sagte Nibloc. »Ein Planet voller unreifer Säugetiere, die es nicht einmal fertiggebracht haben, sich unter eine einzige Regierung zu stellen. Sie haben ja erst viertausend Jahre geschriebene Geschichte. Unwürdige Geschöpfe.« »Nicht einmal die Gopeels sind unwürdig. Sie besitzen einen Intelligenzquotienten, niedriger als alle anderen Rassen, die der Rat kennt, aber sie sind nicht unwürdig. Erinnere dich an die 36
Teppiche, die von ihnen gewebt werden.« »Du redest um die Sache herum, Nibloc«, schnarrte Rahyr unwillig. »Beweise deine Thesen.« »Gut«, sagte Nibloc, »ich werde es versuchen. Aber ich renne gegen deine Voreingenommenheit an. Ich werde mich verteidigen, so gut es geht. Aber ich werde scheitern. « »Ich höre«, brummte Rahyr. Ein Wink der rechten Hand, und der Roboter schob einen niedrigen Tisch zwischen die Beobachter des Galaktischen Rates. »Dieser Planet ist von einer jungen Rasse besiedelt. Sie ist ungestüm, alles andere als abgeklärt, und sehr kriegerisch – fast wie ihr Cunyaner. Sie beginnt eben, den Weltraum zu erobern. Lassen wir sie gewähren, sind sie in hundert Jahren eine Gefahr für uns. Sie werden dann wie ihr sein: ungestüm, hart und jeden Widerstand brechend. Dann hat der Rat ein ernstes Problem: Krieg zwischen den Planeten. Mein Vorschlag: Lassen wir sie weitermachen, und warten wir. In einigen Jahrzehnten schlagen wir ihnen vor, sich in den Rat aufnehmen zu lassen. Dann haben wir mächtige und kluge Verbündete. Wir wissen alles von ihnen.« Nibloc wies auf den wuchtigen Schrank des Datenspeichers, der sich in Hüfthöhe quer durch den großen Raum erstreckte. Neben der Schalttafel und den Programmierpulten standen Roboter. Sie trugen das Zeichen des Rates auf der Brust; ein dreieckiges Wappen mit dem Buchstaben Rhota, dem Anfangsbuchstaben in Apodeeschrift. »Hier ist alles gespeichert«, sagte Nibloc und lächelte. »Viertausend Jahre ihrer abwechslungsreichen Geschichte liegen in kombinierten Impulsen aufgezeichnet. Es ist ein Planetenvolk, das sich nach jedem Fehlschlag, ohne zu jammern, wieder aufgerafft hat, mit dem Willen, es besser zu machen. Und jedesmal ist es ihnen gelungen – fast immer besser und ihrer Art entsprechender.« »Also lautet dein Urteil?« fragte Rahyr unbewegt. 37
»Warten, abfliegen und dem Rat berichten, daß wir aussichtsreiche Kandidaten gefunden haben.« Eine Weile herrschte in den zentralen Räumen des Sternenschiffs tiefes Schweigen. Die Roboter standen unbeweglich. Und in diesen Sekunden fällte der ältere der Beobachter eine Entscheidung. »Ich bin dafür, sie einer Probe zu unterwerfen, Nibloc«, sagte Rahyr endlich. »Eine Probe welcher Art?« fragte der Apodeemann. »Mann von Apodee, deine Rasse ist zweifellos im Rat durch ihren Einfluß am stärksten vertreten, aber ich sage dir, wir können mit einer einzigen Geste beweisen, wie wenig reif diese Rasse ist. Diese Probe schlage ich dir vor.« »Es wäre nicht fair von uns, unsere größere Erfahrung auszunutzen, um etwas zu beweisen, was wahrscheinlich ist.« »Du bist plötzlich auch der Meinung, daß sie nicht reif sind?« »Nein«, sagte Nibloc geduldig. »Ich sagte nur, daß wir sie leicht verwirren würden. Das aber ist ein direkter Eingriff, der vom Rat nicht geduldet wird. Es ist unsere Pflicht, die Anordnungen des Rates zu befolgen. Deswegen bin ich gegen jede Art von Test. Sei überzeugt: Ich werde zu deinem schärfsten Gegner, wenn ich etwas merke, was den Regeln zuwider ist.« Nibloc schwieg und betrachtete ruhig das Bild des Planeten. Hinter ihm bewegte sich ein Robot, kam lautlos heran und stellte ein hohes Glas auf den Tisch. Der jüngere Beobachter trank es aus. Dann stand er auf, nickte Rahyr zu und verließ den Zentralraum. Der Mann von Apodee betrat einen Antischwerkraftlift, ließ sich vier Decks tiefer fallen und ging einen Korridor entlang, zu den Räumen, die er bewohnte. Sie waren mit erlesenem Geschmack und den Einrichtungsgegenständen der alten Kultur von Apodee Minor ausgestattet. Nibloc, ein schlanker, dunkelbrauner Mann, der weißes Haar und rötliche Augen hatte, ließ sich in einen Sessel fallen. Auf der riesigen 38
Tischplatte befanden sich Spulen und Lesegeräte. Schräg in die Platte eingelassen stand ein matter Filmschirm. Hier studierte Nibloc die Geschichte des Planeten, den sie beobachteten, mit allen Mitteln der Technik, von achtunddreißig verschiedenen Rassen zusammengetragen. Der gesamte Fortschritt jeder Rasse, die dem Rat angehörte, gehörte allen Ratsmitgliedern. Seit hundertneunzig Jahren bestand der Galaktische Rat. Seit neunzig Jahren sandte er Späher und Beobachter in alle Teile der gigantischen Doppelspirale, die sich Milchstraße nannte. Seit dieser Zeit wurden die einzelnen Planeten besucht, getestet und beobachtet, ohne daß sie es merkten. Eines Tages brachte man ihnen den Gruß des Rates zugleich mit der Frage, ob sie ihm beitreten würden. So wuchs das Machtinstrument des Planeten Apodee – eine Macht, die sich nicht mit Krieg befaßte. Kleine Minderheiten auf einem einzigen Planeten und riesige Kolonialreiche mit Hunderten von bewohnbaren Welten waren dem Rat beigetreten, nachdem sie bewiesen hatten, daß sie in der Lage waren, ohne Krieg und jede Aggression Teile eines mächtigen Ganzen zu werden. Man vermied Fehlentscheidungen, wenn man zwei Männer mit gegenteiligen Ansichten und Charakteren aussandte. Das dachte man auf Apodee. Dugal Rahyr hingegen hätte aus Stahl geschmiedet sein können, meinte man unwillkürlich. Die Cunyaner hatten seit Jahrtausenden Krieg geführt und Beutezüge unternommen. Die Modifikation dieser Zeiten hatte aus der Bevölkerung des Planeten Cuny und seiner acht Kolonien Wesen gemacht, die dem Teufel trotzten. Ihr Inneres war wie die Erscheinung, rauh und ohne viel Skrupel. Jederzeit zu einer kämpferischen Entscheidung bereit, stellten die Männer von Cuny den Gegenpol zu den Apodeeleuten dar. Wenn sich beide Partner einig waren, konnte man mit größter Wahrscheinlichkeit sagen, daß die Beobachter sich in einer Rasse nicht getäuscht hatten. Aber Dugal besaß noch 39
eine Eigenschaft, die Layc nicht kannte. Angst? Ja, nichts anderes als Angst um den Vorrang seines Volkes im Rat, vor den Wesen, die den blauen Planeten unter dem Raumschiff bewohnten. Seit vier Jahren hatte Dugal diese Bewohner fürchten gelernt. Er sah sie als starke Konkurrenz für die Cunyaner an. Und mit Recht. Die Geschichte hatte es bewiesen. Immer hatten die zweibeinigen Säugetiere sich gegen Ideen aufgelehnt, die ihnen nicht zugesagt hatten. Mit der Grausamkeit wilder Tiere hatten sich Krieger mit primitiven Waffen aufeinander gestürzt. Die Verlierer bezahlten mit ihrem Leben und mit ihrer Freiheit und waren ein halbes Menschenalter später die neuen Sieger. Die viertausend Jahre Geschichte waren mit Blut geschrieben worden. Diese Wesen nannten sich stolz »Menschen«, und den Planeten, den sie unsicher machten, nannten sie »Erde« oder »Terra«. Und den dunklen Trabanten, in dessen Sonnenschatten das Schiff der Beobachter kreiste, nannten sie »Mond« oder »Luna«. Rahyr überlegte weiter, während seine Augen über die Ausschnittvergrößerung des Planeten glitten. Ein Lautsprecher übertrug eine Funksendung; beide Beobachter kannten je vier Sprachen der Erde. Es waren die vier am häufigsten verwendeten Idiome. Die Lage war wieder gespannt. Einigkeit – ein Begriff, den die Erde nicht kannte. Sie konnte ihn nicht kennen, weil ihr die Voraussetzungen dafür fehlten. Die Voraussetzungen: Ein Angriff von außen. Alle anderen Rassen der Galaxis waren von Fremden überfallen worden und besiegten auf diese Art ihre Gruppenunterschiede. Nicht so die Erde. Augenblicklich hätte sie ein solcher Angriff in einen wütenden, bis zum letzten kämpfenden Gegner verwandelt, einen Feind, den man nicht haben wollte, wenn man ihn kannte. Aber noch war es nicht soweit – vermutlich würde Terra diese Chance niemals haben. Denn in der Galaxis 40
gab es keinen Krieg mehr. Auf der Erde existierte nur eine Rasse, aber da waren zwei Machtblöcke: Ost und West. Jede Macht hatte ihre eigene Idee vom Leben und vom Staat. Beide Ideologien standen sich unversöhnlich gegenüber. Beide Mächte besaßen Waffen. Konventionelle Explosionsmechanismen und die furchtbaren nuklearen Bomben und Großgeschosse. Ein Heer von Flugzeugen, Raketen und Geschützen sorgte dafür, daß jederzeit ein furchtbarer Krieg losbrechen konnte. Dieser Krieg würde sich nie wiederholen, denn er war einmalig. Die Einmaligkeit war gesichert durch die völlige Zerstörung des Planeten. Rahyr winkte einem Roboter. »Routinebericht!« sagte der Mann von Cuny. »Jawohl, Herr.« Der Roboter trat näher und begann zu sprechen. »Die Erde ist um einige Werte der Einigung nähergekommen. Die übernationale Organisation, die UNO, hat endlich durchsetzen können, daß ihre Beamten die Kontrolle über die Vernichtungswaffen übernehmen. Das ist ein großer Fortschritt hin zur Einigung.« »Die realen Zahlen und Werte?« fragte Rahyr schneidend. Die Maschine beugte sich hinunter und drückte eine Serie von farbigen Knöpfen auf dem Programmierpult nieder. Über einen Kontrollschirm glitten Lichter und Symbole, dann warf der Drucker eine Karte aus, von oben bis unten auf beiden Seiten mit Zahlenreihen bedeckt. »Wahrscheinlichkeitsgrad?« »Siebenundachtzig im Hundertsystem, Herr. Weiterhin bestehen die Flughäfen, Radargürtel und unterirdischen Stationen, die Todeswaffen beherbergen. Es ist nach wie vor gefährlich, sich den abgesteckten Grenzen zu nähern. Diese Gefahr wird in rund hundert Tagen vorüber sein. Dann wird kein Staat mehr die Macht haben, einen Vernichtungskrieg zu entfesseln.« »Fertig«, sagte Rahyr. Der Robot verneigte sich und ging an 41
den Platz zurück, an dem er seit einigen Jahren gestanden hatte. Eine Gefahr, die man ausschalten konnte, war keine Gefahr mehr. Dieser Gedanke bewegte sich durch das Hirn des Cunyaners. Er sah zu der majestätisch schwebenden Erde hinauf und verließ den Zentralraum. Wie hatte der Robot gesagt? »Die Gefahr wird in rund hundert Tagen vorüber sein.« Das Schiff war geformt wie eine lange Nadel. Von dem schlanken Rumpf gingen nach hinten und unten zwei schmale, gepfeilte Tragflächen weg. Die Decks lagen quer zur Längsachse des Schiffes; die drei untersten Decks trugen Maschinen, Energieversorgung und Tanks. Zu diesen Energieräumen war Rahyr jetzt unterwegs. Er ließ sich durch den Antigrav fallen, bis fast auf die Sohle des Schachtes. Dort öffnete sich das riesige Portal der Reparaturhalle. Maschinen bedienten Maschinen; Roboter warteten die einzelnen Bereiche des Schiffes und arbeiteten an Drehbänken, Umformern und an großen Tischen, die mit Blech und auseinandergenommenen Geräten bedeckt waren. Als Rahyr eintrat, eilte eine Maschine auf ihn zu. »Was wünscht der Herr?« »Bist du Mechaniker?« fragte der Mann von Cuny. »Nein, einen Moment.« Ein Funkimpuls schoß durch die Halle, die von Licht, Lärm und dem Geruch erhitzten Metalls erfüllt war. Ein anderer Robot, der eine Robotdrehbank kontrollierte, drehte den Metallkopf herum. Dann schaltete er die Maschine ab und blieb vor Rahyr stehen. »Was wünscht der Herr?« »Wie weit erstrecken sich deine Fähigkeiten?« fragte Rahyr. »Phase Sieben, Herr.« »Gut«, sagte Rahyr und zog einen Notizblock aus der Tasche. Sein Finger zeigte auf ein Gebilde, das auf dem ersten Blatt abgebildet war. Phase Sieben bedeutete, daß die Programmierung der Maschine hohe Möglichkeiten der Leistung einräumte. 42
»Kannst du dieses Ding zweimal bauen?« fragte der Cunyaner und blickte an der Maschine vorbei auf eine Werkbank, auf der sich ein Teil aus dem Antrieb des Schiffes befand. »Selbstverständlich, Herr«, antwortete der Robot. »Wie lange wirst du dazu brauchen?« »Nicht länger als zwanzig Stunden, Herr.« Die Sichtlinsen des stählernen Dieners analysierten bereits die Formen der Baupläne auf dem Zeichenpapier. »Sie werden eine weite Strecke zurücklegen müssen. In den Kopf der Maschinen müssen Impulsatoren eingebaut werden, die folgende Funktion haben …« Mit Formelreihen und wenigen Zeichnungen skizzierte Rahyr seine Idee. Die Linsen der Maschine glitten über die Schriftzeichen und verankerten sie in dem scheinbar unergründlichen Speicher des Elektronengehirns. »Das kann ich nicht selbst, Herr. Aber ich werde, wenn es erlaubt ist, einen Mikrotechnorobot hinzuziehen.« Die wenig modulierte Stimme des Robots übertönte den Höllenlärm, den eine anlaufende Ultrasäge verursachte. »Das kannst du tun«, sagte Rahyr. »Achte aber darauf, daß nicht zuviel Maschinen von ihrer Routinearbeit abgezogen werden.« »Nein, Herr.« »Den Antrieb stelle ich mir so vor; außerdem muß eine getrennte Steuerung für beide Maschinen eingebaut werden. Einfache Elektronikbandsteuerung – zweischichtig.« »Selbstverständlich, Herr.« »Dann wird es vermutlich länger dauern?« fragte Rahyr zurück. Die hochtechnischen Sinne griffen nach den gespeicherten Impulsen, die vorhandene Materialien, Arbeitszeit und technische Möglichkeiten abschätzten, formierten Überlegungen und bewegten schließlich die komplizierten Felder des mechanischen Kehlkopfs. 43
»Es dauert vier Stunden länger, Herr.« »Du wirst dann eine Schaltung mit dem Informationsrobot Vier durchführen, der mir die Vollendung der Arbeit bekanntgibt. Dann schaffst du die beiden Dinge in die Materialschleuse Drei und legst sie dort auf die Rampe. Verstanden?« »Jawohl, Herr.« »Fange sofort damit an, Robot.« Dugal Rahyr verließ die Werkhalle. Er bewohnte Räume, die um ein Deck den zentralen Steuerräumen näher lagen als die des Mannes von Apodee. Rahyr mochte den Apodeemann nicht leiden, aber er anerkannte die jahrtausendealte Kultur, die Layc vertrat. Dugal befand sich in der Lage eines Kriegers, der bei einem Beutezug unermeßliche Kunstschätze sieht, sie nicht begreift und schließlich verbrennt. Nibloc Layc war zu klug und zu weich. Aber trotzdem arbeitete Dugal mit ihm nicht ungern zusammen. Manchmal hatte auch Layc seine guten Tage, in denen etwas wie Kameradschaft zwischen den so verschieden gearteten Männern aufflackerte. Nibloc durfte nicht erfahren, was in der Werkstatt entstand. Rahyr betrat seine Räume. Als das Licht aufflammte, blickte der Mann von Cuny auf die grimmige Kriegermaske. Zweitausend Jahre alt und sein persönlichster Besitz. Über dem mit Flechtteppichen ausgespannten Boden erhoben sich die Möbel aus gemasertem Holz und narbigem Leder. Die Einrichtung war spartanisch. An den graugetönten Wänden hingen Bilder und fotografische Wiedergaben von Raumschiffen, alten Waffen und Kulturbauten der Cunyaner. Auch der andere Beobachter besaß einen Arbeitstisch, der mit Höchstleistungs-Kommunikationsgeräten der Wiedergabe und Lesemaschinen ausgestattet war. Auch hier befanden sich Schirme, die jederzeit mit den gespeicherten Impulsen gespeist werden konnten. Im Schatten des irdischen Trabanten schlichen Stunden dahin, summierten sich Tage, krochen Wochen über die Ziffer44
blätter der Chronometer – und unaufhaltsam steigerte sich eine Reihe von Dingen, die zusammengesetzt etwas Grauenhaftes ergeben würden. In der Halle über den Maschinen des Beobachterschiffs legten die Maschinen letzte Hand an Dinge, die sie aus Stahlblech, Baukastensätzen, Energieerzeugern und Schaltungen gefertigt hatten. Die Form der Werkstücke war organisch und zweckmäßig, aber in ihren Wandungen schlummerte eine Gefahr, die tödlicher war als alle Waffen des Schiffes. Langsam schlossen die Robots die Stahlflächen, hinter denen sich die Steuerungen der Maschinen befanden. Der Weg dieser Todesmaschinen war vorbestimmt und konnte nicht mehr geändert werden. Nibloc lehnte bequem in einem Sessel und sah sich Bilder an, die von den Fernaugen des Schiffes eingefangen wurden. Er begann allmählich, diese junge Rasse mit freundlichen Augen zu sehen. Sie sehnte sich nach den Sternen. Die Station, die im Lauf des letzten halben Jahres auf dem Mond entstanden war, schien die kritische Phase überwunden zu haben. »Interessant, wie sie arbeiten«, bemerkte Nibloc zu sich selbst. Er sah auf der breiten, flachen Wand des Bildschirms, wie die Traktoren die Einzelteile der Versorgungsraketen holten, abluden, und wie die Mannschaften in den Raumanzügen die Sonnenreflektoren montierten. »Später«, sinnierte Nibloc und drehte an einem Schärfeknopf, »werden sie mächtige Kuppelstädte bauen wie halbierte Glaskugeln über der hellgrauen Wüste der Staubmeere.« Teile des Funkverkehrs drangen aus einem Lautsprecher. Die Geräte des Schiffes registrierten die Wellen und gaben sie in Form von akustischen Schwingungen wieder. Natürlich beherrschte Nibloc die Sprachen der Menschen. Aber jeder Verstand konnte nicht Dinge abwägen, die er nicht kannte. Das, was Nibloc so vorsichtig verborgen wurde, würde er nie sehen. Rahyr hatte Dinge bewußt verschwiegen. Nibloc dachte nicht daran, daß sein Partner so handeln konnte. 45
Die Station wuchs auch unter dem Mond. Layc erkannte es an den Mengen von Bimssteinstaub, der aus den Mundstücken der Exkavatorenabzüge quoll. Immer mehr Gegenstände wurden durch die Materialschleusen transportiert und verschwanden im Innern der zehn Kuppeln. Nibloc lächelte. Man hörte deutlich die Unterhaltungen, die von Mann zu Mann gingen und nicht nur technische Dinge beinhalteten. Die vierzehn Menschen der Mondstation schienen sich mit geringen Ausnahmen sehr zu schätzen. Nibloc verstand jedes Wort. Nur manchmal, wenn einer der Männer einen verstorbenen Dichter zitierte – und die Dialoge mit einem Mädchen enthielten viel solcher Zitate –, konnte Nibloc den Sinn nicht mehr erfassen. Es war Nacht. Nichts bewegte sich im Sternenschiff. Dunkelgrüne Leuchtflächen warfen gespenstisches Licht auf den Belag der Gänge, auf Kabelbäume, die vom Boden zur Decke wuchsen, und auf die wuchtigen Schotte. Im verborgenen liefen Maschinen und erzeugten Energie. Die Decks lagen in der Ruhe des Weltraums. Jede Maschine, die nicht unbedingt laufen mußte, war ausgeschaltet. Nur einige Anzeigen und Chronometer bewegten sich stetig. Nach wie vor wurde das Bild der Erde analysiert. Seit sechs Stunden herrschte dieser Zustand. Die elektronischen Geräte der Steuerung hielten das Schiff im Schatten des Mondes, so daß es auch von stärksten RadarBeobachtungsstationen der Erde nicht gesehen werden konnte. Im Raum der Beobachter brannten nur drei Lampenreihen; Kontrollanzeigen für optische und akustische Beobachtung sowie andere Lichter, die eben ansprangen, verlöschten und dann in einem ruhigen Grün weiterbrannten. Leben kam in eine Gestalt. Der Robot wandte den Kopf, seine Augen erfaßten die neuen Lichtquellen. Er legte die Metallfinger auf das Schaltbrett. Im46
pulse rasten durch die Leitungen seiner Glieder – schließlich tippten die Kunststoffglieder einige Knöpfe nieder. Ein Schirm begann zu flackern. Ein Pfeifen drang aus dem dazugehörigen Lautsprecher. Dann stabilisierten sich die Linien auf der Mattglasplatte und verschärften sich, Konturen bildeten sich. Das Wunder der Nachrichtenübermittlung begann. Die Impulse waren vor Sekunden in der Mitte der Milchstraße ausgesandt worden, hatten ihren Weg durch die verworrenen Dimensionen des Pararaums genommen und waren von der Antennenanlage des Sternenschiffs aufgefangen worden. Jetzt erschien ein klares Bild auf dem Schirm. Das Pfeifen brach ab. Es wurde wieder still – unheimlich ruhig. Endlich stand das Bild. »Hier ist der Galaktische Rat des Planeten Apodee. Ich rufe das Sternenschiff Yxalas. Kommen!« Der Sprecher war ein Mann von Apodee. Er sah sich aufmerksam um, bemerkte im schwachen Lichtschein seines eigenen Schirmbilds den Kopf des Robots und sagte: »Schalte das Licht ein und rufe den Wachhabenden.« Der Robot drückte einen Knopf im Paneel und sagte: »Beides geschieht soeben, Herr. Warte eine Minute.« Das Licht hinter den transparenten Leuchtplatten verstärkte sich. Inzwischen hatte die Maschine den Raum verlassen, hatte in ihrem Gedächtnis erfolgreich nach dem Turnus der Wachablösungen gesucht und sich für Nibloc Layc entschieden, der das Gespräch entgegennehmen mußte. Der Antigrav trug den Robot sicher hinunter. Die Maschine öffnete geräuschlos die Tür zu den Räumen des Mannes von Apodee Minor und schaltete die Beleuchtung an. Nibloc lag unter Decken und schlief. Der Robot faßte Nibloc an der Schulter. »Herr, wache auf. Funkkontakt von Apodee.« Nibloc drehte sich um und blinzelte. »Was ist los?« fragte er verschlafen. »Funkkontakt vom Rat, Herr. Kommt bitte in den Beobachterraum.« 47
Binnen einiger Sekunden steckte Nibloc in einem grellfarbigen Mantel und ließ sich durch den Antigravschacht hinauftragen. Er stürmte in den Raum, dirigierte einen Sessel vor den Schirm und begrüßte das Ratsmitglied. »Ich grüße dich, Rat Lungko.« Über das Gesicht des Sprechers glitt ein Lächeln. »Ich grüße dich, Beobachter Nibloc. Wo steckt Dugal?« fragte er. »Er schläft. Lassen wir ihn unter seinem Fell. Außerdem hat er nicht die beste Laune.« »Dies ist ein Routineanruf. Wie steht es bei euch? Erfolgreich?« »Ja und nein.« »Was bedeutet das?« fragte der Ratssprecher. »Wir beobachten seit vier Jahren nach dem alten Schema eine junge Rasse, die sich anschickt, die Planeten und die Sterne zu erobern. Sie ist kriegerisch, größtenteils uneinig und sehr vital – fast so wie unsere geliebten Freunde von Cuny.« »Aber?« unterbrach der Sprecher. Neben Nibloc stand starr und beobachtend der Robot. »Jedenfalls sieht es so aus, als bekämen die Cunyaner in einigen Jahren Konkurrenz. Ich habe den Eindruck, als ob Rahyr diese Entwicklung nicht gutheißt. Ich würde diese Rasse für geeignete Mitglieder unserer Vereinigung ansehen. Nicht sofort, aber in dreißig bis hundert Jahren. Die Menschen haben eine Technik, die in ihren Möglichkeiten noch lange nicht dort angelangt ist, wo sie sein könnte.« »Und was sagt Rahyr?« fragte der Sprecher. »Fast das Gegenteil. Er hält sie für Barbaren, nimmt es ihnen übel, daß sie noch zwei zentrale Regierungen haben und scheint sie nicht recht zu mögen.« »Diese Cunyaner! Nun, eine Abstimmung wird stattfinden. Wann werdet ihr fertig sein?« fragte der Sprecher interessiert. »Ich schätze in drei bis vier Monaten. Es sieht positiv aus.« 48
Der Sprecher hob eine Hand. An einem Finger glänzte der kantige Ring der Ratsmitglieder. »Kannst du mir charakteristische Aufzeichnungen vorspielen?« fragte er. »Aber sicher«, sagte Nibloc. Dann, zum Robot gewandt: »Spulen drei und vier.« Die Männer warteten schweigend. Die Welt, ihre verschiedenen Lebensformen, die Dialekte und hervorstechenden Bräuche – das alles flimmerte eine Stunde lang über den Schirm. Dann verdrängte das Bild der Planetenkugel wieder die Gestalten, Maschinen und Städteansichten. »Ich bin beeindruckt«, gestand der Rat. »Welcher unserer beiden Ansichten neigst du zu?« fragte Nibloc gespannt. Er dachte in diesem Moment nicht daran, daß der Mann auf dem Schirm seinem eigenen Kulturkreis entstammte und lediglich einige Jahrzehnte älter war. »Ich würde die Ansicht Rahyrs als übertrieben bezeichnen. Er macht sich Sorgen über etwas, das es noch nicht gibt. Die Gründe für einen Krieg zwischen einzelnen Planetenvölkern entfallen, wenn diese Wesen Ratsmitglieder sind. Es ist nicht richtig, sie als Barbaren zu betrachten.« »Sage dies, was du jetzt gehört hast, meinem Partner, Robot!« befahl Nibloc Layc. Der Robot nickte stumm. »Wir werden den Kontakt abbrechen«, erklärte der Ratssprecher und machte eine Bewegung mit der Hand. »Ich sehe euch ohnehin in rund hundertzehn Tagen.« »Wir fliegen sofort los, wenn wir die Schlüsse aus der Entwicklung auf dem Mond gezogen haben. Sage das den anderen des Rates«, sagte Nibloc. »Ich sage es ihnen. Ich grüße euch, Beobachter.« »Ich grüße dich, Rat«, schloß Nibloc. Der Schirm wurde abrupt dunkel, als die Verbindung abgebrochen wurde. »Alles aufgezeichnet?« fragte Nibloc. »Alles, Herr«, sagte der Robot und blieb neben dem Sessel 49
stehen. Das Schiff erwachte wieder zum Leben, als die Roboter das Essen zusammenstellten. In dem Raum, in dem während der übrigen Zeit die Tischplatten mit Berichten, engbedruckten Karten, Fotos und mathematischen Prognosen für rund drei Dutzend verschiedener Faktoren des betreffenden Planeten bedeckt waren, stand ein exakt gedeckter Tisch mit Sesseln davor. Nibloc kam später; Rahyr hatte bereits angefangen. Die Speisen, die sich auf den Tellern befanden, waren so verschieden wie die Metabolismen der Beobachter. »Ich habe gehört«, begrüßte der Cunyaner seinen Partner, »daß wir heute nacht Kontakt mit Apodee hatten. Ich habe bereits die Wiedergabe gesehen. Du hältst also an deiner optimistischen Prognose fest?« Nibloc setzte sich und wartete, bis die Teller gefüllt waren. Dann antwortete der Apodeemann. »Richtig gehört, Rahyr. Ich sage nach wie vor, was ich für richtig halte. Außerdem braucht es dich nicht zu bekümmern, denn unsere Meinungen sind höchst zweitrangig. Die Abstimmung findet unter den achtunddreißig Räten statt. Wir haben nur die Pflicht, Daten und Bilder zu sammeln.« »Du wirst doch nicht behaupten wollen«, erwiderte Rahyr hitzig, »daß ein Rat wie Opyr kompetent genug ist, gegen oder für die Erde zu entscheiden?« Opyr war Sesouaner. Sesou, ein Planetensystem in einem dem Galaxismittelpunkt näheren Sternennebel, beherbergte eine seltsame Rasse. Sie war nicht menschenähnlich, noch waren die Sesouaner Säugetiere oder Warmblüter, sondern Vogelwesen, die nichts anderes mit vielen Räten gemeinsam hatten als ein funktionierendes Hirn und die Notwendigkeit, Sauerstoff zu atmen. »Es geht weder um die Erde noch um deine unangebrachte Scheu vor diesem Volk«, sagte Nibloc und deutete auf die Erde. »Es geht darum, daß wir nichts zu sagen haben, daß unsere 50
Daten allen Räten vorgelegt werden und darum, daß diese Räte abstimmen. So ist es bisher gehandhabt worden, so wird es in diesem Fall gemacht werden. Ich verstehe dich nicht.« Rahyr legte das Messer hart auf die Tischplatte zurück. Er beugte sich vor und sagte erregt: »Du verstehst mich nicht – nein! Um all das, was du eben aufgezählt hast, geht es mir nicht. Ich habe Angst davor, daß in hundert Jahren Milliarden dieser Barbaren über unsere Technik verfügen und die Planeten meines Sternensystems an sich reißen.« »Du übertreibst«, sagte Nibloc verständnislos. »Kaum. Ich nehme nur den Fall an, die Cunyaner hätten sich vor zweihundert Jahren in der Situation der Menschen befunden. Wir hätten es so gemacht. Wehe dem, der sich uns entgegengestellt hätte.« Der Stolz seiner Rasse klang aus seinen Worten. Feuer leuchtete hinter seinen Augen. Er sah aufgeregt zu, wie Nibloc bedächtig lächelte, einen Schluck trank und dann das Gefäß niedersetzte. »Das läßt sich steuern, Rahyr. Diese Dinge sind heute nicht möglich. Selbst wenn diese Menschen Barbaren wären – was sie keineswegs sind –, würden sie weder die nötigen Schiffe noch die Waffen herstellen können, um auf Raubzüge zu gehen.« Nibloc fühlte verzweifelt, daß er Rahyr nicht überzeugen konnte. »Merkst du nicht, Nibloc«, sagte Rahyr lauter, »daß sich die achtunddreißig Rassen des Rates in eine Gefahr begeben, die sie eines Tages nicht mehr steuern können?« »Denke an die Cunyaner und die Quoohs«, sagte Nibloc kurz. Die Cunyaner hatten einen Teil ihrer Flotte in Polizeistreitkräfte verwandelt. Die superschnellen und starkbewaffneten Blitzschiffe der Cunyaner eilten durch sämtliche bekannten Gebiete der Milchstraße und fegten die Schiffahrtsstraßen von 51
Piraten, Räubern und Abtrünnigen sauber. Die Quoohs, Silikatwesen mit einem komplizierten Zellkern, der die Funktionen der inneren Organe übernommen hatte, waren die Geheimpolizei. Sie verfolgten flüchtende Verbrecher quer durch die Galaxis. Ihre seltsamen Hirne korrespondierten miteinander durch Zeit und Raum und stellten eine Verbindung mit den exekutiven Organen der Ratspolizei her. Es gab nur wenige Vorgänge, die einer Kombination von Quoohs und Cunyanern verborgen blieben. Jedenfalls war unter diesen Umständen ein allzu selbständiges Vorgehen einzelner Gruppen so gut wie zum Scheitern verurteilt, bevor es begann. Dachte Rahyr daran? »Nein«, sagte er hart. »Ich möchte wetten, daß ihnen ein Weg einfällt, auch mit Blitzschiffen und Gedankenlesern fertig zu werden.« Nibloc schüttelte den Kopf. »Was du brauchst, Rahyr, ist ein Nervenarzt. Du hast einen Komplex, der sich in Angst vor diesen Nichtsahnenden äußert. Fürchtest du um dein Volk?« »Ja!« schrie Rahyr und stand auf. Sein Sessel kippte nach hinten. Ein Robot stellte ihn wieder hin. »Ich fürchte nicht nur um das Erbe der Cuny, sondern auch um die Existenz des Rates. Und das ist es, was du niemals begreifen wirst.« »Was?« fragte Nibloc ruhig. Er war sitzengeblieben. »Daß dieser Planet Erde eine ungeheure Gefahr darstellt. Wir können uns ihr nur entziehen, wenn wir diesen hektischen technischen Fortschritt eindämmen, bremsen oder die Rasse vernichten.« »Rahyr! Du bist wahnsinnig!« warf Nibloc ein. »Wir haben noch achtunddreißig Bordtage, um zu handeln. Jeder Tag bringt uns der Abreise näher. Jeder Tag, an dem wir nur zusehen, wie sich diese Brut stärker macht, kann nach Jahren der Ratsversammlung schwere Sorgen machen. Ein einziger Tropfen genügt, den Becher überfließen zu lassen.« Wie ein Rasender stand Rahyr vor dem Bild der Erde und 52
schrie auf Nibloc ein, der fassungslos dasaß und ihn anstarrte. Der Apodeemann dachte, er hätte Sinnesstörungen. So hatte er Rahyr noch nie erlebt. »Tropfen, Becher? Meinst du das Gleichgewicht der atomaren Kräfte?« »Genau das meine ich«, sagte Rahyr. Plötzlich war eine eiskalte Ruhe über ihn gekommen. »Bist du wahnsinnig?« flüsterte Nibloc. Er fühlte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Etwas machte seinen Herzschlag stocken. Er ahnte, wie es ausgehen würde … »Das ist Völkermord, Rahyr. Könntest du das deiner Rasse antun?« fragte er leise. Kalte Angst beschlich ihn. »Ich werde es meiner Rasse nicht antun, keine Sorge, Partner«, sagte der Cunyaner. »Und wie stellst du dir die Tage bis zum Abflug vor, Rahyr?« fragte Nibloc, sich mit äußerster Gewalt zur Ruhe zwingend. Er sah in die fanatischen Augen des Mannes von dem Planeten der Krieger. »Ich habe zwei Möglichkeiten«, sagte Rahyr eisig. »Entweder handle ich mit Überzeugung, dann muß ich jene Barbaren aufhalten. Oder ich weise jede Verantwortung von mir. Das bedeutet das Ende unserer Partnerschaft. In diesem Fall werde ich mich augenblicklich aus diesem Schiff entfernen.« Nibloc legte das Eßbesteck nieder, ohne die Augen von Rahyr zu lassen. Dann stand der Beobachter auf, drehte sich vom Tisch weg und ging langsam auf Rahyr zu. Der Cunyaner sah ihn an, ohne einen Muskel zu verziehen. »Du bist nicht mehr Herr deiner Sinne. Deine übertriebene Vaterlandsliebe und deine Furcht vor den Menschen haben dich ungerecht und gewalttätig gemacht. Was hast du geplant?« In dem großen Raum war es totenstill. Nur das Ticken einer elektrischen Anzeige und das Knistern eines Geräts waren zu hören. Nibloc legte eine Hand auf die Schulter des Cunyaners. 53
Der Krieger ließ die Hand ruhig liegen und sah Nibloc an. »Kannst du nicht verstehen, was hier vorgeht?« fragte Rahyr keuchend. »Ich werde zwischen Pflicht und Moral hin und her gerissen und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Hilf mir.« »Ich werde dich, in Übereinstimmung mit unseren Richtlinien, absetzen und zum Beobachter ohne Rechte erklären. Dann bist du außerhalb der Verantwortung und brauchst nicht zu handeln. Ist das richtig?« Rahyr schien zu überlegen. Dann sagte er: »Ich glaube nicht, daß es nötig ist. Ich werde versuchen, meine Vorurteile zu überspielen.« »Als Angehöriger einer Kriegerrasse wird es dir nicht allzu schwerfallen«, sagte Nibloc aufatmend. Er schwor sich, bis zum Termin des Abflugs zwei Robots umzuprogrammieren. Einer sollte ihn persönlich schützen, der andere sollte auf Rahyr aufpassen. Das müßte reichen, dachte Nibloc. »Setz dich hin und höre auf, hier den wilden Mann zu spielen. Ich bin bereit, dich beim Rat zu unterstützen, aber hier und heute droht keine Gefahr. Sie ist erst in hundert Jahren – wenn überhaupt – vorhanden. Und bis dorthin …« »… kann unendlich viel geschehen.« Rahyr vollendete den Satz des Mannes von Apodee. »Andere, Klügere, werden sich kümmern, nicht mehr wir.« Nibloc hielt mit diesen Worten die Angelegenheit für erledigt. Irrte er oder hatte er die richtige Lösung gefunden? Noch achtundsechzig Bordtage – drei irdische Monate. Das Raumschiff hatte, zum drittenmal innerhalb von vier Jahren seinen Standort verändert. Zuerst hatte es ein Jahr lang über dem südpolaren Gebiet des Planeten bewegungslos im Raum gehangen. Von dort waren die unsichtbaren Kleinstgeräte ausgeschickt worden. Dann hatte sich das Sternenschiff in einer weiteren Kurve hinausbewegt, bis es in den Schlagschatten des Erdtrabanten geriet und dort in einer einfachen Bahn blieb. Es war wichtig, nicht entdeckt zu werden. 54
Die dritte Veränderung war größer. Das Schiff drehte sich um einhundertachtzig Grad, ließ die Schwerkraftfelder anspringen und trieb langsam und ohne Düsenflammen hinunter auf die graue Mondfläche. Es landete, während der Teil des Mondes im Sonnenschatten lag. Ziel war der Krater Kopernikus im nordöstlichen Quadranten, zwischen dem Ozean der Stürme und dem Meer des Regens. In der Dunkelheit senkte sich das Sternenschiff auf die beiden Tragflächenpunkte und einen Hilfsträger, der hydraulisch ausgefahren wurde. Entdekkung schien ausgeschlossen. Die beiden Beobachter hatten vor, die Mondstation direkt zu erforschen. Flugspione wurden ausgeworfen und unsichtbar gemacht. Steuerrobots lenkten sie über die Wüsten des Trabanten, bis das matte Licht der Kuppeln auf den Schirmen auftauchte. Dann begannen die Spione zu fotografieren. Noch sechzig Bordtage. Dugal Rahyr verhielt sich ruhig, arbeitete mit und musterte nur dann und wann das Bild der Erde mit einem undefinierbaren Blick. Wachsam bemerkte Nibloc jede Veränderung, die sich zeigte. Rahyr schwieg, und wenn er redete, dann waren es abliegende Themen, die er aufgriff. Er schien sich davor zu fürchten, an die Erde zu denken. Bis etwas geschah, das ihn daran erinnerte. Die Funküberwachung hatte ergeben, daß die Mondstation eine Versorgungsrakete erwartete. Vor den Männern, die im zentralen Raum arbeiteten, flammten Testschirme auf. Nacheinander erlebten die Partner, wie die vorzüglichen Maschinen und Linsensätze arbeiteten. Das Bild der fernen Erde auf den kreisförmigen Schirmen zog sich in die Breite und wurde unscharf. Dann folgte eine Phase der Schärfe, die sofort wieder verändert wurde. Das Bild, das als letztes stehenblieb, zeigte einen Startplatz desjenigen Landesteils, von dem die Expedition zu dem Trabanten gestartet worden war. Die Betonplatten standen schräg nach außen aufgeklappt. Langsam schob sich eine große Plattform nach oben. Der sil55
berne Leib der pfeilförmigen Versorgungsrakete stach nach oben – in die Augen des Cunyaners. Sofort waren die alten Ängste wieder da. Das klare Denken Rahyrs setzte aus. Er kämpfte schweigend einen inneren Kampf aus, dessen Furchtbarkeit Nibloc nicht einmal hätte ahnen können. Rahyr verließ leise den Raum. Nibloc bemerkte es nicht, aber der Robot folgte dem Beobachter. Schweigend beobachtete Nibloc, wie die Rakete startfertig gemacht wurde. Sie schienen einen großen Vorrat dieser Raketen zu besitzen. Neben der einen Bodenöffnung waren mindestens zwanzig andere zu sehen, die noch geschlossen waren. Feuer brach aus dem unteren Ende des Projektils, dann folgte eine weiße Rauchwolke. Der Rauch breitete sich horizontal aus, wurde dichter und weißer – dann hob die Rakete ab. Nach einigen hundert Metern hatte sie genügend Geschwindigkeit, und dann wurde sie von einer unsichtbaren Gewalt emporgerissen. Die Rauchwolke verwandelte sich in einen kristallenen Streifen, der aus dem Heck herauswuchs. Nach dreihundert Sekunden Brennzeit brach der Streifen ab. Ohne Antrieb raste die Rakete außerhalb der Lufthülle weiter. Von der Erde wurde die Rakete ferngelenkt, außerdem sorgte eine programmierte Automatik dafür, daß die Landung sicher vonstatten ging. Dugal Rahyr ging einen Korridor entlang und öffnete ein wuchtiges Schott. Der Robot wartete draußen. Seine hochempfindlichen Pseudosinne lauschten. Nach einer Stunde kam Rahyr zurück. Als er sich in den Schacht des Antigravs fallen ließ, ging der Robot in die große Schleuse, hinter der das Rettungsboot des Sternenschiffs in den Halterungen befestigt war. Die magnetischen Klauen hatten sich gelöst. Das Rettungsboot war startfertig. Der Robot hatte keine andere Weisung, als zu hören, zu sehen und Vorgänge zu speichern. Rahyr verließ seine Räume bereits wieder nach einigen Minuten. Er trug einen Metallkasten, hatte eine silberglänzende Kleidung an, und in seinen Augen stand ein fanatisches Leuch56
ten. Still folgte ihm die Maschine. Rahyr stellte den Kasten am Rande des Schachtes ab und ging zur Maschinenschleuse. Dort öffnete er das Schott und wartete, nachdem er einen roten Rufknopf hineingedrückt hatte. Als ein Arbeitsrobot eintrat, erlosch das Licht unter dem Paneel. »Du hast gerufen, Herr?« fragte die andere Maschine. »Ich habe«, sagte Rahyr kurz. Der Robot, der ihn kontrollierte, verstärkte die Aufnahmeschwelle. »Was soll ich tun?« fragte der Robot. »Das, was ich vor einigen Wochen befohlen habe. Jetzt handle so, wie du programmiert bist.« »Selbstverständlich, Herr.« Rahyr verließ die Schleuse. Der andere Robot blieb in dem düsteren Schatten, bis der Cunyaner an ihm vorbeigegangen war. Er folgte ihm auch durch den Antigravschacht, weiter bis kurz vor die Schleuse mit dem Rettungsboot. Dann schloß sich zischend die Tür. Eine Achteltonne Stahl trennte Herr und Diener. Der Robot befragte seinen Speicher, dann kam er zu einem Resultat. Er würde den anderen Herrn fragen müssen. Die Maschine machte sich auf den Weg. Die Ereignisse liefen auf beiden Schirmen ab. Hier wurde die Rakete optisch verfolgt, dort sah man das geschäftige Leben der Mondstation. Ein Traktor fuhr durch den knietiefen Staub einer Bodensenke auf den vermutlichen Landeplatz zu. »Herr?« »Ist es wichtig?« fragte Nibloc zurück. Er machte kurze Notizen. »Dugal Rahyr hat sich in die Schleuse Zwei begeben, dort das Rettungsboot startfertig gemacht. Er hat seine Kabine mit seinem persönlichen Gepäck verlassen und mit einem Robot gesprochen. Er will vermutlich abfliegen.« »Was?« Nibloc fuhr hoch, kam auf die Beine und begann Befehle zu schreien. Er wußte, daß Rahyr etwas vorhatte. »Rot – sperrt die Schleuse, lähmt die Energieleitungen, 57
stoppt das Boot. Faßt es mit dem magnetischen Anker. Haltet das Rettungsboot auf. Rahyr will abfliegen.« »Rot« bedeutete für die Robots, augenblicklich ihre jeweilige Arbeit stehenzulassen und nur den Befehlen des Herrn zu gehorchen. Sie waren deutlich genug gewesen. Nibloc fuhr wie ein Rasender durch den Raum, riß die Tür auf und rannte zur Schleuse. Einige Sekunden später war er dort und starrte auf die optische Anzeige. Das äußere Schleusentor war geschlossen. Dugal Rahyr war geflohen. Erbittert begann der Mann von Apodee zu fluchen. Er war um Sekunden zu spät gekommen. Es gibt eine Art von Lähmung, die jedes denkende Wesen überfällt, wenn es von der Hand einer düsteren Vorahnung berührt wird. Nibloc Layc spürte tief in seinem Innern, daß die Flucht seines bisherigen Partners nicht das einzige Rätsel darstellte. Irgend etwas anderes schwebte zwischen den Gedanken des Apodeemannes und ließ sich nicht greifen. Jetzt war es Nacht. Nur das Licht der Vollerde und der Sterne und das helle Band des Milchstraßenasts erfüllten die Ebenen außerhalb des Kraters mit stetigem Licht. Die Konturen waren grau in grau, einzelne Schattierungen dunkler, andere heller. Der Mann von Apodee lag in seinem Sessel und betrachtete die zarte Sichel des Lichtes, das unmerklich langsam von Osten her über die dunkle Kugel der Erde kroch. Vor einigen Minuten war der Nachrichtenschirm wieder dunkel geworden. Er hatte die Botschaft des Beobachters einem erschrockenen Rat vermittelt. Dugal Rahyr, der Mann aus dem Geschlecht der Krieger Cunys, war geflohen wie ein Feigling. »Und wenn ich mit einer Botschaft zurückkehre, die keinem von euch allen paßt und euch erschreckt«, hatte Nibloc mit zornbebender Stimme in die Mikrofone geschrien und dabei dem Rat in die aufgerissenen Augen geblickt, »so denkt daran, daß ich auf Apodee eine Hölle entfesseln werde. Ich glaube kaum, daß Cuny einen wilderen Ankläger finden wird unter 58
vierzig Rassen. Ich würde mich freuen, wenn ich nicht einzuschreiten brauchte. Ich warte, bis etwas geschieht. In der Zwischenzeit könnt ihr mit eurer Polizei Rahyr suchen. Viel Erfolg!« Jetzt saß er da und grübelte. Die Robots, die bisher im Zentralraum die Funkarbeiten und die schematischen Aufzeichnungen unter sich gehabt hatten, suchten das Schiff nach Spuren ab, die Dugal hinterlassen haben konnte. Bisher – sechs Stunden waren seit dem Zeitpunkt der Flucht verstrichen – war nichts gefunden worden. Die Erdrakete war gestartet und gelandet. Maschinen und Aufnahmegeräte hatten unter den geschickten Fingern der beiden Automaten die einzelnen Phasen gespeichert. Wie ein großes Mosaik, das die Erdkultur darstellen sollte, schienen sich die letzten Steinchen zum vollendeten Bild zusammenzufügen. Nur an einer Stelle des Sternenschiffs wurde gearbeitet. Dort vollendete ein Arbeitsrobot, was ihm sein Herr vor Wochen zu tun befohlen hatte. Die Dinge, die auf einem sonderbaren Gestell ruhten, hatten ihre Vorderteile der Fläche der geschlossenen Schleusentür zugewandt. Licht schimmerte auf blitzenden Flächen, leise strömte Luft aus einem Ventil. Schnurrend bewegten sich Pumpen. Dinge wuchsen der Vollendung entgegen. Niemand sah und merkte es. Es suchte niemand danach … Das Gefühl drohenden Verhängnisses verstärkte sich in Nibloc. Er begann seine Gedanken zu ordnen, sie zu gerichteten Impulsen zu gestalten, die rings um die Person Dugal Rahyr forschten. Was hatte der Cunyaner hinterlassen? Hatte er eine Zeitbombe gelegt? Tickte bereits ein Mechanismus? Der Start der lunaren Versorgungsrakete hatte das Trauma des Cunyaners wieder aufbrechen lassen. Rahyr hatte in Panik gehandelt und die Unaufmerksamkeit seines Partners ausgenutzt. Die Rakete war schlechthin das Symbol eines Angriffs auf Cuny. War es eine Kurzschlußreaktion, dann verbarg Rahyr etwas. Die Flucht war nur ein Mittel, um nicht Augenzeuge 59
und Verantwortlicher zu sein. Der zweite Grund konnte sein, daß Rahyr sich außerstande sah, die Verantwortung länger zu tragen. Aber in diesem Falle hätte er zu Nibloc etwas gesagt. Das hatte er nicht getan, also blieb die erste Möglichkeit. Daraus folgerte, daß sich in dem Sternenschiff etwas verbarg, das mit tödlicher Gewißheit den Kern einer furchtbaren Handlung gegen die Erde in sich trug. Das hatte Rahyr vor Wochen als einzige Alternative gekannt. Seine Gedanken würden sich nicht geändert haben. »Verdammter Cunyaner«, sagte Nibloc und reckte das Kinn vor. Wütend kippte er den Sessel nach vorn und stand auf. Die Lösung des Rätsels schien nahe. Aber stets zogen sich die Gedanken in ungreifbare Ferne zurück. Welche Dinge lagen innerhalb der Möglichkeiten Rahyrs? Es war zum Verzweifeln. Gleichzeitig mit der Bewegung, die Nibloc aus den Augenwinkeln erfaßte, ging eine leichte Erschütterung durch das ruhende Schiff. Die Maschine, die bisher mit ihrem Partner die Räume des Schiffes durchsucht hatte, kam herein. Das Schott schloß sich hinter dem Robot. »Nichts gefunden?« fragte Nibloc ungeduldig. »Nichts, Herr«, antwortete die unpersönliche Stimme des Automaten. »Was war das für eine Erschütterung?« wollte Nibloc wissen. Die kalten Augen der Maschine gingen durch den Raum und erfaßten mit automatischer Präzision rund drei Dutzend optischer Anzeigen mit einem langen Blick. »Dort, Herr.« Der Robot wies auf eine Schalttafel. Auf einem dunkelblauen gläsernen Paneel blinkten in einem verständlichen Rhythmus zwei Lämpchen, erloschen wieder und blieben dann unsichtbar. Es war vorbei. »Materialschleuse Drei?« meinte Nibloc unsicher. Der Robot senkte den Kopf. »Ja, Herr.« »Habt ihr dort gesucht?« »Nein, Herr. Es war nicht programmiert, daß dort jemand 60
sein könnte.« »Maschinenhirn«, schimpfte Nibloc verächtlich, wirbelte herum und rannte davon. »Komm mit!« Hinter ihm rannte die Maschine aus dem Raum. Sie kam gleichzeitig mit ihrem Herrn an der Schleusentür an. Wieder befanden sich einige Lämpchen vor dem Sicherheitsschott in Aufruhr. Schließlich erloschen sie. Mit wenigen Handgriffen riß Nibloc die Tür auf. Nibloc sah mit einem Blick, was in der Schleuse vorging. Regungslos blickte ihnen ein Arbeitsrobot entgegen. Wie eine Erscheinung einer mystischen Welt stand der Automat inmitten einer dichten Wolke verbrannter Gase. Nibloc hustete, während eine Turbine anlief, um die Rückstände zu beseitigen. »Was tust du hier?« fragte Nibloc scharf. Selbst Rahyr hätte sich gewundert, in welchem Maße sich sein Partner verändert hatte. Aus einem ironischen Kulturmenschen war ein harter Herr geworden, der schnell und rücksichtslos sein konnte. Nibloc wartete auf die Antwort. »Der andere Herr hat mir befohlen, zwei Maschinen zu schaffen. Bevor ihr nach ihm suchtet, sollte ich sie fertigmachen und auf den langen Weg schicken. Das ist geschehen.« Nibloc erschrak. Er taumelte einen Moment, und der Funkrobot stützte ihn. »Ziel?« fragte Nibloc keuchend. »Weiß ich nicht, Herr, Rahyr gab mir ein programmiertes Band, das ich in einen Impulsator einbauen mußte.« Nibloc ahnte, was das Ziel sein konnte und sprang mit einem unwahrscheinlich erscheinenden Satz nach rückwärts. Binnen zwanzig Sekunden war er in einer transparenten Kugel, die direkt durch die Außenwand des Sternenschiffs sich nach außen wölbte. Mit wenigen Handgriffen machte der Beobachter die schwere Elektronenschleuder betriebsbereit. Das Fadenkreuz leuchtete auf. Weit hinten, fast jenseits des Bereichs von Niblocs scharfen Augen, gewahrte er die Wolken verbrannter 61
Gase aus den Düsen der Projektile. Die Krümmung des Mondhorizonts kam näher, als die Vergrößerung eingeschaltet wurde. Dann löste Nibloc den ersten Schuß aus. Knapp unterhalb der Raketen brach eine weiße Hölle los. Fehlschuß. Wieder richtete der Mann von Apodee das Geschütz aus, drückte den Auslöser und sah, wie der andere Blitz weit vor den Raketen explodierte. Dann waren die Objekte hinter der Krümmung verschwunden. Nibloc war von einer unheimlichen Ruhe erfüllt, die ihre Wurzeln nicht in der Gleichgültigkeit hatten, sondern in der Einsicht, nichts mehr ändern zu können. Das Schiff starten, um die Raketen abzufangen? Es dauerte zu lang, selbst ein Schnellstart. Die Erde warnen? Unmöglich – das Sternenschiff würde sich erst dann einer der Hauptstädte genähert haben, wenn alles zu spät war. Nibloc kannte die panische Furcht der Menschen vor fliegenden Objekten, die nicht von ihnen selbst hergestellt worden waren. Ein Funkspruch? Lächerlich – er würde als Propagandamanöver betrachtet werden, sowohl von Ost als auch von West. Es war nicht mehr zu ändern. Es war endgültig. Langsam, mit der tiefen Resignation eines Wesens, das restlos geschlagen ist, ging Nibloc Layc in den Zentralraum und ließ sich in seinen Sessel fallen. Nach einigen Sekunden sprang er auf und begann ruhelos durch den Raum zu laufen. Immer wie auf einer vorgezeichneten Straße rund um den Block des Elektronikspeichers. Noch immer stand das Bild der Erde auf dem Schirm. Es hatte sich verändert seit den zwei Stunden, die seit dem letzten Kontakt vergangen waren. Jetzt breitete sich die Dämmerung eines kalten Herbstmorgens über der europäischen Front aus. Die beiden Nachrichtenautomaten hantierten geschäftig an den Geräten, welche die Aufzeichnungen der kommenden Stunden machen sollten. Die Raketen, die auf Befehl Dugal Rahyrs abgeschossen worden waren, erschienen auf diesem Schirm. Sie zogen weiße Kondensstreifen hinter sich her und 62
waren in den oberen Bezirken der Atmosphäre. Sie flogen von Osten nach Westen durch das Bild. Funksprüche wurden aufgefangen und aufgezeichnet; die Dokumentation des Untergangs. Im Schein der Sonne schimmerten die weißen Bahnen auf. Es war unmöglich, daß ein Radargerät des westlichen Schutzgürtels die fremden Raketen nicht ortete. In Ultima Thule klapperten die Deckel von den Raketenschächten. Die stählernen Köpfe der Abfangprojektile schoben sich hinaus in die Kälte des ewigen Eises. Flammen brachen aus den Düsen. Zwei Raketen wurden abgefeuert und schossen senkrecht in den fahlen Himmel. Zwei Atomexplosionen erhellten den Himmel über dem nördlichen Ende des europäischen Kontinents. Einen Moment lang schien es, als wären drei Sonnen am Himmel. Die feindlichen Raketen verringerten ihre Fahrt, wurden getroffen, explodierten. Ihre Trümmer fielen zusammen mit denen der Abfangraketen zur Erde. Rote Telefone begannen an mehreren Orten der Welt zu schrillen. Jetzt griffen mit der satanischen Präzision der Vernichtung die Phasen eines Planes ineinander wie gutgeschliffene Zahnräder in einem unermeßlichen Getriebe. Es war die Maschinerie des Todes. Nibloc Layc, der Beobachter einer fremden Welt, hockte auf der vorderen Kante seines Sessels, starrte mit blinden Augen auf die Sichtschirme und vermochte nicht, sich zu rühren. Er war in einer Weise erschüttert, daß er sich außerhalb jeder normalen Kontrolle befand. Er begriff die Furchtbarkeit dessen, was jetzt vor den Augen zahlreicher Kameras ablaufen würde. Es geschah am 26. November des Jahres 1996. Die Projektile waren von dem Gitter der Radarwarnung erfaßt worden. Jetzt starteten die Bomben der taktischen Ge63
schwader, die nach einem Plan flogen, der immer wieder auf den letzten Stand gebracht und variiert wurde. Sie flogen östliche Ziele an, um ihre tödliche Last von Wasserstoffbomben abzuladen. Die ersten Staffeln hoben am Ende der Startbahn Ultima Thules ab. Die nächsten folgten mit den charakteristischen schwarzen Gasstreifen aus den Düsen. Die ständige Flotte des Strategischen Luftkommandos ging auf Gegenkurs. In der Luft wurden die Maschinen für ihre Reise ohne Hoffnung auf Wiederkehr aufgetankt, dann richteten sich die Nasen der Bomber auf Punkte der östlichen Hemisphäre. Die Aktionen waren nicht mehr rückgängig zu machen. Die östlichen Radargeräte erfaßten die Bomberpulks. Meldungen rasten hin und her. Boden-Luft-Raketen starteten. Die atomare Vernichtung begann auf breiter Front. Nibloc Layc schlug die Hände vors Gesicht. Er wagte nicht, mit anzusehen, was sein Partner angerichtet hatte. Er betete darum, die Kraft zu haben, die nächsten vierundzwanzig Stunden zusehen zu können, ohne wahnsinnig zu werden. Er mußte es, um später anklagen zu können. Zwei Armeen griffen an. Alles, was sich in der Luft bewegen konnte, bewegte sich generell nach zwei Richtungen. Vom Osten nach Westen und umgekehrt. Weiße Ringe erschienen auf der Erdkarte. Sie bezeichneten die Stellen des lautlosen Untergangs. Lautlos deswegen, weil niemand mehr lebte, der den Donner der Explosionswelle wahrnehmen konnte. Städte sanken in pulveriger Asche zusammen. Wälder verglühten, Flutwellen schossen über die Ozeane. Und aus den kochenden Schaumkronen der mächtigen Wogen tauchten die Unterseeboote auf, um ihre Last an Raketen abzufeuern. Wie ein Schwarm Hornissen stürzten sich die Projektile auf ihre Ziele. Die aufgehende Sonne scheute zurück, den Boden zu beleuchten. Ihre Strahlen wurden von den Staubwolken der Atmosphäre aufgesogen und kamen nicht durch. Sonnenfinsternis. Darunter aber zuckte und blendeten die zahllosen Einschläge 64
der vernichtenden Wasserstoffbomben. Männer an den Waffen starben kämpfend. Die differenzierten Geräte des Sternenschiffs filmten die Systematik des Untergangs. Nibloc Layc weinte wie ein Kind. Vierundzwanzig Stunden lang wüteten die Blitze. Dann gab es niemanden mehr, der die Kraft hatte, einen Schuß abzufeuern. Es gab auch keinen Gegner mehr, auf den man das Gewehr hätte richten können. Die Oberfläche der Erde bestand aus Ruß, Asche, Bränden und Nebelwolken, die sich dort erhoben, wo es vorher Wasser gegeben hatte. Krater lag neben Krater. Trümmerfelder, überdeckt mit pulverigem, radioaktivem Staub, bezeichneten unter den Wolken aus Erde, Sand und radioaktiven Partikeln die Stellen, an denen vorher Millionenstädte gestanden hatten. Die Ruhe des Todes war vollkommen. Der Tag des Gerichts war vorüber. Nibloc hielt sich nur noch mit übermenschlicher Kraft aufrecht. Er war in den letzten Stunden um Jahrzehnte gealtert. Diesen Tag würden weder er noch die anderen Rassen des Galaktischen Rates je vergessen. Die Aufnahmegeräte schwiegen. Das Schiff war öde. Die Schuld, die der Galaktische Rat, vertreten durch Rahyr und Nibloc auf sich geladen hatte, war so ungeheuer, daß nichts innerhalb der bekannten Grenzen der Welt sie tilgen konnte. Aber es gab Überlebende. Zeugen des Untergangs. Sie mußten am Leben bleiben. Dabei konnte Nibloc ihnen helfen. Einen Tag lang arbeitete der Beobachter, dann brach er zusammen. Aber er hatte erreicht, was er erreichen wollte. Sämtliche Robots, bis auf einen, waren umprogrammiert worden. Sie arbeiteten, um zu tun, was der Mann von Apodee ihnen befohlen hatte. Sie brachten in endlosen Ketten Dinge aus dem Schiff. Zwei Decks bestanden aus Lasträumen, in denen Maschinen, Treibstoff und Lebensmittel lagerten. Fast alle diese Dinge wurden durch Portalkräne aus dem Schiff gebracht und unter einer großen Kugel aufgestellt. Der Beobachter lag fünfzehn 65
Bordstunden lang in tiefer Bewußtlosigkeit. Ein Automat wachte über den totenähnlichen Schlaf seines Herrn. Dann erwachte der Apodeemann. Er erkannte sich nicht, als er später vor einem Spiegel stand. Seine Gesichtshaut war aschfahl, die Augen verbargen sich in Höhlen, umrahmt von weißen Schatten mit blauen Rändern. Strähnen seines weißen Haares waren während der letzten achtundvierzig Stunden tiefschwarz geworden. Hier standen alle zwanzig Robots des Schiffes. Die Funkautomaten schickte Nibloc nach oben in die Zentrale, um den Start des Sternenschiffs vorzubereiten. Die anderen Robots verschwanden, nachdem ihnen Befehle gegeben worden waren, durch eine Schleuse und gingen über die Rampe hinaus in den Mondstaub. Einer von ihnen trug einen Brief. Layc hatte die Symbole der terranischen Hauptumgangssprache verwendet und in knappen Sätzen die Umstände geschildert, die die Abfassung notwendig gemacht hatten. Einer der Automaten trug die versiegelte Metallröhre, in der sich das Schreiben befand. Dann entfernten sich die Maschinen von dem Schiff und warteten unter der Leichtmetallkuppel. Nur eine wanderte hinaus in die kalte Stille. Das Ziel war die Mondstation. Das Sternenschiff startete. Sekunden später war es ein Punkt zwischen anderen Punkten. Wieder senkte sich für Ewigkeiten die Stille von Jahrmillionen über die graue Oberfläche des Mondes. In einigen Tagen würde wieder der lange Tag anbrechen. Aber es war nicht mehr das Licht der Erde, das der Station leuchten würde. Die Erde war nicht mehr weiß oder blau, sondern verbrannt und schmutzig. Und eine gigantische schwarze Wolke verhüllte die Nordhemisphäre.
66
3. »Die Engel weinen vielleicht über den Mord, aber die Götter lachen über den Mörder.« George Bernard Shaw. Terranischer Dichter.
Mike Denver war Bomberpilot. Er war nicht groß, aber schlaksig. Das Flugzeug, das man seinen Händen und seinem Verstand anvertraut hatte, war eine der Pflichten, denen Mike sich willig unterzog. Für ihn hatte jene Form der Technik immer noch etwas Faszinierendes. Er war ein umsichtiger Pilot. Außerdem war er Geschwaderführer. Er dachte nur an seine Maschine, als der Wagen mit seiner Crew mit heulenden Sirenen und rotem Drehlicht über den Beton der Piste raste. Neben, vor und hinter diesem Dienstwagen rasten andere, ebenfalls mit Mannschaften beladene Karren. Die Männer hockten in den Polstern und zerrten an den Verschlüssen ihrer Flugkombinationen. Alarm. Die Männer enterten ihre Maschine. Der mächtige Leib des Bombers geriet in Vibration, als die erste Triebwerksturbine anlief. Langsam glitt der silberne Rumpf aus der Halle hinaus auf das Rollfeld. Der Staffelkapitän mußte als erster in der Luft sein. Mike betätigte automatisch die Kontrollen, wechselte einige Worte mit dem Kopiloten und dem Funker und brachte die Düsentriebwerke auf Vollschub. Die Turbinen heulten auf und schoben die B-1B vorwärts. Die Hustler wurde immer schneller und hob am Ende der Piste in einem steilen Winkel ab. Hundertneunzig Meter nach den letzten Lichtern der Landebahn drehten sich klickend die Doppelradsätze des Fahrwerks in die Öffnungen im Rumpf hinein. Die Maschine vergrößerte ihr Tempo. »Strategic Air Command – Kurs …« Das Funkgerät sprang an, schnarrte einige Werte herunter 67
und verstummte wieder. »Victor hier«, sagte der Funker in sein Mikrofon. »Wir gehen auf Kurs. Käpten – hier sind die Daten. Vollständigkeitsmeldung?« »Bitte!« sagte Mike laut. Er hatte kein gutes Gefühl. »Hier Victor!« rief der Funker. »Bitte melden!« Die Staffel bestand aus sechs Maschinen des gleichen Typs. Während die Maschinen sich sammelten und der Dienstgipfelhöhe von siebzehn Kilometern zustrebten, vergrößerten sie gleichzeitig ihre Geschwindigkeit. »Hier Viking«, kam die erste Meldung. Kapitän Brozik flog rechts von Mikes Maschine. »Hier Victor!« »Hier Vandalee!« Sie flogen bereits Mach einskommafünf. »Hier Volta!« »Hier Varyan!« Die Staffel war vollzählig. Die Atombomben, die unter dem fünfunddreißig Meter langen Rumpf in einer Luft-Bodenrakete hingen, waren keine Attrappen. Außer dieser Waffe beherbergte der schlanke Rumpf mit den Deltaflügeln noch eine sechsläufige Trommelkanone im Heckkonus und acht verbesserte Luftabwehrraketen, Typ Super-Sidewinder. Die Gipfelhöhe rückte näher. Nach einem minuziös ausgetüftelten Plan würde eine Tankmaschine die Staffel mitten über dem Ozean erwarten. Tausende Liter Kerosin würden durch die Schläuche von Maschine zu Maschine fluten. »Wir sind vollzählig«, bestätigte der dritte Mann im Bomber, der Funker. »Hier Strategic Air Command-HQ. Öffnen Sie die versiegelten Umschläge. Der dritte Weltkrieg ist ausgebrochen. Soldaten, Sie befinden sich im Einsatz für unser Vaterland. In diesem Umschlag finden die Maschinen ihre Ziele und die notwendigen Kursangaben. Viel Glück. Über Europa erhalten Sie 68
ein Geschwader als Geleitschutz. Ende.« Mike wechselte mit dem Navigator einen langen Blick. Die Augen des zweiten Mannes wurden dunkel vor Schmerz. Er war verheiratet und besaß eine Frau und einen vierjährigen Jungen. »Jetzt sind wir dort, wo wir niemals sein wollten – auf dem Weg nach Osten. Wir werden sterben.« Der Navigator öffnete den Umschlag. Er reichte die Kurskarten an den Funker weiter. Alle Ziele befanden sich jenseits des Eisernen Vorhangs. Es handelte sich um Städte und Fabriken. Die Maschinen jagten, in V-Formation hinter- und übereinanderfliegend, in siebzehn Kilometern Höhe mit Mach zweikommafünf ihrem Ziel entgegen. Unter ihnen lag schwarz der Ozean. Vor ihnen begann zaghaft die Morgendämmerung. Eine Stunde nach dem Auftanken: Eine Jägerstaffel vom »Sea Vixen«-Typ stieß zu dem Bomberverband. Die Doppelrumpfmaschinen hängten sich über und unter die Bomber und begleiteten sie auf dem Kurs ohne Wiederkehr. Über dem Ural stießen die Flugzeuge auf Gegenwehr. An allen Punkten der westlichen Welt hatten sich Bombergeschwader in die Luft erhoben und strebten mit äußerster Kraft ihren Zielen zu. Hunderte von Maschinen flogen nach Osten, kreuzten die Bahnen ferngelenkter Raketen, die mit ihrer tödlichen Last nach Westen rasten. Die »Sea Vixen« sackten über die Tragflächen ab und stürzten sich auf die heranrasenden Supermigs. Tödliche Luftkämpfe entbrannten. Die zielsuchenden Jagdraketen der Begleitmaschinen schossen unter den gepfeilten Tragflächen hervor und steuerten auf die Supermigs zu, zerfetzten Turbinen und Tragflächen und brachten die Abfangjäger zum Absturz. Wütendes Feuer aus Bordkanonen und Raketenwerfern schlug eine tiefe Bresche in den Verband. Ein Bomber raste, eine pechschwarze Rauchfahne hinter sich her ziehend, bis auf fünf Kilometer Höhe herunter. Dort gelang es dem Piloten, das 69
defekte Triebwerk abzuwerfen und mit drei Turbinen weiterzugleiten, bis am Horizont die Linien einer Stadt auftauchten. Die lange Rakete wurde gezündet und riß die Maschine wieder mit sich hoch. Dann lag der Kurs fest. Das Projektil wurde ausgeklinkt. Der Bomber machte einen Satz nach oben, die Wasserstoffbombe glitt in einer langen Parabel zu Boden. Der Bomber drehte mit letzter Kraft ab, flog eine Neunziggradkurve und huschte über die Landschaft dahin, unter den Strahlen einer matten Vormittagssonne. Dann sprengte der Pilot die Kabine aus. Der Druckbehälter taumelte am Fallschirm. Es war gleich, ob die Piloten in der Luft starben oder am Boden. Die Radioaktivität der Luft oder die Welle des Explosionsschocks würde sie einholen. Die »Sea Vixen« flogen wie große Schatten dicht über den Boden und konzentrierten das Feuer ihrer Bordwaffen auf die offenen Schächte der Flakraketenstellungen. Die verbliebenen Sidewinder wurden gegen Bodenziele eingesetzt und suchten automatisch ihr Ziel. Wie ein Fächer, der sich majestätisch öffnete, zogen die restlichen Maschinen des Bombergeschwaders auseinander. Die zwanzig Kondensstreifen rissen ab, als die Maschinen tiefer gingen. In den nächsten zwanzig Minuten würden fünf Wasserstoffbomben explodieren und zehn Millionen Menschen innerhalb einer Sekunde vernichten. Der Krieg war total. Die Crew des Kapitäns Mike Denver war ruhig und aufmerksam. Nachdem die Maschine weit an der Spitze, flankiert von zwei Jägern im Messerflug, einsam ihrem Ziel entgegenflog und nichts anderes mehr getan werden konnte, als abzuwarten, nahm Mike seine Sauerstoffmaske ab. »Jungens«, sagte er müde. »Dies ist unser Ende. Wir werden versuchen, die Kanzel heil zu Boden zu bringen. Das verlängert vermutlich nur unser Leben. Das Ende dürfte feststehen – die Erde wird eine radioaktive Wüste sein. Diesen kargen Luxus dürfen wir uns also leisten.« 70
Er zog eine Packung Zigaretten hervor. Die Männer rauchten schweigend, während sie auf die Landschaft starrten. Diejenige Stadt, die sich jetzt dort aus den Mittagsnebeln schälte, war ihr Ziel. »Und ich habe mich so auf meinen Urlaub in Mexiko gefreut. Ich wollte reiten«, sagte Mike verbissen. »Nun, Rußland soll auch landschaftliche Schönheiten haben.« »Noch«, sagte der Funker. »Nicht mehr lange«, warf der Navigator neben Mike ein. »Unsere Bomben werden das Land in Krater verwandeln.« »Wie ihre Raketen unser Land«, meinte Mike schulterzukkend. Ihn und seine Kameraden hatte der Fatalismus erfaßt. Kein Ding dieser Welt konnte sie mehr erschrecken. Die Finger des Piloten leiteten einen gemäßigten Sturzflug ein, während die Jäger auf ihrem Direktkurs blieben. Wenige Augenblicke nach diesem Manöver raste die Maschine mit fast doppelter Schallgeschwindigkeit einhundert Meter über dem Boden dahin. Einen Kilometer vor dem Stadtkern zog Mike den Bomber brutal hoch. Senkrecht kletterte die Maschine empor, dann wurde die Rakete mit der Bombe gezündet. Der Treibsatz schob die Maschine noch höher, dann klinkte der Navigator aus. In einer aufsteigenden Parabel flog das Projektil davon. Es beschrieb in der Luft einen Bogen, während die Maschine weiterflog und einen direkten Nordkurs einschlug. Am Rande der Küste war die Gefahr geringer, wenn sie überhaupt an einer Stelle dieser Erde gering sein konnte. Drei Minuten und viele Kilometer später sprengte die eingebaute Ladung die Druckkuppel aus. Sie schwebte an einem mächtigen Fallschirm zu Boden und schlug in den breiten Streifen einer Sandbank. Als die Männer herauskletterten und sich von den Gurten befreiten, klang der Donner einer fernen Explosion an ihre Ohren. Später zitterte der Boden, dann peitschte Wind die Zweige der Weiden. Die Jäger flogen mit 71
der Bombe zugleich in den Kern der Stadt ein und wurden zerfetzt. »Es wird schwierig sein«, sagte Mike und kletterte aus dem gelben Nylon seiner Flugkombination, »irgendwo am Leben zu bleiben. Wir werden versuchen, uns nach Norden durchzuschlagen. Vielleicht finden wir etwas, das uns weiterhilft. Vielleicht auch nicht.« Der Funker nickte. »Wir haben Pistolen, wasserdichte Kleidung, ein Boot, eiserne Rationen und Munition – wir werden nicht so schnell sterben.« Der Mensch hofft, solange er lebt. »Gehen wir«, sagte der Navigator. Plötzlich kam ihnen zum Bewußtsein, daß sie die letzten Menschen dieser Welt sein konnten. Sie hatten alles – am meisten Zeit. Die Sonne stand im Mittag. Die Schlacht wütete erst einen halben Tag. Der Klartext des Atomalarms traf die Station mitten im Schlaf. Komroy, der Ersatzmann für die Mondstation, taumelte auf die Füße. Er hatte ausnehmend schlecht geschlafen und Kopfschmerzen. Er machte Licht in seiner winzigen Kabine, schlurfte zum Wasserbecken und ließ kaltes Wasser aus der Brause über sein kurzgeschorenes Haar laufen. Neben ihm stand der Sergeant, der ihn geweckt hatte, und kaute auf seiner Unterlippe. »Was ist zu tun, Sir?« fragte er. Komroy hatte Generalsrang. »Passen Sie auf, Moeller«, sagte Komroy und steckte sich eine unangebrannte Zigarette in den Mund. »Wir müssen geschickt vorgehen. Mannschaft vollzählig?« »Bis auf die Offiziere, Sir.« »Lassen Sie das Sir.« »Jawohl, Sir – Entschuldigung.« »Es besteht keinerlei Zweifel daran, daß der Atomkrieg zwischen West und Ost ausgebrochen ist?« fragte Komroy hastig. 72
»Nein.« »Behalten wir einen klaren Kopf«, brummte Komroy. »Alle Ausgänge der Raketenstation schließen. Doppelwachen aufstellen. Jeder, der nicht einen ausdrücklichen Befehl von mir hat, wird ohne Zögern erschossen. Wir versuchen, sämtliche Raketen hinaufzubringen. Verstanden?« Der Sergeant salutierte kurz. »Rennen Sie, Mann!« befahl Komroy. Der Soldat stürmte aus dem Raum. Komroy begann sich ohne übermäßige Hast anzuziehen. Am Schluß entsicherte er seinen schweren Dienstrevolver und steckte ihn in die Lederhülle zurück. Dann nahm er ein schmales Buch vom Nachttisch, blickte eine Sekunde lang auf den Titel und lächelte melancholisch. Er steckte das Buch ein. Baudelaire – Blumen des Bösen. Meterdicke Stahlbetondecken trennten die zwanzig Kammern von der Wüste über ihnen. Zwanzig Raketen standen in den Stahlgestellen. Neben ihnen befanden sich Tanks und Computer, Bestandteile der Fernsteuerung und Materiallager. Dazwischen verstreut lagen die Quartiere der Männer und Frauen, die hier Dienst hatten. Langsam füllten sich die Gänge, tröpfelten Menschengruppen in den großen Saal. Fünf Minuten später erhielt Komroy die Meldung, daß der gesamte Komplex abgesperrt sei. Er betrat den Saal. Seine energiegeladene Gestalt erschien unter dem Licht der Tiefstrahler auf einem Podium, einem Stapel leerer Kisten, in denen Raketenteile verpackt gewesen waren. »Frauen und Männer des Projekts Mondstation«, begann Komroy. »Es ist leider Gewißheit, daß der dritte Weltkrieg ausgebrochen ist. Er wurde ausgelöst durch zwei Raketen, die von den östlichen Mächten abgefeuert wurden und durch NikeAbfangraketen zerstört wurden. Wir sind verloren – der Atomkrieg läuft. Die Pershings starten. Dort oben sind vierzehn Menschen. Sie werden nicht von den radioaktiven Regenschauern und den Bomben getroffen. Aber sie verhungern, 73
wenn wir nicht das tun, was ich jetzt vorschlage. Wir werden sterben. Das ist sicher. Ob wir es tun, indem wir oben …«, seine Hand machte eine entsprechende Bewegung, »… warten oder hier unten arbeiten, ist gleich. Also werden wir hier arbeiten. Wir versuchen, die Raketen abzufeuern. Sie müssen noch betankt und beladen werden. Der Rest ist leicht. Die Bandsteuerungen werden die Raketen sicher auf den Mond bringen. Helfen wir den armen Kerlen dort oben?« Dreihundert Mann riefen: »Ja!« »Ich wußte es«, sagte Komroy leise. »Ich nehme an, daß ich die Oberleitung behalten darf. Wer dagegen ist, hebt bitte die Hand.« Sämtliche Hände blieben unten. »Die Ausgänge sind besetzt und bewacht. Wer sich ihnen ohne Befehl nähert, wird erschossen. Klar?« Klar. Es war nichts anderes zu erwarten. »Wir beginnen bei Nummer Sechzehn. Dann Siebzehn, Achtzehn und so fort. An die Arbeit.« Die Menschen liefen auseinander. Jeder von ihnen hatte einen bestimmten Platz in der großen Organisation und wußte ihn auszufüllen. Innerhalb der nächsten Stunden wurde härter und konzentrierter gearbeitet, als in allen Jahren zuvor. Schläuche wurden mit Hilfe von motorisierten Flaschenzügen an die Tanköffnungen angeschlossen. Mit hohem Druck strömten Sauerstoff und Brennstoff in die Raketentanks. Währenddessen wurden von den Listen einzelne Punkte abgehakt. Kisten und Rollen, Tonnen und Säcke wurden herangefahren und in den Lasträumen gestapelt. Die elektronischen Geräte der Bordsteuerungen wurden getestet. Die Arbeit ging schnell, aber nicht weniger gründlich vonstatten. Eine Stunde, dann war die erste Rakete startbereit. Komroy wählte am Fernschreiber eine Dienststelle und ließ sich die Zonen der Zerstörung sagen. Noch war hier keine Rakete mit Wasserstoffkopf eingeschlagen – noch war Hoffnung. 74
»Laßt den Vogel fliegen!« brüllte Komroy in die Sprechanlage. Die erste Zelle wurde abgedichtet und die Verschlußplatten wurden hochgefahren. Dann zuckten elektrische Impulse durch die Startkabel und ließen die Hochdruckpumpen unter der Silberhaut von Nummer Sechzehn anlaufen. Das Gemisch wurde gezündet. Die erste Rakete startete. Noch waren die Richtschirme intakt. Sie verfolgten zusammen mit den wachsamen Augen der Techniker die Flugbahn des Projektils. Es kam gut los, taumelte kurz und flog weiter. Binnen der Frist zwischen Zündung und Brennschluß hatte es die Lufthülle durchstoßen und befand sich auf dem Weg zum Mond. »Prima, Jungens. Das hat geklappt.« Komroy wirbelte durch die Räume und sprach den Menschen Hoffnung zu. Bis diese Arbeit erledigt war, durfte niemand an die kommenden Schrecken denken. Die Ladung der zweiten Rakete bestand aus einer vollständigen Maschinerie, die aus Mondgestein freiwerdenden Sauerstoff und Wasserstoff herauskochte. Natürlich war diese Anlage in viele Einzelteile zerlegt, die sorgfältig im Frachtraum der Rakete untergebracht wurden. Komroy sah, wie die Lager merklich abnahmen. Die zweite Rakete wurde versiegelt und gestartet. Auch sie kam durch und gewann den Weg in den Weltraum. Vier Kilometer entfernt schlug eine SS-20-Rakete ein. Die Wände des gigantischen Kellers erzitterten einen Augenblick lang. Eine Leuchtstoffröhre schlug mit hohlem Knall auf den Zementboden. Ein Wandtelefon fiel aus. »Weitermachen!« Die dritte Rakete wurde mit einem ausgewählten Lager von Nahrungsmitteln, Samen und pflanzlichen Keimen gefüllt, mit Algen und Pilzen, Grassamen und widerstandsfähigen Pflanzen – inmitten der Ladung hingen drei Käfige, in denen sechs Tiere in Raumanzügen steckten. Es war je ein Pärchen von SpezialZüchtungen. Kaninchen, Zwergrinder und Schweine. 75
Beim Start der dritten Rakete schien es für lange, unbarmherzige Sekunden, als ob etwas nicht klappen würde. Dann aber riß eine gigantische Kraft das Projektil hoch. Haarscharf kreuzte die Versorgungsrakete die Vernichtungsbahn einer Interkontinentalrakete, die drei Kilometer vor Kap Canaveral ins Meer stürzte, explodierte und eine kochende Flutwelle über den Strand jagte. Die Linie der Vernichtung rückte näher. Die Arbeit unter dem dicken Beton wurde beschleunigt. Komroy« war überall, munterte die Leute auf, verteilte Zigaretten und Kaffee und sorgte dafür, daß niemand schlappmachte. Wieder eine Rakete voller Nahrungsmittel. Auch sie kam durch. Die Wunder schienen heute kein Ende zu nehmen. Wieder erschütterte ein Einschlag die Anlage. Kalk und Mörtel rieselten von den Wänden und zerspritzten auf dem Boden. Für lange Sekunden griff die Angst nach den arbeitenden Menschen. Aber sie ließen sich nicht aufhalten. Die fünfte Versorgungsrakete. Ihr langer Rumpf enthielt Kisten voller Humus, mit Bodenbakterien durchsetzt, Bücher, Filme und eine vollständige Sammlung terranischer Musik. Ein riesiger, aus einer unermeßlichen Vielzahl von Einzelteilen bestehender Baukasten für Elektronik bildete den Abschluß. Wieder liefen Impulse durch die Leitungen und starteten den Metallkörper. Es wurde zu einem Wettlauf mit dem Untergang. Offensichtlich waren noch nicht alle Sendeantennen geschmolzen oder zerfetzt. Jedenfalls kam, zwischen zwei bedrohlich nahen Einschlägen von Wasserstoffbomben, das Projektil gut ab und gewann an Höhe. Auch die fünfte Rakete erreichte den freien Weltraum. Draußen tobte ein Inferno aus Rauch, Explosionen und Gammapartikeln. Die Männer sahen es über die Linsen der Periskope, die unter dicken Quarzlinsen über die glatten Betonflächen herausragten. »Niemand kann dort draußen leben«, sagte Komroy zu seiner Ordonnanz und ging langsam in einen anderen Abschnitt der unterirdischen Anlage. Hinter ihm befanden sich fünf leere 76
Schächte, die bereits verseucht waren. Es gab keinen Weg nach außen, außer dem durch die Raketenschächte. Krater bedeckten rauchend die Wüste. Die anrollende Welle der Vernichtung hatte nicht angehalten. Sie war präzise und gnadenlos weitergezogen. Jetzt hatte die Station nichts mehr zu befürchten, Zufälle ausgeschlossen. Die sechste Rakete, die siebente, die achte. Alle kamen durch. Komroy ordnete eine Stunde Pause an. Essen, Getränke und Kaffee wurden ausgegeben. Dreihundert Mann diskutierten miteinander in kleinen Gruppen. Sie kamen zu dem Schluß, daß nichts anderes getan werden konnte. Sicher waren sie hier unten – oben konnte nichts existieren. Die Techniker waren als erste fertig. Sie hatten alle Projektile aufgetankt und angeschlossen. Jetzt stießen ihre Gruppen zu den Arbeitskommandos. Immer kürzer wurden die Abstände, in denen die sechzig Meter langen Raketen aus den Startlöchern hervorschossen und zu den Sternen ritten. Draußen senkte sich trügerische Nacht über die Landschaft. Das Meer kochte in phosphoreszierenden Wellen. Der Sand glühte und befand sich in Form von Windhosen und Tornadoschläuchen in Aufruhr. Er war radioaktiv. Nach einer endlos erscheinenden Frist war die letzte Rakete fertig. Komroy entwickelte mit einigen Technikern eine hastige, sich überschlagende Aktivität. Er begann die abgezogenen Posten und die Männer um sich zu versammeln, denen er restlos vertrauen konnte. Es waren ausnahmslos Soldaten, denen absolute Selbstdisziplin anerzogen worden war. Komroy hatte einen wilden Plan. Einmalig, aus der Not geboren, eine echte Chance für die Menschheit. Etwas, an das niemand gedacht hatte. Die letzte Kammer wurde abgesperrt. Die Rakete war, während der Großteil der Mannschaften an den anderen Stücken beschäftigt war, geringfügig umgebaut worden. Statt der Fracht war der Raum mit Hängematten und Kontursesseln gefüllt worden. Außerdem standen eine komplette Sauerstoffdruckan77
lage und einige Maschinen auf dem Boden des Frachtraums, der mit stählernen Stegen, Leitern und Balken abgesichert worden war. Komroy hatte acht freie Plätze geschaffen. Nacheinander brachten die Soldaten die Mitglieder der ersten Mondmannschaft, gegen die das Los vor einem Dreivierteljahr entschieden hatte. Komroy zählte vier Mädchen ab, die von den Wachen in Raumanzüge geschnürt wurden. Der stellvertretende Teamchef prüfte eigenhändig die Ventile, Leitungen und Mikrogeräte. Dann wurden Koffer und Leinentaschen zwischen die Netze gestellt; die wenige persönliche Habe der Menschen. Die Mädchen verschwanden im oberen Teil des Frachtraums. Noch einige Gegenstände wurden hineingepackt; Ultraschallsägen und Batterielampen. Sauerstoffzylinder waren in den Spezialhalterungen an Wänden befestigt. Dann kamen drei Männer, die schweigend anhörten, wie ihnen Komroy das Leben schenkte. Auch sie verschwanden durch die viereckige Luke im Schiff. Komroy sah sich um. Hinter einem der dicken Schotte hörte man Schüsse. Die Wachen kämpften gegen die Masse der Dreihundert, die, von blinder Panik erfüllt, einen Platz erkämpfen wollten. Hier regierte jetzt nackte Gewalt. »Die Erhaltung der Rasse ist wichtiger als das Leben des Individiuums.« Komroy schluckte trocken, als er an alles dachte, was er in den letzten Stunden gesehen, gehört und empfunden hatte. Er stand verloren mitten auf der Plattform. Um ihn herum waren die schweißglänzenden Gesichter der Wachen. Sie hielten entsicherte Waffen in den Händen. »Ich kämpfe einen Kampf gegen mich selbst«, sagte Komroy tonlos. »Ich bin für diese Aufgabe ausgesucht worden, aber ich fürchte, jeder andere Mann könnte sie ebenfalls erfüllen. Soll ich gehen, oder soll ich bleiben?« Niemand antwortete ihm. Niemand half ihm. Endlich rührte sich ein Feldtechniker. »Keine Skrupel, Komroy. Du bist der beste Mann. Es nimmt 78
dir niemand übel, was du tust. Aber ich würde empfehlen, schnell zu machen. Steig ein.« Der Techniker sah sich um. »Jemand gegen meinen Vorschlag?« Niemand. – Komroy konnte nicht verhindern, daß er weinte. Auch ihm hatte man das Leben geschenkt. Er ließ sich teilnahmslos in einen Raumanzug einpacken. Ein Mann winkte, ein anderer drehte an den Verschlüssen der Schleusentür. Die Siegelmasse war erhitzt. Komroy fühlte sich vorwärtsgestoßen und fand den Weg. Eine Lampe brannte in dem Frachtraum. Dann schloß sich die Tür. Komroy streckte sich auf seinem Netz aus und entspannte sich. Dunkelheit. Schweigen. Ereignislosigkeit. Allein mit furchtbaren Gedanken. Endlich der Andruck. Er brachte die acht Menschen fast um. Irgendwann hörte er auf. Gegenstände und Menschen begannen herumzuschweben. Schwerelosigkeit. Dann langes Warten. Zeit verging ohne jedes Maß. Tagelang oder nur Stunden. Dann setzten wieder die Raketensätze ein. Das Projektil führte eine Anzahl nicht zu kontrollierender Bewegungen aus. Ein gräßlicher Schlag schien den Rumpf zerbrechen zu wollen. Matten und Nylonnetze rissen. Ein erneuter Schlag, dann Ruhe. Die Rakete war gelandet. Komroy wartete, bis der Besitzer der Lampe wieder zu sich gekommen war. Geisterhafter Schein wies den Männern den Weg. Sie krochen aus dem Haufen schwerer Leiber, Maschinenteile und Sauerstoffflaschen hervor und suchten, bis sie eine batteriegetriebene Ultraschallsäge fanden. Mit ihr schnitten sie die Dichtungsmasse der Schleusen auf. Die Reste der irdischen Luft warfen die Tür nach außen. Komroys Kehle entrang sich ein Stöhnen. Zehn Meter unter ihm fuhr ein Schlepper mit hellen Lichtern quer über den Mondboden auf die Rakete zu, die rechts von ihm aufrecht im Staub stand. Nicht weit hinter dem Desert-car leuchteten die Lichter der Kuppel. Niemand war fähig, die Empfindungen der Menschen zu 79
schildern, die hinter Komroy aus der Raumschiffsluke blickten. Es gibt keinen Dichter, der die Gedanken ausdrücken kann, kein Papier, worauf niedergeschrieben werden könnte, welche Gefühle sich hier gewaltsam Bahn brachen. Scheinwerferstrahlen konzentrierten sich auf die Frontscheibe des Schleppers. Die Maschine stoppte. Noch bevor die Raupenketten zum Stillstand kamen, sprangen Gestalten in leuchtenden Raumanzügen aus der Kabine. Sie winkten. Komroy winkte zurück. Er fühlte nicht, daß er haltlos schluchzte. Er war bei den letzten Menschen. Irgendwo: Es war spät am Morgen, als das Kofferradio, das Thomas Joyce neben dem Frühstück stehen hatte, seine Musiksendung unterbrach. Ungläubig und erstarrt wartete Thomas darauf, daß sich der Sprecher berichtigen würde. Er tat es nicht. Noch während der Mann im Studio die Nachrichten sprach, kam Leben in den alten Mann. In der kleinen Siedlung hatte Joyce eine bedeutende Stellung – den einzigen Laden. Bei ihm konnte man alles kaufen, von der Zahnpasta bis zum Fernsehgerät. Thomas war über Sechzig, ein Alter, in dem ihn die Kinder »Onkel Tommy« nannten und die Mütter wußten, wo sie ihre Sprößlinge abholen konnten, wenn sie nicht rechtzeitig daheim waren. Tommy erhoffte sich nicht mehr viel vom Leben, aber er wartete auf ein Lebensende in Ruhe, Würde und Frieden. Nachdem gesagt worden war, daß der dritte Weltkrieg ausgebrochen und die Front atomarer Vernichtung im Anrücken war, sendete das Studio ernste Musik. Die Welt würde mit Beethoven und Strawinsky untergehen. Als Joyce mit dem Frühstück fertig war, stellte er Tasse und Teller ins Spülbecken, machte in der Wohnküche oberflächlich Ordnung und ging in den Laden. Hier herrschte Dämmerung. Vorsichtig bewegte sich der Alte um die Theke herum, bis er 80
die Schnüre für die Jalousien fand. Mit den hochgezogenen Leisten kam Helligkeit ins Geschäft. Tom holte unter der Theke ein Pappschild hervor, das an einem Bindfaden befestigt war. Er änderte mit seinem Zimmermannsbleistift, mit dem er für vergeßliche Kinder Rechnungen schrieb oder ihnen bei den Hausaufgaben half, den Text und hängte das Schild über die Klinke. Atomkrieg – Heute geschlossen! Thomas Joyce bemerkte, daß über der Siedlung eine unirdische Ruhe lag. Er lächelte vor sich hin. Er hatte sich ein anderes Ende gewünscht. Es lag in der Hand eines Mächtigeren, ihm dieses Ende zu diktieren. Man mußte sich unterwerfen. Jahrelang hatte Thomas sich nichts oder wenig geleistet. Jetzt änderte er sein Verhalten. Er suchte in den Regalen, bis er zwischen Zigarettenpackungen, Zündhölzern und Feuerzeugen eine Zigarrenkiste fand. Niemand außer wenigen durchreisenden Geschäftsleuten rauchte jene teuren Zigarren. Thomas entfernte das luftdichte Siegel von dem Glasröhrchen und schälte die duftende Zigarre aus der Cellophanhülle. Dann warf er die Abfälle ordentlich in den Papierkorb. Seine Hand drehte das Radio auf größte Lautstärke. Die SS-20Raketen würden von Osten kommen, überlegte Joyce, natürlich. Er ging hinaus in die frische Luft des Herbstmorgens. Um die Siedlung waren die Obstplantagen schon kahl, aber das flammende Farbenspiel der herbstlichen Gräser, Blätter und Büsche erstreckte sich bis an den Fuß der Berge. Unweit von hier stand das Atomkraftwerk, das seit Jahren Energie für Lampen, Fabriken und Maschinen lieferte. Sicher würde bereits jetzt eine Rakete dieses Ziel haben. Thomas versuchte sich vorzustellen, wie ein schlanker Koloß durch die Luft raste und schließlich auf dem Scheitelpunkt der Parabel umkippte und das Ziel suchte. Man würde nichts spüren. Thomas Joyce setzte sich und holte ein Buch aus der Jackentasche. George Borrow. Es gibt Tag und Nacht, Bruder, las Thomas Joyce, Sonne, 81
Mond und Sterne, Bruder; alles herrliche Dinge; ebenso den Wind auf der Heide. Das Leben ist schön, Bruder, wer würde da sterben wollen? »Niemand«, sagte Joyce laut, »aber wer fragt uns?« Er wartete auf den Tod. Hinter ihm schwieg die Siedlung. Es gab kein Kind, das lachend oder kreischend über eine Straße rannte, keine Mutter, die ihm nachschimpfte, kein Auto. Weit oben am Himmel flog ein Düsenflugzeug. Es zog vier Kondensstreifen hinter sich her. Die Sonne war warm. Dann kamen der erste Explosionsdonner und die erste Erschütterung des Bodens. Eine Stunde später schlug die Wasserstoffbombe in das Atomkraftwerk ein. Thomas Joyce sah den schmerzenden Blitz, dann erfaßte ihn und sein Haus die Explosionswelle und zerriß den Stein und den alten Menschen. Joyce starb, ohne es zu merken. Etwa dieselbe Zeit, aber eine andere Gegend: Meer, Strand und mit raschelnden Büschen bewachsene Dünen bildeten die Umgebung der kleinen Hütte, die einsam inmitten des klaren Morgens stand. Es war sehr früh. Ringsum herrschte Schweigen. Nur die Wellen der Brandung zischten über den feuchten Sand. Eine Möwe schrie und flatterte über eine Düne davon. Sven öffnete leise die Tür der Hütte und schlüpfte ins Innere. Er hielt den Atem an, um Birgit nicht zu wecken. Ein Punkt, in dem sich ihre Angewohnheiten unterschieden: Er war Frühaufsteher, während Birgit bis spät in die Nacht hinein agil blieb. Er vergewisserte sich, ob die Tür geschlossen sei, dann schaltete er den Transistorempfänger an. Schlagermusik. Sven rasierte sich, schüttete Pulverkaffee in die große Steingutkanne und ließ heißes Wasser darüberlaufen. Sechs Uhr dreißig. Sven trank eine Tasse Kaffee aus und steckte sich eine Zigarette an. Die Morgennachrichten brachten ein nichtssagendes Bild. 82
»So ist’s recht«, meinte eine Stimme von der Tür her. »Während ich den Schlaf der Erschöpfung schlafe, feierst du Orgien bei Kaffee, Zigaretten und Nachrichten. Was Neues?« Sven lächelte Birgit liebevoll an und brummte: »Ehe du das Wort an mich richtest, genüge bitte zuerst der Hygiene. Die Zahnbürste findest du an gewohnter Stelle.« »Bäh«, machte sie. »Ich gehe jetzt schwimmen.« Dann war sie draußen und lief zum Strand. Die Sonne erhob sich über die Dünen. Alle Dinge begannen Schatten zu werfen, und die Spitzen der Wellen wurden silbern und glänzten. Sven drehte das Radio lauter und erschrak, als die Musik ausgeblendet wurde. Der Sprecher holte tief Atem, dann sagte er: »Meine Damen und Herren, meine Zuhörer. Vor Sekunden erhielten wir die bestätigende Meldung, daß der dritte Weltkrieg ausgebrochen ist. Es sind keinerlei Zweifel mehr möglich. Radio Kopenhagen wurde informiert, daß russische Raketen von dem amerikanischen Radargürtel ausgemacht und von Abfangraketen zerstört wurden. Die Raketen trugen Atomsprengköpfe, wie eine Analyse der Explosionsblitze ergab. Damit steht fest, daß der Osten den Angriff begonnen hat. Soeben erhalten wir die Meldung, daß weitere Projektile in der Luft sind; auch haben sich amerikanische Bomberverbände in Marsch gesetzt. Bis der Sender getroffen wird, senden wir Musik, dem Ernst der Stunde angemessen.« Sven blieb eine volle Minute lang gelähmt sitzen und starrte vor sich hin. Seine Gedanken vollführten einen wilden Reigen. Er war erst nach kurzer Zeit wieder fähig, klar überlegen zu können. Dann wußte er, was er zu tun hatte. Er ging planvoll vor und überließ nichts dem Zufall. Er suchte aus dem Gepäck seine Instrumententasche hervor und hörte, wie das Radio unablässig schwermütige Volksweisen brachte. Noch bevor er etwas anderes tat, ging er in die Küche und zerschmetterte das Gerät am Boden. Kein Risiko. Er legte einen Wattebausch zurecht und die Ätherflasche. Dann holte er ein Skalpell aus der 83
Tasche. Langsam zersägte er eine Ampulle und brach den Hals ab. Den Inhalt zog er in eine Spritze auf. Die Injektionsspritze verbarg der Mediziner unter der Falte einer Decke. Eine Staffel Jagdflugzeuge röhrte dicht über das Wasser, überflog die Dünen und verschwand landeinwärts. Einige Minuten später erschienen weit oben in dem blaßblauen Herbsthimmel sechs Bomberstaffeln, die lange weiße Kondensstreifen hinter sich herzogen. Eine Viertelstunde später kam Birgit wieder vom Strand herauf. Sven verzog schmerzhaft das Gesicht, als er die schlanke Gestalt seiner Frau sah. Unter der knallroten Badekappe quoll das lange, blonde Haar hervor, als Birgit sich die Kappe vom Kopf riß und die Locken schüttelte. Sven führte die haarscharfe Schneide über die Wurzel des Fußballens. Sofort quoll Blut hervor. Dann warf er das Skalpell unter die Betten. Langsam packte er eine Mullbinde aus und rollte sie halb auf. Birgit kam herein. »Was ist das?« fragte sie erschrocken. Sven lächelte knapp. »Ein eben entdeckter Nagel in unserer Küche. Außerdem ist unser Tonmöbel heruntergefallen und außer Gefecht gesetzt worden. Würdest du mich verbinden?« Birgit warf das Badetuch über das Bett und machte sich daran, das Blut zu stillen. Nachdem der Fuß fachgerecht verbunden war, nahm Sven sie in den Arm. »Danke, Liebling«, flüsterte er und küßte sie lange. Währenddessen suchte seine Hand hinter seinem Rücken herum. Die Ätherflasche fiel um und ergoß einen Teil ihres Inhalts auf den Wattebausch. Sven brachte den Arm nach vorn und ließ Birgit los. Als sie die Augen aufschlug und Atem holte, preßte er den Ätherbausch auf ihr Gesicht. Zwei Sekunden später war Birgit bewußtlos. Sven injizierte das Betäubungsmittel in die Ellenbeuge seiner jungen Frau. Dann ließ er die Spritze fallen und stand auf. Birgit lag ausgestreckt auf dem Bett und atmete flach. Sie würde acht Stunden schlafen, ohne aufzuwachen. 84
Sven ging in die Küche zurück und zündete sich eine zweite Zigarette an. Seine Finger zitterten. Jetzt blieb ihm nur noch eine Aufgabe. Warten, bis das Ende kam. Stunden später lag Sven neben seiner Frau und sah auf das Meer. Er hatte viel beobachten können. Die fernen Pilze der Wasserstoffbomben, durch die Oslo und Kopenhagen zerstört worden waren, auftauchende Unterseeboote, die nacheinander ihre Raketen abfeuerten und wieder tauchten, Einschläge von Bomben ins Meer und abstürzende Flugzeuge. Krachen und das Beben der mißhandelten Erde waren bis hierher gedrungen. Die Sonne verfinsterte sich. Und die beiden Menschen lagen da und warteten auf das Ende. Es würde in irgendeiner Form eintreten, das wußte der Mediziner. Nur – es sollte nicht allzu furchtbar sein. Sven hatte Zeit genug. Er würde warten können. Weit im Norden Rußlands: Wladimir lenkte seinen Panzer vorwärts. Er war seit einem Tag von seiner Einheit abgeschnitten. Pausenlos hatte sich das schwere Gefährt seinen Weg gesucht. Es war über Straßen, Äcker und durch Kornfelder gerollt. Hin und wieder war Wladimir auf vordringende Infanteriegruppen der Gegner gestoßen, die jenseits der Grenze abgesprungen oder von Riesenhubschraubern abgesetzt worden waren. Die Geschütze des T-71 waren mit ihnen schnell fertig geworden. Der Panzer rollte weiter. Langsam begann es Nacht zu werden. Wladimir hielt die Maschine an und kletterte die kurze Leiter zum Turmluk hinauf. Er entdeckte, während die letzten Sonnenstrahlen schwanden, ein Quartier für die Nacht. Ein verlassenes Bauerngehöft. Wladimir ließ die Maschine anlaufen und drehte den Panzer herum. Er hielt schnurgerade auf den Hof zu, walzte die Pfosten des Tores nieder und ratterte über den Innenhof. Dann drehte sich der mächtige Turm mit den drei Geschützen einige Male her85
um. Der Hof lag ausgestorben da. In der Nähe befand sich ein Fluß. Wladimir war Offizier und Techniker; er sprach einige Sprachen perfekt und war ein guter Soldat. Trotzdem liebte er den Krieg nicht. Wladimir nahm die Maschinenpistole aus der Wandhalterung und schaltete den Reaktor ab. Das Heulen der Maschine erstarb. Mit entsicherter Waffe kletterte der Soldat aus der Luke des Panzers und sprang hinab auf den Boden. Hier schien nichts mehr zu leben. Der Hofhund war seit Tagen tot. Eine furchtbare Wunde hatte ihm den Leib aufgerissen. Wladimir stieg vorsichtig die Stufen des Hauses hinauf und trat die Tür mit dem Fuß auf; gleichzeitig sprang er seitwärts in Deckung und spähte durch ein Fenster in den Raum. Die Vorsicht war umsonst gewesen. Minuten später wußte Wladimir Bescheid. Hier waren die Bewohner samt ihrem Vieh geflohen. Wahrscheinlich lebten sie nicht mehr. Seit zwei Tagen tobte die Schlacht, in der niemand wußte, gegen wen er kämpfte. Hier war es wie im tiefsten Frieden. Nichts rührte sich, außer dem Plätschern eines Brunnens. Nachdem der Offizier dreimal den Hof umrundet und in jeden Winkel gespäht hatte, war er sicher, als einziger Mensch hier zu sein. Er versuchte, sich für die Nacht einzurichten. Die Speisekammer war voll, unter dem breiten Ofen lag genug Holz, um zwei Wochen Feuer zu unterhalten. Eine Stunde später sah es wohnlicher aus. Wladimir hatte einen reichgedeckten Tisch vor sich, der im Licht einiger Kerzen einladend aussah. Rings um den Soldaten war das Schweigen der Taiga. Keine Erschütterungen, keine Bomben, keine Flugzeuge mehr. Auch der Geigerzähler an seinem Handgelenk schwieg konstant. Wladimir aß und trank, bis er satt war. Dann nahm er eine Kerze und ging auf die Suche. Er fand Bettzeug, Laken und Schlafanzüge. Das Radio war still. Es gab keinen Strom mehr; vermutlich gab es auch keinen Sendemast mehr. Wladimir rückte einen Tisch vor die Ofenbank, stellte Stühle daneben und machte sich 86
ein Nachtlager auf dem glänzenden Holz zurecht. Dann legte er die entsicherte Waffe neben sich an die Wand des warmen Ofens, stellte die Taschenlampe neben sich auf die Bodenbretter und zog sich aus. Er sehnte sich förmlich danach, nicht in der Uniform schlafen und sich morgen früh im kalten Wasser des Brunnentrogs waschen und rasieren zu können. Er hatte keinerlei Kontakt mit seiner Einheit mehr. Ob sein Ziel noch existierte, wußte er auch nicht. Als er aufwachte, war es immer noch Nacht. Wladimir stellte innerhalb einer langen Sekunde fest, daß er nicht mehr allein war. Er blinzelte in das Licht der starken Lampe, die direkt auf sein Gesicht gerichtet war. Seine Hand tastete nach der Waffe. Sie lag nicht mehr an ihrer Stelle. Hinter der blendenden Lichtfülle bemerkte Wladimir drei Gestalten. Sie schwiegen. Endlich fragte eine fremde Stimme: »Do you speak English?« »Yeah«, brummte Wladimir, »perfectly.« »Fine«, sagte eine andere Stimme. »The war is over now. All of us are lost men.« »Are you Americans?« fragte Wladimir und richtete sich auf. »We are«, sagte der andere Mann knapp. »From the air force, you know.« »Let’s have a cigaret«, sagte Wladimir und richtete sich auf. »Papyrossi?« fragte einer der Männer. »Have a Chesterfield, it tastes better.« »Okay«, sagte Wladimir und stand auf. Vor ihm hantierte ein Mann am Tisch und zündete die Kerzen an. Die Maschinenpistole befand sich mit zwei anderen Waffen auf dem Tisch. Überall lagen die entfernten Magazine herum. Die Amerikaner leisteten ganze Arbeit, stellte Wladimir bewundernd fest. Sie zündeten die Zigaretten an der Kerze an und betrachteten sich gegenseitig. Die Amerikaner waren Offiziere, keine einfachen Soldaten. Sie unterhielten sich ohne jede Feindschaft, nachdem die Lage geklärt war. Es gab keine Sieger und keine 87
Besiegten mehr. »Dein Panzer?« fragte der ranghöchste Offizier den Russen. Wladimir nickte. »Eigentlich gehört er dem russischen Volk – aber es wird mir verzeihen, wenn ich Amerikaner darin spazierenfahre. Was jetzt?« fragte Wladimir. »Zunächst – weiterschlafen. Morgen werden wir versuchen, andere Menschen zu treffen. Irgendwie muß es weitergehen. Bisher haben wir noch keinen radioaktiven Regen oder Staubfall gehabt.« »Hier regnet es nicht oft«, sagte der Russe. »Hoffentlich«, meinte Mike Denver. Dann befestigten die Amerikaner ihre Nylonhängematten und kletterten hinein. Minuten später schliefen alle. Langsam erlöschten die Sterne. Leichter Ostwind kam auf. Der kurze Krieg war zu Ende. Es schien, als ob einige Menschen seinen Schrecken entronnen wären. Aber der Schein trog. Die Radioaktivität der Luft kam erst noch nieder. Noch sah man die Sterne. Aber – wie würde es enden?
4. »Was Trost verleih’n kann so gewaltigen Trümmern, das sei versucht!« William Shakespeare. Englischer Dichter. 1564-1616
Apodee Minor. Die blaue Wüste erstreckte sich von Horizont zu Horizont. Das Gras, das ihr den Namen verliehen hatte, wogte in weiten Schleiern unter einem Wind, der Gerüche nach trockenem Holz und tropfendem Harz mit sich brachte. Die strahlend weiße Fläche wurde größer, je mehr sich das Sternenschiff der Planetenoberfläche näherte. In der Mitte der blauen Wüste standen die silbernen Bauten 88
der Galaktischen Ratsversammlung. In der Mitte erhob sich die Kuppel; eine gewaltige Schale, die auf grazilen Säulen ruhte. Farbige Fenster erweckten den Eindruck, als hätte man riesige Edelsteine gefaßt, um das Licht der Sonne zu brechen und auf die Ränge unter der Kuppel zu leiten. Flache, von Gärten und Bäumen umstandene Gebäude umgaben die Kuppel. Auf dunkelroten Straßen, die in der Nacht leuchteten, flutete lautloser Verkehr. Alles das gehörte zu Apodee Minor, der Heimat Nibloc Laycs. Der schlanke, große Rumpf des Sternenschiffs wirkte verloren gegen die Größe des Raumhafens. In einer Rauchwolke senkte sich das Schiff nieder. Die orangeroten Flammen erloschen. Fahrzeuge bewegten sich auf das Schiff zu. Sie hatten es eilig. Seit dem Moment, in dem das Schiff in die Reichweite der Geräte gekommen war, hatte es geschwiegen. Kein einziger Funkspruch war gewechselt worden. Die Wagen umstanden es in einem offenen Kreis. Eine Stunde verging, eine zweite. Dann endlich öffnete sich die Personenschleuse. Der wartende Kordon blickte hoch – und hielt den Atem an. Natürlich war jeder der zweihundert Beobachter auf Apodee bekannt und geachtet. Die Männer waren eine planetare Elitetruppe, die stellvertretend für den Galaktischen Rat durch den Raum flogen. Jeder auf Apodee Minor kannte Nibloc Layc und Dugal Rahyr – und wartete auf das Erscheinen der beiden Männer. Der Krieger von Cuny kam nicht als erster. Statt dessen schob sich die Schrägfläche dem Boden entgegen und rastete ein. Ein Robot öffnete die Stahlplatte. Dann trat Nibloc ins Sonnenlicht. Er war von Kopf bis Fuß in eine pechschwarze Uniform gekleidet. Glühende Augen in einem bleichen Gesicht blickten über die Menge. In dem weißen Haar des Mannes waren dunkle Streifen. Man erkannte Nibloc nicht mehr. Langsam setzte er Schritt vor Schritt und kam dem Boden näher. Er wirkte versteinert. Ein furchtbares Erlebnis muß ihn zerbrochen 89
haben, raunte man flüsternd. Es fiel kein lautes Wort. Nibloc ging, ohne jemanden anzusehen, quer durch die Menge und auf einen niedrigen Wagen zu. Der Fahrer öffnete durch einen Knopfdruck die Türen, an deren Flächen das Wappen mit dem Buchstaben Rhota prunkte. Die Metallplatten fielen hinter der schwarzen Gestalt leise zu. »Mein Haus«, sagte Nibloc tonlos. Der Wagen brummte los, ließ den unbeweglich wartenden Robot und die anderen Personen stehen. Jenseits des Platzes bog der Fahrer in eine breite Straße, ein, die zu den Wohnvierteln im Bannkreis des Versammlungsbaues führte. Nach einer rasenden Fahrt hielt der langgestreckte Tropfen vor einem Gebäude, das hinter Bäumen und Büschen fast verschwand. In der Stille des Tages plätscherte eine Fontäne. Nibloc stieg aus und passierte das Tor, ohne sich umzusehen. Vor ihm öffnete sich automatisch die Tür seines Hauses; der Öffnungsmechanismus war auf die Gehirnwellen abgestimmt. Nibloc ging in eine kühle Halle hinein. »Willkommen auf Apodee«, murmelte er ohne eine Spur von Ironie. Seine Stimme war brüchig. Über ihm drang das Tageslicht durch ein Deckenmosaik und spiegelte sich in zahllosen bunten Flecken auf dem Boden. Das Haus war leer. »Es ist schön, wieder heimzukommen«, murmelte Nibloc und ging über die Stufen von der Halle zu seinem großen Arbeitszimmer, »aber nicht mit solcher Botschaft.« Der Rat reagierte bewundernswert schnell. Noch während Nibloc die Schreiben auf der Platte seines Arbeitstisches sichtete und die Hausautomatik die Blenden vor der mächtigen Scheibe zur Seite rollte, summte der Meldeknopf des Kommunikators. Nibloc rang sich ein schwaches Lächeln ab und drehte seinen Sessel herum. »Hier Nibloc. Optischer Kontakt«, sagte er und drückte eine verborgene Taste unter der Sessellehne. Der Schirm erhellte sich und zeigte ein dreidimensionales Bild des obersten aller Räte – Y Vrancken. 90
Vrancken maß seinen Beobachter lange, ehe er etwas sagte. Als er sprach, vermied er sorgfältig alles, was einen Widerspruch hervorrufen konnte. »Ich sah dich landen und hörte die Botschaft, die vor Tagen aus deinem Schiff kam. Darf ich erfahren, was dein Haar schwarz gefärbt hat?« »Du darfst, Vrancken.« Nibloc sah dem Rat in die Augen. »Es ist etwas vorgefallen, das in der Geschichte unserer Institution einmalig ist, auch in den Folgen. Ich stehe noch unter dem Schock dessen, was ich sehen mußte. Wie lange dauert es, eine Vollsitzung einzuleiten?« »Drei Tage. Warum fragst du?« »Veranlasse alles, um diese Sitzung einzuberufen.« Vranckens Gesicht drückte Verwunderung aus. »Ich brauche formelle Gründe dafür, Nibloc«, erinnerte er leise. »Ich kann dir mehr davon liefern, als dir lieb sein wird. Ich kann es nicht schildern. Sechs Projektionswände werden mir dabei helfen. Gib an, ein Cunyaner hat gegen seinen Schwur und gegen den Ethos der Beobachter verstoßen. Gib an, er wäre geflohen und außerdem ein Verbrecher. Daß er krank ist, werde ich der Sitzung erklären. Tust du es?« »Natürlich«, sagte Vrancken und drehte sich um. Außerhalb von Niblocs Gesichtsfeld war offenbar eine Ordonnanz erschienen, der Y Vrancken befahl, die notwendigen Vorladungen vorzubereiten. Dann drehte sich der Rat wieder um. Es war, als säße er Nibloc direkt gegenüber, so vollkommen war die Illusion der Wiedergabe. »Das ist geschehen. Jetzt erzähle mir bitte privat, was Rahyr sich hat zuschulden kommen lassen. Wenige Sätze, keine Anklage – betrachte mich als Freund, nicht als Rat. Bitte, Nibloc.« Eine Weile blickte Nibloc aus dem riesigen Fenster auf die planmäßige Wildnis seines Gartens. Dann sprach er. »Wir hatten einen Planeten entdeckt, der von einer jungen, 91
unvollkommenen, aber bildungsfähigen Rasse bewohnt wird – wurde. Das Schiff machte unter Zuhilfenahme aller Apparate die erforderlichen Tests. Es stellte sich heraus, daß es eine sehr kriegerische Rasse war, vergleichbar nur mit Cuny. Rahyr muß schon von den ersten Momenten der Berichterstattung an, einen Haßkomplex entwickelt haben, der ihn um das kriegerische Primat der Cunyaner fürchten ließ. Er schlug einen Eingriff vor, den ich ihm ausreden konnte. Dachte ich. Nun, er machte seine Drohung wahr, als ich nicht auf ihn achtete. Diese Rasse war in zwei Lager gespalten, die sich feindlich gegenüberstanden, in einem gleichgroßen Kräfteverhältnis. Der geringste Funke – der aber von beiden Parteien sorgfältig vermieden wurde – würde genügt haben, um einen Krieg mit Ultimaten Waffen zu entfesseln. Rahyr ließ zwei Raketen konstruieren. Vor seiner Flucht gab er den Befehl, die Projektile abzufeuern. Auch das übersah ich. Diese Raketen überflogen einen Staat und verletzten die Grenzen, wobei sie vernichtet wurden. Dieser Grenzzwischenfall ließ den Krieg entbrennen. Soweit ich es beurteilen kann, sind nicht mehr als rund zwanzig Personen am Leben geblieben – in einer Station, die man ein Jahr vor dem Krieg auf dem Trabanten errichtet hatte. Es hört sich nüchtern an, aber ich habe Material, das euch das Blut in den Adern gefrieren lassen wird. Und ich persönlich werde den Ankläger gegen Cuny spielen, und gegen Dugal Rahyr. Sucht ihn!« Abrupt trennte Nibloc die Verbindung. Das Bild Vranckens löste sich auf. Hinter dem Spiegel erschienen die zahllosen Bücher auf gläsernen Platten. Nibloc war wieder allein. Er wartete einen halben Tag, bis seine Helfer das Material aus dem Sternenschiff in die Kuppel geschafft hatten. Zwei Tage lang arbeitete Nibloc Layc wie ein Besessener, um die einzelnen Berichte zu schneiden, den Ton zu modulieren und übersetzen zu lassen. Die Verhandlung konnte beginnen.
92
Y Vrancken erhob sich würdevoll. Er war in die weiße Robe des Ratsvorsitzenden gekleidet; an seiner Hand glänzte der viereckige Stein des Ringes. Langsam verebbte der Lärm. Je drei Räte vertraten eine Rasse oder einen Planeten. Zuhörer und Vertrauensleute des Galaktischen Rates nahmen die oberen Plätze des Amphitheaters ein. Ein Gong ertönte. Die anderen Räte standen auf. »Ich eröffne die heutige Vollsitzung«, erklang die Stimme des Obersten Rates. Automaten übersetzten, was er sagte, in dreißig verschiedene Sprachen. »Ich stelle fest, daß sämtliche Räte anwesend sind. Der Grund für unsere heutige Versammlung ist einmalig in unserer Geschichte. Es ist kein Beschluß, der heute gefaßt werden soll, sondern eine – Anklage. Ich rufe den Ankläger.« Vrancken setzte sich zugleich mit den übrigen Räten. An der Peripherie des Auditoriums öffnete sich eine Tür. Nibloc Layc kam den schmalen Gang entlang. In der freien Fläche inmitten der Sitzreihen blieb er stehen; eine schwarzgekleidete Gestalt mit versteinertem Gesicht an den Mikrophonen. »Ich bin Nibloc Layc, Bewohner des Planeten Apodee, Landschaft Minor. Vor einhundertunddrei Jahren wurde ich von der Vollversammlung als Beobachter berufen. Laut unseren Satzungen stehen mir besondere Rechte zu – von ihnen muß ich heute Gebrauch machen. Ich klage an den Planeten Cuny und dessen Bewohner Dugal Rahyr. Ich klage ihn an, seinen Eid gebrochen zu haben. Er hat gehandelt wie ein Feigling und wie ein Verbrecher. Ich klage ihn an, allein verantwortlich zu sein für den Tod eines blühenden Planeten und aller seiner Bewohner. Ich weiß, daß ich Beweise brauche. Ihr habt vier Stunden Zeit, sie zu erkennen. Hier sind sie. Los!« Er hob langsam die Hand, in einer endgültigen Bewegung. Schlagartig erloschen sämtliche Lichter. An der Kuppeldecke erschien ein leuchtendes Viereck. In zwanzig Minuten lief ein Film ab. Er zeigte die verschiedenen 93
Menschentypen des Planeten Erde und ihre Kulturbereiche, den Stand der Kultur und der Technik. Er zeigte Landschaften der Erde in herrlichen Bildern, umrahmt von Originalgeräuschen. Bilder und Kommentare vermischten sich zu einem eindrucksvollen Bilderbogen. Das Licht flammte auf, als der Film endete. Nibloc befand sich noch immer auf dem Podium des Anklägers. »Ihr habt gesehen, welchen Planeten und welche Wesen unser Sternenschiff fand. Es ist eine impulsive Rasse gewesen. Nun folgt ein anderer Streifen. Er schildert den mutigen Vorstoß der Menschheit zu den Sternen.« Sämtliche Phasen der Eroberung des Mondes zogen vorbei, vom Start der Raumschiffe bis zu der letzten Rakete. Das Wachstum der kleinen Kuppelstadt im Mare Crisium wurde gezeigt und die Insassen jener Kuppeln. Der Film brach ab. »Die Grenze, die sich durch den Planeten zieht und ihre technischen Einrichtungen«, verkündete Nibloc. Der westliche und der östliche Radargürtel war zu sehen, die geheimen und offenen Raketenbasen, die Flugplätze in allen Teilen des Planeten. Der Abschuß der beiden Projektile, die Rahyr hatte bauen lassen, fehlte. Dafür wurden die Raketen sichtbar, als sie die Grenze der westlichen Hemisphäre überflogen; ihre Explosion folgte. Dann: Bilder von den Plätzen, an denen Raketen abgefeuert und Bomberverbände in die Luft gebracht wurden. »Das war das Werk des Cunyaners Dugal Rahyr und seines unbegründeten Hasses. Was jetzt folgt, sind die Wellen der Vernichtung.« Eine volle Stunde lang zog der atomare Krieg in allen seinen Phasen auf dem Bildschirm vorbei. Den Schluß dieses Streifens bildete eine Gegenüberstellung. Landschaftsaufnahmen der Erde wechselten ab mit Zonen des glühenden Zusammenbruchs – wo früher Städte mit geschäftigem Treiben gestanden hatten, starrten schmelzende Eisenträger aus radioaktiven Schuttzonen. Steilufer von Meeresküsten waren zu geschmolzenen Lavaflecken geworden. Wüsten zu erstarrten Kraterland94
schaften, Flüsse zu Spalten im Boden, über denen der Dampf des entwichenen Wassers von kochenden Stürmen weggerissen wurde. Dann blieb das Bild der rostroten, mit glühenden Flekken bedeckten Erdkugel stehen, wurde unschärfer, verschwand endlich. Als das Licht wieder brannte, schwiegen die Räte erschüttert. Niblocs Stimme war eindringlich und sehr traurig. »Ich, als Ankläger, wog meine Gedanken lange ab. Jetzt werfe ich sie in die Debatte. Ich schlage vor, hundert Jahre lang zu warten. Hundert Jahre deshalb, weil vermutlich nicht alles Leben restlos erloschen ist. Ich habe getan, was ich konnte, um den Bewohnern der Mondstation das Leben zu sichern – fast die Hälfte der Ausrüstung des Sternenschiffs und alle Nahrungsmittel liegen auf dem Mond. Ein Automat ist losgegangen, um die Menschen davon zu benachrichtigen. Ihr Metabolismus gleicht dem der Leute von Apodee. Nach diesen hundert Jahren soll ein Schiff dort jeden Quadratzoll des Bodens untersuchen und nach den Überlebenden forschen. Sie sollen von uns jede Art von Hilfe erhalten – entweder Wiedererrichtung ihrer Kultur auf ihrem Planeten oder auf einem anderen, der noch zu finden wäre. Natürlich sollen sie in den Rat aufgenommen werden. Die Kosten und die Hauptarbeit dieser Aktionen bitte ich, dem System Cuny mit seinen Planeten aufzubürden. Dugal Rahyr war einer der ihren; sollen sie ihre Rassenzugehörigkeit dadurch beweisen. Persönlich fordere ich: Sucht Dugal mit Polizeischiffen! Er ist krank. Für jede Frage, dieses Thema betreffend, bin ich gern da. Ich habe mir geschworen, nicht eher zu ruhen, bis alles getan worden ist, was ich fordere. Ich werde der unbequemste Ankläger des Rates sein. Nicht umsonst habe ich dieses Elend mit eigenen Augen miterlebt. Versetzt euch in die Lage der Überlebenden! Kein Hirn ist fähig, sich einen Begriff von dem Leid, von der Not und den Tränen zu machen, die durch Rahyr über die wenigen Überlebenden gekommen sind. Ich möchte keine materiellen Schäden debattieren – die 95
Seelen sind es, die mit dem Kummer fertig werden müssen. Ich hoffe, daß ich verstanden worden bin. Von meiner Warte aus ist die heutige Sitzung zu Ende. Ich bin ein Jahr lang in meinem Haus zu sprechen.« Nibloc Layc verneigte sich und ging den schmalen Gang zurück. Er war fertig. Andere hatten jetzt darüber nachzudenken, was der Galaktische Rat zu tun hatte. Es würde sehr viel sein. Die Räte tagten lange. Nach dreißig Tagen standen Entschlüsse fest. In hundert Jahren würde man handeln. Wenn ein Wesen darauf wartet, daß eine Wartefrist vergeht, die nach ihrer Beendigung etwas Positives verspricht, so scheint sich die Zeit ins Unermeßliche auszudehnen. Wartet man auf etwas Unangenehmes, dann bleibt nur wenig Zeit, etwas zu unternehmen: Die Zeit scheint rasend schnell zu vergehen. In der Unendlichkeit des Weltalls, in der Sonnen entstehen und Planeten aus glühenden Staubnestern sich abkühlen und dem Hauch des Lebens entgegenwarten, sind hundert Jahre, gemessen an den Umläufen eines Planeten um seine Sonne, nichts. Wartet aber eine Person darauf, daß sie vergingen, dauern sie ewig. So schien es Nibloc Layc. Er konnte starten, wenn diese Frist vorbei war. Inzwischen würde er über dreihundert Jahre alt sein, die Hälfte seiner Lebensspanne. Tickend tröpfelten Sekunden in ein großes Becken des Universums und versuchten es zu füllen. Wenn der obere Rand erreicht war, waren hundert Jahre vorüber. Noch war das Becken leer …
96
5. »In dieser Welt gibt es immer Gefahren für die, die sie fürchten.« George Bernard Shaw, Dichter, 1856-1950 oder: 140-46 b:LD
Ariel McKechnie, Leiter der Mondstation, fuhr sich nachdenklich über das schlechtrasierte Kinn. Er war hundemüde. Zu viel Arbeit lag hinter ihm. Nicht, daß er sich über die Menge der Arbeit beklagte. Nein. Beschäftigung mit immer neuen Herausforderungen hielt bereits seit 380 Tagen die einundzwanzig Insassen der Station davon ab, zu oft und zu lange auf die leuchtenden Inseln der harten Strahlung hinunterzustarren. »Verdammt«, murmelte er. »Dreihundertachtzig after the last desaster.« Die Digitalziffern auf den Feldern der Zeitansage zeigten den Ausdruck der neuen Zeitrechnung: ALD – 01:15: 15 t: 07 h: 45 m. Ariel erinnerte sich … Der erste Tag nach dem Schock des »letzten Desasters« hatte die Techniker herausgefordert. Sie machten die Stunden des Untergangs zur Schnittstelle zwischen zwei Zeiten. Before oder after the last desaster. So hieß es jetzt, auch in den offiziellen Texten. Die letzten Überlebenden von Milliarden Menschen hatten sich eine eigene Zeit gemacht. Die Zeitrechnung war neu. Neu war auch, daß Robert Crouden längst nicht mehr lebte. Damals, in den ersten Minuten des Chaos: Eine Viertelstunde nach dem Zeitpunkt, da die ersten Atomraketen aus den Schächten ausgebrochen waren, um ihre Ziele zu vernichten, hatte die Teleskopmannschaft ihn geweckt. Musgrave hatte am Bett Ariels gestanden und mit heiserer Stimme gesagt: »Komm mit, Ariel. Leise. Die Welt geht unter.« Zusammen waren sie durch die Gänge gehuscht. Dominique 97
Beauregard hatte sich ihnen angeschlossen, als die optischen Signale sie aufmerksam gemacht hatten. Zu viert hatten sie entsetzt vor dem Farbschirm gestanden. Die Ungeheuerlichkeit der Vorgänge nahm ihnen den Atem und lähmte ihre Gedanken. Ariel faßte sich als erster und hastete zurück. Er weckte Robert Crouden. »Huh, was ist denn los?« fragte Crouden verschlafen. Dann weiteten sich seine Augen. »Wahnsinn«, flüsterte er und folgte Ariel in den Teleskopraum. Noch immer standen die Menschen schweigend vor dem Schirm und sahen zu, wie Terra sich selbst vernichtete. »Mein Gott«, sagte Crouden laut. »Wir sind verloren. Wir verhungern oder verdursten oder ersticken. Das ist das Ende.« Er wandte sich um und verließ schweigend die Kuppel. Hinter ihm schloß sich selbsttätig das Sicherheitsschott. Das erste Stück des Verbindungsgangs schaffte er noch, ohne laufen zu müssen. Crouden glaubte, er würde ersticken, wenn er nicht aus diesen engen Kuppeln herauskam. Der Drang aller menschlichen Wesen, sich während Beben oder Sturmfluten ins Freie zu flüchten, kam wie eine Panik über ihn. Nach dem ersten Knotenpunkt, durch eine Kugelschleuse gesichert, rannte Crouden bereits. Er hastete unbeherrscht die Röhren entlang, wirbelte durch eine Kuppel, riß eine Schleuse auf und stürmte weiter. Sein Verstand, unfähig, die Ereignisse durch Kompensation zu besiegen, drehte durch. Für ihn gab es nur noch eine Rettung – die köstliche Luft dort draußen. Er mußte hinaus. Er schaffte es, obwohl ihm Ariel knapp auf den Fersen war. Die beiden Männer rasten hintereinander durch die Gänge. Nur noch ein Knotenpunkt trennte Ariel von Crouden. Ariel ahnte, was Crouden vorhatte. Er mußte es verhindern, wiederholte er sich immer wieder keuchend. Dann schaltete Crouden das letzte Schott. Vor ihm wölbte sich die letzte Stahlwand. Hinter ihr war das 98
Vakuum der Mondoberfläche. Crouden riß die Tür auf. Sein furchtbarer Schrei gellte ersterbend im Vakuum nach der Dekompression, wurde von einem Wachmikrophon aufgenommen und in die Zentrale weitergeleitet. Blind raste Crouden aus der Kammer. Er kam vier Schritt weit, dann sackte er zusammen. Es gab einen kleinen Staubschleier, als er in das graue Pulver vor der Schleuse fiel und liegenblieb. Ariel stoppte vor der letzten Tür und wartete, bis sich die Außentür wieder geschlossen hatte. Dann öffnete er nach dem Druckausgleich die Schleuse und blickte durch die Linse der Tür. Wie etwas, das nicht mehr zu ihnen gehörte, lag der Leichnam im Mondstaub. Grau, unscheinbar, von dem schwächer werdenden Licht der Erde beleuchtet. Ariel schob den Stahlriegel vor die Plexolscheibe und wandte sich ab. Zu spät. Ariel war erschüttert. Auf eine solche Beendigung seines Duells war er nicht gefaßt gewesen. Andere Dinge waren wichtiger. Die Erde. Langsam kam der Techniker wieder in den Raum zurück, in dem jetzt mehrere Personen standen. »Hoffentlich schalten sie schnell und schicken die restlichen Raketen hoch. Komroy ist dort. Er sollte eigentlich wissen, was für uns auf dem Spiel steht.« Die Menschen, die den Untergang ihrer Heimat beobachteten, waren erstarrt. Sie würden erst in Tagen erfaßt haben, was geschehen war. Jetzt herrschten blinde Panik und absolute Verständnislosigkeit. »Lee und Sven. Zieht Raumanzüge an und kommt an die Schleuse C. Ich habe eine Aufgabe.« Young und Nyevelt sahen Ariel verständnislos an. Als sie in der Schleuse standen, klärte Ariel die Männer auf. »Crouden hat durchgedreht und ist ins Vakuum hinausgelaufen. Er liegt vor Schleuse C. Bringt ihn in die Gewächskuppel.« »Sofort«, versprachen die Männer. Ariel hatte noch etwas anderes zu tun. Er suchte nachdenklich sein Quartier auf und 99
zog sich vollständig um. Dann ging er wieder über die breite Treppe aus Bimsstein in die Küche der Station. Dort holte er eine Flasche aus dem Kühlschrank und zwei Gläser. Damit begab er sich wieder hinaus, bog nach rechts ab und öffnete eine Leichtmetalltür, die mit goldgelbem Stoff bespannt war. Dahinter lag Dunkel, die Warnlampe der Sauerstoffversorgung glimmte. Ariel tastete sich durch den Raum, bis er die Atemzüge der Schlafenden hörte und die Umrisse des Lagers erkannte. Er bemühte sich, lautlos den Whisky einzugießen. Dann knipste er die gelbe Lampe über dem Kopfende des Bettes an. Mildes Licht erfüllte einen Teil des Raumes. Carol Mauning erwachte und fand sich sofort zurecht. »Ariel! Was machst du hier?« fragte sie blinzelnd. »Ich sitze still da«, antwortete Ariel McKechnie langsam und ernst, »und warte darauf, daß du aufwachst und mit mir sprichst.« »Beides geschieht«, sagte sie. »Was willst du?« »Es ist dir nicht entgangen, daß ich eine Privatfehde mit Crouden austragen wollte. Das ist nicht mehr nötig. Das war es, was ich dir sagen wollte.« »Und das Zeug hier?« Sie deutete auf die Gläser. »Ist strategisch notwendig. Ich brauche es, um dich von ernsteren Dingen abzulenken. Du hast Gelegenheit, zu beweisen, daß du tatsächlich jenes Format besitzt, das ich überall als dein Markenzeichen ausgebe.« »Du sprichst in Rätseln, Ariel«, sagte sie. In ihren Augen sah er, daß sie nicht verstand, worauf er hinauswollte. Noch nicht. »Vor rund dreißig Minuten haben zwei russische Raketen den westlichen Radargürtel überflogen und sind abgeschossen worden. Damit ist der dritte Weltkrieg ausgebrochen. Die Großmächte beschießen sich gegenseitig mit Atomwaffen. Robert Crouden wurde geweckt, sah das Desaster und drehte durch. Er verließ die Station durch Schleuse C, ohne einen Raumanzug anzuhaben.« 100
»Was sagst du da?« fragte sie flüsternd. »Die Wahrheit«, antwortete er trocken. Carol drehte ihr Gesicht von ihm fort und begann lautlos zu weinen. Er legte seine Hand auf ihr Haar und streichelte sie behutsam. Nach langem Schweigen begann er: »Ich sitze neben dir und warte. Du weißt schon seit einem halben Jahr, daß wir zusammengehören. Bisher war Crouden da, und ich respektierte ihn. Habe ich unrecht?« Sie nickte stumm. »Gut«, sagte Ariel und stand auf. »Trinken wir Whisky. Er wird uns helfen.« Er reichte ein Glas dem Mädchen. Carol trank das Glas leer und stellte es wieder zurück. Er blieb stehen und blickte sie an. »Zieh dich an und komme nach oben. Vermutlich gärt es in der Station. Ich gehe, um nach dem Rechten zu sehen. Gut, daß wir zur Passivität verurteilt sind. Das macht vieles leichter.« »Ich komme nach«, versprach Carol und preßte ihr Gesicht gegen das Kissen, als Ariel den Raum verließ. Als der Leiter der Mondstation die Oberfläche betrat, war bereits die Hölle los. Mehr als zehn aufgeregte Menschen suchten die Erde mit den Augen und den zahlreichen Linsen ab und sahen nichts als blutige Zerstörung und heiße Vernichtung. Endlich kam Lee Young auf den Einfall, das Teleskop auf Canaveral Space Center zu richten. Sie sahen nach kurzer Zeit den Start der ersten Rakete und wichen nicht von dem Schirm und den Schleusen, ehe nicht Komroy und seine sieben Mann der zweiten Garnitur eingetroffen waren … Das war es, woran sich Ariel McKechnie erinnerte, als er jetzt müde und unrasiert zu seiner Doppelkammer hinunterstieg. Seine Arbeit war fast fertig. Nach einem vollen Jahr auf dem Mond sah die Station wesentlich anders aus. Riesige Kuppeln erhoben sich auf dem Mondboden – sie waren doppelt angelegt, um gegen den Meteoreinschlag besser ausgerüstet zu sein. 101
Dazu kam der Fund Gustl Belins. Er hatte seinem Freund Lee Young geschworen, eines Tages etwas zu entdecken, was garantiert einmalig sein würde. Ebenso einmalig allerdings war die Botschaft, die mit dem Fund verbunden war. Ariel stieg eine der zahlreichen Treppen hinunter. Die breite Tür, die zu Ariels Doppelzimmer führte, wich vor ihm in die Wand zurück. Dahinter war Licht; Carol hantierte an dem kleinen Tisch zwischen Tellern und Gläsern. Sie begrüßte ihn und wies stumm auf die Tür zum Bad. Jetzt hatten sie Wasser im Überfluß. Durch die ungeheure Energiemenge, die in den vier Quadratkilometern der Halbzylinderspiegel gewonnen wurde, schmolz eine automatische Anlage in einer Wasserstoff-Methangasatmosphäre den Basalt der Mondkrater. Eine Hochleistungspumpe leitete Wasserstoff und Kohlenoxyd in einen chemischen Reaktor. Dort wirkten Katalysatoren auf die Mischung ein und schufen Wasser und Methan. Wieder wurde Elektrizität eingesetzt, um Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff zu spalten; Elektrolyse. Die Station erhielt so Wasserstoff, Sauerstoff und Methan. Wurde Wasser benötigt, zapfte man es an einer der Stationspunkte dieser Anlage ab – Wasserstoff und Methan brauchte man, um Basalt schmelzen zu können. Aus einer Tonne Basalt erhielt die Station zweihundertsiebzig Liter Wasser. Ariel duschte sich im Halbvakuum der Niederdruckdampfkammer, rasierte sich elektrisch und zog sich um. Dann setzte er sich an den gedeckten Tisch. Diesen Abend hatte er sich nach aller Arbeit verdient. Zur selben Zeit arbeitete eine andere Gruppe auf der Mondoberfläche. Gustl Belin, Lee Young und Gustls »neuer Freund« fuhren mit dem Desert-car Sechs über die Wallebene des Kraters Picard. Belins neuer Freund? Natürlich – der Automat, der den Brief des Beobachters gebracht hatte. Gustl, der dem Roboter die 102
Steuerung des Wagens überlassen hatte, lehnte sich zurück und betrachtete die stählernen Züge der Maschine. Eine Nacht und deren Ereignisse standen wieder deutlich vor Belins geistigem Auge. Die Nacht der brennenden Städte lag ein gutes halbes Erdjahr zurück. Noch immer leuchteten die grünlichen, radioaktiven Inseln der Erdkruste am Mondhimmel. Die Männer und Frauen der Station hatten Tage gebraucht, um den völligen Ernst der Lage erfassen zu können -aber dann hatten sie gehandelt. Gustl erinnerte sich an die Männer, die mit roten Augen unter den Tiefstrahlern der Hauptkuppel gestanden hatten. Ariel McKechnie und Garry Komroy. Komroy trug noch die knappsitzende Monteuruniform der Raketenstation. »Freunde«, hatte Ariel gesagt, leise und eindringlich. »Wir sind von der Erde abgeschnitten. Wir haben nur eine einzige Aufgabe: zu überleben. Wir müssen das tun, was der Urmensch vor hunderttausend Jahren tat: uns Lebensraum schaffen. Da Komroy die Raketen des gesamten Programms hochschießen konnte und zusammen mit der Alternativ-Crew, die ich in unseren Kreis aufnehmen möchte, selbst kam, fehlt uns nichts Materielles mehr. Im Gegenteil. Wir werden Riesenkuppeln aufstellen, unter denen sich unsere Städte entwickeln werden. Das Vieh wird echte Weide haben, Wasser wird aus Basalt geschmolzen, und Luft ist im Überfluß zu haben. Energie können wir aus den Halbzylinderspiegeln beziehen. Wie ihr seht, ist kein Grund zur Panik vorhanden. Nun das Wichtigste: Robert Crouden ist gestorben, als er versuchte, die Mondstation ohne Anzug zu verlassen. Wir verlieren in ihm einen umsichtigen, nüchternen Stationsleiter. Ich werde versuchen, seinen Platz auszufüllen. Seid nachsichtig mit mir. Die Erde ist tot. Sie wird weder auf unsere Nachrichten warten, noch uns weiter unterstützen. Wir sind einundzwanzig Menschen und ganz allein. Wir sind die Ahnen einer neuen Menschheit, die den Mond besiedeln wird. Heute erleben wir den Anfang dieser 103
Idee. Cobb, du wolltest etwas sagen?« Musgrave, der grauhaarige Mediziner, bahnte sich einen Weg durch die erstarrten Menschen. Er trat neben Ariel und Garry und sah über die Köpfe der Stationsmitglieder auf die graue Mondoberfläche. Dann sprach er seltsam unbetont: »Bevor wir zum erstenmal starteten, war den Leitern und den Psychologen des Projekts vieles klar. Sie wußten, daß Männer und Frauen keine Maschinen sind. Aus diesem Grund und deshalb, weil in dieser Phase der Entwicklung Schwangerschaften nicht praktisch und nicht erwünscht waren, wurden wir vorübergehend unfruchtbar gemacht. In einer Sendung, die mit Garrys Raketen hochgekommen ist, finden sich Medikamente, die diesen Vorgang rückläufig machen. Eheschließungen nimmt der Stationsleiter vor. Wer von euch um Nachwuchs bemüht ist, soll in den nächsten Tagen zu mir kommen. Ich bin mit Claudia im Krankenrevier, um Instrumente und Vorräte zu sichten und zu stapeln. Das wär’s.« Cobb ging wieder zurück. Jetzt sprach Komroy. »Zusammen mit mir wird Ariel einen neuen Arbeitsplan ausarbeiten, der einige Positionen weniger aufzuweisen hat; die Kontakte mit der Erde. Wir brauchen nicht mehr daran zu denken, dort unten Leben in der gewohnten Art vorzufinden. Alle unsere Energien werden sich auf die Kontrolle unseres neuen Lebensraums beschränken. Und hier werden wir unser Bestes geben. Ich nehme an, daß alles gesagt worden ist, was zu sagen war.« »Ich danke dir, Garry«, sagte Ariel. Zögernd zerstreuten sich die Menschen. Lee und Sven begruben Robert Crouden im Mondgestein. Eine Leichtmetallstrebe kennzeichnete sein Grab. Langsam pendelte sich das normale Leben wieder ein; der Grund für das schnelle Überwinden der Depressionen war die Arbeit, mit der die beiden Chefs die Gruppen überhäuften. Draußen im Mare Crisium entstand eine neue, große Stadt. Langsam wölbte sich die erste Kuppel hoch – silberglänzend 104
und halbtransparent. Sie besaß an der Basis aus übereinandergeschichteten und zusammengeschmolzenen Quadern aus Basalt einen offenen Durchmesser von elfhundert Metern. Die Mondmenschen planten in großem Stil. Gustl atmete tief ein und sah den Automaten von der Seite an. Er, Belin, hatte diese Maschine entdeckt. Drei Tage nach der Ansprache Ariels war Belin allein durch das Mare Crisium gefahren. Vor ihm ragten die obersten Zinnen des Gebirgszugs auf, der Crisium von Tranquillitatis trennte. Das Meer der Ruhe barg eine fehlgelandete Frachtrakete, in der sich Vorräte und Samenbehälter befanden. Diese Rakete zu suchen, war Aufgabe des deutschen Mechanikers. Belins Radar sprach an, als er um einen Felsvorsprung bog und den Wagen unter einem überhängenden Dach durchsteuerte. Hinter den Gleisketten senkte sich der jahrmillionenalte Staub. Die glühenden Punkte des Kurzradars verdichteten sich zu einer Figur. Belin wartete einige Drehungen des Schirms ab, ehe er das Periskop benutzte, um im schwachen Erdlicht zu sehen, was dort vor ihm in der Ebene stand. Der Wagen hielt an. Eine kalte Spannung bemächtigte sich des Mechanikers. Der Gegenstand bewegte sich. Belins Hände zuckten hinunter zu den Hebeln der Schaltung. Die Turbine röhrte auf und schob den Wagen rückwärts zwischen Kraterwände hinein, so daß nur das Vorderteil mit dem schwenkbaren Turm heraussah. So wartete Belin, bis sich der Gegenstand näherte. Endlich genügte das schwache Erdlicht, um besser sehen zu können. Gustl glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Die Scheinwerfer sprangen an. Es schien eine menschenähnliche Gestalt zu sein, die sich mit weitausgreifenden Schritten näherte. Immer deutlicher wurde sie; auf dem Metall ihres Raumpanzers schimmerte das Halogenlicht. Belin starrte durch die Linsensätze. Nein, das war kein Anzug. Das Wesen trug das Metall direkt am Körper. Es 105
mußte mehr als zwei Meter groß sein. Irrtum. Jetzt trennten noch hundert Meter den Wagen von dem seltsamen Ding, das aus einer anderen Welt zu kommen schien: Ein Automat, ein Roboter, eine Maschine. Gustl erinnerte sich der Prognosen der Wienerschen Schule. Nichts war unmöglich, wenn es um selbstgesteuerte Automaten ging. Fünfzig Meter. Die Spannung schmerzte. Belin beobachtete, wie sich die Spuren der Maschine lautlos mit dem gleitenden Staub füllten und den Weg wieder zu jungfräulichem Land werden ließen. Das Funkgerät des Desert-car sprang an, ohne daß Gustl es beachtete. Noch zwanzig Meter – zehn – die Maschine hatte den Wagen längst bemerkt und steuerte auf die Leiter des Ausstiegs zu. Jäh hielt der Automat an und sah mit grünen Augen zu Belin hinauf, hob einen Arm bis in Kopfhöhe. Jetzt sah Belin, daß der Roboter nicht viel größer war als er selbst. Irgendwie schien die Situation entspannt und ungefährlich. Belin entsann sich des Funkgeräts und sagte: »Melde mich sofort. Alles in Ordnung.« Dann schloß er das Visier seines Helms. Sofort schaltete sich die Sauerstoffversorgung ein. Belin öffnete die Schleusentür, zwängte sich zwischen die stählernen Platten und wartete auf den Druckausgleich. Dann kletterte er hinaus und stand der Maschine gegenüber. Die grünen Augen glänzten ausdruckslos. Der Robot legte Belin die Hand gegen die Seite des Raumhelms und begann zu sprechen. Er sprach fehlerloses Englisch. »Ich wurde geschickt, um der Mondstation der Erde dieses Schreiben zu überbringen. Bist du von der Station?« Belin unterdrückte mit Mühe ein hysterisches Kichern. »Ja, was denkst denn du?« sagte er laut. »Ich bin eine Maschine des Planeten Apodee. Mein Herr war Beobachter. Er sah den Untergang des Planeten. Hier ist das erklärende Schreiben.« Der Arm der Maschine streckte sich vor, eine mattschim106
mernde Röhre in den schwarzen Fingern. Belin drehte sie unschlüssig und entdeckte den Verschluß. Er nickte hinter dem gelben Sichtglas des Helms und kletterte in die Kabine zurück. Dort öffnete er das Schreiben und las es erst einmal für sich. Er drehte an dem Knopf des Funkgeräts. Der Stationsdienst meldete sich sofort. »Bist du auf eine Goldader gestoßen?« fragte Corry. »Etwas weit Besseres. Hier ist eine unglaubliche Sache. Hör zu.« Und Belin las den Brief vor, wobei er sich fast überschlug. Schließlich stotterte er den Rest herunter. Ariels Stimme war scharf: »Wirf den Robot auf deinen Karren und komme zurück, so schnell es geht. Das ist eine Sache!« Jahrelanges Training hatte die Menschen der Station innerhalb ihrer geistigen Möglichkeiten beweglich gemacht. Die Nachricht, auf einen Roboter gestoßen zu sein, war eine Sensation, rief aber weder Panik noch andere Unsachlichkeiten hervor. »Wird gemacht«, sagte Belin. Eine Minute später wendete der Wagen schleudernd und raste denselben Weg zurück, den er gekommen war. Der Brief wurde ein zweites Mal vorgelesen, als der Robot starr neben Belin und Ariel in der Hauptkuppel stand. »Ihr werdet erstaunt sein über die Maschine, die den Brief zu euch bringt, und erstaunt über den Brief selbst. Ich muß einige Worte zur Einführung schreiben. Ich bin Nibloc Layc, der Beobachter des Galaktischen Rates. Indirekt trage ich die Mitschuld an dem Unglück, das euch und den Heimatplaneten betroffen hat … … alles, was unter der Aluminiumkuppel liegt, gehört euch. Der Automat wird euch hinführen – baut damit euer Leben auf dem Trabanten auf. In hundert Jahren, von heute an gerechnet, werde ich euch besuchen. Ich würde mich über nichts mehr 107
freuen als über die Tatsache, euch in bester Gesundheit hier wiederzufinden. Layc.« Die Insassen der Kuppel starrten sich an. Daß ein außerirdischer Beobachter den dritten Weltkrieg ausgelöst hatte, schien unglaublich. Völlig neue Aspekte taten sich auf. Sofort unterbrach Ariel sämtliche Spekulationen. »Wir werden eine Expedition ausrüsten, hinüber zum Kopernikus, die nachsieht, was sich dort befindet. Oder weiß es der Robot?« »Ich weiß es, Herr«, sagte die Maschine zu Ariel. »Was finden wir dort?« fragte der Chef. »Spezialfahrzeuge mit Anhängern und neunzehn Maschinen meiner Art. Dann …«, es folgte eine schier unendliche Liste von Maschinen, Gegenständen und Vorräten. »Nichts wie hinüber«, sagte Ariel nachdrücklich. ALD – 400 Tage: Jetzt saß Gustl in der Kugelkabine des neuen Fahrzeugs und rollte über den Mondboden. Er hatte die Ladefläche voller Meteorerz, das die hydraulischen Greifer des Schleppers aus dem Bohrloch geholt hatten. Mächtige Scheinwerfer erhellten den Staub. Der Automat steuerte den Wagen. In der Druckkabine herrschte eine warme Atmosphäre – aber die Automaten konnten auch im Vakuum arbeiten, ohne Schaden zu nehmen. Die drei Riesenkuppeln waren fertiggestellt und mit den mächtigen Anlagen versehen worden, die tief im Mondgestein arbeiteten und durch Schächte Wasser, Sauerstoff und kühlen Nebel hochwirbelten, absaugten und reinigten. Eine dieser Kuppeln war »die Landschaft«. Sie hatten einen Garten angelegt. Wasser floß als Bach in Schlangenlinien durch den Kreis des Kuppelbodens und fiel über einen schimmernden Mondfelsen. Mondstaub, mit irdischer Erde, Bodenbakterien und Düngemitteln vermischt und durch künstlichen Bodenmull aufge108
lockert, bewässert und mit Pflanzensamen durchsetzt, bildete innerhalb von Wochen einen dichten, grünen Teppich. Künstlich erzeugter Regen fiel in bestimmtem Rhythmus von der Kuppeldecke, manchmal entluden sich Blitze, die die Luft mit Ozon anreicherten. Eine Turbine erzeugte Wind. Die Sonne tat ihr Werk, um die Pflanzen wachsen und blühen zu lassen. Sublunare Gänge verbanden die Kuppeln untereinander und mit der Station. Hier weideten Zwergrinder, die inzwischen zu einer kleinen Herde geworden waren, hier sprangen Kaninchen herum, und ein Mann betrieb eine Schweinezucht. Abgegrenzte Wege und kleine Bäume, die in der geringen Schwerkraft schneller gewachsen waren als auf der Erde, schufen die Illusion einer irdischen Landschaft. Manchmal roch es nach frischem Dünger – aber es gab niemanden, den es störte. Die zweite Kuppel, die »Stadt«, war volltransparent, konnte aber mit Spezialflüssigkeit verdunkelt werden. Hier standen zwölf Häuser, die großzügig auf Zuwachs geplant worden waren. Architekt: Ariel McKechnie. Die zwanzig Roboter hatten ununterbrochen gearbeitet und diese Kuppel binnen eines Monats aufgestellt und ausgebaut. Sie arbeiteten vierundzwanzig Stunden am Tag. Sie machten nur Fehler, wenn man ihnen falsche Befehle gegeben hatte. »Ich sehe eine einzige Gefahr«, sagte Ariel, während er mit Garry Komroy in der angenehmen, warmen und sauerstoffreichen Luft der Stadt zu dem Nachrichtengebäude ging. »Worin sollte sie liegen?« fragte Garry ungläubig. »Darin, daß wir eines Tages nichts mehr zu arbeiten haben werden. Die Automaten nehmen uns die Arbeit weg und werden uns in der Zukunft faul machen. Wir brauchen nur noch ein Jahrzehnt, um hier alles getan zu haben. Dann …« Garry lächelte. »Es wird sich jemand finden, der die Automaten außer Betrieb setzen kann. Punkt eins. Zwei: Die Kinder. Es sind bereits zehn. In einigen Jahren werden wir eine Schule 109
brauchen. Und Lehrer. Nicht alles werden die Maschinen können, auch wenn sie auf ›intellektuellen Massezuwachs‹ programmiert sind, wie uns unser unbekannter Freund Nibloc schriftlich versicherte. Punkt drei: Der Mond ist noch unerforscht. Das ist unsere andere Aufgabe. Es ist nicht notwendig, sich Sorgen zu machen.« »Ich hoffe, daß du recht behältst. Ich wünsche es jedenfalls.« »Bestimmt«, antwortete Garry dem Chef. »Ich werde alles tun, um ein Nachlassen der schöpferischen Kräfte zu verhindern.« »Das weiß ich«, schloß Ariel. Das Nachrichtengebäude trug seinen Namen nicht zu Recht; es war Versammlungslokal, Bibliothek für Forschung und Wissen, Steuerzentrum für die Siedlung und Knotenpunkt von sechs Dutzend verschiedener Leitungen, die wie die Fäden eines Spinnennetzes von hier aus nach allen Teilen des besiedelten Gebiets griffen und jede Veränderung meldeten oder kontrollierten. In diesem zweckmäßigen Flachbau, dessen Anlagen sich ebenfalls unter der Oberfläche befanden, stand das unersetzliche elektronische Vermögen der Station. Auch in der Stadt wuchsen Bäume, Sträucher und Gräser. Man sah zu, wie sich Blüten öffneten und Blätter entfalteten. Es waren Oasen wachsenden Lebens in der toten Umgebung. Die dritte Kuppel beherbergte Maschinen und Energieerzeuger. Hier standen die mächtigen Lastfahrzeuge des Sternenschiffs, Laderampen für die Wasserschmelzanlage. Da waren Desertcars, die Umformer und die Bleche und Träger, die man gesammelt, umgeschmolzen oder neu hergestellt hatte. Die meisten Einrichtungsstücke stammten aus den Maschinenhallen des Sternenschiffs. Die Maschinen, die aus Mondgestein und Silikaten alle möglichen Arten von Kunststoff erzeugten, Drehbänke und Drahtziehmaschinen und vieles andere standen hier und wurden von dem Kleinreaktor gespeist, ebenfalls ein Geschenk Niblocs. 110
Wieder hatte der Mensch mit Überlegung und Tüchtigkeit sich einen neuen Lebensraum geschaffen. In Jahrzehnten würde es anders aussehen. ALD – 75 Jahre: Nach dem Zusammenbruch der Kulturepoche beginnt eine Phase des Aufbaus. Alte Ordnungen werden umgeworfen, neue Ordnungen ausprobiert. Langsam verdichtete sich aus Zusammenbruch und Chaos eine neue Form. Darüber vergeht viel Zeit. Je nach Größe der niedergegangenen Kultur dauert es länger, bis sich die neue Richtung herauskristallisiert hat: fünfundsiebzig Jahre. Von den einundzwanzig Personen um Ariel McKechnie und Carol Mauning lebte niemand mehr. Sie waren nacheinander gestorben, die blonde Karen Imbaud als letzte. Kinder und Enkel der ersten Generation bevölkerten heute die Kuppeln. Insgesamt lebten siebzig Menschen hier und neunzehn Automaten. Ein Robot lag unter einem Berg, der wegen der Röhrenbahn gesprengt werden mußte. Aber das war vor der Geburt Lee McKechnies geschehen. Der sechsundvierzigjährige Ingenieur lehnte sich zurück und sah durch die Doppelscheibe der Nachrichtenstation II hinaus auf die Wand des Kraters Posidonius. Sie lag im Licht der vollen Sonne. Die Erde hing wie ein dunkler Ballon vor der strahlenden Kugel des Zentralgestirns. Lee wischte sich über die Stirn. Alles war so groß – zu groß. »Die erste Generation hat gearbeitet, als wollte sie den Mond in eine zweite Erde verwandeln. Für uns ist nichts mehr übriggeblieben«, sagte Lee verzweifelt. Er hatte seit Jahren mit diesen Problemen zu tun gehabt. »Teilweise hast du recht, Lee«, sagte die Stimme aus dem dreidimensional wiedergebenden Kontaktschirm. In Tonika Belin hatten sich die Erbfaktoren Gustl Belins und Tonika Shentons zu einer glücklichen Mischung vereinigt; schlank, groß und von thailändischem Reiz. Im Hintergrund spielte Car111
ry, ihre Tochter, mit ihrer zerschlissenen Plastikpuppe. »Jede Generation hat ihre eigene Aufgabe gehabt. Wir warten auf unsere. Irgendwann wird uns eine Frage gestellt werden, die wir zu beantworten haben.« Tonika betonte das »wir«. »Hoffentlich läßt sich der unbekannte Frager nicht allzu lange Zeit. Sonst erleben es erst unsere Kinder«, erwiderte Lee trocken. Tonika lachte leise. »Du hast die Ungeduld deiner Mutter geerbt.« »Nicht einmal deine Erziehungsversuche haben es geschafft, mich zu einem Philosophen zu machen«, sagte Lee angriffslustig. »Im Ernst. Sie haben – unsere Väter – den Mond erschlossen. Es gibt wenig, was wir über Luna nicht wissen.« Tonika nickte zustimmend. »Sie haben die Mondoberfläche perforiert und mit Schächten durchzogen, haben unter Riesenkuppeln Wälder geschaffen, deren Wurzeln den Mondboden aufgebrochen und fruchtbar gemacht haben, auch ohne terranische Erde – sie haben Mutationen geschaffen, die im BeinaheVakuum leben können – was bleibt uns zu tun?« »Die Früchte ihrer Arbeit genießen und weitermachen. Schließlich ist es unser neuer Planet.« »Stimmt«, sagte Lee ärgerlich. Auf seiner Stirn erschien die senkrechte Denkfalte der McKechnies. »Sogar das Schulsystem und die Lehrpläne für die Kindeskinder unserer Urenkel stammen aus dieser Generation.« »Du suchst also nach Arbeit«, stellte Tonika fest. »Versuche doch, die Sache umzukehren. Vervollkommne deine historischen Kenntnisse, benutze Observatorium II und stelle fest, ob auf der Erde Leben ist. Wenn du hier keine Arbeit hast, suche sie dir außerhalb deines Lebenskreises. Aber versuche nicht, zu übertreiben. Denke daran, daß du ein Familienleben hast.« »Wofür ich dir ziemlich dankbar bin, mein Schatz«, sagte Lee und lächelte. »Ziemlich?« »Mein Gott«, sagte Lee und lachte, »nach zwanzig Jahren 112
Eheleben kann man nicht einmal von einem McKechnie verlangen, daß er balzt wie ein Auerhahn.« »Im Ernst«, schränkte Tonika ein, »das ist eine echte Aufgabe.« »Im Ernst«, antwortete Lee und nickte zustimmend, »ich werde mir diesen Vorschlag genau überlegen.« »Das freut mich«, antwortete Tonika lächelnd, »denn bis jetzt sind noch alle meine Vorschläge angenommen worden.« »Worauf bist du eigentlich so eingebildet?« fragte der Ingenieur. »Auf dich«, sagte Tonika und trennte die Verbindung. Lee McKechnie dachte über den Vorschlag seiner Frau nach. Dieses Mal schien es, als erfülle sich Lee einen langgehegten Wunsch. Er hatte seit Monaten regelmäßig von der Erde geträumt. In den phantastischen Landschaften seiner Träume waren ebenso phantastische Menschen aufgetaucht, die versucht hatten, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Jetzt stürzte er sich auf die Quellen, die das Observatorium I besaß. Was dort in radioaktiver Glut leuchtete, gehörte für die Mondsiedlung der Geschichte an. Lee suchte eine Woche lang Filme hervor, die sich mit der Erde und der damaligen Strategie befaßten. Er holte Landkarten, auf denen tägliche Veränderungen angezeichnet worden waren, und studierte die landschaftlichen Verhältnisse. Dann verbrachte Lee einige Zeit damit, die Photos der zerstörten Erde zu vergrößern. Eine mühselige Arbeit, trotz der Computerunterstützung. Nach einem Monat war die Generalkarte fertig. Sie sah wesentlich anders aus als die, auf welcher man Gebirgszüge, Wüsten und Meere sah – zerrissener und mit riesigen, runden Kratern bedeckt. Lee ließ sich die Daten der abgefeuerten Atomwaffenträger geben, stellte die Kapazitäten beider Raketenverteidigungsgürtel zusammen und rechnete die Kapazität der Bomben aus, die Landschaft und Städte verbrannt hatten. 113
Dann errechnete die Elektronik die Stärke der immer noch wirksamen Gamma- und Betastrahlung und kam auf einen unglaublich hohen Wert. Ein roter Zirkel beschrieb unermüdlich Kreise, bis der Großteil der Erde mit jenen blutroten Wundmalen bedeckt war. Dabei stellte sich heraus, daß es Zonen gab, in denen niemals Primärstrahlung geherrscht hatte: die Nordküste des europäischen Festlands – also Nordrußland, Finnland und ein Teil Japans, die Südspitze Australiens, Feuerland und ein großer Fleck des südöstlichen Afrikas. Thailand, Borneo und Sumatra waren nicht von Bomben zerstört worden, genau wie auch ein Teil Mexikos und ein Abschnitt Alaskas. In der Südsee mußten noch ganze Inselgruppen existieren. Die chinesisch-indische Grenze war ebenfalls nicht von Bombenkratern zerrissen. Lee wartete, bis die Nacht über den bewohnten Teil des Mondes fiel. Außer seiner Frau wußte noch niemand, was Lee vorhatte. Aber spätestens, als er sein Dauerlager im Observatorium II aufschlug, erfuhren es die anderen. Die unmittelbare Folge für die Doppelwache jenseits des Kraterrands war, daß die Leitungen des Observatoriums einen Tag lang blockiert waren. Das Phänomen nahm Gestalt an. Fast alle Mitglieder der Station hatten denselben Traum gehabt, der auch Lee gequält hatte. Auch ihnen waren phantastische Menschen begegnet, die vergeblich nach Kontakten gerufen hatten. In Lees Überlegungen verdichtete sich eine Idee. Er stellte fest, daß die Intervalle zwischen den Nächten, in denen die Alpträume die Menschen überfallen hatten, gleich lang waren. Die Idee wurde klarer und genauer umrissen. Jetzt war es schon fast eine Gewißheit – unausgegoren, aber zwingend. Endlich hörten die Anrufe auf. Lee McKechnie und Dominique Naira blieben allein im Observatorium zurück. Der Fünfmeterspiegel schwenkte herum und richtete das Zentrum seiner Linsen auf die Erde. Zusammen mit den Robotern hatten die Väter ein hochwertiges Spezialinstrument ge114
schaffen. Es erwies sich als ausreichend. Die Landschaft der Erde erschien auf dem großen Schirm. Lee betrachtete zusammen mit Dominique die Flächen. Hier hatte eine entfesselte, mutierte Pflanzenwelt Besitz von radioaktiven Wüsten ergriffen und war dabei, sich wuchernd auszubreiten. Riesenbäume mit krankhaftem Wachstum stachen mit großen Wipfeln ins Bild hinein. Korkenzieherartig waren Äste gekrümmt; die Blätter erschienen unglaublich groß. Man konnte nicht erkennen, was unterhalb der dichten Baumkronen vor sich ging. Die Spiegelanlage machte eine winzige Schwenkung. Das Bild verschob sich um Kilometer. Hier war Wüste. Weißer Sand, der in höchster Gammastrahlung glühte, hatte sich zwischen den Bergkuppen, die seltsam zerrissen und zersplittert aussahen, wie das Wasser einer Überschwemmung ausgedehnt. Nichts wuchs hier – weder mutierte Moose noch Gräser. »Das sieht furchtbar aus, Lee«, flüsterte Dominique. »Ich bin überzeugt, daß wir eines Tages Leben vorfinden werden«, sagte Lee hartnäckig. »Wenn schon die einfachen Chromosomensätze der Flora diese grauenhaften Schäden aufweisen, wie werden erst die komplizierten Sätze von Menschen durch die Strahlung gelitten haben.« Dominique bewegte die Steuerung um einen Millimeter. Wieder verschob sich das Bild. In der Vergrößerung zeigten sich unverkennbar die Spuren von einem Raupenschlepper oder einem Fahrzeug, das auf Gleisketten fuhr. Sie führte über eine Bergkuppe hinweg, zog sich in Schlangenlinien durch ein Tal, in dem ein spärlicher Bach den Kies sauberwusch, und verschwand unter den ersten Riesengewächsen eines mutierten Waldes. »Nimm die andere Richtung.« Lees Stimme war heiser vor Erregung. Dominique hantierte an der Steuerung. In der atemlosen Stille des Observatoriums II war das Winseln hochtouri115
ger Elektromotoren das einzige Geräusch. Endlich schwenkte der Spiegel herum und glitt denselben Weg zurück. Die Spuren verliefen durch das Bild des Schirms und führten um bewegungsloses Wasser herum, auf dem jenseitigen Kraterrand wieder hinauf und herunter in eine Ebene, die mit meterhohem Gras bewachsen war. Das Auflösungsvermögen des Geräts war erstaunlich. Die Ebene war dort, wo früher Südwestafrika gelegen hatte. Hier hatten die Auswirkungen der Sekundärstrahlung und des radioaktiven Fallouts die Flora in erschreckendem Maße verändert. Die Gräser sahen verrückt aus. »Und das Erstaunliche ist, daß man keinerlei Gesetzmäßigkeiten vermuten kann. Jede Pflanze kann auf andere Art mutiert sein. Sollten wir eines Tages dort landen«, sagte Lee mit starren Augen, »werden wir eine derartige Vielfalt der Arten feststellen, daß jeder Klassifizierungsversuch zum Scheitern verurteilt ist.« Dominique nickte. Sie verfolgten die Spuren des Schleppers. »Wie breit sind die Spuren?« fragte Lee. Die Frau rechnete, zog dann erstaunt die Augenbrauen hoch. »Unglaublich«, sagte sie und rechnete noch einmal nach. »Es muß ein Riesenfahrzeug sein. Ist dir etwas darüber bekannt?« Lee schüttelte den Kopf. »Ich habe mich in den vergangenen Monaten intensiv mit der technischen Geschichte der Menschheit befaßt. Es war natürlich möglich, derartig große Fahrzeuge zu bauen, aber es bestand keinerlei Notwendigkeit. Straßen wären für einen solchen Typ zu wenig breit. Im freien Gelände zog man kleinere Typen vor. Das größte Ding dieser Art war eine Maschine, die sich vorn durch die Landschaft fraß und hinten eine fertige Silikatstraße hinterließ. Kaum denkbar, daß sich die Nachkommen unserer Ahnen mit eineinhalb Kilometern in der Stunde fortbewegen würden.« Das Fahrzeug mußte fast doppelt so groß sein wie das Planetenfahrzeug, daß der Mann von Apodee der Mondstation geschenkt hatte. Langsam ging auf der Erde die Sonne unter. Die 116
Schatten verlängerten sich ins Unendliche und verschmolzen mit der Dämmerung. Ein schwefeliges Leuchten erhellte das Bild. Es waren Zonen der leuchtenden Radioaktivität, die in der Dunkelheit aufleuchteten. Dominique schaltete ab. Die Menschen sahen sich schweigend an. »Es ist unfaßbar«, sagte Lee nachdenklich, »daß unsere Väter und Mütter nicht vor fünfundsiebzig Jahren jede Vernunft über Bord warfen und einfach die Sauerstoffanlage abschalteten. Hast du schon einmal die Protokollfilme gesehen?« Dominique schüttelte den Kopf. »Es ist die furchtbarste Chronik der Vernichtung, die du dir vorstellen kannst. Ein Inferno von Flammen, Blitzen und Erdmassen, die sich in Form gewaltiger Pilze in der Luft befanden. Ich verstehe, weshalb man unsere Kinder jüngste Geschichte nur in kleinen Dosen lehrt.« »Und trotzdem«, sagte die Frau, »befanden sich Bunker unter der Erde, Befehlsstände und Tiefstkeller. Alle Menschen dort sind zunächst mit dem Leben davongekommen. Sie waren Eltern und Großeltern derjenigen, deren Spuren wir heute sahen.« »Machen wir für heute Schluß und kommen morgen wieder«, sagte Lee und stand auf. Dominique schob ihren Sessel nach hinten. Sie schlossen die Schleuse hinter sich, als sie den breiten Verbindungsgang betraten. Die kuppelartige Halle nahm die beiden auf, die sich gegenseitig in die Raumanzüge halfen. Dann schob sich in einer Sechspersonenschleuse die letzte Tür zum Vakuum auf. Der schlanke Kunststofftropfen fuhr auf Rollenlagern und wurde von einem Elektromotor angetrieben. Der Motor lief an, als Lee den Fahrthebel betätigte. Sie brauchten vom Posidonius bis ins Mare Crisium, wo die Stadt stand, nicht ganz eine Stunde. Ohne störenden Luftwiderstand raste der Tropfen durch den Gang. In weitem Bogen schwang die Bahn unter dem Boden des Meeres der Heiterkeit dahin; die Löcher in der Gangdecke verschmolzen zu einem einzigen Streifen, durch den das matte Licht der Sterne hereinschimmerte. 117
Dann umrundete die Röhre den letzten, kleinen Krater, der sich in dem gebirgigen Ausläufer zwischen den Meeren der Heiterkeit und der Ruhe befand, und ging in einer steilen Rampe bis hinauf an die Oberfläche. Die Lichter des Bahnhofs kamen näher. Lee verringerte die Fahrt, bis sich die Rampen hochschoben. Die Röhre endete blind. »Wir sind da«, sagte Lee trocken. Außer ihnen befand sich nur noch ein unermüdlicher Automat in der Halle, der die Wagen nachsah und säuberte. Die Treppen lagen verlassen unter gelbem Licht. Die Familien erwarteten Dominique und Lee. Am oberen Ende der Treppe schüttelte Lee der Frau die Hand. »Darf ich morgen wieder auf dich rechnen?« »Gern, Lee.« Sie verabschiedeten sich. Die gesamte Mondnacht über vertieften sich die Menschen in ihre Arbeit. Sie suchten systematisch alle Flächen der Erde ab, die zu den Zonen gehörten, in denen keine Bomben gefallen waren. Sie fanden Spuren, aber keine Menschen, die jene Spuren hinterlassen hatten. Bis jetzt schien es, als ob sich die Menschen scheuten, ans Tageslicht hinauszugehen. Zwölf Nächte lang suchten die Linsen die Erde ab. Sie kontrollierten jeden Quadratkilometer von Feuerland, Afrika, Asien und Japan, sahen Wälder, die Mexiko bedeckten, und schweiften über die Schneewüsten Alaskas. Die Inseln der Südsee stellten sich als ein riesiges Plateau heraus, das im Zuge einer Eruption einen Teil der Inselwelt zu solidem Festland gemacht hatte. Die nordindische Welt wurde abgesucht und die gesamte Nordgrenze des europäischen Festlands. In der neuen Karte des irdischen Lebens waren Bunker verzeichnet, die tief unter der Erde liegen mußten. Dort hatte man Spuren herauskommen sehen, die sich wie die Sprünge eines zerbrochenen Glases voneinander entfernten. Aber niemals war eines der riesigen Fahrzeuge aufgetaucht, niemals ein Mensch, niemals eine Jägergruppe. 118
Eines Abends … Lee saß mit seinen Kindern und seiner Frau beim Essen. Er sah auf die Uhr und schaltete den Schirm des Kommunikators ein. Die Abendnachrichten. Die bemerkenswert hübsche Tochter von Musgraves Sohn war die Sprecherin. Sie saß in einem modischen Kleid eigener Fertigung vor den Linsen und las ab, was sich während des Tages auf dem Mond zugetragen hatte. Es war, mit geringen Variationen, immer das gleiche. Dort wurde gearbeitet, dort grub man einen Meteor aus, dort hatten sich Pflanzen oder Moospolster weiter ausgebreitet. Dann kam eine Übersicht über die Tätigkeit McKechnies und Dominiques. Die letzte Meldung: »Und die Nachrichtenzentrale bittet, auf die Kinder aufzupassen. So sehr, auch begrüßt wird, daß sich Kinder für die elektronische Technik begeistern – es ist nicht nötig, daß sie den alten Fernschreiber der Nachrichtenstation I betätigen. Wir bitten die Eltern, ihren Sprößlingen dringende Anordnungen zu erteilen. Wir wünschen eine angenehme Nacht. Morgen früh meldet sich die Sprechstelle wieder. Anschließend bringen wir Musik. Wir schalten um auf Individualempfang.« Sie machte es gut, die kleine Musgrave. »Diese Kinder«, sagte Tonika und schüttelte den Kopf. »Warst du am Fernschreiber?« Mike schüttelte den Kopf und sagte mit vollem Mund etwas, das er vier Sekunden später deutlicher wiederholte. Ein vager Verdacht stieg in Lee hoch. Er sagte nichts und entschuldigte sich nach dem Essen. Den Weg zur alten Nachrichtenzentrale fand er auch im Dunkeln. Zehn Minuten später stand Lee, eine unangezündete Zigarette im Mundwinkel, vor dem alten Gerät, das seit fünfundsiebzig Jahren nicht mehr benutzt worden war. Staub lag auf der Platte und auf den Tasten. Nur oben, wo sich das Laserdruckerpapier hervorschob, hatte jemand hingefaßt. Man sah die Fingerabdrücke. Lee zog sich mit dem Fuß einen Schemel heran und staubte 119
ihn ab. Er versuchte, detektivische Fähigkeiten zu entwickeln. Kein Staub auf dem Deckel, der über das Pult gelegt war. Die Arbeit eines Roboters, der die Geräte von Zeit zu Zeit außen reinigte. Das war klar. Die Tastatur: verstaubt. Natürlich, denn der Deckel wurde niemals abgehoben. Man hatte keine Teleradarkontakte mit der Erde. Also war es unmöglich, daß ein spielendes Kind die Tasten berührt hatte. Also … … mußte die Gegenstelle die Tasten ihres Geräts berührt haben. Die Gegenstelle befand sich in einem Tiefschacht von Kap Canaveral in der Leitzentrale. Also gab es intelligentes Leben auf der Erde? Diese Folgerung war zu kühn. Ein Tier konnte über die Tastatur gelaufen sein. Natürlich schaltete die Apparatur dieser Geräte in Katastrophenfällen auf Batteriebetrieb um. Konnte eine Batterie drei Viertel eines Jahrhunderts aushalten, ohne ihre Leistung zu erschöpfen oder kurzzuschließen? Lee wählte einen dreinummerigen Anschluß. Jean Young meldete sich, der fähigste Techniker, den die Station besaß. »Jean! Hier Lee. Ich habe eine Frage.« »Schieß los. Was soll’s sein?« »Welche Art von Batterien waren technisch am meisten ausgereift, als die Erde unterging?« fragte Lee gespannt. Es folgte eine exakte Beschreibung verschiedener Typen, dann die Folgerung. »Also ist es möglich, daß dort unten noch eine dieser Aggregatsammlungen intakt ist?« fragte Lee, fast ungläubig. »Durchaus, Lee. Was willst du damit – ahh, ich verstehe. Das Teleradar?« »Genau«, sagte Lee kurz. »Kommst du herüber?« »Moment.« Lee wartete. Jean Young hatte von seinem Großvater den schlaksigen Gang geerbt und von seiner Mutter die schwarzen Augen und eine merkwürdige Art, seine Hände zu bewegen. Man dachte stets an Kreise, wenn Jean etwas mit Gesten unter120
strich. Er war sechsundzwanzig Jahre alt. »Du meinst also«, sagte Jean und zündete Lees Zigarette an. »Du glaubst, daß dort unten jemand die Tasten gedrückt hat?« »Ich bin geneigt, nicht gerade das Gegenteil anzunehmen, Jean.« »Hmmm.« Jean riß die schneeweiße Kunststoffolie ab, die, mit wirren Schriftzeichen bedeckt, aus einem Schlitz des Automaten hervorgequollen war. Auch dieses Gerät stand unter Strom. »asdfg vbnm – xxcvyb?« »Es sieht so aus, als habe jemand die Tastatur entdeckt und wahllos Tasten hinuntergedrückt. Absicht oder Zufall – war es Mensch oder Tier?« Jean starrte den Apparat an, als wolle er ihn mit den Augen röntgen. Lee wußte, weil er im Lauf seines Lebens mit fast jedem Mann der Station zusammengearbeitet hatte, daß sich Jean jetzt vorzustellen versuchte, wie es in einem betongepanzerten Keller in dreihundertsechsundachtzigtausend Kilometer Entfernung aussehen konnte. Dann öffnete Jean verschlafen seine Augen und sah Lee an. »Versuchen wir’s doch«, schlug er vor. Lee nickte und zog seinen Stuhl vor das Pult. Einen Moment lang schwebten seine Hände über den weißen Kunststoffblöcken, dann fuhren die Finger nieder. Rufknopf. Vorwählzeichen. Text. »please contact – please contact – luna here …« Zehn Minuten lang wiederholte Lee diese beiden Wortkombinationen. Dann drückte er noch einmal lange den Rufknopf. Jean rauchte seine zweite Zigarette und sah Lee an. »Nachtwache vor dem Gerät?« schlug er vor. »Wirst du nicht erwartet?« fragte Lee zurück. »Mir ist es recht.« »Verständigen wir unsere Frauen«, sagte Jean und nahm den Hörer aus der federnden Halterung in der Wand. Er wählte, sagte zwei Sätze in die Muschel und verständigte seine junge 121
Frau. »Wir bekommen in einer halben Stunde per Automat eine Riesenkanne heißen Kaffee. Auch damit hoffe ich einen berechtigten Wunsch zu erfüllen.« »Du bist der kluge Sohn eines gescheiten Vaters«, lobte Lee den Jüngeren. Jean grinste zurück. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als wieder zu warten. Die Minuten vergingen in Schweigen. Als der Automat erschien und ein Tablett mit Tassen und einer heißen Kanne abstellte, saßen die Männer immer noch da und starrten den Fernschreiber an, als erwarteten sie, daß der Kasten zum Leben erwachen sollte. Sie warteten auf ein Lebenszeichen von der Erde.
6. »… sucht heim der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied.« Bibel. II. Buch Mose. Kap. 20, Vers 5.
Seit vier Tagen bewegte sich der Schlepper durch die Savanne. Er fuhr ununterbrochen – aber nur in der Nacht. Tagsüber schliefen die Sucher. Das Licht des Vollmonds lag über dem unübersehbar leeren Grasmeer. Es erstreckte sich als eine Reihe von flachen Kratern bis an den Horizont. Mit der Zeit waren die Wälle eingefallen und von mutierten Gräsern überwachsen worden. Vor den Augen Mels aus dem Großklan Haysh, verstärkt durch die Schirme der Restlichtverstärker, lag die Landschaft wie im Tageslicht. Die Wellen, die das Gerät aussandte, verwandelten Licht in Schatten und Schatten in Licht, Wärme in Bewegung und Feuer in eine blaue Flamme auf dem Schirm. Seit vier Tagen war diese Farbe nicht aufgeflackert. Der Schlepper war ein Monstrum. Zwei Reihen von je acht 122
Rollenrädern, breiter als Gleisketten und mit unzerstörbarem Kunststoffprofil, wurden von einem Atommotor mit zweitausend Pferdestärken angetrieben. Über diesen schwarzen Walzen saß die Sucherkabine; ein an den Kanten abgerundeter Kasten, der konkav geschwungene Scheiben nach allen vier Seiten hatte. Eine von ihnen war als Tür ausgebildet. Hinter diesem Kasten befand sich die Nutzlast – die großen Kabinen und die Vorräte für das Sucherteam. Seit einigen Jahren wählten Männer aus den verschiedenen Klans den gefährlichen Beruf der Sucher. Sie suchten nach Feuer. Wenn sie Feuer fanden, hatten sie auch Leben gefunden. Das Leben, das sie fanden, unterschied sich meistens von den Formen, die sie bisher kannten, und war gefährlich. Wenn Menschen in raubtierähnliche Wesen mutierten, paart sich Grausamkeit mit Intelligenz. Die Bahn, die der Schlepper hinter sich ließ, war über zwanzig Meter breit. Es gab kaum natürliche Hindernisse für den Koloß, die nicht überwunden werden konnten. Die Mannschaft hinter dem Steuer und den Sucherschirmen war seit sechs Mondphasen unterwegs. Sie hatte Erfolg gehabt. Jetzt allerdings schien es, als ob sie ihr Glück im Stich gelassen hätte. Oder die Jagdgründe waren nicht genügend besiedelt. Vor einem halben Jahr war der Schlepper mit neugefülltem Reaktor und ergänzten Vorräten von Haysh Basis aufgebrochen, nach Osten. Die Zeit, sich zu sammeln, war reif. Siebzig Jahre nach Null bot die Erde das Bild eines Planeten, der niemals Berge oder große Hügel gekannt hatte. Es gab vier Landschaftsformen: Nackte Felsen, die aus Sanddünen hervorstachen, endlose Savannen aus Mutationsgräsern, Dschungel und kahle Wüsten, die in der Nacht leuchteten. Nur im Dschungel und in den Savannen war Leben möglich. Hier fand man die verschiedensten Formen von Tiergattungen, die vor Null die Erde bevölkert hatten. Hier lebten Menschen, deren Eltern und Großeltern die Katastrophe überstanden hat123
ten. Es waren fast ausnahmslos Mutanten. Mel und seine Partner Kay und Lod gehörten zu der Gruppe der positiven Mutanten. Sie sahen aus wie die Bilder, die man unter den Trümmern gefunden hatte. Mel, hager und tiefgebräunt, hatte leuchtende, blaue Augen. Sein Schädel war völlig kahl bis auf die weißen Augenbrauen. Kennzeichnend für die Angehörigen des Klan Haysh war die Hakennase. Kay sah fast ebenso aus wie Mel. Er unterschied sich nur durch die Fülle langen, schwarzen Haares von seinen Partnern. Lod zeigte unverkennbar asiatische Züge, sonst war er ebenso schlank und sehnig. Die drei Sucher verstanden sich ausgezeichnet. Sie besaßen gemeinsame Begabungen. Jeder von ihnen war Esper. Sonst hätten sie auch keine Sucher werden können. Es gab nichts, was ihnen entging, hatten sie erst einmal eine der vielen Lebensformen aufgespürt. Sie orientierten sich an den Wellen, die an ihre inneren Ohren drangen. Seit vier Tagen war der Äther verstummt. Und wie ein wandernder Dinosaurier schob sich der Schlepper unaufhaltsam entlang der Küste des Landes nach Osten, das einmal Rußland geheißen hatte. Hier war eine Zone, in der man keine Primärstrahlung gemessen hatte. Dreihundert Kilometer weit reichte diese Zone; jenseits der Grasebene mit den Wäldern wildrankender Bäume lag die Zone des leuchtenden Todes. Dort vermochte nicht einmal mutiertes Moos zu wachsen. Dort würde noch zehntausend Jahre später nichts wachsen. Jeder Esper fürchtete diese Zone. »Es scheint, als hätten sich die Stämme gesammelt und wären nach Osten gezogen – falls hier jemand gesiedelt hat.« Mel blickte in die dunklen Augen Kays. Er nickte langsam und wies hinaus. »Ich vermute, daß hier nomadisierende Gruppen umherziehen. Ich kann nicht glauben, daß sich hier Siedlungen lange halten. Die Gegend ist zu arm und kann nicht viel Nahrung 124
bieten«, antwortete Mel, der Sucher, dem Steuermann. Kay stimmte zu. »Rufen wir die anderen Schlepper, ob denen etwas aufgefallen ist«, schlug Lod vor. Alle waren damit einverstanden. Lod, der beste Esper der Gruppe, schaltete sein Suchgerät ab. Kay hielt den Schlepper an und lehnte sich bequem in seinem breiten Sessel zurück. Lods Gedanken griffen wie tastende Finger hinaus und suchten nach zwei anderen Schleppern, die rechts und links von ihnen das Land erforschten. Einer der Kolosse suchte an der Nordküste, der andere weiter landeinwärts. Lods sechster Sinn erfaßte die Wellen, die andere Hirne ausstrahlten, und hatte sein Ziel gefunden. Die unhörbare Unterhaltung dauerte nicht länger als einige Sekunden, dann herrschte Klarheit. Auch die beiden anderen Fahrzeuge hatten seit vier Tagen nichts gefunden. Nur Tiere in Rudeln und die Gerippe lebensuntüchtiger Riesenformen. »Nichts«, sagte Lod schulterzuckend. »Suchen wir weiter.« Sie hatten immer noch nichts aufgespürt, als sie ihren Schlepper am Morgen unter eine Baumgruppe fuhren und den Atomreaktor abschalteten. Mel kroch als erster in seine Koje. Er öffnete das Dach über seinem Lager und sah so lange hinaus, bis er eingeschlafen war. Elf Stunden später … Es begann zu dämmern. Mel, Lod und Kay saßen in ihren Stahlstühlen neben der gläsernen Kanzel der Riesenmaschine. Die automatische Küche hatte Teller und Becher ausgeworfen, mit Nahrungsmitteln und Getränken gefüllt. Aus dem Boden schob sich die Tischplatte. Mel entfernte ein totes Rieseninsekt von der Platte und wartete, bis der Stahlarm der Automatik den Tisch gesäubert und die Becher daraufgestellt hatte. Endlich brach einer der Männer das Schweigen. »Ich espere, daß wir heute etwas finden. Ich weiß nicht, was es ist, aber es wird gegen Mitternacht geschehen.« Lod stellte seinen Becher ab. Kay lachte und wies auf das Land, das sich um die Bauminsel ausbreitete. 125
»Ist es nicht schön, trotz der Gleichförmigkeit?« fragte er und schlug die Beine übereinander. »So ist es«, sagte Lod undeutlich, denn er kaute. Rund um den zehn Meter hohen stählernen Giganten erstreckte sich die Grasebene. In den letzten Strahlen der Sonne glitzerten Perlen auf den Halmen. Abendnebel stiegen auf. Hinter Wolken, die ein verwirrendes Farbenspiel zeigten, versank die Sonnenscheibe. Lange noch dauerte es, bis der Mond und die Sterne am Himmel erschienen. Lod schaltete durch eine Handbewegung die Beleuchtung an. Irgendwo zwischen den Gräsern röhrte ein wildes Tier. »Die Jagd kann beginnen«, sagte Mel und warf den leeren Becher über das Begrenzungsgitter der Plattform. Die sehnige Gestalt des Suchers dehnte sich und erstarrte in Erwartung der kommenden Fahrt. »Nur nicht übertreiben«, warnte Lod scherzhaft. »Wir kommen noch früh genug zu negativen Ergebnissen.« Die acht Walzen begannen sich zu drehen, als die volle Leistung des Reaktorgetriebes eingesetzt wurde. Wie ein urweltliches Tier brach der Schlepper unter den peitschenähnlichen Zweigen hervor, drehte und ging auf Ostkurs. Klickend sprangen die Wärmesuchgeräte an. Wieder steuerte Kay den Riesen. Mel und Lod saßen vor ihren Breitwandschirmen. Je hundertachtzig Grad eines Kreises von hundert Kilometern wurden von einem Schirm erfaßt. Skalen und Uhren zeigten Entfernungen an. »Ich habe dieses Gefühl immer noch«, sagte Mel. »Ich espere einen kleinen Volksstamm von hundert Leuten, die jetzt auf der Wanderung sind. Wir werden erfolgreich sein.« »Ich habe nichts dagegen«, meinte Lod von seinem Gerät aus. Auf Mels Schirm waren helle Flecken zu erkennen. Immer deutlicher wurden die Umrisse – jetzt konnte man Einzelheiten ausmachen. Die Körperwärme der Tiere wurde in Licht umge126
setzt. Es war eine Herde mutierter Nordrinder. An der Spitze der Tiere fegte ein riesiger Bulle, drei Meter hoch, über die Savanne. Seine ausladenden Hörner sahen aus wie die Stoßzähne von Mammuts, als habe der Tag Null Fauna und Flora in das Stadium der Kreidezeit zurückversetzt. Hinter dem Leittier konnte Mel unglaubliche Mutationen erkennen. Riesentiere, Kümmerformen, Rinder mit Kamelhöckern auf dem Rücken und mit wuchtigen Köpfen; nicht mehr viel erinnerte an das Herdenvieh, das vor siebzig Jahren hier gelebt hatte. Der Bulle witterte den Schlepper, der nur noch einen Kilometer entfernt war. Er riß seinen Kopf hoch, stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus und schwenkte in eine neue Richtung ein. Die Herde folgte ihm. Ein Keil aus braunen, schwarzen und gefleckten Tierleibern donnerte auf die Seite des Schleppers los. Mel deutete auf seinen Schirm. »Eine Herde mutierter Rinder greift von rechts vorn an, Kay.« »Es sieht gefährlich aus, nicht wahr?« fragte Kay zurück. »Ja, ziemlich.« Mel nickte. Lod sah gespannt auf Mels Schirm. »Das hast du nicht geespert, du Geistesriese«, meinte er lachend. »Warum laufen die Tiere jetzt in der Nacht?« wollte Kay wissen. »Vermutlich hat sie etwas aufgestört. Jedenfalls scheinen die Tiere wütend zu sein«, erklärte Mel schnell. »Paß auf«, sagte Kay. Er hielt den Schlepper an und schaltete an einigen Tasten. Augenblicklich schossen blendendweiße Strahlen aus verborgenen Scheinwerfern hervor und tauchten die Umgebung in helles Licht. Mel griff unter eine Platte und zog einen silbernen Stab daraus hervor, nicht größer als ein Bleistift. Die Hand des Suchers schob ein Fenster hinunter. Dann warf Mel den Stift aus der Kabine, konzentrierte seine Gedanken darauf. Elegant glitt der Silberstift der andonnernden Herde entgegen. Zehn Meter vor dem Gehörn des Bullen ließ 127
Mel die Ladung detonieren. Ein greller Blitz und der Donner einer Explosion hielten die Herde auf, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. Der Bulle stieg senkrecht in die Höhe, sank auf die Hinterfüße und drehte sich mehrere Male auf der Stelle. Dann warf er den Kopf nach hinten und galoppierte in eine andere Richtung davon. Die Herde folgte ihm. »Das ist noch gutgegangen«, sagte Kay und schaltete die Lichter ab. »Erinnerst du dich an die Elefantenherde unserer ersten Fahrt?« »Mehrere entartete Riesen gegen unseren Schlepper. Eine wilde Sache. Wir mußten sie erschießen.« »Ich sehe Feuer«, unterbrach Lod die anderen Männer. Mel fuhr herum. »Auf deinem Schirm«, sagte Lod und wies darauf. In der Mitte des gekrümmten Schirms flackerte ein winziges Flämmchen in blauer Intensität. Mel las die Entfernung ab. »Fast jenseits der Grenze. Ich espere.« Er lehnte sich zurück und entspannte sich. »Rund fünfzig Kilometer nach Süden. Dort kampiert ein kleiner Stamm um ein Feuer. Sie wollen aufbrechen. Fahren wir dorthin.« Kay wendete den Schlepper um neunzig Grad. Der Schlepper beschleunigte und fuhr vorwärts. Immer schneller näherte er sich dem Ziel. Lod stellte sein Gerät ab und kam durch die schaukelnde Kabine hinüber, setzte sich neben Mel und blickte schweigend auf den Schirm. Nach und nach schälten sich die Umrisse einer Menschengruppe aus der Schwärze. Kay schaltete die Positionslampen an. In die Menschengruppe kam Bewegung. Pferde wurden bestiegen, und wenige Augenblicke später galoppierte eine Gruppe dem Koloß entgegen. Bedächtig schnallte sich Mel eine schwere Waffe um, entsicherte sie und steckte sie wieder in die Lederhülle zurück. Lod tat es ihm gleich. Kay verlangsamte 128
das Tempo und paßte den Kurs des Schleppers den Bewegungen der Reitergruppe an. Unaufhaltsam näherten sich die beiden Gruppen einander. In der Kabine herrschte drückendes Schweigen. Wie stets, war der erste Kontakt das Schwierigste. Wieder bremste Kay, endlich kamen die Rollen zum Stehen. Dicht vor der Kabine, die in tiefem Dunkel lag, zügelte der erste Reiter sein Pferd. »Haaaalt!« schrie er wild und schwenkte eine Lanze in der Faust. Der Reiter bot ein seltsames Bild. Das Pferd, eine positive Mutation, ein mageres Tier mit langen Beinen, schmalem Schädel und mächtigem Brustkorb trug den einfachen Fellsattel. Ein Scheinwerfer wurde eingeschaltet. Das Licht konzentrierte sich auf den Reiter. Nach dem roten Wimpel am Lanzenschaft schien er der Anführer des Völkchens zu sein. Er trug helle Fellkleidung, mit Lederschnüren zusammengefaßt. Er hatte einen ungepflegten Schopf blonder Haare und einen Patronengurt über die Brust geschnallt. Im Gurt steckte eine Lederscheide, aus der ein Pistolengriff hervorragte. Armeebestände aus Rußland, dachte Mel richtig. Langsam öffnete sich die Tür, die auf die Plattform hinausführte. Vor Mel, der die Stahlfläche betrat, wurde blitzschnell ein unsichtbares Schutzfeld errichtet. Dann flammte in seinem Rücken die Beleuchtung auf. »Wer bist du?« schrie der Reiter zu dem Sucher hinauf. Hinter dem Blonden standen drei andere Reiter, die ihre Waffen auf Mel gerichtet hielten. »Ich bin Mel, der Sucher. Ich stamme aus dem Klan Haysh, von Haysh Basis, weit im Westen. Und wie darf ich dich nennen?« »Pjo, der Nomade. Dort hinten habe ich mein Volk«, sagte der Reiter stolz. »Was willst du?« Mel lachte belustigt auf. »Ich will mit dir reden, Pjo. Können wir es hier tun, oder lädst du mich an dein Feuer ein?« »Ich traue dir nicht, Mel. Woher kommt ihr? Was ist das mit 129
dem ihr kommt?« Pjo sprach holperiges, aber verständliches Englisch. »Das ist ein Schlepper, der in unseren Werkstätten entstanden ist. Wir fahren damit durch die Welt, in der wir Menschen vermuten. Wir suchen Menschen.« »Warum?« fragte Pjo mißtrauisch. »Weil wir uns mit ihnen vereinigen wollen. Die Zeit ist dazu reif. Aus welchem Klan stammst du, Pjo?« »Oroka.« »Wieviel Leute seid ihr?« fragte Mel vorsichtig. »Rund zehnmal zehn.« »Wo wolltet ihr heute hin?« »Woher weißt du, daß wir im Aufbruch sind?« Pjo stieß die Lanze in den Boden. »Wir haben Geräte, die aus der Ferne euch und euer Feuer sehen konnten.« »Unsinn. So was gibt’s nicht.« »Willst du dich überzeugen?« fragte Mel lächelnd. Der Reiter besann sich einen Augenblick lang und nickte dann. »Gut, ich komme hinauf.« Mel schaltete das Schutzfeld ab und erwartete Pjo. Pjo trieb seinem Pferd die Sporen in die Flanken, galoppierte unter den Rand der Plattform, stand im Sattel auf und schwang sich über die Reling, als das Pferd unter Mel vorbeilief. Dann stand Pjo vor Mel. Kay schaltete die Innenbeleuchtung ein. Pjo bekam große Augen. In der Dunkelheit und gegen das Licht der Scheinwerfer war die wahre Größe des Schleppers nicht zur Geltung gekommen. Langsam ging der Reiter über die Plattform in die Kabine. Mel folgte ihm wachsam. »Das sind meine Kameraden Kay und Lod. Ihr seht Pjo vom Klan Oroka. Schüttelt ihm die Hand.« Die Männer begrüßten sich. Nachlässig ließ sich Pjo in einen Sessel fallen und machte eine einladende Handbewegung, blickte Mel an und sagte: »Erzählt mir, weshalb ihr Menschen 130
sucht.« Mel nickte. »Du weißt, daß eine Katastrophe war, die die gesamte bewohnte Welt betroffen hat. Damals sind nicht viele Menschen übriggeblieben. Sie hatten Kinder, die seltsam aussahen – wie die Tiere und die Pflanzen. Der Klan Haysh überlebte in unterirdischen Fabrikanlagen. Wir hatten Nahrung für Jahre, Maschinen und Energie. Natürlich waren wir auch Mutanten, positive.« »Was heißt das?« fragte Pjo. »Wir sind fruchtbar, und wir besitzen Gaben, die niemand vor uns hatte, und die wir auch vererben können. Ich kann Metall schmelzen, ohne daß man etwas sieht oder Feuer benötigt würde. Ich kann die Form des Metalls auf kaltem Wege verändern. Ich verstehe alles, was technisch ist – Geräte und Maschinen. Dann: Ich kann über weite Entfernungen sehen, ohne die Augen zu öffnen. Ich sah dich schon vor einer halben Stunde.« »Wie kommt das?« fragte Pjo, und seine Augen zogen sich mißtrauisch zu schmalen Schlitzen zusammen. »So wie Tiere und Pflanzen neue Formen entwickelt haben, so haben sich auch die Menschen verändert. Nur, man sieht es selten. Natürlich haben wir auch negative Mutanten. Die lebensfähigen unter ihnen werden gepflegt, die anderen sterben.« »Warum diese riesige Maschine?« fragte Pjo zögernd. Langsam schien er den Worten des Suchers Glauben zu schenken. »Wir kommen von weither. Wir sind Jahre unterwegs, um Menschen zu suchen. Wir fanden viele, und alle haben sich mit uns vereinigt und angefangen, Großstädte zu bauen. Große Städte, meine ich.« »Wir schlafen, essen und fahren in dieser Maschine. Deshalb ist sie so groß. Sonst verachten wir die Technik, weil sie Unglück über die Welt gebracht hat. Aber manches Mal ist sie sehr von Nutzen. Dann konstruieren wir diese Dinge.« Diesmal war es Lod, der anstelle Mels erklärte. Seine Augen 131
hefteten sich auf das Gesicht des Reiters. »Ich verstehe«, meinte Pjo. »Es ist, weil ihr nicht reiten wollt. Woher kommt ihr – genau?« »Aus Havsh Basis, eine Küstenstadt weit im Westen. Dort wohnen mehr als zehntausend Menschen, die im Lauf der letzten Jahre gesammelt wurden. Unter ihnen befinden sich Klans aller Rassen, vermischen sich und schaffen eine neue Menschheit. Auch negative Mutationen werden dort in großen Häusern gepflegt, bis sie sterben. « »Aber ihr sprecht, wie ich spreche«, meinte Pjo verwundert. »Du sprichst die Sprache, die vor Null am meisten verbreitet war. Wir kennen andere Sprachen. Wir sprechen sie auch.« Lod setzte sich Pjo gegenüber in seinen Sessel und musterte den Reiter. Dann öffnete er ein Fach in der Sessellehne und drückte einen Knopf. Die automatische Küche rollte heran und stellte vier Kunststoffbecher auf den Kartentisch. »Trink, Pjo. Es ist unser Zeichen der Freundschaft. Du darfst uns vertrauen.« Lod hob einen Becher und wartete, bis der Reiter den anderen ergriffen hatte. Dann tranken die vier Männer. »Ihr wolltet wegziehen?« fragte Kay gespannt. »Ja, nach Osten«, erwiderte Pjo und nickte. »Es sollen bessere Jagdgründe dort sein. Mehr Menschen.« »Woher wißt ihr das?« fragte Mel. »Unser Schamane sagt es. Er hat es gesehen, ohne die Augen zu öffnen.« Diese Redewendung kannte Mel gut. Stets dann, wenn unter den Mutanten von versprengten oder nomadisierenden Menschengruppen Esper festgestellt wurden, die keinerlei methodische Ausbildung ihrer Fähigkeiten genossen hatten, wurde die Phrase »sehen ohne die Augen zu öffnen« verwendet. »Ich muß euren Schamanen sprechen«, sagte Mel. »Ich sehe auch mit geschlossenen Augen.« »Gut«, erwiderte Pjo. »Ich fahre mit euch zu meinen Leuten zurück. Wartet!« Er trat auf die Plattform hinaus. 132
»He, ihr!« rief er seinen Leuten zu. »Ich fahre mit dem metallenen Riesen. Reitet uns nach.« Dann deutete er zum Fenster hinaus. »Fahrt los!« Der Schlepper fuhr dem Schein seiner Lichter nach. Acht Kilometer ging es über die Ebene, dann tat sich eine natürliche Senke auf, deren Rand verschüttet worden war. In der Mitte der Mulde loderte ein Feuer. Gestalten sprangen erschrocken auf, als sich der Schlepper ohne Motorengeräusche über die Büsche des Abhangs schob und vor dem Feuer stehenblieb. »Später werden wir sprechen«, sagte der Schamane und ging mit Mel um das Fahrzeug herum. »Was ist das für eine Kugel?« fragte die Gestalt, die in schwarzes Leder gekleidet war und eine Kette aus polierten Metallscheiben um den Hals trug. »Es ist unsere Kraftquelle«, erklärte Mel, der Sucher. »Ein Fusionsmeiler mit dreihunderttausend EV Nennleistung, genau. Ähnlich wie ein Topf, dessen Wasserdampf zum Antrieb verwendet wird.« »Also Atomkraft«, stellte der Schamane fest. Mel nickte verwundert und sah den Schwarzen fragend an. »Woher weißt du diesen Ausdruck?« »Ich kann lesen. Ich habe alte Bücher gefunden«, erklärte der Sohn eines Überlebenden des Tages Null. »Gut«, sagte Mel. »Dann kannst du sicher auch Karten lesen?« »Natürlich, wenn sie gut sind«, bestätigte der weise Mann selbstsicher. »Weswegen sucht ihr Kontakte mit uns, ihr, die ihr alles habt, nicht auf die Jagd zu gehen braucht, nicht hungert, nicht mit Mutanten kämpft, nicht auf der Erde schlaft?« fragte Ablo lauernd. So hieß der Schamane vom Klan Oroka. »Unser Ziel ist es, alle Menschen dieser Welt zu sammeln und zu registrieren. Eine Gruppe muß anfangen – also gingen die Impulse von uns aus, dem Klan Haysh. Unser Ziel: Aufbau einer neuen Welt und das Vermeiden alter Fehler. Nichts anderes. Uns steht Machtstreben fern.« 133
»Ich glaube dir«, sagte Ablo einfach. »Ich glaube, weil ich weiß.« »Du weißt?« fragte Mel ungläubig. »Ich weiß, weil ich sehe, ohne die Augen zu öffnen.« Mel konzentrierte sich auf sein Gegenüber. Nach Sekunden hob er die Lider und blickte in das Gesicht Ablos, das voll Verwunderung zu ihm aufsah. »Du bist einer der Wissenden?« flüsterte Ablo. Mel nickte. »Wir wissen, was uns überliefert worden ist. Eines Tages flogen Dinge durch die Luft und wurden abgeschossen. Daraus entstand ein Krieg, der mit Atomwaffen geführt wurde. Was überlebte, ging zugrunde, verhungerte oder blieb in unterirdischen Schlupfwinkeln. Die Kinder waren Mutanten. Sie gebaren Mutanten – positive und negative. Seither versuchen die Menschen, sich zu sammeln. Weit im Osten soll eine Stadt sein. Dorthin wollten wir aufbrechen.« Der Schamane lehnte sich zurück. »Noch etwas – was wißt ihr von dem Mond? Dort sollen Menschen leben.« Es war Pjo, der diese Frage an Mel und seine Partner richtete. Die Männer saßen auf dem Boden der Kanzel; insgesamt zwölf, drei Sucher und neun Männer des Nomadenstammes. »Es geht eine Legende, daß eine Nation eine Station gegründet haben soll. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand überlebt haben könnte. Sie sind längst verhungert oder erstickt. Wir denken oft an diese Unglücklichen.« Mel schwieg und betrachtete die Karte, die zwischen ihnen auf dem Boden ausgebreitet war. Sie zeigte die Umrisse des europäischen Festlands mit bewohnbaren Zonen und den Gebieten, in denen Primärstrahlung herrschte. Die neuen Menschen waren gegen Sekundärstrahlung immun – aber in den Kratergegenden starben sie noch immer. »Hier ist Haysh Basis«, sagte Lod und wies auf die eingezeichnete Stadt. Sein Finger zeigte eine Linie, die von Basis 134
hinwegführte und nach Osten wies. »Das ist unser Weg. Hier hören wir auf und fahren zurück.« Dieses Mal berührte der Finger die Küste, die vor Japan lag. »Und hier soll die Stadt sein.« Der Schamane zeigte auf das Becken von Kamtschatka. »Sie soll Thai heißen. Aber ich hatte keinen genauen Eindruck.« »Ich werde es mir merken«, versprach Mel und machte eine Notiz. Dann griff er nach vorn und rollte die Karte zusammen. Sie bestand aus feuerfestem Plastikmaterial. »Ich schenke euch die Karte, wie acht anderen Gruppen. Sechs von ihnen sind nach Haysh Basis gewandert und inzwischen eingetroffen. Zwei wollten nach Osten und nach Thai. Wenn ihr – und das müßt ihr mir versprechen – auf andere Gruppen oder Klans stoßt, die nicht wissen, daß es Städte gibt, so klärt sie auf. Sagt ihnen, daß Männer mit Maschinen unterwegs sind, um die Menschheit zu zählen. Sagt, daß mit der Zeit alle Menschen miteinander Kontakt haben werden, sagt, daß wir eine neue Kultur aufbauen wollen. Das ist unsere Botschaft. Könnt ihr mir das versprechen?« Mel blickte fragend auf Pjo. Der Reiter ließ seine Augen in die Runde gehen und musterte die Stammesältesten. Dann machte er eine umfassende Bewegung und sagte laut: »Ich bin Pjo vom Klan Oroka. Was ich verspreche, halte ich auch. Ihr, Sucher des Feuers, wie ihr euch nennt – euch verspreche ich: Sobald ich auf Nomaden treffe, werde ich sie überreden, mit uns nach Osten zu ziehen. Eines Tages werden wir dort eintreffen. Ich werde ihnen von euch erzählen, von den Suchern Mel, Lod und Kay. Mein Wort.« Er trat in den Kreis der nickenden Männer und streckte Mel die Hand hin. Die Männer schüttelten sich die Hände. »Jetzt werden wir gehen.« Der Schamane stand auf. »Ich weiß«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln zu Mel, »daß die Sucher tagsüber schlafen. Morgen werden wir uns verabschieden. Bis dahin mögen sie schlafen – unsere Wach135
reiter werden ihren Schlaf schützen. Das Feuer brennt am Tag. Die Jäger jagen. Bis morgen abend.« Langsam löste sich die Versammlung auf. Zurück blieben die Sucher. Sie waren müde, aber glücklich über ihren Erfolg. »Langsam erhebt sich der Mensch wieder. Kommende Generationen werden nicht mehr viel aufbauen müssen«, sagte Lod nachdenklich. »Sie werden andere Probleme haben. Wir sind geschichtslos. Alle Büchereien sind vernichtet worden. Nur wenige Bücher blieben übrig. Das Bild, das man aus ihnen konstruieren kann, ist lückenhaft. Was wir brauchen, ist eine zusammenhängende Geschichte der Erde bis zum Tage Null.« »Das ist Sache unserer Enkel«, sagte Kay zu Mel. »Geschichte oder nicht«, sagte Mel knapp und gähnte lange, »ich freue mich über unseren Erfolg und bin müde. Unsere Enkel werden sich mit der Geschichte des Planeten beschäftigen, nicht wir.« Mel ahnte nicht, wie sehr er irrte. Es gab im Augenblick auf der Erde keinen Menschen, der die Probleme vorausahnte, die in kurzer Zeit bestehen würden. Dinge, jeder normalen Überlegung fremd. Deshalb schlief Mel nachts so gut. Wieder versank dieser Teil der nördlichen Savanne in Nacht und Schweigen. Der Sonnenaufgang mit dem prächtigen Farbenspiel wechselte ab mit dem Glast des Mittags. Und nach der Zeit zwischen Mittag und Abend fiel graue Dämmerung über die Ebene. Ein Pferd wieherte laut. Von diesem ungewöhnlichen Laut erwachten die Sucher. Sie gingen hinaus auf die Plattform. Stühle und Tische waren bereits ausgefahren worden. Der Abendwind kühlte die heißgeschlafenen Körper der Sucher. »Heute trennen sich die Wege von Pjos Völkchen und uns«, bemerkte Kay verschlafen. Dann ging er in die winzige Waschkabine und duschte. Auch der Wasservorrat ging zur Neige. Er mußte an einem der nächsten Flüsse ergänzt werden. Die automatische Küche servierte das Essen. Die Flammen des 136
Feuers neben dem Schlepper begannen weiße Funken zu werfen. Schemenhaft bewegten sich die Gestalten der Reiter. Nach dem Essen gingen Mel, Kay und Lod hinunter in die Ebene und verabschiedeten sich von dem Schamanen und von Pjo. Wieder wurden Versprechungen gemacht, wieder wurden Hände geschüttelt. Wieder war eine Gruppe reif dafür, in eine der Siedlungen aufgenommen zu werden. Das Signal war ertönt – die Menschen begannen sich zu sammeln. Die Sucher fuhren weiter. Sie begaben sich wieder auf den langen Weg zur Stadt Thai. Sie suchten Licht, Feuer und Menschen. Die Nacht brach herein und ließ die Sterne aufleuchten. Starr und groß standen sie über der schwarzen Ebene, die zerfurcht und bewachsen von dem großen Atomkrieg des Tages Null übriggeblieben war. Das letzte Licht der Scheinwerfer verschwand hinter den Gräsern. Der einsame Reiter, der auf der Oberkante der Senke stand, sah den Lichtern nach. Er ahnte nicht, welchen Aufgaben die Sucher entgegenfuhren. Hundert Tage lang … Dann veränderte sich die Szene. Sie waren an ihrem Ziel. Thai, die sagenhafte Stadt … Die Großklane Chung-Chia und Ainuh hatten gewaltige Arbeit geleistet. Unabhängig von den Suchern der westlichen Welt hatten sich die asiatischen Überreste des Tages Null gesammelt. China, Japan und die Ostküste Sibiriens waren in dieser Stadt versammelt. Das esperte Mel, als sie zusammen mit den anderen Stahlriesen in die Stadt einfuhren. Sie hatten sich vor hundert Kilometern getroffen. Jetzt lag, vier Steinwürfe entfernt, die sagenhafte Stadt vor ihnen. Thai war gruppiert um den Golf von Kamtschatka. Weißer Sandstrand zog sich hinauf zu der windgeschützten Bucht. Ein Haus stand neben dem anderen. Mel bemerkte durch sein Glas etliche Riesenbauten. Weiß und schlank ragten sie in den blauen Herbsthimmel. Kleine Bauminseln unterbrachen das steinerne Gewirr. Hier lebten mindestens achtzigtausend Menschen. Langsam näherten sich die drei Schlepper dem Stadttor. 137
Der Gigant hielt an. Mel und Kay stiegen ab und gingen auf den Torwächter zu. Der Mann trug enge Kunststoffhosen, halbhohe Stiefel und ein farbenprächtiges Obergewand, auf dem sich ein fauchender Drache wand. An der Seite trug der Wächter eine schwere Pistole. »Seid gegrüßt, Sucher von Haysh Basis«, sagte der Mann. Mel war einen Augenblick verwundert. Hier mußte eine gewaltige Potenz parapsychologischer Talente vorhanden sein. »Ich grüße dich, Wächter«, erwiderte Mel. »Willkommen«, sagte der Mann. »Ich soll euch bitten, zum Palast der Weisheit zu kommen. Dort versammeln sich die Führer dieser Stadt. Wir haben viel von euch gehört.« »Wie ist das möglich?« fragte Mel. »Es kamen vor Jahren Gruppen, die uns von den Sucherteams berichteten. Sie hatten sie in Vorderasien getroffen. Die Klane Cain Peng und Hssya waren es.« »Ich weiß Bescheid«, sagte Mel und nickte. »Können wir fahren?« fragte er dann. Der Wächter bejahte. »Ein Reiter wird euch führen«, sagte er lächelnd. Hinter ihm schwang sich ein Asiate auf ein Pferd und hob grüßend die Hand. Die Schlepper folgten Straßen, über Plätze und um Bauminseln herum, bis sie auf dem Kamm der Bucht waren. Dann hielt der Reiter an. Vor einem achtstöckigen Haus standen einige alte Männer und kamen näher. »Willkommen in unserer Mitte, Sucher«, sagte einer mit verstehendem Lächeln eines Vaters, der seine Söhne begrüßt. »Wir haben eine Botschaft für euch.« Ein Kreis schwerer Sessel stand in einer reich geschmückten Halle. Relikte asiatischer und russischer Kunst hingen an den weißen Wänden. Den Boden bedeckte ein Kunststoffteppich. Auf Tischen glühte Holzkohle in kupfernen Becken. Die Sucher saßen zwischen den Männern, die seit Jahren an der Stadt bauten. »Wir bekamen eines Tages Besuch«, begann einer der Män138
ner. Er sprach ein gepflegtes, weiches Englisch. »Eine Flugmaschine landete. Sie kam aus dem Land, das früher Amerika hieß. Sie landete auf dem Hügelkamm, und die Insassen erzählten uns eine lange Geschichte. Es ist vier Wochen her, seit sie wieder abflogen. Es ist die Geschichte eines ihrer Sucherteams, die ich jetzt für euch wiederhole. Paßt gut auf – die Probleme, die sich daraus ergeben, sind vielfältiger Natur.« Der Stadtälteste berichtete: Der amerikanische Sucherzug bestand aus einem Riesenschlepper, der mit zwei Mann besetzt war und einer Hubschrauberplattform, die über der Kabine montiert war. Die Männer waren seit einem Jahr ununterbrochen unterwegs. Viertausend Einzelpersonen, positive Mutanten oder Gruppen waren durch diese drei Männer vereinigt worden. Vor zwölf Mondphasen waren die drei Männer aufgebrochen. Sie benötigten keinerlei Geräte – alle Sucher waren vollendete Telepathen. Nur der Schlepper war notwendig, um Vorräte und Schlafgelegenheiten zu transportieren. Dichter Dschungel erhob sich, wo sich vor fünfundsiebzig Jahren Hotels, Badekabinen und Jachthäfen befunden hatten. Die mutierten Pflanzen waren ineinander verkrallt und machten das Eindringen eines Menschen in jenen fäulnisbildenden Wirrwarr unmöglich. Nur Ultraschallsägen und die Gleisketten des Schleppers konnten gegen wuchernde Lianen und korkenzieherartig gekrümmte Stämme ankämpfen. Es roch durchdringend nach Aas und Verwesung. Lev steuerte den Koloß auf dem Streifen zwischen See und Dschungel. Immer noch nicht hatten sie den anderen Schlepper getroffen, der von Norden nach Süden fuhr. Spätestens in der Gegend von Daitona Beach mußten sie sich vereinigen. Zwölf Mondwechsel lang war der amerikanische Schlepper entlang der Küste gerollt, von Tampico an Houston vorbei, am Golf von Mexiko. Vorbei an der Riesenruine, die einmal New Orleans gewesen war, vorbei an Tallahassee City, St. Petersburg und der Westküste der schmalen Halbinsel. 139
Lev trug die weiße Kleidung der Sucher und das Zeichen, das ihn als Telepathen kennzeichnete. Lev war dreißig Jahre alt und sehr schlank. Sein braungebrannter Körper war unbehaart, nur über den Augen befanden sich schwarze Büschel kurzer Haare. Der schläfrige Blick des Telepathen richtete sich auf die Landschaft, die aus den Abendnebeln auftauchte. Neben Lev saß Cip, in seine Aufgabe versunken. Zwischen den Stämmen des Urwalds gab es genügend Leben. Niemand hatte Lust, mit den Mutationsformen- der Urwaldtiere Bekanntschaft zu machen. Sie waren wilde, entartete, Mutanten der negativsten Form. Der Hubschrauber war unterwegs. Die kleine Maschine flog im Zickzack über der geradlinigen Bahn des stählernen Giganten dahin. Was die Esper nicht entdeckten, bemerkte der Pilot Ghy, der Sucher. Zwei Tage später hatte sich die Landschaft verändert. Daitona Beach war nahe. Über der Wüste, die sich bis an das andere Ende der Halbinsel dehnte, lag der Hauch des Todes. Ein riesiges Gebiet voller Sekundärstrahlung. Spuren von Raubtieren verliefen im Sand und verloren sich zwischen den Ruinen von Betontürmen, Rampen und verrosteten Stahlkonstruktionen. »Das war einmal ein Gebiet, in dem die Technik herrschte. Hier wurden Raketen in den Weltraum geschossen«, sagte Cip zu Lev. Er blinzelte träge in das Sandmeer hinaus. »Wurde nicht hier die Mondstation ins All geschossen?« fragte Lev. Cip nickte. »Unterirdische Anlagen. Könnten Menschen überlebt haben?« fragte Lev wieder. Wieder nickte Cip lustlos. »Ich bin müde und kann nicht schlafen. Was ist das? Ich espere.« Er schloß die Augen und lehnte sich zurück. Nicht zu lange. Nach einigen Sekunden sprang er auf und sah aufgeregt zum Fenster hinaus. »Menschliches Leben – bekannte Impulse!« rief er erregt. Sofort war Lev auf den Beinen. 140
»Wo?« fragte er hastig. »Dort drüben, unter der Erde. Ich sah riesige Anlagen, die sich weit erstrecken und teilweise von Mutanten bewohnt sind. Sie kommen nur nachts nach oben – also werden wir am Tage eindringen. Ich espere Gefahren.« Lev deutete auf die Gegenstände ihrer Ausrüstung, die in der Kabine herumlägen. Hinter einer halboffenen Tür zeigte sich das verschlafene Gesicht des Piloten. Ghy war wach und hatte die letzten Worte der beiden Partner gehört. Jetzt waren sie gerüstet. Nur eine Stunde war vergangen, seit Cip Leben gefunden hatte. Die Männer hatten gegessen und sich geduscht, um den Schlaf aus ihren Körpern zu vertreiben. Die Sucher steckten in enganliegenden Schutzanzügen. Um die Hüften waren breite Gürtel geschnallt, in deren Taschen Waffen, Lampen und Seile steckten. Die Köpfe wurden von runden Helmen geschützt, die Hände von Handschuhen. Transportable Generatoren erzeugten Schwingungen, die um die Sucher ein Schutzfeld errichteten. Der Motor des Schleppers war abgeschaltet, die Türen waren von außen verschlossen. Nebeneinander gingen die Sucher auf einen der Bunkereingänge zu. Sie durchquerten eine Zone, in der sich verdorrtes Moos ausgebreitet hatte, und traten auf den Sand hinaus. Wie ein gieriger Schlund sah sie der schwarze Eingang an. Um die Männer herum war Stille. Sie tauchten hinein in die drohende Schwärze. Dämmerige Kühle und Geruch nach Fäulnis und dahinvegetierendem Leben umgaben sie sofort. Die Scheinwerfer wurden angeschaltet. Lichtstrahlen zerschnitten das Dunkel. Schweigend stapften die Männer weiter. Hinter ihnen verkleinerte sich das Viereck des Eingangs. Jede menschliche Regung schien von dieser sumpf ähnlichen Stille eingesogen zu sein. Hier dampfte der Brodem der Fäulnis. Über den Männern knisterte etwas, dann knackte es, und 141
ein Regen aus Betontrümmern, Staub und Mörtel ging wie ein dichter Vorhang nieder und spritzte in das schwarze Wasser. Cip breitete die Arme über dem Kopf aus und ließ sich vorwärtsfallen. Hinter ihm kamen Lev und Ghy durch den Hagel gesprungen. Licht? Tageslicht flutete in einen viereckigen Schacht hinein, der wie eine mathematisch exakte Fläche hundert Meter unter Wüstenniveau lag. Ein Brüllen tobte den Männern entgegen. Sekunden später hatten sie sich auseinandergezogen und hielten die entsicherten Waffen in den Händen. Das Fauchen wurde leiser. Mit riesigen Sätzen schossen zwei Mutationen heran und warfen sich auf Lev und Cip. Ghy wirbelte herum, erkannte die Gefahr, die seinen Freunden drohte, und schoß genau ins Ziel. »Negative Mutanten«, bemerkte der Pilot sachlich und steckte die Waffe zurück. »Weiter …« Es lag eine körperlich gewordene Gefahr in der schwülen Luft des Ganges, der aufwärts führte. Lev hob die Augen. An der Decke befanden sich erloschene Leuchtkörper. Wie eine endlose Kette spiegelte sich in den Schalen das Licht der Scheinwerfer. Die Sucher hatten die grüne Insel passiert, ohne daß sie noch einmal angegriffen worden waren. Sie hatten das Lager dieser beiden Mutanten gesehen; pflanzliche Matten auf dem Boden, umgeben von Gerippen kleiner Tiere und abgenagten Fruchtknollen. »Hier sind Spuren, die tiefer hineinführen«, sagte Cip halblaut. Lev ließ den Strahl seiner Lampe spielen. Er brach sich an Türen, Gesimsen und Drähten, die aus wuchtigen Kabelschlangen hervorhingen. Ein Wesen, halb Vogel und halb Primitivaffe, hockte auf einem Rohr, sah die Menschen aus drei großen Augen an, grunzte aufgeregt und verschwand in einem Mauerloch. »Wir werden nicht eher zurückkehren, bis wir hier alles geklärt haben«, versprach Lev. 142
Unsichtbare Lebewesen stoben durch den dichten Staub davon. Der Gang führte weiter, bis die Männer an eine verschlossene Tür kamen. Lev löste das Problem, indem er die schweren Sicherheitsriegel mit einem Flächenblitz schmolz. Die Tür schwang nach innen, als Cip mit einem Fuß dagegentrat. »Was wird uns hier erwarten?« Sie sahen es sofort. Es war ein Friedhof. Ein senkrechter Schacht, anscheinend eine Raketenstartgrube, war mit Knochen gefüllt. Die Auseinandersetzungen zwischen den Mutanten, die hier gehaust hatten, waren an diesem Ort zu einem Ende gekommen. Der Gang führte um eine Ecke. Bleiche Ranken hatten sich in Mauerspalten festgesetzt und hingen wie Stalaktiten herunter, brachen ab und zerfielen, als die Männer sie mit ihren Armen wegbiegen wollten. Staubpartikel durchdrangen den Schirm und verursachten Hustenreiz. »Alles echte Leben scheint vor uns zu fliehen«, sagte Cip. Sie kamen in einen Saal, der eine heillose Verwüstung zeigte. Jahrzehnte, in denen hier Mutanten gewohnt hatten, reichten aus, um jeden Raum unbewohnbar zu machen. Kistenbretter, angefressen und halbverfault, Metalltische, deren Füße und Platten verschmutzt und verbogen waren und Feldbetten, auf denen zerschlissene, stinkende Decken lagen – das Fazit menschlichen Wahnsinns, unverschuldet, aber nicht weniger brutal. Ein Schwarm riesiger, weißer Termiten bewegte sich quer durch den Raum. »Widerlich«, sagte Cip ekelerfüllt. Seine Hand wies auf den Ausgang der Halle. Dort enthüllte das Licht des Scheinwerfers einen Ausgang, dessen Metallschott zerbeult in den Angeln hing. »Dort hinüber!« ordnete Lev an. Sie kämpften sich hintereinander einen Weg durch Trümmer und stinkenden Abfall. »Jeder Mensch wird selbst in der größten Verzweiflung ver143
suchen, seine Umgebung, und sei sie noch so deprimierend, zu veredeln oder positiv zu verändern. Was mich so niederdrückt, ist das Fehlen menschlicher Ausstrahlung. Nur Tiere, die von Menschen abstammten. Hoffentlich sind sie alle schon ausgestorben.« Sie waren es nicht. Lev hatte kaum seinen letzten Satz beendet, als sich Türen krachend öffneten. Die Wesen, die angriffen, schienen aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch entsprungen zu sein. Die Ungeheuer sprangen über die Trümmer und gingen vor wie ein lebendes Stück Dschungel. Bizarre Formen, Gliedmaßen, die nicht mehr menschlich waren, Körper von Riesen und jede nur erdenkliche Art von Mißbildungen schlossen sich innerhalb von Sekunden zu einem Ring um die drei Sucher. Die Männer waren geschult und handelten blitzschnell, ohne sich verständigen zu müssen. Sie bildeten ein Dreieck und stellten sich mit den Rücken zueinander, bis die drei Schutzfelder zu einem einzigen verschmolzen. Jeder Kontaktversuch war sinnlos. Hätten sie sich auf Verhandlungen eingelassen, wären sie Sekunden später zerrissen gewesen. Cip schoß als erster. Der Flächenblitz, der gegen die Mauer der Mutanten prallte, riß eine Lücke. Sofort drängten sich neue Kreaturen vor, griffen wieder an – aber nicht eine Waffe war zu sehen, nicht einmal ein Knüppel oder ein Holzspeer. Die Intelligenz dieser Tiere lag unterhalb der Schwelle, die ein Erkennen primitivtechnischer Möglichkeiten erlaubte. Die Blitze durchtobten das Dunkel und hinterließen nur Asche und glühende Trümmer. Nach dreißig Sekunden war der Angriff im Feuer zusammengebrochen. »Versuchen wir, weiter einzudringen«, sagte Cip und wandte sich einer der Türen zu, durch die das Rudel der gierigen Mutanten hereingebrochen war. Wieder nahm sie ein breiter, nicht allzu hoher Gang auf. Eine Stunde lang stolperten die Männer durch die üble Luft. 144
Endlich ging es eine breite Treppe hoch, die merkwürdigerweise nicht beschmutzt und wenig zerstört war. »Achtung – nichts ist ohne Ursache!« warnte Cip und bedeutete Ghy, sich rechts von ihm zu halten. Sie stiegen vorsichtig die Treppe hinauf. Oben leuchtete das unbeschädigte Metall einer schweren Stahltür unter den Lichtern auf. Die Sucher standen vor dem Schott. Hier versperrte ein Kombinationszahlenschloß mit variablen Werten die Riegel. Nach der Katastrophe hatte jemand versucht, wichtige Anlagen zu schützen. Die Zahlensymbole waren verschlüsselt. Cip nickte schwer. »Ich schätze, daß hier die elektronische Anlage verborgen sein dürfte. Wollen wir hinein?« »Natürlich«, sagte Ghy. Sie schmolzen das Schloß und drangen ein. Hinter sich verschloß Cip die Tür provisorisch mit einem Schieberiegel, den er binnen Sekunden wachsen ließ. Vor ihnen erhoben sich Geräte mit Testschirmen und optischen Anzeigen. Aufgemalte Schaltschemata mit Kontakten und Betriebsanzeigen waren auf den Flächen sichtbar. Lev versenkte sich in den Mechanismus der Anlage. »Reichlich primitiv«, meinte Lev geringschätzig. »Alles nur binäres Steuersystem für Raketen, Funkkontakt und die Steuereinrichtungen der Projektile. Das war die technische Zentrale.« Über ein niedriges Bord hatte einer der vermoderten Funker ein Bild geklebt. Es war eine Fotografie des Vollmonds aus achtzehnhundert Kilometer Entfernung. Daneben war ein anderes Bild befestigt: die terranische Mondstation. Lev schwieg mit geschlossenen Augen. Man spürte, wie er sich konzentrierte, um seinen sechsten Sinn einzusetzen. »Die armen Teufel«, sagte er bedauernd. Über seinem Gesicht lag ein fast andächtiger Ausdruck. »Sie müssen dort oben verhungert und erstickt sein. Alles ist tot.« Er ließ seine Finger einen Moment lang über den Tasten des Radarfernschreibers in der Luft hängen und drückte dann wahllos einige Tasten nieder. Dann wandte er sich einem anderen 145
Bezirk des Raumes zu. Hier standen mächtige elektronische Speicher, das Archiv von Kap Canaveral. Zugeführte Energie würde die Ereignisse der Stunden vor Null und der Tage danach wieder lebendig werden lassen. »Wir müssen die Türen versiegeln. Der Geschichtsforschung sind hier wertvolle Quellen aufgehoben«, sagte Cip. »Selbstverständlich«, pflichtete Ghy bei. Sie standen vor den Maschinen, die vor fünfundsiebzig Jahren die Frachtraketen und die Männer und Frauen des zweiten Teams geleitet und sicher auf die Mondoberfläche gesteuert hatten. »Wirklich primitiv«, wiederholte Lev. »Du mußt daran denken, daß sie damals keine Telurgisten hatten. Es war ihnen nicht möglich, das Spiel der Moleküle und des Atomkerns mit dem Geist zu kontrollieren. Ich würde sagen, sie haben es tadellos geschafft. Und wir kommen daher mit unseren Kenntnissen, die wir durch positive Mutation erworben haben. Nichts können wir dafür. Es war ein Geschenk der Natur. Du bist ungerecht, Lev.« Ghy wandte sich an den Führer des Suchertrupps. Lev wiegte seinen kahlen Schädel und sagte: »Du hast recht. Natürlich kann ich die technische Konzeption nur von meiner Warte aus beurteilen. Du weißt, daß wir weitgehend geschichtslos sind. Das Mosaik, aus dem uns einzelne Steinchen bekannt sind, ist noch in hundert Jahren nicht vollständig.« »Ich spüre Bewegung, Energie – elektrische Ströme«, flüsterte Ghy plötzlich. Nur einen Moment lang hatte er sein erstaunliches Espertalent eingesetzt und den Ort lokalisiert. Es war das ausladende Unterteil jener Tastatur, an der vor einigen Minuten Lev gespielt hatte. Lev gesellte sich zu ihm. Gemeinsam zogen ihre Gedanken durch die verwirrenden, aber ihren geistigen Augen einfach erscheinenden Leitungen und Schaltelemente. Das Bild einer Stromsammelanlage, die sich nach gewissen Regeln und in genauen Intervallen selbst wieder auflud, entstand. 146
»Ganz so primitiv waren sie nicht, wie du annimmst, Lev«, sagte Ghy nach einer Weile lächelnd. Sein hageres Gesicht erhielt einen gutmütigen Ausdruck. Die dunklen Augen hefteten sich belustigt auf Lev, der versuchte, die möglichen Folgen dieses Phänomens zu durchdenken. »Natürlich nicht, Ghy. Tote können nicht mehr sprechen. Das Ganze ist so sinnlos, daß man verzweifeln könnte. Die Menschen müssen von so viel Leid und Hoffnungslosigkeit wahnsinnig geworden sein.« »Es ist zu vermuten. Die Geschichte des letzten Jahrhunderts wird geschrieben werden. Sie wird eine Zusammenstellung sein aus Wahnsinn, Brutalität, Not, Elend und einer ungeheuren Verlassenheit. Gut, daß ich sie nicht mehr zu lesen brauche. Mit genügt das, was ich in meinem dreißigjährigen Leben gesehen habe und in den nächsten Jahren noch sehen werde.« »Gehen wir?« fragte Cip ungeduldig. »Nein«, erklärte Lev grimmig. »Ich bin entschlossen, nicht ohne positive Erkenntnisse aus der Dunkelheit hinauszugehen. Wir werden hier jeden Schrank und jedes Vorratsfach durchsuchen. Fangen wir an. Ich nehme diesen Raum hier.« Er wies auf einen Raum, der offenbar für den Aufenthalt der früheren Besatzung geschaffen worden war. Tische und lederbezogene Sitzmöbel standen unter dicken Staubschichten und warteten auf etwas, das niemals wieder eintreten würde. Die Sucher brauchten lange, um etwas zu finden. Es waren nur winzige Fakten, die in ihr bekanntes Bild eingefügt werden konnten. Wissenschaftliche Magazine, vergilbte Tageszeitungen und ein paar Taschenbücher mit farbigen Titelseiten. Eine angerostete Pistole in einer schimmeligen Ledertasche – das war alles, was Lev gefunden hatte. Natürlich waren da noch andere Zeugen der Vergangenheit. Kaffeemaschinen, ein Zigarettenautomat, Aschenbecher, die angesengt waren. Nichts Besonderes. Lev legte seine Funde auf ein Pult und ging in die anderen Räume. Dort beendeten Ghy 147
und Cip ihre Suche. »Nicht viel, wie?« fragte Cip. Er hielt ein kleines Tonbandgerät in einer Hand und einen Stapel Spulen in der anderen. Oben lagen zwei Bücher; ein literarisches Werk und einer jener kleinen Bände. Lev schüttelte den Kopf. »Ziemlich wenig«, sagte er bedauernd. Das meiste Glück hatte Ghy gehabt. Er hielt den ganzen Arm voller Bücher, dünnere Hefte mit populärwissenschaftlichen Erörterungen, in Englisch geschrieben. Dickere Exemplare waren darunter. »Lexikon«, las Lev, als er die Rückseiten der Exemplare mit schief geneigtem Kopf studierte. Und wieder Taschenbücher. Aufgeregt liefen sie zwei Stunden lang durch das steinerne Höhlensystem und suchten. Aber jetzt fanden sie nichts anderes als die Spuren der Verwüstungen. Sie kletterten die Treppe zu den Kontrollräumen empor, betraten die Leitstelle und holten ihre Funde ab. Lev hockte sich nieder und knotete ein Seil um die Bücher, Ghy tat das gleiche mit seinem Gerät und den Spulenschachteln. Dann verließen sie die Leitstelle. Während Ghy das zerstörte Schloß wieder in Ordnung brachte, lehnte sich Lev an die Wand. Der Gestank hatte ihn fast krank gemacht. Die beiden anderen Sucher bewegten sich die Treppe hinunter. »Halt!« flüsterte Lev, aschfahl im Gesicht. Hinter ihm, jenseits der stählernen Platte, erklang ein Stakkato technischer Geräusche. Es war, als Klopfe jemand in schneller Folge auf ein Stück Metall. »Was war das?« fragte Ghy, der lauschend neben Lev stand. Wieder klang das Geräusch auf. Wieder klopfte ein kleiner Hammer auf das Blech, rasend schnell, ohne erkennbare Intervalle. »Ein Eingeschlossener?« fragte Cip leise. Lev schüttelte heftig den Kopf. »Ein Zeichen des Lebens«, sagte er heiser. »Ich espere.« Während er in sich versank, öffnete Ghy die Tür. Zwei Lichtstrahlen zuckten in das Dunkel und beleuchteten metallene 148
Paneele. Wieder kam das hackende Geräusch, lauter und direkter. Die Männer gingen vorsichtig näher. Lev richtete den leuchtenden Strahl seines Scheinwerfers auf ein Gerät. Über der Tastatur des Teleradars ratterte der Laserdrucker auf ein dünnes Kunststoffblatt, das sich aus einem Schlitz der Maschine hervorschob. »Das ist unfaßbar …«, flüsterte Lev, seiner Stimme kaum mehr mächtig. Wieder schlugen die Lettern in den Kunststoff. Neben der Tastatur leuchtete eine rote Lampe auf. »Lebende Wesen«, stellte Cip fest. Lev tat zwei schnelle Schritte und riß das Blatt entlang einer gezahnten Schiene ab. Dann weiteten sich seine Augen. Ghy und Cip lasen mit. Wieder begann das Geräusch, verebbte. Laut las Lev vor, heiser und am Rande seiner Fassung: »please contact – luna here – please contact …« »Das bedeutet, daß die Menschen der Mondstation noch leben. Luna ist der altirdische Name für den Mond«, erklärte Ghy laut. »Wir antworten«, sagte Lev und ging an das Gerät. Die Männer warteten acht Minuten, bis der Mechanismus endgültig stillstand. Dann ertönte ein Summer. Schweigen. Mit einem Fuß holte sich Lev einen niedrigen Hocker heran und blies den Staub von der Fläche, dann setzte er sich. »achtung, luna …«, begann er zu schreiben. Er war diese Tätigkeit nicht gewohnt, deshalb ging es langsam, »achtung, luna – hier stehen drei enkel der überlebenden des tages null. wir sind sucher. wir suchen menschen. seit stunden befinden wir uns in den räumen der ehemaligen raketenbasis canaveral, durch einen unglaublichen zufall hörten wir das geräusch des teleradars. wir sind nicht weniger erstaunt als ihr, bewußtes leben vorzufinden, bitte, gebt sofort antwort. ghy, lev und cip.« Atemlose Spannung erfüllte die Sucher, als Lev den Rufknopf drückte und den Text auf die Reise schickte. Dem Fahrer 149
zitterten vor Erregung die Finger. Dieses Warten schien schlimmer als das, was hier unten vorgegangen war. Die Sekunden schienen Stunden zu dauern. Der Summer. Dann das hackende Stakkato. Langsam bewegte sich die Schlittenanlage und gab die erste Zeile des Textes frei. Die Antwort war sofort eingetroffen. »… hier luna oder mond. wir haben großartig überlebt. wir suchen seit wochen nach leben auf der erde. wir fanden nur spuren, niemals die fahrzeuge, von denen sie stammten. wieviel menschen leben bei euch? bitte, erklärt uns alles. lee und jean.« Lev atmete lange aus. Dann drehte er sich zu Ghy um und sagte: »Steige in deinen Schrauber. Fliege nach Brasca City zurück und hole die besten Geschichtswissenschaftler, die du finden kannst – und einen der Uralten. Machst du das?« »Natürlich. Zwei Tage, dann komme ich mit einem Großschrauber zurück. Werdet ihr so lange warten können?« »Mann«, sagte Cip voller Begeisterung, »nichts leichter als das. Bei diesen Gesprächspartnern.« »Gut«, sagte Ghy, »ich fliege sofort. Bis in zwei Tagen.« Aber da saß Lev bereits wieder auf seinem Hocker und schrieb mit zwei Fingern, so schnell er konnte. Er wollte niemanden warten lassen. Die Zeit war reif …
7. »Vieles Gewaltige lebt, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch …« Sophokles, Griechischer Tragödiendichter. 2477 Jahre vor Null oder BLD – 2477
Die ganze Nacht hindurch, geschlagene acht Stunden lang, wechselte Lee McKechnie Nachrichten, Schilderungen und 150
Vermutungen mit den drei Suchern. Das Teleradar knatterte ständig. »Jetzt haben wir unsere Aufgabe«, meinte Lee und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sie rufen uns. Die Reste der Menschheit werden sich in den nächsten Monaten sammeln.« »Ich denke noch gar nicht soweit«, sagte Jean und beugte sich über den Text. Noch wußte niemand außer ihnen, was vorgefallen war. Die ungeheure Sensation würde morgen mit den Frühnachrichten verkündet werden. »Wir werden ein Raumschiff bauen müssen«, sagte Lee zwischen zwei Sendungen. »Wir können es nicht. Aber die Robots werden uns helfen«, antwortete Jean kurz. Er verglich die Fragen mit den Antworten. Noch war so vieles nicht gefragt und nicht gesagt worden. Die alte Nachrichtenstation bot das Bild eines Raumes, in dem angestrengt gearbeitet wurde. Lexika und maschinengeschriebene Werke lagen auf den Tischen. Stöße von Kunststoffbogen türmten sich übereinander und lagen neben dem Paneel des Teleradars. Zwischen den Papieren und Büchern standen halbleere Kaffeetassen. Jean und Lee waren von einer hektischen Nervosität erfüllt. Sie arbeiteten immer schneller. Wieder rasselten die Tasten des Geräts über den Kunststoff. Wieder Fragen, Antworten und Stellungnahmen. »Wir haben ihnen erklärt, wer oder was den Atomkrieg verschuldet hat. Sie haben uns den Begriff ›Null‹ erläutert, ihre besonderen geistigen Fähigkeiten und die einzelnen Städte genannt und geschildert …« »… und wir erklärten ihnen die Arbeiten, die zur völligen Autarkie notwendig waren«, ergänzte Jean den Satz Lees. Lee ließ sich in seinen Sessel zurückfallen und schloß die Augen. »Ich kann nicht mehr«, erklärte er müde. »Noch eine Stunde«, sagte Jean hastig. »Dann werden wir die besten Leute holen uns uns ablösen lassen.« »Gut, eine Stunde«, versprach Lee. 151
»Sie wollen wissen«, sagte er dann, nachdem er den Schluß der Meldung abgewartet hatte, »wann wir das Schiff fertig haben werden. Sie drängen auf schnellstmöglichen Kontakt. Was antworten wir?« Jean überlegte, dann winkte er einem Automaten. »Komm hierher!« befahl Lee. Der Robot stand neben dem Sohn McKechnies. »Wie lange werdet ihr benötigen, um ein Schiff zu bauen, das zwischen Mond und Erde verkehren kann?« »Völlige Materialfreiheit, Herr?« fragte die Maschine. »Natürlich«, antwortete Lee. »Es eilt.« »Ungefähr zwei Wochen.« »… wir werden rund fünfzehn tage an dem schiff bauen. dann steht einem kontakt nichts mehr im wege. wo sollen wir landen?« Die Finger Lees hoben sich wieder von den Tasten. Er drückte den Rufknopf und wartete. Nach einer Minute kam die Antwort. »… gut. wir warten natürlich. landet in brasca city. die Stadt steht auf den ruinen von omaha am missouri river. dort ist eine riesige zone sekundärer Strahlung inmitten eines gebiets, das nur von wüste gebildet wird. wir stellen feuer auf, wenn wir wissen, daß ihr unterwegs seid. wir warten dringend auf euch …« Lee sah Jean von der Seite an. »Wir haben die Einladung bekommen«, meinte er mit schwachem Lächeln. »Nehmen wir sie an?« »Du fragst noch?« Jean grinste und zündete sich eine Zigarette an. »… wir kommen in drei wochen … jetzt bitten wir um zwei stunden pause. inzwischen könnt ihr einen bericht über die gedanken senden, die von euch aus projiziert worden sind und unsere träume beeinflußten. wir holen die ablösung – over.« »Das wäre es gewesen«, sagte Lee und stand auf. 152
»Sieben Uhr dreißig. Wir werden zur Sprecherkabine unserer Nachrichtenstation hinübergehen«, sagte Jean unternehmungslustig. Er schien seinen toten Punkt überwunden zu haben. »Auch das noch – dann ist endgültig Schluß«, verkündete Lee erschöpft, aber zufrieden. Noch nie in den letzten fünfundsiebzig Jahren war die Station auf dem Mond von einer ähnlichen Nachricht geweckt worden. Die Menschen blickten ungläubig auf die Schirme ihrer Nachrichtengeräte und sahen die bleichen Gesichter von Jean und Lee, die alle Spuren der Erschöpfung trugen. In derselben Sekunde begannen die neunzehn Robots in der Kuppel mit der Arbeit. Die fünfzehn Tage vergingen viel zu rasch. Pausenlos wechselten sich die Mannschaften an dem Teleradar ab. Auch das Gerät auf der Erde wurde von mehreren Teams benützt, die abwechselnd sendeten und schliefen. Ein Lastenschrauber hatte eine Gruppe aus Brasca City abgesetzt und holte noch eine zweite. Endlos ringelten sich die engbeschriebenen Kunststoffschlangen aus den Schlitzen der Geräte, wurden abgetrennt und gebündelt. Auf wuchtigen Spezialschienen entstand der langgestreckte Körper des Raumschiffs. Man hatte auf jede gefällige Form verzichtet, um möglichst schnell fertig zu werden. Neunzehn Automaten und drei Technikerteams arbeiteten wie rasend. Pausenlos schmolz ein Hochofen Schrott und Metallabfälle ein, walzte Bleche und belegte sie mit Wolfram. Stählerne Schienen und Träger wurden mit den Atombrennern zusammengeschweißt, die das Sternenschiff hinterlassen hatte. Platten fügten sich zusammen, wurden mit dem Untergrund vernietet und befestigt. Ein Kommando spritzte die Innenwände mit isolierenden Kunststoffschichten aus. Eine Technikergruppe testete die elektronischen Geräte der Navigation. Eine andere installierte Pumpen und Tanks. Treibstoffe wollte man aus der Laserstrahlanlage, die den Mondba153
salt ausschmolz, abziehen und in die Tanks füllen. Es wurde ein Zehnmannschiff. Plötzlich tauchte ein neues technisches Problem auf. Die Nachkommen der Erdmenschen waren immun gegen Sekundärstrahlung. Nicht so die Männer und Frauen der Mondstation. Sofort wurden zwei Robots abgezogen und einer neuen Arbeit zugeteilt. Sie kleideten die Passagierräume der Rakete mit einem speziell entwickelten Kunststoff des Planeten Apodee aus, der kosmische Strahlung und Gammapartikel absorbierte. Auch zehn Raumanzüge leichtester Bauart wurden damit verkleidet. Schließlich war das Raumschiff fertig. Während ein Gebläse das dünne Kunststoffzelt aufblies, das die Automaten außen an die stabile Kuppelhülle angeschweißt hatten, wurden drei Segmente aus der Kuppel herausgetrennt. Jetzt schob ein Schlepper das Schiff auf den Schienen durch den letzten Abschnitt der Kuppel, unter dem Rand des Ausschnitts hindurch in das Zelt. Sofort begannen die Maschinen die Lücke wieder zu schließen und den Luftverlust auszugleichen. Dann fuhren Hydrauliken aus und hoben den Kegel in die Senkrechte. Zwanzig Meter neben der Werkstattkuppel stand das Raumschiff im Sonnenlicht und glänzte. Vorräte waren an Bord. Der stählerne Kegel sollte nicht länger als zwanzig Stunden unterwegs sein. Ein Kunststoffschlauch verband die Schleuse mit der Luke des Raumers. Lee McKechnie und Jean Young waren die ersten Männer, die von dem Schiff Besitz ergriffen. Ihnen folgten zwei Automaten und schalteten die Maschinen. Natürlich war das Schiff eine reichlich primitive Konstruktion – aber es sollte nichts anderes tun, als einige Male zwischen Mond und Erde kreuzen. Dafür war es gut genug. Die Mannschaft ging an Bord. Hinter den Doppelscheiben der Aussichtsfenster beobachteten die Augen der Zurückbleibenden, wie die Gestalten durch den aufgeblähten Schlauch 154
gingen, ihre Raumanzüge über den Armen. Dann schloß sich das Außenschott. Jeder auf dem Mond beobachtete die Phase vor dem Start. »Es kann losgehen, Leute«, sagte Lee McKechnie vergnügt. Er dachte an alles andere als an die Gefahren des Fluges. Seine Gedanken waren bereits auf der Erde – bei den Landungsfeuern um Brasca City. Ein Automat leitete den Start ein. Auf der Erde tickte der Schreiber des Teleradars. »… in wenigen sekunden startet das schiff. fahrzeit projektiert für zwanzig stunden. sie landen in der nacht …« Antwort: »… unsere feuer werden brennen …« Fauchend sprangen die Düsen des Schiffes an. Mondstaub und Wuchermoose wurden hochgerissen, dann hob sich das Schiff von den Startgestellen. Vor den Augen der acht Männer lag die Erde frei im Raum. Das Schiff schwebte auf die Erde zu. »Endlich …«, flüsterte Gary Parker ergriffen. In der Mitte des nordamerikanischen Kontinents flackerten Feuer auf. Fässer voll Benzin, in die man dicke Stäbe gesteckt hatte. Diese imposant leuchtenden Fackeln waren improvisiert worden; jene Stäbe waren reines Magnesium. Die Landefeuer bildeten einen weiten Kreis. »Sieht phantastisch aus. Der Kreis vor der Stadt und in der Mitte die Lichter von Brasca City. Landescheinwerfer einschalten!« sagte Lee McKechnie. Der Automat gehorchte wortlos. Langsam senkte sich das Schiff. Es hatte die letzten zehntausend Kilometer im antriebslosen Gleitflug zurückgelegt. Einer der Männer, der in den vergangenen Wochen nichts anderes getan hatte, als die Probleme des Segelflugs aus einem vergilbten Buch zu studieren, lenkte das Schiff. Jetzt hatte der fliegende Kegel so viel Geschwindigkeit verloren, daß die Automaten eine Senkrechtlandung einleiten konnten. Aus den Düsen brach volles Feuer. Die Flammen berührten mit ihren zuckenden Spitzen das 155
Gras, entzündeten es und wurden breiter, je mehr sich das Schiff senkte. Endlich ging ein leichter Stoß durch das Metall. Die federnden Flügel und das Schlußstück des Seitenleitwerks hatten den Aufprall ausgehalten. Gurgelnd erstarben die Pumpen. Die Zündflammen wurden gelöscht. Die brennenden Ränder des Grasflecks verloren sich und erstarben unter dem Strahl Wasser, der aus einem Wagen hervorbrach. Dann kamen beleuchtete Wagen aus der Dunkelheit herangefahren. Die Lichter der Stadt schimmerten am Horizont. Die Schleuse wurde geöffnet. Acht Männer kletterten in grauen Raumanzügen heraus. Die plötzlich einsetzende Schwerkraft ließ die Knie zittern und drückte die Männer zu Boden. Sie betrug das Sechsfache der lunaren. Die Schlepper hielten vor dem Schiff, Gestalten lösten sich von den Bordwänden und kamen im Licht von vielen Scheinwerfern näher. Es waren Menschen. Die Szene hatte etwas Düsteres, Einmaliges, Unwirkliches. In der Mitte eines schwarzen Kreises aus verkohlten Mammutgräsern ruhte das Schiff wie eine silberne Rundpyramide. Neben dem Schiff standen acht Menschen in ihren Kunststoffanzügen. Der Geruch von verbrannten Pflanzen und heißen Motoren zog langsam über die Lichtung. Maschinen brummten. Zwischen den Schleppern kamen weißgekleidete Gestalten auf die Gruppe zu. Endlich wurde das Schweigen von einer Stimme unterbrochen. »Willkommen auf der Erde, Freunde!« sagte einer der Männer und streckte seine Hand langsam aus. »Danke«, sagte Lee, und seine Stimme kam aus dem Lautsprecher, der seitlich auf dem Helm seines Anzugs montiert war. »Ich bin Lev, der Sucher.« Lee betrachtete den Weißgekleideten. Der Mann hatte ein bronzenes Gesicht und leuchtende Augen, über denen buschige 156
Brauen standen. Der Schädel war kahl. Das Gesicht wirkte gut; scharfgeschnittene Züge und eine prägnante Nase. »Wir waren die ersten, die miteinander sprachen«, sagte der Lautsprecher blechern. »Mein Name ist Lee McKechnie. Ich bin der Sohn des Stationsleiters. Die Leute hier sind aus der dritten Generation. Wir danken euch für den Empfang. Die Gelegenheit ist so einmalig, daß wir gehemmt wirken. Unsere Worte können nicht mit den Gefühlen Schritt halten.« Lev lächelte. Seine ernsten Augen hefteten sich auf die Gesichter der Männer, die verschwommen hinter den Gesichtsplatten zu sehen waren. »Die Schwerkraft konnten wir nicht neutralisieren; es wird noch an den entsprechenden Einrichtungen gearbeitet. Das Problem war neu für uns. Wir haben einen Teil der Stadt von Sekundärstrahlung befreien können. Darf ich euch bitten, uns in die Schlepper zu folgen?« Sein Arm wies nach hinten. Langsam schob sich ein Gigant nach vorn und hielt an, als die Einstiegsleiter neben Lee schwebte. »Danke, Lev. Wir kommen«, sagte der Lautsprecher auf Lees Helm. Nacheinander kletterten die Besucher die Leiter hoch und taumelten über die Plattformen in die Kabine hinein. Dort war alles ausgeräumt. Zehn Sessel standen darin. Der Fahrer hob die Hand, als Lee hinter Lev eintrat. »Hier ist keine Strahlung. Ihr könnt die Anzüge ablegen«, sagte Lev und half Lee dabei. Minuten später saßen die Raumschiffsinsassen hinter dem Fahrer, der den Schlepper wendete und sich an die Spitze eines langen Zugs setzte. Wie ein schillernder Lindwurm bewegten sich die Fahrzeuge auf die Stadt zu. Der Geigerzähler, den Lee am Handgelenk trug, tickte zaghaft und unregelmäßig; die Luft war sauber. »Ich weiß nicht, wovon ich anfangen soll«, sagte Lev schließlich und lachte. »Es ist so viel zu sagen, zu fragen, zu erzählen, daß kein Thema gut genug erscheint.« 157
Lee sah den Sucher an. »Genauso geht es uns. Wir sind von dem historischen Augenblick völlig gebannt.« Der Fahrer des Schleppers wandte sich halb um und fragte: »Wie war der Flug?« »Großartig«, sagte Bill Komroy. »Ein völlig neuartiges Gefühl, besonders das Eintauchen in die Lufthülle. Und die Art, wie Toni Geraldson – das ist dieser Mann – ohne Antrieb durch die Luft raste, war besonders dazu angetan, uns nicht einen Moment ohne Spannung zu lassen. Wie ist eigentlich das Programm, das Brasca City für uns aufgestellt hat?« »Es dauert ein Jahr, bis wir damit fertig sind. Wir wollen mit euch zum erstenmal den Planeten umfliegen und neue Städte besuchen. Die Uralten wollen euch Fragen stellen und so fort. Es ist sehr viel.« Lev wandte sich wieder an McKechnie. »Seht nach draußen«, sagte er und zeigte auf die Glaswände der Schlepperkabine, »wir kommen in die Stadt.« Man hatte vor fünfzig Jahren die Stadt Brasca City sorgfältig geplant und im großen Stil gebaut. Breite Straßen und wenige hohe Häuser inmitten sorgfältig von Mutationen gereinigter Anlagen. Gerade in diesem Moment schien es, als würde der erste Schlepper durch eine schillernde Seifenblase riesiger Ausmaße fahren. »Diese Erscheinung ist ein Feld, das die Bezirke der Innenstadt seit drei Tagen von jeder Strahlung freihält. Es ist euretwegen aufgebaut worden – der zugrundeliegende Effekt wird aber mithelfen, die verseuchten Gebiete der Erde zu reinigen. Nur – die benötigten Energien sind rasch verbraucht. Wir haben hier nur zwei Atomkraftwerke.« Lev erklärte seinen Besuchern weiter, was Brasca City alles zu bieten hatte. »Die Stadt ist nach dem Prinzip der ineinandergeschachtelten Dreiecke gebaut worden. Je drei Hochbauten schließen ein Dreieck, das innen und an den Kreuzungspunkten durch Park158
anlagen aufgelockert ist. Das wissenschaftliche Zentrum enthält eine Bibliothek – sie ist aus unzähligen Einzelfunden und dem Wissen einiger Uralter zusammengestellt.« »Die Uralten – was ist das?« fragte John Naira. »Das sind vier Männer, die unmittelbare Zeugen des Tages Null sind. Sie sind fast hundert Jahre alt. Ein Techniker, ein Bauer, ein Verwaltungsbeamter und ein Schlosser. Wir konnten ihr Wissen sehr gut gebrauchen.« Jetzt waren sie im Stadtkern angelangt. Die Fassaden der großen Bauten waren beleuchtet. Über den hellen Straßen schwebten gelbleuchtende Platten. Dunkelgrüne, gepflegte Bäume umstanden den kreisrunden Platz. »Wieviel Menschen wohnen in Brasca City?« wollte Sven Musgrave wissen. »Dreihunderttausend«, sagte Lev. »Etwa ein Zehntel setzt sich aus Flüchtlingen und deren Nachkommen zusammen. Der Rest ist in den letzten dreißig Jahren aus allen Teilen des Landes gesammelt worden. Die Versorgung an Energie besorgt ein Wasserkraftwerk des Missouri. Die Nahrungsmittel werden auf Farmen, die wir euch morgen zeigen, geerntet. Unsere Fleischrationen allerdings sind immer noch ziemlich dürftig.« »Unglaublich«, meinte Geraldson nickend. »Ihr seid fast so tüchtig gewesen wie unsere Väter. Als wir geboren wurden, hatten zwei Generationen pausenlos gearbeitet, um uns ein großes Erbe zu hinterlassen. Der Mond ist soweit kolonisiert, daß wir restlos autark sind. Wir haben sogar Tabak angebaut – wir kennen Pflanzen, die bereits in der unglaublich dünnen Mondatmosphäre wachsen.« Ohne die Raumanzüge konnten sich die Menschen der Mondstation wesentlich besser bewegen, trotz der Schwerkraft der Erde. Aber sie würden Wochen brauchen, um sich restlos umstellen zu können. Jetzt saßen sie seit drei Stunden im Kreise der Wissenschaftler und hörten zu, fragten und gaben Antworten. 159
»Das ist ein völlig neuer Aspekt«, meinte einer der Anführer der Sucherkommandos, nachdem er den uralten Brief des Beobachters Nibloc Layc gelesen hatte. »Ich war bisher wie alle Überlebenden der Meinung, daß die Menschheit selbst ihren Untergang verschuldet hat. Ich beginne, einen außergewöhnlich kühnen Plan zu entwickeln.« Lee hob die Hand und lächelte ironisch. »Dieser Plan«, sagte er eindringlich, »existiert seit rund neunundsechzig Jahren. Auch wir wollen diesen Galaktischen Rat besuchen und ihm vor Augen halten, was ein Mitglied seiner Suchertruppe verschuldet hat. Nur – wir und auch unsere Automaten, von denen dieses Schreiben spricht, sind außerstande, ein Sternenschiff zu konstruieren. Liegt das in den geistigen Möglichkeiten eurer Telurgisten und Metallexperten?« Langsam legte der Anführer das glasgefaßte Dokument auf einen niedrigen Tisch zurück. »Ich denke – ja. Natürlich gibt es Probleme, die über das Technische hinausgehen. Eine Truppe fähiger Telurgisten, deren wir viele haben, kann dieses Schiff in weniger als zwei Tagen wachsen lassen. Aber da sind die Maschinen, da ist das Kardinalproblem, wie das Schiff innerhalb einer relativ kurzen Zeit bis zu dem Planeten Apodee reisen kann.« Resignierend hob der Sucher die Arme und ließ sie wieder fallen. Junge Mädchen glitten lautlos zwischen den Gästen hin und her und füllten Gläser, stellten Schalen mit Gebäck und Früchten auf die Platten. »Du zählst unsere Probleme auf, Celo«, sagte McKechnie. »Als wir vor vielen Jahren unsere besonderen Fähigkeiten entdeckten«, sagte Celo laut und wandte sich an die Gäste, »merkten wir, welche Möglichkeiten sich daraus ergaben. Jedes Haus, das ihr gesehen habt, ist von einem Team gebaut worden, das nichts anderes tat, als Eisenträger und jede Form von Schrott anzustarren und die Richtung der Moleküle zu bestimmen.« 160
»Es war ein unheimliches Bild«, warf Cip, der Sucher, ein und berührte Gary Parker am Arm, »als die Profilträger in die Luft zu wachsen begannen, Vierecke bildeten und zu Würfeln zusammenwuchsen. Steine begannen die Lücken auszufüllen, Quarz wurde geschmolzen und in Rahmen eingepaßt.« Eine unheimliche Vision stieg in Lee McKechnie auf, eine Vision, in der ganze Städte wie Wunderblumen aus den Ruinen alter Siedlungen der Sonne entgegenwuchsen, wie sich im Innern alter Fahrzeuge die Atomkräfte neu ordneten und nach einem geistigen Schema entwickelten, um zu Schleppern, Atomreaktoren oder Hubschraubern zu werden. Lee fühlte plötzlich, wie kalter Schweiß auf seiner Stirn perlte. »Maschinen sind nichts anderes für uns als ernsthaftes Spielzeug. Wir bauten Motoren nach neuen Prinzipien und Dinge, die vor Null als völlig unmöglich erschienen wären. Wir grinsten verächtlich, als wir das erste Elektronenhirn sahen. Wir haben Maschinen, die tausendmal schneller arbeiten – und viel kleiner sind. Technik ist Spielerei für uns. Notwendige Spielerei, denn wir müssen mit ihr leben. Aber gleichzeitig wertlos, weil wir sie beherrschen. Nichts, was auf dieser Welt gebaut werden mußte, hat je die Hand eines Menschen gesehen.« Dieses Mal hatte Ghy, der beste Telurgist der Suchergruppen, gesprochen. »Ich bin überzeugt, daß ihr dieses Raumschiff bauen werdet«, sagte Lee schließlich widerstrebend. Immer noch nicht konnte er sich daran gewöhnen, daß Menschen über die Materie herrschten. »Es ist fast sicher – bis auf die Maschinen des Antriebs.« Lee sah zu Celo hinüber, der gesprochen hatte. »Ich bin überzeugt, daß den Denkern unter euch ein Prinzip einfällt, nach dem wir in kürzester Zeit durch den Raum reisen werden.« »Du bist optimistischer als ich«, antwortete Celo. »Warten wir.« 161
»Uns würde interessieren, aus welchem Grund wir die Städte nicht bemerkt haben. Lee hier«, Young deutete auf McKechnie, »hat einen Monat lang nach Leben auf der Erde gesucht und nichts anderes gesehen als Schlepperspuren.« »Das ist ganz einfach«, sagte Celo, »ihr seht direkt von oben herunter. Ich glaube, daß Brasca City schon aus wenigen Kilometern Entfernung wegen der vielen Wälder nicht zu sehen ist – von oben wird sie wie eine Ansammlung von Ruinen zwischen wucherndem Dschungel wirken. Vermutlich wußte Lee nicht genau, wonach er suchte. Stimmt’s, Lee?« »Du kannst recht haben«, pflichtete ihm der Techniker bei. »Wir haben für euch ein Haus erstellt«, sagte Celo und stand auf, »das in einer der schönsten Zonen der City liegt. Dort sind Zimmer eingerichtet, so wie wir uns eben die Einrichtung eurer Mondkuppeln vorstellen. Wir haben mit mehr Besuchern gerechnet. Das Haus wird halb leer bleiben. Ich darf euch dorthin bringen?« Die Besucher stimmten zu. Nach einem kurzen Gang durch beleuchtete Straßen kamen die Männer an einen Park, der verborgene Träume in ihnen weckte. Die Vorstellungen von romantischen Gärten der Erde waren hier Wirklichkeit geworden. Büsche dufteten betäubend. Bäche schlängelten sich entlang der kiesbestreuten Ufer. Brücken spannten sich über glitzernde Wellen. Ein Teich kam in Sicht, der Kies knirschte unter den Sohlen. Wie ein heller Schemen ragte mitten in dem Park ein Haus auf; überwuchert mit blütenschweren Pflanzen. Licht drang hinter Vorhängen hervor und spiegelte sich in dem dunklen Wasser. »Ihr seid vollendete Gastgeber, Celo. Dieses Kompliment kann ich uneingeschränkt machen«, sagte Lee. Minuten später saß er mit Celo auf dem Balkon seines Apartements. Es war mit nichts gespart worden; Luxus war als Formschönheit und völlig unaufdringlich aufgefaßt worden. »Ich bitte dich um eines, Lee«, begann Celo. Sein hageres 162
Mutantengesicht beugte sich angespannt in den Lichtkreis der Tischlampe. Weit unter ihnen wisperten Nachtvögel in den Zweigen eines Baumes. »Wir sind ein harter Menschenschlag; Enkel von Mutanten, die den Tieren näher waren als dem Menschen. Wir sind durch unsere Geistesgaben verwöhnt. Ich vermute, daß wir es an echter Herzlichkeit mangeln lassen. Ihr werdet es uns nicht übelnehmen? Wir müssen lernen, richtig Mensch zu werden. Zuviel Elend hat uns hart gemacht. Könnt ihr uns verstehen?« Lee sah in die brennenden Augen seines Gegenübers. Er fühlte, wie es ihm heiß in der Kehle würgte. Er dachte nicht eine Sekunde lang, daß ein Mann eigentlich nicht weinen dürfe. Schweigend sahen sich die beiden Männer an, sie waren exponierte Personen, Anführer und Verantwortungsvolle. »Du hast noch niemals falscher gedacht als gerade jetzt«, sagte Lee McKechnie heiser. Seine Stimme kippte. Er räusperte sich mehrere Male. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Wir selbst sind die Fremdlinge, die in den Schoß der Erde zurückkehren. Ein Dreivierteljahrhundert getrennter Entwicklung liegt zwischen unseren Kulturkreisen. Wir verstehen uns, und das ist das Wichtigste an der ganzen Sache. Warte einige Wochen, dann wirst du sehen, wie gut wir miteinander auskommen. Die anderen sieben Männer, die ich mitgebracht habe, sind noch jung. Ich sah vorhin, daß es hier hübsche Mädchen gibt. Auch da werden sich schnell Freundschaften bilden.« »Dein Ernst?« fragte Celo und sah an Lee vorbei in die Nacht des Parks. »Völlig«, sagte Lee und versuchte ein schwaches Lächeln. »Ich werde dich allein lassen«, murmelte Celo. »Ich danke dir für das, was du eben gesagt hast. Ich sah Schwierigkeiten, die es hoffentlich nicht geben wird.« Die Männer schüttelten sich lange die Hände. In dieser Geste lag die gemeinsame Zukunft der positiven Mutanten der Erde und der Überlebenden des Mondes. 163
Lee stand eine Weile an die Brüstung des Balkons gelehnt und blickte in die irdische Nacht, in der vor siebzig Jahren sein Vater hinaufgeschossen worden war in die Mitte der Scheibe des Vollmonds. Jetzt war der Sohn zurückgekehrt auf die zerstörte Erde. Weite Gebiete leuchteten in radioaktiver Glut. Asche war alles, was von der bekannten Kultur übriggeblieben war. Aber die Glut unter der Asche war zu heller Flamme entfacht. Monate danach: Young, Parker und Lee McKechnie standen vor der Hülle des Raumschiffs. Fast zwei Kilometer lang zog sich die langgestreckte Spindel über die Landebahn, die unter den Stahlstempeln der Montagelager zerbrochen war. Nur eine einzige Luke unterbrach die Seitenfront in ihrer Linienführung. Die Luken, hinter denen sich die Linsen komplizierter Bildgeräte und Projektoren verbargen, waren geschlossen; ihre Fugen von hier unten nicht sichtbar. Nur vorn, an der nadelfeinen Stelle, an der die beiden elliptischen Sphären zusammentrafen, zogen sich undurchsichtige Fensterschlitze nach hinten. Eine Rampe stellte die Verbindung mit dem Boden dar. Sie endete an der Stelle, an der die Männer und ein Telurgist standen. Einhundertneunzig Meter lang war die kunststoffbeschichtete schräge Fläche, auf der Karren Güter hinaufbrachten, Menschen herunterliefen oder sich in einem der Aufzüge transportieren ließen. Fünfhundert Meter maß das Schiff an seiner dicksten Stelle. Es war für dreihundert Passagiere eingerichtet worden. Appartements, eine Maschinenhalle von den Ausmaßen eines gotischen Münsters, Vorratsräume für Nahrungsmittel, Geräte und Ausstattung, Energiespeicherstellen und mächtige Kupferkabel, die sich wie Urwaldriesen durch das Schiff zogen – das waren die Elemente, die zusammengefaßt das Schiff ergaben. NOVA TERRA. 164
Die »neue Erde« – ein hoffnungsträchtiger Name für eine Entwicklung, die hier ihren Anfang nahm. Lee McKechnie stand neben dem Schiff und dachte an die vergangenen Wochen und Monate. Diese Zeit glich einem endlosen Farbfilm, der in drei Dimensionen, vielen Sprachen und in einer Landschaft spielte, die jenseits aller menschlichen Phantasie lag. Die Unterhaltungen mit den Uralten … Greise, deren Geist frisch war wie der eines Dreißigjährigen. Sie schilderten den Mondleuten, wie die Erde untergegangen war. Noch einmal zogen heulende Raketen über Wolken, noch einmal starteten Bomberverbände und Jägerstaffeln. Einen Tag lang hatte die Erinnerung die Männer fast gelähmt. Die langen Flüge über die Erde hatten dazugeholfen, die kalte Entschlossenheit zu fördern. Das Resultat aller dieser Gedanken stand hier, die NOVA TERRA. Die Nachricht von Nibloc Layc und seinem Sternenschiff jedoch war die Sensation für alle Terraner. Haysh Basis hatte versprochen, eine Delegation der ersten Führer in das Sternenschiff zu entsenden. Lee McKechnies Haar war darüber grau geworden. Er sah und hörte. Zusammen einhunderttausend negative Mutationen, die in Krankenhäusern gepflegt wurden: Anschauungsunterricht des Grauens. Die Ergebnisse zerstörter Chromosomensätze, defekter Erbanlagen und in Unordnung geratener Fortpflanzungsfähigkeit der Enkel des Tages Null. Die unendlichen Variationen der Möglichkeit, lebensunwertes Leben zu erzeugen. Er hatte nachts die Vision wiederkehrender Alpträume: Gitter, hinter denen sich weiße Zimmer mit Spezialbetten befanden. In den Betten, auf ungefügen Stühlen oder hilflos in der Sonne sitzend die Mutationen. Frauen und Mädchen, die unter Lebensgefahr die Mutationen versorgten. Der Blick aus verschleierten Augen von Mißgeburten, die nicht einmal dem kranken Hirn eines Malers entspringen konnten. 165
Wahnsinn! Mit äußerster Konzentration richtete Lee seine Gedanken auf den Riesen aus Stählen, Spezialwolframbronzen und Kunststoff. Einen Monat lang hatten die Telurgisten von drei Städten daran gebaut – ein Raumschiff war gewachsen, ohne daß man eine Maschine gesehen hätte. Doch: Vorher hatten Schrauber und Schlepper eine Woche lang von den zahlreichen Ruinen der Stahlwerke oder Metallager der Primärstrahlungszonen unzählige Tonnen von Metall herbeigeflogen und abgeladen. Die Maschinen waren das Erstaunlichste an dem ganzen Projekt. Die NOVA TERRA besaß eine Hyperraumschleuder. Ein starr montierter Mechanismus, der nur drei bewegliche Teile aufwies. Schiffswände waren die Energiespender. Eine große Spule verwandelte jene Energie, die an und für sich bereits merkwürdig war durch ihre Existenz, in eine andere Form. Diese andere Energieart vermochte das Hirn McKechnies nicht mehr zu ergründen. Es war jedenfalls so, daß sich die NOVA TERRA an den Kraftfeldern des interstellaren Raumes entlanghangelte. Lee, Lev und Celo waren die Chefs dieses Schiffes. Neben ihnen würde während der Astrogation ein Robot stehen, ein Automat von Apodee Minor, der die Daten für die Abszissen und die Ordinatenachsen kannte, die Daten für den Heimflug. »Wann wollt ihr starten, Lee?« fragte Jean Young und konnte sich nicht vom Anblick der funkelnden Flanke des Sternenschiffs trennen. »In genau einer Woche«, sagte Lee. »Wenn die Delegationen der Städte mit ihren Mutationen eingetroffen sind. Indian Base und Haysh Basis haben bereits die Schrauber losgeschickt, um Delegierte zu sammeln. Die anderen Städte warten auf die Maschinen. Die Gruppen von Brasca City, Sardon Base und Haysh Basis sind vollzählig an Bord.« »Ihr landet doch vorher auf dem Mond?« wollte Gary Parker wissen. 166
»Natürlich«, versprach Lee. »Unsere Rakete ist bereits im Laderaum verschwunden.« Bei einem der Probeflüge, die das Schiff um die Erde geführt hatten, war es einmal über dem versengten Grasfleck stehengeblieben, die Kielluke hatte sich in den Rumpf zurückgeschoben, und magnetische Greifer hatten die verhältnismäßig winzige Silberpyramide verankert und an Bord genommen. Geräuschlos war die NOVA TERRA wieder auf ihrem alten Platz gelandet. »Unsere kleine Welt sinkt hier zur völligen Bedeutungslosigkeit herab«, sagte Lee nachdenklich, mehr zu sich selbst. »Wir sind Kuppeln gewöhnt, die nicht höher sind als einen Kilometer. Wir kennen Wälder, zwei Kilometer an der breitesten Stelle und kreisförmig. Wir kennen nicht die Lufthülle der Erde – endlos unter blauem Himmel, Ebenen, anscheinend von Horizont zu Horizont, und zerklüftete Gebirge; Miniaturausgaben davon stehen an den Kraterrändern unseres winzigen Mondes. Das Schiff: Ein unfaßbarer Gigant. Es ist so neu, so ungewohnt.« Seine Begleiter schwiegen. Ihr junges Hirn schien flexibler; ein Trugschluß. Es war weniger tiefreichend, darum vertrug es neue Eindrücke besser. Beide Männer wußten, daß Lee in den letzten Wochen aus dem inneren Gleichgewicht gebracht worden war. Sie hofften auf einen langen Flug, damit er wieder zu sich selbst zurückkehren konnte. »Warst du schon in der Steuerkabine?« fragte Gary endlich. »Kabine – ha!« lachte Lee ironisch. »Das ist eine Halle, in der die Menschen wie Käfer umherkrabbeln. Die Decke ist zehn Meter vom Boden entfernt, die Wände dreißig Meter voneinander. In Hüfthöhe beginnt das Fenster, das einseitig verspiegelt ist. Man kann nur nach außen sehen.« Die acht Sessel waren Riesendinger, in denen die Sitzenden verschwanden. Alle Einrichtungsgegenstände waren für lange Steuerwachen angefertigt. Niedrige Tische, deren Platten sich 167
hoben und in ein Magazin unterhalb der Steuerhalle führten, würden auf der Sternenfahrt Speisen und Getränke auswerfen. Die Schirme, die anstelle der hinteren Fenster den Kosmos in die Kabine hineinspiegeln würden, waren riesengroß und konkav. Ein Schaltpult, das zehn Meter breit und zwei Meter tief war und ein Pilotensessel, der quer vor der Steuerung laufen konnte. Eine manuelle Lenkung für Atmosphärenflüge, die an ein Bild eines vielarmigen Meerestiers erinnerte, das war die Ausstattung des wichtigsten Raumes der NOVA TERRA. Ein stählerner Keil, der sich mit eigener Kraft hinaufschleudern würde zu den Sternen, wie ein Blitz zwischen den Sonnen verschwinden und die Mitte der Galaxis treffen würde nach einer Fahrt von nur einem halben Monat. Das war die NOVA TERRA. Lee McKechnie war einer der drei Schiffsführer. Er kannte noch nicht einmal den Piloten. Aber er flog fast jeden Abend hinüber nach Kap Canaveral und klammerte sich mit aller Gewalt an dieses armselige bißchen Maschine, das er zu überblikken vermochte. Sie unterhielten sich lange, Tonika, seine Kinder und er, über dieses Kommunikationsmittel. Es blieb, so unkompliziert es war, die einzige Möglichkeit, Kontakt mit der Mondstation aufrechtzuerhalten. Sie erlebten auf dem Mond, wie das Schiff wuchs, wie die Abordnungen aus den Städten ihre Räume aufsuchten, wie Lee den Auftrag erhielt, mit zwei Männern der Stadt Brasca City das Schiff zu führen, wie Lee mit dem Robot und dem Piloten, den er endlich selbst kennenlernte, die Speicher des Schiffes programmierte und mit den Daten für den Flug nach Apodee, zu Nibloc Layc, versah. Und sie hörten als letzte Mitteilung, daß die Besatzung an Bord gehen würde. Lev, Celo und Lee standen am Fuß der Rampe. An ihnen gingen die letzten Besatzungsmitglieder und die Anführer der Städtedelegationen vorbei. Die Männer trugen weiße Stiefel, 168
halblang, aus strahlendem Kunstleder und enge Hosen. Der dunkelrote Gürtel trennte die tiefblaue Jacke mit dem Symbol der Erde, einem gestickten Planeten mit herausgearbeiteten Kontinenten und dem Mond als Satelliten auf der Brustseite, von der Hose. Die dunkelbraunen Gesichter der Menschen leuchteten fröhlich. Zwischen ihnen herrschte eine wortlose Freundschaft, seit dem Abend, an dem sie allein in der stillen Steuerhalle gesessen und sich unterhalten hatten. Die beiden Stadtältesten von Indian Base gingen vorbei. Hinter ihnen, gekleidet in graue Tuniken, kamen die Männer aus Dolganpur. Weiße Turbane leuchteten mit der Sonne um die Wette. Tatana Harbour, Südsee. Die Technikerinnen verneigten sich vor den Schiffsführern und stiegen auf das Band. Nullarbor, Südaustralien. Zwei Städteführer unterhielten sich aufgeregt. Sie versäumten den Lift und bestiegen die Plattform eines anderen. Dann folgten die Abgeordneten von Ngoim aus Afrika. Die riesigen Neger hoben die Hände, als sie vorbeigingen, lachten und stellten sich auf den schwarzen Streifen, der mit ihnen hinaufglitt. Ainuh hatte drei Stadtväter, die klein und zierlich an Lee und seinen Freunden vorbeitrippelten und sich ins Schiff begaben. Die sagenhafte Stadt Thai. Die Delegierten trugen Kimonos mit feuerspeienden Drachen. Endlich war alles an Bord. Zum Abschied dröhnte das Horn des Schiffes auf. »Fertig«, sagte Lev knapp. »Gehen wir?« Hinter ihnen schob sich die Rampe vom Schiffsrumpf zurück. Langsam glitt der Block der Schleusentür zu. Der lange Flug konnte beginnen. Drei Sessel umstanden den Platz des Piloten. Moger, ein Mann, der nie ein Wort zuviel sagte, maß nicht ganz zwei Meter und war einer der besten Esper, über die Brasca City verfügte. Seine Reaktionen glichen denen der Robots. Auch jetzt huschten seine Finger blitzschnell über die Tasten, zauberten wirre Farbenspiele von Rot- und Grünwerten über die Kontrol169
len und brachten die Maschinen zum Laufen. Langsam wandte sich der Cäsarenkopf des Piloten. »Eine Ehrenrunde über die einzelnen Städte, nicht wahr?« fragte er. »Bitte«, sagte Lev, gleichzeitig mit Celo. Lee schwieg und sah auf die Schirme. Geräuschlos erhob sich der Gigant von seiner Unterlage und stieg hundertfünfzig Meter hoch. Dann drehte er sich auf der Stelle und richtete die Spitze auf Brasca City. Binnen dreier Sekunden war er über dem Zentrum der Stadt. Unten blickten zahllose Augen in den Himmel und sahen den blauen Blitz, als das Schiff abdrehte, um über Indian Base zu kreuzen. Zwei Stunden später stieg es senkrecht in den Raum, beschleunigte mit hundert Erdschweren, ohne daß sich ein Glas auf den Tischen rührte, und hielt über den Riesenkuppeln des Kraters an. Drei Stunden hatten sie Aufenthalt. Die Männer der Mondstation kamen an Bord, brachten ihre Frauen und Kinder mit, während die Erdenmenschen die Kuppeln besuchten und die Arbeit der Station voller Hochachtung betrachteten. Zwei der Männer, die mit der Rakete hinuntergeflogen waren, blieben in der Station. Sie wollten ihre Familien nicht verlassen. Noch waren sechs Mann der Mondstation vertreten, als das Schiff wieder startete. Zurück blieben die Rakete aus dem Laderaum der NOVA TERRA und die Kuppelstädte des Mondes. Licht würde achttausend Jahre benötigen, um bis in den Kern der Galaxis vorzustoßen. Das Schiff der Telurgisten hatte seine eigene interstellare Geometrie. Die NOVA TERRA beschleunigte mit dreihundert Erdschweren, erreichte die Lichtgeschwindigkeit, überschritt die Einsteinschwelle, trat in einen fünfdimensionalen Raum ein und riß sich selbst entlang einer hypothetischen Kraftlinie vorwärts bis zur nächsten Sonne. Dort schlug sie einen neuen Kurs ein. Sterne schossen vorbei wie Kometen ohne Schweif, Sonnen bewegten sich nach rückwärts, veränderten ihre Leuchtwerte 170
und verschwanden schließlich von den Heckschirmen. Lee lag auf seinem Lager und starrte an die Decke. Hier hatte ein künstlerisch begabter Telurgist die Metallstruktur sichtbar gemacht; sie erschien in achtmillionenfacher Vergrößerung als ein Raster aus verschiedenen Farben. Lee merkte erst, als er die Augen schloß, daß dieses Muster nichts anderes war als ein psychologischer Effekt, um den Betrachter einzuschläfern. Als ihn das Summen der automatischen Küche weckte, war das Schiff seinem Ziel bereits einige Lichtjahre näher gekommen. Noch blieben dreizehn Tage. Wie würde Apodee die Menschen empfangen? Lee lächelte verloren. Geschichte war niemals seine Stärke gewesen. Aber er hatte sich einen einzigen Ausspruch gut gemerkt. Es war Alexander von Mazedonien, genannt Alexander der Große. Er hatte jenen Satz geprägt, der als unausgesprochenes Vorzeichen über dem Flug der NOVA TERRA schwebte. »Ich kam nicht in der Absicht, zu nehmen, was ihr mir geben sollt – sondern ihr sollt behalten, was ich euch lasse.« Die Menschen waren gekommen, um Forderungen zu stellen. Die Glut unter der Asche loderte in heißem Feuer. Damals, vor dem Tag Null, hätten sie sich gern aufnehmen lassen, sie hätten begierig den Worten ihrer neuen Lehrer gelauscht. Heute hatten sich die Potentiale verlagert. Die Menschen brachten eine zerstörte Planetenkugel mit und Milliarden ausgerotteter Leben. Sie verlangten nach Sühne. Noch hatten die Terraner im Galaktischen Rat einen Verbündeten. Es war Nibloc Layc. Lebte er noch? Wenn nicht, würde Gewalt angewendet werden? Lee dachte mit Grauen an dieses Wort. Wieder wurde draußen einer der winzigen Sterne langsam größer, wuchs zu einer kalten, weißen Sonne, leuchtete das Schiff an und verschwand wieder in den Tiefen des Raumes. Das Ziel kam näher. Lee McKechnie stand auf und ging in die kleine Waschkabine hinüber. Die NOVA TERRA eilte weiter durch den Raum. 171
8. »Nichts weckt Rechtsgefühl so stark wie geschehenes Unrecht.« Seneca. Römischer Philosoph.
Das Blitzschiff schwebte drei Millionen Kilometer von Apodee entfernt. An Bord war alles ruhig; trotzdem liefen die Maschinen und hielten das Polizeiboot auf Kurs. Der Pilot saß schläfrig in seinem hochlehnigen Sessel. Der Cunyaner Ravon Gun zeigte alle Merkmale seiner harten Rasse. In den Aufenthaltsräumen schliefen die Männer der Wachmannschaft. Blitzschiffe hatten keine andere Aufgabe, als an allen Punkten der vereinigten Systeme nach Ordnung zu sehen, Piraten zu jagen oder Verbrecher zu stellen. In einer Welt, die das Mittelmaß allgemeinen Wohlstands gepachtet zu haben schien, waren diese Schiffe meist nur Symbol. Plötzlich, in rasender Schnelligkeit erwachte das Schiff. Ravon Gun hatte auf dem Zentralschirm einen Punkt gesehen, der sich mit einer derart großen Geschwindigkeit bewegte, die kein Schiff in der Nähe des Ersten Planeten haben durfte. Die Alarmglocken jagten die Geschützbedienungen, die Funktechniker und die Astrogatoren aus den Betten. »Hier! Ein Objekt rast mit höchster Geschwindigkeit auf Apodee zu. Den Impulsen nach ein Riesenschiff.« Ravon wandte sich an Ghizz, der die Ortungen durchführte. Das Schiff schoß los, flog eine Schleife und blieb dort mit sprungbereiten Maschinen stehen, wo die verlängerte Fluglinie des anderen Schiffes verlaufen würde – eine Million Kilometer über der Kruste Apodees. »Hier hast du Etwas«, meinte Ghizz und wies auf seinen Schirm, der einen Ausschnitt des Suchgeräts vergrößerte. »Kenne ich nicht.« »Fremde – hier?« sagte Ghizz atemlos mit zusammengeknif172
fenen Augen. »Was wollen sie? Aus welchem Bezirk kommt dieses Schiff?« Das Blitzschiff wendete auf der Stelle und drehte dem anstürmenden Gegner die Spitze zu. »Keinerlei Funkkontaktversuch. Der Fremde sendet und empfängt nicht. Wir hätten es sonst mit den Inframatikgeräten feststellen können. Wir gelangen nicht durch die Bordwände.« Diese Meldung kam von der Funkstelle. »Achtung – erste Warnung!« Männer am Lichtblitzprojektor begannen zu handeln. Strahlen verließen das Blitzschiff und erschienen hunderttausend Kilometer vor dem fremden Schiff im Raum. Sie lösten sich in eine Kette von Kugelblitzen auf, die wie eine Perlenschnur quer über dem Flugweg des Fremden lagen. Nichts geschah. Der Fremde raste weiter durch die Kette hindurch. »Vorsicht, Ravon, er rammt uns!« Das Blitzschiff zog sich fünfhundert Kilometer weit in den Raum zurück. Das fremde Schiff fegte vorbei – ein riesiger, blauleuchtender Schatten, dessen Front keine Luke zeigte. Nur zwei Buchstabengruppen waren es, die der Schirmtechniker für eine Sekunde aus dem Bild herausvergrößern konnte. »Meine Analyse«, stöhnte der Techniker neben Ravon, »die Lettern bestehen aus reinem Platin, nicht kleiner als drei Meter.« »Kannst du den Namen lesen?« fragte Ravon zerstreut. Er hatte genug zu tun, um sein Schiff zu beschleunigen und auf Apodee zuzufliegen. Wie zwei Falken schossen die Schiffe auf die Landschaft Apodee Minors zu, die sich sonnenbestrahlt zwischen den Küsten abzeichnete. Noch hatten beide Schiffe viel zuviel Fahrt. »Nein. Er ist fremd. Wir haben keinen Beobachter an Bord. Vielleicht würde jener die Buchstaben erkennen.« Jetzt schoß der Fremde durch die ersten Grenzschichten der Lufthülle, wurde langsamer, während das Blitzschiff ihn über173
holte und in einer weiten Kurve wieder in den Raum hinausschoß. Die NOVA TERRA ging dicht neben einem Gebäude nieder, das nicht viel kleiner war als das Schiff; einer gewaltigen Kuppel auf schlanken Säulen. »Das scheint eine Versammlungshalle zu sein. Landen?« Moger nahm seine Augen nicht einen Moment lang von dem Kontrollschirm. »Ich vermute, daß es das Klügste ist«, antwortete Lee. Vor ihnen lag die Landschaft Apodee Minors. Sie bestand aus kultivierter Wüste, Häusern, Gärten, einem gewaltigen Raumhafen und aus den Regierungsbauten. Der Automat bestätigte ihre Vermutungen. Noch nie war in Apodee Minor ein so großes Raumschiff gelandet. Der längliche Schatten schwebte über die Landepisten und verschmolz mit dem Schiff, als der Koloß niedersank. Sie waren gelandet. Jetzt kam das schwierigste Stück ihrer Mission. Aufgeregt umschwirrten Flugzeuge das Schiff. Geschütze richteten ihre Projektoren auf die Wände. Die Sonne ließ die Lettern des Namens aufschimmern wie flüssiges Gold. Langsam öffnete sich die Schleuse. Ein Steg wurde länger und setzte auf. Etwas Drohendes und Unwirkliches ging von dem Schiff aus – drohend war auch die völlige Lautlosigkeit aller Vorgänge. Lev und Lee blinzelten in dem hellen Licht und betraten den Belag der schrägen Rampe. Ein gepanzerter Schlepper fuhr vor, richtete die Rohre der Geschütze auf die Menschen und blieb stehen. Die stählernen Köpfe der Automaten hinter den Steuerungen blickten auf die beiden Fremden. »Nibloc Layc!« rief Lee zu den Maschinen hinauf. Viele Minuten vergingen in drohender Langsamkeit. Mit übergenauer Gründlichkeit verfolgte Lee McKechnie die Vorgänge. Niemand schien zu wissen, was getan werden sollte. Eine Gestalt lief aus dem Portal des Versammlungsgebäudes heraus, sah ungläubig auf das Schiff und winkte. Zwanzig Se174
kunden später bremste das Fahrzeug. Eine Tür flog auf. Ein weißgekleideter Mann mit leuchtenden roten Augen sprang heraus. Mit wenigen Schritten war er neben den Menschen, dem Esper und dem Mann der Mondstation. »Ich bin Nibloc Layc«, sagte der Mann in fehlerfreiem Englisch. »Wir sind die Menschen des Planeten, den ihr verwüstet habt.« Die Stimme Levs klang plötzlich schneidend und kalt. »Kann das möglich sein?« flüsterte Nibloc mehr als verwundert. »Wir haben dieses Schiff gebaut. Nicht einmal ein Blitzschiff hat es aufhalten können. Wir sind gekommen, um unsere Forderungen anzumelden.« Layc lächelte strahlend. »Ihr seid zur rechten Zeit gekommen. Ich hatte vor fünfundsiebzig Jahren einen Hilfeplan entwickelt, dessen letzte Phasen heute diskutiert werden. Wieviel Menschen haben überlebt?« »Wir wissen es nicht«, sagte Lee. Instinktiv fühlte er, daß dieser Mann von Apodee ihnen freundlich gegenüberstand. »Wir wissen nur, daß heute rund eine Million leben, die Enkel derjenigen, die von dem Atomkrieg verschont worden waren. Wir haben viel zu berichten.« »Du bist von der Mondstation, nicht wahr?« fragte Nibloc den Schiffsführer. »Mein Vater, Ariel McKechnie, war es, der die Dinge holte, die du uns hinterlassen hast.« Lee sah dem Beobachter in die Augen. »Eines …«, sagte Nibloc Layc leise, aber eindringlich. »Ich habe seit fünfundsiebzig Jahren nichts anderes getan, als den Hilfsplan für die Erde zu entwerfen, zu entwickeln und zu fördern. Ich bin der Anwalt der Erde.« »Das ist schön«, sagte Lev, der Sucher, hart. Aus seiner Stimme konnten die anderen bitteren Sarkasmus heraushören. »Aber stimmt es auch?« 175
»Mein Freund«, sagte Nibloc, und seine Stimme wurde um einige Grade lauter und schärfer. »Ich habe die Phasen des Untergangs eurer Heimat miterlebt. Keiner von euch hat das gesehen, was ich meinen Augen zugemutet habe. Mein Haar färbte sich dunkel. Ihr konntet euch noch mit etwas beschäftigen, um vom Elend nicht überwältigt zu werden. Ich konnte es nicht. Ich saß allein in meiner Steuerkabine und sah alles. Die Bomber, Raketen und Atompilze. Ich sah Milliarden von Menschen sterben. Ich war der einzige Zeuge des Untergangs. Ich träume noch nach einem Dreivierteljahrhundert so intensiv davon, daß ich schweißgebadet erwache. Ich habe mir damals geschworen, nicht eher zu ruhen, bis ich an der Spitze einer Flotte auf die Erde zurückkehren würde. Dieser Zeitpunkt würde in etwa fünfundzwanzig Jahren gekommen sein. Die Flotte, eintausenddreihundert Schiffe stark, ist in der Lage, einen Planeten zu transportieren. Sie würde die Erde von Radioaktivität befreien und alles wieder aufbauen, was wir indirekt zerstört haben. Das ist sozusagen mein Lebenswerk. Und du zweifelst daran, daß ich die Wahrheit spreche?« »Jetzt nicht mehr, Nibloc«, sagte Lev und streckte die Hand aus. Nibloc ergriff sie und schüttelte sie lange und fest. »Was habt ihr vor?« fragte er aufatmend. »Wir haben Delegationen aller Städte an Bord, die sich auf der Erde durch Sammeln einzelner Klans gebildet haben. Wir wollten nichts anderes als du.« »Gut«, sagte Nibloc Layc und überlegte kurz. Dann: »Laßt eure Leute aus dem Schiff kommen und in den Sitzungssaal gehen. Das wird den letzten Rest von Widerstand beiseite fegen. Wie viele sind es?« »Rund dreihundert«, sagte Lev. »Sie sollen in einem langen Zug uns dreien nachfolgen und sich in der Mitte des Sitzungssaals aufstellen. Und dann werden wir die Geschehnisse dieser vergangenen Zeit wieder lebendig werden lassen.« 176
»Das werden wir viel besser schaffen«, sagte Lev. Ein winziges Lächeln lag einen Moment lang um seinen schmalen Mund. »Wie meinst du das?« fragte Nibloc erstaunt. »Warte«, versprach Lee. Lev verschwand einen Augenblick später in der Schleuse und gab eine Reihe von Anordnungen durch. Ein Tag später standen sich Terraner und Ratsmitglieder gegenüber. An einem bestimmten Punkt der Diskussion sagte Nibloc laut und fast drohend: »Wir sind die Schuldigen. Wir schufen eine Zerstörung, die in der Geschichte des Kosmos einmalig ist. Schuldig sind in erster Linie die Männer des Planeten Cuny – sie weigern sich immer noch, mit uns zu verhandeln. Das ist nicht nur Feigheit. Es widerspricht allen unseren Satzungen. Gerade Cuny ist an dem Unglück mehr als wir alle schuld.« Ratshelfer hatten sich zwischen den Männern der Stadt Brasca City ein kleines Gerät aufgestellt, das die Übersetzung dessen weitergab, was Layc in den Saal schmetterte. Lee fühlte die Energie, die hinter den Sätzen des Beobachters stand. »Ich verlange«, rief Nibloc laut, »daß Dugal Rahyr den Menschen ausgeliefert wird. Ich verlange, daß die Einsatzflotte sofort eingesetzt wird, denn in dreißig Jahren braucht Terra unsere Hilfe nicht mehr. In dreißig Jahren wird sich der Rat gegen Terra zur Wehr setzen müssen. Die Männer haben uns technisch weit geschlagen. Sie sind heute dort, wo ich sie vor siebzig Jahren erwartet habe. Ich sagte damals, daß wir einen potentiellen Gegner gefunden hätten, aber niemand hörte auf mich. Am wenigstens Cuny, vertreten durch Dugal Rahyr. Das hier«, der ausgestreckte Arm des Anklägers wies auf die dreißig Kugeln, hinter denen die Mißgeburten der negativen Mutationen aus stumpfen Augen auf die Räte sahen und auf das Licht, das strahlenförmig durch die Decke fiel, »sind die Früchte unseres Handelns, die Kinder von Menschen, die aus zerstörten Erbanlagen hervorgingen. Nicht lebensfähig, jedem 177
Auge eine Beleidigung, ohne einen Funken Verstand – Tiere, von Menschen abstammend. Sie werden in den Anstalten der irdischen Städte gepflegt, bis sie sterben. Hier beweist sich die moralische Qualität dieser Rasse, deren kulturellen und zivilisatorischen Niedergang wir einem Cunyaner zu verdanken haben. Ich verlange ferner, daß der Galaktische Rat den Terranern für die Dauer ihres Aufenthalts Wohnungen zur Verfügung stellt und sie in allen Fragen des Hilfsprogramms zu Rate zieht. Ich hoffe, daß meine Freunde recht lange die Gastfreundschaft unseres Planeten genießen können. Ich habe mich mit vielen von ihnen zu unterhalten – ungezählte Fragen brennen noch auf den Nägeln. Ich hoffe, ich habe nicht vergeblich an die Grundregeln der Ethik appelliert, auf die jeder Rat, der für seinen Planeten hier sitzt, bei seiner Wahl zu achten versprochen hat. Ich hoffe auch, daß sich der Widerstand der Cunyaner als gegenstandslos herausstellen wird. Ich verlange die sofortige Abstimmung aller Räte – Vrancken!« Y Vrancken stand auf und hob seine Hand. An seinem Finger glänzte der rechteckige Stein. »Wir haben gehört, was Nibloc Layc verlangt hat. Ich stimme jedem seiner Punkte zu. Wir stimmen ab. Halt – die drei Räte Cunys haben einen Einwand. Bitte …« Einer der Räte stand auf und ergriff das Mikrophon. »Wir wollen wissen, welches Urteil die Terraner über Dugal Rahyr, den Beobachter, sprechen werden. Ich verlange, diesem Einwand vor der Abstimmung stattzugeben.« Vrancken und Layc wechselten einen langen Blick, den Lev genau beobachtete. »Schafft ein Kontaktbild des Verbrechers in den Saal.« Sofort begannen komplizierte Bildübertragungsgeräte mit ihrer Arbeit. Sekunden später kondensierten sich auf einer Rampe unterhalb des Pultes vier Gitterstäbe einer Zelle. Auf dem Bett der Kammer saß Dugal Rahyr. Er wartete auf seine Gerichtsverhandlung. Er war ein Wrack und blickte aus starren 178
Augen ins Leere. Schweigen lag über dem Auditorium. Lee beobachtete die Gesichter der einzelnen Räte, sofern man von ihnen menschenähnliche Regungen ablesen konnte. Sie alle warteten gebannt, dann zerschnitt eine Stimme die unheimliche Spannung. Einer der Terraner wischte sich über die Stirn. »Ich schließe mich den Forderungen unseres Anwalts Nibloc an«, verkündete die Stimme Levs. Er machte nicht die Figur eines Bittenden. Etwas Herrschendes ging von dem Sucher aus. »Ich verlange, daß Dugal Rahyr an uns ausgeliefert wird. Ich verlange Gastfreundschaft und die Hilfe der Flotte. Ich bin der Delegierte aller Menschen. Ich verlange ferner, daß Terra in den Galaktischen Rat aufgenommen wird. Wir sind bereit, jedes Wissen und jede Erkenntnis mit euch zu teilen, zu gegenseitigem Nutzen und Gewinn. Dugal Rahyr, der – wie wir sehen können – ein an Leib und Seele kranker Mann ist, wird von uns nicht bestraft. Wir kennen Beispiele unserer eigenen Geschichte, in der psychologisch Defekte Kriege entfesselt haben. Das Recht des Stärkeren ist Gnade. Weist Rahyr in ein Krankenhaus ein und pflegt ihn, bis er stirbt. Das sind unsere Forderungen. Wir bestehen darauf. Ich bin fertig.« Ein hörbares Aufatmen ging durch die Versammlung, als Lev vom Pult heruntertrat. Y Vrancken stand auf und sagte laut: »Wir hörten die Stellungnahme der Terraner. Damit dürfte der Antrag des Planeten Cuny erledigt sein. Oder irre ich?« Der cunyanische Rat hob die Hand und sah Vrancken an. Nibloc Layc hinter den Mikrophonen blickte scharf hinüber. Jetzt entschied sich der Erfolg oder Mißerfolg seiner Anstrengungen. »Wir danken dem Sprecher der Erde. Wir werden in den nächsten Monaten und Jahren versuchen, ein besonders freundschaftliches Verhältnis zu den Terranern zu finden. Ich erhöhe 179
von mir aus das zu stellende Kontingent an Schiffen und Maschinen um das Doppelte. Ich kann diese Entscheidung voll verantworten. Noch irgendwelche Fragen?« Der Rat richtete den Blick auf den Beobachter, der zu lächeln begann. »Nicht von mir«, sagte Nibloc. »Ich danke dem Rat von Cuny für seine außergewöhnlich kluge und schnelle Entscheidung und sein Angebot. Als Leiter der Hilfsaktion nehme ich diese Schiffe gern an. Ich freue mich besonders über die Entscheidung des Delegierten der Erde. Lassen wir abstimmen?« Y Vrancken sagte: »Ich bitte die Räte, durch einfaches Handaufheben den Forderungen Nibloc Laycs und gleichzeitig denen unserer terranischen Gäste voll zuzustimmen.« Die Hände der Räte hoben sich. Langsam glitt der Blick des Ratsvorsitzenden über die Ränge. Dann hob auch er die Hand. »Gegenstimmen?« Keine. »Ich stelle folgendes fest und bitte zu protokollieren. Der Eintrag ist wichtig genug, um in die Annalen des Galaktischen Rates einzugehen: Heute – Datum – ist das einundvierzigste Sternenvolk dem Galaktischen Rat beigetreten. Es handelt sich um die Menschen des Planeten Erde, Terra, und die Besatzung der Mondstation. Gleichzeitig rollt das projektierte Hilfsprogramm, das aus rund eintausendfünfhundert Schiffen besteht, in gesamter Breite an. Das Urteil gegen Dugal Rahyr wurde kassiert und in lebenslange Gnadenhaft in einer geeigneten Anstalt umgewandelt. Die Gäste werden auf Kosten des Rates für die Dauer ihres Aufenthalts auf Apodee bewirtet. Die Terraner verpflichten sich, die Punkte unserer Satzungen genau zu beachten und ihren Teil der gemeinsamen Pflichten zu erfüllen. Als Vorsitzender des Rates: Y Vrancken.« So wurde es geschrieben. Dann löste sich die Versammlung auf. Die Delegationen marschierten feierlich in die NOVA TERRA zurück. Die ge180
schwungene Kuppel leerte sich. Einige Männer blieben zurück. Lee McKechnie unterhielt sich mit Lev und Nibloc, Y Vrankken stieß zu ihnen. Langsam löste sich die dreidimensionale Projektion des Cunyaners auf. Die Kugeln mit ihrem grauenhaften Inhalt wurden hinausgebracht. Nachts: Der Brunnen plätscherte. Zwischen den Büschen standen Schalen, in denen Holz, Kohle und Harz verbrannt wurde. Die Fenster des Hauses warfen große Vierecke auf den Rasen. Nibloc Layc bewegte sich zwischen seinen Gästen. Es waren Räte da, Y Vrancken und Männer der NOVA TERRA. Der Rest der Besatzung war in den Gästehäusern rund um die Kuppel untergebracht, wo man sie mit allen Vorzügen der ApodeeKultur bewirtete. Winzige Geräte, in den Gehörgängen der Männer befestigt, wurden von dem Übersetzer Niblocs gesteuert. So konnten sich alle Gäste ungestört miteinander unterhalten. Lee McKechnie stand in einer Gruppe vogelähnlicher Planetarier, die wissen wollten, wie die Telurgisten die Materie beherrschten. »Ich weiß es nicht«, sagte Lee entschuldigend. »Lev! Hier sind Telepathen, die sich für Telurgie interessieren.« Lev kam über das Gras herangeschlendert. Er hielt ein halbvolles Glas in der Hand und begrüßte die Hoorns. Lee ging zu Nibloc, der neben Vrancken stand und sich mit Mädchen der Stadt Tatana Harbour unterhielt. Das Lachen der Männer drang bis hinter die sorgfältig gestutzten Bäumt. Dort saßen Gary Parker und eine Technikerin und unterhielten sich mit einem Cunyaner, der gerade erklärte, wie die Maschinen seiner Rasse einen Berg abtragen konnten. Lee fühlte sich plötzlich aller kleinen Sorgen enthoben und aufgenommen in die Gemeinschaft des Rates. Hier herrschte nicht das Protokoll; der starke Eindruck persönlicher Sympathie lag über der Szene. »Hier kommt jemand, der auf dem Mond aufgewachsen ist. 181
Ich erzählte dir, wie sich die Station langsam um Autarkie bemühte …« Nibloc berührte den Arm Lee McKechnies. Y Vrancken schüttelte dessen Hand. »Wie weit seid ihr jetzt?« fragte Nibloc den Techniker. Lee hielt das Glas einem Apodee-Mädchen hin, das sofort auffüllte und sich wieder in die Dunkelheit zurückzog. »Wir haben sogar Wälder«, sagte Lee und lächelte. »Sie wachsen unter Kuppeln auf. Wir züchten ein Moos, das bereits fast unabhängig von Wasser und Sauerstoff in der ›Mondluft‹ wächst. Wir haben eine Röhrenbahn, die sich um den Satelliten zieht. Alles fing damit an, daß die letzten zwanzig Frachtraketen hochgeschossen wurden und dein Automat uns den Brief brachte. Es ist das kostbarste Dokument der Erde. Sonst sind wir geschichtslos – nahezu.« »Ich werde euch mein Archiv zur Verfügung stellen«, antwortete Nibloc. »Ihr seid unwahrscheinlich fleißig, Lee McKechnie«, sagte Y Vrancken. Lächelnd entgegnete Lee: »Wenn eine Gruppe von Menschen genügend Zeit, Material und Helfer besitzt, wird sie suchen und forschen. Seit jeher versuchte der Mensch seinen Lebensraum zu verändern. Eine Frage: Wie wird jetzt alles weitergehen, Vrancken?« Y Vrancken streifte die Technikerinnen mit einem Blick und hob sein Glas. »Zunächst werden wir das Archiv des Beobachters auf euer Schiff umladen. Nibloc wird mit euch fliegen. Dann könnt ihr den Plan, den er für die Erde entwickelt hat, einsehen und korrigieren. Die nächste Phase wird durch eine Besuchsfahrt in einem der Blitzschiffe eingeleitet. Auf diesem Flug werdet ihr die Staffeln der Hilfsschiffe sehen und die Maschinen, die der Erde helfen sollen. Das Nächste: Die Flotte setzt sich in Bewegung. Ausgesuchte Kräfte aller Planeten, die Sauerstoffatmosphäre haben, werden die Erde umgraben und 182
alles bauen und entwickeln, was von euch gewünscht wird. Dann – das dauert ein Jahrzehnt oder länger – ist die Erde wieder ein unterbevölkertes Paradies. Wir haben jüngst ein Planetenvolk entdeckt, das vor einem ganz anderen Problem steht. Erzähle weiter, Nibloc.« Nibloc lächelte. Diese Idee stammte von ihm. »Ihr werdet eure Bereitwilligkeit, dem Rat beigetreten zu sein, beweisen müssen. Die Planetarier gleichen euch biologisch in allen Einzelheiten. Es existieren nur noch eine Viertelmillion Individuen. Sie sterben aus, wenn ihr nicht helft. Sie sind wertvoll, aber uralt. Nehmt sie auf und vermischt euch mit ihnen, auf einer neuen Erde, ohne Narben, ohne Wunden, glücklich und ein volles Mitglied des Rates. War meine Idee gut?« Lee dachte nach. Er stellte sich die Erde vor. Ohne Radioaktivität, ohne negative Mutanten, mit Wäldern, Wasser und fruchtbaren Äckern. Durchzogen von Straßen, von Brücken, die sich über Flüsse spannen, und Raumhäfen, auf denen Schiffe aus allen Teilen der Galaxis starten und landen. Einbezogen in das großartige Netz interplanetarischen Handels, Aufblühen der Kultur, Geschichtsforschung, Technik … Dann verwischten sich die Gedanken. Lee McKechnie fühlte sich in den Mittelpunkt der neuen Erde versenkt. Ein warmes Gefühl der Verwandtschaft mit allen diesen Planeten ergriff den Techniker. Er spürte die pochende Wärme des Lebens ohne die Gefahren der Kriege, der Vernichtung und des Elends. Langsam dämmerte hinter den Büschen des Parks der Morgen eines neuen, goldenen Zeitalters. »Deine Idee war ausgezeichnet«, sagte Lee langsam zu dem Beobachter und seinem Freund, dem Rat. Vrancken bemerkte, wie der Blick des Technikers dunkel geworden war und nachdenklich. Er wandte sich an Nibloc. »Ich fürchte, unser Freund ist müde.« Lee McKechnie lächelte. In ihm kam die schottische Heiter183
keit seines Vaters zum Vorschein. Dann schlug er Vrancken auf die Schulter. »Nein«, rief er lachend, »jetzt nicht mehr! Jetzt, da alles erst anfängt!« Er hatte recht. Die Erde begann abermals, eine verlorene Kultur aufzurichten. Die Zeit, von der nach Jahrtausenden in allen geschichtlichen Werken behauptet wurde, daß sie das Goldene Zeitalter gewesen war, begann jetzt auf Apodee Minor. Langsam erhob sich der Mond über das Dach des Hauses. Lee blinzelte. Es war alles vertraut, so neu es auch war. »Jetzt brennt die Glut unter der Asche. Hoffentlich erlischt dieses Feuer niemals«, murmelte er. Fragend sah ihn Vrancken an. Lee schüttelte den Kopf. »Es war nur eine Bemerkung«, sagte er. »Eine Hoffnung für uns alle.« ENDE
184
Als Utopia-Classics Band 86 erscheint:
A. E. van Vogt
Die Bestie Eine Welt unter der Herrschaft eines Ungeheuers Unter der Willkürherrschaft eines Ungeheuers Die mysteriöse Maschine, die Jim Pendrake durch Zufall entdeckt, birgt die Möglichkeit, der Menschheit die Weiten des Universums zu erschließen. Als eine Geheimorganisation Jim den wertvollen Fund abnimmt, jagt er der geraubten Maschine nach. Die Suche führt Jim Pendrake zu einer phantastischen Welt, die unter der Herrschaft eines Ungeheuers steht. Alfred Elton van Vogt, am 26.4.1912 in Manitoba (Kanada) geboren, begann seine schriftstellerische Karriere als Autor von Hörspielen, Zeitungsartikeln und Stories. Seine erste Arbeit auf dem Gebiet der SF erschien im Magazin ASTOUNDING (heute: Analog). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt umfaßt sein Gesamtwerk ca. 50 SF-Bücher (Romane und Kollektionen). Der Autor ist mit Lydia I. Brayman, Modell und Gerichtsdolmetscherin, verheiratet und lebt im Hollywood. 185