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Finale Eines Tages verschwinden auf der ganzen Welt Millionen von Menschen spurlos. Die Erde droht im Chaos zu versinken. Fahrzeuge geraten außer Kontrolle, Flugzeuge stürzen vom Himmel, Menschen brechen verzweifelt zusammen, als sie hilflos ansehen müssen, wie sich die geliebten Angehörigen vor ihren Augen scheinbar in Nichts auflösen. Und während die einen hinter den unfassbaren Ereignissen das Wirken von Außerirdischen vermuten, suchen andere nach einer rationalen Erklärung. Nur wenige Menschen beginnen die Wahrheit zu ahnen. Einer von ihnen ist der Pilot Rayford Steele … Das Unvorstellbare wird wahr: Die Apokalypse beginnt!
Die letzten Tage der Menschheit 1 Der Millionenseller aus den USA – wochenlang Nr. 1 auf der Bestsellerliste der New York Times!
Buch Eines Tages verschwinden in einem einzigen Augenblick auf der ganzen Welt Millionen von Menschen. Die Erde droht in einem unvorstellbaren Chaos zu versinken. Plötzlich führerlos gewordene Fahrzeuge geraten außer Kontrolle, Flugzeuge stürzen vom Himmel. Menschen brechen verzweifelt zusammen, als sie hilflos ansehen müssen, wie sich die geliebten Angehörigen vor ihren Augen scheinbar in Nichts auflösen. Manche deuten diese Furcht erregenden Geschehnisse als das Werk von Außerirdischen. Andere suchen nach einer rationalen Erklärung. Nur wenige Menschen beginnen die Wahrheit zu ahnen. Einer von ihnen ist der Pilot Rayford Steele. Eine verzweifelte Suche nach Aufklärung über die rätselhaften Geschehnisse beginnt. Doch der Weg zur Wahrheit ist schmerzhaft, und die dunkelsten Tage stehen erst noch bevor. Ein großer Unbekannter, so heißt es, wird bald die Geschicke der ganzen Menschheit lenken. Die letzten Hoffnungen richten sich auf die Tribulation Force, zu der auch Rayford Steele stößt. Autoren Tim LaHaye ist ein ehemaliger Pfarrer, Jerry B. Jenkins enger Mitarbeiter des bekannten US-Predigers Billy Graham. Mit ihrem Roman-Zyklus »Die letzten Tage der Erde« sind sie seit einigen Jahren ständig auf den vordersten Rängen der US-Bestsellerliste vertreten und zählen mittlerweile zu den erfolgreichsten Autoren der Welt. Demnächst erscheinen aus dem Zyklus »Die letzten Tage der Erde«: 2. Die Heimsuchung. Roman (35538) 3. Das Nicolai-Komplott. Roman (35539) Weitere Romane der Autoren sind in Vorbereitung.
TIM LAHAYE JERRY B. JENKINS
FINALE
Die letzten Tage der Erde Roman Ins Deutsche übertragen von Eva Weyandt
Scan by lumpi K&L: tigger Freeware ebook, September 2003
BLANVALET
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Left Behind« bei Tyndale House Publishers, Inc., Wheaton, Illinois
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.
Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. Genehmigte Taschenbuchausgabe 9/2001 Copyright © der Originalausgabe 1995 by Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996 by Gerth Medien GmbH, Asslar Ins Deutsche übersetzt mit Genehmigung von Tyndale House Publishers. »Left behind« ist ein eingetragenes Warenzeichen von Tyndale House Publisher, Inc. Umschlaggestaltung: Design Team, München Umschlagfoto: Pictor Uniphoto Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 35537 V. B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-35537-0 www.blanvalet-verlag.de 3 5 7 9 10 8 6 4 2
Für Alice MacDonald und Bonita Jenkins, die uns zuversichtlich machten, nicht zurückgelassen zu werden.
1 Rayford Steele war mit seinen Gedanken bei einer Frau, die er nie berührt hatte. Mit seiner vollbesetzten 747 war er auf dem Weg über den Atlantik. Die Maschine war auf Autopilot geschaltet. Um sechs Uhr morgens sollte er in Heathrow landen. Rayford zwang sich dazu, den Gedanken an seine Familie zu verdrängen. Seinen Urlaub im Frühling würde er mit seiner Frau und seinem zwölfjährigen Sohn verbringen. Ihre Tochter würde dann auch vom College nach Hause kommen. Aber im Augenblick sah Rayford nur Hattie Durhams Lächeln vor sich. Er freute sich auf ihre nächste Begegnung. Hattie war Rayfords Chefstewardess. Seit mehr als einer Stunde hatte sie sich nicht mehr sehen lassen. Rayford hatte sich früher immer aufs Nachhausekommen gefreut. Irene war auch mit vierzig noch attraktiv und sehr lebhaft. Doch in letzter Zeit fand er ihre religiösen Aktivitäten überzogen, ja fast schon abstoßend. Sie kannte kein anderes Gesprächsthema mehr. Rayford Steele fand Gott ganz in Ordnung. Er ging gelegentlich sogar recht gern in die Kirche. Doch seit Irene sich einer kleineren Gemeinschaft angeschlossen hatte und jede Woche zur Bibelstunde und jeden Sonntag zum Gottesdienst ging, fühlte er sich nicht mehr richtig wohl in seiner Haut. In ihrer Gemeinde legte man seine Zweifel nicht zu seinen Gunsten aus, nahm nicht das Beste von ihm an und ließ ihn einfach nicht ihn selber sein. Die Leute dort hatten ihn doch tatsächlich gefragt, was Gott in seinem Leben tun würde. »Er segnet meine Socken!«, hatte er lächelnd erwidert, und sie schienen sich mit dieser Antwort zufrieden gegeben zu haben, doch immer häufiger fand er sonntags Ausreden, um nicht zum Gottesdienst gehen zu müssen. Rayford versuchte sich einzureden, die Frömmigkeit seiner 7
Frau sei der Grund dafür, dass seine Gedanken abwanderten. Doch er wusste, dass es eigentlich seine eigenen Wünsche waren. Hattie Durham war einfach überwältigend. Niemand konnte das bestreiten. Sie suchte immer Körperkontakt, das gefiel ihm sehr gut. Das hatte nie etwas Aufdringliches oder gar Unechtes. Sie berührte einfach nur seinen Arm, wenn sie an ihm vorüberging oder legte ihre Hand leicht auf seine Schulter, wenn sie hinter seinem Sitz im Cockpit stand. Doch das war nicht der einzige Grund, warum Rayford ihre Gesellschaft genoss. Ihr Gesichtsausdruck und ihr Verhalten zeigten ihm, dass sie ihn bewunderte und respektierte. Ob sie an einer engeren Beziehung interessiert war, konnte er nur vermuten. Sie hatten schon viel Zeit miteinander verbracht, stundenlang bei einem Drink oder beim Abendessen geplaudert, manchmal mit Kollegen zusammen, manchmal auch allein. Er war ihr nicht entgegengekommen, doch er hatte sie angesehen, und er konnte nur annehmen, dass sein Lächeln seine Wirkung nicht verfehlt hatte. Vielleicht heute. Vielleicht würde er am Morgen – falls ihr vereinbartes Klopfzeichen an der Cockpittür seinen Ersten Offizier nicht aufweckte – seine Hand auf ihre legen, ganz freundschaftlich, und er hoffte, sie würde das als einen ersten Schritt erkennen, einen ersten Schritt von seiner Seite auf eine engere Beziehung zu. Und es würde tatsächlich das erste Mal sein. Er war bestimmt nicht prüde, doch er war Irene noch nie untreu gewesen. Gelegenheiten hätte es genügend gegeben. Lange Zeit hatte er sich schuldig gefühlt, weil er bei einer Weihnachtsparty vor mehr als zwölf Jahren mit einer Frau ziemlich ausgelassen geflirtet hatte. Irene war zu Hause geblieben, da sie im neunten Monat mit ihrem Nachzügler Ray Jr. schwanger gewesen war. Rayford war so klug gewesen, die Party frühzeitig zu verlas8
sen. Natürlich war Irene aufgefallen, dass er leicht betrunken war, doch sie argwöhnte nichts weiter, nicht von ihrem aufrichtigen Captain. Als sie einmal während eines Schneetreibens in O’Hare festgesessen hatten, trank er zwei Martinis. Das Wetter klarte schließlich auf, und er ging zur Flugleitung und beichtete. Er bot an, die Kosten für einen Ersatzpiloten zu übernehmen, doch Pan-Continental war so beeindruckt von seinem Verhalten, dass sie seine Selbstdisziplin und Klugheit als leuchtendes Vorbild für andere hinstellte. In wenigen Stunden würde Rayford die ersten Zeichen des Sonnenaufgangs sehen, eine beeindruckende Palette von Pastelltönen, die anzeigen würde, dass die Morgendämmerung über dem Kontinent heraufzog. Doch bis dahin schien die Dunkelheit draußen vor dem Fenster undurchdringlich zu sein. Seine müden oder schlafenden Passagiere hatten die Rollos vor den Fenstern heruntergezogen. Decken und Kissen waren ausgegeben worden. Im Augenblick war das Flugzeug eine dunkle, summende Schlafkammer, in der nur wenig Bewegung war; Stewardessen, die nach dem Rechten sahen, und vielleicht ein oder zwei Leute, die ihren natürlichen Bedürfnissen nachkamen. In dieser dunklen Stunde nun quälte Rayford Steele die Frage, ob er eine neue, aufregende Beziehung zu Hattie Durham eingehen sollte. Er unterdrückte ein Lächeln. Machte er sich etwas vor? Würde jemand mit seinem Ruf jemals mehr tun, als von einer schönen, fünfzehn Jahre jüngeren Frau zu träumen? Er war nicht mehr so sicher. Wenn Irene nur nicht diesen Tick hätte. Ob ihr Interesse für das Ende der Welt, die Liebe Jesu, die Erlösung der Seelen wohl jemals wieder verschwand? Vor kurzem hatte sie alles verschlungen, was ihr über die Entrükkung der Gemeinde in die Hände gefallen war. »Kannst du dir das vorstellen, Rafe«, hatte sie geschwärmt, »dass Jesus wiederkommt und uns holt, bevor wir sterben?« 9
»Oh Mann«, hatte er geantwortet und sie über den Rand seiner Zeitung angesehen, »das würde mich töten.« Sie fand das gar nicht lustig. »Wenn ich nicht wüsste, was aus mir wird«, hatte sie gesagt, »hätte ich schreckliche Angst davor.« »Ich weiß, was mit mir passieren würde«, beharrte er. »Ich würde tot sein, fort, fini. Aber du würdest natürlich direkt in den Himmel fliegen.« Er hatte sie nicht beleidigen wollen. Er hatte nur Spaß gemacht. Als sie sich umdrehte und fortging, ging er ihr nach. Er drehte sie zu sich herum und wollte sie küssen, doch sie wehrte sich. »Komm schon, Irene«, sagte er. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass Tausende einfach kieloben liegen würden, wenn sie Jesus sehen, der für alle guten Menschen wiederkommt.« Sie hatte sich in Tränen aufgelöst von ihm zurückgezogen. »Ich habe es dir doch immer und immer wieder gesagt. Erlöste Menschen sind keine guten Menschen, ihnen ist nur –« »Nur vergeben worden, ja, ich weiß«, antwortete er und fühlte sich in seinem eigenen Wohnzimmer zurückgewiesen und verletzt. Er kehrte zu seinem Sessel und seiner Zeitung zurück. »Wenn du dich dadurch besser fühlst, dann bin ich froh, dass du so sicher bist.« »Ich glaube nur an das, was die Bibel sagt«, erwiderte Irene. Rayford zuckte die Achseln. Er hatte auf der Zunge zu sagen: »Wie schön für dich«, doch er wollte nicht alles noch schlimmer machen. In gewisser Weise beneidete er sie um ihre feste Zuversicht, doch in Wahrheit schrieb er dies der Tatsache zu, dass sie ein emotionaler, mehr gefühlsorientierter Mensch war. Er wollte es nicht aussprechen, doch er war nun mal klüger – ja, intelligenter. Er glaubte an Regeln, Systeme, Gesetze, Muster, Dinge, die man sehen, anfassen und hören konnte. Wenn Gott dazu gehörte, in Ordnung. Eine höhere Macht, ein liebendes Wesen, eine Macht hinter den Naturgesetzen, prima. Man konnte ihn besingen, zu ihm beten, sich über die Fähigkeit 10
des Menschen freuen, freundlich anderen gegenüber zu sein, und dann seinen Geschäften nachgehen. Rayfords größte Angst war, dass dieser religiöse Tick nicht so schnell verschwinden würde wie Irenes Tupper-Phase oder ihr Aerobic-Tick. Er konnte nicht einfach dabeisitzen und zusehen, wie sie in der Nachbarschaft herumging und die Leute fragte, ob sie ihnen einen Bibelvers vorlesen dürfte. Sie müsste es doch eigentlich besser wissen. Irene war zu einer religiösen Fanatikerin geworden, und irgendwie fühlte sich Rayford deswegen frei, ohne Schuldgefühle von Hattie Durham zu träumen. Vielleicht würde er etwas sagen, irgendeinen Vorschlag machen, wenn er und Hattie durch das Flughafengebäude in Heathrow zum Taxistand gingen. Vielleicht sogar schon früher. Konnte er es jetzt schon wagen, Stunden vor der Landung? In der ersten Klasse auf einem Fensterplatz saß ein Journalist über seinen Laptop gebeugt. Er stellte den Rechner ab und schwor sich, später an seinem Tagebuch weiterzuarbeiten. Mit seinen dreißig Jahren war Cameron Williams der jüngste Reporter mit dem höchsten Rang, den es bei der angesehenen Global Weekly jemals gegeben hatte. Von allen anderen beneidet wurde er auf die besten Storys in der Welt angesetzt. Von Bewunderern und Lästerern in der Zeitung wurde er Buck genannt, weil man sagte, er würde Tradition und Autorität immer beugen. Buck genoss sein Leben, da er Augenzeuge einiger der umwälzendsten Ereignisse in der Geschichte geworden war. Vor einem Jahr und zwei Monaten hatte ihn sein Leitartikel für die Neujahrsausgabe zu einem Interview mit Chaim Rosenzweig nach Israel geführt. Dort hatte er ein höchst seltsames Erlebnis gehabt. Rosenzweig war der Einzige, der in der Geschichte des Global Weekly einstimmig zum Mann des Jahres gewählt worden 11
war. Wie gewöhnlich hatte die Mannschaft des Global jeden gemieden, der von der Times zum Mann des Jahres gekürt werden könnte. Doch Rosenzweig fiel ins Auge. Cameron Williams war mit dem festen Entschluss in die Sitzung gegangen, für Rosenzweig und gegen jeden Medienstar zu votieren, den die anderen vielleicht vorschlagen würden. Er war angenehm überrascht gewesen, als der Chefredakteur Steve Plank die Sitzung mit den Worten eröffnete: »Ist jemand so dumm, einen anderen als den Nobelpreisgewinner in Chemie vorzuschlagen?« Die anderen blickten sich an, schüttelten den Kopf und taten so, als wollten sie den Raum verlassen. »Stellt die Stühle hoch, die Sitzung ist zu Ende«, sagte Buck. »Steve, ich will mich ja nicht vordrängeln, aber du weißt, dass ich den Burschen kenne. Er vertraut mir.« »Nicht so schnell, Cowboy«, erwiderte ein Rivale und wendete sich Plank zu. »Darf Buck sich jetzt schon selbst einen Job sichern?« »Vielleicht«, erwiderte Steve. »Und wenn es so wäre?« »Ich denke nur, dies ist eine technische Sache, eine wissenschaftliche Story«, murmelte Bucks Widersacher. »Ich würde einen Reporter der wissenschaftlichen Abteilung darauf ansetzen.« »Und damit die Leser zum Einschlafen bringen«, konterte Plank. »Kommen Sie, Sie wissen doch genau, dass der Schreiber für populäre Artikel aus dieser Abteilung kommt. Und für diese Story braucht man nicht mehr wissenschaftlichen Hintergrund als für das erste Interview, das Buck mit ihm geführt hat. Der Leser muss den Mann kennen lernen, damit er seine Leistung verstehen kann.« »Als ob das nicht offensichtlich wäre. Er hat den Lauf der Geschichte verändert.« »Ich werde noch heute einen Termin ausmachen«, sagte der Chefredakteur. »Danke für deine Bereitschaft, Buck. Ich 12
nehme an, auch die anderen wären bereit dazu.« Eifrige Zustimmung machte sich im Raum breit, doch Buck hörte auch aufgebrachte Bemerkungen, dass der blondhaarige Junge wieder diesen spektakulären Auftrag bekommen hatte. Ein solcher Vertrauensbeweis von seinem Chef und der Wettstreit mit den anderen machten ihn umso entschlossener, sich mit jedem Artikel, den er schrieb, selbst zu übertreffen. In Israel übernachtete Buck in einer Militärunterkunft. Er traf sich mit Rosenzweig in demselben Kibbuz am Rande Haifas, in dem er ihn bereits ein Jahr zuvor interviewt hatte. Sicherlich war Rosenzweig ein faszinierender Mensch, doch es war seine Entdeckung oder Erfindung – niemand wusste so recht, in welche Kategorie er das einordnen sollte –, die ihn tatsächlich zum »Mann des Jahres« machte. Der bescheidene Mann nannte sich selbst einen Botaniker, doch in Wirklichkeit war er ein Chemiker, dem es gelungen war, einen synthetischen Dünger herzustellen, der den Wüstensand Israels fruchtbar machte. »Bewässerung ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr das Problem gewesen«, sagte der alte Mann. »Aber das Wasser hat den Sand nur feucht gemacht. Meine Formel, dem Wasser hinzugefügt, macht den Sand fruchtbar.« Buck war kein Wissenschaftler, doch er wusste so viel, dass er bei der einfachen Bemerkung des Wissenschaftlers ihren sensationellen Inhalt erkennen konnte. Rosenzweigs Formel würde Israel schnell zur reichsten Nation auf der Erde machen, sehr viel reicher als die Nachbarländer mit ihrem Öl. Auf jedem Zentimeter wuchsen Blumen und Korn. Der Ertrag war unvorstellbar hoch. Das Heilige Land hatte nun ein enorm hohes Exportpotenzial und zog den Neid der ganzen Welt auf sich. Die Arbeitslosenrate lag bei null Prozent. Alle wurden reich. Der Reichtum, der durch die Wunderformel entstanden war, veränderte den Lauf der Geschichte Israels. Da das Land nun 13
über die nötigen Geldmittel und Bodenschätze verfügte, hatte es Frieden mit seinen Nachbarn geschlossen. Freier Handel und uneingeschränkte Einreiseerlaubnis ermöglichten allen, die das Land liebten, es zu besuchen. Die Formel allerdings wurde streng geheim gehalten. Buck hatte den alten Mann nicht nach der Formel gefragt, nicht einmal nach dem komplizierten Sicherheitssystem, das sie vor jedem möglichen Feind schützte. Allein die Tatsache, dass Buck auf einem Militärgelände untergebracht war, sprach für die Sicherheitsvorkehrungen. Dieses Geheimnis stellte die Macht und Unabhängigkeit des Staates Israel sicher. Noch nie hatte Israel einen solchen Frieden erlebt. Die Stadtmauern von Jerusalem waren nur noch ein Symbol und hießen jeden willkommen, der Frieden suchte. Das alte Volk war der Überzeugung, dass Gott es belohnte und für die Jahrhunderte der Verfolgung entschädigte. Chaim Rosenzweig wurde in der ganzen Welt geachtet und in seinem Land hoch verehrt. Führer aus der ganzen Welt suchten ihn auf, und die Vorkehrungen zu seinem Schutz waren so komplex wie sonst nur bei Staatsoberhäuptern. Vielleicht waren die Führer Israels von dem neuen Ruhm berauscht, keinesfalls waren sie jedoch dumm. Sie taten alles, um einer möglichen Entführung und Folterung Rosenzweigs vorzubeugen, damit er sein Geheimnis, das auf ähnliche Weise jedes andere Land der Welt revolutionieren würde, nicht preisgab. Was könnte die Formel bewirken, wenn man sie in der riesigen Tundra Russlands anwenden würde! Ob sie wohl zum Blühen gebracht werden könnte, obwohl sie die meiste Zeit des Jahres mit Schnee bedeckt war? Wäre dies vielleicht ein Weg, diese riesige Nation nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder zum Leben zu erwecken? Russland war zu einem schlafenden Riesen mit einer zerstörten Wirtschaft und rückständiger Technologie geworden. Das 14
Einzige, was diese Nation noch besaß, war militärische Macht; alle finanzielle Kraft floss in die Aufrüstung. Und die Währungsumstellung von Rubel auf Mark war der kämpfenden Nation nicht leicht gefallen. Die Weltfinanzen auf drei Hauptwährungen umzustellen hatte Jahre in Anspruch genommen, doch nachdem die Veränderung erst einmal vollzogen war, waren die meisten recht zufrieden damit. In ganz Europa und Russland war ausschließlich die Mark die gängige Währung. Asien, Afrika und der Mittlere Osten trieben Handel in Yen, Nord- und Südamerika und Australien in Dollar. Der nächste Schritt war die Einführung einer einzigen Weltwährung, doch die Nationen, die die Umstellung bereits einmal durchgemacht hatten, konnten sich nicht ein zweites Mal dazu durchringen. Frustriert darüber, dass sie nicht von Israels Glück profitieren konnten und entschlossen, das Heilige Land zu besetzen und zu beherrschen, hatten die Russen mitten in der Nacht Israel angegriffen. Dieser Angriff wurde bekannt als das russische Pearl Harbor. Wegen seines Interviews mit Rosenzweig war Buck Williams gerade in Haifa, als es passierte. Die Russen schickten Interkontinentalraketen und mit nuklearen Sprengsätzen ausgerüstete MiG-Kampfflugzeuge. Die Anzahl der Flugzeuge und Raketen machten ganz deutlich, dass ihre Mission die Vernichtung Israels war. Zu sagen, die Israelis seien von dem Angriff überrascht worden, wäre leicht untertrieben, etwa so, wie wenn Cameron Williams geschrieben hätte, die chinesische Mauer sei lang. Als das israelische Radar die russischen Flugzeuge erfasste, hatten sie das Land schon beinahe erreicht. Israels inständige Bitte um Unterstützung durch die angrenzenden Nachbarländer und die Vereinigten Staaten ging gleichzeitig mit dem Funkspruch raus, der Aufklärung über die Absichten der in den israelischen Luftraum eindringenden Flugzeuge forderte. Bis Israel etwas aufstellen konnte, das auch nur annähernd nach Verteidigung aussah, waren die Russen den Israelis hundert zu 15
eins überlegen. Es blieben ihnen nur noch wenige Augenblicke, bis die Zerstörung beginnen würde. Es würde keine Verhandlungen, keine Bitten mehr geben, den Reichtum mit den Scharen des Nordens zu teilen. Wenn die Russen die Israelis nur hätten einschüchtern wollen, hätten sie keine Raketen geschickt. Flugzeuge konnten umkehren, doch Raketen waren mit Sprengköpfen ausgerüstet und auf ein Ziel eingestellt. Dies war also keine Inszenierung, die Israel in die Knie zwingen sollte. Es gab keine Botschaft an die Opfer. Da die Israelis so schnell keinen Beistand der befreundeten Staaten bekamen, waren sie gezwungen, sich selbst zu verteidigen. Sie wussten nur zu gut, dass der erste Schlag sie buchstäblich von der Erdoberfläche ausradieren würde. Die Sirenen heulten, und Radio und Fernsehen gaben Warnungen aus. Vermutlich zum letzten Mal in der Geschichte würde Israel sich verteidigen. Die ersten Flugabwehrraketen trafen ihr Ziel, und der Himmel wurde von orangegelben Feuerbällen erhellt, doch das würde die russische Offensive ganz sicher nicht aufhalten. Diejenigen, die Bescheid wussten und die Flugzeuge auf dem Radarschirm gesehen hatten, interpretierten die ohrenbetäubenden Explosionen am Himmel als den russischen Angriff. Jeder militärische Führer rechnete damit, innerhalb von wenigen Sekunden sein Ende zu finden, sobald die Geschosse auf dem Boden aufschlugen. Aus dem, was er auf dem Militärgelände gehört und gesehen hatte, wusste Buck Williams, dass das Ende bevorstand. Es gab keinen Ausweg. Doch obwohl die Nacht taghell erleuchtet war und die schrecklichen, ohrenbetäubenden Explosionen weitergingen, wurde kein Schaden angerichtet. Das Gebäude erbebte, doch es wurde nicht getroffen. Draußen schlugen die Kampfflugzeuge auf dem Boden auf, gruben tiefe Krater in die Erde. Brennende Trümmer flogen 16
überall herum. Doch die Kommunikationskanäle blieben unversehrt. Kein Kommandoposten war getroffen worden. Keine Berichte über Verluste. Es war noch nichts zerstört worden. War das vielleicht irgendein grausamer Witz? Sicher, die ersten israelischen Raketen hatten die russischen Flugkörper getroffen und hoch oben in der Luft zum Explodieren gebracht, sodass nicht mehr als Feuerschaden auf der Erde entstehen konnte. Aber was war mit dem Rest des russischen Geschwaders passiert? Auf dem Radarschirm war ganz klar zu sehen gewesen, dass die Russen fast alle ihre Flugzeuge geschickt und kaum eines zur Verteidigung zurückbehalten hatten. Tausende Flugzeuge gingen auf die dicht besiedelten Städte des kleinen Landes nieder. Der furchtbare, schrille Lärm ging weiter, die Explosionen waren so schrecklich, dass die militärischen Führer ihre Gesichter in den Händen bargen und vor Furcht laut schrien. Buck hatte sich immer gewünscht, an vorderster Front zu stehen, doch hierbei sah er keinen Ausweg mehr. Er wusste ohne Zweifel, dass er sterben würde, und er musste feststellen, dass ihm die seltsamsten Gedanken durch den Kopf gingen. Warum hatte er nie geheiratet? Würden sein Vater und sein Bruder seine sterblichen Überreste identifizieren müssen? Gab es einen Gott? Würde der Tod das Ende sein? Er kroch unter eine Konsole und verspürte den Drang, seinen Tränen freien Lauf zu lassen. So hatte er sich einen Krieg nicht vorgestellt. Er hatte gedacht, er könnte von einem sicheren Platz aus das Geschehen beobachten und das Drama in sich aufnehmen. Nach einigen Minuten würde Buck klar, dass die Gefahr für ihn draußen nicht größer sein würde als hier drin. Es war kein Mut, der ihn nach draußen trieb, nur der Drang nach Einzigartigkeit. Er würde der einzige Mensch auf diesem Posten sein, der sehen und wissen würde, was ihn getötet hatte. Mit wei17
chen Knien kämpfte er sich zur Tür durch. Niemand schien Notiz von ihm zu nehmen oder ihn zu warnen. Es war, als seien alle zum Tode verurteilt. Mit Mühe öffnete er die Tür gegen einen Feuerschwall, und er musste seine Augen schützen vor der Helligkeit der Glut. Der Himmel stand in Flammen. Über das Donnern des Feuers hinweg hörte er immer noch Flugzeuge, und die gelegentlich explodierenden Raketen schickten neue Flammenschauer über den Himmel. Wie gebannt beobachtete er, wie die großen Kriegsmaschinen in der ganzen Stadt brennend auf die Erde fielen. Doch sie fielen zwischen die Gebäude und auf verlassene Straßen und Felder. Alle Sprengsätze waren bereits hoch in der Atmosphäre gezündet worden. Wie erstarrt stand Buck in der flimmernden Hitze. Sein Gesicht war mit Brandblasen übersät und sein Körper in Schweiß gebadet. Was um alles in der Welt ging hier vor? Dann kamen die Eisstücke und golfballgroße Hagelkörner, die Buck zwangen, seinen Kopf mit seiner Jacke zu schützen. Die Erde erbebte. Er wurde zu Boden geschleudert. Mit dem Gesicht auf den Eisstücken liegend spürte er, wie der Regen auf ihn niederprasselte. Auf einmal hörte man nur noch das Brausen des Feuers am Himmel, und auch das flaute allmählich ab. Nach zehn Minuten donnernden Brüllens erstarb das Feuer, und nur hier und da züngelten auf dem Boden noch kleine Flammen hoch. Der Feuerschein verschwand so schnell, wie er gekommen war. Stille legte sich über das Land. Nachdem die Rauchwolken von einer leichten Brise davongetragen worden waren, zeigte sich die Nacht so schwarz wie zuvor, und die Sterne strahlten friedlich am Himmel, als wenn nichts geschehen wäre. Buck ging zum Gebäude zurück, seine schlammige Lederjacke in der Hand haltend. Der Türgriff war immer noch heiß, und im Innern zitterten die militärischen Führer und Soldaten. Das Radio brachte Berichte von israelischen Piloten. Sie waren 18
nicht in der Lage gewesen, rechtzeitig aufzusteigen und konnten nur vom Boden aus zusehen, wie das gesamte russische Geschwader sich anscheinend selbst zerstörte. Wie durch ein Wunder hatte es in ganz Israel nicht einen einzigen Verwundeten gegeben. Sonst hätte Buck angenommen, eine geheimnisvolle Fehlfunktion sei der Grund dafür gewesen, dass die Raketen und Flugzeuge sich gegenseitig zerstörten. Doch Zeugen berichteten, es sei ein Feuersturm gewesen, zusammen mit Regen und Hagel und einem Erdbeben, der die Offensive vereitelt hätte. War es vielleicht ein von Gott geschickter Meteoritenhagel gewesen? Vielleicht. Doch wie war die Tatsache zu erklären, dass die hunderttausende Trümmerteile brennenden, geschmolzenen Metalls, die sich in Haifa, Jerusalem, Tel Aviv, Jericho, ja sogar in Bethlehem mauerhoch türmten, nicht auch nur ein einziges Lebewesen verletzt hatten? Als der Tag anbrach, wurde das Blutbad offenbar, und Israel erkannte, dass die Russen sich im Geheimen mit den Nationen des Mittleren Ostens, vorwiegend mit Äthiopien und Libyen, verbündet hatten. Unter den Trümmern fanden die Israelis brennbares Material, das sie als Brennstoff verwenden konnten. Mehr als sechs Jahre lang würden sie ihre eigenen natürlichen Rohstoffe sparen können. Besondere Einheiten versuchten, den Bussarden und Geiern bei der Bergung der toten Feinde zuvorzukommen. Sie beeilten sich, so viele wie möglich zu begraben, bevor ihre Knochen abgenagt und Krankheiten im Volk verbreitet würden. Buck erinnerte sich noch sehr lebhaft daran, so als wäre es gestern gewesen. Wenn er nicht selbst dort gewesen wäre und alles mit angesehen hätte, er würde es sicher niemandem glauben. Und es kostete ihn unglaubliche Mühe, die Leser des Global Weekly dazu zu bringen, es ihm abzukaufen. 19
Redakteure und Leser fanden ihre eigenen Erklärungen für dieses Phänomen, aber Buck gestand ein, wenn auch nur vor sich, dass er an diesem Tag begonnen hatte, an Gott zu glauben. Jüdische Gelehrte wiesen auf Stellen in der Bibel hin, die davon sprachen, dass Gott die Feinde Israels durch einen Feuersturm, durch Erbeben, Hagel und Regen vernichten würde. Buck war verblüfft, als er Ezechiel, Kapitel 38 und 39 las, in dem von dem großen Feind aus dem Norden die Rede war, der mit der Hilfe Persiens, Libyens und Äthiopiens nach Israel eindringen würde. Erstaunlicher noch war, dass in der Bibel stand, die Kriegswaffen würden als Brennstoff verwendet und die feindlichen Soldaten von Vögeln gefressen oder in Gemeinschaftsgräbern begraben werden. Christliche Freunde wollten nun, dass Buck den zweiten Schritt tat und an Christus glaubte, nun da er so offensichtlich geistlich angesprochen war. Doch so weit war er noch nicht. Aber ganz bestimmt hatte diese Erfahrung ihn verändert. Für ihn gab es nichts »Unglaubliches« mehr. Obwohl Captain Rayford Steele nicht sicher war, ob er Hattie Durham wirklich ganz offen seine Sympathie zeigen sollte, verspürte er den unwiderstehlichen Drang, sie zu sehen. Er öffnete seinen Sicherheitsgurt und rüttelte seinen Ersten Offizier leicht an der Schulter. »Wir fliegen immer noch mit Autopilot, Christopher«, sagte er, als der Jüngere sich aufrichtete und seine Kopfhörer zurechtrückte. »Ich werde einen kleinen Rundgang machen und mir den Sonnenaufgang ansehen.« Christopher blinzelte und leckte sich die Lippen. »Ich habe den Eindruck, dass die Sonne noch nicht aufgegangen ist, Cap.« »Es wird vermutlich noch eine oder zwei Stunden dauern. Ich werde mal sehen, ob sich trotzdem schon jemand rührt.« »Roger. Wenn ja, sagen Sie ihnen einen schönen Gruß von 20
mir.« Rayford lachte und nickte. Als er die Cockpittür öffnete, wäre Hattie Durham beinahe in ihn hineingelaufen. »Sie brauchen nicht zu klopfen«, sagte er. »Ich komme schon.« Die Chefstewardess zog ihn in den Gang, doch in ihrer Berührung lag keine Leidenschaft. Ihre Finger krallten sich in seinen Arm, und sie zitterte am ganzen Körper. »Hattie –« Sie drückte ihn gegen die Kochnische. Ihr Gesicht war dicht vor seinem. Wenn sie nicht so offensichtlich verschreckt gewesen wäre, hätte er die Situation vielleicht genossen und ihre Umarmung erwidert. Ihre Knie zitterten, und ihre Stimme war nur ein leises Winseln. »Es fehlen Menschen«, brachte sie schließlich flüsternd heraus und vergrub den Kopf an seiner Brust. Er nahm sie bei den Schultern und versuchte, sie zurückzuschieben, doch sie wehrte sich. »Was meinen Sie damit?« Sie schluchzte jetzt haltlos. »Eine ganze Reihe von Leuten, einfach fort!« »Hattie, dies ist ein großes Flugzeug. Vermutlich sind sie auf den Toiletten oder –« Sie zog seinen Kopf zu sich herunter, damit sie ihm direkt ins Ohr flüstern konnte. Trotz ihres Schluchzens bemühte sie sich darum, sich verständlich zu machen. »Ich habe überall nachgesehen. Ich sage Ihnen, Dutzende von Menschen fehlen.« »Hattie, es ist noch dunkel. Wir werden sie finden –« »Ich bin nicht verrückt! Sehen Sie doch selbst nach! Im ganzen Flugzeug sind Menschen verschwunden.« »Das ist ein Scherz. Sie haben sich versteckt, versuchen –« »Ray! Ihre Schuhe, Strümpfe, ihre Kleider, alles ist noch da. Nur die Menschen sind fort!« Hattie befreite sich aus seinem Griff und hockte sich wimmernd in die Ecke. Rayford wollte sie trösten, ihr Hilfe zu21
kommen lassen oder Chris dazu bringen, mit ihm einen Rundgang durch das Flugzeug zu machen. Doch mehr als alles andere wollte er glauben, dass diese Frau verrückt war. Sie konnte doch nicht wirklich ihren Scherz mit ihm treiben. Aber ganz offensichtlich war sie fest davon überzeugt, dass die Menschen verschwunden waren. Im Cockpit hatte er geträumt. Schlief er jetzt vielleicht? Er biss sich fest auf die Lippe und zuckte vor Schmerz zusammen. Er war also hellwach. Er betrat die erste Klasse, wo eine ältere Frau verblüfft auf den Pullover und die Hose ihres Mannes starrte, die sie in der Hand hielt. »Was um alles in der Welt ist passiert?«, sagte sie. »Harold?« Rayford sah sich um. Die meisten Passagiere schliefen noch, darunter auch ein junger Mann am Fenster, dessen Laptop auf dem Tisch vor ihm stand. Aber einige Sitze waren tatsächlich leer. Nachdem Rayford sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, ging er schnell zur Treppe. Er wollte gerade hinuntersteigen, als die Frau ihn rief. »Sir, mein Mann –« Rayford legte einen Finger an die Lippen und flüsterte: »Ich weiß. Wir werden ihn finden. Ich bin gleich zurück.« Was für ein Unsinn!, dachte er beim Hinuntergehen. Hattie war direkt hinter ihm. »Wir werden ihn finden?« Hattie packte ihn bei den Schultern, und er blieb stehen. »Soll ich das Licht einschalten?« »Nein«, flüsterte er. »Je weniger die Leute merken, desto besser.« Rayford wollte stark sein, Antworten anbieten, seiner Crew, Hattie, ein Vorbild sein. Doch als er die untere Ebene erreichte, wusste er, dass der Rest des Fluges chaotisch verlaufen würde. Er hatte nicht weniger Angst als alle anderen an Bord. Während er seinen Blick über die Sitze gleiten ließ, geriet er beinahe in Panik. Er drückte sich in eine Ecke hinter der Tür und barg sein Gesicht in den Händen. 22
Das war kein Scherz, kein Trick, kein Traum. Irgendetwas stimmte hier nicht, und er konnte nicht davonrennen. Auch wenn er nicht die Beherrschung verlor, würde es Verwirrung, vielleicht sogar Panik geben. Niemand hatte ihn auf so etwas vorbereitet, und er würde derjenige sein, auf den alle blickten. Aber was erwarteten sie von ihm? Was sollte er tun? Der Erste, dann der Zweite schrien auf, als sie bemerkten, dass ihre Sitznachbarn fehlten, deren Kleidungsstücke aber noch da waren. Sie weinten, sie schrien, sie sprangen von ihren Sitzen auf. Hattie umklammerte Rayford von hinten so fest, dass er kaum noch Luft bekam. »Rayford, was ist hier los?« Er löste ihre Umklammerung und drehte sich zu ihr herum. »Hattie, hören Sie. Ich weiß genauso wenig wie Sie, was hier vorgeht. Aber wir müssen diese Leute beruhigen. Ich werde irgendetwas über Bordlautsprecher sagen, und Sie und Ihre Leute versuchen die Leute auf ihren Plätzen zu halten. In Ordnung?« Sie nickte, doch sie machte überhaupt nicht den Eindruck, als sei sie in Ordnung. Er drängte sich an ihr vorbei, um ins Cockpit zurückzueilen, als er sie schreien hörte. So viel zur Beruhigung der Passagiere, dachte er und drehte sich um. Sie kniete im Gang und hielt einen Blazer, ein Hemd und eine Krawatte in der Hand. Die Hose lag zu ihren Füßen. Außer sich vor Entsetzen hielt Hattie die Jacke ins trübe Licht, um das Namensschild zu lesen. »Tony!«, jammerte sie. »Tony ist fort!« Rayford riss ihr die Kleider aus der Hand und warf sie in eine Ecke. Er packte Hattie bei den Ellbogen und zog sie hoch. »Hattie, wir haben noch einige Stunden Flug vor uns. Wir können es uns einfach nicht leisten, ein Flugzeug voller hysterischer Menschen zu befördern. Ich werde jetzt eine Erklärung abgeben, aber Sie müssen auch Ihren Aufgaben nachkommen. Können Sie das?« Sie nickte mit leerem Blick. Er zwang sie, ihn anzusehen. »Können Sie das?«, wiederholte er. Sie nickte wieder. 23
»Rayford, werden wir sterben?« »Nein«, erwiderte er. »Da bin ich sicher.« Aber im Augenblick wusste er überhaupt nichts mehr. Woher sollte er wissen, wie er mit einer solchen Situation umgehen sollte? Lieber wäre ihm gewesen, ein Triebwerk hätte Feuer gefangen, selbst eine Notwasserung hätte er lieber in Kauf genommen als das hier. Wie sollte er die Leute inmitten eines solchen Albtraums ruhig halten? Das Licht in der Kabine musste nun unbedingt eingeschaltet werden. Er war froh, Hattie eine konkrete Aufgabe zuweisen zu können. »Ich weiß nicht, was ich sagen werde«, meinte er, »aber schalten Sie das Licht an, damit wir genau feststellen können, wer noch da und wer fort ist. Und holen Sie einige dieser Formulare für ausländische Besucher.« »Wozu?« »Tun Sie es einfach. Halten Sie sie bereit.« Rayford wusste nicht, ob es richtig war, Hattie die Verantwortung für die Passagiere und die Crew zu überlassen. Während er die Stufen hinaufrannte, entdeckte er eine weitere Stewardess, die schreiend in einem Gang zurückwich. Mittlerweile war der arme Christopher im Cockpit der Einzige im ganzen Flugzeug, der von den Vorgängen noch nichts mitbekommen hatte. Rayford hatte Hattie gesagt, er wüsste genauso wenig wie sie, was hier los sei. Die erschreckende Wahrheit war, dass er das leider nur zu gut wusste. Irene hatte Recht gehabt. Ihn und die meisten seiner Passagiere hatte »man zurückgelassen«.
2 Cameron Williams war aufgewacht, als die alte Frau direkt vor ihm nach dem Piloten gerufen hatte. Der Pilot hatte sie mit einem Buck auf Buck zum Schweigen gebracht. Buck fuhr sich 24
mit den Fingern durch sein blondes Haar und zwang sich zu einem Lächeln. »Gibt es Schwierigkeiten, Ma’am?« »Es geht um meinen Harold«, sagte sie. Als sie an Bord gegangen waren, hatte Buck dem alten Mann geholfen, sein Jackett und seinen Hut in die Gepäckablage zu legen. Harold war ein kleiner Mann mit braunen Hosen und einem braunen Pullover über seinem Hemd mit der Krawatte. Sein Haar lichtete sich bereits, und Buck nahm an, dass er, wenn die Klimaanlage eingeschaltet wurde, bestimmt seinen Hut wiederhaben wollte. »Braucht er etwas?« »Er ist fort!« »Wie bitte?« »Er ist verschwunden!« »Ich bin sicher, er ist nur eben mal zur Toilette gegangen, während Sie geschlafen haben.« »Würden Sie bitte einmal nachsehen? Und nehmen Sie eine Decke mit.« »Wie bitte?« »Ich fürchte, er ist nackt. Er ist so religiös, und er wäre schrecklich verlegen.« Buck unterdrückte ein Lächeln, als er den verängstigten Gesichtsausdruck der Frau bemerkte. Er stieg über den schlafenden Passagier neben sich hinweg, der den kostenlosen Getränken zu stark zugesprochen hatte und nahm die Decke von der alten Frau entgegen. Tatsächlich, Harolds Kleider lagen fein säuberlich auf seinem Sitz, seine Brille und sein Hörgerät obenauf. Die Hosenbeine hingen über den Sitz, darunter standen seine Schuhe mit seinen Socken. Seltsam, dachte Buck. Warum so ordentlich? Er erinnerte sich an einen Freund in der High School, der unter einer bestimmten Form von Epilepsie litt. Manchmal hatte er einen Blackout, obwohl er nach außen ganz normal wirkte. Dann zog er sich in der Öffentlichkeit die Schuhe und Strümpfe aus oder kam mit offenen 25
Kleidern aus einem Waschraum. »Leidet Ihr Mann unter Epilepsie?« »Nein.« »Schlafwandelt er?« »Nein.« »Ich komme sofort zurück.« Die Toiletten der ersten Klasse waren nicht besetzt, doch als Buck zu den Treppen ging, standen einige Passagiere im Gang. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »ich suche jemanden.« »Wer nicht?«, erwiderte eine Frau. Buck drängte sich an den Leuten vorbei und stellte fest, dass sich vor den Toiletten der Business und Economy Class Schlangen gebildet hatten. Wortlos stürmte der Pilot an ihm vorbei. Die Chefstewardess kam auf ihn zu. »Sir, ich muss Sie bitten, auf Ihren Platz zurückzukehren und sich anzuschnallen.« »Ich suche –« »Alle suchen jemanden«, sagte sie. »Wir hoffen, Ihnen in wenigen Minuten mehr sagen zu können. Gehen Sie jetzt bitte zu Ihrem Platz zurück.« Sie führte ihn zu der Treppe zurück, dann rannte sie zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf. Auf halber Treppe drehte Buck sich um und betrachtete das Bild, das sich ihm bot. Es war mitten in der Nacht, um Himmels willen, und als das Kabinenlicht eingeschaltet wurde, erschauderte er. Im ganzen Flugzeug hielten Leute Kleidungsstücke hoch und schrien, dass jemand nicht mehr da sei. Irgendwie wusste er, dass dies kein Traum war, und er empfand denselben Schrecken wie damals vor einem Jahr, als er in Israel auf seinen Tod gewartet hatte. Was sollte er Harolds Frau sagen? Sie sind nicht die Einzige? Viele andere Leute haben ihre Kleider auf ihren Sitzen zurückgelassen? Während er zu seinem Platz zurückeilte, durchforstete er sein Gedächtnis nach irgendetwas, das er vielleicht einmal gelesen, gesehen oder gehört hatte von einer Technologie, die Men26
schen aus ihren Kleidern holen und aus einer entschieden sicheren Umgebung verschwinden lassen konnte. Saßen die Initiatoren dieser Katastrophe vielleicht im Flugzeug? Würden sie irgendwelche Forderungen stellen? Würden noch mehr Menschen verschwinden? Würde auch er Opfer sein? Wo würde er sich wiederfinden? Furcht schien die ganze Kabine zu durchdringen, als er wieder über seinen schlafenden Sitznachbarn hinwegstieg. Er lehnte sich über den vorderen Sitz. »Offensichtlich fehlt eine Reihe von Menschen«, erklärte er der alten Frau. Sie blickte ihn verwirrt und ängstlich an. Auch Buck empfand Furcht. Er setzte sich wieder auf seinen Platz. Der Kapitän sprach über den Bordlautsprecher zu den Passagieren. Nachdem er sie aufgefordert hatte, sich auf ihre Plätze zu begeben, erklärte er: »Ich bitte die Stewardessen, die Toiletten zu überprüfen, um sicherzugehen, dass alle Passagiere erfasst werden können. Die Stewardessen werden Ihnen dann Einreiseformulare aushändigen. Wenn jemand, den Sie kennen, fehlt, so möchte ich Sie bitten, dieses Formular auf seinen Namen auszufüllen und alles anzugeben, was Sie von ihm wissen, vom Geburtsdatum bis zu einer Personenbeschreibung. Ich bin sicher, Ihnen allen ist klar, dass wir uns in einer sehr schwierigen Situation befinden. Mit Hilfe der Formulare können wir feststellen, wer fehlt, und ich habe etwas in der Hand, das ich den Behörden übergeben kann. Mein Erster Offizier, Mr Smith, wird nun durch die Reihen gehen und die leeren Plätze zählen. Ich werde versuchen, Kontakt zur PanContinental Fluggesellschaft aufzunehmen. Ich muss Ihnen jedoch sagen, dass es auf Grund unserer gegenwärtigen Position sehr schwierig sein wird, mit dem Bodenpersonal zu sprechen. Zwar gibt es Satelliten, doch wir befinden uns über einem ziemlich abgelegenen Gebiet. Sobald ich etwas weiß, werde ich es Ihnen mitteilen. In der Zwischenzeit wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Ruhe bewahren und unseren 27
Anweisungen folgen würden.« Buck beobachtete, wie der Erste Offizier ohne Mütze und mit hochrotem Kopf aus dem Cockpit stürmte. Er eilte einen Gang hinunter, einen zweiten hinauf und ließ seinen Blick über die Sitze gleiten, während die Stewardessen die Formulare austeilten. Bucks Sitznachbar erwachte, als eine Stewardess ihn fragte, ob jemand aus seiner Reisegruppe fehle. »Ob jemand fehlt? Nein. Außerdem reise ich allein.« Er rollte sich wieder zusammen und schlief ein. Der Erste Offizier war nur wenige Minuten fort, als Rayford seinen Schlüssel in der Cockpittür hörte. Die Tür flog auf. Christopher ließ sich auf seinen Sitz fallen, ignorierte den Gurt und barg den Kopf in seinen Händen. »Was ist hier los, Ray?«, fragte er. »Uns fehlen mehr als einhundert Leute. Nur ihre Kleider sind noch da.« »So viele?« »Ja, meinst du, es wäre besser, wenn es nur fünfzig wären? Wie um alles in der Welt sollen wir erklären, dass wir mit weniger Passagieren landen, als wir gestartet sind?« Rayford schüttelte den Kopf. Er versuchte noch immer, Kontakt zu bekommen, mit irgendjemandem, in Grönland, auf einer Insel oder sonst wo. Doch sie waren zu weit entfernt, um eine Funkstation zu erreichen. Schließlich gelang es ihm, den Funkkontakt zu einer Concorde herzustellen, die mehrere Meilen entfernt in die andere Richtung flog. Mit einem Kopfnicken forderte er Christopher auf, seine Kopfhörer aufzusetzen. »Haben Sie genügend Treibstoff, um in die Staaten zurückzukehren, over?«, fragte der Pilot Rayford. Er blickte Christopher an, der nickte und flüsterte: »Wir haben knapp die Hälfte der Strecke zurückgelegt.« »Ich könnte es zum Kennedy Airport schaffen«, erwiderte 28
Rayford. »Vergessen Sie’s«, kam die Antwort. »In Chicago sind noch zwei Landebahnen offen. Das ist unser Ziel.« »Wir kommen aus Chicago. Kann ich nicht in Heathrow landen?« »Negativ. Geschlossen.« »Paris?« »Mann, Sie müssen zu dem Ort zurück, von wo aus Sie gestartet sind. Wir haben Paris vor einer Stunde verlassen. Wir erfuhren, was passiert war und bekamen Order, direkt nach Chicago zu fliegen.« »Was ist denn passiert, Concorde?« »Wenn Sie das nicht wissen, warum haben Sie dann ›Mayday‹ gesendet?« »Ich habe eine Situation an Bord, über die ich nicht sprechen möchte.« »Hey, Freund, das ist in der ganzen Welt so, verstehen Sie?« »Negativ, ich verstehe nicht«, erwiderte Rayford. »Sagen Sie es mir.« »Ihnen fehlen Passagiere, nicht?« »Roger. Mehr als einhundert.« »Wow! Uns fehlen fast fünfzig.« »Wie gehen Sie damit um, Concorde?« »Zuerst dachte ich, es sei eine Art Selbstentzündung, doch dann hätte man Rauch sehen müssen, Überreste. Diese Menschen sind einfach verschwunden. Ich muss an die Serie ›Raumschiff Enterprise‹ denken, wo Menschen dematerialisiert und rematerialisiert, von einem Ort zum anderen gebeamt wurden.« »Ich wünschte wirklich von Herzen, ich könnte meinen Leuten sagen, ihre Lieben würden genauso schnell und unversehrt zurückkommen, wie sie verschwunden sind«, meinte Rayford. »Das ist nicht das Schlimmste, Pan Heavy. Überall sind Leute verschwunden. Orly hat Fluglotsen und Bodenpersonal 29
verloren. In einigen Flugzeugen ist ein Teil der Crew verschwunden. Da, wo zum Zeitpunkt des Verschwindens Tag war, gab es Massenkarambolagen, Chaos überall. Unzählige Flugzeugabstürze.« »Dann ist das also ein weltweites Phänomen?« »Es passierte überall zugleich, vor einer knappen Stunde.« »Und ich dachte, es sei nur in diesem Flugzeug passiert. Gas oder irgendeine Fehlfunktion.« »Dass es nur hier und da jemanden betrifft, meinen Sie, over?« Rayford spürte den Sarkasmus. »Ich verstehe, was Sie meinen, Concorde. Muss zugeben, so etwas hatten wir noch nie.« »Und möchten wir auch nicht noch einmal erleben. Ich sage mir immer wieder, dass es nur ein schlechter Traum ist.« »Ein Albtraum, over.« »Roger, aber das ist es nicht, nicht wahr?« »Was werden Sie Ihren Passagieren mitteilen, Concorde?« »Keine Ahnung. Sie, over?« »Die Wahrheit.« »Kann nicht schaden. Aber was ist die Wahrheit? Was wissen wir denn?« »Überhaupt nichts.« »Da haben Sie Recht, Pan Heavy. Wissen Sie eigentlich, was einige Leute sagen, over?« »Roger«, erwiderte Rayford. »Es ist besser, dass diese Leute in den Himmel gegangen sind, als dass irgendeiner dies mit irgendwelchen seltsamen Strahlen angerichtet hat.« »Wir haben erfahren, dass jedes Land betroffen ist. Wir sehen uns in Chicago.« »Roger.« Rayford Steele blickte Christopher an, der einen neuen Kurs eingab, um die Maschine in einer großen Kurve zu wenden und in die Staaten zurückzufliegen. 30
»Meine Damen und Herren«, sagte Rayford über den Bordlautsprecher, »da wir nicht in der Lage sind, in Europa zu landen, fliegen wir nach Chicago zurück. Wir haben fast genau die Hälfte der Flugstrecke zu unserem ursprünglichen Ziel zurückgelegt, sodass es keine Treibstoffprobleme geben wird. Ich hoffe, dass Sie das ein wenig beruhigt. Ich werde Sie wissen lassen, wenn Sie Ihre Telefone wieder benutzen können. Bis dahin tun Sie sich selbst einen Gefallen, wenn Sie es gar nicht erst versuchen.« Als der Kapitän über den Bordlautsprecher verkündete, sie würden in die Vereinigten Staaten zurückkehren, war Buck Williams überrascht zu sehen, dass die Passagiere applaudierten. Die meisten kamen aus den Staaten, und alle waren so schockiert und verängstigt, dass sie froh waren, wenigstens in ihre vertraute Umgebung zurückkehren zu können. Buck stieß den Geschäftsmann zu seiner Rechten an. »Es tut mir Leid, Freund, aber das wollen Sie doch sicher mitbekommen.« Der Mann blinzelte Buck entrüstet an und nuschelte: »Solange wir nicht abstürzen, lassen Sie mich in Ruhe.« Als die Pan-Continental 747 endlich wieder in Satellitenreichweite der Vereinigten Staaten war, nahm Kapitän Rayford Steele mit einer Nachrichtenstation Verbindung auf und hörte von den weit reichenden Folgen der Tatsache, dass auf jedem Kontinent Menschen verschwunden waren. Die Kommunikationskanäle waren überlastet. Zu den verschwundenen Menschen in der ganzen Welt gehörten Mediziner, Techniker und Dienstleistungspersonal. Jede Zivileinrichtung war in voller Alarmbereitschaft und bemühte sich darum, mit den endlosen Tragödien fertig zu werden. Rayford erinnerte sich an das große Zugunglück in Chicago Jahre zuvor, bei dem neben den Rettungsdiensten, den Feuerwehr- und Polizeieinheiten sogar die gesamte Bevölkerung zu Hilfsarbeiten herangezogen worden 31
war. Er konnte sich vorstellen, dass das Desaster dort unten auf der Erde tausendmal größer sein musste. Die Stimmen der Nachrichtensprecher spiegelten das Entsetzen wider, so sehr sie sich auch bemühten, dies zu überspielen. Jede nur denkbare Erklärung wurde angeboten, doch die Realität, das Ausmaß der Katastrophe übertraf alle Erklärungsversuche. Was die Leute von den Nachrichten erwarteten, waren Informationen, wie sie zu den Orten gelangen konnten, wo sie hinwollten und wie sie Kontakt zu ihren Lieben aufnehmen konnten, um zu erfahren, ob sie noch am Leben waren. Rayford wurde angewiesen, sich in ein internationales Kontrollsystem einzuklinken, das es ihm ermöglichen würde, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in O’Hare zu landen. Es waren nur noch zwei Landebahnen offen, und alle großen Flugzeuge im Land schienen dorthin unterwegs zu sein. Tausende hatten bei Flugzeugabstürzen und Massenkarambolagen den Tod gefunden. Rettungsmannschaften räumten Schnellstraßen und Landebahnen, während sie über das Verschwinden von Angehörigen oder Kollegen trauerten. Einem Bericht zufolge waren so viele Taxifahrer von dem Taxistand in O’Hare verschwunden, dass Freiwillige gesucht werden mussten, um die Wagen aus dem Weg zu fahren, die mit laufendem Motor und den Kleidern der Taxifahrer auf dem Fahrersitz stehen gelassen worden waren. Unzählige Autofahrer waren plötzlich verschwunden und ihre Wagen außer Kontrolle geraten. Das Schwierigste für die Helfer war zu entscheiden, wer verschwunden, wer getötet und wer verletzt war, und sich dann mit den Überlebenden in Verbindung zu setzen. Als Rayford Funkkontakt zum Tower in O’Hare aufnehmen konnte, bat er den Fluglotsen, ihn mit seiner Wohnung zu verbinden. Er wurde ausgelacht. »Es tut mir Leid, Captain, aber die Telefonleitungen und das Telefonpersonal sind so überlastet, dass es fast aussichtslos ist, eine Verbindung zu 32
bekommen.« Rayford informierte die Passagiere über das Ausmaß des Phänomens und bat sie, ruhig zu bleiben. »Solange wir hier im Flugzeug sind, können wir nichts tun, um die Situation zu ändern. Ich werde versuchen, diese Maschine so schnell wie möglich in Chicago zu landen, damit Sie Antworten auf Ihre Fragen bekommen und, wie ich hoffe, Hilfe.« Das im Sitz vor Buck Williams eingelassene Flugzeugtelefon war nicht mit externen Modularverbindungen ausgestattet wie die normalen Telefone zu Hause. Auf diese Weise konnte niemand es einfach mitnehmen, weil es nicht funktionieren würde. Buck ging jedoch davon aus, dass das Telefon selbst genauso aufgebaut war wie alle anderen auch, und wenn es ihm irgendwie gelang, an die Verbindung zu kommen, ohne das Telefon zu beschädigen, konnte er das Modem seines Computers direkt in die Leitung einklinken. Sein eigenes Handy funktionierte in dieser Höhe nicht. Vor ihm hatte Harolds Frau ihr Gesicht in den Händen vergraben und weinte. Der Geschäftsmann neben Buck schnarchte. Kurz nach dem Start und kurz bevor er sinnlos betrunken eingeschlafen war, hatte er etwas von einer wichtigen Sitzung in Schottland erzählt. Er würde ganz schön überrascht sein, wenn er bei der Landung erwachte! Alle Leute um Buck herum weinten, beteten oder redeten aufgeregt durcheinander. Die Stewardessen reichten einen Imbiss und Getränke herum, doch nur wenige nahmen etwas. Buck hätte zwar einen Sitzplatz am Gang bevorzugt, weil er da mehr Beinfreiheit gehabt hätte, doch nun war er froh, dass er teilweise verdeckt am Fenster saß. Aus seiner Computertasche holte er einen winzigen Werkzeugkasten hervor und begann mit der Arbeit am Telefon. Enttäuscht, nicht das erwartete Modul im Inneren des Gehäuses zu finden, beschloss er, sich als Amateurelektriker zu 33
betätigen. Die Drähte der Telefonapparate hatten immer dieselben Farben. Er öffnete seinen Computer und schnitt den Hauptdraht ab. Im Innern des Telefons schnitt er ebenfalls einen Draht ab und entfernte die schützende Gummihülle. Tatsächlich, die vier inneren Drähte sowohl des Telefons als auch des Computers sahen identisch aus. In wenigen Minuten hätte er sie miteinander verbunden. Buck gab eine Nachricht an seinen Chefredakteur Steve Plank in New York ein, in der er ihm mitteilte, dass er in Chicago landen würde. »Ich werde über alles berichten, was ich weiß, und ich bin sicher, das wird nur eine von vielen ähnlichen Geschichten sein. Aber wenigstens wird sie aktuell sein. Ob es von Nutzen sein wird, weiß ich nicht. Mir kommt der Gedanke, Steve, dass du vielleicht unter den Vermissten bist. Woher kann ich das wissen. Du kennst meine Computernummer. Lass mich wissen, wenn du noch bei uns bist.« Er speicherte die Notiz und installierte sein Modem, um sie nach New York zu schicken, während er an seinem Bericht weiterarbeitete. Auf seinem Bildschirm leuchtete alle zwanzig Sekunden ein Licht auf, das ihm sagte, dass die Verbindung zur Datenautobahn hergestellt wurde. Er arbeitete weiter. Die Chefstewardess riss ihn aus seinen Gedanken, als er bereits mehrere Seiten niedergeschrieben hatte. »Was um alles in der Welt tun Sie da?«, fragte sie und beugte sich zu ihm hinüber. Sie starrte auf das Kabelgewirr, das von seinem Laptop zum Flugzeugtelefon führte. »Das kann ich nicht zulassen.« Er warf einen Blick auf ihr Namensschild. »Hören Sie, wunderschöne Hattie, stehen wir nicht vor dem Ende der Welt?« »Reden Sie nicht so mit mir, Sir. Ich kann nicht zulassen, dass Sie das Eigentum der Fluglinie beschädigen.« »Ich beschädige es nicht. Ich habe es mir nur in einem Notfall zu Eigen gemacht. Damit kann ich hoffentlich eine Verbindung herstellen, was sonst unmöglich ist.« 34
»Ich kann das nicht zulassen.« »Hattie, darf ich Ihnen etwas sagen?« »Nur dass Sie dieses Telefon wieder in den Zustand zurückversetzen, wie Sie es vorgefunden haben.« »Das werde ich.« »Jetzt.« »Nein, nicht jetzt.« »Ich verlange es von Ihnen.« »Das verstehe ich, doch bitte, hören Sie mir zu.« Der Mann neben Buck starrte erst ihn, dann Hattie an. Er fluchte, dann nahm er sein Kissen, drückte es sich auf sein rechtes Ohr und legte den Kopf zur Seite. Hattie holte einen Computerausdruck aus ihrer Tasche und suchte seinen Namen. »Mr Williams, ich erwarte von Ihnen, dass Sie meinen Anweisungen Folge leisten. Nur ungern würde ich den Piloten damit behelligen.« Buck griff nach ihrer Hand. »Können wir nur eine Sekunde miteinander reden?« »Ich werde meine Meinung nicht ändern, Sir. Und jetzt bitte, ich habe ein Flugzeug voller verängstigter Menschen.« »Gehören Sie nicht auch dazu?« Er hielt immer noch ihre Hand. Sie kräuselte die Lippen und nickte. »Würden Sie nicht auch gern Kontakt zu jemandem aufnehmen? Wenn das funktioniert, könnte ich jemanden erreichen, der Telefonanrufe für Sie erledigt, Ihrer Familie mitteilt, dass es Ihnen gut geht, und genau so könnte ich eine Nachricht für Sie hereinbekommen. Ich habe nichts kaputtgemacht, und ich verspreche, dass ich alles wieder in Ordnung bringe.« »Wirklich?« »Ja.« »Und Sie würden mir helfen?« »Natürlich. Geben Sie mir Namen und Telefonnummern. Ich werde sie zusammen mit meiner Nachricht nach New York 35
schicken. Ich werde darauf bestehen, dass jemand für Sie die Anrufe erledigt und mich dann informiert. Ich kann nicht dafür garantieren, dass ich durchkomme oder dass ich Antwort bekomme, aber ich werde es versuchen.« »Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.« »Und Sie können mich vor anderen übereifrigen Stewardessen und Stewards schützen?« Hattie brachte ein Lächeln zu Stande. »Vielleicht wollen sie alle auch Ihre Hilfe in Anspruch nehmen.« »Das ist eine schwierige Angelegenheit. Halten Sie mir nur alle vom Leib und lassen Sie es mich versuchen.« »Abgemacht«, erwiderte sie, aber sie wirkte sehr bekümmert. »Hattie, Sie tun das Richtige«, sagte er. »In einer solchen Situation ist das durchaus in Ordnung, auch mal ein wenig an sich selbst zu denken. Genau das tue ich.« »Aber wir alle sitzen doch im selben Boot, Sir. Und ich trage die Verantwortung.« »Sie müssen zugeben, dass einige Regeln ungültig werden, wenn Menschen einfach verschwinden.« Rayford Steele saß aschfahl im Cockpit. Eine halbe Stunde vor der Landung in Chicago hatte er die Passagiere über alles informiert, was er wusste. Das gleichzeitige Verschwinden von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt hatte zu einem unvorstellbaren Chaos geführt. Durch das beherrschte Verhalten der Menschen sei eine Hysterie verhindert worden, obwohl die Ärzte berichteten, sie würden Valium wie Bonbons ausgeben. Rayford war ehrlich zu seinen Passagieren gewesen. Er konnte gar nicht anders. Ihm wurde klar, dass er den Leuten mehr gesagt hatte, als wenn ein Triebwerk ausgefallen wäre, mit der Hydraulik oder dem Fahrwerk etwas nicht gestimmt hatte. Er hatte ihnen offen gesagt, dass diejenigen, die keinen Verlust von einem lieben Menschen zu beklagen hatten, 36
vielleicht zu Hause feststellen müssten, dass sie trotzdem Opfer dieser Katastrophe geworden sind, die durch das Verschwinden so vieler Menschen entstanden ist. Wie dankbar war er, dass er sich zum Zeitpunkt dieses Ereignisses in der Luft befunden hatte. Welche Verwirrung würde auf der Erde auf sie warten! Hier schwebten sie buchstäblich über dem ganzen Chaos. Natürlich waren auch sie betroffen. Überall waren Menschen verschwunden. Doch außer dem Personalmangel, weil drei Crewmitglieder fort waren, hatten die Passagiere nicht darunter zu leiden. Das hätte ganz anders ausgesehen, wenn sie mit dem Auto unterwegs gewesen oder er und Christopher zu denjenigen gehört hätten, die verschwunden waren. Als er sich Meilen von O’Hare entfernt in die Warteschleife einreihte, wurde das volle Ausmaß der Tragödie sichtbar. Flugzeuge aus dem ganzen Land waren nach Chicago umgeleitet worden. Sie wurden nach ihrem Treibstoffvorrat eingestuft. Rayford bekam oberste Priorität, da er bereits zur Ostküste und dann über den Atlantik geflogen war, bevor er umgedreht hatte. Es war nicht Rayfords Gewohnheit, vor seiner Landung mit der Bodenkontrolle zu sprechen. Doch nun wurde das von der Luftüberwachung empfohlen. Er wurde darüber informiert, dass ausgezeichnete Sichtverhältnisse herrschten, trotz des durch die Unfälle auf der Erde entstandenen Rauches, die Landung würde aber trotzdem riskant sein, weil die beiden einzigen offenen Landebahnen von Flugzeugen überfüllt waren. Sie standen an jeder Seite, die ganze Landebahn entlang. Jeder Flugsteig war dicht, und es konnte kein Platz geschaffen werden. Alle nur denkbaren Transportmittel waren im Einsatz, um die Passagiere von den Landebahnen zum Terminal zu bringen. Doch, so sagte man Rayford, sehr wahrscheinlich würden seine Passagiere, zumindest die meisten von ihnen, den ganzen Weg laufen müssen. Alles verfügbare Personal war zum Dienst 37
beordert worden, doch sie waren damit beschäftigt, den Flugzeugen einen sicheren Parkplatz zuzuweisen. Die wenigen Busse und Transporter waren für die Behinderten, für ältere Leute und das Flugpersonal reserviert. Rayford gab durch, seine Crew würde laufen. Die Passagiere hatten berichtet, dass sie keine Telefonverbindung bekommen konnten. Hattie Durham erzählte Rayford, ein Passagier der ersten Klasse hätte das Telefon irgendwie an seinen Computer angeschlossen, und es wurde automatisch immer wieder New York anwählen. Wenn eine Leitung frei würde, so würde er bestimmt durchkommen. Als das Flugzeug den Landeanflug auf Chicago begann, war es Buck gelungen, eine Leitung zu ergattern, über die er seine Nachrichten übermitteln konnte. Dies passierte gerade in dem Augenblick, als Hattie verkündete, alle elektronischen Geräte müssten jetzt abgeschaltet werden. Mit einem Reaktionsvermögen, das er gar nicht bei sich vermutet hätte, beschleunigte er die Schlüssel, die seine Botschaften sortierten und in Sekundenschnelle durchgaben. In dem Augenblick, wo er die Funkverbindung hätte stören können, war er bereits wieder aus der Leitung. Nun würde er warten müssen, bis er Neuigkeiten von Freunden, Mitarbeitern, Verwandten entgegennehmen konnte. Vor ihren letzten Landevorbereitungen eilte Hattie zu Buck. »Haben Sie etwas erreicht?« Er schüttelte entschuldigend den Kopf. »Danke, dass Sie es versucht haben«, antwortete sie. Und sie begann zu weinen. Er ergriff ihre Hand. »Hattie, wir werden alle nach Hause gehen und dort weinen. Aber halten Sie durch. Bringen Sie Ihre Passagiere aus dem Flugzeug, dann können Sie wenigstens in dieser Hinsicht mit sich zufrieden sein.« »Mr Williams«, schluchzte sie, »wir haben mehrere ältere Leute verloren, aber nicht alle. Wir haben mehrere Leute im 38
mittleren Alter verloren, aber nicht alle. Und wir haben mehrere Leute Ihres und meines Alters verloren, aber nicht alle. Wir haben sogar einige Teenager verloren.« Er starrte sie an. Was wollte sie ihm damit sagen? »Sir, wir haben jedes Kind und Baby an Bord verloren.« »Wie viele waren es?« »Mehr als ein Dutzend. Aber alle! Keines ist zurückgeblieben.« Der Mann neben Buck wurde wach und blinzelte in die Morgensonne, die durch das Fenster schien. »Wovon um alles in der Welt reden Sie?«, sagte er. »Wir werden gleich in Chicago landen«, sagte Hattie. »Ich muss los.« »In Chicago?« »Sie wollten ja nichts hören«, erwiderte Buck. Der Mann saß beinahe auf Bucks Schoß, um einen Blick aus dem Fenster werfen zu können. Sein nach Alkohol riechender Atem raubte Buck beinahe die Luft. »Was ist los, befinden wir uns im Krieg? Aufstände? Was ist los?« Da die Maschine gerade durch die Wolken gestoßen war, konnten die Passagiere einen Blick auf Chicago werfen. Rauch. Feuer. Autos, die von der Fahrbahn abgekommen oder ineinander gerast waren. Flugzeugwrackteile auf der Erde. Rettungswagen mit Warnlichtern bahnten sich mühsam ihren Weg durch das Chaos. Als O’Hare in Sicht kam, wurde ihnen klar, dass niemand so schnell wegkommen würde. Flugzeuge, so weit das Auge sehen konnte, einige zertrümmert und in Flammen, andere hintereinander geparkt. Menschen schleppten sich durch das Gras und zwischen den Flugzeugen hindurch zum Terminal. Die Autobahnen, die zum Flughafen führten, sahen aus wie damals während des großen Schneesturms in Chicago, nur dass der Schnee fehlte. Kräne und Abschleppwagen versuchten, einen Weg zum Flughafengebäude zu bahnen, damit die Wagen durchfahren 39
konnten, doch das würde noch Stunden dauern, wenn nicht Tage. Eine Menschenschlange drängte sich aus dem großen Terminalgebäude hinaus auf die Straße, zwischen den stehenden Wagen hindurch. Die Menschen gingen und gingen, suchten nach einem Taxi oder einem Wagen. Buck überlegte, was er tun konnte. Irgendwie musste er weiter, raus aus diesen Menschenmassen. Das Problem war, in New York würde es sicher noch viel schlimmer sein. »Meine Damen und Herren«, sagte Rayford über den Bordlautsprecher, »ich möchte Ihnen noch einmal für Ihre Mitarbeit danken. Leider gibt es nur noch eine einzige Landebahn, auf der ein so großes Flugzeug wie unseres landen kann, und wir sind gebeten worden, zu einem offenen Bereich etwa zwei Meilen vom Terminal entfernt zu rollen. Ich fürchte, ich werde Sie bitten müssen, über unsere aufblasbaren Notrutschen das Flugzeug zu verlassen, da wir nicht in der Lage sein werden, zu einem der Flugsteige zu rollen. Wenn Sie zu schwach sind, um zum Terminal zu laufen, bleiben Sie bitte im Flugzeug. Wir werden jemanden schicken, der Sie holt.« Diesmal dankte er seinen Passagieren nicht, dass sie mit PanContinental geflogen waren, diesmal sagte er nicht: »Wir hoffen, dass Sie sich auch bei Ihrer nächsten Flugreise unserer Gesellschaft anvertrauen werden.« Allerdings ermahnte er sie, angeschnallt zu bleiben, bis das Lichtzeichen ausging. Es würde die schwierigste Landung werden, die er seit Jahren durchgeführt hatte. Er konnte es schaffen, das wusste er, doch es war lange her, seit er das letzte Mal eine Landung zwischen anderen Flugzeugen vorgenommen hatte. Rayford beneidete den Passagier der ersten Klasse, der über Modem Verbindung zur Außenwelt aufnehmen konnte. Er konnte es kaum erwarten, Irene, Chloe und Ray Jr. anzurufen. Auf der anderen Seite befürchtete er, dass er vielleicht keine Gelegenheit mehr haben würde, mit ihnen zu sprechen. 40
3 Hattie Durham und der Rest ihrer Crew forderten die Passagiere auf, die Sicherheitsbestimmungen in ihren Sitztaschen zu lesen. Viele hatten Angst, über die Notrutschen auszusteigen, vor allem mit ihrem Handgepäck. Die Stewardessen sagten ihnen, sie sollten ihre Schuhe ausziehen und auf die Rutsche springen. Sie würden ihnen die Schuhe und das Handgepäck hinunterwerfen. Sie rieten ihnen, nicht auf ihr eingechecktes Gepäck zu warten. Das, so versicherten sie ihnen, würde ihnen irgendwann nach Hause gebracht. Wann, das wussten sie allerdings nicht zu sagen. Buck Williams gab Hattie seine Karte und schrieb sich ihre Telefonnummer auf, »für den Fall, dass ich vor Ihnen Verbindung zu Ihren Eltern bekomme.« »Sie arbeiten beim Global Weekly?«, fragte sie. »Das wusste ich nicht.« »Und Sie haben mich ausgeschimpft, weil ich mit dem Telefon herumgespielt habe.« Sie versuchte zu lächeln. »Es tut mir Leid«, sagte Buck, »das war nicht lustig. Ich höre schon auf.« Buck war froh, dass er kein Gepäck eingecheckt hatte. Er nahm nie einen Koffer mit, nicht einmal auf internationalen Flügen. Als er den Gepäckkasten öffnete, um seine Ledertasche herauszuholen, entdeckte er den Hut und die Jacke des alten Mannes, die noch immer auf seiner Tasche lagen. Harolds Frau starrte Buck aus aufgerissenen Augen an. »Ma’am«, sagte er leise, »möchten Sie das haben?« Die trauernde Frau nahm dankbar den Hut und die Jacke entgegen und drückte sie an ihre Brust, als wollte sie sie nie mehr loslassen. Sie sagte etwas, das Buck nicht verstehen konnte. Er bat sie, es noch einmal zu wiederholen. »Ich kann nicht aus diesem Flugzeug springen«, sagte sie. »Bleiben Sie hier«, beruhigte er sie. »Man wird jemanden 41
schicken, der Sie holt.« »Aber werde ich denn auf dieses Ding springen und hinunterrutschen müssen?« »Nein, Ma’am. Ich bin sicher, sie haben einen Aufzug oder so etwas Ähnliches.« Buck legte seinen Laptop vorsichtig zwischen seine Kleider. Er zog den Reißverschluss zu und eilte zum Ausgang. Er wollte den anderen zeigen, wie einfach das war. Er ließ seine Schuhe zuerst hinunterrutschen, dann drückte er seine Tasche fest an die Brust und sprang auf die Rutsche. Da er ein wenig zu schwungvoll gesprungen war, landete er nicht auf seinem Hinterteil, sondern auf den Schultern, und seine Füße flogen über seinen Kopf. Mit rasanter Geschwindigkeit rutschte er die Rutsche hinunter und schlug unten mit solcher Wucht auf, dass er einen Purzelbaum machte und nur mit knapper Not verhindern konnte, dass sein Gesicht auf dem Beton aufschlug. Seine Tasche hielt er fest an sich gedrückt. Zwar konnte er sein Gesicht schützen, sein Hinterkopf jedoch knallte hart auf den Beton. Nur mühsam unterdrückte er die Äußerung: »Kein Problem.« Doch er rieb sich den schmerzenden Hinterkopf, der bereits blutverschmiert war. Es war keine schlimme Wunde, nur ein kleines Loch. Schnell holte er seine Schuhe und trabte auf den Terminal zu, eher aus Verlegenheit als aus Notwendigkeit. Er wusste, wenn er erst einmal dort war, hatte er viel Zeit. Rayford, Christopher und Hattie verließen als Letzte die 747. Bevor sie ausstiegen, hatten sie dafür gesorgt, dass alle gesunden Passagiere das Flugzeug über die Notrutschen verlassen und die Älteren und Kranken mit dem Bus abgeholt worden waren. Der Busfahrer bestand darauf, dass die Crew mit ihm und den letzten Passagieren fuhr, Rayford weigerte sich jedoch. »Ich kann doch nicht an meinen eigenen Passagieren, die zum Terminal laufen müssen, vorbeifahren«, wandte er ein. »Wie 42
würde das denn aussehen?« Christopher sagte: »Wie Sie wollen, Cap. Aber haben Sie etwas dagegen, wenn ich das Angebot annehme?« Rayford starrte ihn an. »Meinen Sie das im Ernst?« »Für solchen Edelmut ist die Bezahlung einfach nicht hoch genug.« »Als ob dies ein Fehler der Fluggesellschaft wäre. Chris, das meinen Sie doch nicht wirklich im Ernst.« »Und ob ich das ernst meine. Wenn Sie da hinten ankommen, werden Sie vermutlich wünschen, Sie wären auch mitgefahren.« »Ich könnte das melden.« »Millionen von Menschen verschwinden einfach, und ich sollte mir Gedanken darum machen, dass Sie mich melden, weil ich gefahren bin anstatt zu laufen? Bis später, Steele.« Rayford schüttelte den Kopf und wendete sich an Hattie. »Vielleicht treffen wir uns noch. Wenn Sie eine Mitfahrgelegenheit finden, warten Sie nicht auf mich.« »Machen Sie Witze? Wenn Sie laufen, dann laufe ich auch.« »Das brauchen Sie nicht.« »Nach dieser Abreibung, die Sie Smith gerade erteilt haben? Ich laufe.« »Er ist der Erste Offizier. Wir sollten die Letzten sein, die das Schiff verlassen und die Ersten, die sich freiwillig für Rettungsarbeiten melden.« »Tun Sie mir einen Gefallen und betrachten Sie mich auch als Teil Ihrer Crew. Nur weil ich diesen Vogel nicht fliegen kann, heißt das noch lange nicht, dass ich mich nicht auch verantwortlich fühle. Und behandeln Sie mich nicht wie ein Kind.« »Das würde ich nie tun. Haben Sie Ihre Sachen?« Hattie zog ihren Koffer auf Rädern hinter sich her, und Rayford trug seinen Navigationskoffer in der Hand. Es war ein weiter Weg, und mehrmals lehnten sie es ab, von vorbei43
fahrenden Wagen und Bussen mitgenommen zu werden. Unterwegs überholten sie Passagiere ihres Fluges. Viele dankten Rayford; er wusste nicht so genau, wofür. Vermutlich, dass er nicht in Panik geraten war. Doch sie sahen genauso verschreckt und schockiert aus, wie er sich selbst fühlte. Immer wieder hielten sie sich die Ohren zu, um sich vor dem Lärm der landenden Maschinen zu schützen. Rayford versuchte sich vorzustellen, wie lange es dauern würde, bis auch diese Landebahn geschlossen sein würde. Auch auf der zweiten noch offenen Landebahn würden nicht mehr viele Flugzeuge landen können. Ob wohl einige versuchen müssen, auf Schnellstraßen oder auf offenem Feld herunterzukommen? Und wie weit entfernt von den großen Städten würden sie nach freien Teilabschnitten auf den Autobahnen suchen müssen, wo sie ohne durch Brücken behindert zu werden landen konnten? Bei dem Gedanken schauderte ihn. Auf dem ganzen Flugfeld standen Rettungs- und andere Notfallfahrzeuge herum, die versuchten, zu den schrecklichen Absturzstellen zu gelangen. Als sie endlich zum Terminal kamen, musste Rayford feststellen, dass sich vor den Telefonen lange Warteschlangen gebildet hatten. Die Menschen waren aufgebracht, schrien die Leute an den Telefonen an, die nur mit den Achseln zuckten und weiter wählten. Die Snackbars und Restaurants waren bereits entweder ausverkauft oder hatten nur noch wenige Vorräte, und alle Zeitungen und Zeitschriften waren ausverkauft. Die Geschäfte, deren Besitzer verschwunden waren, wurden geplündert. Mehr als alles andere wünschte sich Rayford, sich hinzusetzen und mit jemandem darüber zu sprechen, was von den Vorgängen zu halten war. Doch alle Menschen um ihn herum – Freunde, Bekannte oder Fremde – waren damit beschäftigt, irgendwelche Vereinbarungen zu treffen. O’Hare glich einem riesigen Gefängnis. Alle eilten umher, versuchten, eine Ver44
bindung zur Außenwelt herzustellen, Verbindung zu ihren Familien aufzunehmen und vom Flughafen fortzukommen. Im Flugcenter war die Situation nicht viel besser. Hattie hatte gesagt, sie würde versuchen, von der Lounge aus ihre Anrufe zu erledigen und sich dann später mit ihm treffen, um vielleicht mit ihm zusammen irgendwie zu dem Vorort von Chicago zu gelangen, in dem sie wohnte. Ihm war klar, dass ihnen dies vermutlich nicht gelingen würde, und er freute sich durchaus nicht auf die Aussicht, zwanzig Meilen weit zu laufen. Doch alle Hotels im Umkreis waren bereits überfüllt. Schließlich bat ein leitender Flughafenbeamter das Flugpersonal um Aufmerksamkeit. »Wir haben etwa fünf sichere Telefonleitungen«, sagte er. »Ob Sie durchkommen, wissen wir natürlich nicht, aber die Wahrscheinlichkeit ist größer, als wenn Sie es draußen im Terminal an den Münzfernsprechern versuchen. Halten Sie Ihre Gespräche so kurz wie möglich. Ebenfalls steht eine begrenzte Anzahl an Hubschrauberplätzen zu den Krankenhäusern und Polizeistationen der Vororte zur Verfügung, aber natürlich haben die medizinischen Notfälle Vorrang. Stellen Sie sich hier zum Telefonieren und für die Beförderung in die Vororte an. Wie es im Augenblick aussieht, werden nur die Flüge für heute alle gestrichen. Sie sollten sich zu Ihrem nächsten Flug für morgen hier wieder einfinden oder sich telefonisch erkundigen, wie die Situation ist.« Rayford stellte sich an. Allmählich machte sich der lange Flug in Ungewissheit bemerkbar. Schlimmer noch war der Gedanke, dass er vermutlich besser als alle anderen wusste, was passiert war. Wenn er Recht hatte, wenn es wirklich stimmte, würde sein Telefonanruf zu Hause nicht entgegengenommen werden. Während er darauf wartete, dass er an die Reihe kam, wurden über einen Fernsehbildschirm über ihm Bilder von dem Chaos gesendet. Man sah weinende Mütter und Berichte von Tod und Zerstörung aus der ganzen Welt. Es gab Dutzende von Augenzeugenberichten, die schilderten, wie ihre 45
nächsten Familienmitglieder oder Freunde vor ihren Augen verschwanden. Am meisten schockierte Rayford der Bericht über eine schwangere Frau, die gerade in den Kreißsaal geschoben werden sollte. Doch auf einmal war das Baby verschwunden. Die Ärzte konnten sie nur noch von der Plazenta entbinden. Ihr Mann hatte das Verschwinden des Fötus auf Video aufgenommen. Während er ihren dicken Leib und ihr schweißnasses Gesicht filmte, stellte er ihr Fragen. Wie sie sich fühlen würde? »Was meinst du, wie ich mich fühle, Earl? Stell dieses Ding ab.« Worauf sie hoffen würde? »Dass du nah genug an mich heran kommst, damit ich dir eine knallen kann.« Ob ihr klar wäre, dass sie in wenigen Augenblicken Mutter sein würde? »In einer Minute wirst du geschieden sein.« Dann der Schrei, erschreckte Stimmen, rennende Krankenschwestern und der Arzt. CNN sendete den Film, der zeigte, wie der Bauch der Frau auf einmal dünn wurde, in Zeitlupe. Es war, als hätte sie ganz plötzlich entbunden. »Sehen Sie sich das mit uns zusammen noch einmal an«, sagte der Nachrichtensprecher, »und konzentrieren Sie sich auf die linke Ecke Ihres Bildschirms, wo eine Schwester sich gerade mit den Herztönen des Ungeborenen beschäftigt. Da, sehen Sie?« Das Bild wurde angehalten, als der Bauch der Schwangeren auf einmal flach wurde. »Es sieht so aus, als würde die Tracht von einer unsichtbaren Schwester getragen. Sie ist fort. Eine halbe Sekunde später, sehen Sie nur.« Das Band wurde weiter gespielt und wieder angehalten. »Die Uniform und die Strümpfe liegen exakt auf ihren Schuhen.« Fernsehstationen aus der ganzen Welt berichteten von seltsamen Vorkommnissen, vor allem in Zeitzonen, wo es Tag oder Spätnachmittag war, als dieses Ereignis stattfand. CNN sendete über Satellit die Videoaufzeichnung einer Hochzeit, bei der der Bräutigam verschwand, als er seiner Braut gerade den Ring an den Finger stecken wollte. Ein Beerdigungsinstitut in 46
Australien berichtete, bei einem Beerdigungsgottesdienst seien fast alle Trauergäste einschließlich der Leiche verschwunden, während bei einer anderen Beerdigung zur selben Zeit nur wenige Trauergäste verschwanden und auch die Leiche dablieb. Auch aus den Leichenschauhäusern wurde das Verschwinden von Leichen gemeldet. Bei einer Beerdigung stolperten drei der Sargträger und fielen hin, als die anderen drei verschwanden. Als sie den Sarg wieder aufnahmen, war auch er leer. Rayford war der Zweite in der Reihe vor dem Telefon, doch was er als Nächstes auf dem Bildschirm sah, überzeugte ihn davon, dass er seine Frau nie wieder sehen wurde. Bei dem Fußballspiel einer christlichen High School einer Missionsstation in Indonesien verschwanden mitten im Spiel die meisten Zuschauer und alle Spieler außer einem. Die Schuhe und Kleidung blieben auf dem Spielfeld zurück. Der CAWReporter berichtete, der zurückbleibende Spieler habe sich in seiner Trauer das Leben genommen. Doch Rayford wusste, dass es mehr als Trauer gewesen war. Dieser Spieler, Schüler einer christlichen High School, hatte vermutlich sofort die Wahrheit erfasst. Die Entrückung hatte stattgefunden. Jesus Christus war gekommen, um sein Volk zu sich zu holen, und dieser Junge gehörte nicht dazu. Als Rayford am Telefon saß, strömten Tränen sein Gesicht herunter. Jemand sagte: »Sie haben vier Minuten Zeit.« Ihm war klar, dass er nicht so lange brauchen würde. Der Anrufbeantworter war eingeschaltet, und es tat ihm weh, die fröhliche Stimme seiner Frau zu hören. »Ihr Anruf ist uns wichtig«, sagte sie. »Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Pfeifton.« Rayford gab einen Code ein, um die Nachrichten abzuhören. Nach einigen unwichtigen Anrufern hörte er auf einmal Chloes Stimme. »Mama? Dad? Seid ihr da? Habt ihr mitbekommen, was los ist? Ruft mich an, sobald es geht. Wir haben zehn Studenten und zwei Professoren verloren, und alle Kinder der 47
verheirateten Studenten sind verschwunden. Geht es Raymie gut? Ruft mich an!« Jetzt wusste er, dass Chloe auch noch da war. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als sie in den Arm nehmen zu können. Rayford wählte noch einmal und hinterließ eine Nachricht. »Irene? Ray? Wenn ihr da seid, nehmt den Hörer ab. Wenn ihr diese Nachricht bekommt, ich bin auf dem Flughafen und versuche, nach Hause zu kommen. Es kann eine Weile dauern, wenn ich keinen Hubschrauberplatz bekomme. Ich hoffe sehr, dass ihr noch da seid.« »Machen Sie schon, Cap«, sagte jemand. »Alle wollen telefonieren.« Rayford nickte und wählte schnell die Nummer seiner Tochter in Stanford. Doch diesmal kam er nicht durch. Rayford packte seine Sachen zusammen und überprüfte sein Postfach. Außer einer Reihe unwichtiger Briefe war auch ein Umschlag von seiner Frau dabei. Irene hatte es sich in letzter Zeit angewöhnt, ihm kleine Überraschungen zu schicken. Diese Anregung stammte aus einem Ehebuch, das sie gelesen hatte. Sie hatte ihn gedrängt, es ebenfalls zu lesen. Er steckte den Umschlag in seinen Koffer und machte sich auf die Suche nach Hattie Durham. Seltsamerweise fühlte er sich im Augenblick von ihr emotional überhaupt nicht mehr angezogen. Doch er fühlte sich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass sie nach Hause kam. Während er in der Menge vor dem Aufzug stand, hörte er durch den Lautsprecher, dass ein Hubschrauber für acht Piloten zur Verfügung stehen würde, der nach Mount Prospect, Arlington Heights und Des Plaines fliegen würde. Rayford eilte zum Schalter. »Haben Sie Platz für eine Person nach Prospect?« »Ja.« »Wie stehts mit einer weiteren nach Des Plaines?« »Vielleicht, wenn er in zwei Minuten hier ist.« »Es ist kein er. Sie ist Chefstewardess.« »Nur Piloten. Es tut mir Leid.« 48
»Und wenn Sie noch Platz haben?« »Vielleicht, aber ich sehe sie gar nicht.« »Ich werde sie ausrufen lassen.« »Es wird niemand ausgerufen.« »Geben Sie mir eine Sekunde. Fliegen Sie nicht ohne mich los.« Der Hubschrauberpilot blickte auf seine Uhr. »Drei Minuten«, sagte er. »Dann starte ich.« Rayford stellte seine Tasche ab und hoffte, sie würde den Piloten davon abhalten, ohne ihn abzufliegen für den Fall, dass er sich ein wenig verspäten sollte. Er rannte die Treppen hoch und den Korridor entlang. Hattie zu finden würde unmöglich sein. Er ging zum Informationsschalter. »Es tut mir Leid, doch wir können im Augenblick niemanden ausrufen.« »Ich bin Flugkapitän der Pan-Continental, und das ist ein Notfall.« »Was soll ich sagen?« »Hattie Durham soll ihre Begleitung am K-17 treffen.« »Ich werde es versuchen.« »Tun Sie es.« Rayford stellte sich auf Zehenspitzen, um Hattie kommen zu sehen, doch irgendwie stand sie dann doch auf einmal neben ihm. »Ich war die Vierte vor dem Telefon in der Lounge«, sagte sie. »Haben Sie etwas Besseres?« »Ich habe uns einen Hubschrauberplatz besorgt, wenn wir uns beeilen«, erklärte er. Während sie die Treppen hinunterrannten, sagte sie: »Ist das mit Chris nicht schrecklich?« »Was ist denn mit ihm?« »Haben Sie das wirklich noch nicht gehört?« Rayford wäre am liebsten stehen geblieben und hätte ihr gesagt, sie solle ihn nicht so auf die Folter spannen. Das ärgerte ihn so an Menschen ihres Alters. Sie machten alles so spannend. Er wollte einfach nur wissen, was los war. »Sagen Sie es 49
doch endlich«, meinte er etwas ungeduldiger als beabsichtigt. Sie rannten durch die Tür aufs Rollfeld hinaus. Die Hubschrauberrotoren machten einen ohrenbetäubenden Lärm. Rayfords Koffer war bereits an Bord gebracht worden. Es war nur noch ein Platz frei. Der Pilot deutete auf Hattie und schüttelte den Kopf. Rayford packte sie am Ellbogen und zog sie mit sich in den Hubschrauber hinein. »Sie bleibt nur hier, wenn Sie mit dem zusätzlichen Gewicht nicht klarkommen!« »Wie viel wiegen Sie denn, Kleine?«, fragte der Pilot. »Siebenundvierzig Kilo.« »Das geht«, erwiderte er. »Aber wenn Sie sich nicht anschnallen kann, ist das nicht mein Problem.« »Starten Sie doch endlich«, rief Rayford. Er schnallte sich an und zog Hattie auf seinen Schoß. Er umschlang sie mit seinen Armen und umklammerte mit der Rechten sein linkes Handgelenk. Welche Ironie, dass er seit Wochen davon geträumt hatte, doch nun, da es so gekommen war, empfand er keine Freude, keine Aufregung dabei; er hatte überhaupt keine Empfindung. Er war nur froh, dass er sie aus dem Chaos fortbringen konnte. Hattie schien sich unbehaglich zu fühlen. Rayford bemerkte, wie sie die sieben anderen Piloten verlegen ansah. Niemand schien ihren Blick zu erwidern. Die Katastrophe war noch zu frisch, und es gab noch zu viele unbekannte Größen. Rayford meinte, einen von ihnen »Christopher Smith« sagen zu hören, doch das konnte bei dem ohrenbetäubenden Lärm gar nicht sein. Vermutlich hatte er es von den Lippen abgelesen. »Was ist jetzt mit Chris?«, fragte er dicht an ihrem Ohr. Sie drehte sich zu ihm herum und sprach ebenfalls in sein Ohr. »Als ich in die Lounge ging, hat man ihn an mir vorbeigefahren. Er war voller Blut!« »Was ist passiert?« »Ich weiß es nicht, aber Rayford, es sah nicht gut aus.« »Wie schlimm?« 50
»Ich denke, er war tot! Ich meine, sie haben sich mit ihm beschäftigt, aber es würde mich sehr überraschen, wenn er es geschafft hatte.« Rayford schüttelte den Kopf. Was war passiert? »Ist er verletzt worden oder so etwas? Hatte dieser Bus einen Unfall?« Das wäre wirklich eine Ironie des Schicksals! »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Das Blut schien aus seiner Hand oder Hüfte oder beidem zu kommen.« Rayford tippte den Piloten auf die Schulter. »Wissen Sie etwas über den Ersten Offizier Christopher Smith?« »Von der Pan-Con?«, fragte der Pilot. »Ja.« »Hat er nicht Selbstmord begangen?« Rayford zuckte zusammen. »Das glaube ich nicht! Gab es denn einen Selbstmord?« »Unzählige, denke ich, aber vorwiegend von Passagieren. Ich habe nur von einem Crewmitglied gehört, und das war ein Smith von Pan. Hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.« Rayford warf einen schnellen Blick auf die anderen im Hubschrauber, um zu sehen, ob er einen von ihnen kannte. Das war nicht der Fall, doch einer, der die Worte des Piloten gehört hatte, nickte traurig. Er beugte sich vor. »Meinen Ersten Offizier, Chris Smith! Kennen Sie ihn?« »Es tut mir Leid.« »Was haben Sie gehört?« »Ich weiß nicht, wie verlässlich das ist, aber man erzählt sich, er hatte erfahren, dass seine Jungen verschwunden seien und seine Frau bei einem Unfall getötet worden sei!« Zum ersten Mal war Rayford persönlich betroffen. Er kannte Smith nicht sehr gut. Nur vage erinnerte er sich daran, dass Chris zwei Söhne hatte. Schienen Teenager zu sein, altersmäßig sehr dicht beieinander. Seine Frau hatte er nie kennen gelernt. Aber Selbstmord! War das auch für Rayford eine Möglichkeit? Nein, nicht wo Chloe noch lebte. Aber wenn er 51
nun festgestellt hätte, dass Irene und der junge Ray fort wären und Chloe getötet worden wäre? Wofür hätte er noch leben können? Aber er hatte ja sowieso nicht für sie gelebt, ganz bestimmt nicht in den vergangenen Monaten. Er hatte sich in Gedanken mit dem Mädchen auf seinem Schoß beschäftigt, obwohl er ihr gegenüber in keiner Weise zärtlich geworden ist, auch wenn sie ihn häufig berührt hatte. Würde er leben wollen, wenn Hattie Durham die einzige für ihn wichtige Person wäre? Und warum war sie ihm wichtig? Sie war schön und sexy, aber nur für ihr Alter. Sie hatten wenig Gemeinsamkeiten. Sehnte er sich nur danach, seine eigene Frau im Arm zu halten, weil er davon überzeugt war, dass sie fort war? Zwar hielt er Hattie Durham im Arm, doch Gefühle der Zuneigung spielten hierbei keine Rolle. Auch bei ihr nicht. Beide waren zu Tode erschreckt, und Flirten war das Letzte, an das sie in diesem Augenblick dachten. Die Ironie an der ganzen Geschichte entging ihm nicht. Er erinnerte sich noch an das, was er kurz vor Hatties Meldung vom Verschwinden der Passagiere gedacht hatte. Er wollte den ersten Schritt auf sie zu machen. Wie hätte er wissen können, dass sie nur wenige Stunden später auf seinem Schoß sitzen und er nicht mehr Interesse für sie aufbringen würde als für eine Fremde? Als Erstes landete der Hubschrauber auf dem Parkplatz der Polizeistation in Des Plaines, wo Hattie ausstieg. Rayford riet ihr, sich von einem Polizeiwagen nach Hause fahren zu lassen, falls einer zur Verfügung stand. Das war jedoch unwahrscheinlich, da sich sicher alle im Einsatz befanden. »Ich wohne nur eine Meile von hier entfernt!«, rief Hattie Rayford zu, als er ihr aus dem Hubschrauber half. »Ich kann gut nach Hause laufen!« Sie schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn fest an sich. Er spürte, wie sie vor Furcht zitterte. »Ich hoffe, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist!«, sagte sie. »Rufen Sie mich an und lassen Sie es mich wissen, okay?« 52
Er nickte. »Wirklich?«, beharrte sie. »Wirklich!« Als sie wieder aufstiegen, konnte er sehen, wie sie sich auf dem Parkplatz umsah. Da keine Streifenwagen zu entdecken waren, drehte sie sich um und eilte mit ihrem Koffer auf Rädern davon. Der Hubschrauber drehte nach Mount Prospect ab. Buck Williams war der erste Passagier aus der Maschine, der am Terminal ankam. Er fand ein Chaos vor. Keiner, der in der Schlange vor den öffentlichen Telefonen wartete, war damit einverstanden, dass er sein Modem anschloss, und sein Handy funktionierte nicht. So machte er sich auf den Weg zu dem exklusiven Pan-Con Club. Auch hier war alles überfüllt, doch trotz des Personalmangels – auch hier waren einige Angestellte während des Dienstes verschwunden – schien noch einigermaßen Ruhe und Ordnung zu herrschen. Hier wie überall sonst standen Menschenschlangen vor den Telefonen, doch mittlerweile waren schon einige auf die Idee gekommen, dass man es mit einem Fax oder dem Anschluss eines Modems probieren konnte. Während Buck wartete, machte er sich an seinem Computer zu schaffen und rief die Nachrichten ab, die er vor der Landung noch schnell angefordert hatte. Die Erste war von Steve Plank, seinem Chefredakteur, an alle Reporter im Außendienst: »Bleibt, wo ihr seid. Versucht nicht, nach New York zu kommen. Es ist unmöglich hier. Ruft an, wenn es geht. Überprüft regelmäßig eure Anrufbeantworter und E-Mail. Wenn möglich, haltet den Kontakt zu uns. Wir haben genügend Personal hier, um weitermachen zu können, und wir möchten Berichte haben, so viele ihr übermitteln könnt. Wir wissen nicht, wie die Kommunikation zwischen uns und unseren 53
Druckern klappt, wissen auch nicht, wie sie personell besetzt sind. Wenn möglich, werden wir rechtzeitig drucken. Noch eins: Macht euch Gedanken über die Ursachen. Das Militär? Kosmische Ursachen? Wissenschaftliche? Geistliche? Vorerst beschäftigen wir uns nur mit den Fakten. Seid vorsichtig, haltet Verbindung.« Die zweite Nachricht war ebenfalls von Steve und nur für Buck bestimmt. »Buck, vergiss alle allgemeinen Anweisungen an das Personal. Komm nach New York, so schnell du kannst. Die Kosten spielen keine Rolle. Natürlich kannst du dich zuerst um deine Familie kümmern und alle persönlichen Erfahrungen und Gedanken niederschreiben, genau wie alle anderen. Aber du wirst die Aufgabe bekommen, herauszufinden, was hinter diesem Phänomen steckt. Ob wir überhaupt zu irgendwelchen Schlussfolgerungen kommen werden, weiß ich nicht, aber wenigstens werden wir alle vernünftigen Möglichkeiten durchgehen. Du wirst dich vielleicht fragen, warum wir dich dazu hier in New York brauchen. Ich habe einen bestimmten Grund dafür. Manchmal denke ich, dass ich auf Grund meiner Position als Einziger über diese Dinge Bescheid weiß. Die Redakteure haben Vorschläge zu Artikeln über verschiedene internationale Konferenzen eingereicht, die in diesem Monat in New York stattfinden. Der Redakteur für Politik möchte über eine Konferenz der jüdischen Nationalisten in Manhattan schreiben, die irgendetwas mit einer neuen Weltregierung zu tun hat. Weshalb das von Interesse sein soll, weiß ich nicht, und der Redakteur ebenfalls nicht. Der Redakteur für den Bereich Religion hat etwas über eine Konferenz orthodoxer Juden, die ebenfalls in diesem Monat stattfinden soll. Sie kommen nicht nur aus Israel, sondern offensichtlich aus der ganzen Welt, und sie hocken nicht mehr 54
über den Schriftrollen des Toten Meeres. Sie freuen sich immer noch über die Zerstörung Russlands und seiner Alliierten – von der du, wie ich weiß, immer noch glaubst, dass sie übernatürliche Ursachen hatte, aber hey, ich mag dich trotzdem. Der Redakteur für Religion ist der Meinung, sie würden nach Hilfe suchen für den Wiederaufbau des Tempels. Das ist vielleicht keine große Sache und betrifft vielleicht auch wirklich nur die Abteilung Religion, aber mich hat der Zeitpunkt stutzig gemacht – die Konferenz der anderen jüdischen Gruppe findet ziemlich genau zur selben Zeit und am selben Ort statt und hat ein rein politisches Thema. An der anderen religiösen Konferenz in der Stadt nehmen führende Köpfe aller Hauptreligionen teil, von den Standardreligionen bis hin zu den New Agers. Auch hier soll über eine Weltreligion gesprochen werden. Vielleicht sollten sie sich mit den jüdischen Nationalisten zusammentun, nicht? Ich brauche deinen Scharfsinn hierbei. Weiß einfach nicht, was ich davon halten soll. Mir ist klar, dass im Augenblick alle nur mit dem großen Massenverschwinden beschäftigt sind. Doch wir müssen auch den Rest der Welt im Auge behalten. Du weißt, dass bei den Vereinten Nationen das Forum der Finanzminister bevorsteht, bei dem diskutiert werden soll, wie wir alle mit dem Drei-Währungssystem zurechtkommen. Ich persönlich bin zufrieden damit; eine einzige Weltwährung gefällt mir nur, wenn der Dollar diese Währung ist. Kannst du dir vorstellen, hier den Yen oder die Mark einzuführen? Vermutlich bin ich immer noch provinziell. Alle sind ziemlich verliebt in diesen Carpathia aus Rumänien, der deinen Freund Rosenzweig so beeindruckt hat. Die Mitglieder des Oberhauses seines Landes sind in Aufregung, weil er eingeladen worden ist, in wenigen Wochen vor den Vereinten Nationen zu sprechen. Keiner weiß, wie er diese Einladung zu Stande gebracht hat, aber seine internationale Popularität erinnert mich sehr stark 55
an Walesa oder sogar Gorbatschow. Erinnerst du dich noch an sie? Ha! Hey, Freund, lass mich wissen, dass du nicht auch verschwunden bist. Soweit ich weiß, habe ich eine Nichte und zwei Neffen verloren, eine Schwägerin, die ich nicht leiden konnte und möglicherweise eine Reihe entfernter Verwandte. Meinst du, dass sie zurückkommen werden? Heb dir die Antwort für den Zeitpunkt auf, wenn wir zusammen überlegen können, was hinter dem Ganzen steckt. Wenn ich raten sollte, würde ich auf eine schrecklich hohe Lösegeldsumme tippen. Ich meine, es ist nicht wahrscheinlich, dass diese Leute, die verschwunden sind, tot sind. Was um alles in der Welt wird mit den Versicherungsagenturen passieren? Ich bin noch nicht bereit, der Sensationspresse Glauben zu schenken. Du weißt sicher, dass sie behaupten, die Außerirdischen hätten uns schließlich gekriegt. Komm her, Buck.«
4 Buck presste ein nasses Taschentuch auf seinen Hinterkopf. Seine Wunde blutete nicht mehr, doch sie schmerzte. Noch eine weitere Nachricht wartete auf ihn, und er wollte sie gerade abrufen, als man ihm auf die Schulter tippte. »Ich bin Arzt. Ich möchte Ihre Wunde versorgen.« »Oh, das geht schon, und ich –« »Lassen Sie mich doch. Ich werde noch verrückt hier, wenn ich nichts zu tun habe. Meine Tasche habe ich bei mir. Und heute arbeite ich auch kostenlos. Nennen Sie es eine Entrükkungssonderleistung.« »Eine was?« »Nun, wie würden Sie das denn nennen, was passiert ist?«, fragte der Arzt und holte eine Medizinflasche und einen Gazetupfer aus seiner Tasche. »Das wird ein wenig brennen, aber 56
wir müssen das desinfizieren. AIDS?« »Wie bitte?« »Kommen Sie, Sie kennen doch die Routinefragen.« Er zog sich Gummihandschuhe an. »Sind Sie HIV-infiziert, oder haben Sie irgendeine andere schöne Krankheit?« »Nein, und hey, ich weiß das zu schätzen.« In diesem Augenblick goss der Arzt Desinfektionsmittel auf den Gazetupfer und presste ihn fest gegen Bucks Kopf. »Autsch! Nicht so heftig!« »Seien Sie ein tapferer Junge. Das tut viel weniger weh als die Infektion, die Sie sonst bekommen.« Er reinigte die Wunde und brachte sie erneut zum Bluten. »Hören Sie, ich werde ein paar Haare wegrasieren, damit das Pflaster hält. Ist das in Ordnung?« In Bucks Augen standen Tränen. »Ja, sicher, aber was haben Sie da über Entrückung gesagt?« »Gibt es eine andere logische Erklärung?«, erwiderte der Arzt und rasierte mit einem Skalpell Bucks Haare ab. Eine Clubangestellte kam zu ihnen und fragte, ob sie die Operation nicht in einen der Waschräume verlegen könnten. »Ich verspreche, alles wieder sauber zu machen, Kleine«, sagte der Doktor. »Bin fast fertig hier.« »Das kann doch nicht besonders hygienisch sein, und wir müssen auch an die anderen Clubmitglieder denken.« »Warum geben Sie ihnen nicht einfach ihre Drinks und Nüsse, in Ordnung? Sie werden feststellen, dass Ihre Gäste sich an einem Tag wie diesem gar nicht darüber aufregen werden.« »Ich schätze es gar nicht, wenn so mit mir gesprochen wird.« Der Arzt seufzte. »Sie haben Recht. Wie heißen Sie?« »Suzie.« »Hören Sie, Suzie, ich bin unhöflich gewesen, und ich entschuldige mich dafür. In Ordnung? Lassen Sie mich das jetzt zu Ende bringen, und ich verspreche, dass ich keine ärztlichen Eingriffe mehr hier draußen in der Öffentlichkeit vornehme.« 57
Kopfschüttelnd ging Suzie davon. »Doc«, meinte Buck, »lassen Sie mir Ihre Karte da, damit ich Ihnen angemessen danken kann.« »Ist nicht nötig«, erwiderte der Arzt und räumte seine Sachen ein. »Aber jetzt sagen Sie mir noch, was Sie mit der Entrückung meinten.« »Ein anderes Mal. Sie sind dran mit telefonieren.« Buck war innerlich zerrissen, aber er konnte sich die Gelegenheit, mit New York zu telefonieren, nicht entgehen lassen. Er versuchte, direkt zu wählen, kam jedoch nicht durch. Darum schloss er sein Modem ans Telefon an und drückte Wahlwiederholung, während er die Nachricht von Steve Planks Sekretärin, der mütterlichen Marge Potter, abrief. »Buck, Sie Schuft! Denken Sie, ich hätte heute nicht schon genug zu tun und zu sorgen, sodass ich auch noch die Familien Ihrer Freundinnen überprüfen kann? Wo haben Sie diese Hattie Durham denn kennen gelernt? Sie können ihr sagen, dass ich ihre Mutter im Westen erreicht habe, aber das war, bevor eine Flut oder ein Sturm oder irgend so etwas die Telefonleitungen wieder lahm gelegt hat. Sie ist gesund, aber mit den Nerven am Ende, und sie war sehr froh zu erfahren, dass ihre Tochter nicht verschwunden ist. Auch den beiden Schwestern geht es gut, wie die Mutter sagte. Sie haben ein gutes Herz, dass Sie Menschen auf diese Weise helfen, Buck. Steve sagt, Sie werden versuchen, herzukommen. Es wird gut tun, Sie zu sehen. Das alles ist so schrecklich. Bisher wissen wir, dass einige unserer Leute ebenfalls verschwunden sind. Von einigen haben wir noch nichts gehört, auch einigen aus Chicago. Alle alten Hasen haben sich gemeldet, und nun haben wir auch von Ihnen gehört. Ich habe gehofft und gebetet, dass es Ihnen gut geht. Ist Ihnen aufgefallen, dass es diesmal die Unschuldigen getroffen zu 58
haben scheint? Alle Verschwundenen sind entweder Kinder oder sehr nette Menschen. Aber auch einige wirklich wundervolle Menschen sind uns erhalten geblieben. Ich bin froh, dass Sie dazugehören. Steve ebenfalls. Rufen Sie uns an.« Kein Wort darüber, ob sie Bucks verwitweten Vater oder seinen verheirateten Bruder erreichen konnte. Buck fragte sich, ob das vielleicht Absicht war, oder ob sie einfach noch keine Nachricht hatte. Seine Nichte und sein Neffe waren sicherlich fort, wenn es stimmte, dass keine Kinder überlebt hatten. Buck gab den Versuch auf, sein Büro direkt zu erreichen, arbeitete aber wieder erfolgreich mit einem online Service. Er übermittelte seine Berichte und einige hastig niedergeschriebene Informationen zu seiner Situation. Auf diese Weise hatte die Global Weekly, wenn das Telefonsystem wieder richtig arbeitete, wenigstens einen Anfang. Sehr zur Freude des Nächsten in der Warteschlange legte er auf und löste die Modemverbindung. Dann machte er sich auf die Suche nach diesem Doktor. Er hatte kein Glück. Marge hatte von den Unschuldigen geschrieben. Der Doktor nahm an, es sei die Entrückung. Steve hatte über die Möglichkeit, Außerirdische könnten dafür verantwortlich sein, gelacht. Aber wie konnte man zu diesem Zeitpunkt bereits etwas über die Ursachen sagen? Unzählige Ideen für mögliche Geschichten über die Hintergründe des großen Massenverschwindens gingen ihm im Kopf herum. Das war eine Lebensaufgabe! Buck stellte sich am Schalter an. Er wusste, dass die Wahrscheinlichkeit, nach New York zu kommen, sehr gering war. Während er wartete, versuchte er sich an das zu erinnern, was Chaim Rosenzweig, der Mann des Jahres, ihm von Nicolai Carpathia aus Rumänien erzählt hatte. Buck hatte das nur Steve Plank gegenüber erwähnt, und Steve war mit ihm einer Meinung gewesen, dass es keinen Sinn hatte, dies in den Artikel noch mit hineinzuflechten. Rosenzweig war von Carpathia 59
beeindruckt gewesen, das stimmte. Aber warum? Buck setzte sich in der Warteschlange auf den Boden und rückte vor, wenn es weiter ging. In seinem Laptop rief er alles auf, was er von dem Rosenzweig-Interview abgespeichert hatte. Er erinnerte sich daran, dass er Rosenzweig verlegen eingestehen musste, noch nie von dem Mann mit Namen Carpathia gehört zu haben. Er las sich seine Notizen noch einmal durch. Als das Licht aufleuchtete, das anzeigte, dass die Batterie nur noch schwach war, holte er sein Kabel aus der Tasche und steckte es in eine Steckdose an der Wand. »Passen Sie auf das Kabel auf«, rief er, wenn jemand vorbeiging. Eine der Frauen hinter dem Schalter rief ihm zu, er sollte den Stekker herausziehen. Er lächelte sie an. »Und wenn ich es nicht tue, werden Sie mich dann rauswerfen? Verhaften? Doch nicht heute!« Kaum einer nahm Notiz von dem Verrückten, der auf dem Boden saß und sich überlaut mit der Frau am Schalter unterhielt. So etwas passierte nur selten im Pan-Con Club, aber heute ließ sich durch so etwas niemand mehr aus der Fassung bringen. Rayford Steele und die anderen Piloten stiegen auf dem Hubschrauberlandeplatz des Northwest Community Hospital in Arlington Heights aus. Der Pilot brauchte Platz für einen Patienten, der nach Milwaukee geflogen werden sollte. Die anderen Piloten warteten im Krankenhauseingang auf ein Taxi, doch Rayford hatte eine bessere Idee. Er machte sich zu Fuß auf den Weg. Er war etwa fünf Meilen von zu Hause entfernt. Sicher würde er unterwegs von jemandem mitgenommen werden. Er hoffte, dass seine Kapitänsuniform und seine seriöse Erscheinung einen Menschen bereit machen würden, ihn mitzunehmen. Während er die Straße entlangging, seinen Trenchcoat über den Arm gehängt und seine Tasche in der Hand, machte sich ein Gefühl der Verzweiflung in ihm breit. Mittlerweile war 60
Hattie bestimmt in ihrem Appartement angekommen. Sie würde ihren Anrufbeantworter abhören und versuchen, ihre Familie zu erreichen. Wenn er Recht hatte, dass Irene und Ray Jr. fort waren, wo hatten sie sich aufgehalten, als es passierte? Würde er einen Hinweis darauf finden, dass sie verschwunden und nicht bei irgendeinem Unfall getötet worden waren? Rayford schätzte, dass die Menschen am späten Abend verschwunden waren, gegen 23 Uhr. Hatte vielleicht irgendetwas zu so später Stunde sie noch von zu Hause fortgeführt? Er konnte sich das nicht vorstellen. Eine Frau um die vierzig hielt neben Rayford an. Als er ihr dankte und ihr seine Adresse nannte, sagte sie, sie würde das Gebiet kennen. »Eine Freundin von mir wohnt dort. Nun, lebte dort. Kennen Sie Li Ng, die Asiatin von den Nachrichten auf Channel sieben?« »Ich kenne sie und ihren Mann«, erwiderte Rayford. »Sie wohnen in unserer Straße.« »Jetzt nicht mehr. Die Mittagssendung heute war ihr zu Ehren. Die ganze Familie ist verschwunden.« Rayford atmete tief durch. »Das ist unglaublich. Haben Sie auch Angehörige verloren?« »Ich fürchte, ja«, sagte sie mit bebender Stimme. »Etwa ein Dutzend Nichten und Neffen.« »Wow!« »Und Sie?« »Ich weiß es noch nicht. Ich komme gerade von einem Flug zurück und habe noch niemanden erreichen können.« »Möchten Sie, dass ich auf Sie warte?« »Nein, ich habe einen Wagen. Wenn ich irgendwohin muss, komme ich schon zurecht.« »O’Hare ist geschlossen, das wissen Sie sicherlich«, sagte sie. »Wirklich? Seit wann?« »Es würde gerade im Radio durchgegeben. Die Landebahnen 61
stehen voller Flugzeuge, die Terminals sind voller Menschen und die Straßen von Autos verstopft.« »Erzählen Sie mir davon.« Als sie Mount Prospect erreichten, fühlte sich Rayford so müde wie nie zuvor. Überall standen die Auffahrten der Häuser voller Wagen, Menschen liefen auf den Straßen umher. Es hatte den Anschein, als hätte jeder irgendjemanden verloren. Er wusste, bald würde auch er dazugehören. »Kann ich Sie irgendwie entschädigen?«, fragte er die Frau, als sie in seine Einfahrt einbogen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin froh, dass ich helfen konnte. Sie könnten allerdings für mich beten, wenn Sie daran denken. Ich weiß nicht, ob ich das alles aushalten kann.« »Ich bin kein großer Beter«, gestand Rayford ein. »Das wird noch kommen«, sagte sie. »Ich habe auch nie viel gebetet, aber jetzt tue ich es.« »Dann können Sie für mich beten«, sagte er. »Das werde ich. Sie können sich darauf verlassen.« Rayford stand in der Einfahrt und winkte der Frau nach, bis sie nicht mehr zu sehen war. Der Hof und der Gehsteig waren wie gewöhnlich sauber gefegt, und das riesige Haus, sein Vorzeigehaus, war still wie ein Grab. Er schloss die Eingangstür auf. Die Zeitung auf der obersten Treppenstufe, die geschlossenen Vorhänge und der bittere Geruch verbrannten Kaffees deuteten auf das hin, was er befürchtet hatte. Irene war eine sehr ordentliche Hausfrau. Morgens um sechs Uhr stellte sich die Kaffeemaschine durch Zeitschaltuhr an. Das Radio schaltete sich um sechs Uhr dreißig ein. Es war auf die christliche Radiostation eingestellt. Wenn Irene nach unten kam, zog sie als Erstes die Vorhänge zurück. Mit zugeschnürter Kehle warf Rayford die Zeitung in die Küche und nahm sich die Zeit, seinen Mantel aufzuhängen und seine Tasche in den Schrank zu stellen. Er erinnerte sich an das Päckchen, das Irene ihm nach O’Hare geschickt hatte und 62
steckte es in die große Tasche seiner Uniform. Er würde es bei sich tragen, wenn er nach Hinweisen dafür suchte, dass sie verschwunden war. Wenn sie fort war, so hoffte er, dass sie Recht gehabt hatte. Mehr als alles andere wünschte er sich für sie, dass sie erlebte, wie sich ihr Traum erfüllte, dass sie von Jesus in einem Augenblick fortgenommen worden war – eine aufregende, schmerzlose Reise an seiner Seite in den Himmel, wie sie immer so gern sagte. Von allen Menschen hatte sie es ganz bestimmt verdient. Und Raymie. Wo würde er sein? Bei ihr? Natürlich. Er begleitete sie in die Gemeinde, auch wenn Rayford keine Lust hatte. Es schien ihm dort zu gefallen. Er las sogar in der Bibel und beschäftigte sich damit. Rayford nahm die Kaffeekanne von der Maschine, die sich selbst abgestellt und dann wieder angestellt hatte. Er schüttete das Gebräu in den Ausguss und ließ die Kanne in der Spüle stehen. Er stellte das Radio ab, über das die neuesten Nachrichten von dem Chaos und den Tragödien gesendet wurden, die sich abgespielt hatten. Er blickte sich im Wohnzimmer, Esszimmer und der Küche um und erwartete nichts anderes, als alles aufgeräumt vorzufinden, wie das bei Irene immer der Fall war. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er die Vorhänge öffnete, wie sie es immer getan hatte. War es möglich, dass sie nur weggefahren war? Vielleicht jemanden besucht hatte? Ihm vielleicht eine Nachricht hinterlassen hatte? Aber wenn es so war und er sie wirklich finden würde, was würde das über ihren Glauben aussagen? Würde das beweisen, dass dies nicht die Entrückung war, an die sie glaubte? Oder würde das bedeuten, dass sie verloren war wie er? Um ihretwillen wünschte er, dass sie fort war, wenn dies wirklich die Entrückung war. Aber der Schmerz und die Leere waren jetzt schon überwältigend. Er stellte den Anrufbeantworter an und hörte dieselben Botschaften ab, die er vom Flughafen aus schon gehört hatte. Und 63
dazu die Nachricht, die er hinterlassen hatte. Seine eigene Stimme tönte ihm fremd in den Ohren. Er entdeckte in ihr einen Fatalismus, als ob er gewusst hatte, dass er nicht wirklich eine Nachricht für seine Frau und seinen Sohn hinterließ, sondern nur so tat. Er fürchtete sich davor, im oberen Stockwerk nachzusehen. Stattdessen ging er zur Garagentür. Vielleicht fehlte ja einer der Wagen. So war es tatsächlich! Vielleicht war sie ja doch weggefahren! Doch während er darüber nachdachte, ließ sich Rayford auf die Treppe sinken. Es war sein eigener BMW, der fehlte. Er war am Tag zuvor damit nach O’Hare gefahren. Er würde ihn dort abholen, wenn der Verkehr sich ein wenig beruhigt hatte. Die anderen beiden Wagen standen da, Irenes und der kleine, mit dem Chloe immer fuhr, wenn sie zu Hause war. Und alle Erinnerungen an Raymie waren auch da. Sein Kettcar, sein Schlitten, sein Fahrrad. Zorn auf sich selbst stieg in ihm auf. Wie oft hatte er versprochen, mehr Zeit mit Raymie zu verbringen! Er würde nun genügend Zeit haben, das zu bereuen. Beim Aufstehen hörte Rayford das Rascheln des Umschlags in seiner Tasche. Es war an der Zeit, nach oben zu gehen. Buck Williams hatte sich schon fast bis zum Schalter der PanCon vorgearbeitet, als er das Material, das er gesucht hatte, endlich fand. An irgendeinem Punkt während des Interviews hatte Buck gefragt, ob nicht alle Länder versuchen würden, Dr. Rosenzweig einen Gefallen zu erweisen, um dadurch zu ihrem eigenen Nutzen an die Formel zu kommen. »Das ist ein interessanter Aspekt«, hatte Rosenzweig augenzwinkernd geantwortet. »Ich war äußerst amüsiert über einen Besuch des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten. Er wollte mich ehren, mich zum Präsidenten bringen, eine Parade organisieren, einen Titel verleihen, all so etwas. Natürlich ging er 64
sehr diplomatisch vor und sagte nichts darüber, dass ich ihm dafür natürlich etwas schuldig wäre, doch ich würde ihm sehr viel zu verdanken haben, nicht wahr? Immer wieder wurde erwähnt, dass die Vereinigten Staaten Israel jahrzehntelang doch sehr freundschaftlich verbunden gewesen seien. Und das stimmt ja auch, nicht? Wie konnte ich da widersprechen? Aber ich gab vor, die Auszeichnungen und Ehrungen nicht annehmen zu können und lehnte demütig ab. Denn ich bin ja ein sehr bescheidener Mann, mein Junge, nicht?« Der alte Mann brach in schallendes Gelächter aus und erzählte noch weitere Geschichten über Würdenträger, die ihn besucht und umschmeichelt hatten. »Hat es jemand auch ernst gemeint?«, hatte Buck gefragt. »Hat einer von ihnen Sie beeindruckt?« »Ja!«, erwiderte Rosenzweig ohne zu zögern. »Erstaunlicherweise ein Mann aus einer Ecke, aus der man es nie vermutet hatte – aus Rumänien. Ich weiß nicht, ob er geschickt worden ist oder von sich aus gekommen war. Ich vermute Letzteres, weil er wohl die rangniedrigste Persönlichkeit war, mit der ich nach der Auszeichnung zusammengetroffen bin. Das ist einer der Gründe, warum ich ihn sehen wollte. Er hat selbst um eine Unterredung nachgesucht und nicht die sonst üblichen politischen und protokollarischen Kanäle durchlaufen.« »Und das war …?« »Nicolai Carpathia.« »Carpathia wie die –?« »Genau, wie die Karpaten. Ein wohlklingender Name, das müssen Sie zugeben. Ich fand ihn sehr sympathisch und bescheiden. Genau wie ich!« Wieder hatte er gelacht. »Ich habe von ihm noch nichts gehört.« »Das werden Sie noch! Das werden Sie noch.« Buck hatte versucht, dem alten Mann weitere Informationen zu entlocken. »Weil er …« 65
»Er ist beeindruckend, mehr kann ich nicht sagen.« »Und er ist zurzeit Diplomat mit niedrigem Status?« »Er ist Mitglied des Unterhauses der rumänischen Regierung.« »Im Senat?« »Nein, der Senat ist das Oberhaus.« »Natürlich.« »Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, dass Sie das nicht wissen, auch wenn Sie internationaler Journalist sind. So etwas wissen nur Rumänen und Amateurpolitikwissenschaftler wie ich. Ich beschäftige mich gern mit solchen Dingen.« »In Ihrer Freizeit.« »Genau. Doch selbst ich hatte von diesem Mann noch nichts gehört. Ich wusste, dass sich jemand im Abgeordnetenhaus – so wird das Unterhaus in Rumänien genannt – für den Frieden einsetzte und eine Abrüstungsbewegung ins Leben gerufen hatte. Doch ich kannte seinen Namen nicht. Ich glaube, sein Ziel ist die weltweite Abrüstung, von der wir Israelis nicht viel halten. Aber zuerst muss er natürlich die Abrüstung seines eigenen Landes erreichen, und das werden vermutlich nicht einmal Sie erleben. Dieser Mann ist übrigens etwa in Ihrem Alter. Blond und blauäugig, wie die eigentlichen Rumänen, die von Rom gekommen sind, bevor sich die Mongolen mit ihrer Rasse vermischten.« »Was gefiel Ihnen so gut an ihm?« »Ich will es Ihnen sagen«, hatte Rosenzweig geantwortet. »Er beherrschte meine Sprache so gut wie seine eigene. Und er spricht fließend Englisch. Auch noch mehrere andere Sprachen, wie man mir sagte. Sehr gebildet, wobei er sein Wissen größtenteils autodidaktisch erworben hat. Und ich mochte ihn einfach als Mensch. Sehr klug, sehr ehrlich, sehr offen.« »Was wollte er von Ihnen?« »Das gefiel mir am besten. Weil ich fand, dass er so offen und ehrlich war, stellte ich ihm diese Frage. Er bestand darauf, 66
dass ich ihn Nicolai nannte, und darum sagte ich (nachdem wir etwa eine Stunde lang Höflichkeiten ausgetauscht hatten): ›Nicolai, was wollen Sie von mir?‹ Wissen Sie, was er darauf antwortete, junger Mann? Er sagte: ›Dr. Rosenzweig, ich suche Ihr Wohlwollen.‹« »Und was haben Sie darauf geantwortet?« »Was sollte ich darauf sagen? Ich sagte: ›Nicolai, das haben Sie.‹ Ich bin selbst Pazifist, müssen Sie wissen. Das habe ich ihm nicht gesagt. Ich versicherte ihm nur, dass er mein Wohlwollen besitzt. Was Sie übrigens auch haben.« »Ich vermute, dass Sie Ihr Wohlwollen nicht großzügig verteilen.« »Da haben Sie Recht. Eines Tages müssen Sie Carpathia kennen lernen. Sie werden sich mögen. Seine Ziele und Träume werden vielleicht nicht einmal in seinem eigenen Land jemals realisiert werden, doch er ist ein Mann mit hohen Idealen. Wenn er aufsteigt, werden Sie von ihm hören. Und wenn Sie in Ihrem Bereich aufsteigen, wird auch er bestimmt von Ihnen hören, habe ich Recht?« »Ich hoffe es.« Auf einmal war Buck an der Reihe. Er hob sein Verlängerungskabel auf und dankte der jungen Frau, dass sie ihn ertragen hatte. »Es tut mir Leid«, sagte er und wartete darauf, dass sie seine Entschuldigung annahm, was sie nicht tat. »Es ist nur, das ist ein total verrückter Tag, Sie verstehen.« Offensichtlich verstand sie nicht. Auch sie hatte einen harten Tag hinter sich. Sie blickte ihn tolerant an und sagte: »Was kann ich nicht für Sie tun?« »Oh, Sie meinen, weil ich nicht getan habe, um was Sie mich gebeten haben?« »Nein«, erwiderte sie. »Das sage ich zu allen. Es ist ein kleiner Witz, weil ich nämlich wirklich für niemanden etwas tun kann. Heute gehen keine Flüge mehr raus. Der Flughafen kann jede Minute geschlossen werden. Wer weiß, wie lange es 67
dauern wird, alle Wracks fortzuräumen und den Verkehr wieder in Gang zu bringen? Ich meine, ich nehme Ihre Anfrage entgegen und was Sie sonst noch wollen, aber ich kann Ihnen nicht Ihr Gepäck besorgen, Ihnen keinen Flug buchen, Ihnen kein Telefon besorgen, kein Hotelzimmer buchen, nichts, was wir so gern für unsere Mitglieder tun. Sie sind doch ein Mitglied, nicht?« »Und ob ich Mitglied bin!« »Gold oder Platin?« »Meine Dame, ich bin Ehrenmitglied.« Er zog seine Karte heraus und zeigte damit, dass er zu den drei Prozent Luftreisenden in der Welt gehörte, die unter allen Umständen Anspruch auf einen Flug erster Klasse hatten, auch wenn nur noch ein Platz der billigsten Preisklasse frei war. »Ach du meine Güte«, sagte sie, »jetzt sagen Sie nur, Sie sind der Cameron Williams von dieser Zeitschrift.« »Das bin ich.« »Von der ›Time‹? Ehrlich?« »Lästern Sie nicht. Ich bin von der Konkurrenz.« »Oh, das wusste ich. Ich weiß es, weil ich auch Journalistin werden wollte. Ich habe Journalistik auf dem College studiert. Ich habe von Ihnen gelesen. ›Jüngster Preisträger‹ oder ›die meisten Leitartikel von einem unter zwölf‹?« »Sehr lustig.« »Oder so etwas.« »Irgendwie versteh’ ich nicht, dass wir an einem Tag wie diesem Witze reißen«, meinte er. Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Ich möchte einfach nicht darüber nachdenken. Also, was könnte ich für Sie tun, wenn ich etwas tun könnte?« »Ich muss nach New York«, sagte Buck. »Sehen Sie mich nicht so an. Ich weiß, dass es nicht besonders klug ist, gerade jetzt dorthin zu wollen. Aber Sie kennen die Leute. Sie kennen Piloten, die Charterflüge machen und so etwas. Sie wissen, von 68
welchen Flughäfen sie starten können. Sagen wir, meine Mittel sind unbegrenzt, und ich könnte jeden Preis bezahlen. Zu wem würden Sie mich schicken?« Sie starrte ihn an. »Ist ja verrückt, dass Sie ausgerechnet mir eine solche Frage stellen.« »Warum?« »Weil ich tatsächlich jemanden kenne. Er fliegt diese kleinen Jets und startet von so Miniatur-Flugplätzen wie Waukegan und Palwaukee. Er ist teuer, und er ist ein Typ, der in einer Krise doppelt so viel verlangt wie sonst, vor allem, wenn er weiß, wer Sie sind und wie dringend Sie seine Dienste benötigen.« »Das werde ich wohl kaum verbergen können. Geben Sie mir die Information.« Etwas im Radio zu hören oder im Fernsehen zu sehen war eine Sache. Etwas persönlich zu erleben eine ganz andere. Rayford Steele hatte keine Ahnung, wie es sein würde, Hinweise darauf zu finden, dass seine eigene Frau und sein Sohn von der Erde verschwunden waren. Oben auf der letzten Treppenstufe blieb er neben den Familienfotos stehen. Irene, die immer sehr auf Ordnung bedacht war, hatte sie chronologisch aufgehängt und mit ihren und seinen Großeltern begonnen. Alte Schwarzweißfotos ernster, grobknochiger Männer und Frauen des Mittelwestens. Danach die verblichenen Farbfotos ihrer Großeltern an ihrem fünfzigsten Hochzeitstag. Schließlich ihre Eltern, ihre Geschwister und sie selbst. Wie lange war es her, seit er sich ihr Hochzeitsfoto zum letzten Mal angesehen hatte? Sie mit ihrer flippigen Frisur und er mit seinen langen Haaren und den breiten Koteletten. Und die Familienfotos, auf denen Chloe acht Jahre alt war und das Baby im Arm hielt! Wie dankbar war er, dass Chloe noch da war und er irgendwie Verbindung zu ihr aufnehmen konnte! Aber was sagte das alles über sie beide aus? Sie waren 69
verloren. Er wusste nicht, worauf er hoffen und wofür er beten sollte. Dass Irene und Raymie noch hier waren und das Ganze nicht das war, wonach es aussah? Er konnte nicht mehr länger warten. Raymies Tür stand einen Spalt offen. Sein Wecker piepte. Rayford stellte ihn ab. Auf dem Bett lag ein Buch, das Raymie gelesen hatte. Rayford zog langsam die Decke zurück und entdeckte Raymies Pyjamaoberteil, seine Hose und seine Socken. Er setzte sich auf das Bett und weinte. Irene hatte immer darüber geschimpft, dass Raymie im Bett Socken trug. Er faltete die Kleidungsstücke ordentlich zusammen. Sein Blick fiel auf ein Bild von sich auf Raymies Nachttisch. Er stand lächelnd im Terminal, seine Kapitänsmütze unter den Arm geklemmt, vor dem Fenster im Hintergrund eine 747. Das Foto war signiert: »Für Raymie, in Liebe, Dad.« Darunter hatte er geschrieben: »Rayford Steele, Flugkapitän der PanContinental Airlines, O’Hare.« Er schüttelte den Kopf. Welcher Vater gab seinem Sohn ein Autogramm von sich? Rayford sackte in sich zusammen. Es kostete ihn unglaubliche Mühe, aufzustehen. Ihm wurde schwindelig. Auf einmal fiel ihm ein, dass er seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. Langsam und ohne zurückzusehen verließ er Raymies Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Am Ende des Ganges blieb er vor den französischen Türen stehen, die zu ihrem Schlafzimmer führten. Wie wunderschön hatte Irene diesen Raum ausgestattet! Hatte er ihr je gesagt, dass es ihm gefiel? Hatte es ihm überhaupt gefallen? Hier gab es keinen Wecker abzustellen. Irene war immer von dem Kaffeeduft wach geworden. Da stand ein weiteres Bild von ihnen beiden. Er blickte selbstsicher in die Kamera, sie zu ihm auf. Er hatte sie nicht verdient. Dass er von seiner eigenen Selbstsüchtigkeit nun verspottet wurde und ihm der wichtigste Mensch in seinem Leben genommen wurde, das hatte er verdient. 70
Er ging zum Bett und wusste eigentlich schon, was er vorfinden wurde. Das eingedrückte Kissen, die zerknautschte Decke. Er konnte sie riechen, obwohl er wusste, dass das Bett kalt sein wurde. Vorsichtig zog er die Decke zurück und entdeckte ihr Medaillon, in dem sich ein Bild von ihm befand. Ihr Flanellnachthemd, über das er sich immer lustig gemacht hatte und das sie nur trug, wenn er nicht zu Hause war, lag noch da, wo sie gelegen hatte. Mit zugeschnürter Kehle und tränennassen Augen bemerkte er ihren Ehering auf dem Kissen, wo ihre Hand immer unter ihrer Wange gelegen hatte. Das war zu viel für ihn, und er sank auf ihrem Bett zusammen. Er nahm den Ring in die Hand und steckte ihn in seine Jackentasche. Dabei bemerkte er das Päckchen, das sie ihm geschickt hatte. Er riss es auf und fand zwei seiner Lieblingskekse mit zwei in Schokolade aufgemalten Herzen. Was für eine liebe, süße Frau!, dachte er. Ich hatte sie nicht verdient, habe sie nicht genug geliebt! Er legte die Kekse auf den Nachttisch. Ihr Duft erfüllte das Zimmer. Mit steifen Fingern zog er sich aus. Seine Kleider ließ er einfach auf den Boden fallen. Erschöpft ließ er sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett sinken. Er nahm Irenes Nachthemd in die Arme, damit er sie riechen und sich vorstellen konnte, sie läge neben ihm. Rayford weinte sich in den Schlaf.
5 Buck Williams verschwand in der Herrentoilette, um seine Finanzen zu überprüfen. In einer besonderen Tasche in seinen Jeans hatte er Travellerschecks im Wert von mehreren tausend Dollar verstaut, die in Dollar, Mark oder Yen umgetauscht werden konnten. In seiner Ledertasche befanden sich seine 71
Kleider, sein Laptop, sein Handy, der Kassettenrekorder, Toilettensachen und besonders warme Wintersachen. Er hatte für eine zehntägige Reise nach Großbritannien gepackt, als er drei Tage vor dem apokalyptischen Verschwinden so vieler Menschen New York verlassen hatte. Wenn er sich im Ausland aufhielt, wusch er seine Wäsche immer im Waschbekken und ließ sie einen ganzen Tag lang trocknen. Auf diese Weise hatte er immer eine Kluft zum Wechseln in Reserve und brauchte sich nicht mit großem Gepäck abzuquälen. Buck hatte in Chicago Zwischenstation gemacht, um sich mit der Redakteurin der dortigen Zweigstelle des Global Weekly auszusöhnen. Sie war eine Schwarze in den Fünfzigern, Lucinda Washington. Er hatte Differenzen mit ihr gehabt – war das etwas Neues? –, als er ihren Leuten eine Sportstory vor der Nase weggeschnappt hatte. Ein älterer Spieler der Bears, der zu seiner Zeit sehr bekannt gewesen war, hatte endlich genügend Partner gefunden, um sich ein eigenes Football-Team zu kaufen. Buck hatte dies herausgefunden, recherchiert, die Story bekommen und auch gebracht. »Ich bewundere Sie, Cameron«, hatte Lucinda Washington gesagt. Sie weigerte sich immer, ihn bei seinem Spitznamen zu nennen. »Das war schon immer so, obwohl Sie einen manchmal ganz schön wütend machen können. Aber Sie hätten mich wenigstens informieren können.« »Und Sie hätten dann jemanden darauf angesetzt, nicht?« »Sport ist doch gar nicht Ihr Ding, Cameron. Nachdem Sie den Mann des Jahres vorgeschlagen und über die Niederlage Russlands durch Israel, oder sollte ich sagen, durch Gott selbst, berichtet haben, wie können Sie sich da für solchen Kleinkram interessieren? Ihr von der ›Ivy League‹ mögt doch gar nichts anderes außer Lacrosse und Rugby, oder?« »Das war mehr als nur eine Sportstory, Lucy, und –« »Hey!« »Sorry, Lucinda. Und stecken Sie uns da nicht zu sehr in eine 72
Schablone? Lacrosse und Rugby.« Sie hätten gemeinsam gelacht. »Ich sage ja gar nicht, dass Sie mich darüber informieren sollen, wenn Sie in der Stadt sind«, hatte sie gemeint. »Ich meine ja nur, Sie hätten mir wenigstens mitteilen können, dass die Story überhaupt in der Global Weekly erscheint. Für meine Leute und mich war es schon schlimm genug, dass Sie, der legendäre Cameron Williams, uns das vor der Nase weggeschnappt haben, aber dass –« »Und darum haben Sie sich über mich beschwert?« Lucinda hatte wieder gelacht. »Darum habe ich Plank gesagt, dass eine persönliche Aussprache angebracht sei, damit Sie wieder in meinem Ansehen steigen.« »Und wieso glauben Sie, mich würde interessieren, was Sie von mir halten?« »Weil Sie mich mögen«, hatte sie geantwortet. »Sie können selbst nichts dafür.« Buck hatte gelächelt. »Also, Cameron, falls ich Sie noch einmal ohne mein Wissen in meiner Stadt erwische, werde ich Sie mit der Peitsche vertreiben.« »Ich sage Ihnen etwas, Lucinda. Ich werde Ihnen einen Tipp geben, den ich selbst nicht weiterverfolgen kann, weil ich keine Zeit habe. Zufällig weiß ich, dass der NFL-Deal nicht zu Stande kommen wird. Die Finanzierung ist nicht gesichert, und die Mannschaft wird das Angebot zurückweisen. Ihre Lokallegende wird eine Schlappe einstecken müssen.« Lucinda hatte wild zu schreiben begonnen. »Das meinen Sie doch nicht im Ernst«, hatte sie gesagt und nach ihrem Telefon gegriffen. »Nein, da haben Sie Recht, doch es war lustig zu sehen, wie Sie gleich in Aktion getreten sind.« »Sie Schlange!«, hatte sie gesagt. »Jeden anderen würde ich hier rausschmeißen.« »Aber Sie mögen mich auch. Sie können selbst nichts dafür.« »Das war nicht einmal christlich«, hatte sie gesagt. 73
»Fangen Sie nicht wieder damit an.« »Kommen Sie schon, Cameron. Sie waren bei klarem Verstand, als Sie gesehen haben, was Gott für Israel getan hat.« »Das stimmt, aber nennen Sie mich nicht einen Christen. Ein Deist zu sein kann ich akzeptieren.« »Bleiben Sie eine Weile in der Stadt, und kommen Sie in meine Gemeinde, dann wird Gott Sie schon kriegen.« »Er hat mich bereits, Lucinda. Aber Jesus ist etwas anderes. Die Israelis hassen Jesus, aber sehen Sie nur, was Gott für sie getan hat.« »Gott wirkt auf …« »… geheimnisvolle Weise, ja, ich weiß. Im Übrigen reise ich am Montag nach London. Habe einen heißen Tipp von einem Freund dort bekommen.« »Ja? Worum geht es denn?« »Nichts für Sie. So gut kennen wir uns dann doch noch nicht.« Sie hatte gelacht, und sie waren mit einer freundschaftlichen Umarmung auseinander gegangen. Das war vor drei Tagen gewesen. Buck war auf alles vorbereitet gewesen, als er jenen Unglücksflug nach London angetreten hatte. Er hatte einen Tipp von einem ehemaligen Klassenkameraden aus Princeton bekommen, einem Waliser, der seit seinem Examen in der Londoner Finanzwelt tätig war. Dirk Burton war in der Vergangenheit immer eine verlässliche Quelle gewesen. Er hatte Buck häufiger Tipps von geheimen Gipfeltreffen wichtiger Persönlichkeiten der internationalen Finanzdiplomatie gegeben. Seit Jahren schon amüsierte sich Buck über Dirks Neigung, Verschwörungstheorien aufzustellen. »Lass mich das einmal klarstellen«, hatte Buck ihn einmal gefragt, »du meinst also, diese Burschen seien die eigentlichen Weltführer, richtig?« 74
»So weit würde ich nicht gehen, Cam«, hatte Dirk geantwortet. »Ich weiß nur, dass sie ganz oben stehen, dass sie sich privat treffen, und dass nach ihren Treffen entscheidende Dinge passieren.« »Du bist also der Meinung, dass sie bestimmen, welche politischen Führer gewählt werden, dass sie Diktatoren einsetzen, so etwas?« »Ich gehöre nicht zum Verschwörungs-Buchclub, falls du das meinst.« »Wo hast du dieses Zeug denn her, Dirk? Komm schon, du bist doch ein relativ gebildeter Mensch. Einflussreiche Broker hinter den Kulissen? Treibende Kräfte, die das Geld kontrollieren?« »Ich weiß nur, dass die Londoner, die Tokioter und die New Yorker Finanzwelt genauso im Ungewissen schweben wie wir alle, bis sich diese Burschen treffen. Und dann passiert etwas.« »Du meinst, wenn die Kurse an der New Yorker Börse wegen irgendeiner Präsidentschaftsentscheidung oder einer Abstimmung im Kongress fallen, dann würde in Wirklichkeit deine geheime Gruppe dahinter stecken?« »Nein, aber es ist das richtige Beispiel. Wenn die Aktien allein schon deswegen fallen, weil die Gesundheit eures Präsidenten ein wenig angeschlagen ist, dann überleg doch mal, was mit dem Weltfinanzmarkt passiert, wenn die wirklichen Akteure dieses Marktes zusammenkommen.« »Aber woher weiß der Markt denn, dass sie sich treffen? Ich dachte, du seist der Einzige, der darüber Bescheid weiß.« »Cam, sei doch mal ernst. Ich weiß, nur wenige stimmen mit mir überein, doch ich erzähle das ja auch nicht jedem. Einer unserer Leute gehört zu dieser Gruppe. Wenn ein Treffen stattfindet, nein, dann passiert nicht sofort etwas. Aber kurze Zeit später gibt es Veränderungen.« »Zum Beispiel?« »Du wirst mich vielleicht für verrückt halten, aber eine 75
Freundin von mir kennt ein Mädchen sehr gut, das für die Sekretärin unseres Mannes in der Gruppe arbeitet, und –« »Hey, Moment mal! Ist das vielleicht deine Informationsquelle?« »Okay, die Verbindung ist zugegebenermaßen nicht die direkteste, aber du weißt, dass aus der Sekretärin des Mannes selbst nichts herauszubekommen ist. Wie auch immer, man munkelt, dass dieser Bursche ganz versessen darauf ist, eine einheitliche Weltwährung einzuführen. Die Hälfte der Zeit benötigt der Markt doch heute dafür, die Kurse der einzelnen Währungen zueinander ins Gleichgewicht zu bringen. Endlose Rechnerkapazitäten werden vergeudet, die Launen des Marktes jeden Tag neu in die Kursparitäten umzusetzen.« Buck war nicht überzeugt. »Eine einzige Weltwährung? Das wird nie passieren«, hatte er erwidert. »Wie kannst du das so einfach sagen?« »Zu weit hergeholt. Nicht praktikabel. Sieh nur, was in den Staaten passiert ist, als man versuchte, das metrische System einzuführen.« »Das wäre nicht schlecht gewesen. Ihr Yankees seid solche Hinterwäldler.« »Das metrische System war nur für den internationalen Handel nötig. Nicht für die Berechnung der Entfernung vom Spielfeld bis zur hintersten Wand im Yankee Stadium oder wie weit es von Indianapolis bis nach Atlanta ist.« »Ich weiß, Cam. Eure Leute dachten, ihr würdet den Kommunisten den Weg zur Übernahme ebnen, wenn ihr eure Karten und Entfernungsangaben für sie leichter verständlich macht. Und wo sind eure Kommies geblieben?« Buck hatte Dirk Burtons Spekulationen verworfen, bis Dirk ihn einige Jahre später mitten in der Nacht angerufen hatte. »Cameron«, hatte er gesagt, da er von dem Spitznamen, den sein Freund von seinen Kollegen bekommen hatte, nichts wusste, »ich kann nicht lange sprechen. Du kannst dem nach76
gehen oder einfach nur zusehen, wie es passiert und wünschen, du hättest diese Story gebracht. Erinnerst du dich noch an das, was ich dir über die Einführung einer einheitlichen Weltwährung erzählt habe?« »Ja. Ich bezweifle das noch immer.« »Prima, doch ich sage dir, dass hier das Gerücht umgeht, unser Freund hatte diesen Vorschlag bei dem letzten Geheimtreffen der Finanzdiplomaten vorgebracht. Man munkelt, dass sich da etwas zusammenbraut.« »Was braut sich zusammen?« »Nun, es wird eine große Finanzkonferenz der Vereinten Nationen geben, und das Thema wird sein, die Währungen aneinander anzupassen.« »Große Sache.« »Das ist eine große Sache, Cameron. Unser Mann ist abgeschossen worden. Er wollte natürlich das Pfund Sterling als Weltwährung.« »Welch eine Überraschung, dass das nie passieren wird. Seht euch doch nur eure Wirtschaft an.« »Aber hör zu, die große Sache ist, dass sie sich auf drei Währungen für die ganze Welt geeinigt haben in der Hoffnung, innerhalb eines Jahrzehnts eine einheitliche Weltwährung einführen zu können.« »Ausgeschlossen. Das wird nicht passieren.« »Cameron, falls meine Informationen korrekt sind, ist das alles bereits beschlossene Sache. Die UNO-Konferenz ist nur Tarnung.« »Und die Entscheidung wurde von deinen geheimnisvollen Drahtziehern bereits getroffen?« »Das stimmt.« »Ich weiß nicht, Dirk. Du bist ein guter Kumpel, aber ich glaube, du wärst in meiner Branche besser aufgehoben.« »Glaub mir, es stimmt, Cameron. Überprüfe meine Informationen.« 77
»Wie?« »Ich sage dir, was bei der UNO-Konferenz herauskommen wird, und wenn ich Recht habe, wirst du vielleicht anfangen, mich mit einem bisschen mehr Respekt zu behandeln.« Dirk und er hatten ihre kleinen Auseinandersetzungen gehabt wie alle Studenten in Princeton während ihrer WochenendPizza-und-Bierschlachten in den Schlafräumen. »Dirk, hör zu. Das klingt interessant, und du hast auch meine volle Aufmerksamkeit, aber Spaß beiseite, du weißt doch, dass ich nicht weniger von dir halten würde, wenn du hier grundverkehrt liegen würdest, oder?« »Danke, Cam. Ja, das weiß ich, und es bedeutet mir auch viel. Und dafür gebe ich dir auch noch einen Bonus. Ich sage dir nicht nur, dass sich die UNO-Resolution für die Einführung von Dollar, Mark und Yen innerhalb von fünf Jahren aussprechen wird, ich sage dir auch, dass die wirkliche Macht hinter der Macht ein Amerikaner ist.« »Was meinst du mit der Macht hinter der Macht?« »Der mächtigste Mann der geheimen Gruppe von Finanzgrößen.« »Mit anderen Worten, dieser Bursche führt die Gruppe an?« »Er ist derjenige, der Sterling als eine der Währungen ins Aus bugsierte und Dollar als Weltwährung im Sinn hat.« »Ich höre.« »Jonathan Stonagal.« Buck hatte gehofft, Dirk würde einen abwegigen Namen nennen, damit er in Gelächter hätte ausbrechen können. Doch er musste zugeben, wenn auch nicht Dirk gegenüber, dass man es bei Stonagal – falls überhaupt etwas an der Sache dran war –, tatsächlich mit einer unbestreitbar mächtigen Person zu tun hatte. Er gehörte zu den reichsten Männern der Welt und war als amerikanischer Broker mit hohem internationalem Ansehen bekannt. Stonagal würde seine Hand im Spiel haben, wenn es um wichtige Weltfinanzthemen ging. Obwohl er bereits über 78
achtzig war und auf den Pressefotos kränklich wirkte, gehörten ihm nicht nur die größten Banken und Finanzinstitute in den Vereinigten Staaten, er nannte auch Anteile an anderen Unternehmen in der ganzen Welt sein Eigen. Obwohl Dirk sein Freund war, hatte Buck die Notwendigkeit gespürt, ihn ein wenig hinzuhalten, dabei aber das Interesse bei ihm wach zu halten, ihm weitere Informationen zu liefern. »Dirk, ich gehe jetzt wieder ins Bett. Ich bin dir dankbar für deine Informationen und ich finde das alles auch sehr interessant. Ich werde abwarten, was aus dieser UNO-Konferenz wird, und ich werde auch sehen, ob ich die Aktivitäten von Jonathan Stonagal ein wenig zurückverfolgen kann. Wenn es wirklich so ist, wie du denkst, bist du mein bester Informant. In der Zwischenzeit versuche einmal herauszufinden, wie viele dieser geheimen Gruppe angehören und wo sie sich treffen.« »Das ist leicht«, hatte Dirk geantwortet. »Es sind mindestens zehn, obwohl bei den Konferenzen manchmal auch mehr anwesend sind, auch Staatschefs.« »Auch der US-Präsident?« »Gelegentlich schon, ob du es glaubst oder nicht.« »Das ist eine der hier gängigen Verschwörungstheorien, Dirk.« »Das heißt doch nicht, dass es nicht stimmt. Und gewöhnlich treffen sie sich in Frankreich. Ich weiß nicht, warum. Ein Privatchalet oder so etwas gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit.« »Und aus deiner Freundin einer Freundin einer Verwandten einer Untergeordneten einer Sekretärin ist nichts herauszubekommen?« »Mach dich lustig, so viel du willst, Cam. Unser Bursche in der Gruppe, Joshua Todd-Cothran, ist vielleicht nicht ganz so zugeknöpft wie die anderen.« »Todd-Cothran? Ist er nicht der Leiter der Londoner Börse?« »Genau.« 79
»Nicht zugeknöpft? Wie kann er eine solche Position haben und das nicht sein? Außerdem, wer hat schon jemals von einem Briten gehört, der nicht zugeknöpft gewesen wäre?« »Das kommt schon mal vor.« »Gute Nacht, Dirk.« Natürlich war alles genau so eingetreten, wie Dirk gesagt hatte. Die UNO-Resolution war verabschiedet worden. Buck stellte fest, dass Jonathan Stonagal während der zehn Tage der Konferenz im Plaza Hotel in New York gewohnt hatte. Mr ToddCothran aus London war einer der mitteilsamsten Redner, und er war beflissen, Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Über ihn war es sogar möglich, die Sache bis zum Premierminister zurückzuverfolgen, der bereit gewesen war, das Pfund durch die Mark abzulösen. Viele Länder der Dritten Welt wehrten sich gegen die Veränderungen, doch innerhalb weniger Jahre hatten die drei Währungen tatsächlich alle anderen vom Erdball vertrieben. Buck hatte nur Steve Plank von dem Tipp bezüglich der UNOKonferenz erzählt, doch weder er noch Plank hatten ihn eines spekulativen Artikels für wert erachtet. »Zu riskant«, war Steves Meinung gewesen. Bald wünschten sie, sie hätten sich darauf eingelassen. »Du wärst eine viel größere Legende geworden, Buck.« Dirk und Buck waren danach enge Freunde geworden, und häufig kam Buck auf einen kurzen Besuch in London vorbei. Wenn Dirk einen ernst zu nehmenden Hinweis hatte, packte Buck und flog nach England. Seine Reisen hatten ihn häufig in Länder mit extremen Klimaverhältnissen geführt, darum hatte er auch immer die Notfallausrüstung dabei. Doch nun war sie anscheinend überflüssig. Er saß nach dem ungewöhnlichsten Phänomen der Weltgeschichte in Chicago fest und versuchte, nach New York zu kommen. 80
Trotz der unglaublichen Fähigkeiten seines Laptop gab es immer noch keinen Ersatz für das Taschen-Notizbuch. Buck schrieb eine Liste von Dingen, die er tun musste, bevor er wieder aufbrechen konnte. Ken Ritz, Charterpilot, anrufen, Dad und Jeff anrufen, Hattie Durham anrufen und ihr von ihrer Familie erzählen, Lucinda anrufen und nach einem guten Hotel fragen, Dirk Burton anrufen. Das Telefon weckte Rayford Steele auf. Seit Stunden hatte er sich nicht gerührt. Es war früher Abend, und es dämmerte bereits. »Hallo«, sagte er, unfähig, seine Müdigkeit zu verbergen. »Captain Steele?« Es war die aufgeregte Stimme Hattie Durhams. »Ja, Hattie. Sind Sie in Ordnung?« »Ich versuche schon seit Stunden, Sie zu erreichen! Mein Telefon war eine Zeit lang tot, und dann kam ich nicht durch. Und als ich endlich eine Verbindung bekam, haben Sie sich nicht gemeldet. Ich habe noch nichts über meine Mutter und meine Schwestern erfahren. Wie steht es mit Ihnen?« Rayford setzte sich auf. Ihm war schwindelig, und er musste sich erst einmal zurechtfinden. »Ich habe eine Nachricht von Chloe erhalten«, sagte er. »Das wusste ich«, erwiderte sie. »Das haben Sie mir schon am Flughafen erzählt. Sind Ihre Frau und Ihr Sohn in Ordnung?« »Nein.« »Nein?« Rayford schwieg. Was gab es noch zu sagen? »Wissen Sie das ganz sicher?«, fragte Hattie. »Ich fürchte, ja«, sagte er. »Ihre Schlafanzüge sind da.« »Oh nein, Rayford! Es tut mir so Leid! Kann ich etwas für 81
Sie tun?« »Nein, danke.« »Möchten Sie Gesellschaft haben?« »Nein, danke.« »Ich habe Angst.« »Ich auch, Hattie.« »Was werden Sie jetzt tun?« »Ich werde weiterhin versuchen, Chloe zu erreichen. Ich hoffe, dass sie nach Hause kommen oder ich zu ihr fahren kann.« »Wo ist sie?« »In Stanford. Palo Alto.« »Meine Eltern wohnen auch in Kalifornien«, sagte Hattie. »Dort sieht es noch viel schlimmer aus als hier.« »Vermutlich wegen der Zeitverschiebung«, sagte Rayford. »Es waren bestimmt noch viel mehr Menschen auf den Straßen.« »Ich habe schreckliche Angst um meine Familie.« »Lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas herausfinden, Hattie, in Ordnung?« »Das werde ich.« »Ich wünschte, ich könnte von meinen Versuchen reden, Sie anzurufen, Hattie. Aber da war nichts. Es ist sehr schwer für mich.« »Lassen Sie mich wissen, wenn Sie mich brauchen, Rayford. Wenn Sie einfach mal reden oder nicht allein sein wollen.« »Das werde ich. Und Sie erzählen mir, was Sie über Ihre Familie herausgefunden haben.« Er wünschte fast, er hätte das nicht gesagt. Nachdem er seine Frau und sein Kind verloren hatte, erkannte er, was für eine oberflächliche Beziehung er zu dieser siebenundzwanzigjährigen Frau angestrebt hatte. Er kannte sie kaum, und ganz bestimmt interessierte ihn nicht besonders, was aus ihrer Familie geworden war. Es berührte ihn nicht mehr als die Tragödien, 82
über die in den Nachrichten berichtet wurde. Er wusste, dass Hattie nicht schlecht war. Sie war sogar sehr nett und freundlich. Doch das war nicht der Grund seines Interesses an ihr. Er hatte sich rein körperlich von ihr angezogen gefühlt, doch war er klug oder naiv genug, um nicht aktiv darauf zu reagieren. Er fühlte sich schuldig, dass er es überhaupt in Betracht gezogen hatte, und nun würde seine Trauer alle Gefühle außer denen der Höflichkeit einer Mitarbeiterin gegenüber auslöschen. »Ich bekomme einen Anruf«, sagte sie. »Bleiben Sie dran?« »Nein, nehmen Sie ihn nur entgegen. Ich werde später wieder anrufen.« »Ich rufe Sie zurück, Rayford.« »In Ordnung.« Buck Williams hatte sich wieder angestellt und schließlich Zugang zu einem Münzfernsprecher erhalten. Dieses Mal versuchte er nicht, seinen Computer anzuschließen. Er wollte einfach sehen, wie viele persönliche Anrufe er erledigen konnte. Als Erstes meldete sich Ken Ritz’ Anrufbeantworter. »Hier spricht der Ritz Charter Service. Hier mein Krisenangebot: Ich habe sowohl in Palwaukee als auch in Waukegan einen Learjet stehen, doch ich habe meinen zweiten Piloten verloren. Ich kann von beiden Flughäfen starten, doch auf keinem der großen Flughäfen landen. Milwaukee, O’Hare, Kennedy, Logan, National, Dulles, Dallas, Atlanta, alle sind geschlossen. Die einzige Möglichkeit ist, auf den kleineren, entlegeneren Flughäfen zu landen. Es tut mir Leid, dass ich so opportunistisch bin, doch ich fordere zwei Dollar pro Flugmeile, im Voraus bar auf die Hand. Wenn ich jemanden finde, der von Ihrem Zielort mit zurückfliegt, gebe ich Ihnen vielleicht einen kleinen Nachlass. Ich werde dieses Band heute Abend abhören und morgen früh starten. Zuschlag bekommt, wer die längste Strecke zu fliegen hat und mir 83
Barzahlung garantiert. Wenn Sie ein Ziel haben, das auf der Strecke liegt, versuche ich, Sie mitzunehmen. Hinterlassen Sie mir eine Nachricht, und ich werde mich wieder bei Ihnen melden.« Das war lächerlich. Wie sollte Ken Ritz Buck erreichen? Da sein Handy nicht verlässlich war, war die einzige Möglichkeit, dass er seine New Yorker Nummer angab. »Mr Ritz, mein Name ist Buck Williams, und ich muss so dicht an New York heran wie möglich. Ich bezahle den vollen Flugpreis in Travellerschecks, die Sie in die von Ihnen gewünschte Währung umtauschen können.« Manchmal war das für Privatleute sehr attraktiv, weil sie durch die Kursdifferenz noch einen Extraverdienst hatten. »Ich bin in O’Hare und werde versuchen, eine Übernachtungsmöglichkeit in den Vororten zu finden. Um Ihnen Zeit zu sparen, werde ich mir etwas zwischen hier und Waukegan suchen. Wenn ich in der Zwischenzeit eine Nummer bekomme, über die ich zu erreichen bin, werde ich sie Ihnen durchgeben. Ansonsten können Sie unter der folgenden New Yorker Nummer eine Nachricht für mich hinterlassen.« Buck konnte sein Büro immer noch nicht direkt erreichen, doch seinen Anrufbeantworter in New York konnte er abfragen. Er nahm die neuen Botschaften entgegen. Sie waren überwiegend von Mitarbeitern, die sich nach ihm erkundigten oder über den Verlust gemeinsamer Freunde lamentierten. Dann war da noch eine Nachricht von Marge Potter, die so findig gewesen war, sie ihm auf seinen Anrufbeantworter zu sprechen. »Buck, rufen Sie Ihren Vater in Tucson an. Er und Ihr Bruder sind zusammen, und ich spreche es nur sehr ungern auf Band, aber sie können Jeffs Frau und die Kinder nicht erreichen. Wenn Sie dort anrufen, haben sie aber bestimmt schon Nachricht von ihnen. Ihr Vater war sehr dankbar zu hören, dass es Ihnen gut geht.« Bucks Anrufbeantworter zeigte an, dass sich immer noch 84
eine gesicherte Nachricht darauf befand. Das war die von Dirk Burton, die ihn in erster Linie zu dieser Reise veranlasst hatte. Er würde sie sich noch einmal anhören müssen, wenn er Zeit hatte. Er hinterließ noch eine Nachricht für Marge, sie sollte, wenn sie Zeit hatte und eine freie Leitung bekäme, Dirk Burton anrufen, dass Bucks Flugzeug es nicht nach England geschafft hatte. Natürlich würde Dirk das mittlerweile erfahren haben, doch er sollte wissen, dass Buck nicht zu den Vermissten zählte und dass er rechtzeitig nach England kommen würde. Buck hängte ein und wählte die Nummer seines Vaters. Er kam nicht durch, doch am Besetztzeichen merkte er, dass nicht der Zusammenbruch des Systems der Grund dafür war. Er wusste, es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis er ihn erreichte. Jeff musste außer sich sein, dass er nicht wusste, was mit seiner Frau Sharon und den Kindern passiert war. Sie hatten ihre Differenzen gehabt und vor den Kindern sogar einmal eine Zeit lang getrennt gelebt, doch seit einigen Jahren waren sie sehr gut miteinander ausgekommen. Jeffs Frau hatte sich versöhnlich gezeigt. Jeff sagte selbst, es hatte ihn erstaunt, dass sie es noch einmal mit ihm versucht habe. »Du kannst sagen, ich habe es nicht verdient, doch ich bin dankbar dafür«, hatte er einmal zu Buck gesagt. Ihr Sohn und ihre Tochter, die beide wie Jeff aussahen, waren sehr lieb. Buck holte die Nummer der hübschen blonden Stewardess heraus und machte sich Vorwürfe, dass er nicht schon früher versucht hatte, sie zu erreichen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich meldete. »Hattie Durham, hier spricht Buck Williams.« »Wer?« »Cameron Williams vom Global …« »Oh ja! Haben Sie irgendetwas in Erfahrung bringen können?« »Ja, Ma’am, ich habe gute Nachrichten.« »Oh, Gott sei Dank! Schießen Sie los.« 85
»Jemand aus meinem Büro hat Ihre Mutter erreicht und erfahren, dass es ihr und Ihren Schwestern gut geht.« »Oh, vielen, vielen Dank! Ich frage mich, warum sie hier nicht angerufen haben. Vielleicht haben sie es versucht. Mein Telefon war eine Zeit lang außer Betrieb.« »Die in Kalifornien haben Probleme, Ma’am. Die Leitungen sind zusammengebrochen und so weiter. Es wird eine Weile dauern, bis Sie mit ihnen sprechen können.« »Ich weiß. Ich habe davon gehört. Auf jeden Fall bin ich dankbar für die Information. Was ist mit Ihnen? Haben Sie Ihre Familie erreichen können?« »Ich habe die Nachricht erhalten, dass es meinem Vater und meinem Bruder gut geht. Von meiner Schwägerin und den Kindern wissen wir immer noch nichts.« »Oh. Wie alt sind die Kinder?« »Weiß nicht genau. Beide unter zehn, aber genau kann ich es nicht sagen.« »Oh.« Hatties Stimme klang traurig, beherrscht. »Warum?«, fragte Buck. »Ach nichts. Es ist nur, dass –« »Was?« »Sie können sich nicht auf das verlassen, was ich sage.« »Sprechen Sie, Miss Durham.« »Nun, erinnern Sie sich, was ich Ihnen im Flugzeug erzählte. Und nach den Nachrichten zu urteilen, sieht es so aus, als seien alle Kinder fort, sogar die ungeborenen.« »Ja.« »Ich sage ja nicht, dass auch die Kinder Ihres Bruders –« »Ich weiß.« »Es tut mir Leid, dass ich das überhaupt gesagt habe.« »Nein, das ist schon in Ordnung. Es ist alles wirklich seltsam, nicht?« »Ja. Ich habe gerade mit dem Flugkapitän gesprochen, der die Maschine geflogen hat. Er hat seine Frau und seinen Sohn 86
verloren, doch seine Tochter ist in Ordnung. Sie ist auch in Kalifornien.« »Wie alt ist sie?« »Etwa zwanzig, schätze ich. Sie ist in Stanford.« »Oh.« »Mr Williams, wie haben Sie sich genannt?« »Buck. Das ist ein Spitzname.« »Nun, Buck, es tut mir Leid, was ich über Ihren Neffen und Ihre Nichte gesagt habe. Ich hoffe, dass es Ausnahmen gibt und es ihnen gut geht.« Sie begann zu weinen. »Miss Durham, machen Sie sich keine Gedanken. Sie müssen zugeben, dass im Augenblick niemand klar denken kann.« »Sie können mich Hattie nennen.« Unter den gegebenen Umständen war das wirklich lustig. Sie hatte sich für ihr Verhalten entschuldigt, doch sie wollte auch nicht zu formell sein. Wenn er Buck war, dann sollte er sie Hattie nennen. »Vermutlich sollte ich jetzt die Leitung freimachen«, sagte er. »Ich wollte Ihnen das nur mitteilen. Ich dachte, Sie wüssten vielleicht bereits Bescheid.« »Nein, und noch mal vielen Dank. Hätten Sie etwas dagegen, mich irgendwann noch einmal anzurufen, wenn Sie daran denken? Sie scheinen ein netter Mensch zu sein, und ich bin froh über das, was Sie für mich getan haben. Es wäre nett, noch einmal von Ihnen zu hören. Wir leben in einer schrecklichen, einsamen Zeit.« Das war eine Untertreibung, und er konnte ihr nicht widersprechen. Seltsam, ihre Bitte hatte überhaupt nicht wie eine Aufforderung geklungen. Sie schien es vollkommen ernst zu meinen, und er war sicher, dass es auch so war. Eine nette, verängstigte, einsame Frau, deren Welt erschüttert worden war, genau wie die von allen, die er kannte. Als Buck aus der Telefonzelle kam, sah er, dass die junge Frau am Schalter ihm winkte. »Hören Sie«, flüsterte sie, »man 87
will nicht, dass ich das über Lautsprecher sage, weil dadurch eine Stampede ausgelöst werden könnte, aber wir haben gerade etwas Interessantes erfahren. Die Transportunternehmen haben sich zusammengetan und ihre Kommunikationszentrale auf den Mittelstreifen der Mannheim Road verlegt.« »Wo ist das?« »Direkt vor dem Flughafen. Zu den Terminals kommt sowieso kein Verkehr mehr durch. Alles vollkommen dicht. Aber wenn Sie dorthin laufen können, finden Sie vielleicht diese Burschen mit den Walkie-Talkies, die versuchen, die Wagen von dort aus zu dirigieren.« »Ich kann mir die Preise vorstellen …« »Nein, das können Sie vermutlich nicht …« »Ich darf gar nicht an die Wartezeiten denken.« »Das ist wahrscheinlich so, wie wenn Sie in Orlando auf ein Taxi warten«, sagte sie. Buck hatte das noch nie durchgemacht, doch er könnte sich auch das vorstellen. Und sie hatte Recht. Nachdem er inmitten einer großen Menschenmenge zur Mannheim Road gepilgert war, stellte er fest, dass diejenigen, die die Fahrten verteilten, von einer aufgeregten Menge umlagert waren. Gelegentliche Ankündigungen fesselten die Aufmerksamkeit aller. »Wir machen jeden Wagen voll. Einhundert Dollar pro Kopf zu jedem Vorort. Es wird nur Bargeld genommen. Chicago wird nicht angefahren.« »Keine Kreditkarten?«, fragte jemand. »Ich sage es noch einmal«, wiederholte der Verteiler. »Nur Bargeld. Wenn Sie wissen, dass Sie Bargeld oder ein Scheckbuch zu Hause haben, können Sie mit dem Fahrer aushandeln, ob er sich darauf einlässt.« Er rief nun auf, welche Gesellschaft in welche Richtung fuhr. Die Passagiere rannten zu den entsprechenden Wagen. Buck reichte dem Verteiler für die nördlichen Vororte einen Travellerscheck über einhundert Dollar. Eineinhalb Stunden 88
später setzte er sich zu mehreren anderen in einen Wagen. Nachdem er wieder einmal vergeblich versucht hatte, mit seinem Handy zu telefonieren, bot er dem Fahrer fünfzig Dollar, um seines benutzen zu können. »Ich kann für nichts garantieren«, sagte der Fahrer. »Manchmal komme ich durch, manchmal nicht.« Buck rief das Telefonverzeichnis seines Laptops auf und suchte die Privatnummer von Lucinda Washington heraus. Er wählte. Ein Junge im Teenageralter meldete sich: »Washington.« »Cameron Williams vom Global Weekly. Ich möchte gern Lucinda Washington sprechen.« »Meine Mutter ist nicht da«, sagte der junge Mann. »Ist sie immer noch im Büro? Ich möchte wissen, wo ich in der Nähe von Waukegan gut übernachten kann.« »Sie ist nirgendwo«, erklärte der Junge. »Ich bin der Einzige, der übrig geblieben ist. Mama, Daddy, alle sind fort. Verschwunden.« »Bist du sicher?« »Ihre Kleider sind noch hier, genau da, wo sie gesessen haben. Die Kontaktlinsen meines Vaters liegen auf seinem Bademantel.« »Oh Mann, das tut mir Leid, Sohn!« »Das ist schon in Ordnung. Ich weiß ja, wo sie sind, und ich kann nicht einmal sagen, dass ich überrascht wäre.« »Du weißt, wo sie sind?« »Wenn Sie meine Mutter kennen, dann wissen Sie auch, wo sie ist. Sie ist im Himmel.« »Ja, gut, äh, bist du in Ordnung? Ist jemand da, der nach dir sieht?« »Mein Onkel ist da. Und ein Mann aus unserer Gemeinde. Vermutlich die Einzigen, die noch übrig geblieben sind.« »Und du bist in Ordnung?« »Ja.« 89
Cameron klappte das Telefon zusammen und reichte es dem Fahrer. »Können Sie mir sagen, wo ich in der Nähe von Waukegan übernachten kann?« »Die großen Hotels sind vermutlich überfüllt, doch es gibt eine Reihe von kleineren auf der Washington Road, wo Sie vielleicht noch unterkommen können. Dann sind Sie ganz in der Nähe des Flughafens. Sie wären dann der Letzte, den ich rauslasse.« »In Ordnung. Gibt es in diesen Absteigen Telefon?« »Wahrscheinlich eher Telefon und Fernsehen als fließendes Wasser.«
6 Es war lange her, seit Rayford Steele sich zum letzten Mal betrunken hatte. Irene hatte sich nie viel aus Alkohol gemacht, und in den vergangenen Jahren war sie zur Abstinenzlerin geworden. Sie hatte darauf bestanden, dass er alle harten Sachen versteckte, wenn er sie schon im Haus haben musste. Raymie sollte nicht sehen, dass sein Vater immer noch trank. »Das ist doch unehrlich«, hatte Rayford widersprochen. »Das ist nur vernünftig«, erwiderte sie. »Er weiß nicht alles, und er braucht auch nicht alles zu wissen.« »Wie bringst du das in Einklang mit deiner Forderung, dass wir vollkommen wahrhaftig sein sollen?« »Die ganze Wahrheit zu sagen bedeutet nicht immer, dass man alles sagt, was man weiß. Du sagst deiner Crew, dass du zur Toilette gehst, aber du beschreibst doch auch nicht genau, was du dort tust, oder?« »Irene!« »Ich sage doch nur, dass du deinem Sohn nicht zu zeigen brauchst, dass du hochprozentigen Alkohol trinkst.« Es war ihm schwer gefallen, ihre Argumentation zu widerle90
gen, und darum hatte er seinen Bourbon verschlossen gehalten. Wenn es jemals einen Augenblick gegeben hatte, wo er einen harten Drink gebraucht hatte, dann jetzt. Er griff hinter die leere Keksdose in dem Schrank über der Spüle und holte eine halb volle Whiskyflasche hervor. Er verspürte den Drang, sich die Flasche an den Mund zu setzen, da er wusste, dass niemand, der ihm wichtig war, es sehen würde. Doch nicht einmal in einem solchen Augenblick vergaß er seine Manieren. Aus der Flasche zu trinken war einfach nicht sein Stil. Rayford goss sich etwas in ein Glas ein und trank es in einem Zug aus. Das Zeug brannte ihm in der Kehle und den ganzen Weg hinunter zu seinem Magen. Er schüttelte sich und stöhnte. Was bin ich doch für ein Idiot!, dachte er. Und das auf leeren Magen. Er war schon leicht benommen, als er die Flasche zurückstellte, es sich dann aber doch anders überlegte. Er warf sie in den Mülleimer unter der Spüle. Wäre das nicht ein nettes Andenken an Irene, wenn er seinen gelegentlichen Drink aufgab? Raymie würde nichts mehr davon haben, doch allein machte ihm das Trinken sowieso keinen Spaß. Wäre es möglich gewesen, dass er ein Trunkenbold geworden wäre? Wer steht nicht in dieser Gefahr?, fragte er sich. Wie auch immer, er war nicht bereit, wegen dem, was passiert war, seinen gesunden Menschenverstand aufzugeben. Rayford hatte tief, aber nicht lange genug geschlafen. Es war einiges zu erledigen. Zuerst einmal musste er versuchen, Chloe zu erreichen. Dann musste er herausfinden, was Pan-Con in der kommenden Woche von ihm erwartete. Normalerweise hatte er nach einem überlangen Flug und einer Notlandung Anrecht auf einige freie Tage. Doch im Augenblick war gar nichts mehr normal. Wie viele Piloten hatten sie wohl verloren? Wann würden die Landebahnen geräumt sein? Wann konnte wohl der Flugverkehr wieder aufgenommen werden? Bei den Fluggesellschaften 91
drehte sich alles ums Geld. Nur in der Luft konnten die Maschinen Profit erwirtschaften. Er würde sich fügen und seine Arbeit tun müssen. Aber wie sollte er mit seinem Schmerz, seiner Verzweiflung, dem Gefühl der Leere fertig werden? Endlich verstand er die Hinterbliebenen bei Flugzeugabstürzen, die traurig waren, wenn die Körper ihrer Toten so übel zugerichtet oder verbrannt waren, dass sie ihre Lieben nicht mehr sehen konnten. Sie beklagten, dass sie die Endgültigkeit des Verlustes nicht so empfinden konnten, und dass dadurch das Trauern erschwert würde, weil man sich kaum vorstellen konnte, dass der geliebte Mensch tatsächlich tot war. Das war ihm immer seltsam vorgekommen. Wer würde seine Frau oder sein Kind zur Beerdigung aufgebahrt sehen wollen? Würde man sie nicht lebendig und glücklich in Erinnerung behalten wollen? Doch jetzt wusste er es besser. Er zweifelte nicht daran, dass seine Frau und sein Sohn fort waren, so sicher, als wenn sie gestorben wären wie seine Eltern einige Jahre zuvor. Irene und Ray würden nicht mehr zurückkommen, und er wusste nicht, ob er sie jemals wieder sehen würde, weil er nicht wusste, ob es eine zweite Chance gab, in den Himmel zu kommen. Er sehnte sich danach, wenigstens ihre Leichen zu sehen, in einem Bett, einem Sarg, irgendwo. Er hätte alles für einen letzten kurzen Blick gegeben. Sie wären dann nicht weniger tot für ihn, doch vielleicht würde er sich dann nicht so verlassen, so leer fühlen. Rayford wusste, dass es vielleicht noch lange keine Telefonverbindung zwischen Illinois und Kalifornien geben würde. Doch er musste es versuchen. Er wählte die Nummer von Stanford, kam jedoch nicht durch. Er bekam nicht einmal ein Besetztzeichen, gar nichts. Er wählte die Nummer von Chloes Zimmer. Immer noch nichts. Etwa alle halbe Stunde drückte er die Wahlwiederholung, jedoch ohne die Hoffnung, eine Antwort zu bekommen. Falls er doch durchkam, wäre das eine 92
wundervolle Überraschung. Rayford war ausgehungert, und er wusste, dass er besser etwas in den Magen bekam, bevor der Alkohol seine Wirkung tat. Er stieg die Treppe wieder hoch, ging in Raymies Zimmer, um den Schlafanzug des Jungen zu holen. Er legte ihn in einen Geschenkkarton, den er in Irenes Schrank fand; ihr Nachthemd, das Medaillon und den Ring legte er in einen anderen Karton. Die Schachteln brachte er nach unten, zusammen mit den beiden Keksen, die sie ihm geschickt hatte. Irgendwo mussten noch die anderen Kekse sein, und er fand sie auch tatsächlich in einer Tupperdose im Schrank. Er war dankbar, dass ihr Duft ihn an Irene erinnern würde, bis sie alle aufgegessen waren. Rayford legte einige von den Keksen zu den beiden, die er mit herunter gebracht hatte, auf einen Pappteller und goss sich ein Glas Milch ein. Er setzte sich an den Küchentisch neben das Telefon, doch er konnte sich nicht überwinden zu essen. Er fühlte sich wie gelähmt. Um sich zu beschäftigen, löschte er alle Anrufe auf dem Anrufbeantworter und sprach eine neue Nachricht darauf. »Hier spricht Rayford Steele. Wenn es sein muss, hinterlassen Sie eine sehr kurze Nachricht. Ich versuche, diese Leitung für meine Tochter offen zu halten. Chloe, wenn du es bist, ich schlafe entweder oder bin ganz in der Nähe, also gib mir die Gelegenheit, den Hörer abzunehmen. Wenn wir aus irgendeinem Grund nicht miteinander sprechen können, versuche, so schnell wie möglich heimzukommen. Jede Fluglinie kann mir die Kosten in Rechnung stellen. Ich liebe dich.« Und dann aß er langsam seine Kekse auf. Der Geruch und der Geschmack der Kekse ließen ihn an Irene denken. Er stellte sie sich vor, wie sie in der Küche arbeitete, und die Milch weckte die Sehnsucht nach seinem Sohn. Es war alles so schrecklich. Er war erschöpft, und doch konnte er sich nicht überwinden, wieder nach oben zu gehen. Er wusste, er würde sich zwingen müssen, in dieser Nacht in seinem Schlafzimmer zu schlafen. 93
Für den Augenblick würde er sich auf der Couch im Wohnzimmer ausstrecken und hoffen, dass Chloe durchkam. Noch einmal drückte er die Wahlwiederholung, und dieses Mal bekam er das Besetztzeichen. Wenigstens wurde daran gearbeitet. Das war schon ein Fortschritt. Er wusste, dass sie an ihn dachte, während er an sie dachte. Aber sie hatte noch keine Ahnung davon, was mit ihrer Mutter und ihrem Bruder geschehen war. Würde er ihr das am Telefon sagen müssen? Er befürchtete es fast. Ganz bestimmt würde sie fragen. Er legte sich auf die Couch. Ein Schluchzen entrang sich ihm, doch er hatte keine Tränen mehr. Wenn Chloe nur irgendwie die Nachricht bekommen und sich auf den Weg nach Hause machen würde, dann könnte er es ihr wenigstens persönlich sagen. Rayford lag auf seiner Couch und trauerte. Er wusste, im Fernsehen würden nur Bilder gesendet werden, die er nicht sehen wollte. Alle Fernsehsender beschäftigten sich ausschließlich mit dem Chaos und den Tragödien in der ganzen Welt. Und auf einmal wurde es ihm klar. Er setzte sich auf und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Er war es Chloe schuldig. Er durfte sie nicht im Stich lassen. Er liebte sie, und sie war alles, was ihm noch geblieben war. Er musste herausfinden, wie es gekommen war, dass sie alles überhören konnten, was Irene ihnen zu sagen versucht hatte, warum es so schwer gewesen war, dies anzunehmen und zu glauben. Vor allem musste er auf das vorbereitet sein, was als Nächstes passierte. Wenn Gott mit dem Verschwinden der Menschen zu tun hatte, wenn dies sein Werk war, war das dann das Ende? Die Christen, die wirklichen Gläubigen, waren alle fortgenommen worden, und die Übrigen würden ihrem Schmerz, ihrer Trauer, der Erkenntnis ihres Irrtums überlassen? Vielleicht. Vielleicht war das der Preis. Wenn es den Himmel wirklich gibt, wenn die Entrückung eine Tatsache ist, was sagt das dann über die 94
Hölle und das Gericht aus? Ist das unser Schicksal? Wir gehen durch diese Hölle des Bedauerns und Bereuens und danach in die tatsächliche Hölle? Irene hatte immer von einem liebenden Gott gesprochen, doch sicher hatten auch Gottes Liebe und Gnade ein Ende. Hatten alle, die die Wahrheit nicht anerkannt hatten, Gott an seine Grenzen gebracht? Gab es keine Gnade, keine zweite Chance mehr? Vielleicht nicht, und wenn das so war, dann konnte man eben nichts mehr tun. Aber wenn es nicht so war, wenn es immer noch einen Weg gab, die Wahrheit zu finden und zu glauben und anzunehmen oder was immer man tun musste, dann würde Rayford es herausfinden. Würde das bedeuten, dass er eingestehen musste, nicht alles zu wissen? Dass er sich auf sich selbst verlassen hatte und sich nun dumm, schwach und wertlos fühlte? Das konnte er zugeben. Nachdem er sein Leben lang bewundert worden war und in den meisten Bereichen besser gewesen war als die meisten, war er auf einen Schlag so demütig geworden wie noch nie. Es gab so vieles, das er nicht wusste, so vieles, das er nicht verstand. Aber wenn es Antworten gab, dann würde er sie finden. Er wusste nicht, wen er fragen konnte, oder wo er beginnen sollte, doch dies konnten Chloe und er zusammen tun. Sie waren immer gut miteinander ausgekommen. Sie hatte die für die Teenagerjahre so typische Unabhängigkeitsphase durchgemacht, doch soweit er wusste, hatte sie nie irgendetwas Dummes oder Irreparables getan; sie war ihm sehr ähnlich. Es waren ganz einfach Raymies Alter und Unschuld, dass seine Mutter ihn so hatte beeinflussen können. Es war seine Veranlagung. Er hatte nicht diesen Killerinstinkt, diese »Ichzuerst-Haltung«, ohne die er, wie Rayford glaubte, in der realen Welt nicht wirklich zurechtkommen konnte. Er war nicht verweichlicht, doch Rayford hatte die Befürchtung, dass er vielleicht ein Muttersöhnchen sein könnte – zu mitleidig, zu 95
empfindsam, zu liebevoll. Er blickte immer von sich weg, wenn Rayford der Meinung war, er müsse dafür sorgen, die Nummer eins zu werden. Wie dankbar war er jetzt, dass Raymie seiner Mutter ähnlicher war als seinem Vater. Und wie wünschte er, Chloe hätte ebenfalls etwas davon geerbt. Sie stellte sich dem Konkurrenzkampf, musste immer überredet und überzeugt werden. Sie konnte freundlich und großzügig sein, wenn es ihren Zielen dienlich war, aber sie war wie ihr Vater. Sie sorgte in erster Linie für sich selbst. Gute Arbeit, sagte sich Rayford. Das Mädchen, auf das du so stolz warst, weil es dir so ähnlich war, ist nun in derselben schlimmen Lage wie du. Das, so beschloss er, würde sich ändern müssen. Sobald sie miteinander reden konnten, würde sich das ändern. Sie würden sich gemeinsam auf die Suche nach der Wahrheit machen. Wenn es bereits zu spät war, würde er das akzeptieren und sich damit abfinden müssen. Es war immer seine Art gewesen, auf ein Ziel loszumarschieren und die Konsequenzen zu akzeptieren. Nur dass die Konsequenzen diesmal ewig waren. Wider alle Hoffnung hoffte er, dass es noch eine Gelegenheit gab, die Wahrheit im Glauben anzunehmen. Das einzige Problem bestand darin, dass diejenigen, die darüber Bescheid wussten, alle fort waren. Das Midpoint Motel auf der Washington Street, wenige Meilen von dem kleinen Waukegan Flughafen entfernt, war so heruntergekommen, dass es keine Wartelisten gab. Buck Williams war angenehm überrascht, festzustellen, dass nicht einmal die Zimmerpreise erhöht worden waren. Doch als er das Zimmer sah, wusste er, warum. Es gab jedoch ein Telefon, eine Dusche, ein Bett und einen Fernseher. So heruntergekommen es auch war, es würde genügen müssen. Zuerst fragte Buck seinen Anrufbeantworter in New York ab. Keine Nachricht von 96
diesem Ritz, auch sonst nichts Neues, darum hörte er sich die Nachricht von Dirk Burton noch einmal an. Jetzt wusste er wieder, warum er so dringend nach London hatte reisen wollen. Buck trommelte nervös auf seinen Laptop, während er sich anhörte, was Dirk gesagt hatte: »Cameron, du hast mir immer gesagt, dass die Informationen vertraulich behandelt werden, und ich hoffe, du hast Recht. Ich werde nicht einmal meinen Namen nennen, aber du weißt schon, wer hier spricht. Ich möchte dir etwas sehr Wichtiges erzählen und dir Mut machen, so schnell wie möglich herzukommen. Der große Mann, dein Landsmann, den ich den obersten internationalen Broker nenne, hat sich vor einigen Tagen mit unserem ›Handlanger‹ getroffen. Du weißt schon, wen ich meine. Bei dem Treffen war noch eine dritte Partei anwesend. Ich weiß nur, dass sie aus Europa kommt, vermutlich Osteuropa. Ich weiß nicht, welche Pläne sie für ihn haben, aber ich vermute, sehr weit reichende. Meine Quellen sagen, euer Mann hätte sich mit jedem seiner Schlüsselmänner und diesem Europäer an verschiedenen Orten getroffen. Er stellte ihn Leuten aus China, dem Vatikan, Israel, Frankreich, Deutschland, hier und in den Vereinigten Staaten vor. Irgendetwas braut sich da zusammen, und ich möchte dir meine Vermutungen eigentlich nur persönlich mitteilen. Besuche mich, so schnell du kannst. Falls das nicht möglich ist, möchte ich dir raten, die Nachrichten über die Einsetzung eines neuen Führers in Europa genau zu verfolgen. Wenn du sagst, wie ich das auch getan habe, dass gar keine Wahlen angesetzt sind und keine Machtveränderungen bevorstehen, wirst du dich wundern. Komm bald, mein Freund.« Buck rief noch einmal Ken Ritz an und sprach auf Band, wo er zu erreichen sei. Dann versuchte er, in den Westen durchzu97
kommen, was ihm auch tatsächlich gelang. Buck war erstaunt, wie gut es ihm tat, die Stimme seines Vaters zu hören, obwohl er müde, entmutigt und ein wenig ängstlich klang. »Ist bei euch alles okay, Dad?« »Nein, nicht alles. Jeff war hier bei mir, doch er hat sich auf den Weg gemacht, um zu sehen, ob er zur Unfallstelle gelangen kann, wo Sharon zuletzt gesehen wurde.« »Unfall?« »Sie holte die Kinder gerade von irgendeinem Heim oder so was ab. Es hatte etwas mit ihrer Gemeinde zu tun. Sie geht ja nicht mehr in unsere, wie du weißt. Auf jeden Fall ist sie nie dort angekommen. Der Wagen hat sich überschlagen, von ihr keine Spur, außer ihren Kleidern, und du weißt ja, was das bedeutet.« »Sie ist fort?« »Sieht so aus. Jeff kann es nicht akzeptieren. Er nimmt es sehr schwer. Will sich selbst alles ansehen. Das Schlimme ist, dass auch die Kinder fort sind, alle. Alle ihre Freunde, alle in diesem Heim in den Bergen. Die Staatspolizei fand alle Kleider der Kinder, etwa hundert an der Zahl, und auf dem Herd kochte eine Art Spätimbiss.« »Oh Junge! Sag Jeff, dass ich an ihn denke. Wenn er reden möchte, ich bin für ihn da.« »Kann mir nicht vorstellen, dass er reden möchte, Cameron, es sei denn, du hast ein paar Antworten.« »Das ist das Einzige, was ich nicht habe, Dad. Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand welche hat. Ich habe das Gefühl, dass alle, die die Antwort kennen könnten, fort sind.« »Es ist schrecklich, Cam. Ich wünschte, du könntest hier bei uns sein.« »Ist das dein Ernst?« »Meinst du das sarkastisch?« »Ich sage nur die Wahrheit, Dad. Es wäre das erste Mal, dass du mich bei dir haben möchtest.« 98
»Nun, ich denke, in einer Zeit wie dieser sollten wir vielleicht unsere Meinung ändern.« »Über mich? Das bezweifle ich.« »Cameron, lass uns jetzt nicht damit anfangen, ja? Denk doch einmal auch an jemand anderen außer dir. Du hast gestern eine Schwägerin, eine Nichte und einen Neffen verloren, und dein Bruder wird vielleicht nie darüber hinwegkommen.« Buck biss sich auf die Lippe. Warum musste er immer wieder davon anfangen, vor allem jetzt? Sein Vater hatte Recht. Wenn Buck das nur zugeben könnte, vielleicht würden sie dann weiterkommen. Seine Familie hatte ihm übel genommen, dass er aufs College und seiner akademischen Tüchtigkeit gefolgt und zur Ivy League gegangen war. Wo er herkam, traten die Kinder in die Fußstapfen der Eltern. Sein Vater transportierte Benzin, vorwiegend aus Oklahoma und Texas. Es war ein schwieriges Geschäft, da die Einwohner der Meinung waren, alle Vorräte sollten aus dem eigenen Staat kommen. Jeff hatte sich in dem kleinen Geschäft hochgearbeitet. Er hatte im Büro begonnen, hatte dann einen Tankwagen übernommen und führte nun die Geschäfte. Es hatte viel böses Blut gegeben, vor allem da Cameron auf der Schule war, als seine Mutter krank wurde. Sie hatte darauf bestanden, dass er auf der Schule blieb, doch dass er wegen Geldmangels auch Weihnachten nicht nach Hause kam, konnten sein Vater und sein Bruder ihm nicht verzeihen. Seine Mutter starb, und nicht einmal zur Beerdigung war er da gewesen. Im Laufe der Jahre hatte sich die Beziehung ein wenig verbessert, vorwiegend deshalb, weil die Familie gern mit ihm angab, seit er ein bekannter Journalist geworden war. Er hatte Vergangenes begraben sein lassen, doch es gefiel ihm nicht, dass er nun, da er eine bekannte Persönlichkeit geworden war, wieder willkommen war. Darum fuhr er nur selten nach Hause. Es gab zu vieles, was noch nicht ausgeräumt war. Trotzdem 99
war er wütend auf sich, dass er alte Wunden aufgerissen hatte, jetzt, wo seine Familie litt. »Wenn es eine Art Begräbnisgottesdienst oder so etwas gibt, werde ich versuchen zu kommen, Dad. In Ordnung?« »Du wirst es versuchen?« »Mehr kann ich nicht versprechen. Du kannst dir nicht vorstellen, was im Global jetzt los ist. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass das die Story des Jahrhunderts ist.« »Wirst du den Leitartikel schreiben?« »Ich werde mit der Titelseite viel zu tun haben, ja.« »Aber den Leitartikel?« Buck seufzte. Er war plötzlich sehr müde. Das war kein Wunder, denn seit fast vierundzwanzig Stunden war er nun schon auf den Beinen. »Ich weiß es nicht, Dad. Ich habe bereits eine Menge Stoff gesammelt. Ich schätze, dass in der nächsten Ausgabe verschiedene Berichte aus der ganzen Welt gebracht werden. Es ist unwahrscheinlich, dass mein Artikel der Leitartikel wird. Es sieht so aus, als hätte ich den Auftrag für einen ziemlich großen Artikel für die Ausgabe in zwei Wochen bekommen.« Er hoffte, das würde seinen Dad zufrieden stellen. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als das Gespräch zu beenden und ein wenig Schlaf zu bekommen. Aber so war es nicht. »Was heißt das? Was für einen Artikel?« »Oh, ich werde mehrere Berichte über die Theorien zu den Hintergründen des Geschehens zusammenfassen.« »Das ist eine große Aufgabe. Jeder, mit dem ich spreche, hat eine andere Erklärung. Dein Bruder befürchtet, dass es so etwas Ähnliches wie das Letzte Gericht Gottes ist.« »Tatsächlich?« »Ja. Aber ich glaube das nicht.« »Warum nicht, Dad?« Eigentlich hatte er keine Lust, sich auf eine längere Diskussion einzulassen, aber diese Theorie erstaunte ihn. 100
»Weil ich unseren Pastor gefragt habe. Er sagte, wenn Jesus Christus wirklich die Menschen in den Himmel geholt hätte, wären er und ich und du und Jeff ebenfalls fort. Das macht Sinn.« »Meinst du? Ich habe nie behauptet, gläubig zu sein.« »Das hast du wirklich nicht. Du warst immer mehr für diesen liberalen Ostküstenquatsch. Du weißt sehr gut, dass wir dich schon seit du ein Baby warst in die Kirche und Sonntagsschule mitgenommen haben. Du bist genauso ein Christ wie wir anderen auch.« Cameron wollte sagen: Genau meine Meinung. Aber er hielt sich zurück. Die mangelnde Übereinstimmung zwischen dem Kirchenbesuch seiner Familie und ihrem täglichen Leben hatte ihn veranlasst, aus der Kirche auszutreten, sobald er selbst entscheiden konnte. »Ja, gut, sag Jeff, dass ich an ihn denke, ja? Und wenn ich es einrichten kann, werde ich kommen, wenn er irgendetwas für Sharon und die Kinder veranstaltet.« Buck war dankbar, dass es in dem Motel wenigstens genügend heißes Wasser für eine lange Dusche gab. Er hatte die pochende Wunde an seinem Hinterkopf vollkommen vergessen, bis das Wasser das Pflaster löste. Er hatte kein neues Pflaster, darum ließ er die Wunde einfach ein wenig bluten. Schließlich fand er Eis. Morgen früh würde er sich ein Pflaster besorgen. Für heute hatte er genug. Er war hundemüde. Es gab keine Fernbedienung für das Fernsehgerät, und wenn er sich erst einmal hingelegt hatte, würde er nicht wieder aufstehen können. Darum stellte er CNN so leise an, dass der Ton ihn im Schlaf nicht stören würde. Bevor er einschlief, sah er sich das Chaos in der Welt an. Es war so schlimm, dass er es kaum ertragen konnte, doch Nachrichten waren sein Geschäft. Er erinnerte sich an die vielen Erdbeben und Kriege des vergangenen Jahrzehnts und die nächtliche Aufarbeitung, die ihn oft durchgeschüttelt hatte. Doch das hier war tausendmal 101
schlimmer, und es war alles an einem Tag geschehen. Noch nie in der Geschichte waren so viele Menschen an einem einzigen Tag getötet worden, wie die vielen, die einfach verschwunden waren. Waren sie getötet worden? Waren sie tot? Würden sie zurückkommen? Buck konnte seinen Buck nicht vom Bildschirm lösen, obwohl er so schrecklich müde war. Immer mehr Videoaufnahmen von Menschen, die einfach verschwanden, wurden gesendet. Aus einigen Ländern kamen professionelle Aufnahmen von Live-Fernsehshows. Das Mikrofon eines Gastes landete auf den leeren Kleidern und rollte mit ohrenbetäubendem Lärm über den Fußboden. Die Zuschauer schrien. Eine der Kameras schwenkte in den Saal, der kurz zuvor noch voll besetzt gewesen war. Jetzt waren mehrere Sitze leer. Nur die Kleider der Personen, die vorher darauf gesessen hatten, lagen noch da. So etwas konnte nicht inszeniert worden sein, dachte Buck, während ihm langsam die Augen zufielen. Wenn jemand ein Drehbuch über Millionen von Menschen, die einfach verschwanden und nur ihre Kleider zurückließen, hätte verkaufen wollen, wäre er ausgelacht worden. Buck war nicht bewusst, dass er schlief, bis das Telefon so laut läutete, dass es den Anschein hatte, als würde es jeden Augenblick vom Tisch fallen. Er griff danach. »Es tut mir Leid, Sie zu stören, Mr Williams, doch ich habe gerade gemerkt, dass Sie nicht mehr telefonieren. Sie hatten einen Anruf. Ein Bursche mit Namen Ritz. Er sagte, Sie könnten ihn anrufen oder auch einfach um sechs Uhr morgen früh draußen auf ihn warten.« »Vielen Dank.« »Was werden Sie tun? Ihn anrufen oder auf ihn warten?« »Warum wollen Sie das wissen?« »Oh, ich bin nicht neugierig oder so. Es ist nur, wenn Sie um sechs hier verschwinden, müssen Sie im Voraus zahlen. Sie haben ein Ferngespräch geführt und so. Und ich stehe erst um 102
sieben Uhr auf.« »Ich sage Ihnen was, äh, wie war noch Ihr Name?« »Mack.« »Ich sage Ihnen was, Mack. Sie haben meine Kreditkartennummer und wissen also, dass ich mich nicht einfach fortschleiche. Morgen früh werde ich einen Travellerscheck für Sie im Zimmer lassen, der die Kosten für das Zimmer und den Telefonanruf abdecken wird. Außerdem wird für Sie auch noch genügend übrig bleiben. Sie verstehen, was ich meine?« »Ein Trinkgeld?« »Jawohl, Sir.« »Das wäre sehr freundlich.« »Ich möchte Sie nur bitten, mir ein Pflaster unter der Tür hindurchzuschieben.« »Ich habe eins. Brauchen Sie es sofort? Sind Sie in Ordnung?« »Es geht mir gut. Nicht jetzt. Wenn Sie ins Bett gehen. Und stellen Sie bitte mein Telefon ab, nur für den Fall. Wenn ich so früh aufstehen muss, brauche ich meinen Schlaf. Würden Sie das für mich tun, Mack?« »Ganz bestimmt. Ich stelle es gleich ab. Möchten Sie telefonisch geweckt werden?« »Nein, vielen Dank«, sagte Buck und lächelte, als er merkte, dass das Telefon in seiner Hand tot war. Mack hielt Wort. Wenn er tatsächlich das Pflaster am Morgen vorfand, würde er ihm ein gutes Trinkgeld zurücklassen. Buck zwang sich, aufzustehen und den Fernseher und das Licht auszuschalten. Er besaß die Fähigkeit, vor dem Einschlafen auf seine Uhr zu sehen und genau um die Uhrzeit aufzuwachen, die er sich gesetzt hatte. Es war fast Mitternacht. Er würde um halb sechs aufstehen. Sobald er sich hingelegt hatte, war er auch schon eingeschlafen. Als er fünfeinhalb Stunden später aufwachte, hatte er sich nicht bewegt. 103
Rayford hatte das Gefühl, er würde schlafwandeln, als er sich durch die Küche schleppte, um nach oben zu gehen. Er konnte nicht glauben, wie müde er noch war, nachdem er so lange geschlafen hatte und auch auf der Couch noch einmal eingeschlafen war. Die Zeitung lag immer noch zusammengerollt auf einem Stuhl, wo er sie hingeworfen hatte. Falls er oben nicht schlafen konnte, konnte er vielleicht einen Buck hineinwerfen. Es würde interessant sein, die bedeutungslosen Nachrichten einer Welt zu lesen, der noch nicht klar war, dass sie das schlimmste Trauma in ihrer Geschichte erleben würde, kurz nachdem die Zeitung in Druck gegangen war. Rayford drückte den Wahlwiederholungsknopf am Telefon und ging langsam auf die Treppe zu. Er hörte nur mit halbem Ohr hin. Aber was war das? Das Telefon in Chloes Zimmer läutete. Er eilte zum Telefon, als sich gerade eine Mädchenstimme meldete. »Chloe?« »Nein. Mr Steele?« »Ja!« »Hier spricht Amy. Chloe ist auf dem Weg nach Hause. Sie wird versuchen, Sie von unterwegs aus anzurufen. Wenn sie durchkommt, wird sie Ihnen sagen, wann sie ankommt, oder sie wird ein Taxi nach Hause nehmen.« »Sie ist also unterwegs?« »Ja. Sie wollte nicht warten. Sie hat immer wieder versucht, Sie anzurufen, aber …« »Ja, ich weiß. Vielen Dank, Amy. Geht es Ihnen gut?« »Ich bin zu Tode erschrocken, wie alle anderen auch.« »Das kann ich mir vorstellen. Haben Sie jemanden verloren?« »Nein, und ich fühle mich fast ein wenig schuldig deswegen. Es sieht so aus, als hätten alle, die ich kenne, irgendjemanden verloren. Ich meine, ein paar Freunde sind fort, aber niemand, 104
der mir nahe steht, keine Familienangehörigen.« Rayford wusste nicht, ob er ihr gratulieren oder sein Beileid ausdrücken sollte. Wenn das war, was er glaubte, dann kannte dieses arme Kind kaum einen Menschen, der in den Himmel geholt worden war. »Auf jeden Fall bin ich froh, dass es Ihnen gut geht«, sagte er. »Und wie sieht es bei Ihnen aus?«, fragte sie. »Chloes Mutter und ihr Bruder?« »Ich fürchte, sie sind fort, Amy.« »Oh nein!« »Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es mir überlassen würden, Chloe das zu sagen, für den Fall, dass sie mit Ihnen spricht, bevor ich mit ihr sprechen kann.« »Oh, keine Angst. Ich würde nicht einmal daran denken, ihr das zu sagen, selbst wenn Sie mich darum bitten würden.« Rayford lag einige Zeit im Bett, dann blätterte er gelangweilt die Zeitung durch. Hmm. Eine überraschende Wende in Rumänien. »Die demokratischen Wahlen wurden außer Kraft gesetzt, als, mit der scheinbar geschlossenen Zustimmung des Volkes und sowohl des Ober- als auch des Unterhauses der Regierung, ein populärer junger Geschäftsmann und Politiker das Amt des Präsidenten des Landes übernahm. Nicolai Carpathia, ein dreiunddreißigjähriger junger Mann, geboren in Cluj, hatte in den vergangenen Monaten durch seine populären, überzeugenden Reden die Nation im Sturm erobert, Freund und Feind gleichermaßen. Die Reformen, die er für das Land vorschlug, brachten ihm Ruhm und Macht.« Rayford betrachtete das Bild des jungen Carpathia. Er war ein außergewöhnlich gut aussehender Mann mit blondem Haar, der Robert Redford in seinen jungen Jahren glich. Ob er den Job 105
wohl auch übernommen hätte, wenn er geahnt hätte, was passieren würde?, dachte Rayford. Was immer er jetzt noch zu bieten hat, wird nicht mehr sein als ein Berg Bohnen.
7 Ken Ritz fuhr Punkt sechs Uhr vor dem Midpoint Motel vor, kurbelte das Fenster herunter und rief zu der wartenden Gestalt hinüber: »Sind Sie Williams?« »Das bin ich«, erwiderte Buck. Mit seiner Tasche stieg er in das etwas ältere Modell eines Land-Rovers ein. Buck betastete sein neues Pflaster am Hinterkopf und lächelte beim Gedanken an Mack, der sich sicher über die zwanzig Dollar Trinkgeld freuen würde. Ritz war groß und schlank, hatte ein wettergegerbtes Gesicht und einen dichten Haarschopf. »Lassen Sie uns gleich zum Geschäft kommen«, begann er. »Von O’Hare zum JFKFlughafen sind es 740 und von Milwaukee nach JFK 746 Meilen. Ich werde Sie so dicht an den Flughafen bringen, wie es geht. Wir werden die Differenz zwischen O’Hare und Milwaukee halbieren, also sagen wir, es sind 743 Luftmeilen. Wenn man das verdoppelt, so sind das 1486 Dollar. Runden wir die Summe auf 1500 auf für den Taxiservice, und wir sind uns einig.« »Abgemacht«, sagte Buck, holte seine Schecks heraus und begann, sie zu unterschreiben. »Ein ziemlich teures Taxi.« Ritz lachte. »Vor allem für jemanden, der aus dem ›Midpoint‹ kommt.« »Es war ein Erlebnis.« Ritz parkte seinen Wagen am Waukegan-Flughafen in einer halbrunden Wellblechbaracke und plauderte mit Buck, während er seine Flugvorbereitungen traf. »Hier hat es keine Abstürze gegeben«, sagte er. »Auf Palwaukee waren es zwei. 106
Allerdings haben sie hier einiges an Flugpersonal verloren. Es ist schon seltsam, nicht?« Buck und Ritz erzählten sich vom Verlust ihrer Verwandten, wo sie sich befanden, als es passierte und was sie beruflich machten. »Habe noch nie einen Journalisten befördert«, sagte Ken. »Chartermäßig, meine ich. Als ich noch als Angestellter geflogen bin, habe ich bestimmt viele von euch befördert.« »Verdienen Sie jetzt besser, seitdem Sie sich selbstständig gemacht haben?« »Ja, aber das wusste ich nicht, als ich damit angefangen habe. Es war nicht meine Entscheidung.« Sie stiegen in den Learjet. Buck warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Hat man Ihnen die Starterlaubnis entzogen?« »Keine Angst, Partner«, sagte der Pilot. »Ich werde Sie hinbringen, wo Sie hinwollen.« »Sie sind es mir schuldig, mir zu sagen, ob man Ihnen die Starterlaubnis entzogen hat.« »Ich wurde gefeuert. Das ist ein Unterschied.« »Hängt von den Gründen ab, die zu Ihrer Entlassung geführt haben, nicht?« »Das stimmt. Eigentlich müsste Sie das beruhigen. Ich wurde gefeuert, weil ich zu vorsichtig war.« »Erzählen Sie«, sagte Buck. »Erinnern Sie sich noch an die Berichte über die Maschinen, die in eisigem Wetter abstürzten?« »Ja, bis man irgendwelche Veränderungen vorgenommen hat.« »Richtig. Nun, erinnern Sie sich vielleicht auch noch, dass ein Pilot sich weigerte zu fliegen, nachdem man ihn dazu aufgefordert hatte und der Öffentlichkeit versichert worden war, dass alles erklärbar und nur ein unglücklicher Zufall sei?« »Ja.« »Und Sie erinnern sich vielleicht noch, dass es unmittelbar danach zu einem weiteren Absturz kam, der dem Piloten Recht 107
gab?« »Vage.« »Nun, ich erinnere mich sehr gut daran, denn Sie sitzen neben ihm.« »Jetzt geht es mir tatsächlich besser.« »Wissen Sie, wie viele von diesen Maschinen heute noch in der Luft sind? Nicht eine Einzige. Wenn man Recht hat, hat man Recht. Aber wurde ich wieder eingestellt? Nein. Einmal ein Unruhestifter, immer ein Unruhestifter. Obwohl viele meiner Kollegen dankbar waren. Und einige Pilotenwitwen waren ziemlich wütend darüber, dass man mich ignoriert und dann aus dem Verkehr gezogen hat. Für ihre Männer war es zu spät.« »Oh.« Während der Jet nach Osten flog, wollte Ritz wissen, was Buck von dem Verschwinden der Menschen hielt. »Komisch, dass Sie fragen«, sagte Buck. »Ich muss mich heute ernsthaft damit beschäftigen. Wie sehen Sie die Sache? Und haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein Band mitlaufen lasse?« »Das ist in Ordnung«, erwiderte Ritz. »Das seltsamste Phänomen, das ich je erlebt habe. Aber natürlich stehe ich nicht allein da mit meiner Meinung. Allerdings muss ich zugeben, dass ich schon immer an UFOs geglaubt habe.« »Sie machen Witze! Sie als vernünftiger, klar denkender Pilot?« Ritz nickte. »Ich spreche natürlich nicht über kleine grüne Männer oder Außerirdische, die Menschen entführen. Ich spreche mehr von den Dingen, die dokumentiert wurden, die einige Astronauten und auch manche Piloten gesehen haben.« »Haben Sie jemals irgendetwas in dieser Richtung erlebt?« »Nein. Natürlich schon eine Reihe von unerklärlichen Dingen. Lichter oder Luftspiegelungen. Einmal dachte ich, dass ich zu dicht an eine Formation Hubschrauber heranfliegen würde. Das war übrigens ganz hier in der Nähe. Glenview 108
Naval Air Station. Ich funkte eine Warnung, dann verlor ich sie aus den Augen. Das ist vermutlich erklärbar. Es konnte sein, dass ich schneller flog, als mir klar war oder nicht so dicht in ihrer Nähe war, wie ich dachte. Doch ich bekam keine Antwort, keine Bestätigung, dass sie überhaupt in der Luft waren. Glenview wollte es nicht bestätigen. Ich tat es ab, doch einige Wochen später spielten fast an derselben Stelle meine Instrumente verrückt.« »Und wie haben Sie sich das erklärt?« »Magnetfelder oder andere Kräfte dieser Art. Sie wissen, es hat keinen Zweck, über seltsame Erscheinungen in der Nähe einer Militärbasis zu berichten, weil sie einfach abgestritten werden. Man nimmt ungewöhnliche Vorkommnisse in der Nähe eines Flughafens nicht ernst. Darum hört man auch niemals von Geschichten über UFOs in der Nähe von O’Hare.« »Dann nehmen Sie die Geschichte von Außerirdischen, die die Menschen entführt haben, also nicht ernst, Sie bringen das Verschwinden der Leute aber in Zusammenhang mit UFOs?« »Ich sage nur, dass es nicht ist wie E. T. Ich denke, unsere Vorstellungen vom Aussehen der Außerirdischen sind zu simpel. Falls es intelligentes Leben dort draußen gibt – und das muss so sein wegen der riesigen Entfernungen –« »Was meinen Sie?« »Die Unendlichkeit des Alls.« »Aha, Sie meinen, wegen der unzähligen Sterne und den endlosen Weiten müsste es etwas dort draußen geben.« »Genau. Und ich stimme mit Leuten überein, die der Meinung sind, diese Wesen seien intelligenter als wir. Sonst wären sie nicht hergekommen, falls sie es waren. Und wenn sie es waren, dann glaube ich, dass sie viel weiter und gelehrter sind als wir und Dinge tun können, von denen wir nicht einmal träumen können.« »Zum Beispiel, dass sie Leute aus ihren Kleidern verschwinden lassen können.« 109
»Klang bis vor kurzem recht einfältig, nicht?« Buck nickte. »Ich habe immer über die Menschen gelacht, die annehmen, diese Wesen könnten unsere Gedanken lesen und in unsere Köpfe kommen«, fuhr Ritz fort. »Aber sehen Sie doch nur, wer fehlt. Alle, von denen ich gelesen oder gehört habe, oder die ich auch selbst kannte, waren entweder unter zwölf Jahre alt oder ungewöhnliche Persönlichkeiten.« »Sie meinen, alle diese Leute, die verschwunden sind, hätten eine Gemeinsamkeit gehabt?« »Nun, sie haben jetzt etwas gemeinsam, würden Sie das nicht auch sagen?« »Sie meinen, irgendetwas hat sie von der Masse abgehoben, hat es erleichtert, sie fortzunehmen?«, fragte Buck. »Genau das denke ich.« »Dann sind wir also immer noch hier, weil wir stark genug waren zu widerstehen. Vielleicht waren wir der Mühe nicht wert.« Ritz nickte. »So ähnlich. Es ist fast so, als wäre eine Kraft oder Macht in der Lage, den Grad des Widerstandes oder der Schwäche zu erfassen, und nachdem diese Kraft erst einmal eine Basis gefunden hat, ist sie in der Lage gewesen, diese Menschen von der Erde verschwinden zu lassen. Sie verschwanden in einem Augenblick, sie müssen also dematerialisiert worden sein. Die Frage ist nur, ob sie dabei vernichtet würden oder wieder rematerialisiert werden können.« »Was meinen Sie, Mr Ritz?« »Früher würde ich das verneint haben. Doch vor einer Woche noch hätte ich Ihnen auch nicht abgenommen, dass Millionen von Menschen einfach so verschwinden können. Wenn ich eingestehen muss, dass dies tatsächlich passiert ist, dann muss ich auch den nächsten logischen Schritt vollziehen. Vielleicht sind sie irgendwo in einer bestimmten Gestalt, und vielleicht können sie zurückkommen.« 110
»Das ist ein tröstlicher Gedanke«, meinte Buck. »Aber ist das nicht vielleicht nur Wunschdenken?« »Nicht mal das. Dieser Gedanke plus fünfzig Cents sind einen halben Dollar wert. Wissen Sie, ich fliege Flugzeuge für Geld. Ich habe keine Ahnung. Ich bin noch genauso schockiert wie alle anderen, und ich sage Ihnen offen, dass ich Angst habe.« »Wovor?« »Dass es wieder passieren könnte. Wenn es das war, wofür ich es halte, dann braucht diese Kraft sich nur wieder neu zu aktivieren und kann ältere Menschen, klügere holen, Menschen mit mehr Widerstandskraft, die sie beim ersten Mal verschmäht hat.« Buck zuckte die Achseln und schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: »Ihre Argumentation hat nur einen Schwachpunkt. Ich kenne einige Menschen, die sehr stark waren und die trotzdem verschwunden sind.« »Ich habe nicht von körperlicher Stärke gesprochen.« »Ich auch nicht.« Buck dachte an Lucinda Washington. »Ich habe eine Freundin und Mitarbeiterin verloren, die ein kluger, gesunder, glücklicher, starker Mensch war.« »Nun, ich sage ja nicht, dass ich alles oder auch nur irgendetwas wüsste. Sie wollten meine Theorie hören, und: Das war sie, okay?« Rayford Steele lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Er hatte nur schlecht und mit Unterbrechungen geschlafen, und er fühlte sich benommen. Er wollte keine Nachrichten sehen. Er wollte die Zeitung nicht lesen. Mittlerweile würde wohl die neuste Ausgabe vor der Haustür liegen. Er wünschte sich, dass Chloe endlich nach Hause käme, damit sie gemeinsam trauern konnten. Es gab nichts Einsameres, stellte er fest, als die Trauer. Er und seine Tochter würden Arbeit vor sich haben. Er wollte 111
nachforschen, lernen, wissen, handeln. Er begann damit, dass er nach einer Bibel suchte, nicht der Familienbibel, die seit Jahren verstaubt im Regal stand. Er suchte Irenes Bibel. Sie würde sich Notizen gemacht haben, und vielleicht fand er etwas, das ihm den richtigen Weg zeigen würde. Sie war nicht schwer zu finden. Gewöhnlich lag sie in Reichweite ihres Bettes. Er fand sie auf dem Boden neben dem Bett. Würde er einen Hinweis bekommen? Irgendetwas, das auf die Entrückung oder das Gericht oder so hindeutete? Wenn nicht, würde er vielleicht am Ende anfangen. Wenn Genesis »Anfang« bedeutete, hatte die Offenbarung vielleicht etwas mit dem Ende zu tun, auch wenn das Wort nicht so übersetzt würde. Der einzige Bibelvers, den Rayford auswendig aufsagen konnte, war Genesis 1,1: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Er hoffte, dass es einen ähnlichen Vers am Ende der Bibel geben würde, der etwa folgendermaßen lauten würde: »Am Ende holte Gott sein Volk in den Himmel. Allen anderen gab er noch eine Chance.« Aber da hatte er kein Glück. Der letzte Vers der Bibel sagte ihm nichts. Dort hieß es: »Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!« Das hörte sich genau so an wie das ganze religiöse Geschwätz, das er im Gottesdienst gehört hatte. Er las den Vers davor: »Er, der dies bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald, – Amen. Komm, Herr Jesus.« Jetzt kam er der Sache schon näher. Wer war das denn, der »dies« bezeugte, und was war »dies«? Die zitierten Worte waren rot gedruckt. Was bedeutete das? Er blätterte die Bibel durch und entdeckte auf dem Einband: »Worte Christi in rot.« Jesus hatte also gesagt, dass er bald kommen würde. War er gekommen? Und wenn die Bibel so alt war, wie es den Anschein hatte, was bedeutete dieses »bald»? Vielleicht hatte es eine andere Bedeutung, denn »bald« war es ja nicht, es sei denn aus der Sicht eines Menschen mit einem großen Überblick über die Geschichte. Vielleicht meinte Jesus, dass sein 112
Kommen schnell geschehen würde. Ging es darum? Rayford las das letzte Kapitel als Ganzes durch. Noch drei andere Verse waren rot gedruckt, und zwei davon sprachen ebenfalls von dem baldigen Kommen. Rayford konnte den Text dieses Kapitels nicht verstehen. Er schien ihm alt und formell. Doch gegen Ende des Kapitels fiel ihm ein Vers ins Auge, der eine große Wirkung auf ihn hatte. Ohne seine Bedeutung verstehen zu können, las er: »Wer durstig ist, der komme. Wer will, empfange umsonst das Wasser des Lebens.« Jesus war bestimmt nicht der Durstige. Er war bestimmt nicht derjenige, der das Wasser des Lebens nehmen wollte. Rayford nahm an, dass damit der Leser gemeint war. Ihm kam der Gedanke, dass er durstig war, sehr durstig. Aber was war das »Wasser des Lebens«? Er hatte bereits einen schrecklichen Preis dafür bezahlt, dass er es nicht angenommen hatte. Was immer es war, es stand schon seit Hunderten von Jahren in diesem Buch. Rayford blätterte die Bibel durch, las einige Passagen, doch keine war ihm verständlich. Sie entmutigten ihn, weil sie sich nicht aufeinander bezogen, keine einheitliche Richtung zu haben schienen. Die Sprache war ihm fremd. Hier und da hatte Irene sich Notizen an den Rand gemacht. Manchmal hatte sie einfach nur »kostbar« geschrieben. Er war entschlossen, nachzuforschen und jemanden zu finden, der ihm diese Passagen erklären konnte. Er war versucht, neben den Vers in der Offenbarung über das Wasser des Lebens »kostbar« zu schreiben. Es erschien ihm kostbar zu sein, wenn er es auch nicht verstehen konnte. Am schlimmsten war seine Befürchtung, dass er zu spät mit dem Bibellesen begonnen hatte. Ganz offensichtlich war es zu spät für ihn, mit seiner Frau und seinem Sohn zusammen in den Himmel zu gehen. Aber war es für ihn wirklich endgültig zu spät? 113
Vorne in der Bibel lag das Kirchenblättchen vom vergangenen Sonntag. Welcher Tag war heute? Mittwoch. Vor drei Tagen war er wo gewesen? In der Garage. Raymie hatte ihn gebeten, sie in den Gottesdienst zu begleiten. Er hatte versprochen, am kommenden Sonntag mitzugehen. »Das hast du auch letzte Woche gesagt«, hatte Raymie geantwortet. »Willst du nun, dass ich deinen Kettcar repariere oder nicht? So viel Zeit habe ich nicht.« Raymie konnte man nicht so leicht Schuldgefühle einreden. Er wiederholte nur: »Nächsten Sonntag?« »Ganz bestimmt«, hatte Rayford erwidert. Und nun wünschte er sich, es wäre schon der nächste Sonntag. Er wünschte noch mehr, dass Raymie da wäre, um mit ihm in den Gottesdienst zu gehen, denn diesmal würde er wirklich gehen. Oder vielleicht doch nicht? Würde er vielleicht an diesem Tag arbeiten müssen? Und würde überhaupt ein Gottesdienst stattfinden? Waren noch Leute von dieser Gemeinde übrig? Er holte das Gemeindeblatt aus Irenes Bibel und umkringelte die Telefonnummer. Später, wenn er mit Pan-Continental gesprochen hatte, würde er das Gemeindebüro anrufen und fragen, wie es weitergehen sollte. Er wollte die Bibel gerade wieder auf den Nachttisch legen, als er neugierig würde und sie noch einmal öffnete. Auf der ersten weißen Seite entdeckte er die Inschrift. Er hatte Irene diese Bibel an ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt. Wie konnte er das vergessen haben, und was hatte er sich dabei gedacht? Damals war sie dem christlichen Glauben nicht mehr zugetan gewesen als er, doch sie sprach davon, dass sie regelmäßig zur Kirche gehen wollte, bevor die Kinder kamen. Vermutlich hatte er sie beeindrucken wollen. Vielleicht dachte er, sie würde ihn für geistlich halten, wenn er ihr ein solches Geschenk machte. Vielleicht hoffte er auch, sie würde ihn vom Haken lassen und allein in die Kirche gehen, wenn er ihr mit diesem Geschenk seine geistliche Aufgeschlossenheit zeigte. 114
Jahrelang hatte er die Gemeinde toleriert. Sie hatten sich einer Kirche angeschlossen, in der wenig gefordert und viel geboten würde. Sie schlossen viele Freundschaften dort, fanden in dieser Gemeinde ihren Arzt, Zahnarzt, Versicherungsvertreter und bekamen sogar Zugang zu ihrem Country Club. Rayford würde verehrt und Neulingen und Gästen stolz als 747Kapitän vorgestellt. Einige Jahre lang gehörte er sogar dem Gemeindevorstand an. Als Irene den christlichen Radiosender entdeckte und das, was sie »richtiges Predigen und Lehren« nannte, würde sie immer unzufriedener mit ihrer Gemeinde und begann, nach einer neuen zu suchen. Dies nahm Rayford zum Anlass, überhaupt nicht mehr zum Gottesdienst zu gehen. Er sagte ihr, wenn sie eine gefunden hätte, die ihr wirklich gefiel, würde er sie wieder begleiten. Sie fand eine, und gelegentlich ging er mit, aber es war ihm dort ein wenig zu eng und persönlich. Er wurde nicht hofiert. Und meistens blieb er fort. Da stand noch mehr in Irenes Bibel. Sie bezeichnete es als ihre Gebetsliste, und er, Ray, führte sie an. Sie hatte geschrieben: »Rafe, für seine Errettung und dass ich ihm eine liebevolle Frau sein kann. Chloe, dass sie Christ wird und rein lebt. Ray Jr., dass er seinen starken, kindlichen Glauben nicht verliert.« Dann hatte sie ihren Pastor, politische Führer, Missionare, Weltkonflikte und mehrere Freunde und andere Verwandte aufgeführt. »Für seine Errettung«, flüsterte Rayford. »Errettung.« Wieder so ein Kirchenwort, das ihn nie wirklich beeindruckt hatte. Er wusste, dass Irenes neue Gemeinde sich für die »Errettung der Seelen« einsetzte, etwas, das er in der vorherigen Gemeinde nie gehört hatte. Doch je mehr er davon gehört hatte, desto mehr hatte er sich abgestoßen gefühlt. Hatte Errettung nicht irgendetwas mit Konfirmation, Taufe, Zeugnis und »Frommsein« zu tun? Davon hatte er nichts wissen wollen. Und nun wünschte er sich verzweifelt zu erfahren, was genau das war. 115
Ken Ritz nahm Funkkontakt zu den Flughäfen der Vororte von New York auf. Nach einer Weile bekam er Landeerlaubnis für Easton in Pennsylvania. »Wenn Sie Glück haben, begegnen Sie Larry Holmes«, meinte Ritz. »Dies ist sein Revier.« »Der alte Boxer? Boxt er denn immer noch?« Ritz zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wie alt er jetzt ist, aber ich wette mit Ihnen, dass er nicht verschwunden ist. Wer immer es war, der die Leute geholt hat, der alte Larry hatte sich sicher gewehrt.« Der Pilot fragte das Bodenpersonal, ob für seinen Passagier eine Fahrt nach New York arrangiert werden könnte. »Sie machen sicher Witze, nicht wahr, Lear?« »Eigentlich nicht, over.« »Wir haben hier einen Burschen, der ihn in die Nähe der UBahn bringen kann. Bisher können keine Wagen in die Stadt und aus der Stadt heraus, und selbst die Züge fahren komplizierte Umwege um die Unglücksstellen herum.« »Unglücksstellen?«, wiederholte Buck. »Sagen Sie das noch einmal«, sagte Ritz in sein Funkgerät. »Habt ihr keine Nachrichten gesehen? Einige der schlimmsten Katastrophen in der Stadt passierten, weil Lokführer und Leute in den Schaltzentralen verschwanden. Sechs Züge rasten frontal ineinander; unzählige Tote. Mehrere Züge sind aufeinander aufgefahren. Es wird Tage dauern, bis die Strecken geräumt und die Wagons ersetzt sind. Sind Sie sicher, dass Ihr Mann in die Innenstadt möchte?« »Roger. Er scheint mir ein Mann zu sein, der damit klarkommen kann.« »Ich hoffe, er hat gute Wanderstiefel, over.« Buck musste einen weiteren Scheck springen lassen, um nahe genug an die Bahnstation zu gelangen, sodass er den Rest des Weges zu Fuß laufen konnte. Sein Gefährt war kein Taxi, und der Fahrer auch kein Taxifahrer. Der Wagen war genauso 116
altersschwach wie sein Fahrer. Nach einem Zwei-Meilen-Marsch gelangte er gegen Mittag zum Bahnhof, wo er zusammen mit einer Menschenmasse vierzig Minuten wartete, um dann festzustellen, dass er zu der letzten Hälfte gehörte, die eine weitere halbe Stunde auf den nächsten Zug warten musste. Es dauerte zwei Stunden, bis er auf Umwegen nach Manhattan gelangte, und während der ganzen Fahrt hämmerte er auf dem Keyboard seines Laptops herum oder starrte aus dem Fenster auf das Chaos, das sich ihm bot. Er wusste, dass viele seiner Kollegen ähnliche Berichte geschrieben haben würden, sodass seine einzige Hoffnung war, dass seine Berichte brillanter und ausdrucksvoller formuliert waren. Die Szene beeindruckte ihn so, dass er sich kaum davon losreißen konnte. Wenigstens würde er in seinen Memoiren von diesem Drama schreiben. In New York City war alles zum Erliegen gekommen, und die größte Überraschung war, dass überhaupt noch Menschen in die Stadt hineingelassen wurden. Zweifellos lebten viele von ihnen hier, genau wie er, und mussten zu ihren Wohnungen und Appartements. Mit einem Ruck blieb der Zug stehen. Er war längst nicht so weit gefahren, wie man ihm gesagt hatte. Durch eine undeutliche Ansage, die er kaum verstehen konnte, wurden die Passagiere informiert, dass dies die letzte Haltestelle war. Die nächste Station war zu einer Baustelle geworden, wo Autos durch Kräne von den Schienen gehoben wurden. Buck schätzte, dass er noch etwa fünfzehn Meilen von seinem Büro und weitere fünf von seiner Wohnung entfernt war. Glücklicherweise war Buck gut in Form. Er steckte alle seine Sachen in seine Tasche und verkürzte den Träger, sodass er sie dicht an seinem Körper tragen konnte, ohne dass sie hin- und herschwang. Mit frischem Mut machte er sich auf den Weg. Doch drei Stunden später taten ihm seine Füße weh. Er war sicher, Blasen zu haben, und sein Nacken und seine Schultern schmerzten unter den scheuernden Riemen der Tasche. Seine 117
Kleider waren nass geschwitzt, und es war aussichtslos, zu seiner Wohnung zu kommen, ohne vorher im Büro vorbeizuschauen. »Oh Gott, hilf mir«, keuchte Buck, eher als Seufzer und nicht als Gebet gemeint. Doch wenn es einen Gott gab, so hatte er auf jeden Fall Sinn für Humor. Vor ihm stand gegen eine Ziegelmauer gelehnt ein gelbes Fahrrad, auf dem ein Schild befestigt war. Darauf stand: »Leihen Sie sich dieses Fahrrad aus. Fahren Sie damit, wohin Sie wollen. Dann lassen Sie es für jemand anderen stehen.« So etwas gibt es nur in New York, dachte er. Niemand stiehlt etwas, das umsonst ist. Er überlegte, ob er ein Dankgebet sprechen sollte, doch irgendwie sah die Welt so aus, als gäbe es keine weiteren Wohltaten des Schöpfers. Er stieg auf das Fahrrad, und ihm wurde klar, wie lange er nicht mehr mit einem solchen Fahrzeug gefahren war. Es dauerte eine Weile, bis er sein Gleichgewicht gefunden hatte. Schließlich gelangte er in die Innenstadt, vorbei an dem Gewirr von Autowracks und Bergungsarbeitern. Nur wenige andere kamen so gut voran wie er – Kuriere auf Fahrrädern, zwei weitere Leute auf einem gelben Fahrrad wie seines, und berittene Polizisten. Die Sicherheitsvorschriften im Gebäude des Global Weekly waren verschärft worden, was ihn nicht überraschte. Nachdem er sich einem neuen Pförtner ausgewiesen hatte, fuhr er in den siebenundzwanzigsten Stock hoch, ging zuerst zu den Toiletten, um sich frisch zu machen, und betrat schließlich die Büroräume der Zeitschrift. Die Empfangsdame meldete ihn Steve Plank sofort an, und sowohl Steve als auch Marge Potter eilten ihm entgegen, um ihn zu umarmen und willkommen zu heißen. Buck Williams wurde von einem seltsamen, neuen Gefühl überrascht. Er war den Tränen nahe. Ihm wurde klar, dass er wie alle anderen ein Trauma durchlebte, das zweifellos auch 118
auf ihn seine Auswirkungen hatte. Doch irgendwie war es, als wurde er nach Hause kommen, nach einer Reise, die ihn viel Geld und Mühe gekostet hatte. Er war wieder mit Leuten zusammen, die ihn mochten. Das war seine Familie. Er war sehr, sehr froh, sie zu sehen, und es hatte den Anschein, als beruhe dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit. Er biss sich auf die Unterlippe, um aus seiner düsteren Stimmung herauszufinden, und während er Steve und Marge den Flur entlang zu Steves geräumigem Büro und Konferenzraum folgte, fragte er, ob sie von Lucinda Washington gehört hätten. Marge blieb abrupt stehen und barg ihr Gesicht in den Händen. »Ja«, brachte sie mühsam heraus, »und ich möchte das nicht noch einmal erleben. Wir haben einige verloren. Wo fängt die Trauer an und wo hört sie auf?« Nun verlor auch Buck die Fassung. Er konnte nicht mehr so tun als ob, obwohl er vermutlich selbst am meisten über seine Empfindsamkeit staunte. Steve legte den Arm um seine Sekretärin und führte sie und Buck in sein Büro, wo andere Mitarbeiter des Stabes warteten. Buck wurde freudig begrüßt. Diese Menschen, mit denen er gearbeitet, gekämpft, über die er sich geärgert und die er ausgestochen hatte, schienen nun ehrlich froh zu sein, ihn zu sehen. Sie konnten sich nicht vorstellen, wie es in ihm aussah. »Junge, tut das gut, wieder hier zu sein«, sagte er, setzte sich und barg das Gesicht in den Händen. Er begann zu zittern, und er konnte sich nicht mehr länger gegen die Tränen zur Wehr setzen. Dort vor allen seinen Kollegen und Mitstreitern begann er zu schluchzen. Er versuchte, die Tränen fortzuwischen und seine Fassung wiederzugewinnen, doch als er mit einem gezwungenen Lächeln aufblickte, bemerkte er, dass auch alle anderen mit ihren Emotionen zu kämpfen hatten. »Das ist schon in Ordnung, Bucky«, sagte einer. »Wenn dies das erste Mal ist, dass du weinst, so wirst du feststellen, dass es bestimmt nicht das letzte 119
Mal sein wird. Wir alle sind genauso verängstigt und vom Schmerz wie betäubt wie du.« »Ja«, sagte ein anderer, »doch sein persönlicher Bericht wird zweifellos sehr viel interessanter sein.« Woraufhin alle umso mehr lachten und weinten. Rayford zwang sich am frühen Nachmittag, das Pan-ConFlugzentrum anzurufen. Er erfuhr, dass er sich am Freitag für einen Flug einfinden sollte. »Wirklich?«, fragte er. »Rechnen Sie nicht damit, dass Sie tatsächlich fliegen müssen«, sagte man ihm. »Es wird nicht erwartet, dass dann schon viele Flugzeuge starten. Sicherlich wird vor morgen Abend keines starten, vielleicht nicht einmal dann.« »Besteht die Möglichkeit, dass der Flug abgesetzt wird, bevor ich von hier losfahre?« »Es ist sogar wahrscheinlich, aber das ist Ihre Aufgabe für den Augenblick.« »Welche Route?« »ORD nach BOS und dann nach JFK.« »Hmm. Chicago, Boston, New York. Wann zurück?« »Samstagabend.« »Gut.« »Warum? Haben Sie eine Verabredung?« »Das ist nicht lustig.« »Oh, verflixt, es tut mir Leid, Captain. Ich habe vergessen, mit wem ich spreche.« »Wissen Sie über meine Familie Bescheid?« »Alle hier wissen es. Es tut uns Leid. Wir haben es von der Stewardess gehört, die Sie auf dem abgebrochenen Flug nach Heathrow begleitet hat. Sie wissen über die Sache mit dem Ersten Offizier Bescheid, nicht wahr?« »Ich habe etwas gehört, aber keine offizielle Bestätigung bekommen.« »Was haben Sie gehört?« 120
»Dass es Selbstmord war.« »Richtig. Schrecklich, nicht?« »Können Sie etwas für mich herausfinden?« »Wenn es in meiner Macht steht, Captain.« »Meine Tochter versucht, von Kalifornien herzukommen.« »Das ist unwahrscheinlich.« »Ich weiß, doch sie ist bereits unterwegs. Zumindest versucht sie es. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie mit der Pan fliegen. Können Sie herausfinden, ob sie in irgendeiner der Maschinen sitzt, die vom Westen hereinkommen?« »Dürfte nicht schwierig sein. Es sind überaus wenige, und Sie wissen ja, dass keine von ihnen hier landen wird.« »Was ist mit Milwaukee?« »Glaube ich nicht.« Er gab etwas in seinen Computer ein. »Von wo wird sie kommen?« »Aus der Nähe von Palo Alto.« »Nicht gut.« »Warum?« »Weil dort nur wenige Maschinen starten. Lassen Sie mich sehen.« Rayford hörte, wie der Mann mit sich selbst sprach, Dinge ausprobierte, Möglichkeiten vorschlug. »Mit der Air California nach Utah. Hey! Habe sie gefunden! Name Chloe und Ihr Nachname?« »Das ist sie!« »Sie hat in Palo Alto eingecheckt. Pan hat sie in einen Bus zu irgendeinem entlegenen Flughafen gesetzt. Sie flog mit der Air California nach Salt Lake City. Ich wette, dass die Maschinen dieser Fluggesellschaft zum ersten Mal aus ihrem Heimatstaat herauskommen. Dann ist sie in eine Maschine der Pan-Con, eines der alten Modelle, umgestiegen, die sie nach, äh, oh Mann, nach Enid, Oklahoma, brachte.« »Nach Enid? Das liegt doch gar nicht auf unserer Route.« »Das ist kein Witz. Da Dallas überfüllt ist, werden sie überrannt. Auf jeden Fall fliegt sie von Ozark nach Springfield, 121
Illinois.« »Nach Ozark!« »Ich habe dort gearbeitet, Cap.« »Na ja, jemand scheint die Sache am Laufen zu halten, nicht?« »Ja, und die gute Nachricht ist, dass wir eine Turboprop oder zwei dort haben, die sie herbringen kann, allerdings ist nicht klar, wo sie landen wird. Vielleicht erscheint das auch nicht auf diesem Schirm, weil sie erst genaue Anweisungen bekommen, wenn sie ganz in der Nähe sind.« »Wie werde ich erfahren, wo ich sie abholen kann?« »Vielleicht gar nicht. Ich bin sicher, dass sie anruft, wenn sie gelandet ist. Wer weiß, vielleicht kommt sie einfach an.« »Das wäre schön.« »Es tut mir Leid, Sir, dass Sie so viel durchmachen müssen, aber Sie können froh sein, dass Ihre Tochter nicht in dem Flugzeug der Pan-Con gesessen hat, das direkt von Palo Alto gestartet ist. Es ist gestern Abend abgestürzt. Keine Überlebenden.« »Und das passierte nach dem Verschwinden der Menschen?« »Erst gestern Abend. Es besteht keinerlei Zusammenhang.« »Das wäre wirklich noch der letzte Schlag gewesen«, sagte Rayford. »Da haben Sie Recht.«
8 Als die anderen Journalisten und Redakteure in ihre Büros zurückgingen, schlug Steve Plank vor, dass Buck Williams nach Hause gehen sollte, um sich für die Konferenz auszuruhen, die um acht Uhr am Abend stattfinden sollte. »Ich würde das lieber jetzt hinter mich bringen und dann für heute nach Hause gehen.« 122
»Ich weiß«, erwiderte der Chefredakteur, »doch wir haben viel zu tun, und ich möchte, dass du heute Abend ausgeruht bist.« Buck zögerte noch immer. »Wann kann ich nach London fliegen?« »Was willst du denn da?« Buck informierte Steve, er habe einen Tipp über ein Treffen zwischen einem wichtigen amerikanischen Finanzmann und seinen internationalen Kollegen bekommen, bei dem ein aufstrebender europäischer Politiker vorgestellt werden sollte. »Oh Mann, Buck«, meinte Steve, »das haben wir doch schon hinter uns. Du meinst Carpathia.« Buck war verblüfft. »Tatsächlich?« »Rosenzweig war doch so beeindruckt von ihm.« »Ja, aber du glaubst, er sei derjenige, von dem mein Informant –« »Mann, du bist wirklich nicht auf dem Laufenden«, unterbrach ihn Steve. »Das ist keine große Sache. Der Finanzmann muss Jonathan Stonagal sein, der ihn zu sponsorn scheint. Ich habe dir doch erzählt, dass Carpathia vor der UNO sprechen wird, oder?« »Dann ist er also der neue rumänische Botschafter bei der UNO?«, fragte Buck. »Wohl kaum.« »Was denn?« »Er ist Präsident des Landes.« »Wurde nicht gerade erst, vor achtzehn Monaten, ein neues Staatsoberhaupt gewählt?«, fragte Buck und erinnerte sich an Dirks Tipp, dass vollkommen überraschend ein neuer Führer kommen würde. »Hat ziemlichen Aufruhr dort gegeben«, sagte Steve. »Das sollte unbedingt überprüft werden.« »Das werde ich.« »Ich meine nicht dich. Ich glaube wirklich nicht, dass das 123
eine gute Story abgibt. Der Bursche ist jung und dynamisch und so, charmant und überzeugend, soweit ich gehört habe. Ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, der seine Schäfchen ins Trockene gebracht hat, als sich der rumänische Markt vor Jahren dem Westen geöffnet hat. Doch letzte Woche war er noch nicht einmal in ihrem Senat. Er hatte nur einen Sitz im Unterhaus.« »Im Abgeordnetenhaus«, sagte Buck. »Woher weißt du das?« Buck grinste. »Das hat Rosenzweig mir gesagt.« »Einen Augenblick lang dachte ich, du würdest wirklich alles wissen. Das erzählt man sich hier von dir.« »Welch ein Verbrechen.« »Aber du spielst deine Rolle mit solcher Bescheidenheit.« »So bin ich eben. Sag mal, Steve, warum meinst du nicht, dass es wichtig sei, wenn ein Bursche wie Carpathia aus dem Nichts den Präsidenten von Rumänien entthront?« »Er ist nicht gerade aus dem Nichts gekommen. Seine Geschäfte wurden mit Stonagal-Mitteln finanziert. Und Carpathia hat sich für die Abrüstung eingesetzt, war bei seinen Kollegen und dem Volk sehr beliebt.« »Aber Abrüstung passt doch nicht in Stonagals Konzept. Ist er nicht ein rücksichtsloser Geschäftsmann?« Plank nickte. »Es gibt also Geheimnisse.« »Einige, aber Buck, was könnte größer sein als die Story, hinter der du gerade her bist. Du hast keine Zeit, dich mit einem Burschen abzugeben, der Präsident eines strategisch unwichtigen Landes wird.« »Es steckt mehr dahinter, Steve. Mein Mann in London gibt mir Tipps. Carpathia steht in Verbindung mit dem einflussreichsten Nichtpolitiker in der Welt. Ohne eine öffentliche Wahl wird er Präsident des Landes.« »Und …« 124
»Noch mehr? Ließ er den amtierenden Präsidenten etwa töten oder so etwas?« »Interessant, dass du das sagst, da der einzige dunkle Fleck in Carpathias Geschichte einige Gerüchte sind, er sei vor einigen Jahren sehr rücksichtslos mit seiner geschäftlichen Konkurrenz umgegangen.« »Wie rücksichtslos?« »Menschen haben ins Gras gebissen.« »Oh, Steve, du redest wie ein Gangster.« »Und höre, der vorherige Präsident hat freiwillig für Carpathia seinen Platz geräumt. Er hat auf dessen Einsetzung bestanden.« »Und du sagst, diese Story gebe nichts her?« »Das ist wie die alten südamerikanischen Staatsstreiche, Buck. Jede Woche ein neuer. Große Sache. Carpathia ist Stonagal also verpflichtet. Das bedeutet doch nur, dass Stonagal in der Finanzwelt eines osteuropäischen Landes freie Bahn hat, das der Meinung ist, die Vernichtung Russlands sei das Beste, das ihm je passieren konnte.« »Aber Steve, das ist so, wie wenn ein Frischling im Kongress auf einmal Präsident der Vereinigten Staaten würde in einem Jahr, in dem keine Wahlen anstehen. Der Präsident dankt einfach ab, und alle sind glücklich.« »Nein, nein, nein, da ist ein großer Unterschied. Wir sprechen hier von Rumänien, Buck. Von Rumänien. Ein strategisch unwichtiges Land, das nie ein anderes angegriffen hat, nie der strategische Verbündete eines anderen Landes geworden ist. Dort gibt es nichts außer unwichtiger Innenpolitik.« »Trotzdem riecht das nach einer großen Sache«, meinte Buck. »Rosenzweig hatte eine hohe Meinung von diesem Burschen, und er ist ein sehr aufmerksamer Beobachter. Jetzt spricht Carpathia vor den Vereinten Nationen. Und was als Nächstes?« »Du vergisst, dass er schon vor den Vereinten Nationen spre125
chen sollte, bevor er Präsident von Rumänien wurde.« »Das ist genauso erstaunlich. Er war doch ein Niemand.« »Er ist ein Neuling im Bereich der Abrüstung. Er wird seine Rede halten, seine fünfzehn Minuten des öffentlichen Interesses genießen. Glaub mir, danach wirst du nie wieder von ihm hören.« »Bestimmt steckt Stonagal auch hinter dieser Geschichte mit den Vereinten Nationen«, vermutete Buck. »Du weißt doch, dass Diamanten-John ein persönlicher Freund unseres Botschafters ist.« »Stonagal ist ein persönlicher Freund eines jeden offiziell gewählten Vertreters, vom Präsidenten bis hin zu den Bürgermeistern der mittelgroßen Städte, Buck. Was soll’s also? Er weiß, wie das Spiel funktioniert. Er erinnert mich an den alten Joe Kennedy oder einen der Rockefellers. Was hast du also?« »Mich stört, dass Carpathia auf Grund von Stonagals Einfluss vor den Vereinten Nationen spricht.« »Vermutlich. Aber was soll’s?« »Er hat etwas vor.« »Stonagal hat immer irgendetwas vor. Ist immer bereit für seine Projekte. Okay, er hat einen Geschäftsmann in die rumänische Politik gebracht, ihn vielleicht sogar als Präsidenten eingesetzt. Wer weiß, vielleicht hat er ihm sogar diese kleine Unterredung mit Rosenzweig verschafft, die nichts gebracht hat. Und jetzt verschafft er ihm ein kleines internationales Forum. So etwas tun Burschen wie Stonagal andauernd. Möchtest du lieber einer solchen Geschichte hinterherrennen, als einen Leitartikel zusammenzustellen, der sich mit den Hintergründen dieses tragischsten Phänomens der Weltgeschichte beschäftigt?« »Hmm, darüber muss ich nachdenken«, sagte Buck lächelnd, während Plank ihn in die Seite boxte. »Mann, manchmal jagst du wirklich Kaninchenschwänzen hinterher«, meinte der Chefredakteur. 126
»Mein Instinkt hat dir früher gefallen.« »Das ist immer noch so, doch im Augenblick leidest du ein wenig unter Schlafmangel.« »Dann fliege ich also nicht nach London? Ich muss meinem Informanten Bescheid geben.« »Marge hat versucht, den Burschen zu erreichen, der dich am Flugzeug abholen sollte. Sie kann dir auch sagen, wie du durchkommst und so. Aber sei bitte um acht Uhr wieder hier. Alle Redakteure der verschiedenen Ressorts, die an den verschiedenen, noch in diesem Monat stattfindenden internationalen Konferenzen interessiert sind, werden da sein. Du wirst den Leitartikel zusammenschustern, damit …« »Damit sie mich alle bei ein und derselben Konferenz hassen können?«, fragte Buck. »Sie werden sich wichtig fühlen.« »Aber ist es wirklich wichtig? Du willst, dass ich Carpathia ignoriere, dafür soll ich mich mit, was war es noch gleich, einer ökumenisch religiösen Konferenz und einer Konferenz zur Einsetzung einer einzigen Weltwährung herumschlagen?« »Du leidest wirklich unter Schlafmangel, nicht? Darum bin ich immer noch dein Boss. Begreifst du es denn nicht? Ja, ich möchte Koordination, und ich möchte einen sauberen Artikel. Aber denk daran, das verschafft dir automatisch Zugang zu allen diesen Würdenträgern. Wir sprechen von jüdisch nationalistischen Führern, die an einer Weltregierung interessiert sind …« »Unwahrscheinlich und wenig attraktiv.« »… von orthodoxen Juden aus der ganzen Welt, die den Tempel wieder aufbauen wollen, und …« »Ich werde von Juden überrannt.« »… internationalen Finanzgrößen, die den Weg für eine Weltwährung ebnen wollen …« »Ebenso unwahrscheinlich.« »Aber das wird es dir ermöglichen, deinen Lieblingsbroker 127
im Auge zu behalten …« »Stonagal.« »Richtig, und die Oberhäupter verschiedener religiöser Gruppen, die international kooperieren wollen.« »Das wird mich zu Tode langweilen. Diese Leute sprechen über Unmöglichkeiten.« »Du hast es immer noch nicht begriffen, Buck. Du wirst Zugang zu all diesen Menschen haben – aus Religion, Finanzwelt und Politik –, während du versuchst, die Hintergründe über das aufzudecken, was passiert ist und warum es passiert ist. Du wirst die Gedankengänge der größten Denker und die unterschiedlichsten Standpunkte kennen lernen.« Buck zuckte ergeben die Achseln. »Der Punkt geht an dich. Doch ich bin immer noch der Meinung, dass die Redakteure sauer auf mich sein werden.« »Was ist mit deiner Unbeirrbarkeit?« »Ich will aber immer noch versuchen, Carpathia zu kriegen.« »Das wird nicht schwierig sein. Er ist bereits Medienliebling in Europa. Nur zu gern bereit zu reden.« »Und Stonagal.« »Du weißt, dass er niemals mit der Presse spricht, Buck.« »Ich liebe die Herausforderung.« »Geh nach Hause und schlaf dich aus. Wir sehen uns um acht.« Marge wollte gerade gehen, als Buck ins Zimmer trat. »Ach ja«, sagte sie, legte ihre Sachen ab und blätterte in ihrem Notizbuch. »Ich habe mehrmals versucht, Dirk Burton anzurufen. Einmal bin ich zu seinem Anrufbeantworter durchgedrungen und habe ihm eine Nachricht hinterlassen. Bisher aber noch keine Bestätigung erhalten. In Ordnung?« »Danke.« Buck war nicht sicher, ob er zu Hause Schlaf finden würde. Zu vieles ging ihm im Kopf herum. Als er aus dem Gebäude 128
auf die Straße trat, war er angenehm überrascht festzustellen, dass die Vertreter der verschiedenen Taxiunternehmen vor dem Bürogebäude standen und die Leute auf die Taxen verteilt wurden, die die verschiedenen Bezirke anfuhren. Natürlich zu Extrapreisen. Für dreißig Dollar in einem Gemeinschaftstaxi wurde Buck zwei Straßen von seinem Appartement entfernt abgesetzt. Bereits in drei Stunden würde er sich wieder im Büro einfinden müssen, darum verabredete er mit dem Taxifahrer, dass er um halb acht an derselben Stelle auf ihn warten sollte. Wenn das klappen würde, wäre es sicher ein Wunder. Bisher hatte er noch mit keinem Taxifahrer eine solche Vereinbarung getroffen, und er konnte sich auch nicht erinnern, denselben Taxifahrer zweimal gesehen zu haben. Rayford ging unruhig hin und her. Er fühlte sich elend. Er kam zu der schmerzlichen Erkenntnis, dass dies die schlimmste Zeit seines Lebens war. Noch nie hatte er so etwas erlebt. Seine Eltern waren älter gewesen als die Eltern seiner Freunde. Als innerhalb von zwei Jahren beide starben, war dies eine Erleichterung gewesen. Es war ihnen nicht gut gegangen. Er liebte sie, und sie waren ihm keine Last, doch für ihn waren sie schon Jahre vorher gestorben, als sie einen Schlaganfall und andere Krankheiten bekommen hatten. Als sie dann tatsächlich starben, hatte Rayford auf seine Art getrauert, doch im Grunde genommen war er nur sentimental gewesen. Er hatte gute Erinnerungen an sie, er schätzte die Freundlichkeit und Anteilnahme, die er bei ihrer Beerdigung erfuhr, doch dann war sein Leben weitergegangen. Der Rest seines Lebens war ohne Komplikationen und ohne große Schwierigkeiten verlaufen. Durch seinen Beruf als Pilot war er in eine andere, hoch bezahlte berufliche Ebene aufgestiegen. Er musste intelligent und diszipliniert sein, er hatte etwas geschafft. In der üblichen Weise hatte er die Ränge durchlaufen – Militärreservedienst, kleinere Flugzeuge, dann 129
größere, schließlich Jagdflugzeuge und Jets. Er hatte es bis ganz nach oben geschafft. Irene hatte er beim Training Corps für Reserveoffiziere im College kennen gelernt. Sie war ein Kind der Armee gewesen, das sich nie aufgelehnt hatte. Viele ihrer Leidensgenossinnen hatten sich vom Militärleben abgewendet und wollten sich nicht einmal mehr dazu bekennen. Ihr Vater war in Vietnam gefallen, und ihre Mutter hatte noch einmal geheiratet, wieder einen Soldaten. Irene hatte also fast jede Militärbasis in den Vereinigten Staaten entweder gesehen oder sogar eine Zeit lang dort gewohnt. Sie heirateten, als Rayford sein letztes Jahr im College absolvierte und Irene im zweiten Jahr studierte. Als er zum Militär ging, brach sie ihr Studium ab. Seither war alles nach Plan verlaufen. Im ersten Jahr ihrer Ehe bekamen sie Chloe, doch da es bei der Geburt Komplikationen gegeben hatte, warteten sie weitere acht Jahre, bis sie ein zweites Kind bekamen. Rayford war von beiden Kindern begeistert, doch er musste zugeben, dass er sich einen Jungen gewünscht hatte, der seinen Namen trug. Unglücklicherweise kam Raymie zu einem für Rayford sehr ungünstigen Zeitpunkt. Er war dreißig und fühlte sich älter, und es gefiel ihm überhaupt nicht, eine schwangere Frau zu haben. Wegen seines frühzeitig ergrauten Haares hielten ihn viele für älter und witzelten über den alten Vater. Die Schwangerschaft verlief nicht unproblematisch für Irene, und Raymie kam einige Wochen zu spät auf die Welt. Chloe war eine sehr lebhafte Achtjährige, darum klinkte sich Rayford so gut es ging aus dem Familienleben aus. Irene, so glaubte er, war in dieser Zeit in eine leichte Depression verfallen und ungeduldig und weinerlich gewesen. In seinem Beruf war Rayford angesehen, man hörte auf ihn und bewunderte ihn. Er wurde für die größten, neusten und kompliziertesten Flugzeuge der Pan-Continental eingeteilt. Sein 130
Arbeitsleben verlief sehr zufrieden stellend, doch nach Hause ging er nicht gern. Während jener Zeit hatte er mehr getrunken als jemals zuvor, und ihre Ehe geriet in eine sehr ernste Krise. Immer wieder kam er zu spät nach Hause, und manchmal manipulierte er seinen Dienstplan so, dass er früh aus dem Haus gehen und erst spät nach Hause kommen konnte. Irene warf ihm vor, alle möglichen Affären zu haben, und da sie Unrecht hatte, leugnete er sehr nachdrücklich und, wie er meinte, mit gerechtfertigtem Zorn. Die Wahrheit jedoch war, dass er genau das suchte, wessen sie ihn beschuldigte. Was ihn so frustrierte, war die Tatsache, dass er sich trotz seines guten Aussehens und Auftretens einfach nicht überwinden konnte, ernst zu machen. Es war einfach nicht sein Stil. Eine Stewardess hatte ihn einmal ein hohes Tier genannt, doch er fühlte sich eher wie ein Dummkopf, ein Eierkopf. Während er auf eine altmodische Affäre hoffte und mit dem Gedanken daran spielte, konnte er sich doch nicht überwinden, so tief zu sinken und für Sex zu bezahlen. Wenn Irene gewusst hätte, dass er versuchte, ihr untreu zu sein, hätte sie ihn vermutlich verlassen. Und so hatte er sich vor Raymies Geburt bei dieser Weihnachtsparty auf etwas eingelassen, an das er sich kaum noch erinnern konnte, weil er so betrunken gewesen war. Die Schuldgefühle und die Tatsache, dass er sein Image beinahe ruiniert hätte, veranlassten ihn dazu, mit dem Trinken aufzuhören. Raymies Geburt ernüchterte ihn noch mehr. Es war an der Zeit, erwachsen zu werden und seine Verantwortung als Ehemann und Vater so zu übernehmen, wie er es in seinem Beruf bereits tat. Doch nun, während Rayford alle diese Erinnerungen durch den schmerzenden Kopf gingen, empfand er tiefstes Bedauern und Reue. Er fühlte sich als Versager. Er hatte Irene nicht 131
verdient gehabt. Irgendwie wusste er jetzt, obwohl er sich das nie zuvor eingestanden hatte, dass sie gar nicht so naiv und dumm gewesen sein konnte, wie er sie eingeschätzt hatte. Sie hatte wissen müssen, wie schal und oberflächlich er war, und, ja, auch wie billig. Und doch war sie bei ihm geblieben, hatte ihn geliebt und hart darum gekämpft, die Ehe zusammenzuhalten. Er konnte nicht bestreiten, dass sie ein anderer Mensch geworden war, seit sie die Gemeinde gewechselt und mit ihrem Glauben ernst gemacht hatte. Sicher, sie hatte ihn zuerst angepredigt. Sie war begeistert und wollte, dass auch er entdeckte, was sie gefunden hatte. Er rannte davon. Schließlich hatte sie entweder aufgegeben oder sich in die Tatsache gefügt, dass er nicht mitkommen würde, so viel sie auch bettelte oder schmeichelte. Doch ihre Liste zeigte ihm, dass sie ihn nie aufgegeben hatte. Sie hatte sich nur damit begnügt, für ihn zu beten. Kein Wunder, dass Rayford auch nicht annähernd dazu gekommen war, Irene mit Hattie Durham zu betrügen. Hattie! Wie schämte er sich nun seiner dummen Schwärmerei! Soweit er wusste, war Hattie unschuldig. Sie hatte nie etwas Schlechtes über seine Frau gesagt oder über die Tatsache, dass er verheiratet war. Sie hatte nie irgendetwas Unangemessenes vorgeschlagen. Junge Menschen suchten die Berührung und flirteten gern, und sie berief sich ja auf keinen moralischen oder religiösen Ehrenkodex. Dass Rayford mit dem Gedanken gespielt hatte, mit Hattie etwas anzufangen, wusste sie vielleicht nicht einmal, doch trotzdem fühlte er sich lächerlich. Wo kamen diese Schuldgefühle nur her? Mehrmals hatte er Hattie tief in die Augen geblickt, und sie hatten auch in verschiedenen Städten stundenlang zusammengesessen. Aber sie hatte ihn nie auf ihr Zimmer eingeladen oder versucht, ihn zu küssen oder auch nur seine Hand zu halten. Vielleicht hätte sie reagiert, wenn er den ersten Schritt getan hätte. Sie hätte aber 132
genauso gut beleidigt und enttäuscht gewesen sein können. Rayford schüttelte den Kopf. Er fühlte sich nicht nur schuldig, dass er eine Frau begehrt hatte, die nicht die seine war, er wusste nicht einmal, wie er sie hätte erobern können. Und nun durchlebte er die dunkelsten Stunden seines Lebens. Er machte sich Sorgen um Chloe. Er wollte sie bei sich haben, in Sicherheit, und hoffte, dass die Nähe seines eigenen Fleisch und Blutes seinen Schmerz irgendwie lindern konnte. Er war wieder hungrig, doch er konnte sich nicht überwinden, etwas zu essen. Sogar die leckeren Kekse, die er sich einteilen musste, erinnerten ihn schmerzlich an Irene. Vielleicht morgen. Rayford stellte das Fernsehgerät an, nicht aus Interesse daran, mehr von dem Chaos auf der Welt zu sehen, sondern mit der Hoffnung zu sehen, dass allmählich wieder Ruhe und Ordnung zurückkehrten. Doch nach einer Weile stellte er es wieder ab, da immer nur dasselbe gezeigt wurde. Er verwarf den Gedanken, O’Hare anzurufen, um nachzufragen, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass er zum Flughafen durchkommen und seinen Wagen holen konnte, weil er die Leitung freihalten wollte für den Fall, dass Chloe anrief. Es war Stunden her, seit er erfahren hatte, dass sie Palo Alto verlassen hatte. Wie lange würde es dauern, bis sie auf den vielen verrückten Umwegen endlich einen Ozark-Flug von Springfield in die Nähe von Chicago bekam? Ihm fiel der älteste Witz in der Flugindustrie ein: Ozark rückwärts geschrieben heißt »Krazo«, und das bedeutet so viel wie »verrückt«. Aber in diesem Augenblick konnte er nicht darüber lachen. Als das Telefon läutete, sprang er auf. Doch es war nicht Chloe. »Es tut mir Leid, Captain«, sagte Hattie, »ich habe versprochen zurückzurufen, doch nach dem Anruf bin ich eingeschlafen und erst jetzt wieder aufgewacht.« »Das ist schon in Ordnung, Hattie. Ich muss nur …« »Ich meine, ich wollte Sie in einer Zeit wie dieser nicht stören.« 133
»Nein, das ist in Ordnung, ich will nur …« »Haben Sie mit Chloe gesprochen?« »Ich erwarte jeden Augenblick ihren Anruf, darum muss ich jetzt wirklich auflegen!« Rayford war kürzer gewesen, als er beabsichtigt hatte, und Hattie schwieg eine Weile. »Gut, in Ordnung. Es tut mir Leid.« »Ich rufe Sie an, Hattie. Okay?« »Okay.« Sie hatte verletzt geklungen. Das tat ihm Leid, doch es tat ihm nicht Leid, dass er sie für den Augenblick losgeworden war. Er wusste, dass sie nur versuchte, zu helfen und freundlich zu sein, aber sie hatte nicht zugehört. Sie war genauso allein und ängstlich wie er, und zweifellos hatte sie mittlerweile von ihrer Familie gehört. Oh nein! Er hatte nicht einmal nach ihr gefragt! Das würde sie ihm bestimmt übel nehmen, und sie hatte auch Grund dazu. Wie konnte ich nur so total auf mich fixiert sein?, fragte er sich. Obwohl er es kaum erwarten konnte, etwas von Chloe zu hören, musste er es riskieren, Hattie noch einmal anzurufen, doch ihre Leitung war besetzt. Zu Hause versuchte Buck sofort, Dirk Burton in London zu erreichen. Er bekam eine verwirrende Antwort. Dirks Anrufbeantworter spulte die übliche Nachricht ab, doch sobald der Pfeifton zu hören gewesen war, kam ein längerer Pfeifton, der darauf schließen ließ, dass das Band voll war. Seltsam. Entweder verschlief Dirk das Ganze, oder … Buck hatte nie in Betracht gezogen, dass Dirk vielleicht auch verschwunden sein konnte. Neben der Tatsache, dass Buck Millionen Fragen zu Stonagal, Carpathia, Todd-Cothran und dem ganzen Phänomen hatte, war Dirk auch einer seiner besten Freunde aus Princeton. Oh bitte, lass es einen Zufall sein, dachte er. Lass ihn auf Reisen sein. Sobald Buck aufgehängt hatte, klingelte sein Telefon. Es war 134
ausgerechnet Hattie Durham. Sie weinte. »Es tut mir Leid, Sie zu stören, Mr Williams, und ich hatte mir auch geschworen, niemals Ihre Privatnummer anzurufen …« »Das ist schon in Ordnung, Hattie. Was ist los?« »Nun, es ist wirklich dumm, aber ich habe gerade etwas erlebt, und ich habe niemanden, mit dem ich darüber sprechen kann. Meine Mutter und meine Schwestern konnte ich nicht erreichen, und nun, ich dachte, dass Sie mich vielleicht verstehen.« »Versuchen Sie es.« Sie erzählte Buck von ihrem Telefonat mit Captain Steele und erklärte ihm zuerst, wer Steele war, dass er seine Frau und seinen Sohn verloren hatte, und dass sie ihn nicht sofort zurückgerufen hatte, als sie die gute Nachricht über ihre Familie von Buck bekommen hatte. »Und dann hat er das Telefongespräch einfach beendet, weil er einen Anruf von seiner Tochter erwartete.« »Das kann ich verstehen«, sagte Buck vorsichtig und verdrehte die Augen. Wie kam er nur in diesen Club der einsamen Herzen? Hatte sie denn keine Freundinnen, bei denen sie abladen konnte? »Ich auch«, sagte sie. »Das ist es ja. Und ich weiß, dass er trauert, weil seine Frau und sein Sohn tot sind, doch er wusste, dass ich wegen meiner Familie wie auf heißen Kohlen saß, und er hat nicht einmal gefragt.« »Nun, ich bin sicher, schuld daran ist die Spannung, die Trauer, wie Sie sagen, und …« »Ach, ich weiß es ja. Ich wollte nur einmal mit jemandem darüber sprechen, und da habe ich an Sie gedacht.« »Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung«, log Buck. Oh Junge, dachte er. Ganz bestimmt steht auf der nächsten Visitenkarte meine Privatnummer nicht mehr. »Hören Sie, ich denke, wir machen jetzt Schluss. Heute Abend habe ich noch eine Sitzung, und …« 135
»Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.« »Ich verstehe Sie ja«, sagte er, obwohl er bezweifelte, dass das je der Fall sein würde. Vielleicht zeigte Hattie mehr Tiefgang und Verstand, wenn sie nicht unter Stress stand. Er hoffte es. Rayford war froh, dass bei Hattie besetzt war, weil er dann sagen konnte, dass er zurückgerufen hatte und so seine Leitung frei blieb. Eine Minute später klingelte sein Telefon erneut. »Captain, ich bin es noch einmal. Es tut mir Leid, ich werde Sie auch nicht lange aufhalten, aber ich dachte, dass Sie vielleicht versucht haben, mich anzurufen, und bei mir war besetzt, darum …« »Das habe ich tatsächlich, Hattie. Was haben Sie über Ihre Familie herausgefunden?« »Es geht ihnen gut.« Sie weinte. »Oh, Gott sei Dank«, sagte er. Rayford fragte sich, was in ihn gefahren war. Er sagte, er freute sich für sie, obwohl er doch zu der Schlussfolgerung gekommen war, dass diejenigen, die nicht verschwunden waren, das größte Ereignis der kosmischen Geschichte versäumt hatten. Aber sollte er vielleicht sagen: Oh, es tut mir Leid, dass auch Ihre Familie zurückgelassen wurde? Als Rayford den Hörer auflegte, blieb er mit dem nagenden Gefühl, diesmal ganz bestimmt Chloes Anruf verpasst zu haben, neben dem Telefon sitzen. Das machte ihn verrückt. Sein Magen knurrte, und er wusste, er sollte etwas essen, doch er hatte beschlossen, so lange wie möglich auszuhalten, damit er dann mit Chloe essen konnte, wenn sie kam. So wie er sie kannte, hatte sie bestimmt noch nichts gegessen.
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9 Bucks unterbewusstes Wecksystem versagte an diesem Abend, und erst um 20.45 Uhr fand er sich zerzaust und voller Entschuldigungen in Steve Planks Büro ein. Er hatte Recht gehabt. Er spürte die Verärgerung der Redakteure. Juan Ortiz, der Verantwortliche für die Abteilung »Internationale Politik«, war wütend, dass Buck etwas mit der Gipfelkonferenz zu tun haben sollte, über die er in zwei Wochen berichten wollte. »Die jüdischen Nationalisten sprechen über ein Thema, mit dem ich mich schon seit Jahren beschäftige. Wer hätte gedacht, dass sie sich langsam für eine Weltregierung erwärmen? Dass sie überhaupt eine Diskussion darüber führen? Sie treffen sich hier und nicht in Jerusalem oder Tel Aviv, weil ihre Idee so revolutionär ist. Die meisten Nationalisten denken, das Heilige Land sei mit seiner Großzügigkeit bereits zu weit gegangen. Das ist ein historisches Ereignis.« »Wo liegt dann dein Problem?«, fragte Plank. »Dass ich unseren Spitzenmann auf den Leitartikel angesetzt habe?« »Weil ich in dieser Geschichte dein Top-Mann bin.« »Ich versuche, den Sinn hinter allen diesen Konferenzen zu sehen«, erklärte Plank. Jimmy Borland, der Redakteur für Religionsfragen, ergriff nun das Wort. »Ich habe zwei Konferenzen zur selben Zeit. Ich freue mich über die Hilfe.« »Jetzt kommen wir doch weiter«, meinte Plank. »Aber ich will offen sein, Buck«, fügte Borland hinzu. »Ich möchte bei dem Artikel ein Wort mitzureden haben.« »Natürlich«, sagte Plank. »Nicht so schnell«, wandte Buck ein. »Ich will hier nicht wie ein gewöhnlicher Reporter behandelt werden. Ich werde mit allen diesen Konferenzen nach meinem eigenen Stil verfahren, und ich versuche auch nicht, in euer Territorium einzudringen. Die Artikel zu den einzelnen Konferenzen würde ich gar nicht 137
schreiben wollen. Ich möchte sie alle unter einen Hut bringen, die Bedeutung suchen, den gemeinsamen Nenner. Jimmy, deine beiden Gruppen – die religiösen Juden, die den Tempel wieder aufbauen wollen, und die Vertreter der Ökumene, die die Einführung einer Weltreligion anstreben – werden sie aufeinander losgehen? Wird es religiöse Juden …« »Orthodoxe.« »In Ordnung, also orthodoxe Juden bei der ökumenischen Konferenz geben? Weil das nämlich dem Bestreben, den Tempel wieder auf zu bauen, zuwiderlaufen würde.« »Nun, wenigstens denkst du wie ein Redakteur für Religionsfragen«, sagte Jimmy. »Das ist ermutigend.« »Und was meinst du?« »Ich weiß es nicht. Das macht die Sache ja so interessant. Dass sie sich zur selben Zeit in derselben Stadt treffen, ist zu schön, um wahr zu sein.« Die Redakteurin für Finanzangelegenheiten Barbara Donnahue brachte die Diskussion zum Abschluss. »Ich habe schon häufiger mit dir über solche Bestrebungen gesprochen, Steve«, sagte sie, »und ich schätze die Art, wie du jeden dazu bringst, seine Gefühle herauszulassen, ohne sich unter Druck gesetzt zu fühlen. Doch wir alle wissen, dass du entschlossen bist, Buck mit einzubeziehen, darum werden wir unsere Wunden lecken und es hinnehmen. Wenn jeder von uns ein Wort in der Reportage seiner Abteilung mitzusprechen hat und Anteil an der Berichterstattung hat, dann wollen wir uns damit abfinden.« Sogar Ortiz nickte, obwohl Buck noch etwas zögernd zu sein schien. »Buck ist der Mittelstürmer, also bleibt mit ihm in Verbindung. Er wird mir berichten. Möchtest du noch etwas sagen, Buck?« »Einfach nur, vielen Dank«, sagte er kläglich. Alle lachten. »Barbara, deine Finanzgrößen treffen sich doch in der UNO, nicht wahr, genau wie damals, als das Dreier-Währungssystem 138
eingeführt wurde?« Sie nickte. »Derselbe Ort und ziemlich dieselben Leute.« »Inwieweit ist Jonathan Stonagal daran beteiligt?« »Offen, meinst du?«, fragte sie. »Nun, alle wissen, dass er sehr vorsichtig ist. Aber gibt es Einfluss von seiner Seite?« »Hat eine Ente Lippen?« Buck lächelte und machte sich eine Notiz. »Ich werte das als ›Ja‹. Ich würde mich gern ein wenig mit ihm beschäftigen, vielleicht sogar versuchen, mit Diamanten-John zu sprechen.« »Viel Glück. Vermutlich wird er nicht einmal sein Gesicht zeigen.« »Aber er wird doch in der Stadt sein, nicht wahr, Barbara? Hat er beim letzten Mal nicht im Plaza gewohnt?« »Du hast deine Nase wirklich überall drin …!«, meinte sie. »Nun, er hat doch jeden Tag jeden der führenden Leute auf sein Zimmer kommen lassen.« Juan Ortiz hob die Hand. »Ich finde mich damit ab, und ich habe auch nichts gegen dich persönlich, Buck. Aber ich glaube nicht, dass es möglich ist, diese Story zu koordinieren, ohne einige Verbindungen zu erfinden. Ich meine, wenn du einen Spezialartikel schreiben willst, in dem von vier wichtigen Konferenzen die Rede ist, die alle zur selben Zeit in New York stattfinden, in Ordnung. Aber einen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen dürfte doch etwas schwierig sein.« »Ich finde, wenn sie nicht miteinander im Zusammenhang stünden, würde es gar keinen Gesamtartikel geben«, meinte Buck. »Fair genug?« Rayford war außer sich vor Sorge und Trauer. Wo blieb nur Chloe? Er hatte den ganzen Tag das Haus nicht verlassen, war nervös auf und ab gegangen, hatte getrauert, nachgedacht. Er fühlte sich ausgelaugt und eingeengt. Er hatte die PanContinental angerufen, und man hatte ihm gesagt, dass er 139
seinen Wagen vermutlich mitnehmen könnte, wenn er von seinem Wochenendflug zurückkäme. Die Nachrichten im Fernsehen berichteten von den guten Fortschritten bei der Räumung der Straßen und den Bemühungen, die Transportwege wieder frei zu bekommen. Aber die Auswirkungen der Katastrophe würden noch Monate zu sehen sein. Es gab keinen Platz mehr für die Wracks, darum würden sie einfach an den Seiten der Autobahnen und Schnellstraßen aufgestapelt. Erst nach Stünden könnte sich Rayford überwinden, in der Gemeinde seiner Frau anzurufen, und er war dankbar, dass er mit niemandem würde sprechen müssen. Wie er gehofft hatte, war eine neue Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen worden, von einer männlichen, tonlosen Stimme, der man die Fassungslosigkeit anhörte. »Sie haben die Nummer der New Hope Village Church gewählt. Wir planen eine wöchentliche Bibelstunde, doch im Augenblick werden wir uns nur sonntags um zehn Uhr versammeln. Da unser gesamtes Personal außer mir und die meisten unserer Gemeindemitglieder fort sind, werden wir, die wir übrig geblieben sind, das Gemeindegebäude unterhalten und ein Videoband verteilen, das unser Pastor für eine Zeit wie diese vorbereitet hat. Sie können jederzeit im Gemeindebüro vorbeischauen und sich kostenlos ein Exemplar abholen, und wir freuen uns darauf, Sie am Sonntagmorgen begrüßen zu können.« Natürlich, dachte Rayford, dieser Pastor hatte häufig von der Entrückung der Gemeinde gesprochen. Darura war dieses Thema Irene auch so wichtig. Was für eine Idee, eine Nachricht aufzuzeichnen für jene, die zurückgeblieben waren! Er und Chloe würden am folgenden Tag dorthin gehen. Er hoffte, dass sie genauso interessiert daran war wie er, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. 140
Rayford blickte durch das Fenster in die Dunkelheit und entdeckte Chloe mit einem großen Koffer in der Hand, die gerade einen Taxifahrer bezahlte. Auf Strümpfen rannte er aus dem Haus und nahm sie in die Arme. »Oh Daddy!«, schluchzte sie. »Wie geht es den anderen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, sag es nicht!«, schrie sie. Sie löste sich aus seiner Umarmung und blickte zum Haus, als erwarte sie, dass ihre Mutter und ihr Bruder in der Tür erschienen. »Nur wir beide sind übrig geblieben, Chloe«, sagte Rayford, und weinend standen sie in der Dunkelheit. Erst am Freitag war Buck Williams in der Lage, Dirk Burton aufzuspüren. Er erreichte Dirk Burtons Abteilungsleiter in der Börse. »Sie müssen mir genau sagen, in welcher Beziehung Sie zu Mr Burton gestanden haben, bevor ich Ihnen eine Auskunft geben kann«, begann Nigel Leonard. »Außerdem muss ich Ihnen sagen, dass unsere Unterhaltung mitgeschnitten wird, ab sofort.« »Wie bitte?« »Ich nehme unsere Unterhaltung auf, Sir. Wenn das ein Problem für Sie ist, können Sie ja auflegen.« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.« »Was gibt es da zu folgen? Sie haben verstanden, dass ich ein Band mitlaufen lasse, ja?« »Natürlich, und ich stelle meines jetzt auch an, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Ich habe aber etwas dagegen, Mr Williams. Warum um alles in der Welt sollten Sie ein Band mitlaufen lassen?« »Warum Sie?« »Wir stecken in einer höchst unglücklichen Situation, und wir müssen allen Spuren nachgehen.« »Welche Situation? Gehört Dirk zu denjenigen, die verschwunden sind?« »Nein, so sauber ist es leider nicht, fürchte ich.« 141
»Sagen Sie mir, was los ist.« »Zuerst möchte ich wissen, warum Sie fragen.« »Ich bin ein alter Freund. Wir haben zusammen studiert.« »Wo?« »In Princeton.« »Gut. Wann?« Buck erzählte es ihm. »Sehr gut. Wann haben Sie zuletzt mit ihm gesprochen?« »Das weiß ich nicht genau, okay? Wir haben uns Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.« »Welchen Beruf haben Sie?« Buck zögerte. »Ich bin Journalist beim Global Weekly, New York.« »Ist Ihr Interesse beruflich bedingt?« »Das möchte ich nicht ausschließen«, antwortete Buck und versuchte, seine Verärgerung nicht durchkommen zu lassen, »aber ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Freund, so wichtig er für mich auch ist, für meine Leser von irgendeinem Interesse wäre.« »Mr Williams«, sagte Nigel vorsichtig, »erlauben Sie mir, kategorisch zu sagen, für beide Bänder, dass das, was ich jetzt sage, streng vertraulich ist. Verstehen Sie?« »Ich …« »Weil ich nämlich weiß, dass sowohl in Ihrem Land als auch im Britischen Commonwealth alles, was ausdrücklich als ›nicht für die Öffentlichkeit‹ bestimmt ausgewiesen wird, geschützt ist.« »Gewährt«, versicherte Buck. »Wie bitte?« »Sie haben mich verstanden. Gewährt. Es wird nicht aufgezeichnet. Also, wo ist Dirk?« »Mr Burtons Leiche wurde heute Morgen in seiner Wohnung entdeckt. Er starb an einer Schusswunde in den Kopf. Es tut mir Leid, dass Sie sein Freund waren, aber es wurde Selbstmord festgestellt.« Buck war sprachlos. »Von wem?«, brachte er mühsam heraus. 142
»Von den Behörden.« »Von welchen Behörden?« »Scotland Yard und dem Sicherheitspersonal hier an der Börse.« Scotland Yard?, dachte Buck. Darum werden wir uns noch kümmern. »Was hat die Börse damit zu tun?« »Wir schützen unsere Informationen und unser Personal, Sir.« »Selbstmord ist ausgeschlossen, das wissen Sie«, sagte Buck. »So?« »Wenn Sie sein Vorgesetzter sind, wissen Sie es.« »Nach dem Verschwinden der vielen Menschen hat es zahllose Selbstmorde gegeben, Sir.« Buck schüttelte seinen Kopf, als ob Nigel auf der anderen Seite des Atlantiks ihn sehen könnte. »Dirk hat sich nicht selbst getötet, und Sie wissen es.« »Sir, ich kann Ihre Gefühle verstehen, aber ich weiß nicht mehr als Sie, was in Mr Burton vorgegangen ist. Ich war ihm sehr zugetan, doch ich bin nicht in der Position, dass ich die Schlussfolgerung des Pathologen in Frage stellen könnte.« Buck knallte den Hörer auf und marschierte in Steve Planks Büro. Er erzählte Steve, was er gehört hatte. »Das ist schrecklich«, meinte Steve. »Ich habe einen Kontaktmann bei Scotland Yard, der Dirk kannte, doch ich wage nicht, telefonisch mit ihm zu sprechen. Kann Marge mir den nächsten Flug nach London buchen? Ich werde rechtzeitig für diese Gipfelkonferenzen wieder zurück sein, aber ich muss hin.« »Du kannst fliegen. Ich weiß sogar, dass JFK wieder offen ist.« »Wie steht’s mit La Guardia?« »Frag Marge. Aber du weißt, dass Carpathia morgen herkommen wird?« »Du hast doch selbst gesagt, dass er ein kleiner Fisch ist. Vielleicht ist er noch da, wenn ich zurückkomme.« 143
Rayford Steele war nicht in der Lage gewesen, seine trauernde Tochter dazu zu überreden, das Haus zu verlassen. Chloe hatte Stunden in dem Zimmer ihres kleinen Bruders verbracht und dann im Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie war ihre Sachen durchgegangen und hatte der Schachtel mit Erinnerungsstücken weitere Dinge hinzugefügt. Sie tat Rayford so Leid. Insgeheim hatte er gehofft, dass sie ihm ein Trost sein würde. Das würde sie auch sicher irgendwann sein. Doch im Augenblick brauchte sie Zeit, mit dem Verlust fertig zu werden. Nachdem sie sich ausgeweint hatte, war sie bereit zu reden. Und nachdem sie in Erinnerungen geschwelgt hatte, bis Rayford es kaum noch ertragen konnte, kam sie auf das Phänomen des großen Massenverschwindens zu sprechen. »Daddy, in Kalifornien glauben die Leute tatsächlich an eine Invasion aus dem All.« »Du machst Witze.« »Nein. Vielleicht kann ich mich dieser Theorie nicht anschließen, weil du uns der Sensationspresse gegenüber immer eine kritische Einstellung beigebracht hast. Ich meine, das Ganze muss eine übernatürliche, außerweltliche Ursache haben, aber …« »Aber was?« »Wenn eine fremde Macht in der Lage gewesen ist, das zu tun, muss sie auch fähig sein, mit uns zu kommunizieren. Wollen sie uns nun auch noch entführen, Lösegeld fordern oder uns zwingen, etwas für sie zu tun?« »Wer? Die Marsmenschen?« »Daddy! Ich sage ja nicht, dass ich daran glaube. Ich tue es nicht. Aber ist meine Argumentation nicht logisch?« »Du brauchst mich nicht zu überzeugen. Ich gebe zu, ich hätte so etwas vor einer Woche auch nicht für möglich gehalten, aber meine Logik ist bis aufs Äußerste strapaziert worden.« Rayford hoffte, Chloe würde ihn nach seiner Theorie fragen. 144
Er wollte nicht sofort mit dem religiösen Thema anfangen. Sie hatte dem immer ablehnend gegenübergestanden. Als Irene und er es aufgegeben hatten, sich mit ihr über den Gottesdienstbesuch auseinander zu setzen, hatte sie aufgehört, in die Kirche zu gehen. Sie hatte die High School besucht und war eigentlich ein gutes Kind gewesen. Nie hatte sie Schwierigkeiten gemacht, immer so gute Zensuren nach Hause gebracht, dass sie ein Teilstipendium bekam, und obwohl sie abends gelegentlich lange fort blieb und in der High School auch eine Zeit lang verrückt nach Jungen gewesen war, brauchten sie sie doch noch nie aus dem Gefängnis zu holen, und es gab auch nie Anzeichen dafür, dass sie Drogen nahm. Rayford und Irene wussten, dass Chloe von mehr als einer Party so betrunken nach Hause gekommen war, dass sie sich die ganze Nacht übergeben musste. Das erste Mal beschlossen er und Irene, es zu ignorieren, so zu tun, als sei nichts gewesen. Sie hielten sie für vernünftig genug, das nächste Mal vorsichtiger zu sein. Doch als es wieder passierte, hatte Rayford ein ernstes Wort mit ihr gesprochen. »Ich weiß, ich weiß, ich weiß, okay, Dad? Du brauchst gar nicht erst auf mir rumzuhacken.« »Ich hacke nicht auf dir rum. Ich möchte dir nur noch einmal klar machen, wie gefährlich es ist, Auto zu fahren, wenn man getrunken hat.« »Das weiß ich.« »Und du weißt auch, wie dumm und gefährlich es ist, zu viel zu trinken?« »Ich dachte, du würdest nicht auf mir rumhacken wollen.« »Sag mir nur, dass du das weißt.« »Ich denke, das habe ich bereits getan.« Er hatte den Kopf geschüttelt und geschwiegen. »Daddy, gib’s doch auf. Lass mich doch endlich mal los. Da kannst du mir zeigen, dass ich dir was wert bin.« »Mach dich nicht lustig über mich«, hatte er geantwortet. 145
»Eines Tages wirst du selbst ein Kind haben, und du wirst auch nicht wissen, was du sagen oder tun sollst. Wenn du jemanden von ganzem Herzen liebst, dann liegt dir nichts mehr am Herzen als sein Wohl …« Rayford war nicht in der Lage gewesen, weiterzusprechen. Zum ersten Mal, seit er erwachsen war, war er von Schluchzen geschüttelt worden. Wenn er mit Irene gestritten hatte, war das nie passiert. Er war immer zu sehr darauf bedacht gewesen, sich zu verteidigen, Punkte zu machen, damit sie darüber nachdenken konnte, wie sehr er sie liebte. Aber bei Chloe wollte er um alles in der Welt das Richtige sagen; er wollte sie vor sich selbst schützen. Er wollte sie wirklich wissen lassen, wie sehr er sie liebte; aber es lief alles schief. Er wirkte belehrend, maßregelnd, herablassend. Darum wusste er nicht mehr weiter. Obwohl er das nicht geplant hatte, war dieser ungewollte Gefühlsausbruch zu Chloe durchgedrungen. Seit Monaten hatte sie sich von ihm entfernt, von beiden Elternteilen. Sie war finster, kalt, sarkastisch und provozierend gewesen. Er wusste, dass all das zum Erwachsenwerden dazugehörte, doch es war trotzdem eine schmerzliche und sorgenvolle Zeit. Während er sich auf die Lippe biss und tief durchatmete, um seine Fassung wiederzugewinnen, war Chloe auf ihn zugeeilt und hatte genau wie früher ihre Arme um seinen Hals geschlungen. »Oh Daddy, bitte weine nicht«, hatte sie gesagt. »Ich weiß doch, dass du mich liebst. Ich weiß, dass ich dir viel bedeute. Mach dir um mich keine Gedanken. Ich habe meine Lektion gelernt und werde mich nicht wieder so dumm verhalten, ich verspreche es.« Er hatte seinen Tränen freien Lauf gelassen, genau wie sie. Er konnte sich nicht erinnern, ihr jemals wieder wegen ihres Verhaltens Vorhaltungen gemacht zu haben. Doch in die Kirche war sie nicht wieder mitgekommen. Stattdessen hatte er selbst begonnen, den Gottesdienstbesuch zu vernachlässigen. 146
Sie waren gute Kameraden geworden, und sie hatte ihn immer besonders gemocht. Irene hatte ihn öfter damit aufgezogen, dass ihre Kinder jeweils ein Lieblingselternteil hatten. Und nun, nur Tage nach dem Verschwinden von Irene und Raymie, hoffte Rayford, dass die Beziehung, die damals, als Chloe noch die High School besuchte, eigentlich in einem sehr gefühlsgeladenen Augenblick begonnen hatte, sich weiterentwickelt hatte, damit sie jetzt miteinander reden konnten. Denn was war wichtiger als das, was sich ereignet hatte? Er wusste, was ihre verrückten Collegekommilitonen und die typischen Kalifornier dachten. Das war doch nichts Neues. Er hatte immer gesagt, dass die Leute an der Westküste der Sensationspresse genauso viel Gewicht beimaßen wie die Leute aus dem Mittelwesten der Chicago Tribune oder gar der New York Times. Am Spätnachmittag des Freitags kamen Rayford und Chloe widerstrebend überein, dass sie etwas essen sollten. Sie arbeiteten gemeinsam in der Küche und bereiteten eine gesunde Mahlzeit aus Früchten und Gemüse zu. Das gemeinsame Arbeiten mit ihr hatte etwas Beruhigendes und Heilendes, wenn es andererseits auch schmerzlich war, weil alle Hausarbeit ihn an Irene erinnerte. Als sie sich an den Tisch setzten, um zu essen, setzten sie sich automatisch an ihre üblichen Plätze an jedem Ende des Tisches – wodurch die beiden freien Plätze besonders ins Auge fielen. Rayford bemerkte, dass Chloes Gesicht sich wieder verfinsterte, und er wusste, dass sie genau dasselbe empfand wie er. Es war noch nicht so lange her, dass sie als Familie drei oder vier gemeinsame Mahlzeiten am Tag eingenommen hatten. Irene hatte immer links von ihm gesessen, Raymie rechts und Chloe ihm gegenüber. Die Leere und Stille waren beinahe unerträglich. Rayford war ausgehungert und verspeiste eine große Portion 147
Salat. Chloe legte, kaum dass sie mit dem Essen begonnen hatte, ihr Besteck wieder beiseite und weinte mit gesenktem Kopf still vor sich hin. Ihr Vater nahm sie bei der Hand, und sie erhob sich, setzte sich auf seinen Schoß, barg ihr Gesicht an seiner Schulter und schluchzte. Sie tat ihm in der Seele Leid. Rayford wiegte sie leicht hin und her, bis sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte. »Wo sind sie?«, jammerte sie schließlich. »Willst du wissen, wo sie meiner Meinung nach sind?«, sagte er. »Willst du das wirklich wissen?« »Natürlich!« »Ich denke, sie sind im Himmel.« »Oh, Daddy! Bei uns auf dem College gab es auch ein paar religiöse Verrückte, die das gesagt haben, aber wenn sie so gut darüber Bescheid wissen, warum sind sie dann nicht auch fort?« »Vielleicht ist ihnen klar geworden, dass sie falsch lagen und ihre Gelegenheit verpasst haben.« »Du meinst, so wie wir?«, sagte Chloe und kehrte zu ihrem Platz zurück. »Ich fürchte, ja. Hat deine Mutter dir nicht erzählt, dass sie daran glaubt, dass Jesus eines Tages wiederkommen wird, um sein Volk in den Himmel zu holen?« »Sicher, sie war etwas religiöser als wir anderen. Ich dachte, sie sei nur ein wenig abgehoben.« »Gute Wortwahl.« »Wie bitte?« »Sie ist tatsächlich weggetragen worden, und Raymie auch.« »Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?« »Doch.« »Das ist genauso verrückt wie die Theorie von der Invasion der Marsmenschen.« Rayford verspürte den Drang, sich zu verteidigen. »Welches ist denn deine Theorie?« Chloe begann, den Tisch abzuräumen und drehte ihm den 148
Rücken zu. »Ich bin ehrlich genug einzugestehen, dass ich es nicht weiß.« »Und ich bin nicht ehrlich?« Chloe wendete sich ihm zu. Mitleidig blickte sie ihn an. »Verstehst du denn nicht, Dad? Du hast bei der am wenigsten schmerzvollen Möglichkeit Zuflucht gesucht. Wenn ich zu wählen hätte, würde ich auch sagen, dass meine Mom und mein kleiner Bruder bei Gott im Himmel sind, auf ihrer Wolke sitzen und Harfe spielen.« »Du meinst also, ich würde mir selbst etwas vormachen?« »Daddy, ich mache dir doch keine Vorwürfe. Aber du musst zugeben, dass das ziemlich weit hergeholt ist.« Jetzt würde Rayford ärgerlich. »Was ist denn weiter hergeholt, als dass Menschen aus ihren Kleidern verschwinden? Wer sonst hätte so etwas tun können? Vor Jahren hätten wir die Sowjets dafür verantwortlich gemacht, hätten wir behauptet, sie hätten eine neue Technologie entwickelt, irgendwelche tödlichen Strahlen, die nur menschliches Fleisch und Knochen vernichten. Aber es gibt keine sowjetische Bedrohung mehr, und auch bei den Russen sind Menschen verschwunden. Und wie bitte schön hat dieses … dieses was immer es war … entschieden, wen es nimmt und wer bleibt?« »Du sagst, die einzig logische Erklärung sei Gott, und er hat sein Volk genommen und uns andere zurückgelassen?« »Genau das sage ich.« »Das will ich nicht hören.« »Chloe, unsere Familie ist das perfekte Beispiel für das, was passiert ist. Wenn das, was ich sage, richtig ist, dann sind die beiden richtigen fort und die beiden richtigen zurückgeblieben.« »Du meinst, dass ich ein so großer Sünder bin?« »Chloe, hör mir zu. Was immer du bist, bin ich auch. Ich richte dich nicht. Wenn ich Recht habe mit meiner Vermutung, dann haben wir etwas verpasst. Ich habe mich immer einen 149
Christen genannt, aber vorwiegend deshalb, weil ich so und nicht jüdisch erzogen wurde.« »Und jetzt sagst du, dass du kein Christ bist?« »Chloe, ich denke, die Christen sind alle fort.« »Dann bin ich also auch kein Christ?« »Du bist meine Tochter und das einzige Mitglied meiner Familie, das noch übrig geblieben ist; ich liebe dich mehr als irgendetwas anderes auf der Welt. Aber wenn die Christen fort sind und alle anderen zurückgeblieben sind, dann denke ich, dass alle anderen keine Christen sind.« »Du meinst, so eine Art Superchrist.« »Ja, ein wirklicher Christ. Offensichtlich hat Gott jene, die fortgenommen wurden, als sein wirkliches Volk anerkannt. Wie anders kann man es ausdrücken?« »Daddy, was ist dieser Gott? Ein kranker, sadistischer Diktator?« »Vorsicht, Liebes. Du meinst, ich hätte Unrecht. Aber wenn ich nun doch Recht habe?« »Dann ist Gott verachtungswürdig, hassenswert, gemein. Wer will zu einem solchen Gott in den Himmel kommen?« »Wenn deine Mom und Raymie dort sind, dann möchte ich auch dorthin.« »Ich möchte auch wieder mit ihnen zusammen sein, Daddy! Aber sag mir, wie dies in das Bild eines liebevollen, gnädigen Gottes passt. Als ich noch in die Kirche ging, wurde ich müde, davon zu hören, wie liebevoll Gott ist. Meine Gebete hat er nie erhört, und ich hatte auch nie das Gefühl, dass er mich kennt oder liebt. Und jetzt sagst du, dass ich Recht hatte. Dass er mich wirklich nicht kennt und liebt. Ich habe mich nicht qualifiziert, darum wurde ich zurückgelassen? Es wäre besser, wenn du darauf hoffen würdest, nicht Recht zu haben.« »Aber wenn ich nicht Recht habe, Chloe, wer hat denn dann Recht? Wo sind sie? Wo sind alle?« »Siehst du? Du hast dich auf diese Himmel-Theorie einge150
schossen, weil du dich dann besser fühlst. Aber ich fühle mich schlechter. Ich kaufe dir das nicht ab. Ich möchte das nicht einmal in Betracht ziehen.« Rayford ließ das Thema ruhen und ging ins Wohnzimmer, um fernzusehen. Der normale Programmablauf war in begrenztem Maß wieder aufgenommen worden, doch immer noch gab es auf irgendeinem Sender die neusten Nachrichten. Wieder fiel der ungewöhnliche Name des neuen rumänischen Präsidenten, von dem er neulich gelesen hatte. Carpathia. Er sollte am Samstag in New York auf La Guardia eintreffen und am Montagmorgen, vor seiner Rede vor den Vereinten Nationen, eine Pressekonferenz abgeben. La Guardia war also offen. Später am Abend sollte Rayford mit einer alten Maschine dorthin fliegen. Er rief die PanContinental in O’Hare an. »Ich bin froh, dass Sie anrufen«, meinte einer der Angestellten. »Ich wollte gerade selbst zum Hörer greifen. Ist Ihre Flugerlaubnis für die 757 auf dem neusten Stand?« »Nein. Früher habe ich sie regelmäßig geflogen, doch ich ziehe die 747 vor. Die 757 habe ich in diesem Jahr noch nicht geflogen.« »An diesem Wochenende fliegen keine anderen Maschinen nach Osten. Dann werden wir uns einen anderen Piloten suchen müssen. Und Sie müssen sehen, dass das schnell in Ordnung gebracht wird, damit wir flexibel sind.« »In Ordnung. Was steht als Nächstes für mich an?« »Möchten Sie einen Flug nach Atlanta und zurück am Montag?« »Auf einer …?« »747.« »Klingt gut. Können Sie mir sagen, ob noch Platz in der Maschine ist?« »Für wen?« »Ein Familienmitglied.« 151
»Ich werde nachsehen.« Rayford hörte, wie auf der Computertastatur herumgehämmert wurde. »Während ich nachsehe, äh, wir haben eine Anfrage von einem Crewmitglied, sie Ihrem nächsten Flug zuzuteilen, nur glaube ich, sie ging davon aus, dass Sie heute Abend fliegen, Logan-JFK und zurück.« »Um wen handelt es sich? Hattie Durham?« »Lassen Sie mich sehen. Richtig.« »Sie ist also Boston und New York zugeteilt?« »Ja, genau.« »Und ich nicht, damit ist diese Frage also geklärt, nicht?« »Ich denke schon. Haben Sie irgendwelche Wünsche in die eine oder andere Richtung?« »Wie bitte?« »Sie wird bestimmt wieder fragen. Haben Sie Einwände, dass sie einem Ihrer nächsten Flüge zugeteilt wird?« »Atlanta ist es doch sicher nicht, richtig? Das ist zu schnell.« »Richtig.« Rayford seufzte. »Ich schätze, ich habe keine Einwände. Nein, warten Sie. Wir lassen es einfach so kommen, wie es kommt.« »Ich kann Ihnen nicht folgen, Captain.« »Ich meine, wenn sie ganz normal meinem Flug zugeteilt wird, dann habe ich keine Einwände. Aber machen Sie keine Verrenkungen, um es möglich zu machen.« »Verstanden. Und bei Ihrem Flug nach Atlanta kann noch jemand mitfliegen. Name?« »Chloe Steele.« »Ich buche sie für die erste Klasse, aber wenn sie ausverkauft ist, das wissen Sie ja, muss ich sie herunterstufen.« Als Rayford den Hörer auflegte, platzte Chloe ins Zimmer. »Ich brauche heute nicht zu fliegen«, sagte er. »Ist das nun eine gute oder eine schlechte Nachricht?« »Ich bin erleichtert. Ich möchte noch mehr Zeit mit dir verbringen.« 152
»Nachdem ich mich dir gegenüber so verhalten habe? Ich dachte, du würdest mich am liebsten aus deinen Augen und deinen Gedanken verbannen.« »Chloe, wir können doch offen zueinander sein. Du bist meine Familie. Ich mag es überhaupt nicht, von dir fort zu müssen. Am Montag muss ich nach Atlanta und am gleichen Tag wieder zurückfliegen. Ich habe dich für die erste Klasse gebucht, wenn du mitkommen möchtest.« »Sicher.« »Und ich wünschte, du hättest nur eines nicht gesagt.« »Was denn?« »Dass du meine Theorie nicht einmal in Betracht ziehen möchtest. Dir haben meine Theorien immer gefallen. Ich habe nichts dagegen, wenn du sagst, du kannst dich ihr nicht anschließen. Ich weiß einfach nicht genug, sie so zu formulieren, dass sie logisch klingt. Aber deine Mutter hat davon gesprochen. Einmal hat sie mich sogar gewarnt, dass ich mich ernsthaft mit der Angelegenheit auseinander setzen sollte, falls ich nicht sicher wüsste, dass ich mit Christus gehen würde, wenn er wiederkommt.« »Aber das hast du nicht?« »Ich war mir sicher. Aber danach nicht mehr.« »Nun, Daddy, ich nehme das nicht auf die leichte Schulter. Ich kann es nur nicht akzeptieren, das ist alles.« »Das ist nur fair. Aber sag nicht, dass du es nicht einmal in Betracht ziehen würdest.« »Hast du denn die Theorie der Invasion aus dem All in Betracht gezogen?« »Das habe ich tatsächlich.« »Du? – Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Ich habe alles in Betracht gezogen. Es war ein so außergewöhnliches Ereignis.« »In Ordnung, wenn ich also zurücknehme, dass ich deine Theorie nicht einmal in Betracht ziehe, was bedeutet das dann? 153
Dass wir auf einmal religiöse Fanatiker werden, zur Kirche gehen, oder was? Und wer sagt, dass es nicht bereits zu spät ist? Wenn du Recht hast, haben wir unsere Chance vielleicht für immer verpasst.« »Das sollten wir herausfinden, meinst du nicht? Wir wollen das überprüfen, sehen, ob etwas dran ist. Und wenn es so ist, dann sollten wir uns nichts mehr wünschen als zu erfahren, ob es für uns noch eine Gelegenheit gibt, eines Tages bei Mom und Raymie zu sein.« Chloe schüttelte den Kopf. »Also, ich weiß nicht, Dad.« »Hör zu, ich habe in der Gemeinde angerufen, zu der deine Mutter gegangen ist.« »Ach du meine Güte.« Er erzählte ihr, was auf Band gesprochen war und von der Videokassette. »Dad! Eine Videokassette für die Zurückgelassenen? Also bitte!« »Du bist skeptisch, darum klingt das lächerlich in deinen Ohren. Ich sehe keine andere logische Erklärung, darum kann ich kaum erwarten, das Video abzuspielen.« »Du bist wirklich verzweifelt.« »Natürlich bin ich das! Du nicht?« »Ich fühle mich auch elend und habe Angst, aber ich bin nicht so verzweifelt, dass ich die Fähigkeit verliere, klar zu denken. Oh Daddy, es tut mir Leid. Sieh mich nicht so an. Ich mache dir doch keine Vorwürfe, dass du das überprüfst. Tu es nur, und mach dir um mich keine Gedanken.« »Willst du nicht mit mir gehen?« »Lieber nicht. Aber wenn du gern möchtest …« »Du kannst im Wagen warten.« »Das ist es nicht. Ich habe keine Angst davor, jemanden zu treffen, mit dem ich nicht einer Meinung bin.« »Wir werden morgen dorthin fahren«, sagte Rayford. Er war enttäuscht von ihrer Reaktion, doch nicht minder entschlossen, 154
die Sache durchzuziehen, genauso um ihretwillen wie auch um seinetwillen. Wenn er Recht hatte, wollte er nichts versäumen, was für seine Tochter wichtig sein könnte.
10 Cameron Williams zwang sich dazu, seinen und Dirk Burtons gemeinsamen Freund bei Scotland Yard vor seiner Abreise aus New York nicht anzurufen. Da die Kommunikation im Augenblick sehr schwierig war, vor allem nach dem seltsamen Gespräch mit Dirks Vorgesetztem, wollte er nicht riskieren, dass ihn jemand abhörte. Es wäre für ihn undenkbar, die Integrität seines Freundes bei Scotland Yard zu kompromittieren. Buck nahm seinen echten und einen gefälschten Pass mit, eine reine Vorsichtsmaßnahme, bestieg das Flugzeug am Freitagabend in La Guardia und kam am Samstagmorgen in Heathrow an. Er checkte im Tavistock Hotel ein und schlief bis zum Nachmittag. Dann machte er sich daran, die Wahrheit über Dirks Tod herauszufinden. Als Erstes rief er beim Yard an und fragte nach seinem Freund Alan Tompkins, einem Beamten im mittleren Dienst. Sie waren im selben Alter. Buck hatte Tompkins, einen dünnen, dunkelhaarigen und etwas unordentlich aussehenden Kriminalbeamten, für einen Artikel über britischen Terrorismus interviewt. Sie hatten sich auf Anhieb sehr sympathisch gefunden und zusammen mit Dirk einen Abend in einem Pub verbracht. Dirk, Alan und Buck waren Freunde geworden, und wann immer Buck in London war, kamen die drei zusammen. Er rief Tompkins an und sprach mit ihm wie mit einem Fremden. Er hoffte, Alan würde verstehen und nicht verraten, dass sie Freunde waren – für den Fall, dass die Leitung abgehört wurde. »Mr Tompkins, Sie kennen mich nicht, mein Name ist Came155
ron Williams vom Global Weekly.« Bevor Alan lachen und seinen Freund begrüßen konnte, fuhr Buck schnell fort. »Ich bin hier in London, um Material zu sammeln für einen Artikel über die internationale Finanzkonferenz bei den Vereinten Nationen.« Auf einmal klang Alan sehr ernst. »Wie kann ich Ihnen helfen, Sir? Was hat das mit Scotland Yard zu tun?« »Ich habe Schwierigkeiten, meinen Interviewpartner ausfindig zu machen, und ich vermute, dass irgendetwas nicht stimmt.« »Und wie ist der Name?« »Sein Name ist Burton. Dirk Burton. Er ist an der Börse beschäftigt.« »Ich werde das überprüfen und Sie zurückrufen.« Einige Minuten später klingelte Bucks Telefon. »Ja, hier spricht Tompkins vom Yard. Würden Sie so freundlich sein und einmal hier vorbeischauen?« Am Samstagmorgen telefonierte Rayford Steele in Mount Prospect, Illinois, erneut mit der New Hope Village Church. Dieses Mal meldete sich ein Mann. Rayford stellte sich als Mann eines ehemaligen Gemeindemitgliedes vor. »Ich kenne Sie, Sir«, sagte der Mann. »Wir sind uns einmal begegnet. Ich bin Bruce Barnes, der für die Besuche zuständige Pastor.« »Oh ja, hallo.« »Sie sagten, ehemaliges Gemeindemitglied. Ich nehme also an, dass Irene nicht mehr unter uns ist?« »Richtig, auch unser Sohn nicht.« »Ray Jr., nicht?« »Genau.« »Sie hatten doch auch noch eine ältere Tochter, nicht wahr, die nicht zur Gemeinde kam.« »Chloe.« »Und sie …?« 156
»Sie ist hier bei mir. Ich frage mich, was Sie von dem allen halten – so viele Menschen sind verschwunden. Treffen Sie sich denn immer noch? Ich weiß, dass am Sonntag ein Gottesdienst stattfindet, und dass Sie dieses Video anbieten.« »Nun, dann wissen Sie ja alles, Mr Steele. Fast alle Gemeindemitglieder und regelmäßigen Gottesdienstbesucher dieser Gemeinde sind fort. Ich bin der Einzige vom Personal, der noch zurückgeblieben ist. Ich habe einige Damen gebeten, mir im Büro auszuhelfen. Ich habe keine Ahnung, wie viele Leute am Sonntag kommen werden, aber ich würde mich freuen, Sie wieder zu sehen.« »Ich bin sehr an diesem Video interessiert.« »Ich würde es Ihnen gerne schon im Voraus geben. Am Sonntag werden wir darüber sprechen.« »Ich weiß nicht, wie ich meine Frage formulieren soll, Mr Barnes.« »Bruce.« »Bruce. Werden Sie am Sonntag lehren oder predigen oder was?« »Wir werden miteinander diskutieren. Ich werde das Band abspielen für alle, die es noch nicht gesehen haben, und dann werden wir darüber reden.« »Aber Sie … ich meine, wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Sie immer noch hier sind?« »Mr Steele, dafür gibt es nur eine Erklärung, und ich würde es vorziehen, mit Ihnen persönlich darüber zu sprechen. Wenn ich weiß, wann Sie kommen, um sich das Band abzuholen, werde ich ganz bestimmt hier sein.« Rayford sagte ihm, er und vielleicht auch Chloe würden am Nachmittag kommen. Alan Tompkins wartete in der Eingangshalle von Scotland Yard. Als Buck ankam, schüttelte Alan ihm formell die Hand und führte ihn zu einem heruntergekommenen Wagen, mit dem 157
er schnell zu einem finsteren Pub einige Meilen entfernt fuhr. »Lass uns erst reden, wenn wir da sind«, sagte Alan, der unablässig seinen Rückspiegel im Auge behielt. »Ich muss mich konzentrieren.« Buck hatte seinen Freund noch nie so aufgeregt, ja, auch ängstlich gesehen. Die beiden bestellten Ale und setzten sich in eine abgeschiedene Ecke. Alan rührte sein Bier nicht an. Buck, der seit dem Flug nichts mehr gegessen hatte, trank seinen Krug in einem Zug leer und nahm auch Alans Ale noch dazu. Als die Kellnerin kam, um die leeren Krüge zu holen, bestellte Buck ein Sandwich. Alan lehnte ab, und Buck, der seine Grenzen kannte, bestellte ein alkoholfreies Getränk. »Ich weiß, ich gieße Öl in die Flammen«, begann Alan, »aber ich muss dir sagen, das ist ein mieses Geschäft, und du tätest gut daran, dich so gut es geht herauszuhalten.« »Du hast vollkommen Recht, du gießt Öl auf das Feuer, das in mir brennt«, erwiderte Buck. »Was ist los?« »Nun, man spricht von Selbstmord, aber –« »Aber du und ich, wir wissen, dass das Blödsinn ist. Welche Hinweise gibt es? Bist du am Tatort gewesen?« »Ja. Schuss durch die Schläfe, Pistole in der Hand. Kein Abschiedsbrief.« »Fehlt irgendetwas?« »Ich hatte nicht den Eindruck, aber, Cameron, du weißt irgendetwas darüber.« »Nein!« »Komm schon, Mann. Dirk vertrat die Theorie einer Verschwörung, schnüffelte immer hinter Todd-Cothran und seinen Kontakten zu internationalen Finanzleuten her und beschäftigte sich mit seiner Rolle bei der Drei-Währungskonferenz, sogar mit seiner Verbindung zu eurem Stonagal.« »Alan, es gibt Bücher über diese Dinge. Die Leute machen es zu ihrem Hobby, der Tri-Lateralen-Kommission, den Illuminati, ja sogar den Freimaurern alles Mögliche Böse zuzuschreiben. 158
Dirk war der Meinung, Todd-Cothran und Stonagal gehörten zu etwas, das er den Rat der Zehn oder den Rat der Weisen nannte. Was soll’s? Das ist harmlos.« »Aber wenn man einen Angestellten hat, der zugegebenermaßen einige Ebenen unter dem Leiter der Börse steht und der versucht, seinen Chef mit Verschwörungstheorien in Verbindung zu bringen, dann hat er ein Problem.« Buck seufzte. »Dann wird er zur Ordnung gerufen, vielleicht entlassen. Aber sag mir, wieso man ihn töten oder zum Selbstmord treiben sollte.« »Ich werde dir etwas sagen, Cameron«, meinte Alan. »Ich weiß, dass er ermordet wurde.« »Nun, ich bin mir auch ziemlich sicher, dass es so war, weil ich meine, dass ich es mitbekommen hätte, wenn er selbstmordgefährdet gewesen wäre.« »Man versucht, es seiner Trauer über den Verlust geliebter Menschen beim großen Verschwinden zuzuschreiben, aber das funktioniert nicht. Soweit ich weiß, hat er niemanden verloren.« »Und du weißt, dass er ermordet wurde? Ziemlich starke Worte für einen Kriminalbeamten.« »Ich weiß es, weil ich ihn kannte, nicht weil ich Kriminalbeamter bin.« »Das wird nicht zählen«, sagte Buck. »Ich kann auch sagen, dass ich ihn kannte, und dass er bestimmt nicht Selbstmord begangen hätte, doch ich bin voreingenommen.« »Cameron, das ist so einfach, dass es ein Klischee wäre, wenn Dirk nicht unser Freund gewesen wäre. Worüber hat er sich immer lustig gemacht?« »Über eine Menge Dinge. Warum?« »Wir haben ihn immer geneckt, dass er ein grober Klotz ist.« »Ja. Und?« »Wenn er jetzt bei uns wäre, wo würde er dann sitzen?« Auf einmal dämmerte Buck, worauf Alan hinauswollte. »Er 159
würde links von uns sitzen, und er war ein solcher Klotz, weil er Linkshänder war.« »Der Schuss ging durch die rechte Schläfe, und die so genannte Selbstmordwaffe befand sich in seiner rechten Hand.« »Und was haben deine Chefs gesagt, als du ihnen sagtest, er sei Linkshänder gewesen und dass es sich um Mord handeln müsse?« »Du bist der Erste, dem ich das erzähle.« »Alan! Was willst du damit sagen?« »Ich will damit sagen, dass ich meine Familie liebe. Meine Eltern leben noch, und ich habe einen älteren Bruder und eine ältere Schwester. Ich habe eine geschiedene Frau, die ich immer noch mag. Ich hätte nichts dagegen, ihr selbst Saures zu geben, doch ganz bestimmt würde ich nicht wollen, dass irgendjemand ihr etwas antut.« »Wovor hast du Angst?« »Ich habe Angst vor demjenigen, wer immer das sein mag, der hinter Dirks Ermordung steckt.« »Aber du hast doch ganz Scotland Yard hinter dir, Mann! Du nennst dich selbst einen Gesetzeshüter und lässt so etwas durchgehen?« »Ja, und das wirst du auch tun!« »Ganz bestimmt nicht. Ich könnte nicht mehr in den Spiegel sehen.« »Unternimm etwas in dieser Angelegenheit, und du wirst gar nicht mehr in den Spiegel sehen können.« Buck winkte die Kellnerin herbei und bestellte chips. Sie brachte ihm eine aufgehäufte, fettige Masse. Das war genau, was er gewollt hatte. Das Ale hatte seine Wirkung nicht verfehlt, und das Sandwich hatte nicht ausgereicht, die Wirkung aufzufangen. Er fühlte sich ein wenig schwindelig, und er befürchtete, dass er vielleicht lange Zeit nicht mehr hungrig sein würde. »Ich höre«, flüsterte er. »Was versuchst du mir zu sagen? 160
Wer ist hinter dir her?« »Wenn du mir glaubst, wird dir das nicht gefallen.« »Ich habe keinen Grund, dir nicht zu glauben und was ich bisher mitbekommen habe, gefällt mir schon jetzt nicht. Und nun heraus mit der Sprache.« »Dirks Tod wurde wie ein Selbstmord hingestellt. Der Tatort wurde geräumt, die Leiche verbrannt. Ich habe eine Autopsie beantragt und wurde ausgelacht. Mein Vorgesetzter, Captain Sullivan, fragte mich, was ich mir denn von einer Autopsie versprechen würde. Ich sagte ihm: Abschürfungen, Kratzer, Zeichen eines Kampfes. Er fragte, ob ich der Meinung sei, dass ein Selbstmordkandidat zuerst mit sich selbst kämpfe, bevor er sich erschießen würde. Ich behielt mein Wissen für mich.« »Warum?« »Ich habe etwas gerochen.« »Wenn ich nun die Geschichte in eine internationale Zeitung bringen und auf die Ungereimtheiten hinweisen würde? Dann müsste doch etwas passieren.« »Man hat mich angewiesen, dich abzuwimmeln und dir zu raten zu vergessen, dass du jemals von diesem Selbstmord gehört hast.« Buck starrte ihn ungläubig an. »Niemand wusste, dass ich kommen würde.« »Ich glaube, das stimmt, doch jemand ging davon aus, dass du auftauchen könntest. Ich war nicht überrascht, dass du gekommen bist.« »Warum solltest du auch? Mein Freund ist tot, so wie es aussieht, durch eigene Hand gestorben. Ich konnte das doch nicht ignorieren.« »Du wirst das jetzt ignorieren.« »Du glaubst, ich würde ein Feigling werden, nur weil du es geworden bist?« »Cameron, du solltest mich doch besser kennen.« »Ich frage mich, ob ich dich überhaupt kenne! Ich dachte, wir 161
wären seelenverwandt. Wir haben uns für die Gerechtigkeit eingesetzt, Alan. Die Wahrheit gesucht. Ich bin Journalist, du Kriminalbeamter. Wir sind Skeptiker. Was soll dieses Davonrennen vor der Wahrheit, vor allem, wo es unseren Freund betrifft?« »Hast du mich nicht verstanden? Ich sagte, man hat mich angewiesen, dich abzuwimmeln, falls du auftauchen solltest.« »Warum hast du mich dann in den Yard kommen lassen?« »Ich wäre in Schwierigkeiten gekommen, wenn ich dich gewarnt hätte.« »Mit wem hättest du Ärger gekriegt?« »Ich dachte, du würdest nie fragen. Ich bekam Besuch von einem – wie ihr in Amerika sagen würdet – hohen Tier.« »Einem sehr hohen?« »Genau.« »Und er hat dich bedroht?« »Richtig. Er sagte, wenn ich nicht wollte, dass das, was meinem Freund passiert ist, mir oder meiner Familie zustößt, würde ich besser tun, was er verlangte. Ich fürchte, dieser Kerl hat auch Dirk auf dem Gewissen.« »Vermutlich. Und warum hast du nicht gemeldet, dass du bedroht worden bist?« »Ich wollte es. Ich begann, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Ich sagte ihm, er sollte sich um mich keine Gedanken machen. Am folgenden Tag ging ich zur Börse und bat um eine Unterredung mit Mr Todd-Cothran.« »Dem großen Boss?« »Höchstpersönlich. Ich hatte natürlich keinen Termin bei ihm, doch ich bestand darauf, es handle sich um eine Angelegenheit von Scotland Yard, und er hat mich tatsächlich empfangen. Sein Büro ist überwältigend. Ganz in Mahagoni und dunkelgrüne Vorhänge. Ich kam sofort zur Sache. Ich sagte: ›Sir, ich bin der Meinung, dass Sie einen Angestellten ermorden ließen.‹ Und genauso ruhig wie du jetzt bist, antwortete er: 162
›Ich sage dir was, Governor‹ – das ist bei uns ein in der Umgangssprache gebräuchlicher Ausdruck; in der Regel verwendet ihn eine Person seines Standes nicht, um jemanden wie mich anzusprechen. Wie auch immer, er sagte: ›Ich sage dir was, Governor, das nächste Mal, wenn dich jemand um zehn Uhr abends in deiner Wohnung besucht, wie das gestern der Fall gewesen ist, grüße ihn von mir, ja?«‹ »Was hast du geantwortet?« »Was konnte ich darauf antworten? Ich war verblüfft. Ich blickte ihn an und nickte. ›Und sag deinem Freund Williams, er soll sich aus dieser Sache heraushalten.‹ Ich antwortete: ›Williams?‹, als wüsste ich nicht, wovon er sprach. Er ignorierte das, weil er es natürlich besser wusste.« »Dann hat also jemand Dirks Anrufbeantworter abgehört.« »Ohne Frage. Und er sagte noch: ›Falls er überzeugt werden muss, sag ihm, ich sei Dad und Jeff gegenüber genauso voreingenommen wie er.‹ Ist das dein Bruder?« Buck nickte. »Und so hast du dich also zurückgezogen?« »Was konnte ich tun? Ich habe versucht, den Helden zu spielen. Ich sagte: ›Vielleicht habe ich diese Unterhaltung ja aufgezeichnet.‹ So cool wie nur etwas antwortete er: ›Das hätten die Detektoren festgestellt.‹ ›Ich habe ein gutes Gedächtnis, ich werde Sie anzeigen‹, sagte ich ihm. Er antwortete: ›Auf eigene Gefahr, Governor. Wer wird dir schon glauben, wenn mein Wort gegen deines steht? Nicht einmal Marianne würde dir glauben – abgesehen davon, dass sie dann sicher nicht mehr gesund genug ist, um zu begreifen, worum es geht.‹« »Marianne?« »Meine Schwester. Aber das ist nicht einmal die Hälfte. Als ob er noch einen oben drauf setzen müsste, rief er meinen Captain an. Er hatte sein Telefon auf Lautsprecher gestellt und sagte: ›Sullivan, falls einer Ihrer Männer in mein Büro kommen und mich wegen irgendetwas belästigen würde, was 163
könnte ich tun?‹ Und Sullivan, eines meiner Idole, klang wie ein kleines Baby. Er antwortete: ›Mr Todd-Cothran, Sir, tun Sie, was immer Sie tun müssen.‹ Und Todd-Cothran gab zurück: ›Und wenn ich ihn hier auf der Stelle töten müsste?‹ Und Sullivan sagte: ›Sir, ich bin sicher, es wäre eine zu rechtfertigende Tötung.‹ Das musst du dir mal vorstellen. ToddCothran fuhr fort, über das Telefon, wo er doch bestimmt wusste, dass im Yard alle Telefongespräche aufgezeichnet werden: ›Und wenn sein Name zufällig Alan Tompkins wäre?‹ Einfach so, als wäre das etwas ganz Natürliches. Und Sullivan erwiderte: ›Ich würde selbst herüberkommen und die Leiche abholen.‹ Nun, das musst du dir mal vorstellen.« »Du hast also niemanden, an den du dich wenden kannst.« »Niemanden.« »Und ich soll mich einfach so umdrehen und davonrennen.« Alan nickte. »Ich muss Todd-Cothran Bericht erstatten, dass ich die Botschaft überbracht habe. Er erwartet, dass du mit dem nächsten Flugzeug das Land verlässt.« »Und wenn ich das nicht tue?« »Keine Garantien, aber ich würde es nicht auf die Spitze treiben.« Buck schob die Teller beiseite und seinen Stuhl zurück. »Alan, du kennst mich nicht so besonders gut, aber du musst wissen, dass ich kein Mensch bin, der so etwas stillschweigend schluckt.« »Das habe ich befürchtet. Ich auch nicht, aber an wen kann ich mich wenden? Was kann ich tun? Glaubst du, dass man irgendjemandem irgendwo trauen kann? Wenn das Ganze beweist, dass Dirk Recht gehabt hat, dass er einer Geheimsache auf die Spur gekommen ist, in die Todd-Cothran verwickelt ist? Wo führt das hin? Und ist euer Stonagal daran beteiligt? Und was ist mit den anderen in dem internationalen Team der Finanzleute, mit denen sie sich treffen? Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht alle gekauft haben? Ich 164
habe früher Geschichten von euren Chicagoer Gangstern gelesen, die Polizisten, Richter und sogar Politiker geschmiert haben. Niemand konnte ihnen etwas.« Buck nickte. »Niemand konnte ihnen etwas anhaben außer denen, die sich nicht kaufen ließen.« »Die ›Unbestechlichen‹?« »Das waren meine Helden«, sagte Buck. »Meine auch«, gab Alan zurück. »Darum bin ich zur Kriminalpolizei gegangen. Aber wenn auch der Yard bereits verseucht ist, an wen kann ich mich wenden?« Buck stützte sein Kinn in die Hand. »Denkst du, dass wir beobachtet werden? Dass man uns gefolgt ist?« »Ich habe darauf geachtet. Soweit ich mitbekommen habe, nicht.« »Niemand weiß, wo wir jetzt sind?« »Ich habe auf Verfolger geachtet. Meiner Meinung nach sind wir hier unbeobachtet. Was hast du vor, Cameron?« »Offensichtlich kann ich hier herzlich wenig tun. Vielleicht fliege ich unter einem falschen Namen ab, damit es so aussieht, wen immer das interessiert, als sei ich halsstarrig und noch hier geblieben.« »Wozu?« »Möglich, dass ich Angst habe, Alan, aber ich werde nach meinem Rettungshaken suchen. Und irgendwie werde ich den Menschen finden, der den Mut hat zu helfen. Ich kenne dein Land nicht gut genug, um zu wissen, wem ich trauen kann. Natürlich traue ich dir, doch du kannst im Augenblick auch nichts tun.« »Bin ich schwach, Cameron? Denkst du, ich hätte eine andere Wahl?« Buck schüttelte den Kopf. »Ich kann es dir nachempfinden«, sagte er, »aber ich kann dir nicht sagen, was ich an deiner Stelle tun würde.« Die Kellnerin ging von Tisch zu Tisch und stellte den Leuten 165
eine Frage. Als sie an ihren Nachbartisch kam, hörten Buck und Alan auf zu reden. »Fährt einer von Ihnen einen hellgrünen Sedan? Jemand sagt, die Innenbeleuchtung würde brennen.« »Der gehört mir«, sagte Alan. »Ich kann mich gar nicht erinnern, das Innenlicht angemacht zu haben.« »Ich auch nicht«, meinte Buck, »aber als wir herkamen, war es draußen hell. Vielleicht ist es uns nicht aufgefallen.« »Ich sehe mal nach. Die alte Batterie kann das nicht verkraften.« »Vorsicht«, warnte Buck. »Pass auf, dass niemand daran rumgespielt hat.« »Das ist unwahrscheinlich.« Buck lehnte sich auf seinem Stuhl vor und sah Alan nach. Die Innenbeleuchtung des Wagens konnte vom Pub aus nicht gesehen werden. Alan ging zur Fahrerseite und griff hinein, um das Licht auszustellen. Als er zurückkam, sagte er: »Auf meine alten Tage werde ich noch vergesslich. Als Nächstes werde ich noch die Scheinwerfer anlassen.« Buck war traurig, wenn er an die Zwangslage seines Freundes dachte. Wie schlimm war es, seinen Traumberuf in der Gewissheit auszuüben, dass seine Vorgesetzten an einem, wie es schien, internationalen Verbrechen beteiligt waren. »Ich werde den Flughafen anrufen und sehen, ob ich für heute Abend noch einen Flug bekomme.« »Heute Abend geht kein Flug mehr für dich«, meinte Alan. »Ich fliege vielleicht erst nach Frankfurt und morgen früh von dort aus zurück. Ich glaube nicht, dass ich mein Glück hier auf die Probe stellen sollte.« »Dort drüben bei der Tür ist ein Telefon. Ich bezahle in der Zwischenzeit.« »Das übernehme ich«, sagte Buck und schob ihm einen Fünfzig-Mark-Schein hin. Buck telefonierte mit Heathrow, während Alan bei der Kellnerin bezahlte. Es waren tatsächlich noch Plätze in der Maschi166
ne nach Frankfurt frei, die in fünfundvierzig Minuten starten sollte, sodass er am Sonntagmorgen nach New York weiterfliegen konnte. »Aha, dann ist Kennedy also offen?«, sagte er. »Gerade vor einer Stunde geöffnet worden«, erwiderte die Dame. »Begrenzter Flugverkehr, aber Ihre Pan-Continental ab Deutschland am Morgen fliegt dorthin. Wie viele Passagiere?« »Nur einer.« »Name?« Buck holte seine Brieftasche hervor, um den Namen auf seinem gefälschten britischen Pass auch richtig anzugeben. »Wie bitte?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen. Alan kam heran. »Der Name, Sir.« »Oh, tut mir Leid. Oreskowitsch. George Oreskowitsch.« Alan flüsterte ihm zu, dass er im Wagen warten würde. Buck nickte. »In Ordnung, Sir«, sagte die Dame. »Sie sind für heute Abend auf einen Flug nach Frankfurt gebucht und für morgen früh nach New York. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« »Nein, vielen Dank.« Während Buck einhängte, flog die Tür des Pubs aus den Angeln, und ein gleißender Feuerschein und ohrenbetäubender Lärm ließen die Gäste verschreckt zu Boden gehen. Buck starrte entsetzt auf die Karosserie und die geschmolzenen Reifen dessen, was einmal Alans Dienstwagen gewesen war. Die Fenster waren herausgeflogen und die Splitter auf der ganzen Straße verteilt. Es war bereits eine Sirene zu hören. Ein Bein und ein Teil eines Körpers lagen auf dem Gehsteig – die Überreste von Alan Tompkins. Die Gäste drängten aus dem Pub, um einen Blick auf das brennende Auto zu werfen. Buck schob sich zwischen ihnen hindurch, zog seinen richtigen Pass und seinen Personalausweis aus der Brieftasche. In der allgemeinen Verwirrung ließ er die Dokumente in der Nähe des brennenden Wracks fallen und 167
hoffte, dass sie nicht vollkommen verbrannten. Wer immer seinen Tod wollte, sollte annehmen, dass er es geschafft hatte. Dann schlüpfte er durch die Menge hindurch in den nun leeren Pub und lief zur Hintertür. Doch es gab keine Hintertür, nur ein Fenster. Er öffnete es und kroch hindurch. Jetzt befand er sich in einer kleinen Gasse zwischen den Häusern. So schnell er konnte, rannte er zu einer Seitenstraße zwei Blocks weiter und hielt schließlich ein Taxi an. »Zum Tavistock«, keuchte er. Wenige Minuten später war das Taxi nur noch drei Straßen von seinem Hotel entfernt. Streifenwagen standen vor dem Hotel und blockierten den Verkehr. »Ach, bringen Sie mich einfach sofort zum Flughafen, bitte«, sagte er. Ihm war klar, dass sein Laptop noch im Hotel war, doch er hatte keine Wahl. Das Wichtigste hatte er elektronisch bereits überspielt, aber wer wusste schon, wer nun Zugang zu seinem Material bekommen würde? »Dann brauchen Sie doch nichts mehr aus dem Hotel?«, fragte der Taxifahrer. »Nein, ich wollte nur noch jemanden treffen.« »In Ordnung, Sir.« Auch in Heathrow wimmelte es von Beamten. »Sie wissen nicht zufällig, wo man eine Mütze wie Ihre bekommen kann?«, fragte Buck den Taxifahrer, als er bezahlte. »Dieses alte Ding? Vielleicht lasse ich mich überreden, mich von ihr zu trennen. Ich habe noch mehr davon. Soll ein Souvenir sein, ja?« »Ist das genug?«, fragte Buck und drückte ihm einen Geldschein in die Hand. »Mehr als genug, Sir, und herzlichen Dank.« Der Fahrer nahm das Schild, das ihn offiziell als Londoner Taxifahrer auswies, von der Kappe ab und reichte sie ihm. Buck setzte sie sich auf und eilte zum Terminal. Er bezahlte sein Ticket auf den Namen George Oreskowitsch, einem eingebürgerten Engländer polnischer Herkunft auf dem Weg zu 168
einem Urlaub in die Staaten, in bar. Noch bevor die Polizei wusste, dass er fort war, befand er sich bereits wieder in der Luft.
11 Rayford war froh, dass er Chloe am Samstagnachmittag zu einer Ausfahrt überreden konnte, nachdem sie sich in ihrem Kummer so lange eingeigelt hatte. Er freute sich, dass sie einverstanden gewesen war, ihn zu der Gemeinde zu begleiten. Chloe war den ganzen Tag über still und in sich gekehrt gewesen. Sie hatte davon gesprochen, vielleicht ein Semester auszusetzen und hier am Ort ein paar Vorlesungen zu belegen. Rayford gefiel der Gedanke. Er dachte dabei an sie. Dann wurde ihm klar, dass sie dabei an ihn dachte, und er war gerührt. Auf der kurzen Fahrt sprach er davon, dass sie nach ihrem Flug nach Atlanta getrennt von O’Hare nach Hause fahren mussten, damit er seinen Wagen mitzurücknehmen konnte. Sie lächelte ihn an. »Ich denke, das kann ich schaffen, nun da ich zwanzig bin.« »Manchmal behandle ich dich wie ein kleines Mädchen, nicht?«, sagte er. »Jetzt eigentlich nicht mehr so sehr«, meinte sie. »Du kannst mich aber dafür entschädigen.« »Ich weiß, was du sagen willst.« »Das glaube ich nicht«, erwiderte sie. »Aber rate.« »Du willst sagen, dass ich dich dafür entschädigen kann, dich wie ein kleines Mädchen behandelt zu haben, indem ich heute nicht versuche, dich zu irgendetwas zu überreden.« »Das versteht sich doch hoffentlich von selbst. Aber du hast Unrecht, mein kluger Paps. Ich wollte sagen, du kannst mir beweisen, dass du mich für eine verantwortungsbewusste 169
Erwachsene hältst, indem du mich am Montag deinen Wagen vom Flughafen nach Hause fahren lässt.« »Wenn’s weiter nichts ist«, sagte Rayford im Tonfall eines Erwachsenen, der zu einem Kleinkind spricht. »Dann würdest du dich wie ein großes Mädchen fühlen? Okay, Daddy erlaubt es dir.« Sie boxte ihn in die Seite und lächelte. Doch schnell wurde sie wieder ernst. »Es ist erstaunlich, worüber ich mich in letzter Zeit amüsieren kann«, meinte sie. »Du meine Güte, ich fühle mich wie ein schlechter Mensch.« Rayford reagierte nicht auf diesen Kommentar. Er bog um die Ecke, und die geschmackvolle kleine Kirche tauchte vor ihnen auf. »Mach dir nichts aus dem, was ich gesagt habe«, fuhr Chloe fort. »Ich brauche doch nicht mit hineinzukommen?« »Nein, aber ich würde mich darüber freuen.« Sie kräuselte die Lippen und schüttelte den Kopf, doch als er den Wagen geparkt hatte, stieg sie mit aus. Bruce Barnes war klein und ein wenig stämmig, mit gelocktem Haar und einer Nickelbrille. Rayford schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er war lässig, aber ordentlich gekleidet und kam mit einer Thermosflasche aus dem Gottesdienstraum. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Sie müssen die Steeles sein. Ich bin sozusagen der Einzige hier, außer Loretta.« »Hallo«, sagte eine ältere Frau hinter Rayford und Chloe. Sie stand zusammengesunken und aufgelöst in der Tür zum Gemeindebüro und sah aus, als hätte sie gerade einen Krieg erlebt. Nachdem sie einige Höflichkeiten ausgetauscht hatten, zog sie sich zu einem Schreibtisch im vorderen Büro zurück. »Sie stellt für morgen ein kleines Programm zusammen«, erklärte Barnes. »Obwohl wir keine Ahnung haben, mit wie vielen Leuten wir rechnen können. Werden Sie kommen?« »Das ist noch nicht sicher«, meinte Rayford. »Ich komme vielleicht.« 170
Beide blickten Chloe an. Sie lächelte höflich. »Ich werde wahrscheinlich nicht kommen«, sagte sie. »Ich habe das Band für Sie«, ergriff Barnes das Wort. »Aber ich möchte Sie bitten, mir noch einige Minuten Ihrer Zeit zu schenken.« »Ich habe Zeit«, antwortete Rayford. »Ich bin mit ihm gekommen«, äußerte sich Chloe widerstrebend. Barnes führte sie in das Büro des ersten Pastors. »Ich setze mich nicht an seinen Schreibtisch und benutze auch seine Bücher nicht«, sagte der junge Mann, »aber ich arbeite hier an seinem Konferenztisch. Ich weiß nicht, was mit mir oder der Gemeinde passieren wird, und ganz bestimmt möchte ich nicht anmaßend sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott mich rufen würde, diese Arbeit zu übernehmen, doch wenn er das tut, möchte ich bereit sein.« »Und wie soll er Sie rufen?«, fragte Chloe lächelnd. »Per Telefon?« Barnes reagierte freundlich. »Um ehrlich zu sein, das würde mich nicht überraschen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, doch meine Aufmerksamkeit hat er letzte Woche ganz bestimmt auf sich gelenkt. Ein Telefonanruf vom Himmel wäre weit weniger traumatisch gewesen.« Chloe zog die Augenbrauen in die Höhe. Offensichtlich ging dieser Punkt an ihn. »Loretta dort hinten sieht genauso aus, wie ich mich fühle. Wir sind am Boden zerstört, weil wir genau wissen, was passiert ist.« »Oder glauben, es zu wissen«, warf Chloe ein. Rayford versuchte, ihren Blick aufzufangen, um sie aufzufordern, sich ein wenig zurückzuhalten, doch sie schien seinen Blick zu meiden. »Es gibt alle möglichen Theorien, und sie werden in jeder Fernsehshow des Landes diskutiert.« »Das weiß ich«, erwiderte Barnes. 171
»Und jede dient dem eigenen Zweck«, fügte sie hinzu. »Die Sensationspresse behauptet, es sei eine Invasion aus dem All gewesen, die die törichten Geschichten, die seit Jahren kursieren, bestätigen würde. Die Regierung sagt, es sei irgendein Feind gewesen, damit sie mehr Geld für hoch technisierte Verteidigung ausgeben kann. Sie sagen, es sei Gott gewesen, damit Sie anfangen können, Ihre Gemeinde neu aufzubauen.« Bruce Barnes lehnte sich zurück und blickte zuerst Chloe, dann ihren Vater an. »Ich möchte Ihnen eine Frage stellen«, sagte er wieder an Chloe gewandt. »Darf ich Ihnen kurz meine Geschichte erzählen, ohne dass Sie mich unterbrechen oder irgendetwas sagen, außer wenn Sie etwas nicht verstehen?« Chloe starrte ihn schweigend an. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich möchte auch nicht, dass Sie es sind. Ich habe Sie nur um ein paar Minuten Ihrer Zeit gebeten. Dann werde ich Sie in Ruhe lassen. Mit dem, was ich Ihnen erzählen möchte, können Sie anfangen, was Sie wollen. Sagen Sie mir, ich sei verrückt, sagen Sie mir, ich hätte nur meinen eigenen Vorteil im Sinn. Gehen Sie und kommen Sie nie zurück, ganz wie Sie wollen. Aber darf ich bitte ein paar Minuten sprechen?« Rayford hielt Barnes für brillant. Er hatte Chloe auf ihren Platz verwiesen, ihr keinen Raum für kluge Bemerkungen gelassen. Sie machte nur eine zustimmende Handbewegung, für die sich Barnes bei ihr bedankte und schließlich begann. »Darf ich Sie beim Vornamen nennen?« Rayford nickte. Chloe antwortete nicht. »Ray, nicht? Und Chloe? Ich sitze hier vor Ihnen als gebrochener Mann. Und Loretta? Falls jemand das Recht hat, sich so schlimm zu fühlen wie ich, dann ist es Loretta. Sie ist die Einzige ihrer ganzen Verwandtschaft, die noch hier ist. Sie hatte sechs Brüder und Schwestern, ich weiß nicht, wie viele Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins, Nichten und Neffen. Letztes Jahr haben sie hier Hochzeit gefeiert, und sie allein hatte 172
bestimmt hundert Verwandte hier. Sie sind alle fort, jeder Einzelne.« »Das ist schrecklich«, warf Chloe ein. »Wir haben meine Mutter und meinen kleinen Bruder verloren, wie Sie wissen. Oh, es tut mir Leid. Ich wollte Sie ja nicht unterbrechen.« »Das ist schon in Ordnung«, meinte Barnes. »Meine Situation ist beinahe so schlimm wie Lorettas, nur auf einer kleineren Ebene. Aber natürlich ist es für mich genauso schlimm. Ich möchte Ihnen jetzt meine Geschichte erzählen.« Seine Stimme klang belegt und traurig. »Ich lag mit meiner Frau im Bett. Sie schlief, ich las. Unsere Kinder schliefen schon seit einigen Stunden. Sie waren fünf, drei und eins. Das älteste war ein Mädchen, die anderen beiden Jungen. So war es oft bei uns – ich las, während meine Frau schlief. Sie hatte so viel Arbeit mit den Kindern und einem Halbtagsjob, dass sie so gegen neun immer vollkommen erledigt war. Ich las eine Sportzeitschrift und bemühte mich, die Seiten leise umzublättern, doch hin und wieder seufzte sie. Einmal fragte sie mich sogar, wie lange ich noch lesen wollte. Ich wusste, ich sollte vielleicht in ein anderes Zimmer gehen oder einfach nur das Licht ausschalten und selbst versuchen zu schlafen. Aber ich sagte ihr: ›Nicht mehr lange‹, und hoffte, dass sie einschlafen würde, damit ich die Zeitung zu Ende lesen konnte. Normalerweise merke ich an ihrem Atem, ob sie fest genug schläft, dass mein Licht sie nicht mehr stört. Und nach einer Weile hörte ich dieses Atmen. Ich war froh. Ich wollte bis Mitternacht lesen. Ich hatte mich auf die Seite gedreht, mit dem Rücken zu ihr, und schirmte das Licht ein wenig mit dem Kissen ab. Ich weiß nicht, wie lange ich gelesen hatte, als ich spürte, wie das Bett sich bewegte. Sie musste aufgestanden sein. Ich nahm an, dass sie ins Badezimmer gegangen war und hoffte, dass sie nicht so wach war, dass sie, wenn sie zurückkam, mir wieder sagen würde, ich solle das Licht ausmachen. Sie ist sehr zart, und es erstaunte mich nicht, 173
dass ich sie nicht ins Badezimmer gehen hörte. Aber, wie ich sagte, ich war in meine Zeitschrift vertieft. Nach einigen Minuten rief ich: ›Liebling, bist du in Ordnung?‹ Doch sie gab keine Antwort. Ich überlegte, ob ich mir nur eingebildet hatte, dass sie aufgestanden war. Ich griff hinter mich, und sie war nicht da, darum rief ich erneut. Ich dachte, sie würde vielleicht nach den Kindern sehen, doch in der Regel schläft sie so fest, dass sie das nicht tut, es sei denn, eines von ihnen schreit. Nun, weitere Minuten vergingen, bis ich mich umdrehte und feststellte, dass sie nicht nur aufgestanden war, sondern dass sie anscheinend auch die Bettdecke bis zum Kissen hinaufgezogen hatte. Sie können sicher verstehen, was ich dachte. Ich dachte, sie war so verärgert über mich, dass sie es aufgegeben hatte, darauf zu warten, bis ich das Licht ausmachte, und beschlossen hatte, auf der Couch zu schlafen. Das tat mir Leid, darum stand ich auf und machte mich auf die Suche nach ihr, um mich zu entschuldigen und sie ins Bett zurückzuholen. Sie wissen, wie es weiterging. Sie war nicht auf der Couch, auch nicht im Badezimmer. Ich steckte meinen Kopf in die Kinderzimmer und rief flüsternd ihren Namen, weil ich dachte, dass sie vielleicht eines von ihnen in den Schlaf wiegte. Nichts. Im ganzen Haus war es dunkel, nur in unserem Schlafzimmer nicht. Ich wollte die Kinder nicht aufwecken, indem ich nach ihr rief, darum machte ich einfach im Flur das Licht an und sah noch einmal in ihren Zimmern nach. Ich schäme mich zu sagen, dass ich immer noch keine Ahnung hatte, bis ich bemerkte, dass meine beiden ältesten Kinder nicht in ihren Betten waren. Mein erster Gedanke war, dass sie in das Zimmer des Babys gegangen waren. Das tun sie manchmal. Dort schlafen sie auf dem Fußboden. Dann dachte ich, meine Frau hätte eines oder alle beide in die Küche mitgenommen. Offen gestanden, ich war ein wenig verstimmt, weil ich nicht wusste, was mitten in der Nacht vorging. 174
Als auch das Baby nicht in seinem Bettchen lag, schaltete ich das Licht an, steckte meinen Kopf zur Tür heraus und rief nach meiner Frau. Keine Antwort. Dann entdeckte ich den Schlafanzug des Babys in seinem Bettchen und wusste Bescheid. Ich wusste es einfach. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Ich rannte von einem Zimmer ins andere und fand die Schlafanzüge meiner Kinder. Ich wollte es nicht, doch ich riss das Laken vom Bett meiner Frau zurück, und da lagen ihr Nachthemd, ihre Ringe und sogar ihre Haarklammern auf dem Kissen.« Rayford kämpfte gegen die Tränen an, als er sich an seine eigene Erfahrung erinnerte. Barnes atmete tief durch und fuhr sich über die Augen. »Ich begann herumzutelefonieren«, fuhr er fort. »Als Erstes rief ich den Pastor an, doch es meldete sich nur sein Anrufbeantworter. Auch bei einigen anderen hörte ich nur den Anrufbeantworter. Ich nahm mir das Gemeindeverzeichnis und rief bei einigen älteren Leuten an, die bestimmt Anrufbeantworter nicht mochten und keinen hatten. Ich ließ ihr Telefon läuten, bis das Besetztzeichen kam. Keine Antwort. Natürlich wusste ich, dass es unwahrscheinlich war, jemanden zu finden. Aus irgendeinem Grund rannte ich nach draußen, sprang in meinen Wagen und raste zum Gemeindegebäude. Loretta war da. Sie saß in ihrem Morgenrock im Wagen, das Haar auf Lockenwickler gewickelt, und weinte sich die Augen aus dem Kopf. Wir gingen ins Foyer, setzten uns unter die Pflanzenkübel und klammerten uns aneinander. Wir wussten genau, was passiert war. Nach einer halben Stunde kamen noch ein paar andere. Wir bedauerten uns gegenseitig und fragten uns laut, was wir als Nächstes tun sollten. Dann erinnerte sich jemand an das Entrückungsvideo des Pastors.« »Sein was?«, fragte Chloe. »Unser Pastor predigte gern darüber, dass Christus wiederkommen würde, um die Gläubigen, die lebenden wie die toten, in den Himmel zu holen, bevor es auf der Erde eine Zeit der Bedrängnis gab. Vor einigen Jahren beschäftigte er sich beson175
ders intensiv mit diesem Thema und hat eine eindringliche Predigt darüber gehalten.« Rayford wendete sich an Chloe. »Du erinnerst dich sicher daran, dass deine Mutter davon gesprochen hat. Sie war ganz begeistert.« »Oh ja, das tue ich.« »Nun«, fuhr Barnes fort, »der Pastor ließ diese Predigt in seinem Büro mit einer Videokamera aufzeichnen. Er sprach direkt zu den Menschen, die zurückgeblieben waren. Er legte das Band in die Gemeindebibliothek, zusammen mit der Anweisung, es hervorzuholen und abzuspielen, wenn fast alle verschwunden zu sein schienen. Wir haben es uns in dieser Nacht einige Male angesehen. Einige wollten mit Gott rechten, wollten uns klarmachen, dass sie doch wirklich gläubig gewesen wären und es eigentlich verdient hätten, zusammen mit den anderen fortgeholt zu werden, doch wir alle kannten die Wahrheit. Wir waren Heuchler gewesen. Nicht einer von uns wusste, was es bedeutete, ein echter Christ zu sein. Wir wussten, wir waren es nicht, und wir waren zurückgelassen worden.« Rayford hatte seine Stimme kaum unter Kontrolle, doch er musste fragen. »Mr Barnes, Sie waren doch hier angestellt.« »Richtig.« »Wie kommt es, dass Sie es verpasst haben?« »Ich werde es Ihnen erzählen, Ray, denn ich brauche nichts mehr zu verbergen. Ich schäme mich, und wenn ich nie zuvor wirklich den Wunsch oder die Motivation gehabt habe, anderen von Christus zu erzählen, so habe ich sie ganz bestimmt jetzt. Ich fühle mich einfach schrecklich, dass erst dieses umwälzende Ereignis in der Geschichte mich erreichen konnte. Ich wuchs in einer Gemeinde auf. Meine Eltern und Geschwister waren alle Christen. Ich liebte die Gemeinde. Sie war mein Leben, meine Kultur. Ich dachte, ich würde alles glauben, was in der Bibel stand. Die Bibel sagt, dass man ewiges Leben hat, wenn man an Christus 176
glaubt, darum nahm ich an, alles sei in Ordnung. Vor allem liebte ich die Stellen, in denen von dem vergebenden Gott gesprochen wird. Ich war ein Sünder, aber ich veränderte mich nicht. Ich nahm immer wieder Vergebung in Anspruch, weil ich der Meinung war, Gott wäre verpflichtet, mir zu vergeben. Er musste einfach. Es gibt in der Bibel Verse, die besagten, dass Gott, wenn wir unsere Sünden bekennen, treu und gerecht ist, dass er sie uns vergibt und uns reinigt. Ich kannte andere Verse, die besagen, dass man glauben und empfangen muss, vertrauen und durchhalten, doch für mich war das so etwas wie theologisches Gewäsch. Ich suchte den leichtesten Weg. In anderen Versen stand, dass wir nicht weiter sündigen sollen, weil Gott uns Gnade erwiesen hat. Ich dachte, ich würde ein großartiges Leben führen. Ich ging sogar zur Bibelschule. In der Gemeinde und in der Schule sagte ich die richtigen Dinge und betete auch öffentlich. Ich machte Menschen sogar Mut. Aber ich war ein Sünder. Ich sagte das sogar. Ich erzählte den Menschen, ich sei nicht vollkommen; aber mir sei vergeben worden.« »Meine Frau sagte das auch«, warf Rayford ein. »Der Unterschied ist«, sagte Bruce, »dass sie es ernst meinte. Ich log. Ich erzählte meiner Frau, wir würden den Zehnten der Gemeinde abgeben – Sie wissen doch sicher, dass wir zehn Prozent unseres Einkommens abgeben. Ich gab kaum etwas, außer wenn der Teller direkt an mir vorbeigegeben wurde. Dann ließ ich einige Dollarnoten darauf fallen, um gut dazustehen. Jede Woche bekannte ich Gott das und versprach, mich zu bessern. Ich machte den Leuten Mut, ihren Glauben zu bezeugen, anderen Menschen zu erzählen, wie sie Christen werden können. Doch ich selbst habe das nie getan. Meine Aufgabe war, jeden Tag Menschen in ihren Häusern, Pflegeheimen und Krankenhäusern zu besuchen. Ich war gut darin. Ich ermutigte sie, lächelte sie an, sprach mit ihnen, betete mit ihnen, las ihnen 177
sogar Bibelstellen vor. Privat dagegen habe ich persönlich weder groß gebetet noch in der Bibel gelesen. Ich war faul, nahm Abkürzungen. Wenn die Leute dachten, dass ich Besuche machte, sah ich mir vielleicht einen Film in einer anderen Stadt an. Ich war zudem an allem interessiert, an Büchern, Magazinen, Filmen, die meine sexuelle Begierde aufheizten.« Rayford zuckte zusammen. Das alles kam ihm nur zu bekannt vor. »Ich machte viel Wirbel«, fuhr Barnes fort, »und ich fuhr voll darauf ab. Tief in meinem Innern, ganz tief unten, wusste ich es besser. Ich wusste, das war zu schön, um wahr zu sein. Ich wusste, dass wahre Christen an dem zu erkennen sind, was ihr Leben bewirkt, und ich brachte keine Frucht. Doch ich tröstete mich damit, dass es viel schlimmere Menschen gab, die sich Christen nannten. Ich war kein Frauen- oder Kinderschänder, war kein Ehebrecher, obwohl ich mich häufig so fühlte, wegen gedanklicher Eskapaden. Doch ich konnte ja immer beten, bekennen und mich dann so fühlen, als sei ich rein. Ich hätte es merken müssen. Wenn Leute herausfanden, dass ich Pastor in der New Hope Gemeinde war, erzählte ich ihnen von dem tollen Pastor und der netten Gemeinde, doch ich erzählte ihnen nicht von Christus. Wenn sie mich provozierten und mich fragten, ob die New Hope zu den Gemeinden gehörte, die behaupteten, Jesus sei der einzige Weg zu Gott, tat ich alles, um das abzustreiten. Ich wollte, dass sie mich für einen prima Kerl hielten. Ich war vielleicht ein Christ und sogar Pastor, doch ich war nicht kleingeistig. Ich weiß jetzt natürlich, dass Gott wirklich Sünde vergibt, weil wir Menschen sind und Vergebung brauchen. Aber wir müssen sein Geschenk an uns annehmen, in Christus bleiben und ihm gestatten, durch uns zu leben. Ich habe gedacht, mein Glaube sei eine Versicherungspolice, tun zu können, was ich 178
wollte. Ich konnte in Sünde leben und vorgeben, ein hingebungsvoller Christ zu sein. Ich hatte eine große Familie und ein angenehmes Arbeitsumfeld. Und so schlecht es mir ganz persönlich meistens ging, ich glaubte wirklich, in den Himmel zu kommen, wenn ich sterben würde. Außer, wenn ich eine Predigt oder einen Lehrabend vorbereitete, habe ich kaum in der Bibel gelesen. Ich hatte nicht den ›Sinn Christi‹. Christlich bedeutet ›wie Christus‹. So war ich bestimmt nicht, und ich erkannte das auf schreckliche Weise. Ich möchte Ihnen beiden nur das Eine sagen – es ist Ihre Entscheidung. Es ist Ihr Leben. Doch ich weiß, und Loretta und einige andere, die am Rande der Gemeinde ein wenig herumgespielt haben, wissen auch ganz genau, was vor einigen Nächten passiert ist. Jesus Christus ist wiedergekommen und hat diejenigen zu sich geholt, die wirklich zu ihm gehörten. Wir anderen sind zurückgelassen worden.« Bruce blickte Chloe an. »Meiner Meinung nach besteht kein Zweifel, dass wir die Entrückung miterlebt haben. Meine größte Angst, nachdem ich die Wahrheit erkannt hatte, war, dass keine Hoffnung mehr für mich bestand. Ich hatte es verpasst, ich war ein Heuchler gewesen, hatte mir mein eigenes Christentum zurechtgelegt, das mir vielleicht Freiheit brachte, das mich aber meine Seele gekostet hat. Ich hatte Leute sagen hören, dass Gottes Geist von der Erde genommen sein würde, sobald die Gemeinde entrückt sei. Das wäre nur logisch, denn der Heilige Geist hat Wohnung in den Gläubigen genommen, als Jesus nach seiner Auferstehung in den Himmel aufgefahren ist. Wenn sie also nicht mehr da sind, dürfte folglich auch der Geist Gottes nicht mehr da sein. Sie können sich nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als mich das Video des Pastors eines Besseren belehrte. Wir haben erkannt, wie dumm wir waren, aber die in dieser Gemeinde Zurückgelassenen – zumindest diejenigen, die es in jener Nacht hierherzog – sind nun so motiviert wie nie zuvor. 179
Niemand, der hierher kommt, wird weggehen, ohne genau zu wissen, was wir glauben und was unserer Meinung nach nötig ist, um eine Beziehung zu Gott zu bekommen.« Chloe stand auf und ging mit verschränkten Armen in dem Zimmer umher. »Das ist eine ziemlich interessante Geschichte«, sagte sie. »Was war mit Loretta los? Wie kam es, dass sie zurückblieb, wenn in ihrer riesigen Familie alle Christen waren?« »Sie sollten Sie einmal danach fragen«, sagte Bruce. »Sie hat mir erzählt, es seien Stolz und Verlegenheit gewesen, die sie daran gehindert hätten, ein wirklicher Christ zu sein. Sie war das mittlere Kind in einer sehr religiösen Familie, und sie sagte, erst in ihren späten Teenagerjahren hätte sie ernsthaft über ihren persönlichen Glauben nachgedacht. Sie war einfach mit der Familie zur Kirche gegangen und hatte alle Gemeindeaktivitäten mitgemacht. Sie wurde erwachsen, heiratete, wurde Mutter und Großmutter, und sie ließ einfach alle glauben, sie sei ein geistlicher Riese. In der ganzen Gemeinde wurde sie verehrt. Nur leider hatte sie nie persönlich an Christus geglaubt und ihn angenommen.« »Dann«, meinte Chloe, »hat also meine Mutter das alles gemeint, dieses ›vertrauen und annehmen‹, dieses ›Christus durch einen leben lassen‹ und was noch alles, wenn sie von Errettung gesprochen hat?« Bruce nickte. »Genau. Errettet von Sünde und Hölle und Gericht.« »Und wir sind nicht errettet davon?« »Richtig.« »Sie glauben das wirklich.« »Das tue ich.« »Das ist ziemlich weit hergeholt, das müssen Sie zugeben.« »Nicht für mich. Nicht mehr.« Rayford, der immer alles genau wissen wollte, fragte: »Und was haben sie getan? Was hat meine Frau getan? Was machte sie zu einer Christin, oder, äh 180
… was, äh …« »Hat sie errettet?«, fragte Bruce. »Ja«, sagte Rayford. »Genau das will ich wissen. Wenn Sie Recht haben, und ich habe Chloe bereits gesagt, dass ich ebenfalls Ihrer Meinung bin, dann müssen wir wissen, wie das funktioniert. Wie gelangt ein Mensch von einem Zustand zu einem anderen? Offensichtlich sind wir nicht errettet, da wir ja zurückgelassen wurden, und wir müssen uns nun einem Leben ohne unsere Lieben stellen, die wahre Christen waren. Wie wird man nun ein echter Christ?« »Ich werde Ihnen das noch genau erklären«, erwiderte Bruce. »Und ich werde Ihnen das Band mitgeben. Auch morgen früh um zehn werde ich das alles genau erklären für die, die kommen. Vermutlich werde ich dieselbe Predigt jeden Sonntagmorgen halten, solange die Menschen dies wissen wollen. Eines weiß ich ganz sicher, so wichtig wie alle anderen Predigten und Bibelauslegungen auch sein mögen, nichts ist so wichtig wie dies Eine.« Chloe stand mit dem Rücken zur Wand, die Arme verschränkt und beobachtete und hörte zu. Bruce wendete sich an Rayford. »Es ist wirklich ganz einfach. Gott hat es uns leicht gemacht. Das bedeutet nicht, dass es keine übernatürliche Angelegenheit ist oder dass wir uns nur das Gute heraussuchen können, wie ich es versucht habe. Doch wenn wir die Wahrheit erkennen und danach handeln, wird Gott uns die Errettung nicht vorenthalten. Zuerst einmal müssen wir uns sehen, wie Gott uns sieht. Die Bibel sagt, dass wir alle gesündigt haben, dass es keinen Gerechten gibt, nicht einen. Sie sagt auch, dass wir uns nicht selbst erretten können. Viele Menschen dachten, sie könnten sich ihren Weg zu Gott oder in den Himmel verdienen, indem sie gute Werke tun, doch das ist vermutlich das größte Missverständnis aller Zeiten. Fragen Sie die Menschen auf der Straße, was ihrer Meinung nach die Bibel oder die Kirche 181
darüber sagt, wie man in den Himmel kommen kann, und neun von zehn sagen ihnen vermutlich, es hätte etwas mit guten Werken und richtigem Lebenswandel zu tun. Natürlich sollen wir so leben, aber so können wir uns die Erlösung nicht verdienen. Wir sollen das tun als Reaktion auf unsere Erlösung. Die Bibel sagt, dass Gott uns nicht durch Werke der Gerechtigkeit errettet hat, die wir selbst getan haben, sondern nur durch seine Gnade. Wir lesen auch, dass wir aus Gnade durch Christus errettet sind, nicht durch uns selbst, damit wir uns nicht unserer guten Werke rühmen können. Jesus hat unsere Sünden auf sich genommen und die Strafe dafür getragen, damit wir frei werden konnten. Die Strafe ist der Tod, und darum ist er an unserer Stelle gestorben, weil er uns geliebt hat. Wenn wir Christus sagen, dass wir uns als verlorene Sünder erkannt haben und sein Geschenk der Errettung annehmen, dann rettet er uns. Eine Übergabe findet statt. Wir gehen von der Dunkelheit ins Licht, von ›verloren‹ zu ›gefunden‹, wir sind erlöst. In der Bibel steht, dass Gott denen, die Jesus annehmen, die Macht gibt, Kinder Gottes zu werden. Das ist Jesus – er ist der Sohn Gottes. Wenn wir Kinder Gottes werden, haben wir, was Jesus hat: eine Beziehung zu Gott, ewiges Leben, und – da Jesus die Strafe für unsere Schuld bereits getragen hat – auch Vergebung unserer Sünden.« Rayford saß da und war betroffen. Er blickte verstohlen zu Chloe hinüber. Sie sah starr geradeaus, wirkte aber nicht ablehnend. Rayford hatte das Gefühl, dass er genau das gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. Es war, was er vermutet und stückweise im Laufe der Jahre immer wieder gehört hatte. Doch nie hatte er sich die Mühe gemacht, das alles zusammenzusetzen. Trotz besseren Wissens war er immer noch reserviert genug, erst einmal darüber nachdenken, das Band ansehen und mit Chloe darüber sprechen zu wollen. »Ich muss nun Ihnen eine Frage stellen«, sagte Bruce, »die 182
ich früher nie stellen wollte. Ich möchte wissen, ob Sie bereit sind, Christus jetzt anzunehmen. Ich würde gern mit Ihnen beten und Ihnen zeigen, wie Sie mit Gott über das alles sprechen können.« »Nein«, sagte Chloe schnell und blickte ihren Vater an, als hätte sie Angst, er konnte etwas Dummes tun. »Nein?« Bruce war sichtlich überrascht. »Brauchen Sie mehr Zeit?« »Wenigstens«, antwortete Chloe. »So etwas sollte man sicher nicht überstürzen.« »Lassen Sie mich Ihnen etwas sagen«, meinte Bruce. »Ich wünschte, ich hätte es überstürzt. Ich glaube, dass Gott mir vergeben hat und dass ich eine Aufgabe hier habe. Doch ich weiß nicht, was nun passieren wird, wo die echten Christen alle fort sind. Sehr viel lieber wäre ich Jahre früher an diesen Punkt gekommen als jetzt, wo es beinahe zu spät ist. Sie können sich vorstellen, dass ich jetzt viel lieber im Himmel bei meiner Familie wäre.« »Aber wer würde uns dann davon erzählen?«, fragte Rayford. »Oh, ich bin dankbar für diese Gelegenheit«, sagte Bruce. »Aber es hat mich einen hohen Preis gekostet.« »Ich verstehe.« Rayford spürte, wie der Blick des jungen Mannes ihn durchbohrte, und er war beinahe bereit, sein Leben Jesus anzuvertrauen. Aber noch nie in seinem Leben hätte er etwas überstürzt. Und obwohl er dies nicht auf dieselbe Stufe stellte wie seine Geschäfte, brauchte er Zeit, um nachzudenken, sich ein wenig abzukühlen. Er war ein Analytiker, und obwohl er nun auf einmal alles verstand und keinerlei Zweifel an Bruces Theorie der Entrückung hätte, konnte er nicht sofort reagieren. »Ich würde gern das Band mitnehmen, und ganz bestimmt komme ich morgen wieder.« Bruce blickte Chloe an. »Von meiner Seite aus kann ich das nicht versprechen«, sagte sie, »doch ich danke Ihnen, dass Sie uns Ihre Zeit gewidmet haben. Ich werde mir das Video an183
schauen.« »Mehr kann ich nicht erwarten«, sagte Bruce. »Aber ich möchte Sie nicht gehen lassen, ohne Sie auf die Dringlichkeit hinzuweisen. Vielleicht haben Sie dies alles Ihr ganzes Leben lang gehört, genau wie ich. Vielleicht auch nicht. Doch ich muss Ihnen sagen, dass Sie keine Garantie haben. Sie können nicht mehr mit Ihren Lieben entrückt werden, dafür ist es zu spät. Aber jeden Tag sterben Menschen bei Autounfällen, Flugzeugabstürzen – oh, es tut mir Leid, ich bin sicher, Sie sind ein guter Pilot –, in allen möglichen Tragödien. Ich möchte Sie ganz bestimmt nicht drängen, doch ich möchte Ihnen Mut machen, sich nicht zu verschließen, wenn Gott Ihnen zeigt, dass das alles wahr ist. Was könnte schlimmer sein, als endlich Gott zu finden und dann schließlich ohne ihn zu sterben, weil man zu lange gewartet hat?«
12 Buck checkte unter seinem gefälschten Namen im Hilton Hotel am Frankfurter Flughafen ein. Er musste unbedingt in den Staaten anrufen, bevor seine Familie und seine Kollegen von seinem Tod hörten. Er suchte sich eine Telefonzelle in der Lobby und wählte die Nummer seines Vaters in Arizona. Dort war es jetzt Samstag kurz nach Mittag. »Dad, es tut mir wirklich Leid, aber du wirst hören, dass ich bei einem Bombenanschlag, Terroristenanschlag, etwas dieser Art, ums Leben gekommen bin.« »Was zum Teufel ist denn los, Cameron?« »Ich kann dir das jetzt nicht genau erklären, Dad. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir gut geht. Ich rufe aus Übersee an, aber ich möchte lieber nicht sagen, von wo. Morgen werde ich zurückkommen, doch ich muss mich für eine Weile zurückhalten.« 184
»Morgen Abend wird ein Gedächtnisgottesdienst für deine Schwägerin und deine Nichte und deinen Neffen abgehalten«, sagte Mr Williams. »Oh nein, Dad, es wäre zu offensichtlich, wenn ich dort auftauchen würde. Es tut mir Leid. Sag Jeff, dass ich mitempfinde.« »Müssen wir wirklich diese Scharade zu Ende spielen? Ich meine, müssen wir auch für dich einen Gedächtnisgottesdienst organisieren?« »Nein, ich werde nicht allzu lange den Toten spielen können. Wenn die Leute im Global erst einmal herausfinden, dass ich am Leben bin, wird sich das Geheimnis nicht mehr lange halten.« »Wirst du in Gefahr sein, wenn derjenige, der dich für tot hält, herausfindet, dass du noch am Leben bist?« »Vermutlich, aber Dad, ich muss jetzt Schluss machen. Grüße Jeff von mir, ja?« »Das werde ich. Sei vorsichtig.« Buck wechselte die Telefonzelle und rief den Global an. Mit verstellter Stimme bat er die Empfangsdame, ihn mit Steve Planks Anrufbeantworter zu verbinden. »Steve, du weißt, wer hier spricht. Was du auch in den kommenden vierundzwanzig Stunden hörst, es geht mir gut. Ich werde dich morgen anrufen, und dann können wir uns treffen. Lass die anderen glauben, was sie hören. Ich werde inkognito bleiben müssen, bis ich jemanden finde, der wirklich helfen kann. Wir hören bald voneinander, Steve.« Auf der Rückfahrt war Chloe sehr schweigsam. Rayford unterdrückte den Wunsch, sie anzusprechen. Das lag nicht in seinem Wesen, doch er empfand dieselbe Dringlichkeit, die er bei Bruce Barnes gespürt hatte. Er wollte sensibel bleiben. Er wollte nachforschen, beten, sicher sein. Aber war das nicht einfach der Versuch, sich gegen alles und jedes abzusichern? 185
Konnte er überhaupt Sicherheit bekommen? Was hatte er getan, dass Chloe so vorsichtig, so zurückhaltend war. Warum übersah sie das, was ihm so offensichtlich war. Er hatte die Wahrheit gefunden, und Bruce hatte Recht. Sie mussten handeln, bevor ihnen irgendetwas zustieß. In den Nachrichten wurde nur noch von Verbrechen berichtet, von Plünderungen, Menschen, die sich das Chaos auf der Welt zu Nutze machten. Menschen wurden erschossen, verstümmelt, vergewaltigt, getötet. Die Straßen waren gefährlicher als je zuvor. Die Rettungsmannschaften waren hoffnungslos unterbesetzt, auf den Flughäfen gab es weniger Fluglotsen, weniger Piloten und weniger Crewmitglieder. Die Menschen überprüften die Gräber ihrer Lieben, um zu sehen, ob ihre Leichen verschwunden waren, und skrupellose Menschen gaben vor, dasselbe zu tun, während sie nach Wertsachen suchten, die vielleicht mit den Reichen begraben worden waren. Über Nacht war die Welt hässlich geworden, und Rayford bangte um seine und Chloes Sicherheit. Er wollte nicht mehr zu lange damit warten, sich das Video anzusehen und die Entscheidung festzumachen, die er eigentlich bereits getroffen hatte. »Sollen wir es uns gemeinsam ansehen?«, fragte er. »Lieber nicht, Dad. Ich spüre, was bereits in dir vorgeht, aber ich fühle mich dabei noch nicht wohl. Das ist eine sehr persönliche Angelegenheit, nichts, was eine Gruppe oder Familie zusammen tut.« »Da bin ich nicht so sicher.« »Dränge mich bitte nicht. Du regelst das auf deine Weise, ich werde mich später damit auseinander setzen.« »Du weißt, dass ich mir um dich Gedanken mache und dass ich dich liebe, nicht?« »Natürlich.« »Wirst du es dir morgen früh vor dem Gottesdienst ansehen?« 186
»Daddy, bitte, du wirst mich noch ganz vergraulen, wenn du mich so drängst. Ich bin gar nicht sicher, dass ich überhaupt dorthin gehen möchte. Ich habe mir heute angehört, was dieser Pastor zu sagen hatte, und morgen wird er auch nichts anderes bringen, wie er selbst gesagt hat.« »Und wenn ich nun morgen beschließe, Christ zu werden? Ich hätte gern, dass du dabei bist.« Chloe blickte ihn an. »Ich weiß nicht, Dad. Das ist doch keine Examensfeier oder so etwas.« »Vielleicht doch. Ich habe das Gefühl, dass deine Mutter und dein Bruder bestanden haben und ich nicht.« »Quatsch.« »Ich meine es ernst. Sie haben sich für den Himmel qualifiziert. Ich nicht.« »Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen.« »In Ordnung, aber ich möchte nur noch eines loswerden. Wenn du morgen nicht in den Gottesdienst mitkommst, solltest du dir wenigstens das Video ansehen, während ich weg bin.« »Oh, ich …« »Weil ich diese Angelegenheit wirklich geregelt haben möchte, bevor wir am Montag fliegen. Das Fliegen ist gefährlicher geworden, und man weiß nie, was passieren wird.« »Daddy, komm schon! Mein ganzes Leben lang hast du den Leuten erzählt, wie sicher das Fliegen ist. Jedes Mal, wenn es einen Flugzeugabsturz gab und dich jemand gefragt hat, ob dir so etwas schon mal beinahe passiert wäre, hast du diese ganzen Statistiken heruntergerasselt, dass Fliegen viel sicherer ist als Autofahren. Also, fang bitte nicht damit an.« Rayford gab auf. Es war wohl besser, sich erst einmal um sein eigenes Verhältnis zu Gott zu kümmern und für seine Tochter zu beten. Offensichtlich würde er sie nicht zum Glauben überreden können. Am Samstagabend ging Chloe früh zu Bett, während Rayford es sich vor dem Fernseher gemütlich machte und die Videokas187
sette in den Recorder schob. »Hallo«, ertönte die angenehme Stimme des Pastors, dem Rayford einige Male begegnet war. Er saß auf der Kante seines Schreibtisches in dem Büro, das Rayford am Nachmittag verlassen hatte. »Mein Name ist Vernon Billings, und ich bin Pastor der New Hope Village Church von Mount Prospect, Illinois. Ich kann nur erahnen, welche Furcht und Verzweiflung Sie empfinden werden, wenn Sie sich dieses Video ansehen, denn es ist für die Menschen aufgezeichnet worden, die nach der Entrückung des Volkes Gottes auf dieser Erde zurückgeblieben sind. Da Sie sich diese Kassette ansehen, ist offensichtlich, dass Sie dazugehören. Zweifellos sind Sie schockiert, voller Angst und Reuegedanken. Ich möchte Ihnen das, was ich hier sage, gern als Information für das Leben nach der Entrückung der Gemeinde Christi in die Hand geben. Denn genau das ist passiert. Alle Ihre Bekannten, Verwandten und Freunde, die sich Christus anvertraut haben, sind von ihm in den Himmel geholt worden. Ich möchte Ihnen anhand der Bibel genau zeigen, was passiert ist. Sie werden diesen Beweis mittlerweile nicht mehr brauchen, denn Sie werden das erschütterndste Ereignis der Weltgeschichte miterlebt haben. Doch da ich diese Kassette bereits vorher aufgezeichnet habe und genau weiß, dass ich dann fort sein werde, fragen Sie sich vielleicht, woher ich das wissen konnte. Sehen Sie selbst, was im ersten Korintherbrief, Kapitel 15, Vers 51-57 steht.« Auf dem Bildschirm wurde die Bibelstelle sichtbar. Rayford stellte den Recorder auf Pause und rannte los, um Irenes Bibel zu holen. Es dauerte eine Weile, bis er den ersten Korintherbrief gefunden hatte, und obwohl sie eine etwas andere Übersetzung hatte, war der Sinn klar. Der Pastor fuhr fort: »Ich möchte Ihnen vorlesen, was der große Apostel Paulus den Christen in Korinth geschrieben hat:
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›Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden – plötzlich, in einem Augenblick, beim letzten Posaunenschall. Die Posaune wird erschallen, die Toten werden zur Unvergänglichkeit auferweckt, wir aber werden verwandelt werden. Denn dieses Vergängliche muss sich mit Unvergänglichkeit bekleiden und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit. Wenn sich aber dieses Vergängliche mit Unvergänglichkeit bekleidet und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit, dann erfüllt sich das Wort der Schrift: Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde ist das Gesetz. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg geschenkt hat durch Jesus Christus, unseren Herrn.‹« Rayford war verwirrt. Einiges davon verstand er, doch der Rest war für ihn mehr als unverständlich. Er ließ das Band weiterlaufen. Pastor Billings fuhr fort: »Ich möchte einiges davon in anderen Worten wiedergeben, damit Sie es genau verstehen. Wenn Paulus sagt, dass wir nicht alle entschlafen werden, meint er damit, dass wir nicht alle sterben werden. Und er sagt, dass dieses Vergängliche sich mit Unvergänglichkeit bekleiden müsse, das in Ewigkeit bleibt. Wenn diese Dinge passiert sein werden, wenn die Christen, die bereits gestorben sind, und diejenigen, die noch am Leben waren, ihre unsterblichen Leiber erhalten, wird die Entrückung der Gemeinde stattgefunden haben. Alle, die an den stellvertretenden Tod Christi, sein Begräbnis und seine Auferstehung geglaubt haben, haben seine Wiederkunft für sich erwartet. Wenn Sie sich dieses Band ansehen, werden alle jene bereits die Erfüllung des Versprechens Christi erlebt haben, als er sagte: ›Wenn ich gegangen bin und einen Platz für euch vorbereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin.‹ 189
Ich bin der Meinung, dass alle diese Menschen buchstäblich von der Erde fortgenommen worden sind. Wenn Sie festgestellt haben, dass Millionen von Menschen fort sind, dass Babys und Kinder verschwunden sind, dann wissen Sie, dass das, was ich sage, wahr ist. Wir sind der Überzeugung, dass Gott einen Menschen erst ab einem gewissen Alter, das vermutlich für jede Person anders ist, verantwortlich macht für eine Entscheidung, die mit dem Herzen und dem Verstand in voller Erkenntnis der Auswirkungen getroffen werden kann. Vielleicht stellen Sie fest, dass sogar ungeborene Kinder aus dem Mutterleib verschwinden. Ich kann mir den Schmerz einer Welt ohne die kostbaren Kinder kaum vorstellen, und die tiefe Verzweiflung der Eltern, die sie so vermissen werden. In dem Brief des Paulus an die Korinther steht, dass dies alles in einem Augenblick passieren wird. Vielleicht hat ein geliebter Mensch gerade noch vor Ihnen gestanden, und auf einmal ist er fort. Ich beneide Sie nicht um diesen Schock. In der Bibel heißt es, dass das Herz des Menschen aus Furcht versagen wird. Für mich bedeutet das, dass Menschen durch den Schock einen Herzanfall erleiden, in ihrer Verzweiflung Selbstmord begehen werden, und Sie wissen sehr viel besser, welches Chaos entstanden ist, nun da die Christen aus den verschiedenen Transportmitteln verschwunden sind, wo es weniger Feuerwehrleute, Polizisten und Notfallhelfer aller Art gibt. Je nachdem, wann Sie sich diese Kassette ansehen, wissen Sie bereits, dass an vielen Orten der Ausnahmezustand verhängt worden ist, dass Notfallmaßnahmen ergriffen worden sind, um üble Elemente davon abzuhalten, zu plündern und sich zu holen, was übrig geblieben ist. Regierungen werden gestürzt werden, und es wird internationale Unordnung geben. Sie fragen sich vielleicht, warum das passiert ist. Einige glauben, dies sei das Gericht Gottes über eine gottlose Welt. Doch das wird erst später kommen. So seltsam Ihnen dies 190
vielleicht erscheinen wird, dies ist Gottes letzter Versuch, die Aufmerksamkeit aller jener auf sich zu lenken, die ihn ignoriert oder zurückgewiesen haben. Er lässt nun eine Zeit der Bedrängnis zu, um zu Ihnen durchzudringen, die zurückgeblieben sind. Seine Gemeinde hat er aus einer korrupten Welt, die nur das ihre sucht, fortgenommen. Ich bin davon überzeugt, dass Gottes Zweck hierbei ist, jenen Zurückgelassenen Gelegenheit zu geben, Bilanz zu ziehen und ihre Suche nach Vergnügen und Selbsterfüllung hinter sich zu lassen, um in der Bibel die Wahrheit und bei Christus das Heil zu suchen. Ich möchte Ihnen sagen, dass Ihre Lieben, Ihre Kinder und Kleinkinder, Ihre Freunde und Bekannten, nicht durch eine böse Macht oder irgendeine Invasion aus dem All fortgenommen worden sind. Das wird vermutlich die allgemeine Erklärung sein. Was Ihnen vorher vielleicht lächerlich erschien, könnte jetzt logisch klingen, aber so ist es nicht. Auch wird in der Bibel gesagt, dass es eine große Lüge geben wird, die mit Hilfe der Medien verbreitet und von einem selbst ernannten Weltführer unterstützt werden wird. Jesus selbst hat von einem solchen Menschen gesprochen. Er sagte: ›Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und doch lehnt ihr mich ab. Wenn aber ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, dann werdet ihr ihn anerkennen.‹ Ich möchte Sie vor einem solchen Führer der Menschheit warnen, der aus Europa kommen könnte. Er wird sich als ein großer Betrüger entpuppen. Zuerst wird er mit so eindrucksvollen Zeichen und Wundern von sich reden machen, dass viele ihn für von Gott gesandt ansehen werden. Er wird eine große Gefolgschaft unter den Zurückgelassenen finden, und viele werden ihn für einen Wundertäter halten. Der Betrüger wird Stärke, Frieden und Sicherheit versprechen, doch die Bibel sagt, dass er sich gegen den Allerhöchsten wenden und die Heiligen des Allerhöchsten niedermachen 191
wird. Darum warne ich Sie vor einem neuen Führer mit großem Charisma, der versucht, während dieser schrecklichen Zeit des Chaos und der Verwirrung die Weltherrschaft zu übernehmen. Von dieser Person spricht die Bibel als dem Antichristen. Er wird viele Versprechungen machen, sie aber nicht halten. Sie müssen den Versprechen des allmächtigen Gottes vertrauen, die er durch seinen Sohn Jesus Christus gegeben hat. Ich glaube der Lehre der Bibel, dass nach der Entrückung der Gemeinde eine siebenjährige Zeit der Bedrängnis folgen wird, in der schreckliche Dinge passieren werden. Wenn Sie Christus nicht als Ihren Erretter angenommen haben, ist Ihre Seele in Gefahr. Und wegen der schrecklichen Ereignisse, die während dieser Zeit stattfinden werden, ist auch Ihr Leben in Gefahr. Wenn Sie sich Christus zuwenden, werden Sie vielleicht als Märtyrer sterben müssen.« Rayford stellte das Gerät auf Pause. Er war auf diese Errettungsgeschichte vorbereitet gewesen. Aber eine elend lange Zeit der Bedrängnis? War es nicht genug, dass er seine Lieben verloren hatte und sich seinem Stolz und seiner Selbstsucht stellen musste, die ihm den Weg in den Himmel verbaut hatten? Es würde noch mehr kommen? Und was war mit diesem »großen Betrüger«, von dem der Pastor gesprochen hatte? Vielleicht hatte er es mit den Prophezeiungen doch ein wenig zu weit getrieben. Aber der Pastor war kein Mann, der einfach etwas daherredete – er war ein ernster, ehrlicher, vertrauenswürdiger Mensch, ein Mann Gottes. Wenn das, was der Pastor über das Verschwinden der Menschen gesagt hatte, stimmte – und tief in seinem Innern wusste Rayford, dass es so war –, dann hatte der Mann seine Aufmerksamkeit, seinen Respekt verdient. Es war Zeit, nicht mehr nur Kritiker zu sein, der alles analysieren muss und sich mit einem Beweis allein niemals zufrieden gab. Den Beweis hatte er vor sich: die leeren Stühle, das verwaiste Bett, das Loch in seinem Herzen. Es gab nur eines zu 192
tun. Er ließ die Kassette weiterlaufen. »An dieser Stelle macht es keinen Unterschied, warum Sie sich noch auf der Erde befinden. Vielleicht sind Sie zu egoistisch, stolz oder beschäftigt gewesen, vielleicht haben Sie sich einfach nicht die Zeit genommen, sich mit den Ansprüchen Christi an Sie zu beschäftigen. Wichtig ist, Sie haben noch eine Chance. Verpassen Sie sie nicht. Das Verschwinden der Gläubigen und Kinder, das dadurch entstandene Chaos und die Verzweiflung der Zurückgebliebenen sind Beweis genug dafür, dass das, was ich sage, stimmt. Beten Sie, dass Gott Ihnen helfen möge. Nehmen Sie seine Gabe der Erlösung noch in diesem Augenblick an. Und widerstehen Sie den Lügen und Bemühungen des Antichristen, der sicherlich bald aufstehen wird. Denken Sie daran, er wird viele täuschen. Sehen Sie sich vor, dass Sie nicht dazugehören. Fast achthundert Jahre vor Jesu Geburt prophezeite Jesaja im Alten Testament, dass die Königreiche der Nationen große Konflikte miteinander austragen und dass ihre Gesichter wie Flammen sein werden. Für mich deutet dies auf einen dritten Weltkrieg hin, einen thermonuklearen Krieg, der Millionen von Menschen vernichten wird. Biblische Prophetie ist im Voraus geschriebene Geschichte. Ich möchte Ihnen empfehlen, sich Bücher zu diesem Thema zu suchen oder sich mit Leuten zu unterhalten, die sich auf diesem Gebiet vielleicht gut auskennen, aus irgendeinem Grund aber Christus nicht angenommen haben und zurückgelassen wurden. Beschäftigen Sie sich eingehend mit dem, was kommen wird, damit Sie vorbereitet sind. Sie werden feststellen, dass sich die Regierung und die Religion ändern werden, Krieg und Inflation werden entstehen, es wird weltweit Tod und Zerstörung, Märtyrertum der Gläubigen und sogar schreckliche Erdbeben geben. Seien Sie darauf vorbereitet. Gott möchte Ihnen Ihre Sünden vergeben und Ihnen den 193
Himmel zusichern. Hören Sie, was in Ezechiel 33,11 steht: ›Ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er auf seinem Weg umkehrt und am Leben bleibt.‹ Wenn Sie die Botschaft Gottes von der Erlösung annehmen, wird sein Heiliger Geist zu Ihnen kommen und Sie eine geistliche Wiedergeburt erleben lassen. Sie brauchen dies alles theologisch gar nicht zu verstehen. Sie können ein Kind Gottes werden, indem Sie gleich jetzt so zu Gott beten, wie ich es Ihnen vorsprechen werde –« Wieder stellte Rayford das Gerät auf Pause. Er sah die Besorgnis auf dem Gesicht des Pastors, das Mitleid in seinen Augen. Er wusste, dass seine eigenen Freunde und Bekannten ihn für verrückt halten würden, vielleicht sogar seine Tochter. Doch er hatte das Gefühl, dass alles stimmte. Rayford verstand nicht, was mit den sieben Jahren der Bedrängnis und dem neuen Weltführer gemeint war, dem Lügner, der kommen sollte. Doch er wusste, er brauchte Christus in seinem Leben. Er brauchte die Vergebung der Sünde und die feste Gewissheit, dass er eines Tages mit seiner Frau und seinem Sohn im Himmel vereint sein würde. Rayford stützte den Kopf in die Hände. Sein Herz klopfte laut. Von oben, wo Chloe schlief, drang kein Laut zu ihm. Er war allein mit seinen Gedanken, allein mit Gott, und er spürte Gottes Gegenwart. Rayford ließ sich auf seine Knie sinken. Noch nie hatte er zur Anbetung auf den Knien gelegen, doch er spürte die Ernsthaftigkeit und Ehrfurcht des Augenblicks. Er ließ die Kassette weiterlaufen und legte die Fernbedienung beiseite. Er stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen. Der Pastor sagte: »Sprechen Sie mir nach.« Rayford tat es. »Lieber Gott, ich bekenne, dass ich ein Sünder bin. Meine Sünden tun mir Leid. Bitte vergib mir und errette mich. Ich bitte dies im Namen Jesu, der für mich gestorben ist. Ich vertraue ihm jetzt. Ich glaube, dass Jesus durch seinen Tod den Preis für meine Errettung bereits bezahlt hat. Darum bitte ich 194
dich, Jesus, jetzt in mein Leben zu kommen, mich zu führen und als dein Eigentum zu schützen. Danke, dass du mich hörst und mich annimmst.« Während der Pastor noch einige Worte der Ermutigung sprach, Bibelverse zitierte, die versprachen, dass, wer immer den Namen des Herrn anrufen würde, gerettet werden würde und Gott niemanden hinausstoßen würde, der ihn suchte, blieb Rayford reglos auf seinen Knien. Der Pastor beendete die Aufzeichnung mit den Worten: »Wenn Sie es ernst gemeint haben, dann sind Sie jetzt gerettet, wieder geboren, ein Kind Gottes.« Rayford wollte noch weiter mit Gott sprechen. Er wollte ihm seine Sünden aufzählen. Zwar wusste er, dass ihm vergeben war, doch auf kindliche Weise wollte er Gott sagen, dass er wusste, was für ein Mensch er gewesen war. Er bekannte seinen Stolz. Seinen Stolz auf seine Intelligenz, auf sein Aussehen, auf seine Fähigkeiten. Er bekannte seine sexuellen Begierden, dass er seine Frau vernachlässigt hatte, dass er nur sein eigenes Vergnügen gesucht hatte. Dass er Geld und Materielles angebetet hatte. Als er fertig war, fühlte er sich rein. Das Video hatte ihn erschreckt, all das von den schwierigen Zeiten, die vor ihnen lagen, doch er wusste, dass er sich dem Ganzen lieber als echter Christ stellen würde als in dem Zustand, in dem er sich befunden hatte. Sein erstes Gebet galt Chloe. Er würde sich um sie kümmern und unablässig für sie beten, bis er sicher sein konnte, dass sie ihm in sein neues Leben gefolgt war. Als Buck in New York ankam, rief er sofort Steve Plank an. »Bleib, wo du bist, Buck, du Abtrünniger. Weißt du, wer mit dir sprechen möchte?« »Keine Ahnung.« »Nicolai Carpathia höchstpersönlich.« »Ja, ja, sicher.« »Ich meine es ernst. Er ist hier, und dein Freund Chaim Ro195
senzweig ist bei ihm. Offensichtlich hat Chaim ihm dein Lob gesungen, und da alle Medien hinter ihm her sind, hat er nach dir gefragt. Ich hole dich ab, und du kannst mir dann erzählen, in was du dich da wieder hineinmanövriert hast. Wir werden dich zum Leben auferwecken, und du kannst dieses große Interview machen, auf das du gewartet hast.« Buck legte den Hörer auf und rieb sich die Hände. Das ist zu schön, um wahr zu sein, dachte er. Wenn es jemanden gibt, der über diesen internationalen Terroristen und den Lakaien an der Londoner Börse und sogar bei Scotland Yard steht, dann ist es dieser Carpathia. Wenn Rosenzweig ihn mag, muss er in Ordnung sein. Rayford konnte es nicht erwarten, am nächsten Morgen in die New Hope Gemeinde zu kommen. Er begann, im Neuen Testament zu lesen. Auch suchte er im Haus nach christlicher Literatur, die Irene vielleicht zusammengetragen hatte. Obwohl vieles für ihn noch schwer zu verstehen war, stellte er fest, dass er so hungrig und durstig nach der Geschichte Christi war, dass er alle vier Evangelien durchlas, bis es spät war und er einschlief. Während des Lesens konnte Rayford nur denken, dass er nun auch zu dieser Familie gehörte, der bereits seine Frau und sein Sohn angehört hatten. Obwohl er Angst hatte vor dem, was der Pastor vorausgesagt hatte, vor all den schlimmen Dingen, die in der Welt passieren würden, jetzt, da die Gemeinde entrückt worden war, so freute er sich doch auch seines neuen Glaubens. Er wusste, er würde eines Tages bei Gott und Christus sein, und er wollte mehr denn je, dass auch Chloe dazugehören würde. Rayford bemühte sich, sie nicht mehr zu bedrängen. Er beschloss, ihr erst von seiner Bekehrung zu erzählen, wenn sie ihn fragen würde. Sie fragte nicht, als er zum Gottesdienst aufbrach, aber sie entschuldigte sich, dass sie nicht mitkam. 196
»Irgendwann werde ich dich einmal begleiten«, sagte sie. »Ich verspreche es. Ich bin dem Ganzen nicht feindlich gegenüber eingestellt. Ich bin nur noch nicht bereit.« Rayford kämpfte gegen den Drang an, ihr zu sagen, sie solle nicht zu lange warten. Er hätte sie so gern gebeten, sich das Video anzusehen, doch sie wusste, dass er es bereits hatte abspielen lassen, und sie hatte ihn nicht danach gefragt. Er hatte es zurückgespult und im Videorecorder gelassen in der Hoffnung, dass sie es sich ansehen würde, während er fort war. Um kurz vor zehn kam Rayford zum Gemeindehaus, und er musste seinen Wagen drei Straßen weiter abstellen. Jeder Parkplatz war besetzt. Einige Leute trugen Bibeln bei sich, und kaum einer hatte sich fein gemacht. Die Leute waren verängstigt, verzweifelt, und jeder Platz, auch auf der Empore, war besetzt. Rayford fand keinen Sitzplatz mehr und musste sich mit einem Stehplatz begnügen. Um Punkt zehn Uhr begann Bruce mit dem Gottesdienst. Er hatte Loretta gebeten, bei der Tür stehen zu bleiben und den zu spät Kommenden zu sagen, dass sie willkommen waren. Trotz der großen Menge stand er nicht auf dem Podium, er trat auch nicht hinter die Kanzel, sondern stellte sich ans Mikrofon vor der ersten Reihe. Bruce nannte seinen Namen und sagte: »Ich stehe nicht hinter der Kanzel, weil dies ein Ort für Menschen ist, die dazu berufen sind, dort zu stehen. Ich befinde mich zu Unrecht in der Rolle des Leiters und Lehrers dieser Gemeinde. Normalerweise wären wir hocherfreut, eine solche Menschenmenge in unserem Gottesdienst zu begrüßen, doch ich bin nicht hier, um Ihnen zu sagen, wie schön es ist, dass Sie hergekommen sind. Ich weiß, Sie möchten erfahren, was mit Ihren Kindern und anderen geliebten Menschen geschehen ist, und ich denke, ich kenne die Antwort. Offensichtlich kannte auch ich sie vorher nicht, denn dann wäre auch ich nicht mehr hier. Wir werden nicht zusammen singen, werden auch keine Ankündigungen 197
machen. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass wir für Mittwochabend, sieben Uhr, eine Bibelstunde angesetzt haben. Wir werden kein Opfer einsammeln, obwohl wir in der nächsten Woche wieder damit anfangen müssen, um unsere Ausgaben zu decken. Die Gemeinde hat ein wenig Geld auf der Bank, doch auf diesem Gebäude liegt eine Hypothek, und auch ich habe Ausgaben.« Danach erzählte Bruce dieselbe Geschichte, die er Rayford und Chloe am Tag zuvor bereits erzählt hatte. Die Leute waren so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Viele weinten. Er ließ die Videokassette ablaufen, und mehr als einhundert Menschen sprachen am Schluss das Gebet des Pastors mit. Bruce forderte sie auf, doch auch weiterhin in die Gemeinde zu kommen. Er fügte hinzu: »Ich weiß, dass viele von Ihnen immer noch skeptisch sind. Sie glauben vielleicht, dass das, was geschehen ist, von Gott ist, doch es gefällt Ihnen nicht und Sie sind deswegen ärgerlich auf ihn. Wenn Sie heute Abend wiederkommen und mir Fragen stellen möchten, so werde ich für Sie da sein. Ich habe beschlossen, Ihnen nicht heute Morgen diese Gelegenheit zu geben, weil so viele da sind, die gerade erst den Glauben angenommen haben und durch Ihre Fragen verwirrt werden könnten. Aber seien Sie versichert, wir werden offen und ehrlich über alle Ihre Fragen sprechen. Ich möchte jetzt Raum geben für jeden, der Christus heute Morgen angenommen hat und es hier bezeugen möchte. Die Bibel sagt, dass wir zu unserer Entscheidung stehen sollen. Kommen Sie ruhig nach vorn vors Mikrofon, wenn Sie sich gedrängt fühlen.« Rayford rührte sich als Erster, doch während er den Gang entlang ging, spürte er, dass sich viele ihm angeschlossen hatten. Dutzende warteten darauf, ihre Geschichte zu erzählen. Die meisten waren wie er, wussten durch Freunde oder Familienangehörige über die Wahrheit Bescheid, hatten Christus aber 198
nie angenommen. Ihre Geschichten waren bewegend, und kaum einer verließ den Gottesdienstraum, auch nicht, als es zwölf und schließlich ein Uhr wurde. Immer noch standen vierzig oder fünfzig Leute vorne und warteten darauf, an die Reihe zu kommen. Alle schienen das Bedürfnis zu haben, von den Menschen zu erzählen, die sie verlassen hatten. Um zwei Uhr, als alle hungrig und durstig waren, sagte Bruce: »Ich werde jetzt hier einen Schlusspunkt setzen. Ich wollte heute nichts tun, das man traditionsgemäß in einem Gottesdienst tut, nicht einmal singen. Doch ich habe den Eindruck, dass wir den Herrn preisen sollten für das, was heute passiert ist. Ich möchte mit Ihnen einen einfachen Anbetungschorus einüben.« Bruce sang ein kurzes Lied vor, in dem Vater, Sohn und Heiliger Geist geehrt wurden. Rayford war zu bewegt, um mit einstimmen zu können, und einem nach dem anderen versagte die Stimme. Die Leute waren zu aufgewühlt. Dies war der bewegendste Augenblick in Rayfords Leben. Wie sehnte er sich danach, dies mit Irene, Raymie und Chloe teilen zu können. Die Leute waren noch nicht bereit zu gehen, nachdem Bruce mit einem Gebet geschlossen hatte. Viele blieben, um sich mit anderen bekannt zu machen, und es war offensichtlich, dass eine neue Gemeinde entstanden war. Der Name der Gemeinde war zutreffender als je zuvor. New Hope – »Neue Hoffnung«. Bruce schüttelte den Leuten beim Hinausgehen die Hand, und keiner drückte sich an ihm vorbei. Als Rayford sich von ihm verabschiedete, fragte Bruce: »Haben Sie heute Nachmittag Zeit? Wollen wir zusammen etwas essen gehen?« »Ja, gern, ich sage nur eben meiner Tochter Bescheid.« Rayford erzählte Chloe, wo er gewesen war. Sie fragte nicht nach dem Gottesdienst, sagte nur: »Das hat aber lange gedauert, nicht? Waren viele Leute da?« Und er beantwortete ihre Fragen einfach nur mit »Ja«. Er war entschlossen, nichts zu 199
sagen, wenn sie nicht fragte. Er hoffte und betete, dass ihre Neugier sie schließlich überwältigen würde, dann könnte er ihr genau erzählen, was sich an diesem Tag ereignet hatte. Vielleicht würde sie sich dann wünschen, ebenfalls dabei gewesen zu sein. Zumindest würde sie erkennen, welche Auswirkungen dies alles auf ihn gehabt hatte. Bruce und Rayford gingen in ein kleines Restaurant in der Nähe von Arlington Heights. Bruce wirkte erschöpft, aber glücklich. Er sagte Rayford, seine Gefühle seien so durcheinander, dass er kaum wisse, wie er damit umgehen solle. »Mein Schmerz über den Verlust meiner Familie ist immer noch so groß, dass ich ihn kaum ertragen kann. Und ich schäme mich immer noch so sehr meiner Heuchelei. Und doch hat Christus, seit ich ihn vor einigen Tagen wirklich angenommen habe, mich mehr gesegnet, als ich mir je hatte träumen können. Mein Haus ist einsam und kalt und birgt überall schmerzliche Erinnerungen. Und sehen Sie nur, was heute passiert ist. Mir ist diese neue Gemeinde gegeben worden, ein Grund zum Leben.« Rayford nickte kaum. Er spürte, dass Bruce jemanden brauchte, mit dem er reden konnte. »Ray«, sagte Bruce, »normalerweise werden Gemeinden von Pastoren und Ältesten gebaut, die ein Seminar besucht haben und den größten Teil ihres Lebens Christen gewesen sind. Diesen Luxus haben wir nicht. Ich weiß nicht, welche Führung wir haben werden. Es macht keinen Sinn, Älteste zu haben, wenn der Übergangspastor, denn als solchen bezeichne ich mich, selbst ganz neu im Glauben ist, genau wie alle Mitglieder seiner Gemeinde. Doch wir brauchen eine kleine Gruppe von Leuten, denen die anderen und die Gemeinde am Herzen liegen. Loretta und einige der Leute, mit denen ich in der Nacht der Entrückung zusammengesessen habe, gehören bereits dazu, zusammen mit einigen der älteren Männer, die schon seit Jahren der Gemeinde angehören, aber ebenfalls irgendwie das Wichtigste versäumt haben. 200
Ich weiß, dass dies alles sehr neu für Sie ist, doch ich habe das Gefühl, ich sollte Sie bitten, sich dieser Gruppe anzuschließen. Wir werden am Sonntagmorgen zum Gottesdienst in der Gemeinde sein, gelegentlich an der Sonntagabendstunde teilnehmen und natürlich an der Bibelstunde am Mittwochabend. Außerdem sollten wir uns einmal in der Woche bei mir zu Hause treffen, miteinander beten, uns austauschen und in der Bibel lesen, damit wir der neuen Gemeinde ein wenig voraus sind. Sind Sie bereit dazu?« Rayford setzte sich zurück. »Wow!«, meinte er. »Ich weiß nicht. Das alles ist so neu für mich.« »Das ist es für uns alle.« »Ja, aber Sie sind darin aufgewachsen, Bruce. Sie wissen Bescheid.« »Ich habe nur das Wichtigste verpasst.« »Nun, ich sage Ihnen, was mir daran gefällt. Ich möchte gern mehr über die Bibel erfahren, und ich brauche einen Freund.« »Ich auch«, erwiderte Bruce. »Das ist das Risiko. Wir könnten einander mögen.« »Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen, wenn Sie es auch sind«, meinte Rayford. »Solange man nicht von mir erwartet, die Führungsrolle zu übernehmen.« »Abgemacht«, sagte Barnes und streckte Rayford die Hand entgegen. Rayford nahm sie. Keiner von ihnen lächelte. Rayford hatte das Gefühl, dass dies der Beginn einer Beziehung war, die aus Tragödie und Notwendigkeit entstanden war. Er hoffte, dass es funktionieren würde. Als Rayford endlich nach Hause kam, wollte Chloe alles von ihm hören. Sie war erstaunt über das, was ihr Vater ihr erzählte und sagte, sie hätte sich das Video noch nicht angesehen. »Aber ich werde es jetzt tun, Dad, bevor wir nach Atlanta fliegen. Dich hat es richtig gepackt, nicht? Das klingt nach etwas, das ich abchecken sollte, auch wenn ich wahrscheinlich damit nichts anfangen kann.« Rayford war knapp zwanzig Minuten zu Hause und hatte sich 201
gerade seinen Schlafanzug und seinen Morgenmantel angezogen, um es sich für den Rest des Abends gemütlich zu machen, als Chloe nach ihm rief. »Dad, ich hätte es fast vergessen. Eine Hattie Durham hat mehrmals für dich angerufen. Sie klang ziemlich aufgeregt. Sagt, sie würde mit dir zusammenarbeiten.« »Ja«, erwiderte Rayford. »Sie wollte meinem nächsten Flug zugeteilt werden, und ich habe das abgewimmelt. Vielleicht hat sie es herausgefunden und möchte den Grund erfahren.« »Warum hast du es denn getan?« »Das ist eine lange Geschichte. Irgendwann erzähle ich sie dir einmal.« Rayford griff gerade nach dem Telefon, als es läutete. Es war Bruce. »Ich vergaß Ihnen zu sagen«, meinte er, »dass Sie, wenn Sie sich zum harten Kern der Gemeinde zählen, unbedingt heute Abend bei dem Treffen der Skeptiker anwesend sein sollten.« »Sie sind wirklich ein gestrenger Arbeitgeber, nicht?« »Ich verstehe, wenn Sie das heute nicht eingeplant haben.« »Bruce«, sagte Rayford, »außer dem Himmel gibt es keinen Ort, an dem ich lieber bin. Ich würde es nicht verpassen. Vielleicht kann ich sogar Chloe dazu überreden, mitzukommen.« »Wohin?«, fragte Chloe, als er auflegte. »Warte eine Minute«, sagte er. »Ich will erst Hattie anrufen und die Wogen etwas glätten.« Rayford war erstaunt, dass Hattie nichts zu ihrem Flugplan sagte. »Ich habe gerade eine sehr beunruhigende Nachricht gehört«, begann sie. »Erinnern Sie sich noch an diesen Reporter vom Global Weekly, der in unserer Maschine saß und seinen Computer an das Telefon angeschlossen hat?« »Vage.« »Sein Name war Cameron Williams, und seit dem Flug habe ich ein paarmal mit ihm telefoniert. Ich habe gestern Abend 202
versucht, ihn vom Flughafen in New York aus anzurufen, doch ich kam nicht durch.« »Aha.« »Gerade habe ich in den Nachrichten gehört, dass er in England durch eine Autobombe ums Leben gekommen ist.« »Das darf doch nicht wahr sein …!« »Doch. Ist das nicht wirklich seltsam? Rayford, manchmal weiß ich nicht, wie viel ich noch ertragen kann. Ich kannte diesen Burschen kaum, und doch war ich so schockiert, dass ich einfach zusammengebrochen bin, als ich es hörte. Es tut mir Leid, wenn ich Sie damit belästige, aber ich dachte, dass Sie sich vielleicht an ihn erinnern.« »Nein, das ist schon in Ordnung, Hattie. Und ich kann verstehen, dass das alles zu viel für Sie ist, weil ich dasselbe empfinde. Aber ich habe einiges mit Ihnen zu besprechen.« »Wirklich?« »Könnten wir uns nicht bald einmal zusammensetzen?« »Ich bin für einen Ihrer Flüge eingeteilt«, sagte sie. »Vielleicht haben wir dann die Gelegenheit dazu.« »Vielleicht«, sagte er. »Und wenn nicht, können Sie vielleicht einmal zum Abendessen zu Chloe und mir kommen.« »Sehr gern, Rayford. Wirklich sehr gern.«
13 Buck Williams saß in der Halle des John-F.-KennedyFlughafens in New York und las seinen eigenen Nachruf. »Journalist vermutlich tot«, lautete die Schlagzeile. »Cameron Williams, dreißig, der jüngste Korrespondent im Stab einer Wochenzeitschrift, ist vermutlich am Samstagabend bei einem mysteriösen Bombenanschlag in London ums Leben gekommen. Ebenfalls getötet wurde ein Krimi203
nalbeamter von Scotland Yard. Williams, seit fünf Jahren bei Global Weekly beschäftigt, gewann als Reporter des Boston Globe den Pulitzerpreis, bevor er zum Global Weekly wechselte. Schnell stieg er in die Position eines Korrespondenten auf, und seither hat er mehr als drei Dutzend Leitartikel geschrieben und viermal das Interview mit dem Mann des Jahres geführt. Er gewann den hoch angesehenen Ernest-Hemingway-Preis für Kriegsberichterstattung, als er über die Zerstörung der russischen Luftwaffe über Israel vor vierzehn Monaten berichtete. Nach Steve Plank, Chefredakteur des Global Weekly, weigert sich die Verwaltung der Zeitung, den Tod von Williams zu bestätigen, ›bis wir unzweideutige Beweise in Händen halten.‹ Williams’ Vater und ein verheirateter Bruder wohnen in Tucson, wo Williams seine Schwägerin, seine Nichte und seinen Neffen bei dem mysteriösen Massenverschwinden in der vergangenen Woche verlor. Scotland Yard ist der Ansicht, der Bombenanschlag in London sei das Werk nordirischer Terroristen und könnte ein Vergeltungsschlag gewesen sein. Captain Howard Sullivan nannte seinen neunundzwanzigjährigen Untergebenen, den bei dem Anschlag ums Leben gekommenen Alan Tompkins, ›einen der feinsten Männer und klügsten Kriminalbeamten, mit dem ich je zusammengearbeitet habe.‹ Sullivan fügte hinzu, dass Williams und Tompkins Freunde geworden seien, nachdem der Reporter den Beamten vor einigen Jahren für einen Artikel über Terrorismus in England interviewt habe. Die beiden seien gerade aus dem Armitage Arms Pub in London gekommen, als in Tompkins Dienstfahrzeug eine Bombe explodierte. Tompkins Überreste seien identifiziert worden, doch von Williams seien nur Teile seines Ausweises gefunden worden.«
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Rayford Steele hatte einen Plan. Er hatte beschlossen, ehrlich zu Chloe zu sein und ihr zu erzählen, dass er sich von Hattie Durham angezogen gefühlt hatte und wie schuldig er sich deswegen fühle. Er wusste, es würde Chloe enttäuschen, wenn nicht sogar schockieren. Er beabsichtigte, ihr von seinem Wunsch zu erzählen, mit Hattie über seinen Glauben zu sprechen, und er hoffte, er würde auf diese Weise auch mit Chloe weiterkommen, ohne dass sie sich bedrängt fühlte. Chloe war mit ihm zu der Gemeindeveranstaltung für Skeptiker am Abend zuvor gegangen, wie sie versprochen hatte. Doch nach etwa der Hälfte der Stunde war sie gegangen. Sie hatte auch ihr Versprechen gehalten und sich das Video angesehen, das der frühere Pastor aufgezeichnet hatte. Weder über die Gemeindestunde noch über das Band hatten sie gesprochen. Wenn sie erst einmal in O’Hare angekommen waren, würden sie nicht mehr viel Zeit haben, darum schnitt Rayford das Thema unterwegs an, während sie an Wracks und Schutt vorbeifuhren. Auf dem Weg zum Flughafen kamen sie an mehr als einem Dutzend Häusern vorbei, die bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren. Rayfords Theorie war, dass diese Familien verschwunden waren, während etwas auf dem Herd kochte. »Und du meinst, das sei Gottes Werk?«, fragte Chloe durchaus nicht respektlos. »Ja.« »Ich dachte, Gott sei ein Gott der Liebe und der Ordnung«, erwiderte sie. »Das ist er auch. Doch dies war sein Plan.« »Auch vorher schon gab es so viele Tragödien und sinnlose Todesfälle.« »Ich verstehe das alles ja auch nicht«, sagte Rayford. »Doch wie Bruce gestern Abend gesagt hat, wir leben in einer gefallenen Welt. Gott hat die Kontrolle zum größten Teil dem Widersacher überlassen.« 205
»Oh Mann«, sagte sie. »Und da wunderst du dich noch, warum ich gegangen bin?« »Ich dachte, weil die Fragen und Antworten ein wenig zu sehr trafen.« »Vielleicht war das so, aber dieser ganze Quatsch über Satan und den Sündenfall, die Sünde und so …« Sie brach ab und schüttelte den Kopf. »Ich behaupte ja gar nicht, das alles besser zu verstehen als du, Liebes«, entgegnete Rayford. »Aber ich weiß, dass ich ein Sünder bin und dass diese Welt voll von Menschen ist, die so sind wie ich.« »Und du betrachtest mich auch als einen solchen.« »Wenn du zu allen gehörst, ja, dann gehörst du dazu. Oder etwa nicht?« »Nicht bewusst.« »Du bist niemals egoistisch, gierig, neidisch, kleinlich, gehässig?« »Ich versuche, es nicht zu sein, wenigstens nicht auf Kosten anderer.« »Aber du meinst, du seist ausgenommen von dem, was die Bibel sagt, wenn es heißt, dass alle gesündigt haben und es nicht einen gerechten Menschen gibt, nicht einen einzigen?« »Ich weiß es nicht, Daddy. Ich weiß es einfach nicht.« »Du weißt, dass ich mir richtig Sorgen mache.« »Ja, ich weiß. Du meinst, die Zeit sei kurz, und dass ich in dieser neuen gefährlichen Welt vielleicht zu lange warte, um zu einem Entschluss zu kommen, was ich tun will, und es dann vielleicht zu spät ist.« »Ich selbst hätte es nicht besser formulieren können, Chloe. Ich hoffe nur, du weißt, dass ich nur an dich denke, nichts sonst.« »Du brauchst dir darum keine Gedanken zu machen, Daddy.« »Was hältst du von dem Video? War es logisch für dich?« »Es ist durchaus logisch, wenn man dem Pastor das alles 206
abkauft. Ich meine, du musst das als Grundlage nehmen. Dann passt alles ganz genau ins Bild. Doch wenn man sich gar nicht sicher ist über Gott und die Bibel, über Sünde, Himmel und Hölle, dann fragt man sich immer noch, was passiert ist und warum.« »Und da stehst du im Augenblick noch?« »Ich weiß nicht, wo ich stehe, Daddy.« Rayford kämpfte gegen den Wunsch an, sie zu drängen. Wenn sie in Atlanta beim Mittagessen genügend Zeit haben würden, würde er versuchen, ihr von Hattie zu erzählen. Allerdings hatte das Flugzeug nur einen fünfundvierzigminütigen Aufenthalt, bevor es wieder starten sollte. Rayford fragte sich, ob es fair war, um eine Verzögerung zu beten. »Nette Mütze«, sagte Steve Plank und schlug Buck in der Flughafenhalle freundschaftlich auf die Schulter. »Und was ist das? Ein Zweitagebart?« »Ich habe mich noch nie besonders gut verkleiden können«, meinte Buck. »Du bist nicht bekannt genug, du brauchst dich nicht zu verstecken«, meinte Steve. »Du willst deiner Wohnung eine Weile fernbleiben?« »Ja, und vermutlich auch deiner. Du bist sicher, dass niemand dir gefolgt ist?« »Du bist ein wenig paranoid, nicht wahr, Buck?« »Ich habe das Recht dazu«, sagte Buck, als sie in ein Taxi stiegen. »Central Park«, wies er den Fahrer an. Dann erzählte er Steve die ganze Geschichte. »Und wieso meinst du, Carpathia würde helfen?«, fragte Plank später, als sie durch den Park spazierten. »Wenn der Yard und die Börse dahinter stecken und du meinst, es gäbe eine Verbindung zwischen Todd-Cothran und Stonagal, dann könntest du Carpathia bitten, sich gegen seine eigenen Engel zu wenden.« 207
Sie schlenderten unter einer Brücke her, um Schutz vor der heißen Frühlingssonne zu suchen. »Ich habe so ein Gefühl bei diesem Burschen«, sagte Buck. Seine Stimme hallte von der Kopfsteinwand wider. »Es würde mich nicht überraschen festzustellen, dass er sich mit Stonagal und Todd-Cothran neulich in London getroffen hat. Doch ich glaube, dass er nur eine Schachfigur ist.« Steve deutete auf eine Bank, und sie setzten sich. »Nun, ich habe Carpathia heute Morgen auf seiner Pressekonferenz kennen gelernt«, sagte Steve, »und ich kann nur sagen: Hoffentlich hast du Recht.« »Rosenzweig war von ihm beeindruckt, und das ist ein alter Wissenschaftler mit großem Wissen.« »Carpathia ist beeindruckend«, gab Steve zu. »Er ist genauso gut aussehend wie Robert Redford in seinen jungen Jahren, und heute Morgen hat er so fließend in neun Sprachen gesprochen, dass man meinte, jede sei seine Muttersprache. Die Presse wird sich auf ihn stürzen.« »Du sagst das so, als gehörtest du nicht zur Presse«, bemerkte Buck. Steve zuckte die Achseln. »Ich halte mich nur an das, was ich immer gesagt habe. Ich habe gelernt, ein Skeptiker zu sein, habe gelernt, die Leute und die Sensationspresse sich auf Persönlichkeiten stürzen zu lassen. Doch dies ist ein Bursche mit Substanz, mit Verstand. Er hat etwas zu sagen. Mir gefiel er. Ich meine, ich habe ihn nur in dieser Pressekonferenz gesehen, doch er scheint einen Plan zu haben. Du wirst ihn mögen, und du bist ein noch größerer Skeptiker als ich. Außerdem will er dich sprechen.« »Erzähle mir davon.« »Das habe ich bereits getan. Er hat ein Gefolge von Nobodys, mit einer Ausnahme.« »Rosenzweig.« »Richtig.« 208
»Welche Verbindung hat Chaim zu ihm?« »Das weiß niemand so genau, doch Carpathia scheint sich mit Experten und Beratern zu umgeben, die ihn auf dem Laufenden halten in Bezug auf Technologie, Politik, Finanzen und so. Und du weißt, Buck, er ist kaum älter als du. Ich glaube, heute Morgen sprach man von dreiunddreißig.« »Neun Sprachen?« Plank nickte. »Weißt du noch, welche?« »Warum fragst du danach?« »Ach, nur so.« Steve holte sein Notizbuch aus der Tasche. »Willst du sie in alphabetischer Reihenfolge hören?« »Sicher.« »Arabisch, Chinesisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Rumänisch, Russisch, Spanisch und Ungarisch.« »Noch einmal«, sagte Buck nachdenklich. Steve wiederholte sie. »Worüber denkst du nach?« »Dieser Bursche ist der perfekte Politiker.« »Ist er nicht. Glaub mir, das war kein Trick. Er kannte diese Sprachen wirklich gut und hat sie effektvoll eingesetzt.« »Aber ist dir denn nicht aufgefallen, was das für Sprachen sind, Steve? Denk doch einmal nach.« »Erspare mir diese Mühe.« »Die sechs Sprachen der Vereinten Nationen plus die drei Sprachen seines eigenen Landes.« »Im Ernst?« Buck nickte. »Ich werde ihn also bald kennen lernen?« Der Flug nach Atlanta war voll ausgebucht, und Rayford musste andauernd auf eine andere Höhe gehen, um Luftturbulenzen zu umgehen. Während des Fluges ging er nur einmal kurz durch das Flugzeug, während sein Erster Offizier allein im Cockpit saß und das Flugzeug auf Autopilot geschaltet war. Er 209
hatte jedoch keine Zeit, mit Chloe zu plaudern. In Atlanta ging sein Wunsch in Erfüllung. Eine andere 747 musste am Nachmittag nach Chicago zurückgeflogen werden, und der einzige verfügbare Pilot musste früher zurück. Chicago sprach sich mit Atlanta ab, tauschte die beiden Flüge und buchte sogar einen Platz für Chloe. So hatten Rayford und Chloe mehr als zwei Stunden Zeit für das Mittagessen, genug Zeit, in ein Restaurant in die Stadt zu fahren. Ihr Taxifahrer, eine junge Frau mit einer sehr angenehmen Stimme, fragte sie, ob sie sich etwas »wirklich Unglaubliches« ansehen wollten. »Wenn es nicht zu weit weg ist.« »Nur einige Straßen von hier entfernt. Liegt sowieso auf dem Weg«, erwiderte sie. Sie fuhr mehrere Umleitungen und um Baustellen herum, dann durch zwei Straßen, auf denen Verkehrspolizisten den Verkehr regelten. »Dort drüben«, sagte sie, während sie auf einen sandigen Parkplatz einbog, der von einem ein Meter hohen Betonsockel umgeben war. »Sehen Sie dieses Parkhaus da hinten?« »Was um alles in der Welt …?«, fragte Chloe. »Seltsam, nicht?«, erwiderte die Taxifahrerin. »Was ist passiert?«, fragte Rayford. »Das ist passiert, als die Menschen alle verschwunden sind«, erklärte sie. Sie betrachteten ein sechsstöckiges Parkhaus, in dem die Wagen anscheinend von allen Seiten so fest ineinander verkeilt waren, dass sie durch Kräne durch die offenen Seiten des Gebäudes herausgehoben werden mussten. »Sie hatten alle an diesem Abend ein Spiel besucht«, erzählte sie. »Die Polizei sagt, es sei sowieso schlimm gewesen, lange Reihen von Wagen, die versuchten, das Parkhaus zu verlassen, im Reißverschlusssystem oder auch nicht. Manche, die das Warten über hatten, versuchten, sich hineinzudrängeln, Sie 210
wissen schon.« »Ja.« »Und dann, puff, hatte auf einmal mehr als ein Drittel der Wagen keine Fahrer mehr, einfach so. Die Wagen fuhren weiter, bis sie in den vorderen Wagen oder gegen die Mauer fuhren. Wenn kein Platz war, fuhren sie einfach nur in ihren Vordermann hinein. Die Übriggebliebenen kamen nicht mehr vor und nicht mehr zurück. Es war ein solches Chaos, dass die Leute ihre Wagen einfach stehen ließen, über die anderen Wagen hinwegkletterten und nach Hilfe suchten. In der Morgendämmerung begannen sie, die Wagen in den unteren Ebenen mit Abschleppwagen zu entfernen, gegen Mittag holten sie dann diese Kräne zu Hilfe, und seither stehen sie hier.« Rayford und Chloe betrachteten die Szene und schüttelten den Kopf. Die Kräne, die normalerweise für den Bau von Häusern eingesetzt wurden, halfen nun, die ineinander verkeilten Wagen auseinander zu zerren und aus dem Parkhaus zu heben. Es sah so aus, als würde das noch einige Tage in Anspruch nehmen. »Wie steht es mit Ihnen?«, fragte Rayford die Taxifahrerin. »Haben Sie auch liebe Menschen verloren?« »Ja, Sir, meine Mutter und Großmutter und zwei kleine Schwestern. Aber ich weiß, wo sie sind. Sie sind im Himmel, genau wie meine Mama immer gesagt hat.« »Ich denke, Sie haben Recht«, meinte Rayford. »Meine Frau und mein Sohn sind auch fort.« »Und sind Sie jetzt gerettet?«, fragte das Mädchen. Rayford war verblüfft über ihre Offenheit, doch er wusste genau, was sie meinte. »Ja«, erwiderte er. »Ich auch. Man muss blind oder so etwas sein, wenn man jetzt das Licht nicht sieht.« Rayford hätte gern zu Chloe hingesehen, doch er verkniff es sich. Als sie bei dem Restaurant ankamen, gab er der jungen Frau ein großzügiges Trinkgeld. Während des Mittagessens 211
erzählte er Chloe die Geschichte mit Hattie genau so, wie es gewesen war. Sie schwieg lange, und als sie das Wort ergriff, zitterte ihre Stimme. »Dann hast du deinen Wünschen also nie nachgegeben?«, fragte sie. »Glücklicherweise nicht. Ich hätte mir nicht mehr in die Augen sehen können.« »Es hätte Mama das Herz gebrochen, das ist sicher.« Er nickte niedergeschlagen. »Manchmal fühle ich mich genauso schlecht, als wenn ich ihr untreu gewesen wäre. Aber ich habe meine Wünsche und Träume damit gerechtfertigt, dass deine Marna von ihrem Glauben so besessen war.« »Ich weiß. Eigentlich seltsam. Das hat mich dazu gebracht, an der Uni aufrichtiger zu sein, als ich es sonst gewesen wäre. Ich meine, ich bin sicher, dass Mama von vielem enttäuscht gewesen wäre, was ich getan und gesagt habe – frag mich bitte nicht danach. Doch zu wissen, dass sie so hingegeben ihren Glauben lebte und so große Hoffnungen und Erwartungen in mich gesetzt hat, hat mich davon abgehalten, etwas wirklich Dummes zu machen. Ich weiß, dass sie für mich gebetet hat. Sie hat es mir in jedem Brief geschrieben.« »Hat sie dir auch von der Endzeit erzählt, Chloe?« »Ja, immer wieder.« »Aber du glaubst es immer noch nicht?« »Ich möchte es ja, Dad. Wirklich. Aber ich muss doch intellektuell ehrlich mit mir sein.« Rayford musste sich sehr zusammennehmen, damit er ruhig bleiben konnte. War er in diesem Alter auch so pseudoweltklug gewesen? Bestimmt. Er hatte alles durch dieses verrückt machende intellektuelle Prüfnetz laufen lassen – bis vor kurzem, als das Übernatürliche seine akademische Aura durchbrochen hatte. Doch wie die Taxifahrerin gesagt hatte, man musste blind sein, um das Licht jetzt immer noch nicht zu sehen, egal, für wie gebildet man sich hielt. 212
»Ich werde Hattie diese Woche zum Abendessen zu uns einladen«, sagte er. Chloes Augen verengten sich. »Weil du das Gefühl hast, jetzt frei verfügbar zu sein?« Rayford war erstaunt über seine eigene Reaktion. Er musste an sich halten, dass er seiner Tochter nicht eine Ohrfeige gab, was bisher noch nie vorgekommen war. Er knirschte mit den Zähnen. »Wie kannst du so etwas sagen nach allem, was ich dir gerade erzählt habe? Irgendwie finde ich es gemein und beleidigend.« »Was erhoffst du dir denn von dieser Hattie Durham, Dad? Meinst du, sie hatte nicht gemerkt, was los war? Was meinst du, wie sie das interpretieren wird? Vermutlich wird sie sofort darauf anspringen.« »Ich werde meine Absichten ganz klar machen, und das sind Absichten, die okay sind. Vielleicht hatte ich nie zuvor bessere, sauberere Absichten.« »Dann wirst du sie jetzt also anpredigen, anstatt ihr nachzustellen.« Er wollte ihr widersprechen, doch er konnte es nicht. »Sie liegt mir als Mensch am Herzen, und ich möchte ihr die Wahrheit erzählen, damit sie danach handeln kann.« »Und wenn sie nicht will?« »Das ist ihre Entscheidung. Ich kann nur meinen Beitrag dazu leisten.« »Empfindest du in Bezug auf mich genauso? Wenn ich nicht so handle, wie du es möchtest, bist du dann zufrieden, wenigstens deine Pflicht getan zu haben?« »Ich sollte es vielleicht, doch offensichtlich liegst du mir sehr viel mehr am Herzen als Hattie.« »Daran hättest du denken sollen, bevor du alles aufs Spiel gesetzt hast, um ihr nachzustellen.« Wieder war Rayford verletzt, doch er hatte das Thema selbst aufgebracht, und er hatte das Gefühl, dass er es verdient hatte. 213
»Vielleicht habe ich deshalb nie etwas unternommen«, sagte er. »Hast du vielleicht daran mal gedacht?« »Das ist alles so neu für mich«, sagte sie. »Ich hoffe, dass du dich wegen deiner Frau und deinen Kindern zurückgehalten hast.« »Fast nicht.« »Das denke ich. Und was, wenn diese Strategie dich für Hattie umso anziehender macht? Wie willst du verhindern, dass du dich auch von ihr wieder angezogen fühlst? Du bist ja nicht mehr verheiratet, wenn du davon überzeugt bist, dass Mama im Himmel ist.« Rayford bestellte ein Dessert und legte seine Serviette auf den Tisch. »Vielleicht bin ich nur naiv, doch dass deine Mutter im Himmel ist, ist so, als wäre sie plötzlich verstorben. Das Letzte, an das ich jetzt denken kann, ist eine andere Frau und schon gar nicht Hattie. Sie ist zu jung und unreif, und ich bin zu wütend auf mich selbst, mich überhaupt auf so eine Beziehung gedanklich eingelassen zu haben. Ich möchte offen mit ihr sein und sehen, was sie sagt. Es wird hilfreich sein zu erfahren, ob ich mir das alles nur eingebildet habe.« »Du meinst, um später darauf zurückzukommen?« »Chloe, ich liebe dich, aber du kannst richtig unverschämt sein.« »Ich weiß. Es tut mir Leid. Das war unüberlegt. Aber mal im Ernst, woher willst du wissen, dass sie dir die Wahrheit sagt? Wenn du ihr erzählst, dass du aus den falschen Gründen an ihr interessiert warst, jetzt aber nicht mehr interessiert bist, warum sollte sie zugeben, dass sie gedacht hat, ihr zwei hättet eine Chance?« Rayford zuckte die Achseln. »Vielleicht hast du Recht. Aber ich muss ehrlich zu ihr sein, auch wenn sie nicht ehrlich zu mir ist. Ich bin es ihr schuldig. Ich möchte, dass sie mich ernst nimmt, wenn ich ihr erzähle, was sie meiner Meinung nach jetzt braucht.« 214
»Ich weiß nicht, Dad. Ich denke, es ist noch ein wenig zu früh, sie auf Gott hinzuweisen.« »Wie früh ist zu früh, Chloe? Es gibt keine Garantien mehr, jetzt nicht mehr.« Steve holte zwei Presseausweise aus seiner Brusttasche, die ihnen Zugang zum Gebäude der Vereinten Nationen für die Rede Nicolai Carpathias vor der Generalversammlung an diesem Nachmittag verschafften. Bucks Ausweis war auf den Namen George Oreskowitsch ausgestellt. »Muss ich mich deiner annehmen, oder was?« »Unwahrscheinlich«, erwiderte Buck. »Wie viel Zeit haben wir?« »Etwas mehr als eine Stunde«, sagte Steve und winkte ein Taxi herbei. »Und wie ich gesagt habe, er möchte mit dir sprechen.« »Er liest doch Zeitung, oder? Er muss doch denken, ich sei tot.« »Vermutlich. Doch er wird sich von heute Morgen noch an mich erinnern, und ich werde ihm versichern können, dass es genauso interessant für ihn sein wird, sich von George Oreskowitsch interviewen zu lassen wie von dem legendären Cameron Williams.« »Ja, aber Steve, wenn er wie die anderen Politiker ist, die ich kenne, legt er Wert auf Image, auf hochkarätige Journalisten. Ob es dir nun gefällt oder nicht, das bin ich geworden. Wie wirst du ihn zu einem unbekannten überreden?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht erzähle ich ihm, dass es in Wirklichkeit du bist. Wenn du dann bei ihm bist, stelle ich den Bericht von deinem Tod richtig und sage, dass du im Augenblick ein Leitartikelinterview mit Carpathia führst.« »Einen Leitartikel? Du hast ihn doch einen Bürokraten der unteren Ebene eines strategisch unwichtigen Landes genannt.« »Ich war auf der Pressekonferenz, Buck. Ich habe ihn kennen 215
gelernt. Und ich kann zumindest die Konkurrenz abschätzen. Wenn wir ihn nicht angemessen herausbringen, werden wir die einzige nationale Zeitschrift sein, die das nicht tut.« »Wie ich schon sagte, wenn er ein typischer Politiker ist …« »Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen, Buck. Du wirst feststellen, dass dieser Bursche weit entfernt davon ist, ein typischer Politiker zu sein. Du wirst mir noch dankbar sein, dass ich dir das Exklusivinterview verschafft habe.« »Ich dachte, es sei seine Idee gewesen«, meinte Buck lächelnd. »So? Ich hätte ihn abwimmeln können.« »Ja, um dann der einzige Chefredakteur zu sein, der nicht über das aufregendste neue Gesicht berichtet, das die Staaten besucht.« »Glaub mir, Buck«, sagte Steve auf dem Weg zum Gebäude der Vereinten Nationen, »dies wird eine erfrischende Abwechslung von den düsteren Nachrichten sein, über die wir seit Tagen berichten.« Die beiden brauchten ihren Presseausweis, um hineinzukommen, doch Buck hielt sich vor seinen Kollegen und den Reportern der Konkurrenz verborgen, bis alle Platz genommen hatten. Steve hatte sich ganz hinten zwei Plätze gesucht, wo es nicht auffallen würde, wenn er erst in letzter Sekunde hereinschlüpfen würde. In der Zwischenzeit würde Steve über sein Handy die Nachricht von Bucks Wiederauferstehung weitergeben, sodass dies am Ende des Tages in den Nachrichtensendungen verbreitet werden konnte. Carpathia betrat den Raum in sehr würdiger, zugleich aber irgendwie auch Unheil verheißender Haltung, obwohl er von einem Gefolge aus einem halben Dutzend Männern umgeben war, darunter auch Rosenzweig und ein Spitzenfinanzmann der französischen Regierung. Carpathia war über ein Meter achtzig groß, hatte breite Schultern, er war schlank, athletisch gebaut, braun gebrannt und blond. Sein dichter Haarschopf war ordent216
lich geschnitten und gekämmt, und sein blauer Nadelstreifenanzug mit passender Krawatte war durchaus angemessen und konservativ. Selbst aus der Entfernung merkte man dem Mann seine Zielstrebigkeit, gleichzeitig aber auch seine Bescheidenheit an. Seine Gegenwart dominierte den Raum, und doch schien er nicht von sich eingenommen oder beeindruckt zu sein. Sein Kinn und seine Nase waren typisch rumänisch, und seine stechenden blauen Augen lagen tief unter seinen dichten Brauen. Buck war erstaunt, dass Carpathia keine Notizen bei sich trug, und er nahm an, dass er sie bestimmt in seiner Brusttasche verwahrte. Entweder das, oder einer seiner Assistenten hob sie für ihn auf. Doch Buck hatte in beidem Unrecht. Generalsekretär Mwangati Ngumo aus Botswana verkündete, die Versammlung habe das Vorrecht, eine Rede des neuen Präsidenten des rumänischen Volkes zu hören. Die formelle Vorstellung ihres Gastes würde von dem ehrenwerten Dr. Chaim Rosenzweig vorgenommen, der ihnen allen bekannt sei. Rosenzweig eilte mit einem Schwung zum Rednerpult, der sein Alter Lügen strafte. Seine Begrüßung war sehr viel stürmischer als die Carpathias. Der beliebte israelische Staatsmann und Gelehrte sagte einfach nur, es sei ihm ein großes Vergnügen, dieser erhabenen und geachteten Versammlung einen jungen Mann vorzustellen, »den ich respektiere und bewundere wie keinen anderen Menschen, den ich je kennen gelernt habe. Bitte heißen Sie willkommen, Seine Ehren, den Präsidenten Nicolai Carpathia von Rumänien.« Carpathia erhob sich, wendete sich an die Versammlung und nickte bescheiden, dann schüttelten er und Rosenzweig sich herzlich die Hände. Höflich blieb er neben dem Rednerpult stehen, bis der Ältere sich hingesetzt hatte, dann stand er entspannt und lächelnd vor seinem Publikum und begann seine Rede. Er kam tatsächlich völlig ohne Notizen aus, blieb nicht 217
einmal stecken, versprach sich kein einziges Mal und wendete den Blick keine Sekunde von seinem Publikum ab. Er sprach sehr ernst und leidenschaftlich, lächelte häufig und machte gelegentlich eine passende, humorvolle Bemerkung. Er erwähnte mit viel Taktgefühl, dass seit dem Verschwinden von Millionen von Menschen noch keine volle Woche vergangen sei und es sicher viele gäbe, die sehr wahrscheinlich in diesem Raum gesessen hätten. Carpathia sprach in erster Linie in perfektem Englisch ohne eine Spur eines rumänischen Akzentes. Er zog die Worte nicht zusammen und sprach jede Silbe sehr deutlich aus. Wieder sprach er in den sechs UNOSprachen, die er fließend beherrschte, und jedes Mal übersetzte er sich selbst ins Englische. In einer der bewegendsten Szenen, die Buck jemals miterlebt hatte, begann Carpathia seine Rede, indem er davon sprach, wie ergriffen er gewesen sei, als er zum ersten Mal diese historische Stätte besucht habe, »auf die Nation nach Nation ihren Blick gerichtet hat. Eine nach der anderen sind sie aus der ganzen Welt in einer Pilgerreise hierher gekommen, die genau so geheiligt ist wie solche in das Heilige Land. Sie haben ihre Gesichter der Wärme der aufgehenden Sonne ausgesetzt. Hier haben sie ihren Standpunkt für Frieden in einer ein für alle Mal felsenfesten Verpflichtung eingenommen, den Wahnsinn von Krieg und Blutvergießen hinter sich zu lassen. Diese Nationen, große und kleine, haben genügend Tod und Vernichtung gesehen und beklagen den Verlust so vieler Menschen in der Blüte ihrer Jugend. Menschen, deren Leben so viel versprechend begonnen hatte. Unsere Vorfahren haben schon lange vor meiner Geburt weltumfassend gedacht«, sagte Carpathia. »1944, dem Jahr, in dem der Internationale Währungsfonds und die Weltbank eingerichtet wurden, hat sich diese große Gastgebernation, die Vereinigten Staaten von Amerika, zusammen mit dem Britischen Commonwealth und der Sowjetunion zu der berühmten 218
Dumbarton Oaks Konferenz getroffen, um die Gründung einer solchen Institution vorzuschlagen.« Seine historischen Kenntnisse und sein fotografisches Erinnerungsvermögen an Daten und Orte entfaltend, fuhr Carpathia fort: »Von seiner offiziellen Geburt am 24. Oktober 1945 und dem ersten Zusammentreten der Generalversammlung am 10. Januar 1946 in London bis zu diesem Tag sind Stämme und Nationen zusammengekommen, um von ganzem Herzen ihr Engagement für Frieden, Brüderlichkeit und die weltweite Gemeinschaft zu bekunden.« Beinahe flüsternd sagte er: »Aus fernen und nahen Ländern sind sie gekommen: aus Afghanistan, Albanien, Algerien …« Er fuhr fort und führte mit dynamisch an- und abschwellender Stimme jedes Mitgliedsland der Vereinten Nationen auf. Buck spürte in seinen Worten eine Leidenschaft, eine Liebe für diese Länder und die Ideale der Vereinten Nationen. Ganz offensichtlich war Carpathia sehr bewegt, als er ein Land nach dem anderen durchaus nicht eintönig, aber auch nicht gehetzt aufzählte. Nachdem er etwa eine Minute lang die Länder aufgezählt hatte, bemerkten die Vertreter, dass sich bei jeder Namensnennung Einer des betreffenden Landes erhob und würdevoll und hochaufgerichtet dastand, als würde er neu für Frieden unter den Nationen stimmen. Carpathia lächelte und nickte jedem zu. Fast jedes Land war vertreten. Das kosmische Trauma, das die Welt erlebt hatte, hatte sie veranlasst, herzukommen und nach Antworten, Hilfe und Unterstützung zu suchen. Jetzt hatten sie die Gelegenheit bekommen, ihren Standpunkt erneut deutlich zu machen. Buck war müde und fühlte sich verschwitzt, da er immer noch seine zwei Tage alten Sachen trug. Doch seine eigenen Sorgen wurden zur Nebensache, während Carpathia fortfuhr. Als er bei seiner alphabetischen Auflistung zum »S« kam, hatten die Stehenden begonnen, jedem neu aufgezählten Land 219
zu applaudieren. Es war eine würdevolle Sache, dieses offene Bekunden von Respekt und Bewunderung, dieses erneute Willkommenheißen in der Weltgemeinschaft. Der Applaus war nicht so laut, dass er Carpathias Stimme übertönt hätte, doch er kam so von Herzen und war so bewegend, dass es Buck die Kehle zuschnürte. Dann bemerkte er etwas Seltsames. Die Pressevertreter verschiedener Länder standen zusammen mit ihren Botschaftern und Delegierten auf. Sogar die Objektivität der Presse war vorübergehend untergetaucht in dem, was früher vielleicht als Chauvinismus, überzogener Patriotismus oder Scheinheiligkeit bezeichnet worden wäre. Buck bemerkte, dass auch er selbst es kaum erwarten konnte, aufzustehen, und er bedauerte die Tatsache, dass sein Land erst ziemlich zum Schluss des Alphabets kam, gleichzeitig spürte er aber, wie sich Stolz und Vorfreude in ihm regten. Während immer mehr Länder aufgezählt wurden und ihre Vertreter sich stolz erhoben, wurde der Applaus lauter, weil immer mehr Menschen standen. Carpathia war seiner Aufgabe gewachsen, seine Stimme klang nun mit jedem neuen Landesnamen bewegter und mächtiger. Weiter donnerte er, während die Menschen stehend applaudierten. »Schweden! Somalia! Spanien! Sri Lanka! Südafrika! Sudan! Surinam! Swaziland! Syrien!« Bei der Aufzählung hatte Carpathia nicht einmal gezögert, gestottert oder auch nur eine Silbe falsch ausgesprochen. Buck saß auf der Stuhlkante, während der Redner zu den »Us« und den »Vs« kam. »Uganda! Ukraine! Das Vereinigte Königreich! Die Vereinigten Arabischen Emirate! Die Vereinigten Staaten von Amerika!« Und Buck sprang auf, Steve ebenfalls, zusammen mit Dutzenden anderer Pressevertreter. Irgendetwas war durch das Verschwinden der Millionen von Menschen weltweit passiert. Der Journalismus würde vielleicht nie mehr derselbe sein. Sicher, es würde Skeptiker geben und jene, die die Objektivität anbeteten. Aber was war mit der 220
brüderlichen Liebe passiert? Was war aus der gegenseitigen Abhängigkeit geworden? Was war mit der Brüderlichkeit von Menschen und Nationen geworden? Alles war wieder da. Und obwohl niemand erwartete, dass die Presse zur Werbeagentur für einen neuen politischen Star würde, hatte Carpathia sie an diesem Nachmittag ganz bestimmt auf seine Seite gezogen. Am Ende seiner Aufzählung von fast zweihundert Nationen war der junge Nicolai wie im Fieber. Mit solcher Elektrizität und Macht in dem einfachen Aufzählen aller Länder, die sich danach sehnten, miteinander vereint zu sein, hatte Carpathia das ganze Publikum auf die Beine gebracht, Presse und Vertreter applaudierten gleichermaßen. Selbst der zynische Steve Plank und Buck Williams klatschten und jubelten, und nicht einer war verlegen darüber, dass er seine Objektivität verloren hatte. Und es kam noch mehr. In der kommenden halben Stunde entfaltete Nicolai Carpathia ein solches umfassendes Wissen über die Vereinten Nationen, als hätte er diese Organisation selbst erdacht. Für jemanden, der noch nie zuvor seinen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hatte, und natürlich auch noch nie die Vereinten Nationen besucht hatte, zeigte er ein erstaunliches Verständnis für deren inneres Funktionieren. Während seiner Rede ließ er beiläufig den Namen eines jeden Generalsekretärs fallen, von Trygve Lie aus Norwegen bis hin zu Ngumo und erwähnte auch ihre Amtszeit, nicht nur das Jahr, sondern auch den Tag und das Datum ihrer Einsetzung und ihres Amtsaustritts. Er nannte jeden der sechs Hauptausschüsse der Vereinten Nationen, ihre Funktionen, ihre gegenwärtigen Mitglieder und ihre besonderen Herausforderungen. Dann kam er zu den achtzehn Ausschüssen. Er zählte jeden Einzelnen auf, den gegenwärtigen Vorsitzenden und die Stadt, in der der jeweilige Ausschuss tagte. Carpathia zeigte ein erstaunliches Wissen, und es war kein Wunder, dass dieser Mann in seiner eigenen Nation so schnell aufgestiegen war, 221
kein Wunder, dass der vorherige Führer ihm Platz gemacht hatte. Kein Wunder, dass New York ihn bereits angenommen hatte. Hiernach, das wusste Buck, würde Nicolai von ganz Amerika angenommen sein. Und dann von der ganzen Welt.
14 Rayfords Flugzeug landete am Spätnachmittag während der Rush-Hour in Chicago. Bis er und Chloe zu ihren Wagen kamen, hatten sie keine Gelegenheit mehr, ihr Gespräch fortzusetzen. »Denk daran, du hast versprochen, dass ich deinen Wagen nach Hause fahren darf«, sagte Chloe. »Ist dir das denn so wichtig?«, fragte er. »Eigentlich nicht. Es gefällt mir nur. Darf ich?« »Sicher. Ich will nur eben noch mein Telefon herausholen. Ich möchte hören, wann Hattie zum Abendessen zu uns kommen kann. Das ist doch in Ordnung, oder?« »Solange du nicht erwartest, dass ich koche oder so etwas Sexistisches und Häusliches mache.« »Das hatte ich wirklich nicht gedacht. Sie isst gern Chinesisch. Wir werden etwas kommen lassen.« »Sie isst gern Chinesisch?«, wiederholte Chloe. »Du kennst diese Frau aber wirklich sehr gut, nicht?« Rayford schüttelte den Kopf. »So ist es nicht. Ich meine, ja, vermutlich weiß ich mehr über sie, als ich sollte. Aber ich kann dir die kulinarischen Vorlieben von einem Dutzend Crewmitgliedern nennen, obwohl ich sonst kaum etwas über sie weiß.« Rayford holte sein Telefon aus dem BMW und stellte die Zündung ein, damit er die Tankanzeige sehen konnte. »Du hast dir den richtigen Wagen ausgesucht«, sagte er. »Der Tank ist noch fast voll. Wir treffen uns zu Hause. Der Wagen deiner Mutter ist fast leer. Wirst du zurechtkommen, wenn du ein paar 222
Minuten allein bist? Ich denke, ich werde auch noch etwas zu essen einkaufen.« Chloe zögerte. »Es ist unheimlich allein zu Hause, nicht?« »Ein wenig. Aber wir müssen uns daran gewöhnen.« »Du hast Recht«, sagte sie schnell. »Sie sind fort. Und ich glaube nicht an Geister. Aber bleib nicht zu lange.« Bei der anschließenden Pressekonferenz für Nicolai Carpathia befand sich Buck kurzfristig im Zentrum des Interesses. Jemand erkannte ihn und gab seinem Erstaunen und seiner Freude Ausdruck, dass er doch noch am Leben war. Buck versuchte, die Leute damit zu beruhigen, dass alles nur ein Missverständnis war, doch der Aufruhr ging weiter, als Chaim Rosenzweig ihn entdeckte und zu ihm hineilte, Bucks Hand nahm und sie sehr herzlich schüttelte. »Oh, ich bin so froh, Sie lebendig und gesund zu sehen«, sagte er. »Ich habe schreckliche Nachrichten über Ihren Tod gehört. Und Präsident Carpathia war ebenfalls enttäuscht, das zu hören. Er wollte Sie so gern kennen lernen und hat sogar einem Exklusiv-Interview zugestimmt.« »Können wir das denn trotzdem noch machen?«, flüsterte Buck, während die Konkurrenz ihrem Ärger mit Buhrufen Luft machte. »Sie würden alles tun, um einen Exklusivbericht zu bekommen«, rief jemand. »Sich sogar in die Luft sprengen lassen.« »Vermutlich wird es erst heute Abend sehr spät möglich sein«, erklärte Rosenzweig. Seine Hand fuhr durch den Raum und deutete auf die Fernsehkameras, die Scheinwerfer, Mikrofone und die Presse. »Sein Zeitplan ist eng, und er hat heute Abend noch einen Fototermin im People Magazin. Vielleicht danach. Ich werde mit ihm sprechen.« »Wie kann ich Sie erreichen?«, fragte Buck, doch der alte Mann legte nur einen Finger an die Lippen und kehrte zu seinem Platz neben Carpathia zurück. Die Pressekonferenz begann. 223
Aus der Nähe betrachtet, war der junge Rumäne keineswegs weniger beeindruckend. Er begann die Pressekonferenz mit einer Erklärung, bevor er Raum für Fragen gab. Er verhielt sich wie ein alter Profi, obwohl Buck wusste, dass seine Beziehungen zur Presse seines Landes und den anderen Ländern Europas, die er besucht hatte, ihm diese Erfahrung nicht vermittelt haben konnten. Immer wieder fiel Buck auf, dass Carpathia zumindest kurzen Blickkontakt zu den im Raum Anwesenden suchte. Er senkte niemals den Blick, sah niemals weg, sah niemals auf. Es war, als hätte er nichts zu verbergen. Er beherrschte sich völlig und ließ sich anscheinend von der ganzen Aufregung um ihn herum und der Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte, nicht beeindrucken. Er schien außergewöhnlich gute Augen zu haben; denn er konnte die Namensschilder der Leute im ganzen Raum erkennen. Jedes Mal, wenn er mit einem Mitglied der Presse sprach, redete er sie mit Namen als Mr oder Miss Sowieso an. Er bestand darauf, dass die Leute ihn so nennen sollten, wie es ihnen gefiel. »Auch Nick«, sagte er lächelnd. Aber keiner tat es. Alle nannten ihn »Mr President« oder »Mr Carpathia«. Carpathia sprach genauso beherrscht und deutlich wie in seiner Rede. Buck fragte sich, ob er immer so sprach, in der Öffentlichkeit und privat gleichermaßen. Was immer er sonst noch auf die Weltszene mitbrachte, er beherrschte die Kunst der Kommunikation so meisterhaft wie kein anderer. »Zu Beginn möchte ich sagen, welche Ehre es für mich ist, in diesem Land zu sein und an diesem historischen Ort. Schon als Kind in Cluj war es mein Traum, diesen Ort eines Tages zu sehen.« Nachdem die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht waren, hielt Carpathia eine weitere kleine Rede, in der er wiederum unglaubliches Wissen über die Vereinten Nationen und ihre Mission zeigte. »Sie werden sich erinnern«, sagte er, »dass die 224
UNO im vergangenen Jahrhundert im Niedergang begriffen war. US-Präsident Ronald Reagan ließ die Ost-West-Konflikte eskalieren, und die UNO mit ihrer Betonung der Nord-SüdKonflikte schien eine Institution der Vergangenheit zu sein. Die Organisation war finanziell in Schwierigkeiten, da nur wenige Mitglieder bereit waren, ihren Beitrag zu leisten. Mit dem Ende des Kalten Krieges in den neunziger Jahren jedoch erkannte Präsident Bush die, wie er es nannte, ›neue Weltordnung‹, die mich tief in meinem jungen Herzen ansprach. Die ursprüngliche Basis für die UN-Charta sah Kooperation unter den ersten einundfünfzig Mitgliedern vor, zu denen auch die großen Mächte gehörten.« Carpathia fuhr fort und sprach über die unterschiedlichen Bemühungen der UNO, den Weltfrieden zu erhalten, angefangen vom Koreakrieg in den fünfziger Jahren. »Wie Sie wissen«, sagte er und sprach wieder von Dingen, die passiert waren, lange bevor er geboren war, »die UNO ist sozusagen das Vermächtnis der ›Liga der Nationen‹, die meiner Meinung nach die erste Institution zur Erhaltung des Friedens war. Sie entstand am Ende des Ersten Weltkrieges, doch als sie nicht in der Lage war, einen zweiten zu verhindern, wurde sie zu einem Anachronismus. Aus diesem Versagen heraus entstanden die Vereinten Nationen, die stark bleiben müssen, um einen dritten Weltkrieg zu verhindern, der dem Leben, wie wir es kennen, ein Ende setzen würde.« Nachdem Carpathia herausgestellt hatte, dass er die Vereinten Nationen in jeder nur möglichen Form unterstützen würde, stellte jemand im Raum eine Frage zu dem mysteriösen Verschwinden so vieler Menschen. Er wurde auf einmal ernst und hörte auf zu lächeln und sprach einfühlsam und mit großer Herzlichkeit. »Viele in meinem Land haben durch dieses schreckliche Phänomen geliebte Menschen verloren. Ich weiß, dass viele Menschen in der ganzen Welt ihre Theorien haben, und ich 225
möchte keine davon abqualifizieren, weder die Menschen noch ihre Ideen. Ich habe Dr. Chaim Rosenzweig aus Israel gebeten, ein Team zusammenzustellen, das die Ursache dieser großen Tragödie herausfinden soll, damit wir Schritte einleiten können, dass so etwas nie wieder passiert. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich Dr. Rosenzweig Raum geben, selbst zu sprechen, doch für den Augenblick kann ich Ihnen sagen, dass die Theorie, die mir am wahrscheinlichsten erscheint, folgende ist: Die Welt hat seit unzähligen Jahren nukleare Waffen zusammengetragen. Seit die Vereinigten Staaten 1945 zwei Atombomben auf Japan abgeworfen haben und die Sowjetunion ihre erste Atombombe am 23. September 1949 zündete, steht die Welt vor der Gefahr eines nuklearen Holocaust. Dr. Rosenzweig und sein Team angesehener Wissenschaftler stehen dicht vor der Entdeckung eines atmosphärischen Phänomens, das das Verschwinden so vieler Menschen in einem Augenblick verursacht haben könnte.« »Was für ein Phänomen?«, fragte Buck. Carpathia warf einen schnellen Blick auf sein Namensschild und sah Buck dann in die Augen. »Ich möchte nicht vorschnell sein, Mr Oreskowitsch«, erwiderte er. Mehrere Mitglieder der Presse lachten leise, doch Carpathia ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Oder sollte ich vielleicht sagen: ›Mr Cameron Williams vom Global Weekly‹.« Diese Bemerkung löste amüsierten Applaus im ganzen Raum aus. Buck war verblüfft. »Dr. Rosenzweig ist der Meinung, dass ein Zusammenfließen von elektromagnetischen Feldern in der Atmosphäre, in Verbindung mit einer noch unerklärten Ionisierung durch die nukleare Kraft und das nukleare Waffenarsenal in der ganzen Welt die Ursache sein könnte. Vielleicht hat eine intelligente Lebensform diese Möglichkeit vor uns entdeckt – und diesen spontanen Akt in der ganzen Welt ausgelöst.« »Das wäre dann etwa so, als würde jemand in einem Raum voller Gase ein Streichholz anzünden?«, fragte ein Journalist. 226
Carpathia nickte nachdenklich. »Inwiefern unterscheidet sich diese Theorie von der, dass Außerirdische die Leute geholt haben?« »Gar nicht so sehr«, gab Carpathia zu, »doch ich neige mehr dazu, der Theorie einer natürlichen Ursache Glauben zu schenken, dass zum Beispiel ein Blitz auf ein subatomares Feld die Reaktion ausgelöst hat.« »Aber warum verschwanden die Menschen so zufällig? Warum die einen und andere nicht?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Carpathia. »Und Dr. Rosenzweig sagt, dass auch sie in diesem Punkt noch keine Erklärung gefunden haben. Im Augenblick gehen sie von der Annahme aus, dass unterschiedliche Formen von elektromagnetischen Spannungen die Ursache dafür waren, dass es die einen getroffen hat und andere nicht. Das würde die Tatsache erklären, dass alle Kinder und Babys, sogar die Föten aus dem Mutterleib, verschwunden sind. Ihre elektromagnetischen Felder waren noch nicht so weit ausgebildet, dass sie dem, was immer auch passiert ist, widerstehen konnten.« »Was sagen Sie zu der Theorie, dies sei das Werk Gottes gewesen, die Entrückung seiner Gemeinde?« Carpathia lächelte mitleidig. »Ich möchte vorsichtig sein und sagen, dass ich nicht die Absicht habe, den Glauben ernsthafter Menschen zu kritisieren. Er ist die Basis für wahre Harmonie und Brüderlichkeit, für Frieden und Respekt unter den Völkern. Diese Theorie akzeptiere ich nicht, weil ich viele Menschen kenne, die sicherlich auch fort waren, wenn die Gerechten in den Himmel geholt worden waren. Wenn es einen Gott gibt, räume ich respektvoll ein, dass er handeln würde, aber nicht auf so unberechenbare Weise. Doch keinesfalls möchte ich unhöflich denen gegenüber sein, die nicht mit mir übereinstimmen.« Buck war erstaunt zu hören, dass Carpathia eingeladen worden war, bei der bevorstehenden ökumenischen Konferenz in 227
New York zu sprechen. »Dort werde ich über meine Ansichten zum Tausendjährigen Reich, zur Eschatologie, dem Letzten Gericht und der Wiederkunft Christi sprechen. Dr. Rosenzweig war so freundlich, diese Einladung zu arrangieren, und bis dahin denke ich, ist es das Beste, diese Themen nicht anzusprechen.« »Wie lange werden Sie in New York bleiben?« »Wenn das rumänische Volk es gestattet, vielleicht einen ganzen Monat. Ich bin nur ungern fort von meinem Volk, doch die Rumänen verstehen, dass ich das Beste der Welt im Buck habe, und mit der heutigen Technologie und den wundervollen Menschen in einflussreichen Positionen in Rumänien bin ich zuversichtlich, dass ich mit meinem Volk in Kontakt bleiben kann und dass ihm meine kurze Abwesenheit nicht schaden wird.« Als die Abendnachrichten gesendet wurden, war ein neuer Star geboren. Er hatte sogar einen Spitznamen: der heilige Nick. Von seiner Rede und der Pressekonferenz wurde ausführlich berichtet; jeder Sender widmete ihm mehrere Minuten Sendezeit und rüttelte die Zuschauer mit der Aufzählung der verschiedenen Länder und seinem Plädoyer für den Weltfrieden auf. Sehr sorgfältig hatte er es vermieden, über weltweite Abrüstung zu sprechen. Seine Botschaft drehte sich nur um Liebe, Frieden, Verständnis, Brüderlichkeit und selbstverständlich die Beendigung aller kriegerischen Auseinandersetzungen. Zweifellos würde er auf diesen Punkt noch einmal zurückkommen, doch in der Zwischenzeit hatte Carpathia die Herzen der Menschen erobert. Fernsehkommentatoren forderten, dass er zum Berater des Generalsekretärs ernannt werden sollte, und dass er jeden Hauptsitz der verschiedenen UNO-Ausschüsse auf der ganzen Welt besuchen solle. Am späten Abend war er eingeladen worden, auf allen internationalen Konferenzen, die in den 228
kommenden Wochen anstanden, zu erscheinen. Er wurde in Gesellschaft von Jonathan Stonagal gesehen, was für Buck keine Überraschung war. Unmittelbar im Anschluss an die Pressekonferenz hatte er einen weiteren Termin. Dr. Rosenzweig suchte Buck. »Ich habe Ihnen für heute Abend ein wenig Zeit reserviert«, sagte der alte Mann. »Er hat noch mehrere Interviews, vorwiegend von den Fernsehleuten, und dann wird er live in der Talk-Show Nightline von ABC mit Wallace Theodore sein. Danach wird er in sein Hotel zurückkehren und sich Ihnen gern eine halbe Stunde widmen.« Buck sagte Steve, er wolle schnell in seine Wohnung, sich ein wenig frisch machen, seinen Anrufbeantworter abhören und danach ins Büro, um sich auf das Interview vorzubereiten. Steve war einverstanden, ihn zu begleiten. »Aber ich bin eigentlich verrückt«, meinte Buck. »Wenn Stonagal irgendwie mit Todd-Cothran zusammenhängt, und wir wissen, dass es so ist, wer weiß dann schon, was er über den Vorfall in London denkt?« »Das ist doch weit hergeholt«, widersprach Steve. »Selbst wenn sich diese schmutzige Angelegenheit bis in die Börse und Scotland Yard hineinzieht, so bedeutet das doch noch lange nicht, dass Stonagal Interesse daran hat. Ich würde meinen, dass er sich soweit wie möglich aus so etwas heraushält.« »Aber, Steve, du musst doch zugeben, dass Dirk Burton vermutlich ermordet wurde, weil er Todd-Cothrans geheimen Verbindungen zu Stonagals internationaler Gruppe auf die Spur gekommen war. Wenn sie Menschen töten, die sie als ihre Feinde ansehen – sogar die Freunde ihrer Feinde wie Alan Tompkins und mich –, wo werden sie dann aufhören?« »Aber du gehst von der Annahme aus, dass Stonagal wusste, was in London passiert ist. Er steht doch über allem. ToddCothran oder dieser Bursche im Yard haben dich vielleicht als Bedrohung angesehen, aber Stonagal hat vielleicht nie von dir gehört.« 229
»Du meinst nicht, dass er den Weekly liest?« »Sei nicht beleidigt. Du bist eine Mücke für ihn, selbst wenn er deinen Namen kennt.« »Du weißt, was ein Schlag mit einer Zeitung einer Mücke antun kann, Steve?« »Deine Argumentation hat nur eine Lücke«, sagte Steve später, als sie Bucks Wohnung betraten. »Falls Stonagal wirklich gefährlich für dich ist, was hat das mit Carpathia zu tun?« »Wie ich schon sagte, Carpathia ist vielleicht nur ein Handlanger.« »Buck! Du hast ihn doch gerade gehört. Habe ich ihn überschätzt?« »Nein.« »Warst du nicht von den Socken?« »Doch.« »Und sieht er aus wie jemandes Handlanger?« »Nein. Ich kann also nur annehmen, dass er nichts von den Vorgängen weiß.« »Bist du wirklich sicher, dass er sich mit Todd-Cothran und Stonagal in London getroffen hat, bevor er herkam?« »Vermutlich geschäftlich«, meinte Buck. »Sie haben bestimmt die Reise und sein Treffen mit den internationalen Ratgebern geplant.« »Du gehst ein großes Risiko ein«, meinte Steve. »Ich habe keine Wahl. Außerdem bin ich bereit. Ich werde Nicolai Carpathia vertrauen, bis sich das Gegenteil herausstellt.« »Hmm«, machte Steve. »Was denn?« »Gewöhnlich arbeitest du anders herum. Du misstraust jemandem, bis sich das Gegenteil herausstellt.« »Nun, es ist eine neue Welt, Steve. Nichts ist mehr so, wie es noch letzte Woche war, nicht?« 230
Und Buck ließ seinen Anrufbeantworter abspielen, während er sich zum Duschen auszog. Mit einer großen Tüte voller Lebensmittel auf dem Beifahrersitz bog Rayford in seine Einfahrt ein. Er hatte Hattie Durham erreicht. Sie hatte ihn gar nicht mehr loslassen wollen, bis er schließlich das Gespräch beendete. Sie freute sich über die Einladung zum Abendessen und wollte in drei Tagen, am Donnerstag, kommen. Rayford schätzte, dass Chloe bereits eine halbe Stunde zu Hause sein musste, und er war beeindruckt, dass sie das Garagentor für ihn offen gelassen hatte. Als er feststellte, dass die Tür zum Haus verschlossen war, machte er sich jedoch Sorgen. Er klopfte. Keine Antwort. Rayford öffnete das Garagentor wieder, um zum Vordereingang zu gehen, doch als er das Tor gerade wieder schließen wollte, hielt er inne. Irgendetwas war anders in der Garage. Er knipste das Licht an. Die drei Wagen standen an ihrem Platz, aber … Rayford ging um den Jeep herum. Raymies Sachen fehlten! Sein Fahrrad. Sein Kettcar. Was war los? Rayford rannte zum Vordereingang. Das Fenster des Windfangs war zerbrochen, und die Eingangstür hing schief in den Angeln. Sie war eingetreten worden. Das musste Schwerstarbeit gewesen sein, denn die Tür war sehr groß und schwer, außerdem mit einem Stahlriegel versehen. Der gesamte Rahmen war herausgerissen und lag in Stücken auf dem Boden. Rayford eilte ins Haus und rief nach Chloe. Er lief von einem Zimmer zum anderen und betete, dass dem einzigen noch übrig gebliebenen Familienmitglied nichts passiert sein möge. Alles, was irgendwie einen Wert darstellte, war verschwunden. Radios, Fernsehgeräte, Videorecorder, Schmuck, CD-Spieler, Videospiele, das Silber und sogar das Porzellan. Sehr zu seiner Erleichterung konnte er keine Spuren 231
von Blut oder einem Kampf erkennen. Rayford hatte gerade die Nummer der Polizei gewählt, als ihm angezeigt wurde, dass ein Anruf für ihn hereinkam. »Es tut mir Leid, Sie um einen Augenblick Geduld zu bitten, doch es könnte meine Tochter sein«, sagte er. Sie war es. »Oh Daddy!«, sagte sie weinend. »Bist du in Ordnung? Ich bin durch die Garage ins Haus gegangen und sah, dass die ganzen Sachen fehlten. Ich dachte, sie würden vielleicht zurückkommen, darum habe ich die Tür zur Garage abgeschlossen. Gerade wollte ich auch die Haustür abschließen, da sah ich das zerbrochene Glas und zersplittertes Holz, darum bin ich zur Hintertür hinausgelaufen. Ich bin drei Häuser weiter.« »Sie kommen nicht zurück, Liebes«, sagte er. »Ich hole dich ab.« »Mr Anderson sagte, er würde mich nach Hause begleiten.« Einige Minuten später saß Chloe mit vor dem Bauch verschränkten Armen auf der Couch. Sie erzählte dem Polizisten, was sie bereits ihrem Vater erzählt hatte; dann nahm er Rayfords Aussage auf. »Ist Ihre Alarmanlage denn nicht in Betrieb?« Rayford schüttelte den Kopf. »Das ist meine Schuld. Jahrelang haben wir sie angestellt, doch schließlich hatte ich es satt, mitten in der Nacht von falschem Alarm geweckt zu werden, und den, äh … den …« »Anrufen von uns, ich weiß«, sagte der Polizist. »Das sagen alle. Aber diesmal hätte es sich doch gelohnt, nicht?« »Sicher«, erwiderte Rayford. »Wenn man das alles im Voraus wüsste. Hätte nie gedacht, dass wir das wirklich einmal brauchen würden.« »Diese Art von Verbrechen ist allein in der vergangenen Zeit um bis zu zweihundert Prozent angestiegen«, sagte der Polizist. »Die schweren Jungs wissen, dass wir weder die Zeit noch die Leute haben, um wirksam etwas dagegen unternehmen zu 232
können.« »Dann könnten Sie meine Tochter doch beruhigen und ihr versichern, dass sie nicht daran interessiert sind, uns zu verletzen und dass sie nicht zurückkommen werden?« »Das stimmt, Miss«, sagte er. »Ihr Vater sollte diese Tür vernageln, bis sie repariert werden kann, und ich würde die Alarmanlage wieder in Betrieb setzen. Aber Sie brauchen nicht mit einer Wiederholung dieses Besuches zu rechnen, zumindest nicht von derselben Bande. Wir haben mit den Leuten von gegenüber gesprochen. Sie haben am Nachmittag für etwa eine halbe Stunde so einen Wagen der Teppichreinigung in Ihrer Einfahrt stehen sehen. Sie sind durch den Vordereingang ins Haus, öffneten die Garagentür, sind rückwärts in die Garage gefahren und haben Ihre Sachen praktisch unter ihren Augen eingeladen.« »Und niemand hat gesehen, wie sie vorne eingebrochen sind?« »Ihre Nachbarn können Ihre Eingangstür nicht einsehen. Eigentlich kann das niemand. War eine einfache Sache.« »Ich bin nur froh, dass Chloe ihnen nicht begegnet ist«, sagte Ray. Der Polizist nickte. Er erhob sich, um zu gehen. »Dafür können Sie dankbar sein. Ich nehme an, dass Ihre Versicherung einen großen Teil der Sachen ersetzen wird. Wiederbekommen werden Sie vermutlich nichts. Bei anderen Fällen haben wir auch kein Glück gehabt.« Rayford nahm Chloe in den Arm, die immer noch zitterte. »Kannst du mir einen Gefallen tun, Dad?«, fragte sie. »Natürlich.« »Ich möchte noch einmal so eine Videokassette haben, die von dem Pastor.« »Ich werde Bruce anrufen, und wir werden sie uns noch heute Abend holen.« Auf einmal begann Chloe zu lachen. 233
»Was ist denn so lustig?«, fragte Rayford. »Ich musste nur gerade denken«, sagte sie unter Tränen lächelnd, »dass sich die Diebe das Band vielleicht ansehen.«
15 Eine der ersten Nachrichten auf Bucks Anrufbeantworter war von der Stewardess, die er in der Woche zuvor kennen gelernt hatte. »Mr Williams, hier spricht Hattie Durham«, sagte sie. »Ich bin in New York und dachte, ich rufe mal an, um hallo zu sagen und Ihnen nochmals zu danken, dass Sie mir geholfen haben, mit meiner Familie in Kontakt zu treten. Ich warte einen Augenblick in der Leitung, für den Fall, dass Sie Ihre Anrufe über den Bildschirm abfragen. Es wäre schön, sich auf einen Drink oder so etwas zusammenzusetzen, aber Sie brauchen sich nicht verpflichtet zu fühlen. Vielleicht ein anderes Mal.« »Und wer ist das?«, fragte Steve, als Buck neben der Badezimmertür stehen blieb, um auch die anderen Nachrichten abzuhören, bevor er unter die Dusche ging. »Nur ein Mädchen«, sagte er. »Nett?« »Mehr als nett. Umwerfend.« »Dann rufst du sie besser zurück.« »Keine Angst.« Mehrere andere Nachrichten waren unwichtig. Dann kamen zwei, die erst am Nachmittag hinterlassen worden waren. Die Erste war von Captain Howard Sullivan von Scotland Yard. »Ah, Mr Williams. Ich hinterlasse diese Nachricht nur ungern auf Ihrem Anrufbeantworter, doch ich würde gern so schnell wie möglich mit Ihnen sprechen. Wie Sie wissen, sind zwei Herren, mit denen Sie befreundet waren, hier in London ganz plötzlich ums Leben gekommen. Ich würde Ihnen gern einige Fragen stellen. Sehr wahrscheinlich werden Sie auch noch von 234
anderen Polizeiorganen hören, da Sie mit einem der Opfer kurz vor seinem unglücklichen Ende gesehen wurden. Bitte rufen Sie mich an.« Und dann hinterließ er seine Nummer. Die nächste Nachricht, eine knappe halbe Stunde später, war von George Lafitte, einem Beamten von Interpol vom internationalen Hauptquartier in Paris. »Mr Williams«, sagte er mit einem deutlichen französischen Akzent, »ich möchte Sie bitten, mich vom nächstgelegenen Polizeirevier aus anzurufen, sobald Sie diese Nachricht erhalten. Dort wird man wissen, wie Sie direkt mit uns in Verbindung treten können, und dort wird man auch Informationen vorliegen haben, warum wir mit Ihnen sprechen müssen. Zu Ihrem eigenen Besten bitte ich Sie, nicht zu zögern.« Buck starrte Steve an, der genauso verwirrt wirkte wie Buck. »Was ist denn nun los?«, fragte Steve. »Bist du ein Verdächtiger?« »Ich hoffe doch nicht. Nach dem, was ich von Alan über Sullivan gehört habe, steckt er mit Todd-Cothran unter einer Decke. Keinesfalls werde ich nach London fahren und mich ihnen freiwillig ausliefern. Diese Nachrichten sind doch nicht bindend, nicht? Ich brauche mich nicht danach zu richten, nur weil ich sie gehört habe, oder?« Steve zuckte die Achseln. »Niemand außer mir weiß, dass du sie überhaupt gehört hast. Im Übrigen haben die internationalen Polizeiorgane keine Rechtsgewalt hier.« »Du meinst, ich könnte vielleicht ausgeliefert werden?« »Wenn sie versuchen, dich mit einem dieser Todesfälle in Verbindung zu bringen.« Chloe wollte an diesem Abend nicht zu Hause bleiben. Sie fuhr mit ihrem Vater zu der Gemeinde, wo Bruce Barnes ihnen eine andere Videokassette gab. Er schüttelte den Kopf, als er von dem Einbruch hörte. »Das greift richtig um sich«, sagte er. »Es ist, als sei die Innenstadt auf die Vororte verlegt worden. Nicht 235
einmal hier sind wir noch sicher.« Rayford musste sich sehr zurückhalten, Bruce nicht zu erzählen, dass es Chloes Idee gewesen war, die gestohlene Kassette zu ersetzen. Er wollte Bruce sagen, er würde Gott wegen ihr weiter in den Ohren liegen, und sie würde immer noch über alles nachdenken. Vielleicht hatte der Einbruch in ihr Haus ihr gezeigt, wie verletzlich sie war. Vielleicht hatte sie auch begriffen, dass die Welt jetzt sehr viel gefährlicher war, es keine Garantien gab, ja, ihr vielleicht nicht einmal mehr viel Zeit blieb. Doch Rayford wusste auch, dass er sie sehr leicht beleidigen und verletzen könnte. Wenn er Bruce jetzt »auf sie ansetzen« würde, könnte sie völlig abgeschreckt werden. Sie hatte ausreichend Informationen; er musste Gott jetzt an ihr wirken lassen. Stimmt, er hatte Mut gefasst und hätte nur zu gerne Bruce erzählt, wie der Stand der Dinge war. Aber vermutlich würde er auf einen geeigneteren Zeitpunkt warten müssen. Unterwegs kaufte Rayford noch einige Dinge, die sofort ersetzt werden mussten, darunter auch ein Fernsehgerät und einen Videorecorder. Er gab die Reparatur der Eingangstür in Auftrag und machte sich an den Papierkram für die Versicherung. Vor allem setzte er die Alarmanlage wieder in Gang. Und trotzdem wusste er, dass weder er noch Chloe in dieser Nacht ruhig schlafen würden. Als sie nach Hause kamen, rief Hattie Durham an. Sie klang sehr einsam und schien keinen besonderen Grund für ihren Anruf zu haben. Sie sagte einfach nur, dass sie sich über die Einladung freue und sehr gern kommen würde. Er erzählte ihr, was zu Hause passiert war, und sie schien ehrlich besorgt zu sein. »Alles ist so seltsam jetzt«, sagte sie. »Sie wissen doch, dass eine meiner Schwestern in einer Abtreibungsklinik arbeitet.« »Ja«, sagte Rayford. »Das haben Sie einmal erwähnt.« »Sie beschäftigen sich dort mit Familienplanung und Bera236
tung und auch Schwangerschaftsabbruch.« »Richtig.« »Und die Abtreibungen werden gleich dort durchgeführt.« Hattie schien auf eine Reaktion von ihm zu warten. Rayford würde ungeduldig und schwieg. »Wie auch immer«, sagte sie, »ich möchte Sie nicht aufhalten. Aber meine Schwester erzählte mir, dass sie überhaupt nichts zu tun haben.« »Nun, das ist eigentlich logisch, wenn man bedenkt, dass alle ungeborenen Babys verschwunden sind.« »Meine Schwester schien darüber nicht besonders glücklich zu sein.« »Hattie, vermutlich sind alle entsetzt darüber. Eltern auf der ganzen Welt trauern.« »Aber die Frauen, die meine Schwester und die Leute dort an der Klinik beraten, wollen die Abtreibung.« Rayford suchte nach einer angemessenen Antwort. »Ja, dann sind diese Frauen bestimmt dankbar, dass sie um die Abtreibung erst einmal herumgekommen sind.« »Vielleicht, aber meine Schwester und ihre Chefs, das gesamte Personal hat keine Arbeit mehr, bis die Frauen wieder schwanger werden.« »Ich habe verstanden. Es ist eine finanzielle Angelegenheit.« »Sie müssen arbeiten. Die laufenden Kosten müssen doch gedeckt werden.« »Und außer Abtreibungsberatung und Abtreibungen haben sie nichts zu tun?« »Nichts. Ist das nicht schrecklich? Ich meine, das, was passiert ist, hat meine Schwester und viele andere in ihrer Branche arbeitslos gemacht, und niemand weiß so recht, ob die Leute überhaupt noch mal schwanger werden können.« Rayford musste zugeben, dass sich Hattie nie durch besondere Intelligenz ausgezeichnet hatte, doch im Augenblick wünschte er, er könnte ihr in die Augen sehen. »Hattie, äh, ich 237
weiß gar nicht, wie ich diese Frage formulieren soll. Aber wollen Sie etwa sagen, dass Ihre Schwester hofft, die Frauen könnten wieder schwanger werden und abtreiben wollen, damit sie weiterarbeiten kann?« »Ja, sicher. Was soll sie sonst tun? Beratungsjobs auf anderen Gebieten sind ziemlich schwer zu bekommen, wie Sie wissen.« Er nickte und fühlte sich dumm dabei, weil er ja genau wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte. Welche Art von Wahnsinn war das? Sollte er seine Energie auf jemanden verschwenden, der so ganz offensichtlich keine Ahnung hatte? Doch er konnte nicht anders. »Ich dachte immer, Kliniken wie die, in der Ihre Schwester arbeitet, würden ungewollte Schwangerschaften als eine Plage betrachten. Sollten sie nicht froh sein, wenn diese Probleme verschwinden, und sich noch mehr freuen, wenn gar keine Frauen mehr schwanger werden – abgesehen natürlich von der Tatsache, dass die menschliche Rasse dann irgendwann aussterben wird?« Die Ironie in seinen Worten entging ihr. »Aber Rayford, das ist doch ihr Job. Nur darum wurde das Zentrum gebaut. Das ist fast so, als würde man eine Tankstelle besitzen und keiner braucht mehr Benzin, Öl oder Reifen.« »Eine Sache von Angebot und Nachfrage?« »Genau! Sehen Sie? Sie brauchen ungewollte Schwangerschaften, weil das ihr Geschäft ist.« »Zu vergleichen mit Ärzten, die wollen, dass die Menschen krank sind, damit sie etwas zu tun haben?« »Jetzt haben Sie es verstanden, Rayford.« Nachdem Buck sich rasiert und geduscht hatte, berichtete Steve ihm: »Ich habe gerade erfahren, dass New Yorker Polizisten dich in der Redaktion gesucht haben. Leider hat ihnen jemand erzählt, du würdest Carpathia später noch im Plaza treffen.« 238
»Brillant!« »Ich weiß. Vielleicht solltest du dich dem einfach stellen.« »Noch nicht, Steve. Ich möchte zuerst dieses Interview machen. Danach werde ich sehen, wie ich mich aus diesem Schlamassel befreien kann.« »Du hoffst, dass Carpathia helfen kann?« »Genau.« »Und wenn es dir nun nicht gelingt, mit ihm zu sprechen? Wenn du vorher geschnappt wirst?« »Ich muss es versuchen. Ich habe ja immer noch den Presseausweis auf den Namen Oreskowitsch. Wenn die Polizei im Plaza auf mich wartet, erkennt sie mich vielleicht nicht sofort.« »Ach komm schon, Buck. Du meinst, sie hätten nicht mittlerweile herausgefunden, dass du falsche Ausweispapiere hast, nachdem du Europa damit verlassen hast? Lass uns doch die Identitäten tauschen. Wenn sie denken, ich sei du und würde versuchen, als Oreskowitsch durchzukommen, hast du vielleicht genügend Zeit, hineinzukommen, um mit Carpathia zu sprechen.« Buck zuckte die Achseln. »Das ist auf jeden Fall einen Versuch wert«, sagte er. »Ich möchte nicht hier bleiben, andererseits möchte ich Carpathia gern in der ›Nightline‹ sehen.« »Willst du mit zu mir kommen?« »Vermutlich werden sie mich über kurz oder lang auch dort suchen.« »Ich werde Marge anrufen. Sie und ihr Mann wohnen hier ganz in der Nähe.« »Nimm aber bitte nicht mein Telefon.« Steve verzog das Gesicht. »Du benimmst dich wie in einem Spionagefilm.« Steve benutzte sein eigenes Handy. Marge bestand darauf, dass sie sofort zu ihr herüberkamen. Sie sagte, ihr Mann würde zwar um diese Zeit immer gern »MASH« sehen, doch sie würde ihn bestimmt überreden können, es an diesem Abend einmal aufzuzeichnen. 239
Als Buck und Steve in ein Taxi stiegen, sahen sie, wie zwei Streifenwagen in Zivil vor Bucks Apartmenthaus vorfuhren. »Es ist tatsächlich wie in einem Spionagefilm.« Marges Mann war nicht allzu begeistert, an diesem Abend um seinen Lieblingsfilm gebracht zu werden, doch selbst er war fasziniert, als Nightline begann. Carpathia war entweder sehr natürlich oder sehr gut trainiert. Wann immer es möglich war, blickte er direkt in die Kamera, und er schien zu jedem einzelnen Zuschauer zu sprechen. »Ihre Rede vor den Vereinten Nationen«, begann Wallace Theodore, »die Sie zwischen zwei Pressekonferenzen gehalten haben, scheint New York elektrisiert zu haben. Da sowohl in den Nachrichten am frühen Abend als auch in den Spätnachrichten sehr ausführlich darüber berichtet wurde, sind Sie scheinbar über Nacht zu einem bekannten Mann in diesem Land geworden.« Carpathia lächelte. »Wie jeder aus Europa, vor allem aus Osteuropa, staune ich über Ihre Technologie. Ich …« »Aber stimmt es nicht, dass Sie eigentlich Westeuropäer sind? Obwohl Sie in Rumänien geboren wurden, sind Sie nicht eigentlich italienischer Herkunft?« »Das ist bei mir zutreffend wie bei vielen anderen Rumänen auch. Daher auch der Name unseres Landes. Doch ich sprach von Ihrer Technologie. Sie ist erstaunlich, ich muss jedoch gestehen, dass ich nicht in Ihr Land gekommen bin, um eine bekannte Persönlichkeit zu werden. Ich habe ein Ziel, eine Mission, eine Botschaft, und das hat nichts zu tun mit meiner Popularität oder meiner persönlichen …« »Aber stimmt es nicht, dass Sie gerade von einem Fototermin beim People Magazine kommen?« »Ja, aber ich –« »Und stimmt es nicht, dass man Sie dort gerade zum erotischsten Mann des Jahres gekürt hat?« »Ich weiß nicht, was das bedeutet, wirklich. Ich habe einem 240
Interview zugestimmt, das vor allem meine Kindheit, meine berufliche Laufbahn und meine politische Karriere zum Thema hatte, und ich ging von der Annahme aus, dass dieser Artikel über den erotischsten Mann im Januar jeden Jahres erscheint, sodass es für das nächste Jahr eigentlich zu früh und für dieses Jahr zu spät war.« »Ja, und ich bin sicher, Mr Carpathia, dass Sie genauso fasziniert von dem jungen Gesangsstar waren, der vor zwei Monaten diesen Titel bekam, aber –« »Ich bedauere sagen zu müssen, dass ich von dem jungen Mann nichts wusste, bevor ich sein Bild auf der Titelseite der Zeitschrift sah.« »Aber, Sir, wollen Sie damit sagen, Sie hätten nicht gewusst, dass People Magazine die Tradition gebrochen hat, indem sie ihren gegenwärtigen erotischsten Mann abgesetzt und Sie mit der nächsten Wochenausgabe auf seinen Platz gesetzt hat?« »Ich glaube, man hat versucht, mir das zu erklären, doch ich habe es nicht verstanden. Der junge Mann hat wohl in einem Hotel gehörigen Schaden angerichtet oder so etwas, und darum …« »Und darum waren Sie ein willkommener Ersatz für ihn.« »Ich weiß darüber nichts, und um ganz ehrlich zu sein, vermutlich hätte ich unter diesen Umständen das Interview abgelehnt. Ich betrachte mich selbst nicht als erotisch. Ich befinde mich auf einem Kreuzzug, damit die Völker der Erde zusammenkommen. Ich strebe keine Machtposition an. Ich bitte nur darum, angehört zu werden. Ich hoffe, dass meine Botschaft in dem Artikel durchkommt.« »Aber Sie haben doch bereits eine Machtstellung inne, Mr Carpathia.« »Nun, unser kleines Land hat mich gebeten, ihm zu dienen, und ich war bereit dazu.« »Wie reagieren Sie auf böse Zungen, die sagen, Sie hätten das Protokoll umgangen und Ihre Einsetzung als Präsident in 241
Rumänien sei nur durch eine starke Hand im Hintergrund möglich gewesen?« »Ich würde sagen, das ist der richtige Weg, einen Pazifisten anzugreifen, jemand, der nicht nur für die Abrüstung in Rumänien und Europa plädiert, sondern weltweit.« »Dann streiten Sie also ab, vor sieben Jahren einen Geschäftsrivalen ermordet zu haben und Einschüchterungstaktik und mächtige Freunde in Amerika zu Hilfe genommen zu haben, um die Präsidentschaft in Rumänien zu übernehmen?« »Der so genannte ermordete Rivale gehörte zu meinen engsten Freunden, und ich trauere noch heute um ihn. Die wenigen amerikanischen Freunde, die ich habe, mögen hier sehr einflussreich sein, doch ihr Einfluss würde keinesfalls irgendwelche Auswirkungen auf die rumänische Politik haben. Sie müssen wissen, dass unser früherer Präsident mich aus persönlichen Gründen gebeten hat, ihn abzulösen.« »Aber damit haben Sie doch das in der Verfassung vorgeschriebene Verfahren vollkommen ignoriert.« »Das Volk war mit großer Mehrheit dafür, und in der Regierung wurde der Beschluss ebenfalls mit großer Mehrheit verabschiedet.« »Aber die Tatsache bleibt.« »In gewisser Weise ja. Doch andererseits, wenn dieser Beschluss nicht sowohl von Seiten des Volkes als auch von beiden Regierungshäusern ratifiziert worden wäre, wäre ich der Präsident mit der kürzesten Regierungszeit in der Geschichte unserer Nation gewesen.« Marges Mann brummte: »Dieser römische Junge ist ganz schön fix.« »Rumänische«, korrigierte Marge. »Ich habe gehört, wie er gesagt hat, er sei ein Vollblutitaliener«, widersprach ihr Mann. Marge winkte ab. Buck war erstaunt über Carpathias Denkprozesse und seine perfekte Beherrschung der Sprache. Theodore fragte ihn: 242
»Warum die Vereinten Nationen? Einige würden sagen, dass Sie mehr erreichen könnten, wenn Sie vor unserem Senat oder dem Abgeordnetenhaus sprechen würden.« »Ein solches Privileg würde ich mir nicht einmal erträumen«, sagte Carpathia. »Aber sehen Sie, ich wollte nichts erreichen. Die UNO war ursprünglich eine Organisation zur Wahrung des Friedens. Sie muss zu dieser Aufgabe zurückkehren.« »Sie haben heute angedeutet, und ich spüre das auch jetzt bei Ihren Worten, dass Sie einen ganz bestimmten Plan für die UNO haben, der sie sehr verbessern würde und in diesen außergewöhnlich schlimmen Zeiten nützlich sein könnte.« »Das habe ich tatsächlich. Ich hatte nicht das Gefühl, solche Veränderungen vorschlagen zu können, als ich dort zu Gast war; hier jedoch habe ich keine Scheu, darüber zu sprechen. Ich bin ein Verfechter der Abrüstung. Das ist kein Geheimnis. Zwar bin ich beeindruckt von den weit reichenden Möglichkeiten, Plänen und Programmen der Vereinten Nationen, doch ich glaube, dass mit kleinen Veränderungen und der Mitarbeit ihrer Mitglieder diese Organisation ihrem ursprünglichen Auftrag wieder besser gerecht werden könnte. Wir müssen wirklich eine weltweite Gemeinschaft werden.« »Können Sie Ihre Gedanken kurz skizzieren?« Carpathias Lachen schien von Herzen und ehrlich gemeint zu sein. »Das ist immer gefährlich«, sagte er, »doch ich will es versuchen. Wie Sie wissen, hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen fünf ständige Mitglieder: die Vereinigten Staaten, die russische Staatengemeinschaft, Großbritannien, Frankreich und China. Außerdem gibt es zehn nicht ständige Mitglieder, jeweils zwei aus unterschiedlichen Regionen der Welt, die dem Rat für zwei Jahre angehören. Ich respektiere natürlich den Besitzstand der fünf ständigen Mitglieder. Mein Vorschlag ist, weitere fünf Mitglieder dazuzunehmen, jeweils aus fünf verschiedenen Gebieten der Welt. Die zehn nicht ständigen Mitglieder sind dann nicht mehr 243
vonnöten. Dann hätte man zehn ständige Mitglieder des Sicherheitsrates. Der Rest meines Planes ist revolutionär. Gegenwärtig haben die fünf ständigen Mitglieder ein Vetorecht. Für die Abstimmung über Verfahrensfragen ist eine NeunStimmen-Mehrheit erforderlich; Abstimmungen über sehr wichtige Themen erfordern eine einfache Mehrheit, auch die der fünf ständigen Mitglieder. Ich schlage ein strafferes System vor. Ich plädiere für Einstimmigkeit.« »Wie bitte?« »Die Vertreter der zehn ständigen Mitglieder müssen sehr sorgfältig ausgewählt werden. Sie müssen Unterstützung und Hilfe von allen Ländern ihrer betreffenden Region bekommen.« »Das klingt nach einem Albtraum.« »Aber es würde funktionieren. Ich will Ihnen auch den Grund dafür nennen. Ein Albtraum ist, was uns allen in der vergangenen Woche passiert ist. Die Zeit ist reif, dass die Völker der Erde sich erheben und darauf bestehen, dass ihre Regierungen ihr gesamtes Waffenarsenal bis auf zehn Prozent abrüsten und zerstören. Diese zehn Prozent würden den Vereinten Nationen unterstellt werden, damit diese Organisation zu ihrem rechtmäßigen Platz als weltweites Organ zur Schaffung und Erhaltung des Friedens zurückkehren könnte mit der Autorität, der Macht und der nötigen Ausrüstung für diese Aufgabe.« Carpathia belehrte die Zuschauer, dass die UNO im Jahre 1965 ihre ursprüngliche Charta abänderte und die Mitgliederzahl des Sicherheitsrates von elf auf fünfzehn erhöhte. Er sagte, das ursprüngliche Vetorecht der ständigen Mitglieder hätte die Friedensbemühungen zum Beispiel in Korea und während des Kalten Krieges behindert. »Woher haben Sie eigentlich Ihr enzyklopädisches Wissen über die UNO und die Weltangelegenheiten?« »Wir alle finden Zeit, das zu tun, was uns Spaß macht. Dies ist meine Leidenschaft.« 244
»Welches ist Ihr persönliches Ziel? Eine Führungsrolle im gemeinsamen europäischen Markt?« »Wie Sie wissen, ist Rumänien nicht einmal Mitglied. Aber nein, mein persönliches Ziel ist nicht die Führung, ich möchte nur die Stimme sein. Wir müssen abrüsten, wir müssen den Vereinten Nationen mehr Macht geben, wir müssen eine einheitliche Währung einführen, und wir müssen eine weltweite Gemeinschaft werden.« Schweigend saßen Rayford und Chloe vor ihrem neuen Fernsehgerät. Sie waren beeindruckt von dem frischen Gesicht und den ermutigenden Ideen Nicolai Carpathias. »Was für ein Mann!«, sagte Chloe schließlich. »Seit ich ein kleines Kind war, habe ich keinen Politiker mehr gehört, der etwas zu sagen hatte, und damals verstand ich nicht einmal die Hälfte von dem, was gesagt wurde.« »Er ist wirklich etwas Besonderes«, stimmte Rayford zu. »Vor allem ist es erfrischend, jemanden zu sehen, der keine persönlichen Ziele verfolgt.« Chloe lächelte. »Dann fängst du also nicht an, ihn mit dem Betrüger zu vergleichen, vor dem uns der Pastor auf der Videokassette gewarnt hat, dieser Jemand aus Europa, der die Weltherrschaft anstrebt?« »Wohl kaum«, erwiderte Rayford. »Dieser Bursche hat nichts Selbstsüchtiges oder Böses an sich. Irgendwie weiß ich, dass der Betrüger, von dem der Pastor gesprochen hat, ein wenig besser zu erkennen sein würde.« »Aber«, sagte Chloe, »wenn er ein Betrüger ist, dann ist er vielleicht ein guter.« »Hey, auf welcher Seite stehst du denn? Sieht dieser Bursche vielleicht aus wie der Antichrist?« Sie schüttelte den Kopf. »Er scheint mir eine frische Brise zu sein. Wenn er beginnen würde, sich in Machtpositionen einzuschleichen, dann wäre er mir verdächtig, doch ein Pazifist, der 245
zufrieden damit ist, Präsident eines unbedeutenden Landes zu sein? Sein einziger Einfluss ist seine Klugheit, und seine einzige Macht seine Aufrichtigkeit und Bescheidenheit.« Das Telefon klingelte. Es war Hattie, die mit Rayford sprechen wollte. In den höchsten Tönen sang sie Carpathias Lob. »Haben Sie ihn gesehen? Er ist so gut aussehend! Ich muss ihn einfach kennen lernen! Sind Sie für irgendeinen Flug nach New York eingeteilt?« »Am Mittwochvormittag. Ich komme am nächsten Tag zurück. Dann kommen Sie doch zum Abendessen zu uns, nicht?« »Ja, und das ist großartig, aber, Rayford, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich versuchte, diesen Flug zu bekommen? Ich habe in den Nachrichten gehört, dass dieser Journalist doch nicht bei dem Bombenattentat ums Leben gekommen ist, und dass er im Augenblick in New York ist. Ich möchte sehen, ob ich mich mit ihm treffen und diesem Carpathia vorgestellt werden kann.« »Und Sie meinen, er würde ihn kennen?« »Buck kennt alle und jeden. Er schreibt diese großen internationalen Artikel. Er muss einfach. Auch wenn er ihn nicht kennt, hätte ich nichts dagegen, Buck zu sehen.« Es war eine Erleichterung für Rayford, das zu hören. Hattie hatte also nichts dagegen, mit ihm über zwei jüngere Männer zu sprechen, die sie gerne kennen lernen oder zumindest einmal aus der Nähe sehen wollte. Er war sicher, dass sie das nicht nur sagte, um sein Interesse an ihr auf die Probe zu stellen. Sicher war ihr klar, dass er sich im Augenblick für niemanden interessieren würde, wo seine Frau gerade erst von ihm gegangen war. Rayford fragte sich, ob er ihr bei ihrem Plan helfen oder ehrlich mit ihr über seine früheren Gefühle sprechen sollte. Vielleicht sollte er direkt zur Sache kommen und sie bitten, sich die Videokassette des Pastors anzusehen. »Nun, dann viel Glück dabei«, sagte Rayford lahm. »Aber kann ich mich denn für Ihren Flug bewerben?« 246
»Warum warten Sie nicht einfach ab, ob Sie dafür eingeteilt werden?« »Rayford!« »Was denn?« »Sie wollen mich nicht auf Ihrem Flug haben. Warum? Habe ich etwas Falsches gesagt oder getan?« »Wieso meinen Sie?« »Meinen Sie, ich wüsste nicht, dass Sie meinen letzten Antrag abgeschmettert haben?« »Ich habe ihn nicht abgeschmettert. Ich habe nur gesagt …« »Das ist dasselbe.« »Ich habe nur gesagt, was ich Ihnen auch gerade gesagt habe. Ich habe nichts dagegen, dass Sie auf meinen Flügen mitfliegen, aber warum überlassen Sie das nicht der Flugeinteilung?« »Sie wissen schon, was dann passiert! Wenn ich warte, passiert nichts. Unternehme ich etwas, so kann ich auf Grund meines Status als Chefstewardess etwas erreichen. Also, was ist los, Rayford?« »Können wir nicht darüber sprechen, wenn Sie zum Abendessen kommen?« »Lassen Sie uns jetzt darüber sprechen.« »Sehen Sie, Ihre Sonderwünsche bringen die ganzen Flugpläne durcheinander, Hattie. Alle müssen sich nach Ihnen richten.« »Ist das Ihr Grund? Sie machen sich Gedanken um die anderen?« Er wollte nicht lügen. »Teilweise«, erwiderte er. »Früher hat Ihnen das nichts ausgemacht. Sie haben mich sogar ermutigt, mich für Ihre Flüge zu bewerben, und manchmal haben Sie sogar nachgefragt, ob ich es auch wirklich getan habe.« »Ich weiß.« »Und was hat sich nun geändert?« »Hattie, bitte. Ich möchte das nicht am Telefon besprechen.« 247
»Dann können wir uns ja irgendwo treffen.« »Das geht nicht. Ich kann Chloe so kurz nach dem Einbruch hier nicht allein lassen.« »Dann komme ich zu Ihnen.« »Es ist doch schon so spät.« »Rayford! Wollen Sie mich abwimmeln?« »Wenn ich Sie abwimmeln wollte, hätte ich Sie nicht zum Abendessen eingeladen.« »Wo Ihre Tochter zu Hause ist? Ich denke, ich werde auf den letzten Schlag vorbereitet.« »Hattie, was sagen Sie da?»« »Nur, dass es Ihnen Freude gemacht hat, mit mir zu flirten und so zu tun, als würde etwas laufen.« »Das gebe ich zu.« »Und das mit Ihrer Frau tut mir Leid, Rayford, wirklich. Vermutlich fühlen Sie sich schuldig, obwohl wir nie irgendetwas getan haben, weswegen Sie sich schuldig fühlen müssten. Aber schieben Sie mich doch nicht beiseite, bevor Sie die Gelegenheit hatten, Ihren Verlust zu überwinden und wieder anzufangen zu leben.« »Das ist es nicht. Hattie, was heißt schon, beiseite schieben. Es ist doch nicht so, dass wir eine Beziehung gehabt hätten. Wenn das so wäre, warum sind Sie dann so an dem Rumänen und diesem Journalisten interessiert?« »Alle interessieren sich für Carpathia«, gab sie zur Antwort. »Und Buck ist der Einzige, über den ich an ihn herankommen kann. Sie können doch nicht denken, ich hätte Pläne mit ihm. Also wirklich! Ein internationaler Journalist? Kommen Sie, Rayford.« »Das ist mir eigentlich egal. Ich sage nur, wie sich das mit dem, was immer Sie über unsere Beziehung gedacht haben, vereinbaren lässt.« »Sie wollen, dass ich nicht nach New York fliege und beide vergesse?« 248
»Ganz und gar nicht. Das habe ich wohl kaum gesagt.« »Denn das werde ich. Falls ich jemals gedacht hätte, wir beide hätten eine Chance, hätte ich sie wahrgenommen.« Rayford war abgestoßen. Seine Ängste und Annahmen waren korrekt, doch jetzt fühlte er sich in die Verteidigungsposition gedrängt. »Sie haben nie gedacht, dass wir eine Chance haben?« »Sie haben mir keinen Grund gegeben, das anzunehmen. Soweit ich weiß, hielten Sie mich für ein süßes Kind, viel zu jung, mit dem man gern zusammen ist, das man aber nicht anrührt.« »Das ist nicht von der Hand zu weisen.« »Aber Sie haben sich niemals gewünscht, dass es mehr wäre, Rayford?« »Darüber würde ich mich gern mit Ihnen unterhalten, wenn Sie hier sind, Hattie.« »Sie können mir doch jetzt antworten.« Rayford seufzte. »Ja, es gab Zeiten, wo ich mir gewünscht hätte, es wäre mehr.« »Nun, halleluja, ich habe meine Chance verpasst. Ich hatte aufgegeben, hatte geglaubt, Sie seien unberührbar.« »Das bin ich auch.« »Jetzt, sicher. Das kann ich verstehen. Sie trauern, und vermutlich umso mehr, weil Sie sich eine Zeit lang für eine andere Frau interessiert haben. Aber bedeutet das denn, dass ich nicht einmal mehr mit Ihnen fliegen, einen Drink mit Ihnen nehmen kann? Wir könnten doch zu dem zurückfinden, was anfangs war, und außer Ihren Gedanken war daran doch nichts Falsches.« »Es bedeutet nicht, dass Sie nicht mehr mit mir sprechen oder mit mir arbeiten könnten, wenn wir für dieselben Flüge eingeteilt sind. Wenn ich nichts mehr mit Ihnen zu tun haben wollte, hätte ich Sie nicht zu mir nach Hause eingeladen.« »Ich verstehe jetzt, Rayford. Sie können mir nicht weisma249
chen, dass Sie mir nicht mit dem ›wir wollen Freunde bleiben‹ kommen wollten.« »Vielleicht das und ein wenig mehr.« »Zum Beispiel?« »Nur etwas, das ich Ihnen erzählen wollte.« »Und wenn ich nun sagte, dass ich an einer solchen Art von Geselligkeit kein Interesse habe? Ich habe nicht erwartet, dass Sie nun, da Ihre Frau fort ist, zu mir gerannt kommen, aber ich habe auch nicht erwartet, vollkommen ignoriert zu werden.« »Ignoriere ich Sie mit meiner Einladung zum Abendessen etwa?« »Warum haben Sie mich vorher nie eingeladen?« Rayford schwieg. »Nun?« »Es wäre nicht angemessen gewesen«, murmelte er. »Und jetzt ist es unangemessen, sich auf andere Weise zu begegnen?« »Offen gesagt, ja. Doch ich möchte wirklich mit Ihnen sprechen, und nicht darüber, Sie beiseite zu schieben.« »Und soll meine Neugier mich denn zwingen zu kommen, Rayford? Denn ich sage Ihnen was, ich muss leider ablehnen. Ich werde beschäftigt sein. Nehmen Sie mein Bedauern entgegen. Etwas ist mir dazwischengekommen, das sich leider nicht auf schieben lässt, Sie verstehen.« »Bitte, Hattie. Wir hätten Sie wirklich gern hier. Ich möchte, dass Sie kommen.« »Rayford, geben Sie sich keine Mühe. Es gibt unzählige Flüge nach New York. Ich werde keine Verrenkungen machen, um Ihrem zugeteilt zu werden. Um ehrlich zu sein, ich werde versuchen, Ihnen aus dem Weg zu gehen.« »Das brauchen Sie nicht.« »Natürlich brauche ich das. Keine harten Gefühle. Ich hätte Chloe gern kennen gelernt, aber vermutlich hätten Sie sich verpflichtet gefühlt, ihr zu erzählen, dass Sie sich beinahe in 250
mich verliebt haben.« »Hattie, würden Sie mir bitte eine Sekunde zuhören? Bitte.« »Nein.« »Ich möchte, dass Sie am Donnerstagabend zu uns kommen, und ich muss über etwas wirklich Wichtiges mit Ihnen sprechen.« »Dann sagen Sie mir, worüber.« »Nicht am Telefon.« »Dann komme ich nicht.« »Und wenn ich es Ihnen so im Allgemeinen sage, kommen Sie dann?« »Das kommt darauf an.« »Nun, ich weiß über das Verschwinden der Menschen Bescheid. Ich weiß, was das bedeutet, und ich möchte Ihnen helfen, die Wahrheit zu finden.« Hattie schwieg eine ganze Weile. »Sie sind doch nicht zu irgendeinem Fanatiker geworden, oder?« Das musste Rayford erst einmal verdauen. Die Antwort war: »Ja, genau das war eingetroffen«, doch das konnte er nicht sagen. »Sie müssten mich doch besser kennen.« »Das dachte ich eigentlich.« »Glauben Sie mir, die Zeitinvestition lohnt sich.« »Sagen Sie mir, worum es sich im Großen und Ganzen handelt, und ich sage Ihnen, ob ich es hören möchte.« »Keinesfalls«, erwiderte Rayford, und er war selbst erstaunt über seine Entschlossenheit. »Das werde ich nicht. Ich kann nur persönlich mit Ihnen darüber sprechen.« »Dann komme ich nicht.« »Hattie!« »Auf Wiedersehen, Rayford.« »Hat …« Sie hängte ein.
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16 Das würde ich nicht für jeden tun«, sagte Steve Plank, nachdem Buck und er sich von Marge verabschiedet hatten und zu verschiedenen Taxis gingen. »Ich weiß nicht, wie lange ich sie aufhalten und ihnen weismachen kann, ich sei du mit einer anderen Identität, also beeile dich.« »Keine Angst.« Steve nahm das erste Taxi, Bucks Presseausweis ausgestellt auf den Namen George Oreskowitsch in der Tasche. Er wollte direkt zum Plaza Hotel fahren, wo er nach Carpathia fragen sollte. Buck hoffte, dass Steve sofort gestellt und als Buck verhaftet werden würde, und so für ihn den Weg freimachen würde. Falls er von den Beamten aufgehalten werden sollte, würde er Steve Planks Ausweis vorzeigen. Beide wussten, dass der Plan auf wackeligen Füßen stand, doch Buck war bereit, alles zu versuchen, damit er nicht ausgeliefert und für den Mord an Alan Tompkins, und vielleicht sogar an Dirk Burton, vor Gericht gestellt würde. Buck bat den Taxifahrer, etwa eine Minute zu warten, bis er Steve folgte. Als er beim Hotel ankam, standen überall Polizeiwagen mit blinkenden Warnlichtern herum, außerdem ein Polizeigefangenenwagen und mehrere Zivilstreifenautos. Als er sich den Weg durch die Menge bahnte, zerrte die Polizei gerade Steve aus dem Hotel, die Hände hinter dem Rücken in Handschellen gefesselt. »Ich sage es Ihnen doch«, sagte Steve. »Mein Name ist Oreskowitsch!« »Wir wissen, wer Sie sind, Williams. Sparen Sie sich Ihre Luft.« »Das ist nicht Cam Williams!«, sagte ein anderer Reporter und lachte. »Ihr Idioten! Das ist Steve Plank.« »Ja, genau«, warf Plank ein. »Ich bin Williams Chefredakteur beim Weekly!« 252
»Ja, sicher«, beruhigte ihn ein Kriminalbeamter und schob ihn in einen Wagen. Buck ging dem Reporter, der Plank erkannt hatte, aus dem Weg, doch als er in die Empfangshalle kam und über das Haustelefon Chaim Rosenzweig anrufen wollte, wirbelte ein anderer Pressekollege, Eric Miller, herum, deckte seinen Hörer mit einer Hand ab und flüsterte: »Williams, was ist los? Die Polizei hat gerade deinen Boss hier festgenommen, der behauptete, du zu sein!« »Tu mir einen Gefallen«, sagte Buck. »Behalte das für mindestens eine halbe Stunde für dich. Das bist du mir schuldig.« »Ich schulde dir gar nichts, Williams«, erwiderte Miller. »Aber du siehst ganz schön verschreckt aus. Gib mir dein Wort, dass du mir als Erstem erzählst, was los ist.« »In Ordnung. Du wirst der erste Pressemann sein, dem ich es erzähle. Kann nicht versprechen, dass ich es sonst niemandem erzähle.« »Wem?« »Guter Versuch.« »Wenn du versuchen willst, Carpathia anzurufen, Cameron, dann kannst du das vergessen. Wir haben es den ganzen Abend über versucht. Er gibt heute keine Interviews mehr.« »Ist er denn wieder da?« »Ja, er ist wieder da, doch er ist nicht zu sprechen.« Rosenzweig meldete sich am Telefon. »Chaim, hier spricht Cameron Williams. Darf ich hochkommen?« Eric Miller knallte den Hörer auf die Gabel und kam näher. »Cameron!«, sagte Rosenzweig. »Mit Ihnen kann ich einfach nicht Schritt halten. Zuerst sind Sie tot, dann sind Sie am Leben. Gerade haben wir einen Anruf bekommen, dass Sie unten in der Empfangshalle verhaftet worden sind und im Zusammenhang mit einem Mord in London verhört würden.« Buck wollte nicht, dass Miller etwas merkte. »Chaim, ich muss mich beeilen. Ich nenne mich im Augenblick Plank, in 253
Ordnung?« »Ich werde alles mit Nicolai vereinbaren und ihn irgendwie in mein Zimmer locken. Kommen Sie hoch.« Er nannte Buck die Zimmernummer. Buck legte den Finger an die Lippen, damit Miller nicht fragte, doch er konnte ihn nicht abschütteln. Er rannte zum Aufzug, doch Eric blieb neben ihm. Ein Ehepaar versuchte, sich ihnen anzuschließen. »Es tut mir Leid, Leute«, sagte Buck. »Dieser Aufzug ist außer Betrieb.« Das Ehepaar ging, doch Miller blieb. Buck wollte nicht, dass er sah, in welchen Stock er fuhr, darum wartete er, bis sich die Türen schlossen und setzte den Aufzug dann außer Betrieb. Er packte Miller beim Hemd und drückte ihn gegen die Wand. »Hör zu, Eric, ich habe dir gesagt, ich würde dir als Erstem Bescheid geben, wenn sich hier was ergibt, aber wenn du versuchst, dich einzumischen oder mir folgst, werde ich dich auf dem Trockenen sitzen lassen.« Miller befreite sich aus seinem Griff und strich seine Kleidung glatt. »Ist ja schon gut, Williams! Beruhige dich!« »Ja, ich beruhige mich, und du kommst und schnüffelst herum.« »Das ist mein Job, Mann. Vergiss das nicht.« »Meiner auch, Eric, aber ich hefte mich nicht an die Fersen anderer Leute, ich spüre selbst etwas auf.« »Hast du ein Interview mit Carpathia? Sag mir nur das.« »Nein, ich riskiere mein Leben, um herauszufinden, ob ein Filmstar im Haus ist.« »Dann ist es also doch Carpathia, ja?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Komm schon, Mann, lass mich mitmachen! Ich gebe dir alles, was du willst!« »Du hast doch gesagt, dass Carpathia heute Abend keine Interviews mehr gibt«, meinte Buck. »Und er spricht auch nur noch mit den Fernsehleuten und der 254
nationalen Presse, also werde ich ihn nie bekommen.« »Das ist dein Problem.« »Williams!« Buck packte Miller wieder am Hals. »Ich gehe ja schon!«, sagte Eric. Als Buck im VIP-Stockwerk auftauchte, war er erstaunt zu sehen, dass Miller ihm irgendwie zuvorgekommen war und sich einem uniformierten Sicherheitsbeamten als Steve Plank vorstellte. »Mr Rosenzweig wartet auf Sie, Sir«, sagte der Wachposten. »Warten Sie!«, rief Buck und zeigte Steves Presseausweis vor. »Ich bin Plank. Schmeißen Sie diesen Betrüger raus.« Der Sicherheitsbeamte legte beiden Männern die Hand auf die Schulter. »Sie beide werden hier warten, während ich den Hausdetektiv hole.« Buck sagte: »Rufen Sie doch einfach Rosenzweig her.« Der Wachposten zuckte mit den Achseln und wählte die Zimmernummer auf einem Handy. Miller beugte sich vor, sah die Nummer und rannte zu dem Zimmer. Buck rannte ihm nach, der unbewaffnete Wachposten schrie und versuchte immer noch, jemanden am Telefon zu erreichen. Buck, der jünger und in besserer Form war, überholte Miller und griff ihn im Flur an. Durch den Lärm neugierig gemacht, wurden verschiedene Türen geöffnet. »Tragen Sie Ihren Streit doch woanders aus«, rief eine Frau. Buck riss Miller hoch und hielt ihn fest. »Du bist ein Clown, Eric. Denkst du wirklich, Rosenzweig würde einen Fremden in sein Zimmer lassen?« »Ich kann mich überall einschmeicheln, Buck, und du würdest genau dasselbe tun.« »Das Problem ist, dass ich es bereits getan habe. Und jetzt verschwinde.« Der Sicherheitsbeamte holte sie ein. »Dr. Rosenzweig wird in einer Minute da sein.« 255
»Ich habe nur eine Frage an ihn«, sagte Miller. »Nein, hast du nicht«, erwiderte Buck. Er wendete sich an den Sicherheitsbeamten. »Überlassen Sie doch dem alten Mann die Entscheidung«, antwortete der Sicherheitsbeamte und trat auf einmal beiseite und zog auch Buck und Miller mit sich, um den Gang freizumachen. Vier Männer in dunklen Anzügen rauschten an ihnen vorbei, die den unverkennbaren Nicolai Carpathia umgaben. »Entschuldigen Sie, meine Herren«, sagte Carpathia. »Oh, Mr Carpathia, ich meine, Mr President«, rief Miller. »Ja?«, erwiderte Carpathia und drehte sich zu ihnen um. Die Bodyguards wurden rot vor Zorn. »Oh, hallo, Mr Williams«, sagte Carpathia, als er Buck entdeckte. »Oder sollte ich sagen, Mr Oreskowitsch? Oder Mr Plank?« Miller trat vor. »Eric Miller vom Seaboard Monthly.« »Den kenne ich sehr gut, Mr Miller«, sagte Carpathia, »aber ich habe noch eine Verabredung und bin spät dran. Wenn Sie mich morgen anrufen, werde ich am Telefon mit Ihnen sprechen. Ist das okay?« Miller war überwältigt. Er nickte und zog sich zurück. »Sie sagten doch, Ihr Name sei Plank!«, meinte der Sicherheitsbeamte, und alle außer Miller lächelten. »Kommen Sie herein, Buck«, sagte Carpathia und forderte ihn auf, ihm zu folgen. »So nennt man Sie doch, nicht?« »Ja, Sir«, erwiderte Buck. Er war sicher, dass nicht einmal Rosenzweig das wusste. Die Sache mit Hattie Durham belastete Rayford schrecklich. Es hätte nicht schlechter laufen können. Warum hatte er sie nicht einfach seinen Flug begleiten lassen? Sie hätte nichts erfahren, und er hätte mit ihr über den wirklichen Grund für die Einladung zum Abendessen sprechen können. Doch jetzt hatte er alles verdorben. Wie konnte er jetzt zu Chloe durchdringen? Sein eigentliches 256
Motiv, sogar für die Unterhaltung mit Hattie, war, dass er mit Chloe sprechen wollte. Hatte sie noch nicht genug gesehen? Sollte er sich nicht über ihren Wunsch freuen, die gestohlene Videokassette zu ersetzen? Er hatte sie gefragt, ob sie ihn nach New York begleiten wollte. Doch sie wollte lieber zu Hause bleiben und sich um ihre Vorlesungen kümmern. Wieder wollte er sie drängen, doch er wagte es nicht. Nachdem sie zu Bett gegangen war, rief er Bruce Barnes an und erzählte ihm von seiner Situation. »Sie bemühen sich zu sehr, Rayford«, sagte der jüngere Mann. »Man sollte meinen, anderen Leuten von unserem Glauben zu erzählen, sollte jetzt leichter sein als je zuvor, doch ich stoße auf denselben Widerstand.« »Es ist wirklich sehr schwierig, vor allem, wenn es sich um die eigene Tochter handelt.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Bruce. »Nein, das können Sie nicht«, erwiderte Rayford. »Aber das ist schon in Ordnung.« Chaim Rosenzweig bewohnte eine wundervolle Suite. Die Bodyguards postierten sich im Empfangszimmer, während Carpathia Rosenzweig und Buck in ein privates Wohnzimmer bat, wo sie sich allein unterhalten konnten. Carpathia zog seine Jacke aus und legte sie vorsichtig über die Couch. »Machen Sie es sich bequem, meine Herren«, sagte er. »Ich brauche nicht dabei zu sein, Nicolai«, flüsterte Rosenzweig. »Ach Unsinn, Doktor!«, erwiderte Carpathia. »Sie haben doch nichts dagegen, Buck?« »Ganz und gar nicht.« »Es stört Sie doch nicht, wenn ich Sie Buck nenne?« »Nein, Sir, aber gewöhnlich nennen nur die Leute …« »Ich weiß, die Leute Ihrer Zeitung. Sie nennen Sie so, weil Sie alle Traditionen und Konventionen beugen, habe ich 257
Recht?« »Ja, aber woher …« »Buck, dies ist der unglaublichste Tag meines Lebens. Ich habe mich hier so willkommen gefühlt. Und die Leute schienen so offen für meine Vorschläge zu sein. Ich bin überwältigt. Ich werde als glücklicher und zufriedener Mann in mein Land zurückkehren. Aber noch nicht so bald. Ich habe darum gebeten, länger bleiben zu können. Wussten Sie das?« »Ich habe es gehört.« »Es ist erstaunlich, nicht, dass die verschiedenen internationalen Konferenzen alle in den kommenden Wochen hier in New York stattfinden. Sie alle haben die weltweite Zusammenarbeit zum Thema, die mich ebenfalls so stark interessiert.« »Das ist wirklich erstaunlich«, erwiderte Buck. »Und ich habe die Aufgabe, darüber zu berichten.« »Dann werden wir uns ja noch besser kennen lernen.« »Und ich freue mich darauf, Sir. Ihre Rede vor der UNO hat mich sehr bewegt.« »Danke.« »Und Dr. Rosenzweig hat mir schon so viel von Ihnen erzählt.« »Und er hat mir auch viel über Sie erzählt.« Es klopfte an der Tür. Carpathia blickte bekümmert auf. »Ich hatte gehofft, wir würden nicht gestört werden.« Rosenzweig erhob sich langsam und schlurfte zur Tür. Leise sprach er mit dem Störenfried. Dann kam er zurück. »Wir werden ihm einige Minuten Zeit geben müssen, Cameron«,flüsterte er, »für ein wichtiges Telefongespräch.« »Oh nein«, stöhnte Carpathia. »Ich werde es später entgegennehmen. Dieses Gespräch hier ist mir wichtiger …« »Sir«, unterbrach ihn Rosenzweig, »es tut mir Leid, aber es ist der Präsident.« 258
»Der Präsident?« »Der Präsident der Vereinigten Staaten.« Buck erhob sich schnell, um mit Rosenzweig das Zimmer zu verlassen, doch Carpathia bestand darauf, dass sie blieben. »Ich bin kein so großer Würdenträger, dass ich diese Ehre nicht gern mit meinem alten und meinem neuen Freund teilen würde. Setzen Sie sich!« Sie nahmen Platz, und er drückte die Lautsprechertaste am Telefon. »Hier spricht Nicolai Carpathia.« »Mr Carpathia, hier spricht Fitz. Gerald Fitzhugh.« »Mr President, ich fühle mich geehrt, mit Ihnen zu sprechen.« »Nun, hey, es ist schön, Sie hier zu haben!« »Herzlichen Dank für Ihren Glückwunsch zu meiner Präsidentschaft, Sir, und dass Sie meine Regierung sofort anerkannt haben.« »Ja, das ging wirklich alles sehr schnell. Ich wusste gar nicht, was zuerst passiert war, aber ich nehme an, Sie auch nicht.« »Das stimmt. Ich muss mich immer noch daran gewöhnen.« »Nun, lassen Sie sich von jemandem sagen, der bereits sechs Jahre im Sattel sitzt, dass Sie sich nie daran gewöhnen werden. Man bekommt Schwielen an den richtigen Stellen, falls Sie verstehen, was ich meine.« »Ja, Sir.« »Hören Sie, der Grund, warum ich anrufe, ist folgender. Ich weiß, dass Sie ein wenig länger als erwartet bleiben werden, darum möchte ich Sie einladen, einen oder zwei Abende mit mir und meiner Frau Wilma zu verbringen. Ist das möglich?« »In Washington?« »Hier im Weißen Haus.« »Das wäre ein großes Privileg.« »Wir werden mit Ihren Leuten einen Termin vereinbaren lassen, doch es muss bald sein, weil der Kongress tagt, und ich weiß, dass sie von Ihnen hören wollen.« 259
Carpathia schüttelte den Kopf, und Buck hatte den Eindruck, dass er tief bewegt war. »Ich würde mich mehr als geehrt fühlen, Sir.« »Ihre Rede heute Nachmittag und Ihr Interview heute Abend – nun, das war schon was. Ich freue mich darauf, Sie kennen zu lernen.« »Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit, Sir.« Buck war nicht weniger überwältigt von dem Anruf als Carpathia und Rosenzweig. Zwar hatte er schon lange jegliche Ehrfurcht vor den Präsidenten der Vereinigten Staaten verloren, vor allem vor diesem, der darauf bestand, dass man ihn Fitz nannte. Er hatte einen Leitartikel über Fitzhugh als Mann des Jahres geschrieben. Auf der anderen Seite kam es ja nicht jeden Tag vor, dass der Präsident in dem Zimmer anrief, in dem man sich gerade aufhielt. Der Glanz des Anrufs schien Carpathia zu umgeben, doch er wechselte schnell das Thema. »Buck, ich möchte alle Ihre Fragen beantworten und Ihnen geben, was immer Sie brauchen. Sie sind so gut zu Chaim gewesen, und ich bin sogar bereit, Ihnen ein kleines Geheimnis zu verraten – Sie würden es einen Knüller nennen. Doch zuerst einmal, Sie sind in großen Schwierigkeiten, mein Freund. Und ich möchte Ihnen helfen, wenn ich kann.« Buck hatte keine Ahnung, woher Carpathia wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte. Er würde also nicht von sich aus das Gespräch auf dieses Thema lenken müssen. Das war zu schön, um wahr zu sein. Die Frage war nur, was wusste Carpathia, und was musste er noch erfahren? Der Rumäne beugte sich vor und blickte Buck voll an. Das vermittelte Buck ein solches Gefühl von Frieden und Sicherheit, dass er die Freiheit hatte, ihm alles zu erzählen. Alles. Sogar, dass sein Freund Dirk ihm den Tipp über das Treffen mit Stonagal und Todd-Cothran gegeben hatte, und dass Buck annahm, Carpathia sei derjenige gewesen, der daran teilgenommen hatte. 260
»Ich war es tatsächlich«, erwiderte Carpathia. »Doch eines möchte ich klarstellen. Ich weiß von keiner Verschwörung. Von so etwas habe ich noch nie gehört. Mr Stonagal dachte, es sei gut für mich, einige seiner Kollegen und Männer mit internationalem Einfluss kennen zu lernen. Über keinen von ihnen habe ich mir eine Meinung gebildet, auch bin ich keinem von ihnen verpflichtet. Ich will Ihnen etwas sagen, Mr Williams. Ich glaube Ihre Geschichte. Ich kenne Sie nicht, außer durch Ihre Arbeit und durch den Ruf, den Sie bei Leuten haben, die ich respektiere, wie zum Beispiel Dr. Rosenzweig. Doch Ihr Bericht scheint wahr zu sein. Man hat mir erzählt, Sie würden in London wegen des Mordes an dem Scotland Yard Beamten gesucht, und es gäbe mehrere Zeugen, die schwören würden, Sie gesehen zu haben, wie Sie Tompkins abgelenkt, die Bombe angebracht und sie vom Pub aus gezündet hätten.« »Das ist verrückt.« »Nun, natürlich ist es das, wenn Sie den mysteriösen Tod Ihres gemeinsamen Freundes betrauerten.« »Genau das haben wir getan, Mr Carpathia. Das, und außerdem haben wir versucht herauszufinden, was dahinter steckt.« Wieder wurde Rosenzweig zur Tür gerufen. Dann flüsterte er Carpathia etwas ins Ohr. »Buck, kommen Sie«, sagte Carpathia, erhob sich und führte Buck ans Fenster. »Ihr Plan, hierher zu kommen, obwohl Sie verfolgt wurden, war sehr findig, doch Ihr Chef ist identifiziert worden, und jetzt weiß man, dass Sie hier sind. Man will Sie in Haft nehmen und nach England ausliefern.« »Wenn das passiert und Tompkins Theorie stimmt«, sagte Buck, »bin ich ein toter Mann.« »Sie glauben, man würde Sie töten?« »Man hat auch Burton und Tompkins getötet. Ich mit meiner großen Leserschaft bin um ein Vielfaches gefährlicher für sie.« »Wenn dies tatsächlich eine Verschwörung ist, wie Sie und 261
Ihre Freunde behaupten, Cameron, werden Sie sich auch nicht dadurch schützen können, dass Sie darüber schreiben und diese Leute anprangern.« »Das weiß ich. Vielleicht sollte ich es trotzdem tun. Ich sehe keinen anderen Ausweg.« »Ich kann veranlassen, dass man Sie nicht behelligt.« Bucks Gedanken überschlugen sich. Genau das hatte er gewollt, doch er hatte befürchtet, dass Carpathia vielleicht nicht so schnell handeln konnte, um ihn vor Todd-Cothran und Sullivan zu schützen. War es möglich, dass Carpathia tiefer drinsteckte, als er gedacht hatte? »Sir, ich brauche Ihre Hilfe. Doch in erster Linie bin ich Journalist. Ich bin nicht zu kaufen, auch kann man keine Abkommen mit mir schließen.« »Oh nein, natürlich nicht. So etwas würde ich nie versuchen. Ich möchte Ihnen sagen, was ich für Sie tun kann. Ich werde veranlassen, dass die Tragödien in London nochmals überprüft und neu bewertet werden, wobei man Sie entlasten wird.« »Wie wollen Sie das schaffen?« »Spielt das denn eine Rolle, wenn es die Wahrheit ist?« Buck dachte einen Augenblick nach. »Es ist die Wahrheit.« »Natürlich.« »Aber wie wollen Sie es anstellen? Sie haben doch diese Aura der Unschuld, Mr Carpathia, dieses Image des Mannes aus dem ›Nichts‹. Wie können Sie Einfluss ausüben auf das, was in London passiert?« Carpathia seufzte. »Buck, ich habe Ihnen doch gesagt, dass Ihr Freund Dirk mit seiner Verschwörungstheorie nicht Recht hatte. Das stimmt. Ich bin nicht mit Todd-Cothran und Stonagal oder irgendeinem der anderen internationalen Führungsleute im Bunde, die ich die Ehre hatte, neulich kennen zu lernen. Es stehen jedoch wichtige Entscheidungen an, die sie betreffen werden, und es ist mein Vorrecht, in diesen Entwicklungen etwas zu sagen zu haben.« 262
Buck fragte Carpathia, ob er etwas dagegen hätte, wenn sie sich wieder hinsetzten. Carpathia bedeutete Rosenzweig, sie für ein paar Minuten allein zu lassen. »Sehen Sie«, begann Buck, als sie wieder Platz genommen hatten, »ich bin noch jung, doch ich habe viel erlebt. Ich habe das Gefühl, als würde ich herausfinden, wie tief – nun, wenn das keine Verschwörung ist, dann ist es etwas anderes Organisiertes – wie tief Sie drinstecken. Ich kann nun mitspielen und mein Leben retten, oder ich kann mich weigern, und Sie überlassen mich meinem Schicksal in London.« Carpathia hob die Hand und schüttelte den Kopf. »Buck, lassen Sie mich noch einmal betonen, dass wir hier über Politik und Diplomatie sprechen, nicht über Gaunereien und Verbrechen.« »Ich höre.« »Zuerst einmal«, sagte Carpathia, »ein wenig Hintergrund. Ich glaube an die Macht des Geldes. Sie auch?« »Nein.« »Das werden Sie noch. Bereits in der Schule in Rumänien war ich ein überdurchschnittlicher Geschäftsmann. Ich lernte nachts viele Sprachen, die ich beherrschen musste. Tagsüber führte ich mein eigenes Im- und Exportgeschäft und erwarb einen gewissen Reichtum. Doch was ich für Reichtum hielt, war verschwindend gering im Vergleich zu dem, was möglich war. Ich musste das lernen. Ich lernte es auf die harte Weise. Ich lieh mir Millionen von einer europäischen Bank und fand dann heraus, dass jemand aus dieser Bank meinen schärfsten Konkurrenten über das informierte, was ich vorhatte. Ich wurde in meinem eigenen Spiel geschlagen, konnte mein Darlehen nicht zurückzahlen und geriet in Schwierigkeiten. Dann half mir diese Bank auf einmal aus der Krise und ruinierte meinen Rivalen. Ich wollte dem Rivalen nicht schaden. Er wurde von der Bank nur benutzt, um mich fest an sie zu binden.« »Gehörte die Bank zufällig einem einflussreichen Amerikaner?« 263
Carpathia ignorierte die Frage. »Was ich lernen musste, in etwas mehr als einem Jahrzehnt, war, wie viel Geld es dort draußen gibt.« »Dort draußen?« »In den Banken der Welt.« »Vor allem in denen, die Jonathan Stonagal gehören«, meinte Buck vorsichtig. Carpathia biss immer noch nicht an. »Dieses Kapital ist Macht.« »Das ist, wogegen ich schreibe.« »Es geht darum, Ihr Leben zu retten.« »Ich höre immer noch.« »Diese Art von Geld zieht die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich. Man ist bereit, Zugeständnisse zu machen. Man beginnt zu erkennen, dass es vielleicht klüger ist, einen Jüngeren, einen Mann mit mehr Begeisterung, Kraft und einer neuen Vision an die Macht zu lassen.« »Und das ist in Rumänien passiert?« »Buck, beleidigen Sie mich nicht. Der ehemalige Präsident von Rumänien hat mich aus freien Stücken gebeten, seinen Platz einzunehmen, und die Regierung war einstimmig für diesen Wechsel. Alle sind so besser dran.« »Der ehemalige Präsident hat abgedankt.« »Er lebt im Luxus.« Buck blieb die Luft weg. Was deutete Carpathia da an? Buck starrte ihn an. Er konnte sich nicht rühren, konnte nicht antworten. Carpathia fuhr fort: »Generalsekretär Ngumo herrscht über ein Land, das hungert. Die Welt ist reif für meinen Plan von den zehn Mitgliedern des Sicherheitsrates. Hier wird Verschiedenes zusammenwirken. Der Generalsekretär muss seine Zeit den Problemen in Botswana widmen. Mit dem richtigen Lockmittel wird er das tun. Er wird ein glücklicher, reicher Mann sein mit einem glücklichen und reichen Volk. Doch zuerst wird er meinen Plan für den Sicherheitsrat durchsetzen. 264
Die Vertreter aller zehn Länder werden eine interessante Mischung sein, einige der gegenwärtigen Botschafter, doch vorwiegend neue Leute mit gutem finanziellen Hintergrund und progressiven Ideen.« »Wollen Sie mir sagen, dass Sie die Absicht haben, Generalsekretär der Vereinten Nationen zu werden?« »Eine solche Position würde ich nie von mir aus anstreben, doch wie könnte ich eine solche Ehre ablehnen? Wer könnte einer so großen Verantwortung den Rücken kehren?« »Wie viel Mitspracherecht werden Sie bei der Auswahl der ständigen Vertreter des Sicherheitsrates haben?« »Ich werde nur eine dienende Führung ausüben. Verstehen Sie das Konzept? Man führt, indem man dient, nicht indem man diktiert.« »Jetzt lassen Sie mich einmal spekulieren«, sagte Buck. »Todd-Cothran wird eine Funktion in Ihrem neuen Sicherheitsrat übernehmen.« Carpathia setzte sich zurück, als hätte er gerade etwas Neues erfahren. »Wäre das nicht interessant?«, sagte er. »Ein brillanter Finanzmann, nicht politisch vorbelastet, der klug genug, freundlich genug ist und das Wohl der Welt im Buck hat, dass er einem Drei-Währungs-System zustimmt, zu dem sein eigenes Pfund Sterling nicht gehört. Er bringt kein Gepäck für seine neue Position mit. Die Welt könnte ihn akzeptieren, meinen Sie nicht?« »Vermutlich schon«, sagte Buck, der den Eindruck hatte, als würde er vor seinen Augen seine Seele verlieren. »Es sei denn, Todd-Cothran wäre an einem mysteriösen Selbstmord, einem Bombenattentat oder so etwas beteiligt.« Carpathia lächelte. »Man sollte meinen, ein Mann in einer solchen Position von internationaler Bedeutung würde sein Haus sauber halten wollen.« »Und das könnten Sie bewirken?« »Buck, Sie überschätzen mich. Ich sage nur, dass ich, falls 265
Sie Recht haben, versuchen könnte, eine ganz klar unethische und illegale Vorgehensweise gegen einen unschuldigen Menschen – Sie – aufzuhalten. Ich kann nicht sehen, was daran falsch sein sollte.« Rayford Steele könnte nicht schlafen. Aus irgendeinem Grund überwältigte ihn erneut die Trauer über den Verlust seiner Frau und seines Sohnes. Er glitt aus dem Bett, ließ sich auf seine Knie sinken und barg sein Gesicht in dem Laken auf der Seite, wo seine Frau immer geschlafen hatte. Er war so müde gewesen, so angespannt, hatte sich so große Sorgen um Chloe gemacht, dass er den schrecklichen Verlust aus seinen Gedanken verbannt hatte. Er war fest davon überzeugt, dass seine Frau und sein Sohn im Himmel waren und dass es ihnen jetzt besser ging als jemals zuvor. Ihm war vergeben worden, dass er sich über seine Frau lustig gemacht und ihr niemals richtig zugehört hatte. Rayford war sich dessen ganz sicher, auch dass Gott ihm seine Gleichgültigkeit, ja Ablehnung ihm gegenüber verziehen hatte. Er war dankbar für seine zweite Chance und für die neuen Freunde, für einen Ort, an dem er mehr über die Bibel erfahren könnte. Doch das füllte nicht die schmerzende Leere in seinem Herzen, die Sehnsucht, seine Frau und seinen Sohn in den Armen zu halten, sie zu küssen und ihnen zu sagen, wie sehr er sie liebte. Er betete darum, dass der Schmerz abnehmen möge, doch etwas in ihm wollte auch, dass er blieb. In gewisser Weise hatte er das Gefühl, dass er diesen Schmerz verdient hatte, obwohl er es besser wusste. Er begann, die Vergebung Gottes zu begreifen, und Bruce hatte ihm gesagt, dass er sich nicht mehr der Sünde zu schämen brauchte, die bereits vergeben war. Während Rayford vor seinem Bett kniete und betete, wurde er erneut von seinen Sorgen überwältigt. Er sah keine Hoffnung für Chloe. Alles, was er versucht hatte, war fehlgeschla266
gen. Er wusste, seit dem Verschwinden ihrer Mutter und ihres Bruders waren erst wenige Tage vergangen, und noch weniger Zeit seit seiner eigenen Bekehrung. Was konnte er sonst noch sagen oder tun? Bruce hatte ihm Mut gemacht, einfach nur zu beten, doch das war nicht seine Art. Natürlich wollte er beten, doch er war immer ein Mann der Tat gewesen. Und jetzt schien alles, was er unternahm, sie noch weiter abzustoßen. Er hatte das Gefühl, dass er, falls er noch etwas sagen oder tun würde, die Verantwortung dafür trüge, dass sie sich ein für alle Mal gegen Christus entscheiden konnte. Nie hatte sich Rayford verzweifelter und machtloser gefühlt. Wie sehnte er sich danach, Irene und Raymie in diesem Augenblick bei sich zu haben. Und wie verzweifelt war er über Chloe. Er hatte leise gebetet, doch der Schmerz überwältigte ihn, und er hörte seine eigenen unterdrückten Schreie: »Chloe! Oh, Chloe! Chloe!« Bitterlich weinte er in der Dunkelheit. Auf einmal hörte er ein Knarren und Schritte. Schnell drehte er sich um und sah Chloe im trüben Licht, das von ihrem Zimmer herüberschien, im Türrahmen stehen. Er wusste nicht, was sie gehört hatte. »Bist du in Ordnung, Daddy?«, fragte sie leise. »Ja.« »Ein Albtraum?« »Nein. Es tut mir Leid, dass ich dich gestört habe.« »Ich vermisse sie auch«, sagte sie mit zitternder Stimme. Rayford setzte sich auf die Bettkante. Er streckte ihr die Arme entgegen. Sie setzte sich neben ihn und ließ sich von ihm in den Arm nehmen. »Ich glaube, dass ich sie eines Tages wieder sehen werde«, sagte er. »Ich weiß«, sagte sie, diesmal ohne eine Spur von Respektlosigkeit in der Stimme. »Ich weiß.«
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17 Nach einigen Minuten gab Chloe Rayford zu verstehen, dass sie seinen Schrei gehört hatte. »Mach dir um mich keine Gedanken, Daddy, in Ordnung? Ich werde auch dorthin kommen.« Wohin kommen? Meinte sie, dass ihre Entscheidung nur eine Frage der Zeit war, oder meinte sie, dass sie ihre Trauer überwinden würde? So gern hätte er ihr gesagt, dass er sich Sorgen um sie machte, aber das wusste sie ja. Allein ihre Gegenwart brachte ihm Trost, doch als sie in ihr Zimmer zurückging, fühlte er sich wieder schrecklich allein. Er konnte nicht schlafen. Auf Zehenspitzen schlich er nach unten und stellte den neuen Fernseher an. Aus Israel wurde ein höchst seltsamer Bericht gebracht. Auf dem Bildschirm war eine aufgebrachte Menge vor der Klagemauer zu sehen. Sie umringte zwei Männer, die irgendetwas zu rufen schienen. »Niemand kennt diese beiden Männer, die sich Eli und Moishe nennen. Schon seit der Morgendämmerung stehen sie hier vor der Klagemauer und predigen im Stil der alten amerikanischen Evangelisten. Natürlich sind die orthodoxen Juden hier sehr aufgebracht, werfen den beiden vor, sie würden diesen heiligen Ort entweihen, indem sie verkünden, dass der Jesus Christus aus dem Neuen Testament der in der Thora verheißene Messias sei. Bisher hat es noch keine Gewaltausbrüche gegeben, obwohl die Gemüter sehr erhitzt sind und die Behörden ein wachsames Auge auf die Vorgänge haben. Die israelische Polizei und das Militär betreten diesen Bezirk nur sehr ungern und überlassen es den religiösen Eiferern dort, ihre Probleme selbst zu regeln. Dies ist die explosivste Situation im Heiligen Land seit der Vernichtung der russischen Luftwaffe. Diese neureiche Nation hat sich bisher vorwiegend mit Be268
drohungen von außen beschäftigen müssen. Für CNN berichtete Dan Bennett aus Jerusalem.« Wenn es nicht schon so spät gewesen wäre, hätte Rayford Bruce Barnes angerufen. Er saß in seinem Wohnzimmer und fühlte sich als Teil der Familie von Gläubigen, zu denen diese beiden Männer in Jerusalem offensichtlich gehörten. Das war genau das, was auch er gelernt hatte. Jesus war der Messias des Alten Testaments. Bruce hatte ihm und den anderen der Kerngruppe in der Gemeinde gesagt, dass bald 144 000 Juden, die an Christus glaubten, beginnen würden, auf der ganzen Welt zu evangelisieren. Waren das die beiden ersten? Die Nachrichtensprecherin wendete sich nun nationalen Nachrichten zu. »New York ist nach den verschiedenen Auftritten des neuen rumänischen Präsidenten Nicolai Carpathia immer noch tief beeindruckt. Von dem dreiunddreißigjährigen Staatsoberhaupt waren die Medien nach einer Pressekonferenz an diesem Morgen und seiner meisterhaften Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen restlos begeistert. Der ganze Saal war auf den Beinen und applaudierte, sogar die Pressevertreter. Wie berichtet wurde, hatte man Fotos für die Titelseite von People gemacht, und er wird der erste erotischste Mann des Jahres sein, der diesen Titel weniger als ein Jahr nach seinem designierten Vorgänger bekommt. Aus Kreisen Carpathias verlautet, dass er seinen Zeitplan bereits geändert hat und länger in New York bleiben wird, um an den internationalen Konferenzen, die im Laufe der nächsten beiden Wochen stattfinden werden, teilnehmen zu können. Außerdem ist er von Präsident Fitzhugh eingeladen worden, eine Nacht im Weißen Haus zu verbringen. Bei einer Pressekonferenz am Nachmittag forderte der Präsident Unterstützung für den neuen Führer.« 269
Das Bild des Präsidenten füllte den Bildschirm aus. »In dieser schwierigen Stunde der Weltgeschichte ist es wichtig, dass die Verfechter von Frieden und Einheit vortreten und uns daran erinnern, dass wir Teil einer weltweiten Gemeinschaft sind. Jeder Freund des Friedens ist ein Freund der Vereinigten Staaten, und Mr Carpathia ist ein Freund des Friedens.« CNN brachte eine Frage, die dem Präsidenten gestellt wurde. »Sir, was halten Sie von Carpathias Ideen für die UNO?« »Dazu möchte ich nur eines sagen: Ich glaube nicht, dass ich jemals einen Menschen gehört habe, ob innerhalb oder außerhalb der UNO, der so gut über die Geschichte, Organisation und Führung dieser Institution Bescheid wusste. Er hat seine Hausaufgaben gemacht, und er hat einen Plan. Ich habe zugehört. Ich hoffe, die betreffenden Botschafter und Generalsekretär Ngumo auch. Niemand sollte eine neue Vision als Bedrohung betrachten. Ich bin sicher, jedes Staatsoberhaupt in der Welt teilt meine Ansicht, dass wir in dieser Stunde alle Hilfe brauchen, die wir bekommen können.« Die Nachrichtensprecherin fuhr fort: »Am Abend verlautete aus New York, dass ein Reporter des Global Weekly von allen Vorwürfen und Verdächtigungen im Zusammenhang mit dem Tod eines Beamten von Scotland Yard befreit worden ist. Der Verdacht hatte sich ergeben, weil Cameron Williams, Preisträger und Journalist des Weekly ersten Meldungen zufolge bei dem Bombenanschlag, der seinen Freund Officer Alan Tompkins das Leben kostete, ebenfalls ums Leben kam. Tompkins’ sterbliche Überreste wurden identifiziert. Williams’ Pass wurde nach der Explosion bei dem Autowrack gefunden. Alle Zeitungen des Landes brachten die Nachricht von Williams’ Tod, doch am Spätnachmittag tauchte er wieder in New York auf und wurde auch bei der Pressekonferenz der Vereinten Nationen nach Nicolai Carpathias Rede gesehen. Williams wurde daher im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag sowohl von Scotland Yard als auch von Interpol 270
gesucht. Beide Organisationen haben nun bekannt gegeben, alle Vorwürfe gegen ihn seien hinfällig geworden, und sie seien froh, dass Williams den Anschlag unbeschadet überstanden habe. Beim Sport steht die Major League Baseballmannschaft beim Frühlingstraining vor der großen Herausforderung, die Dutzende von Spielern zu ersetzen, die bei dem großen Massenverschwinden …« Rayford war immer noch nicht müde. Er kochte sich Kaffee, dann telefonierte er mit dem Flughafen. Er hatte eine Idee. »Können Sie mir sagen, ob es möglich ist, Hattie Durham meinem Flug nach New York am Mittwoch zuzuteilen?«, fragte er. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, lautete die Antwort. »Huch, nein. Das geht nicht. Sie fliegt bereits nach New York. Ihr Flug geht um zehn Uhr, sie fliegt schon um acht Uhr.« Buck Williams kehrte kurz nach Mitternacht in sein Appartement zurück. Nicolai Carpathia hatte ihm versichert, dass seine Schwierigkeiten vorüber seien. In Bucks Beisein hatte er über Zimmerlautsprecher mit Jonathan Stonagal, und der wiederum ebenfalls zum Mithören mit London telefoniert. Buck hörte, wie Todd-Cothran einwilligte, Scotland Yard und Interpol zurückzupfeifen. »Aber mein Päckchen ist sicher?«, hatte Todd-Cothran gefragt. »Garantiert«, hatte Stonagal geantwortet. Sehr alarmierend erschien es Buck, dass Stonagal seine Schmutzarbeit selbst erledigte, zumindest in diesem Fall. Buck hatte Carpathia vorwurfsvoll angeblickt, trotz seiner Erleichterung und Dankbarkeit. »Mr Williams«, hatte Carpathia gesagt, »ich war sicher, dass Jonathan das bewerkstelligen konnte, doch ich weiß genauso wenig über die Einzelheiten wie Sie.« »Aber das beweist doch, dass Dirk Recht hatte! Stonagal 271
steckt wirklich mit Todd-Cothran unter einer Decke, und Sie wussten davon! Und Stonagal hat ihm versprochen, dass sein Päckchen nicht in Gefahr ist, was immer das bedeutet.« »Ich versichere Ihnen, ich wusste nichts davon, bis Sie mir davon erzählt haben, Buck. Ich hatte keinerlei Vorkenntnisse.« »Aber jetzt wissen Sie es. Können Sie immer noch mit gutem Gewissen zulassen, dass Stonagal Sie in der internationalen Politik unterstützt?« »Vertrauen Sie mir, ich werde mich beider annehmen.« »Aber es muss doch noch mehr dahinter stecken! Was ist mit den anderen so genannten Honoratioren, mit denen Sie sich getroffen haben?« »Buck, seien Sie versichert, dass ich keine Unaufrichtigkeit oder Ungerechtigkeit in meiner Nähe dulden werde. Ich werde mich ihrer zu gegebener Zeit annehmen.« »Und in der Zwischenzeit?« »Was würden Sie mir raten? Mir scheint, dass ich nicht in der Position bin, jetzt im Augenblick etwas zu tun. Man scheint die Absicht zu haben, mir größere Verantwortung zu übertragen, doch bis dahin kann ich nichts tun. Wie weit würde ich kommen, wenn ich nicht weiß, wie weit ihr Einfluss reicht? Hätten Sie nicht bis vor kurzem noch gedacht, dass Scotland Yard vertrauenswürdig ist?« Buck nickte bedrückt. »Ich weiß, was Sie meinen, doch es gefällt mir nicht. Sie wissen, dass Sie Bescheid wissen.« »Das könnte zu meinem Vorteil sein. Vielleicht denken sie, ich wäre für sie, und das macht mich umso abhängiger von ihnen.« »Ist es nicht auch so?« »Nur zeitweise. Sie haben mein Wort. Ich werde mich dieser Sache bestimmt annehmen. Und für den Augenblick bin ich froh, dass ich Sie aus einer höchst schwierigen Situation befreien könnte.« »Ich bin auch froh, Mr Carpathia. Gibt es etwas, das ich für 272
Sie tun kann?« Der Rumäne lächelte. »Nun, ich brauche einen Pressesekretär.« »Ich habe schon befürchtet, dass Sie das sagen. Ich bin nicht Ihr Mann.« »Natürlich nicht. Ich hätte mir nicht im Traum einfallen lassen, Sie das zu fragen.« Als Scherz gedacht, fragte Buck: »Was ist mit dem Mann, den Sie im Flur getroffen haben?« Carpathia stellte wieder einmal sein enormes Gedächtnis unter Beweis. »Diesen Eric Miller?« »Genau. Er würde Ihnen gefallen.« »Und ich habe ihm ja bereits gesagt, er soll mich morgen anrufen. Darf ich sagen, dass Sie ihn empfohlen haben?« Buck schüttelte den Kopf. »Ich habe nur einen Scherz gemacht.« Er erzählte Carpathia, was in der Empfangshalle, im Aufzug und sogar auf dem Flur vorgefallen war, bevor Miller sich vorgestellt hatte. Nicolai war durchaus nicht amüsiert. »Ich werde scharf nachdenken und sehen, ob mir ein anderer Kandidat für Sie einfällt«, sagte Buck. »Aber Sie haben mir noch eine Top-Meldung für heute Abend versprochen.« »Das stimmt. Es ist eine neue Information, doch es darf nichts bekannt werden, bis ich die Gelegenheit hatte, dies durchzusetzen.« »Ich höre.« »Israel ist im Augenblick besonders verwundbar, genau wie vor dem Versuch der Invasion durch Russland. Es geht dem Land gut, doch der Rest der Welt neidet ihm seinen Wohlstand. Israel braucht Schutz. Die UNO kann diesen Schutz gewähren. Im Austausch für die chemische Formel, die die Wüste zum Blühen bringt, wird die Welt gern bereit sein, Frieden zu garantieren. Wenn die anderen Nationen abrüsten und ein Zehntel ihrer Waffen der UNO zur Verfügung stellen, wird die UNO ein Friedensabkommen mit Israel unterzeichnen. Israels 273
Premierminister hat Dr. Rosenzweig die Vollmacht gegeben, eine solche Vereinbarung zu treffen, weil er der eigentliche Besitzer der Formel ist. Natürlich besteht Israel auf einer Schutzgarantie von nicht weniger als sieben Jahren.« Buck schüttelte den Kopf. »Sie werden den Friedensnobelpreis bekommen und Mann des Jahres werden.« »Das ist natürlich nicht mein Ziel.« Buck verließ Carpathia in der festen Überzeugung, dass er es ernst meinte. Hier war ein Mann, der sich von dem Geld nicht beeindrucken ließ, mit dem charakterlose Menschen zu kaufen waren. In seiner Wohnung hörte er auf seinem Anrufbeantworter eine weitere Nachricht von Hattie Durham ab. Er musste das Mädchen unbedingt anrufen. Bruce Barnes rief die Kerngruppe der New Hope Gemeinde für eine Krisensitzung am Dienstagnachmittag zusammen. Rayford fuhr hin, in der Hoffnung, dass es sich wirklich um etwas Wichtiges handelte, und dass Chloe nichts dagegen hatte, eine Weile allein zu Hause zu sein. Seit dem Einbruch waren beide ein wenig ängstlich. Bruce setzte sich mit den Leuten an seinen Schreibtisch im Büro. Er begann mit einem Gebet, dass er trotz seiner Aufregung den anderen seine Gedankengänge klar machen könnte. Danach ließ er alle im Neuen Testament die »Geheime Offenbarung« aufschlagen. Bruces Augen strahlten, und seine Stimme klang genauso aufgeregt und leidenschaftlich wie bei seinem Anruf. Rayford fragte sich, warum er so aufgeregt war. Er hatte Bruce am Telefon danach gefragt, doch Bruce hatte darauf bestanden, es ihnen persönlich zu sagen. »Ich will euch nicht lange aufhalten«, begann er, »doch ich bin auf etwas Wichtiges gestoßen und wollte es euch mitteilen. In gewisser Weise möchte ich, dass ihr wachsam seid, klug wie 274
die Schlange und harmlos wie die Tauben, wie die Bibel sagt. Wie ihr wisst, habe ich die Offenbarung und mehrere Kommentare über die Endzeit studiert. Heute bin ich nun in den Akten des Pastors auf eine seiner Predigten zu diesem Thema gestoßen. Ich hatte bereits die Bibel und einige Bücher zu diesem Thema gelesen, und nun hört, was ich gefunden habe.« Bruce zog das erste Blatt hervor und zeigte eine Zeittabelle, die er gezeichnet hatte. »Ich werde mir die Zeit nehmen, das mit euch in den kommenden Wochen eingehender zu studieren, doch für mich, wie für viele Experten auf diesem Gebiet, sieht es so aus, als würde diese Periode, in der wir uns im Augenblick befinden, sieben Jahre dauern. In den ersten einundzwanzig Monaten werden die, wie die Bibel sie nennt, sieben Siegelgerichte oder die ›Gerichte des Buches mit den sieben Siegeln‹ stattfinden. Dann beginnt eine zweite, einundzwanzig Monate umfassende Periode, in der wir die sieben ›Posaunengerichte‹ erleben. In den letzten zweiundvierzig Monaten dieser sieben Jahre der Bedrängnis werden wir, wenn wir überlebt haben, die härtesten Prüfungen erdulden, die ›Gerichte der sieben Zornesschalen‹. Die letzte Hälfte dieser sieben Jahre wird die ›Große Trübsal‹ genannt, und wenn wir am Ende dieser Zeit noch am Leben sind, werden wir durch die herrliche Wiederkunft Christi belohnt werden.« Loretta hob die Hand. »Warum sagen Sie immer wieder: ›falls wir überleben‹? Was sind denn diese Gerichte?« »Sie werden von Mal zu Mal schlimmer, und wenn ich das richtig verstehe, wird es immer schwieriger sein zu überleben. Wenn wir sterben, werden wir bei Christus und unseren Lieben im Himmel sein. Doch es kann sein, dass wir einen schrecklichen Tod erleiden werden. Wenn wir diese schrecklichen sieben Jahre irgendwie überleben, vor allem die letzte Hälfte, wird die Wiederkunft Christi umso herrlicher sein. Christus wird wiederkommen, um seine tausendjährige Herrschaft auf der Erde aufzubauen.« 275
»Das Tausendjährige Reich.« »Genau. Doch das ist noch lange hin, und natürlich kann es sein, dass die ersten einundzwanzig Monate in Kürze beginnen werden. Falls ich das richtig verstanden habe, wird der Antichrist bald die Macht ergreifen, Frieden versprechen und versuchen, die Welt zu vereinigen.« »Was ist falsch an einer Vereinigung der Welt?«, fragte jemand. »In einer Zeit wie dieser scheint es nötig zu sein, dass wir zusammenrücken.« »Daran ist nichts verkehrt, außer dass der Antichrist ein großer Betrüger sein wird, und wenn er seine Ziele offenbart, wird man sich gegen ihn stellen. Dies wird zu einem großen Krieg führen, vermutlich dem dritten Weltkrieg.« »Wann?« »Ich fürchte, das wird nicht mehr lange dauern. Wir müssen nach dem neuen Weltführer Ausschau halten.« »Was ist mit diesem jungen Mann aus Europa, der in den Vereinigten Staaten plötzlich so populär ist?« »Er hat mich beeindruckt«, sagte Bruce. »Ich werde sehr aufmerksam studieren, was er sagt und tut. Er scheint zu bescheiden, um auf diese Beschreibung des Mannes zu passen, der die Weltherrschaft übernehmen wird.« »Aber wir könnten jemanden brauchen, der genau das tut«, sagte einer der älteren Männer. »Ich habe mir schon gewünscht, dass dieser Bursche unser Präsident wäre.« Mehrere andere stimmten ihm zu. »Wir müssen ihn im Auge behalten«, sagte Bruce. »Aber jetzt möchte ich nur kurz über das Buch mit den sieben Siegeln aus Offenbarung 5 sprechen und damit schließen. Einerseits möchte ich euch keine Angst machen, doch wir alle wissen, dass wir hier sind, weil wir uns vor der Entrückung um unsere Erlösung nicht gekümmert haben. Ich weiß, dass wir alle dankbar für die zweite Chance sind, doch wir können nicht erwarten, den bevorstehenden Versuchungen zu entgehen.« 276
Bruce erklärte das erste der vier Siegel des Buches, in dem vier Männer auf vier Pferden beschrieben sind: ein weißes Pferd, ein rotes Pferd, ein schwarzes Pferd und ein fahles Pferd. »Der weiße Reiter scheint der Antichrist zu sein, der sich in eine ein bis drei Monate dauernde Phase der Diplomatie drängt, während er den Frieden organisiert und verspricht. Das rote Pferd steht für den Krieg. Drei Herrscher des Südens werden sich dem Antichristen widersetzen, und Millionen werden getötet werden.« »In einem dritten Weltkrieg?« »Das nehme ich an.« »Das würde bedeuten, innerhalb der kommenden sechs Monate.« »Ich fürchte ja. Und unmittelbar auf diesen Krieg, der wegen der vorhandenen Atomwaffen nur drei bis sechs Monate dauern wird, verheißt die Bibel Inflation und Hungersnot – das schwarze Pferd. Während die Reichen immer reicher werden, hungern die Armen sich zu Tode. Wieder werden Millionen von Menschen sterben.« »Falls wir also den Krieg überleben, sollten wir uns Nahrungsvorräte schaffen?« Bruce nickte. »Ich würde es tun.« »Wir sollten zusammenarbeiten.« »Gute Idee, weil es noch schlimmer kommen wird. Die Hungersnot könnte zwei oder drei Monate andauern, bis das vierte Gericht, der vierte Reiter auf dem fahlen Pferd – dem Symbol des Todes – kommen wird. Neben der durch den Krieg bedingten Hungersnot wird eine Seuche über die ganze Welt hinweggehen. Noch vor dem Beginn des fünften Gerichtes wird ein Viertel der gesamten Weltbevölkerung tot sein.« »Welches ist das fünfte Gericht?« »Daran werdet ihr euch erinnern«, sagte Bruce, »weil wir darüber schon gesprochen haben. Wisst ihr noch, dass ich euch von den 144 000 Juden erzählt habe, die versuchen werden, die 277
Welt für Christus zu evangelisieren? Viele derjenigen, die sich durch sie bekehrt haben, vielleicht sogar Millionen, werden durch den Weltführer und die Hure, der Name für eine Weltreligion, in der Christus verleugnet wird, den Märtyrertod erleiden.« Rayford machte sich eifrig Notizen. Er fragte sich, was er noch drei Wochen zuvor von solchem verrückten Gerede gehalten hätte. Wie könnte er das alles nur nicht wahrgenommen haben? Gott hatte versucht, sein Volk zu warnen, indem er ihm Jahrhunderte zuvor sein geschriebenes Wort gegeben hatte. Trotz Rayfords Bildung und Intelligenz war er ein Narr gewesen. Jetzt könnte er nicht genug davon hören, obwohl deutlich wurde, dass die Umstände gegen die Menschen gerichtet waren, die bis zur herrlichen Wiederkunft Christi lebten. »Im sechsten Gericht«, fuhr Bruce fort, »gießt Gott seinen Zorn aus über die Ermordung seiner Heiligen. Dies wird in einem weltweiten Erdbeben geschehen, das so verheerend sein wird, dass keine Instrumente es messen können. Es wird so schlimm sein, dass die Leute die Felsen anflehen werden, auf sie zu fallen und ihrem Elend ein Ende zu setzen.« Einige Leute im Raum begannen zu weinen. »Das siebte Siegel führt im zweiten Viertel dieser siebenjährigen Periode die sieben Posaunen ein.« »Die zweiten einundzwanzig Monate«, stellte Rayford klar. »Richtig. Heute möchte ich darauf nicht mehr eingehen, doch so viel sei gesagt, dass es immer schlimmer wird. Ich möchte euch jedoch nicht ohne eine kleine Ermutigung gehen lassen. Ihr erinnert euch sicher, dass wir kurz über die beiden Zeugen gesprochen haben, und dass ich sagte, ich würde mich eingehender damit beschäftigen? In Offenbarung 11,3-14 wird gesagt, dass diese beiden besonderen Zeugen Gottes, die übernatürliche Macht haben werden, Wunder zu tun, im Bußgewand 1260 Tage lang prophezeien werden. Jeder, der ver278
sucht, ihnen etwas anzutun, wird vernichtet werden. Sie werden Macht haben, den Himmel zu verschließen, sodass kein Regen fällt. Sie werden in der Lage sein, Wasser in Blut zu verwandeln und die Erde mit Plagen zu schlagen, wann immer sie es möchten. Am Ende der dreieinhalb Jahre wird Satan sie töten, und ihre Leichen werden in den Straßen der Stadt liegen, in der Jesus gekreuzigt worden ist. Die Leute, die sie gequält haben, werden ihren Tod feiern und nicht zulassen, dass ihre Leichen begraben werden. Doch nach dreieinhalb Tagen werden sie von den Toten auferstehen und in einer Wolke in den Himmel auffahren, von ihren Feinden beobachtet. Gott wird ein weiteres großes Erdbeben schicken, und ein Zehntel der Stadt wird fallen, und 7000 Menschen werden sterben. Die anderen werden sehr erschreckt sein und Gott die Ehre geben.« Rayford blickte sich im Raum um. Die Leute murmelten vor sich hin. Sie hatten ihn alle gesehen, den Bericht von den beiden verrückten Männern, die vor der Klagemauer in Jerusalem von Jesus predigten. »Sind sie das?«, fragte einer. »Wer sonst könnte es sein?«, antwortete Bruce. »Seit dem großen Verschwinden hat es in Jerusalem nicht mehr geregnet. Diese Männer sind aus dem Nichts aufgetaucht. Sie haben die wundersame Macht von Heiligen wie Elia und Mose, und sie nennen sich Eli und Moishe. Sie predigen immer noch.« »Die Zeugen.« »Ja, die Zeugen. Falls jemand von uns noch immer irgendwelche Zweifel oder Ängste gehabt hat, nicht recht wusste, was vorgeht, so sollten diese Zeugen sie ausgeräumt haben. Ich glaube, dass sich durch diese Zeugen Hunderttausende bekehren werden, die 144 000, die Christus der Welt verkündigen werden. Wir sind auf ihrer Seite. Wir müssen unsere Aufgabe wahrnehmen.«
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Buck erreichte Hattie Durham am Dienstagabend. »Sie kommen also nach New York?«, fragte er. »Ja«, erwiderte sie, »und ich würde Sie zu gern treffen, und vielleicht auch einen VIP kennen lernen.« »Sie meinen noch einen anderen als mich?« »Süß«, sagte sie. »Haben Sie Nicolai Carpathia bereits gesprochen?« »Natürlich.« »Ich wusste es! Neulich habe ich jemandem gesagt, dass ich diesen Mann gern kennen lernen würde.« »Ich kann nichts versprechen, doch ich werde sehen, was ich tun kann. Wo sollen wir uns treffen?« »Mein Flugzeug landet um elf, und ich habe mich um eins mit jemandem im Pan-Con Club verabredet. Aber wenn ich nicht rechtzeitig zurück bin, dann ist das auch egal. Ich fliege erst übermorgen früh zurück, und ich habe dem Burschen nicht versprochen, ihn um eins zu treffen.« »Noch ein Mann?«, fragte Buck. »Haben Sie das Wochenende verplant?« »Das ist es nicht«, sagte sie. »Es ist ein Pilot, der mit mir über etwas sprechen möchte, und ich bin nicht sicher, dass ich überhaupt zuhören möchte. Wenn ich zurück bin und Zeit habe, gut. Aber ich bin nicht darauf festgelegt. Wir könnten uns doch im Club treffen und sehen, was wir dann machen.« »Ich werde versuchen, ein Treffen mit Mr Carpathia zu vereinbaren, vermutlich in seinem Hotel.« Am Dienstagabend entschloss sich Chloe, ihren Vater doch nach New York zu begleiten. »Ich sehe, dass du noch nicht bereit bist, ohne mich fortzugehen«, sagte sie und umarmte ihn lächelnd. »Es ist schön, gebraucht zu werden.« »Um die Wahrheit zu sagen«, erklärte er, »ich werde auf einem Treffen mit Hattie bestehen, und ich möchte dich gern dabei haben.« 280
»Zu ihrem Schutz oder zu deinem?« »Ich meine es ernst. Ich habe ihr eine Nachricht hinterlassen, dass wir uns um ein Uhr mittags im Pan-Con Club am JFKFlughafen treffen. Ob sie kommt oder nicht, weiß ich natürlich nicht. Auf jeden Fall werden wir beide Zeit füreinander haben.« »Daddy, wir haben doch jetzt schon so viel Zeit zusammen verbracht. Ich würde meinen, du hättest mich mittlerweile über.« »Das wird nie passieren, Chloe.« Am Mittwochmorgen wurde Buck zu Stanton Bailey, dem Herausgeber des Global Weekly gerufen. In all den Jahren, die er bereits beim Global arbeitete, war das nur zweimal vorgekommen, einmal, um seine Hemingway-Auszeichnung für die beste Kriegsberichterstattung zu feiern und einmal bei einer Weihnachtsfeier, die die Angestellten neidisch die Mahagonireihe nannten. Buck schaute zuerst bei Steve rein, doch Marge sagte ihm, dass er bereits bei Bailey sei. Ihre Augen waren rot und verweint. »Was ist passiert?«, fragte er. »Sie wissen doch, dass ich nichts sagen kann«, antwortete sie. »Gehen Sie nur rein.« Bucks Gedanken überschlugen sich, als er die Bürosuite des Herausgebers betrat. Er hatte nicht gewusst, dass auch Plank zu ihm zitiert worden war. Was konnte das bedeuten? Bekamen sie Ärger wegen des Rollentauschs, den sie am Montagabend inszeniert hatten? Hatte Bailey irgendwie Einzelheiten über die Angelegenheit in London und wie Buck entkommen war erfahren? Und ganz bestimmt hoffte er, dass die Besprechung bald vorbei sein würde, damit er seine Verabredung mit Hattie Durham wahrnehmen konnte. Baileys Empfangsdame deutete auf das Vorzimmer des Herausgebers, wo seine Sekretärin ihn hereinwinkte. »Brauchen 281
Sie mich nicht anzumelden?«, scherzte er. Sie verzog den Mund und wendete sich ihrer Arbeit wieder zu. Buck klopfte leise und öffnete vorsichtig die Tür. Bailey erhob sich nicht, winkte ihn aber herein. »Setzen Sie sich gleich neben Ihren Vorgesetzten«, sagte Bailey. Buck fiel seine seltsame Wortwahl auf. Es stimmte natürlich, doch so wurde Steve gewöhnlich nicht angesprochen. Buck setzte sich und sagte: »Steve.« Steve nickte, hielt den Blick aber auf Bailey gerichtet. »Bevor ich zum eigentlichen Punkt komme«, begann Bailey, »habe ich noch ein paar Dinge auf dem Herzen. Alle Vorwürfe gegen Sie in Übersee sind bereinigt, ja?« Buck nickte. »Ja, Sir. Es hätte nie irgendeinen Zweifel geben dürfen.« »Sicher nicht, aber Sie hatten Glück. Ich schätze, es war klug, Ihre Verfolger glauben zu machen, sie hätten Sie erwischt, aber auch wir haben das eine Zeit lang geglaubt.« »Das tut mir Leid. Ich fürchte, es ließ sich nicht vermeiden.« »Und Sie haben ihnen eine Handhabe gegen Sie gegeben, wenn sie Sie aus irgendeinem Grund in die Luft jagen wollten.« »Ich weiß. Das hat mich überrascht.« »Aber Sie haben sich der Sache angenommen.« »Richtig.« »Wie?« »Sir?« »Was haben Sie denn daran nicht verstanden? Wie haben Sie Ihren Kopf aus der Schlinge gezogen? Wir haben erfahren, man hätte Zeugen, die aussagen würden, Sie hätten es getan.« »Es muss genug andere gegeben haben, die die Wahrheit kannten. Tompkins war ein Freund von mir. Ich hatte keinen Grund, ihn zu töten, und ganz sicher hätte ich nicht die Mittel dazu. Ich hätte nicht die geringste Ahnung, wie man eine Bombe baut, transportiert oder zum Explodieren bringt.« 282
»Aber Sie hätten andere dafür bezahlen können.« »So war es aber nicht. Ich verkehre nicht in solchen Kreisen, und selbst wenn, hätte ich Alan niemals töten lassen.« »Nun, die Berichterstattung darüber ist so vage, dass keiner von uns schlecht dasteht. Es sieht so aus, als wäre alles ein Missverständnis.« »Was es auch war.« »Natürlich war es das. Cameron, ich wollte Sie heute Morgen sprechen, weil ich gerade eben eine Kündigung erhalten habe, die ich mir als Allerletztes gewünscht hätte.« Buck schwieg. Seine Gedanken überschlugen sich. »Steve sagte mir, dass es auch für Sie eine Neuigkeit sein wird, darum lassen wir die Bombe einfach platzen. Er kündigt mit sofortiger Wirkung, um internationaler Pressesekretär von Nicolai Carpathia zu werden. Er hat ein Angebot erhalten, dem wir nichts entgegensetzen können, und obwohl ich es nicht für gut halte, wird er es tun, schließlich ist es ja sein Leben. Was halten Sie davon?« Buck konnte sich nicht zurückhalten. »Ich glaube, da stinkt was ganz gewaltig, Steve. Was denkst du dir? Willst du nach Rumänien ziehen?« »Ich werde hier bleiben, Buck. Im Plaza.« »Nett.« »Das will ich meinen.« »Steve, das bist doch nicht du. Du bist doch kein PRMensch.« »Carpathia ist kein gewöhnlicher politischer Führer. Bist du am Montag nicht auch aufgesprungen und hast gejubelt?« »Das stimmt, aber …« »Kein Aber. Das ist die Gelegenheit meines Lebens. Nichts sonst würde mich dazu gebracht haben, meinen Job aufzugeben.« Buck schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben. Ich wusste, dass Carpathia jemanden suchte, aber …« 283
Steve lachte. »Sag die Wahrheit, Buck. Er hat die Stellung zuerst dir angeboten, nicht?« »Nein.« »Er hat so etwas angedeutet.« »Er hat es aber nicht getan. Ich habe ihm Miller vom Seaboard empfohlen.« Plank zuckte zusammen und warf Bailey einen Blick zu. »Wirklich?« »Ja, warum nicht? Er ist mehr der Typ.« »Buck«, sagte Steve, »Eric Millers Leiche wurde gestern Nacht in Staten Island angeschwemmt. Von der Fähre gefallen … ertrunken.« »Nun«, meinte Bailey, »genug dieses hässlichen Geschäfts. Steve hat Sie für die Position empfohlen.« Buck war immer noch erschüttert vom Tod Millers, doch er hatte das Angebot trotzdem gehört. »Oh bitte«, sagte er, »das ist doch nicht Ihr Ernst.« »Sie wollen den Job nicht?«, fragte Bailey. »Die Zeitschrift formen, die Berichterstattung bestimmen und die Leitartikel selbst schreiben? Sicher wollen Sie. Ihr Gehalt würde sich beinahe verdoppeln, und wenn ich Sie damit locken kann, garantiere ich Ihnen das.« »Das ist es nicht«, sagte Buck. »Ich bin ja eigentlich noch zu jung für den Job, den ich jetzt habe.« »Das glauben Sie doch selbst nicht, sonst wären Sie nicht so gut darin, wie Sie sind.« »Ja, aber es geht um die Gefühle der Mannschaft.« »Was ist neu daran?«, meinte Bailey. »Sie halten mich für zu alt. Steve war ihnen zu langsam. Andere hielten ihn für zu aggressiv. Sie würden sich noch beschweren, wenn ich ihnen Mutter Teresa bringen würde.« »Ich dachte, sie sei auch verschwunden.« »Sie wissen schon, was ich meine. Wie steht’s nun damit?« »Ich könnte Steve nie ersetzen, Sir. Es tut mir Leid. Die Leu284
te haben sich vielleicht beschwert, doch sie wussten, dass er fair war und auf ihrer Seite stand.« »Und so wäre es auch bei Ihnen.« »Aber sie würden mir niemals den Vorzug des Zweifels geben. Sie würden mich hintergehen und sich von Anfang an beschweren.« »Das würde ich nicht zulassen. Das Angebot gilt nicht unbegrenzt. Ich möchte, dass Sie es annehmen, und ich möchte in der Lage sein, es sofort bekannt zu geben.« Buck zuckte die Achseln und blickte zu Boden. »Kann ich einen Tag Bedenkzeit haben?« »Vierundzwanzig Stunden. In der Zwischenzeit sagt keiner ein Wort zu irgendjemandem. Plank, weiß schon jemand Bescheid?« »Nur Marge.« »Ihr können wir vertrauen. Sie wird es keiner Menschenseele verraten. Ich hatte drei Jahre lang ein Verhältnis mit ihr und habe mir nie Gedanken darum gemacht, dass es jemand erfährt.« Steve und Buck zuckten zusammen. »Nun«, sagte Bailey, »ihr wusstet doch nichts davon, oder?« »Nein«, lautete die einstimmige Antwort. »Seht ihr, wie verschwiegen sie ist?« Er machte eine effektvolle Pause. »Ich mache nur Spaß, Jungs. Ich mache nur Spaß!« Er lachte immer noch, als sie das Büro verließen.
18 Buck folgte Steve in sein Büro. »Hast du von diesen Spinnern an der Klagemauer gehört?«, fragte Steve, während er bewusst vermied, sich an seinen Schreibtisch zu setzen. »Als ob mich das im Augenblick interessieren würde«, erwi285
derte Buck. »Ja, ich habe sie gesehen, und nein, ich möchte nicht darüber berichten. Was soll das jetzt alles?« »Dies wird dein Büro sein, Buck. Marge wird deine Sekretärin sein.« »Du kannst doch nicht wirklich annehmen, ich würde deinen Job haben wollen. Zuerst einmal können wir es uns nicht leisten, dich zu verlieren. Du bist der einzig vernünftige Mensch hier.« »Dich eingeschlossen?« »Vor allem mich eingeschlossen. Du musst wirklich ein sehr gutes Wort für mich eingelegt haben, wenn Bailey meint, ich würde in deinem Job etwas taugen.« »Deinem Job.« »Du meinst, ich sollte ihn annehmen?« »Das will ich meinen. Ich habe keinen anderen vorgeschlagen, und Bailey hatte auch keine anderen Kandidaten.« »Er würde so viele Kandidaten haben, wie er wollte, wenn er nur ankündigen würde, dass der Job zur Verfügung steht. Wer außer mir würde ihn nicht haben wollen?« »Wenn das ein solcher Fang ist, warum willst du ihn nicht?« »Ich hätte das Gefühl, ich würde auf deinem Stuhl sitzen.« »Dann bestell dir doch deinen eigenen Stuhl.« »Du weißt schon, was ich meine, Steve. Es wäre nicht mehr dasselbe. Dieser Job ist nichts für mich.« »Sieh es doch mal anders, Buck. Wenn du ihn nicht nimmst, hast du keinen Einfluss darauf, wer dein neuer Boss wird. Und gibt es einen bei unseren Leuten, für den du arbeiten möchtest?« »Ja, für dich.« »Zu spät. Ich bin morgen fort. Jetzt mal im Ernst, möchtest du für Juan arbeiten?« »Den würdest du doch bestimmt nicht vorschlagen.« »Ich werde alle vorschlagen außer dir. Wenn du ihn nicht nimmst, bist du auf dich selbst gestellt. Wenn du diese Chance nicht wahrnimmst, wirst du für einen Kollegen arbeiten müs286
sen, der nicht besonders viel für dich übrig hat. Was meinst du, wie viele Artikel du dann noch schreiben wirst?« »Wenn man mich ignoriert, werde ich drohen, zur Time oder sonst wohin zu gehen. Bailey wird das nicht zulassen.« »Wenn du eine Beförderung ablehnst, könnte es doch passieren. Ein Weiterkommen abzulehnen ist einer Karriere niemals förderlich.« »Ich möchte einfach nur schreiben.« »Sag mir, dass du nicht schon häufiger gedacht hast, du könntest diese Redaktion besser führen als ich.« »Sehr oft.« »Jetzt hast du die Gelegenheit dazu.« »Bailey würde niemals akzeptieren, wenn ich mir alle guten Artikel zuteile.« »Mach das doch zur Bedingung. Wenn es ihm nicht gefällt, ist es seine Entscheidung, nicht deine.« Zum ersten Mal zog Buck die Möglichkeit in Erwägung, den Posten des Chefredakteurs doch anzunehmen. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du Pressesekretär wirst, Steve. Nicht einmal für Nicolai Carpathia.« »Weißt du, was auf ihn wartet, Buck?« »So ungefähr.« »Hinter ihm steht ein Meer von Macht, Einfluss und Geld, das ihn so schnell zur Weltbekanntheit treiben wird, dass alle sich umsehen werden.« »Hör auf mich. Du solltest Journalist sein.« »Ich höre auf mich, Buck. Bei keinem anderen würde ich so empfinden. Kein amerikanischer Präsident könnte mir so den Kopf verdrehen, kein UNO-Generalsekretär.« »Du meinst, er wird mehr als das erreichen.« »Die Welt ist bereit für Carpathia, Buck. Du warst am Montag doch da. Du hast es miterlebt. Du hast es gehört. Hast du jemals einen wie ihn kennen gelernt?« »Nein.« 287
»Das wirst du auch nicht. Wenn du mich fragst, Rumänien ist zu klein für ihn. Europa ist zu klein für ihn. Die UNO ist zu klein für ihn.« »Was soll er denn werden, Steve, König über die Welt?« Steve lachte. »Das würde wohl kaum der Titel sein, aber dem Sinn nach dürfte es zutreffen. Das Beste ist, dass er sich seiner eigenen Möglichkeiten nicht einmal bewusst ist. Er strebt diese Positionen gar nicht an. Sie werden ihm angeboten wegen seines Intellekts, seiner Stärke, seiner Leidenschaft.« »Du weißt natürlich, dass Stonagal hinter ihm steht.« »Natürlich. Doch auf Grund seines Charismas wird er Stonagals Einfluss bald in den Schatten stellen. Stonagal macht sich in der Öffentlichkeit rar, darum wird er niemals die Massen hinter sich haben. Wenn Nicolai die Macht übernimmt, wird er so etwas wie Gerichtsgewalt über Stonagal haben.« »Wäre das nicht etwas?« »Ich sage, dass das viel früher passieren wird, als irgendjemand von uns erwartet, Buck.« »Außer dir natürlich.« »Genau. Du weißt, dass ich immer einen guten Instinkt gehabt habe. Ich bin sicher, dass ich in der Nähe eines Menschen bin, der zu einer großen Machtstellung in der Geschichte aufsteigen wird. Vielleicht der größten. Und ich werde da sein und dazu beitragen, dass es passiert.« »Was hältst du von meinen Instinkten, Steve?« Steve presste die Lippen aufeinander. »Außer deinem Schreibstil und deiner Berichterstattung ist dein Instinkt das, was ich am meisten an dir bewundere.« »Dann kannst du beruhigt sein. Mein Instinkt sagt mir genau dasselbe wie deiner. Und abgesehen davon, dass ich niemals Pressesekretär sein könnte, beneide ich dich fast. Du bekommst wirklich eine einzigartige Position.« Steve lächelte. »Wir werden in Kontakt bleiben. Du wirst immer Zugang zu mir und zu Nicolai haben.« 288
»Mehr kann ich gar nicht erwarten.« Marge unterbrach sie über die Gegensprechanlage. »Stellen Sie Ihren Fernseher an, Steve, oder wem immer er jetzt gehört.« Steve lächelte Buck an und stellte ihn an. CNN berichtete live aus Jerusalem, wo zwei Männer versucht hatten, die Prediger an der Klagemauer anzugreifen. Dan Bennett berichtete für CNN. »Es war eine hässliche und gefährliche Konfrontation für die beiden, wie sie von vielen hier genannt werden, ›häretischen Propheten‹, die als Moishe und Eli bekannt sind«, sagte Bennett. »Wir kennen diese Namen nur, weil sie sich gegenseitig so genannt haben, doch wir sind bisher nicht in der Lage gewesen, jemanden ausfindig zu machen, der irgendetwas über sie weiß. Wir kennen keinen Nachnamen, keine Geburtsstadt, keine Familienangehörigen und keine Freunde. Sie wechseln sich ab beim Sprechen – predigen, wenn Sie so wollen. Stundenlang verkündigen sie, dass Jesus Christus der Messias ist. Immer wieder haben sie verkündet, dass das weltweite Verschwinden von Menschen in der vergangenen Woche die Entrückung der Gemeinde Christi gewesen sei. Einer aus dem Publikum fragte, warum sie nicht auch verschwunden seien, wenn sie so viel wüssten. Der eine Mann mit Namen Moishe antwortete, und ich zitiere: ›Wo wir herkommen und wo wir hingehen, könnt ihr nicht wissen.‹ Sein Gefährte, Eli, sagte: ›In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen‹, offensichtlich ein Zitat aus dem Neuen Testament, das Christus zugeschrieben wird.« Steve und Buck sahen sich an. »Vor einigen Augenblicken wurden die beiden, die den ganzen Tag von Fanatikern umgeben waren, von zwei Männern 289
etwa Mitte zwanzig angegriffen. Unsere Kameraaufzeichnung zeigt die beiden hinten in der Menge, wie sie sich langsam nach vorne vorarbeiten. Beide tragen lange Gewänder mit Kapuzen und einen Bart. Sie können sehen, dass sie Waffen hervorholen. Einer hat eine Uzi-Schnellfeuerwaffe, der andere ein bajonettähnliches Messer, das aus einem israelischen Militärgewehr gemacht zu sein scheint. Der eine mit dem Messer stürmt zuerst vor, zeigt Moishe, der gerade sprach, das Messer. Eli, hinter ihm, fällt sofort auf die Knie, das Gesicht dem Himmel zugewandt. Moishe hört auf zu predigen und blickt den Mann einfach nur an, der zu stolpern scheint. Er schlägt auf dem Boden auf, während der Mann mit der Uzi die Waffe auf die Prediger richtet und anscheinend den Abzug zieht. Kein Gewehrfeuer ist zu hören, offensichtlich klemmt der Abzug, und der Angreifer scheint über seinen Partner zu stolpern. Beide liegen auf dem Boden. Die Gruppe der Zuschauer ist zurückgewichen und hat Deckung gesucht, doch sehen Sie genau hin, während wir das nochmals abspielen lassen. Der Mann mit dem Gewehr scheint ohne besondere Ursache zu stolpern. Während ich hier berichte, liegen beide Angreifer zu den Füßen der Prediger, die sich nicht stören lassen. Wütende Zuschauer fordern Hilfe für die Angreifer. Moishe spricht hebräisch. Wir wollen hören, was er sagt und es für Sie übersetzen. Er sagt: ›Männer von Zion, nehmt eure Toten auf! Entfernt diese Leute, die keine Macht über uns haben!‹ Vorsichtig nähern sich einige aus der Menge, während sich israelische Soldaten an der Mauer sammeln. Die Zeloten winken ab. Eli spricht. ›Ihr, die ihr den Gefallenen helft, seid nicht in Gefahr, es sei denn, ihr wendet euch gegen die Gesalbten des Allerhöchsten‹, wobei er offensichtlich sich und seinen Gefährten meint. Die am Boden liegenden Angreifer werden auf den 290
Rücken gedreht, und die zu Hilfe geeilten Männer weinen und rufen und weichen zurück. ›Tot! Beide tot!‹, sagen sie, und jetzt scheint die Menge zu wollen, dass die Soldaten eingreifen. Sie räumen den Weg. Die Soldaten sind natürlich schwer bewaffnet. Ob sie versuchen werden, die beiden Fremden zu verhaften, wissen wir nicht, doch wie wir gesehen haben, haben die beiden Prediger die beiden Männer auf dem Boden weder angegriffen noch sich gegen sie verteidigt. Moishe spricht wieder: ›Bringt eure Toten fort, doch kommt nicht in unsere Nähe, spricht der Herr, der Gott der Heerscharen!‹ Dies sagte er mit solcher Autorität und in solcher Lautstärke, dass die Soldaten die Männer schnell fortbrachten. Wir werden weiter über die beiden berichten, die versucht haben, die Prediger hier in Jerusalem an der Klagemauer anzugreifen. Im Augenblick haben die beiden ihr Predigen wieder aufgenommen. Sie rufen: ›Jesus von Nazareth, geboren in Bethlehem, König der Juden, der Erwählte, Herrscher über alle Nationen.‹ Aus Israel berichtet für Sie Dan Bennett.« Marge und ein paar andere waren während der Sendung in Steves Büro gekommen. »Wenn das nicht alles in den Schatten stellt«, sagte einer. »Was für seltsame Spinner.« »Welche beiden?«, fragte Buck. »Ihr könnt nicht sagen, die Prediger, wer immer sie sind, hätten sie nicht gewarnt.« »Was ist dort drüben nur los?«, fragte ein anderer. »Soviel ich weiß, passieren Dinge, die man nicht erklären kann.« Steve zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wenn du an die Jungfrauengeburt glaubst, das gilt schon seit Jahrhunderten.« Buck erhob sich. »Muss zum Flughafen«, sagte er. »Was wirst du mit dem Job machen?« »Ich habe vierundzwanzig Stunden, weißt du nicht mehr?« »Nutze sie nicht bis zum Letzten aus. Wenn du zu schnell antwortest, wirkst du zu eifrig; wenn du zu langsam antwortest, 291
wirkst du unentschlossen.« Buck wusste, dass Steve Recht hatte. Er würde die Beförderung annehmen, um sich vor anderen zu schützen. Buck war froh für die Abwechslung, die ihm das Treffen mit Hattie Durham bieten würde. Er fragte sich nur, wie er sie erkennen sollte. Sie hätten sich unter traumatischen Umständen kennen gelernt. Rayford und Chloe kamen kurz nach zwölf Uhr in New York an und begaben sich direkt in den Pan-Con Club, um auf Hattie Durham zu warten. »Ich schätze, dass sie nicht kommt«, meinte Chloe. »Warum?« »Ich würde es nicht, wenn ich sie wäre.« »Zum Glück bist du nicht sie.« »Du solltest sie nicht herabsetzen, Dad. Inwiefern bist du besser als sie?« Rayford tat seine Bemerkung Leid. Chloe hatte Recht. Warum sollte er geringer von Hattie denken, nur weil sie manchmal nicht besonders helle zu sein schien? Als er in ihr nur die körperliche Abwechslung gesehen hatte, störte ihn das überhaupt nicht. Und jetzt erschien sie ihm weniger begehrenswert und minderwertig, nur weil sie am Telefon abweisend gewesen war und seine Einladung nicht angenommen hatte. »Ich bin wirklich nicht besser als sie«, gab er zu. »Aber warum würdest du nicht kommen, wenn du sie wärst?« »Weil ich mir denken könnte, was du vorhast. Du wirst ihr sagen, dass du für sie nichts mehr empfindest, dass dir ihr ewiges Heil aber am Herzen liegt.« »Wie du das sagst, klingt das billig.« »Warum sollte es sie beeindrucken, dass dir ihre Seele am Herzen liegt, wenn du früher an ihr als Mensch interessiert warst?« »Das ist es ja, Chloe. Ich war nie an ihr als Mensch interes292
siert.« »Das weiß sie aber nicht. Weil du so umsichtig und vorsichtig warst, dachte sie, du seist besser als die meisten Männer, die sofort zur Sache gekommen wären. Ich bin sicher, das mit Mom tut ihr Leid, und vermutlich versteht sie auch, dass du jetzt nicht in der Lage bist, eine neue Beziehung einzugehen. Doch sie kann nicht davon begeistert sein, fortgeschickt zu werden, als sei es ihr Fehler gewesen.« »Aber das war es doch.« »Nein, das war es nicht, Dad. Sie stand zur Verfügung. Du dagegen eigentlich nicht, doch du hast ihr Signale gegeben, als stündest du zur Verfügung. Das war nicht fair.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht war ich nie sehr gut in diesem Spiel.« »Um Moms willen bin ich froh, dass es so ist.« »Und was soll ich jetzt nicht, sie abweisen oder ihr von Gott erzählen?« »Du hast sie doch bereits abgewiesen, Daddy. Sie wusste, was du sagen würdest, und du hast es ihr bestätigt. Darum meine ich, dass sie nicht kommen wird. Sie ist immer noch verletzt. Vermutlich sauer.« »Oh ja, sie war sauer.« »Wieso denkst du dann, dass sie für deine Himmels-Masche empfänglich sein wird?« »Das ist keine Masche! Und im Übrigen, zeigt das nicht, dass sie mir jetzt wirklich am Herzen liegt?« Chloe ging und holte sich eine Cola. Als sie zurückkehrte und sich neben ihren Vater setzte, legte sie ihm die Hand auf die Schulter. »Ich will nicht den Eindruck erwecken, als wüsste ich alles«, sagte sie. »Ich weiß, dass du mehr als doppelt so alt bist wie ich, doch ich möchte dir eine Vorstellung von dem vermitteln, wie eine Frau denkt, vor allem jemand wie Hattie. Okay?« »Ich bin ganz Ohr.« 293
»Hat sie irgendeinen religiösen Hintergrund?« »Ich glaube nicht.« »Hast du sie nie gefragt? Sie hat nie darüber gesprochen?« »Keiner von uns hat viel über so etwas nachgedacht.« »Hast du dich nie bei ihr über Moms Besessenheit beklagt, wie du es manchmal bei mir getan hast?« »Wenn du mich so fragst, doch. Natürlich habe ich versucht, das als Vorwand zu nehmen, ihr zu signalisieren, dass deine Mutter und ich uns nicht mehr verstanden.« »Aber Hattie hat nie irgendetwas gesagt, wie sie selbst über Gott denkt?« Rayford überlegte. »Weißt du, ich glaube, sie sprach ein wenig mitleidig über deine Mutter.« »Das macht Sinn. Selbst wenn sie sich zwischen euch hätte drängen wollen, sie wollte sicher sein, dass du den Bruch herbeiführst, nicht sie.« »Ich kann dir nicht folgen.« »Darum geht es hier gar nicht. Was ich sagen will, ist, du kannst nicht erwarten, dass jemand, der kein religiöser Mensch ist, sich um Gott, den Himmel und all das kümmert. Selbst mir fällt es schwer, damit umzugehen, und ich liebe dich und weiß, dass dir das alles überaus wichtig geworden ist. Du kannst nicht davon ausgehen, dass sie daran Interesse hat, vor allem wenn du es ihr als eine Art Trostpflaster anbietest.« »Wofür?« »Dafür, dass sie deine Aufmerksamkeit verloren hat.« »Aber meine Aufmerksamkeit ist jetzt doch sehr viel reiner, echter!« »Für dich vielleicht. Für sie ist das sehr viel weniger anziehend als die Möglichkeit, jemanden zu haben, der sie vielleicht liebt und für sie da ist.« »Das wird Gott doch für sie sein.« »Für dich klingt das vielleicht wirklich gut. Ich sage dir nur, Dad, das wird sie im Augenblick nicht hören wollen.« 294
»Und wenn sie doch kommt? Soll ich nicht mit ihr darüber sprechen?« »Ich weiß nicht. Falls sie kommt, könnte das bedeuten, dass sie immer noch Hoffnung hat. Besteht denn Grund zur Hoffnung?« »Nein!« »Dann bist du es ihr schuldig, das ganz klarzustellen. Aber sei nicht zu deutlich, und nutze die Zeit nicht, sie auf diese …« »Hör auf, von meinem Glauben zu sprechen, als sei das etwas, das ich zu verkaufen oder anzupreisen versuche.« »Es tut mir Leid. Ich überlege nur, wie das alles auf sie wirken wird.« Rayford wusste jetzt nicht, wie er sich Hattie gegenüber verhalten sollte. Er fürchtete, dass seine Tochter Recht hatte, und das zeigte ihm, wo sie selbst stand. Bruce Barnes hatte ihm gesagt, dass die meisten Menschen der Wahrheit gegenüber blind und taub seien, bis sie sie fanden; erst dann sei alles logisch. Wie konnte er widersprechen. Genauso war es ihm ergangen. Hattie war Buck entgegengeeilt, als er gegen elf im Club aufgetaucht war. Seine Vorfreude auf eine eventuelle nähere Beziehung zu Hattie wurde sofort zerstört. »Wann werde ich Nicolai Carpathia kennen lernen?«, lautete ihre erste Frage. Als Buck ihr versprochen hatte, sie Carpathia vorzustellen, hatte er nicht nachgedacht. Nachdem er nun gehört hatte, wie Steve sich über die Prominenz dieses Mannes ausgelassen hatte, war es ihm gar nicht mehr recht, Carpathia zu fragen, ob er ihm eine Freundin, einen Fan, vorstellen könne. Er rief Dr. Rosenzweig an. »Doc, ich fühle mich ein wenig unwohl bei der Sache, und vielleicht können Sie auch einfach Nein sagen oder dass er zu beschäftigt ist. Ich weiß, dass er viel um die Ohren hat, und dieses Mädchen ist keine wichtige Persönlichkeit, die er unbedingt kennen lernen müsste.« 295
»Ein Mädchen?« »Nun, eine junge Frau. Sie ist Stewardess.« »Sie möchten ihm eine Stewardess vorstellen?« Buck wusste nicht, was er antworten sollte. Eine solche Reaktion hatte er erwartet. Als er zögerte, hörte er, wie Rosenzweig die Hand über die Muschel legte und Carpathia rief. »Doc, nein, fragen Sie ihn nicht!« Aber er hatte doch gefragt. Rosenzweig meldete sich wieder und sagte: »Nicolai sagt, Ihre Freunde seien auch seine Freunde. Im Augenblick hat er ein wenig Zeit, aber wirklich nur ein paar Minuten.« Buck und Hattie fuhren im Taxi zum Plaza. Buck fühlte sich regelrecht beschränkt, und dieses Gefühl würde sich noch verstärken. Sein Ruf bei Rosenzweig und Carpathia als internationaler Journalist würde besudelt sein. Wie konnte er sich nur dafür hergeben, Hattie mit Carpathia bekannt zu machen! Buck konnte sein Unbehagen nicht verbergen, und im Aufzug brach es aus ihm hervor: »Er hat wirklich nur eine Sekunde Zeit. Wir sollten also nicht lange bleiben.« Hattie starrte ihn an. »Ich weiß, wie man mit VIPs umgeht«, erwiderte sie. »Ich bediene sie häufig während der Flüge.« »Natürlich.« »Ich meine, falls ich Sie in Verlegenheit bringe, oder …« »Das ist es nicht, Hattie.« »Falls Sie meinen, ich wüsste nicht, wie man sich benimmt …« »Es tut mir Leid. Ich denke nur an seinen Zeitplan.« »Aber im Augenblick stehen wir doch auf seinem Zeitplan, oder nicht?« Er seufzte. »Vermutlich.« Warum habe ich mich nur darauf eingelassen? Im Flur blieb Hattie vor einem Spiegel stehen und überprüfte ihr Aussehen. Ein Leibwächter öffnete die Tür, nickte Buck zu und betrachtete Hattie von Kopf bis Fuß. Sie ignorierte ihn und 296
reckte den Hals, um Carpathia zu sehen. Dr. Rosenzweig kam aus dem Salon. »Cameron«, sagte er, »einen Augenblick, bitte.« Buck entschuldigte sich bei Hattie, der das gar nicht zu gefallen schien. Rosenzweig nahm ihn beiseite und flüsterte: »Er möchte Sie gern zuerst allein sprechen.« Jetzt kommt es, dachte Buck und warf Hattie einen entschuldigenden Buck zu. Carpathia wird meinen Kopf fordern, dafür, dass ich seine Zeit vergeude. Nicolai stand mit verschränkten Armen vor dem Fernsehgerät und sah sich die Berichterstattung von CNN an. Er forderte Buck auf, näher zu treten. Buck schloss die Tür hinter sich und hatte das Gefühl, als sei er zum Direktor geschickt worden. Doch Nicolai erwähnte Hattie mit keinem Wort. »Haben Sie gesehen, was in Jerusalem los ist?«, fragte er. Buck nickte. »Das ist das Seltsamste, das ich je erlebt habe.« »Ich nicht«, erwiderte Buck. »Nicht?« »Ich war in Tel Aviv, als Russland angriff.« Carpathia hielt seinen Blick auf den Bildschirm gerichtet, als die Szene von dem Angriff der beiden Attentäter und wie sie auf einmal zu Boden sanken immer wieder gezeigt wurde. »Ja«, murmelte er. »Das war vermutlich ähnlich. Vollkommen unerklärlich. Herzanfall, sagt man.« »Wie bitte?« »Die Attentäter sind an einem Herzanfall gestorben.« »Das hatte ich noch nicht gehört.« »Ja. Und die Uzi hatte keine Ladehemmung. Sie funktioniert tadellos.« Nicolai schien von den Bildern fasziniert zu sein. Während er sprach, wendete er keinen Blick vom Bildschirm ab. »Ich habe mich gefragt, was Sie wohl von meiner Wahl des Pressechefs halten.« »Ich war verblüfft.« 297
»Das dachte ich mir. Sehen Sie sich das an. Die Prediger haben keinen von den beiden auch nur berührt. Was ist nur passiert? Haben sie sich zu Tode geängstigt oder was?« Die Frage war rein rhetorisch. Buck antwortete nicht. »Hm, hm, hm«, rief Carpathia. »Wirklich seltsam. Keine Frage, dass Plank für den Job geeignet ist, meinen Sie nicht auch?« »Natürlich. Ich hoffe, Sie wissen, dass Sie die Weekly ihrer besten Kraft beraubt haben.« »Ah! Ich habe die Zeitung gestärkt. Welchen besseren Weg gibt es, den Menschen, den ich für geeignet halte, an die Spitze zu bringen?« Buck schauderte zusammen und war erleichtert, als Carpathia endlich seinen Blick vom Fernsehschirm löste. »Auf diese Weise fühle ich mich wie Jonathan Stonagal, der auch immer Menschen in bestimmte Positionen bringt.« Er lachte, und Buck freute sich zu sehen, dass er nur Spaß machte. »Haben Sie gehört, was mit Eric Miller passiert ist?«, fragte Buck. »Ihrem Freund vom Seaboard Monthly? Nein. Was denn?« »Er ist letzte Nacht ertrunken.« Carpathia blickte ihn schockiert an. »Was Sie nicht sagen! Schrecklich!« »Hören Sie, Mr Carpathia …« »Buck, bitte! Nennen Sie mich Nicolai.« »Ich bin nicht sicher, dass ich mich dabei wohl fühle. Ich wollte mich nur entschuldigen, dass ich dieses Mädchen hergebracht habe. Sie ist nur eine Stewardess, und …« »Niemand ist nur etwas«, erwiderte er und nahm Buck beim Arm. »Jeder ist gleich wertvoll, egal, welche Position er bekleidet.« Carpathia führte Buck zur Tür und bestand darauf, vorgestellt zu werden. Hattie verhielt sich angemessen und zurückhaltend, obwohl sie kicherte, als Carpathia sie auf beide Wangen küsste. 298
Er stellte ihr Fragen zu ihrer Person, ihrer Familie und ihrer Arbeit. Buck fragte sich, ob er vielleicht schon mal einen Kursus belegt hatte, wie man sich Freunde macht und Menschen beeinflusst. »Cameron«, flüsterte Dr. Rosenzweig. »Telefon.« Buck nahm den Anruf im anderen Zimmer entgegen. Es war Marge. »Ich hoffte, ich würde Sie dort finden«, sagte sie. »Sie haben gerade einen Anruf von Carolyn Miller, Erics Frau, bekommen. Sie ist ziemlich erschüttert und möchte mit Ihnen sprechen.« »Ich kann sie von hier aus nicht zurückrufen, Marge.« »Dann rufen Sie sie doch so bald wie möglich zurück.« »Worum geht es denn?« »Ich habe keine Ahnung, doch sie klang ziemlich verzweifelt. Hier ist ihre Nummer.« Als Buck zurückkam, schüttelte Carpathia Hattie gerade die Hand und gab ihr einen Handkuss. »Ich bin bezaubert«, sagte er. »Vielen Dank, Mr Williams. Und Miss Durham, ich würde mich freuen, wenn unsere Wege sich noch einmal kreuzen würden.« Buck schob sie vor sich her aus dem Zimmer. Sie war überwältigt. »Das ist schon ein Bursche, nicht?« »Er hat mir seine Nummer gegeben!«, sagte sie entzückt. »Seine Telefonnummer?« Hattie zeigte Buck die Visitenkarte, die Nicolai ihr gegeben hatte. Sie wies ihn als Präsidenten von Rumänien aus, doch seine Adresse war nicht Bukarest, wie man annehmen sollte. Es war das Plaza Hotel, die Nummer seiner Suite, seine Telefonnummer und alles. Buck war sprachlos. Mit Bleistift hatte Carpathia noch eine andere Telefonnummer darauf geschrieben, nicht die des Plaza, aber auch eine New Yorker Nummer. Buck merkte sie sich. »Wir können im Pan-Con Club essen«, sagte Hattie. »Eigentlich möchte ich diesen Piloten gar nicht treffen, aber vielleicht 299
gehe ich doch hin, um mit meinem Besuch bei Nicolai ein wenig anzugeben.« »Aha, jetzt ist es schon Nicolai, ja?«, brachte Buck mühsam heraus. Er war immer noch schockiert von Carpathias Visitenkarte. »Versuchen Sie, jemanden eifersüchtig zu machen?« »So ungefähr«, erwiderte sie. »Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?«, fragte er. »Ich muss noch einmal telefonieren, bevor wir zurückfahren.« Hattie wartete in der Empfangshalle, während Buck um die Ecke verschwand und Carolyn Millers Nummer wählte. Ihre Stimme klang schrecklich, so als habe sie stundenlang geweint und nicht geschlafen, was zweifellos zutraf. »Oh, Mr Williams, ich bin froh, dass Sie anrufen.« »Natürlich Madam, der Tod Ihres Mannes tut mir so Leid. Ich …« »Erinnern Sie sich daran, dass wir uns einmal kennen gelernt haben?« »Es tut mir Leid, Mrs. Miller. Helfen Sie mir auf die Sprünge.« »Auf der Yacht des Präsidenten vor zwei Jahren.« »Natürlich! Entschuldigen Sie.« »Ich wollte nur nicht, dass Sie glauben, wir würden uns nicht kennen. Mr Williams, gestern Abend, bevor mein Mann zur Fähre gegangen ist, hat er mich angerufen. Er sagte, er sei einer großen Sache auf der Spur und habe Sie im Plaza getroffen.« »Das stimmt.« »Er erzählte mir eine verrückte Geschichte, dass Sie beide miteinander um ein Interview mit diesem Rumänen gewetteifert hätten, der in …« »Das stimmt auch. Es war nichts Ernstes, Madam. Nur eine kleine Unstimmigkeit.« »So habe ich es auch aufgefasst. Aber das war das letzte Gespräch, das ich mit ihm geführt habe, und es macht mich einfach verrückt. Wissen Sie, wie kalt es gestern Abend war?« 300
»Ziemlich frisch, soweit ich mich erinnere«, erwiderte Buck, ziemlich verwirrt über ihren plötzlichen Themenwechsel. »Eiskalt. Viel zu kalt, um draußen auf der Fähre zu stehen, meinen Sie nicht?« »Ja, Madam.« »Und selbst wenn er draußen gestanden hätte, er war ein guter Schwimmer. In der High School war er Meister.« »Mit allem nötigen Respekt, Madam, aber das muss doch – etwa dreißig Jahre her sein.« »Aber er ist immer noch ein guter Schwimmer. Glauben Sie mir, ich weiß es.« »Was wollen Sie damit sagen, Mrs. Miller?« »Ich weiß es nicht!«, rief sie weinend. »Ich frage mich nur, ob Sie vielleicht ein wenig Licht in die Angelegenheit bringen können. Ich meine, er fiel von der Fähre und ertrank? Das macht doch keinen Sinn!« »Für mich auch nicht, Madam, und ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen. Aber ich kann es nicht.« »Ich weiß«, sagte sie. »Ich habe es nur gehofft.« »Madam, ist jemand bei Ihnen, der Ihnen Gesellschaft leistet?« »Ja, mir geht es gut. Meine Familie ist hier.« »Ich denke an Sie.« »Vielen Dank.« Buck konnte Hattie sehen. Sie schien recht geduldig zu sein. Er rief noch einen Freund bei der Telefongesellschaft an. »Alex! Tu mir einen Gefallen. Wenn ich dir eine Telefonnummer gebe, kannst du mir dann sagen, wer der Teilnehmer ist?« »Solange du niemandem erzählst, dass ich so etwas getan habe.« »Du kennst mich doch.« »Dann los.« Buck nannte ihm die Nummer, die er sich von der Visitenkarte Carpathias gemerkt hatte. Es dauerte nicht lange, bis Alex die Information hatte. »New York, UNO-Verwaltung, 301
die Information hatte. »New York, UNO-Verwaltung, Büro des Generalsekretärs, Direktdurchwahl. In Ordnung?« »Okay, Alex. Ich schulde dir was.« Buck war verwirrt. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Er lief zu Hattie. »Ich brauche noch eine Minute. Haben Sie etwas dagegen?« »Nein, solange wir um ein Uhr am Flughafen sind. Ich weiß nicht, wie lange der Pilot warten wird. Er hat seine Tochter dabei.« Buck ging zu den Telefonen zurück und war froh, dass er nicht mit Carpathia oder diesem Piloten um Hatties Zuneigung buhlte. Er rief Steve an. Marge war am Apparat. »Hallo, ich bin es. Ich muss Plank sofort sprechen.« »Ja, Ihnen auch einen schönen Tag«, sagte sie und stellte ihn durch. »Steve«, sagte er schnell, »dein Junge hat gerade seinen ersten Fehler gemacht.« »Wovon sprichst du eigentlich, Buck?« »Wird es deine erste Aufgabe sein, Carpathia als neuen Generalsekretär anzukündigen?« Stille. »Steve? Was kommt als Nächstes?« »Du bist ein guter Reporter, Buck. Der Beste. Wie hast du das herausgefunden?« Buck erzählte ihm von der Visitenkarte. »Wow! Das sieht Nicolai aber gar nicht ähnlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein Versehen war. Bestimmt hat er es absichtlich getan.« »Vielleicht hat er angenommen, diese Durham sei zu dämlich, um es herauszufinden«, meinte Buck, »oder dass sie mir die Visitenkarte nicht zeigen würde. Aber woher weiß er, dass sie nicht bald dort anruft und ihn sprechen will?« »Solange sie bis morgen wartet, Buck, ist das in Ordnung.« »Morgen?« 302
»Du wirst das nicht verwenden, klar? Das bleibt unter uns?« »Steve! Was meinst du, mit wem du hier sprichst? Arbeitest du bereits für Carpathia? Du bist immer noch mein Boss. Wenn du nicht willst, dass ich etwas verfolge, kannst du mir das einfach sagen.« »Nun, ich sage es dir. Die Kalahari-Wüste macht den größten Teil Botswanas aus, dem Land, aus dem Generalsekretär Ngumo kommt. Morgen wird er als Held dorthin zurückkehren. Er wird der erste Staatsführer sein, der Zugang zu der israelischen Wunderformel haben wird.« »Und wie hat er das geschafft?« »Vermutlich durch seine Diplomatie.« »Und natürlich ist es unmöglich, in diesem so wichtigen Augenblick in der Geschichte Botswanas sowohl seine Pflichten als Generalsekretär der Vereinten Nationen als auch als Staatsoberhaupt Botswanas wahrzunehmen, richtig?« »Und warum sollte er, wenn jemand so geeignet ist, seinen Platz einzunehmen? Wir waren am Montag doch da, Buck. Wer wird dagegen Widerstand leisten?« »Du nicht?« »Ich halte das für brillant.« »Du wirst der ideale Pressechef sein, Steve. Und ich habe beschlossen, deinen Job zu übernehmen.« »Wie schön! Und du wirst diese Information bis morgen für dich behalten, verstanden?« »Versprochen. Aber kannst du mir noch eines sagen?« »Wenn ich kann, Buck.« »Wieso ist Eric Miller euch zu nahe gekommen? Welche Spur hat er verfolgt?« Steves Stimme wurde hohl, sein Tonfall oberflächlich. »Ich weiß von Eric Miller nur«, antwortete er, »dass er zu dicht an die Reling der Staten Island Fähre gekommen ist.«
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19 Rayford beobachtete Chloe, die im Pan-Con Club herumschlenderte, dann starrte er aus dem Fenster. Er fühlte sich wie ein Versager. Seit Tagen sagte er sich, er dürfe sie nicht drängen. Er kannte sie. Sie war wie er. Sie würde den anderen Weg einschlagen, falls er zu sehr drängte. Sie hatte ihn sogar dazu überredet, sich von Hattie Durham zurückzuziehen, falls sie auftauchen sollte. Was war nur los mit ihm? Nichts war mehr so wie früher oder würde jemals wieder so sein. Falls Bruce Barnes Recht hatte, war das Verschwinden des Volkes Gottes nur der Anfang der umwälzendsten Ereignisse der Weltgeschichte. Und hier bin ich, dachte Rayford, und mache mir Gedanken darum, dass ich andere vielleicht beleidigt habe. Ich bin dazu verdammt, meine eigene Tochter in ihr Unglück laufen zu lassen, ohne etwas dagegen tun zu können. Rayford machte sich auch Gedanken darum, was er Hattie Durham sagen sollte. Dass er ihr überhaupt nachgestellt hatte, war ein Fehler gewesen, doch das war abgeschlossen. Es tat ihm Leid, dass er ihr Hoffnungen gemacht hatte. Aber jetzt konnte er sie nicht mehr länger mit Samthandschuhen anfassen. Am meisten ängstigte ihn, dass sich nach Bruces Meinung in dieser Zeit viele Menschen täuschen lassen würden. Jeder, der Frieden und Einheit verkündigte, musste verdächtig sein. Dies war der Anfang vom Ende, und von nun an würde es nur noch Chaos geben. Das Chaos würde die glatten Redensarten der Friedensverfechter nur noch anziehender erscheinen lassen. Und für die Leute, die nicht zugeben wollten, dass Gott für das Verschwinden der vielen Menschen verantwortlich war, würde jede andere Erklärung willkommen sein. Jetzt war keine Zeit mehr für höfliche Unterhaltung, für sanfte Überredungskünste. Rayford musste die Menschen an die Bibel heranführen, an die 304
Prophezeiungen. Er fühlte sich so begrenzt in seinem Verständnis. Er war immer sehr belesen gewesen, doch der Inhalt der Offenbarung, von den Propheten Daniel und Ezechiel war ihm neu und fremd. Doch beängstigenderweise war es logisch. Er hatte begonnen, Irenes Bibel überallhin mitzunehmen und beschäftigte sich damit, wann immer es möglich war. Während der Erste Offizier Zeitschriften las, holte Rayford seine Bibel hervor. »Was um alles in der Welt …?«, wurde er mehr als einmal gefragt. Ohne Scham sagte er, er würde Antworten und Führung darin finden, die er vorher nie erkannt hätte. Doch bei seiner eigenen Tochter und der Frau, von der er sich früher angezogen gefühlt hatte, war er zu höflich gewesen. Rayford warf einen Buck auf seine Uhr. Es waren noch einige Minuten bis ein Uhr. Er signalisierte Chloe, dass er telefonieren würde. Er wählte Bruce Barnes Nummer und sprach mit ihm über seine Gedankengänge. »Sie haben Recht, Rayford. Ich habe das auch einige Tage lang durchgemacht und mir Gedanken darum gemacht, was die Leute von mir denken würden. Ich wollte niemanden vergraulen. Doch das ist jetzt nicht mehr wichtig, nicht?« »Nein. Bruce, ich brauche Unterstützung. Ich werde anfangen, mich unbeliebt zu machen, fürchte ich. Wenn Chloe lachen oder weglaufen will, werde ich sie zwingen, eine Entscheidung zu treffen. Sie wird genau wissen müssen, was sie tut. Sie wird sich dem stellen müssen, was wir in der Bibel gefunden haben und sich damit auseinander setzen müssen. Ich meine, die beiden Prediger in Israel sind doch Beweis genug, dass alles genau so geschieht, wie es die Bibel vorhergesagt hat.« »Haben Sie heute Morgen schon die Nachrichten gesehen?« »Nur von weitem. Immer wieder wird der Angriff gezeigt.« »Rayford, suchen Sie sich gleich jetzt ein Fernsehgerät.« 305
»Was?« »Ich lege auf, Ray. Sehen Sie, was mit den beiden Angreifern passiert ist und ob das nicht alles, was wir von den beiden Zeugen gelesen haben, bestätigt.« »Bruce …« »Los, Rayford. Und fangen Sie an, selbst Zeugnis zu geben, mit vollkommenem Vertrauen.« Bruce beendete das Gespräch. Trotz ihrer kurzen Bekanntschaft kannte Rayford ihn gut genug, um nicht beleidigt zu sein. Er eilte zu einem Fernsehgerät, wo er mit Erstaunen vom Tod der beiden Attentäter hörte. Er holte Irenes Bibel hervor und las den Abschnitt aus der Offenbarung, von dem Bruce gesprochen hatte. Die Männer in Jerusalem waren die beiden Zeugen, die Christus verkündigten. Sie waren angegriffen worden, und sie brauchten sich nicht einmal zu wehren. Die Attentäter waren tot zu Boden gesunken, und den Zeugen war kein Haar gekrümmt worden. Rayford konnte nun im Fernsehen verfolgen, wie die Massen zur Klagemauer strömten, um den beiden Zeugen zuzuhören. Menschen knieten weinend nieder, einige berührten mit ihren Gesichtern den Boden. Dies waren Menschen, die befürchtet hatten, die beiden Prediger würden den heiligen Ort entweihen. Und nun hatte es den Anschein, als würden sie glauben, was die beiden Zeugen sagten. Oder war es nur Angst? Rayford wusste es besser. Er wusste, dass sich die ersten der 144 000 jüdischen Evangelisten vor seinen Augen zu Christus bekehrten. Ohne seinen Blick vom Bildschirm zu wenden, betete er leise vor sich hin: Lieber Gott, gib mir Mut, Kraft und alles, was ich brauche, um ein Zeugnis für dich zu sein. Ich möchte keine Angst mehr haben. Ich möchte nicht mehr länger warten. Ich möchte keine Angst davor haben, beleidigt und verachtet zu werden. Gib mir Überzeugungskraft, die in deinem Wort verwurzelt ist. Ich weiß, dass dein Geist allein die Menschen zu dir zieht, aber gebrauche mich. Ich möchte Chloe 306
erreichen. Ich möchte Hattie erreichen. Bitte, Herr, hilf mir. Ohne seine Ausrüstungstasche fühlte Buck Williams sich nackt. Er würde erst richtig arbeiten können, wenn er sein Handy, seinen Kassettenrekorder und seinen neuen Laptop hatte. Er bat den Taxifahrer, beim Global Weekly vorbeizufahren, damit er die Tasche holen konnte. Hattie wartete im Taxi, doch sie sagte ihm, dass sie ihre Verabredung nur ungern verpassen würde. Buck stand neben dem Wagenfenster. »Ich bin in einer Minute zurück«, sagte er. »Ich dachte, Sie wüssten nicht so genau, ob Sie diesen Burschen überhaupt sprechen wollten.« »Aber jetzt weiß ich es, okay? Nennen Sie es Rache, aber es kommt nur selten vor, dass man vor einem Flugkapitän damit angeben kann, eine bekannte Persönlichkeit kennen gelernt zu haben, die er nicht kennt.« »Sprechen Sie von Nicolai Carpathia oder mir?« »Sehr witzig. Schließlich kennt er Sie ja.« »Ist das der Kapitän des Fluges, auf dem wir beide uns kennen gelernt haben?« »Ja – und jetzt beeilen Sie sich!« »Vielleicht möchte ich ihn auch kennen lernen.« »Los!« Buck rief Marge von der Empfangshalle aus an. »Könntest du mir meine Ausrüstungstasche zum Aufzug bringen? Unten wartet ein Taxi auf mich.« »Das konnte ich natürlich«, erwiderte sie, »doch sowohl Steve als auch der Alte warten auf dich.« Was nun?, fragte er sich. Buck warf einen Blick auf seine Uhr und wünschte sich, der Aufzug würde schneller fahren. So war das Leben im Wolkenkratzer. Er nahm Marge die Tasche ab, stürmte in Steves Büro und sagte: »Was ist los? Ich bin auf dem Sprung.« »Der Boss will uns sehen.« »Worum geht es?«, fragte Buck, als sie den Flur entlangeilten. 307
»Ich glaube, Eric Miller. Vielleicht steckt auch noch mehr dahinter. Du weißt doch, dass Bailey von meiner kurzfristigen Kündigung durchaus nicht begeistert war. Er hat nur zugestimmt, weil er dachte, du würdest sofort auf die Beförderung anspringen, weil du weißt, was für die kommenden Wochen geplant ist.« Bailey kam sofort zur Sache. »Ich werde euch beiden gezielte Fragen stellen, und ich wünsche einige schnelle und ehrliche Antworten. Im Augenblick passiert eine Menge, und wir werden an vorderster Front darüber berichten. Zuerst einmal, Plank, es geht das Gerücht um, dass Mwangati Ngumo für heute Nachmittag eine Pressekonferenz einberufen wird, und alle rechnen damit, dass er seinen Rücktritt als Generalsekretär bekannt geben wird.« »Wirklich?«, fragte Plank. »Spielen Sie nicht den Unwissenden«, brummte Bailey. »Man braucht kein Genie zu sein, um sich vorzustellen, was hier abgeht. Wenn er zurücktritt, dann weiß dein Mann davon. Du vergisst, dass ich für das afrikanische Büro zuständig war, als Botswana Mitglied des europäischen Marktes wurde. Jonathan Stonagal hatte seine Finger im Spiel, und alle wissen, dass er seine Hand über diesen Carpathia hält. Wo ist also die Verbindung?« Buck sah, wie Steve blass wurde. Bailey wusste mehr, als sie erwartet hatten. Zum ersten Mal seit Jahren wirkte Steve nervös, beinahe in Panik. »Ich sage Ihnen, was ich weiß«, begann er, doch Buck vermutete, dass es mehr gab, was er nicht sagte. »Meine erste Aufgabe morgen früh wird sein zu verkünden, dass Carpathia kein Interesse an dieser Aufgabe hat. Er wird sagen, er hätte zu viele revolutionäre Ideen, und dass er auf einer nahezu einmütigen Zustimmung aller gegenwärtigen Mitglieder bestünde. Sie würden seinen Ideen für eine Neuorganisation, einer Verlagerung der Gewichte und einigen anderen Dingen zustimmen müssen.« 308
»Zum Beispiel?« »Ich habe nicht die Freiheit …« Bailey erhob sich mit gerötetem Gesicht. »Ich will Ihnen etwas sagen, Plank. Ich mag Sie. Für mich sind Sie ein Superstar gewesen. Ich habe mich für Sie eingesetzt, als kein anderer Ihren Wert erkannt hat. Sie haben mich zu dieser Leuchte hier überredet, und er hat uns wirklich weitergebracht. Aber ich habe Ihnen sechsstellige Summen bezahlt, lange bevor Sie sie verdient haben, weil ich wusste, dass es sich eines Tages bezahlt machen würde. Und so war es auch. Und jetzt sage ich Ihnen, dass nichts, was Sie hier äußern, diesen Raum verlassen wird, darum möchte ich nicht, dass Sie etwas vor mir zurückhalten. Ihr zwei glaubt wohl, dass ich, nur weil ich in zwei oder drei Jahren pensioniert werde, keine Kontakte mehr hätte, mein Ohr nicht dicht am Boden haben würde. Nun, ich will euch sagen, dass mein Telefon, seit ihr heute Morgen diesen Raum verlassen habt, nicht mehr stillgestanden hat, und ich habe das unbestimmte Gefühl, dass etwas Großes im Anmarsch ist. Also, worum geht es?« »Wer hat Sie angerufen, Sir?«, fragte Plank. »Zuerst bekam ich einen Anruf von einem Mann, der den Vizepräsidenten von Rumänien gut kennt. Er hat erfahren, dass der Vizepräsident gebeten worden ist, auf unbestimmte Zeit die Amtsgeschäfte zu führen. Er wird nicht der neue Präsident werden, weil sie gerade erst gewählt haben, doch das zeigt mir, dass Carpathia damit rechnet, eine Weile hier zu bleiben. Dann erzählen mir Leute in Afrika, dass Ngumo Zugang zu der israelischen Formel bekommen hat, doch dass er im Stillen gar nicht glücklich darüber ist, deswegen seinen Posten als UNO-Generalsekretär aufzugeben. Er wird es tun, doch es wird Schwierigkeiten geben, wenn nicht alles so läuft wie besprochen. Und schließlich bekomme ich einen Anruf vom Herausgeber 309
des Seaboard Monthly, der mit mir darüber sprechen will, dass Sie, Cameron, und sein Mann, der gestern Nacht ertrunken ist, beide an einer Story über Carpathia gearbeitet haben, und ob ich der Meinung sei, dass Sie ebenfalls eines mysteriösen Todes sterben würden. Ich sagte ihm, soweit ich wüsste, hätten Sie an einem allgemeinen Leitartikel über diesen Mann gearbeitet, und dass wir positiv berichten wollten. Er sagte, sein Mann hätte die Absicht gehabt, die Sache aus einem etwas anderen Blickwinkel anzugehen. Miller arbeitete an einem Bericht über die Hintergründe des großen Massenverschwindens, was Sie meines Wissens ja auch geplant hätten. Welchen Zusammenhang es da zu Carpathia gibt, und warum er ihn in einem schlechten Licht darstellen sollte, weiß ich nicht. Sie?« Buck schüttelte den Kopf. »Für mich sind das zwei vollkommen verschiedene Dinge. Ich habe Carpathia gefragt, was er von dem, was passiert ist, hält, und alle haben diese Antwort gehört. Ich wüsste nicht, woran Miller arbeitete, und ganz bestimmt ging ich nicht davon aus, dass er Carpathia mit dem Massenverschwinden in Zusammenhang bringt.« Bailey lehnte sich zurück. »Um die Wahrheit zu sagen, als ich den Anruf von diesem Burschen vom Seaboard bekam, dachte ich, er wollte eine Referenz für Sie haben, Cameron. Ich dachte, es wäre wohl das Beste, falls ich meine beiden besten Männer in einer Woche verlieren sollte, meine frühzeitige Pensionierung zu beantragen. Können wir das ausräumen, bevor ich Plank auffordere, mir zu sagen, was er sonst noch weiß?« »Was denn ausräumen?«, fragte Buck. »Sind Sie auf der Suche nach einem anderen Job?« »Nein.« »Nehmen Sie die Beförderung an?« »Ja.« »Gut! Und jetzt, Steve, was will Carpathia noch durchdrükken, bevor er das Amt des Generalsekretärs der UNO an310
nimmt?« Plank zögerte und sah aus, als würde er überlegen, ob er sagen sollte, was er wusste, oder nicht. »Das sind Sie mir schuldig«, sagte Bailey. »Ich habe nicht die Absicht, das zu verwenden. Ich will es nur wissen. Cameron und ich müssen entscheiden, welcher Story wir den Vorrang geben. Ich möchte ihn auf das ansetzen, das mich am meisten interessiert, auf das, was hinter dem Massenverschwinden steckt. Manchmal denke ich, dass wir als Nachrichtenzeitschrift zu hochnäsig werden und vergessen, dass jeden Tag sich Menschen dort draußen zu Tode fürchten und begreifen wollen, was dahinter steckt. Steve, Sie können mir vertrauen. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich es niemandem weitererzählen oder Sie kompromittieren werde. Seien Sie einfach offen zu mir. Was will Carpathia, und wird er dieses Amt annehmen?« Steve kräuselte die Lippen und begann widerstrebend. »Er will eine Neuordnung des Sicherheitsrates, wozu gehört, dass er einige Botschafter dafür vorschlägt.« »Zum Beispiel Todd-Cothran aus England?«, fragte Buck. »Vermutlich übergangsweise. Wie du vielleicht weißt, ist er mit dieser Verbindung nicht besonders glücklich.« Buck wurde auf einmal klar, dass Steve alles wusste. »Und?«, drängte Bailey. »Er will, dass Ngumo auf ihm als Nachfolger besteht, eine Abstimmung mit großer Mehrheit der Repräsentanten und zwei andere Dinge, die er, meiner Meinung nach, nicht wird durchsetzen können. Alle Mitgliedsnationen sollen sich für die Abrüstung aussprechen und sich bereit erklären, neunzig Prozent ihrer Waffen zu vernichten, die anderen zehn Prozent der UNO zur Verfügung zu stellen.« »Um den Frieden zu erhalten«, sagte Bailey. »Klingt naiv, aber logisch. Sie haben Recht, das wird er vermutlich nicht durchsetzen können. Was sonst noch?« »Das ist vermutlich der umstrittenste und unwahrscheinlichste Punkt. Allein die Logistik ist unglaublich, die Kosten, die 311
… einfach alles.« »Was will er?« »Er will den Standort der Vereinten Nationen verlegen.« »Verlegen?« Steve nickte. »Wohin?« »Das klingt verrückt.« »Heutzutage klingt alles verrückt«, meinte Bailey. »Er will sie nach Babylon verlegen.« »Das ist nicht Ihr Ernst.« »Ihm ist es ernst damit.« »Wie ich höre, wird diese Stadt schon seit Jahren erneuert. Millionen von Dollar wurden investiert, um sie zu einem, was denn eigentlich, Neu-Babylon zu machen?« »Milliarden.« »Denken Sie, dass irgendjemand damit einverstanden sein wird?« »Das hängt davon ab, wie stark sie sich auf ihn fixieren.« Steve lachte. »Heute Abend ist er in der Tonight Show zu sehen.« »Er wird populärer sein als je zuvor!« »In diesem Augenblick trifft er sich mit den Führern aller jener internationalen Gruppen, die zu diesen Vereinigungskonferenzen in der Stadt sind.« »Was will er denn von denen?« »Das wird immer noch alles vertraulich behandelt, richtig?«, fragte Steve. »Natürlich.« »Er bittet um Resolutionen für einige der Dinge, die er tun will. Der siebenjährige Friedensvertrag mit Israel im Austausch für seinen Einsatz bei der Vermittlung der Düngeformel für die Wüste. Der Umzug nach Neu-Babylon. Die Einsetzung einer einzigen Weltreligion, vermutlich mit Standort in Italien.« »Damit wird er bei den Juden nicht weit kommen.« 312
»Sie sind die Ausnahme. Ihnen wird er helfen, ihren Tempel wieder aufzubauen. Er ist der Meinung, dass sie eine besondere Behandlung verdient haben.« »Das ist tatsächlich so«, sagte Bailey. »Der Mann ist brillant. Ich habe noch nie jemanden mit so revolutionären Ideen gesehen, und ich habe noch nie jemanden kennen gelernt, der so schnell vorwärts marschiert.« »Hat denn keiner von euch Bedenken bei diesem Burschen?«, fragte Buck. »Für mich hat es den Anschein, als würde jeder, der ihm zu nahe kommt, eliminiert.« »Bedenken?«, fragte Bailey. »Ich halte ihn für ein wenig naiv, und es würde mich sehr wundern, wenn er alles bekäme, was er verlangt. Aber andererseits ist er Politiker. Er würde dies niemals als Ultimatum verlangen, und er kann die Position immer noch annehmen, auch wenn er nicht alles bekommt. Es sieht so aus, als hätte er Ngumo überrannt, aber ich glaube, dass er Botswanas Bestes im Sinn hat. Carpathia wird ein besserer UNO-Generalsekretär sein. Und er hat Recht. Wenn das, was in Israel passiert ist, auch in Botswana geschieht, muss Ngumo zu Hause sein und den Reichtum verwalten. Bedenken? Nein. Ich bin von dem Burschen genauso beeindruckt wie ihr beide. Er ist genau das, was wir im Augenblick brauchen. Einheit und Zusammengehörigkeitsgefühl in einer Krisenzeit ist nicht das Schlechteste.« »Was ist mit Eric Miller?« »Ich glaube, dass das zu sehr aufgebauscht wird. Wir wissen doch gar nicht, ob sein Tod nicht wirklich ein Unfall war und ob er nur zufällig auf dich und Carpathia gestoßen ist. Außerdem wusste Carpathia gar nicht, hinter was Miller her war, oder?« »Nicht, dass ich wusste«, erwiderte Buck, doch ihm fiel auf, dass Steve schwieg. Marge meldete sich über die Gegensprechanlage. »Eine dringende Nachricht von einer Hattie Durham für Cameron. Sie 313
sagt, sie könnte jetzt nicht mehr länger warten.« »Oh nein«, sagte Buck. »Marge, entschuldigen Sie sich in meinem Namen bei ihr. Sagen Sie ihr, eine dringende Angelegenheit hätte mich aufgehalten. Ich würde sie entweder anrufen oder später nachkommen.« Bailey blickte ihn missbilligend an. »So verbringen Sie also Ihre Arbeitszeit, Cameron.« »Ich habe sie heute Morgen Carpathia vorgestellt, und ich möchte, dass sie mich einem Flugkapitän vorstellt, mit dem ich über seine Meinung zu den Vorgängen der vergangenen Woche sprechen wollte.« »Das war nicht ernst gemeint, Cameron«, sagte Bailey. »In der nächsten Ausgabe werden wir die große Carpathia-Story bringen, und danach den verschiedenen Theorien über das große Massenverschwinden nachgehen. Wenn Sie mich fragen, könnte das die aufsehenerregendste Story werden, die wir je gebracht haben. Vielleicht schlagen wir die Time und alle anderen mit unserer Berichterstattung über das Ereignis. Übrigens gefiel mir Ihr Artikel sehr gut. Ich weiß nicht, ob wir wirklich etwas Neues über Carpathia haben, aber wir müssen alles geben, was wir haben. Offen gestanden, mir gefällt die Idee, dass Sie über die verschiedenen Theorien zu den Ereignissen berichten. Sicherlich haben Sie auch selbst eine Theorie.« »Ich wünschte, es wäre so«, sagte Buck. »Doch ich tappe genauso im Dunkeln wie alle anderen. Allerdings habe ich festgestellt, dass die Leute, die eine Theorie haben, sehr stark von der Richtigkeit ihrer Ansicht überzeugt sind.« »Ich habe auf jeden Fall eine eigene Theorie«, sagte Bailey. »Und es ist fast unheimlich, wie sehr sie der von Carpathia oder Rosenzweig oder wem auch immer nahe kommt. Einige meiner Verwandten glauben, es seien die Außerirdischen gewesen. Einer meiner Onkel glaubt, es sei Jesus gewesen, und er hätte ihn vergessen. Ha! Meiner Meinung nach gibt es eine 314
natürliche Erklärung, ein besonderes Phänomen, ein Zusammenwirken unserer hoch entwickelten Technologie mit den Kräften der Natur. Wir haben uns das selbst eingebrockt. Und jetzt los, Cameron. Welche Ansicht vertreten Sie?« »Ich habe tatsächlich die ideale Ausgangsposition für meine Aufgabe«, erwiderte er. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« »Was sagen die Leute?« »Das Übliche. Ein Arzt auf dem Flughafen in Chicago meinte, es sei bestimmt die Entrückung gewesen. Andere Leute haben dasselbe gesagt. Sie wissen doch, die Leiterin unseres Büros in Chicago …« »Lucinda Washington? Es wird Ihre Aufgabe sein, einen Ersatz für sie zu finden, das wissen Sie sicher. Sie werden dorthin fahren, sich mit der Situation vertraut machen müssen. Aber was wollten Sie sagen?« »Ihr Sohn ist der Ansicht, sie und der Rest der Familie seien in den Himmel geholt worden.« »Und wie kommt es, dass er zurückgeblieben ist?« »Ich bin nicht sicher, welches der Grund dafür ist«, meinte Buck. »Einige Christen sind besser als andere oder so ähnlich. Das ist etwas, das ich noch herausfinden werde, bevor ich den Artikel schreibe. Diese Stewardess, die gerade angerufen hat, ich bin nicht sicher, was sie glaubt, aber sie sagte, der Flugkapitän, mit dem sie sich gleich treffen will, hätte so eine Ahnung.« »Ein Flugkapitän«, wiederholte Bailey. »Das könnte interessant sein, wenn seine Theorie nicht mit der der Wissenschaftler übereinstimmt. Bleiben Sie auf jeden Fall dran. Steve, wir werden das heute bekannt geben. Viel Glück, und machen Sie sich keine Gedanken um irgendetwas, das Sie heute gesagt haben. Wir werden nichts davon schreiben, es sei denn, wir erfahren dasselbe aus anderer Quelle. Darin sind wir uns einig, nicht, Williams?« 315
»Jawohl, Sir«, erwiderte Buck. Steve war sich da nicht so sicher. Buck rannte zum Aufzug. Unten an der Information ließ er sich die Nummer des Pan-Con Clubs geben. Er rief an und bat darum, Hattie ausrufen zu lassen, doch als man sie nicht ausfindig machen könnte, nahm er an, dass sie noch nicht angekommen oder mit ihrem Pilotenfreund fortgegangen war. Er hinterließ eine Nachricht für sie, sie solle ihn über sein Handy anrufen, und machte sich auf den Weg zum Flughafen. Seine Gedanken überschlugen sich. Er stimmte mit Stanton Bailey überein, dass die Hintergründe des Massenverschwindens eine große Story geben würden, aber Nicolai Carpathia war ihm nicht mehr ganz geheuer. Vielleicht war sein Misstrauen unbegründet. Vielleicht sollte er sich eher auf Jonathan Stonagal konzentrieren. Carpathia würde klug genug sein zu erkennen, dass sein Aufstieg Stonagal auf eine Art helfen könnte, die seinen Konkurrenten gegenüber unfair wäre. Aber Carpathia hatte behauptet, er würde sich sowohl Stonagals als auch Todd-Cothrans annehmen, da er sehr wohl wusste, dass sie illegale Dinge taten. Aber machte das Carpathia unschuldig? Buck hoffte es. Nie in seinem Leben hatte er sich mehr gewünscht, an einen Menschen glauben zu können. In den Tagen nach dem großen Massenverschwinden war er kaum eine Minute zum Nachdenken gekommen. Der Verlust seiner Schwägerin, seiner Nichte und seines Neffen machte ihm schwer zu schaffen, und er fragte sich, ob nicht doch etwas an dieser Entrückungsgeschichte dran war. Falls es irgendjemand auf dieser Welt verdient hatte, in den Himmel zu kommen, dann waren sie es. Aber er wusste es doch besser, nicht? Schließlich war er doch ein gebildeter Mensch. In jungen Jahren war er aus der Kirche ausgetreten, als er seine Familie verlassen hatte. Zu sehr hatten sie ihn alle genervt. Er hatte sich nie als religiös bezeichnet, hatte nur dann und wann ein Stoßgebet zum Himmel geschickt. 316
Sein Leben drehte sich um Erfolg, Begeisterung und, er könnte es nicht leugnen, Anerkennung. Er liebte den Status, den er sich durch seine Arbeit geschaffen hatte. Und doch war er in gewisser Weise auch einsam, vor allem nun, da Steve die Zeitung verließ. Buck hatte Freundinnen gehabt, auch einige ernst zu nehmende Beziehungen, aber er hatte sich immer als zu freiheitsliebend betrachtet, um sich an eine Frau zu binden, die Stabilität brauchte. Seit dem zweifellos übernatürlichen Ereignis, dessen Zeuge er in Israel geworden war, die Vernichtung der russischen Luftwaffe, war ihm klar geworden, dass die Welt sich veränderte. Es würde nie mehr so sein wie früher. Er glaubte nicht an die Theorie der Invasion aus dem All. Sicher, dieses Phänomen des Massenverschwindens könnte sehr wohl einer unglaublichen kosmischen Energiereaktion zugerechnet werden, doch wer oder was steckte dahinter? Der Zwischenfall an der Klagemauer war auch so etwas unerklärlich Übernatürliches. Buck stellte fest, dass der Artikel über die Hintergründe ihn viel mehr interessierte als der Aufstieg Nicolai Carpathias. So angetan er von diesem Mann auch war, Buck hoffte wider alle Vernunft, dass er nicht nur ein weiterer gerissener Politiker war. Er war der Beste, den Buck je kennen gelernt hatte, doch war es möglich, dass Carpathia wirklich nichts mit Dirks, Alans und Erics Tod zu tun hatte? Er hoffte es. Er wünschte sich, daran zu glauben, dass ein Mensch wirklich in der Lage war, die Phantasie der Welt zu fesseln. Könnte Carpathia ein zweiter Lincoln, Roosevelt oder die Verkörperung Camelots werden, die Kennedy für einige gewesen war? Einem Impuls folgend verband Buck auf dem Weg durch den schrecklichen New Yorker Verkehr sein Laptopmodem mit seinem Handy und holte sich einen Nachrichtendienst auf seinen Bildschirm. Er fragte die Artikel ab, die Eric Miller in den vergangenen zwei Jahren geschrieben hatte, und war 317
erstaunt festzustellen, dass er sich mit dem Wiederaufbau und der Erneuerung Babylons beschäftigt hatte. Der Titel eines Artikels lautete »Neu-Babylon, Stonagals neuester Traum«. Eine schnelle Durchsicht informierte ihn darüber, dass die Finanzierung von Stonagals Banken in der ganzen Welt übernommen worden war. Und natürlich wurde Stonagal ein Zitat zugeschrieben: »Das ist nur Zufall. Ich habe keine Ahnung von den Finanzierungen, die die verschiedenen Institute vornehmen.« Buck wusste, dass Nicolai Carpathia im Grunde nichts mit Mwangati Ngumo, Israel oder sogar dem neuen Sicherheitsrat zu tun hatte. Was Carpathia mit Jonathan Stonagal tun würde, wenn er erst einmal Generalsekretär der Vereinten Nationen war, das würde Buck zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt war. Denn wenn die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen mit Nicolais Bedingungen einverstanden waren, würde er über Nacht zum mächtigsten Führer der Welt werden. Er würde seine Wünsche militärisch durchsetzen können, falls alle Mitgliedsstaaten abgerüstet und der UNO ihre Waffen zur Verfügung gestellt hätten. Die Welt musste verzweifelt nach einem Führer suchen, dem sie vorbehaltlos vertraute, wenn sie einer solchen Vereinbarung zustimmte. Und der einzige Führer, der sich dieses Vertrauens würdig erweisen würde, dürfte einen solchen mörderischen Ränkeschmied wie Jonathan Stonagal nicht dulden.
20 Rayford und Chloe Steele warteten bis halb zwei, dann beschlossen sie, in ihr Hotel zu gehen. Auf dem Weg nach draußen blieb Rayford bei der Information stehen, um eine Nachricht für Hattie zu hinterlassen, falls sie doch noch kom318
men sollte. »Gerade haben wir noch eine andere Nachricht für sie bekommen«, sagte das Mädchen am Schalter. »Die Sekretärin eines Cameron Williams sagte, Mr Williams würde sie hier treffen, wenn sie ihn anrufen würde, sobald sie hier sei.« »Wann ist diese Nachricht gekommen?«, fragte Rayford. »Kurz nach eins.« »Vielleicht warten wir dann doch noch ein paar Minuten.« Rayford und Chloe saßen neben der Eingangstür, als Hattie hereingeeilt kam. Rayford lächelte sie an, und sofort verlangsamte sie ihren Schritt und tat so, als würde sie ihnen nur zufällig begegnen. »Oh, hallo«, sagte sie, zeigte ihren Ausweis und nahm die Nachricht entgegen. Rayford ließ sie gewähren. Er hatte es verdient. »Ich hätte eigentlich gar nicht kommen sollen«, sagte sie, nachdem sie Chloe vorgestellt worden war. »Und nun muss ich sofort diesen Anruf erledigen. Die Nachricht ist von dem Journalisten, von dem ich Ihnen erzählt habe. Er hat mich heute Morgen Nicolai Carpathia vorgestellt.« »Was Sie nicht sagen.« Hattie nickte lächelnd. »Und Mr Carpathia gab mir seine Karte. Wussten Sie, dass er von ›People‹ zum erotischsten Mann des Jahres gewählt worden ist?« »Das hatte ich gehört, ja. Ich bin beeindruckt. Das ist ein Vormittag für Sie, nicht? Und wie ist Mr Williams?« »Sehr nett, aber sehr beschäftigt. Ich rufe ihn jetzt besser zurück. Entschuldigen Sie mich.« Buck fuhr gerade im Aufzug des Flughafengebäudes, als sein Telefon klingelte. »Hallo«, sagte Hattie. »Es tut mir so Leid, Miss Durham.« »Oh, bitte«, erwiderte sie. »Jeder, der mich mitten in Manhattan in einem teuren Taxi warten lässt, darf mich beim Vornamen nennen. Ich bestehe darauf.« »Und ich bestehe darauf, dieses Taxi zu bezahlen.« »Ich mache doch nur Spaß, Buck. Ich treffe mich gleich mit 319
diesem Flugkapitän und seiner Tochter, also fühlen Sie sich nicht verpflichtet, herzukommen.« »Eigentlich bin ich schon da«, sagte er. »Oh.« »Aber das ist schon in Ordnung. Ich habe viel zu tun. Es war schön, Sie einmal wieder zu sehen, und das nächste Mal, wenn Sie in New York sind …« »Buck, Sie brauchen sich nicht verpflichtet zu fühlen, mich zu unterhalten.« »Das tue ich nicht.« »Natürlich tun Sie das. Sie sind ein netter Junge, aber es ist doch offensichtlich, dass wir nicht auf einer Wellenlänge liegen. Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit gewidmet haben, und vor allem, dass Sie mich Mr Carpathia vorgestellt haben.« »Hattie, Sie könnten mir einen Gefallen tun. Wäre es wohl möglich, mich diesem Flugkapitän vorzustellen? Ich würde ihn gern interviewen. Bleibt er über Nacht?« »Ich werde ihn fragen. Sie sollten übrigens seine Tochter kennen lernen. Ein süßes Persönchen.« »Vielleicht interviewe ich sie auch.« »Ja, eine gute Idee.« »Bitte fragen Sie ihn, Hattie.« Rayford fragte sich, ob Hattie wohl an diesem Abend mit Buck Williams ausgehen wollte. Das Richtige wäre, sie zum Abendessen in sein und Chloes Hotel einzuladen. Sie winkte ihn zu sich herüber. »Rayford, Buck Williams würde Sie gern kennen lernen. Er schreibt einen Artikel und möchte Sie gern interviewen.« »Mich? Wirklich?«, fragte er. »Worüber denn?« »Ich weiß es nicht. Ich habe nicht gefragt. Vermutlich über das Fliegen oder das Massenverschwinden. Sie waren doch in der Luft, als es passierte.« »Sagen Sie ihm, dass ich mich gerne mit ihm unterhalten 320
werde. Bitten Sie ihn doch, uns dreien heute Abend beim Abendessen Gesellschaft zu leisten, falls Sie Zeit haben.« Hattie starrte Rayford an, als sei sie überlistet worden. »Kommen Sie schon, Hattie. Wir beide werden heute Nachmittag miteinander reden, dann können wir uns alle um sechs im Carlisle treffen.« Sie wendete sich wieder dem Telefon zu. »Wo sind Sie jetzt?« Und nach einer kurzen Pause: »Das kann nicht sein!« Hattie blickte um die Ecke, lachte und winkte. Sie legte die Hand über die Muschel und wendete sich an Rayford. »Das ist er, dort hinten, mit dem Handy.« »Dann legen Sie doch auf, damit Sie uns vorstellen können«, schlug Rayford vor. Hattie und Buck legten auf, und Buck steckte gerade das Telefon in die Tasche, als er den Club betrat. »Er gehört zu uns«, erklärte Rayford der Frau am Empfang. Er schüttelte Buck die Hand. »Sie sind also der Journalist des Global Weekly, der in meinem Flugzeug saß.« »Ganz genau«, erwiderte Buck. »Zu welchem Thema wollen Sie mich denn interviewen?« »Ich würde gern Ihre Ansicht zu dem Massenverschwinden hören. Ich schreibe gerade an einem Artikel über die Theorien zu dem, was passiert ist, und es wäre schön, die Sichtweise von jemandem zu hören, der die Geschehnisse hautnah miterlebt hat.« Welch eine Gelegenheit!, dachte Rayford. »Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung«, antwortete er. »Wie wäre es, wenn Sie mit uns zusammen zu Abend essen würden?« »Prima«, entgegnete Buck. »Und das ist Ihre Tochter?« Buck war sprachlos. Er war fasziniert von Chloes Namen, ihren Augen, ihrem Lächeln. Sie blickte ihn direkt an und gab ihm einen festen Händedruck. Das gefiel ihm bei einer Frau. So viele Frauen waren der Ansicht, ein schlaffer Händedruck sei 321
weiblich. Was für ein schönes Mädchen!, dachte er. Er war versucht, Kapitän Steele zu erzählen, dass er von morgen an nicht mehr nur Journalist, sondern Chefredakteur sein würde. Aber er befürchtete, das würde zu angeberisch klingen, darum schwieg er. »Sehen Sie«, sagte Hattie, »der Captain und ich brauchen ein paar Minuten. Wie wäre es, wenn Sie sich miteinander bekannt machten, und wir treffen uns später wieder? Haben Sie Zeit, Buck?« Jetzt habe ich Zeit, dachte er. »Sicher«, sagte er und blickte Chloe und ihren Vater an. »Ist es Ihnen beiden recht?« Der Captain schien zu zögern, doch seine Tochter blickte ihn erwartungsvoll an. Ganz offensichtlich war sie alt genug, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, doch andererseits wollte sie ihren Vater auch nicht in Verlegenheit bringen. »Das ist in Ordnung«, sagte Captain Steele zögernd. »Wir bleiben hier.« »Ich werde eben meine Tasche verstauen, dann können wir einen kleinen Gang durch das Flughafengebäude machen«, sagte Buck. »Falls Sie Lust haben, Chloe.« Sie lächelte und nickte. Es war schon lange her, seit Buck sich das letzte Mal in Gegenwart eines Mädchens verlegen gefühlt hatte. Während er und Chloe herumschlenderten und sich unterhielten, wusste er nicht, wohin er blicken und was er mit seinen Händen machen sollte. Ist es besser, sie in den Hosentaschen zu lassen oder sie herauszunehmen? Würde sie sich lieber hinsetzen oder Schaufenster ansehen? Er fragte sie nach sich und welches College sie besuchte, wo ihre Interessen lagen. Sie erzählte ihm von ihrer Mutter und ihrem Bruder, und er empfand Mitgefühl für sie. Buck war beeindruckt von ihrer offensichtlichen Klugheit, Redegewandtheit und Reife. Das war ein Mädchen, für das er sich interessieren konnte, doch sie war bestimmt zehn Jahre jünger als er. 322
Sie interessierte sich für sein Leben und seinen Beruf. Er beantwortete ihre Fragen, erzählte aber sonst wenig. Nur als sie fragte, ob auch er jemanden verloren habe, berichtete er ihr von seiner Familie in Tucson und seinen Freunden in England. Natürlich behielt er die Verbindung zu Stonagal und ToddCothran für sich. Chloe ertappte ihn dabei, wie er sie anstarrte, und schnell wendete er den Buck ab. Als er sie wieder ansah, ruhte ihr Buck immer noch auf ihm. Sie lächelten sich schüchtern an. Das ist wirklich verrückt, dachte er. Zu gern hätte er gewusst, ob sie einen Freund hatte. Ihre Fragen waren typisch für einen jungen Menschen, der einen langjährig Berufstätigen nach seiner Arbeit fragt. Sie beneidete ihn um seine Reisen und seine Erfahrung. Er spielte es herunter und versicherte ihr, dass sie ein solches Leben bald leid sein würde. »Waren Sie je verheiratet?«, fragte sie. Er war froh, dass sie gefragt hatte und erzählte ihr nur zu gern, dass er nie verheiratet und auch nie ernsthaft verliebt gewesen sei, dass er eine Verlobung in Betracht gezogen hätte. »Und wie steht’s mit Ihnen?«, fragte er. Diese Frage konnte er nun getrost stellen. »Wie viel Mal sind Sie verheiratet gewesen?« Sie lachte. »Ich hatte bisher nur eine feste Beziehung. Als ich gerade mit dem Studium begonnen hatte. Er war schon ein höheres Semester. Ich hielt es für Liebe, doch nachdem er Examen gemacht hatte, habe ich nichts mehr von ihm gehört.« »Einfach nichts mehr?« »Er machte eine Reise nach Übersee, schickte mir ein billiges Souvenir, und das war’s. Jetzt ist er verheiratet.« »Sein Pech.« »Vielen Dank.« Buck wurde nun mutiger. »War er eigentlich blind?« Sie reagierte nicht. Buck gab sich innerlich einen Ruck und ver323
suchte, sich zu fassen. »Ich meine, einige Leute wissen nicht, was sie haben.« Sie schwieg noch immer, und er fühlte sich wie ein Idiot. Wie kann ich in einigen Dingen so erfolgreich sein und ein solcher Holzklotz bei anderen?, fragte er sich. Sie blieb vor einer Konditorei stehen. »Kaufen Sie mir ein Teilchen, und ich lasse diesen knurrenden Magen eines natürlichen Todes sterben.« »An Altersschwäche, meinen Sie«, sagte er. »Das ist wirklich lustig.« Rayford war genauso ehrlich und offen zu Hattie wie immer. Sie saßen sich in einer Ecke des großen, lauten Raumes, wo keiner sie hören konnte, in gemütlichen Sesseln gegenüber. »Hattie«, sagte er, »ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu streiten. Es gibt Dinge, die ich Ihnen sagen möchte, und ich möchte, dass Sie mir einfach zuhören.« »Und ich soll gar nichts sagen können? Denn auch ich möchte Ihnen einiges klar machen.« »Natürlich können Sie mir alles sagen, doch dieser erste Teil, mein Teil, sollte kein Dialog sein. Ich muss mir einiges von der Seele reden, und es wäre mir lieb, wenn Sie sich erst alles anhören würden, bevor Sie reagieren. Ist das okay?« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe wohl keine andere Wahl.« »Doch, Sie hatten die Wahl, Hattie. Sie hätten nicht zu kommen brauchen.« »Eigentlich wollte ich auch gar nicht kommen. Das habe ich Ihnen auch gesagt, doch dann haben Sie mir diese Nachricht hinterlassen und mich gebeten, Sie hier zu treffen.« Rayford war frustriert. »Das ist genau das, was ich vermeiden wollte«, sagte er. »Wie kann ich mich entschuldigen, wenn Sie sich nur darüber streiten wollen, warum Sie hier sind?« »Sie wollen sich entschuldigen, Rayford? Dem würde ich nie im Wege stehen.« 324
Sie war sarkastisch, doch wenigstens hatte er nun ihre Aufmerksamkeit. »Ja, das möchte ich. Werden Sie mir jetzt zuhören?« Sie nickte. »Denn ich möchte das hinter mich bringen, die Dinge klarstellen und alle Schuld auf mich nehmen. Danach möchte ich gern mit Ihnen über das sprechen, was ich Ihnen am Telefon bereits angedeutet habe.« »Über das, was Sie im Zusammenhang mit dem Massenverschwinden herausgefunden haben?« Er hob die Hand. »Greifen Sie mir nicht vor.« »Es tut mir Leid«, sagte sie und legte ihre Hand auf den Mund. »Aber warum kann ich nicht einfach zuhören, wenn Sie heute Abend Bucks Fragen beantworten?« Rayford verdrehte die Augen. »Das war ja nur ein Vorschlag, damit Sie sich nicht zu wiederholen brauchen.« »Vielen Dank, aber ich werde Ihnen sagen, warum. Das ist so wichtig und so persönlich, dass ich gern allein mit Ihnen darüber sprechen möchte. Und ich habe auch nichts dagegen, es immer und immer wieder zu erzählen, und wenn meine Annahme richtig ist, werden Sie auch nichts dagegen haben, es immer und immer wieder zu hören.« Hattie zog die Augenbrauen in die Höhe, als sei sie erstaunt, doch sie sagte nur: »Jetzt sind Sie dran, ich werde Sie nicht mehr unterbrechen.« Rayford beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf die Knie auf. »Hattie, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, und ich hoffe sehr, dass Sie mir verzeihen. Wir waren Freunde. Wir haben die Gesellschaft des anderen genossen. Ich war gern mit Ihnen zusammen, und ich fand Sie sehr attraktiv und aufregend, und ich glaube, Sie wissen, dass ich an einer Beziehung zu Ihnen interessiert war.« Sie wirkte überrascht, doch Rayford nahm an, dass sie, wenn er sie nicht gebeten hätte, ihn ausreden zu lassen, ihm vermutlich gesagt hätte, dass er eine sehr seltsame Art habe, sein Interesse zu bekunden. Er fuhr fort. 325
»Der einzige Grund, warum ich mich nicht stärker engagiert habe, war, dass ich keine Erfahrung in so etwas habe. Aber es war nur eine Frage der Zeit. Wenn Sie bereit gewesen wären, hätte ich schließlich etwas Falsches getan.« Sie runzelte die Stirn und blickte ihn beleidigt an. »Ja«, sagte er, »es wäre falsch gewesen. Ich war verheiratet, nicht glücklich und auch nicht erfolgreich, aber das lag an mir. Trotzdem, ich hatte ein Versprechen gegeben, war eine Verpflichtung eingegangen, und egal, wie sehr ich vor mir auch mein Interesse an Ihnen rechtfertigte, es war ein Unrecht.« Er sah ihr an, dass sie mit ihm nicht übereinstimmte. »Trotzdem habe ich weitergemacht. Ich war nicht vollkommen ehrlich. Doch jetzt muss ich Ihnen sagen, wie dankbar ich bin, dass ich nichts unternommen habe. Auch für Sie wäre es nicht recht gewesen. Ich weiß, ich bin nicht Ihr Richter, und Ihre moralische Einstellung ist Ihre Angelegenheit. Aber es hätte für uns keine Zukunft gegeben. Es ist nicht nur unser großer Altersunterschied, sondern die Tatsache, dass ich eigentlich nur körperliches Interesse an Ihnen hatte. Sie haben das Recht, mich dafür zu hassen, und ich bin auch durchaus nicht stolz darauf. Ich habe Sie nicht geliebt. Sie müssen zugeben, dass das kein Leben für Sie gewesen wäre.« Sie nickte. Ihr Gesicht verfinsterte sich. Er lächelte. »Sie dürfen jetzt Ihr Schweigen brechen«, sagte er. »Ich muss wissen, dass Sie mir wenigstens vergeben.« »Manchmal frage ich mich, ob Ehrlichkeit wirklich immer der beste Weg ist«, sagte sie. »Vielleicht hätte ich das akzeptieren können, wenn Sie gesagt hätten, dass das Verschwinden Ihrer Frau Ihnen Schuldgefühle über unser Verhältnis zueinander verursacht hätte. Ich weiß, dass zwischen uns eigentlich nichts gelaufen ist, doch das wäre ein netterer Weg gewesen, es auszudrücken.« »Netter, aber unehrlich, Hattie. Und ich habe aufgehört, un326
ehrlich zu sein. Zu gern würde ich netter zu Ihnen sein und mich so verhalten, dass Sie sich nicht über mich ärgern, doch ich kann einfach kein Heuchler mehr sein. Seit Jahren schon war ich nicht mehr ehrlich.« »Und jetzt sind Sie es?« »Bis zu dem Punkt, an dem es Ihnen nicht mehr gefällt«, sagte er. Wieder nickte sie. »Warum sollte ich das tun wollen? Jeder mag es, wenn er ankommt. Ich hätte die Schuld dafür auch meiner Frau oder sonst wem geben können. Doch ich möchte in der Lage sein, in den Spiegel sehen zu können. Ich möchte in der Lage sein, Sie zu überzeugen, dass ich keine Hintergedanken habe, wenn ich über noch wichtigere Dinge spreche.« Hatties Lippen bebten. Sie presste sie zusammen und senkte den Buck. Eine Träne rollte ihr die Wange hinunter. Rayford musste sich zurückhalten, dass er sie nicht in den Arm nahm. Er durfte ihr keine falschen Hoffnungen machen. »Hattie«, sagte er. »Es tut mir so Leid, vergeben Sie mir.« Sie nickte. Sie versuchte, etwas herauszubringen, doch sie konnte die Fassung nicht wiedergewinnen. »Und nach all dem, was ich Ihnen gesagt habe«, fuhr Rayford fort, »muss ich Sie irgendwie davon überzeugen, dass ich Sie als Freundin und als Mensch mag.« Hattie barg ihr Gesicht in den Händen und bemühte sich, nicht zu weinen. Sie schüttelte den Kopf, als sei sie noch nicht bereit dazu. »Nicht«, brachte sie mühsam heraus. »Nicht jetzt.« »Hattie, ich muss.« »Bitte, geben Sie mir eine Minute Zeit.« »Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen, aber rennen Sie jetzt nicht vor mir davon«, sagte er. »Ich wäre kein Freund, wenn ich Ihnen nicht sagen würde, was ich herausgefunden habe, was ich mit jedem Tag neu hinzulerne.« Hattie weinte still vor sich hin. »Ich wollte es nicht«, sagte sie. 327
»Diese Genugtuung wollte ich Ihnen nicht geben.« Rayford sprach, so sanft er konnte. »Das trifft mich jetzt«, sagte er. »Sie müssten doch eigentlich gespürt haben, dass Ihre Tränen mir keine Genugtuung sind. Jede Einzelne ist ein Messerstich in meine Brust. Ich bin dafür verantwortlich. Ich habe Unrecht getan.« »Ich komme gleich zurück«, sagte sie und eilte davon. Rayford holte Irenes Bibel hervor und suchte schnell einige Passagen heraus. Er hatte beschlossen, nicht mit geöffneter Bibel mit Hattie zu sprechen. Er wollte sie nicht einschüchtern oder in Verlegenheit bringen, trotz seines neu gefundenen Mutes und seiner neuen Entschlossenheit. »Sie werden die Theorie meines Vaters in Bezug auf das Massenverschwinden sehr interessant finden«, sagte Chloe. »Tatsächlich?«, meinte Buck. Sie nickte, und er bemerkte, dass sie noch einen Klecks Schokolade am Mundwinkel hatte. »Darf ich?«, fragte er und streckte seine Hand aus. Sie hob ihr Kinn, und er entfernte mit seinem Daumen die Schokolade. Aber was sollte er jetzt damit machen? Sie an seinem Taschentuch abwischen? Impulsiv leckte er seinen Daumen ab. »Du meine Güte!«, rief sie. »Wie schrecklich! Wenn ich nun die Krätze oder etwas anderes habe?« »Dann haben wir es jetzt beide«, sagte er, und sie lachten. Buck bemerkte, dass er errötete, was schon seit Jahren nicht mehr passiert war. Er wechselte das Thema. »Sie sagen, die Theorie Ihres Vaters, als sei es nicht auch die Ihre. Stimmen Sie beide in diesem Punkt nicht überein?« »Er denkt es, weil ich ihm widerspreche und allerlei Gegenargumente bringe. Ich will mich einfach nicht so leicht überzeugen lassen, doch wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass unsere Meinungen gar nicht so weit auseinander gehen. Sehen Sie, er glaubt, dass …« Buck hob die Hand. »Oh, es tut mir Leid, sagen Sie es mir 328
nicht. Ich möchte es von ihm hören und auf Band mitschneiden.« »Oh. Entschuldigen Sie.« »Nein, das ist schon in Ordnung. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen, aber das ist nun mal meine Art zu arbeiten. Ich würde auch gern Ihre Theorie hören. Wir werden einige College-Kids befragen, aber es ist unwahrscheinlich, dass wir zwei Angehörige einer Familie zu Wort kommen lassen. Natürlich haben Sie mir gerade gesagt, dass Sie mit Ihrem Vater nicht übereinstimmen, darum warte ich besser und höre Sie beide gleichzeitig.« Sie war schweigsam geworden und sah sehr ernst aus. »Es tut mir Leid, Chloe, ich wollte damit nicht sagen, dass ich mich nicht auch für Ihre Theorie interessiere.« »Das ist es nicht«, sagte sie. »Aber Sie haben mich gerade in eine Schublade gesteckt.« »Sie in eine Schublade gesteckt?« »Sie haben mich ein College-Kid genannt.« »Oh, hab ich das wirklich? Mein Fehler. Ich weiß es besser. Studenten sind keine Kinder. Ich sehe Sie nicht als Kind, obwohl Sie sehr viel jünger sind als ich.« »Wie alt sind Sie denn, Buck?« »Dreißigeinhalb, gehe mit Riesenschritten auf die einunddreißig zu«, sagte er augenzwinkernd. »Ich sagte, wie alt sind Sie?«, rief sie, als würde sie mit einem tauben alten Mann sprechen. Buck brach in schallendes Gelächter aus. »Ich würde Ihnen noch ein weiteres Teilchen kaufen, kleines Mädchen, aber ich möchte Ihnen nicht den Appetit verderben.« »Das lassen Sie besser. Mein Vater liebt gutes Essen, und er bezahlt heute Abend. Heben Sie sich noch Hunger auf.« »Das werde ich, Chloe.« »Darf ich Ihnen etwas sagen, ohne dass Sie mich für komisch halten?«, fragte sie. »Zu spät«, erwiderte er. 329
Sie runzelte die Stirn und boxte ihn in die Seite. »Ich wollte gerade sagen, dass mir gefällt, wie Sie meinen Namen aussprechen.« »Ich wusste gar nicht, dass man ihn auch anders aussprechen kann«, erwiderte er. »Oh ja, das kann man. Sogar meine Freunde sprechen ihn meist mit nur einer Silbe aus, so wie Cloy.« »Chloe«, wiederholte er. »Ja«, sagte sie. »Genau so. Langes o und langes e.« »Mir gefällt Ihr Name.« Er verfiel in den Tonfall eines alten Mannes. »Das ist der Name eines jungen Menschen. Wie alt sind Sie, Kid?« »Zwanzigeinhalb, ich gehe mit Riesenschritten auf die einundzwanzig zu.« »Ach du meine Güte«, sagte er mit gespieltem Entsetzen, »ich verkehre mit einer Minderjährigen!« Während sie zum Pan-Con Club zurückgingen, meinte Chloe: »Wenn Sie versprechen, meine Jugend nicht so hervorzuheben, verspreche ich Ihnen, Ihr Alter außer Acht zu lassen.« »Abgemacht«, sagte er, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Sie wirken übrigens sehr viel älter.« »Ich werte das als Kompliment«, sagte sie und lächelte unsicher, als wüsste sie nicht so genau, ob er es ernst meinte. »Tun Sie das«, erwiderte er. »Nur wenige Leute Ihres Alters sind so belesen und wortgewandt wie Sie.« »Das war jetzt aber wirklich ein Kompliment«, sagte sie. »Sie haben eine schnelle Auffassungsgabe.« »Haben Sie wirklich Nicolai Carpathia interviewt?« Er nickte. »Wir sind beinahe Freunde.« »Kein Witz?« »Nun, nicht ganz. Aber wir verstehen uns sehr gut.« »Erzählen Sie mir von ihm.« Buck begann.
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Als Hattie zurückkehrte, hatte sie sich leidlich gefasst, wenn auch ihre Augen immer noch gerötet waren. Sie setzte sich, als warte sie auf weitere Bestrafung. Rayford wiederholte, dass es ihm ernst sei mit seiner Entschuldigung, und sie sagte: »Lassen wir das jetzt, ja?« »Ich muss wissen, dass Sie mir verzeihen«, beharrte er. »Sie scheinen sich ziemlich daran festgebissen zu haben, Rayford. Würde das Ihr Gewissen erleichtern?« »Vermutlich schon«, erwiderte er. »Vor allem würde es mir zeigen, dass Sie mir glauben.« »Ich glaube Ihnen«, sagte sie. »Aber deswegen wird es nicht angenehmer oder leichter zu ertragen, doch wenn Sie sich besser fühlen, ich glaube, dass Sie es erast meinen. Und ich nehme es Ihnen auch nicht mehr übel. Vermutlich ist das verzeihen.« »Ich nehme, was ich bekommen kann«, meinte er. »Und jetzt möchte ich sehr ehrlich zu Ihnen sein.« »Oh weia, es kommt noch mehr? Oder wollen Sie mir jetzt erzählen, was letzte Woche passiert ist?« »Ja, darum geht es, doch ich muss Ihnen sagen, dass Chloe mir davon abgeraten hat, das jetzt anzusprechen.« »In derselben Unterhaltung, meinen Sie?« »Richtig.« »Kluges Mädchen«, sagte sie. »Wir verstehen uns bestimmt sehr gut.« »Vielleicht, weil Sie altersmäßig gar nicht so weit auseinander liegen.« »Falsch, Rayford. Wenn Sie mir jetzt auf die ›Ich-könnteIhre-Tochter-Tour‹ kommen wollen, hätten Sie früher damit anfangen müssen.« »Dann hätte ich Sie ja bereits mit fünfzehn zeugen müssen«, bemerkte Rayford. »Nein, Chloe ist davon überzeugt, dass Sie jetzt bestimmt nicht in der Stimmung dafür seien.« »Warum? Erfordert das eine Reaktion von mir? Muss ich 331
Ihnen Ihre Idee abkaufen oder so etwas?« »Das hoffe ich, aber nein. Wenn Sie das im Augenblick nicht vertragen können, dann verstehe ich das natürlich. Aber ich glaube, Sie verstehen die Dringlichkeit.« Rayford hatte das Gefühl, dass er genauso klang wie Bruce Barnes an dem Tag, an dem sie sich kennen gelernt hatten. Er sprach leidenschaftlich und mit Überzeugungskraft, und er hatte das Gefühl, dass sein Gebet um Mut und Verständlichkeit, während er redete, erhört wurde. Er erzählte Hattie von seiner Erfahrung mit Gott, dass er in einer Familie aufgewachsen war, die immer zur Kirche ging und dass er und Irene verschiedene Gemeinden aufgesucht hatten. Er erzählte ihr sogar, Irenes Interesse für die endzeitlichen Ereignisse sei zum Teil mit dafür verantwortlich gewesen, dass er sich so intensiv gedanklich mit ihr beschäftigt habe. Rayford sah Hattie an, damit sie wusste, worauf er hinauswollte, dass er nun mit Irene übereinstimmte und jetzt alles glaubte, was sie gesagt hatte. Während er Hattie erzählte, er hatte bereits gewusst, was er zu Hause vorfinden würde, als er an dem Morgen, nachdem sie in O’Hare gelandet waren, nach Hause fuhr, saß Hattie regungslos da und hörte ihm zu. Er erzählte ihr, wie er in der Gemeinde angerufen und Bruce kennen gelernt hatte. Er erzählte ihr Bruces Geschichte, von dem Video und ihrem gemeinsamen Studium, den Prophezeiungen der Bibel, von den Predigern in Israel und dass sie ganz klar die beiden Zeugen aus der Offenbarung seien. Rayford erzählte ihr, dass er das Gebet des Pastors mitgesprochen habe und dass er sich nun für Chloe verantwortlich fühle, damit auch sie Gott finden möge. Hattie starrte ihn an. Ihre Körpersprache und auch ihr Gesichtsausdruck ermutigten ihn absolut nicht, fortzufahren, doch er ignorierte das. Er bat sie nicht, mit ihm zu beten. Er sagte ihr nur, dass er sich nicht länger für das entschuldigen würde, was er glaubte. »Wenigstens können Sie sehen, dass ein Mensch, wenn er 332
das alles wirklich annimmt, anderen davon erzählen muss. Er wäre kein Freund, wenn er es nicht täte.« Hattie gab ihm nicht einmal die Genugtuung eines Nickens. Nach etwa einer halben Stunde schloss er mit den Worten: »Hattie, ich möchte, dass Sie darüber nachdenken, sich die Kassette ansehen und mit Bruce sprechen, falls Sie das möchten. Ich kann Sie nicht zum Glauben bewegen. Ich kann Ihnen nur das klar machen, was ich als die Wahrheit erkannt habe. Sie liegen mir am Herzen, und ich möchte nicht, dass Sie ausgeschlossen werden, nur weil Ihnen niemand das gesagt hat.« Hattie lehnte sich zurück und seufzte. »Das ist sehr nett von Ihnen, Rayford. Wirklich. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir das alles gesagt haben. Für mich ist das noch sehr fremd und ungewohnt, weil ich nicht wusste, dass so etwas in der Bibel steht. Als ich noch klein war, bin ich mit meiner Familie zur Kirche gegangen, vor allem an Feiertagen oder wenn wir eingeladen waren, doch so etwas habe ich noch nie gehört. Ich werde darüber nachdenken. Irgendwie muss ich das. Wenn man so etwas erst einmal gehört hat, ist es schwer, das wieder zu verdrängen. Wollen Sie das auch Buck Williams beim Abendessen erzählen?« »Wort für Wort.« Sie lachte leise. »Bin gespannt, ob davon etwas in seinem Artikel erscheint.« »Vermutlich neben der Theorie von den Außerirdischen, Gasreaktionen und Todesstrahlen«, meinte Rayford.
21 Als Buck und Chloe zu Hattie und Rayford zurückkamen, war offensichtlich, dass Hattie geweint hatte. Buck stand ihr nicht so nahe, dass er hätte fragen können, was los war, und sie sagte von sich aus auch nichts. 333
Buck war froh über die Gelegenheit, Rayford Steele interviewen zu können, doch er tat dies mit gemischten Gefühlen. Die Meinung des Flugkapitäns des Flugzeugs, in dem er Passagier gewesen war, als die vielen Menschen verschwanden, würde seiner Geschichte die nötige Würze verleihen. Aber noch mehr wünschte er sich, mehr Zeit mit Chloe zu verbringen. Buck würde schnell zum Büro fahren, dann nach Hause, um sich umzuziehen und sich dann später mit den anderen im Carlisle treffen. Im Büro nahm er einen Anruf von Stanton Bailey entgegen, der ihn fragte, wann er nach Chicago fliegen und einen Ersatz für Lucinda Washington suchen würde. »Bald, doch ich möchte die Entwicklungen bei der UNO nicht verpassen.« »Von Plank wissen Sie doch bereits alles, was sich morgen früh dort ereignen wird«, entgegnete Bailey. »Soweit ich höre, ist bereits alles eingefädelt. Morgen früh tritt Plank seinen neuen Posten an. Er wird Carpathias Interesse an der Position leugnen, wiederholen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssten, und wir alle werden warten und sehen, ob jemand anbeißt. Ich glaube nicht, dass sie es schlucken.« »Ich wünschte, sie würden«, sagte Buck, der immer noch hoffte, er könnte Carpathia trauen und es kaum erwarten konnte zu sehen, was dieser Mann mit Stonagal und ToddCothran tun würde. »Ich auch«, meinte Bailey, »aber wo führt das hin? Er ist der richtige Mann für diese Zeiten, doch seine weltweite Abrüstung und seine Pläne für die Neuorganisation der UNO sind zu ehrgeizig. Das wird er nie durchdrücken können.« »Ich weiß, aber wenn Sie entscheiden könnten, würden Sie nicht zustimmen?« »Doch«, seufzte Bailey. »Vermutlich würde ich das. Ich habe den Krieg und die Gewalt so satt. Vermutlich würde ich sogar zustimmen, die UNO nach Neu-Babylon zu verlegen.« »Vielleicht sind die UN-Delegierten klug genug zu erkennen, 334
dass die Welt bereit ist für Carpathia«, sagte Buck. »Wäre das nicht zu schön, um wahr zu sein?«, fragte Bailey. »Aber ich würde dafür meine Hand nicht ins Feuer legen.« Buck sagte, er würde am Morgen nach Chicago fliegen und am Sonntagabend nach New York zurückkehren. »Ich werde das Terrain sondieren, sehen, wer in Chicago für den Posten geeignet ist und dann entscheiden, ob wir uns jemanden von außen holen müssen.« »Mir wäre eine Besetzung des Postens von innen lieber«, sagte Bailey. »Doch diese Entscheidung bleibt natürlich Ihnen überlassen.« Buck telefonierte mit der Pan-Con Airlines. Er wusste, dass Rayford Steeles Maschine morgens um acht Uhr startete. Er sagte der Angestellten, die seine Buchung entgegennahm, seine Reisegefährtin sei Chloe Steele. »Ja«, erwiderte sie, »Miss Steele fliegt erster Klasse. Neben ihr ist noch ein Platz frei. Werden Sie ebenfalls Gast der Crew sein?« »Nein.« Er buchte einen Platz zweiter Klasse und stellte ihn der Redaktion in Rechnung. Dann buchte er den Platz neben Chloe erster Klasse nach. Er würde seine Reise nach Chicago noch für sich behalten. Es war schon Jahre her, seit Buck das letzte Mal eine Krawatte getragen hatte, aber immerhin würden sie im Speisesaal des Carlisle Hotel das Abendessen einnehmen. Ohne Krawatte konnte er dort nicht auftauchen. Glücklicherweise würden sie an einen Tisch in einer kleinen Nische geführt, wo er seine Tasche gut verstauen konnte. Seine Tischgefährten nahmen an, er habe nur seine Ausrüstung dabei. Sie konnten nicht wissen, dass die Tasche auch seine Wäsche zum Chloe Wechseln war eine enthielt. strahlende Erscheinung und wirkte in ihrem klassischen Abendkleid gleich fünf Jahre älter. Sie und Hattie hatten offensichtlich den Nachmittag in einem Schönheitssalon verbracht. 335
Rayford fand, dass seine Tochter an diesem Abend atemberaubend aussah, und er fragte sich, was dieser Journalist wohl von ihr hielt. Natürlich war dieser Williams zu alt für sie. Rayford hatte seine freie Zeit vor dem Abendessen zu einem Mittagsschläfchen genutzt, und danach hatte er gebetet, dass er denselben Mut aufbringen würde wie bei Hattie. Er hatte keine Ahnung, was sie dachte, außer dass er »süß« war, weil er ihr alles gesagt hatte. Er war nicht sicher, ob das sarkastisch oder herablassend gemeint war. Er konnte nur hoffen, dass er zu ihr durchgedrungen war. Vielleicht war es auch gut, dass sie mit Chloe den Nachmittag allein gewesen war. Rayford hoffte, dass Chloe nicht so abweisend eingestellt war, sich mit Hattie gegen ihn zu verbünden. Im Restaurant starrte Williams Chloe an und ignorierte Hattie. Rayford erschien dies unsensibel, doch Hattie schien das nicht zu stören. Vielleicht kuppelte Hattie hinter seinem Rükken. Rayford selbst hatte nichts zu Hatties Aussehen an diesem Abend gesagt, doch das war Absicht gewesen. Sie war atemberaubend wie immer, doch er wollte nicht schon wieder auf diese Schiene abrutschen. Während des Abendessens achtete Rayford darauf, dass die Unterhaltung oberflächlich verlief. Buck sagte, er solle ihn wissen lassen, wann er bereit sei, ins Thema einzusteigen. Nach dem Dessert sprach Rayford mit dem Kellner. »Wir würden gern noch eine Stunde oder so hier bleiben, wenn Ihnen das recht ist.« »Sir, wir haben sehr viele Reservierungen …« »Es soll Ihr Schaden nicht sein«, erwiderte Rayford und drückte ihm einen großen Schein in die Hand. »Wenn es also notwendig wird, dass wir gehen, dann sagen Sie es ruhig.« Der Kellner blickte verstohlen auf die Dollarnote in seiner Hand. »Ich bin sicher, dass niemand Sie stören wird«, sagte er. Und die Wassergläser waren immer gefüllt. Rayford genoss es, Williams’ Fragen zu seiner Arbeit, seiner 336
Ausbildung, seinem Familienhintergrund und seiner Kindheit zu beantworten, doch er konnte es kaum erwarten, endlich auf seine neue Lebensmission zu sprechen zu kommen. Und schließlich wurde die entscheidende Frage gestellt. Buck versuchte, sich auf die Antworten des Flugkapitäns zu konzentrieren, doch gleichzeitig spürte er, dass er auch Chloe beeindrucken wollte. Alle im Geschäft wussten, dass er einer der besten Interviewer der Welt war. Das und seine Fähigkeit, alles Material schnell zu sichten und zu einem lesbaren und engagierten Artikel zusammenzufassen, hatten ihn zu dem gemacht, was er war. Buck mochte sein Gegenüber. Steele schien ehrlich und aufrichtig zu sein, klug und sehr wortgewandt. Ihm wurde klar, dass Chloe sehr viel von ihrem Vater hatte. »Ich bin bereit«, sagte er, »Sie jetzt nach Ihrer Theorie in Bezug auf die Vorgänge auf jenem schicksalsträchtigen Flug nach London zu fragen. Was ist Ihre Meinung dazu?« Der Captain zögerte und lächelte. »Ich habe mehr als eine Theorie«, sagte er. »Sie mögen es vielleicht für verrückt halten, dass ein so technisch orientierter Mensch wie ich so etwas ausspricht, doch ich bin davon überzeugt, die Wahrheit gefunden zu haben und genau zu wissen, was passiert ist.« Buck wusste, dass sich diese Aussage in seinem Artikel gut machen würde. »Ich mag Menschen mit festen Ansichten«, sagte er. »Sie haben jetzt die Gelegenheit, dies der Welt mitzuteilen.« Chloe wählte diesen Augenblick, um sich für einen Moment zu entschuldigen. »Ich komme mit«, sagte Hattie. Buck sah den beiden lächelnd nach. »Was war denn das?«, fragte er. »Eine Verschwörung? Sollten sie mich mit Ihnen allein lassen, oder haben sie das alles schon mal gehört?«
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Rayford war sehr frustriert, fast sogar ärgerlich. Dies war das zweite Mal in wenigen Stunden, dass Chloe zu einem wichtigen Zeitpunkt verschwand. »Ich versichere Ihnen, dass das nicht der Fall ist«, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. Er konnte jetzt nicht auf ihre Rückkehr warten. Die Frage war gestellt worden, er war bereit zu antworten, darum wagte er sich nun vor und sagte Dinge, die ihn bestimmt als Spinner abstempeln würden. Wie bei Hattie skizzierte er innerhalb von etwas mehr als einer halben Stunde das, was er für wichtig hielt. Irgendwann kamen dann auch die Damen zurück. Buck hörte diesem überaus scharfsichtigen und aufrichtigen Menschen zu, ohne ihn zu unterbrechen. Noch drei Wochen zuvor hätte er seine Theorie als völlig abwegig verworfen. Das waren Dinge, die er in der Kirche und von Freunden gehört hatte, doch dieser Bursche hier konnte seine Theorie durch Bibelverse stützen. Und diese beiden Prediger in Jerusalem sollten in der Offenbarung vorhergesagt worden sein? Buck war fasziniert. Schließlich unterbrach er ihn. »Das ist interessant«, sagte er. »Haben Sie die neusten Nachrichten gehört?« Buck erzählte ihm, was er während der kurzen Zeit in seiner Wohnung im Fernsehen gesehen hatte. »Offensichtlich pilgern Tausende zur Klagemauer. Sie stehen kilometerweit, versuchen heranzukommen und den Predigern zuzuhören. Viele bekehren sich und fangen selbst an zu predigen. Die Behörden scheinen die Leute nicht abhalten zu können, trotz des Widerstandes der orthodoxen Juden. Jeder, der sich gegen die beiden Prediger wendet, wird entweder taub oder gelähmt, und viele der alten orthodoxen Glaubenswächter schließen sich den Predigern an.« »Erstaunlich«, entgegnete Rayford. »Doch noch erstaunlicher ist, dass alles bereits in der Bibel vorhergesagt ist.« Buck bemühte sich verzweifelt, die Fassung zu bewahren. Er war nicht sicher, ob das, was er da hörte, der Wahrheit ent338
sprach, doch Steele war einfach beeindruckend. Anscheinend wollte der Mann einen Zusammenhang herstellen zwischen den biblischen Prophezeiungen und den Vorgängen in Israel, aber niemand sonst hatte eine Erklärung dafür. Was Steele Buck aus der Offenbarung vorgelesen hatte, schien eindeutig zu sein. Vielleicht war es falsch. Vielleicht war es Quatsch. Aber es war die einzige Theorie, die eine schlüssige Erklärung für die Ereignisse anbieten konnte. Warum sonst liefen Buck ständig kalte Schauer den Rücken herunter? Buck konzentrierte sich auf Captain Steele. Sein Puls raste, und er konnte weder nach rechts noch nach links blicken. Er konnte sich nicht rühren. Sicher hörten die Frauen sein lautes Herzklopfen. War das möglich? Konnte es wahr sein? Hatte er das klare Wirken Gottes bei der Zerstörung der russischen Luftwaffe miterlebt, um ihn auf einen solchen Augenblick vorzubereiten? Konnte er einfach den Kopf schütteln und damit alles abschütteln? Konnte er darüber schlafen und morgen wieder zu klarem Verstand kommen? Würde ein Gespräch mit Bailey oder Plank ihm den Kopf wieder zurechtsetzen, ihm helfen, wieder klar zu sehen? Er fühlte, es würde nicht so sein. Irgendetwas an diesem Ganzen forderte seine Aufmerksamkeit. Er wollte an etwas glauben, das alles miteinander verband und logisch machte. Aber Buck wollte auch Nicolai Carpathia glauben. Vielleicht war Buck auch nur in dieser so beängstigenden Zeit empfänglich für beeindruckende Menschen. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Aber was war denn schon normal in dieser Zeit? Wer konnte sich in einer solchen Zeit geben, wie er war? Buck wollte sich damit nicht herausreden. Er verspürte den Wunsch, Rayford Steele nach seiner Schwägerin, seiner Nichte und seinem Neffen fragen. Doch das wäre zu persönlich, das würde nicht in den Artikel passen, an dem er gerade arbeitete. Dies war keine persönliche Sache, keine Suche nach der Wahrheit. Dies war eine rein tatsachenorientierte Untersu339
chung, ein Element in einem umfassenden Artikel. Auf keinen Fall durfte Buck auch nur in Erwägung ziehen, eine ihm sympathische Theorie herauszunehmen und sie als die Position des Global Weekly darzustellen. Er musste alle Theorien darstellen, plausible wie abwegige gleichermaßen. Die Leser würden ihre eigenen Theorien in Leserbriefen mitteilen oder auf Grund der Glaubwürdigkeit der Quellen ihre Entscheidung treffen. Dieser Pilot würde sehr überzeugend wirken, falls Buck ihn nicht als Verrückten darstellte. Zum ersten Mal, seit er denken konnte, fehlten Buck Williams die Worte. Rayford war sicher, dass er nicht zu dem Mann durchdrang. Er hoffte nur, dass dieser Journalist scharfsinnig genug war zu verstehen, dass er ihn korrekt zitierte und seine Ansichten so darstellte, dass die Leser einen Einblick in die christliche Sicht der Dinge bekamen. Es war klar, dass Williams persönlich ihm das nicht abkaufte. Rayford hatte den Eindruck, er bemühe sich, ein Lächeln zu unterdrücken – oder aber er war so amüsiert oder verblüfft, dass er keine Reaktion zeigen konnte. Rayford musste sich immer wieder daran erinnern, dass es in erster Linie seine Aufgabe war, zu Chloe durchzudringen, und dann erst die Leserschaft zu erreichen, falls das, was er sagte, überhaupt gedruckt werden sollte. Falls Cameron Williams Rayford für vollkommen verrückt hielt, würde er ihn und seine absurden Ansichten vielleicht ganz unterschlagen. Buck traute seinen Reaktionen nicht. Immer noch liefen ihm kalte Schauer den Rücken hinunter, aber andererseits war ihm auch der kalte Schweiß ausgebrochen. Was passierte nur mit ihm? Flüsternd brachte er heraus: »Ich möchte Ihnen für Ihre Zeit und das Abendessen danken. Ich werde noch einmal auf Sie zukommen, bevor ich einige Ihrer Zitate verwende.« Das war natürlich Unsinn. Er hatte das nur gesagt, um einen Grund 340
zu haben, noch einmal mit dem Piloten in Verbindung treten zu können. Vielleicht hatte er noch viele persönliche Fragen hierzu, doch niemals gestattete er Leuten, die er interviewt hatte, ihre Zitate vorher zu sehen. Er vertraute seinem Kassettenrekorder und seiner Erinnerung, und noch nie war ihm vorgeworfen worden, falsch zitiert zu haben. Buck blickte Rayford an und bemerkte einen seltsamen Ausdruck auf seinem Gesicht. Er sah – ja, wie sah er aus? Enttäuscht? Ja, und resigniert. Auf einmal fiel Buck wieder ein, mit wem er es zu tun hatte. Dies war ein intelligenter, gebildeter Mann. Sicher wusste er, dass Reporter niemals bei ihrer eigenen Quelle rückfragten. Vermutlich dachte er, er sollte vertröstet werden. Ein schlimmer Fehler, Buck, rügte er sich selbst. Du hast deine eigene Quelle unterschätzt. Buck räumte seinen Kassettenrekorder fort, als er bemerkte, dass Chloe weinte. Die Tränen strömten ihre Wangen hinunter. Was war nur los mit diesen Frauen? Hattie Durham hatte am Nachmittag bei dem Gespräch mit dem Captain geweint. Und jetzt Chloe. Buck konnte sich zumindest mit Chloe identifizieren. Wenn sie geweint hatte, weil sie durch die Ernsthaftigkeit ihres Vaters bewegt war, so war das kein Wunder. Auch Buck hatte einen Kloß im Hals, und zum ersten Mal, seit er während des russischen Luftangriffs auf Israel vor Furcht mit dem Gesicht auf dem Boden gelegen hatte, wünschte er, er konnte sich zurückziehen, um zu weinen. »Darf ich Sie noch etwas fragen, ganz privat, was nicht aufgenommen wird?«, fragte er. »Darf ich fragen, worüber Sie und Hattie heute Nachmittag im Club gesprochen haben?« »Buck!«, empörte sich Hattie. »Das geht Sie nichts …« »Wenn Sie es nicht sagen möchten, verstehe ich das«, sagte Buck. »Ich war nur neugierig.« »Das meiste war sehr persönlich«, antwortete Rayford. 341
»Das verstehe ich.« »Aber, Hattie, ich wüsste nicht, warum wir ihm nicht erzählen sollten, dass ich Ihnen genau dasselbe gesagt habe wie ihm.« Sie zuckte die Achseln. »Immer noch ganz vertraulich«, fuhr Buck fort. »Könnten Sie mir sagen, wie Sie darauf reagiert haben?« »Warum ganz vertraulich?«, gab Hattie zurück. »Ist die Meinung eines Flugkapitäns interessanter als die einer Stewardess?« »Wenn Sie möchten, stelle ich auch den Kassettenrekorder an«, sagte Buck. »Ich wüsste nicht, ob Sie aufgenommen werden wollten.« »Ich will nicht«, erwiderte sie. »Ich wollte nur gefragt werden. Jetzt ist es zu spät.« »Und Sie wollen nicht sagen, was Sie denken …« »Nein, ich werde es Ihnen sagen. Ich glaube, dass Rayford es ernst meint. Ob er Recht hat, weiß ich nicht. Das ist alles so neu und fremd für mich. Doch ich bin davon überzeugt, dass er es glaubt. Vielleicht ist er auch nur so empfänglich dafür, weil er seine Familie verloren hat.« Buck nickte. Ihm wurde klar, dass er sehr viel näher daran war, an Rayfords Theorie zu glauben als Hattie. Er blickte zu Chloe hinüber und hoffte, sie hätte sich mittlerweile gefasst, damit er sie in das Gespräch mit einbeziehen konnte. Sie drückte jedoch immer noch ein Taschentuch an ihre Augen. »Bitte fragen Sie mich jetzt nicht«, sagte sie. Rayford war über Hatties Antwort nicht erstaunt, doch von Chloes war er tief enttäuscht. Er war davon überzeugt, dass sie ihn nicht in Verlegenheit bringen wollte, indem sie zugab, wie weit hergeholt das für sie war, was er sagte. Eigentlich hätte er dankbar sein sollen. Wenigstens nahm sie immer noch Rücksicht auf seine Gefühle. Vielleicht hätte auch er mehr Rück342
sicht auf ihre nehmen sollen, doch er hätte beschlossen, dass er sich solche Höflichkeiten nicht mehr leisten konnte. Er würde sie mit dem Glauben konfrontieren, bis sie eine Entscheidung traf. Für heute Abend jedoch hätte sie ganz offensichtlich genug gehört. Er würde nicht mehr weiter in sie dringen. Er hoffte nur, dass er schlafen konnte, trotz des Kummers über ihren Zustand. Er liebte sie so sehr. »Mr Williams«, sagte er, stand auf und streckte ihm die Hand entgegen, »es war mir ein Vergnügen. Der Pastor in Illinois, von dem ich Ihnen erzählt habe, kennt sich sehr viel besser aus und weiß mehr über den Antichristen als ich. Vielleicht sollten Sie ihn einmal anrufen, wenn Sie mehr erfahren wollen. Bruce Barnes, New Hope Village Church, Mount Prospect.« »Ich werde es mir merken«, erwiderte Buck. Rayford war davon überzeugt, dass Williams nur höflich war. Mit diesem Barnes zu sprechen war eine großartige Idee, dachte Buck. Vielleicht würde er in Chicago Zeit dazu finden. Auf diese Weise konnte er das für sich selbst verfolgen und würde nicht seine berufliche Arbeit mit seinen persönlichen Interessen vermischen. Die vier begaben sich in die Lobby. »Ich werde mich verabschieden«, sagte Hattie. »Ich bin morgen für den früheren Flug eingeteilt.« Sie bedankte sich bei Rayford für das Abendessen, flüsterte Chloe etwas zu – auf das sie aber anscheinend keine Antwort erhielt – und dankte Buck noch einmal für seine Mühe am Vormittag. »Vielleicht rufe ich Mr Carpathia in den nächsten Tagen einmal an«, sagte sie. Buck unterdrückte den Wunsch, ihr zu sagen, was er über die bevorstehenden Ereignisse wusste. Er bezweifelte, dass der Mann Zeit für sie haben würde. Chloe schien einerseits Hattie zu den Aufzügen folgen zu wollen, andererseits hatte sie noch etwas auf dem Herzen. Buck war erstaunt, als sie sagte: »Ich komme gleich nach, 343
Daddy. Ich habe noch etwas zu erledigen.« Buck fühlte sich geschmeichelt, dass Chloe zurückblieb, um sich noch persönlich von ihm zu verabschieden, doch sie war emotional immer noch sehr aufgewühlt. Ihre Stimme zitterte, als sie ihm sagte, sie hätte diesen Tag sehr genossen. Er versuchte, die Unterhaltung in die Länge zu ziehen. »Ihr Vater ist sehr beeindruckend«, sagte er. »Ich weiß«, erwiderte sie. »Vor allem in letzter Zeit.« »Ich kann verstehen, warum Sie in vielem mit ihm übereinstimmen.« »Tatsächlich?« »Sicher! Ich selbst habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Sie haben es ihm schwer gemacht, nicht?« »Früher, jetzt nicht mehr.« »Warum nicht?« »Sie sehen doch, wie viel es ihm bedeutet.« Buck nickte. Sie schien wieder kurz davor zu sein, die Fassung zu verlieren. Er ergriff ihre Hand. »Es war wundervoll, Sie kennen zu lernen«, sagte er. Sie lachte leise, als sei sie verlegen über das, was sie gerade gedacht hatte. »Was denn?«, drängte er. »Ach nichts. Es ist verrückt.« »Kommen Sie schon, was ist? Wir beide haben uns heute doch schon verrückt genug verhalten.« »Nun, es ist blöd«, sagte sie. »Ich habe Sie gerade erst kennen gelernt, und ich werde Sie schon vermissen. Wenn Sie mal nach Chicago kommen, müssen Sie anrufen.« »Versprochen«, erwiderte Buck. »Ich kann nicht sagen, wann das sein wird, doch vielleicht ist es früher, als Sie denken.«
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22 In dieser Nacht schlief Buck nicht besonders gut. Er war aufgeregt wegen der Überraschung am Morgen. Er konnte nur hoffen, dass Chloe sich darüber freuen würde. Doch noch mehr beschäftigte ihn, was er am Abend gehört hatte. Wenn das stimmte, was Rayford Steele gesagt hatte – und instinktiv wusste Buck, dass es so war –, warum hatte Buck ein Leben lang dazu gebraucht, das zu erkennen? Konnte es sein, dass er die ganze Zeit hiernach gesucht hatte und nicht einmal gewusst hatte, wonach er suchte? Aber andererseits hatte sogar Captain Steele, ein analytisch denkender Flugkapitän, es nicht erkannt, und dabei war Steeles Frau überzeugte Christin. Buck war so unruhig, dass er aufstehen und umhergehen musste. Seltsam, irgendwie war er nicht einmal aufgebracht, fühlte sich nicht elend. Er war einfach nur überwältigt. Noch vor einigen Tagen wäre ihm das alles unlogisch erschienen, doch jetzt, zum ersten Mal seit Israel, war es ihm unmöglich, seine Story objektiv zu verfolgen. Der Angriff auf das Heilige Land war eine einschneidende Erfahrung für ihn gewesen. Er hatte seiner eigenen Sterblichkeit ins Auge geblickt und anerkennen müssen, dass etwas Außerweltliches – ja, Übernatürliches, etwas, das direkt von Gott, dem Allmächtigen kam – als Feuer vom Himmel auf diese staubigen Hügel geschleudert worden war. Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er zweifelsfrei gewusst, dass es Dinge gab, die auch wissenschaftlich nicht erklärbar waren. Buck war immer stolz darauf gewesen, sich von der Masse abzuheben und das menschliche, das alltägliche Element in seine Artikel mit einzubeziehen, Dinge, bei denen andere sich weigerten, sich so verletzlich zu machen. Genau dadurch konnten sich aber die Leser mit ihm identifizieren, die Dinge, die ihnen so wichtig waren, schmecken, fühlen und riechen. Doch bisher, selbst noch nach diesem tiefbewegenden Ereignis, 345
war er in der Lage gewesen, dies dem Leser zu vermitteln, ohne gleichzeitig seine eigene, tief sitzende Angst vor der Existenz Gottes offen zu legen. Nun aber schien ihm genau das nicht mehr möglich zu sein. Wie konnte er diese wichtigste Story seines Lebens schreiben, ohne unbewusst auch seinen eigenen inneren Aufruhr zu offenbaren? Er wusste, dass er auf der Schwelle stand. Zwar war er noch nicht bereit zu beten, zu versuchen, zu einem Gott zu sprechen, den er so lange ignoriert hatte. Er hatte nicht einmal gebetet, als er in jener Nacht in Israel die Existenz Gottes erkannte. Was war nur mit ihm los gewesen? Nach dieser Nacht hatten alle, wenigstens die, die intellektuell aufrichtig mit sich selbst waren, eingestehen müssen, dass es einen Gott gab. Erstaunliche Zufälle hatte es auch vorher schon gegeben, doch dies hatte jeglicher Logik widersprochen. Die Niederlage der mächtigen russischen Luftstreitkräfte war natürlich eine Sensation gewesen. Doch in Israels Geschichte gab es unzählige solcher Sensationen. Aber ohne auch nur Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen und ohne Opfer beklagen zu müssen? Das war unbegreiflich – es sei denn, man schrieb es dem direkten Eingreifen Gottes zu. Warum nur, fragte sich Buck, hatte dies nicht mehr Einfluss auf ihn gehabt? In der Einsamkeit seines Zimmers kam er zu der Erkenntnis, dass er die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse ignoriert hatte. Was sagte dies über ihn aus, was für ein Mensch war er geworden, dass nicht einmal dieses Wunder in Israel – er konnte es nicht anders nennen – ihn für Gott empfänglich gemacht hatte? Und nur wenige Monate später dieses große Massenverschwinden. Millionen von Menschen auf der ganzen Welt einfach fort. Dutzende waren aus dem Flugzeug verschwunden, in dem er selbst gesessen hatte. Was brauchte er noch mehr? Es hatte den Anschein, als würde er einen Sciencefiction-Thriller erleben. Zweifellos hatte er das umwälzendste Ereignis in der 346
Menschheitsgeschichte miterlebt. Buck würde klar, dass er in den vergangenen zwei Wochen kaum eine Minute zum Nachdenken gekommen war. Hätte er nicht die persönlichen Tragödien miterlebt, hätte er diesen Artikel vielleicht objektiver angehen können. Er wollte mit diesem Bruce Barnes sprechen, und zwar nicht unter dem Vorwand, ihn für seinen Artikel interviewen zu wollen. Buck war jetzt auf der Suche, er wollte seine persönlichen Bedürfnisse befriedigen. So viele Jahre lang hatte er die Vorstellung eines persönlichen Gottes zurückgewiesen, und vor allem die Frage, ob er persönlich einen Gott brauchte – falls es einen gab. Er würde sich an eine andere Denkweise gewöhnen müssen. Captain Steele hatte davon gesprochen, dass alle Menschen Sünder waren. Buck war in Bezug auf diese Aussage nicht unrealistisch. Er wusste, dass sein Leben den Maßstäben eines Sonntagsschullehrers niemals standhalten konnte. Doch er hatte immer gehofft, dass das Gute in seinem Leben, falls er eines Tages Gott gegenüberstehen würde, das Böse überwiegen würde, und dass er genauso gut oder sogar besser als andere war. Das würde ausreichen müssen. Doch jetzt, falls man Rayford Steele und seinen Bibelversen Glauben schenken konnte, war es egal, wie gut Buck im Vergleich zu anderen Menschen war. Ein Vers war ihm haften geblieben, und er musste immer wieder darüber nachdenken. Es gibt keinen, der gerecht ist, auch nicht einen. Nein, er hatte sich selbst nicht für gerecht gehalten. Konnte er weitergehen und zugeben, dass er Gott brauchte, dass er Vergebung, dass er Christus brauchte? War es möglich? Konnte er kurz davor stehen, ein so genannter wiedergeborener Christ zu werden? Er war beinahe erleichtert gewesen, als Rayford Steele diesen Ausdruck gebraucht hatte. Buck hatte von »solchen Leuten« bereits gelesen und auch über sie geschrieben, doch selbst er mit seinem Wissensstand hatte diesen Ausdruck nie richtig verstanden. Er hatte 347
»wieder geboren« immer gleich gesetzt mit »ultra-rechts« oder »fundamentalistisch«. Doch wenn er sich jetzt zu diesem Schritt entschloss, den er selbst nie für möglich gehalten hatte, so übernahm er gleichzeitig die Aufgabe, die Welt darüber aufzuklären, was dieser Ausdruck eigentlich bedeutete. Und eigentlich konnte er sich nicht mehr länger vor dieser Wahrheit verschließen – die intellektuellen Barrieren waren gefallen. Endlich döste Buck auf der Couch in seinem Wohnzimmer ein, obwohl ihm eine Lampe direkt ins Gesicht leuchtete. Ein paar Stunden schlief er tief und fest, doch er wachte rechtzeitig auf, um zum Flughafen zu fahren. Die Aussicht, Chloe zu überraschen und mit ihr gemeinsam zu reisen, half ihm, seine Müdigkeit zu überwinden. Doch noch aufregender war die Möglichkeit, in Chicago einen Mann finden zu können, der ihm Antwort auf seine Fragen geben konnte, ein Mann, dem er vertraute, weil Rayford Steele ihn empfohlen hatte. Es würde ihm Freude machen, Rayford eines Tages zu erzählen, wie viel das Interview ihm bedeutet hatte. Doch Buck nahm an, dass Steele das bereits gemerkt hatte. Vermutlich war Steele deswegen so engagiert. Wenn das alles den bevorstehenden Beginn der großen Trübsal anzeigte, die in der Bibel vorhergesagt wurde, und Rayford zweifelte nicht daran, so fragte er sich, ob es wohl auch Freude in dieser Zeit geben würde. Bruce schien nicht davon überzeugt zu sein, abgesehen von einigen Menschen, die sie vielleicht für Christus gewinnen konnten. Bisher fühlte sich Rayford als Versager. Zwar war er sicher, dass Gott ihm die Worte und den Mut gegeben hatte, mit ihnen zu sprechen, doch er hatte den Eindruck, dass er bei dem Gespräch mit Hattie irgendetwas falsch gemacht hatte. Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht war er eigennützig gewesen. Sie musste den Eindruck haben, dass er nur seine eigenen Schuldgefühle loswerden wollte. Doch er wusste es besser. Vor Gott war er von der Reinheit seiner 348
Motive überzeugt. Doch ganz offensichtlich hatte er Hattie nicht von mehr überzeugen können, als dass er es ehrlich meinte und ein Glaubender geworden war. Aber was brachte das? Wenn er glaubte und sie nicht, musste sie annehmen, dass er an etwas Falsches glaubte, oder sie würde zugeben müssen, dass sie die Wahrheit ignorierte. Was er ihr gesagt hatte, ließ keinen anderen Schluss zu. Und sein Verhalten während des Interviews mit Cameron Williams! Als sie miteinander sprachen, hatte sich Rayford gut gefühlt, war ruhig und rational gewesen. Sie sprachen über revolutionäre, außergewöhnliche Dinge, doch er hatte das Gefühl gehabt, dass Gott ihm die Fähigkeit gegeben hatte, klar zu denken und seine Gedanken verständlich zu formulieren. Und doch, wenn es ihm nicht gelungen war, dem Reporter eine andere Reaktion zu entlocken als höfliche Ehrerbietung, was war er dann für ein Zeuge? Nichts wünschte sich Rayford mehr, als produktiver zu sein. Er war davon überzeugt, dass er sein Leben bisher vergeudet hatte, und er hatte nur noch wenig Zeit, diese verlorene Zeit wieder gutzumachen. Er war so dankbar dafür, dass er selbst nun wusste, was es heißt, eine lebendige Beziehung zu Christus zu haben, doch nun wollte er das anderen mitteilen, andere Menschen zu Christus führen. Dieses Interview war eine hervorragende Gelegenheit gewesen, doch im tiefsten Innern hatte er den Eindruck, dass er nicht sehr weit gekommen war. War es der Mühe wert, um eine weitere Gelegenheit zu beten? Rayford rechnete nicht damit, Cameron Williams noch einmal wieder zu sehen. Bestimmt würde er Bruce Barnes nicht anrufen, und Rayfords Aussagen würden sicherlich niemals den Weg in den Global Weekly finden. Während sich Rayford rasierte, duschte und anzog, hörte er, wie Chloe packte. Offensichtlich hatte er sie gestern Abend in Verlegenheit gebracht. Vermutlich hatte sie sich bei Mr Williams für die Ausführungen ihres Vaters entschuldigt. Aber 349
wenigstens hatte sie ihm noch gute Nacht gesagt, als sie hochgekommen war. Das war doch immerhin etwas, oder nicht? Jedes Mal wenn Rayford an Chloe dachte, spürte er einen Druck auf seiner Brust, eine große Leere. Wenn es sein musste, konnte er mit seinem bisherigen Versagen leben. Doch seine Knie gaben beinahe unter ihm nach, als er still für Chloe betete. Ich kann sie nicht verlieren, dachte er, und er würde gern sein eigenes Heil für ihres eintauschen, wenn das nötig sein sollte. Er spürte, dass Gott zu ihm sprach. Er machte ihm klar, dass dies genau die Einstellung war, die er brauchte, um Menschen zu gewinnen, sie zu Christus zu führen. Dies war die Haltung Jesu, der bereit gewesen war, die Strafe auf sich zu nehmen, damit die Menschen leben konnten. Rayford bekam neuen Mut, als er für Chloe betete. Doch immer noch kämpfte er gegen die nagende Furcht vor dem Versagen an. »Gott, ich brauche Ermutigung«, keuchte er. »Ich muss wissen, dass ich sie nicht auf ewig abgestoßen habe.« Sie hatte gute Nacht gesagt, doch er hatte auch gehört, wie sie in ihrem Bett geweint hatte. Lächelnd kam er in seiner Uniform aus dem Bad. Sie stand, bequem für die Reise gekleidet, in der Tür. »Fertig, Liebes?«, fragte er vorsichtig. Sie nickte und brachte mühsam ein Lächeln zu Stande, dann umarmte sie ihn lang und fest und drückte ihre Wange an seine Brust. Danke, Herr, betete er leise und fragte sich, ob er etwas sagen sollte. War jetzt die richtige Zeit? Durfte er es wagen? Wieder spürte er, dass Gott direkt durch seinen Geist zu ihm sprach. ›Geduld. Lass sie in Ruhe.‹ Stillzuschweigen schien schwerer zu sein als alles, was er bisher getan hatte, Auch Chloe sagte nichts. Sie nahmen ein leichtes Frühstück ein und fuhren zum Flughafen. Chloe war der erste Passagier im Flugzeug. »Ich werde versuchen, während des Fluges einmal nach dir zu sehen«, sagte 350
Rayford, bevor er ins Cockpit ging. »Es macht auch nichts, wenn es nicht geht«, erwiderte sie. »Ich verstehe das.« Buck wartete, bis alle an Bord gegangen waren. Als er auf seinen Sitz neben Chloe zuging, hatte sie sich dem Fenster zugewendet. Ob ihre Augen geöffnet waren, konnte Buck nicht erkennen. Er nahm an, sie würde sich umdrehen und ihn ansehen, wenn er sich neben sie setzte, und er konnte sein Lächeln kaum unterdrücken. Er freute sich auf ihre Reaktion und befürchtete ein wenig, dass sie nicht so positiv ausfallen würde, wie er erwartete. Er saß auf seinem Sitz und wartete, doch sie drehte sich nicht um. Schlief sie? Starrte sie nach draußen? Dachte sie nach? Betete sie? War es möglich, dass sie weinte? Buck hoffte, dass es nicht so sein würde. Er mochte sie bereits viel zu sehr, als dass er sie traurig sehen konnte. Und jetzt hatte er ein Problem. Während er schweigend darauf wartete, dass sie sich umdrehte und ihn entdeckte, wurde er von Müdigkeit übermannt. Seine Muskeln und Gelenke schmerzten, seine Augen brannten. Sein Kopf war so schwer wie Blei. Keinesfalls durfte er einschlafen, bevor sie ihn entdeckt hatte. Buck winkte der Stewardess. »Eine Cola, bitte«, flüsterte er. Das Koffein würde ihm helfen, wach zu bleiben. Als Chloe sich auch nicht rührte, um sich die Sicherheitsvorkehrungen anzusehen, wurde Buck ungeduldig. Trotzdem wollte er sie nicht ansprechen. Sie sollte ihn selbst entdecken. Und so wartete er weiter. Anscheinend konnte sie in ihrer Position nicht mehr länger sitzen bleiben, denn sie streckte sich und schob mit dem Fuß ihre Tasche unter ihren Vordersitz. Sie trank noch einen Schluck von ihrem Saft und stellte das Glas auf das kleine Tablett zwischen ihnen. Bucks Lederstiefel fielen ihr ins Auge, 351
dieselben, die er auch am Tag zuvor getragen hatte. Langsam glitt ihr Blick über seine Gestalt zu seinem lächelnden Gesicht. Ihre Reaktion war des Wartens wert. Sie presste die Hand auf den Mund, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dann ergriff sie seine Hand. »Oh Buck«, flüsterte sie. »Oh Buck.« »Schön, dich zu sehen«, sagte er. Chloe ließ seine Hand los. »Ich wollte mich nicht wie ein Schulmädchen aufführen«, sagte sie, »aber hast du schon mal eine direkte Gebetserhörung erlebt?« Buck sah sie erstaunt an. »Ich dachte, dein Vater sei in eurer Familie der Beter.« »Das stimmt«, sagte sie. »Aber gerade habe ich zum ersten Mal seit Jahren versucht, wieder zu beten, und Gott hat mein Gebet erhört.« »Du hast gebetet, dass ich neben dir sitze?« »Oh nein, etwas so Unmögliches hätte ich mir nicht einfallen lassen. Wie hast du das zu Stande gebracht, Buck?« Er erzählte es ihr. »Eure Abflugzeit herauszubekommen war nicht schwer, und dann sagte ich, ich wollte neben dir sitzen.« »Aber warum? Wohin fliegst du?« »Du weißt nicht, wohin dieses Flugzeug fliegt? Ich hoffe doch nach San José.« Sie lachte. »Aber los, Chloe, erzähl weiter. Noch nie bin ich eine Gebetserhörung gewesen.« »Es ist eine ziemlich lange Geschichte.« »Ich denke, wir haben Zeit genug.« Sie nahm wieder seine Hand. »Buck, das ist etwas ganz Besonderes. Das ist das Schönste, das seit langem jemand für mich getan hat.« »Du sagtest, du würdest mich vermissen, aber ich habe das nicht nur für dich getan. Ich habe in Chicago etwas zu erledigen.« Sie lachte wieder und ließ ihn los. »Ich habe nicht von dir gesprochen, Buck, obwohl das wirklich toll ist. Ich habe von 352
Gott gesprochen, der das für mich getan hat.« Buck konnte seine Verlegenheit kaum verbergen. »Das wusste ich«, sagte er. Und sie erzählte ihm ihre Geschichte. »Du hast vermutlich bemerkt, dass ich gestern Abend ziemlich aufgewühlt war. Die Geschichte meines Vaters hat mich so angerührt. Ich meine, ich hatte das schon früher gehört. Doch auf einmal schien er so liebevoll zu sein, an den Menschen so interessiert. Hast du gemerkt, wie ernst es ihm mit seinem Glauben ist?« »Wer könnte das übersehen?« »Wenn ich es nicht besser wusste, Buck, hätte ich gedacht, dass er versucht, dich persönlich zu überzeugen und nicht nur deine Fragen zu beantworten.« »Ich bin nicht sicher, dass das nicht so war.« »Fühltest du dich dadurch bedrängt?« »Ganz und gar nicht, Chloe. Um die Wahrheit zu sagen, er hat mich angerührt.« Chloe schüttelte schweigend den Kopf. Als sie schließlich das Wort ergriff, sprach sie so leise, dass Buck sich zu ihr hinüberbeugen musste, um sie zu verstehen. Ihm gefiel der Klang ihrer Stimme. »Buck«, sagte sie, »er ist auch zu mir durchgedrungen, und ich meine nicht meinen Vater.« »Das ist wirklich seltsam«, sagte er. »Ich habe die halbe Nacht darüber nachgedacht.« »Wir beide werden nicht mehr lange brauchen, nicht?«, fragte sie. Buck antwortete nicht, doch er wusste, was sie meinte. »Und wie kommt es nun, dass ich eine Gebetserhörung für dich bin?«, fragte er. »Ach ja, richtig. Ich saß da beim Abendessen am Tisch und hörte, wie mein Vater dir die ganze Geschichte erzählte, und auf einmal wurde mir klar, warum er wollte, dass ich dabei war, wenn er Hattie alles erklärte. Als er mich das erste Mal damit konfrontierte, habe ich so abweisend reagiert, und nun, da er erkannt hatte, wie wichtig es war, mich zu überzeugen, 353
hatte er Angst, mich noch einmal direkt anzusprechen. Er wollte, dass ich es indirekt mitbekomme. Und so war es ja auch. Ich habe zwar den Anfang nicht gehört, weil Hattie und ich auf der Toilette waren, doch das war für mich ja bestimmt nichts Neues. Und als ich zurückkam, war ich gefesselt von dem, was er sagte. Nicht dass ich etwas Neues gehört hätte. Neu war es, als Bruce Barnes mir das alles erzählte und ich mir das Video ansah, doch mein Vater sprach mit solcher Dringlichkeit und solchem Vertrauen. Buck, es gibt keine andere Erklärung für diese beiden Burschen in Jerusalem, außer dass sie die beiden Zeugen sein müssen, von denen in der Bibel berichtet wird, oder?« Buck nickte. »Mein Vater und Gott sind also zu mir durchgedrungen, doch ich war noch nicht bereit. Ich weinte, weil ich ihn so sehr liebe und weil alles stimmt. Es stimmt alles, Buck, weißt du das?« »Ich glaube schon, Chloe.« »Aber ich konnte mit meinem Vater noch nicht darüber sprechen. Ich wusste nicht, was mir im Weg stand. Immer bin ich so schrecklich unabhängig gewesen. Ich wusste, dass er frustriert war, vielleicht sogar enttäuscht von mir, und ich musste einfach weinen. Ich musste nachdenken, versuchen zu beten, mir über alles klar zu werden. Hattie war mir keine Hilfe dabei. Sie hat es nicht verstanden und wird es vielleicht auch nie verstehen. Sie interessiert sich nur für Trivialitäten, zum Beispiel dich und mich zu verkuppeln.« Buck lächelte und versuchte, beleidigt auszusehen. »Und das ist trivial?« »Nun, verglichen mit dem, worüber wir uns hier unterhalten, würde ich das schon sagen.« »Da hast du Recht«, gestand Buck zu. Sie lachte. »Ich wusste also, dass irgendetwas mit meinem Vater nicht stimmte, darum habe ich mir nur – wie lange haben 354
wir uns unterhalten, drei Minuten oder so? – Zeit für dich genommen.« »Vermutlich noch weniger.« »Als ich in unsere Suite kam, lag er bereits im Bett. Ich sagte ihm also gute Nacht, nur um sicherzugehen, dass er noch mit mir sprach. Und das tat er. Und dann warf ich mich in meinem Bett herum, bereit, den letzten Schritt zu wagen, und ich weinte darüber, dass mein Vater sich so um mich sorgt und mich so liebt.« »Zu dieser Zeit bin ich vermutlich bereits wieder aufgestanden«, bemerkte Buck. »Aber«, fuhr Chloe fort, »das ist gar nicht typisch für mich. Ich bin bereits so weit, ich meine, ich habe das Richtige erkannt. Kannst du mir folgen?« Buck nickte. »Ich habe dasselbe durchgemacht.« »Ich bin überzeugt«, sagte sie, »doch ich wehre mich immer noch dagegen. Ich will eine Intellektuelle sein. Ich habe kritische Freunde, denen ich Rede und Antwort stehen muss. Wer wird mir das abnehmen? Alle glauben bestimmt, ich hätte den Verstand verloren.« »Glaub mir, ich verstehe dich«, sagte Buck, der sich über die Ähnlichkeiten ihrer beider Gedankengänge wunderte. »Ich saß also fest«, fuhr sie fort. »Ich kam nicht weiter. Ich versuchte, meinen Vater zu ermutigen, indem ich mich nicht so distanziert verhielt, doch ich spürte, dass er litt. Allerdings glaube ich nicht, dass er eine Ahnung hat, wie dicht ich davor stand. Ich stieg in dieses Flugzeug und suchte verzweifelt nach einer Lösung, und ich fragte mich, ob Gott auch Gebete erhört, bevor man … äh, du weißt schon, bevor man wirklich ein …« »Wiedergeborener Christ ist«, half Buck ihr weiter. »Genau. Ich weiß nicht, warum es mir so schwerfällt, das auszusprechen. Vielleicht kann jemand, der sich besser auskennt, mir diese Frage beantworten, aber ich betete, und ich glaube, Gott hat mein Gebet erhört. Sag mir, Buck, falls es einen Gott gibt 355
und falls das alles wahr ist, würde er nicht wollen, dass wir das erfahren? Ich meine, Gott würde uns die Sache doch nicht schwer machen, und er würde doch nicht, oder sollte ich sagen, er könnte ein verzweifeltes Gebet doch nicht ignorieren, oder?« »Ich glaube nicht, dass er das könnte, nein.« »Nun, das glaube ich auch. Darum war das vermutlich ein guter Test, ein vernünftiger, und ich habe damit gar nicht so verkehrt gelegen. Ich bin überzeugt, dass Gott mein Gebet erhört hat.« »Und ich war die Gebetserhörung.« »Und du warst die Gebetserhörung.« »Chloe, wofür genau hast du denn jetzt gebetet?« »Oh, das Gebet selbst war keine große Sache, bis es erhört würde. Ich habe Gott nur gesagt, ich brauchte ein wenig mehr. Alles, was ich gehört hätte, würde mir zu schaffen machen. Ich betete sehr ernsthaft und sagte, ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Gott mir persönlich zeigen würde, ob ich ihm am Herzen liege, ob er weiß, was ich durchmache und dass er mir zeigen solle, dass er da ist.« Buck empfand ein seltsames Gefühl – so, als würde seine Stimme, falls er versuchen würde zu sprechen, sehr heiser klingen und als würde er seinen Satz nicht zu Ende bringen können. Er legte die Hand auf den Mund und versuchte, sich zu fassen. Chloe starrte ihn an. »Und du meinst, dass ich die Erhörung dieses Gebetes war?«, brachte er schließlich heraus. »Für mich gibt es da gar keinen Zweifel. Sieh mal, wie ich schon gesagt habe, hätte ich mir nicht einmal im Traum einfallen lassen, dafür zu beten, dass du an dem größten Tag in meinem Leben an meiner Seite sein würdest. Ich war nicht einmal sicher, ob ich dich jemals wieder sehen würde. Aber es ist, als wüsste Gott besser als ich, dass es niemanden gibt, den ich heute lieber neben mir sehen würde als dich.« Buck war tief gerührt. Auch er hatte sie sehen wollen. Sonst hätte er ja mit Hattie oder einem der Dutzend anderen Flüge 356
mitfliegen können, die ihn an diesem Morgen nach Chicago brachten. Buck blickte sie nur an. »Und was wirst du jetzt tun, Chloe? Mir scheint, als sei Gott auf deine Forderung eingegangen. Eigentlich war es ja keine Forderung. Du hast gefragt, und er hat geantwortet. Es scheint, als seist du nun dazu verpflichtet.« »Ich habe keine Wahl«, stimmte sie zu. »Nicht, dass ich es anders haben möchte. Aus dem, was ich von Bruce Barnes, dem Video und meinem Vater erfahren habe, braucht man niemanden, der einem dabei hilft, und man braucht auch nicht in einer Kirche oder sonst wo zu sein. Genauso wie ich für ein klareres Zeichen gebetet habe, kann ich hierum beten.« »Das hat dein Vater gestern ganz klar gesagt.« »Willst du mir Gesellschaft leisten?«, fragte sie. Buck zögerte. »Nimm das nicht persönlich, Chloe, aber ich bin noch nicht bereit.« »Was brauchst du denn noch mehr? … Oh, es tut mir Leid, Buck. Ich tue genau das, was mein Vater an dem Tag getan hat, als er Christ würde. Er konnte sich kaum zurückhalten, und ich war so schrecklich zu ihm. Aber wenn du noch nicht bereit bist, dann ist das eben so.« »Man wird mich nicht drängen müssen«, sagte Buck. »Wie du habe ich das Gefühl, auf der Schwelle zu stehen. Doch ich bin ziemlich vorsichtig, und ich möchte mich heute noch mit diesem Barnes unterhalten. Ich muss dir jedoch sagen, dass meine Zweifel immer noch ziemlich groß sind.« »Weißt du, Buck«, sagte Chloe, »ich verspreche, dass ich sonst nichts mehr sage, doch ich denke genauso wie mein Vater. Ich muss dir einfach noch einmal klar machen, dass du nicht zu lange warten darfst, weil man nie weiß, was passieren könnte.« »Ich habe verstanden«, sagte er. »Ich muss einfach darauf hoffen, dass dieses Flugzeug nicht abstürzt, denn ich muss zuerst mit diesem Barnes sprechen.« Chloe drehte sich um und blickte über ihre Schulter zurück. 357
»Dort hinten sind zwei leere Sitze«, sagte sie. Sie winkte eine Stewardess zu sich, die gerade den Gang entlang ging. »Können Sie meinem Vater eine Nachricht überbringen?« »Sicher. Ist er der Kapitän oder der Erste Offizier?« »Der Kapitän. Bitte sagen Sie ihm nur, dass seine Tochter eine äußerst gute Nachricht für ihn hat.« »Eine äußerst gute Nachricht«, wiederholte die Stewardess. Rayford steuerte das Flugzeug von Hand, als die Stewardess ihm die Nachricht überbrachte. Er hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, doch in letzter Zeit sah es Chloe so gar nicht ähnlich, von sich aus ein Gespräch zu suchen, darum war er sehr gespannt. Er bat seinen Ersten Offizier zu übernehmen. Rayford schnallte sich ab und verließ das Cockpit. Er war sehr erstaunt, Cameron Williams zu entdecken. Sehr hoffte er, dass Williams nicht der Grund für Chloes gute Nachricht war. So angenehm es vielleicht auch war zu denken, dass der Mann sein Versprechen wahr machte und Bruce Barnes aufsuchte, so hoffte Rayford doch, dass Chloe nicht vorhatte, ihm von irgendeiner überstürzten Romanze zu erzählen. Er begrüßte den Journalisten und gab seinem Erstaunen Ausdruck. Chloe zog seinen Kopf zu sich herunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Daddy, könnten wir uns ein paar Minuten dort hinten hinsetzen, damit ich mit dir reden kann?« Buck sah die Enttäuschung in den Augen von Captain Steele. Er freute sich darauf, dem Piloten zu erzählen, warum er froh war, nach Chicago zu fliegen. Dass er neben Chloe sitzen konnte, war nur ein zusätzlicher Bonus. Er warf verstohlen einen Blick auf Steele und seine Tochter, die sich sehr engagiert unterhielten und dann miteinander beteten. Buck fragte sich, ob es dagegen wohl auch eine Fluglinienbestimmung gab. Er wusste, dass Rayford nicht lange mit seiner Tochter sprechen konnte. Wenige Minuten später stand Chloe auf, und Rayford nahm 358
sie in den Arm. Beide schienen überwältigt zu sein. Ein Ehepaar mittleren Alters starrte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Rayford bemerkte es, straffte sich und ging wieder zum Cockpit. »Meine Tochter«, sagte er unbeholfen und deutete auf Chloe, die unter Tränen lächelte. »Sie ist meine Tochter.« Das Ehepaar blickte sich an, und die Frau sagte: »Richtig. Und ich bin die Königin von England.« Buck lachte laut los.
23 Buck rief die New Hope Village Church an, um für den frühen Abend eine Verabredung mit Bruce Barnes zu treffen. Den größten Teil des Nachmittags verbrachte er im Chicagoer Büro des Global Weekly. Die Nachricht, dass er ihr Chef werden würde, war ihm bereits vorausgeeilt, und von Lucinda Washingtons ehemaliger Assistentin wurde er sehr kühl begrüßt. Sie sagte ihm frei heraus: »Plank hat nichts unternommen, um Lucinda zu ersetzen, darum nahm ich an, ich würde ihren Platz einnehmen.« Allein ihre Haltung und ihre Anmaßung veranlassten Buck zu sagen: »Das ist unwahrscheinlich, aber Sie werden die Erste sein, die erfahren wird, für wen ich mich entschieden habe. Ich möchte mich noch nicht festlegen.« Die anderen betrauerten immer noch Lucindas Verschwinden und schienen für Bucks Besuch dankbar zu sein. Steve Plank war nur selten nach Chicago gekommen und war auch nach Lucindas Verschwinden noch nicht wieder da gewesen. Buck setzte sich in Lucindas früheres Büro und unterhielt sich ausführlich mit den für den Posten in Frage kommenden Leuten. Auch sprach er mit allen über den Artikel, den er schreiben wollte und fragte sie nach ihrer persönlichen Theorie in Bezug auf die Vorgänge. Seine jeweils letzte Frage an alle 359
war: »Wo ist Lucinda Washington Ihrer Meinung nach jetzt?« Mehr als die Hälfte sagte, sie wollten nicht zitiert werden, doch in etwa lief alles auf die Aussage hinaus: »Falls es einen Himmel gibt, dann ist sie dort.« Am Spätnachmittag sagte man Buck, CNN berichte live von den Vereinten Nationen. Er holte die Leute in sein Büro, und sie sahen sich den Bericht gemeinsam an. »In dem dramatischsten und weitreichendsten Machtwechsel einer internationalen Organisation, den es je gegeben hat, wurde der rumänische Präsident Nicolai Carpathia durch eine beinahe einstimmige Abstimmung zum Führer der Vereinten Nationen gewählt. Carpathia, der auf grundlegenden Veränderungen des Auftrages und der Zielrichtung der Vereinten Nationen bestand, wurde trotz des Versuchs, die Position abzulehnen, vor wenigen Augenblicken zum neuen Generalsekretär gewählt. Erst am Vormittag hatte sein Pressechef und Sprecher, Steven Plank, ehemaliger Chefredakteur des Global Weekly, Carpathias Interesse an dieser Position dementiert und eine Reihe von Bedingungen genannt, die der Rumäne erfüllt sehen wollte, bevor er eine solche Position auch nur in Erwägung zog. Plank sagte, die Bitte um die Einsetzung Carpathias käme von dem scheidenden Generalsekretär Mwangati Ngumo aus Botswana. Wir fragten Ngumo, warum er zurücktritt.« Jetzt war Ngumos Gesicht auf dem Bildschirm zu sehen, mit niedergeschlagenen Augen und steinernem Gesichtsausdruck. »Mir ist schon lange klar gewesen, dass die geteilte Loyalität meinem Land und den Vereinten Nationen gegenüber mich in dieser Position nicht sehr effektiv sein ließ. Ich musste 360
mich entscheiden, und in erster Linie bin ich Botswaner. Dank der Großzügigkeit unserer israelischen Freunde habe ich nun die Möglichkeit, viel für mein Land zu tun. Der Zeitpunkt ist richtig, und der neue Mann ist mehr als richtig. Ich werde mit ihm so gut es geht zusammenarbeiten.« »Wären Sie auch zurückgetreten, wenn Mr Carpathia die Position abgelehnt hätte?« Ngumo zögerte. »Ja«, sagte er, »ich wäre zurückgetreten. Vielleicht nicht heute, und nicht mit so viel Vertrauen in die Zukunft der Vereinten Nationen, aber ja, irgendwann wäre ich zurückgetreten.« Der CNN-Reporter fuhr fort: »In nur wenigen Stunden war jeder Punkt, den Carpathia in der Pressekonferenz am Vormittag genannt hatte, auf die Tagesordnung gesetzt, durchgesprochen und durch Abstimmung von allen verabschiedet worden. Innerhalb eines Jahres wird der Sitz der UNO nach Neu-Babylon verlegt werden. Der Sicherheitsrat wird noch im Laufe dieses Monats auf zehn ständige Mitglieder erweitert werden, und für Montagmorgen ist eine Pressekonferenz angesetzt, in der Carpathia seine Vorschläge für die Delegierten der Öffentlichkeit vorstellen wird. Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass jede Mitgliedsnation damit einverstanden ist, neunzig Prozent ihres Waffenpotenzials zu vernichten und die restlichen zehn Prozent der UNO zur Verfügung zu stellen. Doch mehrere Botschafter äußerten sich zuversichtlich in Bezug auf die ›Ausrüstung und Bewaffnung eines internationalen Organs zur Friedenserhaltung mit einem kompromisslosen pazifistischen und der Abrüstung ergebenen Aktivisten an seiner Spitze‹. Carpathia hatte sich folgendermaßen geäußert: ›Die UNO wird ihre militärische Macht nicht einsetzen müssen, wenn kein anderer Staat über Waffen verfügt, und ich freue mich schon auf den Tag, wo auch die UNO abrüsten kann.‹ 361
Ein weiteres Ergebnis der heutigen Sitzungen war ein sieben Jahre andauernder Friedensvertrag zwischen den UNOMitgliedsstaaten und Israel, der die Grenzen des Landes bestätigt und Frieden garantiert. Im Gegenzug ist Israel bereit, der UNO zu gestatten, die von dem Nobelpreisträger Chaim Rosenzweig entwickelte Düngemittelformel an ausgewählte Staaten weiterzugeben. Diese Formel macht die Wüste fruchtbar und hat Israel zu einem führenden Exportland gemacht.« Buck starrte auf den Bildschirm. Rosenzweigs Begeisterung und ungeteilte Unterstützung Carpathias war nur zu deutlich sichtbar. Auch wurde darüber berichtet, dass Carpathia mehrere internationale Gruppen, die sich bereits zu den bevorstehenden Konferenzen in New York befanden, für das Wochenende zu einem Austausch gebeten hatte. »Ich möchte sie dazu bringen, sich auf alles zu einigen, was zum Weltfrieden und dem Bewusstsein weltweiter Einheit beiträgt.« Ein Reporter fragte Carpathia, ob dazu auch die Pläne zu einer Weltreligion und eventuell einer Weltregierung gehörten. Seine Antwort: »Ich kann mir kaum etwas Ermutigenderes vorstellen, als wenn die Weltreligionen endlich zusammenarbeiten würden. Die Gruppen, deren vordergründige Mission ist, Liebe unter den Menschen zu schaffen, sind die schlimmsten Beispiele für Uneinigkeit und gegenseitiges Bekämpfen. Jeder wirklich religiöse Mensch sollte diese Möglichkeit willkommen heißen. Der Tag des Hasses ist vorbei. Menschen, die die Menschheit lieben, vereinigen sich.« Der CNN-Reporter fuhr fort: »Neben den anderen Entwicklungen des Tages gibt es Gerüchte über die Organisation von Gruppen, die eine einzige Weltregierung zum Ziel haben. Carpathia wurde gefragt, ob er die Führung einer solchen Organisation anstrebe.« 362
solchen Organisation anstrebe.« Carpathia blickte direkt in die Kamera und sagte mit feuchten Augen und belegter Stimme: »Ich bin überwältigt, dass man mir den Posten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen angeboten hat. Ich erstrebe nichts weiter. Obwohl mir die Idee einer einzigen Weltregierung gefällt, kann ich nur sagen, dass es sehr viele qualifizierte Kandidaten für eine solche Aufgabe gibt. Es würde mir ein Vorrecht sein, soweit es in meiner Macht steht, dabei zu helfen, und obwohl ich mich nicht selbst in der Führerrolle sehe, werde ich die Mittel der UNO einem solchen Bestreben zur Verfügung stellen, falls ich darum gebeten werde.« Sehr glatt, dachte Buck. Seine Gedanken überschlugen sich. Während die Kommentatoren und Weltführer eine Weltwährung, eine Sprache und sogar die Großzügigkeit Carpathias, beim Wiederaufbau des Tempels in Israel zu helfen, rühmten, war den Angestellten des Global Weekly in Chicago nach Feiern zu Mute. »Zum ersten Mal seit Jahren sehe ich die Gesellschaft wieder einmal optimistisch«, sagte ein Reporter. Ein anderer: »Ich glaube, seit dem großen Massenverschwinden habe ich heute zum ersten Mal wieder gelächelt. Wir müssen objektiv und kritisch sein, aber wem kann das nicht gefallen? Es wird Jahre dauern, bis all das durchgesetzt ist, doch irgendwann wird der Weltfrieden da sein. Keine Waffen mehr, keine Kriege mehr, keine Grenzstreitigkeiten oder Fanatismus wegen Sprache oder Religion. Wow! Wer hätte jemals gedacht, dass wir einmal so weit kommen würden?« Buck nahm einen Anruf von Steve Plank entgegen. »Siehst du dir die Nachrichten an?«, fragte Plank. »Wer nicht?« »Ganz schön aufregend, nicht?« »Das kannst du sagen.« »Hör mal, Carpathia möchte dich am Montagmorgen dabei363
haben.« »Wozu?« »Er mag dich, Mann. Schmeiß es nicht. Vor der Pressekonferenz wird er eine Konferenz mit seinen Topleuten und den zehn Delegierten des Sicherheitsrates haben.« »Und er will mich dabeihaben?« »Jawohl. Und du kannst raten, wer zu seinen Topleuten gehört.« »Sag es mir.« »Nun, einer ist wohl offensichtlich.« »Stonagal.« »Natürlich.« »Und Todd-Cothran. Ich nehme an, er wird als neuer Botschafter des Vereinigten Königreiches in die UNO einziehen.« »Vielleicht nicht«, sagte Steve. »Da ist noch ein anderer Brite. Ich kenne seinen Namen nicht, doch er gehört auch zu Stonagals internationaler Finanzgruppe.« »Du meinst, Carpathia hätte Stonagal gesagt, er solle einen anderen parat haben für den Fall, dass er Todd-Cothran rausdrängen würde?« »Das könnte sein, aber niemand sagt Stonagal irgendetwas.« »Nicht einmal Carpathia?« »Vor allem nicht Carpathia. Er weiß, wer ihn zu dem gemacht hat, was er ist. Aber er ist ehrlich und aufrichtig, Buck. Nicolai wird nichts Unrechtes tun. Er hat eine reine Weste. Also, kannst du es einrichten?« »Ich denke schon. Wie viele Presseleute werden da sein?« »Sitzt du gut? Nur du.« »Du machst Witze.« »Ich meine es ernst. Er mag dich, Buck.« »Wo ist der Haken?« »Es gibt keinen Haken. Er hat nichts verlangt, nicht einmal eine günstige Berichterstattung. Er weiß, dass du objektiv und fair sein musst. Die Medien werden alles bei der anschließen364
den Pressekonferenz erfahren.« »Es sieht so aus, als dürfte ich mir das nicht entgehen lassen«, sagte Buck und war sich darüber im Klaren, dass er nicht so begeistert klang, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre. »Was ist los, Buck? Das ist die Story des Jahres! Das ist die Welt, wie wir sie uns immer vorgestellt haben.« »Ich hoffe, du hast Recht.« »Ich habe Recht. Carpathia möchte noch etwas anderes.« »Also ist doch ein Haken dabei.« »Nein, nichts, was davon abhängig ist. Wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht. Du bist trotzdem am Montagmorgen willkommen. Aber er möchte diese Freundin von dir, diese Stewardess, wieder sehen.« »Steve, niemand nennt sie heutzutage noch Stewardessen. Sie sind Flugbegleiterinnen.« »Was auch immer. Bring sie mit, wenn du kannst.« »Warum bittet er sie nicht selbst zu kommen? Was bin ich denn jetzt, ein Kuppler?« »Ach, komm schon, Buck. Es ist nicht, wie du denkst. Ein einsamer Mann in einer solchen Position? Er kann nicht auf die Straße gehen und sich Mädchen aussuchen. Immerhin hast du sie einander ja vorgestellt, erinnerst du dich? Er vertraut dir.« Das muss er wohl, dachte Buck, wenn er mich zu dieser großen Sitzung vor der Pressekonferenz einlädt. »Ich werde sie fragen«, antwortete er. »Aber ich kann nichts versprechen.« »Lass mich nicht im Stich, Kumpel.« Rayford Steele war so glücklich wie seit seiner eigenen Entscheidung für Christus nicht mehr. Chloe lächeln zu sehen, sie interessiert in Irenes Bibel lesen zu sehen, mit ihr beten und über alles sprechen zu können, war mehr, als er sich je erträumt hatte. »Eines müssen wir unbedingt tun«, sagte er, »und zwar dir eine eigene Bibel kaufen. Du wirst diese noch ganz zerfleddern.« 365
»Ich möchte mich deiner Gruppe anschließen«, sagte sie. »Ich möchte alle Informationen von Bruce aus erster Hand bekommen. Das Einzige, was mich bedrückt, ist, dass alles immer nur schlimmer zu werden scheint.« Am Spätnachmittag fuhren sie bei Bruce vorbei, der Chloes Äußerung bestätigte. »Ich freue mich so, Sie in der Familie willkommen zu heißen«, sagte er, »aber Sie haben Recht. Dem Volk Gottes steht eine düstere Zeit bevor. Nicht nur dem Volk Gottes, sondern allen Menschen. Ich habe darüber nachgedacht und gebetet, was wir als Gemeinde bis zur herrlichen Wiederkunft Jesu tun sollen.« Chloe wollte alles darüber wissen, darum erklärte ihr Bruce von der Bibel her, warum er der Meinung ist, dass Christus in sieben Jahren, am Ende der großen Trübsal, wiederkommen wird. »Die meisten Christen werden den Märtyrertod erleiden oder im Krieg, in Hungersnot, bei Seuchen oder Erdbeben ums Leben kommen«, sagte er. Chloe lächelte. »Ist das nicht seltsam«, sagte sie, »aber vielleicht hätte ich vorher darüber nachdenken sollen, ehe ich meine Entscheidung getroffen habe. Sie werden Schwierigkeiten haben, die Leute zu überzeugen, sich der Sache anzuschließen, wenn Sie das in Ihrer Broschüre bringen.« Bruce verzog das Gesicht. »Ja, aber die Alternative ist noch schlimmer. Wir alle haben die erste Chance verpasst. Wir könnten jetzt im Himmel sein, wenn wir auf unsere Lieben gehört hätten. In dieser Zeit eines schrecklichen Todes zu sterben ist nicht unbedingt mein Wunsch, aber auf jeden Fall ist es mir so lieber, als auf ewig verloren zu sein. Alle anderen sind auch vom Tode bedroht. Der einzige Unterschied ist, dass wir noch auf eine andere Art sterben können als sie.« »Als Märtyrer.« »Richtig.« Rayford hörte zu und dachte wieder einmal, wie sehr sich seine Welt in so kurzer Zeit verändert hatte. Noch vor kurzem 366
war er ein respektierter Pilot auf der Höhe seiner Laufbahn gewesen, der ein oberflächliches Leben geführt hatte. Und jetzt saß er hier und unterhielt sich in einem Gemeindebüro mit seiner Tochter und einem jungen Pastor darüber, ob sie wohl die sieben Jahre der Trübsal, die auf die Entrückung der Gemeinde folgten, überleben würden oder nicht. »Wir haben unsere Kerngruppe«, sagte Bruce, »und Chloe, Sie sind uns herzlich willkommen, wenn es Ihnen ernst ist mit Ihrem Glauben.« »Welche Wahl habe ich denn?«, fragte sie. »Wenn das, was Sie sagen, stimmt, dann ist kein Raum für leeres Gerede.« »Sie haben Recht. Doch ich habe auch an eine noch kleinere Gruppe innerhalb der Kerngruppe gedacht. Ich suche nach Menschen von hoher Intelligenz und großem Mut. Damit will ich die Aufrichtigkeit der anderen in der Gemeinde nicht in Frage stellen, vor allem derjenigen im Leiterteam nicht. Doch einige von ihnen sind ängstlich, einige alt, andere schwach. Ich habe darum gebetet, dass sich eine Art innerer Kreis von Leuten herauskristallisiert, die mehr als nur überleben möchten.« »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Rayford. »Sollen wir in die Offensive gehen?« »So ähnlich. Es ist eine Sache, sich hier drin zu verstecken, zu studieren und herauszufinden, was vor sich geht, damit wir uns nicht verführen lassen. Es ist großartig, für die Zeugen zu beten, die in Israel aufstehen, und es ist schön zu wissen, dass es neue Gläubige in der ganzen Welt gibt. Aber wünscht ihr euch nicht auch, euch an der Schlacht zu beteiligen?« Rayford war fasziniert, seiner Sache aber nicht sicher. Chloe war eifriger. »Eine Sache«, sagte sie. »Etwas, für das man nicht nur stirbt, sondern auch lebt.« »Ja!« »Eine Gruppe, ein Team, eine Streitmacht«, sagte Chloe. »Sie haben es erfasst. Eine Streitmacht.« 367
Chloes Augen leuchteten vor Begeisterung. Rayford freute sich an dem Enthusiasmus ihrer Jugend, sich einer Sache zu widmen, für die sie sich erst wenige Stunden zuvor entschieden hatte. »Und wie nennen Sie diese Zeit noch?«, fragte sie. »Die Trübsal«, antwortete Bruce. »Ihre kleine Gruppe innerhalb der großen würde also die ›Tribulation Force‹* sein.« »›Tribulation Force‹«, wiederholte Bruce und erhob sich, um es sich aufzuschreiben. »Das gefällt mir. Aber macht euch nichts vor, das wird kein Vergnügen sein. Es wird die gefährlichste Sache sein, der ein Mensch sich je anschließen konnte. Wir würden gemeinsam studieren, uns vorbereiten, uns aussprechen. Und wenn offensichtlich wird, wer der Antichrist, der falsche Prophet, sein wird, werden wir uns gegen ihn stellen müssen. Wir werden Zielscheibe seines Angriffs sein. Christen, die zufrieden damit sind, sich mit ihren Bibeln in Kellern zu verbergen, werden vielleicht allem außer Erdbeben und Kriegen entgehen, aber wir werden allem ausgesetzt sein. Es wird eine Zeit kommen, Chloe, in der die Jünger des Antichristen das Zeichen des Tieres tragen müssen. Es gibt alle möglichen Theorien, was das sein kann, von einer Tätowierung bis hin zu einem Stempel auf der Stirn, der nur unter Infrarotlicht zu sehen ist. Doch offensichtlich müssen wir uns weigern, dieses Zeichen zu tragen. Allein dieser Widerstand wird jeden brandmarken. Wir werden nackt und ausgeliefert sein, ohne den Schutz der Massen. Wollen Sie sich immer noch der ›Tribulation Force‹ anschließen?« Rayford nickte und lächelte über die unerschütterliche Antwort seiner Tochter: »Das würde ich nicht verpassen wollen.«
*
Im weiteren Verlauf wird das von den Autoren für diesen Roman kreierte Wort Tribulation Force (Trübsal-Streitmacht) verwendet. 368
Zwei Stunden nachdem die Steeles gegangen waren, parkte Buck Williams mit gemischten Gefühlen seinen Mietwagen vor der New Hope Village Church in Mount Prospect, Illinois. Wer war dieser Bruce Barnes? Wie würde er aussehen? Und würde er in der Lage sein, einen Nichtchristen sofort zu entlarven? Buck blieb noch eine Weile im Wagen sitzen. Er war zu kritisch, um eine schnelle Entscheidung zu treffen, das wusste er. Sogar das Verlassen seines Elternhauses, um Journalist zu werden, war jahrelang im Voraus geplant gewesen. Für seine Familie war es wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen, doch für den jungen Cameron Williams nur der logische nächste Schritt, ein Teil seines seit langem überdachten Planes. Doch dass Buck nun hier saß, gehörte zu keinem Plan. Nichts, was seit jenem schicksalhaften Flug nach Heathrow passiert war, passte in irgendeinen vorgefassten Plan. Er hatte das Leben immer genossen, doch er war es immer sehr logisch, sehr geordnet angegangen. Dieser Feuersturm in Israel hatte ihn erschüttert, doch selbst in dieser Situation hatte er nicht den Kopf verloren. Er hatte einen Beruf, eine Position, spielte eine Rolle. Er hatte in Israel einen Auftrag gehabt, und obwohl er nicht erwartet hatte, über Nacht zum Kriegsberichterstatter zu werden, war er vorbereitet gewesen durch die Art, wie er sein Leben geordnet hatte. Doch nichts hatte ihn auf das große Massenverschwinden oder den gewaltsamen Tod seiner Freunde vorbereitet. Obwohl er mit dieser Beförderung hätte rechnen müssen, so hatte sie doch auch nicht zu seinem Plan gehört. Und nun offenbarte dieser Artikel über die verschiedenen Theorien zu dem Phänomen des Verschwindens so vieler Menschen das Feuer, das ohne sein Wissen in seiner Seele gebrannt hatte. Er fühlte sich allein, ausgesetzt, verletzlich, und doch war dieses Treffen mit Bruce Barnes seine Idee gewesen. Sicher, der Pilot hatte es vorgeschlagen, doch Buck hätte seinem Vorschlag ja nicht 369
Folge leisten müssen. Bei dieser Reise ging es nicht darum, ein paar Extrastunden mit der hübschen Chloe zu verbringen, und auch das Chicagoer Büro hätte warten können. Er war hier, das wusste er genau, weil er mit Bruce Barnes sprechen wollte. Buck war sehr müde, als er auf die Gemeinde zuging. Es war eine angenehme Überraschung, festzustellen, dass Bruce Barnes etwa in Bucks Alter war. Er schien klug und aufrichtig zu sein und sprach mit derselben Autorität wie Rayford Steele. Seit langem war Buck schon in keiner Kirche mehr gewesen. Diese hier war unauffällig, ziemlich modern und neu, aber sehr zweckmäßig. Er traf den Pastor in einem bescheidenen Büro. »Ihre Freunde, die Steeles, haben mir gesagt, dass Sie sich vielleicht melden«, sagte Barnes. Buck war über seine Ehrlichkeit verblüfft. In der Welt, in der Buck sich bewegte, hätte er das vielleicht für sich behalten. Doch der Pastor hatte nichts zu verbergen. Buck suchte nach Informationen, und Bruce wollte sie ihm vermitteln. »Ich möchte Ihnen gleich von vornherein sagen«, begann Bruce, »dass ich um Ihre Arbeit weiß und Ihr Talent bewundere. Aber um offen zu sein, ich habe keine Zeit mehr für Höflichkeiten und oberflächliches Geplänkel, die so lange Zeit meine Arbeit bestimmt haben. Wir leben in einer gefährlichen Zeit. Ich habe eine Botschaft und eine Antwort für Leute, die wirklich suchen. Ich sage jedem im Voraus, dass ich damit aufgehört habe, mich für das zu entschuldigen, was ich sagen werde. Wenn Sie damit umgehen können, habe ich alle Zeit für Sie, die Sie brauchen.« »Nun«, erwiderte Buck, von der Emotion und Bescheidenheit in seiner eigenen Stimme selbst überrascht, »ich weiß das zu schätzen. Ich weiß nicht, wie lange ich brauchen werde, weil ich nicht geschäftlich hier bin. Es wäre vielleicht sinnvoll, auch die Ansicht eines Pastors in meinem Artikel zu bringen, aber die Leute können erraten, was Pastoren denken, vor allem in 370
Anbetracht der anderen Meinungen, die ich zu Wort kommen lasse.« »Wie zum Beispiel die von Captain Steele.« Buck nickte. »Ich bin aus persönlichen Gründen hier, und ich muss Ihnen offen gestehen, dass ich selbst nicht weiß, wo ich in dieser Angelegenheit stehe. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich niemals meinen Fuß in ein solches Haus gesetzt und hätte auch nie angenommen, dass etwas intellektuell Wertvolles von hier kommen könnte. Ich weiß, das war journalistisch gesehen nicht sehr fair von mir, doch wenn Sie ehrlich sind, will ich es auch sein. Captain Steele hat mich beeindruckt. Er ist ein kluger Mensch, ein guter Denker, und er hat sich auf den Glauben eingelassen. Auch Sie scheinen ein heller Kopf zu sein, und – ich weiß nicht. Ich höre zu, das ist alles, was ich sagen kann.« Bruce erzählte Buck seine Lebensgeschichte, von seiner Kindheit in einem christlichen Elternhaus, der Bibelschulzeit, seiner gläubigen Frau, seinem Beruf als Pastor, alles. Er stellte klar, dass er über Christus Bescheid gewusst hätte, er wusste von Vergebung und der Beziehung zu Gott. »Ich dachte, ich hätte mir das Beste beider Welten herausgesucht. Aber in der Bibel wird deutlich gesagt, dass man nicht zwei Herren dienen kann. Man kann nicht beides haben. Ich habe das auf schreckliche Weise erkennen müssen.« Und er erzählte davon, wie er seine Familie und Freunde verloren hatte, alle Menschen, die ihm lieb gewesen waren. Während er sprach, konnte er die Tränen nicht zurückhalten. »Der Schmerz ist jetzt sogar noch größer als zu dem Zeitpunkt, als es geschah«, sagte er. Dann zeigte Bruce ihm wie Rayford den Plan der Erlösung von Anfang bis zum Ende auf. Buck wurde nervös. Er brauchte eine Pause. Er unterbrach Bruce und fragte ihn, ob er ein wenig mehr von ihm wissen wollte. »Sicher«, antwortete Bruce. Buck erzählte nun seine eigene Geschichte, wobei er sich vor allem auf den Konflikt zwischen Israel und Russland und die 371
seither vergangenen vierzehn Monate konzentrierte. »Ich sehe«, sagte Bruce schließlich, »dass Gott Ihre Aufmerksamkeit haben will.« »Das ist ihm gelungen«, erwiderte Buck. »Ich möchte Sie nur warnen, ich bin nicht leicht zu überzeugen. Das alles ist sehr interessant und klingt sehr plausibel, aber es ist nicht meine Art, sofort auf etwas anzuspringen.« »Niemand kann Sie zu so etwas zwingen oder überreden, Mr Williams, aber ich muss noch einmal betonen, dass wir in einer sehr gefährlichen Zeit leben. Wir wissen nicht, wie viel Zeit zum Überlegen wir noch haben werden.« »Sie sagen dasselbe wie Chloe Steele.« »Und sie sagt dasselbe wie ihr Vater«, meinte Bruce lächelnd. »Und er sagt vermutlich dasselbe wie Sie. Ich kann verstehen, warum Sie das für so dringend halten, aber wie ich schon sagte …« »Ich verstehe«, erwiderte Bruce. »Wenn Sie Zeit haben, möchte ich gern eine andere Richtung einschlagen. Ich weiß, dass Sie ein kluger Kopf sind. Vermutlich brauchen Sie einfach nur mehr Informationen, bevor Sie von hier fortgehen.« Buck atmete leichter. Er hatte befürchtet, Bruce würde die Frage stellen, ihn drängen, das Gebet zu sprechen, von dem Rayford und Chloe gesprochen hatten. Er akzeptierte, dass das wahrscheinlich dazugehörte, dass es der Beginn seiner Beziehung zu Gott sein würde. Doch er war noch nicht bereit dazu. Wenigstens glaubte er das. Und er würde sich nicht drängen lassen. »Ich muss erst am Montagmorgen wieder in New York sein«, sagte er, »ich habe also heute Abend so viel Zeit, wie Sie mir widmen wollen.« »Wie Sie wissen, habe ich keinerlei familiäre Verpflichtungen mehr. Morgen trifft sich die Kerngruppe und am Sonntag ist Gottesdienst, an dem Sie natürlich gern teilnehmen können. 372
Doch wenn Sie möchten, können wir uns bis spät in die Nacht hinein unterhalten.« »Ich bin dabei.« In den folgenden Stunden gab Bruce Buck einen Schnellkurs in Prophetie und Endzeitlehre. Vieles über die Entrückung, die beiden Zeugen und den Antichristen hatte Buck bereits gehört. Doch als Bruce von der großen Weltreligion sprach, die entstehen würde, von dem Lügner, dem so genannten Friedensmacher, der Blutvergießen durch Krieg über die Welt bringen würde, von dem Antichristen, der die Welt in zehn Königreiche aufteilen würde, rannen kalte Schauer über Bucks Rücken. Er wurde schweigsam, löcherte Bruce nicht mehr länger mit Fragen und schrieb so schnell mit, wie er konnte. Durfte er es wagen, diesem Mann zu sagen, dass seiner Meinung nach Nicolai Carpathia dieser Antichrist sein konnte, von dem die Bibel sprach? Konnte das alles Zufall sein? Seine Hände begannen zu zittern, als Bruce über die Prophezeiung eines Siebenjahresvertrages zwischen dem Antichristen und Israel sprach, von dem Wiederaufbau des Tempels und dass Babylon das Zentrum der neuen Weltordnung werden würde. Gegen Mitternacht schließlich war Buck überwältigt. Er empfand eine schreckliche Furcht in sich. Bruce Barnes konnte von den Plänen Nicolai Carpathias vor ihrer Bekanntgabe in den Nachrichten am heutigen Nachmittag keine Ahnung gehabt haben. Und immerhin stand ja auch alles schwarz auf weiß in der Bibel. »Haben Sie heute schon Nachrichten gesehen?«, fragte Buck. »Heute noch nicht«, sagte Bruce. »Seit Mittag hatte ich Gespräche, und bevor Sie kamen, habe ich schnell noch etwas gegessen.« Buck erzählte ihm, was in der UNO geschehen war. Bruce erblasste. »Darum habe ich das viele Klicken auf meinem Anrufbeantworter gehört«, meinte er. »Ich habe das Telefon abgestellt, darum höre ich nur das Klicken des Anrufbeantwor373
ters, wenn ein Anruf hereinkommt. Die Leute haben mich angerufen, um mit mir darüber zu sprechen. Sie tun das sehr häufig. Wir beschäftigen uns mit den Prophezeiungen der Bibel, und wenn sie in Erfüllung gehen, müssen die Leute darüber sprechen.« »Sie glauben, Carpathia sei dieser Antichrist?« »Ich wüsste nicht, wie ich zu einer anderen Schlussfolgerung kommen könnte.« »Aber ich habe an diesen Mann wirklich geglaubt.« »Warum nicht? Bei den meisten von uns war das so. Zurückhaltend, am Wohl der Menschen interessiert, bescheiden, strebt nicht nach Macht oder Herrschaft. Aber der Antichrist ist ein Betrüger. Und er hat die Macht, die Meinung der Menschen zu manipulieren. Er kann bewirken, dass sie Lügen als die Wahrheit ansehen.« Buck erzählte Bruce von seiner Einladung zu der Sitzung vor der Pressekonferenz. »Sie müssen nicht hingehen«, sagte Bruce. »Ich kann unmöglich nicht hingehen«, sagte Buck. »Das ist eine Gelegenheit, die man nur einmal im Leben bekommt.« »Es tut mir Leid«, sagte Bruce. »Natürlich kann ich Ihnen nicht sagen, was Sie tun oder lassen sollen, aber ich möchte Sie bitten, warnen vor dem, was als Nächstes passieren wird. Der Antichrist wird seine Macht durch Zurschaustellung von Stärke untermauern.« »Das hat er bereits getan.« »Ja, doch es hat den Anschein, als würde es noch Monate oder Jahre dauern, bis alle diese Vereinbarungen in Kraft gesetzt werden. Jetzt muss er zeigen, wie mächtig er ist. Was könnte er tun, um sich so festzusetzen, dass niemand mehr gegen ihn angehen kann?« »Ich weiß es nicht.« »Zweifellos hat er seine Gründe dafür, dass er Sie dabeihaben will.« 374
»Ich kann ihm nichts nützen.« »Sie könnten ihm nützlich sein, wenn er Sie kontrollieren würde.« »Das tut er aber nicht.« »Wenn er der Böse ist, von dem die Bibel spricht, gibt es kaum etwas, das er nicht kann. Ich warne Sie, nicht ohne Schutz dorthin zu gehen.« »Eine Leibwache?« »Wenigstens. Aber wenn Carpathia der Antichrist ist, wollen Sie sich ihm ohne Gott stellen?« Buck war bestürzt. Er fragte sich, ob Bruce jedes Mittel recht war, ihn zu bekehren. Dabei war diese Unterhaltung auch so schon seltsam genug. Zweifellos war es eine ernst gemeinte und logische Frage gewesen, doch Buck fühlte sich in die Ecke gedrängt. »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte er langsam, »aber ich glaube nicht, dass ich mich hypnotisieren lasse oder so etwas.« »Mr Williams, Sie müssen tun, was Sie tun müssen. Doch ich flehe Sie an. Wenn Sie ohne Gottes Schutz zu dieser Sitzung gehen, werden Sie sich in tödlicher und geistlicher Gefahr befinden.« Er berichtete Buck von seinem Gespräch mit den Steeles, bei dem ihnen die Idee von der Tribulation Force gekommen war. »Es ist eine Gruppe von fest entschlossenen Leuten, die sich dem Antichristen widersetzen werden. Allerdings hätte ich nicht erwartet, dass er sich schon so bald zeigt.« Die Tribulation Force rührte etwas in Buck an. Es erinnerte ihn an seine ersten Jahre als Journalist, wo er noch der Meinung gewesen war, er hätte die Macht, die Welt zu verändern. Damals hatte er bis in die Nacht hinein mit seinen Kollegen überlegt, wie sie gegen Unterdrückung, Diktatur und Bigotterie kämpfen könnten. Diesen Eifer hatte er im Laufe der Jahre verloren. Immer noch wollte er das Richtige tun, doch die Leidenschaft hatte sich mit seinem zunehmenden Bekannt375
heitsgrad abgekühlt. Der Idealist in ihm befürwortete solche Ideen, doch er riss sich zusammen. Er wollte sich nicht wegen eines idealistischen kleinen Clubs, dem er sich vielleicht anschließen könnte, zu einer Entscheidung für Christus überreden lassen. »Meinen Sie, ich könnte morgen an diesem Treffen Ihrer Kerngruppe teilnehmen?«, fragte er. »Ich fürchte, das geht nicht«, erwiderte Bruce. »Vermutlich würden Sie es interessant finden, und ich persönlich bin der Meinung, es könnte dazu beitragen, Sie zu überzeugen, doch leider sind nur die Mitglieder des Führungsteams zugelassen. Außerdem werden wir morgen über das sprechen, was wir beide heute Abend schon besprochen haben, es wäre für Sie also nur eine Wiederholung.« »Und der Gottesdienst am Sonntag?« »Da sind Sie natürlich herzlich willkommen, doch ich muss sagen, ich werde über dasselbe Thema sprechen wie jeden Sonntag. Sie haben es von Ray Steele und auch von mir bereits gehört. Wenn es Ihnen helfen wird, das alles noch einmal zu hören, dann kommen Sie nur und sehen Sie sich an, wie viele Suchende es gibt, und wie viele Menschen, die bereits fündig geworden sind. Wenn es so ist, wie an den beiden vergangenen Sonntagen, wird es nur noch Stehplätze geben.« Buck erhob sich und streckte sich. Er hatte sich bis lange nach Mitternacht mit Bruce unterhalten, und er entschuldigte sich dafür. »Das ist nicht nötig«, sagte Bruce. »Es ist ja das, was ich gerne tue.« »Wissen Sie, wo ich eine Bibel bekommen kann?« »Ich kann Ihnen eine geben«, sagte Bruce. Am folgenden Tag wurde das neue Mitglied der Kerngruppe, Chloe Steele, begeistert willkommen geheißen. Den größten Teil des Tages verbrachten sie damit, sich mit den Neuigkeiten 376
des Tages und der Frage zu beschäftigen, ob Nicolai Carpathia der Antichrist war oder nicht. Bruce erzählte von Buck Williams, ohne allerdings seinen Namen zu nennen oder seine Beziehung zu Rayford und Chloe zu erwähnen. Chloe weinte leise, während die Gruppe für ihn betete.
24 Buck verbrachte den Samstag in dem leeren Chicagoer Büro und dachte über seinen Artikel, der die verschiedenen Theorien zu dem großen Massenverschwinden behandeln sollte, nach. Zu viele Gedanken gingen ihm im Kopf herum, und immer wieder musste er über Carpathia nachdenken und was er dazu schreiben würde. Dazu gehörte auch, dass er eine perfekte Parallele zu den biblischen Prophezeiungen darstellte. Glücklicherweise konnte er mit dem Schreiben bis nach der Sitzung am Montag warten. Gegen Mittag erreichte Buck Steve Plank im Plaza Hotel in New York. »Ich werde Montagmorgen kommen«, sagte er, »aber ich werde Hattie Durham nicht mitbringen.« »Warum nicht? Das ist doch nur eine kleine Bitte von Freund zu Freund.« »Von dir an mich?« »Von Nick an dich.« »Dann ist es also schon Nick, ja? Nun, er und ich stehen uns nicht nahe genug für eine solche Vertrautheit, und ich verschaffe nicht einmal meinen Freunden weibliche Begleitung.« »Nicht einmal mir?« »Wenn ich wüsste, dass du sie respektvoll behandelst, Steve, würde ich dich vielleicht mit Hattie zusammenbringen.« »Aber für Carpathia würdest du das nicht tun?« »Nein. Bin ich nun ausgeladen?« 377
»Ich werde es ihm nicht erzählen.« »Und wie wirst du erklären, dass sie nicht mitkommt?« »Ich werde sie selbst fragen, Buck.« Buck sagte nicht, dass er Hattie warnen würde, nicht zu kommen. Er fragte Steve, ob er noch ein Exklusivinterview mit Carpathia bekommen könnte, bevor er diesen Artikel über ihn schreiben würde. »Ich werde sehen, was ich tun kann, aber du kannst mir nicht einmal einen kleinen Gefallen tun und erwartest so etwas von mir?« »Er mag mich doch, hast du gesagt. Du weißt, dass ich den Artikel über ihn schreiben werde. Er braucht das.« »Wenn du gestern Fernsehen gesehen hast, dann weißt du, dass er gar nichts braucht. Wir brauchen ihn.« »Tatsächlich? Sind dir schon mal Theorien begegnet, die ihn in Zusammenhang bringen mit den in der Bibel beschriebenen Endzeitereignissen?« Steve Plank antwortete nicht. »Steve?« »Ich bin noch da.« »Nun, wie steht’s? Ist dir schon mal jemand begegnet, der der Meinung ist, er könnte der Böse aus der Offenbarung sein?« Steve schwieg schon wieder. »Hallo, Steve.« »Ich bin noch da.« »Komm schon, alter Junge. Du bist der Pressechef. Du weißt doch alles. Wie wird er antworten, wenn ich ihn damit konfrontiere?« Steve schwieg. »Tu mir das nicht an. Ich sage ja nicht, dass das meine Meinung ist oder dass bedeutungsvolle Leute so denken. Ich schreibe einen Artikel über die Hintergründe des Massenverschwindens, und du weißt, dass ich mich dabei auch mit diesem religiösen Kram beschäftigen muss. Also, hat irgend378
jemand schon mal solche Parallelen gezogen?« Als Steve auch diesmal nicht antwortete, sah Buck einfach nur auf seine Uhr. Er war entschlossen zu warten. Nach etwa zwanzig Sekunden Schweigen sprach Steve sehr leise. »Buck, ich sage nur zwei Worte. Bist du bereit?« »Ich bin bereit.« »Staten Island.« »Willst du mir etwa sagen, dass …« »Sprich den Namen nicht aus, Buck! Du weißt nie, wer zuhört.« »Dann drohst du mir also mit …« »Ich drohe dir nicht. Ich warne dich nur. Sagen wir, ich ermahne dich zur Vorsicht.« »Und ich möchte dich daran erinnern, dass ich mich nicht gern warnen lasse. Du weißt sicher noch, dass du mich, als wir noch zusammengearbeitet haben, für den zähesten Burschen gehalten hast, den du je auf eine Story angesetzt hast.« »Schnüffle nur nicht im falschen Dornbusch herum, Buck.« »Dann möchte ich dich noch eines fragen, Steve.« »Bitte vorsichtig.« »Möchtest du, dass ich über eine andere Leitung spreche?« »Nein, Buck, ich möchte nur, dass du vorsichtig bist mit dem, was du sagst, damit ich auch vorsichtig sein kann.« Buck begann, eifrig zu schreiben. »Das ist nur fair«, sagte er und schrieb: Carpathia oder Stonagal verantwortlich für Eric Miller? »Was ich wissen möchte, ist Folgendes: Wenn du der Meinung bist, ich sollte mich von der Fähre fern halten, ist das wegen dem Burschen hinter dem Steuerrad oder wegen dem, der den Brennstoff liefert?« »Wegen des Letzteren«, sagte Steve ohne zu zögern. Buck kreiste Stonagal ein. »Dann meinst du also nicht, dass der Bursche am Steuerrad darüber Bescheid weiß, was derjenige, der den Brennstoff liefert, zu seinem eigenen Nutzen macht?« »Richtig.« 379
»Wenn also jemand dem Kapitän zu nahe kommt, könnte der Kapitän beschützt werden, ohne es auch nur zu wissen?« »Richtig.« »Aber wenn er es herausfände?« »Er würde sich damit befassen.« »Ich erwarte, das bald zu erleben.« »Dazu kann ich keinen Kommentar abgeben.« »Kannst du mir sagen, für wen du eigentlich arbeitest?« »Ich arbeite für den, für den du meinst, dass ich arbeite.« Was um alles in der Welt sollte das bedeuten? Carpathia oder Stonagal? Wie konnte er Steve dazu bringen, etwas über ein Telefon zu sagen, das vielleicht abgehört wurde? »Dann arbeitest du also für den rumänischen Geschäftsmann?« »Natürlich.« Buck trat sich beinahe selbst. »Tatsächlich?«, fragte er und hoffte auf mehr. »Mein Chef versetzt Berge, nicht?«, antwortete Steve. »Sicher«, sagte Buck und kreiste diesmal Carpathia ein. »Bestimmt gefällt dir, was in den letzten Tagen passiert ist.« »Das stimmt.« Buck schrieb: Carpathia, Endzeit, Antichrist? »Und du sagst mir ganz frei heraus, dass das andere Thema, das ich angeschnitten habe, gefährlich und auch Quatsch ist.« »Vollkommen abwegig.« »Und ich sollte das Thema bei ihm nicht anschneiden, obwohl ich Journalist bin, der alle Aspekte eines Themas betrachten und auch schwierige Fragen stellen muss?« »Wenn ich denken würde, du würdest auch nur in Erwägung ziehen, eine solche Frage zu stellen, würde ich dich nicht zu dem Interview oder der Story ermutigen.« »Junge, du hast aber wirklich nicht lange gebraucht, um dich anzupassen.«
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Nach dem Treffen der Kerngruppe sprach Rayford noch mit Bruce Barnes, der ihm von dem Gespräch mit Buck berichtete. »Über die privaten Dinge kann ich nicht sprechen«, sagte Bruce, »doch da ist nur noch eine Sache, die mich daran hindert zu glauben, dass dieser Carpathia der Antichrist ist. Ich kriege das geographisch nicht auf die Reihe. Beinahe alle Verfasser von Büchern über die Endzeit sind der Meinung, der Antichrist würde aus Westeuropa, vielleicht Griechenland, Italien oder der Türkei kommen.« Rayford wusste nicht, was er damit anfangen sollte. »Ihnen ist doch sicher aufgefallen, dass er gar nicht rumänisch aussieht. Sind die Rumänen nicht vorwiegend dunkel?« »Ja. Ich möchte Mr Williams anrufen. Er gab mir eine Nummer. Ich frage mich, wie viel er über Carpathia weiß.« Bruce wählte die Nummer und stellte das Telefon auf Lautsprecher. »Ray Steele ist hier bei mir.« »Hallo, Captain«, sagte Buck. »Wir beschäftigen uns gerade wieder mit unserem Thema«, sagte Bruce, »und wir kommen nicht weiter.« Er erzählte Buck, was sie herausgefunden hatten und bat ihn um weitere Informationen. »Er kommt aus einer Stadt, einer der größeren Universitätsstädte mit Namen Cluj, und …« »Oh, tatsächlich? Ich dachte, er sei aus einer Gebirgsregion, wissen Sie, wegen seines Namens.« »Seines Namens?«, wiederholte Buck und schrieb es auf seinen Notizblock. »Sie wissen schon, ich dachte, sein Name sei auf die Karpaten zurückzuführen. Oder bedeutet sein Name dort drüben etwas anderes?« Buck setzte sich aufrecht hin. Jetzt war ihm alles klar! Steve hatte ihm klarzumachen versucht, dass er für Stonagal und nicht für Carpathia arbeitete. Und natürlich würden sich die neuen UNO-Delegierten Stonagal zugetan fühlen, weil er sie 381
Carpathia vorgestellt hatte. Vielleicht war Stonagal der Antichrist! Wo kam denn er her? »Nun«, sagte Buck und versuchte, sich zu konzentrieren, »vielleicht hängt sein Name mit diesem Gebirge zusammen, doch er wurde in Cluj geboren, und seine Vorfahren sind alle waschechte Rumänen. Daher das blonde Haar und die blauen Augen.« Bruce dankte ihm und fragte, ob er Buck am Sonntag im Gottesdienst sehen würde. Rayford fand, dass Buck sehr zerstreut und unverbindlich antwortete. »Ich weiß es noch nicht genau«, sagte Buck. Ja, dachte Buck, als er den Hörer auflegte, ich werde kommen. Er brauchte jede Information, die er bekommen konnte, bevor er am Montag nach New York flog, um den Artikel zu schreiben, der ihn seinen Beruf und vielleicht sogar sein Leben kosten konnte. Er kannte die Wahrheit nicht, doch er war noch nie davor zurückgeschreckt, sie aufzudecken, und damit würde er auch jetzt nicht anfangen. Er rief Hattie Durham an. »Hattie«, sagte er, »Sie werden telefonisch nach New York eingeladen werden.« »Den Anruf habe ich bereits bekommen.« »Man wollte, dass ich Sie frage, aber ich sagte ihnen, sie sollten es selbst tun.« »Das haben sie getan.« »Sie wollen, dass Sie Carpathia wieder sehen, ihm in der kommenden Woche Gesellschaft leisten, falls Sie Zeit haben.« »Ich weiß, ich habe Zeit und ich werde fliegen.« »Ich möchte Ihnen raten, es nicht zu tun.« Sie lachte. »Sie glauben tatsächlich, ich würde eine Verabredung mit dem mächtigsten Mann der Welt abschlagen? Das werde ich natürlich nicht tun.« »Ich würde es Ihnen raten.« »Wozu?« 382
»Weil Sie mir nicht diese Art von Mädchen zu sein scheinen.« »Erstens bin ich kein Mädchen. Ich bin beinahe so alt wie Sie, und zweitens brauche ich keinen Vormund:« »Ich spreche zu Ihnen als Freund.« »Sie sind nicht mein Freund, Buck. Ganz offensichtlich mochten Sie mich nicht einmal. Ich habe versucht, Sie auf Rayford Steeles kleines Mädchen abzuschieben, aber ich bin nicht sicher, dass Sie wirklich darauf angesprungen sind.« »Hattie, vielleicht kenne ich Sie nicht. Aber Sie scheinen mir nicht die Art von Mensch zu sein, die sich gern von einem Fremden ausnutzen lässt.« »Wenn einer ein Fremder für mich ist, dann sind Sie es; und Sie versuchen mir zu sagen, was ich tun soll.« »Nun, anscheinend sind Sie also doch so ein Mensch. Habe ich durch das Zurückhalten der Einladung versucht, Sie vor etwas zu bewahren, das Ihnen Freude machen würde?« »Davon können Sie überzeugt sein.« »Ich kann es Ihnen also nicht ausreden?« »Sie können es nicht einmal versuchen«, sagte sie und legte auf. Buck schüttelte den Kopf und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Seinen Notizblock hielt er in der Hand. Mein Chef versetzt Berge, hatte Steve gesagt. Carpathia, die Karpaten, ist ein Gebirge. Stonagal ist der Drahtzieher hinter ihm. Steve ist der Meinung, dass er tief mit drinsteckt. Er ist nicht nur Pressechef des Mannes, den Hattie Durham zu Recht den mächtigsten Mann der Welt nannte, Steve steckt also tatsächlich mit dem Mann hinter dem Mann unter einer Decke. Buck fragte sich, was Rayford oder Chloe tun würden, wenn sie wüssten, dass Hattie nach New York eingeladen worden war, um einige Tage lang Carpathias Begleitung zu sein. Aber schließlich ging es ihn, und auch sie, nichts an. Rayford und Chloe warteten am Sonntagmorgen bis zur letzten 383
Minute auf Buck, doch als sich das Kirchenschiff und die Empore mit Leuten füllten, konnten sie ihm keinen Platz mehr freihalten. Als Bruce mit seiner Predigt begann, stieß Chloe ihren Vater in die Seite und deutete zum Fenster hin, wo Buck inmitten einer kleinen Menge stand und der Predigt zuhörte. Rayford hob triumphierend die Hand und flüsterte Chloe zu: »Für wen wirst du wohl heute Morgen beten?« Bruce spielte erneut das Video des früheren Pastors ab, erzählte seine eigene Geschichte und sprach kurz über die Prophezeiungen der Bibel und lud die Menschen ein, Christus anzunehmen. Danach gab er Raum für Zeugnisse. Wie schon in den vergangenen beiden Wochen strömten die Leute nach vorne, standen Schlange, um zu erzählen, wie sie dazu gekommen waren, Christus anzunehmen. Es war bereits weit nach ein Uhr mittags, als der Gottesdienst beendet war. Chloe hatte ihrem Vater gesagt, sie wollte als Erste ein Zeugnis geben, doch als sie von der letzten Reihe der Empore herunterkam, gehörte sie zu den Letzten. Sie erzählte ihre Geschichte, auch von dem Zeichen, das Gott ihr ihrer Meinung nach gegeben hatte in Form eines Freundes, der auf dem Heimflug neben ihr saß. Rayford wusste, dass sie Buck von vorne nicht sehen konnte, und auch Rayford konnte ihn nicht mehr entdecken. Als der Gottesdienst vorbei war, gingen Rayford und Chloe nach draußen, um Buck zu treffen, doch er war fort. Sie nahmen mit Bruce zusammen das Mittagessen ein, und als sie nach Hause kamen, fand Chloe eine Nachricht von Buck an der Haustür. »Es ist nicht so, dass ich mich nicht gern verabschiedet hätte. Aber ich tue es nicht. Ich werde aus geschäftlichen Gründen zurückkommen, und vielleicht auch nur, um dich zu sehen, wenn du gestattest. Im Augenblick gibt es vieles, über das ich nachdenken muss, wie du genau weißt, und offen gesagt, ich 384
möchte nicht, dass mir die Tatsache, mich von dir angezogen zu fühlen, dabei im Weg steht. Und das wäre ganz sicher so. Du bist ein überaus liebenswerter Mensch, Chloe, und deine Geschichte hat mich zu Tränen gerührt. Du hattest sie mir bereits vorher erzählt, doch sie dort unter diesen Umständen zu hören, war einfach bewegend. Würdest du etwas tun, um das ich noch nie jemanden gebeten habe? Würdest du für mich beten? Ich werde dich bald anrufen oder besuchen. Ich verspreche es. Buck.« Auf dem Heimflug fühlte sich Buck einsamer denn je. Sicher, das Flugzeug war vollbesetzt, doch er kannte niemanden. Er las die markierten Passagen aus der Bibel, die Bruce ihm gegeben hatte. Die Frau neben ihm stellte ihm Fragen, die er nur einsilbig beantwortete. Bald gab sie es auf, ein Gespräch in Gang zu bringen. Er wollte nicht unhöflich sein, doch er wollte auch niemanden mit seinem sehr eingeschränkten Wissen in die Irre führen. Auch in dieser Nacht hatte er nicht sehr gut geschlafen, wenn er sich auch nicht gestattet hatte, herumzulaufen. Er begab sich zu einer Sitzung, vor der er gewarnt worden war. Bruce Barnes schien davon überzeugt zu sein, dass Buck, falls Nicolai Carpathia der Antichrist war, in der Gefahr stand, geistig überwältigt, hypnotisiert zu werden oder eine Gehirnwäsche zu bekommen oder gar Schlimmeres. Während er sich am Morgen – immer noch müde – geduscht und angezogen hatte, war Buck zu dem Schluss gekommen, dass er bereits lange über den Punkt hinaus war, an dem er den religiösen Standpunkt für abwegig hielt. Er hatte das amüsierte Lächeln über Leute, die der Meinung waren, ihre Lieben seien in den Himmel geholt worden, überwunden und glaubte nun vieles, was in der Bibel vorausgesagt war. Für die beiden Zeugen in Jerusalem gab es keine andere Erklärung. Auch nicht für das Verschwinden so vieler Menschen. 385
Und die neuste Entwicklung, diese Sache mit dem Antichristen, der so viele betrügen und täuschen würde … nun, für Buck war es keine Frage mehr, ob das stimmte oder nicht. Darüber war er längst hinweg. Er überlegte bereits, wer der Antichrist war: Carpathia oder Stonagal. Buck tendierte immer noch mehr zu Stonagal. Er hängte sich die Tasche über die Schulter und war versucht, die Pistole aus seinem Nachttisch einzustecken, doch er wusste, dass er sie nie durch die Kontrolle bringen würde. Und außerdem fühlte er, dass dies nicht der Schutz war, den er brauchte. Er brauchte Schutz für seinen Verstand und seinen Geist. Auf dem Weg zu den Vereinten Nationen kämpfte er mit sich. Soll ich beten?, fragte er sich. Soll ich das Gebet sprechen, von dem so viele Menschen gestern Morgen berichtet haben? Würde ich es einfach nur tun, um mich vor einer geistigen Suggestion zu schützen? Er kam zu dem Entschluss, dass er nicht Christ werden durfte, damit er erfolgreich war. Das würde die ganze Angelegenheit billig machen. Sicherlich wirkte Gott nicht auf diese Weise. Und wenn man Bruce Barnes Glauben schenken konnte, gab es für die Gläubigen jetzt keinen Schutz mehr. Unzählige Menschen würden in den kommenden sieben Jahren sterben, Christen wie andere gleichermaßen. Die Frage war, wo würden sie dann sein? Es gab nur einen einzigen Grund, sein Leben Gott auszuliefern – wenn er wirklich daran glaubte, dass er Vergebung bekommen und zu Gottes Volk gehören konnte. Gott war ihm mehr geworden als eine Naturkraft oder gar ein Wundertäter wie damals in jener Nacht in Israel. Es wäre nur logisch, dass Gott, falls er den Menschen geschaffen hatte, auch mit ihm in Verbindung treten wollte. Buck betrat das UNO-Gebäude und bahnte sich den Weg durch die unzähligen Reporter, die bereits auf dem Weg zur Pressekonferenz waren. VIPs fuhren in großen Limousinen 386
vor, und große Menschenmengen warteten hinter der Polizeiabsperrung. Buck entdeckte Stanton Bailey in einer kleinen Gruppe neben der Tür. »Was tun Sie denn hier?«, fragte Buck, dem auf einmal klar wurde, dass er Bailey in den vergangenen fünf Jahren niemals außerhalb des Zeitungsgebäudes angetroffen hatte. »Ich mache mir meine Position zu Nutze, damit ich bei der Pressekonferenz dabei sein kann. Ich bin stolz, dass Sie an der vorher stattfindenden Sitzung teilnehmen werden. Passen Sie auf, dass Sie alles behalten. Vielen Dank übrigens für den Abriss Ihrer Hintergrundstory. Ich weiß, dass Sie im Augenblick viel um die Ohren haben, aber es ist ein ausgezeichneter Anfang.« »Danke«, sagte Buck, und Bailey klopfte ihm auf die Schulter. Buck erkannte, dass er, falls das einen Monat früher passiert wäre, vermutlich über den verknöcherten alten Burschen gelacht und seinen Kollegen erzählt hatte, für was für einen Idioten er arbeitete. Doch nun war er seltsam dankbar für die Ermutigung. Bailey konnte keine Ahnung davon haben, was Buck durchmachte. Chloe Steele sagte ihrem Vater, sie würde am Montag nun endlich am hiesigen College ihr Studium fortsetzen. »Und vielleicht«, sagte sie, »kann ich mich mit Hattie zum Mittagessen verabreden.« »Ich war der Meinung, sie sei dir nicht besonders sympathisch«, erwiderte Rayford. »Das ist auch so, doch das ist keine Entschuldigung. Sie weiß nicht einmal, was ich erlebt habe. Sie geht nicht ans Telefon. Hast du eine Ahnung, wie ihr Flugplan ist?« »Nein, doch ich muss sowieso fragen, für welche Flüge ich eingeteilt bin. Ich werde sehen, ob sie heute unterwegs ist.« Man sagte Rayford, Hattie sei für diesen Tag nicht eingeteilt, und sie habe einen vierwöchigen Urlaub beantragt. »Das ist 387
seltsam«, sagte er zu Chloe. »Vielleicht gibt es familiäre Probleme bei ihr.« »Vielleicht will sie auch nur ein wenig Abstand gewinnen«, meinte Chloe. »Ich werde sie später anrufen, wenn ich in der Stadt bin. Was hast du heute vor?« »Ich habe Bruce versprochen, mir mit ihm zusammen Carpathias Pressekonferenz anzusehen.« »Wann wird sie übertragen?« »Um zehn Uhr unserer Zeit, glaube ich.« »Nun, wenn ich Hattie nicht erreiche, komme ich vielleicht noch vorbei.« »Ruf uns auf jeden Fall an, Liebes, wir werden auf dich warten.« Bucks Papiere lagen am Informationsschalter in der Empfangshalle bereit. Er wurde zu einem privaten Konferenzraum, weit ab von den Büroräumen, geführt, die Nicolai Carpathia bereits bezogen hatte. Buck war mindestens zwanzig Minuten zu früh, doch als er aus dem Aufzug stieg, fühlte er sich sehr allein. Er sah keinen einzigen Bekannten, als er den langen Flur zu dem Raum entlangging, in dem er Steve, die zehn designierten Botschafter der ständigen Mitglieder des neuen Sicherheitsrates, mehrere Assistenten und Ratgeber des neuen Generalsekretärs (zu denen auch Rosenzweig, Stonagal und verschiedene andere Mitglieder seines internationalen Clubs wichtiger Finanzleute gehörten), und natürlich Carpathia selbst treffen sollte. Buck war immer sehr energiegeladen und zuversichtlich gewesen. Schon anderen war sein selbstsicherer Schritt aufgefallen. Doch jetzt ging er langsam und unsicher, und mit jedem Schritt steigerte sich seine Furcht. Das Licht schien dunkler zu werden, die Mauern ihn einzuschließen. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, und er hatte eine düstere Vorahnung. Die schreckliche Furcht, die er empfand, erinnerte ihn an 388
jene Nacht in Israel, als er geglaubt hatte, er müsste sterben. Würde er sterben müssen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass er in unmittelbarer Gefahr schwebte, und doch waren die Leute, die Carpathias Plänen, oder Stonagals Plänen für Carpathia, im Weg gestanden hatten, jetzt tot. Würde er bald in die Reihen der Toten eingereiht werden, angefangen von Carpathias Geschäftspartner damals in Rumänien über Dirk Burton und Alan Tompkins bis hin zu Eric Miller? Nein, was ihn ängstigte, war keine tödliche Gefahr, das wusste er. Wenigstens nicht hier, nicht im Augenblick. Je näher er dem Konferenzraum kam, desto mehr wurde er abgestoßen durch das Gefühl des Bösen, als sei es an diesem Ort personifiziert. Beinahe ohne nachzudenken stieß Buck ein Stoßgebet aus: Gott, sei bei mir. Beschütze mich. Er empfand keine Erleichterung. Falls überhaupt, so ließen seine Gedanken an Gott das Böse noch intensiver werden. Zehn Schritte von der Tür entfernt blieb er stehen, und obwohl er Gelächter und fröhliche Stimmen hörte, war er beinahe gelähmt von der Unheil verkündenden Atmosphäre. Er wünschte sich überall sonst hin, und doch wusste er, dass es keinen Ausweg gab. Dies war der Raum, in dem sich die neuen Führer der Welt versammelten, und jeder gesunde Mensch hätte sonst was darum gegeben, dort sein zu können. Buck wünschte sich, es wäre vorbei, er hätte die Vorstellung der neuen Leute und ihre kurzen Reden, in der sie sich den Zielen ihrer Aufgabe verpflichteten, bereits hinter sich und würde darüber schreiben. Er zwang sich, weiterzugehen. Wieder schrie er zu Gott, und er fühlte sich wie ein Feigling – genau wie jeder andere, der nur betete, wenn er in Not war. Fast sein ganzes Leben lang hatte er Gott ignoriert, und nun, da er die dunkelsten Stunden seines Lebens durchlebte, lag er buchstäblich auf seinen Knien. Und doch gehörte er nicht zu Gott. Noch nicht. Das wusste er. Gott hatte Chloes Gebet um ein Zeichen erhört, bevor sie 389
ihm ihr Leben ausgeliefert hatte. Warum konnte er nicht auch Bucks Bitte um Ruhe und Frieden erhören? Buck konnte sich nicht rühren, bis Steve Plank ihn schließlich entdeckte. »Buck! Wir können gleich anfangen. Komm rein.« Doch Buck fühlte sich schrecklich. Panische Angst erfüllte ihn. »Steve, ich muss eben noch mal zur Toilette. Habe ich noch eine Minute Zeit?« Steve warf einen Blick auf seine Uhr. »Du hast noch fünf Minuten«, sagte er. »Und wenn du zurückkommst, kannst du dich gleich hierher setzen.« Steve deutete auf einen Stuhl an der Ecke einer viereckigen Tischgruppe. Dem Journalisten in Buck gefiel dieser Platz. Der ideale Platz. Sein Blick wanderte zu den Namensschildern auf den Plätzen. Er würde dem Haupttisch gegenüber sitzen, wo Carpathia sich selbst direkt neben Stonagal platziert hatte … oder war Stonagal für die Sitzordnung verantwortlich? Auf der anderen Seite neben Carpathia stand ein hastig mit der Hand geschriebenes Schild mit der Aufschrift »Persönlicher Assistent«. »Bist du das?«, fragte Buck. »Nein.« Steve deutete auf den Stuhl Buck gegenüber. »Ist Todd-Cothran hier?«, fragte Buck. »Natürlich, der im hellgrauen Anzug.« Der Brite wirkte ziemlich unscheinbar. Doch unmittelbar hinter ihm standen Stonagal – im schwarzen Anzug – und Carpathia, eine perfekte Erscheinung im schwarzen Anzug mit weißem Hemd, mittelblauer Krawatte und einer goldenen Krawattennadel. Bei seinem Anblick schauderte Buck zusammen, doch Carpathia lächelte ihn an und winkte ihn zu sich herüber. Buck signalisierte ihm, dass er noch einen Augenblick brauchte. »Jetzt hast du nur noch vier Minuten«, meinte Steve. »Beeil dich.« Buck stellte seine Tasche neben einen bewaffneten, weißhaarigen Sicherheitsbeamten, winkte seinem alten Freund Chaim 390
Rosenzweig zu und lief zur Toilette. Er schloss ab. Buck lehnte sich gegen die Tür, steckte die Hände in die Hosentaschen und ließ den Kopf sinken. Er erinnerte sich daran, dass Bruce gesagt hatte, man könnte mit Gott so sprechen wie mit einem Freund. »Gott«, sagte er, »ich brauche dich, nicht nur für diese Sitzung.« Und während er betete, kam sein Glaube. Dies war kein Experiment, kein halbherziger Versuch. Er hoffte nicht nur oder probierte etwas aus. Buck wusste, dass er mit Gott sprach. Er bekannte, wie sehr er Gott brauchte, dass ihm bewusst war, wie alle anderen auch verloren zu sein, viel Schuld auf sich geladen zu haben. Er sprach nicht dieses Gebet, von dem die anderen erzählt hatten, doch als er fertig war, war die Übergabe vollzogen. Buck war nicht der Typ, der sich leichtfertig auf eine Sache einließ. Er wusste sehr genau, dass es kein Zurück mehr gab. Diesmal näherte sich Buck dem Konferenzraum sehr viel schneller, doch keineswegs zuversichtlicher. Er hatte diesmal nicht um Mut oder Frieden gebetet. In diesem Gebet war es nur um seine eigene Seele gegangen. Er hatte nicht gewusst, was er empfinden würde, doch bestimmt hatte er nicht erwartet, dass seine Angst auch weiterhin da sein würde. Doch er zögerte nicht. Als er den Raum betrat, waren bereits alle versammelt – Carpathia, Stonagal, Todd-Cothran, Rosenzweig, Steve und die Finanzleute und Botschafter. Und außerdem ein Mensch, den Buck niemals erwartet hätte – Hattie Durham. Sprachlos starrte er sie an, während sie ihren Platz als Nicolai Carpathias persönliche Assistentin einnahm. Sie blinzelte ihm zu, doch er ignorierte sie. Schnell eilte er zu seinem Platz, nickte dem Sicherheitsbeamten dankbar zu und holte seinen Notizblock aus seiner Tasche. Wenn Buck nach seiner Auslieferung an Gott auch kein besonders erhebendes Gefühl empfand, so spürte er doch umso deutlicher, dass hier irgendetwas passierte. Er zweifelte nicht 391
daran, dass sich der in der Bibel beschriebene Antichrist in diesem Raum befand. Und trotz allem, was er über Stonagal und seine Machenschaften in England wusste und des unangenehmen Gefühls, das er beim Anblick seiner Blasiertheit empfand, spürte er sehr viel mehr den Geist des Bösen, als er beobachtete, wie Carpathia seinen Platz einnahm. Nicolai wartete, bis alle saßen, dann erhob er sich würdevoll. »Meine Herren … und meine Dame«, begann er, »dies ist ein wichtiger Augenblick. In wenigen Minuten werden wir die Presse begrüßen und jene von Ihnen vorstellen, die mit der Aufgabe betraut werden sollen, die Welt in ein goldenes Zeitalter zu führen. Die Welt ist vereint worden, und wir stehen vor der größten Herausforderung, die der Menschheit jemals gestellt worden ist.«
25 Nicolai Carpathia stand auf und ging zu den einzelnen, im Raum anwesenden Personen. Er begrüßte jeden mit Namen, bat ihn, aufzustehen, schüttelte ihm die Hand und küsste ihn auf beide Wangen. Er begann mit dem neuen britischen Botschafter. »Mr Todd-Cothran«, sagte er, »Sie werden als Botschafter der Großen Staaten von Britannien, zu denen nun auch Westund Osteuropa gehören, vorgestellt werden. Ich heiße Sie im Team willkommen und übertrage Ihnen alle Rechte und Privilegien, die mit Ihrem neuen Status einhergehen. Mögen Sie mir und Ihren Untergebenen gegenüber dieselbe Beständigkeit und Loyalität erweisen, die Sie in diese Position gebracht haben.« »Vielen Dank, Sir«, sagte Todd-Cothran und setzte sich, als Carpathia weiterging. Todd-Cothran und mehreren anderen merkte man den Schock an, als Nicolai dieselben Worte auch zu dem britischen Finanzmann neben Todd-Cothran sagte, und 392
ihm ebenfalls den Titel Botschafter der Großen Staaten von Britannien verlieh. Todd-Cothran lächelte mühsam. Offensichtlich hatte sich Carpathia versprochen und hätte den Mann als einen seiner Finanzberater ansprechen sollen. Doch Buck hatte noch nie erlebt, dass Carpathia einen solchen Fehler begangen hätte. Carpathia ging zu jeder Person am Tisch und sagte exakt dieselben Worte, passte nur den Namen und Titel an. Der Wortlaut für seine persönlichen Assistenten und Ratgeber war nur leicht abgeändert. Als Carpathia zu Buck kam, schien er zu zögern. Buck reagierte nur langsam, so als sei er nicht sicher, ob er mit dem Ganzen etwas zu tun haben sollte. Carpathias herzliches Lächeln forderte ihn auf, sich zu erheben. Buck hielt seinen Block und seinen Stift in der einen Hand, während er Carpathia die Hand schüttelte. Nicolais Händedruck war fest, und er hielt Bucks Hand fest, während er seinen Spruch aufsagte. Er blickte Buck offen an und sprach mit gelassener Autorität. »Mr Williams«, sagte er, »ich heiße Sie im Team willkommen und übertrage Ihnen alle Rechte und Privilegien, die mit Ihrem neuen Status einhergehen …« Was war das? Ganz bestimmt nicht das, was Buck erwartet hatte, auch wenn es so wohltuend war und ihm schmeichelte. Er gehörte zu keinem Team, und es brauchten ihm auch keine Rechte und Privilegien übertragen zu werden! Er schüttelte leicht den Kopf, um Carpathia zu zeigen, dass er sich irrte und Buck offensichtlich für jemand anderen hielt. Doch Nicolai nickte leicht und lächelte umso intensiver, blickte Buck noch eindringlicher an. Er wusste genau, was er tat. »Mögen Sie mir und Ihren Untergebenen gegenüber dieselbe Beständigkeit und Loyalität erweisen, die Sie in diese Position gebracht haben.« Buck verspürte den Drang, sich aufzurichten, seinem Mentor, seinem Führer, dem Spender solcher Ehre, zu danken. Aber 393
nein! Es war nicht richtig! Er arbeitete nicht für Carpathia. Er war ein unabhängiger Journalist, kein Unterstützer, Jünger, und ganz bestimmt kein Angestellter Carpathias. Er widerstand der Versuchung zu sagen: »Danke, Sir«, wie alle anderen es getan hatten. Er spürte förmlich das Böse, das diesen Mann umgab, und er musste sich sehr zusammennehmen, nicht auf ihn zu deuten und ihn »Antichrist« zu nennen. Er stellte sich vor, wie er Carpathia dieses Wort entgegenschleuderte. Nicolai starrte ihn immer noch an, lächelte immer noch, hielt immer noch seine Hand fest. Nach einer unbehaglichen Stille hörte Buck leises Lachen, und Carpathia sagte: »Sie sind herzlich willkommen, mein überwältigter und sprachloser Freund.« Die anderen lachten und applaudierten, als Carpathia ihn küsste, doch Buck lächelte nicht. Auch dankte er dem Generalsekretär nicht. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Während Carpathia weiterging, wurde Buck klar, was gerade passiert war. Hätte er nicht zu Gott gehört, wäre er in das Netz dieses Betrügers gezogen worden. Er konnte es im Gesicht der anderen lesen. Sie fühlten sich ungemein geehrt, von diesem mächtigen Mann ausgezeichnet worden zu sein, sogar Chaim Rosenzweig. Hattie schien in Carpathias Gegenwart dahinzuschmelzen. Bruce Barnes hatte Buck angefleht, an dieser Sitzung nicht teilzunehmen, und Buck wusste jetzt auch, warum. Wäre er unvorbereitet hier hereingekommen, hätten Bruce, Chloe und vermutlich auch Captain Steele nicht für ihn gebetet, wer weiß, ob er sich dann noch so rechtzeitig für Christus entschieden hätte, dass er der Verlockung widerstehen konnte? Carpathia machte mit Steve weiter, der vor Stolz strahlte. Schließlich hatte Nicolai mit allen im Raum außer dem Sicherheitsbeamten, Hattie und Jonathan Stonagal gesprochen. Er kehrte zu seinem Platz zurück und wendete sich zuerst an Hattie. 394
»Miss Durham«, sagte er und nahm ihre beiden Hände, »Sie werden als meine persönliche Assistentin vorgestellt werden. Sie haben Ihrer beruflichen Laufbahn in der Luftfahrt den Rücken gekehrt. Ich heiße Sie im Team willkommen und übertrage Ihnen alle Rechte und Privilegien, die mit Ihrem neuen Status einhergehen. Mögen Sie mir und Ihren Untergebenen gegenüber dieselbe Beständigkeit und Loyalität erweisen, die Sie in diese Position gebracht haben.« Buck versuchte, Hatties Buck auf sich zu ziehen und schüttelte den Kopf, doch sie sah nur ihren neuen Chef. War das alles Bucks Fehler? Er hatte sie Carpathia vorgestellt. War sie noch zu erreichen? Würde er Zugang zu ihr finden? Er blickte sich im Raum um. Alle beobachteten mit verzücktem Lächeln, wie Hattie ihren tief empfundenen Dank aussprach und sich wieder hinsetzte. Nun wendete sich Carpathia Jonathan Stonagal zu. Stonagals Mund umspielte ein wissendes Lächeln, und er erhob sich. »Wo soll ich beginnen, Jonathan, mein Freund?«, sagte Carpathia. Stonagal senkte dankbar den Kopf, und die anderen murmelten zustimmend, dass dies tatsächlich der Mann im Raum war. Carpathia nahm Stonagals Hand und begann formell: »Mr Stonagal, Sie bedeuten mir mehr als jeder andere auf dieser Erde.« Stonagal blickte auf und sah Carpathia in die Augen. »Ich heiße Sie im Team willkommen«, fuhr Carpathia fort, »und übertrage Ihnen alle Rechte und Privilegien, die mit Ihrem neuen Status einhergehen.« Stonagal zuckte zusammen. Ganz offensichtlich war er nicht daran interessiert, zum Team zu gehören, von dem Mann willkommen geheißen zu werden, den er zum Präsidenten von Rumänien und zum neuen Generalsekretär der Vereinten Nationen gemacht hatte. Sein Lächeln gefror und verschwand ganz, als Carpathia fortfuhr: »Mögen Sie mir und Ihren Untergebenen gegenüber dieselbe Beständigkeit und Loyalität 395
erweisen, die Sie in diese Position gebracht haben.« Stonagal entzog Carpathia seine Hand und starrte den Jüngeren an. Carpathia hielt seinem Buck stand und sprach nun leiser: »Mr Stonagal, Sie dürfen Platz nehmen.« »Das werde ich nicht!«, herrschte Stonagal ihn an. »Sir, ich habe mich ein wenig auf Ihre Kosten lustig gemacht, weil ich hoffte, Sie würden es verstehen.« Stonagal errötete. Es tat ihm Leid, dass er überreagiert hatte. »Es tut mir Leid, Nicolai«, sagte Stonagal mit gezwungenem Lächeln, doch ganz offensichtlich verletzt darüber, dass Carpathia ein solches Spiel mit ihm getrieben hatte. »Bitte, mein Freund«, sagte Carpathia. »Nehmen Sie doch Platz. Meine Herren, meine Dame, wir haben noch einige Minuten Zeit, bevor wir uns den Medien stellen.« Bucks Blick war immer noch auf Stonagal gerichtet, der vor Wut schäumte. »Ich würde Ihnen jetzt gern einmal vorführen, wie ich mir Führung und Gehorsam vorstelle. Mr Scott M. Otterness, würden Sie bitte einmal zu mir kommen?« Der Sicherheitsbeamte in der Ecke fuhr erschrocken zusammen und eilte zu Carpathia. »Eine meiner Führungsqualitäten ist meine Beobachtungsgabe kombiniert mit meinem phänomenalen Gedächtnis«, bemerkte Carpathia. Buck konnte seinen Blick nicht von Stonagal wenden, der anscheinend auf Rache sann dafür, dass er in Verlegenheit gebracht worden war. Er schien bereit zu sein, jeden Augenblick aufzustehen und Carpathia auf seinen Platz zu verweisen. »Mr Otterness hier war überrascht, weil wir einander nicht vorgestellt worden sind, nicht wahr?« »Ja, Mr Carpathia, wir sind uns tatsächlich nicht vorgestellt worden.« »Und doch wusste ich Ihren Namen.« Der Sicherheitsbeamte lächelte und nickte. »Ich kann Ihnen auch die Marke, das Modell und das Kaliber 396
der Waffe sagen, die Sie an Ihrer Hüfte tragen. Ich werde nicht hinsehen, wenn Sie sie herausnehmen und der Gruppe zeigen.« Entsetzt beobachtete Buck, wie Mr Otterness das Halfter öffnete und die Pistole herausholte. Er hielt sie hoch, damit alle außer Carpathia, der seinen Kopf weggedreht hatte, sie sehen konnten. Stonagal, immer noch mit hochrotem Kopf, atmete schwer. »Ich habe beobachtet, dass Sie eine geladene Achtunddreißiger Polizeiwaffe mit einem Zehn-Zentimeter-Lauf tragen.« »Sie haben Recht«, strahlte Otterness. »Darf ich sie einmal in die Hand nehmen?« »Sicher, Sir.« »Vielen Dank. Sie können jetzt auf Ihren Posten zurückkehren und Mr Williams’ Tasche bewachen, in der sich ein Kassettenrekorder, ein Handy und ein Computer befinden. Habe ich Recht, Cameron?« Buck starrte ihn an und weigerte sich zu antworten. Er hörte, wie Stonagal etwas von einem »Wohnzimmertrick« murmelte. Carpathia blickte auch weiterhin Buck fest an. Keiner sprach. »Was ist los?«, flüsterte Stonagal. »Sie benehmen sich wie ein kleines Kind.« »Ich möchte Ihnen allen gern sagen, was Sie jetzt miterleben werden«, sagte Carpathia, und wieder spürte Buck den Geist des Bösen im Raum. Er verspürte den Drang, die Flucht zu ergreifen, doch er blieb wie erstarrt auf seinem Stuhl sitzen. Die anderen schienen ebenfalls wie gebannt, jedoch nicht so besorgt wie er und Stonagal zu sein. »Ich werde nun Mr Stonagal bitten, sich noch einmal zu erheben«, sagte Carpathia, die hässliche Waffe in der Hand haltend. Stonagal starrte ihn an. Carpathia lächelte. »Jonathan, Sie wissen doch, dass Sie mir trauen können. Ich mag Sie, Sie haben mir viel bedeutet, und ich bitte Sie demütig, mir bei dieser Demonstration zu helfen. Zu meiner neuen Rolle gehört 397
es auch, Lehrer zu sein. Sie haben selbst gesagt, dass Sie jahrelang mein Lehrer gewesen sind.« Stonagal erhob sich zögernd. »Und nun werde ich Sie bitten, mit mir den Platz zu tauschen.« Stonagal fluchte. »Was soll das?«, fragte er. »Es wird sehr schnell klar werden, und dann brauche ich Ihre Hilfe nicht mehr.« Für die anderen musste das so klingen, als ob er Stonagals Hilfe für diese Demonstration nicht mehr brauchte. Genauso wie er den Sicherheitsbeamten unbewaffnet an seinen Platz zurückgeschickt hatte, mussten sie annehmen, er würde Stonagal danken und zu seinem Platz zurückkehren lassen. Stonagal trat mit unmutig gerunzelter Stirn vor und tauschte mit Carpathia den Platz. Nun stand Carpathia an Stonagals rechter Seite. Links von Stonagal saß Hattie neben ToddCothran. »Und ich werde Sie jetzt bitten, sich hinzuknien, Jonathan«, sagte Carpathia. Sein Lächeln und sein Plauderton waren verschwunden. Buck hatte den Eindruck, als würden alle im Raum den Atem anhalten. »Das werde ich nicht tun«, erwiderte Stonagal. »Doch, das werden Sie«, sagte Carpathia leise. »Jetzt.« »Nein, Sir, das werde ich nicht«, beharrte Stonagal. »Haben Sie den Verstand verloren? Ich werde mich nicht demütigen lassen. Wenn Sie meinen, Sie könnten sich über mich erheben, dann haben Sie sich geirrt.« Carpathia hob die Achtunddreißiger, entsicherte sie und steckte sie Stonagal ins rechte Ohr. Der Mann zuckte zuerst zurück, doch Carpathia sagte: »Noch eine Bewegung, und Sie sind ein toter Mann.« Mehrere andere erhoben sich, darunter auch Rosenzweig, der beschwörend rief: »Nicolai!« »Bitte nehmen Sie wieder Platz. Jonathan, auf die Knie.« 398
Mühsam ging der alte Mann in die Knie, wobei er sich an Hatties Stuhl abstützte. Er blickte Carpathia nicht an. Der Revolver steckte noch immer in seinem Ohr. Hattie war blass geworden. »Meine Liebe«, sagte Carpathia und beugte sich über Stonagals Kopf hinweg zu ihr hinüber, »würden Sie bitte Ihren Stuhl ein wenig zurücksetzen, damit Ihre Kleidung nicht beschmutzt wird?« Sie rührte sich nicht. Stonagal begann zu wimmern. »Nicolai, warum tun Sie das? Ich bin doch Ihr Freund! Ich bin keine Bedrohung für Sie!« »Das Jammern steht Ihnen nicht, Jonathan. Seien Sie bitte still. Hattie«, fuhr er fort und blickte sie nun direkt an, »stehen Sie auf, schieben Sie Ihren Stuhl einige Meter zurück und setzen Sie sich wieder. Haare, Haut und Gehirnmasse werden vorwiegend auf Mr Todd-Cothran und die anderen neben ihm fliegen. Ich möchte nicht, dass Sie etwas abbekommen.« Hattie schob mit zitternden Fingern ihren Stuhl zurück. Stonagal winselte: »Nein, Nicolai, nein!« Carpathia hatte es nicht eilig. »Ich werde Mr Stonagal mit einem schmerzlosen Schuss in den Kopf töten, den er weder hören noch fühlen wird. Uns anderen werden die Ohren vielleicht ein wenig dröhnen. Dies wird für Sie alle sehr lehrreich sein. Sie werden verstehen, dass ich die Macht habe, dass ich niemanden fürchte und dass sich mir niemand widersetzen kann.« Mr Otterness griff sich an die Stirn, als sei ihm schwindelig geworden und ging in die Knie. Buck überlegte, ob er vielleicht auf Carpathia zustürzen und ihm die Pistole entreißen sollte, doch ihm war klar, dass andere bei dem Versuch ums Leben kommen konnten. Er blickte zu Steve, der wie die anderen regungslos dasaß. Mr Todd-Cothran schloss die Augen und verzog das Gesicht, als erwartete er jeden Augenblick den Schuss. 399
»Wenn Mr Stonagal tot ist, werde ich Ihnen sagen, was hier passiert. Und falls jemand den Eindruck hat, ich sei nicht fair gewesen, so möchte ich Ihnen mitteilen, dass Mr ToddCothrans Anzug nicht nur durch Blut beschmutzt werden wird. Die Kugel wird auch ihn töten. Mr Williams, wie Sie wissen, habe ich Ihnen versprochen, mich dieser Sache anzunehmen.« Todd-Cothran riss die Augen auf, und Buck hörte sich rufen: »Nein!«, während Carpathia den Abzug spannte. Bei dem Schuss klirrten die Fenster und Türen. Stonagals Kopf fiel gegen den zu Boden stürzenden Todd-Cothran. Beide waren ganz offensichtlich tot, bevor ihre Körper noch den Boden berührten. Mehrere Stühle wurden zurückgeschoben, und die im Raum Anwesenden bargen entsetzt den Kopf in den Händen. Buck beobachtete mit offenem Mund, wie Carpathia die Waffe ruhig und beherrscht Stonagal in die Hand drückte und seinen Finger um den Abzug legte. Hattie zitterte auf ihrem Stuhl, und sie schien einen Schrei ausstoßen zu wollen, den sie nicht herausbrachte. Carpathia wendete sich wieder an sein Publikum. »Was wir hier gerade miterlebt haben«, sagte er freundlich, als spräche er zu Kindern, »war das schreckliche, tragische Ende zweier so außerordentlich produktiver Menschenleben. Ich habe diese Männer mehr als jeden anderen in der Welt bewundert und respektiert. Was Mr Stonagal dazu getrieben hat, den Sicherheitsbeamten zu entwaffnen und seinem eigenen Leben und dem seines britischen Kollegen ein Ende zu setzen, weiß ich nicht und werde es vermutlich auch nie ganz verstehen.« Buck kämpfte mit sich, dass er seinen klaren Verstand behielt und – wie sein Chef ihm auf dem Weg hierher noch mitgegeben hatte – alles zu behalten. Mit feuchten Augen fuhr Carpathia fort: »Ich kann Ihnen nur sagen, dass Jonathan Stonagal mir erst heute Morgen beim 400
Frühstück erzählte, er fühle sich für den gewaltsamen Tod zweier Männer in England verantwortlich, und er könne mit der Schuld nicht mehr länger leben. Ich dachte wirklich, er würde sich selbst noch heute den internationalen Behörden ausliefern. Und wenn er es nicht getan hätte, hätte ich es tun müssen. Wie er mit Mr Todd-Cothran zusammengearbeitet hat, und wie es zu den beiden Todesfällen gekommen ist, weiß ich nicht. Doch wenn er wirklich dafür verantwortlich war, dann würde an diesem Tag vielleicht der Gerechtigkeit Genüge getan. Wir alle sind noch ganz schockiert von dem Geschehenen. Wer könnte anders empfinden?! Mein erster Akt als Generalsekretär wird sein, die UNO für den Rest des Tages zu schließen, um des bedauernswerten Todes zweier Freunde zu gedenken. Ich bin zuversichtlich, dass Sie alle in der Lage sind, mit diesem unglückseligen Vorfall fertig zu werden, und dass Sie dadurch nicht in Ihrer Fähigkeit, Ihren Aufgaben gerecht zu werden, eingeschränkt werden. Vielen Dank, meine Herren. Während Miss Durham die Sicherheitskräfte herbeiruft, werde ich mit Ihnen noch einmal durchsprechen, was geschehen ist.« Hattie rannte zum Telefon und konnte sich in ihrer Hysterie kaum verständlich machen. »Kommen Sie schnell! Ein Selbstmord ist geschehen, und zwei Männer sind tot! Es war schrecklich! Beeilen Sie sich!« »Mr Plank?«, fragte Carpathia. »Das war unglaublich«, antwortete Steve, und Buck wusste, dass er es vollkommen ernst meinte. »Als Mr Stonagal die Pistole an sich riss, dachte ich, er würde uns alle töten!« Carpathia wendete sich an den Botschafter der Vereinigten Staaten. »Ich kenne Jonathan schon seit Jahren«, sagte er. »Wer hätte gedacht, dass er so etwas tun würde?« »Ich bin nur froh, dass Ihnen nichts geschehen ist, Herr Ge401
neralsekretär«, sagte Chaim Rosenzweig. »Ich fühle mich durchaus nicht wohl«, sagte Carpathia, »und es wird lange dauern, bis ich das überwunden haben werde. Dies waren immerhin meine Freunde.« Und so ging es weiter. Alle im Raum bestätigten Carpathias Aussage. Bucks Körper fühlte sich an wie Blei. Er wusste, Carpathia würde schließlich auch zu ihm kommen. Er war der Einzige im Raum, der nicht unter Carpathias hypnotischer Macht stand. Aber was würde geschehen, wenn Buck ihm das sagen würde? Würde er als Nächster getötet werden? Bestimmt! Konnte er lügen? Sollte er? Verzweifelt betete er zu Gott, während Carpathia von einem zum andern ging und sicherstellte, dass alle gesehen hatten, was er wollte, dass sie gesehen hatten. Sei still, schien Gott Buck zu sagen. Kein Wort! Buck war so dankbar, die Gegenwart Gottes inmitten dieses Bösen zu spüren, dass er zu Tränen gerührt war. Als Carpathia zu ihm kam, waren Bucks Wangen feucht, und er brachte keinen Ton heraus. Er schüttelte den Kopf und hob die Hand. »War es nicht schrecklich, Cameron? Der Selbstmord, der auch noch Mr Todd-Cothran getötet hat?« Buck konnte nicht sprechen, und hätte es auch nicht getan, selbst wenn er gekonnt hätte. »Sie haben beide gemocht und respektiert, Cameron, weil Sie nicht wussten, dass sie versucht haben, Sie in London zu töten.« Damit wendete sich Carpathia dem Sicherheitsbeamten zu. »Warum konnten Sie nicht verhindern, dass er Ihre Pistole an sich brachte, Scott?« Der alte Mann hatte sich erhoben. »Das alles ging so schnell! Ich wusste, wer er war, ein bedeutender, reicher Mann, und als er auf mich zurannte, wusste ich nicht, was er wollte. Er riss die Pistole aus dem Halfter, und bevor ich reagieren konnte, hatte er sich bereits erschossen.« »Ja, ja«, sagte Carpathia, während die Sicherheitsbeamten in den Raum stürmten. Alle sprachen auf einmal, und Carpathia 402
zog sich in eine Ecke zurück und weinte über den Verlust seiner Freunde. Ein Kriminalbeamter in Zivil stellte Fragen. Buck ging an ihm vorbei. »Sie haben genügend Augenzeugen hier. Ich lasse Ihnen meine Karte da, und Sie können mich anrufen, wenn Sie mich brauchen, ja?« Der Polizist nahm seine Karte und gab ihm seine eigene, und Buck konnte gehen. Buck nahm seine Tasche und rannte aus dem Gebäude. Er suchte sich ein Taxi, um in die Redaktion zu fahren. Dort schloss er sich ein und schrieb eifrig jede Einzelheit der Story nieder. Er hätte bereits einige Seiten voll geschrieben, als er einen Anruf von Stanton Bailey erhielt. Der alte Mann bestürmte ihn mit Fragen und ließ ihm kaum Zeit zu antworten. »Wo sind Sie gewesen? Warum waren Sie nicht bei der Pressekonferenz? Wo waren Sie, als Stonagal Selbstmord begangen und den Briten mitgenommen hat? Sie hätten da sein sollen. Es hätte unser Prestige gehoben, wenn Sie dabei gewesen wären. Wie wollen Sie alle davon überzeugen, dass Sie da gewesen sind, wo Sie nicht einmal zur Pressekonferenz erschienen sind. Cameron, was ist eigentlich los?« »Ich bin hierher zurückgefahren, um den Artikel zu schreiben.« »Haben Sie nicht noch ein Exklusivinterview mit Carpathia?« Buck hatte das vollkommen vergessen, und Plank hatte es nicht bestätigt. Was sollte er nun deswegen unternehmen? Er betete, doch er spürte keine Führung. Wie sehnte er sich danach, mit Bruce, Chloe oder sogar Captain Steele zu sprechen! »Ich werde Steve anrufen und sehen, was sich machen lässt«, sagte er. Buck wusste, er konnte nicht zu lange mit diesem Anruf warten. Sollte er es wagen, allein mit Carpathia in einem Raum zu sitzen? Und wenn es tatsächlich zu diesem Interview kam, sollte er so tun, als stehe er genauso unter seiner Kontrolle wie 403
alle anderen? Wenn er das nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte er es nicht geglaubt. Würde er immer in der Lage sein, einer solchen Beeinflussung mit Gottes Hilfe zu widerstehen? Er wusste es nicht. Er wählte Steves Piepser an, und der Anruf wurde wenige Minuten später entgegengenommen. »Hier ist wirklich viel los, Buck. Was hast du auf dem Herzen?« »Ich habe mich gefragt, ob ich das Exklusivinterview mit Carpathia bekomme.« »Machst du Witze? Du hast doch gehört, was hier passiert ist, und du willst ein Exklusivinterview?« »Gehört? Ich war da, Steve.« »Nun, wenn du da warst, dann weißt du vermutlich, was vor der Pressekonferenz passiert ist.« »Steve, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« »Du scheinst mir nicht folgen zu können, Buck. Ich sagte, wenn du zur Pressekonferenz hier warst, dann hast du von dem Selbstmord Stonagals in der vorhergehenden Sitzung gehört, in der Sitzung, bei der du eigentlich auch anwesend sein solltest.« Buck wusste nicht, was er sagen sollte. »Du hast mich doch dort gesehen, Steve.« »Ich habe dich nicht einmal bei der Pressekonferenz gesehen.« »Ich war auch nicht bei der Pressekonferenz, Steve, doch ich war in dem Raum, als Stonagal und Todd-Cothran starben.« »Für so etwas habe ich keine Zeit, Buck. Das ist nicht lustig. Du solltest hier sein, aber du bist nicht gekommen. Das tut mir Leid, Carpathia ist verärgert, und nein, es gibt kein Exklusivinterview.« »Ich habe doch meinen Ausweis. Ich habe ihn unten geholt!« »Warum hast du ihn dann nicht benutzt?« »Das habe ich doch!« Steve legte einfach den Hörer auf. Marge meldete sich über die Gegensprechanlage und sagte, der Chef sei wieder am 404
Apparat. »Was ist eigentlich los, dass Sie nicht einmal zu der Sitzung gegangen sind?«, fragte Bailey. »Ich war doch da. Sie haben mich doch hineingehen sehen!« »Ja, ich habe Sie gesehen. Sie waren so nahe. Was haben Sie wirklich gemacht, etwas Wichtigeres gefunden? Sie müssen sich schon was einfallen lassen, Cameron!« »Ich sage Ihnen doch, ich war da! Ich werde Ihnen meinen Ausweis zeigen.« »Ich habe gerade die Liste überprüft, Sie stehen nicht drauf.« »Natürlich stehe ich drauf. Ich werde es Ihnen zeigen.« »Ihr Name steht drauf, doch er ist nicht gegengezeichnet.« »Mr Bailey, ich halte meinen Ausweis gerade in der Hand.« »Ihr Ausweis bedeutet gar nichts, wenn Sie ihn nicht benutzen, Cameron. Also, wo waren Sie?« »Lesen Sie meine Geschichte«, sagte Buck. »Dann wissen Sie genau, wo ich war.« »Ich habe gerade mit drei oder vier Leuten gesprochen, die wirklich da waren, darunter einem Sicherheitsbeamten und Carpathias persönlicher Assistentin, ganz zu schweigen von Plank. Keiner von ihnen hat Sie gesehen.« »Ein Kriminalbeamter hat mich gesehen! Wir haben unsere Visitenkarten ausgetauscht!« »Ich komme ins Büro, Williams. Wenn Sie nicht da sind, wenn ich ankomme, sind Sie gefeuert!« »Ich werde da sein.« Buck suchte die Visitenkarte des Kriminalbeamten hervor und wählte die Nummer. »Polizeirevier«, ertönte eine Stimme. Buck las den Namen von der Karte ab: »Detective Sergeant Billy Cenni, bitte.« »Wie ist der Name?« »Cenni, oder vielleicht auch Kenni?« »Den kenne ich nicht. Haben Sie das richtige Polizeirevier?« Buck wiederholte die Nummer, die auf der Karte stand. »Das ist unsere Nummer, aber dieser Bursche ist hier nicht 405
bekannt.« »Wie kann ich ihn ausfindig machen?« »Ich bin ziemlich beschäftigt hier. Rufen Sie doch das Hauptquartier an.« »Es ist sehr wichtig. Haben Sie nicht ein Namensverzeichnis?« »Hören Sie, wir haben Tausende von Kriminalbeamten.« »Sehen Sie doch für mich nur unter Cenni nach, ja?« »Einen Augenblick.« Es dauerte nicht lange, bis er sich wieder meldete. »Nichts, in Ordnung?« »Könnte er neu sein?« »Er könnte auch Ihre Schwester sein.« »Wo kann ich mich erkundigen?« Der Mann gab Buck die Nummer des Polizeihauptquartiers. Buck wiederholte das ganze Gespräch noch einmal, nur hatte er diesmal eine freundliche junge Dame am Apparat. »Ich werde das für Sie überprüfen«, sagte sie. »Ich werde den Personalchef anrufen, denn Ihnen wird man keine Auskunft geben, wenn Sie nicht ein Polizeibeamter sind.« Er hörte zu, wie sie den Namen buchstabierte. »Ja, verstanden«, sagte sie. »Vielen Dank. Ich werde es ihm sagen.« Dann meldete sie sich wieder bei Buck. »Sir, der Personalchef sagt, im New Yorker Police Department gäbe es niemanden mit dem Namen Cenni und hätte es auch niemals gegeben. Es hat den Anschein, als würde jemand eine gefälschte Polizeivisitenkarte in Umlauf bringen, und man würde sie gern sehen.« Buck konnte nun nur noch versuchen, Stanton Bailey zu überzeugen. Rayford Steele, Chloe und Bruce Barnes sahen sich die UNOPressekonferenz am Fernseher an. Sie bemühten sich, Buck unter den Journalisten auszumachen. »Wo ist er nur?«, fragte Chloe. »Er muss irgendwo sein. Alle anderen von dieser Sitzung sind da. Wer ist das Mädchen?« 406
Rayford sprang auf, als er sie entdeckte und deutete schweigend auf den Bildschirm. »Dad!«, sagte Chloe. »Denkst du dasselbe wie ich?« »Es sieht so aus, als sei sie es«, meinte Rayford. »Schsch«, machte Bruce, »er stellt alle vor.« »Und meine neue persönliche Assistentin, die ihren Beruf in der Luftfahrt aufgegeben hat …« Rayford ließ sich in seinen Sessel sinken. »Ich hoffe nur, dass Buck nicht dahinter steckt.« »Ich auch«, sagte Bruce. »Das würde bedeuten, dass auch er mit hineingezogen worden ist.« Die Neuigkeit vom Selbstmord Stonagals und Todd-Cothrans Tod verblüffte sie. »Vielleicht hat Buck meinen Rat angenommen und ist nicht hingegangen«, meinte Bruce. »Ich hoffe es sehr.« »Das sieht ihm gar nicht ähnlich«, sagte Chloe. »Nein, das stimmt«, bestätigte Rayford. »Ich weiß«, meinte Bruce. »Aber ich kann doch hoffen. Ich möchte nicht wissen, was dort vorgegangen ist. Was ist ihm wohl passiert, wenn er nur mit unseren Gebeten in die Sitzung gegangen ist?« »Man sollte meinen, das sei ausreichend«, sagte Chloe. »Nein«, erwiderte Bruce. »Er brauchte den persönlichen Schutz Gottes.« Als Stanton Bailey eine Stunde später in Bucks Büro stürmte, wurde Buck klar, dass er gegen eine Macht antrat, gegen die er nicht bestehen konnte. Die Aufzeichnungen von seiner Anwesenheit bei der Sitzung waren ausradiert worden, auch aus dem Gedächtnis der dort anwesenden Personen. Er wusste, Steve täuschte das nicht nur vor. Er war tatsächlich davon überzeugt, dass Buck nicht da gewesen war. Die Macht, die Carpathia über diese Leute ausübte, kannte keine Grenzen. Wenn Buck noch irgendeinen Beweis gebraucht hätte, dass sein eigener 407
Glaube real und Gott wirklich in sein Leben getreten war, so hatte er ihn nun. Wenn er nicht vor Betreten des Raumes Christus angenommen hätte, würde er nun auch zu Carpathias Marionetten gehören. Bailey war nicht in der Stimmung, sich mit ihm auseinander zu setzen, darum ließ Buck den alten Mann reden und versuchte nicht mehr, sich zu verteidigen. »Ich möchte nichts mehr von diesem Unsinn hören, dass Sie da gewesen sind. Ich habe Sie in dem Gebäude gesehen, und ich habe auch Ihren Ausweis gesehen, aber Sie und ich und alle anderen, die da gewesen sind, wissen, dass Sie nicht da waren. Ich weiß nicht, was Sie für wichtiger gehalten haben, aber Sie haben sich geirrt. Das ist nicht akzeptabel und unverzeihlich, Cameron. Ich kann Sie nicht mehr länger als Chefredakteur behalten.« »Ich trete gern von dem Posten zurück und arbeite weiter als Journalist.« »Das geht auch nicht, mein Lieber. Ich möchte Sie nicht mehr in New York haben. Ich werde Sie in das Chicagoer Büro schicken.« »Ich werde das gern für Sie leiten.« Bailey schüttelte den Kopf. »Sie verstehen nicht, Cameron. Ich traue Ihnen nicht mehr. Eigentlich sollte ich Sie feuern. Aber ich weiß, dass Sie einfach zu einer anderen Zeitung gehen würden.« »Ich möchte zu keiner anderen Zeitung gehen.« »Gut, denn wenn Sie versuchen sollten, bei der Konkurrenz unterzukommen, würde ich von diesem Vorfall berichten müssen. Sie werden in Chicago ein Reporter unter vielen sein und für die Frau arbeiten, die Lucinda Washingtons Assistentin war. Ich rufe sie heute noch an und sage ihr Bescheid. Natürlich bedeutet das eine drastische Gehaltskürzung, vor allem wenn man bedenkt, was Sie durch Ihre Beförderung bekommen hätten. Sie können sich ein paar Tage frei nehmen, Ihre Angelegenheiten hier regeln, Ihre Wohnung kündigen und sich 408
in Chicago was Neues suchen. Eines Tages möchte ich, dass wir die Sache bereinigen, mein Sohn. Das war die dümmste Entschuldigung, die mir je untergekommen ist, und das auch noch von dem Besten in diesem Metier.« Mr Bailey knallte die Tür hinter sich zu. Buck konnte es kaum erwarten, mit seinen Freunden in Illinois zu sprechen, doch von seinem Büro oder seiner Wohnung aus wollte er nicht anrufen, und er wusste auch nicht genau, ob sein Handy sicher war. Er packte seine Sachen und nahm ein Taxi zum Flughafen. Bei einer Telefonzelle etwa einen Kilometer vom Flughafen entfernt bat er den Taxifahrer, anzuhalten. Da er bei den Steeles niemanden erreichte, wählte er die Nummer der Gemeinde. Bruce meldete sich und sagte, dass Chloe und Rayford bei ihm seien. »Stellen Sie das Telefon auf Lautsprecher, damit sie mithören können«, sagte er. »Ich nehme den Flug um drei Uhr nach Chicago. Doch lassen Sie mich Ihnen Folgendes sagen: Carpathia ist Ihr Mann, da gibt es keinen Zweifel. Er passt vollkommen ins Bild. Ich habe Ihre Gebete heute Morgen bei der Sitzung gespürt. Gott hat mich beschützt. Ich ziehe nach Chicago, und ich möchte Mitglied der, wie nannten Sie es noch, Bruce, werden?« »Der ›Tribulation Force‹?« »Genau!« »Bedeutet das …?«, begann Chloe. »Du weißt genau, was das bedeutet«, erwiderte Buck. »Ihr könnt auf mich zählen.« »Was ist passiert, Buck?«, fragte Chloe. »Das würde ich euch lieber persönlich erzählen«, antwortete er. »Aber ich habe eine erstaunliche Geschichte für euch! Und ihr seid vermutlich die Einzigen, die sie mir glauben werden.« Als sein Flugzeug landete, eilte Buck zum Ausgang, wo er von Chloe, Bruce und Rayford Steele freudig begrüßt wurde. Alle 409
umarmten ihn, sogar der sonst so gefasste Kapitän. Sie zogen sich in eine Ecke zurück, und Bruce betete. Er dankte Gott für ihren neuen Bruder und dass er ihn beschützt hatte. Gemeinsam gingen sie durch das Terminal zum Parkhaus, die Arme umeinander gelegt, durch ein gemeinsames Ziel zusammengestellt. Rayford Steele, Chloe Steele, Buck Williams und Bruce Barnes standen die größten Gefahren bevor, die je einem Menschen begegnen konnten, und sie kannten ihre Mission. Die Aufgabe der Tribulation Force war klar, und ihr Ziel kein geringeres, als sich während der sieben schlimmsten Jahre, die dieser Planet jemals erleben würde, gegen die Feinde Gottes zu stellen und gegen sie zu kämpfen.
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