Öffentliches Gedenken
Insa Eschebach, Dr. phil, Religionswissenschaftlerin, ist zur Zeit wissenschaftliche Mitarbeite...
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Öffentliches Gedenken
Insa Eschebach, Dr. phil, Religionswissenschaftlerin, ist zur Zeit wissenschaftliche Mitarbeiterin in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Insa Eschebach
Öffentliches Gedenken Deutsche Erinnerungskulturen seit der Weimarer Republik
Campus Verlag Frankfurt / New York
Dieser Band resultiert aus einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Forschungsprojekt, das am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelt war. Die Publikation wurde durch die freundliche Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung ermöglicht.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-37630-X Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2005 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Druck und Bindung: KM-Druck, Groß-Umstadt Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany
»Eben deshalb darf es keine Opfer geben (Menschenopfer), Menschen als Opfer, weil der geopferte Mensch nichts ergibt. Es ist nicht wahr, daß die Opfer mahnen, bezeugen, Zeugenschaft für etwas ablegen, das ist eine der furchtbarsten und gedankenlosesten, schwächsten Poetisierungen. [...] Auf das Opfer darf keiner sich berufen. Es ist Mißbrauch. Kein Land und keine Gruppe, keine Idee, darf sich auf ihre Toten berufen.« Ingeborg Bachmann
Inhalt
Einleitung I
GESCHICHTE UND THEORIEN DES GEDENKENS .................................................19 Anmerkungen zur Geschichte..................................................................................22 Theorien des Gedenkens ..........................................................................................38 Sakralisierung und Trivialisierung ............................................................................48
II »HEILIGES STERBEN« – DIE SPRACHE DES GEDENKENS
IN DER WEIMARER REPUBLIK ..................................................................................60
»Heilige Bezirke«: Das Tannenberg-Nationaldenkmal und das Marine-Ehrenmal ........................................................................................65 Die Feiern....................................................................................................................74 Die Lieder....................................................................................................................83 III KONSEKRATION UND TOTENEHRUNG: GEDENKFEIERN AM MARINE-EHRENMAL LABOE 1927–1954................................................................89 »Die Wiederkehr der Toten«: Die Grundsteinlegung 1927 ..................................91 »Das erfüllte Vermächtnis«: Die Einweihung 1936 ...............................................96 »Die hohen Werte des Abendlandes«: Die Einweihung 1954............................102 IV GRÄBER, ERDE, ASCHE, URNEN: ZUR ENTSTEHUNG HEILIGER ORTE IN DER FRÜHEN NACHKRIEGSZEIT ..........................................108 Massengräber und Friedhöfe..................................................................................109 Asche und Erde........................................................................................................116
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JAHRESTAGE DER BEFREIUNG: GEDENKFEIERN IN RAVENSBRÜCK 1946–1995 ..................................................135 Die frühen Jahrestage ..............................................................................................139 Die Nationalisierung des Gedenkens ....................................................................142 Zur Demokratisierung des Gedenkens .................................................................154
VI CHRISTLICHE SYMBOLISIERUNGEN IN DEN KZ-GEDENKSTÄTTEN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND ...............................................................163 Religiöse Sprachen des Gedenkens I: Westdeutsche KZ-Gedenkstätten in der frühen Nachkriegszeit ................................................167 Religiöse Sprachen des Gedenkens II: Ostdeutsche KZ-Gedenkstätten nach der deutschen Vereinigung..........................................174 VII NATIONALISIERUNG UND UNIVERSALISIERUNG: GEDENKEN NACH DER DEUTSCHEN VEREINIGUNG .........................................185 Diskurse des Gedenkens in den neunziger Jahren ..............................................188 Totengedenken nach dem 11. September 2001 ...................................................196 Nachwort ..........................................................................................................................206 Literatur.............................................................................................................................213 Abbildungsnachweise ......................................................................................................225
Einleitung
Mit den Worten: »Ein Land vereint im Gedenken« kommentierte der Norddeutsche Rundfunk am Abend des 11. September 2001 die Reaktionen in Deutschland auf die Selbstmordattentate in den Vereinigten Staaten. In der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin wurde die ganze Nacht hindurch gebetet, ein dreitägiger Gebetsmarathon schloß sich an. »Wir sind eine Welt,« so Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung am 12. September. Schweigeminuten wurden am 13. September um 10 Uhr deutschlandweit, am darauf folgenden Tag um 12 Uhr europaweit durchgeführt. Bei Akten öffentlichen Gedenkens handelt es sich, wie die Beispiele zeigen, um Prozesse der Vergemeinschaftung, oder, wie der Historiker Otto Gerhard Oexle formuliert: »Alles Gedenken, das sich auf Tote bezieht, (ist) stets ein gruppenbezogenes, ein in Gruppen konstituiertes Gedenken.«1 Akte öffentlichen Gedenkens zielen auf die Konstitution eines »Wir«, einer Gemeinschaft, die einerseits verbal, in den Reden und Gedenkansprachen, andererseits über performative Akte wie beispielsweise das gemeinsame Singen oder Schweigen hergestellt wird. Die Gedenkfeiern anläßlich des 11. September 2001 in Deutschland transportierten unterschiedliche Vorstellungen von Gemeinschaft wie Deutschland, Europa oder auch »eine Welt«. Akte öffentlichen Gedenkens sind in der Bundesrepublik zu einem verbreiteten Medium kollektiver Selbstverständigung geworden. Dabei können unterschiedliche Gruppen aus denselben Ereignissen durchaus divergierende Schlüsse ziehen. Dieser Umstand illustriert die von Aleida Assmann entwickelte These von den »vielen unterschiedlichen und z. T. einander widerstreitenden Gedächtnissen (...), die ihr Recht auf gesellschaftliche Anerkennung geltend machen«.2 Während in der Deut-
—————— 1 Oexle 2001, S. 25. 2 Aleida Assmann 1999, S. 15f.
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schen Demokratíoschen Republik oder auch im Nationalsozialismus öffentliches Gedenken stets staatsoffizielles, uniformes Gedenken war und Gemeinschaftsbilder wie das des »sozialistischen Vaterlandes« oder des »deutschen Volkes« popularisiert wurden, koexistieren heute Gedenkstunden des Deutschen Bundestages mit einer Fülle unterschiedlicher Initiativen. Ein Beispiel sind die zahlreichen Gedenkveranstaltungen, die am »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus«, dem 27. Januar 2001 in Berlin durchgeführt wurden. Um nur drei von ihnen zu nennen: An diesem regnerischen Tag gab es eine Gedenkveranstaltung der Überparteilichen Fraueninitiative in der Rosenstraße, auf dem Nollendorfplatz wurde der im Dritten Reich verfolgten und ermordeten Homosexuellen gedacht. Zu einer Versammlung am Ort des künftigen Denkmals für die ermordeten Juden Europas südlich des Brandenburger Tors hatte die parteiübergreifende Berliner Initiative »Europa ohne Rassismus« aufgerufen. Aus der Erinnerung an den Nationalsozialismus wurden während dieser drei Feiern unterschiedliche Bezüge zur Gegenwart hergestellt: Im Zentrum der Gedenkfeier in der Rosenstraße, wo im Februar 1943 aufgrund des öffentlichen Protestes von Müttern, Ehefrauen und Töchtern etwa 2000 internierte Juden frei gegeben worden waren, stand die Würdigung der Zivilcourage dieser Frauen; Zivilcourage müsse, so die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, auch in der Demokratie eine Grundtugend sein. Die Gruppe der Gedenkenden auf dem Nollendorfplatz wandte sich gegen die nach wie vor aktuelle Diskriminierung homosexuell lebender Menschen. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse appellierte im Namen der Initiative »Europa ohne Rassismus« an die Firmen, die zu diesem Zeitpunkt noch keine Entschädigungszahlung für die ehemaligen NS-Zwangsarbeiter geleistet hatten.3 Doch obwohl es sich bei Akten öffentlichen Gedenkens um ein durchaus verbreitetes Phänomen handelt, scheint der Begriff des Gedenkens merkwürdig unscharf. Erinnerung, Gedächtnis und Gedenken werden häufig synonym verwendet, obgleich es sich doch um durchaus unterschiedliche Modi einer Vergegenwärtigung des Vergangenen handelt. Öffentliches Gedenken ist zunächst einmal eine soziale Praxis, eine Form »zeremonialisierter Kommunikation über die Vergangenheit«4, die von einem dominanten Interesse an normativen Setzungen geleitet ist. Vergangenes wird mit der Kraft des Normativen versehen, um daraus Handlungsprämissen für
—————— 3 Vgl. Wibke Bergemann und Petra Mayer, Kränze, Rosen und mahnende Worte. Taz vom 29.1.2001. 4 Welzer 2001, S. 13.
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Gegenwart und Zukunft abzuleiten, oder, in den Worten des Politologen Peter Steinbach: »Gedenken ist die Transformation der Erinnerung in das Prinzipielle, fast Zeitlose und deshalb Gültige.«5 Das leitende Interesse dieser Arbeit richtet sich auf die Rhetoriken und Techniken eben dieser Transformation in Akten öffentlichen Gedenkens, die im Deutschland des 20. Jahrhunderts gewaltsam getöteten Menschen gewidmet waren. Lange Zeit war das Prinzipielle, (fast) Zeitlose und daher Gültige durch Vorstellungen des Heiligen geprägt. Seit den napoleonischen Kriegen ist der gewaltsame Tod durch diskursive Bezüge auf ein sacrum thematisiert und gerechtfertigt worden. In Anlehnung an Rudolf Otto und Mircea Eliade definiert der Religionssoziologe Peter L. Berger das Heilige als »eine numinose, furchterregende Mächtigkeit, die der Mensch anders als sich selbst und doch mit ihm verbunden erlebt«.6 In dieser Perspektive ist das Heilige eine numinose Macht und Größe und damit eine Kategorie sui generis. Dagegen basiert die vorliegende Studie auf der These, daß es sich beim sacrum stets um eine Konstruktion sozialer Praxis handelt. Sakralisierung als der Prozeß, der ein Alltägliches in den Status des Heiligen transponiert, ist eine Kulturtechnik, auf deren Ausübung die Kirchen jahrhundertelang ein Monopol behaupteten. Die Geschichte des Gefallenengedenkens zeigt, daß im Kontext der Genese der Nationalstaaten die Sakralisierungskompetenz schrittweise von »weltlichen« Repräsentanten übernommen wurde. Dabei diente den nicht-kirchlichen Gedenkveranstaltungen – seien es staatliche, seien es von den Krieger- bzw. Denkmalvereinen initiierte Feiern – die christliche Memorialkultur gewissermaßen als Modell, und zwar sowohl auf der Ebene der (verbal vorgetragenen) Deutungen des gewaltsamen Todes als auch auf der Ebene der kommemorativen Praktiken. Die Adaption religiös tradierter Deutungsmuster und Praktiken des Gedenkens zu gesellschaftspolitischen Zwecken wurde gleichwohl von den christlichen Kirchen begleitet und gefördert. Noch zur Zeit der Weimarer Republik waren neben den Repräsentanten des Staates und des Militärs in der Regel Geistliche beider christlichen Konfessionen an den Gedenkfeiern beteiligt; eine Kooperation, der im Jahr 1937 durch den regierungsamtlichen Ausschluß aller Geistlichen von staatsoffiziellen Gedenkfeiern ein (vorläufiges) Ende gesetzt wurde. Nach 1945 wird die Sakralisierung des gewaltsamen Todes in öffentlichen Gedenkfeiern seltener beziehungsweise koexistiert mit neuen Formen der Universalisierung.
—————— 5 Steinbach 1999, S. 142. 6 Berger 1973, S. 26.
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In psychologischer Perspektive sind kommemorative Praktiken den Trauernden eine Hilfe im Umgang mit ihrem Verlust. Der Tod ist die endgültige, die totale Form sozialer Trennung. Auf diese Erfahrung von Diskontinuität und Desintegration wird in Akten öffentlichen Gedenkens mit der Evokation von Gemeinschaft reagiert, die – qua spezifischer Techniken der Vergegenwärtigung – auch die vermeintliche Präsenz der Toten umfassen kann. Die Prämisse des Prinzipiellen, (fast) Zeitlosen und daher Gültigen wird angerufen als eine Instanz, die Leben und Tod gleichermaßen übersteigt und die reale Trennung aufzuheben scheint. Gott, Deutschland, Volk, Nation, die Vorsehung, das Schicksal oder auch der Geist der Toten und ihr Vermächtnis waren im 20. Jahrhundert Schlüsselbegriffe, mit denen, entgegen des real erfahrenen Bruchs, eine Gemeinschaft beziehungsweise eine Gemeinsamkeit der Lebenden und der Toten behauptet werden kann. Trauer, Leid und Verlust werden im Akt des Gedenkens in einen Ordnungsrahmen gebracht, um auf diese Weise Kontingenz, Partikularität und Unbestimmtheit des Todes in einer »ganzen«, unversehrten, letztlich »heilen« Geschichte aufzuheben. Öffentliches Gedenken thematisiert die Erfahrung von Trennung und Schmerz auf eine Weise, die Anschlußhandlungen und Perspektiven auf ein Weiterleben ermöglicht. Das gilt nicht allein für Angehörige und Freunde der Toten, sondern ebenso für Veteranen und Überlebende, für die öffentliches Gedenken einen Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung ihrer eigenen, spezifischen Leiderfahrung darstellt. Diese Funktion öffentlichen Gedenkens wird besonders dann augenfällig, wenn die gesellschaftliche Anerkennung spezifischer Leiderfahrung von bestimmten Gruppen zwar verlangt, aber nicht gewährt wird. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Jahr 2000 forderte eine Gruppe der sogenannten Rußlanddeutschen, den 28. August zum Tag des Gedenkens an die Opfer der stalinistischen Repressionen zu erklären. Erinnert werden sollte an die in der Sowjetunion lebenden Deutschen, die nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Jahr 1941 verschleppt worden waren; viele von ihnen waren ums Leben gekommen. Zusätzlich zu diesem Gedenktag wurde auch die Errichtung eines Denkmals in Berlin gefordert.7 Die Frage, ob öffentliches Gedenken in Deutschland künftig die in der Sowjetunion vergessenen Toten ein-
—————— 7 Die Wahl des Gedenktages wurde damit begründet, daß am 28.8.1941 »der Erlass des Obersten Rates der UdSSR veröffentlicht wurde, der die Massenrepressionen und den Genozid begründete, welche Obrigkeit und Strafverfolgungsorgane der Sowjetunion gegen die ethnischen Deutschen begannen, die seit den Zeiten Peters des Großen auf ihrem Gebiet lebten« Zit. nach Hanna Kolb, Rechnung ohne den Wirt. Aus russischen Zeitungen: Auch die Russlanddeutschen wünschen sich ein Mahnmal in Berlin. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.7.2000.
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schließen wird, hängt davon ab, ob diese Toten Relevanz für kollektive Selbstverständigungsprozesse in der Gegenwart gewinnen oder nicht. Denn es sind stets nur die »eigenen« Toten, derer gedacht wird. Nach den Attentaten des 11. September 2001 ist in verschiedenen Feuilletons die Frage gestellt worden, warum beispielsweise die etwa 800 000 in Ruanda Ermordeten, die 250 000 von Kroaten und Serben getöteten muslimischen Bosnier oder die organisierten Massentötungen in Tschetschenien, Afghanistan, in Israel und Palästina nicht auf vergleichbare Weise Deutschland »im Gedenken vereint« haben. Der Grund dafür ist das Medium des Gedenkens selbst, dessen gruppenlegitimatorische Funktion das Gedenken der »anderen« Toten weitgehend auszuschließen scheint. Ein ebenso prominentes wie skandalöses Beispiel ist der weitgehende Ausschluß der jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkrieges aus vielen Gedenkfeiern zur Zeit der Weimarer Republik: Selbst während der zentralen Feier des »Heldengedenktages« im Jahr 1924 in Berlin hielten neben dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert nur Geistliche beider christlicher Konfessionen Ansprachen. Der Reichsbund jüdischer Frontkämpfer beging mit Rabbiner Leo Baeck eine eigene Gedenkfeier.8 Öffentliches Gedenken basiert auf Ausschlußprinzipien. Was in den Rang einer öffentlichen Erinnerung gehoben wird, ist »von den Rändern des Vergessens profiliert«.9 Stets bedarf es einer spezifischen Zurichtung beziehungsweise Kodifizierung der zu erinnernden Ereignisse,10 wie das folgende Beispiel zeigt: Als in Kabul am 6. März 2002 zwei deutsche und drei dänische Soldaten bei der Entschärfung einer alten Rakete sowjetischer Bauart ums Leben kamen,11 titelte die BZ am folgenden Tag: »Deutschland wird euch nie vergessen.« Ein solches Diktum scheint notwendig angesichts der Tatsache, daß in den Jahren 1993 bis 2002 38 Soldaten der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen durch Unfälle und Selbsttötung ums Leben gekommen waren – ihr Tod war in keiner Weise Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit. Um die Relevanz eines Todes für eine Gruppe oder Gesellschaft anzuzeigen, bedarf es spezifischer Deutungsmuster wie beispielsweise die Deutung des gewaltsamen To-
—————— 8 Vgl. Seite 80 in diesem Band 9 Aleida Assmann 1999, S. 408. 10 So auch Moshe Zuckermann, der Akte des Gedenkens als einen »Prozeß der vereinfachenden Kodifizierung« beschreibt; »unliebsame« Teile des Vergangenen werden vergessen; Zuckermann 1999, S. 9f. 11 Die Rakete sollte nicht gesprengt, sondern nur entschärft werden, weil die Soldaten die Hülle als »Souvenir« mit nach Hause bringen wollten; vgl. Unfall in Kabul – Folge von Versäumnissen? Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.3.2002.
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des als Heldentod: »Unsere Helden! Heimkehr in Särgen« lautete dementsprechend der Aufmacher der BZ am 10. März 2002. Wie schon im Titel der Ausgabe vom 7. März scheinen Kollektivsingulare wie »Deutschland« oder »unsere Helden«, also ein »Wir« und damit spezifische Gemeinschaftsvorstellungen, erforderlich zu sein, um die Toten als »eigene« erkennen zu können. Zu denken gibt, daß tradierte Deutungsmuster wie die des Heldentodes, die in Deutschland nach 1945 mehr als obsolet geworden waren, um den Preis ihrer Enthistorisierung ohne weiteres aktualisierbar sind.
Abb. 1 Titelblatt der BZ am Sonntag vom 11. März 2002. Nun beruhen Akte öffentlichen Gedenkens nicht nur auf dem Ausschluß der »anderen« Toten, sondern auch auf dem Vergessen der Realität des Todes selbst. Die
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Sprache des Gedenkens verfügte im 20. Jahrhundert über ein Repertoire von Vokabeln, mit dessen Hilfe der gewaltsame Tod zwar benannt, aber in der Benennung zugleich unkenntlich gemacht werden kann: Die Reden vom »Gefallenen«, vom »nassen Seemannsgrab«, von Helden und Märtyrern, von den »Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft« dienen der Euphemisierung der Zerstörung menschlicher Körper. Das Erschlagen-, Zerquetscht- oder Zerrissenwerden, das Ersticken, Erfrieren, Verbrennen, Verhungern, der Tod durch Folter, durch Seuchen oder Gas – die Techniken des Tötens, die im 20. Jahrhundert eine nie dagewesene Perfektion erlangt haben, werden – gedenkend – vergessen gemacht. Die Physis des gewaltsamen Todes wird in Bildern letztlich unversehrter Toter aufgehoben, die, wie in zahlreichen Denkmälern nach dem Ersten Weltkrieg, beispielsweise schlafend oder ruhend dargestellt werden. Ein anderes Medium der Vergegenwärtigung der Toten ist die Asche und Erde von den Kriegsschauplätzen und Vernichtungsstätten; in Form gleichsam entmaterialisierter Substanzen gewinnt der Tod eine faßbare, sozusagen annehmbare Form und kann zur Begründung heiliger Stätten oder auch als Ausstellungsgegenstand – wie beispielsweise im Holocaust-Museum in Dallas – genutzt werden.12 Der im Gedenken ausgesparte Realismus des gewaltsamen Todes behauptet sich dagegen in anderen Bereichen kultureller Selbstverständigung, beispielsweise der popular culture, als ein Thema von andauernder Faszinationskraft. Gedenkfeiern werden im folgenden als öffentliche Veranstaltungen definiert. Nach Emile Durkheim besteht eine Gesellschaft – oder auch eine Gruppe – »nicht einfach aus der Masse von Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt (...), sondern vor allem aus der Idee, die sie sich von sich selber macht«.13 Öffentliche Veranstaltungen und damit auch Gedenkfeiern sind Foren, auf denen diese »Idee« zur Darstellung kommt. Insofern lassen sich Gedenkfeiern als Konstrukte beschreiben, die eine bestimmte soziale Ordnung signifizieren. Als kleine geschlossene Welten gleichen sie einem Spiegel, »held up to reflect versions of the organization of society.«14 Durch ihr Mitwirken dokumentieren und demonstrieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Einigkeit über den Charakter ihrer Gruppe beziehungsweise Gesellschaft, deren Kodizes durch das spezifische Interaktionsmuster der Veranstaltung als gleichsam »natürliche« vorgeführt werden. Nun ist die »Idee«, die sich eine Gruppe oder Gesellschaft von sich selber macht, immer auch durch Bilder einer als ideal erachteten Geschlechterordnung
—————— 12 Vgl. Seite 116ff. in diesem Band. 13 Durkheim 1994, S. 566. 14 Handelman 1990, S. 8.
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strukturiert. Wenn beispielsweise bei der Grundsteinlegung des Marine-Ehrenmals Laboe im Jahr 1927 neben den Veteranen der Kaiserlichen Marine auch Damen – in ihrer Funktion als Witwen, Ehefrauen, Töchter und Schwestern – zugegen waren, auf den Fotografien der Denkmalsweihe 1936 hingegen nur Männer in Reih und Glied zu sehen sind, dann verweist diese Differenz auf das unterschiedliche Selbstverständnis der Versammelten im Kontext der Weimarer Republik und des Dritten Reichs.15 Wiederum anders verhielt es sich bei den Gedenkfeiern am Ort des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück zur Zeit der DDR, die sich in einer Konstellation des Familiaren bewegten: Hier wurde der Idealtypus einer Gesellschaft inszeniert, in der die Regierungsvertreter, die als Mütter und Schwestern angesprochenen ehemaligen Häftlinge, die »Bruderarmeen« (Nationale Volksarmee und Sowjetarmee) und die »Freie Deutsche Jugend« eine glücklich vereinte Gemeinschaft bildeten.16 Vor dem Hintergrund dieser Thesen werden im folgenden exemplarische Akte öffentlichen Gedenkens in Deutschland seit Ende des Ersten Weltkrieges untersucht. Als Quellenmaterial werden zum einen Berichte zeitgenössischer Tages- und Verbandszeitungen verwendet, zum anderen sogenannte graue Literatur und weiteres archivalisches Material verschiedener Gedenkstätten. Dabei bewegt sich die vorliegende Studie auf drei Analyseebenen: Auf der einen wird nach den Bildern und Vorstellungen gefragt, nach den Argumentationsweisen, Sprachmustern und Schlüsselbegriffen, die im Rahmen von Gedenkveranstaltungen zur Deutung von kollektiven Gewalterfahrungen und Massentötungen herangezogen werden. Zugleich geht es aber auch um die performativen Akte, die Verlaufsmuster der Feiern, kurz, um die formensprachlichen Elemente. Auf den ersten Blick scheinen die Formen des Gedenkens – die Ansprachen, das Niederlegen von Kränzen, die musikalischen Beiträge oder auch das kollektive Schweigen, das Verlesen von Namen der Toten, das Aufstellen von Kerzen – seltsam ahistorisch und erwecken in ihrer suggestiven Selbstverständlichkeit den Anschein einer natürlich gegebenen, unhinterfragbaren Ordnung der Dinge. De facto aber ist die Formensprache des Gedenkens Ausdruck einer ebenso religiös wie national tradierten Memorialkultur, die sich gegenüber den politischen Brüchen im 20. Jahrhundert zumindest in Teilen als resistent erwiesen hat. Dieser historischen Tiefendimension gilt der zweite Analyseansatz: In den Blick genommen werden Kontinuitäten und Differenzen in den
—————— 15 Vgl. Kapitel III in diesem Band. 16 Vgl. S. 150ff. in diesem Band.
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kommemorativen Praktiken im Kontext der unterschiedlichen politischen Systeme seit der Weimarer Republik. Drittens, und gleichsam quer liegend zu den beiden genannten Ebenen, werden Formen und Funktionen der Sakralisierung im Gedenken untersucht. Leitende These ist hier, daß Sakralisierung mit einer Trivialisierung des gewaltsamen Todes einhergehen kann. Gedenkstätten, die an Massentötungen erinnern, waren und sind (nicht nur) in Deutschland stets von der Differenz zwischen »heiliger Stätte« und »Sehenswürdigkeit« gezeichnet. Diese Differenz setzt sich nicht nur in den unterschiedlichen Besuchergruppen – Pilger und Wallfahrer einerseits und Touristen andererseits – fort, sondern auch auf der Ebene der Objekte: Devotionalien, Weihe- und Votivgaben stehen den Souvenirs unvermittelt gegenüber. Während die heilige Stätte Nicht-Verfügbares, Ehrfurcht Gebietendes signifiziert und den gewaltsamen Tod als Ausdruck des Prinzipiellen, (fast) Zeitlosen und deshalb Gültigen erscheinen läßt, wird in der Trivialisierung dieser Tod zu etwas Vertrautem, Normalem, zu etwas, mit dem man umgehen kann.17 Akte öffentlichen Gedenkens sind ein Thema von interdisziplinärem Interesse.18 Zentrale Beiträge kommen in erster Linie aus der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, die öffentliches Gedenken als eine Form des kollektiven, sozialen beziehungsweise kulturellen Gedächtnisses verhandelt. Gleichwohl bleibt der für Gedenkfeiern konstitutive Aspekt des Performativen unterbelichtet. Performative Akte sind hingegen ein Gegenstand der politischen Kulturforschung, die öffentliche Gedenkfeiern als eine besondere Form des politischen Rituals definiert. Abgesehen davon, daß der Begriff des Rituals eine geradezu universale Struktur religiösen Handelns indiziert und aus diesem Grund für eine Analyse nicht-religiöser Veranstaltungen im 20. Jahrhundert zumindest fragwürdig erscheint,19 bleibt in der politischen Kulturforschung der zentrale Aspekt der Totenehrung häufig außer Acht. Dieser ist wiederum Gegenstand der Religionswissenschaft, wobei sich die religionswissenschaftliche Forschung vorwiegend auf den Umgang mit Toten in »archaischen Gesellschaften« beziehungsweise nicht-christlichen Religionen konzentriert; hier ist eine merkwürdige Scheu vor den Formen und Funktionen der Totenehrung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts zu konstatieren. Wesentliche Beiträge zum Thema haben indes die Geschichtswissenschaften vorgelegt. Die Geschichte einzelner Gedenktage sind ebenso wie die von Denkmälern und Gedenkstätten Gegenstand zahlreicher Detailanalysen. Gleichwohl gilt, daß Genese
—————— 17 Vgl. S. 48ff. in diesem Band. 18 Zur relevanten Forschungsliteratur siehe S. 38ff. in diesem Band. 19 Vgl. Ebd.
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und Bildprogramm von Denkmälern und Gedenkstätten, nicht zuletzt auch seitens der Kunstgeschichte, gegenüber dem Aspekt ihrer Nutzung und Rezeption immer noch privilegiert werden. Indes erweist doch die »Produktivität der Bedeutungen«20 erst in der Nutzung der Orte des Gedenkens ihre gesellschaftliche Relevanz. Diese Arbeit folgt einem kulturgeschichtlichen Ansatz der Religionswissenschaft, da ihr leitendes Interesse im weitesten Sinne darin besteht, Einsichten in den Transfer religiöser Deutungsmuster in nicht-religiöse Kontexte zu ermöglichen. Die christliche Religion verfügt über ein Repertoire an Vorstellungen und Praktiken, die im 20. Jahrhundert stets erneut zur Deutung selbst verursachter Katastrophen, kollektiver Gewalterfahrungen und Massentötungen, herangezogen wurden, so auch im Rahmen nichtreligiöser Veranstaltungen wie öffentliche Gedenkfeiern. Die im kirchlichen Raum ausgebildeten Techniken der Sakralisierung wurden im Kontext des Gefallenengedenkens im 19. und 20. Jahrhundert von unterschiedlichen sozialen Gruppen adaptiert. Es zeigt sich, daß Sakralisierungsvorgänge an Entscheidungen gebunden sind, die zu bestimmten Zeitpunkten von sozialen Gruppen aufgrund von spezifischen politischen Interessen getroffen werden. Sakralisierung resultiert aus einer Zuschreibungspraxis, die an christlich tradierte Vorstellungen anknüpft und eine bestimmte Sichtweise auf ein historisches Ereignis, ein Objekt oder ein Areal evoziert. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive wäre deshalb genau zu fragen, wer auf welche Gegenstandsbereiche wann und aus welchem Grund mit Sakralisierung reagiert. Im sakralen Raum wird Geschichte stillgestellt, holzschnittartig fixiert, werden die Protagonisten in übersichtliche, scheinbar ambivalenzfreie Verhältnisse zueinander gesetzt. Wie sehr sich gerade die politische Kultur Sakralisierungsstrategien bedient hat, um politische Identitäten zu stabilisieren und zu legitimieren, zeigt die Geschichte des Gedenkens im 20. Jahrhundert.
—————— 20 Bhabha 2000, S. 34.
I Geschichte und Theorien des Gedenkens
Was bedeutet Gedenken? »Es musz (...) von haus aus ein anhaltendes, lebhaftes, inniges o.ä. denken gewesen sein«, schreiben Jacob und Wilhelm Grimm in ihrem Deutschen Wörterbuch des Jahres 1878. Die Vorsilbe »ge« verstärke »kraft und sinn des denkens«.1 Nach dieser Definition meint »Gedenken« in erster Linie einen spezifische Modus gedanklicher Tätigkeit. Darüber hinaus betonen die Brüder Grimm die Funktion des Vorstellens im Gedenken: »Das gedenken geht (...) in bildern vor sich, wie sie das gedächtnis liefert.« Als Beleg für diese These dient das folgende Zitat Martin Luthers: »sol ichs aber (das leiden Christi) hören oder gedenken, so ists mir unmüglich, das ich nicht in meim herzen solt bilde davon machen. Denn ich wolle oder wolle nicht, wenn ich Christum höre, so entwirft sich in meim herzen ein mansbilde das am creuze henget, gleich als sich mein andglitz natürlich entwirft ins wasser, wenn ich drein sehe.«
Zweierlei ist aufschlußreich: Zum einen, daß sich Luther im Herzen ein »bilde« macht, nicht etwa im Kopf als dem Ort des Denkens. Die Vorstellung des Mannes am Kreuz entwirft sich dabei ganz unweigerlich von selbst, ob man will oder nicht. Das Gedenken des Leidens Christi ist unmöglich ohne das Entwerfen eines Bildes. Zum anderen scheint es sich bei der Entstehung des Bildes um einen »natürlichen« Vorgang zu handeln: Ebenso wie das Wasser das eigene Antlitz widerspiegelt, so selbstverständlich entwirft das Herz das Bild Christi im Akt des Gedenkens. Indes haben Jacob und Wilhelm Grimm darauf verwiesen, daß diese vom Herzen entworfenen Bilder de facto vom Gedächtnis geliefert werden. Diese Beobachtung steht in der Tradition der römischen Gedächtniskunst, die ihrerseits einen Zusammenhang von Gedächtnis und Bild hergestellt hat: Die imagines agentes sind wirkmächtige Bilder, die durch ihre Eindruckskraft unvergeßlich sind und über
—————— 1 Sofern nicht anders angegeben, stammen die folgenden Zitate aus: Jacob und Wilhelm Grimm 1878, Erste Abteilung, erste Hälfte, Sp. 1995–2011.
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die Bündelung von Affekten als Gedächtnisstützen dienen können.2 Während in der römischen Mnemotechnik die Bilder selbst mit affektiver Macht ausgestattet sind und die Brüder Grimm im Gedächtnis die Instanz erkennen, die die Bilder »liefert«, avanciert in der religiösen Perspektive Luthers das Herz zum Ort authentischer Bildproduktion. Im alt-, mittel- und niederhochdeutschen Sprachgebrauch umfaßt »Gedenken« auch das »minnigliche gedenken« beziehungsweise das »liebende denken«, also die Qualität der Verehrung, Ehrung und Würdigung eines Menschen. In Zusammenhang mit dem »liebenden denken« steht beispielsweise der Abschiedsgruß: »Gedenke mein!« »Gedenke mein« war zeitweise auch der Name des »Gedenkblümchens«, der Viola tricolor, im heutigen Sprachgebrauch als »Stiefmütterchen« bekannt. Als Name einer Blume rufe diese, so die Grimms, dem damit Beschenkten statt des Gebers die Mahnung »Gedenke mein« zu, ähnlich wie das Vergißmeinnicht. Schließlich umfaßt »Gedenken« auch die Bedeutung des »dank wissens«: Jemand wird mit wohlmeinenden Gedanken gewürdigt im Sinne des: »ich werd’s Dir gedenken.« Gedenken, so resümieren die Brüder Grimm, meint einerseits »denken überhaupt«, andererseits aber auch »zurückdenken, sich erinnern«. Während die erste Bedeutung noch heute in Redewendungen wie: »Was gedenkst du zu tun?« anklingt, ist das Zurückdenken beispielsweise in dem schon im 16. Jahrhundert bekannten Zeitmaß des »Menschengedenkens« präsent: »Vier mans zeiten« entsprechen »vier menschen gedenken, das sind fast zweihundert jar, denn ein mans gedenken sind nicht viel über funfzig jar.« (Luther) Während »Gedenken« also einerseits einen geistigen Akt bezeichnet, der zwischen Erinnern, Ehren und Würdigen changiert, meint der Begriff andererseits auch immer eine spezifische Form religiöser Praxis: »gedenken heiszt hie so vil als predigen, rhümen, danken, gottesdienst pflegen.« Daß Gedenken in dieser Wortbedeutung den gesamten Gottesdienst umfaßt, verweist auf den Memorialcharakter der christlichen Religion, die ein Repertoire kommemorativer Praktiken herausgebildet hat.3 Dabei steht im Zentrum christlichen Gedenkens nun nicht nur das »mansbilde am creuze« – »anderer götter namen solt ir nicht gedenken« (2. Mos. 23,13) – sondern, darüber vermittelt, auch die »in Christo« Verstorbenen, wie die beiden
—————— 2 Vgl. Aleida Assmann 1999, S. 221ff. 3 Zum Gedenken im alten und mittelalterlichen Judentum vgl. Yerushalmi 1989.
GESCHICHTE
UND
THEORIEN
DES
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folgenden kirchlichen Formeln des Totengedenkens verdeutlichen: »wir (...) gedenken ewer in unserm gebet on unterlasz« oder auch: »das ich on unterlasz dein gedenke in meinem gebet.« Kommemorative Praktiken sind in Deutschland weitgehend christlich präfiguriert, auch wenn das öffentliche Totengedenken im 19. und 20. Jahrhundert zumindest partiell aus den Kirchen ausgewanderte. Akte des Gedenkens sind nach wie vor durch Bilder und Vorstellungen geprägt, die das Gedächtnis liefert. Das »liebende denken« äußert sich in öffentlichen Gedenkfeiern in spezifischen Formen des Ehrens und Würdigens; Toten, die nicht Teil der eigenen Gemeinschaft sind oder aus anderen Gründen als nicht ehrungswürdig betrachtet werden, wird in der Regel auch nicht gedacht. Das »dank wissen« hat sich im öffentlichen Gedenken des 19. und 20. Jahrhunderts gelegentlich zu einer »Dankesschuld« potenzieren können: Insbesondere den fürs Vaterland Gefallenen wußte man nicht nur Dank, sondern sah sich zugleich im Status einer Schuld den Toten gegenüber, die wiederum durch sogenannte »Dankesopfer« abgetragen werden konnte. Als »dank wissen« läßt sich nicht zuletzt die Ehrung von als Helden und Märtyrer bezeichneten Toten beschreiben, zumindest dann, wenn ihr (gewaltsamer) Tod als vorbildlich betrachtet wird. Die Bestattung von Toten, die Totenehrung beziehungsweise das Gedenken der Toten wird als ein zentraler kulturstiftender Faktor angesehen;4 Aleida Assmann beschreibt das Totengedenken als »paradigmatischen Fall des kulturellen Gedächtnisses«. Totengedenken, Nachruhm und historische Erinnerung sind drei »Formen des Vergangenheitsbezuges«, die sich in der frühen Neuzeit ausdifferenzierten.5 Im folgenden geht es nicht um den Versuch einer Rekonstruktion der langen und komplexen Geschichte des Totengedenkens. Im Zentrum der Überlegungen stehen vielmehr einige exemplarische Formen des Totengedenkens, wie sie durch kanonisierte Texte der Antikenrezeption beziehungsweise durch die Geschichte der christlichen Religion überliefert sind. Die Frage ist, ob und welche dieser Formen strukturelle Vergleiche zur Sprache des Gedenkens im 20. Jahrhundert erlauben. Im Anschluß werden erinnerungstheoretische und politikwissenschaftliche Analyseansätze zum Gedenken sowie die Frage diskutiert, inwiefern der Begriff des Rituals geeignet ist, öffentliche Akte des Gedenkens adäquat zu beschreiben.
—————— 4 Vgl. Jan Assmann 1999, S. 34. 5 Aleida Assmann 1999, S. 35 und 18.
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Da Massentötungen im 20. Jahrhundert im Rahmen von Gedenkfeiern immer wieder mit Hilfe eines sakralisierenden Vokabulars und sakralisierender Praktiken thematisiert wurden, stellt sich die Frage nach der Funktion des sacrum im Gedenken. Meine These ist, daß die Sakralisierung des gewaltsamen Todes der Konfliktbewältigung und der Stiftung imaginärer Gemeinschaft dient. Sakralisierungsprozesse stellen ein Vokabular zu Verfügung, das das geschehene Unheil in eine krisenresistenten Ordnungsrahmen überführt – ebenso wie die Trivialisierung, die (in Form von Souvenirs, Postkarten und ähnlichem) das Unheil entdramatisiert und zu etwas werden läßt, mit dem man umgehen kann. Vor diesem Hintergrund erweisen sich Sakralisierung und Trivialisierung als geradezu klassische Modi des Umgangs mit dem gewaltsamen Tod in der Moderne.
Anmerkungen zur Geschichte des Gedenkens 1. Der französische Historiker Jacques Le Goff definiert »Gedenken« als »das Feiern eines denkwürdigen Ereignisses mit Hilfe eines Denkmals«6. Die konstitutive Bedeutung, die Le Goff dem Denkmal für Akte des Gedenkens beimißt, leitet er aus den »Gedenkinschriften« her, die im alten Orient auf einer Vielzahl von Denkmälern, Stelen und Obelisken zu lesen waren. Seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. haben, beispielsweise in Mesopotamien, Könige ihre Taten mittels figürlicher Darstellungen und einer sie begleitenden Inschrift unsterblich machen wollen.7 Die große Zeit der Inschriften war dann diejenige des antiken Griechenlands und des antiken Roms, weshalb man hier von einer geradezu »epigraphischen Zivilisation« sprechen kann. Erinnerungen an einen Sieg in Form von Bildern und Inschriften festzuhalten, beschreibt Le Goff als »eine Form des Gedenkens«.8 Diese Bemerkung ist in unserem Zusammenhang insofern von Interesse, als auch in späteren historischen Kontexten die Erinnerung an einen Sieg als ein Modus der Totenehrung von geradezu paradigmatischer Bedeutung zu sein scheint. Hinzu kommt, daß die Hoheit über die Definition dessen, was als erinnerungswürdig gilt, immer auch in den Händen Privilegierter lag und daher als Manifestation der »Macht durch Erinnerung« gedeutet werden kann. »Städtische Erinnerung«
—————— 6 Le Goff 1999, S. 90. 7 Zu Ägypten vgl. Jan Assmann 1999, S. 167–195. 8 Le Goff 1999, S. 90.
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war auch »königliche Erinnerung«: Der König selbst entfaltete in dem gesamten Bereich, über den er herrschte, ein »Programm des Gedenkens«, dessen Mittelpunkt er selber bildete.9 In der griechischen Polis konnten sich auch einzelne für Ruhm und Unsterblichkeit qualifizieren, sofern sie in einer Schlacht ums Leben gekommen waren. In der Leichenrede des Perikles auf die gefallenen Athener, die für die Gebildeten der zwanziger Jahre Vorbildcharakter besaß, heißt es, die Gefallenen würden mit einem »unsterblichen Lob« belohnt, »daß ihr Ruhm für jede Gelegenheit zu Wort und Tat ewig gewahrt bleibt«. Die Lebenden sollen, so heißt es weiter, »nicht ängstlich auf die Gefahren des Krieges schauen«, sondern den Helden nacheifern.10 »Bedeutende und bewundernswerte Taten, die auf der einen Seite von Hellenen, auf der anderen Seite von Barbaren ausgeführt worden sind, (sollen) nicht ohne rühmende Kunde« bleiben, schrieb Herodot im Ersten Buch seines Geschichtswerks, hob aber im Geiste aufklärender Vernunft hervor, daß seine »Erkundung (...) besonders dem Anlaß (der) kriegerischen Verwicklungen zwischen Hellenen und Barbaren gegolten« habe.11 Der kritische Impuls, im Schreiben von Geschichte Anlaß und Ursachen benennen und reflektieren zu wollen, geht hier noch Hand in Hand mit dem Motiv, Andenken an »bedeutende und bewundernswerte Taten« zu schaffen, zwei Anliegen, die sich spätestens nach den verstörenden Erfahrungen der Kriege und Massentötungen im 20. Jahrhundert nicht mehr ohne weiteres miteinander vermitteln lassen. Als Gründungslegende der römischen Mnemotechnik gilt die Geschichte des Chorlyrikers Simonides von Kreos, die Cicero im Jahr 55 v. Chr. niederschrieb.12 Die Legende besteht aus zwei Teilen, von denen der letztere in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist. Die Geschichte ist schnell erzählt: Simonides hat von dem Boxer Skopas den Auftrag erhalten, ihn anläßlich eines Festes in seinem Haus mit einem Preisgedicht zu ehren. Als Simonides in seinem Gedicht nun nicht nur den Auftraggeber, sondern auch die Götter würdigt, will Skopas nur die Hälfte des ausgemachten Honorars zahlen; die andere Hälfte solle sich der Dichter von den Göttern holen. In diesem Augenblick wird Simonides nach draußen vor die Tür gebeten und ein Unglück geschieht: Das Haus stürzt ein und begräbt den Gastgeber mit seinen Gästen unter den Trümmern. Simonides ist der einzige Überlebende und hat auf diese Weise seinen Lohn der Götter empfangen.
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Ebd. S. 93. Thukydides 1966, 167 (2.43). Herodot 1957, S. 9; vgl. Aleida Assmann 1999, S. 53. Zit. nach Aleida Assmann 1999, S. 35; vgl. Le Goff 1999, S. 99.
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Als einziger Überlebender – davon handelt der zweite Teil der Legende – ist nun der Dichter in der Lage, die genaue Sitzordnung der Gäste zu rekonstruieren. Auf diese Weise kann er jeden der verstümmelten Toten identifizieren, ein Akt, aufgrund dessen die Totenmemoria überhaupt erst stattfinden kann. Erst jetzt, wo jeder der Toten seinen Namen zurückerhält, kann er geehrt und würdig bestattet werden. Die Angehörigen können sich sicher sein, daß sie den richtigen Toten beklagen. Die Episode zeugt von der großen Bedeutung, die man der Kenntnis der Namen der Toten beimaß. Umgekehrt aber konnten Namen von Toten auch der damnatio memoriae anheimfallen. Der römische Senat fand eine Waffe gegen die kaiserliche Tyrannei, indem er den Namen des toten Kaisers aus den Dokumenten der Archive und den Inschriften der Denkmäler verschwinden ließ.13 Neben dem Römischen Recht kannte auch das Kirchenrecht die damnatio memoriae als äußerste Form der Strafe: Von der zu ewigen Höllenstrafen verurteilen Seele sollte auf Erden nichts bleiben, nicht einmal die Erinnerung an ihre Sünden.14 Konsekration, das Weihen und Würdigen von etwas oder jemandem, kann umschlagen in Desekration, in Ächtung und den Versuch, das zuvor Geweihte ins Abseits des Vergessens zu drängen. Von dieser Dialektik geben nicht zuletzt auch die zahlreichen Denkmalstürze nach politischen Wechseln im 20. Jahrhundert ein Beispiel. 2. Unter dem Namen ludi publici sind die öffentlichen Spiele bekannt geworden, die zur römischen Kaiserzeit jährlich als Siegesgedenkfeiern veranstaltet wurden. Die heilsgeschichtliche Konzeption der christlichen Religion sah jedoch ein bloßes Gedenken weltlicher Ereignisse nicht vor. Eine christliche Variante des Siegesgedenkens sollte sich erst in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts unter Kaiser Heraklios durchsetzen. Als dieser im Jahr 622 gegen die Perser zu Feld zog, empfahl er Konstantinopel dem Schutz Mariens. Die Bewohner der Stadt seien, als diese von den Avaren belagert wurde, den Angreifern auf der Stadtmauer mit Marienikonen entgegengetreten. Die gelungene Abwehr der Belagerung von 626 wurde fortan jährlich mit Festen der Danksagung gefeiert; als Dank an Maria veranstaltete man feierliche Prozessionen und Gottesdienste.15 Michael Mitterauer sieht in diesem Ereignis eine entscheidende Weichenstellung in der Entwicklung christlicher Siegesgedenkfeiern. In den folgenden Jahrhunderten
—————— 13 Vgl. Le Goff, ebd., S. 101. 14 Vgl. Weinrich 1991, S. 573. 15 Vgl. Mitterauer 1997, S. 31.
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entstanden neue Gedenkfeste, sofern man ein historisches Ereignis dem Wirken des Tagesheiligen zuschreiben konnte. Auf diese Weise konnten historische Begebenheiten mit den Anniversarien der Heiligenfeste verbunden werden.16 Einerseits ermöglichten diese Feiern »den Dank an den Heiligen, unter dessen Schutz der Sieg errungen wurde«, andererseits konnte der Erinnerung an die Toten, die in der Schlacht gefallen waren, Raum gegeben werden. Darüber hinaus bewirkten diese Siegesgedenkfeiern »ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit in Ablehnung bekämpfter Feinde«.17 Zwar wurde im Kontext der Jahrestage auch der Gefallenen gedacht, die in »verlorenen« Schlachten ums Leben gekommen waren. Zu öffentlichen Gedenktagen haben sich jedoch nur die Anniversarien siegreicher Schlachten entwickelt.18 Dieser Umstand gibt auf seine Weise ein Beispiel von der Attraktivität, die dem Gedanken des Sieges im Kontext des Totengedenkens eigentümlich zu sein scheint. 3. Die jüdische und die christliche Religion haben sich beide theologisch in der Geschichte verortet und sind treffend als Religionen der Erinnerung beschrieben worden.19 Der Memorialcharakter der christlichen Religion manifestiert sich in erster Linie im Gedenken des Lebens und Sterbens Jesu, das liturgisch im Verlauf des Jahres von Advent und Weihnachten bis Ostern und Pfingsten gefeiert wird. Der christliche Erinnerungsimperativ äußert sich darüber hinaus in der Feier der Eucharistie: Im Vollzug des »Tut dies zu meinem Gedächtnis!« (Luk. 22,19) wird die Erinnerung mit der Dimension einer spezifischen Handlung verknüpft. Die christliche Erinnerung umfaßt aber auch das Gedenken der Märtyrer und Heiligen im Rahmen einer Feier, die im allgemeinen am Tag ihres Martyriums beziehungsweise an ihrem Todestag begangen wird. Eine Funktion der Märtyrerehrung wird in einem Brief beschrieben, den die Gemeinde von Smyrna um 160 n. Chr. verfaßte. Nachdem der Bischof Polykarp das Martyrium erlitten hatte, nahm sich die Gemeinde vor, sein Grab zu pflegen und die Erinnerung an ihn lebendig zu halten: »Dort wollen wir, wenn es möglich ist, uns in Jubel und Freude versammeln, um den Jahrestag seines Martyriums, seinen Geburtstag für den Himmel, zu feiern zum Gedächtnis aller, die vor uns den
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Ebd. S. 31ff. Ebd. S. 35. Ebd. S. 86. Oexle 1976, S. 80.
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Kampf bestanden, und zugleich als Einübung und Vorbereitung für alle, die in Zukunft zu kämpfen haben.« 20 Dieser programmatischen Formulierung zufolge verbinden sich im Akt des Gedenkens zwei unterschiedliche Intentionen: Zum einen geht es um das »Gedächtnis aller, die vor uns den Kampf bestanden haben«, und zum anderen um eine »Einübung und Vorbereitung« künftiger Kämpfe. Anders gesagt: Auf der einen Seite steht das, von den Brüdern Grimm so genannte »dank wissen«, hier mit dem Aspekt des Jubels und der Freude prononciert. Das Leiden und Sterben des Polykarp wird als sein »Geburtstag für den Himmel« vorgestellt, ein Ereignis, dessen Feier zugleich jene umfaßt, die wie er für die christliche Religion ihr Leben ließen. Auf der anderen Seite kommt nun ein Aspekt zur Sprache, der sich als folgenreich erweisen wird nicht zuletzt für den nationalen Totenkult, wie er sich Ende des 18. Jahrhunderts zu entwickeln begann: Der Tod eines Einzelnen wird als vorbildhaft dargestellt, sein Tod ist ein Ereignis von normativer Kraft, aus dem Handlungsprämissen für die Zukunft abgeleitet werden können. Gedenken heißt für die Gemeinde von Smyrna eben auch »Einübung und Vorbereitung« künftiger Kämpfe. Der vorbildhafte Tod des Heroenkults der Antike erfährt im Märtyrerkult eine Zuspitzung: Hier dient das Gedenken dem Zweck, den Akt eines freiwilligen Selbstopfers, der durch feindliche Kräfte vollzogen wurde, mit einem pädagogischen Auftrag an die Lebenden zu verknüpfen. In gewisser Weise verdeutlicht die im 20. Jahrhundert geläufige Begriffskombination von »Mahnen« und »Gedenken« ihrerseits die Absicht, aus der Erinnerung an einen Tod normative Setzungen für die Zukunft herleiten zu wollen. Noch die Rekrutengelöbnisse der Bundeswehr, die seit 1999 am 20. Juli, dem Jahrestag des gescheiterten Hitler-Attentats, im Bendlerblock veranstaltet werden, wo Stauffenberg in der Nacht zum 21. Juli 1944 hingerichtet wurde, bekräftigen auf ihre Weise den im Märtyrerkult präfigurierten Zusammenhang zwischen einem vorbildlichen Tod und einer daraus hergeleiteten normativen Setzung für künftiges Handeln. 4. Über den verpflichtenden Charakter des Gedenkens hinaus weist der Brief der Gemeinde von Smyrna auf einen weiteren zentralen Aspekt in der Geschichte christlichen Totengedenkens, nämlich auf die große Bedeutung des Ortes. Der Jahrestag des Martyriums sollte am Grab des Polykarp begangen werden. Tatsächlich sind die jährlichen Gedächtnisfeste der Märtyrer anfangs nur an einem einzigen
—————— 20 Zit. nach Mitterauer 1997, S. 27.
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Ort, der Grabstätte, durchgeführt worden. Über diesen Gräbern wurden häufig auch Kirchen zur memoria des jeweiligen Märtyrers errichtet. Dieser Ortsbezug des Märtyrerkults konnte sich seit dem 4. Jahrhundert mit Hilfe der Reliquienteilung vervielfältigen: Die Translation von Überresten der Märtyrer ermöglichte eine »Präsenz« des Heiligen auch an anderen Orten. Die Technik der Reliquienteilung leitete einen Prozeß der Universalisierung der Märtyrerfeste ein, die zuvor nur einer partikularen, lokalen Öffentlichkeit vorbehalten waren.21 Nach Maurice Halbwachs gibt »uns allein das Bild des Raumes infolge seiner Beständigkeit die Illusion (...), zu allen Zeiten (...) die Vergangenheit in der Gegenwart wiederzufinden.«22 Die herausragende Bedeutung von Orten für das Gedenken sieht Aleida Assmann in dem folgenden Umstand begründet: »Nicht nur, daß sie die Erinnerung festigen und beglaubigen, indem sie sie lokal im Boden verankern, sie verkörpern auch eine Kontinuität der Dauer, die die vergleichsweise kurzphasige Erinnerung von Individuen (...) übersteigt.«23 Heilige Gegenstände wie Reliquien sind auf besondere Weise dazu geeignet, die Erinnerung an ein spezifisches Geschehen zu beglaubigen. Selbst wenn das Martyrium beziehungsweise der Tod des Heiligen nicht an dieser oder jener Stätte erfolgt war, ist doch das Vergangene mittels der Reliquie an diesem Ort gegenwärtig. Wallfahrten und Pilgerreisen wären ohne diesen Vorstellungskontext nicht denkbar. Aus diesem Umstand aber nun ein »menschliches Grundbedürfnis nach heiligen Orten« abzuleiten,24 scheint mir schon allein aus religionsgeschichtlicher Sicht unhaltbar. Die Reformation gilt gemeinhin als einer der großen Versuche, die Bedeutung der heiligen Orte zugunsten eines primär zeitgebundenen Regulativs religiöser Erinnerung zu schmälern; nicht zuletzt vor dem Hintergrund, daß im Katholizismus die Wallfahrt zu einem heiligen Ort sich häufig mit der Hoffnung auf Ablaß begangener Sünden verbinden konnte. Die Loslösung der Erinnerung von heiligen Orten zeigt sich beispielsweise in den Jubiläumsfeiern der Reformation, die keineswegs nur in Wittenberg, sondern in allen protestantischen Territorien durchgeführt wurden. Hinzu kam ein zweites: Neben das jährliche Gedenken an eine heilige Person trat das Gedenken an ein heiliges Ereignis, das sich mit dem Modell des »heiligen Anfangs« charakterisieren läßt.25 Zwar wurde anfangs noch der Tauftag Martin Luthers, der 11. November,
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Vgl. Mitterauer, ebd., S. 29. Halbwachs 1991, S. 162f. Aleida Assmann 1999, S. 299. Ebd. S. 305. Mitterauer 1997, S. 54.
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gefeiert oder auch sein Todestag. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, daß das Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm den Artikel »Gedenkfeier« ausschließlich mit der folgenden Bestimmung ausführt: »zum andenken an Luthers todestag eine kirchliche Gedenkfeier begehen.«26 De facto aber trat als Festtermin des Gedenkens an Luther immer mehr das Datum seiner entscheidenden Tat, die Veröffentlichung seiner 95 Thesen, in den Vordergrund. Die wachsende Bedeutung der Tat als solcher zeigt sich auch in den Gutenberg-Jubiläen: Auch hier waren nicht Gutenbergs Lebensdaten entscheidend, sondern der Termin seiner folgenreichen Erfindung des Buchdrucks, die in das Jahr 1440 datiert wurde.27 Die Gedenkfeste der französischen Revolution waren ebenfalls ausschließlich historischen Ereignissen gewidmet. Gleich in ihrem ersten Abschnitt erklärt die »Constitution« von 1791: »Nationale Feste sollen eingerichtet werden, um das Andenken an die französische Revolution zu bewahren«,28 ein Ereignis, dem zweifellos die Qualität eines »heiligen Anfangs« beigemessen wurde. Die Tatsache, daß in den protestantischen Ländern die vormals bischöflichen Rechte auf die Landesfürsten übergingen, war Anlaß für die Genese eines neuen Festtyps: Die Fürsten als Oberhäupter der Landeskirchen stellten neben die kirchlichen beziehungsweise kirchengeschichtlichen Gedenkfeiern die Feiern dynastischer Jubiläen – Geburtstage und Hochzeitstage – der fürstlichen Familien. An diese »staatlich-kirchliche beziehungsweise staatskirchliche Gedenkkultur« konnte die nationale bruchlos anschließen.29 5. Die Totenmemoria hat die Kenntnis der Namen der Verstorbenen zur Voraussetzung. In den christlichen Kirchen des Mittelalters lagen Gedenkbücher (libri vitae) bei der Liturgie auf dem Altar; Klöster führten sogenannte Nekrologien, kalendarisch angelegte, also nach dem Todestag geordnete Totenverzeichnisse. Der christliche Kult bezog die Namen der Toten auch in das Memento des Kanons der Messe mit ein. Die Verlesung der Namen im Rahmen der Gottesdienste konnte im Europa der Neuzeit »in gröszeren pfarreien oft über eine Viertelstunde dauern«30. Kern der Totenmemoria war, zumindest noch im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, die
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Grimm 1878, Sp. 2011. Vgl. Mitterauer 1997, S. 55ff. Zit. nach Le Goff 1999, S. 121. Vgl. Mitterauer 1997, S. 61. Grimm 1878, Sp. 2007.
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Vorstellung einer »Gegenwart der Toten«. Durch die Nennung des Namens wurde der Tote als gegenwärtig evoziert.31 Das Privileg der Namensnennung hat indes lange Zeit nicht für die in militärischen Auseinandersetzungen Getöteten gegolten. Zumindest werden in den Kriegsdramen Shakespeares nur die Personen aus den Adelsgeschlechtern benannt und betrauert; mit der Formel: «Sonst keiner von Namen!« (»None else of name«) pflegte die öffentliche Kommemoration nach den Schlachten abgebrochen zu werden.32 In Deutschland setzte sich die öffentliche Nennung und damit verbundene Würdigung aller Gefallenen überhaupt erst im Zuge der Befreiungskriege durch. Seitdem sind die Namen aller getöteten Soldaten einer Nation denkmalfähig geworden. Auch der von Hitler und Speer für Berlin geplante monumentale Triumphbogen sollte die Namen aller 1,8 Millionen deutschen Gefallenen des Ersten Weltkrieges verzeichnen. Ein jüngeres, prominentes Beispiel ist das 1983 inaugurierte Vietnam Veterans Memorial in Washington, D.C. von Maya Ying Lin: Täglich kopieren Amerikaner auf eigens dafür vorgefertigten Papierstreifen die Namen ihrer in Vietnam ums Leben gekommenen Angehörigen und Freunde. Ein Beispiel für die Verlesung einzelner Namen sind die Gedenkfeiern, die in Frankreich in jedem Ort am 11. November, dem Tag des siegreichen Ausgang des Ersten Weltkrieges, veranstaltet werden: Eine laizistische, mit Standarten ausgestattete Prozession zieht zu den »Monuments aux Morts«, den örtlichen Totendenkmälern, wo die Namen aller Gefallenen der Gemeinde verlesen und jeder einzelne vom Ortsvorsitzenden des Kriegsveteranenverbandes republikanisch mit dem Ruf ausgesegnet wird: »Mort pour la France.«33 Die öffentliche Nennung und Würdigung der Namen von Verstorbenen als ein Modus der Totenehrung ist einerseits religiös und andererseits militärisch tradiert. Eine hier anknüpfende, gleichwohl neue Form des Gedenkens ist die öffentliche Verlesung von Namen als ziviler Akt außerhalb des kirchlichen oder militärischen Raumes. Beispielsweise wird seit 1996 in Berlin der israelische Gedenktag Jom Hashoah, der an den Holocaust und an den Beginn des Aufstandes im Warschauer Ghetto am 19. April 1943 erinnert, jährlich mit der Aktion »Jeder Mensch hat einen Namen« begangen.34 Verlesen werden die 55 696 Namen der von den National-
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Oexle 1983. Aleida Assmann 1999, S. 60. Vgl. Hénard 1998; weitere Beispiele siehe S. 100f. in diesem Band. Diese Aktion wurde von dem damaligen Leiter des Jugendzentrums der jüdischen Gemeinde, Uli Faber, ins Leben gerufen. »Jeder Mensch hat einen Namen« lautet zugleich der Beginn eines
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sozialisten ermordeten Berliner Juden, ein Akt, der etwa 28 bis 30 Stunden in Anspruch nimmt. »Name um Name, wie ein Gebet«, kommentierte die Taz das Ereignis in ihrer Ausgabe vom 24. April 1998. – Die Verlesung der Namen der mehr als 3000 Toten des 11. September 2001 war auch Bestandteil der Gedenkfeier am 2. Jahrestag der Attacke in New York City. 6. Mit den Befreiungskriegen gegen das »napoleonische Joch« 1813/15 entwickelte sich in Deutschland eine Reihe neuer Formen des Gedenkens: Seit Beginn dieser Kriege wurde der Gefallenen auch innerhalb der regulären Gottesdienste gedacht, im Jahr 1816 führte Friedrich Wilhelm III. als Oberhaupt der preußischen Kirche sogenannte Gedenkgottesdienste ein.35 Parallel dazu erfuhr die christliche Tradition, heilige Orte zum dankbaren Gedenken zu schaffen, eine Neuauflage: zum einen, indem beispielsweise der im Mittelalter unvollendet gebliebene Kölner Dom zum Nationaldenkmal ausgebaut werden sollte, und zwar, wie Josef Görres 1814 vorschlug, »als Dankesopfer für die Befreiung von französischer Knechtschaft« und als Symbol »des neuen Reiches, das wir bauen wollen«36. Zum anderen aber rückten die Schlachtfelder selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Der blutgetränkte Boden, beispielsweise das Areal der Völkerschlacht bei Leipzig, sollte fortan als »geheiligtes Land« und künftige Wallfahrtsstätte gelten.37 Diese erneute Hinwendung zu spezifischen Orten, die dann in Akten der Grundsteinlegung und der darauffolgenden »Weihe« eines Denkmals sakralisiert wurden, stand unter eindeutig nationalem Vorzeichen. Etabliert wurde ein Modus des Gedenkens, auf den im Lauf des 20. Jahrhunderts, auch im Kontext ganz unterschiedlicher politischer Systeme, stets erneut zurückgegriffen wurde: sei es im Rahmen des sogenannten Schlachtfeldtourismus infolge des Ersten Weltkrieges, sei es in der Sakralisierung der Erde nationalsozialistischer Konzentrationslager nach 1945. Diese außerkirchliche Schaffung heiliger Orte ist im 19. und frühen 20. Jahrhundert durchaus noch von religiösen Spezialisten, protestantischen und katholischen Geistlichen, begleitet und gefördert worden. Die nationale Sprache des Gedenkens, die den Tod auf dem Schlachtfeld als Opfer fürs Vaterland und damit zu
—————— Gedichts der israelischen Lyrikerin Selda. – In Jerusalem lesen am Morgen nach Jom Hashoah Überlebende am Fuß der Westmauer abwechselnd die Namen vom Opfern aus einer von der Gedenkstätte Yad Vashem erstellten Liste mit 300 000 Namen vor; vgl. Young 1996, S. 70f. 35 Vgl. Mosse 1993a, S. 63f. 36 Zit. nach Nipperdey 1977, S. 414. 37 Vgl. S. 60ff. in diesem Band.
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einem sakralen Akt par excellence erklärte, nahm Elemente der tradierten christlichen Liturgie auf, wie die Predigt/Festansprache, Choräle und Lieder, das Glaubensbekenntnis der versammelten Teilnehmer in Form eines Eides oder Gelöbnisses. Zur Erläuterung dieses erklärungsbedürfigen Umstandes seien vorerst nur drei Thesen unterschiedlicher Provenienz skizziert: Mit Friedrich Wilhelm Graf, evangelischer Theologe, könnte man in diesem Zusammenhang ein Beispiel für einen »Symboltransfer aus kirchlichen oder spezifisch religiösen Kontexten in ganz andere, politisch konstruierte Sinnhorizonte« erkennen. Dieser Analyseansatz basiert auf der Annahme, Religion sei eine »Kulturpotenz sui generis«, die gleichsam von sich aus in andere gesellschaftliche Bereiche hineinwirke.38 Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hingegen würde in dem beschriebenen Sachverhalt möglicherweise einen Beleg seiner These sehen, daß sich »christlich bezeichnete Glaubensinhalte und Praktiken (...) in dem Maß (wandeln), wie die Funktionen sich wandeln, die sie bei den sich ständig erneuernden Gruppen erfüllen«. Diesem funktionalen Erklärungsansatz liegt der folgende Religionsbegriff zugrunde: »Religion kommt die praktische und politische Funktion der Verabsolutierung des Relativen und der Legitimierung des Willkürlichen zu, die darin besteht, das Potential an materieller und symbolischer Kraft einer Gruppe zu verstärken.«39 Der US-amerikanische Historiker George L. Mosse notiert eine noch mal anders gelagerte These zur Frage der Adaption liturgischer Formen im Kontext des nationalen Totenkults: Die christliche Liturgie war die einzige »symbolische Praxis«, die den Europäern geläufig gewesen sei. Gleichwohl betont auch Mosse den funktionalen Aspekt, der für die Schaffung heiliger Orte, als Ausdruck der Sakralisierung des Todes auf dem Schlachtfeld, bestimmend gewesen sei: In seiner Studie über den Gefallenenkult nach Ende des Ersten Weltkrieges beschreibt er Akte der Sakralisierung als eine Strategie, die darauf ziele, eine »unerträgliche Vergangenheit erträglich zu machen«. Das »Ummünzen« eines Kriegserlebnisses in ein »sinnhaftes und nachgerade heiliges Ereignis« diente nicht zuletzt dem Zweck, die Nation zu rechtfertigen, in deren Namen der Krieg geführt worden war.40 Dabei stand der außerkirchliche Totenkult wie die Sakralisierung der blutgetränkten Erde der Schlachtfelder den Interessen der protestantischen Landeskirchen keineswegs entgegen. Auch innerhalb der regulären Gottesdienste wurde der Tod »auf dem Feld der Ehre« religiös überhöht und zu einem Akt der Nachfolge Christi stilisiert.
—————— 38 Friedrich Wilhelm Graf 2000a. 39 Bourdieu 2000, S. 75 und 66. 40 Mosse 1993a, S. 44 und 13.
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7. Eine umstandslose Übernahme religiös tradierten Formenvokabulars ist auch im revolutionären Frankreich zu beobachten. Ein Beispiel, das sich zumindest im Ansatz als Rückgriff auf den Reliquienkult interpretieren läßt, soll an dieser Stelle genügen: Ende des 18. Jahrhunderts beabsichtigte das Departement Seine die Umgestaltung eines Pariser Friedhofs. Die »Rapports sur les sépultures«, die der Publizist Jacques Cambry im Jahr 1799 vorlegte, sahen den Bau einer Pyramide im Zentrum des Friedhofs vor. Sie sollte sowohl die Asche der im Dienst für das Vaterland gefallenen Soldaten als auch die Asche sogenannter großer Männer in sich aufnehmen. Mosse, der diese Geschichte erzählt, fügt hinzu, daß die Asche beider Personengruppen miteinander vermischt werden sollte, um auf diese Weise der Ebenbürtigkeit der Soldaten und der »großen Männer« Frankreichs Ausdruck zu geben; hier läge der »eigentliche Beginn des Gefallenenkultes« in Frankreich.41 Von Interesse ist in unserem Zusammenhang nicht nur die national codierte Kultifizierung menschlicher Asche, sondern auch der Aspekt ihrer Mischung. Intendiert ist eine Vereinigung unterschiedlicher Gruppen post mortem zugunsten der Behauptung einer imaginären Gemeinschaft. Die Tatsache realen Getrenntgewesenseins im Leben – Soldaten auf der einen, französische Gelehrte und Politiker auf der anderen Seite – wird überschritten in dem Phantasma der einen großen, national gedachten Zusammengehörigkeit, die durch das Mischen menschlicher Überreste beglaubigt werden sollte. Umgekehrt verfuhr man bei der Anlage des 1927 geweihten Soldatenfriedhofs von Douaumont: Obgleich die nationale Zugehörigkeit der zahllosen Toten auf den Schlachtfeldern bei Verdun häufig kaum festzustellen war, sollte das Beinhaus nur die vermeintlichen Überreste französischer Gefallener in sich aufnehmen. Die Gebeine deutscher Gefallener, die ebenso unmöglich zu identifizieren waren, wurden nur mit Erde bedeckt.42 Gleichwohl gibt es eine Reihe von Beispielen für die Konstruktion idealtypischer Gemeinschaft von Toten im 20. Jahrhundert, wobei die Erde von Stätten des Todes als das Medium vorgestellt wird, das diese Toten repräsentiert: Anläßlich der Grundsteinlegung des United States Holocaust Museum in Washington DC im Oktober 1985 wurde die »heilige Erde« nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager und des jüdischen Friedhofs Warschau mit »heiliger Erde« (»sacred soil«) der Vereinigten Staaten von Amerika gemischt und beigesetzt. Als der Bau fertiggestellt war, fand ein vergleichbarer Akt statt: Erde aus
—————— 41 Ebd. S. 26, 47f. 42 Ebd. S. 116.
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39 europäischen Vernichtungsstätten wurde mit der Erde des Arlington National Cemetery gemischt und unter der ewigen Flamme in der Hall of Remembrance des Museums bestattet.43 Der Akt signalisiert, daß die NS-Verfolgten und die USamerikanischen Befreier als Mitglieder ein und derselben Gemeinschaft imaginiert werden. Daß sich dieser Vorstellungskomplex einer idealtypischen Gemeinschaft, post mortem durch die Mischung von Asche oder Erde beglaubigt, in unterschiedlichen politischen Systemen behaupten kann, sei nur am Rande erwähnt: Beispielsweise wurden im »Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus« der Deutschen Demokratischen Republik in der Neuen Wache, Berlin, im Jahr 1969 Urnen mit der Asche eines unbekannten deutschen Soldaten und eines unbekannten deutschen Widerstandskämpfers beigesetzt.44 Wenn auch nicht miteinander vermischt, signifiziert die gemeinsame Beisetzung beider Urnen doch eine Gemeinschaft toter Wehrmachtsangehöriger und toter Widerstandskämpfer. Die Schaffung heiliger Orte an Stätten des Massensterbens steht mit der Genese von Nationalstaaten in engem Zusammenhang. In Deutschland ist diese Praxis der Totenehrung zunehmend nach den Befreiungskriegen zu beobachten. Der großen Bedeutung, die dem »authentischen Ort« dann in der Geschichte des Gedenkens im 20. Jahrhundert zukommt, entspricht die Gepflogenheit, Erde beziehungsweise Asche dieser Stätten anderen Orten zu implantieren, um diese neuen Stätten mit der Qualität des Authentischen zu versehen und zu nobilitieren. Hier wird eine Parallele zum christlichen Reliquienkult deutlich: Durch den Transfer von Überresten heiliger Personen oder auch ihrer Attribute kann die Qualität des Heiligen auch anderenorts präsent sein. In dieser Tradition steht auch die Translozierung menschlicher Überreste, Asche und Erde aus den ehemaligen nationalsozialistischen Lagern: Beispielsweise sind im Holocaust-Museum in Dallas »menschliche Knochen aus Majdanek« ausgestellt. Die Inschrift nennt die Namen jener, die diese menschlichen Überreste dem Museum zur Verfügung gestellt haben: »Gestiftet von Mike und Ginger Jacobs, September 1990.« 45 8. »Gedenkorte sind«, so Aleida Assmann, » durch Diskontinuität, das heißt: durch eine eklatante Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart gekennzeichnet (...). Am Gedenkort ist eine bestimmte Geschichte gerade nicht weiter gegangen, sondern mehr oder weniger gewaltsam abgebrochen. (...) Ein Gedenkort ist das, was
—————— 43 Vgl. Cole 2000, S. 167. 44 Vgl. S. 124 in diesem Band. 45 Cole 2000, S. 166.
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übrig bleibt von dem, was nicht mehr besteht und gilt. Um dennoch fortzubestehen und weiter gelten zu können, muß eine Geschichte erzählt werden, die das verlorene Milieu supplementär ersetzt.«46 Erst die Geschichte, die erzählt werden muß, ermöglicht die von Halbwachs so genannte »Illusion«, die Vergangenheit an einem spezifischen Ort wiederzufinden. Die Erzählung beziehungsweise die durch sie evozierte Vorstellung erweist sich geradezu als die Bedingung der Möglichkeit des Gedenkens am »authentischen« Ort, insbesondere dann, wenn die Relikte historischen Geschehens nicht oder kaum mehr erhalten sind. Ein Bericht der Zeitschrift Kriegsgräberfürsorge des Jahres 1926 schildert die Enttäuschung junger Leute, die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges an der ehemaligen Ostfront besucht hatten: Granattrichter und Schützengräben waren überwachsen, und es bedurfte einer großen Anstrengung der Phantasie, den »hundertfachen Schauer« inmitten des verlorenen Milieus zu erleben.47 Der Schlachtfeldtourismus war nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ein europäisches Phänomen. England und Frankreich subventionierten »Wallfahrten zu den Schlachtfeldern«, in Deutschland setzte der »Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge« zumindest Fahrpreisermäßigungen für die nächsten Verwandten der Gefallenen durch.48 Nicht subventioniert, sondern privat finanziert waren Reisen deutscher Veteranen des Zweiten Weltkrieges zu den ehemaligen Kriegsschauplätzen in Rußland Anfang der neunziger Jahre. In Wolgograd wurden von Einheimischen Exkursionen in privaten Kraftfahrzeugen ins Umland der Stadt, in den »Kessel von Stalingrad«, angeboten. Als ich dort im Jahr 1994 beruflich zu tun hatte, begleiteten meine Dolmetscherin und ich eine kleine Gruppe älterer deutscher Herren auf einer solchen Fahrt hinaus in eine Steppenlandschaft, deren Bodenwellen uns als Relikte früherer Schützengräben vorgestellt wurden. Erst als die russischen »Reiseleiter« an einer nicht weiter markierten Stelle begannen, den Boden aufzugraben und Uniformknöpfe und menschliche Knochen zu Tage förderten, war der Akt des Wiederfindens der Vergangenheit im Hier und Jetzt gleichsam beglaubigt. Als »verlorene Milieus« lassen sich auch die Areale im Umfeld von Gedenkstätten an Orten ehemaliger Konzentrationslager beschreiben. Das in der Regel komplexe und weit verzweigte System der Konzentrationslager war nach 1945 kaum mehr zu erkennen, teils aufgrund von Abriß oder Umwidmung der Gebäude, teils,
—————— 46 Aleida Assmann 1999, S. 309 47 Vgl. Mosse 1993a, S. 141. 48 Ebd. S. 186.
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weil die später angelegten Gedenkstätten die ehemaligen KZ-Areale auf die Bereiche der ehemaligen Häftlingswohnlager und einige wenige markante Gebäude wie Krematorien und Gefängnisbauten zusammenschrumpften. Als ein Beispiel sei die Bahnstation genannt, die bis Mitte der neunziger Jahre mit dem Schild »Ravensbrück« gekennzeichnet war. Die Bahnlinie, von der Stadt Fürstenberg nach Templin führend, war noch bis Ende der achtziger Jahre in Betrieb; Teile davon werden heute, als Freizeitangebot für Touristen, von Draisinen befahren. Die Bahnstation »Ravensbrück« diente bis 1945 als Rampe und Umschlagplatz des gleichnamigen Frauenkonzentrationslagers; Häftlingstransporte, unter anderem aus Auschwitz, trafen hier ein. Gleichwohl ist diese Bahnstation nicht Teil des ausgewiesenen Gedenkstättenareals. Ohne die Kenntnis der Geschichte, ohne das Wissen um die »Authentizität« dieses Ortes mag der schildlose und inzwischen überwachsene Bahnsteig Touristen und Spaziergängern als durchaus idyllischer Ort erscheinen. 9. Ein weiteres Charakteristikum der »Gedenkorte« ist die Spannung zwischen den unterschiedlichen Interessen von Pilgern beziehungsweise Teilnehmern an Wallfahrten einerseits und Touristen andererseits. Reisen zu den Soldatenfriedhöfen und Schauplätzen des Ersten Weltkrieges wurden seinerzeit durchaus mit dem Begriff der Wallfahrt bezeichnet. »Wallfahrten« heißen bis heute auch organisierte Reisen, die beispielsweise französische Überlebende und ihre Angehörigen zu Stätten ehemaliger Konzentrationslager unternehmen. Schon der Begriff allein signalisiert ein spezifisches Interesse, nämlich den Besuch einer geweihten, einer als heilig betrachteten Stätte. Als ein solches Heiligtum gilt Engländern die belgische Stadt Ypern; im Ersten Weltkrieg waren in Gefechten um diese Stadt mehr als 250 000 britische Soldaten ums Leben gekommen, an die seit 1927 allabendlich um acht Uhr eine Fanfare des britischen Zapfenstreichs erinnert. Winston Churchill befand, es gebe »keinen heiligeren Ort als diesen«.49 Im Jahr 1930 hatten sich innerhalb von nur drei Monaten 100 000 Menschen in das Besucherbuch am Menin-Tor in Ypern eingetragen. Der »battlefield-tourism« – der offizielle deutsche Begriff lautet beschwichtigend: »Kriegsgräbertourismus« – hat Ende der zwanziger Jahre das Entstehen einer »blühenden Schlachtfeldindustrie«50 begünstigt. Mosse konstatiert in diesem Zusammenhang eine regelrechte »Konfrontation« zwischen Wallfahrern, die sich »pietätvoll verhielten« und der steigenden Zahl der »bloßen Schau-
—————— 49 Zit. nach Daniel Brunner, Pastorale zwischen Schlachtfeldern. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.8.2001. 50 Mosse 1993a, S. 188.
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lustigen«,51 die auch heute noch die damals umkämpften Hügel und trocken gelegten Schützengräben unter Führung sogenannter »battlefield-guides« durchwandern. Kritik an Touristen und Schaulustigen wird auch laut im Zusammenhang mit Stätten, die an den nationalsozialistischen Völkermord erinnern, wie beispielsweise in Jessica Durlachers Roman Die Tochter. Der Ich-Erzähler Max Lipschitz beobachtet Besucher des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam: »Das waren doch allesamt nur Touristen, die an einem Ort, an dem Gut und Böse ihre Protagonisten gefunden haben, auf billige Weise an ein großes Gefühl kommen wollten, dachte ich grimmig.«52 Die Konstellation der Schaulustigen einerseits und der Pilger andererseits war Gegenstand einer Konferenz im Mai 1990, auf der die »Yarnton Declaration of Jewish Intellectuels on the Future of Auschwitz« vereinbart wurde. Der US-amerikanische Historiker James Edward Young berichtet, daß Dias gezeigt wurden, auf denen Eis essende und Kaugummi kauende Teenager in den Gebäuden des Stammlagers Auschwitz zu sehen waren. Angesichts dieser Aufnahmen habe ein englischer Teilnehmer laut einen Kleider- und Verhaltenskodex für die Gedenkstätte gefordert, ein Vorschlag, der, wie ein erregter amerikanischer Wissenschafter meinte, sich bei 700 000 Auschwitztouristen pro Jahr wohl kaum realisieren lasse.53 Möglicherweise läßt sich die hier deutlich werdende Dichotomie zwischen Pilgern und Touristen mit den Begriffen pietas und fama präzisieren: Pietas meint im Lateinischen die Haltung der Pflichterfüllung gegen Gott und Menschen, Verwandte und Verstorbene sowie Frömmigkeit, fama hingegen so etwas wie Ruhm um einer Sache oder Leistung willen. Daß ein Objekt als berühmt gilt, kann, jenseits ethischer Prämissen, Grund genug sein, es zu betrachten. Der Ruhm eines Objektes – eines Reliktes oder Kunstwerkes – hebt es in den Rang des Sehenswürdigen. Auf die Frage, ob Begriffe wie sakral-profan oder auch sakral-trivial die skizzierten Dispositionen adäquat beschreiben, komme ich im folgenden zurück. Zunächst einige resümierende Überlegungen: Das Andenken an »bedeutende und bewundernswerte Taten« ist eine Form des Vergangenheitsbezuges, in dem Tote aufgrund von Verdiensten wie militärische Leistungen geehrt werden. Fama, der weltliche Ruhm, erfuhr seitens der christlichen Religion keine Wertschätzung, es sei denn, herausragende Taten wie militärische Siege ließen sich in ein religiöses Narrativ heilsgeschichtlich einbetten. Christliche
—————— 51 Ebd. S. 189. 52 Durlacher 2001, S. 8. 53 Young 1993, S. 152f.
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Siegesgedenkfeiern, die die Erinnerung an politische und militärische Ereignisse mit religiösen Deutungsmustern amalgamierten, weisen ihrerseits auf die große Bedeutung, die dem Gedanken des Sieges für die Ehrung von Toten zuzukommen scheint. Auch als im Kontext der Entstehung von Nationalstaaten die Ehrung der »auf dem Feld der Ehre« Gefallenen partiell aus den Kirchen auszuwandern begann, bildete »der Sieg« die Folie, vor deren Hintergrund der militärische Tod thematisiert wurde. Selbst dort, wo ein Krieg nicht siegreich verlief – wie der Erste Weltkrieg für Deutschland –, wurde der militärische Tod, wie Reinhart Koselleck pointiert formuliert, in eine »Funktion des Sieges«54 umgedeutet; erinnert sei an die nach 1918 popularisierte Formel: »Im Felde unbesiegt«. Die verbreitete Tendenz, Massentötungen aus der Optik ihrer Beendigung, eines wie auch immer als siegreich betrachteten Ausganges, zu gedenken, zeigt sich nicht zuletzt auch in den Gedenkfeiern, die den Toten der nationalsozialistischen Konzentrationslager gewidmet sind. Die zentralen Daten sind hier die Jahrestage der Befreiung der Lager und beispielsweise nicht die ihrer Eröffnung;55 ein Umstand, der zugleich an die im Protestantismus vollzogene Würdigung der historischen Tat als Modell des »heiligen Anfangs« erinnert. Im Zentrum der Überlegungen stand nicht zuletzt der Märtyrerkult, der seit dem späten 4. Jahrhundert die familiären Formen des Totenkultes – Feiern des Totenmahls, Speisungen, Libationen – zurückdrängte. Dem Märtyrerkult sind mindestens drei Merkmale eigentümlich, die Parallelen zu Formen des Gedenkens im 19. und 20. Jahrhundert aufweisen: Erstens umfaßt diese Form der Totenehrung die doppelte Intention der Erinnerung und Würdigung einerseits und die »Einübung und Vorbereitung« auf künftiges Handeln andererseits.56 Der Tod des Märtyrers ist ein Ereignis von normativer Kraft, aus dem ethische Handlungsprämissen abgeleitet werden. Zweitens sind die Überreste der Märtyrer Manifestationen des Heiligen, Reliquien und insofern geeignet, heilige Stätten zu begründen. Die Vorstellung, daß menschliche Überreste zur Fundierung heiliger Stätten notwendig sind, ist virulent in der bis heute verbreiteten Gepflogenheit, Asche, menschliche Knochen und Erde von Gräbern, Schlachtfeldern und Vernichtungsstätten zu neuen, anderen Orten zu translozieren. Die Inauguration von durch Reliquien beglaubigten heiligen Stätten
—————— 54 Koselleck 1979, S. 266. 55 Vgl. Kapitel V. 56 Auch Jan Assmann unterscheidet im Totengedenken eine retrospektive und eine prospektive Dimension, meint aber mit »prospektiv« weniger den Aspekt des Einübens und Vorbereitens künftiger Handlungen seitens der Lebenden als vielmehr die Hoffnung des Einzelnen, »im Andenken der Gruppe weiterzuleben.« Jan Assmann 1999, S. 60ff., insbesondere S. 63.
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bedingt, und das wäre der dritte Punkt, das Phänomen der Wallfahrt, ein Modus des Totengedenkens, der noch zur Thematisierung der Massentötungen des 20. Jahrhunderts geeignet scheint. Deutlich wird, daß die christliche Religion über ein Repertoire von konsekrierenden Praktiken und Vorstellungen verfügt, das sowohl zentrale Formen des Gedenkens im 20. Jahrhundert als auch die durch sie vermittelten Vorstellungskomplexe präfiguriert.
Theorien des Gedenkens Seit Beginn der achtziger Jahre stehen Gedächtnis und Erinnerung im Zentrum eines neuen kulturwissenschaftlichen Interesses, das die Grenzen der tradierten Wissenschaftsdisziplinen zu überschreiten scheint. Der Begriff der Erinnerung gilt in diesem Zusammenhang als ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften (Jan Assmann), das eine inzwischen kaum mehr übersehbare Spezialliteratur hervor gebracht hat. Begriff und Phänomen des Gedenkens werden in diesem Zusammenhang vor allem auf zwei, sich gleichwohl überlappenden Analyseebenen verhandelt: Auf der einen Seite gilt »Gedenken« als eine besondere Form der Erinnerung, als ein spezifischer Modus des kollektiven Gedächtnisses, des kulturellen beziehungsweise kommunikativen Gedächtnisses, des sozialen Gedächtnisses oder auch als eine Form der Erinnerungskultur, um einige der dominanten, vorwiegend idealtypischen Konzepte zu nennen. Auf der anderen Seite wird »Gedenken« als eine besondere Form des »politischen Rituals«, im weiteren Sinn der politischen Festkultur, definiert und ist insofern Gegenstand der politischen Kulturforschung beziehungsweise geschichtspolitischer Untersuchungen. Im folgenden geht es weniger um die Gedächtnis- und Ritualtheorien als solche. Vorgestellt und diskutiert werden vielmehr Erklärungsansätze, die explizit Akte des Gedenkens verhandeln, um abschließend zu der Frage zurückzukehren, welche Funktionen dem sacrum in diesem Kontext zugeschrieben werden.57 »Alles Gedenken, das sich auf Tote bezieht, (ist) stets ein gruppenbezogenes, ein in Gruppen konstituiertes Gedenken«.58 Diese Prämisse gilt sowohl für die erinnerungstheoretischen als auch für die politikwissenschaftlichen beziehungsweise ge-
—————— 57 Da die Arbeiten an diesem Band im Sommer 2004 beendet waren, konnte die Literatur zum Thema nur bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt werden. 58 Oexle 2001, S. 25.
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schichtspolitischen Analyseansätze. Auch dort, wo ein Akt des Gedenkens individuell oder privat vollzogen wird, bleiben doch die diesen Akt konstituierenden Bilder, Vorstellungen und Handlungen gesellschaftlich vermittelt. Gerade deshalb aber stellt sich die Frage nach den Bildern und Vorstellungen, die die jeweilige Gruppe oder Gesellschaft von sich selbst im Hinblick auf ihre Toten entwirft. Auf welche Weise wird in öffentlichen Akten des Gedenkens Einigkeit hergestellt über die Bedeutung der Toten für die Lebenden und, damit verbunden, über die Bedeutung der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft? Wenn Akte des Gedenkens gruppenbezogen sind und sich die Gesellschaft in der erinnernden Rückbindung an die Toten »ihrer Identität« versichert,59 auf welchen Ausschlußprinzipien beruht dann das Gedenken? De facto kann man von einer strukturellen Paradoxie des Gedenkens sprechen, die nicht erst seit Anfang der achtziger Jahre auf unterschiedliche Weise problematisiert wird: In seiner zweiten »unzeitgemäßen Betrachtung«: »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben« hat Friedrich Nietzsche 1874 eine Kritik des Gedenkens formuliert. Der »monumentalistischen Betrachtung der Vergangenheit« wirft er vor, sie würde die historischen Motive und Anlässe abschwächen, »um auf Kosten der causae die effectus monumental, nämlich vorbildlich und nachahmungswürdig, hinzustellen: so dass man sie, weil sie möglichst von den Ursachen absieht, mit geringer Uebertreibung eine Sammlung der ›Effecte an sich‹ nennen könnte, als von Ereignissen, die zu allen Zeiten Effect machen werden. Das, was bei Volksfesten, bei religiösen oder kriegerischen Gedenktagen gefeiert wird, ist eigentlich ein solcher ›Effect an sich‹ (...) so leidet die Vergangenheit selbst Schaden: ganze grosse Theile derselben werden vergessen, verachtet, und fliessen fort wie eine graue ununterbrochene Fluth, und nur einzelne geschmückte Facta heben sich als Inseln heraus.«60
Was Nietzsche als einen »Effect an sich« ins Auge faßt, als »geschmückte Facta« der ansonsten vergessenen und verflossenen Vergangenheit, läßt sich aus einem anderen Blickwinkel als der Teil des Vergangenen beschreiben, der im Akt des Geden-
—————— 59 Jan Assmann 1999, S. 63. Mit Jan Assmann könnte man öffentliches Gedenken als einen Modus des kulturellen Gedächtnisses beschreiben: »Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektives Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.« Jan Assmann 1988, S. 15. Indes berücksichtigt dieser Ansatz nicht die Frage nach den Ausschlußprinzipien öffentlichen Gedenkens. Das Phänomen verschiedener Erinnerungsgemeinschaften in einer Gesellschaft bleibt ebenfalls unberührt. 60 Nietzsche 1980a, S. 261f.
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kens in den Rang eines normativen Bezugspunktes erhoben wird. »Von einer bestimmten Gegenwart aus wird ein Ausschnitt der Vergangenheit auf eine Weise beleuchtet, daß er einen Zukunftshorizont freigibt. Was zur Erinnerung ausgewählt wird, ist stets von den Rändern des Vergessens profiliert.«61 Der beleuchtete Teil des Vergangenen, der noch zu einem »Effect an sich« avancieren kann, steht in dieser Argumentation dem Vergessen gegenüber. Anders gelagert sind die folgenden Überlegungen, die weniger die Tatsache des Vergessens an sich, als vielmehr die Weise des Erinnerns problematisieren. Ruth Klüger schreibt von den »Glättungen und (...) Beschönigungen, die das Körnige, das Sandige des wirklich Erlebten bis zur Widerstandslosigkeit in der Nacherzählung ausfiltrieren«. Eine Einheitlichkeit des Bildes wird behauptet, ungeachtet der Tatsache, daß doch jede Erinnerung »durchtränkt (ist) von Fluten späteren Geschehens«.62 Sigrid Weigels Kritik der »institutionalisierten Gedenkrituale« treibt diese Beobachtung weiter, wenn sie schreibt: »In den etablierten Gedenkritualen werden die Erinnerungsspuren, die in der Funktionsweise des Gedächtnisses im Moment ihrer Erkennbarkeit immer schon einer unwillkürlichen Auswahlökonomie unterliegen, (...) einer zweiten, nun aber willkürlichen bzw. programmatischen Selektion unterworfen.«63 Der utilitaristische Charakter des Gedenkens erweise sich beispielsweise in der verbreiteten Formel vom »Erinnern für die Zukunft«. Um Erinnerungen »für die Zukunft« nutzbar machen zu können, müssen sie bearbeitet beziehungsweise einer »programmatischen Selektion« unterzogen werden. Ein Beispiel ist der Slogan, mit dem die Christlich-Demokratische Union am 12. August 2001 anläßlich ihrer Gedenkfeier zum 40. Jahrestag des Mauerbaus am Checkpoint Charlie, Berlin, die Rednertribüne schmückte: »Erinnern heißt Freiheit verteidigen«. Daß hier eine Identität behauptet wird zwischen der Erinnerung an den Mauerbau am 13. August 1961 und dem Auftrag, Freiheit zu verteidigen, zeigt das dominante Interesse an normativen Setzungen, das die »programmatische Selektion« der Erinnerungen dirigiert. So gesehen stellt sich die Frage, ob sich Vergangenes für Zwecke des Gedenkens überhaupt nur dann eignet, wenn es sich mit der Kraft des Normativen besetzen läßt. Seit dem 40. Jahrestag des Mauerbaus scheint jedenfalls der 13. August mehr denn je für diesen Zweck geeignet: Zum ersten Mal in 40 Jahren wurden in Berlin an diesem Tag die Flaggen auf halbmast gesetzt.
—————— 61 Aleida Assmann 1999, S. 408. 62 Klüger 1992, S. 32. 63 Weigel 1996, S. 251.
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Die Auswahl bestimmter Erinnerungen und ihre Bearbeitung ist gleichwohl nur ein Punkt der Weigel’schen Kritik. Der zweite gilt der in Anlehnung an Sigmund Freud formulierten Tatsache, daß das Vergessen selbst Erinnerungsbilder hervorbringen kann, »und zwar solche Bilder, in denen die Besetzungen verschoben, unaushaltbare Ereignisse durch andere Szenen verdeckt oder durch jüngere Ereignisse entstellt sind. Das Vergessen steht also in keinem Gegensatz zum Erinnern, sondern ist eine Funktion des Gedächtnisses.«64 »Kollektives Vergessen kann selbst die Gestalt einer Erinnerung (guise of memory) annehmen. (...) Konstruiert wird eine hochgradig selektive Geschichte, die von dem handelt, was wesentlich für die Gemeinschaft ist und sich von allem übrigen abwendet.«65 Daß Akte des Gedenkens determiniert werden durch die Bilder und Vorstellungen, die von grundlegender Bedeutung für die jeweilige Gemeinschaft sind, weist auf eine Funktion des sozialen Gedächtnisses. In diesem Zusammenhang ist Peter Burkes Theorie vom sozialen Gedächtnis von Interesse, insofern als er in Anlehnung an Maurice Halbwachs’ Begriff der »affektiven Gemeinschaften« und Stanley Fishs Begriff der »Interpretationsgemeinschaften« von »›Erinnerungsgemeinschaften‹ innerhalb gegebener Gesellschaftssysteme« spricht.66 Spezifische Gruppen erheben mit Hilfe von kommemorativen Praktiken den Anspruch, Vergangenheitsdeutungen durchzusetzen, um auf diese Weise ein öffentliches Gedächtnis auszubilden. Eben dieser Tatsache ist der Umstand geschuldet, daß Erinnerungsgemeinschaften immer wieder Exklusionsstrategien gegenüber anderen, Individuen oder Gruppen, entwickeln, gegenüber jenen also, die nicht teilhaben sollen an der kollektiven Selbstverständigung über die Bedeutung des Vergangenen für Gegenwart und Zukunft. Erinnert sei hier beispielsweise an die Einweihung des Tannenberg-Nationaldenkmals in Ostpreußen im September 1927: Die zunächst vorgesehene Ansprache eines jüdischen Feldgeistlichen wurde abgesagt und damit auch die Teilnahme des »Reichsbundes jüdischer Frontkämpfer« verhindert.67 Und noch ein anderes Beispiel: Anläßlich des bereits erwähnten 40. Jahrestages des Mau-
—————— 64 Ebd. 65 Hartman 1994 , S. 15. 66 Burke 1991, S. 298. In Anschluß an Burke definiert Harald Welzer das soziale Gedächtnis »als die Gesamtheit der sozialen Erfahrungen der Mitglieder einer Wir-Gruppe«. Welzer betont, es sei notwendig und überfällig, »das Augenmerk verstärkt auf die unbewußten, nicht-intentionalen Praktiken des sozialen Gedächtnisses zu lenken«. Bei all dem, »was absichtslos, nicht-intentional, Vergangenheit und Vergangenheitsdeutungen transportiert und vermittelt«, handele es sich um eine »Vergangenheitsbildung en passant«. Welzer 2001. 67 Vgl. Seite 79f. in diesem Band.
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erbaus zerstörten Vertreter der Opferverbände des SED-Regimes Kränze der Partei des Demokratischen Sozialismus, weil sie das Gedenken der Mauertoten seitens der SED-Nachfolgepartei als Ausdruck eines »ungebrochenen Zynismus« verstanden;68 die Reihe ließe sich fortsetzen. Die Kritik des Gedenkens gilt also einerseits der Tatsache des Vergessens und andererseits der Erinnerung selbst, den Bildern und Vorstellungen, die stets eine nur selektive Geschichte des Gewesenen vermitteln. Hinzu kommt drittens, daß das Interesse einer Erinnerungsgemeinschaft sich immer aus der Gegenwart speist: Gedenkend geht es, wie schon der oben zitierte Brief der Gemeinde von Smyrna deutlich macht, um »Einübung und Vorbereitung« gegenwärtiger und künftiger Aufgaben. Dementsprechend argumentieren auch Frank R. Ankersmit und Heinz Schlaffer: Im Gedenken werde das Vergangene entkontextualisiert, um in einem zweiten Schritt entsprechend den jeweiligen Gegenwartsinteressen neu kontextualisiert zu werden. Insofern sei die Vergangenheit uns, den Gedenkenden, geradezu hilflos ausgeliefert.69 So gesehen ist »Gedenken« stets »ohne Gedächtnis«. Wesentlich ist einzig die Aktualität und nicht jene Vergangenheit, »in der das Aktuelle noch unentfaltet verborgen lag und aus der es erst durch aktualisierende Deutung befreit werden mußte«70. Gegen die Kritik eines durch Gegenwartsinteressen hoffnungslos instrumentalisierten Gedenkens setzt Micha Brumlik den »Gedanken eines zweckfreien Eingedenkens«,71 der, wie Jan-Holger Kirsch zutreffend bemerkt, aber höchstens als »regulative Idee« einleuchtend ist, »weil historisches Erinnern nie völlig interessenlos sein kann«.72 Fulminante Kritik erfuhr die Praxis des Gedenkens im Lauf der achtziger und neunziger Jahre anläßlich der zahlreichen Gedenkfeiern, die in der Bundesrepublik aufgrund der sich häufenden »runden« Jahrestage begangen wurden. Beispielsweise sah Hans-Ulrich Wehler das Land von einer »Welle von Erinnerungstagen geradezu überrollt«; es drohe die »Gefahr einer Inflation der Gedenktage«.73 Das, was »in Wahrheit Geschichte ausmacht (...), geht im Potpourri punktueller Erinnerungen
—————— 68 Mechthild Küpper, An der Bernauer Straße wird Schröder mit Pfui-Rufen empfangen. Beim Mauergedenken treffen Politiker von SPD und PDS auf SED-Opfer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berliner Seiten, vom 14.8.2001. 69 Ankersmit 1996, S. 221f. 70 Schlaffer 1989, S. 83. 71 Brumlik 1993, S. 205. 72 Kirsch 2003, S. 324. 73 Wehler 1991, S. 206 und 210.
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unter«.74 Pathologisierend ist beispielsweise auch vom Ausbruch einer »Epidemie des Gedenkens« die Rede, und zwar anläßlich des 50. Jahrestages der Pogromnacht im November 1988.75 Das »echte Gedenken ist in Gefahr,« lautet ein weiterer Befund.76 Nun handelt es sich bei der hohen Zahl von Gedenkfeiern der achtziger und neunziger Jahre keineswegs um ein isoliert zu betrachtendes Phänomen. Die Konjunktur von Geschichte, Gedächtnis und Gedenken ist seit Anfang der achtziger Jahre in vielen westlichen Gesellschaften zu beobachten;77 die Bundesrepublik machte keine Ausnahme. Alternative Geschichtswerkstätten, die sich entsprechend der Devise des Schweden Sven Lindquist »Grabe, wo du stehst« organisierten, setzten der akademischen Geschichtswissenschaft die Alltags- und Lokalgeschichte entgegen. In diesem Kontext artikulierte sich das neue öffentliche Interesse an Geschichte auch auf bürgerrechtlicher Basis, und zwar in Anschluß an die durch die Studentenbewegung hervorgerufene Delegitimierung der gesellschaftlichen Autoritäten. Medienereignisse wie die TV-Serie »Holocaust« (1979)78 oder auch die deutsche TV-Serie »Heimat« (1985), die großen Geschichtsdebatten79 und historischen Ausstellungen beider Jahrzehnte, sind weitere Facetten jenes komplexen Historisierungsprozesses am Ende des 20. Jahrhunderts, der nicht zuletzt zur Revision tradierter nationaler Narrative in Westeuropa beigetragen hat. Ausdruck der veränderten politischen Konstellation in Europa einerseits und des Generationenwechsels andererseits ist das Fragwürdigwerden traditioneller Paradigmen, wie folgende Aufsatz- und Buchtitel der letzten Jahre andeuten: Der Kampf um das Gedächtnis, Gedenken im Zwiespalt, Zweierlei Erinnerung, Eine angemessene Erinnerung? Rituale des Zwiespalts, Die geteilte Vergangenheit, Globalisiertes Erinnern, Abgründiges Erinnern – die Reihe ließe sich fortsetzen. Abschied der Erinnerung lautet dementsprechend der Titel eines Essays, in dem Volkhard Knigge sein auf die NS-Ver-
—————— 74 75 76 77 78
Schlaffer 1989, S. 84. Bodemann 1996, S. 85. Mosebach 1995, S. 223. Vgl. im folgenden Lüdtke 1997, Wolfrum 1999 und Garbe 2001. Die Serie wurde in den USA an vier aufeinander folgenden Abenden im April 1978 gesendet; mehr als 120 Millionen Amerikaner verfolgten sie am Bildschirm. Das Anti-Defamation League Bulletin kommentierte, daß in diesen vier Tagen im April dem Holocaust mehr öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde als in den drei Jahrzehnten zuvor. Sonntag, der 16. April 1978, wurde später als »HolocaustSunday« bezeichnet. Vgl. Cole 2000, S. 12f. 79 Einen fundierten Überblick über den Nationalsozialismus in den »Gedenkdebatten« der neunziger Jahre liefert Kirsch 2003, S. 45–80.
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gangenheit bezogenes Konzept des »Negativen Gedenkens« entwickelt: »Mit negativem Gedenken ist der Umstand gemeint, daß begangene bzw. zu verantwortende Verbrechen im kollektiven Gedächtnis der Deutschen dauerhaft aufgehoben werden sollen.«80 Hier wird kein Prinzipielles, Zeitloses und deshalb Gültiges in den Rang einer normativen Setzung erhoben, sondern etwas, das Knigge »die Gewahrwerdung der radikalen Unselbstverständlichkeit des (gesellschaftlich) Guten« nennt. »Es ist im Kern nichts anderes als willentliche und bedachte Selbstbeunruhigung.«81 In gleichsam gedanklicher Nachbarschaft argumentiert Jan Philipp Reemtsma, wenn er in seinem Aufsatz: »Wozu Gedenkstätten?« von dem »Bewußtsein von der Fragilität unserer Zivilisation« spricht: »Es geht nicht um Erinnerung, es geht um das Bewußtsein einer Gefährdung, von der man weiß, seit man von ihr weiß, seit man weiß, daß es eine Illusion war, zu meinen, der Zivilisationsprozeß sei unumkehrbar, von der man also weiß, daß sie immer aktuell bleiben wird.«82
Im Unterschied zu den skizzierten normativen Reflexionen steht im Zentrum politikwissenschaftlicher und zum Teil auch sozialhistorischer Analyseansätze die Frage nach dem Formen, den politischen Funktionen und gesellschaftlichen Implikationen öffentlicher Akte des Gedenkens. Als Forschungsparadigma dient zahlreichen Untersuchungen der politischen Festkultur das von dem US-amerikanischen Politologen Murray Edelman in den sechziger Jahren vorgelegte Konzept des »politischen Rituals«83 wie auch Victor Turners Theorie vom Ritual als »sozialem Drama«. Inszenierungen der Nationalstaaten, politische Feste, Jahrestage und in diesem Zusammenhang auch Gedenkfeiern werden inzwischen unhinterfragt als Rituale definiert und analysiert. In dieser Perspektive sind Rituale »integrale Bestandteile der Politik«84 und insofern herrschaftsrelevant. Der Schematismus von Ritualen, die Wiederholung, ihre Außergewöhnlichkeit im Sinne einer »Aufhebung der Zeit«85 wie auch ihr vermeintlicher Anspruch, Werte von normativem Rang durch Bezug auf ein wie auch immer definiertes sacrum zu beglaubigen, sind Merkmale, die auf den ersten Blick auch nicht-religiöse Gedenkveranstaltungen charakterisieren. Hier liegt das erste Problem in der Kategorie des Bedürfnisses: Daß Rituale öffentlich durchgeführt werden, wird immer wieder mit den »Bedürfnissen« der An-
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Knigge 2002, S. 421. Knigge 2002, S. 433. Reemtsma 2004, S. 62. Edelman 1990. Arnold/Fuhrmeister/Schiller 1998, S. 18. Voigt 1989, S. 12.
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hänger eines politischen Systems begründet, 86 mit einem »Bedürfnis der Beherrschten«87 oder, im Fall des Nationalsozialismus, mit »religiösen Bedürfnissen«88. Dagegen heißt es in einer Studie über »sozialistische Rituale« in der Deutschen Demokratischen Republik, diese wären nur zum Teil den »natürlichen Bedürfnissen« der Gesellschaft entgegengekommen.89 Die Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, daß es sich beim »Bedürfnis« – sei es religiös, sei es natürlich – um ein doch eher schillerndes Erklärungsmodell handelt. Der vorschnelle Rückgriff auf eine anthropologische Konstante läßt sich als ein Hinweis darauf lesen, daß für die Ursachenforschung noch einiges zu tun bleibt. Ein zweites Problem birgt der Begriff des Rituals in sich, insofern er zunächst einmal eine gleichsam transkulturelle Struktur religiöser Aktivitäten indiziert. Ritual ist eine universelle Kategorie, die ein kohärentes Phänomen mit scheinbar gleichbleibenden Zügen beschreiben soll.90 Vor diesem Hintergrund stellt sich, drittens, die Frage, inwieweit »Ritual«, zunächst von der Ethnologie, dann auch in der Religionswissenschaft zur Analyse religiöser Aktivitäten genutzt, überhaupt geeignet ist, um nicht-religiöse Konstruktionen sozialer und politischer Realitäten adäquat zu beschreiben. Sind erst einmal politische Veranstaltungen als religiös oder quasireligiös definiert, wird dieser Befund gleichsam im Handumdrehen auch auf die Motive der Teilnehmer, auf ihre Bedürfnisse, übertragen. Unversehens erscheint Religion als prima causa gesellschaftspolitischen Handelns. Das implizite Problem dieses Analyseansatzes, der häufig mit Bezug auf Eric Voegelins Begriff der »politischen Religion« argumentiert, betrifft die Vorstellung von Säkularisierung als einer Verfallsgeschichte.91 Säkularisierung ist, so Voegelin, die Trennung eines »weltlichen Geistes von seinen Wurzeln in der Religiosität«. Weil »Gott hinter der Welt unsichtbar geworden ist, (...) werden die Inhalte der Welt zu Göttern«.92 Das Entstehen politischer Religionen hat das Schwinden wirklicher Religion zur Voraussetzung. Wo früher etwas war – eine »echte« Religion –, ist jetzt Substanzlosigkeit, weshalb im Kontext der politischen Rituale bloße »Substitute des
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Wolfrum 1999, S. 136. Arnold/Fuhrmeister/Schiller 1998, S. 11. Behrenbeck 1996, S. 21. Kraa 1989, S. 198. Vgl. Bell 1998. Vgl. Eschebach und Lanwerd 2000. Voegelin 1996, S. 6 und 50.
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Göttlichen«93 beschworen werden. »Ritual« als Analysekategorie nicht-religiöser, politischer Veranstaltungen impliziert eine Vorstellung von Religion, nach der Religion als prima causa universell gültige, gar anthropologisch verankerte Strukturen noch im Prozeß ihres vermeintlichen Rückzuges oder Verfalls generiert. Es stellt sich die Frage, ob beispielsweise der Begriff der Performanz nicht die Vorannahmen zu reduzieren imstande ist, die der Ritualbegriff transportiert. Der Terminus wäre geeignet, sowohl religiöse als auch nicht-religiöse Veranstaltungen zu beschreiben. Zu fragen wäre nach der Funktion des Sakraltransfers aus religiösen in nicht-religiöse Kontexte. Auf welches formensprachliche Repertoire wird in politischen Gedenkveranstaltungen rekurriert und aus welchen Gründen? Die Frage nach Funktion und Form performativer Akte lenkt darüber hinaus den Blick nicht nur auf den jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext sondern auch auf die handelnden Subjekte, die nun nicht mehr, wie der Ritualbegriff impliziert, als passive Agenten eines Systems übergeordneter Provenienz betrachtet werden. »Im Zentrum der Analyse performativer Akte«, so die Definition der US-amerikanischen Religionswissenschaftlerin Catharine Bell, »steht nicht so sehr die Frage, wie ein System in bestimmten Handlungen zum Ausdruck kommt, sondern wie performative Akte ein strategisch definiertes Muster an Begriffen, Werten und Aktivitäten [a strategically defined set of terms, values, and activities] zugleich konstruieren und ausführen«.94 Öffentliche Gedenkfeiern lassen sich als Ausdruck eines gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses beschreiben, als ein Selbstverständigungsunternehmen bestimmter Gruppen, die mit Hilfe spezifischer Vorstellungen und Praktiken ein Einvernehmen über die Bedeutung des Vergangenen für Gegenwart und Zukunft herstellen. Ein zentrales Merkmal ist die bereits oben beschriebene Funktionszuweisung an die Geschichte, die gedenkend vollzogen wird: Ein Ausschnitt der Vergangenheit wird mit einem unüberbietbaren Allgemeinheitsanspruch versehen, mit dessen Hilfe Handlungsprämissen für Gegenwart und Zukunft begründet werden. In diesem Zusammenhang ist Edgar Wolfrums Begriff der »Geschichtspolitik« von Interesse und damit »die öffentlichen Konstruktionen von Geschichts- und Identitätsbildern, die sich über Rituale und Diskurse vollziehen«.95 Auf welche Weise aber können Rituale oder besser performative Akte zur Konstruktion von Geschichtsbildern beitragen? In seiner Untersuchung der Leipziger
—————— 93 Wolfrum 1999, S. 136f. 94 Bell 1998, S. 216f. 95 Wolfrum 1999, S. 32.
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Gedenkfeiern der Völkerschlacht konstatiert Stefan-Ludwig Hoffmann »eine Kontinuität der Sprache, Bilder und Rituale einmal gebildeter Nationalmythen (...), die mit den in ihnen gespeicherten Erfahrungen und Erwartungen strukturelle Vorgaben künftiger Erinnerung enthalten«.96 Dieser Befund indiziert keine geschichtliche Zwangsläufigkeit, sondern verweist auf die Historizität, die nicht nur der Sprache und der Bilder, sondern eben auch der Formensprache kommemorativer Praktiken eigen ist. Es gibt so etwas wie ein Formenrepertoire einer nationalen Sprache des Gedenkens, das unter dem Einfluß der französischen Revolutionsfeiern und der christlichen Liturgie in Deutschland im Kontext der Befreiungskriege entwickelt wurde und dessen man sich auch im 20. Jahrhundert immer wieder bedient hat. Erinnert sei hier beispielsweise an die in Opferschalen lodernden Flammen, das Zeigen landeseigener Hoheitszeichen, die Präsenz (bewaffneter) Militärangehöriger, das Ablegen von Gelöbnissen, das Singen patriotischer Lieder oder der Nationalhymne.97 Der Kontinuität dieser formensprachlichen Elemente steht die Diskontinuität von zeitlich getrennten, ganz unterschiedlichen Aktualisierungskontexten gegenüber. Adaptabel ist dieses formensprachliche Repertoire mit seinen strukturellen Vorgaben für spezifische Vergangenheitsdeutungen nur im Rahmen von Feiern, in denen die Deutung eines Todes als Opfer für die (national gedachte) Gemeinschaft durchgesetzt werden soll. Eben das ist nach den Massentötungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts allerdings immer wieder der Fall gewesen.98 Das zentrale Moment der nationalen Praxis des Gedenkens beschreibt der USamerikanische Historiker John R. Gillis folgendermaßen: Anlaß der Gedenkfeiern war der ideologisch motivierte Wunsch, einen Bruch mit der Vergangenheit zu vollziehen. Teilnehmer der amerikanischen wie auch der französischen Revolution sahen sich am Beginn einer neuen Ära stehend, sie schufen einen »Kult des neuen Anfangs« (»cult of new beginnings«) und, damit verbunden, einen Kanon von Erinnerungspraktiken und Gedächtnisorten.99 Im »Kult des neuen Anfangs« oder auch des »heiligen Anfangs« wird der Getöteten nicht zuletzt deshalb gedacht, weil ihr Tod als Bedingung dieses neuen An-
—————— 96 Stefan-Ludwig Hoffmann 1995, S. 111. 97 Vgl. Düding 1988. 98 Zur Frage der Differenzen in den Adaptionen des nationalen Formenrepertoires siehe insbesondere Kapitel II und III in diesem Band; zu den Differenzen zwischen den Gedenkfeiern zur Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reiches siehe Behrenbeck 1998 und Tietz 1999. 99 Gillis 1994, S. 8.
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fangs gesehen wird. Der gewaltvolle Tod ist das Unterpfand, dessen die Konstitution nationaler Gemeinschaft offenbar immer wieder bedarf. Wo der Tod als heiliges Opfer für eine Zukunft gedeutet wird, hat er verpflichtenden Charakter für die Lebenden; nicht von ungefähr ist der »heilige Schwur«, ein Eid, ein Gelöbnis oder eine Verpflichtung fester Bestandteil einer nationalen Sprache des Gedenkens. Ein Scheitern des »Kultes um den deutschen Nationalstaat« diagnostiziert Wolfrum für die Bundesrepublik im Lauf der sechziger Jahre; ein allmählicher Wandel von einer »rituellen hin zu einer diskursiven Konstruktion von Identität« habe stattgefunden.100 Dem entspricht Gillis’ Befund für die USA dieses Jahrzehnts, in dessen Verlauf nationale Repräsentationsformen als zunehmend befremdend wahrgenommen und »desakralisiert« wurden. Neue Gruppen, ethnische und sexuelle Minderheiten, Frauen, Jugendliche und andere, nicht zuletzt auch religiöse Gruppen, suchten nach einem souveränen Status und, zu dessen Legitimierung, einer »brauchbaren Vergangenheit«. Die jetzt einsetzende »Demokratisierung der Erinnerung« ging mit der Genese neuer, postnationaler Formen des Gedenkens einher.101 Die öffentlichen Gedenkfeiern aus Anlaß der terroristischen Anschläge auf New York City und Washington am 11. September 2001 haben gezeigt, daß die nationale Sprache des Gedenkens mit den ihr eingelagerten Deutungsangeboten unter bestimmten Bedingungen stets erneut revitalisiert werden kann.102
Sakralisierung und Trivialisierung Kommemorative Praktiken waren lange Zeit – und sind es zum Teil heute noch – eingebettet in ein semantisches Feld, das durch Begriffe wie heilige Stätte, geweihte Erde, Opfer, Märtyrer, Wallfahrt, Prozession besetzt ist. In unserem Zusammenhang interessieren diese Begriffe zunächst einmal als Ausdruck von Selbstdeutungen und Sinnstiftungen der jeweiligen historischen Akteure. Seit den Befreiungskriegen bis hin zu den beiden Weltkriegen, der Vernichtung der europäischen Juden und darüber hinaus sind Massentötungen immer wieder mit Hilfe eines sakralisierenden Vokabulars und sakralisierender Praktiken thematisiert worden. Sakralisierung ist
—————— 100 Wolfrum 1999, S. 268 und 132. 101 Gillis 1994, S. 19. 102 Vgl. Kapitel VII in diesem Band.
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ein geradezu »klassischer« Modus des Umgangs mit dem gewaltsamen Tod in der Moderne. Zentrale Formen des Gedenkens und die durch sie vermittelten Vorstellungskomplexe sind, dies wurde bereits ausgeführt, christlich präfiguriert. Nun ist die Übertragbarkeit religiöser Muster auf Kriege und Gewalterfahrungen von einer gewissen Plausibilität: Seit Augustinus’ Systematisierung der Opfertheologie wird ein Vorstellungsfeld tradiert, das zur Deutung von kollektiven Gewalterfahrungen und Massentötungen überzeugende und wirkmächtige Metaphern liefert.103 Sakralisierung als analytische Kategorie meint diesen Prozeß der Übertragung religiös tradierter Deutungsschemata auf (zuvor) nicht-religöse Kontexte.104 Das Argument, dieser Prozeß würde nicht wirklich Heiliges, sondern bloße »Substitute des Göttlichen« konstituieren, ist insofern theologisch, als hier ein Monopol kirchlicher Einrichtungen auf Akte der Sakralisierung behauptet wird. Nicht gesehen wird, daß religiöse Einrichtungen selbst »Sanktifikation(en) des Politischen« vornehmen, wie der protestantische Theologe Adolf Harnack im Jahre 1901 dem mittelalterlichen Katholizismus vorwarf105 – freilich ohne zu bemerken, daß dieser Vorwurf selbstverständlich auch für die protestantische Nobilitierung des deutschen Nationalismus zutrifft. Sakralisierung, so die These, ist eine Kulturtechnik zur Erzeugung des Heiligen, die sowohl von kirchlichen Institutionen als auch von anderen sozialen Gruppen als eine spezifische Bearbeitungsform historischen Geschehens in Anspruch genommen wird. Gerade in Hinblick auf ein Unheil – auf Krisen, Kriege, Bedrohung und Tod – stellen Sakralisierungsprozesse ein Repertoire von Handlungsmustern und ein Vokabular zur Verfügung, das das Unheil gewissermaßen »bändigt« und in einer sinnvollen, scheinbar überirdisch legitimierten Ordnung aufgehen läßt. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive bezeichnet der Begriff des Heiligen etwas, das dem Bereich des Heils angehört beziehungsweise ihm eigen ist. Vorstellungen des Heils sind ohne Vorstellungen und Erfahrungen des Unheils nicht denkbar; vor diesem Hintergrund kann man das Heil auch als ein »Modell der Unheilsbewältigung« bezeichnen.106 Beim »Heiligen« handelt es sich also um keine
—————— 103 Vgl. Cancik-Lindemaier 1991, S. 51. 104 Zu Begriff, Bedeutung und Funktion von Sakralisierung vgl. des weiteren Lanwerd 2001, insbesondere S. 53ff. sowie Eschebach und Lanwerd 2000. 105 Harnack 1901, S. 167. 106 Flasche 1993, S. 73.
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autonome Größe, keine substantielle Kategorie, sondern um eine Kategorie der Deutung.107 »Jede Sakralisierung« hält dazu an, »auch eine Heilung zu sein (healing)«, so Jacques Derrida. »Heil, indemnis, meint jenes, was keinen Schaden genommen hat und nicht beschädigt worden ist (damnum).« Sakralisierung zielt darauf, »die unberührte Reinheit (...), die heile, geborgene, unversehrte Vollständigkeit, das unbeschädigte Eigene der Eigenheit und das fleckenlos oder unbefleckt Reinliche« wiederherzustellen.108 Als der Erste Weltkrieg in der Rückschau zu einem »nachgerade heiligen Ereignis« verklärt wurde, ging es darum, »eine an sich unerträgliche Vergangenheit erträglich zu machen«.109 Insofern ist Sakralisierung immer auch ein Angebot zur Konfliktbewältigung: Eine Geschichte soll »als ›vollständige‹, nicht traumatische« gesichert werden.110 Diesem Ziel dient nicht zuletzt auch die Schaffung von Orten des Gedenkens, ein Vorgang, der stets spezifische Praktiken involviert. Als im April 1947 ein ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Mauthausen die Stätte des Geschehens aufsuchte, stellte er folgendes fest: »Ein Platz, der in jedem anderen Lande eine Weihestätte wäre, ist bei uns eine Mistgstätten (...) und ein Kartoffelacker.«111 Nur eine Weihestätte beziehungsweise die Weihe einer nach bestimmten Ordnungskriterien hergerichteten Stätte würde leisten können, was eine »Mistgstätten« nicht vermag, nämlich das beschädigte Eigene im Rahmen einer »vollständigen Geschichte« aufzuheben. Eben diesem Zweck dienen Konsekrierungstechniken, wobei die Weihe einer Stätte notwendig »auf dem Vergessen der Physis des Todes« aufbaut.112 In Mauthausen wird seit 1949 das Leiden und Sterben der Häftlinge mit Hilfe eines Sarkophages thematisiert, der als »leeres Grab« auf dem ehemaligen Appellplatz aufgestellt wurde.113 Dieser Sarkophag gibt einen Eindruck davon, was Clifford Geertz mit der »Idee eines ›wirklich Wirklichen‹«114 meinen könnte: Die gewesene Wirklichkeit des Lagers wird in dem »leeren Grab«, das als solches auf die Auferste-
—————— 107 Zur Religion als einer Kategorie der Deutung vgl. Zinser 1997, S. 161f; zur Religion als Deutungssystem Friedrich Wilhelm Graf 2000b, S. 296ff. 108 Derrida 2001, S. 80 und 40. 109 Mosse 1993a, S. 13. 110 Wenk 1999, S. 31. 111 Zit. nach Botz/Ellmauer/Prenninger 1998, S. 16. 112 Ernst 1995, S. 63. 113 Botz/Prenninger 1998, S. 294. 114 Geertz 1999, S. 77.
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hung Christi verweist, zusammengefaßt und überhöht. Das Heilige reflektiert die Wirklichkeit, indem es sie zugleich verstellt. Es eignet sich, das Unheil zur Sprache zu bringen, aber um den Preis, daß das Unheil zugunsten eines wirklich Wirklichen entwirklicht wird. Eine zentrale Funktion der Sakralisierung von Massentötungen und Gewalterfahrungen liegt in diesem spezifischen Angebot einer Konfliktthematisierung und bewältigung. Nach Graf zielt die »spezifische Logik religiöser Weltbilder« darauf, »alle Unbestimmtheit in Bestimmtheit« zu überführen. Diese Logik definiere »einen krisenresistenten, stabilen Ordnungsrahmen«, um »dem einzelnen eine alle Negativitätserfahrungen integrierende, tragende Gewißheit« zu erschließen.115 Bourdieus oben zitierte These, der Religion komme die Funktion einer Verabsolutierung des Relativen und der Legitimierung des Willkürlichen zu, argumentiert vergleichbar, ebenso wie Volker Ackermanns Funktionsbestimmung des nationalsozialistischen »Mythos«, die darin bestehe, »ein Erklärungspotential für die Deutung kontingenter Fakten« bereitzustellen beziehungsweise »Kontingenz in Notwendigkeit« zu überführen.116 Sakralisierungsprozesse sind diese Prozesse einer Überführung, einer Transformation realgeschichtlicher Ereignisse in einen »krisenresistenten, stabilen Ordnungsrahmen«. Das Heilige markiert in diesem Prozeß den Ort sanktionierter Fraglosigkeit, den Punkt vollständiger Selbstreferentialität, der durch kritische Reflexion nicht mehr relativiert werden soll. Eine zweite Funktion von Sakralisierungsprozessen liegt, um hier den Begriff Benedict Andersons aufzunehmen, in der Stiftung »imaginierter Gemeinschaft«.117 Zunächst zwei Beispiele: Seitdem »Allerseelen«, der Gedenktag aller toten Gläubigen, im Jahr 1006 durch Papst Johann XIX. in der Gesamtkirche eingeführt wurde, ist es üblich, die Gräber der Toten an diesem Tag, dem 2. November, mit Lichtern zu schmücken. Das Kerzenlicht signalisierte zunächst eine Würdigung der Toten mit allerdings ambivalentem Unterton: Einerseits wurden die Lichter aufgesteckt, um die Geister der Toten anzulocken, andererseits, um gegen sie eine Wehr zu errichten, denn Licht
—————— 115 Friedrich Wilhelm Graf 2000b, S. 297. 116 Ackermann 1990, S. 183 und 186. 117 Benedict Andersons Begriff der vorgestellten Gemeinschaft unterstreicht das Artefaktische nationaler Gemeinschaftskonzepte: Obgleich die Mitglieder noch der kleinsten Nation sich nicht persönlich kennen, existiert »im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft«. Anderson 1996, S. 15.
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verscheucht die Geister zugleich.118 »Allerseelen« ist bis heute ein von Katholiken begangener Gedenktag. Die zum Schutz gegen Wind in einem roten Behälter eingefaßten Kerzen werden seit einiger Zeit nicht mehr nur auf Friedhöfen verwendet, sondern zum Zeichen des Gedenkens auch im öffentlichen Straßenraum aufgestellt. Nach 1945 war es in Westdeutschland üblich, Kerzen in Fenster zu stellen, um auf diese Weise das hoffnungsvolle Warten auf die Heimkehr der Kriegsgefangenen anzuzeigen.119 Kerzen wurden während der Berliner Blockade ins Fenster gestellt ebenso wie nach der Nachricht des überraschenden Todes des Berliner Oberbürgermeisters Ernst Reuter Ende September 1953: Die spontane Aktion war ein Ausdruck kollektiver Trauer. Im Lauf der fünfziger Jahre stellten Bewohner von Ortschaften entlang der deutsch-deutschen Grenze Kerzen ins Fenster; ein Akt, zu dem auch die Aktion: »Trotz Mauer und Stacheldraht« die westdeutsche Bevölkerung im Dezember 1961 aufrief. Wenige Monate nach Errichtung der Mauer waren am Heiligabend 1961 die Kerzen im Fenster ein »Zeichen der Verbundenheit mit unseren Landsleuten jenseits der Mauer und des Stacheldrahts«.120 Nach den Anschlägen auf New York und Washington wurde per E-Mail-Kette die deutschsprachige Aufforderung unbekannter Herkunft verbreitet, am Samstag, den 15. September 2001 ab 20 Uhr »eine Kerze (...) in ein oder mehreren Fenstern Deiner Wohnung« aufzustellen, um auf diese Weise »unsere gemeinsame uneingeschränkte Anteilnahme« mit den Opfern und ihren trauernden Angehörigen zu bekunden. Der geschilderte Akt ist nicht nur ein »Modell der Unheilsbewältigung«, sondern zugleich auch ein Akt zur Konstitution imaginärer Gemeinschaft. Er basiert zunächst einmal auf der Tatsache realen Getrenntseins: das der Lebenden und der Toten, der Deutschen und der Kriegsgefangenen, der west- und ostdeutschen Bevölkerung, der Deutschen und der Amerikaner. Diese Tatsache reflektiert die Kerze im Fenster, deshalb kann sie auch als ein Zeichen der Trauer gelesen werden. Zugleich aber übersteigt sie als Sakralrequisit das reale Getrenntsein insofern, als sie auch Zeichen und Verkörperung einer Vorstellung von Gemeinschaft ist. Die Kerze im Fenster – also an einer Stelle des Hauses, an der sie von außen auch gesehen werden kann – appelliert an ein »Wir«, das sich angesichts eines Unglücks konstituiert. Darüber hinaus zeigt sich, daß es um durchaus unterschiedliche Gemeinschaften gehen kann: Außer dem Moment des Unheils haben beispielsweise deutsche Kriegsgefangene und die Toten des 11. September 2001 nichts gemein. Die
—————— 118 Vgl. Wörterbuch der Religionen 1985, S. 549. 119 Vgl. im folgenden Wolfrum 1999, S. 182f. 120 Zit. nach ebd.
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Beharrlichkeit der Formensprache dieses Aktes des Gedenkens indiziert also nicht eine »Identität des Inhaltes«, sondern die »Konstanz der Bewußtseinsfunktion.«121 Ein Beleg dieser These sind auch öffentlich durchgeführte Schweigeminuten, die in Deutschland unterschiedlichen Zwecken des Gedenkens dienten: Im Rahmen der Heldengedenkfeier am 3. August 1924 waren reichsweite Schweigeminuten zentraler Programmpunkt. Nach den Ansprachen, der Kranzniederlegung des Reichspräsidenten Friedrich Ebert und einer Trauerparade brach »Punkt 12 (Uhr) die Musik ab und gab damit das Zeichen für das stille Gedenken an die Gefallenen, währenddessen überall auf den öffentlichen Straßen und Plätzen in Deutschland jeder Ton und jede Bewegung aussetzte.« Sabine Behrenbeck, die diese Feier beschrieben und analysiert hat, merkt an, daß die Bedeutung dieses Aktes in der Presse eigens erläutert worden sei: »Die zwei Minuten stummer Stillstand brachten das Gedenken an die Leiden der Opfer zum Ausdruck, das darauf folgende Hissen der Flaggen auf Vollstock sei ein Zeichen der Zuversicht und ein Gelöbnis der Einigkeit und Treue zum deutschen Vaterland.«122 Eine reichsweite Verkehrspause von einer Minute wurde anläßlich der Beisetzung Paul Hindenburgs am 7. August 1934 im Tannenberg-Nationaldenkmal durchgeführt; die Feier wurde vom Rundfunk übertragen.123 Verbreiteter noch als das kollektive Schweigen waren gleichwohl die Schweigeminuten eines privilegierten Einzelnen wie beispielsweise Hitler, der nach seinen Kranzniederlegungen minutenlange »stille Zwiesprache« mit den toten Helden zu halten pflegte.124 In struktureller Hinsicht ist dieser Akt der Totenehrung vergleichbar mit dem sekundenlangen Innehalten politischer Repräsentanten nach der Kranzniederlegung und dem damit verbundenen Nesteln an den Kranzschleifen. Teil der Trauerfeier am 23. Juni 1953 vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin, die den Toten des Aufstandes am 17. Juni gewidmet war, waren fünf Schweigeminuten in allen Teilen der Bundesrepublik.125 Nach den Anschlägen des 11. September 2001 wurde in Deutschland an gleich zwei Tagen zur Wahrnehmung von Schweigeminuten aufgerufen: Für den 13. September 2001 um 10 Uhr bundesweit und für den darauf folgenden Tag um 12 Uhr europaweit. Auch die ersten beiden Jahrestage des 11. September 2002 und 2003 sind in den USA mit einer Schweige-
—————— 121 122 123 124 125
In Anlehnung an Hans Blumenberg 1988, S. 98. Behrenbeck 1998, S. 43. Ackermann 1990, S. 113. Vgl. S. 101 in diesem Band. Vgl. Wolfrum 1999, S. 100f.
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minute begangen worden, und zwar um 8 Uhr 46, dem Zeitpunkt des Einschlages des ersten Flugzeuges in den Nordturm des World Trade Center. Einen institutionellen Rahmen haben Schweigeminuten in Israel gefunden: Mit dem am 7. April 1959 von der Knesset verabschiedeten Gesetz für den bereits erwähnten »Tag des Gedenkens an den Holocaust und den Heldenmut« wurden zwei Schweigeminuten als fester Bestandteil des Gedenktages institutionalisiert. Das Besondere dieser Schweigeminuten liegt im gleichzeitigen Heulen von Sirenen, das am Jom Hashoah um acht Uhr morgens in ganz Israel ertönt und nicht nur Signal des Beginns der Schweigeminuten ist, sondern während der ganzen Zeit anhält. »Das Gedenken, das ansonsten vermieden werden könnte, ist in diesem Augenblick unausweichlich.« Der Klang der Luftangriffssirenen kontextualisiert darüber hinaus den Holocaust mit der für Israel stets aktuellen Gefahr und Warnung eines neuen Krieges.126 Kollektive Schweigeminuten sind ein Modus, mit dem politische Gemeinwesen auf eine Katastrophe reagieren können. Schweigeminuten sind ein sensuelles Ausnahmeereignis. Diese Form eines »kultischen Reizausschlusses«127 ist durch die sogenannte Kanonstille präfiguriert, die seit dem Mittelalter die Wandlungsworte der katholischen Messe begleitet. Im öffentlichen Raum wird der Reizausschluß durch das Anhalten aller alltäglichen Bewegung (Verkehrspause) bewirkt und zielt gewissermaßen auf eine Bewußtseinsänderung der Beteiligten: Die von außen kommenden Reize werden zugunsten innerer Bildproduktion stillgestellt. Die Momente kollektiver Bewegungslosigkeit werden zu einem Zeichen, dessen Bedeutung vereinbart werden und bekannt sein muß. Hinzu kommt, daß Schweigeminuten als ein Modus kollektiver Vergegenwärtigung bestimmter Bilder sinnvoll sind erst dann, wenn sie öffentlich durchgeführt werden. Der Kontrast zu vorheriger Arbeit, Bewegung, Lärm und Tätigkeit ist konstitutiv für den durch Schweigeminuten erzielten Zweck, kollektive Trauer zu bezeigen. Konstitutiv ist darüber hinaus die Wahrnehmung des Schweigens der anderen, im Straßenraum, in Cafes oder Büros, denn die intendierte momentane Bewußtseinsänderung zielt nicht zuletzt auf die Konstitution imaginierter Gemeinschaft. Schweigeminuten eines politischen Gemeinwesens sind eine hochgradig medialisierte Form des Gedenkens. Das Denkmal, das nach Le Goff Bedingung für Akte des Gedenkens sei, ist hier nicht notwendig insofern, als die Widmung des Aktes,
—————— 126 Young 1996, S. 71. 127 Vgl. im folgenden Mohr 2000, S. 631.
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das Narrativ zuvor mit Hilfe der Medien bekanntgegeben wurde. Die Denkmalsfunktion ist im Akt kollektiven Schweigens aufgehoben, indem alle bewegenden Menschen und Dinge sich minutenlang »in stehende Denkmäler« verwandeln.128 In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Schweigeminuten von anderen Formen des Gedenkens, die mehrheitlich, wenn nicht auf ein Denkmal, so doch auf spezifische Orts- und wiederkehrende Zeitbezüge angewiesen sind. Das Prinzipielle, Zeitlose und Gültige, das in Akten öffentlichen Gedenkens beglaubigt wird, scheint immer wieder bestimmter Verkörperungen zu bedürfen, eine Funktion, die traditionell dem Sakralen zukommt. Zumindest zeigen viele Religionen, das Militär sowie totalitäre Staaten einen großen Bedarf, sich ihrer normativen Setzungen durch heilige Orte und Gegenstände zu versichern. »Sakralisierung fordert«, so Tzvetan Todorov, »dass man das Ereignis isoliert, in einem eigenen Raum aufbewahrt, damit ihm nichts nahe kommen kann.«129 In den Worten Jan Philipp Reemtsmas bedeutet der »Modus der Sakralität (..) nicht nur Unabhängigkeit von unseren Zwecksetzungen, sondern eine Dimension über ihnen. Der sakrale Ort ist nicht unser Objekt, sondern wir sind seines; nicht er muß seine Existenz vor uns rechtfertigen, sondern wir unsere Lebensmodalitäten vor ihm.«130 Das Heilige als Garant und Manifestation des wirklich Wirklichen ist das Nicht-Verfügbare, zumindest solange, wie es nicht aufgrund wechselnder politischer oder sozialer Umstände einer Desakralisierung anheimfällt. Vor diesem Hintergrund ist dem Heiligen immer auch das »Vermögen einer Bezeugung«131 eingeschrieben, und deshalb kann es in Akten des Gedenkens die Funktion einer Beglaubigung übernehmen. Die Gelöbnispraxis des Dritten Reichs, die häufig mit einer Ehrung von Toten verbunden war, erforderte immer die Präsenz eines Heiligen.132 Auch das Militär bedarf – bis heute – solcher Beglaubigungsinstanzen, insofern beispielsweise das Ablegen eines Gelöbnisses oder eines Eides mit der Berührung eines als heilig erachteten Gegenstandes einher geht. In vergangenen Zeiten waren das ein Schwert, die Bibel, ein Kreuz, eine Fahne oder auch ein Geschützrohr; in der kaiserlichen Marine berührte der zu Vereidigende einen »entblößten Offizierssäbel«. Bei der Bundeswehr ist es üblich, daß die Rekruten im Augenblick ihres Gelöbnisses mit der linken Hand das
—————— 128 129 130 131 132
Young 1996, S. 73. Todorov 2001. Reemtsma 2004, S. 54. Derrida 2001, S. 43. Vgl. Seite 96ff.
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Tuch der Truppenfahne berühren.133 Deutlich wird auch hier die gemeinschaftsstiftende Funktion des Heiligen, wobei die Vorstellung von Gemeinschaft notwendig die Existenz derer voraussetzt, die ihr nicht zugehören. Sakralisierungsprozesse schreiben Normen fest, die in einer Absolutheit begründet scheinen. Zugleich werden aber auch immer Verwerfungsnormen produziert. Dieser stets »mitlaufende außerkanonische Schatten«134 ist nun mit dem Begriff des Profanen nicht adäquat gefaßt, weil der Gegensatz sakral – profan selbst konstitutiver Bestandteil religiöser Deutungssysteme ist. Dagegen hat George L. Mosse den Begriff der Trivialisierung vorgeschlagen und zwar in der Absicht, die eine Seite jener Differenz zu beschreiben, von der bereits oben die Rede war: Die Orten des Gedenkens eigentümliche Differenz von »heiliger Stätte« einerseits und »Sehenswürdigkeit« andererseits. Diese Differenz setzt sich auf der Ebene der Objekte fort: Den Devotionalien, Weihe- und Votivgaben stehen die Souvenirs gegenüber. Was Mosse an den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges und Young an der Gedenkstätte Auschwitz exemplifiziert haben, war ein eher konfrontatives Verhältnis zweier Dispositionen, ein Verhältnis, das unter Umständen auch als ein supplementäres zu beschreiben wäre: So ist das im Jahr 1936 als nationales Heiligtum geweihte Marine-Ehrenmal in Laboe, Schleswig-Holstein, auch heute noch mit sakralisierenden Reminiszenzen ausgestattet: Der lange, abwärts führende Gang in die unterirdische Weihehalle ist mit einer Inschrift versehen, die die Besucher zu einem Sakralräumen angemessenen Verhalten auffordert: »Entblöße Dein Haupt und schweige.« Die Weihehalle, die zentrale Stätte der Ehrung toter Marineangehöriger und Seefahrer beider Weltkriege, ist mit Fahnen, Kränzen und Kranzschleifen geschmückt. In dem sich anschließenden Raum besteht die Möglichkeit, Souvenirs zu erwerben: Tassen, Teller, Kugelschreiber, Feuerzeuge, Tonträger und Telephonkarten mit dem Emblem des Ehrenmals stehen ebenso zum Verkauf wie ein sogenannter Erlebnisführer. Außerhalb des Ehrenmals gibt es Stände, an denen schwarze Fahnen mit Totenköpfen, deutsche Nationalflaggen oder auch Schirmmützen mit der Aufschrift: »Zerstörer Lütjens«135 feilgeboten werden.
—————— 133 Vgl. Stein 1984, S. 99 und 104. 134 Vgl. Bahr 2000, S. 160f. 135 Günther Lütjens, Admiral, war der Hauptverantwortliche für den Untergang des Schlachtschiffes »Bismarck« im Mai 1941. Anstatt vor der britischen Übermacht zu kapitulieren, versprach er Hitler telegraphisch den »Kampf bis zur letzten Granate«. Diese heroische Inszenierung kostete mehr als 2000 Matrosen das Leben. Vgl. Holger Afflerbach, Untergang mit wehender Flagge. Ein Ehren-
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Abb. 2 Marine-Ehrenmal Laboe. Gang in die unterirdische Weihehalle, 2002. Foto: I. Eschebach.
Abb. 3 Verkaufsstand im Eingangsbereich des Marine-Ehrenmals Laboe, 2002. Foto: I. Eschebach.
—————— brauch der Marine kostete vielen Menschen das Leben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.1. 2002.
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Diese Objekte sind Beispiele für jenen »Kitsch der Erinnerung«, den Klüger beschreibt, Dokumente der »Verklärung, mit der wir so gern Blut, Schweiß und Kotze der wirklichen Gedächtnisprodukte verpacken«.136 Der Prozeß der Trivialisierung ermöglicht einen spezifischen Modus der Aneignung: Während das Sakrale das Nicht-Verfügbare signifiziert, das wirklich Wirkliche, das die Massentötungen zweier Weltkriege zusammenfaßt und glorifiziert, werden in der Trivialisierung diese Tode zu etwas Vertrautem, mit dem man umgehen kann. Der Schrecken, der doch die Erinnerung an Zehntausende von getöteten Marinesoldaten beider Weltkriege und die Umstände ihres Sterbens auslöst, schlägt auf der Ebene des Trivialen um in etwas, das mir jetzt zur Verfügung steht, oder, wie Mosse formuliert: Trivialisierung »reduzierte den Krieg auf etwas scheinbar Normales, so daß er durchaus alltäglich und nicht grauenerregend erscheinen mußte«.137 Feuerzeuge, Tassen, Mützen, Kugelschreiber sind Gebrauchsgegenstände, die, mit den Insignien des Ehrenmals versehen, uns alltäglich scheinen lassen, was im Ehrenmal selbst ein entblößtes Haupt, Distanz, Achtung und Schweigen erfordert. Einerseits sind die Trivialobjekte eine Antithese zur Normativität »heiliger Stätten«, andererseits aber sind sie auch Stütze des Normativen: Sie entdramatisieren den Ort des Sakralen – hier den sakralisierten Kriegstod –, indem sie ihn veralltäglichen, sentimentalisieren und privatisieren.
Abb. 4 Feuerzeug
—————— 136 Klüger 1996, S. 30. 137 Mosse 1993a, S. 155.
Diese entdramatisierende Funktion erfüllen Souvenirs ungeachtet der Tatsache, daß man sie sowohl in Verdun als auch in der Gedenkstätte Auschwitz erwerben kann oder in religiösen Gedenkstätten wie beispielsweise vor der Grabeskirche in Jerusalem und im katholischen Wallfahrtsort Lourdes. Ob das Bild einer Madonna das Feuerzeug ziert oder, wie in Verdun, das Bild eines französischen Soldaten, ist letztlich nicht entscheidend. Entscheidend ist, daß das Objekt der Ehrung, die heilige Maria oder der französische Soldat, über ein Feuerzeug als Bildträger buchstäblich in die Hände des Nutzers gerät, handhabbar wird und also vertraut.
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Voraussetzung der Entdramatisierung ist allerdings der vollständige Verzicht auf realistische Bilder der Toten. Metaphern wie die vom »nassen Grab« des Seemanns sollen die realen Umstände dieses Sterbens vergessen machen. »Die wenigsten sind plötzlich vom Leben zum Tode gekommen, auf eine Art, die man mit dem Wort ›gefallen‹ auszudrücken versucht,« schrieb Heinrich Böll 1957 in einem »Heldengedenktag« genannten Essay. Der Begriff von den »Gefallenen« sei eine »amtliche Täuschung«, erfunden, um eine »Plötzlichkeit« des Getötetwerdens vorzutäuschen.138 Über die Entnennung der Physis des Todes hinaus zielen Sakralisierungsakte schließlich auf eine Entnennung des Politischen. Das Prinzipielle und fast Zeitlose kann deshalb Gültigkeit beanspruchen, weil es von Gegenwartsinteressen scheinbar nicht tangiert ist. Sakrale Sprache, Musik wie auch sakralisierende Formensprachen scheinen tatsächlich der Zeit enthoben und signifizieren eine Dimension über den alltäglichen Dingen und Interessen. Aber gerade deshalb ist immer wieder zu fragen, ob nicht die scheinbare Abwesenheit des Politischen in Akten öffentlichen Gedenkens letztlich nicht selbst politisch motiviert ist.139
—————— 138 Böll 1969, S. 195. 139 Vgl. dazu ausführlich Kapitel III in diesem Band.
II »Heiliges Sterben« – Die Sprache des Gedenkens in der Weimarer Republik
Lange Zeit ist man mit den Leichen der in Kriegen getöteten Soldaten eher achtlos umgegangen. In der Regel wurden die Toten eilig auf den Schlachtfeldern verscharrt; eine Absolution wurde schnell und kollektiv abgewickelt. Einzig die Offiziere setzte man in den Kirchen der Umgebung bei oder überführte sie in die Familienkapellen.1 Seit Anfang des 18. Jahrhunderts wurde im deutschsprachigen Raum zunehmend die Forderung laut, auch die gefallenen Soldaten ehrenvoll zu bestatten. Den langsam einsetzenden Prozeß einer Demokratisierung des Todes dokumentiert beispielsweise ein Denkmal in Frankfurt, das der preußische König 1792 den siegreichen Hessen gewidmet hatte: Es nennt erstmals, wenn auch noch nach Rängen geordnet, die Namen der Offiziere und der Soldaten.2 Ein Dekret Friedrich Wilhelms III. vom Mai 1813 hat gleichfalls Teil an dieser Entwicklung: Allen, »die auf dem Bette der Ehre starben«, solle fortan »in jeder Kirche eine Tafel auf Kosten der Gemeinde errichtet« werden mit der Aufschrift: »Aus diesem Kirchenspiel starben für König und Vaterland ...«.3 Die Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich 1813/15 stehen für den Beginn einer national orientierten Memorialkultur in Deutschland, die unter dem Begriff der fürs Vaterland gefallenen Helden auch die nicht-privilegierten Mannschaftsränge umfaßt. Mit ihnen wurden die Stätten ihres Todes ehrungsfähig, wie beispielsweise folgende Zeilen deutlich werden lassen: »Zum Dome wird die blutge Erde, Das Schlachtfeld wird zum Hochaltar.« 4
—————— 1 Vgl. Ariès 1982, S. 700. 2 Vgl. Koselleck 1994, S. 12. 3 Gesetz-Sammlung für die Preußischen Staaten, Berlin 1813, zit. nach Jeismann und Westheider 1994, S. 26. 4 Aus einer Bildunterschrift: »Der heilige Augenblick nach der Schlacht von Leipzig, den 18. Octob. 1813« zit. nach Gerhard Graf 1993, S. 96 und S. 159 (Abb. 7).
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Dom und Hochaltar, zentrale Bestandteile christlicher Kultpraxis, werden auf zunächst metaphorischer Ebene nach »draußen«, in den außerkirchlichen Raum, transferiert, um die »Heiligkeit« der Stätten des gewaltsamen Todes – hier der Felder der Völkerschlacht bei Leipzig im Jahr 1813 – anzuzeigen. Dementsprechend heißt es in Ernst Moritz Arndts Entwurf für ein Ehrendenkmal (1814), das den in dieser Schlacht ums Leben gekommenen Deutschen gewidmet sein sollte: »Das Denkmal muß draußen stehen, wo so viel Blut floß. (...) Das Land rings um den Hügel (....) wird für ein geheiligtes Land erklärt, (...) wohin unsere Urenkel noch wallfahrten gehen würden.«5 Arndts Entwurf nennt erstmals Merkmale von Denkmälern, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert in Erinnerung an siegreiche Schlachten errichtet wurden: »Draußen«, vor den Städten, wurden das Hermannsdenkmal bei Detmold (1875), das Niederwald-Nationaldenkmal bei Rüdesheim (1883), das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig (1913), das Tannenberg-Nationaldenkmal bei Hohenstein/Ostpreußen (1927) und das Marine-Ehrenmal Laboe an der Kieler Förde (1936) geweiht. Arndts zweite Bestimmung des Ortes als sakrale Stätte ist in den genannten Bauten durch Anleihen der christlichen Ikonographie realisiert worden: Sei es, wie von Arndt vorgeschlagen, durch die zentrale Positionierung eines Kreuzes, sei es in bildlichen Darstellungen oder auch in architektonischen Übernahmen sakraler Motive des Kirchenbaus wie Turm, Krypta oder Weihehalle. Diese Denkmalsanlagen sollten immer auch als Veranstaltungsorte für öffentliche Feiern dienen. Die Idee, Denkmäler als Stätten für große Veranstaltungen zu nutzen, lag bereits Friedrich Gillys Entwurf eines Denkmals für Friedrich II. zugrunde, der die Anlage eines »Weiheplatzes zur Huldigung der Nation« vorsah.6 Neben den Denkmälern zur Erinnerung an siegreiche Schlachten ist beispielsweise auch das Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäuser (1896) eine bauliche Manifestation der Idee, Denkmäler als Orte für kollektiv vollzogene, performative Akte zu nutzen. Nun ist die Anlage von Festplätzen im Umkreis von Denkmälern nicht unabhängig von der nationalen Festkultur zu sehen, wie sie sich in Deutschland seit Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte: Das im Oktober 1814 in fast allen Regionen Deutschlands gefeierte »Fest aller Teutschen« zur Erinnerung an die siegreiche Leipziger Völkerschlacht gilt als die »Matrix« der deutschen Nationalfeste im 19.
—————— 5 Ernst Moritz Arndt, Über ein Denkmal bei Leipzig (1814), zit. nach Hoffmann-Curtius 1985, S. 78. 6 Mosse 1993b, S. 80.
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Jahrhundert.7 Bestimmende Festelemente waren zunächst ein Umzug, der sich in der Regel vor dem Rathaus, auf dem Marktplatz oder einem anderen zentralen öffentlichen Ort formierte, um sich zu einem außerhalb gelegenen Festplatz auf einer Wiese oder einem Hügel zu bewegen. Hier wurden vor einer Opferflamme Ansprachen gehalten, ein Gelöbnis oder ein Eid gemeinsam gesprochen und gesungen. Wie schon im vorigen Kapitel konstatiert, besteht »eine enge Nachbarschaft« nationaler Feiern des 19. Jahrhunderts zur christlichen Tradition, nach George L. Mosse einerseits, weil die Formensprache dieser Feiern am liturgischen Rhythmus christlicher Kultpraxis orientiert war, andererseits, weil die Feiern »wirkliches Gebet und wirklichen Gottesdienst« in sich aufnahmen.8 Die Verwobenheit von Religion und Politik, die sich hier zeigt, war im Kontext der Befreiungskriege staatlicherseits gefördert worden: Die Kanzel diente nun auch zum Verlesen von Proklamationen. Nach »langer Öde« füllten sich die Kirchen nicht zuletzt deshalb, weil hier Informationen über das Kriegsgeschehen zu erlangen waren.9 Durch den im April 1815 eingeführten Amtseid galten protestantische Pfarrer fortan als »Diener der christlichen Kirche und des Staates«.10 Umgekehrt war im Rahmen des politischen Engagements des deutschen Pietismus im 19. Jahrhundert der Wunsch nach religiöser Erneuerung mit Vorstellungen einer nationalen Einigung und »Wiedergeburt« eine Symbiose eingegangen.11 Für den Sozialreformer Johann Hinrich Wichern (1808–1881) wie auch für den Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910) war das Nationale ein Aspekt der christlichen Erneuerung: Die ganze Nation sollte in das christliche Erziehungswerk einbezogen werden. Als Feind- und Gegenbild galten in diesem Zusammenhang die aus Frankreich kommende Aufklärung und die Figur Napoleons als eine Verkörperung des Antichristen. Patriotische Volksfeste waren in protestantischer Perspektive ein zentrales Mittel zur Stärkung allgemeiner »Sittlichkeit«, der Krieg selbst eine Heilanstalt Gottes.12 Die »enge Nachbarschaft« religiöser und nationalpolitischer Interessen erfuhr im Kontext des Ersten Weltkrieges eine weitere Verdichtung. Das bis dahin unbekannte Ausmaß des Leidens – etwa 13 Millionen Soldaten waren in den Material-
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Düding 1988. Mosse 1993b, S. 95f. Vgl. Gerhard Graf 1993, S. 34, insbes. Anm. 31. Vgl. Amts-Blatt 1815, S. 151f, zit. nach ebd. S. 103. Lehmann 1996 S. 221. Vgl. ebd.
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schlachten ums Leben gekommen – führte zu keiner grundsätzlichen Abkehr von Militarismus und Krieg. Vielmehr wurden Krieg und Nation mit Hilfe von Sakralisierungsstrategien thematisiert, wie sie zumindest im Ansatz im Lauf des 19. Jahrhunderts christlich vorgedacht waren. Die Praxis des Gedenkens zur Zeit der Weimarer Republik ist maßgeblich durch verbale und performative Rekurse auf religiöse Muster geprägt. »Wer vor dem Feinde stirbt, der stirbt nie (...). Denn wo der Glaube an Gott und die Liebe zum Vaterland sich zu dem größten Opfer zusammen fanden, das ein Mensch für seine Brüder zu bringen vermag, da war der Tod auf dem Felde der Ehre ein heiliges Sterben, das die Weihe der Religion und der christliche Glaube nicht umsonst in höhere Regionen hebt.«13
Diese Zeilen notierte der katholische Wehrkreispfarrer von Stettin, Franz Albert, im Jahre 1923. Sie bringen Vorstellungskomplexe zur Sprache, die für die Praxis der Totenehrung der Weimarer Zeit von geradezu symptomatischer Bedeutung waren. Es ist dies erstens der Topos vom ewigen Leben – in der christlichen Überlieferung ein Versprechen, das gläubigen Christen zukommt (vgl. Joh. 6.47) –, das aber jetzt gleichermaßen und emphatisch verstärkt die »vor dem Feinde« Gefallenen einschließt. Zweitens adressiert Albert die Todes- und Tötungsbereitschaft im Kontext des Ersten Weltkrieges als »größtes Opfer«, als ethisch hochstehende Tat, der damit Vorbildcharakter zukommt. Der Tod wird als ein »heiliges Sterben« bezeichnet, das heißt als ein vom alltäglichen Tod unterschiedenes Sterben: Der Tod auf dem »Feld der Ehre« wird in eine Opferhandlung moralisch reiner Menschen transponiert. Und schließlich nennt der Wehrkreispfarrer die Instanz, die eben diese Deutungsmuster generiert: Es ist die Religion, der die Weihekompetenz zusteht. Traditionell mit der Verwaltung von Heilsgütern betraut, verfügt sie über das Recht, je nach Bedarf neue »religiöse Felder«14 zu inaugurieren. An den Gedenkfeiern zur Weimarer Zeit wirkten in der Regel Geistliche beider Konfessionen mit. Nun dienten die Gedenkfeiern nie allein dem Zweck einer Ehrung der Toten, sondern, darüber vermittelt, immer auch einer Selbstverständigung über die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für Gegenwart und Zukunft. Die Thematisierung der toten Helden beziehungsweise der Gefallenen – beide Begriffe wurden synonym genutzt – wurde stets mit mehr oder minder ausführlichen Refle-
—————— 13 Franz Albert, Die (kath.) Seelsorge im Felde, in: M. Schwarte (Hg.), Der große Krieg 1914–1918, der Wettkampf um Ehre und Recht, die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit auf amtlichen Akten und Urkunden beruhend. Band 10/Teil III. Leipzig, Berlin, Tübingen o.J., zit. nach Vogt 1993, S. 155. 14 Vgl. Bourdieu 2000.
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xionen über die Folgen des Friedensvertrages von Versailles (1919) verknüpft, der von den Zeitgenossen als ein »Schanddiktat«, als eine Verletzung »deutscher Ehre« wahrgenommen wurde. Die Rekurse auf religiöse Deutungsmuster dienten im Kontext der Gedenkfeiern nie allein der Sakralisierung des Kriegstodes, sondern immer auch dem Zweck der Konfliktbewältigung einer als defizitär empfundenen Gegenwart. Allerdings waren die an den Gedenkfeiern beteiligten Geistlichen nicht die einzigen, die über Sakralisierungskompetenzen verfügten. Diskursive Bezugnahmen auf das sacrum sind auch in den Ansprachen »weltlicher« Persönlichkeiten wie Repräsentanten des Staates, der Länder und des Militärs zu beobachten. Konsekrationseffekte sind darüber hinaus dem kirchlichen und dem »weltlichen« Liedgut eigentümlich wie auch den spezifischen Verlaufsmustern dieser Gedenkfeiern. Im Unterschied zur Weimarer Republik waren Geistliche an den Gedenkfeiern im Dritten Reich in der Regel nicht beteiligt. Gleichwohl haben zentrale religiös tradierte Vorstellungskomplexe wie der vom ewigen Leben, die Deutung des Kriegstodes als Opfertod auch die nationalsozialistischen Gedenkfeiern strukturiert. Die im Kontext der christlichen Religion vorgenommene Qualifikation des Begriffs »Deutschland« als letztbegründende, mit sakralen Weihen ausgestattete Instanz war in der Weimarer Republik wie auch im Dritten Reich zentraler Referenzpunkt der Feiern. Darüber hinaus diente die Sprache des Gedenkens beider politischer Systeme dem Zweck einer kollektiven Selbstverortung in der Gegenwart, die in den zwanziger Jahren als defizitäre Zeit, ab 1933 dann als erfüllte Zeit beschrieben wurde. In der Weimarer Republik wie im Dritten Reich zielten die Sakralisierungsstrategien immer darauf, den politischen Charakter einer von Menschen »gemachten« Geschichte zu verleugnen zugunsten einer »dramatisierten, heiligen Geschichte.« Hier zeigt sich die von Stefan-Ludwig Hoffmann konstatierte »Kontinuität der Sprache, Bilder und Rituale« einmal gebildeter »Nationalmythen«. Zugleich läßt sich aber auch eine »Diskontinuität«15 in den spezifischen politischen und sozialen Vorstellungen der Zeitgenossen beobachten, die diese mit den sakralisierenden Deutungsangeboten verbanden und die sich nur aus dem realhistorischen Kontext der Zeit erklären lassen: Während in den Totenehrungen der Weimarer Republik der »Geist von 1914« als etwas angesprochen wurde, dessen Wiederkehr man herbeiwünschte, so galten die nationalsozialistischen Totenehrungen immer
—————— 15 Stefan-Ludwig Hoffmann 1996, S. 111f.
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auch dem Zweck, die im Dritten Reich nunmehr vollzogene »Erfüllung« des «Vermächtnisses« der Toten zu bekräftigen.16 Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen die Sakralisierungsstrategien, die im Rahmen der Gedenkfeiern der Weimarer Republik zur Deutung der Massentötungen des Ersten Weltkrieges eingesetzt wurden. Auf welche Weise haben protestantische und katholische Geistliche christlich tradierte Deutungsmuster in den realhistorischen Kontext hineingetragen? Diskutiert werden die Rekurse auf das Heilige in den Ansprachen »weltlicher« Repräsentanten sowie die durch die Lieder und Verlaufsmuster der Feiern erzeugten Konsekrationseffekte.
»Heilige Bezirke«: Das Tannenberg-Nationaldenkmal und das Marine-Ehrenmal Laboe Wie schon im 19. Jahrhundert sind auch in der Weimarer Republik und im Dritten Reich national bedeutende Denkmäler immer wieder als »heilige Stätten«, als »heilige Bezirke« bezeichnet worden. Die Frage, warum – in zeitgenössischer Optik – diese Stätten sakral qualifiziert wurden und welche Funktionen man ihnen zuschrieb, soll im folgenden am Beispiel zweier Denkmalsanlagen, dem TannenbergNationaldenkmal und dem Marine-Ehrenmal Laboe, diskutiert werden. Beide Denkmalsprojekte sind in der Weimarer Republik entwickelt worden. Zunächst einige Bemerkungen zur Geschichte: Das Tannenberg-Nationaldenkmal bei Hohenstein in Ostpreußen wurde in den Jahren 1926 und 1927 errichtet, und zwar nach Plänen der Architekten Walter und Johannes Krüger, die auch den Umbau der Anlage 1935 leiteten.17 Im Jahr 1945 wurde das Denkmal von der Wehrmacht teilweise gesprengt; die 1935 dort beigesetzten Sarkophage Paul von Hindenburgs und seiner Frau Gertrud brachte man zunächst nach Potsdam, um sie 1946 unter Ausschluß der Öffentlichkeit in der Elisabethkirche in Marburg erneut beizusetzen. Backsteine und Steinquader der Anlage fanden teils beim Wiederaufbau von Warschau, teils beim Bau des sowjetischen Ehrenmals in Olsztyn (Allenstein) Verwendung.18 Dagegen überstand das in den Jahren 1927 bis 1936 nach
—————— 16 Vgl. S. 96ff. in diesem Band. 17 Vgl. im folgenden Tietz 1999 sowie Wippermann 1987 18 Vgl. Schenk 2001, S. 452.
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Plänen von Gustav August Munzer in Schleswig-Holstein errichtete Marine-Ehrenmal das Kriegsende weitgehend unversehrt und wird noch heute für Gedenkveranstaltungen, aber auch als touristische Attraktion genutzt. Daß das Tannenberg-Nationaldenkmal dem Gedenken an eine siegreiche Schlacht des ansonsten verlorenen Weltkrieges gewidmet wurde, zeugt von der im vorigen Kapitel diskutierten Bedeutung, die dem Gedanken des Sieges im Kontext der Totenehrung zukommt. Das Denkmal sollte an die Schlacht des kaiserlichen Heeres gegen Truppen des zaristischen Rußland vom 24. bis 30. August 1914 erinnern. De facto hatte die Ortschaft Tannenberg während der Kampfhandlungen eine lediglich untergeordnete Rolle gespielt. Für die Wahl dieses Ortes war wohl eher der Umstand ausschlaggebend, daß im Umfeld Tannenbergs im Jahr 1410 das Heer des deutschen Ordens von polnisch-litauischen Truppen vernichtend geschlagen worden war. Der Genese des »Mythos von Tannenberg« liegt die Auffassung zugrunde, daß an die Stelle der deutschen Niederlage im Mittelalter der deutsche Sieg unter Paul von Hindenburg getreten war. Auch das Marine-Ehrenmal Laboe ist dem Gedanken des Sieges verpflichtet: Im Zentrum der Gedenkfeiern steht bis heute die Skagerrak-Schlacht von 31. Mai bis 1. Juni 1916, in deren Verlauf die kaiserliche Flotte die zahlenmäßig überlegene Flotte der Briten im Sinne eines »siegreichen Unentschiedens« schlug. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit ist jedoch eine Reihe von Unterschieden augenfällig: Während im Tannenberg-Nationaldenkmal alle Waffengattungen einschließlich der Marine geehrt wurden, war das Marine-Ehrenmal der Würdigung einer einzigen Waffengattung gewidmet. Das Tannenberg-Nationaldenkmal wurde von vornherein als Nationaldenkmal geplant; es geht auf die Initiative des zu diesem Zweck gegründeten »Tannenberg-Nationaldenkmal-Vereins« zurück. Hinzu kommt, daß das Denkmal im Jahr 1935, nach der Beisetzung Hindenburgs, von Hitler in den Rang eines Reichsehrenmales erhoben wurde. Das Denkmal in Laboe ist hingegen nicht als »Nationaldenkmal«, sondern als »Ehrenmal« konzipiert worden; den Anstoß für diesen Bau gab der Bund Deutsche Marine-Vereine, der auch den Grundstein des Denkmals 1927 legte. In architektonischer Hinsicht sind auf den ersten Blick ebenfalls mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten erkennbar: Das Tannenberg-Nationaldenkmal erinnert mit seinem einen Innenhof umschließenden achteckigen Mauerring, dessen Seiten durch je einen Turm betont wurden, an mittelalterliche Burganlagen. Es handelt sich um einen »Wehrbau«, der sich in der politisch angespannten Situation Deutschlands und besonders Ostpreußens zur Zeit der Weimarer Republik als »ebenso bewußt trotzige wie hilflose Drohgebärde gegen die Nach-
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barn«, Polen und Litauen, wandte.19 Das Denkmal in Laboe besteht hingegen aus einem schiffsstevenartig hochragenden Turm, dem sich ein konkav geschwungener, mit dunkelrotem Backstein verblendeter Betonkorpus anschließt.20 Zur Kieler Förde hin dient der Turm als Aussichtsplattform und Sichtzeichen, dem bis heute, wie von dem Initiator des Denkmals Wilhelm Lammertz bereits 1925 vorgesehen, vorbeifahrende Schiffe den maritimen Ehrengruß erweisen. Gleichwohl verbindet, wie Jürgen Tietz bemerkt, die Materialverwendung des Eisenklinkers beide Denkmäler als Zeugnisse spätexpressionistischer Denkmalskunst ebenso miteinander wie die Gestaltung von Versammlungsplatz, Ehren- und Weihehallen im Inneren der Bauten.21 Die Zentren beider Anlagen waren ursprünglich der Ehrung der Toten gewidmet: Im Tannenberg-Denkmal befand sich bis zum Zeitpunkt des Umbaus 1935 ein Grabhügel für 20 unbekannte Soldaten der Tannenbergschlacht, die stellvertretend für alle Toten des Ersten Weltkrieges an dieser Stelle geehrt werden sollten.22 Der Grabhügel war mit einem Hochkreuz versehen. Gedenkstätten für unbekannte Soldaten waren bereits 1920 zunächst in Paris, dann in London errichtet worden. Als »Grab des unbekannten Soldaten« wird auch immer wieder das 1925 fertiggestellte Ehrenmal der Stadt München bezeichnet, in dessen Grufthalle die Gestalt des »unbekannten Soldaten« ruht. Gleichwohl ist diese Bezeichnung irreführend, da sich in diesem Denkmal, im Unterschied zu Tannenberg, keine Grablege befindet.23 Den Mittelpunkt der Anlage in Laboe bildet eine unterirdische Weihehalle, in deren Kuppel durch eine kreisrunde Öffnung Tageslicht einfällt. Im Zentrum dieses Raums befindet sich eine dunkle Diabassäule, auf der ursprünglich ein Buch mit der Aufschrift: »Wir starben für Dich« ausgelegt war. Dieses Buch verzeichnete die Namen der 34 830 im Ersten Weltkrieg gefallenen Marineangehörigen.24 »Eine
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Vgl. Tietz 1999, S. 77. Ebd., S. 158. Ebd. Die auf einer Bronzetafel angebrachte Inschrift lautete: »An dieser Stätte ruhen 20 deutsche Soldaten, gefallen in der Schlacht bei Tannenberg am 28.8.1914. Hier ehrt Deutschland das Andenken seiner Toten aus dem Weltkriege 1914–1918. 184 000 haben in fremder Erde und auf dem Grund der Meere, 206 000 in der Heimat ihre letzte Ruhe gefunden.« Zit. nach ebd. S. 57. 23 Ebd. S. 123. 24 Auf Empfehlung des Historischen Beirats des Deutschen Marinebundes ist der Sockel 1995 neu gestaltet worden: Statt: »Sie starben für Dich« lautet die Widmung jetzt: »Den auf See Gebliebenen«. Die Jahreszahlen 1914–1918 wurden vermutlich schon in den fünfziger Jahren durch die Daten des
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Stätte der Erinnerung nicht des unbekannten Soldaten, sondern des bekannten Kameraden« – so bestimmte Marinepfarrer Friedrich Ronneberger im Jahr 1933 diesen Ort, der den »heiligen Mittelpunkt der ganzen Denkmalsanlage« bilden sollte.25 Die Entscheidung, nicht den Unbekannten, sondern den »bekannten Kameraden« zu ehren, ist beispielhaft für die in den politisch konservativen Kreisen der Weimarer Republik verbreitete Ablehnung der Idee der Ehrung des unbekannten Soldaten; eine solche Form der politischen Totenehrung war für viele mit dem »ungeliebten französischen Vorbild behaftet«.26 Nach Reinhart Koselleck hat sich diese Form des politischen Totenkults in Deutschland deshalb nicht wirklich durchgesetzt, weil die föderale Struktur des Reiches nur eine Vielzahl konkurrierender Gedenkstätten zuließ.27 Nun muß bei der Frage nach der zeitgenössischen Qualifikation des Tannenberg-Nationaldenkmals und des Marine-Ehrenmals als »heilige Stätten« folgendes berücksichtigt werden: Dem Begriff des Heiligen ist im Unterschied zum NichtHeiligen zunächst einmal eine »lokale Bestimmtheit« eigentümlich. Mit dem Begriff des sacrum wurde im Römischen Reich eigentums- und bodenrechtlich geregelt, was den Göttern gehört oder ihnen verfallen ist. Ein Gottesname mußte nicht hinzu gefügt werden, da der Begriff mit dem »Vollzug und der Stätte von Kult« zusammenhängt. Profanum ist das, was »vor dem Tempelbezirk« liegt.28 Diese Differenz wird nun im sprachlichen wie performativen Umgang mit den beiden Denkmalsanlagen fortgeschrieben: Erst durch eine Weihe beziehungsweise Einweihung werden sie aus ihrem vorgängigen Status als profanum gehoben und sakral qualifiziert. Den Festplätzen als Orten des »Vollzuges« gemeinschaftlichen Handelns kam dabei die Funktion zu, die große Menge der Versammelten räumlich von der Außenwelt abzuschließen. Sie begünstigten den festen, Ehrfurcht gebietenden Rahmen, aus dem man nicht ausbrechen sollte. Auf diese Weise leisteten die Anlagen den Konsekrierungsprozessen der Feiern Vorschub.29 Die Differenz zeigt sich aber auch in den zeitgenössischen Berichten über die Festakte, in deren Rah-
—————— 25
26 27 28 29
Zweiten Weltkrieges ergänzt; vgl. Dieter Hartwig: Bedeutung, Bedeutungswandel und Gestaltung, in: Leinen Los! 1/1996, S. 18–21. Friedrich Ronneberger, Deutsche Seefahrt. Erinnerungsausgabe für das Deutsche Marine-Ehrenmal im Ostseebad Laboe, hrsg. v. Werbeausschuß für das Deutsche Marine-Ehrenmal und vom Bund Deutscher Marine-Vereine, Bremen 1933 sowie Prange 1996, S. 82. Tietz 1994, S. 404. Koselleck 1994, S. 16. Colpe 1993, S. 93. Vgl. Vondung 1971, S. 151.
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men die Aufstellung und Plazierung der Beteiligten gesellschaftliche Hierarchien widerspiegeln: Das gemeine Volk blieb in der Regel draußen »vor dem Tempelbezirk«, säumte die Straßen, jubelte den privilegierten Personen bei ihrer An- und Abfahrt zu und manifestierte auf diese Weise seine untergeordnete gesellschaftliche Bedeutung. Während des Dritten Reiches beurteilte man diese Tatsache jedoch als Mißstand: Das Gelände vor dem Tannenberg-Denkmal, dessen Innenhof bereits für 100 000 Personen konzipiert war, wurde als »Aufmarschgelände« für noch einmal 60 000 Menschen hergerichtet.30 Dabei stand der faktische Ausschluß der unorganisierten Bevölkerung den Absichten der Stifter und Architekten der Denkmalsanlagen durchaus entgegen: Geschaffen werden sollten Versammlungsstätten für das deutsche Volk. Auf diesem Gedanken basierten schon die nationalen Feste des 19. Jahrhunderts, die von der volkspädagogischen Absicht einer Stärkung der allgemein sittlichen Kräfte zugunsten einer national gedachten Gemeinschaft gezeichnet waren. Dieser volkspädagogische Aspekt zeigt sich nicht zuletzt in den Funktionsbestimmungen der Festplätze im Umfeld national bedeutender Denkmäler. Hinzu kommt ein zweiter Punkt, auf den Thomas Nipperdey verweist: Weil die Nation etwas »über jede reale Gestalt Hinausliegendes« sei, vollende sich die Intention eines Nationaldenkmals »erst im Mitvollzug des Betrachters«. Die »Identität« einer Nation sei nicht gegeben, sondern stelle sich nur »in einem ständigen Prozeß des Sichidentifizierens her und dar«.31 Anders formuliert: Das fiktionale Subjekt »Nation« wird erst konkret und »greifbar« im Kontext performativer Praxen, die darauf zielen, daß sich die Teilnehmer als nationale Gemeinschaft imaginieren; Raum für diese Möglichkeit sollte mit der Anlage entsprechender Festplätze geschaffen werden. Die Praxis der Totenehrung, die zumindest nominell eine zentrale Funktion der Denkmalsanlagen zur Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges sein sollte, ist, so meine These, ein letztlich instrumenteller Aspekt nationaler Gedenkfeiern, die primär und gleichsam »anhand« des Totengedenkens auf die Konstitution nationaler Gemeinschaft zielten. Welche Nutzungsvorstellungen lagen nun den Festplatzgestaltungen des Tannenberg-Denkmals und des Marine-Ehrenmals zugrunde? Der »Tannenberg-Nationaldenkmal-Verein« bestimmte den Ort 1928 als »Kultstätte«, an der »alle Volkskreise und im besonderen die ostpreußische Jugend zusammengeführt werden müssen, um in Feierstunden und bei Sport und Spiel sich zum deutschen Gedanken
—————— 30 Vgl. Tietz 1999, S. 150. 31 Nipperdey 1977, S. 420.
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und zum Schutz der vom Reiche abgeschnürten Ostmark zu bekennen«.32 Der auch als »Kultstätte deutschen Wesens« bezeichnete Ort sollte, wie es in der Urkunde der Grundsteinlegung von 1924 heißt, »im deutschen Volke den einmütigen vaterländischen Geist wieder wecken helfen, der uns für alle Zeit frei und unserer Väter wert und würdig macht«.33 Hindenburg formulierte in seiner Rede anläßlich der Einweihung des Denkmals den Wunsch, daß »an diesem Erinnerungsmale stets innerer Hader zerschellen« möge.34 Die Hoffnung, daß am Denkmal »aller Streit und Hader und die Unrast des Alltages« verstummen, knüpfte sich auch an die zweite Einweihung des Marine-Ehrenmals in Laboe im Jahr 1954.35 Daß es um die Herstellung einer einstimmigen, spannungslosen Einheit unter den Versammelten gehen müsse, ist offenbar eine Zentralprämisse antidemokratischer Formen des Gedenkens, die sich nur über den Ausschluß »störender Elemente« realisieren lassen. Der Festplatz des Tannenberg-Nationaldenkmals sollte, das wird deutlich, unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen, sich als nationale Gemeinschaft zu konstituieren. In diesem Zusammenhang ist die Übernahme des religiösen Begriffs des Bekenntnisses aufschlußreich: Eine erste Form des christlichen Bekenntnisses war die knappe Formel der Glaubensregel, die im 2. Jahrhundert als Waffe gegen die Häresie eingesetzt wurde.36 Diese deutlich auf Abgrenzung gegen »Häretiker«, im weitesten Sinn gegen andere Gruppen und Personen zielende Form religiöser Gemeinschaftsstiftung wird in der Funktionsbestimmung des Tannenberg-Denkmals übernommen, wobei, wie in der Religion so auch hier, sich die Gemeinschaft über das Bekenntnis zu immateriellen Größen – hier (deutscher) Gedanke, Wesen beziehungsweise Geist – konstituieren soll. Tatsächlich »funktionierte« das Denkmal in dreifacher Hinsicht: Es war ein Siegesdenkmal für die gewonnene »Tannenberg-Schlacht«, eine Gedenkstätte für die Gefallenen und schließlich »Nationaldenkmal« zur Weckung des »vaterländischen Geistes«. In den zeitgenössischen Funktionsbestimmungen des Marine-Ehrenmals sind, zumindest auf den ersten Blick, die Akzente etwas anders gesetzt: »Möge das
—————— 32 Schreiben des Tannenberg-Nationaldenkmal-Vereins an das preußische Ministerium für Wohlfahrtspflege vom 6.11.1928, zit. nach Tietz 1999, S. 45. 33 Der Wortlaut der Urkunde ist veröffentlicht in: Ebd. S. 29f. 34 Der Wortlaut der Rede Paul von Hindenburgs über die »Kriegsschuldfrage« ist veröffentlicht in der Abendausgabe des Berliner Tageblatts vom 19.9.1927, in der Neuen Preußischen Kreuz-Zeitung, Abendausgabe, vom 19.9.1927 sowie in Tietz 1999, S. 52. 35 Kieler Nachrichten vom 27.5.1954. 36 Vgl. Schneider 1999, S. 132.
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Ehrenmal erstehen als eine Versammlungsstätte des deutschen Volkes, das seine Toten ehren will,« heißt es in der Urkunde der Grundsteinlegung, und weiter: »Witwen und Waisen, die um ihre lieben Gefallenen trauern, möge es erheben in dem Gedanken, daß das Vaterland mit ihnen um seine Söhne trauert, aber auch mit Stolz der Ruhmestaten seiner Helden gedenkt.«37 »Hier soll künftig die Stätte sein, zu der die Hinterbliebenen wallfahrten,« so auch die Worte des Marinepfarrers Ronneberger in seiner Weiherede.38 Doch steht der Aspekt der Totenehrung nur scheinbar im Vordergrund. Unversehens verbindet er sich mit dem volkspädagogischen Anliegen der Stifter, das sich hier, wie auch in Tannenberg, an die Jugendlichen richtet, die »heranwachsen (mögen) zu deutschen Männern und Frauen, die deutsch denken, deutsch fühlen und deutsch handeln.«39 Und noch einmal Ronneberger: »Der Deutsche muß wieder deutsch fühlen, er muß deutsch werden bis auf die Knochen. Es gilt, die sittlichen Kräfte unseres Volkes lebendig werden zu lassen: Den Geist von 1914.«40 Volkspädagogische Ziele verfolgte auch der Architekt des Ehrenmals, Gustav August Munzer, mit seinem Bau: Im Jahr 1936 erinnerte er sich rückblickend an »das Gefühl der Schande« nach dem verlorenen Weltkrieg. Das Ehrenmal widmete er »dem zerrissenen, uneinigen Deutschland als Mahnung«; der Bau solle »den Glauben an eine bessere Zukunft auslösen.« Der Festplatz würde »zur Feier der Lebenden zum heiligen Schwur« dienen beziehungsweise »zur Abhaltung einer Andacht unter freiem Himmel«.41 Seit dem 19. Jahrhundert haben Festplätze im Rahmen nationaler Feiern zum Ablegen eines Schwurs gedient, eine Praxis, die unter anderem am »Reichstrauertag der Partei« am 9. November 1934 auf dem Platz vor der Feldherrnhalle in München eine Neuauflage erfuhr. Anläßlich der Vereidigung von »Rekruten der Partei«, 18jährigen Mitgliedern der Hitler-Jugend und des Bundes Deutscher Mädel, bezeichnete Hitler diesen Ort als »Platz des Todes«, weil 1923 an dieser Stätte im Rahmen des Putschversuches am 9. November 16 Mitglieder der »Bewegung« ums Leben gekommen waren. Mit der Vereidigung der Jugendlichen wird nun »der Platz des Todes (...) zur Schwurstätte des Lebens«. Zu einem »heiligen Bezirk« wurde der Königsplatz aber erst, als diese 16 »Blutzeugen der Bewegung«, die zuvor auf ver-
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Der Wortlaut der Urkunde ist veröffentlicht in Prange 1996, S. 63f. Friedrich Ronneberger: Weiherede, in: Deutsche Marine-Zeitung vom 1.9.1927. Zit. nach Prange 1996, S. 64. Ronneberger: Weiherede, in: Deutsche Marine-Zeitung vom 1.9.1927. Gustav August Munzer in: Kieler Neueste Nachrichten vom 25.5.1936, zit. nach Prange 1996, S. 75f sowie Munzer in: Kieler Neueste Nachrichten vom 3.8.1927, zit. nach Prange 1996, S. 76f.
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schiedenen Friedhöfen beigesetzt waren, im Jahr 1935 in den von Paul Ludwig Troost entworfenen »Ehrentempeln«, gleichsam an der Stätte ihres Todes, erneut beigesetzt wurden. Durch die Anwesenheit der Leichname »deutscher Helden« erhielt der Ort die »letzte Weihe«.42 Ähnlich verhielt es sich, als der verstorbene Reichspräsident Paul von Hindenburg, der »Sieger von Tannenberg«, am 2. Oktober 1935 in der neu erbauten Hindenburg-Gruft im Tannenberg-Nationaldenkmal beigesetzt wurde; der Grabhügel der 20 unbekannten Soldaten war zugunsten einer axial auf die Gruft gerichteten neuen Festplatzgestaltung abgetragen worden. Im Rahmen dieser Feier äußerte sich Hitler folgendermaßen: »Die Bettung des großen Deutschen in den Mauern des gewaltigen Heldendenkmals gibt diesem eine besondere Weihe und erhebt es zum Heiligtum der Nation.«43 Die Präsenz des Todes – hier wie auf dem Münchener Königsplatz besonderer und bekannter Toter – wird als der Grund dafür angegeben, warum die Stätten in den Rang eines Heiligtums erhoben werden können. Der Leichnam Hindenburgs wird als ein Heilsgut vorgestellt, das, analog zu den Überresten christlicher Heiliger, als Kraftquelle dient: »Das deutsche Volk aber wird zu seinem toten Helden kommen, um sich in Zeiten der Not neue Kraft zu holen für das Leben«, heißt es in der »Weiherede des Führers« anläßlich der Überführung des Leichnams Hindenburgs in das Tannenberg-Denkmal am 7. August 1934.44 Gleichwohl gilt es folgendes zu berücksichtigen: Die Ehrung besonderer Toter wie Hindenburg oder auch die 16 »gefallenen Kämpfer der Bewegung« in München ist ein spezifischer Ausdruck des nationalsozialistischen Personenkultes. Zur Zeit der Weimarer Republik waren sowohl das Tannenberg-Denkmal als auch das Ehrenmal in Laboe Stätten der Ehrung »unbekannter Soldaten« beziehungsweise »bekannter Kameraden«. Obwohl das Tannenberg-Denkmal von Anfang an mit dem Namen Hindenburgs als des »Siegers von Tannenberg« eng verknüpft war, war eine Grablege des Generalfeldmarschalls dort keineswegs vorgesehen. Die Idee geht auf Goebbels45 beziehungsweise auf Hitler zurück, der das Einverständnis der
—————— 42 Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, vom 10.11.1934 sowie Behrenbeck 1996, S. 371. 43 Der Wortlaut der »Kundgebung des Führers« ist veröffentlicht im Völkischen Beobachter vom 2.10.1935 sowie in Tietz 1999, S. 216. Der Kulturwissenschaftler Olaf B. Rader sieht in dieser Feier einen Beleg für seine These von der Totensorge als Legitimationsverstärkung. Hitler habe mit der Beisetzungsfeier Hindenburgs die Selbstverständlichkeit seiner Nachfolge unterstreichen wollen; vgl. Rader 2003, S. 227–235. Zur Totensorge als Herrschaftslegitimierung vgl. auch ders. 2000. 44 Der Wortlaut der »Weiherede des Führers« ist veröffentlicht in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, vom 8.8.1934. 45 Vgl. Ackermann 1990, S. 234.
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Angehörigen Hindenburgs zur Beisetzung im Tannenberg-Denkmal erst durch die Zusicherung erreichte, daß die bereits 1921 verstorbene Ehefrau, Gertrud von Hindenburg, ihrerseits dort beigesetzt werden könnte;46 ein Vorschlag, dem Hitlers »deutsche Familienauffassung« vollständig entsprach.47 So wie der Name Hindenburgs mit dem Tannenberg-Denkmal von Anfang an verbunden war, so war auch der »Sieger von Skagerrak«, Admiral Reinhard Scheer, mit der Geschichte des Marine-Ehrenmals verknüpft. Von ihm wird im folgenden Kapitel noch die Rede sein. Auf jeden Fall wurde der 1928 verstorbene Admiral nicht in Laboe, sondern auf einem Friedhof in Weimar beigesetzt.48 Wenn man einmal von der spezifischen Form des nationalsozialistischen Totenkults absieht, so gilt gleichwohl, daß sich die Bedeutung der hier diskutierten Festplätze auch zur Zeit der Weimarer Republik aus dem Umstand speiste, daß Tote in situ oder in Stellvertretung präsent sind. Baulich wird diese Vorstellung häufig auch durch die Anlage von Krypten manifestiert, wie beispielsweise in Laboe: Der unterirdische Weihesaal ist an den Vorbildern unterirdischer Grabanlagen unter dem Chor gotischer und romanischer Kirchen orientiert. Das Gestaltungselement »Halle – Krypta« findet sich darüber hinaus in der deutschen Denkmalsgeschichte vom Kyffhäuser-Denkmal über das Völkerschlacht-Denkmal bis hin zu dem 1931 in Düsseldorf errichteten Schlageter-Denkmal.49 Nach einer Formulierung von Klaus Heinrich wird »die Nation (...) in dieser Architektur eingesargt«, um sie »als zur Katastrophe bestimmt« vorzuführen.50 »Dankesschuld« oder auch »Ehrenschuld« sind in den zeitgenössischen Dokumenten die Vokabeln, die das Verhältnis der Lebenden zu den im Ersten Weltkrieg Getöteten bestimmen.51 Die Schuld der Lebenden gegenüber den Toten muß abgetragen werden, indem die Nachgeborenen sich notfalls als ebenso todesbereit erweisen wie die schon Getöteten: »Seid Deutsche, wie wir es waren, getreu bis in den Tod,« lautete beispielsweise die Maxime, die der Initiator des Marine-Ehrenmals Lammertz den getöteten Marine-Angehörigen 1925 in den Mund legt.52 Die Toten werden als Vorbilder imaginiert, die
—————— 46 47 48 49 50 51 52
Vgl. Picker 1989, S. 282. Vgl. Ackermann 1990, S. 57. Vgl. Ronneberger, Deutsche Seefahrt, S. 28. Vgl. Hoffmann-Curtius 1985. Heinrich und Müller 1987, S. 113. Zur Schuld der Überlebenden gegenüber den Gefallenen vgl. Berghoff 1997, S. 156. Wilhelm Lammertz, Ein Ehrenmal für die Toten aller Waffengattungen der Marine, in: Deutsche Marine-Zeitung vom 14.6.1925, zit. nach Prange 1996, S. 6f.
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es nachzuahmen gilt. So gesehen konnten die gemeinschaftsstiftenden Gedenkakte auf den Festplätzen beider Denkmalsanlagen dazu dienen, die als vorbildlich dargestellte Todesbereitschaft auch selbst kollektiv einzuüben.
Die Feiern Zur Dramaturgie von Gedenkfeiern zur Zeit der Weimarer Republik gehörte das Mise-en-Scène des Einen, des »großen Mannes«. Sein würdevolles Sprechen, Stehen und Schreiten sind Ausweis seiner Macht und Autorität, sein Handeln bildet das Zentrum der Feier, um das herum sich die Menge der übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer gruppiert. Ein weiteres Strukturelement sind die Inklusions- und Exklusionsmechanismen,53 die in den Gedenkfeiern zur Erinnerung an die Toten des Ersten Weltkrieges besonders deutlich zu Tage treten. Passive Ausgrenzung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen war ebenso verbreitet wie aktive Abgrenzung durch Gegenveranstaltungen. Die performativen Praktiken und religiösen Deutungsmuster des Kriegstodes sollen im folgenden am Beispiel von drei Gedenkfeiern in den Blick genommen werden: Die Heldengedenkfeier vor dem Reichstag in Berlin am 3. August 1924 war eine Staatsfeier der Weimarer Republik anläßlich des zehnten Jahrestages des Kriegsbeginns 1914.54 Bei den beiden anderen Feiern handelt es sich nicht um Staatsakte, wenngleich in beiden Fällen Repräsentanten der Reichsregierung zugegen waren; versammelt war jeweils das gesamte Spektrum der deutschen Rechten: Dies ist zum einen die Feier der Grundsteinlegung des Tannenberg-Nationaldenkmals am 31. August 1924 und zum anderen die Weihe des Denkmals am 18. September 1927.55 Zunächst zur Dramaturgie des Erscheinens des »großen Einen«: Im Fall der beiden Tannenberg-Gedenkfeiern war dies der greise Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg (1847–1934), der »Sieger von Tannenberg«, der seit 1925 das Amt des Reichspräsidenten bekleidete. »Um ½ 1 kündigten Hochrufe das Nahen der Heerführer an. Unter den Klängen des Präsentiermarsches schritt Generalfeldmar-
—————— 53 Vgl. dazu Behrenbeck in Anschluß an Niklas Luhmann: Behrenbeck 1999, S. 48f. 54 Zu der Heldengedenkfeier am 3.8. 1924 vgl. Behrenbeck 1996, S. 282ff. und 1998. 55 Zur Feier der Grundsteinlegung und der Einweihung des Tannenberg-Nationaldenkmals vgl. Tietz 1999, S. 29 ff und S. 47ff.
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schall von Hindenburg die Front ab«, heißt es in der Preußischen Kreuz-Zeitung vom 1. September 1924 über den Beginn des Festaktes der Grundsteinlegung, eine Beschreibung, die sowohl an den Adventus des Herrschers als auch an das würdevolle Schreiten des Bischofs beim Einzug zum Hochamt erinnert. Anläßlich der Denkmalsweihe 1927 wird Hindenburg der Schlüssel zum Tor des Denkmals übergeben: »Mit Hindenburgs Eintritt stimmten Posaunen den Choral ›Lobet den Herrn‹ an. Der Feldmarschall legte vor dem nächsten Granitblock« – gemeint ist ein provisorischer Altaraufbau in der Denkmalsmitte – »einen goldenen Kranz nieder. Dann nahm er den Helm ab und betete. Während Hindenburg den Fahnenturm betrat, erklang der Gesang des Tannenberg-Gaues.«56
Die Zentralisierung beider Feiern auf die Person Hindenburgs ist strukturell mit der Bedeutung vergleichbar, die dem Auftritt des damaligen Reichspräsidenten Friedrich Ebert im Rahmen der Heldengedenkfeier 1924 beigemessen wurde: »Während zu beiden Seiten der Treppe in riesigen Kupferschalen Opferfeuer aufflammten, betrat Reichspräsident Ebert, gefolgt vom Reichskabinett, Generalität und Admiralität sowie von den Ehrengästen, unter stürmischen Hochrufen der draußen versammelten Menge die Reichstagstreppe.«57
Daß das Erscheinen des Reichspräsidenten mit dem Auftritt eines Gefolges von Repräsentanten der Regierung, des Militärs und der Ehrengäste verbunden war, schmälert nicht seine herausragenden Bedeutung, die durch den weiteren Verlauf der Feier noch unterstrichen wurde: Nicht nur, daß Ebert neben den beiden Geistlichen der einzige Redner war. Darüber hinaus kam ihm, wie auch Hindenburg, das Privileg der einen und einzigen Kranzniederlage zu, ein Akt, der einerseits die Ehrung der Toten signifiziert und andererseits die Ehrung der Person, die diesen Akt vollzieht.58 In der Dichotomie: großer Mann versus Menge zeichnet sich letztere durch ein rezeptives Verhaltensmuster aus. Die Menge ist die Größe, die jubelt, singt oder in andächtigem Schweigen verharrt. Im eher militärischen Gepräge der Tannenberg-Gedenkfeiern ist dieser Ort durch die vaterländischen Verbände und Vereine besetzt, die Aufstellung nehmen und eine »Front« bilden, die wiederum von den Würdenträgern abgeschritten oder abgefahren wird. Die performativen Akte des Gedenkens reproduzieren und beglaubigen die »feinen Unterschiede«, die trotz
—————— 56 Neue Preußische Kreuz-Zeitung vom 19.9.1927. 57 Vgl. Die Feiern für die Gefallenen des Weltkrieges: »Dem lebenden Geiste unserer Toten.« Die Heldengedenkfeier auf dem Königsplatz. Berliner Tageblatt vom 4.8.1924. 58 Zur Bedeutung dieses dramaturgischen Elements für die Gedenkfeiern des Dritten Reichs vgl. S. 101 in diesem Band.
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der demokratischen Verfassungsrealität der Weimarer Republik immer noch stark hierarchisch geprägt waren. Welche Funktion kommt in diesem Zusammenhang der Ehrung der Toten zu? Zunächst zur Heldengedenkfeier 1924: Den Giebel des Reichstages schmückte die Aufschrift: »Dem lebenden Geiste unserer Toten«; eine entsprechende Aussage: »Ihr Sterben ward Leben« stand im Mittelpunkt der Ansprache des evangelischen Feldprobstes der Reichswehr, Dr. Erich Schlegel. Der Tod als Passage zum ewigen Leben ist, das ist bekannt, zunächst einmal eine christlich tradierte Vorstellung, die nun auf die Gefallenen transponiert wurde. Der militärische Tod sollte als ein »Sieg des Lebens« erscheinen, wobei, so der evangelische Feldprobst, »dem sieghaften Lebensgefühl (...) das lebendige Gottesgefühl innig verwandt« sei. Nun beließ es Schlegel nicht bei dieser These, sondern verstärkte sie, indem er die Toten als Kollektivsubjekt adressierte und in direkter Rede ansprach: »So tut ihr Toten euer Geisteswerk am deutschen Volk, wir brauchen eueren lebendigen Geist. Menschenhaß will deutsches Sterben. (...) Selbstsucht vergiftet die Volksgemeinschaft. Darum stärkt, ihr Toten, was sterben will. Euer Geist rede in unser Gewissen und rate unseren Herzen bei dunkler Schicksalswende. Haltet die Hand über das Licht der deutschen Hoffnung.«59
Zweierlei ist an diesen Sätzen bemerkenswert: erstens, daß Tote als Instanzen adressiert werden, die man um etwas bitten kann. Strukturell ist dieser Status dem der Heiligen vergleichbar, die als Mittler zwischen Mensch und Gott vorgestellt werden. Das »heilige Sterben« auf den Schlachtfeldern transformierte die Toten gewissermaßen in Heilige. Gleichwohl kommt Schlegels Ansprache an die Toten eine nur symptomatische Bedeutung zu, wenn man bedenkt, daß die Vorstellung einer Präsenz beziehungsweise einer Wiederkehr der Gefallenen in der Weimarer Republik durchaus populär war. Anläßlich der Grundsteinlegung des Marine-Ehrenmals Laboe im Jahr 1927 beschwor der protestantische Geistliche Ronneberger die Präsenz der Toten dergestalt, daß diese als selbst der Rede mächtig dargestellt wurden. Die Vorstellung einer Präsenz der Toten weist auf etwas Unabgegoltenes: Sie, die im Ersten Weltkrieg »umsonst« gefallen waren, deren »Opfer« durch keinen »Sieg« zu rechtfertigen war, können offenbar nicht zur Ruhe kommen. Die Rechtfertigung ihres Todes steht noch aus. Vielleicht ist dies einer der Gründe dafür, warum sie nun, in gleichsam kompensatorischer Absicht, als Heilige angesprochen werden und als sakrale Autoritäten eine »Schickalswende« begünstigen sollen.
—————— 59 Zit. nach Berliner Tageblatt vom 4.8.1924.
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Dies nun wäre der zweite Punkt, den die zitierte Ansprache an die Toten verdeutlicht: Es ist die der Weimarer Republik eigentümliche Defizienzerfahrung, die in den Gedenkfeiern immer wieder zur Sprache kam. Vom »Menschenhaß« war die Rede, von der »Selbstsucht«, die die »Volksgemeinschaft« vergifte. »Sie«, die Toten, »haben die Volksgemeinschaft hergestellt, die den Lebendigen bisher versagt blieb,« lautet ein Kommentar des Berliner Tageblatts am Tag der Heldengedenkfeier. Die Erwartung eines Kommenden wurde dementsprechend in den religiösen und »weltlichen« Ansprachen dieser Jahre stets erneut formuliert. Protestantische und katholische Geistliche waren an allen hier skizzierten Gedenkfeiern beteiligt. Im Fall der Grundsteinlegung des Tannenberg-Denkmals 1924 wurde diese Tatsache allerdings von Erich Ludendorff (1865–1937) scharf kritisiert. Der Ex-General, der am »Sieg von Tannenberg« im Jahr 1914 maßgeblich beteiligt war, exponierte sich in der Weimarer Republik als ein Repräsentant völkischer Ideologie; unter anderem hatte er am Putschversuch des 9. November 1923 teilgenommen. Über den Festakt notierte er folgendes: »Natürlich bildeten wieder Predigten einen zentralen Teil der Feier. Sie waren natürlich ganz ›vaterländisch‹ und entsprachen darum um so weniger der Christenlehre.« Daß der protestantische Pfarrer den 51. Psalm, Vers 12 zur Grundlage seiner Predigt gewählt hatte, machte ihn in Ludendorffs Augen zu einem »Künder jüdischer Ziele«.60 Vers 12 des 51. Psalms, einem »Bußgebet Davids«, lautet: »Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen gewissen Geist.«
Davids Bitte um ein reines Herz und einen neuen, sich selbst gewissen und beständigen Geist korrespondiert dem Versprechen Gottes: »Und ich will euch ein reines Herz und einen neuen Geist in euch geben« (Hes. 36.26), ein Versprechen, das an die Rückkehr der Gläubigen aus dem Exil in das Haus Israel gebunden ist.61 – Vom Geist ist auch in der von Ludendorff mit unterzeichneten Urkunde des Grundsteins die Rede. Dort wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, das zu errichtende Nationaldenkmal möge »im deutschen Volke den einmütigen vaterländischen Geist wie-
—————— 60 Ludendorff 1940, S. 361f. 61 Das Bußgebet Davids stand auch im Zentrum eines Gebets »am Tage des allgemeinen Dankfestes (1814)«. Die Bitte um einen »neuen, gewissen Geist« stand schon damals in Zusammenhang mit der Hoffnung, daß mit Hilfe dieses neuen Geistes »die Wunden des Vaterlandes« heilen mögen, vgl. Textbeilage 17 in: Gerhard Graf 1993, S. 141f.
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der wecken helfen«.62 Die im 51. Psalm formulierte Bitte um einen »neuen Geist« und der »vaterländische Geist«, zu dessen Wiedererweckung das Denkmal beitragen soll, ergänzen und verstärken sich im Festakt der Grundsteinlegung gegenseitig. Die nationalprotestantische Erneuerungshoffnung blieb indes dem völkischen Ideologen Ludendorff unerwünscht. Auch bei der Einweihungsfeier des Tannenberg-Nationaldenkmals am 18. September 1927 war die Beschwörung einer Erneuerung Deutschlands das zentrale Diskursmuster.63 Der Vorsitzende des Tannenberg-Nationaldenkmal-Vereins Krahns brachte in seiner Ansprache die Hoffnung zum Ausdruck, daß »der heutige Tag mit Gottes Hilfe befreiende Schicksalswende für Deutschland werden und den Geist von Tannenberg 1914« wieder wecken möge. Hindenburg selbst hielt eine auch international beachtete Rede über die »Kriegsschuldlüge«; der Widerspruch gegen den Artikel 231 des Versailler Vertrages, der die Alleinschuld Deutschlands am Weltkrieg festschrieb, war in der Weimarer Republik nicht nur in Kreisen der deutschen Rechten communis opinio. »Daß einmal der Tag kommen muß, wo unser Volk die Ketten bricht und die Sonne der Freiheit aufgehen wird über deutsche Lande,« war dementsprechend auch eine der Zentralaussagen der Predigt des evangelischen Wehrkreispfarrers Ludwig Müller, dem späteren Mitinitiator der »Glaubensbewegung deutscher Christen« und Reichsbischof des Dritten Reiches. Thema seiner Predigt waren darüber hinaus die Gefallenen, die »Treue hielten bis in den Tod«. Treue erweist sich hier als ein weiterer christlich präfigurierter Begriff, dem im Kontext des Gedenkens zur Zeit der Weimarer Republik – wie auch in den folgenden Jahren – normative Bedeutung zukam und zur (retrospektiven) Legitimierung des militärischen Durchhaltewillens »bis zuletzt« diente. Ein besonders beeindruckendes Beispiel liefert die Gedächtnisrede, die der Feldbischof Dohrmann anläßlich der Beisetzung Hindenburgs im Tannenberg-Nationaldenkmal am 7. August 1934 hielt. Sie hatte den folgenden Wahlspruch Hindenburgs, eine christliche Variante der Aufforderung zum Märtyrertod, zum Thema: »Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.« (Offb. 2.10) Treue »wage den Einsatz des ganzen Lebens für die große Sache, für Volk und Vaterland«, führte Dohrmann aus. »Meine Ehre heißt Treue«, lautet der bekannte Spruch, den Himmler für die SS erdachte und der sich, wie Hannah Arendt bemerkt, durch »abstrakteste Gehaltlosigkeit« auszeichne. Treue sei stets an bestimmte, konkrete Menschen
—————— 62 Der Wortlaut der Urkunde ist veröffentlicht in: Ludendorff 1940., S. 262, allerdings unter Weglassung des abschließenden: »Das walte Gott!«; vgl. den Wortlaut der Urkunde bei Tietz 1999, S. 29f. 63 Die folgenden Zitate sind der Neuen Preußischen Kreuz-Zeitung vom 19.9.1927 entnommen.
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und Inhalte gebunden, könne deshalb auch Änderungen erfahren und sei das gerade Gegenteil einer »totalen Ergebenheit«.64 Als solche aber wird sie beispielsweise in Dohrmanns Gedächtnisrede charakterisiert: »Gott befiehlt die Treue, und unsere Sache ist das Gehorchen.«65 Die Vorstellung eines Befehle erteilenden Gottes illustriert auf ihre Weise Bourdieus These, daß Religion »in einer verklärten, also verkennbaren Form die Struktur der in einem bestimmten Gesellschaftsgebilde herrschenden (...) sozialen Verhältnisse reproduziert«.66 Wenn Feiern wie die hier geschilderten auf die Konstitution einer imaginären Gemeinschaft zielen, dann beruhen diese Akte immer auf dem Ausschluß anderer, die als nicht dazugehörig betrachtet werden. So war anläßlich der Einweihung des Tannenberg-Nationaldenkmals wie bereits erwähnt auch die Ansprache eines jüdischen Feldgeistlichen vorgesehen, dem aber mit dem fadenscheinigen Argument der zu knapp bemessenen Zeit das Wort verwehrt wurde.67 Der »Reichsbund jüdischer Frontkämpfer« protestierte mit einer an den Reichskanzler Marx gerichteten Resolution gegen diesen Ausschluß, den er eine »Entehrung des Andenkens der Gefallenen« nannte; auf diese Weise sei »den jüdischen Frontsoldaten die Beteiligung« am Festakt »unmöglich gemacht« worden.68 Der Fall erinnert an jene Ausschlußpraktiken, die auch bei Gedenkfeiern der DDR an Orten ehemaliger Konzentrationslager üblich waren: Im Zentrum der Feiern stand jahrzehntelang die Würdigung der antifaschistischen Helden. Andere Häftlingsgruppen, wie die jüdischen Verfolgten, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und sogenannte »Asoziale«, wurden nicht genannt. Indem nun diese Verfolgten von den Akten des Gedenkens ausgeschlossen waren, wurde zugleich die Existenz dieser Gruppen in der Gesellschaft in die Unsichtbarkeit gedrängt. Dementsprechend handelt es sich auch bei dem Ausschluß des Rabbiners von der Einweihung des Tannenberg-Denkmals um eine gleichsam doppelte Ausgrenzung: Mit der Entnennung der jüdischen Toten unter den Gefallenen des Ersten Weltkrieges wurde zugleich die Existenz von Juden in der Gesellschaft verschwiegen. Sie
—————— 64 Arendt 1986, S. 524ff. 65 D. Dohrmann, Gedächtnisrede für den verewigten Reichspräsidenten und Generalfeldmarschall Paul von Beneckendorff und von Hindenburg, gehalten am Dienstag, den 7. August 1934 im Tannenberg-Nationaldenkmal. Berlin o.J., S. 6. 66 Bourdieu 2000, S. 67. 67 Vgl. Berliner Tageblatt vom 18.9.1927. Die nicht gehaltene Ansprache des Feldrabbiners Dr. Levin veröffentlichte Der Schild in seiner Ausgabe vom 19.9.1927. Im Zentrum dieser verbotenen Rede stand die Aufforderung zu einer gemeinsamen Friedensarbeit. 68 Zit. nach Tietz 1999, S. 54.
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waren in den mit Begriffen wie »Deutschland«, »deutsche Lande«, »unser Volk« beschworenen Gemeinschaftskonzepten nicht gemeint. Auch während der Heldengedenkfeier 1924 in Berlin hielt kein jüdischer Geistlicher eine Ansprache. Stattdessen veranstaltete der »Reichsbund jüdischer Frontkämpfer« im Anschluß an den Staatsakt eine Gedenkfeier auf dem Friedhof der jüdischen Gemeinde in Weißensee, an der sich eine Abordnung des sozialdemokratischen »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« beteiligte. Rabbiner Leo Baeck brachte in seiner Rede zum Ausdruck, daß »all die Liebe und Aufopferung für das Vaterland (...) vergeblich gewesen« seien. Es sei bezeichnend, daß diese Gedenkfeier auf dem Gottesacker stattfinden müsse.69 Baeck sprach die Sinnlosigkeit des Krieges und seine verheerenden Folgen direkt an – im Unterschied zu dem oben zitierten protestantischen Feldprobst, in dessen Rede der militärische Tod eine ins Absurde gehende Umdeutung in einen »Sieg des Lebens« erfuhr. Zurück zur Einweihung des Tannenberg-Nationaldenkmals 1927: Neben dem »Reichsbund jüdischer Frontsoldaten« war beim Festakt auch der »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« nicht vertreten, letzterer mit dem Hinweis auf die Teilnahme Erich Ludendorffs, der 1926 den rechtsextremen »Tannenbergbund« gegründet hatte. Umgekehrt hatten Vertreter des »Stahlhelms« und anderer »vaterländischer Organisationen« ihr Fernbleiben angekündigt, falls der »Reichsbanner« an der Feier teilnehmen werde.70 Noch während des Festaktes selbst wurde die Konkurrenz, die nach Bourdieu das dynamische Element des »religiösen Feldes« ist,71 unterschiedlicher Gruppen deutlich: Während der Predigt des katholischen Pfarrers Franz Justus Rarkowski kommandierte im Innenhof des Denkmals der Stahlhelmführer Graf Eulenberg seine Fahnenabteilung zum »Stillgestanden!« und legte einen Kranz nieder, indem er mit lauter Stimme verkündete: »Dir wollen wir unser Leben weihen, der Fahne Schwarz-Weiß-Rot!«72 Ob dieser Weiheakt der bewußte Affront eines rom-feindlichen Protestanten gegen den vermeintlich internationalistischen Katholizismus war oder ob der Störung Graf Eulenbergs andere Motive zugrundelagen, ist aus heutiger Sicht schwer zu entscheiden. Auf jeden Fall sind »Spalterweihen«, die die Koexistenz verschiedener Ansprüche auf das Sakralisierungsmonopol signalisieren, in der Geschichte des Gedenkens keine Seltenheit: Beispielsweise wurde das »Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung« auf dem Ohls-
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Vgl. Die Feier auf dem Friedhof in Weißensee. Berliner Tageblatt vom 4.8.1924. Tietz 1999, S. 52. Bourdieu 2000, S. 73. Vgl. Berliner Tageblatt vom 18.9.1927.
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dorfer Friedhof, Hamburg, im Jahr 1949 doppelt geweiht: durch die Internationale Föderation der ehemaligen politischen Häftlinge am 8. Mai und durch den Hamburger Senat, der sich nicht »für kommunistische Zwecke mißbrauchen« lassen wollte, am 3. Mai 1949.73 Nun sind, und das wäre im Dritten Reich so nicht möglich gewesen, die geschilderten Ausschlußpraktiken und Konkurrenzen anläßlich der Gedenkfeiern immerhin öffentlich bekanntgemacht und kommentiert worden; das Berliner Tageblatt mit Theodor Wolff als Chefredakteur berichtete über diese Vorfälle ausführlich. Darüber hinaus fallen drei weitere Differenzen zwischen den Gedenkfeiern zur Zeit der Weimarer Republik und denen des Dritten Reiches ins Auge: Trotz der in den Berichten immer wieder hervorgehobenen mustergültigen Ordnung der Tannenberg-Gedenkfeiern dokumentieren die Fotografien, daß der militärische Aufzug und Gestus der Teilnehmer im Vergleich zu dem blockhaften Stil nationalsozialistischer Massenveranstaltungen von eher zivilem Charakter war. Die aktive Teilnahme von Geistlichen beider Konfessionen wie auch das christliche Liedgut machen zweitens deutlich, daß die christliche Religion unabdingbarer Bestandteil des Selbstverständnisses der Akteure und der Veranstalter dieser Feiern war. Noch die Beisetzung Hindenburgs im Tannenberg-Nationaldenkmal am 7. August 1934 konnte als christlich geprägte Veranstaltung gelesen werden: Nicht ein NS-Symbol, weder Hakenkreuz noch Rune, ist auf den fotografischen und filmischen Dokumenten dieser Feier zu sehen; selbst die Hakenkreuzbinde am Arm Hitlers war von Trauerflor verdeckt. Dieser Umstand war vermutlich ein Zugeständnis des NS-Regimes an die konservativen Kreise und an die Wünsche des verstorbenen Reichspräsidenten.74 Hindenburg, ein überzeugter Protestant, hatte vor seinem Tod dem inzwischen zum Reichsbischof avancierten Ludwig Müller auf den Weg gegeben: »Sorgen Sie dafür, daß in Deutschland Christus gepredigt werde!«75 Genau das aber sollte zumindest im Rahmen von Staatsakten ab 1937 nicht mehr möglich sein: Fortan konnten Geistliche eine Predigt nur vor oder nach dem Staatsakt halten.76 Eine dritte Differenz zwischen den geschilderten Feiern und den Feiern des Dritten Reiches liegt in der rhetorischen Figur einer Erwartung des Kommenden: Die Grundsteinlegung wie auch die Einweihung des Tannenberg-Denkmals waren
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Vgl. S. 126ff. in diesem Band. Vgl. Ackermann 1990, S. 248. Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, vom 7.8.1934. Vgl. Ackermann 1990, S. 20.
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vom stets erneuten Aussprechen einer Hoffnung auf die »Wiederkehr« von Ehre und Wehrkraft geprägt. Das »einig Volk von Brüdern« beschrieb der katholische Geistliche anläßlich der Denkmalsweihe als etwas, das erst noch hergestellt werden müsse. Der evangelische Pfarrer sah »unser Volk« in Ketten, von Gott wurde eine »befreiende Schicksalswende« erbeten. Man kann diese Rhetorik, die die Ansprachen sowohl der geistlichen als auch der »weltlichen« Repräsentanten prägte, als Ausdruck eines Leidens an der Realität oder einer »Defizienzerfahrung«77 monarchistisch orientierter Schichten deuten, die ihr sozialpolitisches Ideal einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft beziehungsweise eines autoritären Staates in der Weimarer Republik nicht verwirklicht sahen. Eine Differenz zwischen den Tannenberg-Gedenkfeiern und der Heldengedenkfeier 1924 liegt zweifellos darin, daß zumindest Friedrich Ebert die zitierten Kernbegriffe in seiner Rede nicht benutzte. Das »Denkzeichen«, das er den Toten zu errichten empfahl, sei das Gelöbnis, ein freies Deutschland zu bauen. Gleichwohl betonte auch er in indirekter Anspielung auf den Versailler Vertrag, daß Deutschland »nur zur Verteidigung der bedrohten Heimat« zu den Waffen gegriffen habe.78 Sabine Behrenbeck hat recht mit ihrem Urteil, daß diese Feier »verglichen mit den üppigen und raffinierten Feiern der Nationalsozialisten akademisch-karg und bescheiden« gewirkt habe.79 Nicht zutreffend scheint mir indes ihre These, daß im Rahmen dieser Gedenkfeier »die emotionale Bindung an den Staat in erster Linie über gemeinsame Trauer« zustandegekommen sei.80 Abgesehen davon, daß über ein Zustandekommen emotionaler Bindungen in einer öffentlichen Veranstaltung retrospektiv kaum zu urteilen ist, spielte die Thematisierung von Trauer eine eher untergeordnete Rolle. Nach Erwin Redslob, der als Reichskunstwart die Heldengedenkfeier konzipiert hatte, sollte die Veranstaltung die »Wiedergeburt eines Volkes durch Vereinigung mit seinen Toten« ermöglichen, sie sollte zu einem »Tag der Auferstehung« werden.81 Auch Ebert formulierte in programmatischer Absicht: »Aus der Trauer heraus soll uns Kraft und ernster Zukunftswille erstehen.«82 Wie zahlreiche Gedenkfeiern bis heute zielte auch die Heldengedenkfeier 1924 auf eine
—————— 77 Vondung 1988, S. 200. 78 Der Wortlaut der Ansprache des Reichspräsidenten ist veröffentlicht in: Berliner Tageblatt vom 4.8.1924. 79 Behrenbeck 1998, S. 33. 80 Ebd. S. 44. 81 Redslob zit. nach Behrenbeck, ebd. 82 Ein Ehrenmal für die Gefallenen. Ein Aufruf des Reichspräsidenten. Berliner Tageblatt vom 3.8.1924.
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Kanalisierung der Affekte, Trauer mußte in einen »erlösenden Abschluß« überführt werden. Wiedergeburtshoffnung und »Auferstehung« fanden am Schluß der Feier im Hissen der Fahnen auf Vollstock ihr Zeichen.
Die Lieder Das Singen bietet »eine Gelegenheit für Einstimmigkeit, für eine greifbare Realisierung der vorgestellten Gemeinschaft im Widerhall der Stimmen«.83 Hinzu kommt, daß die Texte der Lieder, die im Rahmen der hier besprochenen Gedenkfeiern gesungen wurden, in der Regel ihrerseits Gemeinschaftsvorstellungen transportieren. Formulierungen wie: »Wir treten zum Beten« oder »Großer Gott, wir loben dich!« konstituieren als Subjekt die erste Person Plural, das »wir« der Singenden. Drittens kommt den Liedern im Kontext der Feiern noch eine Zeichenfunktion zu: Wenn, wie beispielsweise bei der Grundsteinlegung des Marine-Ehrenmals Laboe 1927, ein Choral am Anfang der Feier gesungen wird, verweist dieser Akt auf den sakralen Charakter der jetzt beginnenden besonderen Stunde; bei der Einweihung des Marine-Ehrenmals 1936 kam dem »Sanctus« von Schubert diese Signalfunktion zu. Umgekehrt signalisiert das getragene Lied: »Ich hatt’ einen Kameraden« den Höhepunkt einer sich in diesem Moment vollziehenden Totenehrung. Die noch in der Weimarer Republik verbreitete Praxis, Choräle im Kontext von Gedenkfeiern zu singen, steht in der von Friedrich Wilhelm III. im Jahr 1816 gestifteten Tradition der »Gedenkgottesdienste«; sie galten der Ehrung der in den Befreiungskriegen Gefallenen. Bereits mit Beginn der Kriege im Jahr 1813 gedachte das protestantische Deutschland der Toten innerhalb der regulären Gottesdienste, eine Praxis, die wesentlich zur Popularisierung der Analogie von Kriegstod und Opfertod Christi beitrug. Indem die Totenehrung im Lauf des 19. Jahrhunderts zumindest partiell aus den Kirchen »auswanderte« –, ein Prozeß, der seitens der Kirchen durchaus begleitet und verstärkt wurde84 – wanderte auch der liturgische Rhythmus einschließlich des christlichen Liedgutes mit aus. Ein prominentes Beispiel ist die Geschichte des »Niederländischen Dankgebetes« mit seiner appellativen Schlußzeile: »Herr, mach’ uns frei«, das zentraler Bestandteil aller hier skizzierten
—————— 83 Anderson 1996, S. 146. 84 Friedrich Wilhelm Graf 1997, S. 59.
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Gedenkfeiern war. Die Worte des Chorals von 1597 stammen von Adriaen Valerius, die bekannt gewordene deutsche Übersetzung nahm Jos. Weyl im Jahr 1877 vor.85 Im Jahr 1886 wurde der Choral dem 654 Kirchenlieder umfassenden »Evangelischen Gesangbuch für die Provinz Brandenburg« auf einem Zettel als Nummer 655 beigelegt.86 Auffällig am Text des Chorals, der mit der Zeile: »Wir treten zum Beten vor Gott, dem Gerechten« beginnt, ist sein prononciert kriegerischer Charakter. Gott wird als »Lenker der Schlachten« angesprochen und angefleht, »uns« auch »fernerhin« beizustehen. »Er waltet und haltet ein strenges Gericht; er läßt von den Schlechten die Guten nicht knechten,« heißt es in der ersten Strophe und in der zweiten: »Im Streite zur Seite ist Gott uns gestanden; er wollte, es sollte das Recht siegreich sein.« Gott wird als Kriegsgott adressiert, als Schlachtenlenker und Richter in einer sehr übersichtlichen, weil in »Gute« und »Schlechte« aufgeteilten Welt. Auf der einen Seite formuliert das »Niederländische Dankgebet« tatsächlich einen Dank an Gott für eine bereits gewonnene Schlacht. Auf der anderen Seite gründet aber auf diesem Dank die Bitte an Gott um künftigen Beistand: »Herr, mach uns frei!« bedeutet, daß die Freiheit trotz des bereits errungenen Sieges immer noch nicht Realität geworden ist, weitere Schlachten werden zu bestehen sein. Diese Logik, das nur am Rande, strukturiert auch ein im Kontext der russischen Revolution entstandenes Lied, das später fester Programmpunkt der Gedenkfeiern der DDR sein sollte: »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«. Auch hier ist »heilig die letzte Schlacht«. Es wird also gerechnet mit einer weiteren, immer wieder und immer noch ausstehenden Schlacht. Das »Niederländische Dankgebet« war fester Programmpunkt zahlreicher Gedenkfeiern der Weimarer Republik, nicht jedoch der nationalsozialistischen Gedenkfeiern. Abgesehen davon, daß Kirchenlieder seitens des NS-Regimes ohnehin nicht sonderlich erwünscht waren, betonte ein nationalsozialistischer Kommentar, daß es sich bei dem Übersetzer des »Niederländischen Dankgebetes« um einen »Wiener Juden« gehandelt habe; Gott als »Gerechten« anzusprechen, sei »typisch jüdisch«.87 Dessen ungeachtet erfreute sich der Choral im protestantischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik großer Beliebtheit, vermutlich, weil der christlich sanktionierte Militarismus dieses Kirchenliedes der Geisteslage weiter Teile der Bevölkerung entsprach.
—————— 85 Mosse 1993b, S. 175. 86 Für diesen Hinweis danke ich herzlich Liselotte Eschebach. 87 Mosse 1993b, S. 175.
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In den frühen Jahren der Bundesrepublik wurde das »Niederländische Dankgebet« erneut Bestandteil patriotischer Gedenkfeiern. Ein Beispiel ist die »Reichstreuekundgebung«, die der Parteinachwuchs der »Freien Demokraten« am 27. Juni 1953 zu mitternächtlicher Stunde am Grenzübergang Lübeck-Eichholz veranstaltete. Unter Mitwirkung des »Musikkorps Lübeck im Verbande deutscher Soldaten« wurde der »Blutzeugen der Wiedervereinigung« – gemeint waren die Toten des Aufstandes am 17. Juni 1953 – gedacht. »Herr, mach uns frei« zielte in diesem Zusammenhang, in sozusagen grenzüberschreitender Stellvertretung, auf den »Freiheitswillen« der »deutschen Menschen in der Ostzone«.88 Auch anläßlich der Rückgabefeier des Marine-Ehrenmals Laboe im Jahr 1954, an der nun wieder zwei Geistliche beteiligt waren, wurde der Choral gesungen.89 Was die damals versammelten Ex-Angehörigen der nationalsozialistischen Kriegsmarine mit der Bitte: »Herr, mach uns frei« verbanden, sei dahingestellt. Auf jeden Fall votierte der evangelische Pfarrer Werner im Rahmen dieser Feier für die Freilassung der im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß verurteilten und inhaftierten Admirale Erich Raeder und Karl Dönitz.90 Bei dieser Feier wurde, wie schon im Kaiserreich, der Weimarer Republik und im Dritten Reich, auch das Lied »Der gute Kamerad« gesungen.91 Der im Jahr 1809 von Ludwig Uhland verfaßte und 1825 von Friedrich Silcher vertonte Text formuliert, im Unterschied zu der Mehrzahl der im Kontext von Gedenkfeiern gesungenen Lieder, keine Gemeinschaftsvorstellung. Im Zentrum steht vielmehr ein »Ich«, das einen sterbenden Kameraden zunächst als »er«, dann als »du« anspricht. Diese als persönliche Erfahrung vorgetragene Darstellung des Kriegstodes ist möglicherweise der Grund dafür, daß sich dieses Lied allen politischen Brüchen der jüngeren deutschen Geschichte gegenüber als resistent erwiesen hat. Die Trauer gilt nicht einem abstrakten Korps von Gefallenen, sondern dem Einen, dessen Tod in spätromantischem Gestus als harmonische Abschiedsszene beschrieben wird: »Will mir die Hand noch reichen, derweil ich eben lad’. ›Kann dir die Hand nicht geben, bleib
—————— 88 Vgl. Wolfrum 1999, S. 95. 89 Zwei Strophen des »Niederländischen Dankgebetes« wurden 1954 unter dem Titel: »Wir treten zum Beten« aufgenommen in: Deutscher Marinebund (Hg.), Unsere Lieder. Marinelieder, Seemannslieder, Lieder der deutschen Heimat und Shanties. Hamm 1954, S. 9. 90 Vgl. Rudolf Krohne, Hamburg und Laboe – der Kurs liegt an!, in: Marinezeitung Leinen los! 7/1954, S. 4–5, hier S. 5. 91 In der Bundesrepublik wurde und wird das Lied anläßlich des Volkstrauertages intoniert. Im Rahmen der Trauerfeiern der Bundeswehr bringt ein Solobläser das Lied »nach Absenken des Sarges« zu Gehör, vgl. Kurt Oesterle, Die heimliche deutsche Hymne. Taz vom 10./11.11.2001.
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du im ew’gen Leben, mein guter Kamerad!‹« Soldaten, die die Realität des Krieges kennen, wissen um den fiktionalen Charakter dieser Sterbeszene. Die Trostfunktion des Bildes wird womöglich erst post mortem relevant beziehungsweise nach den jeweiligen Kriegen, wenn Veteranen über den Verlust »guter Kameraden« hinwegzukommen und eine neue Solidarität aufzubauen versuchen.92 Wenn, wie Koselleck in Hinblick auf Kriegerdenkmäler bemerkt, »der vergangene Tod (...) zu einer Funktion des Sieges« wird,93 dann gilt für die Gedenkfeiern der Weimarer Republik sowie des Dritten Reichs, daß nicht nur die vergangenen, sondern auch die künftigen Tode als Funktion des immer noch und immer wieder ausstehenden Sieges imaginiert wurden. Dazu bedurfte es einer Thematisierung des Todes, die diesen zugleich entwirklicht: Als verklärte Abschiedsszene, als letzte Ruhe, als »Sieg des Lebens«, wird der Kriegstod um seinen Realitätsstatus gebracht. Neben den Ansprachen und Predigten war es eine zentrale Funktion der Choräle und Lieder, Bilder dieses entwirklichten Todes zu popularisieren. Man kann religiöse Deutungsmuster als »Modelle von etwas« und zugleich als »Modelle für etwas« beschreiben.94 Als Modelle von etwas orientieren sich religiöse Deutungsmuster an einer gegebenen gesellschaftlichen Realität, deren Herrschaftsverhältnisse sie in der Regel reproduzieren und in der ihnen eigenen Sprache verklären. Zugleich aber können sie als Modelle für den Umgang mit eben dieser Realität dienen, indem sie spezifische gesellschaftliche Strukturen und Inhalte auf sich ausrichten, prägen und sanktionieren. Als nach den Befreiungskriegen die Ehrung der Gefallenen nicht mehr nur in den Kirchen stattfand, sondern zunehmend auf den Schlachtfeldern selbst, draußen vor den Städten, wo »so viel Blut« geflossen war, blieben die kommemorativen Praktiken weitgehend an denen der christlichen Religion orientiert. Die Sakralräume der Kirchen dienten als Modelle für die neuen Orte des Gedenkens, die nach spezifischen Ordnungskriterien hergerichtet, häufig mit Denkmälern und Festplätzen bebaut und zu »heiligen Stätten« geweiht wurden. Das christliche Totengedächtnis bezog sich auf die historisch neue Realität der Massentötungen, transponierte Elemente des Märtyrerkults auf die fürs Vaterland Gefallenen und popularisierte auf diese Weise das christliche Postulat des vorbildhaften und nachahmenswerten Todes. Als Modell für weltliche Gedenkfeiern diente nicht zuletzt das liturgische Han-
—————— 92 Mosse 1993a, S. 98. 93 Koselleck 1979, S. 266. 94 Geertz 1999, S. 52.
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deln, das sowohl eine spezifische Vergangenheit heiligt als auch den Glauben an die moralische Ordnung der res publica zu stärken sucht:95 Diese doppelte Intention strukturiert öffentliche Akte des Gedenkens teilweise bis heute, sofern Trauer und Schmerz häufig nur thematisiert werden, um sie in Richtung auf einen »erlösenden Abschluß« zu kanalisieren. Dieser Abschluß liegt in der Regel in einer kollektiv vollzogenen Bekräftigung moralischer und/oder politischer Ziele einer Gruppe oder Gesellschaft. Die spezifische Konfliktkonstellation, die zur Zeit der Weimarer Republik in öffentlichen Gedenkfeiern thematisiert wurde, war die Katastrophe des Ersten Weltkrieges und, damit verbunden, die Tatsache, daß der »beispiellose Opfermut und das fast schon übermenschliche Dulden unserer Nation im Kriege«96 durch keinen militärischen Sieg zu rechtfertigen war. Hinzu kam der Friedensvertrag von Versailles, der territoriale Abtretungen Deutschlands ebenso festschrieb wie die militärische Abrüstung, das Verbot der allgemeinen Wehrpflicht und schließlich massive Reparationszahlungen – ein Umstand, der von vielen Zeitgenossen als eine »Versklavung Deutschlands« wahrgenommen wurde. Vor diesem Hintergrund leisteten die religiösen Deutungsmuster in den Gedenkfeiern zweierlei: Die Sinnlosigkeit des militärischen Todes wurde im Bild einer Opferhandlung moralisch reiner Menschen vergessen gemacht, der Tod selbst in einen »befreienden Durchbruch zum ewigen Leben« umgelogen. Das Unbehagen an der Gegenwart, die wirtschaftliche Misere und das verletzte Ehrgefühl konnten – und das wäre der zweite Punkt – mit der christlich tradierten Erwartung eines Kommenden eschatologisch kompensiert werden. In der Regel hielten Geistliche beider christlichen Konfessionen Ansprachen; Rabbiner, auch ehemalige Feldrabbiner wie Leo Baeck, waren an den skizzierten Gedenkfeiern nicht offiziell beteiligt – auch nicht an der Grundsteinlegung des Marine-Ehrenmals Laboe im Jahr 1927, obwohl unter den Toten der kaiserlichen Marine jüdische Gefallene zu beklagen waren.97 Eine Untersuchung der konfessionsbedingten Differenzen zwischen den protestantischen und katholischen Beiträgen zu den Gedenkfeiern steht noch aus. Es könnte sein, daß katholische Geistliche eher dazu neigten, den Tod der deutschen Helden mit dem Tod Jesu Christi zu analogisieren, um auf diese Weise Beispiele für eine »christliche Ethik der Pflicht-
—————— 95 Vgl. Cancik und Mohr 1990, S. 312, Anm. 55. 96 Vgl. Die Ansprache des Reichspräsidenten. Berliner Tageblatt vom 4.8.1924. 97 Vgl. Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (Hg.), Gedenkbuch für die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914–1918.
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treue und des Gehorsams« zu geben. Auf jeden Fall weisen die Ansprachen katholischer Geistliche darauf, daß auch die katholische Kirche Deutschlands nicht bereit war, die «Schuldlüge von Versailles«98 anzuerkennen. Trotz der Tatsache, daß sich die römisch-katholischen Nationen Frankreich, Belgien und Italien auf der Siegerseite befanden, beurteilten deutsche Katholiken das »Versailler Schanddiktat« als »grausam«.99 Die Angstfiguren der Uneinigkeit, der »Parteienzersplitterung«, des »Händlergeistes«, einer vergiftenden Selbstsucht oder einer »dem Willen der Masse« unterworfenen Regierungsform waren zentrale Motive der zeitgenössischen konservativen Kulturkritik, die sich auch seitens der beiden christlichen Kirchen im Rahmen der Gedenkfeiern stets erneut Gehör verschaffte. Anstatt sich auf die Ansprüche einer pluralistischen Kultur und der parlamentarisch-demokratischen Verfassungsrealität einzulassen, setzte man auf radikale Rettungs- und Erlösungskonzepte. In den Gedenkfeiern des Dritten Reichs konnte dann die erhoffte »lichtere Zukunft« als bereits angebrochene gefeiert werden.
—————— 98 Vgl. die Ansprache des katholischen Marineoberpfarrers Kräuter anläßlich der Grundsteinlegung des Marine-Ehrenmals in Laboe, in: Deutsche Marine-Zeitung vom 1.9.1927, S. 11f. 99 Aufzeichnung Faulhabers nach dem 15.5.1919; zit. nach Nowak 1995, S. 223.
III Konsekration und Totenehrung: Gedenkfeiern am Marine-Ehrenmal Laboe 1927 bis 1954
Weihe, Weihereden, Weiheurkunden sind die Begriffe, die im Kontext von Grundsteinlegungen und Eröffnungsfeiern anzeigen, daß hier einer zuvor alltäglichen Stätte der Rang eines Heiligtums zugesprochen wird. Techniken der Konsekrierung sind notwendig, um diesen Statuswechsel zu vollziehen. Der Begriff »Konsekration« bezeichnete in der römischen Staatsreligion die feierliche, vor allem aber rechtliche Übertragung von etwas aus dem profanen in den sakralen Bereich, in der katholischen Liturgie dann den Akt der Wandlung der Abendmahlselemente durch die vom Priester gesprochenen Einsetzungsworte, schließlich auch die vom Bischof zu vollziehenden Weihen von Personen, Räumen und Gebrauchsgegenständen.1 »Weihe« geht auf das gotische »weihs« zurück und bedeutet so viel wie »zu gottesdienstlichen Zwecken absondern«.2 Im Protestantismus ist die Weihe zumindest theoretisch nicht bekannt; als »heilig« gelten nur die Sakramente und das Wort Gottes. Dessen ungeachtet waren auch protestantische Geistliche beteiligt, als im 19. und 20. Jahrhundert Orte des Gedenkens zu nationalen Heiligtümern geweiht wurden. Konsekrierungstechniken, die sich zu einem wesentlichen Teil im kirchlichen beziehungsweise religiösen Rahmen entwickelt hatten, wurden nun auch in weltlichen, politischen Veranstaltungen eingesetzt, wobei über die Weihekompetenz sowohl religiöse Amtsträger (mit Ausnahme des Dritten Reichs) als auch politische Repräsentanten verfügten. Strukturell sind die Einweihungsfeiern dieser Gedenkstätten durchaus mit der Gruppe der Kirchweihfeste vergleichbar, insofern es in beiden Fällen darum geht, den Statuswechsel eines Ortes feierlich zu begehen. Ähnlich wie das Kirchweihfest traditionell jeweils am Jahrestag der Weihehandlung begangen wird, gehören auch die Jah-
——————
Dieses Kapitel ist eine überarbeitete und ergänzte Fassung eines Aufsatzes in: Susanne Lanwerd (Hg.), Der Kanon und die Sinne. Religionsästhetik als akademische Disziplin, Luxemburg 2003. 1 Vgl. Die Religion in Geschichte und Gegenwart 1959, S. 1781. 2 Wörterbuch der Religionen 1985, S. 655.
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restage der Einweihung einer Gedenkstätte zum Veranstaltungskalender des jeweiligen Ortes. Eine dritte Entsprechung macht folgender Umstand deutlich: Bei Kirchweihfesten ist später stets der jeweilige Titelheilige in den Vordergrund getreten, weshalb diese Feste letztlich den Heiligenfesten zugeordnet werden.3 Auch die Jahrestage der Einweihung von Gedenkstätten werden häufig mit Jahrestagen verknüpft, die dem Tag der Einweihung vorgeordnet waren: Wenn beispielsweise heute am Marine-Ehrenmal Laboe der Jahrestag der Denkmalsweihe (31. Mai 1936) begangen wird, dann, weil es sich zugleich um den Jahrestag der Schlacht am Skagerrak im Jahr 1916 handelt. Der Jahrestag der Einweihung der »Nationalen Mahnund Gedenkstätte Ravensbrück« (12. September 1959) wurde in den folgenden Jahrzehnten anläßlich des »Tages der Opfer des Faschismus« jeweils am zweiten Sonntag im September begangen. Die »Kraft des Tages« scheint bei sich jährenden Einweihungen letztlich nicht groß genug, um einen wirklich autonomen Status zu behaupten. Grundsteinlegungen und Einweihungen von Orten des Gedenkens sind für eine Geschichte des Gedenkens von herausragender Bedeutung insofern, als zu diesen Anlässen immer auch Programme über die künftige Bedeutung der Toten für die Gesellschaft entwickelt und vorgestellt werden. Zentrales Charakteristikum der hier diskutierten Gedenkstätten ist, daß sie auf die eine oder andere Weise auf eine Präsenz von Toten verweisen, sei es durch die Anlage von Grabstätten, sei es, wie im Marine-Ehrenmal, durch ein ursprünglich mit Seewasser gefülltes Becken in Stellvertretung für das »nasse Grab« der Seemänner. Akte der Totenehrung sind unabdingbarer Bestandteil dieser Veranstaltungen. Im folgenden geht es um drei Gedenkfeiern am Marine-Ehrenmal in Laboe an der Kieler Förde, Schleswig-Holstein: Dies ist erstens die Feier der Grundsteinlegung des Denkmals am 8. August 1927, die wenige Wochen vor der Einweihung des Tannenberg-Nationaldenkmals am 18. September 1927 stattfand, zweitens die als Staatsakt begangene Einweihung am 31. Mai 1936 in Anwesenheit von Adolf Hitler und schließlich die erneute Einweihung des Ehrenmals in der jungen Bundesrepublik am 30. Mai 1954. Diese drei Veranstaltungen zeigen, daß das Marine-Ehrenmal geeignet ist, völlig unterschiedlichen politischen Systemen als Stätte des Gedenkens zu dienen, ein Umstand, der auch hier die Frage nach Differenzen und Kontinuitäten in der Sprache des Gedenkens nahelegt.
—————— 3 Vgl. Mitterauer 1997, S. 28. Nach Mitterauer setzte sich in den Kirchweihfesten die römische Tradition der natales templi fort: Der Gott, dem ein Tempel geweiht wurde, erhielt den Weihetag als besonderen Festtag.
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Auffällig an den Gedenkfeiern ist zunächst einmal die diskursive Bezugnahme auf das sacrum: Sei es der Ort, der als »heiliger Bezirk«, als »heilige Stätte« geweiht und ausgewiesen wird, sei es das Vermächtnis der Toten, das man als »heilig« bezeichnet. Die Konstitution des Heiligen erfolgt im Kontext von Reden, Predigten und Ansprachen und zwar über den Einsatz eines spezifischen Vokabulars, einer sakralen Sprache, die mit Begriffen wie »weihevoll«, »heilig«, »Vermächtnis« oder »Bekenntnis« »ein unscharfes, nicht näher zu fassendes religiöses Ungefähr«4 erzeugt. Weitere Konsekrierungstechniken sind der Einsatz sakralisierender Musik und Lieder sowie die spezifischen Verlaufsmuster dieser Feiern, ihr liturgischer Aufbau, der zumindest in Teilen Parallelen zu christlichen Kultformen aufweist. Schließlich sei auf die bauliche Anlage des Marine-Ehrenmals selbst verwiesen, deren Anleihe bei der christlichen Ikonographie bereits im vorigen Kapitel beschrieben und analysiert wurde. Dem Bezug aufs sacrum ist eine gewisse Zeitferne eigentümlich. Sakrale Sprache und Musik wie auch sakralisierende Formensprachen scheinen gewissermaßen der Zeit enthoben, geben vor, den Niederungen des Alltäglichen und des politischen Tagesgeschäfts entrückt zu sein. Dagegen werden, so meine These, Sakralisierungsstrategien gezielt eingesetzt, um die Ebene des Politischen zu entnennen. Dieser Prozeß der Entnennung enthält gleichwohl ein dialektisches Moment, denn die Sakralisierung – als Entnennung des Politischen – ist immer auch politisch motiviert. Welche Konsekrierungstechniken in den genannten Gedenkfeiern eingesetzt wurden und über welche politischen Zielsetzungen auf welche Weise Einvernehmen unter den Beteiligten hergestellt wurde, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen.
Die »Wiederkehr der Toten«: Die Grundsteinlegung 1927 Zunächst zur Feier der Grundsteinlegung des Marine-Ehrenmals in Laboe im Jahr 1927, an der etwa 10 000 Menschen beteiligt waren.5 Der Ablauf der Feier ist schnell erzählt: Sie wurde mit dem Choral: »Großer Gott, wir loben Dich« eröffnet. Geistliche beider Konfessionen gedachten der fast 35 000 Gefallenen der Kaierlichen Marine. Daraufhin verlas der Vorsitzende des Bundes Deutsche Marine-Ver-
—————— 4 Vondung 1971, S. 141. Zu Techniken der Konsekrierung im Nationalsozialismus siehe ebd., S. 140ff. 5 Schilderungen der Feier der Grundsteinlegung des Marine-Ehrenmals finden sich bei Prange 1996, S. 62ff. sowie in der Deutschen Marine-Zeitung Nr. 17 vom 1.9. 1927.
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eine, der das Denkmalprojekt initiiert hatte, die Urkunde, welche im Grundstein vermauert werden sollte. Der Text dieser Urkunde bestimmt den Ort »als eine Versammlungsstätte des deutschen Volkes, das seine Toten ehren will. Witwen und Waisen, die um ihre lieben Gefallenen trauern, möge es erheben in dem Gedanken, daß das Vaterland mit ihnen um seine Söhne trauert, aber auch mit Stolz der Ruhmestaten seiner Helden gedenkt.«6 Nach der Urkundenverlesung trat Admiral Scheer an das Rednerpult. Sein Auftritt ist in diesem Zusammenhang nicht nur deshalb von Bedeutung, weil er damals den Posten des Ehrenpräsidenten des Bundes Deutsche Marine-Vereine bekleidete. Admiral Scheer gilt gemeinhin als der »Sieger von Skagerrak«, jener bereits erwähnten Schlacht im Skagerrak, die in deutscher Perspektive mit einem »siegreichen Unentschieden« endete. Im Anschluß an Scheers Rede folgte der feierliche Akt der Grundsteinlegung. Scheer vollzog die ersten drei Hammerschläge7 mit den Worten: »Für deutsche Seemannsehr’, Für Deutschlands schwimmend Wehr, Für beider Wiederkehr.«
Nach einem kurzen Gebet des evangelischen Marinepfarrers Friedrich August Ronneberger sangen die Versammelten das Lied vom guten Kameraden. Mit einem Gebet und dem gemeinsamen Gesang des Niederländischen Dankgebets, das mit dem Ruf: »Herr, mach uns frei!« ausklingt, schloß die Feier. Akte der Totenehrung unterstanden jahrhundertelang dem Hoheitsbereich der Kirchen. Auch im Rahmen dieser Feier 1927 wurde die Totenehrung durch die beiden Geistlichen vollzogen, wobei der als »Weiherede« bezeichneten Ansprache Ronnebergers zugleich die Funktion der Konsekrierung des Ortes zukam. Diese vollzog er mit folgenden Worten:
—————— 6 Zum Text der Urkunde vgl. Prange 1996, S. 63f. 7 Daß Grundsteine öffentlicher Bauten mit drei Hammerschlägen und einem »Sinnspruch« geweiht werden, ist eine in Deutschland seit Jahrhunderten verbreitete Praxis. Auch die Weihe des Grundsteins des Tannenberg-Nationaldenkmals im Jahr 1924 wurde von Paul von Hindenburg mit Hammerschlägen und einem entsprechenden Dreizeiler vollzogen; vgl. Tietz 1999, S. 29ff.
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»Deutscher, entblöße dein Haupt! Du stehst an heiligem Orte. Namen, von Lorbeer umrankt, verkünden gewaltige Worte: Helden, gefallen im Ringen um Deutschlands Ehre und Sein, Nie wird ihr Name verklingen, Geheiligt soll er uns sein!«8
Die Weihe des Ortes wird als sprachlicher Akt vollzogen, indem die Stätte von einem religiösen Amtsträger als heiliger Ort bezeichnet wird. Begründet wird die Qualifikation der Stätte als Heiligtum mit den Namen der toten Helden, die jetzt ihrerseits als sakral und mit einem Ewigkeitsversprechen ausgewiesen werden. Auffällig ist, daß die zentrale Referenz der protestantischen Weiherede nicht ein christliches Heilsgut, sondern »Deutschlands Ehre und Sein« ist. Der Begriff Deutschland hat hier bereits die Funktion des Unbedingten eingenommen, das in der spezifischen Logik christlicher Weltbilder gemeinhin mit dem Begriff Gott angesprochen wird. »Deutschlands Ehre und Sein« erscheint hier als die Kategorie sui generis, die keiner weiteren Erläuterung bedarf. Erst das Ende der Weiherede ist durch eine eminent christliche Referenz bestimmt: Nachdem Ronneberger der Hoffnung Ausdruck verliehen hat, daß »auch uns wieder ein Führer erstehen (möge), der uns aus Nacht zum Licht führt, und uns den Platz an der Sonne wiedergibt«, erwähnt er »die Hauptsache, nämlich daß wir den Weg zu Gott zurückfinden,« bevor die Rede mit »Amen« schließt. Im Zentrum von Ronnebergers Weiherede stand ein Vorstellungskomplex, der in der Rezeption des Ersten Weltkrieges zur Zeit der Weimarer Republik durchaus populär war. Es handelt sich um die bereits im vorigen Kapitel skizzierte Vorstellung einer Rückkehr der im Krieg getöteten Soldaten9 beziehungsweise um das Bild einer Gemeinschaft der Lebenden und der Toten; eine Vorstellung, die wenige Jahre später zum zentralen Bestandteil des nationalsozialistischen Totenkultes avancieren sollte. »Und spürt ihrs nicht, wie in dieser Stunde heute alle, die unsere Kameraden waren, aus ihren Gräbern herauf gestiegen sind und in unserer Mitte weilen? Keinen hat es gehalten, alle sind hier. (...) Aus den Dünen von Ostende (sind sie gekommen), aus den Tiefen des Skagerraks (...), aus den Fluten der Ostsee und des Mittelmeers (...). Heute stehen sie vor uns und schauen uns ins Auge und rufen uns zu:
—————— 8 Die erste Zeile dieses Verses wurde als Inschrift oberhalb des Gangs vom Turm in die unterirdische Weihehalle angebracht; vgl. Prange 1996, S. 63, Anm. 458. Heute ist dort eine abgeschwächte Fassung zu lesen: »Entblösse dein Haupt und schweige.« 9 Vgl. zu diesem Thema auch Hoffmann-Curtius 2002.
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›Heraus, sofern ihr unserer noch gedenkt, die Schmach getilgt und die Ketten gesprengt! Wir Tote fordern unser Recht, die alte Treue vom neuen Geschlecht.‹«10
Mit diesem gespenstischen Szenario beschwört Ronneberger eine Wiederkehr der Toten, die »heute«, »in dieser Stunde« als vor uns stehend, gar sprechend imaginiert werden. Doch handelt es sich um keinen Einzelfall. Britische Quellen zum Schlachtfeldtourismus der zwanziger und dreißiger Jahre belegen, daß die Vorstellung von einer Präsenz der Toten auf den Kriegsschauplätzen weit verbreitet war.11 Daß auch jenseits der Schlachtfelder die Präsenz der Toten evoziert wurde, zeigt beispielsweise die Predigt des evangelischen Feldprobstes Schlegel anläßlich der Heldengedenkfeier 1924 in Berlin: Er sprach die deutschen Gefallenen, als seien sie präsent, in direkter Rede an.12 Solche Phantasmen erstaunen vor dem Hintergrund, daß Totenkulte fast immer ein Element enthalten, das eine Wiederkehr von Toten verhindern soll. Beispielsweise wurden Tote in der römischen Antike mit den Füßen zur Türe aufgebahrt. In Gontscharows Roman Oblomow (1859) ist davon die Rede, daß im alten Rußland ein Verstorbener mit den Füßen voran zum Tor hinausgetragen werden mußte.13 Auch mit Grabbauten ist ein gleichsam doppelter Zweck verbunden: »Sie ehren die Toten, sichern deren Totenruhe wie zugleich die Ruhe der Überlebenden vor den Toten.«14 Um diese Ruhe der Lebenden vor den toten Seeleuten geht es Ronneberger nun gerade nicht. Verschiedene Erklärungsansätze kommen in Frage: Man könnte in Ronnebergers Bild einer Wiederkehr der Toten einen Rekurs auf das johanneische Bild einer »Auferstehung des Lebens« erkennen. »Denn es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme hören und werden hervorgehen...« (Joh. 5,28,29). Dagegen notiert beispielsweise das Handbuch des Deutschen Aberglaubens eine Reihe ganz anders gelagerter Geschichten über die Wiederkehr von Toten: Weil der Tod in einer nicht näher bezeichneten »alten Auffassung« als gewaltsam vorgestellt wurde, setzte man bei den Verstorbenen Groll und Rachsucht voraus. Oder aber es gibt Ermordete, die selbst die Blutrache verlangt haben. Geschichten wie diesen liegt die Vorstellung zugrunde, daß Tote ihr Schicksal nur schwer ertragen und deshalb wiederkehren.15 Hinsichtlich der
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Friedrich Ronneberger, Weiherede. Deutsche Marine-Zeitung vom 1.9.1927. Lloyd 1998, S. 145. Vgl. S. 76 in diesem Band. Gontscharow 1980, S. 155. Zinser 1996. Vgl. Geiger 1987, S. 1019–1034.
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nationalsozialistischen Vorstellung lebendiger Toter, die im Geiste mitmarschieren, spricht Hubert Cancik von einem »Gespensterglauben«;16 George L. Mosse argumentiert, hier seien »altbekannte Gespenstergeschichten« eine Verbindung mit »Themen der Auferstehung Christi« eingegangen.17
Abb. 5
Feier der Grundsteinlegung des Marine-Ehrenmals am 8. August 1927, am Rednerpult Admiral Scheer. Foto: Artkämper
Man wird die Totenbeschwörung des protestantischen Marinepfarrers 1927 in Laboe nicht angemessen interpretieren können ohne Rücksicht auf den explizit politischen Konfliktstoff, der hier sakralisierend verhandelt wird. De facto geht es um den Widerspruch gegen den Friedensvertrag von Versailles 1919, der nicht nur die Alleinschuld Deutschlands am Weltkrieg festschrieb, sondern – für die Beteiligten der Feier 1927 besonders dramatisch – die Zahl deutscher Marine-Angehöriger auf nur 15 000 Mann beschränkte. Dieses »Schanddiktat von Versailles« ließ – in der Phantasie konservativer Zeitgenossen – den Toten keine Ruhe.18 Wohl deshalb
—————— 16 Cancik 1980, S. 41. 17 Mosse 1993a, S. 99. 18 Die Vorstellung, daß eine als defizitär empfundene Gegenwart den Toten keine Ruhe läßt, evoziert auch ein im November 1947 in Österreich erschienener Artikel. Darin heißt es: »Man kann sich sehr wohl eine apokalyptische Szene vorstellen, wo die Gespenster von Russen, Amerikanern, Engländern und Franzosen aufstehen, mit dem Totenfinger auf dieses unser Land hindeuten und die
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wurde ihre Wiederkehr imaginiert und ihnen die Forderung in den Mund gelegt, die Nachgeborenen sollten die Schmach tilgen und die Ketten sprengen. »Wir Tote fordern unser Recht, die alte Treue vom neuen Geschlecht«: So treu und so todesbereit wie das deutsche Militär im Ersten Weltkrieg sollten sich künftig auch die Nachgeborenen erweisen. Es zeigt sich, daß mit der Ehrung der Toten der Zweck verfolgt wurde, die nächste Generation zu einer vergleichbaren Todes- und Tötungsbereitschaft zwangszuverpflichten. Der Kunstgriff, Toten tagespolitische Forderungen in den Mund zu legen, versieht diese Aussagen mit unüberbietbarer Bedeutung, mit einem Unbedingtheitsanspruch, der durch kritische Reflexion nicht relativiert werden soll. Gedenkfeiern zur Zeit der Weimarer Republik haben die Gegenwart häufig als etwas defizitäres verhandelt.19 Nicht nur Ronnebergers Hoffnung auf einen Führer, sondern auch Scheers Worte zur Grundsteinweihe signalisieren dieses Unbehagen an der Gegenwart. Im Rahmen der Einweihungsfeier 1936 konnte die Gegenwart dann als erfüllte Zeit gefeiert werden.
»Das erfüllte Vermächtnis«: Die Einweihung 1936 Ein Vergleich von Fotografien der Feiern 1927 und 1936 läßt auf Anhieb eine profunde Differenz der beiden Veranstaltungen deutlich werden: Während 1927 auch eine bemerkenswerte Anzahl von Damen mit großen Hüten zugegen waren und sich die Versammelten in lockerer, gleichsam ziviler Reihung plazierten, waren 1936 in erster Linie Männer in militärisch-blockhaften Formationen aufmarschiert. Zunächst zum Ablauf der Feier20: Nach dem mehrere Stunden dauernden »gewaltigen Aufmarsch« erklingen vom Turm des Ehrenmals herab »Fanfarenstöße! Der Führer kommt! (...) Das Deutschlandlied klingt auf!« Hitler schreitet die Ehrenkompagnie ab, das »Sanctus« von Schubert wird intoniert. Der Sprechchor der Kriegsmarine bringt eine Chordich-
—————— dumpfe Frage stellen würden: Und dafür haben wir gekämpft?« Vgl.: Die Toten rufen. Neues Österreich, 1. November 1947. Für den Hinweis auf diesen Artikel danke ich Kathrin Hoffmann-Curtius. 19 Vgl. S. 77ff. in diesem Band. 20 Schilderungen der Einweihungsfeier des Marine-Ehrenmals finden sich bei Prange 1996, S. 112ff., im Völkischen Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, vom 31.5./1.6.1936 sowie in der Berliner BörsenZeitung, Abendausgabe, vom 30.5.1936.
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Einweihung des Marine-Ehrenmals am 31. Mai 1936. Hinter dem Kranz des Führers schreitet Hitler in Begleitung von Generalfeldmarschall von Blomberg (links) und Großadmiral Dr. h.c. Raeder (rechts); Pressefoto.
tung namens »Das Mahnmal« zur Aufführung, in der, von Trommelwirbeln unterbrochen, die Namen und Ziffern der gesunkenen Schiffe aufgezählt werden.Nach der Ansprache des Architekten des Ehrenmals, Gustav August Munzer, vollzieht der Führer des inzwischen gleichgeschalteten »Nationalsozialistischen Deutschen Marine-Bundes« die Weihe des Ehrenmals in deutlicher Anspielung auf Scheers Grundsteinlegung 1927: »Wir weihen das Deutsche Marine-Ehrenmal heute in dem dankbaren Bewußtsein, daß mit der deutschen Ehre die deutsche Seemannsehre wieder hergestellt ist, in stolzer Freude, daß Deutschlands schwimmende Wehr wiedergekehrt ist.« Nach einer weiteren Rede hält der Oberbefehlshaber der
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Kriegsmarine, Generaladmiral Dr. h.c. Erich Raeder21, einen Rückblick auf die Weimarer Republik, die er als »das Gefüge einer heute überwundenen Epoche der Verirrungen« bezeichnet. Aber: »Der allmächtige Gott ist uns in unserem harten Ringen zur Seite gestanden. So ward uns das Glück beschieden, ein hohes Vermächtnis unserer Gefallenen zu erfüllen. (..) Sie, mein Führer, haben uns (...) die Möglichkeit gegeben, dem Vermächtnis und dem Geist der treuesten unserer Treuen folgend, zur befreienden Tat zu schreiten (gemeint ist der Aufbau der Kriegsmarine im nationalsozialistischen Deutschland, I.E.). Mein Führer! Aus nächtlichem Dunkel haben Sie uns, und haben Sie der Marine ein ganzes dankbares Volk aufwärts geführt zur Morgenröte einer lichteren Zukunft. Der Segen des Allmächtigen möge Sie und das deutsche Volk geleiten auf dem steilen, dornenvollen Wege des Aufstiegs, den Sie uns führen. Wir aber (...), wir geloben Ihnen im Angesicht dieses nationalen Heiligtums aufs neue unwandelbare Treue und Gefolgschaft.«
Bei dem dreifachen »Sieg-Heil« Raeders erheben sich die Gäste auf den Tribünen; mit gereckten Armen werden das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied gesungen. Daraufhin schreitet der Führer »durch einen tunnelförmigen Niedergang (...) unter dumpfem Trommelwirbel« und dem aufklingenden »Ich hatt’ einen Kameraden« in die unterirdische Weihehalle hinein. Als Hitler vor dem dort ausgelegten Ehrenbuch einen Kranz niederlegt, »feuert die gesamte Flotte ein Salut von 21 Schuß zu Ehren der toten Kameraden ab«, derweil sich die Fahnen im Ehrenhof senken. »Die Menschenmassen (...) stehen stumm, grüßen, von diesem Eindruck des Augenblicks erfaßt.« Unter den Klängen des »Badenweiler Marsches« erfolgt der Ausmarsch, Hitler schreitet die Tribüne ab und verläßt den Ort des Geschehens. Geistliche waren an dieser Feier offiziell nicht mehr beteiligt, obgleich erst 1937 festgelegt wurde, daß Geistliche, wenn überhaupt, dann Predigten nur noch vor oder nach den Staatsakten halten durften.22 Auch die 1927 gesungenen Kirchenlieder entfielen 1936: Statt eines Chorals signalisierte jetzt das »Sanctus« von Schubert den Beginn der besonderen Stunde. Hingegen lag das Recht auf Weiheausübung in beiden Gedenkfeiern in den »weltlichen« Händen der Vertreter des Marinebundes. Die Worte des Weiheaktes wie auch die Rede Admiral Raeders thematisierten die
—————— 21 Erich Raeder (1876–1960) erhielt 1939 den Rang eines Großadmirals. Am 22.12. 1939 erteilte er folgenden, als »amtliche Selbstmordanweisung« zu verstehenden Befehl: »Das deutsche Kriegsschiff kämpft unter vollem Einsatz seiner Besatzung bis zur letzten Granate, bis es siegt oder mit wehenden Fahnen untergeht.« Raeder, der für den uneingeschränkten U-Bootkrieg verantwortlich zeichnet, wurde vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1946 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und 1955 entlassen. Vgl. Holger Afflerbach, Untergang mit wehender Flagge. Ein Ehrenbrauch der Marine kostete vielen Menschen das Leben. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.1.2002. 22 Ackermann 1990, S. 20.
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Gegenwart vor dem Hintergrund der Weimarer Republik als nunmehr erfüllte Zeit. Das Unheil der Vergangenheit war jetzt aufgehoben zugunsten einer heil, einer vollständig gewordenen Geschichte und Gegenwart, die in der Stunde der Denkmalsweihe als solche dargestellt, beglaubigt und gefeiert werden sollte. Das MarineEhrenmal als »nationales Heiligtum« wurde in diesem Zusammenhang als der Ort vorgestellt, der über eine bestimmte Ladung dieses Heils verfügt. Das Kollektiv feierte sich an dieser Stätte als am Beginn einer neuen Ära stehend. In der zitierten Rede Erich Raeders, der im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß 1946 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde, wird dieser Neuanfang als »Morgenröte einer lichteren Zukunft« umschrieben. Es handelt sich um einen »steilen, dornenvollen Weg des Aufstiegs«, auf dem der Führer das deutsche Volk »aus dem nächtlichen Dunkel« emporleite. Um diesen Vorgang definitiv aus der Sphäre des bloß historischen, gar politischen, zu lösen, verweist Raeder auf den »allmächtigen Gott«, der »uns« zur Seite gestanden habe. Der »Aufstieg« wird als von Gott gewollt dargestellt, sein Segen für den weiteren Aufstieg erbeten. Welche Funktion kommt in diesem Zusammenhang nun der Totenehrung zu? Wenn, wie in der oben skizzierten Gedenkfeier der Weimarer Republik, die Toten die Tilgung der Schmach und das Sprengen der Ketten (des Versailler Vertrages) gefordert haben, dann waren diese Forderungen 1936 erfüllt. Mit seiner Erklärung zur deutschen Wehrhoheit beziehungsweise der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht hatte Hitler 1935 den Friedensvertrag von Versailles einseitig gelöst, ein Umstand, der 1936 in Laboe als »Wiedereroberung der Wehrfreiheit« gefeiert wurde. Tatsächlich sei, so Raeder, »ein hohes Vermächtnis unserer Gefallenen« nunmehr erfüllt. Gleichwohl bedeutet die Erfüllung eines Vermächtnisses offenbar nicht, daß damit die Sache abgegolten wäre, denn de facto erfährt das Vermächtnis 1936 eine Umwidmung: Das »heilige Vermächtnis« der Toten ist in »eine ewige Mahnung des Bekenntnisses zum deutschen Heldentum« transformiert.23 »Vermächtnis«, ein Begriff aus der Rechtssphäre, meint die von einem »Erblasser durch letztwillige Verfügung angeordnete Zuwendung eines Vermögensvorteils«.24 Hier scheint der »Vermögensvorteil« darin zu liegen, die Toten des Ersten Weltkrieges weiterhin als Vorbilder instrumentalisieren zu können. Die nun mit dem Ewigkeitsattribut auf Dauer gestellte Mahnung, es ihnen gleich zu tun, ist jetzt allerdings
—————— 23 Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, vom 31.5./1.6.1936. 24 Lexikon für Theologie und Kirche 1965, S. 716.
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politisch entkonkretisiert und als »Bekenntnis zum deutschen Heldentum« ins vorläufig Allgemeine gehoben. Als eine Form der Totenehrung kann man auch die »Mahnmal« benannte Chordichtung bezeichnen. Einer zeitgenössischen Schilderung zufolge zielte sie darauf, die Toten in der Gemeinschaft der Lebenden zu vergegenwärtigen. »Es war, als wüchse das Rund des Aufmarschplatzes zu einem Riesenmund, der die Fragen der Toten an die Lebenden weiter gab. Die Chorstimmen, durch Lautsprecher verstärkt, hatten nichts individuelles mehr; sie schienen geisterhaft von überall her zu tönen.«25 Neun Jahre zuvor hatte Marinepfarrer Ronneberger ein vergleichbares Szenario entworfen. Während jedoch 1927 das Bild von den wiedergekehrten Toten, die »in unserer Mitte weilen«, Bestandteil einer protestantischen Predigt war, wurde dieses Bild 1936 mit Hilfe eines Männerchors und entsprechender Technik buchstäblich in Szene gesetzt. Jetzt konnte, sinnlich vermittelt, der Eindruck entstehen, die Toten seien tatsächlich zugegen und würden selbst die Namen ihrer gesunkenen Schiffe nennen. Der Schrecken und die Drohung des eigenen wie des fremden Todes scheinen in der Inszenierung der einen großen intakten Gemeinschaft aufgehoben; die absolute Grenze zwischen Leben und Tod schlägt um in die Verabsolutierung der heilen, das Heil verkörpernden Gemeinschaft. Daß die Toten nicht tot seien, sondern »im Geiste« oder auch »lebendig« »mit uns marschieren«, diese Vorstellung hat Hitler stets erneut formuliert; sie ist nicht zuletzt auch eine Zentralaussage des Horst-Wessel-Liedes, der damaligen zweiten Hymne Deutschlands. Die einprägsamste Inszenierung dieser Vorstellung war die Ehrung der »Blutzeugen der Bewegung« während des »Reichstrauertages der Partei« am 9. November 1935 in München: Beim »letzten Appell« wurden die Namen der Toten aufgerufen, als deren Stellvertreter die Versammelten mit »Hier!« antworteten.26 Genau genommen handelt es sich nicht mehr um eine Totenehrung, sondern um eine Todesleugnung. Es sei an dieser Stelle erwähnt, daß die Evokation von Abwesendem durch Namensnennung auch in nationalen Gedenkfeiern nach 1945 üblich war. Ein Beispiel ist die Gedenkfeier, die am ersten Jahrestag des Aufstandes vom 17. Juni 1953 von den Freien Demokraten am Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald durchgeführt wurde. Die Totenehrung bezog sich damals sowohl auf die Toten beider Weltkriege als auch auf die »ersten Blutzeugen der Wiedervereinigung«: Während verhalten das
—————— 25 Hugo Sieker. Deutsche Marine-Zeitung vom 1.7.1936, zit. nach Prange 1996, S. 117f. 26 Vgl. Behrenbeck 1996, S. 311 sowie Vondung 1971, S. 159ff.
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Deutschlandlied gespielt wurde, riefen Sprecher die Namen der ost- und mitteldeutschen Länder und Provinzen auf.27 Sei es die Nennung der Namen von Toten wie beispielsweise in München 1935, seien es die Namen und Ziffern gesunkener Schiffe in Laboe 1936 oder die Namen von Ländern auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik wie 1954 während der Gedenkfeier der FDP: Den Akten gemein ist der Versuch einer Vergegenwärtigung des Abwesenden. Diese Praxis ist, wie schon im ersten Kapitel diskutiert, christlich präfiguiert: Die Verlesung von Namen der Verstorbenen im Rahmen der Gottesdienste basierte auf der Annahme, daß »das Aussprechen des Namens Gegenwart des Genannten schafft«. Diese Kultpraxis hatte ihre »Grundlage und Voraussetzung in der Existenz einer Kommunität, die diese Namen und in den Namen auch die Individuen« kommemorierte.28 Im 20. Jahrhundert wurde diese Form des Gedenkens, wie wir gesehen haben, auf im Krieg »verlorene« Schiffe und Gebiete übertragen. Voraussetzung war auch hier jeweils die Existenz einer Kommunität, die nun aber politisch motivierte Verluste nicht reflektieren, sondern durch kultische Vergegenwärtigung zu kompensieren suchte. Auf der Ebene eines durch Kultpraxis etablierten »wirklich Wirklichen« waren Schiffe und Gebiete »eigentlich« nicht verloren, sondern wurden qua Evokation als gegenwärtiger Teil der eigenen Gemeinschaft imaginiert. Am Schluß der Gedenkfeier 1936 führte Adolf Hitler einen eigens auf ihn zentrierten Akt der Totenehrung durch: Indem er sich den »tunnelförmigen Niedergang« hinab in die Weihehalle begab, um dort den ersten Kranz niederzulegen, erfuhr auch das Ehrenmal seine eigentliche Weihe. Das Privileg, gleichsam hinab zu den Toten zu schreiten, kommt allein Hitler zu; auf diese Weise erscheint er als das Bindeglied zwischen den Lebenden und den Toten. Auf diesen dramaturgischen Effekt setzte auch der bereits erwähnte »Reichstrauertag der Partei« 1935: Hitler allein brachte den in der Münchner Feldherrnhalle aufgebahrten 16 »Kämpfern«, die beim Putschversuch 1923 ums Leben gekommen waren, einen Kranz dar und verharrte in »stiller Zwiesprache«.29 Über das Privileg der einen und einzigen Kranzniederlage verfügte Reichspräsident Ebert anläßlich der »Heldengedenkfeier« 1924 ebenso wie Hindenburg bei der Einweihung des Tannenberg-Nationaldenkmals 1927. Deutlich wird, daß mit dieser Praxis der Totenehrung das konsekriert wird, »worauf feierlich zugeschritten wird, vor allem aber wird der Schreitende selbst
—————— 27 Vgl. Wolfrum 1999, S. 125. 28 Oexle 2001, S. 13 und 26. 29 Zu den »Reichstrauertagen der Partei« vgl. Behrenbeck 1996 und 1998, S. 49.
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konsekriert, in diesem Fall der Führer, da er allein den ›heiligen Ort‹ betritt und über die Masse der anderen weit erhoben ist«.30 Die Toten des Ersten Weltkrieges wurden während der Einweihungsfeier des Marine-Ehrenmals einer dreifachen Indienstnahme unterworfen: Auf der narrativen Ebene ging es über die Proklamation eines erfüllten »Vermächtnisses« darum, die gegenwärtige Aufrüstung der Marine als Wunsch der Gefallenen zu legitimieren. Auf der Ebene der performativen Akte diente der Einsatz von Männerchor und Lautsprechern dem Zweck, szenisch die Präsenz der Toten als Teil einer unversehrten, durch den Tod nicht mehr bedrohten Gemeinschaft zu beschwören. Mit Hitlers persönlicher Kranzniederlegung am Ende der Veranstaltung sollte, und das wäre der dritte Punkt, die hierarchisch gegliederte, auf die Person des Führers hin zugeschnittene Gemeinschaftsvorstellung visualisiert und beglaubigt werden. Von den »Witwen und Waisen«, die an dieser Stätte, wie es noch in der Weiheurkunde des Denkmals von 1927 hieß, »um ihre lieben Gefallenen« würden trauern können, ist 1936 nicht mehr die Rede. Ihr Anliegen, den Verlust des einen oder anderen Toten zu beklagen, hätte bei dieser Beschwörung einer entindividualisierten Geistermarine vermutlich nur gestört.
»Die hohen Werte des Abendlandes«: Die Einweihung 1954 Nach Ende des Zweiten Weltkrieges beschlagnahmte die britische Besatzungsmacht das Marine-Ehrenmal; es wurde geplündert und verfiel. Im Jahr 1951 nutzte man den Hof des Ehrenmals beispielsweise für eine Hundeausstellung.31 Der Ort war einer Desekration anheimgefallen. Wenige Wochen vor der Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vollzogen ehemalige Angehörige der deutschen Kriegsmarine – damals noch in Zivilkleidung – am 30. Mai 1954 die zweite Einweihung dieser Stätte.32 Nun war das Ende des Zweiten Weltkrieges mit einer »totalen Diskreditierung der deutschen Kriegsanstrengungen« einhergegangen, nicht zuletzt aufgrund der hohen Zahl der Toten in der Zivilbevölkerung. Mosse konstatiert in diesem Zu-
—————— 30 Vondung 1971, S. 156. 31 Vgl. Prange 1996, S. 134. 32 Schilderungen dieses Festaktes finden sich bei Prange 1996, S. 143ff. sowie bei Rudolf Krohne, Hamburg und Laboe – der Kurs liegt an! Marinezeitung Leinen los, Nr. 7, Juli 1954, S. 4–5.
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sammenhang einen »Niedergang des Gefallenenkults«: Das frühere Bild des Helden wurde jetzt vom »Bild der Toten als Opfer« verdrängt.33 Dieser Umstand erklärt, warum bei der Feier in Laboe 1954 zwar von den Opfern die Rede war, darüber hinaus aber ein eher zurückhaltender Gebrauch von sakralisierendem Vokabular zu beobachten ist. Der Beginn der Stunde wurde jetzt mit einer Schiffsglocke und mit Beethovens Ouvertüre zu »Egmont« angekündigt. Im Anschluß an eine Schlüsselübergabe vollzog der Präsident des neu gegründeten Deutschen Marinebundes die Weihe des Ehrenmals, das jetzt »dem Gedenken aller toten deutschen Seefahrer beider Weltkriege« gewidmet wurde. Zugleich verneige man sich auch vor »den Gefallenen unserer Bundesgenossen zur See und vor unseren toten Gegnern« – eine Formulierung, die bis heute immer wieder als Novum hervorgehoben wird, obgleich auch schon 1936 die Toten des früheren Gegners England in die Ehrung eingeschlossen waren.34 Die Weiherede endete mit den folgenden Worten: »Wir fordern Gerechtigkeit für unsere Kameraden, die zwar noch leben, aber unschuldig ihre Freiheit verloren haben«; gemeint waren die in Nürnberg 1946 verurteilten Admirale Erich Raeder und Karl Dönitz.35 Zum Klang des Trauermarsches aus der »Eroica« betrat ein Zug Kranzträger den Innenhof. Es folgten die Ansprache des Vizeadmirals a.D. Heye, Mitglied des Bundestages, sowie weitere Ansprachen von Vertretern des Landes und des Verbandes deutscher Soldaten. Nach dem Chorgesang »Integer Vitae« gedachten, wie schon zur Zeit der Weimarer Republik, Geistliche beider Konfessionen der Gefallenen. Unter Trommelwirbeln schritten die Kranzträger in die unterirdische Weihehalle, das Lied vom Guten Kameraden erklang. Es folgte, wie schon 1927, das Niederländische Dankgebet, die gemeinsam gesungene Nationalhymne beendete die Feier.
—————— 33 Mosse 1993a, S. 245ff. 34 Vgl. Vizeadmiral a.D. von Trotha, Skagerrak. Gedanken zur gewaltigsten Seeschlacht, die die Geschichte kennt, in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, vom 31.5./1.6.1936, wo es heißt: »Heute ist (...) auf beiden Seiten die Leidenschaft des Krieges vor der Achtung gewichen, die man dem Gegner zollt.« Der Kampf gegen die britische Flotte im Ersten Weltkrieg wird des weiteren als »das Ringen zweier Völker um das freie Recht auf dem Weltmeer als eine Forderung des Schicksals« beschrieben, wo es »auf beiden Seiten das gleiche hohe Heldentum« gegeben habe. 35 Die Weiherede des Präsidenten des Deutschen Marinebundes, Fregattenkapitän a.D. Kretschmer, ist ausführlich zitiert bei Krohne, Hamburg und Laboe. Marinezeitung Leinen Los, Nr. 7, Juli 1954, Prange 1996 erwähnt die zitierte Passage der Denkmalsweihe nicht.
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Auffällig an dieser Feier ist der Verzicht auf jede Deutung der Massentötungen des Zweiten Weltkrieges. Sofern das Dritte Reich überhaupt erwähnt wird, geschieht dies in Begriffen wie »furchtbares Geschehen«, »Schreckenszeit« oder auch »trübe Vergangenheit«. Das Ehrenmal solle, wie es in der Weiherede heißt, »den Gedanken der im Zweiten Weltkrieg gefallenen deutschen Seeleute und der Bedeutung ihres Opfers einen sichtbaren Ausdruck (...) verleihen«36. Was aber dieser Gedanke sei und welche Bedeutung dieses Opfer habe, wurde nicht gesagt. Die politischen Interessen der Festteilnehmer nannte man 1954 unverhohlener beim Namen als in den Jahren zuvor. Noch im Akt der Weihe selbst wurde die Unschuld der beiden inhaftierten Admirale beteuert und deren Freilassung gefordert. Auch der evangelische Pfarrer Werner appellierte im Kontext der Totenehrung »mit Wärme und Überzeugung für die beiden Großadmirale an das christliche Weltgewissen«.37 Neben der Kritik an den Strafverfahren der Alliierten diente die Gedenkveranstaltung in erster Linie dem Zweck einer politischen Selbstverortung der künftigen Bundesmarine. Der Bundestagsabgeordnete Heye votierte für einen gemeinsamen Aufbau Europas, wobei »das Schicksal« den Deutschen die Aufgabe eines »Schrittmachers« gestellt habe. Wie auch bei der oben skizzierten Gedenkfeier am Hermannsdenkmal 1954 wurden die Toten zwar erwähnt, de facto aber ging es um das alte, gleichwohl neu zu etablierende Feindbild im Osten: »Dieses Ehrenmal (...) ist heute schon fast ein Signalturm zur Vorwarnung, daß nach wenigen Reisekilometern in östlicher Richtung der freie deutsche Bereich und damit der Einfluß des freien Europa aufhört. Millionen der dort noch lebenden Menschen unseres Stammes und unseres Blutes (sic!) sind auch nach See zu durch einen eisernen Vorhang von uns abgeschnitten.« Die Ostsee, fährt der Redner fort, könne möglicherweise schon bald den »Charakter eines sowjetischen Binnenmeers« annehmen. Im wesentlichen diente die Einweihungsfeier dem Zweck, den Versammelten den deutschen »Pflichtanteil« an der bevorstehenden europäischen Verteidigungsgemeinschaft plausibel zu machen. Man wolle sich einreihen in die »Front« derer, die Europa aufbauen würden. »Frieden in Freiheit« lautete die Parole, die implizit die Option des Krieges für diese Freiheit einschloß. Zu verteidigen seien »die hohen ethischen und kulturellen Werte des Abendlandes«.38 Dementsprechend hatte sich schon etwa vier Jahre zuvor General Kurt Zeitzler, ehemaliger Generalstabschef
—————— 36 Kretschmer, Weiherede, zit. nach Krohne, ebd. S. 5. 37 Marinepfarrer Werner, zit. nach Krohne, ebd. 38 Vizeadmiral a.D. Heye, MdB, Festrede am 30.5.1954. (Typoskript) Archiv des Deutschen Marinebundes, Marine-Ehrenmal Laboe.
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Adolf Hitlers, geäußert: »Wir dürfen uns unserer Pflicht gegenüber Europa und der westlichen Welt zur Erhaltung der abendländischen Kultur und Zivilisation auf die Dauer nicht entziehen,« schrieb er um 1950.39 Die »Rettung des Abendlandes« gehörte zu den nationalsozialistischen Propagandaformeln in der Endphase des Krieges, als Deutschland das »Abendland« in die größte Katastrophe seiner Geschichte gestürzt hatte;40 in der Geschichte der jungen Bundesrepublik wurde dieser »politische Kampfbegriff«41 zwecks Legitimation der Aufrüstungspläne erneut popularisiert. Voraussetzung solcher Neuauflagen alter Kriegsrhetoriken ist allerdings das Vergessen ihrer Geschichte. Dementsprechend hieß es in der Weiherede des Marine-Ehrenmal 1954: »Der Seemann pflegt nicht lange zurückzuschauen, sondern er blickt nach vorn und in die Zukunft.«42 Konsekration und Totenehrung sind in den drei Gedenkfeiern aufeinander bezogen: Die Stätte bedarf der Weihe, damit die Toten an diesem Ort überhaupt geehrt werden können. Beispielsweise wären Akte der Totenehrung in dem profanierten Marine-Ehrenmal 1945 bis 1954 eher undenkbar gewesen. Umgekehrt ist die Repräsentation der Toten in der unterirdischen »Weihehalle«43 der Grund dafür, daß dieser Ort als heilig betrachtet werden kann. Pierre Bourdieu hat darauf verwiesen, daß Konsekrierungstechniken darauf zielen, »die in einem bestimmten Gesellschaftsgebilde herrschenden ökonomischen und sozialen Verhältnisse« in einer »verklärten, also verkennbaren Form« zu reproduzieren. Als Formen dieser Reproduktion, die der Verstärkung des »Potentials an materieller und symbolischer Kraft« einer Gruppe dient,44 lassen sich auch die Verlaufsmuster der drei Gedenkfeiern beschreiben und zwar insofern, als sie die gesell-
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Zeitzler, zit. nach Messerschmidt 1991, S. 236. Vgl. ebd. Zur Ideologiegeschichte des Begriffs vgl. Faber 1979 und Pöpping 2002. Kretschmer, Weiherede, zit nach. Krohne, Hamburg und Laboe. Marinezeitung Leinen Los Nr. 7, Juli 1954. 43 In der »Weihehalle« war ursprünglich ein Ehrenbuch ausgelegt, in dem die Namen der 34 850 im Ersten Weltkrieg gefallenen Angehörigen der Kaiserlichen Marine verzeichnet sind; zur weiteren Gestaltung der »Weihehalle« vgl. Seite 67f. Der früher auch als »Weihestätte unserer gefallenen Helden im Weltkrieg 1914 bis 1918« bezeichnete Raum ist kürzlich in »Gedenkhalle« umbenannt worden. Der fünfeckige Diabaspfeiler trägt inzwischen die Inschrift: »Den auf See Gebliebenen« sowie die Daten der beiden Weltkriege; vgl. Dieter Hartwig: Bedeutung, Bedeutungswandel und Gestaltung. »Leinen los!«, H. 1, 1998, S. 18–21. 44 Vgl. Bourdieu 2000, S. 66f.
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schaftlich beziehungsweise militärisch als richtig erachtete Ordnung den Versammelten auch sinnlich vermitteln: Durch die herausgehobene Plazierung der Ehrengäste, das Stehen der nicht-privilegierten Beteiligten oder das weihevolle Schreiten des Einzelnen. Daß Hitler 1936 unter Trommelwirbeln allein in die Weihehalle schritt, 1954 hingegen eine anonyme Gruppe von Kranzträgern, weist auf den Wechsel von einem führerbezogenen, hierarchischen hin zu einem demokratisch orientierten Gesellschaftsbegriff. Das formensprachliche Element des weihevollen Schreitens, von Trommelwirbeln begleitet, bleibt gleichwohl von dieser Differenz unberührt. Eine Gemeinsamkeit der drei skizzierten Gedenkveranstaltungen, die auch die Geschichte der Ausstellungen im Marine-Ehrenmal bis heute betrifft, ist die vollständige Leugnung des politischen Konfliktstoffes in der Realgeschichte der deutschen Marine. So standen die 1927 beschworenen Bilder der für »Deutschlands Ehre und Sein« Gefallenen in direktem Gegensatz zu der Tatsache, daß sich in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkrieges eine ganze Reihe der »Blaujacken« dem von ihnen geforderten Selbstopfer widersetzt hatte. Zu ersten Befehlsverweigerungen auf der Hochseeflotte war es bereits 1917 gekommen. Als Admiral Scheer in seiner Funktion als Chef der Seeleitung im Oktober 1918 den Befehl erteilte, »die Flotte zum Endkampf« einzusetzen, wurde das Auslaufen der Schiffe durch den Aufstand von Matrosen und Heizern verhindert; ihr Ziel war der Frieden, der durch den Flottenstreik als Teil eines Generalstreiks herbeigeführt werden sollte. Die Novemberrevolution nahm in Kiel, wo sich bewaffnete Matrosen 1918 zu einem Soldatenrat zusammen geschlossen hatten, ihren Ausgang. In der Optik monarchistisch orientierter Kreise hat dieser Umstand dem Ansehen der Marine enorm geschadet. Darüber hinaus war in der Öffentlichkeit ein Mißtrauen gegenüber der Marine verbreitet aufgrund der Tätigkeit von Marine-Brigaden während des Kapp-Putsches 1920/21.45 Dagegen evozieren Inschriften wie: »Wir starben für dich« (bis 1956 in der »Weihehalle«) und »Sie starben für uns« (ab 1956 in der Ehrenhalle) das Bild monolithischer Geschlossenheit einer vorbildlichen, konfliktfreien und todesbereiten Marine, deren sinnloses Sterben auf See durch Ersticken, Ertrinken oder Verbrennen darüber hinaus in euphemistischen Metaphern wie der von der »letzten Ruhe im wogenden Meere« umschrieben wird. So gesehen ging und geht es im Marine-Ehrenmal weniger um eine Ehrung der Toten als vielmehr um eine Nobili-
—————— 45 Hans-Ernst Mittig beobachtet für den Zeitraum der zwanziger Jahre ein »erschüttertes Selbstverständnis« der Marine sowie ein »daraus entstehendes Ideologiebedürfnis«, das u.a. in den Plänen für das Ehrenmal in Laboe manifest geworden sei. Vgl. Mittig 1988.
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tierung des militärischen Todes, um mit Hilfe dieses pädagogischen Schachzugs die Bereitschaft zu neuen militärischen Handlungen zu legitimieren. »Das Heilige ist dann authentisch«, so Agnes Heller, wenn es erstens eine »gesteigerte Form von Geistigkeit und zweitens eine ethische (oder moralische) Verpflichtung erfordert«.46 Abgesehen davon, daß die Frage nach der gesteigerten Form von Geistigkeit eine Ermessensfrage ist und es aus religionswissenschaftlicher Perspektive auch nicht darum gehen kann, ein authentisch Heiliges von einem nichtauthentischen zu trennen, gilt für die hier diskutierten Gedenkveranstaltungen folgendes: Tatsächlich ging es 1927, 1936 und 1954 in Laboe immer auch um Akte moralischer Selbstverpflichtung. Der sakralisierende Bezug aufs Unbedingte, auf Gott und Deutschland, auf den Allmächtigen, im Jahr 1954 dann aufs Schicksal, diente in allen drei Fällen dem Zweck, Einigkeit über moralisch ausgewiesene, letztlich aber (militär-)politische Zielsetzungen herzustellen. Die soziale Funktion von Totenehrung, nämlich die Verarbeitung der durch den Tod von Menschen hervorgerufenen Konflikte bei den Überlebenden,47 wurde einzig bei der Gedenkfeier 1927 als Funktion des zu errichtenden Ehrenmals deutlich: Der Ort sollte damals auch ein Ort der Trauer für die Angehörigen sein. Aber schon 1927 gilt, was bei den Feiern 1936 und 1954 besonders augenfällig wird: Die Ehrung der Toten, die Weihe des Ortes evozierte mit Hilfe von verbal, akustisch und visuell erzeugten Konsekrationseffekten ein »wirklich Wirkliches«, ein religiöses, scheinbar unpolitisch konnotiertes Allgemeines, um auf diese Weise politischen Interessen einen umso nachhaltigeren Ausdruck zu verleihen. Dies ist das dialektische Moment, daß Akten der Sakralisierung im Rahmen von Gedenkfeiern eigentümlich zu sein scheint.
—————— 46 Heller 1995, S. 87. 47 Vgl. Zinser 1996.
IV Gräber, Erde, Asche, Urnen: Zur Entstehung heiliger Orte in der frühen Nachkriegszeit
Das Anlegen von Grabstätten, ihre Kennzeichnung und Pflege, hat traditionell die Funktion, eine Verbundenheit der Trauernden mit den Toten zum Ausdruck zu bringen und diese Verbundenheit gegenüber der Umwelt zeichenhaft zu vermitteln. Mit der Bestattung soll den Toten die Möglichkeit gegeben werden, im Gedächtnis der Nachgeborenen weiterzuleben. Insofern zeugen Grabstätten immer auch von der Bedeutung der Toten für Gegenwart und Zukunft. Was James Edward Young über das Setzen eines Denkmals sagt, gilt ebenso für das Grab und seine Gestaltung: Es bringt »die Ereignisse in eine bestimmte kognitive Matrix, ohne die sie unerinnerbar blieben, aus der Erinnerung verbannt«.1 Auch die Grabstätten für die Toten des nationalsozialistischen Massenmordes enthalten Hinweise darauf, wie diese Toten und die Umstände ihres Sterbens erinnert werden sollten. Daß die Alliierten bei der Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager mit zahllosen Toten konfrontiert waren, ist bekannt; in den auf deutschem Reichsgebiet befreiten Lagern waren zehntausende von Häftlingen noch kurz vor der Befreiung gestorben. Tausende starben noch unmittelbar nach der Befreiung an den Folgen der Lagerhaft. Hinzu kamen die Aschen- und Urnenfunde im Umkreis der Krematorien. Gleichwohl bedurfte es nach der Befreiung der Lager einiger Zeit, bevor sich ein kollektives Einvernehmen über eine »kognitive Matrix«, über die Bedeutung der Erinnerung an die Toten in den Nachkriegsgesellschaften Ost- und Westdeutschlands, durchsetzte; bis dahin war der Umgang mit ihnen von unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen geprägt. Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen zunächst die unterschiedlichen Bestattungspraktiken der Roten Armee in Ravensbrück auf der einen Seite und der US-Armee in Dachau und Buchenwald auf der anderen. In diesem Zusammenhang geht es zudem um den überregionalen Prozeß einer Nationalisierung des Todes in
—————— 1 Young 1992, S. 224.
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den Konzentrationslagern, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf Initiative ehemaliger Häftlinge einsetzte: Rückgriffe auf Formen des politischen Totenkults, der den gewaltsamen Tod des Einzelnen mit dem Befreiungskampf der Nation begründet, sind nach 1945 in Akten der Totenehrung an Orten ehemaliger Konzentrationslager in beiden Teilen Deutschlands zu beobachten. Rekurse auf national und religiös tradierte Deutungsmuster des Todes werden aber auch im Umgang mit der Asche und der Erde der Konzentrationslager deutlich. Wann und auf welche Weise sind beispielsweise die Krematorien der Lager als heilige Stätten ausgewiesen worden? Wie ist das Interesse zahlreicher Besucher der KZ-Gedenkstätten zu verstehen, gerade die Krematoriumsbauten mit Inschriften zu versehen? Auch die bis heute verbreitete Translation von Erde dieser Stätten hin zu anderen Orten ist eine religiös wie national tradierte Praxis. Die Herstellung einer symbolischen Ordnung an Orten ehemaliger Konzentrationslager war, so zeigen die Beispiele, lange Zeit an überlieferten Konventionen und tradieren Geschichtsbildern orientiert.
Massengräber und Friedhöfe In der Frühphase der Konzentrationslager auf deutschem Reichsgebiet hatte die Lager-SS die Leichen der Ermordeten in nahegelegenen städtischen Einrichtungen einäschern lassen; mit Häftlingen, die in den Außenlagern ums Leben kamen, verfuhr man bis 1945 auf dieselbe Weise. Die Urnen – oder auch Pappkartons2 – wurden auf den städtischen Friedhöfen beigesetzt. Unter Umständen konnten sich Angehörige verstorbener deutscher Häftlinge die Urne gegen Zahlung einer Gebühr zuschicken lassen. Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre begann die SS mit der Errichtung eigener Krematorien in den Lagern. Die Asche der Toten wurde jetzt in der Regel in Gruben im Umkreis dieser Krematorien geschüttet, so in Dachau, Sachsenhausen und Ravensbrück. Um die Überreste ihrer Verbrechen zu beseitigen, ließ die LagerSS Sachsenhausen gegen Ende des Krieges neun Kubikmeter Asche in den Hohenzollernkanal schütten; nichtsdestotrotz fand man nach der Befreiung immer noch
—————— 2 In Pappkartons wurden beispielsweise die Überreste von 66 im Außenkommando Neckarelz verstorbenen Häftlingen vergraben, und zwar auf dem Friedhof in Heidelberg-Kirchheim. Die Toten waren im Heidelberger Krematorium eingeäschert worden. Vgl. Puvogel 1995, S. 25.
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23 Kubikmeter menschlicher Asche auf dem Lagergelände vor.3 Aschengruben wurden auch in Ravensbrück Jahre nach der Befreiung gefunden. Erinnerungen ehemaliger Häftlinge zufolge habe die SS menschliche Asche in den nahe gelegenen Schwedtsee gekippt. Mit Beginn des Massensterbens in den Konzentrationslagern 1944 reichte offenbar die Kapazität der Krematorien nicht mehr aus, um alle Leichen zu verbrennen, weshalb die SS mit der Anlage von Massengräbern im Umfeld der Lager begann. In Dachau wurde im Winter 1944 ein solches Massengrab mit mehreren Tausend Toten auf dem nahe gelegenen Leitenberg angelegt.4 In Buchenwald sind die Toten in natürlich entstandenen Erdfällen im Umkreis des Bismarckturms verscharrt worden.5 Weil das Krematorium nicht mehr funktionierte, befahl der Kommandant des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück Fritz Suhren kurz vor der Befreiung das Ausheben eines Massengrabes: »Hinterher solle der Graben wieder ordentlich zugeschaufelt und ein Kreuz darauf gesetzt werden, ›damit es anständig aussieht‹, wie er sich ausdrückte,« notierte die Französin Marie-Claude VaillantCouturier am 30. April 1945 in ihr Lagertagebuch.6 Friedhöfe oder bereits existierende Massengräber waren auch nach der Befreiung der Lager die Stätten, an denen die Alliierten die Toten beisetzten. Beispielsweise sind 4 111 Urnen, die die 7. US-Armee bei der Befreiung Dachaus vorfand, am 7. August 1945 auf dem Münchener Ostfriedhof beigesetzt worden. Zur Teilnahme an der Trauerfeier, bei der der Oberbürgermeister Münchens eine Rede hielt, hatte die lokale Presse die Bevölkerung ausdrücklich aufgefordert.7 Auch auf dem Waldfriedhof der Stadt Dachau wurden nach der Befreiung Tote des Konzentrationslagers bestattet. Soldatengräbern des Ersten Weltkrieges vergleichbar kennzeichnete man diese Grabstätten mit über 1 000 Kreuzen. Etwa 2 400 Tote des KZ Dachau sind auf dem nahegelegenen Leitenberg an jener Stelle bestattet worden, wo sich die bereits von der SS angelegten Massengräber befanden. Die sofortige Bestattung dieser Toten veranlaßten Angehörige der USArmee Anfang Mai, wohl auch aufgrund des zunehmenden warmen Wetters. Bewohner der Stadt Dachau wurden mit ihren Pferdewagen dazu verpflichtet, die To-
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Vgl. Morsch 1996b, S. 16. Vgl. Marcuse 2001, S. 143 sowie ders. 2003, S. 3. Vgl. Knigge 1998, S. 162, Anm. 69. Zit. nach Jacobeit 1995, S. 162f. Vgl. Münchener Zeitung vom 4.8.1945 und vom 11.8.1945; Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau (im folgenden DA).
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ten auf den Leitenberg zu transportieren; die Gräber selbst hoben ehemalige SSAngehörige aus. Zeitgleich führten Journalisten und ein Filmteam der US-Armee namhafte Persönlichkeiten der Stadt Dachau durch das Lager.8 Nachdem die Beisetzungen auf dem Leitenberg abgeschlossen waren, organisierten Armeeangehörige am 13. Mai 1945 gemeinsam mit Militärgeistlichen und mit internationalen Häftlingsgruppen vor Ort eine Gedenkveranstaltung;9 die Stätte wurde damals mit einem Kreuz und mit einem Davidstern gekennzeichnet. Daß die Alliierten die Bewohner der umliegenden Gemeinden durch die befreiten Lager geführt haben, um ihnen die Leichenberge zu zeigen und so über die Verbrechen des NS-Regimes aufzuklären, ist auch aus Buchenwald bekannt.10 Eine entsprechende Aufklärungskampagne ist von den sowjetischen Befreiern in Ravensbrück so nicht durchgeführt worden. Allerdings wurden etwa 800 Bewohner von Fürstenberg zu Aufräumungsarbeiten im Lager verpflichtet. Erika Buchmann, ehemaliger Häftling, notierte über diese zur Arbeit verpflichteten Fürstenberger später: »Ich habe selbst eine Truppe von etwa 20 gezwungen, mit mir zum Krematorium zu gehen – dort lagen noch eine ganze Anzahl unverbrannter nackter, völlig abgemagerter und stinkender Leichen. Ich hoffe, sie werden den Anblick nie vergessen können!«11 Bei ihrer Flucht aus Ravensbrück hatte die SS etwa 3 000 Häftlinge – Frauen, Männer und Kinder – zurückgelassen, bei denen es sich in der Mehrzahl um Kranke handelte; viele von ihnen starben nach der Befreiung an Typhus und Tuberkulose. Diese Toten sind von Bewohnern Fürstenbergs unter sowjetischer Bewachung bestattet worden. Aus anderen Lagern existieren Fotografien von diesen sogenannten »Sühnebegräbnissen«, zu denen die Alliierten in der Regel deutsche Zivilisten verpflichteten. Nach Cornelia Brink waren diese Akte gleichzeitig als Bestrafung und als erster Schritt zur Umerziehung gedacht, erfolgten aber oft auch aus purer Not, um den Ausbruch von Epidemien zu verhindern.12 Die Fürstenbergerin Margarete Kallies, die als damals 18jährige an den Bestattungen in Ravensbrück beteiligt war, schilderte ihre Erinnerungen im Jahr 1995 in folgenden Worten:
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Marcuse 2001, S. 57. Vgl. Marcuse, 1992, S. 270. Vgl. Knigge 1998. Erika Buchmann: Bericht über die Verhältnisse im FKL Ravensbrück nach der Übernahme durch die Rote Armee am 29. April 1945 (undatiert); Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, NY 4178/38 Bl. 55–61. 12 Brink 1998, S. 41, vgl. dort auch Anm. 71 sowie Barnouw 1997.
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»Wir mußten sie (die Leichen) rausbringen aus dem Lager, die Straße rauf, vorbei an den SS-Villen, etwa bis dahin, wo 1991 das Autohaus gebaut werden sollte. Da hatten schon etwa zehn Fürstenberger Frauen, alte und junge, ein Massengrab geschaufelt. Meine Schwester und ich und ein 14jähriger Fürstenberger Junge sollten in das Grab hinabsteigen. Als wir das nicht wollten, zog der eine Russe seine Pistole, also mußten wir hinunter. Die Frauen oben legten sie uns dann in die Arme – als wenn sie so ein Kind halten – und wir legten sie dann auf den Boden. Als wir fertig waren, wurden wir mit einem Seil wieder raufgezogen. Dann kamen andere (sic) Häftlinge, streuten Blumen auf die Toten und die Fürstenberger Frauen mußten das Grab zuschaufeln. (...) Die Russen stellten dann an der Stelle einen roten Stern auf. Später war der dann weg.«13
Bei der Kennzeichnung der Grabstätte mit einem roten Stern und den Blumen als Grabbeilage hat man es offenbar belassen; eine Gedenkfeier scheint es seinerzeit an den Massengräbern in Ravensbrück nicht gegeben zu haben. Anders in dem von der 3. US-Armee befreiten Konzentrationslager Buchenwald, wo die nach der Befreiung gestorbenen Häftlinge, die Asche aus den Krematoriumsöfen sowie 1 286 Urnen am Fuße des nahegelegenen Bismarckturms bestattet wurden; auch hier befanden sich bereits Massengräber, die die SS 1944/45 angelegt hatte.14 Am 20. Juni 1945 arrangierten Armeeangehörige eine Beisetzungsfeier unter Mitwirkung eines jüdischen, eines katholischen und eines protestantischen Geistlichen.15 Die Teilnahme der Geistlichen wie auch die oben erwähnte Kennzeichnung der Grabstätte mit einem Kreuz und einem Davidstern zeigen, daß die US-Armee bei der Bestattung auf tradierte Elemente der Beerdigungsliturgie zurückgriff. Die Toten wurden als Angehörige verschiedener Religionsgemeinschaften adressiert. Die Anlage von Massengräbern in Ravensbrück scheint dagegen eher von rein pragmatischen Gesichtspunkten geleitet gewesen zu sein. Der Rote Stern auf dem Massengrab verweist nicht auf die Toten selbst, sondern subsumiert sie unter dem Zeichen des sowjetischen Befreiungskampfes. Eine Gemeinsamkeit der damals angelegten Massengräber ist, daß sie in den folgenden Jahren sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland in Vergessenheit gerieten und verwahrlosten. Befehle der sowjetischen Militäradministration 1946, die Gräber in Buchenwald und Ravensbrück zu pflegen, blieben zunächst folgenlos. Die Massengräber auf dem Leiten bei Dachau gelangten 1949 wieder ins öffentliche Bewußtsein, als Bagger einer Firma, die vor Ort mit dem Abbau von Schweißsand beauftragt war, menschliche Knochen freilegten. Dieser Umstand geriet zu einem internationalen Skandal, auf Grund dessen die Bundesrepublik Deutschland und das
—————— 13 Zit. nach Jacobeit 1995, S. 227. 14 Vgl. Knigge 1998, S. 162, Anm. 69. 15 Vgl. Marcuse 1992, S. 104f.
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Land Bayern außenpolitischen Schaden zu fürchten begannen:16 Man beeilte sich, die Massengräber auf dem Leiten im Rahmen einer großen Feier als Friedhof zu weihen. Vertreter der Bundesregierung wie des Landes Bayern waren an diesem Akt am 16. Dezember 1949 ebenso beteiligt wie jüdische, protestantische und katholische Geistliche, die die Weihe der Stätte vornahmen. Der evangelische Oberkirchenrat Daumiller sprach zwar den Skandal der versäumten Grabpflege an, fügte aber hinzu, daß »den ersten Stein auf die Schuldigen werfen möge, wer ohne Schuld« sei.17 An Schuldzuweisungen hatte es im Vorfeld der Friedhofsweihe nicht gefehlt. Ein Mitglied der Dachauer Kreistagssitzung glaubte gar, die Verantwortung für die unterlassene Grabpflege an ehemalige KZ-Häftlinge weiterleiten zu können, die seit 1945 »Schwarzmarktgeschäfte betrieben« hätten, anstatt ihrer Toten zu gedenken.18 – Anläßlich des 5. Jahrestages der Befreiung Dachaus im April 1950 legte der Bayerische Ministerpräsident Hans Ehard auf dem Leiten den Grundstein für einen Gedächtnisbau, der damals als »eine Art (...) transkonfesssionelles Pantheon mit verschiedenen Altären verschiedener Religionen errichtet« werden sollte.19 Im Jahr 1951 war der massive, achteckige Backsteinturm fertiggestellt, ein Bau, dessen Außenansicht, so Kathrin Hoffmann-Curtius, an das Baptisterium der Orthodoxen in Ravenna erinnert. Dieser Umstand wie auch der im Innern des Turms plazierte Brunnen, dessen »konfessionsübergreifende Taufsymbolik Reinigung und einen neuen Anfang mit Christus« zu versprechen scheint, vermittelt den Eindruck einer »Rechristianisierungsstrategie«;20 der Innenraum des Turms ist mit Kandelabern und Wappen von 33 Nationen dekoriert. Offiziell wurde der Bau nie eingeweiht. Mit der Weihe des KZ-Friedhofes auf dem Leiten, seiner Markierung als heilige Stätte, war eine kognitive Matrix geschaffen, die bewirkte, daß dieser zuvor vergessene Ort fortan als eine Station von Pilgerfahrten, Kreuzwegen, in den fünfziger Jahren auch zu Kundgebungszwecken von Jugendorganisationen genutzt wurde. In Ravensbrück hatte sich die »Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes« (VVN) bereits 1948 der verwahrlosten Massengräber angenommen, sie als Friedhöfe gestaltet und diese mit dem Schriftzug der VVN gekennzeichnet. Seither wurden diese
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Dazu ausführlich Marcuse 2001, S. 143ff. sowie ders. 2003. Münchener Merkur vom 20.12.1949. Zit. nach Marcuse 2003, S. 19. Zit. nach Hoffmann-Curtius 1996, S. 40. Ebd. – Zu christlichen Symbolisierungen an anderen Orten ehemaliger Konzentrationslager vgl. Kapitel VI in diesem Band.
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Friedhöfe in den Ablauf der Gedenkfeiern eingebunden, wenn auch von einer öffentlichen Weihe dieser Stätten nichts bekannt ist. Die dort nach der Befreiung bestatteten Leichen von 255 Erwachsenen und 28 Kindern sind 1952 exhumiert und in einem Massengrab in der Nähe des Krematoriums erneut beigesetzt worden. Der Abschnitt der dort noch erhaltenen Lagermauer trug seit Anfang der fünfziger Jahre eine Inschrift, die die Namen von 16 Nationen (einschließlich Deutschland) mit dem Zusatz verzeichnete, daß die Toten »an dieser Stätte (...) für die Befreiung ihrer Heimat vom faschistischen Joch« gestorben seien. Im Unterschied zu den Ende der vierziger Jahre in Ravensbrück gestalteten Friedhöfen, die die dort Bestatteten als »Verfolgte des Nazi-Regimes« auswiesen, wurden die Toten jetzt, Anfang der fünfziger Jahre, mit dem Namen ihrer Herkunftsländer angesprochen.21 Hier zeigt sich eine strukturelle Gemeinsamkeit mit einem Phänomen, welches Reinhart Koselleck mit dem Begriff des »politischen Totenkultes« bezeichnet. Seit der französischen Revolution wird der gewaltsame Tod immer wieder mit der Idee vom (Befreiungs-) Kampf des Vaterlandes beziehungsweise der Nation verknüpft: »Alle haben mit ihrem Leben für die Nation oder das Volk einzustehen, dessen Identität mit ihrem Tod zu verbürgen.« Im gewaltsamen Tod jedes einzelnen liege bereits seine Rechtfertigung, solange er das politische Heil des ganzen Volkes für die Zukunft verbürgen helfe.22 Seien es die nationalen Wappen in dem Gedächtnisbau auf dem Leiten bei Dachau, seien es die Namen der Nationen auf der Lagermauer oberhalb des Massengrabes in Ravensbrück oder auch die 22 Platten mit den Namen der Nationen, die 1965 in Neuengamme vor einer 100 Meter langen Granitmauer plaziert wurden: Deutlich wird die Tendenz, dem historischen Novum der nationalsozialistischen Massenvernichtung mit dem tradierten Deutungsmuster des »Gefallen fürs Vaterland« zu begegnen. Ein weiteres Beispiel sind die mit den Namen der Nationen gekennzeichneten 18 monumentalen Pylonen der 1958 eröffneten Gedenkstätte Buchenwald. Diese Nationalisierung des Todes entspricht der Praxis, auf deutschen Soldatenfriedhöfen des Ersten Weltkrieges keine individuellen Grabinschriften zuzulassen, ein Umstand, den George L. Mosse als Ausdruck des »Vorranges der Nation vor den Individuen« deutet; die Friedhöfe dienten als »zentrale Orte natio-
—————— 21 Es handelte sich um eine opportune Auswahl politisch genehmer Nationen, die 1959, anläßlich der Eröffnung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, auf 23 Namen erweitert wurde. Tatsächlich waren in Ravensbrück neben vielen Staatenlosen Häftlinge aus über 40 Nationen inhaftiert. 22 Koselleck 1994, S. 12ff.
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naler Andacht«.23 Diese die einzelnen Toten anonymisierenden Massengräber werden bis heute vom »Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge« als »Kameradengräber« bezeichnet, ein Begriff, in dem die nationalsozialistische Vorstellung eines »Antreten zum ewigen Appell« fortzuwirken scheint.24 Die »Kameradengräber« haben ihr Pendant in den als »Brudergräber« bezeichneten Massengräbern der Sowjetunion. Nach Frank Kämpfer verschmilzt »die sowjetische Kriegsgräberfürsorge in den sog. ›Brudergräbern‹ die Einzeltode zu einer geballten Anonymität, deren letzter Sinn darin liegt, das Einzelschicksal zugunsten gesellschaftlicher Werte aufzuheben«.25 Die Nationalisierung des Todes in den Konzentrationslagern war das erfolgreiche Konzept einer Transformation des kontingenten Todes in die Folgerichtigkeit einer geschichtlichen Entwicklung. Wenn eine der Funktionen von Akten der Totenehrung darin besteht, den Überlebenden sinnvolle Anschlußhandlungen zu ermöglichen,26 dann gilt das nicht zuletzt für die aus politischen Gründen inhaftierten Häftlinge: Sie organisierten sich nach der Befreiung im Rahmen internationaler Häftlingsverbände. Der Bezug aufs Nationale konnte zugleich als Deutungsmuster des Todes in den Lagern und als gemeinschaftsstiftender Repräsentationsmodus der Überlebenden nach der Befreiung dienen. Das Ungenügen dieser Deutung der KZErfahrung wird seit etwa Mitte der achtziger Jahre augenfällig. Einerseits geraten zunehmend bislang vergessene Häftlingsgruppen in den Blick: Erinnert sei hier beispielsweise an eine Münchener Schwulengruppe, die sich 1985 zunächst erfolglos darum bemühte, einen Gedenkstein in Dachau für die ermordeten homosexuellen Häftlinge aufzustellen.27 Aber auch Gruppen wie die Sinti und Roma, die als »asozial« Inhaftierten und andere, aus rassischen oder religiösen Gründen Verfolgte sind durch die Dominanz des nationalen Deutungsmusters jahrzehntelang buchstäblich entnannt worden. – Andererseits konfrontieren ehemalige Häftlinge aus den erst nach 1945 entstandenen Staaten wie beispielsweise Israel, neuerdings auch Slowenien, der Slowakei, Tschechien und der Ukraine, die Gedenkstätten mit dem Wunsch, nun ihrerseits als nationale Kollektive präsentiert und gewürdigt zu werden, ungeachtet der Tatsache, daß sie damals nicht als Slowaken, Ukrainer, auch nicht als Israelis, inhaftiert waren. Das Paradigma des nationalen Codes hat eine
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Mosse 1993a, S. 107 und 49. Vgl. Kuberek 1990, S. 79ff. Kämpfer 1994, S. 331. Vgl. Ackermann 1990, S. 185. Vgl. Detlef Hoffmann 1998b, S. 81ff.
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stets neu zu formulierende Rückspiegelung aktueller staatspolitischer Entwicklungen in die Geschichte der Lager zur Folge. Für Deutschland barg das nationale Deutungsmuster des Leidens und Sterbens in den Lagern einen deutlichen Vorteil, denn unversehens wurde nun auch »Deutschland« in die Gemeinschaft der im Dritten Reich Verfolgten eingereiht. Als Name in der Reihe der von Deutschen überfallenen Nationen wurde dem Land der Täter der Status eines Opfers zugeschrieben, eine Form der Vergemeinschaftung, die den Begriff »Deutschland« gleichsam unter der Hand rehabilitierte. »Durch diese deutschen Häftlinge wurden auch die Deutschen in jene große Kameradschaft mit einbezogen«, wie Helmut Schmidt, damals Senator in Hamburg, anläßlich der Einweihung der Gedenkstätte Neuengamme 1965 formulierte.28 Der zunächst von den internationalen Häftlingsverbänden popularisierte Topos der in den Lagern »für die Befreiung ihrer Heimat« gestorbenen Häftlinge äußerte sich – über die Identifizierung der Toten und der Nationen hinaus – auch in der national tradierten Formensprache des Gedenkens, und zwar in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften. Das Mittragen von Verbands- und Landesfahnen, ihr Senken als Ausdruck der Ehrerweisung, Trommelwirbel, das Recht der ersten Kranzniederlage durch privilegierte Gruppen und Personen sind nur einige der formensprachlichen Elemente, die schon den Gedenkfeiern im Dritten Reich, der Weimarer Republik und im Wilhelminismus eigentümlich waren. Zunächst aber geht es um den Umgang mit der Asche und der Erde aus den Konzentrationslagern, der seinerseits durch Rückgriffe auf national tradierte Praktiken geprägt ist.
Asche und Erde »Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube« lauten die bekannten Bestattungsworte aus der christlichen Beerdigungsliturgie. Sie verweisen zum einen auf die in Genesis, 3.19, formulierte Vorstellung, daß der Mensch von der Erde »genommen« sei, um durch den Tod wieder zu Erde zu werden. Zum anderen werden Staub, Erde und Asche als Substanzen angesprochen, die nicht prinzipiell vonei-
—————— 28 Senator Helmut Schmidt, Rede, in: Neuengamme Informationen, hrsg. v. Lagergemeinschaft Neuengamme, Nr. 29, November 1965, S. 6–9, hier S. 7. Archiv Dokumentenhaus Neuengamme, Bestand Ng. 9.3.5.2.
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nander geschieden sind: Es handelt sich um Substanzen, die als grundlegend, dem Leben vorgängig gedacht werden. Auch Erde und Asche aus den Konzentrationslagern sind nach der Befreiung der Lager immer wieder synonym gesetzt worden. Ein Beispiel ist das »Denkmal für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und des Widerstandskampfes« auf dem Ohlsdorfer Friedhof, dessen 105 Urnen sowohl mit Asche als auch mit Erde aus verschiedenen Konzentrations- und Vernichtungslagern gefüllt sind. Gleichwohl kommt der Erde und der Asche aus den Lagern keineswegs von sich aus der Status einer besonderen, unter Umständen auch heiligen Substanz zu. Der Umgang mit der menschlichen Asche, die Alliierte bei der Befreiung der Lager fanden und auf die man auch Jahre später noch, zuletzt in Buchenwald in den neunziger Jahren, immer wieder stieß, umfaßt vielmehr ein Spektrum eher unterschiedlicher Praktiken und Zuschreibungen. In der Regel sind die 1945 in oder bei den Krematorien gefundenen Urnen wie beispielsweise in Dachau und Buchenwald sofort bestattet worden. Wo aber dies nicht der Fall war, ist eine erschreckende Indifferenz gegenüber menschlicher Asche ebenso zu beobachten wie ihr Gebrauch als Kultrequisit beziehungsweise als Ausstellungsobjekt. Zunächst zu Ravensbrück: Fest steht, daß noch im Jahr 1948 im Bereich des Krematoriums »Aschenhaufen und Knochenreste (...) zu Bergen« herumlagen.29 »Ich habe mich davon überzeugt«, schrieb Fanny Mütze-Specht von der VVN Rostock im April 1948, »dass der gesamte Grund und Boden rings um das Krematorium aus den Schlackenresten der Totenverbrennungen stammt. Es ist tief bedauerlich, dass bisher nichts zur Erhaltung des Konzentrationslagers geschah, und das pietätlose Volk die Stätten seiner Schande zu Schacherzwecken mißbraucht.«30 Auch in und vor den Öfen fand man »Mengen von Knochen«; zudem sei das Krematorium zu diesem Zeitpunkt «als Abort benutzt« worden.31 Der öffentlich zugängliche Krematoriumsbereich am Ufer des Schwedtsees wurde sowohl von der Bevölkerung als auch von Angehörigen der in Ravensbrück stationierten Roten
—————— 29 Vgl. Tagung der Zentralen Arbeitsgemeinschaft Ravensbrück in Berlin am 13.9.1948. Stenographische Mitschrift. Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten/Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück (im folgenden: StBG/MGR) RA I/3–5 XXXVI 61–115. 30 Schreiben von Fanny Mütze-Specht, Forschungsstelle der Widerstandsbewegung beim Landessekretariat der VVN Rostock, an das Zentralsekretariat der VVN Berlin vom 19.4.1948; StBG/ MGR RA I/3–5, K XXXVI 42. 31 Schreiben von Fanny Mütze-Specht, Forschungsstelle der Widerstandsbewegung beim Landessekretariat der VVN Rostock, an den Kommandanten der Sowjetischen Militäradministration Schwerin vom 27.4.1948; ebd. Bl. 44.
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Armee als Materialreservoir genutzt und verwahrloste völlig. Das VVN-Mitglied Fanny Mütze-Specht gehörte zu den ersten, die diesen Mißstand anprangerten und auf Abhilfe sannen. Doch die Versuche, einen würdigen Umgang mit der Asche der Toten zu finden, wurden vom »pietätlosen Volk« nicht ohne weiteres unterstützt, wie beispielsweise aus einem Sitzungsprotokoll des Antifa-Blocks Fürstenberg 1948 hervorgeht: »Auch haben wir einige Urnen gefunden, (...) auch die müssen sichergestellt werden, wer garantiert uns sonst dafür, dass sie nicht schon morgen als Blumentöpfe genommen werden.«32 Obgleich die amerikanischen Besatzer in Dachau schneller und grundlegender um eine Wiederherstellung der zivilisatorischen Ordnung bemüht waren als die Sowjets in Ravensbrück, gibt es Hinweise darauf, daß auch in Dachau nicht alle Aschenreste sofort nach der Befreiung bestattet worden sind. Ein Zeitungsbericht vom 13. November 1945 schildert den damaligen Zustand des Dachauer Krematoriums und vermittelt darüber hinaus einen Eindruck vom Umgang der SS mit den Überresten der eingeäscherten Häftlinge: »Im Aschenkeller steht noch heute Menschenasche in Fässern. Hier wurde gegen feste Taxe ein Pfund Angehörigenreliquien abgefüllt und trotz Vorauseinsendung des Betrages nicht immer expediert. Es liegen noch viele Urnen umher.«33
Gleichwohl war beim alten Krematorium in Dachau bereits im Herbst 1945 eine Tafel angebracht, die diesen Bereich in englischer Sprache als einen Shrine, genau genommen als »Altar«, als »Reliquienschrein« auswies. Der Text war mit dem Zusatz: »Please don’t destroy« versehen. Diese und weitere Hinweistafeln in Dachau sind nicht zuletzt in Zusammenhang mit den Dachauer Prozessen zu sehen, deren erster am 15. November 1945 begann; internationale Pressevertreter wurden erwartet.34 Eine vergleichbare Tafel mit deutschem und mit russischem Text ist in Ravensbrück sehr viel später, im Jahr 1949, errichtet worden:35 »Gedenkstätte. Für unsere im Konzentrationslager Ravensbrück hingemordeten Brüder und Schwestern. Ehret und achtet dieses Heiligtum.« Die beiden genannten Hinweisschilder zeigen auf ihre Weise, wie Heiliges »gemacht«, wie etwas vorher als gleichgültig und alltäglich Betrachtetes nunmehr ge-
—————— 32 Protokoll über die Sitzung am 7.7.1948 in Fürstenberg; StGB/MGR RA I/3–5 K XXXVI 57–58. 33 Otto Färber, Erlösung von Dachau. Eine Fahrt im Spätherbst an den Ort der Qual und Schande, in: Schwäbische Landeszeitung vom 13.11.1945, S. 3. DA. 34 Vgl. Detlef Hoffmann 1998b, S. 56. 35 Vgl. Protokoll einer Besichtigung des Lagers Ravensbrück und anschließender Besprechung in Fürstenberg am 21.6.1949; StBG/MGR RA I/3–5 K XXXVI 155–157.
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würdigt, auf besondere Weise geachtet werden soll. Die auf beiden Tafeln vorhandenen Aufforderungen, den Ort nicht zu zerstören beziehungsweise ihn zu achten und zu ehren, indizieren, daß sich dies seinerzeit keineswegs von selbst verstand. Es bedurfte bestimmter Interessensgruppen, in Dachau vermutlich ehemalige Häftlinge oder auch Angehörige der US-Armee, in Ravensbrück wahrscheinlich Mitglieder der VVN, um die Krematoriumsbereiche in ein gleichsam neues Licht zu setzen. Erst aufgrund spezifischer Praktiken, hier das Anbringen von Erklärungstafeln, kann, wie Detlef Hoffmann formuliert, »das Gedächtnis des Ortes (...) eingeübt« werden.36 Aber um welches Gedächtnis handelt es sich? Die Begriffe shrine und »Heiligtum« signifizieren eine religiöse Tradition. Die kognitive Matrix, in die beide Krematoriumsbereiche mit Hilfe von Tafeln gestellt werden, macht diese fortan vor dem Hintergrund eines spezifischen Wissens »lesbar«. Sie werden zu Stätten einer Wiedererkennung: Das, was man vom Heiligen weiß, wird man fortan auch in diesen zuvor mißachteten und verwahrlosten Stätten erkennen. Deutlich wird ein Vorgang, den Mona Ozouf als »transfer de sacralité« beschrieben hat.37 Die Hinweistafeln sind hier das Medium, mit dessen Hilfe eine religiös tradierte Definition auf eben noch nichtreligiöse Stätten transferiert wird. Einen entsprechenden Vorgang intendierte auch der ehemalige Häftling Pater Roth in seiner Rede anläßlich der Grundsteinlegung des Mahnmals in Dachau im September 1956: Das gesamte Gelände des ehemaligen Lagers sei »heiliges Land und deshalb als Weltheiligtum zu achten. (...) Rom hat seine Katakomben.« Auch »die Baracken des KZ« seien »heilige Katakomben des 20. Jahrhunderts. (...) Wie es niemandem einfällt, die Katakomben Roms in Wohnungen zu verwandeln, so abwegig ist es, diesen Boden, geweiht vom Blut und von Märtyrern der Nationen, zu Wohnlagern zu machen.«38 Die Richtung dieser Rede ist deutlich: Dachau wurde noch bis 1965 als ein Wohnlager für Flüchtlinge genutzt. Vor diesem Hintergrund dient der Bezug auf die
—————— 36 Detlef Hoffmann 1998b, S. 56. Ein jüngeres Beispiel für ein solches »Einüben des Gedächtnisses« ist ein Aufruf, der im Kontext der Gedenkfeier zum 17. Juni 2002 laut wurde. Ein Kreis von Politikern und Publizisten sprach sich dafür aus, »Orte der Erinnerung« an den 17. Juni 1953 in der ehemaligen DDR zu schaffen. Das Datum sei in der kollektiven Erinnerung zu verankern, so die programmatische Formulierung. Gedenkfeier zum 17. Juni. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 6. 2002. 37 Ozouf 1976. 38 Pater Roth, zit. nach: Zur Ehre der größten Helden aller Zeiten. Die Tat vom 15.9.1956, S. 4.
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römischen Katakomben dem Zweck, den falschen, mißachtenden Umgang mit den Lagerrelikten anzuprangern, ihn als Profanierung einer im Grunde heiligen Stätte auszuweisen. Nun ist die Nachkriegsgeschichte Dachaus mit ihren komplexen, christlich motivierten Akten des Gedenkens bis hin zu den drei in den sechziger Jahren auf dem ehemaligen Lagergelände errichteten religiösen Gedenkstätten sicher ein Sonderfall. Andererseits sind auch in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR sakralisierende Strategien im Umgang mit den Orten ehemaliger Konzentrationslager zu beobachten, die im sozialistischen Ostdeutschland zweifellos nicht religiös motiviert waren. Sakralisierung erweist sich als eine Kulturtechnik, die neben religiösen Institutionen auch von anderen sozialen und/oder politischen Gruppen genutzt wird, um etwas zuvor Alltägliches mit besonderer Bedeutung zu nobilitieren. Sofern die lagereigenen Krematorien nach 1945 nicht abgerissen worden sind, dienen sie seither als besondere Stätten des Gedenkens. Wo wie in Sachsenhausen und Neuengamme die Krematoriumsbauten nicht mehr existieren, sind diese Orte als Stätten des Gedenkens gekennzeichnet. Ihre herausragende Bedeutung liegt darin, daß es sich hier um den Ort handelt, an dem der Tote zuletzt gewesen ist. Insbesondere dann, wenn kein Grab existiert, ist, wie Ute Wrocklage bemerkt, dieser letzte Ort der Toten für das Gedächtnis entscheidend.39 Gleichwohl bleibt die Tatsache, daß es einer besonderen Markierung der Orte bedarf, bevor sie als besondere Stätten überhaupt angesehen werden können. Beispielsweise bedurfte es eines jahrzehntelangen Engagements französischer und internationaler Häftlingsverbände, bevor – im Jahr 1970 – der Ort des ehemaligen Krematoriums in Neuengamme endlich zugänglich gemacht und als Stätte des Gedenkens gekennzeichnet wurde. Umgekehrt gibt es Krematorien, die zwar noch existieren, nicht aber im Kontext der Geschichte der Konzentrationslager wahrgenommen werden: Bis zur Einrichtung eines lagereigenen Krematoriums 1943 in Ravensbrück sind, es wurde bereits erwähnt, die Toten des Lagers im Krematorium der Stadt Fürstenberg eingeäschert worden. Dieses Krematorium, das sich auf dem städtischen Friedhof befindet, war noch Anfang der neunziger Jahre in Betrieb. Bis heute verweist nichts auf seine Funktion im Kontext des nationalsozialistischen Lagersystems. Verschiedene Gründe kommen dafür in Betracht: Weil das Krematorium seit 1945 weiter genutzt wurde, wollte man die Einäscherung verstorbener Bürger Für-
—————— 39 Vgl. Wrocklage 1998, S. 198.
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stenbergs nicht mit der Erinnerung an das Schicksal der Ravensbrücker Häftlinge verbinden. Akte öffentlichen Gedenkens hätten möglicherweise den »Betrieb« privater Trauerfeiern gestört. Hinzu kommt, daß KZ-Gedenkstätten in Ost- und Westdeutschland die Geschichte ihrer Orte in einer Weise präsentieren, als habe es sich um isoliert dastehende Schreckenswelten gehandelt. Die enge ökonomische und soziale Verflechtung der Lager mit ihrem jeweiligen Umfeld, den nahegelegenen Städten und Dörfern, rückt erst seit den neunziger Jahren zunehmend ins Licht. Ein Hinweis darauf, daß die Toten der Konzentrationslager lange Jahre in den städtischen Krematorien eingeäschert wurden, wäre ein unerwünschtes Indiz dieser umfassenden gesellschaftlichen Zusammenarbeit gewesen, die die Existenz der Lager überhaupt erst ermöglichte. Als »Magnet für alle grausigen Emotionen« beschreibt Hoffmann das Krematorium in Dachau.40 Nun stellt sich die Frage, inwieweit dieses Grauen wirklich der maßlosen Zerstörung menschlichen Lebens in den Konzentrationslagern gilt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist die Leichenverbrennung in den bevölkerungsreichen Staaten Westeuropas verbreitete Praxis. Sie wurde schrittweise gegen den Widerstand der katholischen und evangelischen Kirchen durchgesetzt, die in der Kremation einen Angriff auf den Auferstehungsgedanken vermuteten. Katholiken wurde die Leichenverbrennung erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) gestattet.41 Obgleich Krematorien fester Bestandteil des modernen Bestattungswesens sind, bleiben die Stätten der Verbrennung den Besuchern – außer vielleicht an »Tagen der offenen Tür« – generell verborgen. Während die Trauerfeiern in Krematorien an der auf Friedhöfen üblichen Beisetzung orientiert sind, wurde und wird die Einäscherung des Verstorbenen unter Ausschluß der Öffentlichkeit vollzogen. Im Unterschied zum Grab ist der Krematoriumsofen der von allen Formen der Trauerkultur »ausgesparte, ›geheime‹ gesellschaftliche Ort« geblieben und gilt gemeinhin als »Tabuzone«.42 Anders verhält es sich in den KZ-Gedenkstätten: Hier bekommen Besucher häufig zum ersten Mal in ihrem Leben Verbrennungsöfen zu Gesicht und werden auf diese Weise mit dem »geheimen gesellschaftlichen Ort« in aller Deutlichkeit konfrontiert. Dies mag einer der Gründe dafür sein, warum die Krematorien in den KZ-Gedenkstätten als »Hauptanziehungspunkt«43 gelten.
—————— 40 41 42 43
Detlef Hoffmann 1998b, S. 65. Vgl. Thalmann 1978. Fischer 1996, S. 110 und 124. Zit. nach Knigge 1998, S. 152.
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Abb. 7 Angehörige der britischen Armee besichtigen das Krematorium des Konzentrationslagers Neuengamme, Mai 1945; unbekannter Fotograf. Der britische Historiker Tim Cole würde in dem skizzierten Phänomen einen Beleg für seine These vom »Todestourismus« (»death tourism«) erkennen, welcher zu einem regelrechten Geschäftszweig angewachsen sei. Der »Holocaust tourism«, den Cole am Beispiel der Gedenkstätte Auschwitz beschreibt, arbeite mit einem voyeuristischen Element, mit einem »Kitzel«, der sich hinter den ethisch wertvolleren Gründen des Besuchs einer Gedenkstätte verberge. Der Aspekt der Faszination von Stätten »signifikanten Massensterbens«44 liegt gleichermaßen der, infolge des Ersten Weltkrieges entstandenen »blühenden Schlachtfeldindustrie« zugrunde, von der bereits im ersten Kapitel die Rede war. In jedem Fall scheinen sowohl Schützengräben als auch Krematorien die Besucherinnen und Besucher zu eigentümlichen Praktiken und Verhaltensweisen zu provozieren: Beispielsweise war in einem von Touristen in den zwanziger Jahren häufig besuchten ehemaligen Schützengraben die Aufforderung angebracht: »Die Wände sind den Erinnerungen derer heilig, die hier im Krieg gekämpft und ihre
—————— 44 Cole 2000, S. 114.
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Namen hinterlassen haben. Bitte nicht bekritzeln.«45 Auch in den Räumen des Dachauer Krematoriums wird auf großen Tafeln die Bitte formuliert, man möge die Wände nicht beschriften. Der Wunsch der Besucher, sich an diesen Stätten gleichsam einzuschreiben, ist auch in den Unterlagen des Verwaltungsarchivs der Gedenkstätte Ravensbrück dokumentiert. Im »Jahresarbeitsplan 1974« heißt es: »Im Krematorium haben wir ein kunstgeschmiedetes Gitter anbringen lassen, um zu verhindern, daß sich unsere Besucher immer wieder an den Öfen verewigen.«46 Der in diesem Zusammenhang ungewöhnliche, umgangssprachliche Begriff des SichVerewigens ist aufschlußreich: Vielleicht geht es den Besuchern gerade darum, an diesen Stätten des Todes sich mit Hilfe einer Inschrift des eigenen Lebens auf ewig zu versichern. Möglicherweise kommt damit den Inschriften auch eine apotropäische Funktion zu: Indem ich die Stätte des Todes mit Zeichen meines eigenen Lebens versehe, bin ich gegen diesen Tod geschützt. Inschriften an Stätten, die gemeinhin als »Sehenswürdigkeit« gelten, sind keine Seltenheit. In Aussichtstürmen, an Denkmälern, in Schlössern finden sich immer wieder solche Einschreibungen. Auch in der Grabeskirche in Jerusalem gibt es zahllose Graffiti und Inschriften, Namens- und Wappeneinritzungen, mit denen die Pilger Zeugnisse ihrer Reise vor Ort hinterlassen wollten. »Abgeschlossene, der Alltagswelt enthobene Geschichte kann umstandslos zur bloßen ›Sehenswürdigkeit‹ werden,« wie Volkhard Knigge bemerkt.47 Die Präsentation der KZ-Geschichte als einer isolierten, von Geisterhand bewegten Schreckenswelt steht der Möglichkeit einer reflektierten Vermittlung dieser Geschichte mit der eigenen beziehungsweise auch der Familiengeschichte diametral entgegen und wird gerade deshalb zur »Sensation«. Es war bereits die Rede davon, daß Krematorien, die Reste menschlicher Asche und die Erde aus den Konzentrationslagern nach 1945 nicht von sich aus als etwas besonderes, als Heiligtum beziehungsweise als Sehenswürdigkeit, galten. War aber einmal eine entsprechende kognitive Matrix geschaffen, kam den Ascheresten und auch der Erde ein »Kultwert« zu.48 Menschliche Asche wurde und wird, wie schon im ersten Kapitel diskutiert, zur Weihe bestimmter Orte benutzt. In das Fundament
—————— 45 Zit. nach Mosse 1993a, S. 187. 46 Jahresplan 1974 der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück; StGB/MGR Verwaltungsarchiv. 47 Knigge 1998, S. 153. 48 Marcuse 1985, S. 55.
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des KZ-Denkmals in Natzweiler (1960) ist Asche eingemauert worden.49 In Dachau (1967) und in Ravensbrück (1949) wurden jeweils im Rahmen zeremonieller Akte Urnen an Stellen beigesetzt, an denen die Errichtung eines Denkmals vorgesehen war. In beiden Fällen wurden die Urnen als Urnen des »unbekannten Häftlings« bezeichnet. In der »Neuen Wache« in Berlin ist 1969 eine Urne mit der Asche eines »unbekannten Widerstandskämpfers« beigesetzt worden, und zwar neben der Urne eines »unbekannten Soldaten«. Hier handelte es sich um die Überreste eines 1945 in Zittau erschossenen Häftlings und eines im gleichen Jahr bei Görlitz gefallenen Wehrmachtsangehörigen.50 Beigesetzt wurden auch Urnen mit »blutgetränkter Erde aus neun ehemaligen faschistischen Mordstätten« sowie Urnen mit »Erde von neun blutigen Schlachtfeldern des Krieges«.51 Der Topos vom »unbekannten Häftling« hat sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges als Reaktion auf die Massentötungen in den nationalsozialistischen Lagern durchgesetzt; auch hier wurde an eine national wie militärisch nobilitierte Form des politischen Totenkultes angeknüpft. Ein »unbekannter Soldat« ist zuerst 1919 in London beigesetzt worden, ein zweiter 1920 in Paris. Entsprechende Beisetzungen fanden in den folgenden Jahren in vielen europäischen Städten statt. Als Reaktion auf das Massensterben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges, das eine Identifizierung und Beisetzung einzelner mehr oder weniger ausschloß, stand diese staatsoffizielle Bestattung eines Unbekannten für die Beisetzung aller »für die Nation« Gefallenen. Mit diesem Akt eines gleichsam stellvertretenden Begräbnisses an national bedeutenden Orten wie der Westminster Abtei oder dem Triumphbogen waren, so Volker Ackermann, »die Toten nicht aus der Gesellschaft der Lebenden ausgeschlossen; sie gehen in ein Reservoir nationaler Energien ein, aus dem die Lebenden schöpfen«.52 Die Geschichte einer Urne mit der Asche des »unbekannten Konzentrationärs« verweist auf weitere Funktionen, die menschlicher Asche nach der Befreiung der Lager zugeschrieben wurde. Diese Geschichte beginnt mit der Befreiung des KZ Buchenwald im April 1945.53 Ehemalige Häftlinge füllten 18 Urnen mit menschlicher Asche, die 18 der im KZ Buchenwald vertretenen Nationen repräsentieren
—————— 49 50 51 52 53
Ebd. Vgl. Stein 1984, S. 76. Zit. nach Wagner 2000, S. 31. Ackermann 1994, S. 310. Vgl. Marcuse 1985, Skrentny 1985 sowie Diercks 1992, S. 22–26.
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sollte. Dieser Akt der Urnenfüllung wurde von den Beteiligten mit einem solidarischen Handschlag besiegelt. Im November 1945 erwogen Vertreter des Hamburger Komitees ehemaliger politischer Gefangener, die in ihrem Besitz befindliche Buchenwalder Urne mit der Asche eines »unbekannten Konzentrationärs« im Hamburger Rathaus aufzustellen; der Vorschlag ist nicht realisiert worden. Gleichwohl übernahm diese Urne anläßlich der Abschlußkundgebung einer Gedenkwoche für die Opfer des Faschismus am 4. November 1945 auf dem Ohlsdofer Friedhof eine zentrale Funktion: Sie wurde neben Feuerschalen auf einem der drei schwarzen Katafalken plaziert. Etwa 15 000 Teilnehmer der Gedenkveranstaltung defilierten an dieser Stätte vorbei.
Abb. 8 Gedenk-Kundgebung am 4. November 1945 auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, links im Bild die Urne des Unbekannten Konzentrationärs aus Buchenwald; Pressefoto. Ein Jahr später fand in Hamburg eine zweite Gedenkwoche statt. Zu diesem Anlaß wurden 24 Urnen von namentlich bekannten Hamburger Widerstandskämpfern, die während des Dritten Reiches im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet worden wa-
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ren,54 und die Urne des »unbekannten Konzentrationärs« in einem Schweigemarsch vom Haus des Komitees ehemaliger politischer Gefangener in das Hamburger Rathaus getragen, in dessen Bürgersaal man sie für einige Tage aufbahrte. Am 8. September 1946 trugen Jugendliche diese 25 Urnen von dort zum Ohlsdorfer Friedhof, wo die 24 Urnen aus Brandenburg und weitere in einem zeremoniellen Akt beigesetzt wurden. Die Buchenwald-Urne kam zurück in das Haus des Komitees und wurde in der Folgezeit im Rahmen der Ausstellung »Kampf und Opfer« in verschiedenen Städten Westdeutschlands gezeigt. Am 8. Mai 1949 sollte das bereits erwähnte Denkmal für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung auf dem Ohlsdorfer Friedhof eingeweiht werden. Das nach Plänen von Heinz Jürgen Ruscheweyh errichtete Denkmal besteht aus einem 16 Meter hohen, steinernen Rahmen, der 105 Urnen aus rotem Granit umfaßt; diese sind in 15 Reihen übereinander angeordnet. Vertreter der Verfolgten-Organisationen hatten mit dem Hamburger Senat bereits ein Jahr zuvor vereinbart, daß 104 dieser 105 Urnen mit Erde aus verschiedenen Konzentrationslagern gefüllt werden sollte. In den 105. Granitzylinder wollte man die Urne des »unbekannten Konzentrationärs« einsetzen. Vereinbart wurde, daß die Erde aus den Lagern von der VVN beschafft werden sollte, die der Friedhofsverwaltung auch fristgemäß etwa 95 Erden übergab. Die noch fehlenden Erden würden Teilnehmer der Feier am 8. Mai 1949 übergeben.
Abb. 9 Gedenkfeier am Denkmal für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und des Widerstandskampfes, Ohlsdorfer Friedhof Hamburg 1960. Die 105 Granitzylinder sind sowohl mit Asche als auch mit Erden aus unterschiedlichen Konzentrationsund Vernichtungslagern gefüllt; Pressefoto.
—————— 54 Zur illegalen Überführung dieser Urnen in Rucksäcken über die Sektorengrenze im Harz vgl. Reimann 2000, S. 163ff.
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In der Zwischenzeit aber und vor dem Hintergrund des Kalten Krieges suchte der Hamburger Senat den Anteil der »kommunistisch infiltrierten« VVN an der Genese des Denkmals zu reduzieren und begann nun seinerseits, Erden aus ehemaligen Lagern, allerdings nur in den drei Westzonen, zusammenzutragen. Im März 1949 teilte der Senat der VVN mit, daß er das Datum der Denkmalsweihe auf den 3. Mai 1949 vorverlegen werde, mit dem Resultat, daß das Denkmal zweimal eingeweiht wurde: Am 3. Mai fand die Einweihung des Hamburger Senats mit etwa 2 000 Teilnehmern statt und am 8. Mai die der VVN in Anwesenheit von 10 000 bis 20 000 Personen. Die Vorverlegung des Festakts seitens des Senats führte nun dazu, daß die Urnen zum größten Teil nicht mehr gefüllt werden konnten, bevor im Rahmen der Senatsfeier am 3. Mai das Gitter geschlossen wurde. Erst im September 1949 ist das Gitter noch einmal geöffnet worden, um einige der am 8. Mai 1949 mitgebrachten Erden in die Granitbehälter einzufüllen. Zugleich wurde eine Gruft vor dem Denkmal angelegt, die die restlichen Partikel aufnahm. Im Rahmen der Senatsweihe füllte der Bürgermeister der Stadt Hamburg die Asche eines unbekannten Toten aus Neuengamme55 in den 105. Granitzylinder,56 der doch zur Aufnahme der Asche des »unbekannten Konzentrationärs« vorgesehen war. Die Buchenwald-Urne sollte daraufhin, wie Die Tat vom 25. Mai 1949 mitteilt, in Berlin ihre »letzte Ruhestätte« finden; ihr endgültiger Verbleib ist bislang ungeklärt. Der Urne mit der Asche des »unbekannten Konzentrationärs« sind während ihrer Odyssee durch die ersten Nachkriegsjahre mindestens drei unterschiedliche Funktionen zugeschrieben worden. Zunächst eine national codierte, gemeinschaftsstiftende Funktion: Bei der Einfüllung der 18 Urnen nach der Befreiung Buchenwalds signifizierte eine jede von ihnen eine Nation. Die Urnen standen für die national begründete, zugleich transnational gedachte Einheit aller Verfolgten des NSRegimes, eine Einheit, an der vor allem den Kommunisten unter den Überlebenden angesichts der kurz darauf einsetzenden Ost-West-Spaltung gelegen war. Mit dem Unterpfand dieser Einheit, den Überresten eines unbekannten Häftlings, stellten
—————— 55 Vgl. Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft Nr. 160 vom 9. Juni 1964. Anderen Quellen zufolge handelte es sich um einen in Neuengamme aufgefundenen Schädel. Die Geschichte des Inhalts der 105. Urne ist bislang noch nicht restlos geklärt. 56 Tatsächlich handelt es sich bei dieser Urne um die 102., das heißt um jene, die sich auf der Mitte der untersten Stellage des Denkmals befindet beziehungsweise dort als letzte eingefügt wurde. Für diesen Hinweis danke ich Ute Wrocklage.
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sich die Beteiligten in die Tradition des politischen Totenkultes, indem ein Unbekannter alle fürs Vaterland Gefallenen repräsentierte. Eben diesen Repräsentationsmodus der Urne zu akzeptieren war der sozialdemokratische Bürgermeister der Stadt Hamburg, Max Brauer, 1949 nicht bereit: Indem er die 105. Urne des Denkmals auf dem Ohlsdorfer Friedhof mit menschlicher Asche aus dem ehemaligen Konzentrationslager Neuengamme füllte, stellte er das Denkmal in einen lokalhistorischen Verweisungszusammenhang und erteilte so der kommunistisch besetzten »Internationale« eine deutliche Absage. Der Unvereinbarkeitsbeschluß der SPD vom 6. Mai 1948, nach dem kein Sozialdemokrat zugleich Mitglied der VVN sein durfte, lag zu diesem Zeitpunkt gerade ein Jahr zurück. Eine zweite Funktion zeigt sich in der beabsichtigten Plazierung der Urne im Hamburger Rathaus beziehungsweise in ihrer Nutzung als Ausstellungsobjekt. Hier dient sie als der materielle Beweis der nationalsozialistischen Verbrechen. De facto signifiziert die Urne das Verbrechen nicht nur, sondern sie ist zugleich Resultat des Verbrechens selbst. Diese »Extrempraktik«, menschliche Überreste gleichsam auszustellen, beruht, wie Knigge schreibt, auf der Vorstellung, daß einzig das originale Geschichtsdokument nachhaltig auf den Betrachter wirke.57 Im Hamburger Rathaus hätte die Urne darüberhinaus auch noch die Funktion der Mahnung übernommen: Der ausgestellte Beweis des Verbrechens hätte an diesem Ort den Politikern als stete Mahnung des »Nie wieder!« dienen sollen. Die dritte Funktion wird in den geschilderten Akten des Totengedenkens deutlich. Särgen vergleichbar, die aufgebahrt werden, damit sich die Lebenden von den Toten verabschieden können, wurde die Urne gemeinsam mit anderen im Hamburger Rathaus aufgebahrt. Auch während der Feier auf dem Ohlsdorfer Friedhof 1946 stand sie in Stellvertretung eines Sarges auf einem Katafalken, einem schwarz umkleideten Gerüst, auf dem sonst der Sarg während der Trauerfeier steht. Das Vorbeidefilieren der Versammelten dient im Kontext bürgerlicher und auch militärischer Trauerfeiern der Ehrerweisung und zugleich der Abschiednahme von den Toten. Als Objekt der Totenehrung weist die Urne des Unbekannten aber auch auf den in der römisch-katholischen Kirche ausgebildeten Reliquienkult. Als »Reliquie« hätte diese Urne, so Harold Marcuse, den »Kultwert« des Denkmals gesteigert.58 Eine
—————— 57 Knigge 1998, S. 98. 58 Marcuse 1985, S. 58f.
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Entsprechung zum Reliquienkult zeigt sich auf jeden Fall in der bereits beschriebenen Weihefunktion menschlicher Asche. Ihre Beisetzung an Stätten eines zu errichtenden Denkmals oder auch im Denkmalsfundament erinnert an die Tradition, christliche Hochaltäre mit den Reliquien eines Heiligen auszustatten. So gesehen handelt es sich bei diesen Altären immer auch um Grabstätten. Zugleich wird mit der Reliquie eines Heiligen der Altar selbst zu einer heiligen Stätte. Wo menschliche Asche zur Konsekrierung eines Ortes genutzt wird, ist die Wandlung dieser Stätte in eine heilige Stätte vorgesehen. Auf die Reliquienfunktion menschlicher Asche verweist noch eine andere Begebenheit, von der Marcuse berichtet: Im Jahr 1951 wurde in Flossenbürg ein Führer entlassen, weil er menschliche Asche aus dem dortigen Krematorium an Touristen verkauft habe. In Dachau wurde ein ehemaliger Häftling des Verkaufs von Asche verdächtigt, allerdings unberechtigterweise.Von Interesse ist hier weniger das Handeln einzelner, als vielmehr die Tatsache, daß offenbar seitens der Besucher oder Touristen ein ernsthaftes Interesse an solchen »Einkäufen« bestand.59 Auch Tim Cole berichtet vom »free lance collecting of human remains« seitens einzelner Überlebender, die ihre Asche- und Knochenfunde später den US-amerikanischen Holocaust-Museen stifteten. Beispielsweise werden im »Memorial-Room« des Holocaust-Museums in Dallas menschliche Knochen und Asche in einer, in Form eines Davidsterns gestalteten Urne aufbewahrt.60 Neben der Asche und den Knochenresten ist es in erster Linie die Erde aus den Lagern, der bis heute immer wieder ein reliquienähnlicher Status zugeschrieben wird. In der nationalen Deportiertengedenkstätte auf der Ile de la Cité in Paris (1960) befindet sich neben Asche auch Erde aus vielen Konzentrationslagern.61 Im Hof der Berliner Gedenkstätte Plötzensee steht seit 1956 eine große Urne (!), die mit Erde aus unterschiedlichen Lagern gefüllt ist. In der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald wurde im Inneren des Glockentums »eine Urnengruft mit Bluterde aus den anderen faschistischen Konzentrationslagern, deren Namen in der bronzenen Abdeckplatte verzeichnet sind«,62 eingerichtet. Aber auch ehemalige Wehrmachtsangehörige bedienen sich dieser Form des Gedenkens: Das im Jahr 1975 geweihte »Jägerdenkmal« auf dem Grünten im Allgäu, das den Gefallenen einer »Gebirgsjägerdivision« gewidmet ist, besteht nicht nur aus Steinen ehemaliger
—————— 59 60 61 62
Vgl. Marcuse 2001, S. 470, Anm. 134 und 181. Vgl. Cole 2000, S. 166, sowie Seite 33 in diesem Band. Vgl. Marcuse 1985, S. 60. Zit. nach Wagner 2000, S. 31.
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Kriegsschauplätze, sondern enthält auch Erde aus einem »Gebirgsjägergrab im Kaukasus«.63 Die Translation von Erde ist im Nationalsozialismus verbreitete Praxis gewesen: Die »Totenburg«, die Wilhelm Kreis 1943 für das Ufer des Dnjepr entwarf, hätte Erde von allen Schlachtfeldern in Rußland aufnehmen sollen. In der Langemarckhalle des Berliner Reichssportfeldes (1936) wurde in einem sarkophagartigen, steinernen Kasten Erde von dem Schlachtfeld bei Langemarck aufbewahrt.64 Das Gemeinsame der hier exemplarisch genannten Erdtranslationen ist die Vorstellung, daß die Erde von den Schlachtfeldern und aus den Lagern blutgetränkt sei. Sie ist durch menschliches Blut konsekrierte Erde und aus diesem Grund heilig. »In dieser Funktion wird,« wie Monika Wagner schreibt, »die Erde zum Inbegriff einer weiblichen ›Urmaterie‹«, die als »Mutter Erde« die toten Krieger in sich aufnimmt und sie transformiert.65 Diese in der Memorialkultur des Ersten Weltkrieges popularisierte Vorstellung präfiguriert die Praxis der Erdtranslationen aus den nationalsozialistischen Lagern und Vernichtungsstätten, wobei das Bild des toten Kriegers durch das des toten Häftlings umstandslos ersetzt werden konnte. Das national tradierte »Erdritual«66 verweist wiederum auf ältere, religiöse Praktiken. Über das Grabmal in der Grabeskirche in Jerusalem berichtet beispielsweise der Pilger von Piacenza (um 570), dieses sei stets erneut mit Erde von außerhalb gefüllt worden, damit die Gläubigen davon mit nach Hause nehmen konnten.67 »Wenn das Grab Christi ein großer Berg wäre«, schrieb der Pilger Ludolf von Ludheim im Jahr 1335, so wäre es schon längst verschwunden, »dass kein Körnchen mehr übrig geblieben.«68 Das (leere) Grab Christi wie überhaupt das »Heilige Land« ist in christlicher Perspektive durch die Anwesenheit Jesu beziehungsweise durch seinen Opfertod im Ganzen geheiligt worden. Ähnlich verhält es sich mit der Erde der Konzentrations- und Vernichtungslager, sofern sie, wie Pater Roth formulierte, durch das Blut der »Märtyrer der Nationen« geweiht wurde. Wo die Erde der loca sancta zu anderen Orten transferiert wird, wird deren sakrale Qualität mit übertragen. Die geweihte Erde kann jetzt dazu dienen, neue heilige Stätten zu begründen. Der bis heute verbreitete Transfer von Erde aus den
—————— 63 Vgl. Albert Hefele, Am Jägerdenkmal des Grünten wird Toten und einem Motorrad gedacht. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.9.2001. 64 Mittig 1997, S. 7. 65 Wagner 2001, S. 123. 66 Mittig 1997, S. 7. 67 Vgl. Krüger 2000, S. 70. 68 Ludorf von Ludheim, zit. nach ebd., S. 177.
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Lagern ist nur ein weiteres Indiz für die zentrale Bedeutung sakralisierender Praktiken in der Geschichte des Gedenkens.69
Abb. 10 Holzkästchen mit Perlmutteinlage aus Bethlehem, 18. Jahrhundert, mit Steinbröckchen verschiedener Loca Santa gefüllt. Foto: J. Krüger.
Abb. 11 Ehrengeschenk der Stadt Wien an Adolf Hitler anläßlich des Anschlusses von Österreich an das Deutsche Reich, 13. März 1938. Der truhenförmige Silberkasten enthält Sand und kleines Gestein aus neun österreichischen Regionen. Ereignisse der vollständigen Zerstörung sind nur dann erinnerbar, wenn sie, wie Hoffmann bemerkt, »zu Bildern werden, die sich in einen bestehenden, freilich immer verändernden Bildhaushalt integrieren lassen«.70 Lutz Niethammer spricht von einer »Präformation durch Wahrnehmungsgewohnheiten«, die ein »Hereinragen vergangener Zeit in den gegenwärtigen Raum der Wahrnehmungen« bewirke.71 Der Umgang mit den Toten des nationalsozialistischen Lagersystems nach der Befreiung war durch verschiedene Anleihen der religiös und national tradierten
—————— 69 Ein aktuelles, das »nationale Erdritual« möglicherweise ironisierendes Beispiel ist Hans Haackes »Der Bevölkerung« gewidmetes Projekt für das Berliner Reichstagsgebäude. Der dort plazierte Holztrog nimmt keine »blutgetränkte« Erde, sondern Erde aus verschiedenen Wahlkreisen der Bundesrepublik in sich auf. Zu Haackes Projekt vgl. Wagner 2000. 70 Detlef Hoffmann 1998a, S. 12. 71 Niethammer 1992, S. 97.
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Bildhaushalte geprägt. Im Unterschied zu den achtziger und neunziger Jahren ging es in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht darum, den nationalsozialistischen Massenmord als geschichtliches Novum, als Zivilisationsbruch zu thematisieren. Die religiösen und nationalen Deutungsmuster des Todes zielten vielmehr darauf, das spezifische historische Ereignis in eine universale Ordnung zu transformieren. Kognitive Matrizes oder auch Bilder, durch die die Ereignisse erst erinnerbar werden, basieren gleichwohl auf impliziten Beurteilungen und Auslassungen. Die Dominanz des nationalen Paradigmas machte jene große Gruppe von Häftlingen vergessen, die nicht wegen ihrer Staatsangehörigkeit, sondern aus rassischen oder »sozialhygienischen« Gründen verfolgt wurde. Durch die Nationalisierung des Todes waren sie alle jahrzehntelang ausgeschlossen aus den Akten des Gedenkens. Auch die Applikation religiöser Deutungsmuster auf die KZ-Geschichte wie beispielsweise in der oben zitierten Gleichsetzung Dachaus mit den Katakomben Roms ignoriert, daß, wie Marcuse schreibt, Konzentrationslager im jüdischen Verständnis wenig oder keine religiöse Bedeutung haben. Aus diesem Grund wurde in Dachau neben der katholischen Kapelle und der evangelischen Kirche auch keine Synagoge, sondern eine jüdische Gedenkstätte errichtet. Während Christen die NSVerbrechen als eine Manifestation des göttlichen Willens betrachteten, würden diese Verbrechen und vor allem der Genozid einer jüdisch-theologischen Explikation widerstehen.72 Orten und Dingen, die mit der Qualität des Heiligen versehen sind, ist die Tendenz eigen, die sozialen und politischen Interessen vergessen zu machen, denen doch ihre Entstehung geschuldet ist. Das Krematorium als shrine, als »heilige Stätte« behauptet eine Unmittelbarkeit, die deshalb scheinbar ist, weil spezifische Praktiken notwendig waren, um diesen Ort als sakrale Stätte überhaupt lesbar zu machen. Vor 1948 hatte beispielsweise das Krematorium in Ravensbrück eine solche sakrale »Rahmung« nicht erfahren und wurde eben deshalb als Abbruchstätte von der Bevölkerung und der Sowjetischen Armee genutzt. Auch der Umgang mit den Überresten menschlicher Asche und den Urnen in der frühen Nachkriegszeit ist von divergierenden Ordnungsvorstellungen geprägt. Anders als Särge, die in ihrer Größe und Materialität immer noch auf den Toten selbst verweisen, eignet Urnen beziehungsweise menschlicher Asche ein gewisser Grad von Abstraktion. Vielleicht ist das der Grund dafür, daß Urnen und Asche als polyvalente Zeichen lesbar werden. So diente beispielsweise die Buchenwalder Urne
—————— 72 Marcuse 1992, S. 352; zur jüdischen Gedenkstätte in Dachau vgl. ders.: 2001, S. 266f.
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des »Unbekannten Konzentrationärs« als Zeichen und Unterpfand national begründeter, international gedachter Gemeinschaft aller NS-Verfolgten. Sie diente aber auch als ausstellbarer Beweis der NS-Verbrechen und als Objekt der Totenehrung. Schließlich kam ihr noch eine Reliquienfunktion zu, indem die Urne – wie anderenorts geschehen – zur Konsekrierung bestimmter Orte hätte eingesetzt werden sollen. Darüber hinaus wurde menschliche Asche nach 1945 extensiv in den Ansprachen der Gedenkfeiern thematisiert, allerdings auf einer metaphorischen Ebene. Als Dünger des Bodens und als Saat für die Zukunft diente »Asche« als Bild, mit dessen Hilfe der Tod in den Lagern in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden konnte. Auch hier wird ein Rekurs auf einen bereits bestehenden Bildhaushalt deutlich: Daß der Boden mit Blut »gedüngt« sei oder Tote als »heilige Saat« bezeichnet werden, war nach dem Ersten Weltkrieg ein in Gedichten, Bildern und Texten überaus verbreitetes Motiv; Hans-Ernst Mittig spricht in diesem Zusammenhang von einer »deutschen Agrarmetaphorik«.73 Die Vorstellung, daß Tote die Erde weihen, liegt schließlich auch dem bis heute üblichen Transfer von Erde aus den Lagern hin zu anderen Stätten zugrunde. National wie religiös tradierte Gedächtnis- und Nobilitierungsstrategien waren das Reservoir, aus dem unterschiedliche Gruppen – die Armeen, die Häftlingsverbände, schließlich auch die politischen Repräsentanten Deutschlands – schöpften, um das Gedächtnis der Geschichte der Konzentrationslager »einzuüben«. Dabei wurden die NS-Verbrechen in Bildhaushalte eingeordnet, die teilweise schon im eben zuende gegangenen Dritten Reich und in der Weimarer Republik virulent waren. Vielleicht aber bestand damals die einzige Möglichkeit eines Umgangs mit den Folgen des vollständigen Zusammenbruchs von Menschlichkeit in eben diesen Rekursen auf bekannte Deutungsmuster und Würdigungsformen. Die Mehrheit der Überlebenden war in den zwanziger und dreißiger Jahren sozialisiert; andere Formen der Würdigung als die kirchlicher und staatlicher Trauerfeiern waren nicht bekannt und wohl auch nicht vorstellbar, wenn man bedenkt, daß sich die »funeralen Zeichen« dieser Inszenierungen gegenüber den politischen Wechseln im Deutschland des 20. Jahrhunderts als weitgehend resistent erwiesen haben. Hinzu kommt folgendes: Vielleicht werden sich jene, die in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre Kind waren, an den Begriff des »KZlers« erinnern, ein Begriff, dem damals etwas Gefährliches, fast Asoziales, jedenfalls Dubioses anhaftete. Hier
—————— 73 Mittig 1997, S. 6.
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handelt es sich um ein Indiz für die bekannte Tatsache, daß die Einsicht in den menschenverachtenden Charakter des NS-Regimes sich in Deutschland eher langsam durchsetzte. Vor diesem Hintergrund erscheint der Rekurs auf tradierte Formen der Totenehrung als ein Versuch, überhaupt erst einmal ein Bewußtsein von der Ehrungswürdigkeit dieser Toten zu erzeugen. Wenn, wie eingangs bemerkt, die Formen der Totenehrung eine Verbundenheit von Lebenden und Toten der Umwelt zeichenhaft vermitteln, so enthalten diese Formen stets auch Hinweise darauf, was zur Zeit ihrer Nutzung als lesbar galt. Daß sich in den ersten Nachkriegsjahren die Würdigung der Toten der Konzentrationslager immer wieder einer »Sprache des Davor« bediente, um überhaupt verstanden zu werden, bleibt als Paradox bestehen.
V Jahrestage der Befreiung: Gedenkfeiern in Ravensbrück 1946–1995
Jahrestagen eignet eine spezifische Form der Vergegenwärtigung des Vergangenen. Der Gedanke des: »Heute war es« scheint die Ereignisse der Vergangenheit in eine größere Nähe zur Jetztzeit zu rücken als jeder andere Tag dies vermöchte. Die »Kraft des Tages« transzendiert die seither verflossene Zeit. Indem der Jahrestag kalendarisch wiederkehrt, scheint mit ihm auch etwas von der historischen Begebenheit in die Gegenwart zurückzukehren, an die er erinnert. Anniversarien und Jubiläen sind für die Geschichte öffentlichen Gedenkens von zentraler Bedeutung. Wie wir bereits gesehen haben, war beispielsweise der Typus des Schlachtengedenkens als religiöses Dankfest schon im Spätmittelalter verbreitet.1 Das Gedenken an die Toten unter der Prämisse des Sieges hat in Deutschland eine lange Tradition. Der Gedanke des Sieges stellt den Tod in eine sinnfällige Perspektive. Auch das Leiden und Sterben in den nationalsozialistischen Lagern wird rückblickend erträglicher, wenn es aus dem Blickpunkt seines Endes, der schließlich erfolgten Befreiung, thematisiert wird. Die Befreiung dient als Scharnier, das den Massenmord mit der Hoffnung auf Erneuerung verbindet und die verstörenden KZ-Erfahrungen in einem mit Heilsqualitäten versehenen Geschichtsverlauf aufhebt. Auch das United States Holocaust Museum in Washington D.C. läßt seine Exposition nicht etwa mit dem Jahr 1933 beginnen, sondern mit einer Fotografie, auf der US-amerikanische Truppen bei der Befreiung des Buchenwald-Außenlagers Ohrdruf zu sehen sind: Die Besucher sind zuerst mit den Umständen der Befreiung konfrontiert, bevor sie sich mit der Geschichte des nationalsozialistischen Völkermords auseinandersetzen. In der Gedenkstätte Yad Vashem wird ebenfalls zuerst,
——————
Dieses Kapitel basiert auf einem Aufsatz aus dem Band Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit, Susanne Lanwerd (Hg.), Die Sprache des Gedenkens. Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück, 1945–1995, Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 11, Berlin 1999. 1 Vgl. Seite 24f. in diesem Band.
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das heißt vor der Darstellung des Genozids, die Rettung beziehungsweise die »Wiedergeburt« des jüdischen Volkes dokumentiert.2 Sei es der militärische Sieg, die gelungene Emigration oder die Befreiung der Konzentrations- und Vernichtungslager: In jedem Fall geht es um eine Optik, die die Massentötungen über die versöhnende Tatsache ihres »erlösenden Abschlusses« in den Blick nimmt.3 Wohl deshalb hat der Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager eine solche Prominenz erlangt, und nicht etwa ein anderer Jahrestag aus der Geschichte der Lager. Der Gedanke an Auschwitz hat schon etwas von seinem Stachel verloren, wenn, wie in Deutschland seit 1995, dem Genozid am Jahrestag der Befreiung des Lagers gedacht wird.4 Um so erstaunlicher ist es, daß die europäische Tradition der Befreiungsfeiern seit 1995 von der Forschung bislang kaum wahrgnommen wurde.5 Gemeinhin wird mit der Befreiung der Konzentrationslager die Vorstellung eines prägnanten, klar umrissenen Ereignisses verbunden: Truppen der Alliierten kämpfen den Widerstand der SS-Wachmannschaften nieder und öffnen unter dem Jubel zehntausender Häftlinge die Tore des Konzentrationslagers.6 De facto aber war die Befreiung, wie Günter Morsch bemerkt, ein eher »heterogener Prozeß«, der sich teilweise über Wochen, gar Monate erstreckte.7 Im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück war es bereits im Februar 1945 zu umfangreichen Entlassungen vornehmlich »reichsdeutscher« Häftlinge gekommen. Im Lauf des Monats April evakuierte das Internationale Rote Kreuz tausende von weiblichen Häftlingen; sie wurden in Bussen auf schweizerischen beziehungsweise schwedischen Boden gebracht. Als am 30. April Angehörige der Roten Armee zum ersten Mal das Lagertor passierten, fanden sie dort nur 2 000 bis 3 000 kranke Häftlinge vor. Die Mehrzahl der Inhaftierten hatte die SS kurz zuvor auf die Straßen in nordwestliche Richtung getrieben; sie wurden nicht in Ravensbrück, sondern auf diesen sogenannten Evakuierungsmärschen befreit, sofern sie nicht bereits geflohen waren. Eine Reihe der Frauen kehrte nach der Befreiung nach Ravensbrück zurück.8 Widersprüchliche
—————— 2 Vgl. Cole 2000, S. 152f. 3 Vgl. Seite 206f. in diesem Band. 4 Zum Thema der Lagerbefreiungen im Kontext des »Gedenkjahrs« 1995 vgl. Naumann 1996 und 1998, S. 91ff. 5 Zu Mauthausen vgl. Botz und Prenninger 1998. 6 Vgl. Morsch 1996a. 7 Ebd. S. 8. Zum Prozeßcharakter des Kriegsendes insgesamt vgl. Herbert und Schildt 1998. 8 Vgl. Jacobeit 1995.
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Erinnerungen ranken sich um die Feier des 1. Mai 1945, an der Befreier und Befreite beteiligt waren. Gerüchten zufolge sei es im Kontext dieser Feier zu sexuellen Übergriffen sowjetischer Soldaten auf die soeben befreiten Frauen gekommen.9 Die genauen Vorgänge der Befreiung ließ auch die »Nationale Mahn- und Gedenkstätte« Sachsenhausen in einer Grauzone. Das Konzentrationslager war durch sowjetische und durch polnische Kampfverbände befreit worden. Um den offenen Streit zwischen den nationalen Veteranenverbänden darüber zu vermeiden, wer nun die ersten Soldaten in Sachsenhausen waren, ließ man diese Frage jahrzehntelang unberührt.10 Neben dem Gedenken an die Toten aus der Perspektive des »erlösenden Abschlusses« gibt es eine zweite Gemeinsamkeit in den Akten des Gedenkens vor und nach 1945: die Sakralisierung der Stätte, die auf die Toten verweist. Als »heiliges Land«, »heilige Stätte«, »Golgatha«, »geweihte Erde« ist auch der Ort des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück immer wieder bezeichnet worden, wobei sich der Zeitpunkt der beginnenden Sakralisierung mit dem Jahr 1948 ziemlich präzise bestimmen läßt. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Reste des Lagers teils von der sowjetischen Armee, teils von der Bevölkerung als Materialreservoir genutzt. Dieser Umstand verweist auf die bereits in den vorigen Kapiteln diskutierte These, daß Orte – auch Orte des Massentötens und Massensterbens – erst aufgrund von Zuschreibungen, die soziale Gruppen oder Institutionen zu bestimmten Zeitpunkten vornehmen, zu heiligen Stätten werden. Im Fall von Ravensbrück waren es zunächst ehemalige Verfolgte des NS-Regimes, die seit 1948 versuchten, den Ort ins öffentliche Bewußtsein zu rücken. Dabei ist die Beschreibung eines ehemaligen Konzentrationslagers als Heiligtum, als Golgatha, keine Besonderheit Ravensbrücks. Neben den Konzentrations- und Vernichtungslagern wurden auch Orte ganz anderer Provenienz heilig genannt – zum Beispiel Stalingrad. Bereits die zeitgenössische NS-Presse hatte die Massentötungen an der Wolga 1943 als deutschen »Opfergang« bezeichnet; die bundesdeutsche Nachkriegsliteratur stilisierte Stalingrad zu einem »Golgatha der 6. Armee«.11 Als ein »Heiligtum des gesamten deutschen Volkes« wurde auch die Gegend um Leipzig anläßlich der Einweihung des Völkerschlacht-Denkmales im Jahr 1913 bezeichnet – die Reihe ließe sich fortsetzen.
—————— 9 Vgl. Withuis 2002. 10 Vgl. Morsch 1996a, S. 8. 11 Vgl. Eschebach 1993.
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Nimmt man nun die jährlichen Gedenkveranstaltungen am Ort des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück über einen Zeitraum von 50 Jahren in den Blick, ergeben sich eine Reihe von Fragen: Welche Bedeutung kommt der Tatsache zu, daß die Jahrestagsfeiern im Kontext dreier politischer Systeme – der Sowjetischen Besatzungszone, der Deutschen Demokratischen Republik und schließlich der Bundesrepublik Deutschland – begangen wurden? Inwieweit sind die Formen und Funktionen dieser Veranstaltungen durch die jeweiligen gesellschaftspolitischen Verfaßtheiten der deutschen Nachkriegsgeschichte geprägt? Gibt es Traditionslinien, die bestimmte Formen des Gedenkens über die politischen Wechsel hinaus determinieren, oder sind 1949 beziehungsweise 1989/90 deutliche Veränderungen in Gestaltung und Bedeutung der Feiern zu beobachten? Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist der Vorschlag von John R. Gillis, die Geschichte des Gedenkens in drei sich gleichwohl überlappende Phasen zu unterteilen: die pränationale, die Gillis in der Zeit vor dem späten 18. Jahrhundert verortet, die nationale, die von der französischen und amerikanischen Revolution bis etwa 1960 dauerte, und schließlich die gegenwärtige, postnationale Phase des Gedenkens.12 Wenn pränationale Formen des Gedenkens primär an lokal wichtigen Begebenheiten orientiert waren und durch einzelne Gruppen oder auch durch die popular memory eher als durch die institutionalisierte elite memory inauguriert worden sind, dann gelten diese Merkmale auch für die Jahrestagsfeiern der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der mit der Gründung der DDR einsetzende Prozeß einer staatsoffiziellen Institutionalisierung der Jahrestage läßt sich mit einiger Vorsicht als Beginn einer nationalen Phase des Gedenkens bezeichnen. »National« ist in diesem Zusammenhang zunächst einmal als eine Kategorie der Selbstbeschreibung zu verstehen: Einerseits trugen die an den Veranstaltungen beteiligten Einrichtungen und Organisationen den Begriff des Nationalen in ihrem Namen wie beispielsweise die drei großen »Nationalen Mahn- und Gedenkstätten« der DDR, Buchenwald (1958), Ravensbrück (1959) und Sachsenhausen (1961). Andererseits waren Begriffe wie Nation, Internationalität, Patriotismus, Vaterland, Deutschland Kernbegriffe zahlloser Ansprachen und Gelöbnisse im Kontext der Feiern. Seit Anfang der achtziger Jahre ist in der Gedenkstätte Ravensbrück der Prozeß einer Pluralisierung der Formen und Inhalte des Gedenkens zu beobachten, der nicht so sehr von den staatlichen Institutionen, sondern eher »von unten«, also von verschiedenen
—————— 12 Gillis 1994, S. 5. Infolge des 11. September 2001 wird man von einer Renationalisierung des Gedenkens in den Vereinigten Staaten von Amerika sprechen müssen.
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gesellschaftlichen Gruppen getragen war. Die Demokratisierung der Erinnerung, die nun auch bislang »vergessene« Häftlingsgruppen in Akte des Gedenkens einschloß, setzte sich nach der deutschen Einheit fort und wurde fortan auch seitens der Gedenkstätte institutionell unterstützt.
Die frühen Jahrestage Ein »zwangloses Beisammensein der Sachsenhausener und Ravensbrücker Konzentrationäre« im Schloßpark von Oranienburg notiert das Programm des ersten Jahrestages der Befreiung für den 12. Mai 1946. Ergänzt ist dieser Programmpunkt durch die, in der unmittelbaren Nachkriegszeit wichtige Mitteilung: »Es gibt etwas zu essen und zu trinken bei Musik- und Gesangsdarbietungen.«13 Dem Beisammensein vorausgegangen war eine Kundgebung auf dem Luisenplatz in Oranienburg, die bereits zentrale Merkmale späterer Gedenkveranstaltungen erkennen läßt: erstens die Teilnahme einer staatlich legitimierten Person – in diesem Fall der Bürgermeister Oranienburgs, der die Begrüßung vornahm – und zweitens den Ablauf der Kundgebung gemäß des »funeralen Dreitaktes: Musik, Rede, Musik«. Dieser »Dreitakt« hat sich im Kontext der bürgerlichen Festkultur des 19. Jahrhunderts entwickelt und wurde zunächst von der Weimarer Republik, dann vom Dritten Reich und schließlich von der DDR ebenso wie von der Bundesrepublik übernommen.14 Auch die beiden Lieder »Unsterbliche Opfer« und »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«, die in den folgenden Jahrzehnten fester Bestandteil der Gedenkveranstaltungen in Ostdeutschland waren, wurden bereits bei dieser ersten Jahrestagsfeier gesungen. Beide Lieder sind Ende letzten Jahrhunderts in Rußland entstanden und wurden in der russischen Revolution 1905 beziehungsweise 1917 populär. Die deutschen Nachdichtungen stammen von Hermann Scherchen, der sie aus russischer Kriegsgefangenschaft mitbrachte und sie für seine beiden Arbeiterchöre bearbeitete; durch deren Auftritte verbreiteten sich beide Lieder in Deutschland ab 1920. Im Jahr 1946, das heißt noch bevor der Trauermarsch »Unsterbliche Opfer« zur offi-
—————— 13 Vgl. das Programm zum Ersten Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück durch die Rote Armee; Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten/Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück (StGB/MGR) RA Nr. I/2–2–2. 14 Vgl. Ackermann 1990, S. 260f.
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ziellen Trauermusik der DDR wurde, waren beide Lieder Programmpunkt der ersten Jahrestagsfeier; auf diese Weise wurde die Befreiung der Konzentrationslager mit den Kämpfen russischer Revolutionäre gewissermaßen analogisiert. Dieser erste Jahrestag der Befreiung 1946 in Oranienburg unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht vom ersten Jahrestag in Dachau am 28. April 1946. Die zweisprachige Einladung des »Internationalen Informationsbüros« Dachau zu dieser Feier notiert ein Spektrum unterschiedlicher Aktivitäten: Neben einer Gedenksteinenthüllung auf dem Dachauer Waldfriedhof und einer Kranzniederlegung auf dem Leitenberg waren ein »Dank für die Befreiung« in der Stadtpfarrkirche St. Jacob sowie weitere Dankfeiern polnischer, jüdischer und evangelischer Gruppen vorgesehen. Dem rangältesten Offizier der US-Armee wurden Ehrengeschenke überreicht. Eingeladen wurde darüber hinaus zu einem »Bunten Abend mit Tanz« (»Variety Show and Dancing«) in der Dachauer Offiziersmesse.15 Während an der ersten Jahrestagsfeier in Dachau US-amerikanische Militärangehörige wesentlich beteiligt waren und offiziell geehrt wurden, erwähnt das Oranienburger Programm keine Beteiligung der sowjetischen Befreier, wohl aber die des Bürgermeisters, der wiederum in der Dachauer Einladung nicht genannt wird. Dort standen Akte der Totenehrung und religiöse Dankfeiern im Mittelpunkt der Feier; in Oranienburg fand hingegen eine Kundgebung statt. Der Vergleich dieser ersten Jahrestagsfeiern im sowjetischen und im amerikanischen Sektor läßt eine schon fast paradigmatische Differenz in den Schwerpunktsetzungen und Verlaufsmustern erkennen, die zunächst durch das Engagement unterschiedlicher Häftlingsgruppen bedingt war: Während die ostdeutsche Memorialkultur von Anfang an durch Deutsche, die aus politischen Gründen verfolgt worden waren, bestimmt wurde, waren die ersten Gedenkfeiern in Dachau durch die Präsenz unterschiedlicher religiöser und nationaler Gruppen beziehungsweise Delegationen geprägt. Darüber hinaus erlauben beide Feiern Rückschlüsse auf unterschiedliche Interessenslagen der Alliierten, denn die religiösen Schwerpunktsetzungen der Dachauer Feiern sind nicht allein mit dem Umstand zu erklären, daß in Dachau eine vergleichsweise hohe Zahl Geistlicher inhaftiert war. Formen der Kooperation der USArmee mit den ehemaligen Häftlingen und der Bevölkerung waren – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Reeducation-Programme – differenzierter und früher ausgeprägt als in der Sowjetischen Besatzungszone.
—————— 15 Vgl. Einladung. Jahrestag der Befreiung (1946); KZ-Gedenkstätte Dachau, Archiv Nr. 26169.
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Eine Gemeinsamkeit beider Feiern ist, daß sie nicht an den Orten der ehemaligen Konzentrationslager stattfanden: Dachau, Sachsenhausen und Ravensbrück waren mit Truppen der alliierten Armeen besetzt; Dachau und Sachsenhausen dienten darüber hinaus als Internierungslager, die 1948 beziehungsweise 1951 aufgelöst wurden. Auch in Buchenwald fanden die ersten Jahrestagsfeiern nicht im ehemaligen Lagerbereich statt, der seinerseits als Internierungslager genutzt wurde. In den Jahren 1946, 1947 und 1948 wurden die Jahrestage der Befreiung in Weimar begangen. Seitdem die im März 1947 gegründete Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) für diese Feiern verantwortlich zeichnete, erlangten sie überregionale Bedeutung. Die erste öffentliche Gedenkveranstaltung in Ravensbrück fand überhaupt erst am 14. September 1948 statt, nachdem Mitglieder der VVN das verwahrloste Gelände außerhalb des sowjetisch besetzten Lagerbereichs notdürftig hergerichtet hatten. Eine Besonderheit der frühen Ravensbrücker Gedenkveranstaltungen war, daß die VVN sie in Zusammenarbeit mit dem Demokratischen Frauenbund Deutschland (DFD) in erster Linie für Frauen und Jugendliche organisierte. Dementsprechend waren auch die Losungen dieser ersten Kundgebungen überwiegend geschlechtsspezifisch formuliert: »Wir Mütter erziehen unsere Kinder zu Friedensfreunden«, ist auf Transparenten im Jahr 1949 zu lesen und 1950: »Mit den westdeutschen Frauen für Frieden und Völkerverständigung.« Entsprechend lauteten die »Vorschläge für Losungen« zur Eröffnungsfeier der Gedenkstätte im Jahr 1959: »Mutter, denke an Dein Kind – kämpfe für den Frieden!« oder: »Mütter, sichert die Zukunft Eurer Kinder!« oder: »Mit den Müttern aller Völker für den Frieden.« Der Müttertopos diente schon früh als die narrative Kernaussage der Ravensbrücker Gedenkfeiern. Nach 1945, als der »Zivilisationsbruch« allerorten in der Metapher einer notwendigen »Neugeburt des Volkes« verhandelt wurde, avancierte die »Mutter« zum Inbegriff und Garant einer nach wie vor unbeflecken Nationalität. Vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone geriet die scheinbar politisch unverdächtige »Mutter« im Kontext des Kalten Krieges zu einem nationalen Agitationsbegriff, mit dessen Hilfe Frauen für die »antifaschistisch-demokratische Einheit« gewonnen werden sollten.16 Den Ort eines ehemaligen Konzentrationslager für die Agitation der weiblichen Bevölkerung zu nutzen, ist ein historisches Novum. Die VVN, der DFD wie auch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands knüpften mit dieser Funktionszuschreibung an die Tradition linker politischer Frauenarbeit
—————— 16 Vgl. Stoehr 1997.
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an: Zur Zeit der Weimarer Republik verfügten KPD und SPD über eigene Frauenorganisationen, die auch eigenständige Frauendemonstrationen durchführten.17 Durch die Inanspruchnahme Ravensbrücks als Propagandastätte einer sozialistischen Frauenpolitik geriet die Tatsache in völlige Vergessenheit, daß dort auch etwa 20 000 Männer inhaftiert waren. Die VVN und der DFD hatten Ende der vierziger Jahre noch den Charakter einer, wie man heute sagen würde, non-governmental organization, bevor zumindest der DFD zu einer der »Massenorganisationen« der DDR avancierte und damit staatstragend wurde. Vermutlich ist das einer der Gründe dafür, warum bei ersten Gedenkveranstaltungen der Topos der Nation noch nicht so im Vordergrund stand wie später; die staatliche Repräsentanz ging Anfang der fünfziger Jahre noch nicht über den Bürgermeister hinaus. Das Interesse, insbesondere die ausländischen Teilnehmer über die Existenz eines anderen, besseren Deutschlands zu unterrichten, galt aber zumindest unter den deutschen politischen Häftlingen von Anfang an als eine Funktion der Gedenkveranstaltungen. Beispielsweise hob Emmy Handke, ehemaliger politischer Häftling Ravensbrücks, auf einer Sitzung des Ravensbrück-Komitees 1949 hervor, daß die Gedenkveranstaltung in diesem Jahr »bei den ausländischen Kameradinnen« einen guten Eindruck hinterlassen habe: »Das wäre der positive Punkt, daß alle Teilnehmerinnen gesehen hätten, es gäbe in der Ostzone und in Berlin ein neues Deutschland«, vermerkt das Protokoll.18
Die Nationalisierung des Gedenkens Bei der Durchsicht der im Kontext der Gedenkveranstaltungen der DDR entstandenen Texte ist die Häufigkeit der Vokabeln national, deutsch beziehungsweise Deutschland auffällig. Das beginnt bei den Namen der damals beteiligten Organisationen und Einrichtungen: Nationale Front des demokratischen Deutschland, Nationale Mahn- und Gedenkstätten, Nationale Volksarmee (NVA), Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Demokratischer Frauenbund Deutschlands, Freie Deutsche Jugend (FDJ) – und setzt sich fort in den Losungen, Ansprachen und Gelöbnissen, verstärkt in den fünfziger und sechziger Jahren, mit abnehmender
—————— 17 Vgl. Hagemann 1991. 18 Protokoll der Sitzung des Ravensbrück-Komitees vom 21.9.1949; StGB/MGR RA Nr. III/2 Nr. 1.
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Tendenz in den siebziger und achtziger Jahren. Besonders prägnant in diesem Zusammenhang ist die Losung: »Nicht nur deutsch sprechen, denken und fühlen, sondern auch deutsch handeln«, die für die internationale Kundgebung in Fürstenberg am 7. September 1957 vorgeschlagen wurde.19 Bis zum Ende der Ära Ulbricht war die SED der Auffassung, sie würde den eigentlichen Kern der deutschen Nation bewahren.20 Von Anfang an forcierte die Partei ein betont nationales Selbstverständnis und propagierte die DDR als Modell für ein zu schaffendes Großdeutschland. Die Idee einer Einheit der deutschen Nation wurde 1955 mit der Zwei-Staaten-Theorie fixiert, nach der die deutsche Nation derzeit in zwei Staaten fortbestehe. Auch noch in den sechziger Jahren hielt man an der Auffassung fest, daß die Arbeiterklasse im Unterschied zum »Bonner Separatstaat« die Interessen der ganzen Gesellschaft und der Nation vertrete. Diese Botschaft stand beispielsweise im Zentrum der großen Gedenkfeiern, die die SED anläßlich des 140. und des 150. Jahrestages der (siegreichen) Völkerschlacht 1953 beziehungsweise 1963 am Völkerschlachtdenkmal in Leipzig beging: Die DDR inszenierte sich als die Instanz, die die patriotische »Volksbewegung« zur Zeit der Befreiungskriege fortführe, und zwar zugunsten einer Wiedervereinigung Deutschlands unter sozialistischem Vorzeichen.21 Seit Ende der sechziger Jahre wurde der Begriff der Nation im öffentlichen Leben seltener, die Auffassung von den »zwei Typen von Nation« begann sich durchzusetzen. Erich Honecker vertrat eine »Zwei-Nationen-Theorie«, der zufolge die DDR den Typ einer »sozialistischen Nation« entwickelt habe, während in der Bundesrepublik die »bürgerliche Nation« fortbestehe. Das Programm der SED von 1976 deklamierte die Entwicklung der sozialistischen Nation, der sozialistischen Nationalkultur und eines sozialistischen Nationalbewußtseins. Entsprechend dieser Entwicklung durfte der Text der von Johannes R. Becher verfaßten Nationalhymne der DDR ab 1973 nicht mehr öffentlich gesungen werden, und zwar aufgrund der nunmehr als unopportun betrachteten Formulierung: »Laß uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland«. Gleichwohl blieb der Topos des Nationalen die zentrale Selbstbegründungsfigur der DDR, was sich bis zuletzt in den offiziellen Reden und Staatsrepräsentationen vermittelte.
—————— 19 Deutscher Demokratischer Frauenbund, Vorlage für das Bundessekretariat. Losungen für Tribüne Fürstenberg; StGB/MGR RA I/4–3 Bl. 53. 20 Vgl. im folgenden Wolfrum 2001, S. 96ff. 21 Vgl. Poser 1995, S. 92ff.
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Nach Etienne François, Hannes Siegrist und Jakob Vogel sind es drei Aspekte, die den »nationalen Kult« kennzeichnen: Erstens die Konkretheit und Exemplarität der Identifikationsfiguren und -bilder (weil man sich nicht mit einer Idee, sondern mit konkreten Personen oder einem Ereignis identifiziere), zweitens die Berufung auf eine vermeintlich gemeinsame und zugleich immer aktualisierte Vergangenheit und drittens das Beschwören von Zeichen und Werten, die es nachzuahmen gelte und die sich nur gemeinsam erreichen lassen – vor allem Einheit, Opferbereitschaft und Liebe zum Vaterland.22 Sowohl die Formensprache der Ravensbrücker Gedenkveranstaltungen als auch die in Ansprachen, Losungen und Gelöbnissen vermittelten Botschaften deuten darauf hin, daß, so die These, sich seit Anfang der fünfziger Jahre eine schrittweise Nationalisierung des Gedenkens vollzogen hat. Dieser Befund wird durch den internationalistischen Charakter vieler Gedenkveranstaltungen keineswegs konterkariert: Erstens stand die Anwesenheit ausländischer Delegationen einer extensiven deutschen Selbstthematisierung keinesfalls im Wege, sondern scheint eher noch Ansporn gewesen zu sein. Zweitens basiert Internationalität immer auch auf nationalen Codierungen insofern, als die Versammelten als Mitglieder nationaler Gemeinschaften angesprochen werden. Als internationale Gedenkfeiern wurden in Ravensbrück sowohl die Jahrestage der Befreiung als auch der Tag der Opfer des Faschismus, jeweils am zweiten Sonntag des September, gestaltet, und zwar vermehrt in den fünfziger und sechziger Jahren – ab 1970 offenbar nur noch alle fünf Jahre. Im Gegensatz dazu stehen Formen wie kleine Feierstunden wie beispielsweise anläßlich der Befreiungstage 1972, 1973 und 1979, die unter der Beteiligung von Mitgliedern des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer (KAW), der SED-Kreisleitung, der FDJ und einiger hundert Bewohner der Umgebung stattfanden. Bereits die erste Gedenkveranstaltung in Ravensbrück am 14. September 1948 war durch ein Raster mehr oder weniger formalisierter Ablaufformen geprägt, das mit Variationen auch in den folgenden Jahrzehnten beibehalten wurde. Zentraler Bestandteil dieses Verlaufmusters ist ein Zug, ein Schweigemarsch, eine Demonstration oder ähnliches. Bis zur Fertigstellung der Gedenkstättenanlage im Jahr 1959 begannen die Veranstaltungen stets mit einer Kundgebung auf dem Marktplatz Fürstenbergs, wo Reden gehalten, gesungen und Gelöbnisse abgelegt wurden; im Anschluß daran bewegte sich der Zug nach Ravensbrück, um dort Kränze nieder-
—————— 22 Vgl. François/Siegrist/Vogel 1995, S. 26f.
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zulegen. Nach der Eröffnung der Gedenkstätte erübrigte sich der Marktplatz als Kundgebungsstätte, weil die Gedenkstättenanlage selbst als Feierplatz gestaltet war. »Strukturen schaffen, in denen Abläufe einer Gedenkveranstaltung ablaufen können« – so beschrieb der Architekt Ludwig Deiters, Mitglied des für die Planung der Gedenkstättenanlage verantwortlichen Buchenwald-Kollektivs, die damalige Gestaltungsaufgabe.23 Der im Zentrum des Areals angelegte Kundgebungsplatz, seitlich von einer Rednertribüne flankiert, war für 15 000 Menschen konzipiert; die Kundgebungsplätze der »Nationalen Mahn- und Gedenkstätten« Buchenwald und Sachsenhausen für 20 000 beziehungsweise 10 000 Personen. Nationale Gedenkstätten als Kundgebungsplätze zu gestalten, war, wie wir gesehen haben, eine Praxis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wenn sich also seit 1959 die Veranstaltungen im wesentlichen auf den Gedenkstättenbereich beschränkten, wurden gleichwohl vor Beginn derselben seit 1955 Kränze am sowjetischen Ehrenmal in Fürstenberg niedergelegt; diese Form der Ehrung behielt man bis 1989 bei. Anläßlich des 32. Jahrestages der Befreiung 1977 wurde der Weg vom Fürstenberger Ehrenmal nach Ravensbrück um einen weiteren Ort der Ehrung ergänzt: Es handelt sich um einen sowjetischen Panzer, eine sogenannte Selbstfahrlafette, die anläßlich des 60. Jahrestages der Oktoberrevolution im Gedenkstätten-Vorbereich aufgesockelt wurde.24 Fortan passierten die Kundgebungsteilnehmer zwei sowjetische Ehrenmale, bevor sie die Gedenkstätte Ravensbrück erreichten. Mit diesem Modus der Ehrung wurde szenisch ein bestimmtes Deutungsmuster der Lagergeschichte manifestiert, indem diese Geschichte durch die Optik ihres Endpunktes, der Befreiung durch die Rote Armee, »nacherzählt« wurde. Im Marsch, im Demonstrations- oder auch Festumzug von einem Ort zum anderen treffen unterschiedliche Traditionslinien aufeinander: Erstens sind Analogien zu den »Massendemonstrationen« feststellbar, wie sie sich zunächst im Kontext 1848er-Revolution entwickelten und die um 1890 zunehmend den Charakter sogenannter »Kampfdemonstrationen« annahmen.25 Der für das Wilhelminische Reich symptomatische Militarismus wurde zu diesem Zeitpunkt fester Bestandteil auch der proletarischen Repräsentationsformen, indem sich die Demonstrationszüge
—————— 23 Mündliche Mitteilung von Ludwig Deiters in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück am 9.4.1998; vgl. auch Fibich 1999. 24 Vgl. Rat des Kreises Gransee, Protokoll über die Sitzung der Arbeitsgruppe »Panzerdenkmal« am 15.3.1977; Brandenburgisches Amt für Denkmalpflege NMG AB 9/83. 25 Vgl. Kaschuba 1991.
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zunehmend in Reihen und Blöcke gliederten. Eine zweite Entsprechung besteht zu den Begräbnisfeiern der Sozialdemokraten im Kaiserreich: Sowohl die Gedenkumzüge zur Ehrung der Märzgefallenen als auch die Begräbnisumzüge für verstorbene Genossen verbanden Formen der Totenehrung mit politischen Manifestationen, weshalb diese Umzüge von Zeitgenossen auch als »Beerdigungsparteiumzüge« diskreditiert wurden.26 Drittens erinnern bestimmte Festelemente an die deutschen Nationalfeste des 19. Jahrhunderts.27 Damals formierte sich der Umzug in der Regel vor dem Rathaus, auf dem Marktplatz, um sich zu einem außerhalb gelegenen Festplatz zu bewegen. Hier wurden, wie in Ravensbrück, vor einer Opferflamme Ansprachen gehalten, ein Gelöbnis oder ein Eid gesprochen und gemeinsam gesungen. Wie in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR wurden während des Umzuges Transparente mitgetragen, die Schuljugend bildete ein Spalier. Als Bestandteil der »nationalen Liturgik« (Mosse) waren solche Züge üblich nicht nur im Wilhelminismus und der Weimarer Republik, sondern auch im Dritten Reich – hier sei als ein Beispiel nur das Festprogramm des »Reichstrauertages« am 9. November 1935 in München genannt.28 Auch der 11. November, der in Frankreich an das Ende des Ersten Weltkrieges erinnert und der nach wie vor von großer nationaler Bedeutung ist, wird jährlich in zahllosen Französischen Gemeinden mit Prozessionen zu den örtlichen Ehrenmälern begangen.29 Am 50. Jahrestag der Befreiung in Ravensbrück zogen die Teilnehmer, nachdem die zentrale Veranstaltung auf dem Appellplatz im ehemaligen Lagerbereich beendet war – unorganisiert, doch gemeinsam – zur Skulptur »Tragende« am Ufer des Schwedtsees, um dort den Kranzniederlegungen beizuwohnen.
—————— 26 27 28 29
Vgl. Lüdtke 1991. Vgl. Düding 1988. Vgl. Behrenbeck 1996, S. 299ff. Die großen staatsoffiziellen Gedenkfeiern der Sowjetunion waren durch vergleichbare formensprachliche Elemente geprägt. Beispielsweise gab es anläßlich der Einweihung des Denkmalkomplexes auf dem Mamaj-Hügel in Volgograd am 15. Oktober 1967 eine Prozession, Fahnen, Transparente, Opferflammen und Tribünen; Militär und Schulklassen waren präsent, die sowjetische Hymne wurde gesungen. Von spezifisch sowjetischer Prägung ist das Mittragen von Portraits sozialistischer Führer, eine Praxis, die an das Mittragen von Ikonen in Prozessionen der russischen Orthodoxie erinnert, des weiteren die Ordensverleihungen im Kontext von Gedenkfeiern, die Ansprache eines Jugendlichen zwecks Erneuerung des Generationenvertrages und schließlich die extensive Thematisierung wirtschaftlicher und politischer Leistungen im Kontext der Feiern. Letztere Elemente sind vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren in der DDR adaptiert worden; vgl. Plaggenborg 1996, Danyel 1997 und Arnold 1998, S. 304ff.
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Ein weiteres Element nationaler Formensprache ist das Mitwirken militärischer Formationen an den Gedenkveranstaltungen.30 Einen paramilitärischen Charakter hatten die Kundgebungen bereits seit Anfang der fünfziger Jahre, als uniformierte Frauen der »Fahnendelegationen« des DFD sowie Angehörige der FDJ an den Kundgebungszügen mit eigenen Blocks beteiligt waren. Auch das zeremonielle Senken der Fahnen wie beispielsweise am 13. September 1952 ist eine militärische Geste der Ehrbezeigung. Das »Sencken der Fähnlein« hat das Reglement für die sächsische Garde im Jahr 1692 als Ehrbezeigung vor dem Kurfürsten vorgeschrieben; die Geste war seit der Wende zum 20. Jahrhundert auf Staatsoberhäupter und Trauerparaden beschränkt. Die Bundeswehr senkt ihre Fahnen heute anläßlich von Vereidigungen und Akten der Totenehrung.31
Abb. 12 40. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück am 30. April 1985. Angehörige der Sowjetarmee tragen Jungpioniere auf den Armen.
—————— 30 Vgl. Gibas/Gies/Jakoby/Müller 1999 sowie Vorsteher 1996. 31 Vgl. Stein 1984, S. 212f.
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Anläßlich des 10. Jahrestages der Befreiung 1955 wurde das Singen der Nationalhymne der DDR eingeführt.32 Darüber hinaus übernahmen jetzt erstmals sogenannte »Kampfgruppen« Ordnerdienste.33 Angehörige der Nationalen Volksarmee sowie der Sowjetarmee waren erstmals bei der Eröffnungsfeier der Gedenkstätte 1959 beteiligt; wie auch in den folgenden Jahren hielten sie eine gemeinsame Ehrenwache am sowjetischen Ehrenmal in Fürstenberg, ab 1977 kamen gemeinsame Ehrenwachen an dem bereits erwähnten »Panzerdenkmal« hinzu. Entsprechende Ehrenwachen wurden immer auch am Fuß des Mahnmals »Tragende« postiert,34 zusätzlich stellte die NVA Soldaten zum Tragen der Kränze ab, eine Aufgabe, die aber auch von den »Kampfgruppen« und von der FDJ übernommen wurde. Aufnahmen vom 40. Jahrestag der Befreiung 1985 zeigen in Reih und Glied postierte Angehörige der Sowjetarmee mit Jungen Pionieren auf den Armen. Daß »dumpfer Trommelwirbel« ertönte, wird in zeitgenössischen Texten über die Gedenkveranstaltungen in Ravensbrück immer wieder hervorgehoben. »Dumpf dröhnen Glockenschläge vom Turm. (...) Ehrfürchtig nehmen die Menschen Hüte und Mützen ab. In das Schweigen zwischen den Glockenschlägen fallen verhaltene militärische Kommandos. Die Einheiten der Volksarmee präsentieren das Gewehr.«35
Diese Beschreibung hat eine Feier anläßlich des 15. Jahrestages der Befreiung 1960 nicht in Ravensbrück, sondern in Buchenwald zum Gegenstand. Ich zitiere sie, um deutlich zu machen, daß das militärische Zeremoniell für die Veranstaltungen in den »Nationalen Mahn- und Gedenkstätten« Buchenwald und auch Sachsenhausen ungleich prägender war. Sei es, weil Buchenwald und Sachsenhausen in erster Linie Konzentrationslager für Männer waren, sei es, weil Ravensbrück eine geringere politische Bedeutung beigemessen wurde – die militärische Präsenz ging in Ravensbrück selten über die Ehrenwachen und Kranzträgereinheiten hinaus. Vereidigungen von Soldaten gab es zwar auch in Ravensbrück, sie waren aber nicht Bestandteil der Jahrestagsfeiern. Gleichwohl wurde, in verkleinertem Maßstab, das militärische Zeremoniell auch in Ravensbrück für notwendig erachtet. Vermutlich erfüllte es unterschiedliche Funktionen: Erstens sind Ehrenwachen nationale Zeichen der Ehrbezeigung, die in der
—————— 32 Vgl. Protokoll über die Besprechung mit verantwortlichen Kolleginnen des Deutschen Demokratischen Frauenbundes vom 25.3.1955; StBG/MGR RA I/4–3, Ordner 11. 33 Vgl. Wagner 1998. 34 Zu Entstehung, Formensprache und Rezeption dieses Mahnmals vgl. Lanwerd 1999. 35 Machtvolle Kundgebung in Buchenwald. Die Tat Nr. 16 vom 16.4.1960.
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Bundesrepublik beispielsweise ausländischen Staatsoberhäuptern zuteil werden, indem man Ehrenwachen vor ihren Residenzen postiert.36 Insofern kann man das Aufstellen von Ehrenwachen – als Nachfahren der einstigen Schloß- und Leibwachen – an Orten ehemaliger Konzentrationslager als eine Form der Nobilitierung der Toten lesen, mit der zugleich die Bedeutung, die diese Toten für die Nation haben, unterstrichen wird. Diese Lesart militärischer Ehrbezeigung als Anerkennung der Toten beziehungsweise der ihnen zugeschriebenen Leistungen hob beispielsweise Emmy Handke, ehemaliger Häftling von Ravensbrück, bei einer Vereidigung von Soldaten im November 1967 hervor: Die Vereidigung »auf der geweihten Erde von Ravensbrück« sei eine »Anerkennung und Würdigung des Kampfes« der Toten.37 Zweitens war das militärische Zeremoniell in den Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR Bestandteil der sogenannten Traditionspflege der Nationalen Volksarmee, die der »Willens- und Motivbildung der Armeeangehörigen im Sinne vorbildlicher militärischer Pflichterfüllung« diente.38 Hierzu gehörte die Pflege der Waffenbrüderschaftsbeziehungen der NVA zur Sowjetarmee, die auch in Ravensbrück durch das gemeinsame Auftreten demonstriert wurde. Dem dritten Punkt liegt die folgende Überlegung zugrunde: Wenn man die Ravensbrücker Gedenkveranstaltungen als Manifestationen einer Ordnung deutet, die in der DDR als idealtypisch, als das richtige soziale Muster galt, dann dokumentiert die Teilnahme militärischer Gruppen die Bedeutung, die ihnen im Rahmen dieser Gesellschaft zugeschrieben wurde. Vorgeführt wurde das Einvernehmen von bewaffneter Staatsgewalt und Gesellschaft. Insofern diente das militärische Zeremoniell in den Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR nicht nur der Nobilitierung der Toten und ist ebensowenig lediglich als ein Ausdruck der Traditionspflege der NVA zu verstehen. Die Präsenz der NVA als »Kernstück der Landesverteidigung der DDR« unterstrich die herausragende Bedeutung, die der Bereitschaft, »unseren sozialistischen Staat (...) vor allen Angriffen zu schützen«,39 zugeschrieben wurde. Diese schrittweise vollzogene Verknüpfung von Elementen einer national tradierten Formensprache (militärische Totenehrung, Aufmärsche, Gelöbnisse) mit einer extensiven und wiederholten Thematisierung nationaler Leistungen und Ver-
—————— 36 37 38 39
Vgl. Hartmann 1990, S. 229. Vereidigung in Ravensbrück, Zeitungsausriß; StGB/MGR RA I/3–5 XXX VII 18. Vgl. Traditionspflege, in: Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte 1985, S. 972f. Gelöbnis zur Immatrikulation am 3.9.1975 in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück; StGB/ MGR RA I/1–2 Nr. 12 Bl. 252.
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dienste am Ort eines ehemaligen Konzentrationslagers ist gemeint, wenn ich von einer Nationalisierung des Gedenkens spreche. Die nationale Formensprache der Ravensbrücker Gedenkveranstaltungen hat ihre Entsprechungen in den Argumentationsmustern zeitgenössischer Ansprachen und Gelöbnistexte. Die Exemplarität der Identifikationsfiguren, die Berufung auf eine gemeinsame Vergangenheit und das Beschwören gemeinsamer Ziele und Werte sind, es wurde bereits erwähnt, zentrale Merkmale des »nationalen Kultes«. Indem eine Gesellschaft oder Gruppe einen cult of new beginnings zelebriert, feiert sie sich als am Anfang einer neuen Ära stehend.40 So auch die DDR: Vor dem Hintergrund der »Nacht der faschistischen Barbarei« habe sie sich als ein Staat konstituiert, in dem »das Vermächtnis der Toten von Ravensbrück und die großen Ideen des antifaschistischen Freiheitskampfes Wirklichkeit geworden« seien, wie Rosa Thälmann in ihrer Weiherede anläßlich der Eröffnung der »Nationalen Mahn- und Gedenkstätte« Ravensbrück am 12. September 1959 formulierte.41 Die Metapher »vom Dunkel zum Licht« erinnert durchaus an nationalsozialistische Gedenkansprachen, mit dem Unterschied, daß damals der semantische Ort der »Nacht« mit »Weimarer Republik« besetzt war. Daß der gegenwärtige Staat das Vermächtnis der Toten erfüllt habe, ist eine weitere semantische Gemeinsamkeit der Gedenkansprachen im Nationalsozialismus und in der DDR.42 Eine populäre Form, den Topos des Nationalen zu propagieren, sind die Gelöbnisse, die Jugendliche sowohl im Kontext der Gedenkveranstaltungen als auch zu anderen Anlässen in der Gedenkstätte Ravensbrück ablegten. Auch diese Gelöbnistexte sind zumindest implizit nach dem Dreischritt: Benennung der Vorbilder – Rekurs auf gemeinsame Vergangenheit beziehungsweise Neuanfang – Beschwören gemeinsamer Ziele und Werte strukturiert. Darüber hinaus geben sie ein Beispiel der politischen Sprache der DDR, die sich – als eine Sprache der Gefühle, der Liebe und der Vereinigung – familialer Muster bediente.43 Als ein Beispiel soll ein »Gelöbnis der deutschen Jugend« skizziert werden, das anläßlich des 10. Jahrestages der Befreiung am 30. April 1955 in Ravensbrück abgelegt wurde. Im ersten Textabschnitt werden die Toten des Konzentrationslagers als »Frauen und Mütter« angesprochen und gewürdigt. Weiter heißt es:
—————— 40 Gillis 1994, S. 8. 41 Vgl. Rede von Rosa Thälmann zur Weihe der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte, in: Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer 1960, S. 17. 42 Vgl. Seite 99 in diesem Band. 43 Vgl. Wierling 1997.
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»Der Strom Eures Bluts floss jedoch nicht vergebens. Er vereinigte sich mit dem Blut der ruhmreichen Helden der Sowjetarmee, die unser Volk und die Völker Europas vom Joch des Hitlerfaschismus befreiten. Die Völker der Sowjetunion stehen heute neben uns als unsere besten, teuersten Freunde. Neben uns steht Ihr, Ihr tapferen Mütter, mahnend und stärkend.«44
Hier zeigt sich zum einen die Asymmetrie einer dichotomischen Geschlechterkonstruktion. Das Blut der Frauen wäre ohne die Vereinigung mit dem Blut der männlichen Helden vergebens geflossen. Es ist das Opfer der sowjetischen Helden, das dem Opfer der Frauen seine Vergeblichkeit nimmt. Im Unterschied zur Gedenkstätte Buchenwald, die das Bild einer männlich-aktiven Selbstbefreiung bewaffneter Häftlinge propagierte, wurde der Widerstand in Ravensbrück in das Bild fürsorglicher, karitativer Akte von Frauen gefaßt und entsprechend dargestellt.45 Das karitative, bestenfalls tapfere Handeln der Frauen, ihr Leiden und Sterben, wird dem Gelöbnistext zufolge erst durch das von den sowjetischen Helden erbrachte Opfer sinnvoll. Nur über diese Konstruktion konnte die Geschichte des Leidens im Frauen-KZ Ravensbrück als Geschichte des Sieges gedeutet werden. Darüber hinaus leugnet die Gegenüberstellung der ruhmreichen Helden und der tapferen Mütter die realen Umstände der Befreiung: Viele Frauen, auch ehemalige Häftlinge, fürchteten Vergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee. Beispielsweise berichtet Margarete Buber-Neumann, die sowohl in stalinistischen Lagern als auch in Ravensbrück inhaftiert war, daß sie bei ihrer Flucht »von Angst getrieben« war, »den Russen in die Hände zu fallen«.46 Zum anderen bemüht der Gelöbnistext das Bild einer Vereinigung des Blutes. Diese Vereinigungsmetaphorik ist bereits aus der römisch-katholischen Kirche bekannt: Während der Feier der Eucharistie nimmt der Gläubige das Blut und den Leib des Herren in sich auf und vollzieht auf diese Weise nicht nur eine Vereinigung mit Gott, sondern zugleich mit der teilnehmenden Gemeinde. Auch die Gemeinschaft der »deutschen Jugend« gründet sich auf einen Akt der Vereinigung: Was getrennt war, wächst zusammen, ist eine neue Einheit, das Unheil ist überwunden in dieser nun hergestellten Gemeinschaft. Die geschlechtsspezifische Dramaturgie, nach der der Tod der weiblichen Häftlinge erst durch das männliche Opder sowjetischer Soldaten sinnvoll wird, zeichnet nun auch das Selbstverständnis der »deutschen Jugend«: An ihrer einen Seite, brüderlich verbunden, die sowjetischen
—————— 44 Gelöbnis der Deutschen Jugend, Ravensbrück 30. April 1955; StGB/MGR RA I/4–3, Ordner 11, Bl. 229. 45 Vgl. Hoffmann-Curtius 1999. 46 Buber-Neumann 1993, S. 388; zu diesem Thema vgl. auch Withuis 2002.
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Freunde, an der anderen Seite die als Mütter angesprochenen Häftlinge Ravensbrücks, in der ihnen angemessenen Rolle, wie es heißt, »mahnend und stärkend«. Die Vereinigungsmetaphorik ist für die Konstitution des Nationalen von zentraler Bedeutung. Aus einem Bruch, einer Differenz wird qua Vereinigung ein neues Ganzes hergestellt. Als weiteres Beispiel sei eine Formulierung des Neuen Deutschland zur Gründung der SED zitiert: »Wie zwei große Flüsse vereinigten sich 1946 Kommunisten und Sozialdemokraten zu einem mächtigen Strom. Aus dieser Vereinigung erwuchs die Kraft, die die friedliche Zukunft unserer Nation sichert.«47 Die Nation bezieht hier ihre Legitimation aus einem Vereinigungsvorgang, der etwas Neues begründet. In dem zitierten Gelöbnistext erwächst aus dieser Vereinigung der deutschen Jugend eine Verpflichtung. Diese Verpflichtung, das eigentliche Gelöbnis, wird im dritten Textteil formuliert: In scheinbar kindlichem Sprachduktus verpflichten sich die Gelobenden, »den Kampf für Glück und Frieden noch entschlossener zu führen«, um mit der Formulierung zu enden: »und sind bereit, den Frieden und unser Leben siegreich zu verteidigen. Das geloben wir.« Quintessenz dieses und anderer Gelöbnisse ist in der Regel das Aussprechen der Bereitschaft zur Landesverteidigung. Das Opfer derer, die in den Lagern gestorben sind, verpflichtet dazu, dieses Opfer notfalls zu wiederholen. Um diese Bereitschaft bei Jugendlichen möglichst fest zu verankern, legten die Gedenkstätten Wert darauf, daß bei entsprechenden Verpflichtungen Überlebende zugegen waren: »Es beeindruckt die Jugendlichen noch viel tiefer, wenn sie diesen Schwur in Gegenwart ehemaliger Häftlinge sprechen.«48 Gelöbnisse und Vereidigungen an Stätten ehemaliger Konzentrationslager waren in der DDR verbreitete Praxis. Vereidigt wurden NVA-Soldaten, Volkspolizisten, Grenz- und Betriebskampfgruppen, Angehörige der paramilitärischen »Gesellschaft für Sport und Technik« und andere Gruppen. Jugendliche verpflichteten sich an diesen Stätten als »Soldaten auf Zeit«, Gelöbnisse gab es bei Immatrikulationen, Aufnahmen in die FDJ und ähnlichen Anlässen. Gelöbnisse und Eide als affektive Bekräftigungen einer Verpflichtung sind national tradiert. So gab es bereits im 19. Jahrhundert die Überlegung, Jugendliche durch ein Gelöbnis auf Kaiser und Reich zu verpflichten, und zwar als Element bei der Gestaltung des sogenannten »Sedan-Tages«, der seit 1871 jeweils am 2. September zur Erinnerung an die Schlacht bei Sedan im deutsch-französischen Krieg be-
—————— 47 Zit. nach Hans Mayer 1993, S. 18. 48 Schreiben der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte, gez. Heim, Direktor, an Emmy Handke vom 18.10.1967; StGB/MGR RA I/3–5 XXX VII 23.
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gangen wurde.49 Im Nationalsozialismus waren öffentliche Gelöbnisse beziehungsweise Bekenntnisse fester Bestandteil der nationalen Festkultur – ebenso wie in der Sowjetunion. Gelöbnisse als kollektiv ausgeführte Akte individueller Selbstverpflichtung können unterschiedlichen Adressaten gelten. Gleichwohl scheint ihre Form für nationale Repräsentationszwecke geeignet: In Deutschland haben sich ihrer ganz unterschiedliche politische Systeme bedient. Versuche der Bundesrepublik, die in der militärischen Tradition seit dem Mittelalter üblichen Gelöbnisse von Rekruten in die Öffentlichkeit zu verlegen, stießen jedoch lange Zeit auf heftige Kritik. Ein Beispiel ist der im Jahr 1957 vorgelegte Vorschlag des damaligen Heeres-Inspekteurs der Bundeswehr Rötinger, Rekrutenverpflichtungen künftig im Rahmen einer großen militärischen Feier ausschließlich am Jahrestag des 17. Juni 1953 durchzuführen; diese Idee wurde nicht einmal vom damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß gutgeheißen.50 Als im Jahr 1998 öffentlich die Option diskutiert wurde, Rekrutengelöbnisse an Stätten ehemaliger Konzentrationslager zu veranstalten, wurde dies von den Gedenkstättenleitern abgelehnt. Auf den ersten Blick vermitteln die Jahrestage in Ravensbrück den Eindruck, es habe sich um konfliktfreie, harmonische Feiern gehandelt. Dabei gibt es Hinweise darauf, daß die Veranstaltungen keineswegs immer unumstritten waren: An den Feiern des 30. Jahrestages der Befreiung 1975 hatten Vertreterinnen des niederländischen Comite Vrouwen van Ravensbrück teilgenommen. Ein von Liesbeth Snam in leicht gebrochenem Deutsch verfaßtes Schreiben bemängelt, daß die Ansprache des Regierungsvertreters Paul Verner »eine politische Propagandarede« gewesen sei: »Das schwedische Rote Kreuz, die Tausende Frauen befreit hat, ist mit keinem Wort erwähnt. Nur die Sowjetarmee hat man danke gesagt, obwohl sie reingekommen sind, war das Lager mehr wie halb leer.« Und weiter heißt es: »Ravensbrück gehört uns allen und auch andere wollen ihre(r) toten Kameradinnen an der Stelle gedenken.« Der schriftliche Kommentar Emmy Handkes, damalige Generalsekretärin des Internationalen Ravensbrück-Komitees, lautete lapidar: »Der Brief wird wegen seines provozierenden und verleumderischen Inhalts nicht beantwortet.«51
—————— 49 Vgl. Schellack 1988 und 1990 50 Vgl. Wolfrum 1999, S. 152. 51 Abschrift Comitee Vrowen von Ravensbrück an Frau Handke, Berlin vom 28.5.1975; StGB/MGR RA I/3–5 XXX V 82f. Die Akte enthält die Übersetzung eines Artikels mit dem Titel: »Nach der kommunistischen Gedenkfeier im Lager Ravensbrück zerbrochen zurück gekommen«, aus Het Parool vom 3.6.1975.
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Im Vorfeld des 25. Jahrestages der Befreiung 1970 war es die sowjetische Delegation, die den Veranstaltern Ärger bereitete. Zu ihr gehörte Boris Makarov, der nach der Befreiung Ravensbrücks die Funktion des Stadtkommandanten in Fürstenberg bekleidet hatte; für die Kundgebung des 25. Jahrestages war er als Sprecher vorgesehen. Nun hatte das Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer Probleme mit seinem Redemanuskript: »Kamerad Kling und die Kameradin Handke haben mit ihm eine Aussprache geführt, um ihm begreiflich zu machen, daß die Rede verändert werden müsse. Er benahm sich dabei sehr anmaßend und war mit unseren Vorschlägen absolut nicht einverstanden. Er beschimpfte z.B. die sowjetischen Frauen, ›sie hätten im Lager nicht gekämpft. Ein guter Sowjetbürger hätte sich nicht gefangennehmen lassen, er hätte sich erschossen usw.‹« Schließlich hat man Makarov doch noch dazu bringen können, sein Manuskript wunschgemäß zu korrigieren.52 Hier zeigt sich besonders deutlich, daß öffentliches Gedenken auf Ausgeschlossenem beruht: Wenn Akte des Gedenkens das Resultat einer Koordination der Erinnerungen sind, dann fanden niederländische Überlebende ihre Erinnerungen an Ravensbrück nicht berücksichtigt. Hingegen verweisen die erschreckenden Äußerungen Makarovs auf einen anderen Konflikt: auf die unüberbrückbare Kluft zwischen dem stalinistischen Umgang mit den sowjetischen Überlebenden der Konzentrationslager nach 1945 und dem Wunsch deutscher Linker, gerade sie als Heldinnen und Helden ehren zu wollen. Konflikte wie diese widersprechen den einheitsstiftenden Geschichtskonstruktionen, die in den Ansprachen der Gedenkveranstaltungen stets erneut festgeschrieben wurden. Konspiratives Agieren war notwendig, um zu verhindern, daß sie ans Licht der Öffentlichkeit gelangten.
Zur Demokratisierung des Gedenkens Seit Anfang der achtziger Jahre scheinen sich Inhalt und Formen des Gedenkens in der Gedenkstätte Ravensbrück schrittweise aufzufächern. Das betrifft zwar noch nicht die Jahrestage, deren Gestaltung zunächst noch an den kanonisierten Formen und Kernaussagen orientiert bleibt. Auch die »Ehrenappelle« der FDJ und die Im-
—————— 52 Vgl. Emmy Handke: Bericht der Arbeitsgruppe Ravensbrück über die Veranstaltungen zum 25. Jahrestag der Befreiung am 25. und 26. 4. 1970 vom 11.6.1970; StGB/MGR Verwaltungsarchiv.
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matrikulationsfeiern werden weitestgehend nach den tradierten Mustern gestaltet. Gleichwohl gibt es Inititativen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, die sich mit eigenen Interessen an die Gedenkstätte wenden. Vieles deutet darauf hin, daß Anfang der achtziger Jahre ein vorsichtiger Prozeß der Demokratisierung des Gedenkens einsetzte, der allerdings von staatlichen Repressionen begleitet war. Die Impulse, neue Formen des Gedenkens in Ravensbrück zu erproben, sind Ausdruck einer sich differenzierenden Erinnerung an die Lagergeschichte und auf drei Ebenen zu beobachten: Erstens treten seit Anfang der achtziger Jahre zunehmend unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen wie beispielsweise kirchliche Organisationen mit der Bitte an die Gedenkstätte heran, dort eigene Gedenkveranstaltungen abhalten zu dürfen. Aber auch seitens der SED werden neue Formen des Gedenkens organisiert wie beispielsweise die »Aktion Flamme der Befreiung« im Jahr 1985.53 Der anglisierende Begriff »Gedenkmeeting«, der bereits in den siebziger Jahren auftaucht, deutet an, daß man sich auch sprachlich um Innovationen bemüht. Drittens werden in der Gedenkstätte selbst Änderungen erwogen: die Einrichtung neuer Gedenkräume für bislang »vergessene« Verfolgtengruppen – »Juden und Zigeuner«, Zeugen Jehovas und andere – wird zumindest erörtert. Wenn es auch noch sieben weiterer Jahre bedurfte, bis anläßlich des 47. Jahrestages der Befreiung ein Gedenkraum für die Erinnerung an die jüdischen Häftlinge fertiggestellt war, so wurde doch 1988 erstmals in Ravensbrück eine Gedenkfeier für die jüdischen Verfolgten veranstaltet.54 Ein Novum war auch der OlofPalme-Friedensmarsch 1987, eine internationale Aktion, die unter dem Motto »Für einen atomwaffenfreien Korridor – für ein atomwaffenfreies Jahr 2000« stand. Diese ersten Versuche verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, neue Inhalte und Formen des Gedenkens in Ravensbrück zu realisieren, verliefen jedoch nicht ohne Repressionen. Die folgende Begebenheit ist durch Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR überliefert.55 Sie belegt die Verunsicherung, um nicht zu sagen, Panik, mit der man staatlicherseits auf diese neuen gesellschaftlichen Initiativen reagierte: Im Jahr 1986 wurde dem MfS »inoffiziell« bekannt, daß der »Personenzusammenschluß ›Lesben in der Kirche – Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe‹« der
—————— 53 Im Rahmen der »Aktion Flamme der Befreiung« sollte der Weg, den die Rote Armee durch Brandenburg genommen hatte, von einer Läuferstafette abgelaufen werden. 54 Vgl. Eschebach 2003. 55 Vgl. im folgenden: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) AST Potsdam AKG 510, Bl. 24–31.
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Gethsemane Gemeinde Berlin, Prenzlauer Berg, einen »Kranz mit Schleife« in Ravensbrück niederzulegen beabsichtigte. Dieser »Personenzusammenschluß« sei, so vermerken die Akten, dem MfS bereits während der Ravensbrücker Gedenkveranstaltung anläßlich des 40. Jahrestages der Befreiung »wegen ihres provokativen Verhaltens« aufgefallen. Für den 20. April 1986, den Tag der geplanten Kranzniederlegung, entwickelte das MfS den folgenden Plan: Zwecks »Kontrolle des relevanten Personenkreises« sollten »zwei Mitarbeiter, davon einer weiblich«, die Berliner Frauen bereits während der Zugfahrt nach Fürstenberg beobachten und identifizieren. Grundsätzlich galt, daß »zur Einschränkung öffentlich wirksamer Aktivitäten durch diesen Personenkreis (...) Konfrontationen zu vermeiden und keine administrativen Maßnahmen gegen diese Frauen durchzuführen« seien. In der Gedenkstätte Ravensbrück sollten folgende Dinge bereitgestellt werden: »Kränze bzw. Gebinde (...), die nach Abfahrt der Lesben aus Fürstenberg über den relevanten Kranz gelegt werden; ein Besucherbuch, das bereits bis auf wenige Seiten gefüllt ist. Sollte eine Eintragung durch die Lesben erfolgen, kann dieses Buch als beendet aus dem Verkehr gezogen werden.«
Für diejenigen, die das nationale Erbe als einen »heiligen Text« betrachten, kommt die Demokratisierung der Erinnerung einer Profanierung gleich.56 Offenbar stellte 1986 ein Kranz, dessen Schleife an die lesbischen Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück erinnerte, eine solche Profanierung dar; dem MfS oblag die Aufgabe, diesen Akt der Schändung rückgängig zu machen. Wenn man öffentliches Gedenken als ein Selbstverständigungsunternehmen sozialer Gruppen definiert, so wurde mit dem Verbergen des Kranzes zugleich die Existenz lesbischer Frauen in der DDR unsichtbar gemacht. Das Kontrollieren von Kranzschleifen in Gedenkstätten und auf Friedhöfen war indes keine Erfindung des Ministeriums für Staatssicherheit. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts zensierte die Preußische Polizei die Schleifen von Kränzen, die bei Gedenkfeiern auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain niedergelegt wurden. Auch in der Bundesrepublik kam es zu entsprechenden Maßnahmen: Wenige Tage nach der Eröffnung der Gedenkstätte Neuengamme am 7. November 1965 beschnitt die Hamburger Kriminalpolizei einen Kranz, den eine Delegation der »sowjetischen Besatzungszone« niedergelegt hatte. Hammer und Sichel auf einer Kranzschleife wurden damals als eine »Bedrohung der freiheitlich-demo-
—————— 56 Vgl. Gillis 1994, S. 19.
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kratischen Grundordnung« wahrgenommen.57 Stätten öffentlichen Gedenkens sind Orte gesellschaftlicher Artikulation und können deshalb von Polizei und Geheimdiensten als potentielle Gefahrenzonen betrachtet werden. Zugleich wird eine Eigentümlichkeit »heiliger Stätten« deutlich: Das Heil, welches der heilige Ort verbürgt, bezieht sich stets nur auf die eigene Gemeinschaft; nur in ihr ist es modellhaft verwirklicht. Gleichwohl wurde diese modellhaft verwirklichte, idealtypische Ordnung, die auch im Rahmen der Gedenkfeiern hergestellt und bestätigt wurde, immer wieder als potentiell bedroht angesehen: Explizit durch »Anschläge« von außen, durch einen möglichen »imperialistischen Angriff«; von den Gelöbnissen, das sozialistische Vaterland zu verteidigen, war bereits die Rede. Bedroht schien die Gemeinschaft zudem von innen: durch sogenannte »ständige Nichtwähler« und andere Minderheiten, wie die eben skizzierte Episode deutlich macht. Indem Sakralisierungsprozesse Normen festschreiben, die in einer Absolutheit begründet scheinen, werden zugleich Verwerfungsnormen produziert, ein stets »mitlaufender außerkanonischer Schatten«, der – in Ravensbrück sogar mit Hilfe eines staatlichen Geheimdienstes – abgewehrt und in die Unsichtbarkeit zurückgedrängt werden mußte. Auf diese Weise wurde denjenigen, die nicht Teil der sozialistischen Gemeinschaft der DDR sein sollten, zugleich der Zugang zur Geschichte Ravensbrücks verwehrt. Ein entsprechendes Votum formulierten ehemalige politische Häftlinge Ravensbrücks bereits im Jahr 1948: »Wir müssen bestrebt sein,« heißt es, »in unserer Organisation auf die größte Sauberkeit und Reinhaltung Wert zu legen, wir müssen gegen alle Elemente, die (...) nicht würdig sind, als wirkliche antifaschistische Widerstandskämpferinnen angesprochen zu werden, rücksichtslos vorgehen und sie aus unseren Reihen entfernen.«58 Diese »Elemente« wurden nicht nur aus den Häftlingslagergemeinschaften entfernt, sondern auch aus der Erinnerung. Sogenannte asoziale Häftlinge, Kriminelle, Prostituierte, Jüdinnen, Sinti und Roma, Zeuginnen Jehovas und viele andere mehr wurden zur ausgesparten Geschichte Ravensbrücks, bildeten die Kehrseite des Lagers, waren nicht gemeint, wenn vom Opfer der antifaschistischen Heldinnen die Rede war. So wie sich das Heil der »heiligen Stätte« nur auf die je eigene Gemeinschaft bezieht, sind nur die für das Selbstverständnis der eigenen Gemeinschaft relevanten Toten ehrungswürdig. Der anderen Toten zu gedenken, das heißt jener,
—————— 57 Lange 1996. 58 Tagung der zentralen Arbeitsgemeinschaft Ravensbrück in Berlin am 13.9.1948. Stenographische Mitschrift; StGB/MGR RA I/3–5 XXXVI 61–115, hier Bl. 40.
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die sich nicht einreihen lassen in die Genealogie einer Opfergeschichte, war in Ravensbrück lange Zeit nicht möglich. Im Frühjahr 1990, zur Zeit des 45. Jahrestages der Befreiung, war mit den gesellschaftspolitischen Brüchen und Veränderungen nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit zu einem unsicheren Terrain geworden. »Das volle Ausmaß und die Auswirkungen des laufenden revolutionären Umgestaltungsprozesses sind gegenwärtig noch nicht abzusehen«, lautet die Schlußbemerkung des Jahresberichtes der Gedenkstätte Ravensbrück, verfaßt im Februar 1990.59 Deutlich sichtbar wurden die Folgen der deutschen »Vereinigung« anläßlich der 45. Jahrestagsfeier im April. In den vergangenen Jahren oblag den Parteisekretären der Betriebe die Aufgabe, Werktätige zur Teilnahme an den Gedenkveranstaltungen aufzufordern. Die SED-Kreisleitung verschickte Vordrucke mit dem Satz: »Ziel ist, ... Werktätige Eures Betriebes für die Teilnahme zu gewinnen, davon mindestens ... Jugendliche.«60 Nach dem Fall der Mauer war eine solche Praxis der Mobilisierung nicht mehr möglich. Das mag einer der Gründe dafür sein, daß beim 45. Jahrestag der Befreiung in Ravensbrück nur wenige Personen zugegen waren. Statt der Lieder »Unsterbliche Opfer« und »Brüder zur Sonne« wurde jetzt das der christlichen Messe entlehnte »Dona Nobis Pacem« gesungen, ein Pfarrer intonierte ein jüdisches Lied auf der Gitarre. Eine improvisierte Ansprache hielt Edith Sparmann, ehemaliger Häftling des Frauenkonzentrationslagers; die PDS-Gruppe Gransee habe einen Kranz am Fuß der »Tragenden« niedergelegt, erinnern sich Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte.61 Die Jahrestage der Befreiung des Lagers 1991 und 1992 wurden mit Eröffnungen neuer Gedenkräume begangen: am 21. Juni 1991 des Gedenkraums »Der 20. Juli 1944 und das Frauen-KZ Ravensbrück« und am 30. April 1992 des Gedenkraums für die jüdischen Häftlinge. Diese Eröffnung neuer Räume mag man buchstäblich verstehen: Nachdem die Sprache des Gedenkens jahrzehntelang von nationalen Interessen geleitet war, wurden mit den neuen Gedenkräumen zugleich neue Wissensbestände zugänglich gemacht.
—————— 59 Nationale Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Erfüllung des Planes der Aufgaben und des Haushaltsplanes 1989 vom 14.2.1990; StGB/MGR Verwaltungsarchiv. 60 Vgl. Schreiben der SED-Kreisleitung Gransee an die Parteisekretäre der GO der SED, gez. H. Krabiel, Erster Sekretär der Kreisleitung vom 1.2.1985; StGB/MGR Verwaltungsarchiv. 61 Mündliche Mitteilungen der Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte Ravensbrück Christa Schulz und Monika Herzog am 28.5.1998 und 20.8.1998.
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Am ersten Januar 1993 wurde die Gedenkstätte Teil der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, der Begriff des Nationalen zuvor aus ihrem Namen genommen. In diesem Jahr wie in den folgenden wurden die Jahrestage der Befreiung auf noch einmal neue Weise begangen: Ehemalige Häftlinge des Frauenkonzentrationslagers trugen aus ihren Schriften vor. Nicht mehr einzelne Haftgruppen, sondern einzelne Menschen standen jetzt im Vordergrund. An die Stelle der Kollektivsingulare war jetzt das Individuum und sein Schicksal getreten. Das zeigt sich nicht nur an der Gestaltung der Jahrestage der Befreiung 1993 und 1994, sondern auch an den weiteren zahlreichen Lesungen ehemaliger Häftlinge, die in diesen Jahren veranstaltet wurden. Zur Feier des 50. Jahrestages der Befreiung im April 1995 hatten die Landesregierung Brandenburg und die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten über 3 000 ehemalige Häftlinge aus der ganzen Welt eingeladen. Die Begründung für diesen beispiellosen Akt nimmt gleichwohl einen Grundton des bekannten Musters nationaler Selbstthematisierung auf: »Die Gastgeber wollten, daß die ehemaligen Häftlinge einen möglichst objektiven Eindruck von unserem heutigen Deutschland erhalten; ein Bild von Deutschland und den Deutschen von 1995.«62 Die sich über vier Tage erstreckenden Veranstaltungen fanden an unterschiedlichen Orten Brandenburgs statt: in Sachsenhausen, Ravensbrück, im ehemaligen Zuchthaus Brandenburg-Görden, an den Stätten ehemaliger Nebenlager und in Berlin. Sowohl die Vielzahl der Veranstaltungen als auch ihr unterschiedlicher Charakter – Ausstellungseröffnungen, Gottesdienste, Filmvorführungen, Lesungen, Exkursionen, Gespräche, Kranzniederlegungen, Besichtigungen, Festessen, Führungen und eine Friedhofseinweihung – zeugen von der oben skizzierten Pluralisierung der Formen des Gedenkens. Bei den Feiern des 50. Jahrestages ging es nicht darum, ein Monopol der Vergangenheitsdeutung, die eine richtige Sicht auf die Geschichte der Lager, zu behaupten. Selbst noch im Rahmen einzelner Veranstaltungen standen unterschiedliche bis konträre Interpretationen der Geschichte unangefochten nebeneinander wie bei der zentralen Gedenkveranstaltung in Ravensbrück am 23. April 1995. Während beispielsweise die Rede Gertrud Müllers, ehemaliger Häftling und Vorsitzende der deutschen Lagergemeinschaft Ravensbrück, durch die Opposition Faschismus-Antifaschismus strukturiert war und mit dem Appell: »Unser Kampf gegen Faschismus und Krieg muß weitergehen« endete, ging es der Bundestags-
—————— 62 Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten o.J., S. 53.
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präsidentin Rita Süssmuth in erster Linie darum, »ein Zeichen (...) für Wahrheit und Versöhnung« zu setzen.63 Mit Jahrestagen wie mit »authentischen Orten« wird häufig die Vorstellung verknüpft, der Vergangenheit im Hier und Jetzt auf besondere Weise teilhaftig zu sein. Dabei verfolgt die Vergegenwärtigung des Vergangenen im Gedenken immer auch das Ziel, Lehren aus dieser Geschichte abzuleiten, Direktiven für Gegenwart und Zukunft, ein »Vermächtnis« der Toten zu formulieren – so, als wäre der »ungelöste Knoten«, den, wie Ruth Klüger bemerkt, ein so tabuverletztendes Ereignis wie Massenmord hinterlassen hat, das »unerlöste Gespenst«64 auf diese Weise zu beschwichtigen. »Ständige Bereitschaft zur militärischen Verteidigung des Friedens«, war die Lehre, die Kurt Hager, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, aus der Geschichte Ravensbrücks in seiner Rede zum 40. Jahrestag der Befreiung zog.65 »Zieht Euch nicht in die Nischen der unauffälligen Anpassung zurück,« lautete zehn Jahre später die Botschaft Rita Süssmuths. Am Anfang stand die Frage, inwieweit die Formen und Funktionen der jährlichen Gedenkveranstaltungen in Ravensbrück durch die gesellschaftspolitischen Verfaßtheiten der deutschen Nachkriegsgeschichte geprägt sind. In der Tat ist die Sprache des Gedenkens Ausdruck gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozesse; insofern sind Gedenkveranstaltungen für die verschiedenen Kapitel der Nachkriegsgeschichte symptomatisch. Gleichwohl gibt es Traditionslinien, die die politischen Wechsel 1949 und 1989/90 überdauert haben. Umgekehrt haben sich aufgrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Initiativen seit Anfang der achtziger Jahre Formen und Funktionen von Gedenkveranstaltungen verändert, ohne von einem Systemwechsel begleitet zu sein. 1. Die ersten Jahrestage der Befreiung der Konzentrationslager und der internationale Tag der Opfer des Faschismus sind in erster Linie von ehemaligen Häftlingen beziehungsweise von ihren Verbänden organisiert worden. Darüber, welche Bedeutung diese ersten – wie auch die folgenden – Veranstaltungen für ehemalige Häftlinge hatte, läßt sich an dieser Stelle nur folgendes vermuten: Für viele von ihnen war damit eine Form der Ehrung, Anerkennung und Würdigung ihrer per-
—————— 63 Die zitierten Ansprachen sind veröffentlicht in: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg 1996, S. 65–67 sowie S. 70–74. 64 Klüger 1992, S. 70. 65 Rede von Kurt Hager, in: Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer 1985, S. 7–19.
JAHRESTAGE
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BEFREIUNG: GEDENKFEIERN
IN
RAVENSBRÜCK 1946–1995
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sönlichen Leiderfahrung verbunden. Hinzu aber kam von Anfang an der Kundgebungscharakter der Veranstaltungen. Neben der Aufklärung der Bevölkerung über die nationalsozialistischen Verbrechen ging es den deutschen aus politischen Gründen Verfolgten um das Bild eines neuen, eines besseren Deutschland, das einerseits sie selbst, die ehemaligen Häftlinge, repräsentierten. Andererseits sollten die Gedenkveranstaltungen unter Beweis stellen, daß in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR dieses neue Deutschland Realität geworden sei. 2. Bilder eines gewandelten, eines neuen Deutschland gegenüber dem In- und Ausland zu manifestieren, scheint seit Anfang der fünfziger Jahre eine geradezu zentrale Funktion der Gedenkveranstaltungen gewesen zu sein. Nicht nur die Kernaussagen der Losungen und Ansprachen belegen diesen Hang zu einer extensiven und wiederholten Thematisierung nationaler Leistungen und Verdienste, auch die Formen der Veranstaltungen, das militärische Zeremoniell, die Aufmärsche und Gelöbnisse sind fester Bestandteil der tradierten nationalen Festkultur. Der Wunsch, im Rahmen der Gedenkveranstaltungen den Vorbildcharakter des »neuen Deutschland« zu propagieren, wurde aber noch Anfang der fünfziger Jahre von der Bevölkerung nicht ohne weiters geteilt: »In den vergangenen Jahren mußte festgestellt werden, daß sich die Fürstenberger Einwohner nur zu einem geringen Teil an der Kundgebung und Demonstration beteiligt haben,« heißt es 1952 in einem Sitzungsprotokoll des für die Veranstaltungen mitverantwortlichen Demokratischen Frauenbundes Deutschland.66 Eine »breite Aufklärungsarbeit« sollte für Abhilfe sorgen. Das Ausmaß der außenpolitischen Bedeutung der Gedenkveranstaltungen zeigt sich nicht zuletzt in den achtziger Jahren, als unterschiedliche gesellschaftliche Initiativen auf neue und andere Gedenkveranstaltungen drängen. Eine Korrektur des etablierten Erinnerungsprogrammes, das eine Würdigung der in Ravensbrück inhaftierten Jüdinnen und Juden und der Sinti und Roma nicht vorsah, wurde zunächst nur erwogen, um »außenpolitische Probleme« zu vermeiden. Darüber hinaus sind in diesem letzten Jahrzehnt der DDR Parallelentwicklungen zur Bundesrepublik zu beobachten: Die erste Veranstaltung in Ravensbrück, die dem Gedenken der ermordeten Juden gewidmet war, fand anläßlich des 50. Jahrestages der Progromnacht 1988 statt. Dieser Jahrestag wurde auch in der Bundesrepublik mit schätzungsweise über 10 000 Gedenkakten begangen.
—————— 66 Protokoll über die zweite vorbereitende Sitzung des Arbeitsauschusses für das Frauentreffen in Ravensbrück am 13. September 1952; Landkreis Oberhavel, Kreis- und Verwaltungsarchiv, Rat der Stadt Fürstenberg Nr. 026.
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3. Seit Anfang der achtziger Jahre hat sich in den Gedenkveranstaltungen Ravensbrücks eine Tendenz durchgesetzt, die man als eine »Demokratisierung der Erinnerung« beschreiben kann und die mit einer »Demokratisierung der Vergangenheit« 67 einhergeht: Die Vergangenheit wird neu »gelesen«, bislang verschwiegene Kapitel des Geschehens werden aus dem Abseits des Vergessens zurückgeholt. Damit verbunden ist eine Funktionsverschiebung der Veranstaltungen, insofern als die Erinnerung an die Ermordeten zunehmend durch das soziale, religiöse, politische Selbstverständnis der unterschiedlichen Gruppen geprägt ist. Das Interesse gilt dabei weniger den nationalen Kollektiven als vielmehr dem Schicksal einzelner Häftlinge und den unterschiedlichen Haftgruppen. Hinzu kommt das wachsende Engagement religiöser Gruppen in Ravensbrück. KZ-Gedenkstätten, denen früher die Aufgabe oblag, eine einzige Deutung der Vergangenheit zu propagieren, werden jetzt als zivile Stätten gebraucht, an denen Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen Erinnerungen an dieselben Ereignisse miteinander kommunizieren; auch deshalb sind Orte wie Ravensbrück für Demokratisierungsprozesse von zentraler Bedeutung.
—————— 67 Vgl. Gillis 1994, S. 19.
VI Christliche Symbolisierungen an Orten ehemaliger Konzentrationslager
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung der Konzentrationslager 1945 waren in den drei westlichen Besatzungszonen und der späteren Bundesrepublik religiöse Deutungsmuster des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen durchaus populär. Das Dritte Reich galt als eine »Welt ohne Gott« und wurde als Resultat der Säkularisierung beziehungsweise der modernen »Abfallbewegung« interpretiert: Bücher über den Nationalsozialismus mit sprechenden Titeln wie Das Jahrhundert ohne Gott1 oder Der große Abfall 2 erfuhren mehrere Auflagen.3 Vor dem Hintergrund dieser Diagnosen lag das Programm, das aus der Katastrophe herausführen sollte, auf der Hand: die Rechristianisierung der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die weitgehende »Christianisierung«4 der westdeutschen Gedenkstätten kann man als einen Ausdruck der Popularität dieses religiösen Deutungsmusters beschreiben. Die Praxis, Orte ehemaliger Konzentrationslager mit christlichen Symbolisierungen zu besetzen, begann früh: In Flossenbürg wurde 1946 bis 1948 die Sühnekapelle »Jesus im Kerker« errichtet. In Dachau wurde im Dezember 1945 die auf dem ehemaligen Appellplatz gebaute »Heilig-Kreuz-Kirche« geweiht,5 die durch die 1960 errichtete Wallfahrtskapelle »Todesangst Christi« ersetzt worden ist. Im Jahr 1964 wurde der »Karmel Heilig Blut Dachau« geweiht, der sich in der Achse von Lagerstraße und Kapelle südlich am zentralen Wachturm anschließt; 1967 wur-
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Müller-Armack 1948. Künneth 1947. Vgl. Eschebach und Lanwerd 2000. Vgl. Mussmann 2001, S. 20. Vgl. Detlef Hoffmann 1998b, S. 43. Hoffmann zufolge wurde diese von inhaftierten ehemaligen SSMitgliedern gebaute Kirche am 28.12.1945 von Kardinal Michael Faulhaber geweiht; nach Marcuse wurde der Bau der Kirche im November 1945 begonnen und im Frühjahr 1946 geweiht; vgl. Marcuse 2001, S. 223.
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den ein evangelischer Kirchenbau westlich und eine jüdische Gedenkstätte östlich der »Todesangst-Christi-Kapelle« errichtet. In der Ortschaft Bergen wurde 1961 kurz nach dem Mauerbau die »Sühnekirche vom kostbaren Blut« geweiht, nachdem dort bereits 1948 die Kapelle »Zum unbefleckten Herzen Mariä« errichtet worden war. Im Jahr 1963 ist, unweit des Gefängnisses Plötzensee in Berlin, die Kirche »Maria Regina Martyrium« geweiht worden, und zwar als »Gedächtniskirche der deutschen Katholiken zu Ehren der Blutzeugen für Glaubens- und Gewissensfreiheit aus den Jahren 1933–1945«. Der christliche Erinnerungsimperativ hat ein Repertoire von Zeichen und Ritualen hervorgebracht, das sich für Thematisierungen des Nationalsozialismus als überaus geeignet erwiesen hat: Nicht nur die Erinnerungspraxis kirchlicher Gemeinschaften, sondern auch die Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland hat sich stets erneut christlicher Zeichen und Symbole bedient. Als Stichworte seien an dieser Stelle nur die in Bonn 1983 diskutierte Errichtung einer »Nationalen Gedenkstätte für die Kriegstoten des deutschen Volkes« genannt, die in Form einer überdimensionierten Dornenkrone realisiert werden sollte, oder auch die 1993 eröffnete »Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland« in Berlin mit Käthe Kollwitz’ vergrößerter Skulptur »Mutter mit totem Sohn«, die gemeinhin als Pietà bezeichnet wird. Was aber prädestiniert die christliche Erinnerungspraxis dazu, Deutungsmuster nun gerade für den Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen bereitstellen zu können? Geertz’ These, religiöse Deutungsmuster seien sowohl »Modelle von etwas« als auch »Modelle für etwas«,6 könnte sich in diesem Zusammenhang als hilfreich erweisen. Wenn es im liturgischen Gedenken darum geht, das überlieferte Handeln Gottes am Menschen heilswirksam zu vergegenwärtigen, dann gilt eben dieses religiöse Narrativ – und nicht etwa die Einsicht in Bedingungen und Möglichkeiten historischer Prozesse – als die Matrix, die spezifischen geschichtlichen Ereignissen ihre Bedeutung und Relevanz verleiht. Religiöse Narrative stiften Modelle von »Wirklichkeit«, die zugleich dazu dienen, den historischen Stoff zu ordnen und zu vereindeutigen. Als ein solches Modell kann man beispielsweise den Kreuzweg bezeichnen: das im Katholizismus als fromm betrachtete Nachschreiten des Leidensweges Christi vom Haus des Pilatus bis zum Heiligen Grab. Kreuzwege, die als zusammenhängende Passionswege mit Andacht in Europa seit dem 15. Jahrhundert nachweisbar
—————— 6 Geertz 1999, S. 52; vgl. Seite 86 in diesem Band.
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sind,7 wurden im 20. Jahrhundert vermehrt nach dem jeweiligen Ende der beiden Weltkriege angelegt. Nach der deutschen Vereinigung ist diese Form christlichen Gedenkens auch in ostdeutschen KZ-Gedenkstätten zu beobachten. Von zentraler Bedeutung für die Kreuzwegkonzeption ist der Gedanke der imitatio Christi, der als Ideal christlicher Lebensführung auf Matth. 16.26 gründet.8 Gerade dort, wo es nach den Massentötungen im 20. Jahrhundert immer wieder darum ging und gehen mußte, einen Umgang mit unerträglichen Leiderfahrungen zu finden, scheint der Gedanke der imitatio Christi besonders geeignet, Schmerz, Leid und Verlusterfahrungen erträglicher werden zu lassen. Dabei verfährt die im christlichen Gedenken vollzogene Reduktion der Geschichte der Konzentrationslager zu einem bloßen Bestandteil einer gleichsam unendlichen Opfergeschichte scheinbar unpolitisch – aber eben doch nur scheinbar. Die Praxis religiösen Gedenkens an Stätten ehemaliger Konzentrationslager hat sich immer wieder mit explizit politischen Interessen verbunden.
Abb. 13 Kreuzweg in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, veranstaltet von der Gemeinde St. Marien, Bergedorf am Palmsonntag 2004; im Bildvordergrund der frühere Standort des Krematoriums. Foto: A. Ehresmann.
—————— 7 Vgl. Wiesinger 1960, S. 53f. 8 »Da sprach Jesus zu seinen Jüngern: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.« Matth. 16.24.
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Im folgenden geht es zunächst um Beispiele einer religiösen Adaption der Stätten ehemaliger Konzentrationslager, die in den drei Westzonen häufig schon unmittelbar nach deren Befreiung einsetzte. Beispielsweise gingen die ersten Gedenkzeichen, die nach der Befreiung Dachaus im April 1945 überhaupt auf dem Areal errichtet wurden, auf die Initiative polnischer Katholiken zurück: Auf dem Appellplatz errichteten sie ein mindestens 10 Meter hohes Holzkreuz.9 Religiöse Bauten wie auch religiöse Praktiken des Gedenkens, unter denen das Gebet die gleichsam »höchste Form« darstellt,10 wurden von unterschiedlichen Gruppen und Individuen initiiert, seien es die Überlebenden des jeweiligen Lagers, seien es christliche Organisationen oder kirchliche Repräsentanten. Etwas anders liegt der Fall in den drei großen ostdeutschen Gedenkstätten, deren Sprache des Gedenkens Jahrzehnte lang durch das staatspolitische Geschichtsbild der Deutschen Demokratischen Republik geprägt war.11 Gleichwohl setzte in den achtziger Jahren ein behutsamer Prozeß der Demokratisierung ein, in dessen Rahmen auch kirchlich organisierte Gruppen ein zunehmendes Interesse an der Geschichte der Konzentrationslager entwickelten. Die häufig aus der Friedensbewegung beziehungsweise aus der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung stammenden Mitglieder dieser Gruppen, die sich unter dem Dach protestantischer Kirchen zusammen gefunden hatten, suchten nun ihrerseits, die Sprache religiösen Gedenkens mit politischen Forderungen zu verknüpfen. Welch unterschiedliche Motive, auch gerade in politischer Hinsicht, diesen Initiativen auch zugrunde gelegen haben mögen – fest steht, daß christliche Deutungsmuster die NS-Verbrechen gewissermaßen entkonkretisieren und enthistorisieren. Wo historische Ereignisse als Manifestationen eines göttlichen Plans gedeutet werden, gerät das historische Geschehen zu einem Anlaß für Akte einer Vergegenwärtigung des Heils, um das es eigentlich geht.
—————— 9 Vgl. Marcuse 2001, S. 223. 10 Marcuse 2001, S. 238. 11 Vgl. Kapitel V in diesem Band.
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Religiöse Sprachen des Gedenkens I: Westdeutsche KZ-Gedenkstätten in der frühen Nachkriegszeit Im Mai oder Juni 1945 versuchten zwei katholische Priester, Otto Pies und Friedrich Pflanzelt, US-General Patton von dem folgenden Plan zu überzeugen: Das Krematorium im soeben befreiten Konzentrationslager Dachau sollte in ein Kloster verwandelt werden. Der Bau, der auf einer zweiten Ebene oberhalb der Krematoriumsöfen zu errichten sei, hätte den Namen »Ewige Anbetung« tragen sollen. Als Modell dieses Vorhabens dienten christliche Kirchenbauten wie beispielsweise die Grabeskirche in Jerusalem oder die Petrus Kathedrale in Rom, die sich oberhalb einer Krypta beziehungsweise einer Unterkirche erheben. Im Fall des Dachauer Projektes, das bekanntlich nicht realisiert wurde, wäre dem Krematorium des Lagers die Funktion des Legitimation stiftenden Grabes und Heiligtums zugekommen.12 Anders verhält es sich mit der bereits erwähnten Sühnekapelle »Jesus im Kerker« in Flossenbürg, die aus den Steinen abgerissener Wachtürme in unmittelbarer Nähe zum Krematorium errichtet wurde.13 Eine dort angebrachte Inschrift erläutert diese Ortswahl folgendermaßen: »An diesem Platz, an dem Bürger von 22 Nationen starben, wurde die Kapelle ›Jesus im Kerker‹ (...) errichtet.« Und weiter heißt es: »In dieser Kapelle soll an Stelle von Haß und Rache – Liebe und Völkerverständigung aller bekundet werden.«14 Dem nicht gebauten Kloster »Ewige Anbetung« in Dachau15 wie der Sühnekirche in Flossenbürg ist die Absicht gemein, Relikte des Vergangenen in Zeichen des Triumphes der Gegenwart zu transformieren. Nun ist ein solches Vorgehen keineswegs nur ein Ausdruck religiöser Praxis. Ähnlich ist man in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik mit den baulichen Überresten der Lager Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen verfahren.16 Schon in der Französischen Revolution wurden nach dem Sturm auf die Bastille Steine dieses Baus genutzt, um daraus »Votivbilder der Freiheit« herzustellen; aus den Ketten und Fußeisen des berüchtigten Gefängnisses hat man Gedenkmünzen
—————— 12 13 14 15
Vgl. Marcuse 2001, S. 221f. Vgl. dazu Skriebeleit 2003. Vgl. Puvogel 1995, S. 137. Gebaut wurde indes ein Karmelitinnenkloster, das im Jahr 1964 als »Karmel Heilig Blut« geweiht wurde. Der Bau befindet sich in der Achse von Lagerstraße und Kapelle südlich des zentralen Wachturms. 16 Vgl. Knigge 1998, Eschebach, Jacobeit, Lanwerd 1999, Morsch 1996b.
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geprägt.17 Hinzu kommt, daß in der ersten Nachkriegszeit Orte ehemaliger Konzentrationslager in Deutschland ohnehin nicht als erhaltenswert betrachtet wurden. Die Relikte sollten verschwinden beziehungsweise umgewidmet und umgenutzt werden; Teilbereiche der Lager sollten als würdige Orte, als Friedhof oder Heldenhain gestaltet werden. Gleichwohl ging es bei dem in Dachau geplanten Klosterbau ebenso wie im Fall der Sühnekapelle in Flossenbürg um die Transformation historischer Relikte in »Beweisstücke« einer religiösen Deutung von Geschichte. »An Stelle«, wie es in der zitierten Inschrift heißt, an eben genau diese Stelle des Todes wird jetzt eine Manifestation des Heils gesetzt. Das Einverleiben der Stätte des Schreckens in die Ökonomie des Heils manifestiert auch die »Christusdarstellung mit geschlagenem Häftling« oberhalb des Altars der Sühnekapelle »Jesus im Kerker«18: Jesus selbst war im Kerker, im KZ präsent, sagt diese Darstellung, womit die NS-Verbrechen in das Schema: Kreuz – Auferstehung – Parusie eingefügt sind und als Ausweis und Beleg heilsgeschichtlicher Ereignisse gedeutet werden können. Auch in Bergen-Belsen stand offenbar in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Bau einer Kapelle zur Debatte; zumindest geht dies aus einem Schreiben des Vorsitzenden des Zentralkomitees der befreiten Juden in der Britischen Besatzungszone vom 28.9.1949 hervor. Das Vorhaben, eine Kapelle auf dem ehemaligen Lagergelände zu errichten, sei jedoch, wie es in dem Schreiben heißt, »von uns aus mit Entschiedenheit abgewiesen« worden.19 Nun gab es zu diesem Zeitpunkt bereits eine Kapelle in der Ortschaft Bergen, die 1948 mit dem Namen »Zum unbefleckten Herzen Mariä« geweiht worden war. Errichtet wurde sie aus dem Material einer Pferdestallbaracke des nahegelegenen Truppenübungsplatzes der Wehrmacht.20 Mit dem Bau des Truppenübungsplatzes und dann erneut mit dem Strom der Vertriebenen und Ostflüchtlinge waren zunehmend Katholiken in diese vorwiegend von Protestanten bewohnte Gegend gekommen. Doch war die Nähe des bekannten ehemaligen Konzentrationslagers keineswegs der Grund für die Errichtung dieses Baus: Der Text der im Grundstein
—————— 17 Reichardt 1999, S. 235. 18 Eine Abbildung der Christusdarstellung befindet sich in Matz 1993, S. 124. 19 Vgl. Schreiben von Josef Rosensaft, Vorsitzender des Zentralkomitees der befreiten Juden in der Britischen Besatzungszone, an den Jüdischen Weltkongreß, betr. Die Errichtung der Gedenkstätte und die Trägerschaft, 28. 9. 1949, in: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung 1995, S. 246f. Herbert Obenaus danke ich für den Hinweis auf dieses Dokument. 20 Vgl. 25 Jahre Sühnekirche vom kostbaren Blut, Bergen. Eine Gedenkschrift. 1986, o.O., S. 4f.
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eingemauerten Urkunde erwähnt zwar den »größten aller bisherigen Kriege, der unser Vaterland (...) vernichtete«, nicht aber die Nähe des Lagers Bergen-Belsen.21 Das änderte sich, als im Jahr 1957 der Bischofsstuhl von Hildesheim mit Heinrich Maria Janssen neu besetzt wurde. Aufgrund seiner Initiative wurde am 17. Juni 1960 – das Datum ist nicht zufällig – der Grundstein für die »Sühnekirche vom kostbaren Blut« in Bergen gelegt; geweiht wurde die Kirche 1961, wenige Monate nach dem Mauerbau. Wie aus der Urkunde des Grundsteins hervorgeht, sollte dieser Bau »als Sühne gegen alles Unrecht, das nicht nur in Belsen, sondern überall in der Welt geschehen ist«, errichtet werden. Die Kirche sollte dienen als »Ort des immerwährenden Sühneopfers für alle Schuld von damals, von heute und morgen«.22 Dieser Kirchenbau ist im Unterschied zu der Bergener Kapelle »Zum unbefleckten Herzen Mariä« explizit an der Geschichte des Lagers Bergen-Belsen orientiert: Bereits der Grundriß gleicht einer Kelchschale, die sich in Richtung auf den etwa acht Kilometer entfernten Lagerbereich öffnet, und zwar, wie Janssen schreibt, »um gleichsam alles aufzunehmen und zum Altar zu tragen, was an Leid und Schuld von Bergen-Belsen kam«.23 Verweise auf das ehemalige Konzentrationslager werden auch in der Gestaltung des Altars deutlich, der »an die Massengräber auf dem Lagergelände (...) erinnern soll«,24 sowie in der Darstellung des Leidensweges Christi auf dem Kreuzwegband: Bilder von leidenden und sterbenden Menschen im KZ Bergen-Belsen dienten dem Künstler Joseph Hauke als Vorlage für seine Kreuzwegdarstellung.25 »Hier« – in Bergen-Belsen – »ist der Kreuzweg unseres Herrn fortgesetzt worden,« schreibt Bischof Janssen. »Dieses Leid darf nicht vergebens gewesen sein. Auch daran haben wir eine Aufgabe. Wir müssen es in Verbindung bringen mit Christi Leid und Leiden.«26 In dieser programmatischen Formulierung – wir müssen das Leid der Häftlinge mit dem Leiden Christi in Verbindung bringen – wird das zentrale Anliegen des Sühnekonzeptes deutlich, das die katholische Perspektive auf die Stätten ehemaliger Konzentrationslager noch bis in die achtziger Jahre prägt. Dieses Konzept basiert
—————— 21 Zit. nach Kotowski 1991, S. 38. 22 Zit. nach Kotowski 1991, S. 43. 23 Bischof Janssen: Unbewältigte Vergangenheit. Gedanken zum Bau der Kirche »Vom kostbaren Blut« in Bergen-Belsen. Das Wort vom 12.6.60, zit. nach. Kotowski 1991, S. 41. 24 Vgl. 25 Jahre Sühnekirche, S. 15. 25 Kotowski 1991, S. 45. 26 Bischof Janssen, Ansprache anläßlich der Grundsteinlegung der Sühnekirche in Bergen am 17.6.1960, zit. nach Kotowski, 1991, S. 42.
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auf folgenden Annahmen: Das Opfer Christi ist Sühneopfer für unsere Sünden. Wenn dieses Opfer mit dem Leiden der Häftlinge »in Verbindung gebracht« wird, stehen die Häftlinge in einem Christus-analogen Status, ihre Gefangenschaft in den Lagern der SS wird als Akt einer imitatio Christi aufgefaßt. Weitergedacht folgt daraus, daß die Häftlinge ebenso wie Christus für unsere Sünden geopfert worden sind. Hinzu kommt ein zweites: Die Sühnekapelle ruft die Gläubigen dazu auf, ihrerseits zu sühnen, und zwar stellvertretend für die »direkt schuldig Gewordenen«.27 Auf diese Weise ergibt sich eine zweite Analogie, jetzt aber zwischen den Gläubigen – den aktuell Sühne Leistenden – und den Häftlingen des KZ, die ihrerseits ein Sühneopfer erbracht haben. Was in dieser Opferlogik deutlich wird, ist ein beispielloser christlicher Triumphalismus: Die Häftlinge, und damit auch die jüdischen Häftlinge, werden zu »christlich Leidenden ehrenhalber« gemacht,28 und die deutschen Katholiken, auch die Gläubigen selbst, befinden sich jetzt in einem, den Häftlingen analogen Status. Es sei jedoch an dieser Stelle darauf verwiesen, daß diese Sühnetheologie, die sich in den hier diskutierten religiösen Bauten in Bergen, Flossenbürg und Dachau manifestiert, dem damaligen Stand der theologischen Forschung entsprach. Das Sühnekonzept ist seit den siebziger Jahren durch eine »Theologie nach Auschwitz« – in der akademischen Theologie durch Johann Baptist Metz und Jürgen Moltmann – schrittweise ersetzt worden. Religion als ein kulturelles System ist immer auch bestimmt von der Gesellschaft und ihrer Geschichte, deren Teil sie ist. Insofern ist die Geschichte christlicher Symbolisierungen an Orten ehemaliger Konzentrationslager keine autonome Geschichte, die mit der »weltlichen Ordnung« nichts zu tun hätte. Vielmehr zeigt sich, daß in den religiösen Besetzungen dieser Stätten verbreitete gesellschaftliche beziehungsweise politische Interessen wirksam werden. Wie bereits oben erwähnt, wurde der Grundstein der Sühnekirche in Bergen am 17. Juni 1960 gelegt: Man hatte dieses Datum gewählt, um an den »Freiheitsaufstand der Deutschen in der Ostzone« zu erinnern.29 Im Rahmen des 79. Katholikentages 1962 wurde die Sühnekirche in Bergen in das Veranstaltungsprogramm einbezogen. In einem zeitgenössischen Kommentar heißt es: »Dort, wo der Name des Ortes schon an die tiefste menschliche Erniedrigung erinnert und wo an klaren Tagen das Land jenseits des Todesstreifens sichtbar wird«, beteten etwa 1 000 Jugendliche »um die Einheit im Glauben,
—————— 27 Pastor Bernhard, seit dem 8.11.1955 Seelsorger in Bergen, zit. nach 25 Jahre Sühnekirche, S. 6f. 28 Thomas Idiopulos, zit. nach Petersen 1998, S. 78. 29 Vgl. Im Jahr des Heils 1960 (Urkunde), in: 25 Jahre Sühnekirche, S. 8–9.
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den Frieden in der Welt und für die Wiedervereinigung Deutschlands«.30 Der Ort der Erniedrigung – Bergen-Belsen – und die prononcierte Erwähnung des Todesstreifens stehen additativ nebeneinander und relativieren sich gegenseitig. Die Rede von Bergen-Belsen scheint nur möglich unter der Bedingung, daß zugleich Bilder eines deutschen Leidens evoziert werden. Noch der Grundstein der Bergener Sühnekirche vermittelt dieses Anliegen: Es handelt sich um einen Trümmerstein des 1945 zerstörten Hildesheimer Doms, um »anzudeuten, daß auch wir zum Verzeihen des Unrechts anderer an uns bereit sind«.31 Daß sich christliche Zentralbegriffe wie Schuld, Sühne und Vergebung mit national-konservativen politischen Interessen verbinden können, um diese als sakral legitimierte umso wirkungsvoller zu propagieren, zeigen beispielsweise die Reden und Gebete anläßlich der Einweihung der »Todesangst-Christi«-Kapelle in Dachau am 5. August 1960. Die das gesamte Lagergelände dominierende Wallfahrtskapelle war gerade noch rechtzeitig – unter Mithilfe der Bundeswehr – fertiggestellt worden, um im Rahmen des Eucharistischen Weltkongresses in Anwesenheit von 50 000 Katholiken geweiht werden zu können.32 Dieser 5. August 1960 war ein Freitag und als Tag der Einweihung mit Bedacht gewählt: »Zu der gleichen Stunde, als unser Herr seinen Todeskampf erlitten (...), sollte im Angesicht der Kapelle zur Todesangst in Gebeten die Erinnerung an die Leiden und den Tod so vieler Menschen wachgerufen werden,« schrieb Kardinal Johann Neuhäusler, der den Bau der Kapelle initiiert hatte. Den Auftakt der Veranstaltung bildete eine »Sühnewallfahrt der katholischen Jugend«: 3 000 »Jungmänner« legten einen 17 Kilometer langen Weg zurück, sangen Lieder und Psalmen und trugen ein altes schweres Kreuz.33 Nicht nur das Datum (»gleiche Stunde«), sondern auch die Gestaltung dieser Feier war an dem Modell der imitatio Christi orientiert, indem sich die Teilnehmer der Feier mit den Häftlingen und Christus imaginär vereinigten. Wenn man bedenkt, daß beispielsweise Ende des Ersten Weltkrieges der deutsche Offizier als leidender Christus angesprochen wurde und die »Novemberverbrecher« als Juden, die Christus kreuzigten,34 dann zeigt sich das ungeheure Entkonkretisierungspotential, das dem Modell einer imitatio Christi eigentümlich ist. Indem dieses oder jenes historische Geschehen sakralisiert und holzschnittartig stillgestellt wird, werden die
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Die Welt vom 23.8.1962; zit. nach Kotowski 1991, S. 55. Vgl. 25 Jahre Sühnekirche, S. 10. Vgl. Marcuse 2001, S. 234. Neuhäusler 1977, S. 69f. Vgl. Moller 1998, S. 20.
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Gründe, die Umstände und Bedingungen der physischen Zerstörung von Menschen mehr als sekundär. Die historische Erinnerung gerinnt zu einem bloßen Anlaß, um im Kult das Dogma zu bestätigen, das den historischen Prozessen selbst entzogen bleibt. Die Strategie, das Leid und den Tod von Menschen als den Akt einer Nachfolge Christi zu deuten, kann man als ein genuin religiöses Vorgehen beschreiben. Aber sowohl der Inhalt der Reden als auch der Gebete des 5. August 1960 in Dachau weist auf das Ausmaß, in dem die religiösen Interessen in politische Interessen eingebettet sind. Beispielsweise ist an diesem Tag in Dachau von der »schmerzenden Wunde des eigenen« – also des deutschen – »Volkes« und von seiner »Zerrissenheit« die Rede. »Daß Du unserem Volk die Einheit und Freiheit geben wolltest«, lautet eine an Gott gerichtete Bitte. Wenn auch in einer Fürbitte der Genozid angesprochen wird: »Sühne den Mord an vielen Millionen des Volkes Abraham, die Zerstörung so vieler Synagogen«, so lautet doch der darauf folgende Satz: »Beende den Haß zwischen Arabern und Juden.«35 Die in der Urkunde des Grundsteins der Bergener Kirche formulierte Absicht, alles »Unrecht, das »von damals, von heute und morgen«, zusammenziehen zu wollen, kann man als eine Kontextualisierung von Katastrophen mit eindeutiger Entlastungsfunktion beschreiben. Dieses Vorgehen birgt zwei Vorteile: Zum einen erscheinen die NS-Verbrechen als nur ein Bestandteil eines unendlichen Zusammenhanges von Opfer, Schuld und Sühne. Zum anderen ist es, gleichsam unter der Hand, möglich, die »Zerrissenheit« Deutschlands nach 1945 als einen weiteren Bestandteil dieser einen großen Leidensgeschichte auszuweisen. Wie Hannah Arendt nach ihrem Besuch in Deutschland 1950 notierte, sucht »der Durchschnittsdeutsche (...) die Ursachen des letzten Krieges nicht in den Taten des Naziregimes, sondern in den Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt haben«.36 Um das Leid der Deutschen ging es auch dem damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke in Bergen-Belsen 1965: »Die Zahl der deutschen Opfer, die hingerichtet und inhaftiert wurden, übersteigt die Zahl der Henker um ein Vielfaches. Die Leiden und der Tod dieser unserer Landsleute beziehen uns ein in jene internationale Solidarität aller Frauen und Männer, die überall in der Welt für die Freiheit und Würde des Menschen kämpfen und sterben. Sie verbinden unser Volk in Leid und
—————— 35 Vgl. Neuhäusler 1977, S. 70. 36 Arendt 1989, S. 45.
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Schmerz auch mit den sechs Millionen deutscher und ausländischer Juden.«37 Auch hier wird der Versuch deutlich, das »Leiden unserer Landsleute« mit dem der Opfer des Völkermordes, wie Lübke sagt, zu »verbinden«, zu kontextualisieren. Als ein Zentraltopos der Katastrophenkontextualisierung sollte sich nicht zuletzt der 17. Juni erweisen. Bereits wenige Tage nach dem Aufstand in Ostberlin und in der DDR am 17. Juni 1953 hatte sich das Bonner Parlament auf ein Gesetz geeinigt, das diesen Tag zum »Tag der deutschen Einheit« erhob. Anläßlich seiner zehnten Wiederkehr 1963 proklamierte Bundespräsident Lübke den 17. Juni zum »Nationalen Gedenktag des deutschen Volkes«.38 Als Lübke ein Jahr später das den »Opfern der Kriege und der Gewaltherrschaft« gewidmete »Bundesehrenmal« in Bonn einweihte, tat er das nicht etwa am 8. Mai oder am 1. September, sondern am Vorabend des 17. Juni 1964.39 Der Aufstand am 17. Juni 1953 stand auch im Zentrum der Einweihung des Ehrenhofs im sogenannten Bendlerblock durch den damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter am 20. Juli 1953. Die Gedenkfeier, im Grunde der Widerstandsgruppe des 20. Juli 1944 gewidmet, diente zugleich dem Gedenken der Opfer des Aufstandes gegen die »kommunistische Zwangsherrschaft«. Die Gedenkinschrift stammt von Edwin Redslob, der als Reichskunstwart für die Gestaltung nationaler Gedenkfeiern der Weimarer Republik verantwortlich war.40 Sie lautet: »Ihr trugt die Schande nicht/Ihr wehrtet Euch/Ihr gabt das große wache Zeichen/der Umkehr/Opfernd Euer heißes Leben/für Freiheit Recht und Ehre.«
Wenngleich die Bedeutungsfelder der Begriffe »Umkehr«, »Zeichen« und »Opfer« christlich konnotiert sind, stellen die Begriffe »Schande« versus »Ehre« die Gedenkinschrift zugleich in einen prononciert nationalen Konnotationskontext. Dabei ist die sakralisierende Wortwahl von Redslobs Widmung so offen formuliert, daß sie nicht nur auf die Männer des 20. Juli 1944 und auf die Toten des Aufstands am 17. Juni 1953 bezogen werden kann, sondern – ein entsprechendes Interesse vorausgesetzt – ebenso auf die Toten des Kapp- oder gar des Hitlerputsches.41 Die
—————— 37 »Damit der Blick frei auf den Gräbern ruhen kann.« Der Wortlaut der Rede des Bundespräsidenten im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.4.1965; zit. nach Reichel 1995, S. 158. 38 Vgl. Wolfrum 1999. 39 Vgl. Reichel 1995, S. 240. 40 Vgl. Endlich und Lutz 1998, S 35ff. sowie Seite 82 in diesem Band. 41 Zur Möglichkeit einer »Kontextverschiebung« von Gedenkinschriften und Denkmälern vgl. Eschebach 1994, S. 116ff.
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Eignung christlich tradierter Narrative und Ikonographien für nationalpolitische Zwecke, für die die religiöse Praxis des Gedenkens an Stätten ehemaliger Konzentrationslager in Westdeutschland eine Fülle von Beispielen liefert, zeigt sich nicht zuletzt in den schon mehrfach angesprochenen Gedenkakten für die Toten des 17. Juni 1953: Auf dem Kreuzberg in Berlin wurde 1954 ein Gedenkstein mit der Inschrift »17. Juni 1953« geweiht, und zwar in unmittelbarer Nähe zu einem hohen Kreuz, das dort schon 1952 errichtet worden war. Mit diesem Kreuz sollte an die »verlorenen deutschen Länder östlich der Oder-Neiße-Linie« erinnert werden.42 Den strukturellen Unterschied zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik im Umgang mit dem Nationalsozialismus hat der Soziologe M. Rainer Lepsius auf die beiden folgenden Begriffe gebracht: Die DDR habe den Faschismus »universalisiert«, indem sie ihn als Manifestation einer Verknüpfung von Kapitalismus und Imperialismus definierte. Die Bundesrepublik hingegen, die die Nachfolge des Deutschen Reiches beanspruchte und international einen Alleinvertretungsanspruch durchzusetzen versuchte, habe das Erbe des »Dritten Reiches« mehr oder weniger in die politische Kultur integriert und auf diese Weise »internalisiert«.43 Daß dieser Prozeß einer Internalisierung nun seinerseits keineswegs auf entlastende Universalisierungsstrategien verzichtet hat, zeigen die hier diskutierten Rückgriffe auf christliche Deutungsmuster in Diskursen über den Nationalsozialismus zur Zeit des Kalten Krieges, und, damit verbunden, die Prominenz christlicher Symbolisierungen an Orten ehemaliger Konzentrationslager in Westdeutschland.
Religiöse Sprachen des Gedenkens II: Ostdeutsche KZ-Gedenkstätten nach der deutschen Vereinigung Vergleichbare Rückgriffe auf die christlich tradierte Opferlogik haben, das ist bekannt, in der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise in der Deutschen Demokratischen Republik so nicht stattgefunden. Die offizielle Erinnerungspolitik der DDR basierte auf der berühmten These der Komintern, nach der der Faschismus im wesentlichen ein diktatorischer, terroristischer und imperialistischer Finanzkapi-
—————— 42 Vgl. Wolfrum 1999, S. 160 sowie grundsätzlich zum Thema Hoffmann-Curtius 1985. 43 Lepsius 1989, S 247ff.
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talismus sei. Vor dem Hintergrund der Marx’schen Geschichtstheorie konnte das Dritte Reich als Vorspiel zum schließlichen Sieg des Kommunismus erscheinen. Dieser Logik entsprechend sah sich die DDR als die Größe und Instanz, die als sozialistischer Staat das Vermächtnis der in den Konzentrationslagern ermordeten antifaschistischen Widerstandskämpfer erfüllt habe. Ihrer wurde im Rahmen der offiziellen Gedenkfeiern der DDR mit einer Exklusivität gedacht, daß der Eindruck entstehen konnte, in den Konzentrationslagern seien einzig antifaschistische politische Gefangene inhaftiert gewesen. Dessen ungeachtet setzte in den achtziger Jahren ein behutsamer Prozeß der Demokratisierung des Gedenkens in der DDR ein. Damals traten zunehmend unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen an die KZ-Gedenkstätten der DDR heran mit der Bitte, dort eigene Gedenkveranstaltungen abhalten zu dürfen, darunter kirchlich organisierte Gruppen und Gemeinschaften. Vor dem Hintergrund der traditionellen Gedenkfeiern der DDR mit ihren starren Verlaufsmustern war der Olof-Palme-Friedensmarsch 1987 ein Novum: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen aus Österreich, der Tschechoslowakei, der DDR und der Bundesrepublik, um dem Vorschlag des ermordeten schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme, einen 300 Kilometer breiten, kernwaffenfreien Korridor zwischen den Militärbündnissen Nato und Warschauer Pakt zu schaffen, Nachdruck zu verleihen. Im Rahmen des Friedensmarsches wurde in der Gedenkstätte Ravensbrück ein Stafettenstab überreicht, bevor sich der Zug weiter auf den Weg nach Sachsenhausen begab. Daß diese Feier nicht staatlich, sondern von der internationalen Friedensbewegung organisiert war, daß kirchliche Gruppen beziehungsweise Angehörige der Bürgerrechtsbewegung der DDR teilnahmen, zum ersten Mal ein Kreuz im Gedenkstättenbereich aufgestellt war und gebetet wurde – all das zeugte von einer »Aufbruchstimmung«, von dem »Beginn einer neuen Zeit«.44 Gleichwohl waren diese, von der internationalen Friedensbewegung und der Bürgerrechtsbewegung der DDR inaugurierten neuen Formen des Gedenkens von Repressionen seitens des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR begleitet.45 Beispielsweise befindet sich in den Akten dieser Behörde ein sogenannter »Informationsbrief« der Evangelischen Zionskirchgemeinde Berlin des Jahres 1987; der damalige Direktor der »Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen« hatte dieses Schreiben weitergeleitet. In dem »Informationsbrief« wird ein »Gedenk-
—————— 44 Mündliche Mitteilung von Petra Fank, Mitarbeiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. 45 Vgl. S. 155ff. in diesem Band.
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marsch« angekündigt entlang der Strecke, die die Häftlinge Sachsenhausens im April 1945 zu laufen gezwungen waren: Zahllose von ihnen wurden auf diesen Todesmärschen von SS-Angehörigen ermordet. Das Schreiben der Zionskirchgemeinde kündigt an, man beabsichtige, im Rahmen des geplanten Gedenkmarsches »in einigen Ortschaften Gemeindeabende« durchzuführen. Und weiter heißt es: »Hiermit wollen wir unserer Forderung nach einer offenen toleranten Gesellschaftsordnung (...) Nachdruck verleihen. Eine sozialistische Demokratie, also eine Gesellschaftsordnung, in der das Modell gerechter Produktionsverhältnisse durch Abschaffung des kapitalistischen Eigentums an Produktionsmitteln verbunden wird mit einer umfassenden Einführung verbürgter demokratischer Rechte, zu denen wir folgende zählen: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Pressefreiheit, Redefreiheit, Abschaffung des Informationsmonopols und Freigabe von Informationen, die eine politische Mitbestimmung aller möglich machen (...). Grundlage einer solchen Entwicklung müßte ein neues Denken sein, ein offener Geist, der durch eine kontroverse Auseinandersetzung in allen gesellschaftlichen Ebenen einen neuen warmen Wind bringt und somit uns in diesem Land nicht länger frieren läßt. (...) Klar ist uns auch, daß wir durch unseren Marsch nicht die Welt zu einem umfassenden gerechten Frieden umkrempeln. Aber wir beten darum und erhoffen uns, daß der Marsch zu einem Zeichen des Friedens wird und die Menschen ermutigt werden, nicht in Apathie zu verharren, sondern für Gerechtigkeit zu kämpfen und sich für den Frieden einzusetzen.«46
Der »Informationsbrief« ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: Erstens stellt er eine Verbindung her zwischen dem Gedenken an die ermordeten Häftlinge und bürgerrechtlichen Forderungen, die bei dem damaligen Direktor der Gedenkstätte Sachsenhausen den »Verdacht« erweckten, »daß dieser Gedenkmarsch als Mittel gesucht wird, um eventuell antisozialistische demonstrative Handlungen durchzuführen«.47 Die in der DDR inopportune Forderung nach einer »offenen, toleranten Gesellschaft« nimmt hier Bezug auf die Häftlinge Sachsenhausens, die sich, wie es heißt, ihrerseits für die »Einrichtung einer freien Gesellschaftsordnung« eingesetzt hätten. Wie berechtigt und plausibel ein solcher Rekurs auch scheinen mag – auf jeden Fall ist er symptomatisch für jenen Vorgang, den John R. Gillis als das Finden »brauchbarer Vergangenheiten« (»usuable pasts«) beschrieben hat: Dem angestrebten souveränen Status soll durch geschichtspolitische Bezüge auf eigene Traditionen zum Ausdruck verholfen werden.48 Aufschlussreich an dem Brief ist zweitens, dass er von der Zionskirchgemeinde stammt. Es ist bekannt, dass die Kirchen Bezugs- und Fluchtpunkt der Bürger-
—————— 46 Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) AST Potsdam AKG 510, Bl. 80, 82. 47 Ebd. 48 Gillis 1994, S. 19, vgl. auch Seite 48 in diesem Band.
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rechtsbewegung waren; auch der im vorigen Kapitel erwähnte »Arbeitskreis homosexueller Selbsthilfe« hatte sich unter dem Dach der Gethsemane Gemeinde zusammengefunden. In jedem Fall argumentiert der »Informationsbrief« eher politisch als religiös, es sei denn, man erkennt im Kampf gegen Apathie, im Kampf für Gerechtigkeit und Frieden eine Art »religiöser Tiefengrammatik«49. Ein entsprechendes Interesse könnte man auch in den Aktivitäten katholischer Frauen erkennen, die seit Anfang der neunziger Jahre am Ort des ehemaligen Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück religiöse Gedenkfeiern durchführen. In dieser Praxis wird, wie Constanze Jaiser schreibt, ein feministisches Anliegen deutlich, »nämlich den bislang kaum gehörten, geschweige denn verehrten christlichen Häftlingsfrauen Stimme und Würde zu verschaffen«.50 Im Jahr 1991 organisierte das Maximilian-Kolbe-Werk eine Wallfahrt nach Ravensbrück für etwa 200 polnische Frauen, ehemalige Häftlinge des Lagers; in diesem Zusammenhang fand auf dem ehemaligen Kundgebungsplatz der Gedenkstätte erstmals eine Heilige Messe statt. Im Jahr 1993 haben 30 Frauen des Katholischen Deutschen Frauenbundes aus den Bistümern Köln und Essen gemeinsam mit neun Frauen aus Polen den Kreuzweg gebetet. Inzwischen ist ein Büchlein zum »Kreuzweg Ravensbrück« erschienen, das sich als Anleitung für entsprechende Kulthandlungen vor Ort versteht.51 Zu denken gibt, daß sich die 1959 eröffnete Gedenkstättenanlage Ravensbrücks umstandslos als Kreuzweg nutzen läßt. Die damals konzipierte Anlage befindet sich außerhalb des ehemaligen Häftlingslagerbereichs am Ufer des Schwedtsees, weil das Häftlingslager seit 1945 von sowjetischem Militär besetzt war. Die ursprüngliche Konzeption dieser Anlage sah einen »Weg des Erlebnisses« vor, als dessen Teil das Krematorium und das ehemalige Lagergefängnis dem »ersten Wirkungsbereich« angehörten. Nachdem die Besucher diesen Bereich und das sich daran anschließende Massengrab passiert hatten, erreichten sie die Skulptur »Tragende« von Will Lammert, die sich auf einem, dem See vorgelagerten Postament als »Symbol der Freiheit« erhebt.52 Die Konzeption des »Erlebnisweges« kann man als einen Versuch der Affektführung beschreiben, da den Besuchern bereits durch die Anlage selbst eine sinnstiftende Perspektive auf das ehemalige Frauenkonzentrationslager vermittelt wird: Das Lager manifestiert – in dieser Optik – das Bild eines Weges
—————— 49 50 51 52
Graf 2000a. Jaiser 2002. Prégardier 1994. Komitee für die Einweihung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück , Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. StGB/MGR 234 Ag. 207/59, DDR VI/59, S. 1; vgl. Lanwerd 2001.
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vom Dunkel zum Licht. Dem christlich tradierten Kreuzweg vergleichbar, der mit seinen zunächst sieben, seit dem 18. Jahrhundert 14 Stationen vom Gerichtshof des Pilatus zum Heiligen Grab (als dem Ort des Todes und der Auferstehung zugleich) führt, endet auch der »säkulare Läuterungspfad«53 der ursprünglich sozialistischen Anlage in gleichsam chiliastischer Zuversicht mit einem »Symbol der Freiheit«. Eben diese Wegführung hat der »Kreuzweg Ravensbrück« adaptiert. Seine Überschreitung der Stätte des Todes ist mit einer angefügten 15. Station, einer »Vision«, gekennzeichnet: Das oben zitierte Büchlein notiert als 15. Station einen Text, verfaßt von der protestantischen Theologin Katharina Staritz, die von 1942 bis zu ihrer Entlassung 1943 in Ravensbrück inhaftiert war. Dieser mit »Vision« überschriebene Text handelt vom Erscheinen Jesus Christus in Ravensbrück und von der Erwartung des jüngsten Gerichts. Der »Kreuzweg Ravensbrück« thematisiert das Leiden und Sterben der Häftlinge als Ausdruck eines christlichen Heilsgeschehens. Die imitatio Christi erweist sich als transportables Interpretationsmuster, das historische Ereignisse als stets wiederkehrende Manifestation des einen göttlichen Plans auffaßt. Die historische Erinnerung an das konkrete Geschehen schrumpft in diesem Zusammenhang zum bloßen Anlaß für Akte einer Vergegenwärtigung des Heils. Dabei wird die Einbettung der KZ-Geschichte in die Ökonomie des Heils mit der folgenden Zielsetzung verbunden: »Im Beten und Bitten heute kann Versöhnung wirksam werden für das, was in Ravensbrück geschah – und gegenwärtig an vielen Orten der Welt immer noch geschieht.«54 Allein, es fragt sich: Versöhnung – für etwas? Die Präposition »für« in dieser Formulierung irritiert und legt die Vermutung nahe, daß vielleicht »Vergebung für...« gemeint sein könnte. Wer aber soll genau wem vergeben? Wäre jedoch tatsächlich Versöhnung gemeint, dann müßte statt »für« ein »zwischen« folgen, beziehungsweise eine Angabe, zwischen welchen Beteiligten oder Parteien diese Versöhnung wirksam werden soll. Offenbar sollen aber gerade derlei konkrete Angaben und Namensnennungen vermieden werden. Der »Kreuzweg Ravensbrück« universalisiert die Geschichte des Frauenkonzentrationslagers und entkonkretisiert sie dabei in einem Ausmaß, daß sie schließlich ein einziges Amalgam bildet mit allem Unrecht, auch dem gegenwärtigen, »an vielen Orten der Welt.« Ein entsprechendes Anliegen war auch mit dem Bau der »Sühnekirche vom kostbaren Blut« in der Nähe des ehemaligen Lagers Bergen-Belsen verbunden: Wie bereits
—————— 53 Detlef Hoffmann 1998b, S. 74. 54 Prégardier 1994, S. 89.
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erwähnt, wurde die Kirche erbaut »als Sühne gegen alles Unrecht, das nicht nur in Belsen, sondern überall in der Welt geschehen ist«. Für polnische Häftlinge des KZ Ravensbrück hatte die christliche Religion seinerzeit eine durchaus andere Funktion. Zofia Maria Orlicz formuliert rückblickend: »›Dein Wille geschehe‹ so sagten wir uns, und das erleichterte uns, diese Zeit zu ertragen. Wir betrachteten unser Leid als Sühne, als Opfer für die Befreiung Polens und für die Zukunft der Menschheit. Der tiefe Glauben an die Gerechtigkeit Gottes hatte positiven Einfluß auf die charakterliche Bildung und somit auch auf das äußere Leben.«55 Daß der national orientierte polnische Katholizismus manchen inhaftierten Polinnen eine gleichsam sinnstiftende Perspektive auf die KZ-Haft zu vermitteln mochte, ist eine Sache. Eine andere ist, wenn das Leiden im Konzentrationslager mit Hilfe der Kreuzesmetapher von katholischen Deutschen, wie Jaiser bemerkt, »in identifikatorischer Weise (...) nachempfunden werden« soll.56 Älter noch als der »Kreuzweg Ravensbrück« sind die »Buchenwalder Kreuzwege«, die vor Ort von der evangelisch-lutherischen Kirche seit den achtziger Jahren durchgeführt wurden. Inzwischen finden sie in der Gedenkstätte Buchenwald jährlich statt, wobei man sich teilweise auf nur vier Stationen beschränkt, an denen Bibeltexte gelesen werden und meditiert wird. Im Jahr 1994 wurde das jüdische Denkmal als eine der Kreuzwegstationen genutzt.57 Der Eindruck entsteht, daß über die Nutzung des jüdischen Denkmals als Kreuzwegstation die ermordeten Juden in »christlich Leidende ehrenhalber« verwandelt werden. Ein weiterer Bestandteil der Buchenwalder Kreuzwege sind die Stationen des Leidens von Paul Schneider; der evangelische Pfarrer wurde 1939 im KZ Buchenwald ermordet. Nun ist das öffentliche Gedenken Paul Schneiders in Buchenwald kein Novum, das erst seitens der evangelisch-lutherischen Kirche initiiert worden wäre. Bereits 1958 hatte die Christlich-Demokratische Union, die CDU in der DDR, eine Broschüre über den evangelischen Pfarrer herausgegeben. Paul Schneider wird in diesem Kontext als der »tote Prediger von Buchenwald« beschrieben, der »gegen die Renaissance des Faschismus in Westdeutschland (...) seine Stimme« erhoben habe.58 In den Gedenkveranstaltungen jener Jahre wurde Schneider als Zeichen und Ausweis für den gemeinsamen antifaschistischen Kampf von Christen und Marxisten im Konzentrationslager angesprochen und darüber hinaus zu Zwe-
—————— 55 56 57 58
Zit. nach Prégardier 1994., S. 70. Jaiser 2002. Vgl. Thüringer Landeszeitung vom 28. 3. 1994. Vgl. Neue Zeit vom 14. 8. 1958.
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cken des Kalten Krieges instrumentalisiert. Inzwischen hat jedoch ein Funktionswandel der Ehrung Paul Schneiders stattgefunden: Im Vordergrund steht jetzt »der mutige Christ, der sich den Nazis nicht beugte«.59 Sein Widerspruch gegen Rassismus und Antisemitismus im Dritten Reich und seine Zivilcourage werden jetzt hervorgehoben. Der Name Paul Schneiders steht inzwischen nicht mehr für die zur Zeit der DDR zentrale Maxime des gemeinsamen antifaschistischen Kampfes von Häftlingen unterschiedlicher politischer und religiöser Überzeugungen und damit für den Volksfrontgedanken, sondern für die ethische Prämisse des individuellen Widerstandes und der Zivilcourage, das heißt für eine zentrale Prämisse der bundesdeutschen Zivilgesellschaft der neunziger Jahre. Hier zeigt sich wiederum, wie sehr die Demokratisierung der Gegenwart mit einer Demokratisierung der Vergangenheit einhergeht: Zum Teil sind es dieselben Personen, derer unter veränderten Umständen von neuen Gruppen auf neue Weise gedacht wird. Die steigende Zahl der Selig- und Heiligsprechungen von NS-Verfolgten zeigt wie auch das wachsende Interesse christlicher Gruppen an KZ-Gedenkstätten, daß religiöse Deutungsmuster des Nationalsozialismus und der NS-Verbrechen erneut an Relevanz gewinnen. Gleichwohl ist mit dem universalistisch anmutenden Bezug auf das Heil keineswegs die Aufhebung von Partikularinteressen verbunden, wie nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um das vor der Gedenkstätte Auschwitz errichtete »Papstkreuz« seit Ende 1998 gezeigt haben.60 Von ähnlichen Interessen war eine Veranstaltung in der Gedenkstätte Neuengamme geprägt, in deren Rahmen sich zwei unterschiedliche Gruppen in einer Art Gedenkkonkurrenz miteinander befanden: Der evangelische Kirchentag 1995 begann mit einer Feier in Neuengamme. Parallel zu dieser Veranstaltung fand vor Ort eine Demonstration schweigender Muslime statt; die »Gesellschaft für bedrohte Völker«, die die Demonstranten unterstützte, beklagte, »daß an dieser Stelle kein Wort über den Völkermord in Bosnien gesagt« würde. Die Besucher der Gedenkfeier, so schildert die Frankfurter Rundschau das Szenario, seien »schnell und wortlos« an den Demonstranten vorbeigegangen.61 Eine Vermittlung war hier offenbar nicht möglich. Wo der Geschichte unter der Prämisse des Heils gedacht wird, scheint es stets um das Heil der je eigenen Gemeinschaft zu gehen.
—————— 59 Thüringer Landeszeitung vom 19. 3. 1993. 60 Zur Geschichte des Gedenkens in Auschwitz vgl. Huener 2003. 61 K. Plog, »Was immer auch in der Welt geschieht, ich staune nicht mehr.« Überlebende bei der Gedenkfeier im KZ Neuengamme. Frankfurter Rundschau vom 16. 6. 1995.
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Abschließend sei eine Gedenkveranstaltung in Ravensbrück skizziert, die Ausdruck einer jüngeren Entwicklung ist, nämlich neue, unkonventionelle Formen des Gedenkens zu erproben: Fünf Tage im Oktober 1995 fastete eine interreligiöse Gruppe von 19 Frauen in der Gedenkstätte und betete für den Frieden. An dieser Aktion, die in ähnlicher Form zuvor bereits in der Gedenkstätte Auschwitz stattgefunden hatte, waren Frauen aus den USA, Japan, Polen, Tschechien, Österreich, Italien, England, Dänemark und Deutschland beteiligt. Zu Trommelklängen wurde ein Mantra für den Frieden rezitiert, Berichte von Überlebenden wurden verlesen und Gebete unterschiedlicher religiöser Herkunft gebetet. Die Initiatorin der Veranstaltung, die Österreicherin Lisa Malin, beschrieb die Aktion auf folgende Weise: »Gefastet, um die Leiden der Häftlinge zumindest andeutungsweise nachzuempfinden. Gebetet, um ihre Seelen endlich zu erlösen. Sie mußten unter unerträglichen Qualen leiden und sterben. Wir beten, daß sie endlich zum Licht gelangen. (...) Wir sind Frauen und mahnen hier, wo einst Frauen wie wir vergast und gequält worden sind, sie nicht zu vergessen.«62
An der Veranstaltung nahm unter anderem Ceija Stoika, eine überlebende Roma des Frauenkonzentrationslagers, teil. Im Rahmen eines zeremoniell gestalteten Aktes rauchte sie am Ufer des Schwedtsees eine Zigarette, die sie den toten Raucherinnen des KZ Ravensbrück widmete.63 Neue Formen des Gedenkens werden aber auch in den Ravensbrücker Sommercamps realisiert, die im Rahmen der politischen Bildungsarbeit vom Service Civile Internationale (SCI), von der »Aktion Sühnezeichen«, von den Internationalen Jugendgemeinschaftsdiensten (IJGD) und ähnlichen Organisationen durchgeführt werden. Gemeinsam versammelt man sich am Ufer des Sees zum stillen Gedenken oder es werden Gedichte rezitiert und kleine Lichter und Blumen in das Seewasser gesetzt. Die christliche Religion hat Praktiken der Erinnerung hervorgebracht, die zunächst dem Gedächtnis des Religionsstifters, seit dem 2. Jahrhundert auch Märtyrern galten. Aus diesem Erinnerungsimperativ entwickelte sich ein ganzes Repertoire von
—————— 62 Zit. nach M. Präkels, Mit Trommeln und Gebeten für den Weltfrieden. Frauen aus verschiedenen Nationen fasten bis Sonnabend zum Gedenken an die Qualen der Opfer von Ravensbrück. Zeitungsausriß o.D. (1995); Pressearchiv Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. 63 Mündliche Mitteilung von Eberhard Dentzer, Mitarbeiter der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Vom Rauchen am Grab berichtet auch Lloyd: »Another pilgrim was seen smoking on a gravestone; he remarked ›I was only having a pipe with dear old Ted... just as we used to‹«, zit. nach Lloyd 1998, S. 146.
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Ritualen, Zeichen und Sakramentalhandlungen, die in Folge der Reformation drastisch reduziert wurden: Der Protestantismus kennt lediglich zwei sakramentale Handlungen, die Taufe und das Abendmahl. Vielleicht ist hier einer der Gründe dafür zu suchen, warum der Protestantismus im Unterschied zum Katholizismus erst sehr viel später begann, Orte ehemaliger Konzentrationslager religiös zu besetzen. Selbst der 1967 fertiggestellte Bau der evangelischen »Versöhnungskirche« in Dachau geht nicht etwa auf eine protestantische Initiative zurück, sondern auf die des Kardinals Johann Neuhäuslers. Harold Marcuse argumentiert, daß die Evangelische Kirche Deutschlands in der Frage des Gedenkens an Orten ehemaliger Konzentrationslager stets bereits existierenden Trends gefolgt sei.64 Für das katholische Engagement, das, wie wir gesehen haben, in Dachau bereits unmittelbar nach der Befreiung einsetzte, kommen folgende Gründe in Betracht: Nach 1945 ist der Katholizismus in Deutschland zunächst mehr oder weniger mit dem Widerstand im Dritten Reich identifiziert worden. Als mit der wachsenden Kritik an der Haltung der Amtskirche im Jahr 1933 das Bild des Katholizismus im Lauf der fünfziger Jahre einen Sprung bekam, wurde, wie Detlef Hoffmann schreibt, »in Dachau die Chance ergriffen, die tapferen Priester, die im KZ gefangen gehalten wurden, zur Kirche schlechthin zu erklären«. Tatsächlich waren in Dachau insgesamt 2 579 katholische Geistliche inhaftiert; im Jahr 1940 hatte die SS damit begonnen, alle christlichen Geistlichen, die sich in »Schutzhaft« befanden, in Dachau zu »konzentrieren«. Retrospektiv sollte das Handeln der katholischen Häftlinge fortan als »katholisches Handeln par excellence« erscheinen.65 Über diese konfessionsbedingten Differenzen hinaus sind für die Bundesrepublik insgesamt wiederholte Rückgriffe auf die christliche Opferlogik zu konstatieren. Die Deutung des Leidens der NS-Verfolgten als einer imitatio Christi stellte die Realität der nationalsozialistischen Lager in einen enthistorisierenden Metakontext, der es zugleich ermöglichte, auch andere Leidensgeschichten, nicht zuletzt die des gesamten deutschen Volkes, zur Sprache zu bringen. Noch die gängige Formel: »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft«66 ist Ausdruck des Wunsches nach Katastrophenkontextualisierung, wie er sich in der oben zitierten Bergener Formel vom Sühneopfer »für alle Schuld von damals, von heute und morgen« mitteilt.
—————— 64 Marcuse 2001, S. 280. 65 Detlef Hoffmann 1998b, S. 76. 66 Vgl. u.a. die Widmung der 1993 eröffneten »Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland«.
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Während sich die religiöse Sprache des Gedenkens in der Bundesrepublik zur Zeit des Kalten Krieges aus eher nationalkonservativen Interessenlagen speiste und die christlichen Kirchen ihr altes Bündnis mit dem Antikommunismus zumindest in Teilen erneuerten, beruhten die Initiativen für Akte religiösen Gedenkens in der DDR vor der deutschen Vereinigung auf gänzlich anderen Voraussetzungen. Der internationalen Friedensbewegung und der Bürgerrechtsbewegung ging es unter der Ägide vornehmlich protestantischer Kirchen um eine Demokratisierung der ostdeutschen Gesellschaft, um »ein neues Denken«, um »einen offenen Geist«. Seither ist die Praxis religiösen Gedenkens in den ostdeutschen KZ-Gedenkstätten von unterschiedlichen sozialen und politischen Motivlagen gezeichnet. Trotz aller Verschiedenheit fallen zwei Gemeinsamkeiten in den religiösen Akten des Gedenkens auf. Zunächst ist das gewissermaßen identifikatorische Verhältnis zu erwähnen, das die einzelnen Gruppen gedenkend zu den Ermordeten der Konzentrationslager herstellen. Sie waren »Frauen wie wir«, hieß es im Kontext der Aktion »Interreligiöses Fasten«. Der bürgerrechtlich inspirierte Brief der Zionskirchgemeinde betont, daß sich die Häftlinge Sachsenhausens ihrerseits für die »Einrichtung einer freien Gesellschaftsordnung« eingesetzt haben. Zivilcourage und Einspruch gegen Antisemitismus sind die Aspekte, die heute an dem in Buchenwald ermordeten Pfarrer Paul Schneider hervorgehoben werden, das heißt Aspekte, die im öffentlichen Gedenkens Paul Schneiders zur Zeit der DDR überhaupt keine Rolle spielten. Im Rahmen der beschriebenen Akte des Gedenkens wird stets erneut das religiöse, politische oder soziale Selbstverständnis der Gruppen retrospektiv in das Bild der zu Ehrenden eingespiegelt. Hinzu kommt der Gedanke der imitatio, der den skizzierten Akten des Gedenkens zugrundeliegt: Die Mitglieder der Zionskirchgemeinde beabsichtigten, die Strecke des »Todesmarsches« der Häftlinge Sachsenhausens nun ihrerseits zurückzulegen, obwohl der zitierte »Informationsbrief« klarsichtig vermerkt, daß »wir« die Leiden der Häftlinge »in ihrem wahren Ausmaß nicht nachempfinden« können. Dieses Leiden »zumindest andeutungsweise nachzuempfinden«, war gleichwohl das Ziel der interreligiösen Aktion »Fasten für den Frieden«. Kreuzwege sind unmittelbar vom Gedanken der imitatio christi inspiriert: An Orten ehemaliger Konzentrationslager versetzen Kreuzwege einerseits die Häftlinge in einen Christus analogen Status, andererseits aber auch die aktuell Beteiligten, die den Kreuzweg anamnetisch-mimetisch nachvollziehen. Hier handelt es sich um einen Modus des Gedenkens, der in jüngerer Zeit, so beispielsweise in der Gedenkstätte Buchenwald, auch von Protestanten wahrgenommen wird. Vielleicht ist dies ein
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Indiz dafür, daß die konfessionellen Grenzen ihre gruppenlegitimatorische Funktion schrittweise verlieren oder in interreligiösen Aktionen nivelliert werden. Es könnte sein, daß die seit den neunziger Jahren zunehmenden religiösen Aktivitäten in den KZ-Gedenkstätten weniger konfessionell motiviert sind, sondern vielmehr und auf ihre Weise das gesellschaftliche Interesse am »Holocaust« reflektieren, der als »Memento des Bösen« zu einer Universalkategorie geworden ist.
VII Nationalisierung und Universalisierung: Gedenken nach der deutschen Vereinigung
»Wenn Berlin mit so weltläufiger, den Glamour nicht scheuender Professionalität seinem furchtbarsten Abgrund gegenübertreten kann, dann ist offensichtlich das Ärgste vorüber«, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung über die Eröffnungsfeier des Jüdischen Museums in Berlin am 9. September 2001.1 Ausgerechnet in der Ausgabe vom 11. September wird die Museumseröffnung als »die erste Vollversammlung einer glücklicheren Welt«, als »inoffizieller Gründungsakt des neuen Deutschland« gefeiert.2 Erzählungen von einer furchtbaren, gleichwohl überwundenen Vergangenheit gehören zum festen Bestandteil nationaler Narrative seit der Französischen Revolution. Vor dem Hintergrund kollektiver Gewalterfahrungen und Massentötungen lokalisiert sich die Nation als am Anfang einer neuen Ära stehend und zelebriert diesen Anfang mit einem cult of new beginnings.3 In Deutschland hat sich für diesen Vorstellungskomplex ein Begriff durchgesetzt, der von den Befreiungskriegen bis hin zur Deutschen Demokratischen Republik stete Neuauflagen erfahren hat: der Begriff einer »nationalen Wiedergeburt«. Mit dieser Metapher ist ein Deutungsmuster verbunden, das Gewalterfahrungen und Massentötungen in eine letztlich heilsbedeutende Konstellation überführt. So wurden die Toten der Befreiungskriege, die Toten des deutsch-französischen Krieges 1870/71, die sogenannten Märtyrer des 9. November 1923 – um nur einige Beispiele zu nennen – angesprochen als Opfer, die zum Zweck einer »nationalen Wiedergeburt« erbracht worden seien. Auch die Deutsche Demokratische Republik verstand sich zunächst »als das große
—————— 1 Mark Siemons, Dresscode der Republik. Das Gala-Diner im Jüdischen Museum zelebriert Souveränität. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.9.2001. 2 Die erste Vollversammlung einer glücklicheren Welt. Das jüdische Museum ist eröffnet. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berliner Seiten, vom 11.9.2001. 3 Gillis 1994, S. 8.
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Vorbild und als Bollwerk für die nationale Wiedergeburt Deutschlands«; 4 hier habe sich, wie auch schon das Dritte Reich von sich behauptete, das Vermächtnis der Toten erfüllt. Die Wiedergeburtsmetapher ist in der vereinten Bundesrepublik nicht mehr en vogue; gehalten hat sich gleichwohl das alte Bild eines »neuen Deutschland«, dessen Neuheit oder Erneuerung vor dem Hintergrund einer furchtbaren, gleichwohl überwundenen Geschichte besonders augenfällig wird. Dieses Bild könnte, so Silke Wenk, auch das für die Mitte Berlins geplante Denkmal für die ermordeten Juden Europas transportieren, wenn es – und diesen Verdacht legt das von Peter Eisenman entworfene Monument nahe – den nationalsozialistischen Genozid als Opfer (sacrificium) thematisiert: »Über die Sakralisierung des Mordes, d.h. seine Umdeutung als Opfer, soll eine Konsolidierung und Zukunft eines ›erneuerten Deutschland‹ garantiert werden.«5 Erst die Vergegenwärtigung des Schreckens (»furchtbarster Abgrund«) ermöglicht Läuterung (»das Ärgste ist vorüber«) beziehungsweise eine »glücklichere Welt«, die die Frankfurter Allgemeine anläßlich der Eröffnung des Jüdischen Museums versammelt sah. Die oben zitierte Beschreibung dieser Feier ist symptomatisch für den Prozeß einer Nationalisierung und Universalisierung in der Deutungsgeschichte des Völkermordes an den Juden, der im vereinten Deutschland seit Anfang der neunziger Jahre zu beobachten ist. Nationalisierung des Gedenkens bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Bundesrepublik die öffentliche Erinnerung an den Völkermord zu einer nationalen Aufgabe erklärt hat;6 dies zeigen nicht zuletzt die von Politikerinnen und Politikern gehaltenen Gedenkansprachen der neunziger Jahre. Im Unterschied jedoch zu den Gedenkfeiern der Deutschen Demokratischen Republik, deren nationale Rhetorik – beispielsweise anläßlich der großen Gedenkfeiern in den »Nationalen Mahn- und Gedenkstätten« – ein prononciert militärisches Gepräge trug und die beteiligten »Massenorganisationen« den Eindruck gesellschaftlicher Uniformität vermittelten,7 ist die bundesdeutsche Selbstthematisierung als
—————— 4 Zit. nach Gibas und Gries 1999, S. 33. 5 Wenk 1997, S. 360. Weiter heißt es: »Gründungsmythen haben meist mit Opfern, Opfergaben zu tun, die den Überlebenden garantieren sollen, mit der Geschichte ›ins Reine‹ gekommen zu sein und ›das Böse‹ überwunden zu haben;« ebd. S. 261. 6 Verwiesen sei auf die Einführung des »Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus« am 27. Januar im Jahr 1995, auf den Bundestagsbeschluß zur Errichtung des »Denkmals für die ermordeten Juden Europas« und auf die Verabschiedung der Bundesgedenkstättenkonzeption im Jahr 1999; vgl. Knigge 2002. 7 Vgl. Kapitel V in diesem Band.
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Nation eher zivil beziehungsweise bürgerrechtlich orientiert. Es ist nicht so sehr die tradierte Formensprache des Kults um den deutschen Nationalstaat, die die öffentlichen Gedenkfeiern der neunziger Jahre strukturiert, sondern der diskursive Bezug auf universalistische Kategorien. Wie ich im folgenden zeigen werde, steht im Zentrum der bundesdeutschen Gedenkfeiern nicht so sehr eine Reflexion des von Deutschen verübten Völkermordes, sondern, in gleichsam anthropologischer Wende, »der Mensch«, und damit verknüpft die Herleitung ethisch begründeter Handlungsmaxime. »Universalisierung« bezeichnet in religionswissenschaftlicher Perspektive einen Prozeß, in dem konkurrierende Systeme miteinander verträglich gemacht werden sollen: »Der Anspruch, den jedes System für sich erhebt, kann nur,« so Klaus Heinrich, in einem »Metasystem« erhalten bleiben, »das diese Systeme miteinander vereinbart«. Etwas muß gefunden werden, »was die universalisierende Funktion für eine solche Vereinbarung übernimmt«.8 Eine solch universalisierende Funktion scheint dem Begriff des »Holocaust« zuzukommen, der infolge der 1978 in den USA, 1979 in der Bundesrepublik ausgestrahlten gleichnamigen Fernsehserie populär wurde. Der nationalsozialistische Massenmord wird seither in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa als ein Art »Archetyp«, als »independant icon«,9 als »agent of civic revitalisation«10 gesehen oder auch, so Daniel Levy und Natan Snaider, als »globalpolitische und globalkulturelle Norm«11 des Bösen. Als solcher ist dieser Völkermord seiner historischen Partikularität enthoben. Differenzen wie die zwischen Tätern und Ermordeten, Siegern und Verlierern, Mitläufern, Vertriebenen, Verschleppten, Emigranten und Deportierten sind aufgehoben im Bild der einen großen Katastrophe. Als universalisiertes Deutungsmodell avanciert der Holocaust zu einer Matrix, die zur Beschreibung nicht nur des nationalsozialistischen Genozids, sondern auch historisch neuartiger Ereignisse geeignet scheint und politische ebenso wie militärische Handlungen begründen kann. Ein Beispiel ist das nur wenige Tage nach der terroristischen Attacke auf New York City und Washington per E-Mail verbreitete Statement des afghanisch-amerikanischen Schriftstellers Tamim Ansary, in dem es heißt: »When you think ›Taliban‹, think ›Nazis‹. When you think ›Bin Laden‹, think ›Hitler‹. And when you think ›the people of Afghanistan‹, think ›the Jews in the concentration camp‹.«
—————— 8 9 10 11
Heinrich 1986, S. 135. Young, zit. nach Cole 2000, S. 8 Linenthal, zit. nach Cole 2000, S. 170. Levy und Snaider 2001, S. 18.
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Die Nationalisierung des Gedenkens in Deutschland steht im Zeichen der USamerikanischen beziehungsweise westeuropäischen Universalisierung des Holocaust. Ein herausragendes Merkmal des Holocaust Education genannten Konzepts ist, daß der nationalsozialistische Genozid als Beispiel und Beleg der These dient, mit Mut sei das Böse zu besiegen. Die Prämisse eines Kampfes zwischen Gut und Böse, in dem das Gute siegt, ist nicht nur die Zentralprämisse des Holocaust-Gedenkens, sondern strukturiert ebenso den Blick auf die Massentötungen am 11. September 2001. Die scheinbar unpolitische Sprache vom Guten und Bösen funktioniert im Holocaust-Gedenken wie im Gedenken an die Toten des 11. September 2001 als Legitimationspotential, um unter Umständen neue Tötungsbereitschaft zu erzeugen.
Diskurse des Gedenkens in den neunziger Jahren Richard von Weizäckers differenzierte und vielbeachtete Ansprache am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages leitete einen Paradigmenwechsel der bundesdeutschen Gedenkpolitik ein. Wie Regina Mühlhäuser und Olaf Kistenmacher argumentieren, habe der NS-Genozid seither eine »Transformation« von einem historischen Ereignis »zu einem allgemeinen Bösen« erfahren, die es erlaube, »Auschwitz« fortan überall in der Welt zu verorten. Pointiert formulieren Mühlhäuser und Kistenmacher, erst unter dieser Voraussetzung konnte und kann »das Gedenken an Auschwitz (...) als politische Legitimation« beispielsweise für deutsche Militäreinsätze auf dem Balkan genutzt werden, wie die entsprechende Argumentation des Außenministers Joseph Fischer im Jahr 1999 beispielhaft vorgeführt habe.12 Weizäcker zitiert in seiner Rede eine Predigt des Kardinal Meissner zum 8. Mai in Ost-Berlin mit dem Satz: »Das trostlose Ergebnis der Sünde ist immer die Trennung.«13 Die historisch keineswegs zutreffende Auffassung, bei der Existenz zweier deutscher Nachkriegsstaaten handele es sich um einen Akt der Strafe des deutschen Volkes für »Auschwitz«, wird in der religiösen Terminologie des Kardinals wie auch in der affirmativen Lesart Weizäckers zum Bestandteil einer Logik, nach der das Bekennen der Sünde (Auschwitz) Vergebung und, damit verbunden, die Aufhebung der deutschen Teilung durch Vereinigung zur Folge habe.14 »Wir Deutsche sind ein
—————— 12 Kistenmacher und Mühlhäuser 2001. 13 Weizäcker 1985, S. 8. 14 Vgl. Kistenmacher und Mühlhäuser 2001.
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Volk und eine Nation. Wir fühlen uns zusammengehörig, weil wir dieselbe Geschichte durchlebt haben,« heißt es in Weizäckers Rede, und weiter: Die gemeinsame Aufgabe der Deutschen bestehe in dem »eigentlichen, dem menschlichen Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung, der von uns ausgehen kann«15 (Hervorhebung I.E.). Akte des Gedenkens zielen auf kollektive Bekräftigung normativer Prämissen für künftiges Handeln. Die paradigmatische Bedeutung der Rede Weizäckers liegt darin, daß das künftige politische Handeln der Deutschen in Hinblick auf eine europäische Friedensordnung eben nicht als politisch, sondern als menschlich begründet ausgewiesen wird. Der spezifische nationale politische Auftrag Deutschlands ist – vor dem Hintergrund von Auschwitz – nicht mehr bloß politisch, sondern grundlegend an der Maxime des »Eigentlichen«, des Menschlichen orientiert. KZ-Gedenkstätten, die für Zwecke der politischen Repräsentation der Bundesrepublik jahrzehntelang ohne Belang waren, avancierten in den neunziger Jahren zu begehrten Stätten bundesrepublikanischer Gedenkveranstaltungen.16 Im Jahr 1991, als anläßlich des ersten Jahrestages des 3. Oktober eine zentrale Feier zum »Tag der Einheit« stattfand und Hamburg dafür als erster Veranstaltungsort ausersehen war, begannen die Feierlichkeiten auf Initiative des Ersten Hamburger Bürgermeisters Dr. Henning Voscherau mit einer Kranzniederlegung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. An den Gedenkfeiern des 50. Jahrestages war nahezu die gesamte bundesdeutsche Politikerprominenz beteiligt: Der Bundespräsident Herzog redete in Bergen-Belsen, die Bundestagspräsidentin Süssmuth in Ravensbrück, der Bundesaußenminister Kinkel in Sachsenhausen. Auch die Ministerpräsidenten der Länder hielten Ansprachen wie beispielsweise Edmund Stoiber in der KZ-Gedenkstätte Dachau, die zu Zeiten des CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß von keinem bayerischen Ministerpräsidenten aufgesucht worden ist.17 Die folgenden Überlegungen basieren auf Reden, die Repräsentanten des Bundes und der Länder im Lauf der neunziger Jahre in den Gedenkstätten Dachau, Neuengamme, Sachsenhausen, Ravensbrück, Brandenburg-Görden und Neustadt-Pelzer-
—————— 15 Weizäcker 1985, S. 14. 16 Vgl. im folgenden Garbe 2001, S. 79f. 17 Vgl. Garbe 2001, S. 80.
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haken gehalten haben.18 Diese Reden bestehen im wesentlichen aus drei Argumentationsfeldern von allerdings jeweils sehr unterschiedlicher Gewichtung: 1. Die Thematisierung des Nationalsozialismus als Teil deutscher Geschichte: In diesem Teil der Reden wird zunächst mehr oder minder Bezug genommen auf die Geschichte des jeweiligen Ortes. Deutschland wird explizit beim Namen genannt und als »Land des Holocaust«, als »Land staatlichen Mordens« bezeichnet (Henning Voscherau, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg in Neuengamme 1995). »Deutschland hat diesen Krieg über die Völker gebracht. Es ist verantwortlich für unzählige Verbrechen,« so Heide Simonis, Ministerpräsidentin Schleswig-Holsteins, in Neustadt-Pelzerhaken 1995. Vom Leid, das »vielen Menschen von Deutschen und in deutschem Namen zugefügt« wurde, spricht HansOtto Bräutigam, Minister der Justiz des Landes Brandenburg, in Brandenburg-Görden 1995. Klaus Kinkels Rede in Sachsenhausen 1995 bewegt sich in der bekannten Opposition von »uns Deutschen« einerseits und »den Nazis« beziehungsweise den »Nationalsozialisten« andererseits. 2. Kontrastiert wird diese Rede – und das ist das zweite Feld – durch die Thematisierung der Bundesrepublik: »Wir sollten uns immer wieder in Erinnerung rufen,« so die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach in Sachsenhausen
—————— 18 Aus folgenden Ansprachen wird zitiert: Rita Süssmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestages, in: Erinnerung und Begegnung 1996, S. 70–74; Steffen Reiche, Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, in: ebd. S. 83–85; Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, in: ebd. S. 85–87; Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen, in: ebd. S. 90–92; Hans-Otto Bräutigam, Minister der Justiz und für Bundesangelegenheiten des Landes Brandenburg, in: ebd. S. 116–118; Hans Zehetmair, Stellvertretender Ministerpräsident und Bayerischer Staatsminister für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst. Grußwort anläßlich der Jahresfeier der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau am 1.5.1994. Archiv der Gedenkstätte Dachau; Monika Hohlmeier, Bayerische Staatsministerin für Unterricht und Kultus, Rede anläßlich des 54. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau am 2.5.1999. Archiv der Gedenkstätte Dachau; Henning Voscherau, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Rede aus Anlaß des 50. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Neuengamme am 4.5.1995. Archiv der KZGedenkstätte Neuengamme; Björn Engholm, Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, Rede auf der Internationalen Manifestation zum 45. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Neuengamme und des Untergangs der KZ-Schiffe »Cap Arcona« und »Thielbek« am 3.5. 1990 in Neustadt/Holstein. Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme; Heide Simonis, Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, Rede aus Anlaß des Untergangs der KZ-Schiffe »Cap Arcona« und »Thielbek« am 3.5.1995 in Neustadt-Pelzerhaken. Archiv der Gedenkstätte Neuengamme.
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1995, »daß das im Jahre 1949 in Kraft getretene Grundgesetz eine Antwort auf die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten war.« Und Heide Simonis in Pelzerhaken 1995: »Wir stehen unverrückbar zum demokratischen Rechtsstaat.« Das Bekenntnis zum Rechtsstaat verbindet Hans Zehetmair, stellvertretender Ministerpräsident des Landes Bayern, in Dachau 1994 mit einem Lob der deutschen Bevölkerung: »Alle Umfragen zeigen, daß sich an der grundsätzlich ausländerfreundlichen Haltung der Bevölkerung (...) hierzulande nichts geändert hat. Die große Mehrheit der Bevölkerung hat ihre Abscheu gegenüber Extremismus und Gewalt unmißverständlich zum Ausdruck gebracht.« Und Monika Hohlmeier, bayerische Staatsministerin für Unterricht und Kultus, in Dachau 1999: »Im demokratischen Rechtsstaat verwirklicht sich im Grunde das Vermächtnis derer, die in den Konzentrationslagern entsetzlich gelitten haben« – die Wortwahl der CSU-Politikerin erinnert eigentümlich an das Abonnement auf das Vermächtnis der Toten, das in den Gedenkansprachen der Deutschen Demokratischen Republik und dem Dritten Reich so überaus verbreitet war. 3. Während der erste Argumentationsstrang den Nationalsozialismus als deutsches Problem mehr oder weniger beim Namen nennt und der zweite die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte schildert, liegt die dritte Figur quer zu beiden: Dies ist die bereits oben skizzierte Rede vom Menschen, die in gleichsam transhistorischer Geste beide Zeiträume umfaßt. Um deutlich zu machen, welches Gewicht der Rede vom Menschen gegenüber den beiden anderen Argumentationsfeldern zukommt, seien an dieser Stelle die folgenden Zahlen genannt: In der Rede, die die damalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth, anläßlich des 50. Jahrestages der Befreiung am 23. April 1995 in Ravensbrück gehalten hat, kommt der Begriff »Deutschland« gar nicht und »die Deutschen« einmal vor, das Grundgesetz wird seinerseits einmal erwähnt. Die Begriffe Mensch, Menschenwürde, menschlich werden hingegen insgesamt 15mal genannt. Im Rahmen dieses Argumentationsfeldes wird der Nationalsozialismus als die Erfahrungsdimension angesprochen, die gezeigt hat, »wozu Menschen fähig sind«, Steffen Reiche, Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, in Sachsenhausen 1995. Der Nationalsozialismus war das »menschenverachtende Geschehen«, eine »unmenschliche Maschinerie«, eine »unmenschliche Bürokratie« und damit – so Jutta Limbach in Sachsenhausen 1995 – Ausdruck einer »unbegreiflichen Trägheit des Herzens der Menschen« (siehe Lukas 24, 25). Der Nationalsozialismus, so Rita Süssmuth in Ravensbrück 1995, habe gezeigt, »daß
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alles, was wir dem Menschlichen in seinen ursprünglichen und anerzogenen Formen zurechnen, zusammenbricht, wenn es systematisch im Menschen zerstört und ausgeschaltet wird«. Gleichwohl, so resümiert beispielsweise Bräutigam, haben »die Leidenserfahrungen so vieler Menschen schließlich doch den Weg freigelegt (...) für eine bessere Zukunft und für ein menschenwürdiges Dasein in den europäischen Ländern«. Und Klaus Kinkel: »Was uns als Menschen verbindet, ist stärker als alles, was uns voneinander scheidet.« Nun lautet die Frage nicht: Ist es richtig oder falsch, die Geschichte des Nationalsozialismus und der NS-Verbrechen als Geschichte von Menschen zu erzählen? Die Frage ist vielmehr: Auf welche Weise thematisieren deutsche Politiker diese Geschichte nach der Vereinigung und welche Schlußfolgerungen ziehen sie daraus? Denn es zeigt sich, daß sich die scheinbar unpolitische Rede vom Menschen mit sehr politischen Interessen verbinden läßt: »Weil wir mit der Vergangenheit gebrochen haben«, so Kinkel, »werden wir wieder in die Völkerfamilie aufgenommen.« Und Björn Engholm, der als Ministerpräsident Schleswig-Holsteins 1990 in Neuengamme explizit vom »Beginn dieser neuen Zeit« spricht, fordert: »Miteinander die Zukunft Europas human gestalten.« Oder Bräutigam: »Leisten wir unseren Beitrag zur Erhaltung des Friedens. Dann wird auch dem vereinigten Deutschland Vertrauen entgegengebracht werden.« Diese Formulierung vom vereinigten Deutschland, dem Vertrauen entgegengebracht werden soll, ist symptomatisch für das Bemühen bundesdeutscher Politiker, die internationale Sorge über diese neue deutsche Einheit zu beruhigen. Wie Detlef Garbe beobachtet hat, bedarf die offizielle Politik der KZ-Gedenkstätten als »Demonstrationsobjekte dafür, daß das ökonomisch und politisch mächtige und nun auch wieder geographisch größere Deutschland« die Abkehr vom Dritten Reich sichtbar und glaubwürdig vollzogen hat.19 Vor diesem Hintergrund gesehen stiftet die Rede vom Menschen einen Konsens, in den nicht nur die Deutschen einbezogen sind, sondern alle Europäer. In den neunziger Jahren hat in einer Reihe europäischer Staaten eine kritische Auseinandersetzung mit den nationalen Gründungsmythen der Nachkriegszeit begonnen; Fragen der Kollaboration mit dem Dritten Reich unterliegen seither nicht mehr dem strengen Tabu wie in den Jahrzehnten zuvor. Die Rede vom Menschen ist in diesem Kontext geeignet, aus einem gemeinsamen »›Europa der Sünder‹ ein geläutertes Zukunftsprojekt zu destillieren«.20
—————— 19 Garbe 1996. 20 Naumann 1998, S. 307.
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Hinzu kommt, daß mit dem Ende des Kalten Krieges dessen ideologische Sinnstiftungen erloschen.21 Gefragt waren jetzt Orientierungsgrößen, die die Geschichtsdeutung auf ein neues und zuverlässiges Fundament stellen. Die Rede vom Menschen verspricht ein solches fundamentum; sie steht im Zeichen des Gültigen, Bleibenden und Angemessenen. Im Begriff des Menschen sind alle Unterschiede aufgehoben und verschwinden »im existentiellen Dunkel der großen Katastrophe«22 – einem Dunkel, vor dem das Licht der Gegenwart und Zukunft umso heller aufscheint. Diese Figur eines Neuanfangs – vor dem Hintergrund einer dunklen Vergangenheit, mit der man gebrochen hat – ist, es wurde bereits erwähnt, ein zentrales Merkmal der nationalen Sprache des Gedenkens. Auch der regelmäßige Verweis auf den bundesdeutschen Rechtsstaat in den Gedenkansprachen wäre zumindest strukturell mit dem Hohen Lied auf nationale Verdienste zu vergleichen, obwohl bundesdeutsche Politiker auf das Referieren ganzer Leistungsnachweise bislang verzichten. Demgegenüber hat sich die Formensprache nationaler Gedenkfeiern weitgehend verändert: Seit 1990 steht in den ostdeutschen KZ-Gedenkstätten keine Jugend mehr Spalier, keine Gelöbnisse finden statt, keine Flamme wird mehr entzündet. Die nationale Geschichte wird in den neunziger Jahren als eine Geschichte der Menschheit vorgestellt. Vor diesem Hintergrund erscheint Europa als die Verkörperung eines universellen Programms, das es der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht, sich als Gleiche unter Gleichen in einer versöhnten Gemeinschaft zu verorten. Die Erinnerung an den nationalsozialistischen Genozid wurde in der vereinten Bundesrepublik zu einer nationalen Aufgabe erklärt, doch ist in diesem Schritt kaum etwas historisch Neues zu erkennen: Die eigene lichte Gegenwart und »Einheit« vor dem Hintergrund eines vergangenen Dunkels aufscheinen zu lassen, ist, wie schon eingangs ausgeführt, eine prominente Strategie nationaler Selbstthematisierung. Als »Gewalt-Herrschaft«, »Knechtschaft« und »Sklavenjoch« wurde nach der Leipziger Schlacht 1814 die nun überwundene napoleonische Besetzung Deutschlands beschrieben; Napoleon selbst galt als Inkarnation des Bösen, als »oberster menschlicher Teufel«, als »Satan« und als »Höllenmacht«.23 Die Herstellung einer neuen, national gedachten Ordnung bedient sich auch hier der Bilder eines siegreich überwundenen Bösen und negativ Anderen (Teufel, Satan, Höllenmacht), um das positiv
—————— 21 Vgl. Naumann 1998, S. 323. 22 Dubiel 1999, S. 269. 23 Vgl. Düding 1988, S. 76.
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Eigene als gleichsam »von oben« sanktioniert erscheinen zu lassen. Die zum Opfer verklärten Toten sind in dieser Logik nur der Tribut, der im mit »Gottes Hülfe« geführten Kampf gegen den »Dämon Napoleon« zu entrichten war.24 Die Deutungsmuster und Darstellungen des nationalsozialistischen Massenmords rekurrieren ebenfalls auf religiös tradiertes Vokabular; der Begriff des Holocaust (griechisch: Ganzbrand(opfer)) selbst transportiert die Vorstellung, daß »Opfer« zur Überwindung des Bösen unumgänglich seien. »Für die tägliche Massenmord-, Vergasungs- Erschießungsroutine, die Endlösung, die Menschenvernichtung« sei das Wort »Holocaust« ein »fast sakraler Deckname«, so Imre Kertész. Zugleich »erleben wir eine Globalisierung, ja eine Inflation des Holocaust«.25 Neben Kertész diagnostizieren auch andere Autoren »etwas irgendwie Sakrales« am Holocaust.26 Die Rede ist von einer »Gedenkreligion des Holocaust«,27 Auschwitz gilt als die »heilige Stätte« einer »säkularen Religion«,28 oder es wird der Sorge Ausdruck verliehen, bei dem künftigen Berliner »Holocaust-Denkmal« könne es sich um ein »zivilreligiöses Bauwerk« handeln.29 Das Gemeinsame dieser zweifellos in kritischer Absicht formulierten Befunde liegt im »Fast«, dem »Irgendwie« des Sakralen. Das diskutierte Phänomen ist offenbar nicht wirklich und restlos sakral, nicht vollends religiös, sondern säkular- beziehungsweise zivilreligiös. Diese Vorsicht trägt möglicherweise der Tatsache Rechnung, daß die Sakralisierung eines weltlichen Ereignisses im Fall des nationalsozialistischen Genozids nicht primär von religiösen Institutionen betrieben wurde, denen die Sakralisierungskompetenz jahrhundertelang oblag.30 Spätestens seit den napoleonischen Kriegen war die Sakralisierung von Massentötungen primär nationalpolitischen Interessen geschuldet. Die Geschichte des öffentlichen Gedenkens in Deutschland ist reich an Beispielen für die Übertragung religiös tradierter Deutungsschemata auf selbstverursachte Katastrophen. Wenn Sakralisierung als Kulturtechnik dem Zweck dient, Kontingenz in Notwendigkeit zu überführen und
—————— 24 In einer 1912 erschienenen Darstellung der Befreiungskriege heißt es, Gott habe »den Dämonen Napoleon« zur »Züchtigung« der Deutschen für deren Uneinigkeit geschickt; vgl. Steinaecker 1912. Zur Popularität dieser Deutungsmuster auch schon zur Zeit der Befreiungskriege vgl. Gerhard Graf 1993. 25 Kertész 2000. 26 Brumlik 2001. 27 Klausa 1999. 28 Cole 2000, S. 118. 29 Christoph Stölzl, zit. nach Kirsch 2002, S. 31. 30 Vgl. dazu Seite 48ff. in diesem Band.
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eine »alle Negativitätserfahrungen integrierende, tragende Gewißheit«31 zu etablieren, dann gilt dieser Befund auch für die Sakralisierung des NS-Genozids: Als sacrum markiert dieser Völkermord fortan den Ort Orientierung stiftender, sanktionierter Fraglosigkeit. Das Spezifische an der Sakralisierung dieser Massentötungen liegt gleichwohl in der Zentralität eines negativen Absoluten, das in theologischer Perspektive auf folgende Weise formuliert wird: »So wie die Fleischwerdung des Messias den Weltlauf gewendet hatte, so nun der Holocaust – andersherum«, schreibt beispielsweise Eckhard Nordhofen.32 Agnes Heller definiert den Holocaust als »Gottes absolute negative Anwesenheit«.33 Karl Jaspers sprach schon 1946 von einem »Ausbruch des Bösen an dieser deutschen Stelle«34 – um nur einige wenige Beispiele zu nennen.35 Vor dem Hintergrund der grauenhaften Dimension der nationalsozialistischen Verbrechen mögen diese Rückgriffe auf theologische beziehungsweise metaphysische Vorstellungsgehalte verständlich erscheinen. Gleichwohl geht mit der Setzung eines negativ Absoluten eine Essentialisierung des »Bösen« wie des »Guten« einher, die nun als Werte sui generis postuliert werden, und zwar ohne Rücksicht darauf, daß doch »das Perspektivische die Grundbedingung allen Lebens« ist.36 Indem ein geschichtliches Ereignis mit der Qualität eines Transhistorischen ausgestattet wird und der Holocaust als »Memento des Bösen«37 erscheint, wird das atavistische Schema Gut versus Böse neu zementiert. Sakralisierungsprozesse sind offenbar stets mit der Neuauflage von Atavismen verbunden, die es, wie in diesem Fall, gestatten, sozialregulative Werte wie falsch und richtig »hinter der Welt« zu verorten, um sie mit den Weihen des Absoluten zu versehen. Die Rede von Politik erübrigt sich, wenn es um das Eigentliche, um das Gute und Böse als solches geht. Daß aber die gesellschaftspolitische Dimension vor dem sacrum nicht halt macht, sondern jeder Sakralisierung vorausliegt und sie begründet, macht beispielsweise Micha Brumlik klar: Mit dem Holocaust-Gedenken in Deutschland werde »auf kultureller Ebene das nachvollzogen, was im Bereich von Wirtschaft, Politik, Recht, von Tourismus und Kommuni-
—————— 31 32 33 34 35
Friedrich Wilhelm Graf 2000b, S. 297. Nordhofen 1995. Heller 1993. Jaspers 1996, S. 69. Da es mir hier nicht um eine zusammenfassende Diskussion der »Theologie nach Auschwitz« gehen kann, verweise ich auf Petersen 1998. 36 Nietzsche 1980b, S. 12. 37 Heller 1993.
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kation als ›Globalisierung‹ gilt.«38 Insofern geht es auch im Holocaust-Gedenken keineswegs nur um Deutschland, sondern um die Affirmation des »Wertefundaments« von Europa beziehungsweise um die »europäische Grund- und Werteordnung«. Eine »Europäisierung des Gedenkens« beobachtet auch Michael Jeismann und schreibt über Präsentationen des Holocaust im Internet: »Es fusionieren die Erinnerungen an den Holocaust in Europa und werden über Amerika planetarisch. Und diese Überlieferung wird das Fundament der Europäischen Union mit Querstreben in die ganze Welt.«39 Daß das nationale Vorzeichen heute nicht mehr genüge, da »nur ein Universelleres den Umständen von heute völlig gerecht« werde, bemerkte Thomas Mann in einem anderen Zusammenhang bereits 1954.40 Nachdem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Töten im Krieg nicht mehr primär mit der Verteidigung des Vaterlandes zu begründen war und militärische Einsätze heute als multi-nationale Friedens- und Deeskalations- »Missionen« fernab der eigenen Territorien durchgeführt werden, bedarf es auch neuer Legitimationsstrategien. »Universeller« als der Bezug auf die Nation war immer schon der Bezug auf das »Böse« und das »Gute«. Wie sehr sich das öffentliche Totengedenken Anfang des neuen Jahrtausends in der atavistischen Konstellation des Bösen und des Guten bewegt, zeigen nicht zuletzt die Gedenkfeiern anläßlich des 11. September 2001.
Totengedenken nach dem 11. September 2001 Die Haupthalle der New Yorker Grand Central Station war einer der vielen Orte, an denen nach den Selbstmordanschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon Bilder der Vermißten aufgehängt wurden. Mit der Zeit änderte sich der Charakter dieser spontan geschaffenen Stätten – sie wurden zu Stätten der Totenehrung: »Frische Blumen, Kerzen und große Stofftiere haben Einheimische und die wenigen Touristen niedergelegt, tröstende Worte in krakeliger Schülerschrift kamen dazu, unzählige Botschaften und selbst gemalte Bilder. Die Trauer will ihren Ort.
—————— 38 Brumlik 2001. 39 Michael Jeismann 2001. 40 Dies in Hinblick auf die Gedenkfeier anläßlich des einhundertfünfzigsten Todestages von Friedrich Schiller am 9. Mai 1955 in Stuttgart; zit. nach Harpprecht 1996, S. 2021.
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Und plötzlich hing dort auch ein Foto von CIA-Officer Johnny ›Mike‹ Spann, der beim Gefangenenaufstand von Mazar-i-Sharif getötet wurde.«41
Abb. 14 Union Square, New York City, vier Tage nach dem 11. September 2001. Foto: J. Jetta. Die Tatsache, daß die bei der Attacke auf die Twin Towers erschlagenen, erstickten und verbrannten Menschen und der in Afghanistan getötete Offizier gemeinsam geehrt werden, weist auf eine spezifische Logik des Gedenkens, die um das Problem der (politischen) Rechtfertigung des gewaltsamen Todes kreist: Die Opfer dieser Menschen dürfen nicht »umsonst« gewesen sein, ein Diktum, mit dem auch in politisch völlig unterschiedlichen Kontexten die Notwendigkeit weiterer Menschenopfer begründet wurde und wird. In den als Opferhandlung ausgewiesenen Toden ist eine List wirksam, die damit rechnet, daß mit der Annahme des Opfers eine Belohnung seitens der angerufenen Mächte verbunden ist. Insofern wird mit der
—————— 41 Heike Hupertz, Du wirst vielleicht sterben, damit wir leben können. Trost für die Nation: Die Verehrung der in Afghanistan ums Leben gekommenen Amerikaner gehört zum Kriegsritual. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.1.2002.
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Opferlogik ein Tauschverhältnis etabliert: Wenn das Opfer nicht »umsonst«, also sinnlos sein soll, darf man etwas dafür erwarten. Die Tatsache der gemeinsamen Ehrung verschiedener Toter, wie in der Grand Central Station, zeigt, daß der gewaltsame Tod unterschiedlicher Personengruppen in ein- und demselben Begründungszusammenhang gestellt wird. Beiden Gruppen, den getöteten Zivilisten in New York und den in Afghanistan getöteten Soldaten, ist gemein, daß ihr Sterben als ein Opfer (sacrifice) gesehen wird, das sie für Amerika, mehr noch, für die »Freiheit in einer zivilisierten Welt« erbracht haben. Das zeigt zum einen die zentrale Gedenkfeier: »A Prayer for America«, die am 23. September 2001 als ökumenischer Gottesdienst im New Yorker Yankee-Stadion für die Toten der Terrorangriffe veranstaltet wurde: »We’re here today to honor those who sacrificed their lives.« Mit diesen Worten, die den Massenmord an den Zivilisten als ein von diesen selbst erbrachtes Opfer darstellen, leitete die Fernsehmoderatorin Oprah Winfrey in ihrer Funktion als Master of Ceremonies die Gedenkfeier ein. Der Sinn dieses Opfers liege, so Winfrey weiter, in der Entstehung eines »new spirit of beauty and unity in our country.« Den Tod als soziale Trennung thematisiert sie als etwas, das die Gemeinschaft der Lebenden stärke. Die Toten werden gewissermaßen in die Gemeinschaft hereingenommen: »Each life lost represents every one of us: the cook, the stockbroker, the janitor, the policeman, the teachers, government workers, the investment banker, the secretary, the firefighters, the children.« In der Geschichte öffentlichen Gedenkens ist die Hereinnahme der Toten in die Gemeinschaft immer wieder vollzogen worden: Erinnert sei an das Aufrufen der Namen der Toten, das mit einem »Hier!« im Kreis der Lebenden beantwortet wird, oder auch an die Prämisse eines »lebendigen Geistes unserer Toten«.42 Demgegenüber bleibt Winfreys Ansprache, die mehr an »New York« denn an »America« gerichtet ist, auf bemerkenswerte Weise frei von jeder kriegslegitimierenden Rhetorik. Auf die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens verweisend, endet Winfrey mit den Worten: »We all know for sure how fragile, how uncertain yet extraordinary, life can be. May we always remember. Thank you, New York.«43 Gleichwohl zeugte die Formensprache dieser Feier, die Prominenz der amerikanischen Flagge und militärischer Formationen, die zahlreichen Rufe »USA, USA« bis hin zu der Ansprache des Oberkommandierenden der Atlantikflotte, Admiral Robert Natter, von einer patriotisch-nationalen Diktion des Totengedenkens. Be-
—————— 42 Vgl. Kapitel II und III in diesem Band. 43 Der Wortlaut der Rede ist veröffentlicht in: http: www. Ophrah.com/tows/pfa_ophrah.jhtml.
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griffe wie »Opfer« und »Held«, die als Zentralbegriffe des politischen Totenkultes spezifische Deutungen des gewaltsamen Todes transportieren, standen im Zentrum vieler Ansprachen, wobei der amerikanische Begriff hero umgangssprachlich weniger belastet zu sein scheint als der deutsche »Held«. Daß hero keineswegs nur Menschen meint, die als Kämpfer, Krieger oder Soldaten außerordentliche Leistungen (bis hin zum Einsatz des eigenen Lebens) vollbringen, sondern auch Menschen, die in anderen Bereichen Vorbildcharakter besitzen und deshalb liebenswert scheinen, zeigt unter anderem das im Yankee-Stadion von der Schauspielerin und Sängerin Bette Midler vorgetragene Lied: »Did you ever know that you’re my hero«, bei dem viele Zuhörer zu weinen begannen. Einen direkten Rückgriff auf den Topos des Todes fürs Vaterland leistete dagegen Reverend Calvin Butts, indem er die Toten des 11. September als »amerikanische Patrioten« bezeichnete, die auf dem »Schlachtfeld« der einstürzenden Türme ihr Leben gelassen hätten. Als »amerikanische Patrioten« werden zum anderen auch die US-Soldaten angesprochen, die seit dem Beginn des amerikanischen Vergeltungskrieges in Afghanistan am 8. Oktober 2001 ums Leben gekommen sind. Einer von ihnen ist Sergeant First Class Nathan Ross Chapman, der durch seinen Tod am 4. Januar 2002 zu einem weiteren öffentlich betrauerten Helden der Vereinigten Staaten wurde: »Nathan hat gestern sein Leben verloren,« tat Präsident George W. Bush am folgenden Tag kund. »Aber ich kann den Eltern und Angehörigen von Nathan Chapman versichern, daß er sein Leben aus einem Grund verloren hat, der gerecht und wichtig ist, und dieser Grund ist die Sicherheit des amerikanischen Volkes, und dieser Grund ist die Grundlegung der Freiheit in einer zivilisierten Welt.«44 Der Grund- und Sinnlosigkeit des gewaltsamen Todes gilt die Angst, die zu beschwichtigen und abzuwehren eine zentrale Funktion öffentlicher Gedenkfeiern ist. Von dieser Abwehr zeugt unter anderem ein Plakat der amerikanischen Regierung anläßlich der Zerstörung der amerikanischen Pazifikflotte am 7. Dezember 1941 in Pearl Harbor: Das Bild einer zerrissenen, gleichwohl wehenden amerikanischen Flagge zitiert Abraham Lincoln mit folgenden Worten: »We here highly resolve that these dead shall not have died in vain... Remember Dec. 7th.«45 »Um-
—————— 44 Zit. nach Hupertz, Du wirst vielleicht sterben. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.1.2002. Es gibt zu denken, daß, wie Hupertz schreibt, die Soldaten, die durch »friendly fire«, also versehentlich von eigenen Leuten getötet wurden, den Zeitungen nur wenige Zeilen wert waren: »Sie hätten sich nicht so gut als Helden geeignet, da sie nicht durch ›die Bösen‹, sondern durch ›die Guten‹ getötet wurden.« 45 Eine Abbildung dieses Plakats ist veröffentlicht in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.9.2001.
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sonst«, also ohne Gegenleistung, sollte der zum Opfer verklärte Tod der Marinesoldaten in Pearl Harbor tatsächlich nicht bleiben: Durch den siegreichen Ausgang des Zweiten Weltkrieges waren in der Perspektive der Vereinigten Staaten diese Opfer fortan gerechtfertigt und belohnt. Vor dem Hintergrund der Ereignisse des 11. September 2001 erlangte die Erinnerung an den japanischen Überraschungsangriff auf Pearl Harbor eine bislang nicht dagewesene Popularität; Susan Sontags wenige Tage nach der Katastrophe am 11. September treffend formuliertes Statement, dieses Ereignis habe nichts mit Pearl Harbor gemein,46 verhallte ungehört. Anläßlich des 60. Jahrestages des Überfalls am 7. Dezember 2001 gedachte George W. Bush auf dem Flugzeugträger »Enterprise« vor Tausenden von Soldaten jenen Tages, aus dem, wie er sagte, der Entschluß gewachsen sei, die Freiheit zu verteidigen. »Und jene Mission, unsere große Berufung,« so fuhr er fort, »dauert bis zu dieser Stunde an.«47 Pearl Harbor avanciert hier zu einem Deutungsmodell, das eine Analogie der faschistischen Feinde von einst mit den islamischen Selbstmordattentätern des 11. September ermöglicht: So wie im Zweiten Weltkrieg der Kampf der Vereinigten Staaten für die gerechte Sache siegreich verlief, wird auch der Kampf gegen den internationalen Terrorismus siegreich verlaufen. Auffällig an den Gedenkansprachen nach dem 11. September ist die fraglose Inanspruchnahme universeller Kategorien nicht nur für die Deutung des Massenmordes, sondern zudem für die Begründung der daraus resultierenden Konsequenzen. Die politische Rhetorik der amerikanischen Regierung zielte von Anfang an auf die Entpolitisierung der Attacke: »Heute hat unsere Nation das Böse gesehen, das Allerschlimmste menschlicher Natur,« so Bush in seiner Fernsehansprache am 11. September 2001.48 Und Bundeskanzler Gerhard Schröder: Diese Gewalt sei »eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt« und bedrohe »unmittelbar die Prinzipien menschlichen Zusammenlebens«.49 Freiheit, Zivilisation, die »Achse des Bösen« und der gerechte Krieg – das sind in etwa die Zentralvokabeln, mit deren Hilfe die stets partikularen Interessen der Politik mit den Weihen unanfechtbarer
—————— 46 Vgl. Sontag 2001. 47 Zit. nach Jordan Mejlas, Die Zinsen des Traumas. Pearl Habor als Lektion für den Krieg gegen den Terror. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.12.2001. 48 »Unser Land ist stark.« Die Fernsehansprache von Präsident George W. Bush (Auszüge). Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.9.2001. 49 Bundeskanzler Gerhard Schröder, Solidarität mit unseren amerikanischen Freunden. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.9.2001.
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Fraglosigkeit versehen werden. Sicher hat die Überzeugung von einer Identität nationalpolitischer Interessen mit universellen Werten in den Vereinigten Staaten eine Tradition, die bis zu den englischen Siedlern im 17. Jahrhundert zurückgeht, welche ihre Kolonien mit einem besonderen Segen Gottes ausgestattet glaubten. Gleichwohl erfährt der Hang, politische Deutungen und Handlungen mit Hilfe von Universalkategorien zu entpolitisieren, nicht nur mit der Regierung Bush eine Neuauflage; in der politischen Rhetorik der Bundesrepublik ist, wie oben geschildert, seit dem Ende der achtziger Jahre ebenfalls eine deutliche Affinität zu Universalkategorien zu beobachten. Das eigentlich Überraschende ist, daß die historische Tiefendimension dieser Rhetoriken immer wieder übersehen wird: Wenn Bush den militärischen Tod in Afghanistan und im Irak damit legitimiert, daß diese Tode nicht »grundlos«, sondern für die Sicherheit des amerikanischen Volkes und für die »Freiheit in einer zivilisierten Welt« notwendig seien, dann bedient er sich jener oben skizzierten Opferlogik, der zufolge es stets erneut der Menschenopfer bedarf, um ein wie auch immer ausgewiesenes Heil zu erreichen. Offenbar bedarf es exakt dieses Argumentationsmusters, um Tötungs- und Todesbereitschaft zu erzeugen und post mortem zu legitimieren. Ein Beispiel soll an dieser Stelle genügen, um zu zeigen, daß schon zur Zeit der napoleonischen Kriege die scheinbare Notwendigkeit des Menschenopfers argumentativ vergleichbar begründet wurde. In einer Predigt, die 1813 im Rahmen der regierungsamtlich verordneten Gottesdienste anläßlich des »Ausmarsches der vaterländischen Krieger« gehalten wurde, heißt es: »So gilt auch jetzt, da unsere vaterländischen Krieger ausziehen, da unser ganzes Volk sich gleichsam zum Kampfe rüstet, eine heilige Sache, es gilt den König und das Vaterland, es gilt unseres Volkes Wohl, das Wohl eines großen Theils der Menschheit; es bedarf des Kampfes, es bedarf vieler und schwerer Opfer (...) und nur wenn diese (...) Opfer gebracht werden, sind wir, was wir seyn wollen, ist uns das Leben, Heil und Seegen von Gott.«50
Der Kontinuität der Vorstellung von der Notwendigkeit des Menschenopfers steht die Diskontinuität der historisch differierenden Aktualisierungskontexte gegenüber: Dienten zur Zeit der Befreiungskriege die Kirchen als Stätten zur Propagierung der Kriegsideologie, sind es heute die Medien, die zum Zweck der Plausibilisierung des Opfergedankens genutzt werden. War damals noch der explizite Bezug auf »Gottes
—————— 50 Raymund Dapp (Hg.), Gemeinnütziges Magazin für Prediger auf dem Lande und in kleinen Städten 8,1. Berlin und Stettin 1817, S. 40f; zit. nach Gerhard Graf 1993, S. 29. Zu weiteren historischen Schauplätzen christlicher Vorstellungskomplexe wie die vom »Reich Gottes« versus dem »Reich der Finsternis« und des Bösen vgl. Lanwerd 2004.
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Seegen« und den »heiligen Krieg« unerläßlich, gelten entsprechende Sakralisierungsstrategien heute als verwerflich; dies durchaus in Abgrenzung gegenüber dem islamistischen Konzept des »heiligen Krieges«, wobei die Tatsache gern übersehen wird, daß eine religiös fundierte Nobilitierung von Massentötungen auch in Ländern mit einer christlichen Tradition bis ins 20. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit war und ist. Konstitutiv für die Vorstellung einer Notwendigkeit des Menschenopfers sind gleichwohl Dichotomien wie die vom »Reich Gottes« versus dem »Reich der Finsternis« und des Bösen. Die Vision »vom Endkampf zwischen Gut und böse vor dem Tag des Jüngsten Gerichts« beschwor denn auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrem Kommentar zu den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon.51 Zivilisation versus Barbarei ist ein weiteres tradiertes Deutungsmuster von offenbar hohem Plausibilitätsgrad. Als ein »gesamteuropäischer Freiheitskrieg«,52 der sich »gegen den gemeinsamen Feind in einer einzigartigen Solidarität, (...) gegen den Unterdrücker jeder menschlichen Kultur und Zivilisation« richte,53 wurde beispielsweise schon der deutsche Überfall auf die Sowjetunion legitimiert. Die Begriffe »Freiheit«, »Zivilisation« beziehungsweise das Menschliche nutzte bereits die nationalsozialistische Propaganda als Legitimationspotential. Wie unter anderem die Geschichte des Ohlsdorfer Friedhofs in Hamburg zeigt, wurden bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Tote als »Opfer für den Befreiungskampf des deutschen Volkes« geehrt.54 Dem Kampf um Befreiung beziehungsweise Freiheit stand schon damals der »Terrorismus« des Gegners gegenüber, wie die Grabinschrift für die etwa 37 000 Menschen, die bei der Bombardierung Hamburgs Ende Juli bis Anfang August 1943 ums Leben kamen, belegt: Sie war den »Opfern des feindlichen Terrors« gewidmet.55 Daß auch in der Deutschen Demokratischen Republik von »anglo-amerikanischen Terrorangriffen«, beispielsweise hinsichtlich der Zerstörung Dresdens (13.-15. Februar 1945), gesprochen wurde, belegt eine
—————— 51 Günther Nonnenmacher, Danach. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.9.2001. 52 Erklärung der »Deutschen diplomatisch-politischen Information« vom 27.6.1941 über den europäischen Kreuzzug gegen den Bolschewismus. Nachgedruckt in: Völkischer Beobachter (Berliner Ausgabe) Nr. 179 vom 28.6.1941; zit. nach Wette 1991, S. 58. 53 Joseph Goebbels, Geheime Ministerkonferenz vom 27.6.1941; zit. nach Wette 1991, S. 58. 54 Beispielsweise der wahrscheinlich durch einen Autounfall ums Leben gekommene Reichsminister für Bewaffnung und Munition Fritz Todt; vgl. Reichel 1995, S. 92. 55 Vgl. Reichel 1995, S. 96. Nach 1945 wurde die Anlage neu gestaltet. Die Widmung des dort errichteten Mahnmals des Bildhauers Gerhard Marcks lautet: »Mahnmal für die Opfer des Bombenkrieges«; vgl. Diercks 1992, S. 86ff.
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Kontinuität in der Terminologie des Dritten Reiches und der DDR, die der Kontinuität des anti-amerikanischen Feindbildes geschuldet ist. Terrorismus war schon im 20. Jahrhundert ein Terminus, mit dessen Hilfe die Kampfmethoden des Feindes, nie aber die selbst verursachten Massentötungen bezeichnet wurden. Daß der Holocaust oder auch der »Auschwitz-Code« angerufen wird, um alle möglichen »unsagbaren« Katastrophen auf den Begriff zu bringen, hilft nicht, wie Ronit Lentin schreibt, der Erinnerung an die Shoah, sondern bringt eben diese Erinnerung zum Verschwinden.56 Das Holocaust-Gedenken, das im vereinten Deutschland zu einer nationalen Aufgabe erklärt wurde, ist ein durchaus internationales Phänomen.57 Insofern handelt es sich beim Holocaust-Gedenken in Deutschland nicht so sehr um die Erinnerung an die eigenen Verbrechen. Im Zentrum des Holocaust-Gedenkens steht, wie die Gedenkansprachen bundesdeutscher Politiker und Politikerinnen in den neunziger Jahre zeigen, in erster Linie der Mensch und damit die Erinnerung an eine große existentielle, aber überwundene Katastrophe, vor deren Hintergrund das Profil eines geeinten Europas umso deutlichere Konturen annimmt. Nicht nur, daß Deutschland sich nunmehr in Europa als Gleiche unter Gleichen weiß, auch »Auschwitz« ist gewissermaßen in Bewegung geraten: Als Universalmetapher für das Böse kann Auschwitz nun überall auf der Welt, auch von Deutschen, befreit werden.58 Der Holocaust als Metapher ist im ausgehenden 20. Jahrhundert zu einer Universalie geworden, zu einer absoluten Referenz, die unterschiedlichen Gesellschaften in Europa und der westlichen Welt das Bewußtsein eines gemeinsamen Wertefundaments ermöglicht. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der Bezug aufs Universelle nicht unter Umständen die partikularen Interessen vergessen macht, deren Existenz die Metaebene des allgemein Gültigen doch zur Voraussetzung hat. Wenn die universalisierende Funktion von etwas darin besteht, eine »Vereinbarung« von Partikularinteressen zu ermöglichen, dann weil Universalien und Partikularismen nicht identisch sind. Vor diesem Hintergrund wäre die Anrufung von Universalien nur dann legitim, wenn zugleich die partikularen Interessen mitbenannt werden, die über den Bezug auf das allgemein Gültige miteinander vermittelt werden sollen. Aber eben diese Reflexion aufs Partikulare entfällt, wenn beispielsweise der
—————— 56 Lentin 2002. 57 Beispielsweise ist der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, seit kurzem auch Gedenktag in England und Italien. 58 Vgl. Levy und Snaider 2001.
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gewaltsame Tod im Kontext militärischer Einsätze, die doch stets spezifisch politischen und wirtschaftlichen Interessen geschuldet sind, mit Universalien legitimiert wird.59 Die Begriffe Freiheit, Zivilisation, Sicherheit, das Gute und das Böse verkommen zur bloßen Rhetorik in dem Moment, in dem sie dazu dienen, die jeweiligen Partikularismen zu entpolitisieren und mit der Würde des fraglos Richtigen und allgemein Gültigen zu versehen. Eine solche Ineinssetzung des allgemein Gültigen, Richtigen und Guten mit spezifischen nationalpolitischen Interessen läßt sich nicht zuletzt an den Gedenkansprachen der amerikanischen Regierung nach dem 11. September 2001 beobachten: Die Selbstmordattentate auf das World Trade Center, das Pentagon und den Flug 93 in Pennsylvania wie auch die darauf folgenden Kriege in Afghanistan und im Irak wurden mehr oder weniger ausschließlich in den Kategorien des Guten und des Bösen thematisiert. Unter dieser Prämisse konnte das Totengedenken von Anfang an dazu dienen, zugleich den Gedanken von der Notwendigkeit künftiger Menschenopfer zu popularisieren. So nutzte Präsident George W. Bush die Gedenkveranstaltung vor dem Weißen Haus ein halbes Jahr nach den Attentaten am 11. März 2002 zur Ankündigung weiterer Kriege, um die »terroristischen Parasiten« auszurotten.60 Die alte, christlich tradierte Vorstellung eines notwendigen Kampfes des Guten gegen das Böse hat im 20. Jahrhundert stets erneut zur Legitimation des gewaltsamen Todes gedient. Im Namen eines vom Tod unangefochtenen Lebens – das des Vaterlandes, der Nation, der Rasse, der Zivilisation oder irgendeiner anderen vorgestellten Einheit oder Gemeinschaft – ist der gewaltsame Tod immer wieder gerechtfertigt worden. Es bleibt die Tatsache als Paradox, daß Akte des Gedenkens, die erklärtermaßen der Trauer um die Toten dienen, potentiell für eine politische Legitimation eben dieses Todes in Anspruch genommen werden können. Politische
—————— 59 So zuletzt Josef Kardinal Ratzinger in seiner Rede anläßlich des sechzigsten Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandie in der Kathedrale von Caen. Seine Rechtfertigung eines gerechten Krieges basiert auf folgender Argumentation: »Die Verteidigung des Rechts (...) darf und muß sich (...) ihrerseits (...) einer (...) Gewalt bedienen, um das Recht zu schützen.« Indes übersieht Ratzingers Warnung: »Allzu leicht mischen sich (...) eigene Interessen in die Aktion ein und verunreinigen den Blick auf die Gerechtigkeit,« daß jedes Handeln, das militärische zumal, stets durch eigene, partikulare Interessen motiviert (um nicht zu sagen: verunreinigt) ist. Vgl. Josef Kardinal Ratzinger, Auf der Suche nach dem Frieden. Gegen erkrankte Vernunft und mißbrauchte Religion. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.6.2004. 60 Vgl. Bush, Es gibt keine Neutralität. »Weitere Schlachten gegen den Terrorismus«. Gedenkveranstaltung zum 11. September. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.3.2002.
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Rechtfertigungen des gewaltsamen Todes zielen immer wieder auf die Aufhebung des Todes in einer heilsbedeutenden Konstellation. Daß aber dieses Heil nie in der Jetztzeit zu liegen scheint und der einmal zum Opfer verklärte Tod zur Begründung neuer und weiterer Opfer genutzt werden kann, hat die Geschichte des Gedenkens im 20. Jahrhundert gezeigt.
Nachwort
Öffentliche Gedenkfeiern ähneln einem Vergrößerungsglas, welches das Bild der Vergangenheit dahinter verzerrt und das Selbstverständnis derer, die gedenken, um so präziser anzeigt. Für die Angehörigen und Freunde der Toten, für die Überlebenden und Veteranen dienen die Veranstaltungen dazu, die durch den Tod eines Menschen hervorgerufenen psychischen und sozialen Konflikte zu verarbeiten. Gedenken eröffnet eine Möglichkeit des individuellen Umgangs mit Verlust, Leiden und Trauer, mit Erfahrungen also, die durch kausale Erklärungen nicht hinreichend zu fassen sind. Die Frage nach dem Warum des Todes bleibt bestehen, denn die sich daran anknüpfende Sinnerwartung ist letztlich nicht erfüllbar. Für Überlebende und Veteranen sind öffentliche Gedenkfeiern aber auch ein Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung ihres Leides. Nun zeichnen Gedenkveranstaltungen in der Regel ein idealisiertes, gleichsam gereinigtes Bild der tatsächlichen Umstände des Mordens und Sterbens. Dementsprechend sind Überlebende und Veteranen aufgefordert, »durch ihre Anwesenheit die Gedenkveranstaltungen am Fuße des Mahnmals« zu ehren, »von denen sie nur zu gut wissen, daß es ihre wirkliche Erfahrung nicht angemessen repräsentiert«.1 Gesellschaftliche Anerkennung ist für Überlebende häufig nur um den Preis zu haben, daß sie die gesellschaftspolitischen Motive öffentlichen Gedenkens mittragen und legitimieren. Massentötungen wurden im Rahmen von Gedenkfeiern des 20. Jahrhunderts auf eine Weise thematisiert, die Anschlußhandlungen ermöglichen soll. Im Dritten Reich wie auch in der Deutschen Demokratischen Republik war dieses Interesse so dominant, daß Gedenkfeiern nicht als »Trauerfeiern« durchgeführt werden durften. Aber auch in der Weimarer Republik wurde, um einen Begriff von Tim Cole aufzunehmen, auf einen »erlösenden Abschluß« (»redemptive closure«2) der Feiern Wert
—————— 1 Vgl. Chaumont 2001. 2 Cole 2000, S. 153.
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gelegt, wie beispielsweise das Hissen der Fahnen auf Vollmast am Ende der Schweigeminuten anläßlich der Heldengedenkfeier 1924 in Berlin zeigt. Daß Präsident George W. Bush Stunden vor Beginn der großen nationalen Trauerfeier »A Prayer for America« in New York City am 23. September 2001 die Fahnen der Vereinigten Staaten auf Vollmast hissen ließ, war ein Problem, weil dieser Akt einer redemptive closure erst als Schluß- und Höhepunkt der Trauerfeier hätte vollzogen werden sollen. Der Anlaß des Schreckens, des Entsetzens und der Trauer sei im Grunde vorüber, so die Botschaft, jetzt gelte es, sich auf der Basis neu zu formulierender Prämissen der Zukunft zuzuwenden. Das Beispiel zeigt, daß Strukturmuster und formensprachliche Elemente öffentlichen Gedenkens nicht so sehr Ausdruck eines bestimmten Staatswesens oder einer besonderen politischen Verfaßtheit sind. Tatsächlich bedienen sich ganz unterschiedliche Staaten und Kollektive derselben kommemorativen Praktiken, wie beispielsweise des Mischens und Beisetzens von Erden, die Stätten des (gewaltsamen) Todes entnommen wurden. Erden von nationalsozialistischen Vernichtungsstätten beziehungsweise von Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges wurden sowohl in der Hall of Remembrance des United States Holocaust Museums in Washington D.C. beigesetzt als auch im zentralen »Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus« der DDR in der Berliner »Neuen Wache«. In der zentralen Gedenkstätte des Völkermords an den Armeniern in Eriwan wird Erde aus Gräbern von Menschen aufbewahrt, die den Armeniern beigestanden haben.3 Strukturmuster und Praktiken öffentlichen Gedenkens entwickelten sich seit der französischen Revolution beziehungsweise mit Beginn des bürgerlich-nationalstaatlichen Zeitalters und sind von einer erstaunlichen Beharrungskraft. Der formensprachliche Konservatismus öffentlichen Gedenkens ist dementsprechend auch in den deutschen Erinnerungskulturen seit der Weimarer Republik zu beobachten, wobei die Grundmuster wie die spezifischen politischen und sozialen Vorstellungen der Zeitgenossen variieren und nur aus den realhistorischen Kontexten der Zeit zu erklären sind: Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß im Ersten Weltkrieg der Tod deutscher Soldaten durch keinen Sieg zu rechtfertigen war, standen die offiziellen Gedenkfeiern in der Weimarer Zeit im Zeichen der Erwartung eines Kommenden. Die Toten wurden als Instanzen adressiert, deren »lebendiger Geist« die noch aus-
—————— 3 Es handelt sich um Personen wie Henry Morgenthau, Fritjof Nansen, Johannes Lepsius und Franz Werfel. Diese Erden befinden sich auf der Rückseite der »Mauer des Schweigens«, auf deren Vorderseite die Namen der Städte eingemeißelt sind, die in der Türkei einst von den Armeniern besiedelt waren. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.6.2004.
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stehende »Schicksalswende« in Deutschland begünstigen sollte; die Gegenwart – »Menschenhaß will deutsches Sterben«, wie der protestantische Geistliche Erich Schlegel in seiner Ansprache anläßlich der Heldengedenkfeier 1924 formulierte – wurde als defizitär thematisiert. Anders lag der Fall in den nationalsozialistischen Gedenkfeiern, mit denen das NS-Regime die Wiederaufrüstung als ein Vermächtnis der im Ersten Weltkrieg Gefallenen feierte, wie die als Staatsakt begangene Einweihung des Marine-Ehrenmals Laboe 1936 deutlich macht. Die »NS-Liturgik« (Mosse) wiederholte die wesentlichen Formen öffentlichen Gedenkens, potenzierte sie aber durch eine militärisch orientierte Dramaturgie, die von der Devise: »Keine Zuschauer – nur Mitwirkende« geprägt war. Nun ist in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht der Erste Weltkrieg, sondern der nationalsozialistische Genozid an den Juden Inbegriff des organisierten Massenmordes; vor diesem Hintergrund würde die Geschichte kommemorativer Praktiken, die den im Dritten Reich Verfolgten und Ermordeten gewidmet waren, Grund genug für eine eigene Analyse bieten. Daß in den ersten Kapiteln dieses Bandes gleichwohl Gedenkfeiern für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen Thema sind und sich auch die folgenden Kapitel immer wieder auf die Gedenkveranstaltungen zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus rückbeziehen, hat den folgenden Grund: Akte des Gedenkens für die NS-Verfolgten waren von Anfang an durch Rückgriffe auf Vorstellungen und Praktiken geprägt, die schon die Sprache des Gedenkens für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen strukturierten. Hierfür kommen verschiedene Gründe in Betracht: Zum einen hatte mit dem Ersten Weltkrieg, der rund 13 Millionen Menschen das Leben kostete, die Erfahrung des massenhaften und organisierten Todes eine historisch neue Dimension angenommen. Das Deutungsmuster eines sinnhaften Todes, des Opfers für eine spezifische Gemeinschaft namens Volk oder Nation, wurde in öffentlichen Gedenkfeiern popularisiert. Ihm eignet ein offenbar so hoher Plausibilitätsgrad, daß es sich nach 1945 auch für die Deutung des Todes in den nationalsozialistischen Lagern in Anspruch nehmen ließ, und zwar in beiden Teilen Deutschlands. Zum anderen sind Ereignisse einer vollständigen Zerstörung zunächst nur dann erinnerbar, wenn sie sich in einen bestehenden Bildhaushalt integrieren lassen. Die Vorstellung, daß der Tod nicht sinnlos, sondern »für etwas« erfolgte und eben deshalb »nicht umsonst« sein darf und kann, ist ein zentrales Strukturelement öffentlichen Gedenkens im 20. Jahrhundert. Nicht zuletzt waren die Überlebenden, die in Deutschland die ersten Gedenkfeiern für die in Lagern Ermordeten organisierten, selbst zur Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reichs sozialisiert und kannten daher keine andere
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Form der Nobilitierung der Toten als die, die in den Gedenkfeiern für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen üblich waren. Die Translozierung von Erde und menschlichen Überresten wie Knochen und Asche ist ebenso wie das Hinterlassen von Inschriften an signifikanten Stätten des Todes ein sowohl christlich als auch national tradierter Modus des Umgangs mit dem gewaltsamen Tod. Ein anderer ist der Kreuzweg: Kreuzwege sind nach dem Ende der beiden Weltkriege an Stätten von Massentötungen angelegt worden. Auch die Wegeführungen an Stätten ehemaliger Konzentrationslager wie Dachau, Ravensbrück und Buchenwald sind am Konzept der via dolorosa orientiert. In der Praxis des Gedenkens christlicher Gruppen an diesen Stätten erweist sich der Gedanke der imitatio christi, der der Kreuzwegkonzeption zugrunde liegt, als stabile Deutungskategorie des Leidens in den nationalsozialistischen Lagern. Gleichwohl verfährt die im christlichen Gedenken vollzogene Reduktion der nationalsozialistischen Massentötungen zu einem bloßen Bestandteil einer unendlichen Opfergeschichte nur scheinbar unpolitisch. De facto waren die christlichen Gedenkfeiern nach 1945 von der Sprache des Kalten Krieges geprägt, indem der Nationalsozialismus mit dem »Land jenseits des Todesstreifens« mehr oder minder gleichgesetzt wurde. Christliche Gedenkfeiern, die in der Deutschen Demokratischen Republik seit den achtziger Jahren zunehmend auch in den KZ-Gedenkstätten durchgeführt wurden, waren dagegen von einem eher bürgerrechtlichen Engagement geleitet, das auf eine Demokratisierung der ostdeutschen Gesellschaft zielte. Erst wenig untersucht sind die explizit militärischen Formen der Totenehrung wie beispielsweise das zeremonielle Senken der Fahnen. Diese Geste militärischer Ehrerweisung war schon im 17. Jahrhundert verbreitet und hat sich ungeachtet aller politischen Brüche bis heute gehalten. Das Senken der Fahnen war nach 1945 Bestandteil der Gedenkfeiern für tote und verschollene Angehörige der Wehrmacht, die in erster Linie von Soldatenverbänden und Traditionsvereinen auf lokaler Ebene durchgeführt wurden. Als Stätten des Gedenkens dienten in erster Linie Friedhöfe, wo, wie auch in vielen Dörfern und Städten, Gedenksteine und Denkmäler, die den im Ersten Weltkrieg Gefallenen gewidmet waren, mit dem Zusatz »1939–1945« versehen wurden. Ein »Nationaler Gedenktag des deutschen Volkes«, der Gelegenheit zur Ehrung der »eigenen« Toten auf überregionaler Ebene geboten hätte, wurde zwar 1950 inauguriert, im Jahr 1954 aber durch den 17. Juni abgelöst. Der Kult um den deutschen Nationalstaat, an dessen Regeneration gesellschaftliche Gruppen in der jungen Bundesrepublik durchaus interessiert waren, kam in den fünfziger und
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sechziger Jahren weitgehend zum Erliegen.4 Einzig der »Volkstrauertag«, im Jahr 1924 erstmals begangen und 1934 zum »Heldengedenktag« umgewidmet, konnte nach seiner Wiedereinführung in Westdeutschland Kontinuität und Verbindlichkeit behaupten. Anläßlich dieses Tages wurde und wird unter dem entkonkretisierenden Begriff der »Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft« unterschiedlicher Personengruppen gedacht, seien es tote und vermißte Soldaten, seien es Vertriebene und Verschleppte, seien es Menschen, die bei den Bombenangriffen und/oder der Flucht ums Leben kamen. Klaus Naumann spricht hinsichtlich der deutschen Nachkriegsgeschichte von einem »unwahrscheinlichen Integrationsexperiment«, das völlig unterschiedlichen »Schicksalskategorien« gegolten habe.5 Die verschiedenen »Erinnerungsgemeinschaften«, der Föderalismus der Bundesrepublik und der Überdruß an staatsoffiziellen Veranstaltungen mögen Gründe dafür sein, daß Akte öffentlichen Gedenkens jahrelang primär auf regionaler Ebene durchgeführt wurden. »Wer in Demokratien ein Denkmal setzen will, muß ein Dutzend beantragen.«6 Dieser Befund ist symptomatisch für die zunehmende Pluralisierung und Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Reflexionsprozesse in der Bundesrepublik seit Ende der siebziger Jahre. Allein in West-Berlin sind seit Anfang der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre mehr Denkmäler, die sich auf den Nationalsozialismus beziehen, gesetzt worden als in all den Jahrzehnten zuvor. Die neue, bürgerrechtlich und traditionskritisch orientierte Geschichts- und Gedenkstättenbewegung war sowohl durch das Interesse an der Freilegung bislang verschütteter, regionaler Topographien des Terrors geprägt als auch durch die Kritik aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen wie Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Rechtsextremismus. Paradoxerweise war dieses neue, nicht nur in der Bundesrepublik zu beobachtende Geschichtsinteresse von einem Prozeß einer Universalisierung des Holocaust begleitet: Auschwitz, der Inbegriff des nationalsozialistischen Genozids, wurde mit der
—————— 4 Vgl. Wolfrum 1999, S. 267. Als »nationale Freiheitskämpfer« wurden in der Bundesrepublik bis Anfang der sechziger Jahre die Verfolgten des Stalinismus gewürdigt und öffentlich geehrt. Mit dem Übergang vom Kalten Krieg zur sozialdemokratischen Entspannungspolitik verlor das Gedenken dieser Verfolgtengruppe jedoch seine »antikommunistische Symbolfunktion«; die ehemaligen Internierten der sowjetischen Lager und politischen Häftlinge der DDR wurden zunehmend vergessen. Öffentliche Gedenkveranstaltungen zu Ehren der Stalinismus-Verfolgten fanden erst wieder nach der deutschen Vereinigung statt; vgl. Boll 2001, S. 273ff. 5 Naumann 2004, S. 66. 6 Mattenklott 1993.
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Potenz einer Letztbegründung ausgestattet und gilt seither als der »Maßstab der Unterscheidung zwischen gut und böse«.7 Die ebenso aktuelle wie atavistische Rede vom Guten und Bösen, die sowohl das »Holocaust-Gedenken« als auch viele Gedenkfeiern für die Toten des 11. September 2001 prägt, ist Ausdruck einer Universalisierung, die tradierte Formen der Sakralisierung des gewaltsamen Todes partiell abzulösen scheint. Das Gute und das Böse scheinen als Kategorien sui generis selbst ahistorischer Natur, sozialregulative Normen wie richtig und falsch werden in den Begriffen des Guten und Bösen essentialisiert. Das Problem ist, daß der Bezug aufs Gute und Böse selbst keineswegs ahistorisch ist; Vorstellungen vom Guten und Bösen waren stets unabdingbarer Bestandteil kriegslegitimierender Rhetoriken. Noch die »Ursprünge der Völkermorde in der Moderne« sind, wie Omer Bartov schreibt, »tief verwurzelt in einer Geschichte der Metaphern des Bösen oder vielleicht auch böser Metaphern, die behaupten, Geschichte zu sein.«8 Metaphern des Bösen stützen sich auf religiös vorformulierte Dichotomien, die dem Heilen, Reinen und Unversehrten als der »Wirkungsmacht des Eigenen« das »selbstgeschaffene Andere«, das Böse, zu Verwerfende und Schmutzige gegenüberstellen.9 Mit dem notwendigen Kampf gegen das Böse ist das Opfer von Menschen immer wieder legitimiert worden. Auffällig ist, daß der Kampf offenbar nicht zu einem Ende kommt und daher jedes offizielle Gedenken der Opfer zur Plausibilisierung der Notwendigkeit weiterer Opfer genutzt werden kann. So dankte Präsident George W. Bush anläßlich der Einweihung des National World War II Memorials in Washington D.C. am 29. Mai 2004 der »größten Generation« für ihre Opferbereitschaft: »Sie haben die besten Jahre ihres Lebens gegeben für die größte Mission, die ihr Land jemals zu erfüllen hatte,« sagte Bush. Aber damit nicht genug. Heute würde die Freiheit in Kabul und Kandahar, in Bagdad und Mossul verteidigt. Und deshalb dauert »unsere Mission fort, und wir werden sie bis zum Sieg erfüllen«, schloß der Präsident.10 Die Erinnerung an den Tod von 405 000 US-Amerikanern während des Zweiten Weltkrieges dient dazu, die Notwendigkeit weiteren Sterbens zu begründen.
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Levy und Snaider 2001, S. 15. Bartov 1998, S. 809. Braun 1996, S. 6–25. Ein Denkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges in Washington. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.6.2004.
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Wo gedenkend das Opfer von Menschen gerechtfertigt wird, ist, wie die Geschichte zeigt, immer wieder die Forderung nach weiteren Menschenopfern erhoben worden. Eben dagegen richten sich die Worte Ingeborg Bachmanns:»Auf das Opfer darf sich keiner berufen. Es ist Mißbrauch. Kein Land und keine Gruppe, keine Idee, darf sich auf ihre Toten berufen.« 11 Tote sind im Rahmen nationaler Gedenkfeiern immer wieder als Legitimationsinstanzen in Anspruch genommen, obgleich sie doch »nicht mehr den Staaten, den Parteien« gehören und sich ihr Schweigen »nicht zu Parolen ausdeuten« läßt.12 Es bleibt die Frage, ob ein Gedenken an die Toten möglich wäre, das deren Schweigen erträgt und das seine Legitimation einzig aus sich selber schöpft.
—————— 11 Bachmann 1981, S. 135. 12 Böll 1969, S. 196.
Literatur
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Abbildungsnachweise Abtei Lichtenthal, Baden-Baden: 10. Archiv Deutscher Marinebund e.V.: 5, 6. Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/ Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten: 12. Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: 7, 8, 9. Berliner Auktionshaus für Geschichte: 11.