Experimente mit Detanol (THE BLACK FLAME)
von STANLEY G. WEINBAUM 1. Thomas Marshall Connors Todesstunde war gekommen...
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Experimente mit Detanol (THE BLACK FLAME)
von STANLEY G. WEINBAUM 1. Thomas Marshall Connors Todesstunde war gekommen. In zehn Minuten würde er zum elektrischen Stuhl geführt werden, weil er, ohne es zu wollen, einen Mann getötet hatte. Er hatte sich damit abgefunden. Der Tod war ihm gleichgültig geworden. Er nahm alles um sich her nur noch wie durch einen Nebel wahr. Die nüchtern kalte, graue Todeszelle mit den schweren Eisengittern, den knieenden Kaplan, der Gebete murmelte. Man hatte Connor bereits das Hosenbein aufgeschlitzt und eine Stelle auf seinem Kopf kahlgeschoren. Draußen auf dem Gefängniskorridor hallten die schweren Schritte seiner Wächter. Dann wurde die Tür seiner Zelle geöffnet. Das Murmeln des Kaplans verstummte. Teilnahmslos ließ Connor sich zu seinem letzten Gang führen. Teilnahmslos nahm er seinen Platz auf dem elektrischen Stuhl ein. Ohne jede Gemütsregung ließ er sich festschnallen und die Elektroden an seinem Kopf befestigen. Er hörte wie von ferne das Flüstern der Zeugen, das Kratzen der Bleistifte auf den Notizblöcken der Reporter. Ihm war, als ginge ihn das alles nichts an. Er saß nur da und wartete. Er mußte für seine Tat büßen. Und ein schneller, schmerzloser Tod erschien ihm fast wie eine Gnade. Er merkte es nicht einmal, als das Zeichen für den Stromstoß gegeben wurde. Ein Blitz blendenden blauen Lichts, ein jäher, scharfer Schmerz. Und dann – nichts. Gar nichts mehr. Das also war der Tod. Ein langsames, majestätisches Gleiten durch das Nichts, durch schwarze Leere, durch Ewigkeit und Unendlichkeit. Friede. Ruhe. *
Aber was war das für ein Lichtschimmer, der von irgendwoher aus dem Nichts zu ihm drang? Wie das schwache Blinken eines fernen Sterns… Allmählich verstärkte sich der Schein und wurde stetiger. Etwas hatte die schwarze Unendlichkeit, den ewigen Frieden unterbrochen. Langsam, ganz langsam wurde sich Connor dieser Unterbrechung bewußt. Nachdem er nur noch ein Teil des Alls gewesen war, dämmerte ihm zum erstenmal wieder das Bewußtsein seines Ichs, seiner Persönlichkeit, seiner Sinne und Erinnerungen. Gleichzeitig erwachte auch wieder das Gefühl von Schmerz und körperlicher Qual. Schrille Stimmen klangen an sein Ohr. Er fühlte eine Brise frischer Luft. Er fühlte sich zu schwach, um auch nur einen Finger zu rühren. Trotzdem spürte er seinen Körper. Er lag ganz still, reglos und wie gelähmt. Aber nicht mehr ohne Leben. Wieder klangen die schrillen Stimmen auf. Mit großer Kraftanstrengung gelang es ihm, die Augen zu öffnen. Blicklos starrte er in die Schwärze über ihm. Nach einer Weile begannen seine Augen zu sehen. Aber sein Hirn begriff noch nichts. In dem dunklen, lastenden Dach über ihm klaffte ein zackiger Riß, durch den schwaches Tageslicht schien. Er merkte plötzlich, daß er fror. Eine schreckliche Kälte schüttelte seinen Körper. Nicht der natürliche Frost eines frischen Wintertags, sondern die eisige, grauenhafte Kälte intergalaktischen Raums. Trotzdem befand er sich auf – nein, in der Erde, die ihn von allen Seiten umgab. Ihm war, als fließe Eiswasser durch seine Adern. Und doch fühlte er sich gleichzeitig völlig ausgetrocknet, so, als sei seinem Körper jeder Tropfen Flüssigkeit entzogen worden. Er konnte sich nicht erklären, was geschehen war und wo er sich befand. Er versuchte es auch gar nicht. Er konzentrierte alle ihm verbliebenen Kräfte auf den Versuch, sich zu bewegen. Es kostete ihn unendliche Mühe. Aber endlich hörte er ein leises Knistern wie von altem Pergament – und er spürte, daß sein rechter Arm sich ein wenig bewegt hatte! Die Anstrengung hatte ihn so erschöpft, daß er eine Weile wie betäubt liegenblieb, bevor er einen zweiten Versuch wagte. Aber
dann begannen auch seine Beine widerstrebend seinem Willen zu gehorchen. Und plötzlich wußte er, wo er sich befand. Er hatte keine Ahnung, wie und warum. Aber er wußte, daß er in seinem Grab lag! Und mit verbissener Willensanstrengung versuchte er sich nun daraus zu befreien. Er stemmte seine Schultern gegen die bröckelnde Decke. Sie gab nach. Lose Steine und Erdklumpen polterten in die Höhle hinunter, und der Riß weitete sich zu einer breiten Öffnung. Mühsam richtete er sich auf. Blendendes Tageslicht bohrte sich in seine Augen. Mit einem erstickten Aufschrei stürzte er vornüber ins Gras. Nach einem Augenblick erschrockener Stille gellten Kinderstimmen auf. Er konnte nicht verstehen, was sie riefen. Er hob den Kopf ein wenig und sah ein halbes Dutzend Kinder, die ihn entsetzt anstarrten. Sie trugen seltsam bunte, fremdartige Kittel und flohen wie aufgescheuchte Vögel, als er sich aufrichtete. Wieder war er allein. Entsetzlich allein. Verzweifelt stöhnte er auf – ein schwaches Rasseln drang von seinen aufgesprungenen, trockenen Lippen. Er sah an sich hinunter und bemerkte plötzlich, daß er nackt war. Seine Kleidung war längst zu Moder zerfallen. Und sein Körper sah aus wie ein Gerippe, von pergamentener Haut überzogen. Von Grauen geschüttelt, begann er jetzt erst zu begreifen: Er war auf irgendeine rätselhafte Weise von den Toten erwacht. Ein Gespenst aus dem Grab! Diese Erkenntnis warf ihn aufs neue zu Boden in einem Anfall von Schwäche und Entsetzen. Lange Zeit lag er mit dem Gesicht im Gras, außerstande, die schreckliche Wirklichkeit zu fassen. Er wußte nicht, wie lange er so gelegen hatte. Schmerz, Kälte und Durst trieben ihn endlich zu weiterem Handeln. Auf allen vieren kroch er zu einer Stelle, wo die Sonne sich in einer kleinen Wasserfläche spiegelte. Mit großer Mühe erreichte er den Tümpel. Als er sich niederbeugte, um zu trinken, starrte ihm sein eigenes Spiegelbild entgegen: Sein Kopf sah fast wie ein Totenschädel aus, so ausgemergelt und fleischlos waren Hals und Wangen. Er überwand den Schauder, der ihn faßte, und benetzte seine trockenen Lippen mit dem frischen Wasser. Dann ließ er sich
neben dem Tümpel ins Gras fallen und stöhnte: »O Gott! Wo bin ich?« Der Himmel über ihm leuchtete blau, das Gras grün, und die braune Erde dampfte vor Feuchtigkeit. Alles war, wie er es kannte. Und doch ängstigte ihn etwas Fremdes, Unbegreifliches. Er fand sich nicht mehr zurecht. Sein Sinn für Zeit und Umgebung war stehengeblieben wie eine Uhr, als der Stromstoß des elektrischen Stuhls ihn durchfuhr. Er fühlte, sich verloren, verlassen, fremd. Nach einer langen Zeit völliger Apathie wurde er sich des Klangs von Schritten bewußt. Matt öffnete er die Augen. Eine Gruppe von Männern näherte sich ihm. Auch sie waren in sonderbar grellfarbige Gewänder gekleidet. Sie trugen anliegende Hemden in Rot, Blau und Violett, dazu Pluderhosen, die an den Knöcheln gebunden waren und ihnen ein exotisches Aussehen gaben. Sie waren bartlos und hatten weichliche, ein wenig weibische Züge. Mit übermenschlicher Kraftanstrengung richtete Connor sich auf die Knie auf und streckte die abgezehrte Hand nach den Fremden aus. »Helft mir!« wisperte er kaum hörbar. Mit einigem Erstaunen stellte er fest, daß sein gräßlicher Anblick keinen großen Eindruck machte. Einer der Männer trat näher und beugte sich teilnahmsvoll über ihn. Seine Sprache klang ein wenig undeutlich und fremdartig. Aber es war ohne Zweifel Connors eigene Sprache, wenn auch ein wenig entstellt. »Du bist ein Schläfer, wie?« fragte der Mann ohne besondere Überraschung. Die anderen murmelten zustimmend: »Eah – ein Schläfer.« Connor begriff nicht. »Helft…«, wiederholte er matt. Jemand sagte: »Zu Evanie. Evanie, die Hexe wird ihm helfen.« Man hob ihn auf und trug ihn fort. Seine Schwäche überwältigte ihn wieder. Er fiel in tiefe Bewußtlosigkeit. * Als er das nächstemal erwachte, fand er sich auf einem weichen
Lager. Er hatte den unbestimmten, traumhaften Eindruck, daß sich ein sanftes Mädchengesicht über ihn beugte. Rötlich-braune Locken streiften seine Wange. Etwas Warmes, Öliges wurde auf seine Lippen geträufelt und sickerte angenehm durch seine Kehle. Dann wurde es wieder schwarz um ihn. * Es folgten Zeiten der Bewußtlosigkeit, unterbrochen von kurzen lichten Augenblicken. Körperliche Schmerzen und völlige Gefühllosigkeit wechselten ab. Manchmal drangen murmelnde Stimmen an sein Ohr, manchmal das Lachen von Kindern, das Zwitschern von Vögeln. Dann wurden die Zeitspannen klaren Bewußtseins länger. Er erkannte, daß er in einem Zimmer lag, auf einem Bett. Er sah seine abgezehrte Hand auf der Decke und konnte die Finger ein wenig bewegen. Und er begann, sich für seine Umgebung zu interessieren und sich den Kopf über seine Vergangenheit zu zerbrechen. Das Zimmer war schön, aber außerordentlich schlicht eingerichtet. Keine Bilder, kein Zierat. Nur Stühle aus einem aluminiumartigen, schimmernden Metall standen um einen silbrig glänzenden Tisch, auf dem ein paar abgegriffene alte Bücher lagen. Ein sonderbarer Beleuchtungskörper hing von der Decke herunter. Er versuchte zu rufen. Ein schwaches Krächzen war alles, was sich seiner Kehle entrang. Fast in derselben Sekunde antwortete eine sanfte Frauenstimme: »Wie fühlst du dich?« Er nickte kraftlos und versuchte, den Kopf nach der Richtung zu drehen, aus der die Stimme kam. Dann beugte sich jemand über ihn. Wieder sah er das ebenmäßig schöne, weiche Mädchengesicht, das er schon mehrmals wie im Traum wahrgenommen hatte. Das Mädchen hatte lange, kastanienbraune Haare und trug ebenfalls eine enganliegende Bluse und weite, seidige Pluderhosen. »Wer bist du?« fragte das Mädchen und schob ihm ein stützendes Kissen unter den Nacken. Er antwortete mechanisch:
»Ich bin Thomas Connor.« Und in diesem Augenblick kehrte ihm die Erinnerung an seine Persönlichkeit und Vergangenheit blitzartig zurück. Ja, er war Thomas Marshall Connor. Und er war zum Tode durch den elektrischen Stuhl verurteilt worden, weil er einen Mann getötet hatte. Der Prozeß – Ruth… Ja, Ruth, seine Verlobte, die er hatte heiraten wollen und die ihn mit seinem besten Freund betrogen hatte… Er erlebte den Abend wieder, da er Ruth in den Armen des anderen überraschte. Es war der Tag vor seiner Hochzeit… In bitterer Enttäuschung und blinder Raserei hatte er sie auf den Mann gestürzt, auf seinen besten Freund, der ihm die Braut gestohlen hatte. Und ein einziger, unglücklicher Faustschlag hatte ihn zum Mörder gemacht… Er erinnerte sich schmerzhaft genau des Prozesses, der Gefängniszelle und der Hinrichtung. Bis zu dem Moment, da der Strom seinen Körper durchzuckte. Aber dann? Was war dann geschehen? Hatte er durch irgendein Wunder den tödlichen Stromstoß überlebt? Hatte man ihn so oberflächlich verscharrt, daß er sich ohne weiteres aus seinem Grab befreien konnte? Aber wie lange hatte er darin gelegen? Wieso war er nackt gewesen? Tausend Fragen, auf die er keine Antwort fand. »Von wo stammst du?« fragte das Mädchen. »Saint Louis.« »Saint Louis? Kenne ich nicht. Das muß weit von hier sein. Wie lange hast du geschlafen?« Er zuckte hilflos die Achseln. »Du mußt lange geschlafen haben«, stellte sie fest. »Du bist reich.« Er verstand nicht, was sie meinte. »Wasser!« bat er. Sie schüttelte den Kopf. »Kein Wasser. Aber das hier.« Sie hob seinen Kopf und flößte ihm mit der anderen Hand wieder etwas von der öligen Flüssigkeit ein. Er fühlte, wie die Arznei ihn belebte. »Wer bist du?« fragte er dann. »Evanie, die Hexe«, war die rätselhafte Antwort. »Hexe? Was tust du…?« »Tun?« Sie zeigte auf das Fläschchen in ihrer Hand und andere
Flaschen und Schachteln auf einem Wandbord. »Hexerei«, erklärte sie sachlich. »Heilen. Kraft geben.« »Aber das ist doch nicht Hexerei«, wandte er verwundert ein. »Das ist Wissenschaft.« Sie zuckte die Achseln. »Wissenschaft – Hexerei – es ist das gleiche.« Dann stellte sie eine seltsame Frage: »Wo ist dein Geld?« »Geld? Ich habe kein Geld«, antwortete er befremdet. Sie schüttelte verständnislos den Kopf und wiederholte ihre Frage von vorhin. »Ich weiß es nicht. Gestern…?« »Nein. Ich meine zu dem langen Schlaf?« Der lange Schlaf. Wieder fühlte er diesen Schauder bei der Frage, wie lange er geschlafen hatte. Ja, wie lange? Tage? Wochen? Monate? »Wann?« beharrte das Mädchen. »Im – im September«, antwortete er unsicher. »Aber in welchem Jahr?« »In welchem Jahr? Neunzehnhunderteinundsechzig natürlich!« Sie lächelte nachsichtig. »Neunzehnhunderteinundsechzig gibt es nicht. Wir haben jetzt das Jahr achthundertsechsundvierzig.« Damit ging sie und überließ ihn wieder seiner Verwirrung. Die Tage vergingen. Er schlief, dämmerte vor sich hin, versuchte zwischendurch, nachzudenken, schlief aber immer wieder vor Schwäche ein. Langsam erholte er sich und fühlte seine Kräfte wieder wachsen. Und eines Tages erlaubte Evanie ihm wieder zu sprechen, während sie in einem geheimnisvollen Kochherd sein Essen zubereitete. Er begann mit der Frage: »Wie lange bin ich hier, Evanie?« »Drei Monate«, sagte Evanie. »Du warst sehr krank.« »Und wie lange habe ich geschlafen?« »Das müßtest du selbst am besten wissen. Ich sagte dir doch, daß wir das Jahr achthundertsechsundvierzig haben.« Er runzelte die Stirn »Achthundertsechsundvierzig Jahre – seit wann…?« »Seit der Erleuchtung natürlich.«
Er holte tief Luft. »Hör zu, Evanie. Wir reden aneinander vorbei. Sag mir doch einmal klipp und klar, wofür du mich hältst.« »Für einen Schläfer«, antwortete sie mit der größten Selbstverständlichkeit. »Es kommt manchmal vor, daß einer sich nur schwer von dem langen Schlaf erholen kann und vorübergehend seine Erinnerung verloren hat.« »Und was, wenn ich fragen darf, ist ein Schläfer?« forschte Connor weiter. Sie erklärte geduldig. »Der lange Schlaf ist die einfachste Methode, zu viel Geld zu kommen. Man hinterlegt eine gewisse Summe auf der Bank und unterzieht sich der Elektrolepsis, das heißt, dem künstlichen Schlaf durch Elektrobehandlung. Das Geld trägt Zinsen und Zinseszins. Bei sechs Prozent bedeutet das eine Verdoppelung des Kapitals alle zwölf Jahre. In hundert Jahren entsteht so ein beträchtliches Vermögen; aus einer Einlage von ursprünglich tausend Dollar werden dreihunderttausend. Diese Summe kann der Schläfer nach hundert Jahren kassieren – wenn er den langen Schlaf heil übersteht.« »Unsinn!« murmelte Connor. »Welches Geldinstitut kann über hundert Jahre sechs Prozent garantieren?« »Die Bank von Urbs.« »Sie arbeitet mit Verlust, nehme ich an?« »O nein, mit großem Gewinn. Der Überschuß ergibt sich aus der Tatsache, daß ein großer Teil der Schläfer nicht mehr erwacht.« »Ein Schläfer«, lachte er zweifelnd. »Und das soll ich glauben!« Sie betrachtete ihn besorgt. »Es kommt vor, daß die Elektrolepsis Gehirnzellen beschädigt…« »Ich bin nicht verrückt!« beteuerte er. »Ich will nur die Wahrheit wissen. Welches Datum haben wir – und welches Jahr? Sag mir die Wahrheit!« »Mitte Juli achthundertsechsundvierzig«, wiederholte das Mädchen. »Ich kann doch nicht rückwärts geschlafen haben!« stöhnte er verzweifelt. »Wenn ich nur wüßte, was mit mir geschehen ist!« »Sag mir alles, was du weißt«, schlug Evanie vor. »Das will ich! Ich heiße Thomas Marshall Connor und wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt! Ich wurde in Saint Louis hingerichtet. Durch den elektrischen Stuhl.«
Evanie erblaßte. »Saint Louis! Oh, ich verstehe! Der alte Name für Selui! Vor den Dunklen Zeiten. Aber das ist doch unmöglich…« »Es ist wahr«, sagte Connor fest. Evanies Stimme war ein scheues Flüstern: »Elektrokution! Die Todesstrafe der Alten!« »Der Alten…?« Sie starrte ihn an wie eine Erscheinung. »Kann es Elektrolepsis durch Zufall geben? Aber nein, das ist doch nicht möglich! Ein Milliampere zuviel zerstört das Gehirn. Ein Millivolt zu wenig kann die Verwesung nicht aufhalten. In beiden Fällen tritt der Tod ein. Aber warum soll es nicht unter Millionen einen solchen Zufall geben…« »Was ist Elektrolepsis?« fragte Connor. »Der Weg zum langen Schlaf«, flüsterte das Mädchen. »Die künstliche Lähmung gewisser Teile des Gehirns. Aber noch nie hat ein Schläfer länger als hundert Jahre überlebt. Wenn es wahr ist, was du sagst, dann mußt du vor den Dunklen Zeiten in Schlaf gefallen sein. Das ist phantastisch! Dann hättest du tausend Jahre geschlafen!« 2. Drei Wochen waren seit diesem Gespräch vergangen, und Connors Genesung hatte weitere Fortschritte gemacht. Er saß auf einer Steinbank vor Evanies Haus in der Sonne und schaute zu den Wolken auf. Er lebte ein neues Leben nach tausend Jahren – nachdem alle seine Zeitgenossen und Milliarden nach ihnen längst gestorben waren. Langsam begann er, sich mit dieser unfaßbaren Tatsache vertraut zu machen. Er mußte Evanie glauben. Er fühlte auch instinktiv, daß sie recht hatte, und daß die Welt, die ihn umgab, nicht mehr die altvertraute war, in der er seine Jugend verbracht hatte. Vieles über diese neue Welt hatte er von Evanie erfahren. Vieles andere war ihm immer noch rätselhaft und unverständlich. Evanie hatte von der Stadt Urbs gesprochen. Und von dem Meister. Aber sie war nie näher darauf eingegangen. Eines Tages fragte er sie, warum. Sie antwortete nach einigem Zögern:
»Weil es besser für dich ist, wenn du dir selbst ein Urteil bildest. Wir lieben weder die Stadt Urbs noch die Unsterblichen. Aber ich will dich nicht beeinflussen, denn es ist für jeden gefährlich, ein Feind der Regierung zu sein. Urbs ist an der Macht – und wird es vielleicht immer bleiben.« Connor lächelte ihr zu. »Ich weiß noch zu wenig von euren Angelegenheiten, um mir ein Bild zu machen. Aber ich bin sicher, daß ich immer auf deiner Seite sein werde.« Sie zog etwas aus der Tasche und reichte es ihm. Es war eine kleine Goldmünze mit der Inschrift »10 Units« und einer Schlange, die sich um einen Globus ringelte. Die Rückseite trug das Porträt eines Mannes mit strengen, kalten, aber ehrfurchtgebietenden Zügen. Connor las die Schrift. »Orbis Terrarum Imperator Dominusque urbis.« Er übersetzte: »Herrscher der Welt und Herr der Stadt.« Sie nickte ernst. »Ja, das ist der Meister, der seit Jahrhunderten die Welt regiert. Aber wir lieben ihn nicht.« An diese Worte mußte Connor heute wieder denken. Was war das für ein Herrscher, der Frieden und Ordnung in die Welt gebracht, aber die Herzen seiner Untertanen nicht hatte gewinnen können? Er wollte gerne mehr über diese neue Welt wissen, in der er jetzt leben sollte. Es war alles so anders, so ungewohnt. Das Dorf – es hieß Ormon – war im Stil der alten Griechen erbaut, mit klaren, einfachen Formen und dorischen Säulen. Dabei aber besaßen die Menschen den vollkommensten technischen Komfort, sogar auf dem Land. Es gab auch keine lästigen Insekten irgendwelcher Art – die waren längst ausgerottet worden, und zwar auf verblüffend einfache Weise. Man hatte die Vermehrung ihrer natürlichen Feinde, der Vögel, gefördert, indem man den Urfeind der Vögel, die wild streunende Hauskatze, durch einen eigens dafür gezüchteten Parasiten ausrottete. Es gab nur noch Bienen und andere natürliche Insekten, nicht aber die stechenden und Krankheiten übertragenden Fliegen, Mücken oder Moskitos. Tom Connor fragte sich, ob sich wohl auch die Vegetation in diesen Jahrhunderten verändert haben mochte. Die Wiesen und
Hügel um das Dorf sahen nicht anders aus als vor tausend Jahren. In einiger Entfernung begann der Wald, der von hier aus wie der Wald seiner Jugend wirkte. Er fühlte sich heute kräftig genug, um sich einen längeren Spaziergang zuzutrauen. Und so beschloß er, sich auch den Wald einmal aus der Nähe anzusehen. Es war ein sonniger, friedlicher Nachmittag. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, die Sonnenstrahlen fielen durch die Zweige und malten zitternde Kringel auf den bemoosten Waldboden. Zuweilen stieß Connor auf überwucherte Ruinen. Waren es die Überreste von Gebäuden aus seiner eigenen Zeit? Er folgte dem Lauf eines kleinen Flusses, der sich durchs Gehölz wand. Alles war still, bis auf das Singen der Vögel und seine eigenen gedämpften Schritte auf dem Moos. Als er auf eine Lichtung hinaustrat, wo das Flüßchen sich zu einem kleinen Teich verbreiterte, bot sich ihm plötzlich ein so unerwartetes und anmutiges Bild, daß er wie angewurzelt stehenblieb. Am Rande des kleinen Teichs kniete das schönste Mädchen, das er je erblickt hatte. Sie trug ein weichfallendes, griechisches Gewand aus weißer Seide, mit einem silbernen Band unter der Brust zusammengehalten. Glänzende, rabenschwarze Locken umspielten ein Gesicht, das wie aus Marmor gemeißelt schien. Mit einer graziösen Bewegung beugte sie sich über das Wasser und spiegelte sich darin. Sie war so schön, daß sie ihm wie eine Göttin aus der längst versunkenen griechischen Sagenwelt erschien, nicht wie ein Mensch von Fleisch und Blut. Er wagte kaum zu atmen, um die Erscheinung nicht zu verscheuchen, die vielleicht nur eine optische Täuschung war. Plötzlich knackte ein dürres Reis unter seinem Fuß, und das Mädchen wandte den Kopf nach ihm. Aber sie erschrak nicht, und sie machte auch keine Anstalten zu fliehen. Sie lächelte. Ihre Stimme klang wie silberne Glocken, als sie spöttisch sagte: »Seit wann hat ein Wilder soviel für die Schönheiten der Natur übrig, daß er sich zu einem Spaziergang in den Wald aufrafft?« »Ein Wilder?« Connor runzelte die Brauen. Dann fiel ihm ein, daß die Leute von Urbs die Landbevölkerung verächtlich »Wilde« nannten, wie Evanie ihm erzählt hatte. »Oh, ich bin kein Wilder«,
verwahrte er sich. »Ich bin…« Sie lachte hell auf. »Ah, ich weiß, wer du bist! Der Schläfer, der kürzlich erwachte und behauptete, tausend Jahre geschlafen zu haben! Als ob du ein Unsterblicher wärst!« »Bist du eine von den Unsterblichen?« fragte er neugierig. Sie hatte so wenig Ähnlichkeit mit den Frauen des Dorfes, obwohl es auch unter ihnen viele Schönheiten gab. Sie wirkte wie aus einer anderen Welt, wie eine antike Statue oder eine Göttin, die aus irgendeinem Grund zur Erde heruntergestiegen war. Eine Nymphe des Waldes… Sie antwortete ihm nicht auf seine Frage. Statt dessen forderte sie ihn in befehlendem Ton auf, sich zu ihr zu setzen. »Ich langweile mich in dieser unendlich eintönigen Welt. Komm, unterhalte mich. Erzähl mir deine Lügengeschichte.« Er gehorchte fast willenlos. Es war alles so unwirklich. Hatte er tatsächlich tausend Jahre geschlafen – um nun hier im Wald eine Nymphe aus einer Zeit zu treffen, die zweitausend Jahre vor seiner eigenen lag? Als er immer noch schwieg und sie wie verzaubert anstarrte, wurde sie ungeduldig. »Erzähl!« befahl sie. »Ich will alles von dir wissen, Schläfer.« »Ich bin kein Schläfer in eurem Sinn«, antwortete Connor endlich. Und mit wenigen Worten erzählte er ihr seine Geschichte. Sie war verwundert, aber sie schien ihm zu glauben. Trotz ihrer Schönheit und Jugend lag eine seltsame Weisheit in ihrem meergrünen Blick. So, als könne nichts auf dieser Welt sie mehr in Erstaunen setzen. »Wenn das wahr ist, dann ist deine Person in Urbs nicht mit Gold aufzuwiegen«, sagte sie nachdenklich. »Dann hast du einen ungeheuer wertvollen Schatz von Wissen in unsere Zeit herübergerettet, der uns längst verlorengegangen ist.« »Ich wünschte, ich wüßte mehr von eurer Zeit«, seufzte Connor. »Ich habe hier und dort etwas aufgeschnappt, von Urbs und den Unsterblichen. Aber das alles sind nur Bruchstücke. Es scheint, daß niemand im Dorf etwas von der Vergangenheit weiß. Von den Zeiten, die über die Erde hinweggingen, während ich den Großen Schlaf schlief.« »Soll ich dir davon erzählen?« fragte die Nymphe. »Bitte!« rief Connor. »Sag mir alles, was du weißt!«
»In welchem Jahrhundert bist du geboren?« fragte sie sachlich. »Im zwanzigsten Jahrhundert.« »Oh!« Sie sah ihn mit gedankenvoller Neugier an wie ein seltenes Tier. »Das war die Zeit, gerade bevor die alte Welt in Trümmer ging. Es muß eine großartige und zugleich schreckliche Welt gewesen sein. Mit ihren Tausenden von großen Städten, mit ihrer Hast und Arbeit, mit ihren genialen Erfindungen – und den furchtbaren Kriegen, die immer wieder alles Geschaffene zerstörten. Bis zu dem letzten großen Krieg, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, der mit einem Schlag Millionen Menschenleben vernichtete, die gesamte Kultur und Zivilisation zerstörte und die Welt für ein Jahrhundert in den tiefsten Abgrund der Barbarei stürzte. Wie die Tiere in Höhlen hausten die Überlebenden nach der Katastrophe, aus der sie nur das nackte Leben gerettet hatten. Es dauerte hundert Jahre, bis die Menschen wieder anfingen, sich zu kleinen, bäuerlichen Gemeinschaften zusammenzufinden, die sich durch Ackerbau und Viehzucht ernährten, selbst ihre Kleidung spannen und webten und wenigstens eine gewisse Ordnung aufrechterhielten. Aber die Errungenschaften der Wissenschaft und Technik schienen für alle Zeiten verloren zu sein. Der größte Teil aller Bücher war vernichtet worden, und die meisten Menschen waren Analphabeten und hätten die alten Bücher gar nicht zu lesen vermocht. Aber einige Familien gab es, weitverstreut im Land, in denen auch während dieser Zeit der Barbarei das Wissen vom Vater auf den Sohn weitervererbt wurde. Und aus einer dieser Familien stammte John. John Holland war ein junger Mann, als er durch Zufall bei der Feldarbeit in der Nähe des Dorfes New Orleans auf die Ruinen der alten Stadt New Orleans stieß. Und zwar gerade auf die Überreste der großen Bibliothek. Begierig las und studierte er zuerst allein. Später schlossen sich ihm andere an, die von dem Fund erfahren hatten. Und so entstand allmählich die erste Akademie der neuen Zeit. Das einfache, unwissende Volk hielt die Studenten für Zauberer und Hexer. Und als sich später aus der Akademie eine neue Wissenschaft entwickelte, blieb der Name bestehen: Wissenschaft und Hexerei sind für diese Leute heute noch ein und derselbe Begriff.«
»Ich verstehe«, nickte Connor. Und er dachte an Evanie, die Hexe. Die Waldnymphe aber, die mehr aus der Vergangenheit wußte als alle, die er bisher getroffen hatte, fuhr fort: »New Orleans wurde zum Mittelpunkt eines neuen Zeitalters, das wir das der Erleuchtung nennen. Holland starb, aber die Akademie lebte fort. Oh, nicht alle Geheimnisse der Alten wurden entschleiert. Vieles ist noch heute ein Rätsel für uns. Aber ein Mann namens Taran entdeckte eines ihrer Geheimnisse neu: die Atomkraft. Mit ihrer Hilfe war es möglich, eine Industrie aufzubauen und auf den Trümmern des alten New Orleans die heutige Hauptstadt der Welt zu errichten: Urbs. Gewiß, in der alten Welt gab es viele große Städte. Wir haben nur diese eine. Aber sie ist so groß wie nie eine Stadt zuvor: Sie zählt dreißig Millionen Einwohner!« Connor horchte begierig auf jedes ihrer Worte, die ihm zum erstenmal Aufschluß über die neue, beängstigend fremde Welt gaben, in der er sich noch nicht zurechtfinden konnte. Aber gleichzeitig konnte er sich nicht sattsehen an ihrer überirdischen Schönheit. Wer war dieses rätselhafte Mädchen, das aussah wie ein halbes Kind und doch mit der Weisheit von Jahrhunderten begabt schien? »Erzähl mir vom Herrscher von Urbs, dem unsterblichen Meister.« Ein Schatten huschte über ihre schönen Züge. »Sein Name ist Joaquin Smith«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Es ist achthundert Jahre her, da kam er mit seiner Schwester und seinem Freund Martin Sair nach New Orleans, um die Akademie zu besuchen. Ihn interessierten die vergessenen Staatswissenschaften, Soziologie, Psychologie, Wirtschaftskunde. Und er träumte davon, eine glücklichere neue Welt aufzubauen. Zu jener Zeit gab es keine großen Nationen, keine geordneten Staatswesen. Nur kleinere Sippengemeinschaften, die alle untereinander in Fehde lebten. Martin Sair wandte sich anderen wissenschaftlichen Zweigen zu: der Medizin und der Biologie. Martin Sair war ein Genie. Und er machte die bahnbrechendste Entdeckung aller Zeiten: Bei Experimenten mit Radiumstrahlen fand er eine Methode, den menschlichen Körper nahezu unsterblich zu machen! Diese Entdeckung Sairs nutzte Joaquin Smith zur Verwirklichung
seiner Pläne aus. Er verlieh jedem diese Unsterblichkeit, der an der großen Sache entscheidend mitarbeitete, jedem, der ihm eine neue technische Erfindung in die Hand gab. Er machte Jorgensen unsterblich, der die Atomrakete erfand. Erden, dessen Resonator auf meilenweite Entfernung Schießpulver aufspürt und zur Explosion bringt, um es unschädlich zu machen. Kohlmar, der ihm die Ionenstrahlen gab, die Wunderwaffe, mit der er sich die Welt eroberte.« »Waffe?« murmelte Connor befremdet. »Auch der Meister wollte also den Krieg?« »Nein, keinen Krieg«, erklärte das Mädchen, »denn gegen die Kohlmar-Waffe gab es keinen Widerstand. Kampflos eroberte Joaquin Smith die Welt. Und er regierte sie nach seiner Weisheit. Er rottete das Verbrechertum aus, indem er alle kriminell Veranlagten der Sterilisierung unterwarf. Ebenso verfuhr er mit allen Erbkranken, allen Mißgebildeten. So züchtete er eine körperlich und geistig gesunde Rasse. Er erbaute Urbs, die Hauptstadt der Welt. Dort lebt er heute noch mit seiner Schwester Margaret von Urbs, die man im Volke die Schwarze Flamme nennt.« Er mußte sich Mühe geben, ihren Worten zu folgen, so verwirrte ihn ihre Schönheit. Wie war es möglich, daß dieses kindhaft junge Wesen alles Wissen der Welt in diesem Köpfchen aufgespeichert hatte? Es gab nur eine Erklärung dafür: Sie war kein Mensch, sondern ein Waldgeist, eine Nymphe… Er fühlte sich wie verzaubert. Am liebsten hätte er sich vor ihr auf den Boden geworfen und ihre Füße geküßt. Aber er wagte nicht einmal, sie zu berühren. So fern, so unnahbar – so unwirklich schien sie ihm. »Es ist alles ein Traum«, flüsterte er verwirrt. »Du bist ein Traum…« Sie lächelte. »Dann laß es einen Traum bleiben, Mann aus einer anderen Welt. Willst du mir etwas versprechen?« »Alles, was du willst!« »Versprich mir, niemandem etwas von unserer Begegnung zu sagen: Nicht einmal der kleinen Wilden, die dich gesundgepflegt hat. Versprichst du das?« »Wenn du es willst…« Das Versprechen fiel ihm leicht. Denn ihm war, als müßte er
auch ohne ihre Aufforderung die Erinnerung an diese Begegnung wie etwas Heiliges, Geheimnisvolles in seinem Innern bewahren. Plötzlich hob die Waldnymphe den Kopf und horchte. Im Gebüsch wurden Stimmen laut. Vielleicht Dorfbewohner, die nach ihm suchten. »Wir sehen uns wieder, Mann der alten Welt!« flüsterte die Nymphe. Dann sprang sie auf und verschwand im Unterholz, leichtfüßig wie ein Waldtier. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und fragte sich, ob er das alles nur geträumt habe… 3. Die Wochen vergingen. Connor erholte sich von Tag zu Tag mehr. Bald war er wieder im Vollbesitz seiner Kraft. Er mußte immer wieder an die Nymphe und sein Gespräch mit ihr zurückdenken. Oft stahl er sich aus dem Dorf davon und suchte die Stelle auf, wo er ihr begegnet war. Aber sie kam nicht wieder. Im Dorf hatte er außer Evanie noch einen guten Freund gewonnen, Jan Orm, einen jungen Ingenieur, Leiter der einzigen Fabrik von Ormon. Diese Fabrik war eine erstaunliche Einrichtung: Sie wurde mit Atomkraft betrieben und konnte alles, was man im dörflichen Alltag benötigte, produzieren. Man nannte sie daher Omnifac – »Allesmacher«. Es gab Tausende solcher Fabriken im Land, die je eine Ortschaft versorgten. Das Herstellen einzelner Teile in verschiedenen Fabriken und der kostspielige und zeitraubende Überlandtransport fielen dadurch weg. Jan Orm war sehr stolz auf die Fabrik. Er erklärte Connor alles Wissenswerte. Connor begriff, daß für die Gewinnung der Atomenergie ausschließlich Wasser benötigt wurde. Oder vielmehr der darin enthaltene Wasserstoff. Die Energie war das Resultat einer Synthese: Vier Wasserstoffatome mit dem Atomgewicht 1,008 vereinigten sich zu einem Heliumatom mit dem Gewicht 4. Die Differenz von 0,032 ging dabei verloren – und das war die Quelle der Energie. Gewicht wurde somit in Kraft verwandelt. »Woher bekommt ihr das nötige Metall für eure Produktion?«
erkundigte sich Connor. »Wir verwenden ausschließlich Aluminium«, erklärte ihm Jan. »Wie es eine Steinzeit, eine Bronzezeit oder – während deines früheren Lebens – eine Stahlzeit gab, so leben wir heute im Zeitalter des Aluminiums. Es ist fast überall enthalten, in jedem Lehm, jeder Erdmischung und bildet fast zehn Prozent der gesamten Erdrinde.« »Ich weiß. Aber die Gewinnung ist schwierig und kostspielig.« »Für uns nicht mehr. Wir haben Energie im Überfluß. Wasser kostet nichts.« Jans Gesicht umwölkte sich, als er gedankenvoll fortfuhr: »Wenn wir nur den Prozeß der Energiegewinnung selbst beschleunigen könnten! Das ist uns bisher nicht gelungen. Er braucht immer die gleiche Zeitspanne: Der Wasserstoff verwandelt sich in Helium und gibt die Hälfte der Energie in dreihundert Tagen ab. Darum können wir keine Raketenflugzeuge bauen wie die Bewohner von Urbs, die die Energieabgabe steuern und beschleunigen. Der natürliche Verlauf ist zu langsam, um das eigene Gewicht der Masse zu heben. Die Energie aus einem Pfund Wasser reicht nicht aus, ein Pfund Wasser in die Luft zu heben. Die Urbianer können die gesamte Energieabgabe in hundert oder sogar in zehn Tagen erreichen.« »Wozu wollt ihr Raketenflugzeuge bauen?« fragte Connor. Jan warf ihm einen sonderbaren Blick zu und antwortete nicht auf die Frage. Statt dessen erklärte er weiter: »Wir können allerdings eine einmalige Detonation auslösen – die gesamte Energie in einer einzigen gewaltigen Explosion frei machen. Aber das läßt sich nicht für ein Raketenflugzeug verwenden.« »Warum versucht ihr es nicht mit einer Folge von Zündungen, in der Art des Explosionsmotors?« schlug Connor vor. »Man könnte jeweils nur ein Gramm Wasser zur Explosion bringen. Eine vielfache Folge solcher kleinen Explosionen müßte dieselbe Wirkung haben wie eine langsame Energieabgabe.« »Das hat mein Vater versucht«, sagte Jan grimmig. »Er liegt unten am Fluß begraben.« Später fragte Connor Evanie, warum Jan so darauf versessen sei, Raketenflugzeuge zu bauen. Auch Evanie gab ihm keine direkte Antwort. »Die Unsterblichen haben Raketenflugzeuge, die sie ›Triangel‹ nennen. Sie wahren das Geheimnis eifersüchtig. Es ist ein
militärisches Geheimnis.« »Aber was hat Jan damit zu tun?« Sie schüttelte den Kopf und wich seinem Blick aus. »Evanie«, sagte er eindringlich und ernst. »Warum bist du nicht offen gegen mich? Hast du kein Vertrauen zu mir? Ich verdanke dir alles, und ich will dir helfen, wenn ich kann. Was verbirgst du vor mir? Warum seid ihr gegen die Regierung? Und was habt ihr vor?« Sie antwortete nicht. »Evanie!« drängte er weiter. »Ich höre immer wieder von den Unsterblichen reden. Was ist mit ihnen? Wer gehört dazu? Bist auch du unsterblich?« Zu seiner Verblüffung überzog sich ihr Gesicht mit einer flammenden Röte. Ihre Augen blitzten zornig, wie er sie noch nie gesehen hatte. »Ich will nichts von der Unsterblichkeit hören!« rief sie fast unter Tränen. »Die Opfer von Martin Sairs mißglückten ersten Versuchen geistern heute noch durch die Welt!« Und sie wandte sich brüsk ab und lief davon. Verwundert und betroffen sah Connor ihr nach. Was hatte er denn gesagt, um sie zu beleidigen? Er verdankte sein Leben ihrer Pflege. Und er hatte nur einen Wunsch: Sich ihr einmal dafür erkenntlich zeigen zu können. Aber wie konnte er das, solange er sich in dieser neuen Welt nicht zurechtfand? Beharrlich kam er daher nach einigen Tagen wieder auf dieses Thema zurück. »Warum haßt ihr Urbs und die Regierung?« fragte er sie. Und zu seiner Überraschung antwortete sie diesmal geradeheraus: »Wegen der Unsterblichkeit.« »Das verstehe ich nicht.« »Das verstehst du nicht?« rief sie zornig. »Begreifst du nicht, wie ungerecht es ist, uns allen das Geheimnis dieser Unsterblichkeit vorzuenthalten? Warum sollen nur einige wenige den Nutzen davon haben? Warum hüten sie dieses Geheimnis so eifersüchtig, während Generationen um Generationen gewöhnlicher Menschen dahinsiechen und sterben müssen? Warum?« »Das also ist es! Das ist der Grund, warum ihr den Meister und die Unsterblichen haßt? Nun, ich kann euren Zorn verstehen, Evanie. Und auch ich begreife nicht, warum diese wunderbare
Errungenschaft euch vorenthalten werden soll. Jetzt verstehe ich auch, warum Jan so versessen auf den Bau von Raketenflugzeugen ist. Ihr plant eine Revolution, um die Regierung zu stürzen?« Sie zögerte mit der Antwort. »Hab keine Angst, Evanie«, beruhigte er sie. »Ich stehe auf deiner Seite. Ich werde immer auf deiner Seite sein. Aber sag mir noch etwas«, bat er. »Was meintest du mit den unglücklichen Opfern von Martin Sairs Unsterblichkeitsversuchen?« Wieder errötete sie über und über, als hätte seine Frage an ein schreckliches und beschämendes Geheimnis gerührt. »Ich meinte die Metamorphs«, sagte sie leise und traurig und verließ ihn, bevor er noch eine weitere Frage stellen konnte. Es war etwas Geheimnisvolles um dieses Mädchen Evanie. Er fragte sich oft, warum sie sich so betont von der übrigen Dorfjugend absonderte. Oder waren es die anderen, die sie mieden? Trotz ihrer Schönheit und ihres sanften, freundlichen Wesens sah er sie nie in unbeschwertem Geplauder mit den jungen Mädchen des Dorfes. Nie kam ein junger Mann in ihr Haus – außer Jan Orm, der sie gelegentlich besuchte. Und doch hatte Connor kein schöneres Mädchen gesehen – ausgenommen die Waldnymphe, an die er oft denken mußte, die aber in seiner Erinnerung immer mehr die Gestalt eines Traumes annahm. Eines Tages ging er mit Jan und Evanie zur Jagd. Es gab viel Wild in den Wäldern und am Fluß. Und wieder erlebte er etwas, was typisch für dieses Gemisch aus Primitivität und Technik war: Diese Menschen kannten die Atomkraft, aber sie jagten mit Pfeil und Bogen. Auf seine erstaunte Frage erhielt er die Auskunft: »Gewehre sind von der Regierung verboten worden. Mit dem Erdmenschen-Resonator kann der Herrscher jede kleinste Menge Schießpulver auf meilenweite Entfernung zur Explosion bringen lassen. Dieses Druckmittel genügte, um seinen Befehl durchzusetzen. Wer Waffen und Munition nicht abgegeben hatte, mußte immer auf eine verheerende Explosion im eigenen Haus gefaßt sein. Und so wurde der Besitz von Gewehren und Schießpulver sinnlos und gefährlich.« »Hm. Seid ihr nie auf den Gedanken gekommen, ein Wassergewehr zu konstruieren?« »Wassergewehr?« fragte Jan Orm verständnislos. »Ja! Unter Ausnützung der Atomkraft des Wassers! Du sagtest
doch, ihr könntet alle Energie in einer einzigen Detonation frei machen?« Jan starrte ihn verblüfft an. »Natürlich! Das ist die Lösung! Warum bin ich nicht längst darauf gekommen!« Sie erreichten einen See mitten im Wald. Es war warm, und das Wasser sah verlockend kühl aus. »Ich hätte Lust zu schwimmen«, meinte Connor und sah seine Gefährten fragend an. Die beiden wechselten einen Blick, und das Mädchen wurde plötzlich sehr ernst und niedergeschlagen: »Das ist unmöglich«, sagte Jan rasch. »Wir haben zu Hause unsere vorgewärmten, gekachelten Schwimmbäder. In einem freien See kann man nicht schwimmen.« »Aber warum denn nicht?« beharrte Connor verwundert. In diesem Augenblick schrie Evanie auf und deutete zum Ufer. Was Connor dort sah, war das Erstaunlichste, aber auch das Scheußlichste, was ihm seit seinem Erwachen in der neuen Welt begegnet war. Ein Wesen kam aus dem Dickicht und watschelte eilig auf das Wasser zu. Seine Gliedmaßen waren kurz und unförmig dick, mit Schwimmflossen zwischen den einzelnen Zehen und Fingern, der Körper war haarlos und plump, der Kopf ein aufgeschwemmtes, abstoßendes Gebilde mit winzigen runden Augen und einem Froschmaul. Aber das Schreckliche und Bedrückende daran war, daß dieses abscheuliche Wesen zweifellos etwas Menschliches – oder zumindest Menschenähnliches an sich hatte. Evanie schlug die Hände vors Gesicht und rannte wie gejagt den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Das Wesen hatte jetzt das Ufer erreicht und stürzte sich ins Wasser. So plump und ungeschickt es sich auf dem Lande bewegt hatte, im Wasser aber schwamm es wie ein Fisch. Wenige Sekunden später war es den Blicken entschwunden. »Was – was war das?« fragte Connor, unwillkürlich von Grauen gepackt. »Ein Metamorph«, antwortete Jan kurz. Dann wandte er sich, um Evanie zu folgen. Schweigend gingen die beiden Männer durch den Wald. Connor fühlte, daß er wieder auf eines der düsteren Geheimnisse gestoßen war, die man ihm immer noch vorenthielt.
Plötzlich sah er ein Gesicht im Gebüsch. Das Gesicht eines Kindes – und doch wieder kein menschliches Gesicht. Spitze, behaarte Ohren, Schlitzaugen, gefletschte, scharfe Zähne. Der Kopf eines kleinen Fauns, eines Waldgeistes. Nicht Tier, nicht Mensch. Und ehe er das Bild richtig in sich aufgenommen hatte, war es auch schon wieder verschwunden. »Was war das?« rief er bestürzt. Wieder antwortete Jan: »Ein Metamorph. Eine andere Art als der, den wir vorhin sahen.« Er blieb stehen und sah Connor beschwörend an. »Versprich mir, daß du mit Evanie nicht darüber reden wirst, Tom! Niemals!« Tom war entschlossen, dieser Sache endlich auf den Grund zu gehen. »Jan«, sagte er. »Was ist ein Metamorph? Ich muß es endlich wissen! Ich bin in eure Welt gekommen und muß von nun an hier leben. Wie kann ich das, wenn ich nichts von ihr weiß? Warum beantwortet mir niemand meine Fragen geradeheraus? Warum soll ich zu Evanie nicht über die Metamorphs sprechen?« Jan Orm zögerte. »Ich will dir alles sagen, Tom. Aber vorher beantworte du mir eine Frage. Liebst du Evanie?« »Ich mag sie sehr gern.« »Aber – liebst du sie?« »Ja«, sagte Connor nach einer kleinen Pause. »Ich liebe sie.« Flüchtig war der Gedanke an jene Waldnymphe in seinem Hirn aufgetaucht, bevor er sich zu dieser Antwort entschloß. Aber dann verscheuchte er dieses Bild. Lieben konnte man nur ein menschliches Wesen. Und die Nymphe war nicht wie ein Mensch gewesen, sondern wie ein Waldgeist oder eine Göttin… »Ja, ich liebe Evanie«, wiederholte er fester. »Warum meiden die Dorfbewohner sie? Warum kommt außer dir nie ein junger Mann in ihr Haus? Sie ist das schönste Mädchen weit und breit?« »Ja. Aber sie ist ein Mischling. Sie ist zu einem Achtel Metamorph.« »Metamorph!« schrie Connor entsetzt. »Willst du damit sagen, daß sie das Blut eines solchen Ungeheuers in den Adern hat?« »Es gibt zwei Arten von Metamorphs«, erklärte Jan. »Die eine, der Panate Metamorph, ist menschlich. Der andere, der Amphimorph, ist ein mißgestaltetes Ungeheuer. Evanies Ahn war
Panate. Das ist der Grund, warum sie sich von allen jungen Männern fernhält. Sie will nicht heiraten, aus Angst, die unselige Erbschaft der Metamorphs weiterzugeben.« »Ist diese Angst nicht begründet?« fragte Connor bedrückt. »Könnte nicht ihr Kind eine Mißgeburt werden wie die, die wir vorhin im Wasser sahen?« »O nein! Auf keinen Fall! Ich sagte dir doch, daß es zwei Arten von Metamorphs gibt. Die Panaten sind Menschen, keine Ungeheuer. Viele von ihnen sind sogar besonders klug, und die Frauen sind meistens sehr schön. Daher kommen immer wieder Mischehen vor.« »Aber was sind die Metamorphs eigentlich? Woher stammen sie?« fragte Connor. »Hast du je von Martin Sair gehört, dem Schöpfer der Unsterblichkeit? Bevor er seine große Entdeckung machte, waren viele Versuche notwendig. Und nicht alle sind geglückt. Die Behandlung wird mit Strahlen durchgeführt, und die richtige Dosierung wurde erst nach vielen Versuchen gefunden. Viele Menschen waren auf Unsterblichkeit versessen und stellten sich für solche Versuche freiwillig zur Verfügung. Vier entscheidende Fehler können bei dieser Behandlung gemacht werden: Zu starke Strahlen können töten. Zu schwache führen nicht zur Unsterblichkeit, machen aber steril. Personen, die einer zu langen Bestrahlung unterzogen wurden, veränderten sich nicht, aber ihre Nachkommen waren Amphimorphs. Die zu kurz bestrahlt wurden, bekamen Kinder, die Panate Metamorphs waren.« »Entsetzlich! Warum hat der Meister, der doch das Verbrechen durch Sterilisierung ausrottete, nichts gegen die Vermehrung der Metamorphs unternommen?« »Weil sie wie wilde Tiere in den Wäldern und Flüssen leben und einer ärztlichen Behandlung unerreichbar sind. Andererseits sind es eben doch Menschen, die man nicht wie Tiere jagen und vernichten kann.« Nach einer Weile sagte Connor nachdenklich: »Ja, du hast mich vorhin gefragt, ob ich Evanie liebe. Und du? Liebst du sie? Du bist der einzige junge Mann, mit dem sie Umgang hat. Warum besuchst du sie, wenn sie dir gleichgültig ist?« Jans Gesicht wurde plötzlich verschlossen. »Ja, ich habe sie geliebt«, gestand er widerwillig. »Aber sie
wollte mich nicht heiraten. Sie fühlt sich als Mischling und will keinen Mann an sich binden. Ich habe mich damit abgefunden. Ich bin nur ihr guter Freund, nichts weiter. Und wenn du imstande bist, sie zu überzeugen und sie glücklich zu machen, bin ich zufrieden.« Aber etwas in seinem Ton sagte Connor, daß Jans Gefühle für Evanie nicht so waren, wie er vorgab. Dieses Gespräch gab Connor zu denken. Er hatte sich bisher noch nie Gedanken darüber gemacht, ob er Evanie liebte oder nicht. Nun, da Jan ihm diese Frage geradeheraus gestellt hatte, waren ihm erst die Augen aufgegangen. Ja, er liebte Evanie, und er wollte sie heiraten. Er war entschlossen, noch heute mit ihr darüber zu reden. Aber bei der ersten Andeutung seiner Absicht starrte Evanie ihn entsetzt an und wich vor ihm zurück. »Geh!« stieß sie mühsam zwischen den Zähnen hervor. Tom Connor ließ sich nicht so schnell abweisen. Er folgte ihr und ergriff ihre Hände. Bittend sagte er: »Evanie! Bitte hör mich an und weich mir diesmal nicht aus! Ich liebe dich, und ich möchte dich heiraten. Ist das so schlimm? Ist das ein Grund, mich wegzuschicken?« Sie versuchte ihre Hände loszuwinden. »Es kann nicht sein. Es darf nicht sein«, murmelte sie verzweifelt. »Du verstehst nicht…« »Ich verstehe alles. Ich liebe dich und bin bereit, jedes Risiko auf mich zu nehmen.« Sie sah ihn wie ein gehetztes Wild an. »Tom«, flüsterte sie, »wenn ich dir sage, daß ich dich liebe – willst du mir dann etwas versprechen?« »Alles, was du willst.« »Bitte, sprich nicht mehr davon, bevor ich selbst darauf zurückkomme. Versuche nicht mehr, mich zu küssen oder zu berühren. Einen Monat lang nicht.« »Warum einen Monat?« fragte er überrascht. »Weil in einem Monat Krieg sein wird«, wisperte sie kaum hörbar. * Connor hielt sich an sein Versprechen und ging Evanie die
nächsten Wochen möglichst aus dem Weg. Er bekam sie nur selten zu sehen. Und wenn sie sich trafen, schlug sie die Augen nieder und vermied seinen Blick. Eines Tages bat Jan ihn, zu ihm in die Fabrik zu kommen. Er wolle ihm etwas zeigen. Als Connor ankam, zog Jan etwas aus einer Schublade und reichte es ihm mit erwartungsvollem Lächeln. Es war ein kleiner, handlicher Revolver aus blauem Stahl. »Mit Atomkraft!« erklärte er strahlend. »Hier ist das Magazin.« Er schüttete ein halbes Dutzend kleiner Bleikugeln in seine Handfläche. Connor lächelte anerkennend, während er die Waffe untersuchte. »Wasser statt Schießpulver, wie ich vorgeschlagen hatte. Gut. Aber die Geschosse mußt du zylindrisch und an der Spitze zulaufend machen, sonst verlieren sie an Beschleunigung und Genauigkeit.« Jan seufzte. »Wir haben noch viel von dir zu lernen, Mann aus der alten Welt. Ich wünschte, du würdest unseren Kampf mit uns führen.« »Das will ich«, sagte Connor ruhig. »Eure Sache ist meine Sache.« An diesem Abend empfing ihn Evanie mit einem sonderbaren Ausdruck auf ihrem schönen, sanften Gesicht. »Ist es wahr, Tom?« fragte sie mit leuchtenden Augen. »Willst du wirklich mit uns kämpfen? Willst du dein Wissen aus der Zeit der Alten für unsere Sache zur Verfügung stellen?« »Ich sagte es dir schon, Evanie: Deine Sache wird immer die meine sein. Ich liebe dich.« Da schlang Evanie ihre weißen Arme um seinen Hals und küßte ihn auf den Mund. 4. Bei den Vorbereitungen zu dieser Revolution spielte Tom Connors Wissen aus der Vergangenheit eine große Rolle. Jan und seinen Freunden war die Mathematik ein Buch mit sieben Siegeln. Diese Wissenschaft war fast ganz in Vergessenheit geraten. Für seine ballistischen Berechnungen arbeitete Connor eine
Logarithmentafel aus und stellte sich einen provisorischen Rechenschieber her. Jan half ihm dabei in neidloser Bewunderung seiner Kenntnisse. Das ganze Unternehmen schien Connor sehr gewagt. Die sogenannten »Wilden« verfügten nur über die wenigen Revolver und Maschinengewehre, die Jan in dieser kurzen Zeit hatte herstellen können. Im ganzen bestanden ihre Streitkräfte aus nicht viel mehr als fünfundzwanzigtausend Revolutionären in aller Welt. Connor schien es wenig aussichtsreich, mit fünfundzwanzigtausend gegen eine Dreißig-Millionen-Stadt auszuziehen. Aber er hatte nun einmal versprochen, bedingungslos mitzumachen, und wollte sein Wort halten, auch wenn er ihre Pläne nicht billigte. Jan war sehr zuversichtlich: »Wir wissen, daß es auch in Urbs selbst viele Unzufriedene gibt, die den paar tausend Auserwählten die Unsterblichkeit neiden. Wir hoffen also, Verbündete in der Stadt zu finden. Außerdem haben wir das Überraschungsmoment für uns. Wir wollen ja nicht in einer offenen Schlacht auf Urbs marschieren, sondern unsere Leute nach und nach einschmuggeln, um dann erst loszuschlagen.« »Wie habt ihr eure Armee organisiert?« fragte Tom Connor. »Jedes Dorf hat einen Führer gewählt. Neun solcher Führer unterstehen wieder einem zehnten. Der Führer von Ormon befehligt zehn Ortschaften.« »Der Führer von Ormon – ich nehme an, das bist du?« erkundigte sich Connor. »O nein«, verwahrte sich Jan. »Es ist Evanie.« »Was?« Überrascht starrte Connor das sanfte, stille Mädchen an. Was für ein seltsames, ungewisses Unternehmen war diese Revolution! Mit ungenügender Ausrüstung, unausgebildeten Leuten und vagen Plänen. Gerade wollte er seine Zweifel äußern, als er am wolkenlosen Himmel ein merkwürdiges Phänomen bemerkte. Es war kein Flugkörper im eigentlichen Sinn, sondern sah mehr aus wie eine Spiegelung in der Luft, ein unerklärliches Strahlen. Es erinnerte in seiner Form an einen Vogel mit einem langen, spitzen Schnabel. Aber es war durchsichtig. Es kreiste über dem Dorfplatz wie ein Raubvogel über seiner Beute. Tom Connor deutete nach oben und fragte verwundert: »Was ist das?«
Als Evanie und Jan die Erscheinung bemerkten, schrien sie, beide entsetzt auf und erblaßten. Evanie verbarg ihr Gesicht in den Händen, während Jan mit zitternden Lippen flüsterte: »Ein Bote des Meisters! Sieh nicht hin, Tom! Versuche, nicht einmal daran zu denken!« Sowohl Jan als Evanie schienen vor Schreck wie gelähmt. Sie machten trotz ihrer Angst keinen Versuch zu fliehen. Und bald erkannte Connor auch den Grund: Das Wesen über ihnen zog immer engere Kreise. Und als es tiefer sank, durchdrang es die Mauern der Häuser, als wären sie Luft! Was für einen Sinn hätte es also gehabt, vor einem Wesen zu fliehen, für das Mauern kein Hindernis waren! Während Evanie und Jan sich zusammenkauerten und ihre Augen mit den Händen bedeckten, konnte Connor trotz Jans Warnung der Neugier nicht widerstehen. Er folgte dem rätselhaften Flugkörper mit den Blicken. Dieser kreiste noch eine Weile über dem Dorfplatz und schlug dann die Richtung nach dem Wald ein. Wie ein flüchtiger Lichtstrahl huschte er über den Himmel, bis er hinter den Wipfeln der Bäume verschwand. »Es ist fort«, sagte Connor zu seinen Gefährten. Die beiden richteten sich auf, immer noch bleich und zitternd. »Was war das?« fragte Connor zum zweitenmal. Evanie murmelte furchtsam: »Ein Bote des Meisters. Oh, Jan, glaubst du, daß er für uns bestimmt war?« »Aber was ist das für ein Wesen?« fragte Connor weiter. »Lebt es? Ist es eine Maschine?« »Keines von beiden. Eine Art Kraftfeld vielleicht. Wir wissen es selbst nicht. Wir wissen nur, daß es die Befehle des Meisters ausführt und uns zu allem zwingen kann, was er verlangt.« »Kann man es nicht bekämpfen?« »Nur, indem man seine Gedanken dagegen abschirmt. Dann besteht die Möglichkeit, es abzulenken, so daß es sein Ziel nicht findet. Vielleicht ist uns das gelungen.« Connor meinte bedenklich: »Wenn der Meister diesen Boten ausgeschickt hat, um seine Untertanen zu beobachten, dann weiß er vielleicht jetzt bereits von unseren Plänen! Wäre es nicht besser, wir würden den Aufstand verschieben?« »Auf keinen Fall!« rief Evanie. »Es gibt kein Zurück mehr. Unsere Verbündeten haben bereits ihre Dörfer verlassen. Es wird
höchste Zeit für uns, aufzubrechen.« Jan ging zur Fabrik und kam nach einer Weile mit einem Motorfahrzeug wieder. Sie stiegen ein und fuhren über die holprige Dorfstraße, bis sie zu einer glatten, auffallend weichen, federnden Überlandstraße gelangten. »Was ist das für ein märchenhaftes Pflaster?« erkundigte sich Connor erstaunt. »Eine Art Gummi. Ein ähnliches Material wie unsere Reifen.« »Wer hat diese Straße angelegt?« »Urbs. Mit unseren Steuergeldern«, antwortete Jan säuerlich. »Nun, wenn eure Steuern für solche Einrichtungen verwendet werden, habt ihr keinen Grund, euch zu beklagen«, meinte Connor. »Wir haben die Straße nicht verlangt«, sagte Jan eigensinnig. »Unsere Dorfstraße haben wir selbst erbaut, in freiwilliger Gemeinschaftsarbeit.« Connor mußte innerlich lächeln, als er an die holprige Dorfstraße mit ihren Schlaglöchern dachte. Er fand, daß der verhaßte Meister bedeutend mehr Weitblick verriet als die Revolutionäre. Aber er hütete sich, seine Ansicht auszusprechen. Er fragte: »Wäre es nicht möglich, in der Armee des Meisters Verbündete zu finden? Es wäre für uns unschätzbar wertvoll, ausgebildete Soldaten auf unserer Seite zu haben.« Jan sagte: »Ausgeschlossen. Der Meister ist sehr beliebt bei seinen Truppen.« »Hm. Auch das spricht eigentlich für ihn. Er scheint mir überhaupt ein tüchtiger Staatsmann zu sein.« »Natürlich ist er ein tüchtiger Staatsmann. Darum eben ist es so schwer, gegen ihn vorzugehen. Er versteht es, sich Freunde zu machen.« Je mehr er über diesen Meister hörte, desto unverständlicher wurde Connor der Haß der »Wilden« gegen diesen klugen und sozialen Herrscher. Aber er hielt es für besser, nichts mehr zu sagen. Statt dessen bat er Jan und Evanie, ihm mehr über dieses Weltreich zu erzählen. So erfuhr er von den großen, künstlich geheizten Städten in der Antarktis, besonders der Minenstadt Nyx, die genau auf dem geographischen Südpol lag. Aller Verkehr und Transport konnte nur mit Raketen, den berühmten Triangeln
von Urbs, durchgeführt werden. Dieses Verkehrsmittel war im allgemeinen zu teuer, aber für die Antarktis lohnte es, denn dort wurde das kostbare Platin gefördert. Er hörte von der Bewässerung der Sahara, einem gigantischen Projekt, das das ganze Klima Nordafrikas verändert und aus der Wüste eine Kornkammer gemacht hatte. Er erfuhr von der riesigen Sternwarte auf dem Mount Everest, dem sogenannten Weltauge. Dieses Observatorium verfügte über einen gewaltigen Spiegel, der nichts anderes war als ein drehbarer See voll Quecksilber mit einem Durchmesser von über hundert Fuß. In diesem Spiegel zeigte sich Betelgeuse als eine große Scheibe, und die Oberfläche des Mondes sah aus, als wäre sie keine dreißig Yards entfernt. Nach der Vernichtung der alten Zivilisation war die neue Technik noch nicht bis zur Eroberung des Weltraums vorgestoßen, die damals, im 20. Jahrhundert, schon in so erreichbare Nähe gerückt schien. Aber den Mond hatten die Menschen bereits erreicht. »Es gibt dort eine Art von Vegetation«, berichtete Evanie. »Seltsame Gebilde, die halb Pflanze, halb Kristall sind. Mondorchideen nennt man sie. Sie sind unerhört kostbar, und nur ganz wenige reiche Damen von Urbs tragen sie zu besonders festlichen Gelegenheiten.« »Eines Tages werde ich dir eine Mondorchidee schenken«, versprach Tom Connor lächelnd. Auf der Gummistraße glitt der Wagen in atemberaubendem Tempo dahin. Plötzlich deutete Evanie nach oben und rief: »Sieh nur, Tom! Ein Triangel!« Zum erstenmal sah er eines der Raketenflugzeuge von Urbs, deren Besitz die Revolutionäre dem Meister so neideten. Der Name Triangel erklärte sich aus der Tatsache, daß seine vier Seiten Dreiecke waren. Seine Größe war schwer zu schätzen. Connor schien es gewaltig, jede Seite mindestens hundert Fuß lang. Gerade über ihnen schwenkte es seitwärts ab, wobei es einen langen Feuerschweif hinter sich herzog. »Ob sie uns beobachtet haben?« fragte Evanie ängstlich. Und sie beruhigte sich selbst: »Unsinn! Ich bin aufgeregt und sehe Gespenster. – Schau, Tom, dort liegt Kaatskill, eine Vorstadt von Urbs. Und das dort ist die Hauptstadt der Welt Halte einen Augenblick auf dem Hügel, Jan.«
Der Anblick war überwältigend. Soweit das Auge reichte, breitete sich unter ihnen die Stadt aus – ein steinernes, gläsernes Meer mit ragenden Wolkenkratzern und Aluminiumtürmen, die so leicht und graziös wie Spinnweben wirkten. Mitten in der Stadt erhob sich auf einem Hügel der Palast des Herrschers, dessen Türme sich in den Wolken verloren. Sie fuhren in die Stadt hinein. Die Straßen wimmelten von Fahrzeugen und Menschen, hektisches Leben pulsierte überall. Connor mußte denken, daß doch im Grund alle großen Städte aller Zeiten einander ähnelten – von Babylon bis Chicago oder Urbs. Die Städter trugen schimmernde, kurze Gewänder aus einem metallisch glänzenden Stoff. Viele von ihnen rauchten lange, schwarze Zigaretten, und Tom empfand zum erstenmal Sehnsucht nach seiner alten Pfeife, an die er lange nicht mehr gedacht hatte. Sie stiegen aus und betraten eines der hohen Gebäude. Es erinnerte Connor in vielem an seine eigene Zeit. Sie bestiegen einen Lift und fuhren etwa siebzig Stockwerke hinauf. Die Türen schwangen bei ihrem Näherkommen automatisch auf, und dicke Teppiche schluckten ihre Schritte. Sie betraten ein Zimmer, in dem etwa zwei Dutzend Leute versammelt waren. Bei ihrem Eintreten verstummten alle und starrten Connor mißtrauisch an. Jan stellte ihn vor: »Das ist Connor, dem wir die Konstruktion der Gewehre und Maschinengewehre verdanken!« Augenblicklich löste sich die Spannung, und Tom Connor wurde von allen herzlich begrüßt. »Laßt uns keine Zeit verlieren und gleich mit der Beratung beginnen«, sagte Evanie ungeduldig. Ein junges Mädchen warnte: »Vergeßt nicht, daß sich in jedem Zimmer ein Teleauge befindet. Der Meister kann uns alle Tag und Nacht beobachten.« Connor beugte sich zu Evanie und fragte leise: »Kann man dieses Teleauge nicht verdecken?« Sie schüttelte den Kopf. »Nichts wäre auffallender als das. Auf dem Beobachtungsschirm im Palast würde das sofort Argwohn erwecken.« Mit gedämpfter Stimme und in scheinbar zwanglosem Ton
begann man, sich nun über die brennendsten Fragen des Augenblicks zu unterhalten. Es löste einige Bestürzung aus, als Evanie von der Begegnung mit dem geheimnisvollen Kraftfeld, dem »Boten des Meisters«, berichtete. »Ob der Meister von unserem geplanten Anschlag weiß?« flüsterte ein Mann. »Selbst wenn er davon ahnte – er könnte nicht wissen, für wann wir den Schlag geplant haben«, entgegnete Evanie. »Ich bin dafür, daß wir gleich heute losschlagen!« Einige äußerten Bedenken. »Sollen wir alles riskieren, wenn wir nicht sicher sind?« Evanie warf den Kopf zurück. »Wenn es heute nicht geschieht, geschieht es nie! Und Überraschung ist unsere einzige Chance. Laßt uns alles auf einmal wagen – und gewinnen.« Sie war so entschlossen und sprach so überzeugend, daß die anderen sich fügten. Diesmal gingen sie zu Fuß durch das Gewimmel der Straßen, bis sie zu dem großen Platz vor dem Palast des Herrschers gelangten. Vor dem Eingang saß die Kolossalstatue Hollands, des Vaters der Wissenschaften, auf einem Dioritsockel, in ein riesiges Buch vertieft. »Noch zwei Minuten«, murmelte Jan mit einem Blick auf die Uhr. Die zwei Minuten schienen eine Ewigkeit. Dann dröhnte ein Glockenschlag vom Turm des Palastes. Ein Uhr! Im selben Augenblick ergoß sich ein Strom Bewaffneter aus allen Häusern der Umgebung. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich auf blanken Gewehrläufen. Rufe schallten über den großen Platz. Die Aufständischen versammelten sich um ihre Führer. Jäh stockte der Verkehr. An allen Fenstern tauchten erschrockene Gesichter auf. Aber immer neuen Zustrom erhielten die Aufständischen aus den Häusern und Straßen. Und bald bewegte sich eine waffenstarrende Armee auf den Palasteingang zu. Plötzlich öffneten sich die Tore, und die Soldaten des Herrschers strömten auf die Straße heraus. Im Gegensatz zu den aufständischen »Wilden« bewegten sie sich mit militärischer Disziplin und eiserner, unbeirrbarer Ruhe. In Sekundenschnelle
hatten sie einen dichten Ring um den Palast gezogen, um den anstürmenden Rebellen standzuhalten. Einen Augenblick standen die beiden Streitmächte einander gegenüber, zwei feindliche Fronten, kaum hundert Fuß voneinander entfernt. Es war ein Augenblick, der sich Connors Gedächtnis unauslöschlich eingrub. Er sah alles mit ungewöhnlicher Klarheit – wie ein Schauspiel, das ihn selbst nichts anging. Die Hunderte und Tausende von Wagen, erstarrt wie ein plötzlich gefrorenes Meer. Die drohenden Türme des Palastes. Die vielen tausend Gesichter in den Fenstern. Ein Geschwader von Triangeln, das plötzlich über der Szene auftauchte. Und die riesige Statue Hollands, die unbeirrt weiter in das steinerne Buch starrte… »Er ist gewarnt! Er hat uns erwartet!« murmelte Jan betroffen. »Feuer!« schrie Evanie. Eine Salve peitschte durch die Luft. Von allen Seiten des großen Platzes gleichzeitig klang das scharfe Knattern der Maschinengewehre, stiegen kleine Rauchwölkchen auf. Fensterscheiben splitterten. Connor stand wie vom Donner gerührt, als er einen Blick auf die feindliche Front warf. Nicht ein einziger Gegner war getroffen worden! Das konnte nicht nur an der Zielunsicherheit der ungeübten Schützen liegen. Der Meister mußte über eine geheime Schutzwaffe verfügen! Und da sprach es Jan auch schon aus: »Er war vorbereitet! Er hat seine Leute mit Paige-Deflektoren ausgerüstet! Er ist der Teufel selbst!« »O Gott!« stöhnte Connor. Was für naive Kinder waren diese »Wilden«! Sie wußten von den Deflektoren, von deren Existenz Connor bisher keine Ahnung gehabt hatte. Aber sie waren nicht auf den Gedanken gekommen, diese Verteidigungswaffe in ihrem Plan zu berücksichtigen! Der ganze Aufstand war von vornherein zum Scheitern verurteilt. In der nächsten Sekunde war die Hölle los. Die Soldaten des Meisters hoben ihre Gewehre und zielten auf die dichtgedrängte Front der Angreifer. Fahle Strahlenblitze zuckten aus den Mündungen. Ein tausendfältiger Schrei erhob sich unter den Aufständischen. Dutzende brachen wimmernd zusammen. Andere wandten sich kopflos zur Flucht.
Connor spürte einen heftigen stechenden Schmerz. Seine Muskeln verkrampften sich, seine Knie wankten. Aber er hielt sich aufrecht. Und nach einer Sekunde war der Schmerz vorbei. Ein elektrischer Schock! Wer kannte die Wirkung besser als er! Jetzt lagen bereits Hunderte von Aufständischen wimmernd auf der Erde. In seiner Nähe stand nur noch Evanie aufrecht. Jan versuchte stöhnend, sich aufzurichten. Diese verheerende Wirkung der Strahlenwaffe verblüffte Connor etwas. Auch er hatte einen starken Schmerz empfunden, aber es war immerhin ein erträglicher Schmerz. Offenbar war er weniger empfindlich gegen diese Strahlen als die Menschen der neuen Zeit. Wer noch nicht auf dem Boden lag, versuchte jetzt zu entkommen. Es war eine klägliche, regellose Flucht. Die Revolution war zu Ende. * Connor hatte einen Einfall. Er sagte sich, daß die ablenkende Kraft von den glitzernden Knöpfen auf den linken Ärmeln der Soldaten ausgehen mußte. Und die Wirkung strahlte nur direkt nach vorne aus – sonst wären die Soldaten nicht imstande gewesen, von ihren eigenen Waffen Gebrauch zu machen. Er ergriff ein Maschinengewehr, das einer der Aufständischen fallengelassen hatte, und drängte sich nach links durch. Von der Seite aus feuerte er – und wirklich fielen fast ein Dutzend Soldaten unter seinen Geschossen. »Bleibt doch!« schrie er den fliehenden Aufständischen zu. »Die Deflektoren haben keine Seitenwirkung! Greift von der Seite aus an!« Aber niemand hörte auf ihn. Wie eine Herde Schafe stoben die Revolutionäre auseinander. Die Soldaten richteten ihre Strahlenwaffen auf ihn, und er krümmte sich unter den sengenden Strahlen zusammen. Es war hoffnungslos. Er warf noch einen letzten Blick auf den Palast, bevor er den Fliehenden folgte. Auf einem Balkon im linken Flügel bemerkte er zwei majestätische Gestalten, die unbeweglich die Schlacht beobachteten. War eine von ihnen der Meister selbst?
Obwohl seine Hände unter der Wirkung des Strahlenbeschusses heftig zitterten, gelang es ihm, sein Maschinengewehr auf den fernen Balkon zu richten. Er drückte ab. Die Fenster klirrten in Scherben. Aber dem Paar auf dem Balkon schienen die Geschosse nicht das geringste auszumachen – offenbar war es durch die gleichen Deflektoren geschützt wie die Soldaten. Dann trafen ihn erneut die Strahlen aus den Waffen der Soldaten, und resigniert wandte auch er sich zur Flucht. Die Revolution war nicht mehr zu retten. Die flüchtende Streitmacht der Aufständischen war ein einziges Chaos. Connor packte Evanie am Arm und drängte sich mit ihr durch die Menge bis zum Wagen durch, in dem Jan bereits wartete. Ohne ein Wort fuhr Jan los, während Evanie sich auf den Rücksitz des Wagens fallen ließ und in Tränen ausbrach. Connor tröstete sie, so gut er konnte. »Wir müssen froh sein, daß wir so gut davongekommen sind. Es scheint, daß man uns nicht verfolgt.« »Oh, sie werden es versuchen«, knirschte Jan bitter. »Sie werden alle Ausfahrtstraßen blockieren. Im allgemeinen gibt es zwar bei uns keine Todesstrafe. Aber Evanie als Führer ihres Dorfes muß doch damit rechnen…« »Diese unsinnige Revolution war von Anfang an aussichtslos«, sagte Connor ärgerlich. »Warum habt ihr mir nichts von diesen Paige-Deflektoren gesagt? Worauf beruhen sie überhaupt?« »Es sind Induktionsfelder«, erklärte Jan. »Metall, das durch sie hindurchgeht, wird durch Strömungen abgelenkt.« »Und ihr habt diese Verteidigungswaffe nicht einkalkuliert! Wie ist das möglich?« Jan sagte kleinlaut: »Sie ist nur bei Metallgeschossen anwendbar. Solche Geschosse sind seit Jahrhunderten nicht mehr verwendet worden. Wie konnten wir wissen, daß der Meister von unseren Gewehren erfahren und seine Leute mit Deflektoren ausgerüstet hatte?« »Ihr hättet damit rechnen müssen. Ihr…« Er brach ab und zuckte die Achseln. Es war sinnlos, mit diesen Menschen über moderne Kriegführung reden zu wollen. Er fragte: »Wißt ihr Näheres von diesen Strahlenwaffen, mit denen die Soldaten des Meisters kämpfen?« »Gewiß. Sie produzieren zwei parallele Strahlen in der Art der
Gammastrahlen. Diese ionisieren die Luft, die sie durchdringen. Die ionisierte Luft ist ein Leiter, der eine elektrische Ladung aus den Atomgeneratoren der Strahlenpistolen weiterleitet. Der getroffene Körper gerät in den Stromkreis.« Jan schauderte bei der bloßen Erinnerung. »Sie haben kein tödliches Potential verwendet, sonst wäre keiner von uns mehr am Leben.« Connor erinnerte sich, daß die Strahlen ihm nicht allzuviel ausgemacht hatten, während alle anderen sich in Schmerzen und Krämpfen wanden. Offenbar war dieses zarte, degenerierte Volk anfälliger als ein Mensch des 20. Jahrhunderts. »Hättet ihr nur auf mich gehört!« sagte er vorwurfsvoll. »Ich hatte herausgefunden, daß die Paige-Deflektoren nur von vorne wirksam waren, und habe von der Seite mehrere Soldaten erschossen.« »Was?« schrie Jan entsetzt. »Um so schlimmer! Jetzt wird der Zorn des Meisters furchtbar sein!« Connor gab es auf. Was waren das für sonderbare, charakterschwache Menschen! Auf der einen Seite dieser verbissene Haß gegen den Herrscher, auf der anderen eine Unentschlossenheit und Zaghaftigkeit, die sie vor der ersten Schwierigkeit, dem ersten Rückschlag kapitulieren ließ. Er konnte sie nicht verstehen. Schließlich lag ein Jahrtausend zwischen ihnen, in dem sich die Menschheit beträchtlich verändert hatte. Der einzige, dem er sich in dieser Welt verbunden fühlte, war – der Meister selbst. Auch der Meister stammte aus einer anderen, früheren Zeit. Vielleicht lag darin ihre Seelenverwandtschaft. Ein aufzuckender Blitz vor ihnen unterbrach seine Gedankengänge. »Da! Es ist soweit«, murmelte Jan resigniert. Connor wußte sofort, was er meinte. Dieses Glitzern in der Luft, dieser irisierende Schein konnte nur ein Bote des Meisters sein. »Wen mag er suchen?« flüsterte er. »Wahrscheinlich Evanie«, gab Jan zurück. »Aber still! Rühr dich nicht. Versuche nicht daran zu denken! Schließ deinen Geist dagegen ab!« Evanie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Jan fuhr weiter und hielt die Blicke krampfhaft auf die Straße vor ihnen gerichtet. Aber Connor konnte weder seine Augen noch seinen Geist vor dieser gespenstischen Erscheinung verschließen. Wie gebannt folgte er mit den Blicken dem schimmernden,
ungreifbaren Etwas, das den fahrenden Wagen umkreiste. Jan faßte einen plötzlichen Entschluß und bog in eine Seitenstraße der großen Überlandstraße ein. »Dort ist ein Dorf«, wisperte er. »Vielleicht können wir ihm entkommen.« »Aber wie – da es doch die Wände durchdringen kann wie Luft?« »Vielleicht haben wir Glück. In dem Dorf gibt es ein pneumatisches Rohr für Eilfrachten. Wir können es zumindest versuchen…« Als sie das Dorf zwischen den Hügeln erreichten, neigte sich die Sonne dem Untergang zu. Der Bote glitzerte drohend am orangeroten Himmel. Sie stiegen aus, und sowohl Evanie als Jan schützten ihre Augen mit den Händen, um den furchtbaren Boten nicht sehen zu müssen. Im Laufschritt erreichten sie die Eilfrachtstation. Aber der bärtige Alte, der sie einließ, zuckte bedauernd die Achseln, als er ihr Anliegen erfuhr. »Ich habe nur zwei Frachtkapseln«, sagte er. »Dann geht ihr beide zuerst«, schlug Connor vor. »Ihr seid in größerer Gefahr als ich. Und ich werde meinen Weg nach Ormon auch allein finden.« »Auf keinen Fall!« rief Jan fest. »Hör zu, Tom. Ich liebe Evanie. Aber sie hat dich gewählt. Du sollst sie glücklich machen. Rasch, um des Himmels willen! Fort mit euch!« Widerstrebend kletterte Connor in eine der zylindrischen Kapseln, während Evanie die andere bestieg. »Nach Ormon?« fragte der Alte. »Nein! Zum nächsten Dorf, irgendwo in den Bergen! Rasch, nur rasch!« rief Jan. Plötzlich zuckte ein heller Schein auf, und entsetzt sah Connor den Boten, der durch die Steinwand hindurch in den Raum drang! In diesem Augenblick wurde die Kapsel geschlossen. Flach auf dem Bauch liegend, fühlte Connor, wie sein enges Gefängnis mit ungeheurer Beschleunigung durch das Rohr schoß. Er wurde von Übelkeit und Schwindel ergriffen und verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum. Dann, nach einer Zeitspanne, die ihm endlos schien, hörte die Bewegung auf. Die Kapsel wurde von außen geöffnet. Er kroch hinaus und sah Evanie, die im gleichen Augenblick ihre
Kapsel verließ. Sie war sehr blaß und schien unter der ungewöhnlichen Fahrt noch mehr gelitten zu haben als er. Der Mann, der die Zylinder am Bestimmungsort geöffnet hatte, prallte entsetzt zurück, als er statt der erwarteten Fracht zwei Menschen darin vorfand. Die beiden Flüchtlinge nahmen sich keine Zeit zu Erklärungen. Sie rannten hinaus und schlugen den Weg nach dem nächsten Wald ein. »Wohin?« fragte Connor. »Zu den Metamorphs der Wälder«, antwortete Evanie. »Sie werden uns verbergen, bis das Schlimmste vorbei ist.« In diesem Augenblick sah er es. Ein irisierender Schein, ein flimmerndes, körperloses Etwas über den Wipfeln… »O mein Gott!« stöhnte er. »Es hat uns eingeholt! Mit welcher Geschwindigkeit kann sich dieser Dämon fortbewegen?« »Wahrscheinlich so schnell wie das Licht«, seufzte Evanie. »Ich nehme an, es gilt mir. Ich will versuchen, meinen Geist dagegen abzuschließen…« Jetzt senkte sich der Bote tiefer und stieß dann herunter wie ein Raubvogel. Aber nicht Evanie war es, auf die er sich stürzte, sondern Connor! Der junge Mann stieß einen Entsetzensschrei aus, als das spitze Ende des Boten seine Schädeldecke durchdrang und sich in sein Hirn bohrte. Es schmerzte nicht. Er hatte nur mit einemmal das Gefühl, nicht mehr Herr seiner selbst zu sein. Ein Teil des Wesens drang in seinen Kopf, der Rest ruhte auf seiner Schulter. Er schlug danach – aber seine Hände trafen nur die Luft. Und dann klickte etwas in seinem Kopf, und eine schrille, mechanische Stimme befahl ihm: »Geh nach Urbs zurück! Geh nach Urbs zurück!« Mit zermürbender, nervenzerreißender Einförmigkeit hallte immer wieder der eine Satz in seinem Kopf: »Geh nach Urbs zurück!« Das Mädchen betrachtete ihn mit weitaufgerissenen Augen. »Es war für dich«, flüsterte sie scheu. »Oh, wäre es doch für mich gewesen! Ich kann meinen Geist dagegen verschließen. Ich kann dagegen ankämpfen. Versuch es! Bitte, versuch es!« Er versuchte es, nicht an den Dämon zu denken, der sich in seinem Hirn eingenistet hatte. Aber dies war unmöglich. Er konnte die Stimme nicht überhören, die wieder und immer wieder den einen Satz herleierte, wie eine zerbrochene
Grammophonplatte. »Geh zurück nach Urbs! Geh zurück nach Urbs!« Seine Gedanken begannen sich zu verwirren. Das Blut brauste in seinen Ohren. Er fühlte, wie er am ganzen Körper zitterte, wie seine Nerven sich verkrampften. Er konnte nichts anderes mehr denken als den einen Satz, der ihn fast zum Wahnsinn trieb: »Geh zurück nach Urbs! Geh zurück nach Urbs!« »Ich kann nicht!« schrie er. »Ich kann es nicht mehr ertragen! Ich gehe nach Urbs zurück. Mir ist alles gleichgültig, wenn ich nur diesen schrecklichen Teufel loswerde!« Im selben Augenblick blitzte es über ihnen auf, und ein zweiter Bote ließ sich wie ein Sturzbomber vom Himmel fallen – genau auf Evanie. Mit einem Aufschrei sank das Mädchen zusammen. Die schnabelförmige Spitze des Boten bohrte sich in ihren Kopf, ein bläulicher Schein lag über ihrer linken Schulter. Der Angriff war so überraschend gekommen, daß sie keine Gelegenheit mehr gefunden hatte, ihren Geist dagegen abzuschirmen. »Wir sind verloren!« wimmerte sie. »Der Meister will dich. Und er will verhindern, daß ich dir helfe.« Connor beugte sich über sie. »Evanie! Um Gottes willen – was befiehlt dir das Ding?« »Es sagt: Schlaf! Schlaf! O Tom! Ich fühle, wie meine Augen zufallen, wie die Müdigkeit mich überwältigt! Ich…« Mitten im Satz fielen ihr die Augen zu, und sie verstummte. Einen Augenblick starrte Connor auf die bewußtlose Gestalt zu seinen Füßen. Dann beugte er sich hinunter und hob sie auf seine Arme. Er konnte dem Befehl des Meisters nicht widerstehen. Die Stimme in seinem Hirn trieb ihn zur Verzweiflung. Aber er wollte Evanie auf keinen Fall im Stich lassen. Er würde sie mitnehmen, und wenn er sie bis Urbs tragen mußte! Evanie war eine leichte Bürde. Aber diese Wanderung brannte sich seiner Erinnerung wie ein Mal ein. Sobald er sich auf den Weg nach Urbs begab, schwieg die entsetzliche Stimme in seinem Innern. Aber sowie er sich auch nur einen Augenblick hinsetzte, um auszuruhen, begann die Marter aufs neue. Die Stimme schrillte ihren ewigen Satz, bis ihm der Kopf zu zerspringen drohte und er trotz seiner Erschöpfung aufsprang und weitertaumelte. Endlich erreichte er die Station, in der sie das Rohr verlassen hatten. Die Dorfbewohner hielten sich in scheuer Entfernung, als
sie die beiden Boten auf den Schultern des jungen Mannes und des bewußtlosen Mädchens sahen. Nur mit Mühe überredete er den Alten, die beiden Kapseln zu öffnen und ihn und das Mädchen wieder auf dem gleichen Weg zurückzubeordern, den sie vor kurzem gekommen waren. Auch der Alte am anderen Ende der Rohrleitung, der sie wieder befreite, zuckte erschrocken zurück, als er die Boten bemerkte, die immer noch fest an den Körpern der beiden Rebellen saßen wie Parasiten. Und sobald Connor die zylindrische Kapsel verlassen hatte und einen Augenblick aufatmete, schrillte es wieder in seinem Hirn: »Geh zurück nach Urbs! Geh zurück nach Urbs!« Mit zusammengebissenen Zähnen nahm Connor das Mädchen auf die Arme und machte sich wieder auf den Weg. Es war die Strecke, die sie vorher mit Jan im Wagen zurückgelegt hatten, und Connor wußte, daß er noch viele Meilen bis Urbs zurücklegen mußte. Wie sollte er diese Strecke zu Fuß und mit der Last auf seinen Armen schaffen? Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, sein Herz klopfte wie ein Dampfhammer. Nachdem er etwa eine halbe Stunde gegangen war, ließ er sich erschöpft ins Gras sinken. Sofort setzte ihm der Dämon wieder zu. In seinem Hirn schrillte und dröhnte es in teuflischer Unermüdlichkeit: »Geh zurück nach Urbs! Geh zurück nach Urbs!« »Ich kann nicht mehr!« schrie Connor verzweifelt, als könne der Bote oder sein ferner Auftraggeber ihn hören. »Ich kann nicht mehr! Siehst du nicht, daß ich am Ende meiner Kräfte bin? Willst du mich töten?« Zu seiner Erleichterung schwieg die Stimme daraufhin. Noch nie war ihm Stille so köstlich erschienen! Er schielte verstohlen aus den Augenwinkeln nach dem Wesen, das sich an ihm festgesaugt hatte wie ein Vampir. Es war ein Nichts, ein ungreifbarer Schimmer nur, der auf seiner Schulter lag. Und doch – welche entsetzliche Macht übte dieses Nichts auf ihn aus! Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, erhob er sich und machte sich wieder auf den Weg. Ab und zu brummten Wagen vorbei, aber keiner hielt. Er sah, wie die Blicke der Vorüberfahrenden scheu die beiden Boten streifen, die ihn und das Mädchen als Staatsfeinde brandmarkten.
Niemand wollte mit Leuten zu tun haben, die beim Meister in Ungnade standen. Aber zu Connors Überraschung hielt am zweiten Tag des anstrengenden Marsches ein Wagen neben ihm. Der Fahrer, ein junger Bursche, lud ihn freundlich zum Einsteigen ein. Connor murmelte einen Dank, kletterte in den Wagen und legte das Mädchen, das immer noch bewußtlos war, sanft auf den Rücksitz. »Habt ihr bei dem Aufstand mitgemacht?« fragte der junge Fahrer neugierig, während er nach den Schultern seiner Fahrgäste schielte. »Ihr müßt eine wichtige Rolle dabei gespielt haben, wenn der Meister sogar seine Boten nach euch ausschickt.« Plötzlich rief er: »Jetzt erkenne ich dich! Du bist der Wilde, dem die Ionenstrahlen nichts anhaben konnten, und der ein Dutzend von des Meisters Leuten erschoß! Verdammt, dann sieht es böse für dich aus!« »Was ist mit den anderen Anführern geschehen?« fragte Connor besorgt. »Sicher konnten nicht alle fliehen?« »Der Meister hat nur die Führer verhaften lassen«, berichtete der Fahrer. »Neun von ihnen. Das wurde in den Fernsehnachrichten bekanntgegeben. Aber was mit ihnen geschehen ist, wurde nicht gesagt.« Es war Nachmittag, als sie die Hügel vor der Stadt erreichten. Wieder war Connor von dem gewaltigen Anblick dieser Millionenstadt überwältigt, die sich ausbreitete, so weit das Auge reichte. Ein Straßennetz von mehreren Etagen durchzog das Häusermeer. Der Fahrer hielt sich an eine breite Hauptstraße in Erdbodenhöhe, die geradewegs zum Palast führte. Als die riesigen Türme des Palastes vor ihnen auftauchten, hielt er an. »Danke«, sagte Connor, während er das Mädchen aus dem Wagen hob. »Du hast mir den Weg zur Hölle ein wenig erleichtert.« »Schon gut«, winkte der Fahrer verlegen ab. »Und viel Glück, Wilder. Du wirst es brauchen.« Das schlafende Mädchen auf den Armen, ging Connor langsam, mit schweren Schritten, auf den Palast zu. Die Passanten wichen scheu zur Seite, als sie die Boten auf seiner und des Mädchens Schulter sahen. Auch die Torwächter gaben ihm hastig den Weg frei.
Er trat durch das Hauptportal und schritt wie ein Nachtwandler über den langen roten Teppich bis zu einer zweiflügeligen Tür aus gehämmertem Gold, die sich bei seinem Näherkommen automatisch öffnete. Dahinter lag ein großer Saal. Am anderen Ende des Saales erblickte er eine lange Reihe von erhöhten Sitzen, auf denen etwa fünfzig Gestalten feierlich thronten. Davor standen mehrere Dutzend Leute, offenbar Bittsteller, links und rechts von ihnen bewaffnete Wächter. Während Connor auf die Reihe der Thronsessel zuschritt, fühlte er einen unbändigen Haß gegen den Meister in sich aufsteigen. Bisher hatte er nichts gegen den Herrscher gehabt; im Gegenteil, alles was er von seiner Regierung gehört hatte, schien ihm nur für die Weisheit und soziale Einstellung des Meisters zu sprechen. Aber während dieses mühevollen Marsches nach Urbs, mit dem Dämon auf der Schulter und der schrecklichen Stimme in seinem Hirn, hatte er den Meister hassen gelernt. Als er näher kam, wichen alle, die vor den Thronen standen, scheu zur Seite. Er bemerkte jetzt, daß nur zwei der Throne besetzt waren – die beiden mittleren. Alle anderen Gestalten waren nur lebensgroße Statuen. In der Mitte aber saß der Meister und neben ihm seine Schwester, Prinzessin Margaret von Urbs, die das Volk die Schwarze Flamme nannte. Connor hob die Augen zu den Thronsesseln, und sein Blick traf zuerst die Prinzessin. Er erstarrte, als er sie erkannte. Die schlanke, majestätische Gestalt auf dem Thron war niemand anders als die schöne Nymphe, die er damals im Wald getroffen hatte! Freilich trug sie diesmal kein leichtes, griechisches Gewand, sondern die übliche Tracht der Bewohner von Urbs: eine enganliegende Taille aus glänzender rosa Seide und ein kurzes Röckchen aus Goldschuppen. Ihre Haare glänzten wie schwarzblauer Lack. Ihre Haut war so zart und glatt wie kostbares Porzellan. Die meergrünen Augen blickten kalt. Bitterkeit erfüllte sein Herz, und sein Haß gegen den Herrscher übertrug sich auch auf das Mädchen. Die schöne Waldgöttin, an die er so oft hatte denken müssen – sie war also die Schwester des Tyrannen. Margaret von Urbs, die Schwarze Flamme, die ebenso wie ihr Bruder mit eiserner Hand die Welt regierte! Ihr Gesicht war eine ausdruckslose, starre Maske. Nichts von der Gelöstheit, dem etwas spöttischen Lächeln, das ihn so bezaubert
hatte, war jetzt an ihr wahrzunehmen. Kalt und finster schaute sie auf ihn herunter, als hätte sie ihn nie zuvor gesehen. Und trotz seines Hasses konnte er seinen Blick kaum von ihrer Schönheit losreißen. Sie sah aus wie die antike Statue einer Göttin, reglos, aus Marmor gemeißelt. In ihrem nachtschwarzen Haar glitzerte und funkelte ein Gebilde, halb Blume, halb Kristall – eine Mondorchidee. Endlich faßte sich Connor und wandte seinen Blick dem Herrscher selbst zu. Der Herr der Welt wirkte überraschend jung – etwa Mitte zwanzig. Connor erkannte die klaren, ebenmäßigen Züge wieder, die er schon auf Evanies Münze gesehen hatte. Eine kluge Stirn, ein entschlossener Mund. Nur die Augen sahen nicht wie die eines jungen Mannes aus – in ihnen lag die Weisheit von Jahrhunderten. Und seltsamerweise ein kaum merkliches Lächeln, das auf einen gewissen Sinn für Humor schließen ließ und die Härte der übrigen Züge milderte. Die Stimme des Meisters klang klar und voll, als er nun begann: »Ich sehe, du bist meiner freundlichen Einladung gefolgt, Thomas Connor.« Connor warf kampflustig den Kopf zurück. »Befreie uns von deinen verdammten Boten. Wir sind hier. Was willst du mehr?« Der Meister nickte und berührte einen Knopf auf der Armlehne seines Sessels. Im selben Augenblick fühlte Connor ein Klicken – und dann eine ungeheure Erleichterung in seinem Kopf. Der Bote hatte seinen Körper verlassen. Er sah auf Evanie herunter, die er immer noch auf seinen Armen hielt. Auch der helle Schein auf ihrer Schulter war verschwunden. Vorsichtig ließ er das Mädchen, das immer noch schlief, auf den Teppich vor dem Thron gleiten. »Nun?« fuhr der Meister fort. »Eure Revolution hat ein rasches Ende gefunden, nicht wahr?« Eine Welle von Haß stieg in Connor auf. Da saß der Mann, den eine Welt haßte, und sprach so ruhig und selbstsicher, als könne ihm nichts geschehen. Ohne zu überlegen, riß Connor die Pistole aus Evanies Gürtel und feuerte blindlings auf den Meister. Ein Dutzend Schüsse peitschten durch die Luft, eine beizende Rauchwolke verhüllte den Thron. Als der Rauch sich gelegt hatte, sah Connor den Meister ruhig
und unbewegt dasitzen, den Blick ernst und ein wenig traurig auf ihn gerichtet. Natürlich, dachte Connor bitter, auch er ist durch ein Induktionsfeld geschützt – ich hätte es mir denken können! Er warf die leere Pistole weg und wartete düster, was der Herrscher nun über ihn beschließen würde. Unwillkürlich wanderte sein Blick verstohlen wieder zu der Prinzessin hinüber. Auch sie sah ihn an. Aber ihre meergrünen Augen blieben kalt und unergründlich. Sie wollte ihn nicht wiedererkennen. Nun gut – dieses Spiel konnte er mitmachen! Die Stimme des Meisters riß ihn aus seiner Versunkenheit. »Warum haßt du mich?« fragte er ruhig. »Warum? Das fragst du noch – nachdem du mich zwei Tage und Nächte lang durch deinen Dämon hast quälen lassen?« »Das ist nicht der Grund«, gab der Dämon kühl zurück. »Du hast dich an einem Aufstand gegen mich beteiligt, vergiß das nicht. Mein Bote hatte nur den Auftrag, dich zu mir zu bringen. Da du gehorchtest, hat er dir nicht geschadet.« »Und Evanie?« rief Connor in bitterem Vorwurf. »Sieh nur! Sie schläft immer noch! Was hast du mit ihr gemacht?« »Sie wollte dir gegen meinen Boten beistehen. Ich mußte sie für eine Weile in Schlaf versetzen, sonst wäre es ihr vielleicht gelungen, dich von dem Boten zu befreien. Ich möchte von dir Näheres über diese mißglückte Revolution hören.« »Wenn ich mehr zu sagen gehabt hätte, wäre sie nicht mißglückt!« rief Connor erbittert aus. »Diese Wilden sind wie Kinder und haben ohne jeden Plan gehandelt!« »Ach! Und wenn es nach dir gegangen wäre, was hättest du anders gemacht?« lächelte der Meister kalt. »Eine ganze Menge! Vor allem hätte ich die Waffen nicht auf den öffentlichen Straßen nach Urbs bringen lassen. Das mußte ja auffallen. Und so wurdest du rechtzeitig gewarnt. Ich hätte die Waffen in Urbs selbst herstellen lassen. Es wird wohl auch hier solche Fabriken geben, wie sie die Wilden in Ormon haben.« »Interessant!« murmelte der Meister. »Und weiter?« »Ich hätte die ganze Sache richtig organisiert und vorbereitet, ein Spionagenetz innerhalb des Palastes aufgezogen und einen regelrechten Kriegsplan ausgearbeitet. Und dann – eure Deflektoren! Ich wußte nichts von ihnen, sonst wäre alles anders gekommen. Die Wilden wußten von der Existenz der Deflektoren und hielten es nicht einmal der Mühe wert, sie mir gegenüber zu
erwähnen.« »Und wenn du davon gewußt hättest? Wäre dir ein Gegenmittel eingefallen?« fragte der Herrscher spöttisch. »Ich hätte hölzerne Geschosse verwendet statt der metallenen«, antwortete Connor ohne Zögern. »Eure Induktionsfelder hätten das Holz nicht aufhalten können. Und gegen eure Ionenstrahlen hätten wir uns mit metallenen Panzern schützen können; dann hätte das Metall den Stromkreis geschlossen, statt unsere Körper.« Obwohl er sich ausschließlich an den Meister wandte, fühlte Connor doch instinktiv, daß die Prinzessin ihn unverwandt betrachtete. Aber er tat, als wäre sie Luft für ihn. »Du hast recht«, sagte der Meister in einem sonderbar nachdenklichen Lächeln. »Wenn du die Revolution geführt hättest, wäre sie anders ausgegangen. Ich sehe erst jetzt, wie gefährlich du bist. Ich habe von dir gehört, aber ich wollte das Märchen nicht glauben, du hättest tausend Jahre geschlafen. Jetzt weiß ich, daß es wahr ist. Du kommst aus einer anderen Zeit. Aus einer Zeit, deren Wissen uns verlorengegangen ist. Auch die Kraft und der Mut deiner Rasse sind verlorengegangen. Es ist schade, daß du mein Feind bist. Ich hätte dich und dein Wissen gern auf meiner Seite gehabt.« »Was hast du mit mir vor?« fragte Connor furchtlos. Der Meister antwortete sanft: »Ich werde dich töten lassen. Es tut mir leid. Wäre Evanie nicht, dann würde ich dir das Leben schenken und dich freilassen. Aber ich kann keinem Mann trauen, der eine Wilde liebt. Ich fürchte Evanie nicht, und ich werde sie nicht zum Tode verurteilen. Sie kann mir nicht gefährlich werden. Aber du weißt zu viel. Ich kann es nicht riskieren, dich zum Feind zu haben.« »Danke«, sagte Connor hochmütig. Wie eine Kompaßnadel vom Nordpol, so wurden seine Augen immer wieder von der Prinzessin angezogen. Selbst in dieser Stunde, da er zum zweitenmal in seinem seltsamen Leben zum Tode verurteilt wurde, kehrten seine Gedanken immer wieder zu dieser rätselhaften Frau zurück und zu der unvergeßlichen Stunde im Wald, wo sie ihm wie eine Nymphe oder eine Göttin aus der grauen Vergangenheit erschienen war… Er hörte den Meister sagen: »Es ist mir zu Ohren gekommen, daß du dich auf die
Wissenschaften der Alten verstehst, von denen wir so wenig wissen. Auf die Mathematik, die Kunst der Berechnungen, Logarithmen und Ähnliches. Stimmt das?« »Gewiß.« »Wir brauchen dein Wissen. Bist du bereit, es uns zu lehren?« »Für den Preis meines Lebens – vielleicht.« Der Meister zögerte eine Sekunde, dann schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid. So wertvoll dein Wissen auch für uns wäre – die Gefahr, die du für uns darstellst, ist zu groß. Ich könnte dir dein Wissen gewaltsam entreißen lassen. Ich könnte dir dein Leben versprechen – und dich trotzdem töten lassen, sobald du uns gesagt hast, was wir erfahren wollen. Ich tue beides nicht. Nimm dein Wissen mit ins Grab, wenn du willst. Wachen! Bringt ihn fort.« Damit schien Connors Schicksal besiegelt. Aber in diesem Augenblick kam Leben in die Prinzessin, die bisher ganz regungslos wie ein Marmorbild auf ihrem Thron gesessen und das Gespräch verfolgt hatte. Sie beugte sich zu ihrem Bruder hinüber und redete leise und eindringlich auf ihn ein. Der Meister hörte aufmerksam zu, nickte schließlich und sagte: »Ich habe meinen Entschluß geändert. Ich will dich vorläufig leben lassen – wenn du mir dein Wort gibst, nichts gegen mich zu unternehmen, solange du in meinem Palast wohnst. Ich verlange nicht, daß du mir versprichst, keinen Fluchtversuch zu machen. Meine Boten werden dafür sorgen, daß du nicht weit kommst, wenn du es versuchst. Aber versprich, daß du keine feindliche Handlung und keinen Anschlag auf mein Leben unternimmst, solange du hier bist.« Connor überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Gut. Ich verspreche es.« »Du kannst gehen und dich im Bereich des Palastes frei bewegen«, sagte der Meister. »Ich werde einen Arzt beauftragen, für Evanie zu sorgen.« Er entließ Connor mit einer Handbewegung. Ein Wächter trat vor, hob die schlafende Evanie vom Boden auf und trug sie zum Ausgang. Connor folgte ihm. Er widerstand der Versuchung, noch einen Blick auf die Prinzessin zu werfen. Aber eine seltsame Freude erfüllte ihn – trotz seines Hasses –, daß sie ihn nicht vergessen und sogar seine Begnadigung erwirkt hatte. Er ging hinter dem Wächter her durch die Halle, bis zu einem
Aufzug, der sie viele Stockwerke hoch in den Nordturm hinaufbrachte. Der Wächter trug Evanie in ein großes, luxuriös eingerichtetes Zimmer und legte sie auf ein weißbezogenes Bett. Dann öffnete er eine Seitentür. »Dort ist Ihr Zimmer«, sagte er kurz und zog sich zurück. Connor beugte sich über Evanie, die bleich und reglos in den Kissen lag. Er fragte sich in großer Sorge, warum sie nicht erwacht war, nachdem der Meister seinen Boten abberufen hatte. Er griff nach ihrer Hand, um ihren Puls zu fühlen. Er ging schwach und ungleichmäßig. Nach einer Weile erschien ein Arzt. Er untersuchte die Bewußtlose flüchtig, zog ihre Augenlider hoch, öffnete ihre Lippen ein wenig und bemerkte sachlich: »Elektrolepsis. Schwere Verbrennungen der Gehirnzellen durch den Boten.« »Um Gottes willen! Heißt das, sie muß sterben?« rief Connor erschrocken. »Unsinn. Es ist das, was mit jedem Schläfer geschieht. Gerade du solltest das doch wissen, Mann der alten Zeit. Gewiß könnte es ernste Folgen haben, wenn wir sie jetzt ein halbes Jahrhundert schlafen ließen. Aber bei einer sofortigen Behandlung besteht überhaupt keine Gefahr.« Er öffnete eine mitgebrachte Tasche und entnahm ihr eine Injektionsspritze, die er aus einer Ampulle füllte. »Ein starkes Stimulans – und gleich wird sie aufwachen«, versicherte er. Wirklich schlug Evanie die Augen auf, nachdem der Arzt ihr die glashelle Flüssigkeit in den Arm eingespritzt hatte. Ihr Gesicht verzog sich schmerzlich, ihre Mundwinkel zuckten. »Wasser!« flüsterte sie heiser. »Wasser! Ich verbrenne.« * Connor sah sich suchend um Und entdeckte einen Krug auf einem Tisch. Er lief zu dem kleinen Springbrunnen mitten im Zimmer, wo klares Wasser aus dem Maul eines steinernen Löwen in ein silbernes Becken sprudelte. Evanie trank in durstigen Zügen. Dann erst sah sie sich verwirrt um und richtete einen fragenden Blick auf Connor. »Tom! Wo…?«
»In Urbs. Im Palast«, antwortete er sanft. Sie erschrak, als sie seine Worte begriff. »Die Boten! O Gott!« Sie schauerte. »Tom – wie lange…« »Du hast zwei Tage geschlafen, Evanie. Ich habe dich hierhergetragen.« »Und was hat man mit uns vor?« »Ich weiß nicht, Liebling. Aber du bist hier sicher.« »Hast du – hast du den Meister gesehen?« fragte sie ängstlich. »Ja. Ihn und seine Schwester, die Prinzessin.« »Die Schwarze Flamme?« rief sie erschrocken und starrte ihn aus weitaufgerissenen Augen an. »O Tom! Sie ist schlimmer als ihr Bruder! Sie ist gefährlich! Du darfst sie nie ansehen, nicht einmal an sie denken! Sie hat schon so viele Männer zugrunde gerichtet, gequält und getötet!« »Sie hat mir das Leben gerettet, Evanie«, sagte Connor. »Sie hat für mich gesprochen, als der Meister mich zum Tode verurteilen wollte.« »Das hat sie nur getan, um dich selbst zu Tode zu quälen!« schrie Evanie außer sich. »Tom, trau ihr nicht! Sie kennt keine Gnade, kein Mitleid, keinen Funken menschlicher Güte!« Dieser Ausbruch erschöpfte ihre schwachen Kräfte so, daß sie wie leblos wieder in die Kissen zurücksank. Der Doktor sprang vor und richtete sie auf. »Wir dürfen sie nicht schlafen lassen«, rief er. »Rasch! Hilf mir, sie aus dem Bett zu heben! Wir müssen mit ihr auf und ab gehen, bis sie wieder zu sich kommt.« Gemeinsam hoben sie sie aus dem Bett und zerrten sie durch das Zimmer, auf und ab, auf und ab, während sie stöhnend und schlaff in ihren Armen hing. Plötzlich öffnete sich die Tür. Zwei Wächter traten ein, bezogen Posten zu beiden Seiten der Tür und meldeten in singendem Ton: »Margarita Urbis Regina Sororque Domini!« Die Prinzessin! Der Arzt und Connor standen wie versteinert, und selbst Evanie hob ein wenig den Kopf und warf einen matten Blick nach der Tür. Mit sicherem Schritt betrat die Prinzessin das Zimmer. Zornig blitzte es in ihren meergrünen Augen auf, als sie sah, was vorging. »Narr!« schrie sie den Arzt an. »Wie kannst du sie so durchs
Zimmer schleifen? Legt sie augenblicklich wieder zu Bett! Sie muß absolute Ruhe haben, wenn sie am Leben bleiben soll!« Der Arzt wagte die schüchterne Bemerkung: »Ich fürchte, Prinzessin, davon verstehen Sie nichts. Ich bin Arzt…« »Schweig!« donnerte sie ihn an. »Glaubst du, ich hätte siebenhundert Jahre gelebt, ohne mehr zu lernen als ein sterblicher Arzt? Gehorche!« Der Arzt beeilte sich, Evanie auf das Bett zu legen, während Connor unschlüssig daneben stand. »Fort mit dir!« befahl die Prinzessin. Und der Arzt machte, daß er aus dem Zimmer kam. Dann beugte sich die Schwarze Flamme über das Bett, legte Evanie sanft die Hand auf die Stirn und sagte leise, aber eindringlich: »Schlaf, Evanie.« Evanie versuchte sich aufzurichten. »Laß mich!« flehte sie schwach. »Ich habe Angst vor dir! Ich will nicht schlafen!« »Schlaf«, wiederholte die Prinzessin. Und plötzlich entspannten sich Evanies Züge, ihr Körper erschlaffte, die Lider fielen ihr zu. Die Prinzessin wandte sich zu Connor um. Unverhohlener Spott lag in ihren grünen Augen, als sie fragte: »Mißtrauisch?« »Ja«, gab er offen zu. »Keine Angst, deine Evanie ist sicher. Ich will ihr nichts Böses tun. Und ich kenne die Boten, die Martin Sair erfunden hat, genau. Ich weiß, was für Schaden sie anrichten können. Aber ich weiß auch, wie man diesen Schaden heilt. Du traust mir nicht?« »Nicht ganz.« Sie lachte spöttisch. »Du hast keine Wahl.« Dann deutete sie auf eine Tür und sagte leise: »Dort ist ein Bad. Erfrisch dich und kleide dich um. Eine Urbaner Tracht liegt für ich bereit. Ich will, daß du mit mir zu Abend ißt.« »Warum?« Sie zuckte die Achseln. »Eine Laune. Vielleicht gefällt es mir, die Erinnerung an eine angenehme Begegnung wachzurufen«, fügte sie sanfter hinzu.
»Ich habe unsere Begegnung nicht vergessen, Thomas Connor. Aber ich will mich nur daran erinnern, wann es mir beliebt.« Wieder kam ein spöttischer Glanz in ihre unergründlichen Augen. »Vielleicht habe ich auch einen anderen Grund, mit dir zu speisen: Vielleicht will ich dein Wissen stehlen und dich dann töten. Grund genug hätte ich dazu. Du hast ein Dutzend Schüsse auf mich abgegeben, als ich mit meinem Bruder auf dem Balkon stand. So etwas vergesse ich nicht so leicht.« Er sagte kalt: »Wenn du mit mir essen willst, können wir das hier tun. Ich darf Evanie nicht allein lassen.« Sie lachte. »Evanie wird längere Zeit nicht zu sprechen sein. Übrigens brauchst du dir um sie keine Sorgen zu machen. Ich werde eine Dienerin zu ihrer Bewachung schicken. Geh, kleide dich um. Ich warte hier.« Zögernd gehorchte er. Er badete und zog sich die Urbaner Kleidung an, die für ihn bereitlag: ein enganliegender kurzer Chiton, wie ihn die Griechen des Altertums trugen, aus einem goldschimmernden, metallisch kühlen Gewebe gefertigt. Als er zurückkam, konnte die Prinzessin einen bewundernden Blick nicht verbergen. Seine kräftige, muskulöse Gestalt kam in dem anliegenden Chiton erst richtig zur Geltung. Man sah auf den ersten Blick, daß er aus einer anderen Zeit stammte als Jan und seine Rassegenossen mit ihren weichen, fast weibischen Zügen und den ein wenig schlaffen, untrainierten Körpern. Es bestand eine auffallende Rassenverwandtschaft zwischen Connor und dem Herrscher und dessen Schwester, die ja ebenso wie er in einer früheren Zeit geboren waren. Die Prinzessin führte ihn durch die Hallen und Gänge des Palastes bis zu einem Lift, der sie wieder abwärts brachte. »Wohin?« fragte Connor. »Zu meinen Gemächern im Nordturm. Aber zuerst will ich dir mein Laboratorium zeigen.« »Laboratorium?« fragte er verwundert. Sie lachte und antwortete nicht. Sie durchschritten den großen Thronsaal, und er bemerkte, daß jetzt auch auf den beiden mittleren Thronen Bronzestatuen saßen: Die des Herrschers und seiner Schwester. Er betrachtete das Abbild der Prinzessin interessiert. Als hätte sie seine
Gedanken erraten, bemerkte sie: »Drittes Jahrhundert. Ich war damals ein Kind von kaum einhundert Jahren – und glücklicher als heute.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Damals war ich noch nicht die Schwarze Flamme, sondern die lebensfrohe junge Prinzessin Margaret…« Er ließ die Blicke zwischen der Statue und dem Original abschätzend hin und her wandern. Bei flüchtiger Betrachtung schien kaum ein Unterschied zu bestehen. Die Prinzessin war noch ebenso schön wie damals und um keinen Tag gealtert. Aber der Ausdruck des Bildnisses war weicher, sanfter, ohne diesen kühlen Spott in den unergründlichen Augen. »Ich möchte lieber mit deiner Statue zu Abend essen, Schwarze Flamme«, bemerkte er. Sie zuckte ein wenig zusammen, sagte aber nichts. Sie gelangten in einen Raum hinter dem Thronsaal, der mit seltsamen Instrumenten und Apparaten vollgestopft war. »Sairs Laboratorium«, erklärte sie. »Und dies«, sie öffnete eine weitere Tür, »dies ist meines.« Der Raum glich eher einer Bibliothek als einem Labor, obwohl auch hier verschiedene Apparate herumstanden. Aber den größten Teil der Wände nahmen Stellagen mit alten Büchern ein. »Was machst du in diesem Laboratorium?« fragte er neugierig. »Hierher ziehe ich mich zurück, wenn ich nachdenken will«, antwortete sie. Sie nahm eine kleine geschnitzte Statue von einem Tischchen auf: Sie stellte eine Nachbildung der berühmten Venus von Milo dar: »Sieh nur – ein Kunstwerk, aus einer längst vergangenen Zeit. Heute gibt es keine Künstler mehr, die etwas so Schönes schaffen könnten. Schade, daß die Arme abgebrochen sind. Das muß während der Dunklen Zeiten geschehen sein, nehme ich an.« Er lächelte. »Das ist eine Kopie der Venus von Milo, und die Arme des Originals fehlten schon zweitausend Jahre vor meiner Zeit.« »Eine Kopie?« rief sie enttäuscht. »Wo ist das Original? Ich will es haben!«, »Es stand im Louvre in Paris.« »Paris ist heute ein Trümmerhaufen. Weißt du genau, wo der Louvre lag?« »Gewiß.« »Dann sag es mir! Ich will nach dem Original graben lassen!
Sag es!« Er sah in ihre eigenartig grünen, rätselhaften Augen und mußte wieder an jene Begegnung im Wald denken, da eine schöne Nymphe die Geschichte der Menschheit vor ihm ausgebreitet hatte, wie ein Märchen. Auch die Nymphe liebte die Schönheit – vielleicht hatte sie sie gesucht, als sie ihr eigenes Spiegelbild im Teich betrachtete. Nun hatte er sie als die kalte, tyrannische Prinzessin wiedergefunden, als seine Todfeindin. Aber auch die Prinzessin liebte die Schönheit… Er sagte: »Auch dieses Wissen will ich für mich behalten, bis ich es gegen etwas anderes eintauschen kann. Vielleicht gegen mein Leben.« Das spöttische Funkeln kehrte in ihre Augen zurück. »Wie du willst. – Komm jetzt! Zum Nordturm.« Das Zimmer der Prinzessin im Nordturm war ein kühles Gemach aus Glas und Aluminium, hoch über der Stadt. Die Wolkenkratzer lagen darunter wie Spielzeug. Und Millionen Lichter funkelten in der Tiefe wie eine Spiegelung des Sternenhimmels. Die Prinzessin ließ sich lässig auf einem purpurroten Diwan nieder und sagte herrisch: »Du mußt in meiner Gegenwart knien, Thomas Connor.« Connor zuckte die Achseln Und setzte sich ihr gegenüber. »Knien? Du bist keine Göttin, sondern ein Mensch wie andere auch. In meiner Zeit kniete man nicht vor Menschen.« Sie biß sich ärgerlich auf die Lippen, dann sprach sie in ein kleines schwarzes Kästchen neben ihrem Lager und bestellte eine Mahlzeit auf ihr Zimmer. »Nun?« fragte sie hochmütig, als sie sich ihm wieder zuwandte. »Was verlangst du für dein Wissen?« »Ich will nicht mit dir handeln«, versetzte er unfreundlich. »Ich traue dir nicht.« Sie sagte fast traurig: »Du siehst mich mit den Augen Evanies, Tom Connor. Ich glaubte einmal, ich gefiele dir… Nein, wir wollen nicht mehr von damals reden. Aber es ist doch seltsam, daß ich gerade dir begegnen mußte, als ich ruhelos und einsam durch die Wälder streifte. Schade, daß du glaubst, Evanie zu lieben. Sie liebt dich nämlich nicht.« »Das ist eine Lüge!« brauste er auf. »Sieh dich vor«, spottete die Schwarze Flamme, »daß ich dich
nicht für diese Beleidigung bestrafe. – Aber du irrst. Es ist keine Lüge.« In diesem Augenblick rollten zwei Diener einen gedeckten Tisch ins Zimmer, und sie verstummte. Die Anwesenheit der Diener während der Mahlzeit ließ kein Gespräch in Gang kommen. Aber später, als sie sich zurückgezogen hatten und Margaret und Connor ihre langen, schwarzen Zigaretten rauchten, fragte die Prinzessin ihn geradeheraus: »Warum liebst du Evanie und nicht mich?« »Dich? Weil du nicht das bist, wofür ich dich zuerst hielt. Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Aber dein Wesen schillert in allen Farben. Einen Augenblick erscheinst du sanft und anschmiegsam, im nächsten bist du eine Teufelin!« Sie warf den Kopf zurück und lachte laut. »Es ist wahr. Niemand kann so sanft und gütig sein wie ich – und niemand so grausam. Aber ich habe die Macht. Und wenn du aus Liebe nicht reden willst, werde ich dich eben mit meinen Mitteln dazu zwingen. Ich will dein ganzes Wissen besitzen. Und du wirst es mir nicht vorenthalten können!« Wieder sprach sie in den kleinen schwarzen Kasten. »Einen Boten in den Nordturm«, befahl sie kurz. »Was soll das heißen?« »Du wirst es sehen«, antwortete sie dunkel. Und sie fügte hinzu: »In diesem Zimmer gibt es kein Teleauge. Wir sind allein, Thomas Connor. Niemand kann uns beobachten.« In diesem Augenblick fühlte er einen heftigen, stechenden Schmerz. Und er brauchte den hellen Schimmer auf seiner Schulter nicht zu sehen, um zu wissen, daß ein Bote auf Befehl der Prinzessin sich in sein Hirn eingebohrt hatte. In derselben Sekunde schrillte eine Stimme in seinem Kopf auf: »Rede! Rede! Rede!« Er sprang auf die Füße. »Ruf das Ding zurück!« schrie er. »Wenn du mir alles gesagt hast, was du weißt«, erwiderte sie triumphierend. »Ruf es zurück! Oder…« »Oder?« Mit einem Sprung war er bei ihr. Mit der linken Hand drückte er sie in die Kissen zurück, während seine Rechte ihre Kehle umklammerte.
»Ruf es zurück – oder ich drücke dir den Hals zu!« zischte er. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Die Tür war aufgesprungen, und vier Wächter stürzten ins Zimmer. Natürlich! Die Techniker, die die Bewegungen des Boten von ihrem Kontrollbrett aus lenkten, mußten seine Worte gehört haben. Brutal rissen die Wächter ihn zurück und hielten ihn fest. Die Schwarze Flamme richtete sich auf. Ihre Augen sprühten Haß. Nichts Liebliches war mehr an ihr – sie wirkte wie ein schöner Dämon. Ihre Hand zitterte noch leicht, als sie nach dem schwarzen Kästchen griff. »Laßt ihn los!« befahl sie heiser. Augenblicklich klickte es in seinem Kopf, und die gellende Stimme des Boten verstummte. »Hinaus, ihr alle!« fuhr die Prinzessin die Wächter an. Dann wandte sie sich mit haßfunkelnden Augen ihm zu. »Das sollst du mir büßen! Ich habe dich vor einem schnellen und schmerzlosen Tod gerettet, den mein Bruder dir zugedacht hatte. Aber nun sollst du langsam und qualvoll sterben!« Er zuckte die Achseln. »Früher oder später – es ist mir gleichgültig. Nicht jeder hat das Glück, unsterblich zu sein.« »Glück?« Ein tiefer, echter Schmerz lag in ihrer Stimme, als sie bitter wiederholte: »Glück? Glaubst du wirklich, Thomas Connor, daß Unsterblichkeit ein Glück sei?« »Was sonst? Es ist das, was die ganze Menschheit sich wünscht, und was ihr uns vorenthaltet!« »Wenn du wüßtest!« Ihr Blick verdunkelte sich. »Was glaubst du, warum Joaquin das Geheimnis so unerbittlich hütet, obwohl er weiß, daß er sich damit den Haß und Neid der ganzen Welt zuzieht? Warum er nicht einmal seiner eigenen Mutter Unsterblichkeit verliehen hat?« »Aus Anmaßung und Selbstsucht.« »Nein, aus Erkenntnis. Unsterblichkeit ein Glück? Ein Fluch ist sie, den ich nur meinem Bruder zuliebe seit siebenhundert Jahren trage. Sonst hätte ich mich längst umgebracht. Und vielleicht tue ich es noch. Siebenhundert Jahre! Weißt du, was das heißt? Grenzenlose Einsamkeit ohne Freunde, ohne Liebe. Wie kann ich einen Mann lieben, der an meiner Seite dahinwelkt, bis sein Haar weiß wird und seine Zähne gelb, bis seine Kräfte ihn verlassen
und er nur noch als Schatten seiner selbst zum Grabe wankt? Siebenhundert Jahre allein und einsam! Ohne Kinder. Ja, auch auf die Mutterschaft mußte ich der Unsterblichkeit zuliebe verzichten, denn Unsterblichkeit macht unfruchtbar.« Er murmelte, nur halb überzeugt: »Aber schließlich bist du nicht die einzige Unsterbliche. Warum findest du keine Freunde, keinen Mann unter den Tausenden von Wissenschaftlern, denen dein Bruder Unsterblichkeit verliehen hat?« »Weil die meisten Greise sind. Du vergißt, daß mein Bruder die Unsterblichkeit nur für besondere Verdienste vergibt. Und die sie verdienen, sind meist zu diesem Zeitpunkt schon alte Männer. Glaubst du, weil ich unsterblich bin, hätte ich kein Herz? Wie oft habe ich mich nach Liebe und Freundschaft gesehnt, wie oft mir Kinder gewünscht! Du hast keine Ahnung, wie allein ich bin!« Tränen glänzten in ihren schönen grünen Augen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und begann leise zu schluchzen. Ergriffen und beschämt starrte Connor auf ihre vom Schluchzen geschüttelten Schultern nieder. »Verzeih«, murmelte er. »Verzeih! Wie konnte ich das ahnen! Es tut mir leid, Prinzessin.« Sie hob das tränenüberströmte Gesicht zu ihm auf. »Willst du mir helfen, Tom Connor? Willst du mein Freund sein?« Er ergriff ihre Hände und zog sie sanft an sich. »Ich will alles für dich tun, was ich kann«, versprach er. Er beugte sich über sie, um sie zu küssen. Sie lag hingegeben in seinen Armen, den sanften, tränenfeuchten Blick zu ihm aufgeschlagen. Aber sobald seine Lippen die ihren berührten, zuckte er zurück, als hätte er sich wirklich an einer lodernden, schwarzen Flamme verbrannt! Sie hatte ihm ins Gesicht gelacht! Der sanfte, hingebungsvolle Ausdruck ihrer schönen Augen hatte sich von einer Sekunde zur anderen verändert. Lachend stieß sie ihn zurück. »So, Tom Connor! Dies zeigt dir wieder, daß ich ein Satan bin, wie du sagtest! Geh jetzt!« In diesem Augenblick klickte es, und ein Briefumschlag fiel aus einem Schlitz in der Wand in einen Drahtkorb »Gib ihn mir!« befahl die Prinzessin herrisch.
Er reichte ihr den Brief, und sie riß ihn auf. Dann lachte sie: »Mein Bruder befiehlt mir, dich in Ruhe zu lassen. Als ob ich mir etwas befehlen ließe! Ferner will er, daß du sofort vor ihm erscheinst. Fahr mit dem Lift hinunter und laß dich von einem Wächter zu ihm führen. Du kannst gehen.« Sie wandte ihm brüsk den Rücken. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer. Aber ein sonderbarer Aufruhr tobte in seinem Innern. Sie hatte ihn eben beleidigt und zurückgestoßen. Und doch konnte er sie nicht so hassen, wie er gerne wollte. Hatte Evanie recht gehabt? Übte die Schwarze Flamme eine verheerende Anziehungskraft auf alle Männer aus, die sich ihr näherten? Er schob diese Gedanken von sich, um einen klaren Kopf zu behalten, als er vor den Herrscher geführt wurde. Der Meister saß hinter einem mit Papieren übersäten Schreibtisch und sah ihn mit seinen klugen, durchdringenden Augen aufmerksam an. »Tom Connor«, sagte er rundheraus. »Ich will wissen, was du über mich denkst.« Die Frage hatte Connor nicht erwartet. »Was soll ich über dich denken?« antwortete er ausweichend. »Du hast mir einen Boten auf den Hals geschickt, der mich fast zu Tode quälte. Du hast Evanie beinahe getötet. Glaubst du, ich könnte das alles so schnell vergessen?« »Immerhin hast du an einem Aufstand gegen mich teilgenommen«, erinnerte ihn der Meister mit leisem Vorwurf. »Du hast elf meiner Leute verwundet. Wie wäre so etwas in deiner Zeit bestraft worden?« »Mit dem Tod«, antwortete Connor nachdenklich. »Ich muß gestehen, daß ich mich über deine Milde den Rebellen gegenüber gewundert habe. Du hast die meisten von ihnen laufen lassen.« »Warum auch nicht? Die Wilden gehören zu meinem Volk wie alle anderen. Ich betrachte mein Volk als meine Kinder. Und welcher Vater würde seine Kinder so ohne weiteres töten?« »Aber deine Mutter hast du getötet«, versetzte Connor. Der Meister runzelte die Stirn. »Ich sehe, meine Schwester hat dir davon erzählt. Ja, ich habe meiner Mutter die Unsterblichkeit verweigert. Sie war alt und krank. Sollte ich sie zu jahrhundertelangem Siechtum verdammen? Unsterblichkeit kann die einmal verlorene Jugend
nicht wiederbringen.« Diese Erklärung leuchtete Connor ein, und er wußte nichts dagegen vorzubringen. »Aber warum läßt du die nicht an der Unsterblichkeit teilhaben, die heute noch jung und stark sind?« fragte er. »Es ist selbstsüchtig, diese Gabe nur dir und ein paar tausend Auserwählten vorzubehalten.« »Du verstehst nicht«, antwortete der Meister geduldig. »Es würde jede Entwicklung zum Stillstand bringen. Wie könnte sich die Menschheit weiterentwickeln, wenn niemand mehr stürbe und niemand mehr geboren würde?« »Laß jeden Menschen zuerst Kinder in die Welt setzen, bevor du ihn unsterblich machst«, schlug Connor vor. Der Meister schüttelte entschieden den Kopf. »Wohin sollte das führen? Zu einer katastrophalen Übervölkerung der Erde! Die Folgen wären gar nicht auszudenken.« Connor schwieg ein paar Sekunden, dann sagte er nachdenklich: »Das Geheimnis der Unsterblichkeit hätte eben niemals entdeckt werden dürfen! Es steht der Menschheit nicht zu!« »Vielleicht. Aber es ist nun einmal entdeckt worden. Sollte ich es vernichten – nur weil die unwissenden Menschen mich darum beneiden? Es hat einen Vorteil für sie alle, den sie gar nicht richtig zu schätzen wissen. Die Weisheit von Jahrhunderten befähigt mich, die Welt besser zu regieren, als es ein gewöhnlicher Mensch könnte, der nur wenige Jahrzehnte zu leben hat.« Eigentlich hat er recht, überlegte Connor. Aber er wollte es nicht zugeben. »Hast du mich nur hierhergerufen, um deine Handlungen vor mir zu rechtfertigen?« fragte er kühl. »Ja«, antwortete der Meister ruhig, »ich will dich überzeugen. Denn ich möchte, daß du mir freiwillig dein Wissen zur Verfügung stellst.« »Niemals!« »Tom Connor«, sagte der Meister ernst. »Ich könnte dir dein Wissen gegen deinen Willen entreißen. Aber ich schätze solche Methoden nicht. Ich möchte lieber, daß du mir glaubst, daß du mit mir an der Erreichung meines Ziels arbeitest.«
»Was ist dein Ziel?« fragte Connor fast gegen seinen Willen. »Ich will das Schicksal der Menschheit zu ihrem eigenen Besten gestalten. Ich habe die Eigentümlichkeiten jeder Rasse gestärkt – der gelben, die sonst ausgestorben wäre, der schwarzen, die unter Degenerationserscheinungen litt. Nur die rote Rasse war nicht mehr zu retten.« »Warum hast du das getan? Rassengegensätze werden immer nur Ursache von Kampf und Haß sein.« »Aber die Zivilisation kann nur aus Gegensätzen wachsen. Ohne Gegensätze keine Entwicklung, keine Kultur, kein fruchtbarer Gedankenaustausch.« »Du bist deiner sehr sicher«, murmelte Connor. »Ja. Denn ich habe Jahrhunderte Zeit gehabt, über Dinge nachzudenken, die andere in ihrer kurzen Lebensspanne verarbeiten müssen. Ich habe die Wahrheit gefunden. Ich glaube, daß ich die Menschheit auf den richtigen Weg führen kann.« »Ich wünschte…« Connor zögerte, »ich wünschte, ich könnte dir glauben. Fast glaube ich dir jetzt schon. Du scheinst wirklich den Willen zum Guten zu haben. Du bist kein höhnischer Teufel wie deine Schwester.« »Dein Urteil ist sehr schmeichelhaft für mich«, ertönte eine spöttische Stimme hinter ihm. Er fuhr herum. Die Schwarze Flamme stand lässig im Türrahmen. »Joaquin«, wandte sie sich an ihren Bruder. »Dieser Mann weigert sich, in meiner Gegenwart zu knien.« Der Meister lächelte nachsichtig. »Du weißt, daß ich keinen Menschen zwinge, einen Brauch anzunehmen, der ihm widerstrebt.« »Ich kann mich jetzt wohl zurückziehen?« bemerkte Connor, ohne die Prinzessin anzusehen. »Noch nicht, Tom Connor«, sagte der Meister. »Ich habe noch zwei Forderungen an dich.« »Nämlich?« »Wir brauchen dein Wissen. Die Mathematik der Alten zum Beispiel. Ich möchte, daß du uns alles, was du weißt, freiwillig gibst.« »Einverstanden – unter einer Bedingung: daß alles, was ich euch mitteile, öffentlich bekanntgemacht wird. Es gibt genug Geheimnisse in deinem Reich.« Er lächelte anzüglich. »Zwar
werden einige deiner Geheimnisse nicht mehr lange geheimbleiben.« »Welche?« fragte der Meister rasch. Da Connor nicht antwortete, sagte er: »Also gut, deine Bedingung soll erfüllt werden. Ich hatte sowieso nicht die Absicht, etwas für mich zu behalten.« »Und deine zweite Forderung?« fragte Connor. »Dein Blut, deine Erbanlagen«, sagte der Meister offen. »Unsere Rasse braucht eine Auffrischung. Sie ist in diesen Jahrhunderten in Gefahr geraten, zu degenerieren. Ich will, daß du dir eine Frau nimmst und Kinder in die Welt setzt.« »Das ist meine Privatangelegenheit«, antwortete Connor abweisend. »Ich verspreche nichts.« »Schön. Auch dazu will ich dich nicht zwingen. Aber für meine Großzügigkeit verlange ich eine Antwort auf meine Frage: Welche Erfindung soll entschleiert werden?« »Das Geheimnis des Antriebs eurer Triangel.« »Was?« »Ja. Ich habe das Raketengeräusch gehört und festgestellt, daß es nicht stetig ist. Es pocht.« Des Meisters Gesicht blieb undurchdringlich. »Und?« fragte er nur. »Ich weiß jetzt, daß auch ihr nicht imstande seid, die Atomkraft zu kontrollieren. Die Wilden glauben, daß ihr die Energieabgabe des Wasserstoffatoms bei der Verwandlung in Helium beschleunigen könnt. Das ist nicht wahr. Ihr könnt die Energie nur in ihrem natürlichen Rhythmus freimachen – oder auf einmal, in einer einzigen Explosion, wie in unseren Gewehren. Die Kraft, die eure Triangel antreibt, ist nichts weiter als eine rasche Aufeinanderfolge kleiner Explosionen, wie in einem Benzinmotor!« Eine Minute lang herrschte lastendes Schweigen. Dann murmelte der Meister fast scheu: »Damit hast du dein Leben verwirkt. Ich kann dich mit diesem Wissen nicht mehr frei herumlaufen lassen.« Connor warf einen Blick auf die Schwarze Flamme, die bleich und zornig dastand und sich auf die Lippen biß. Er bemerkte spöttisch: »Dein Entschluß wird die Prinzessin freuen.« »Töte ihn gleich! Hier und jetzt!« zischte sie. »Noch nicht. Thomas Connor, in meiner Jugend, vor vielen
hundert Jahren, kannte ich Männer, die dir glichen. Ihr Tod war ein großer Verlust für die Welt. Du aber lebst. Ich will dich nicht töten, wenn ich es vermeiden kann. Ich vertraue dir. Wenn ich dich überzeugen kann, würdest du dann auf meiner Seite mitarbeiten?« »Vielleicht. Wenn du mich überzeugen kannst…« »Dann versprich mir, bis du deiner Sache ganz sicher bist, das Geheimnis der Triangel für dich zu behalten.« »Ich verspreche es.« Connor nahm die dargebotene Hand des Meisters und sagte mit einem Seitenblick auf die Prinzessin: »Bei den drei Arten von Metamorphs.« Der Meister berichtigte ihn etwas verwundert: »Es gibt nur zwei Arten von Metamorphs: die Panate und die Amphimorphs.« »Und die Unsterblichen«, ergänzte Connor mit bewußtem Hohn. »Alle Mißbildungen, die aus Martin Sairs Strahlenbehandlung hervorgegangen sind, gehören zu den Metamorphs.« Mit einem Wutschrei wollte die Schwarze Flamme sich auf ihn stürzen. Aber der Meister hielt sie mit einer herrischen Geste zurück. »Genug! Du kannst gehen, Tom Connor.« Als er an der Schwarzen Flamme vorbeischritt, raunte sie ihm zu: »Glaubst du, meines Bruders Versprechen könnte dich – oder deine Evanie – vor meinem Zorn schützen?« Ohne ihr einen weiteren Blick zu gönnen, verließ Connor das Zimmer. Auf dem Weg zu seinem Zimmer kam Connor erst zum Bewußtsein, daß er eigentlich einen recht schlechten Handel abgeschlossen hatte. Unter der Maske seiner Milde und Nachgiebigkeit hatte der Meister im Grunde auf der ganzen Linie gewonnen. Er hatte von Connor das Versprechen erlangt, über die Triangel zu schweigen, vorläufig nichts gegen den Herrscher zu unternehmen und sogar vielleicht sein Wissen zur Verfügung zu stellen. Und was hatte Connor dagegen eingehandelt? Nichts als das selbstverständliche Recht, zu heiraten oder nicht zu heiraten, wie es ihm beliebte. Und die Zusicherung seines Lebens, die er ja bereits bei der ersten Audienz erhalten hatte! Lange noch lag Connor schlaflos auf seinem Bett und dachte an die Prinzessin, ihre teuflische Schönheit und ihren flammenden
Haß, den er trotz allem nicht aus vollem Herzen erwidern konnte. 6. Er erwachte am nächsten Morgen erfrischt und ausgeruht. Sein kräftiger Körper hatte die Strapazen des erzwungenen Marsches nach Urbs fast ganz überwunden. Er badete, zog sein glitzerndes Urbaner Gewand an und ging dann, um nach Evanie zu sehen. Das Mädchen war endlich wach und offenbar auf dem Wege der Besserung. Wenigstens in diesem Punkt also war die Prinzessin aufrichtig gewesen. »Evanie!« rief er zärtlich und setzte sich auf die Bettkante. »Geht es dir besser? Wie fühlst du dich?« »Ganz gut, Tom.« »Ich fürchte, wir haben der Prinzessin unrecht getan. Du verdankst ihr dein Leben.« Sie riß erschrocken die Augen auf. »Der Schwarzen Flamme? Tom! Hast du mit ihr gesprochen, während ich…« »Ja. Ich habe mit ihr zu Abend gegessen.« »Tom! Ich hatte dich doch gewarnt!« rief sie mit heftigem Vorwurf. »Sie ist ein Teufel! Sie wird deine Seele vergiften! Sie ist grausam und unmenschlich, und sie wird dich mit allen Mitteln auf ihre Seite ziehen wollen, um dich dann ins Verderben zu stürzen! Oh, Tom! Warum hältst du dich nicht von ihr fern, wie ich gebeten habe?« Es klopfte. Ein Diener trat ein und überreichte Connor einen Brief, der mit dem Wappen des Meisters versiegelt war: der Schlange, die sich um einen Globus ringelte. Connor riß den Umschlag auf und fand einen Brief und eine Münze darin. Der Brief enthielt nur wenige Zeilen: »Wir befehlen Dir, sofort in unserem Laboratorium zu erscheinen. Wenn Du diese Münze dem Torwächter gibst, wird er Dich passieren lassen. Margareta Urbis Regina Soroque Domini.« Das königliche »Wir«, also keine Einladung, sondern ein Befehl. Connor reichte den Brief Evanie, die ihn mit zusammengekniffenen Lippen überflog. »Nun?« fragte sie fast lauernd.
Er zuckte die Achseln. »Was kann ich tun? Ihren Befehl mißachten und dich und mich ihrem Zorn aussetzen?« »Geh nur! Geh!« schrie Evanie ihn an. »Ich sehe schon, du brennst darauf, zu ihr zu gehen! Oh, ihr Männer seid alle gleich.« »Evanie, sei vernünftig«, bat er. »Es ist das Beste, wenn ich gehorche.« Sie drehte sich zur Wand und antwortete nicht. Connor betrachtete nachdenklich die Münze in seiner Hand. Die Rückseite trug das Bildnis der Prinzessin. Ihre Züge waren schön wie die einer antiken Statue. * Jeder Wächter, dem er auf seinem Weg die Münze vorwies, verbeugte sich tief und ließ ihn ungehindert passieren. Die Prinzessin empfing ihn auf ihrem purpurroten Diwan, ein geschliffenes Glas in der einen, die unvermeidliche schwarze Zigarette in der anderen Hand. Sie trug ein enganliegendes Urbaner Gewand aus gewirktem Silber. Ihr Haar glänzte wie ein schwarzer Helm. Ihre zarten Füße steckten in edelsteinbesetzten Sandalen. »Du darfst meine Sandalen küssen«, forderte sie ihn herrisch auf. Er antwortete grob: »Genausowenig, wie ich vor dir knie. Warum hast du mich rufen lassen?« Sie lachte silberhell: »Vielleicht, um mich über die Eifersuchtsszene zu amüsieren, die Evanie dir auf meine Einladung hin machen würde.« Sie wies auf einen Bildschirm neben ihrem Lager, der Evanies Zimmer zeigte. Connor errötete unwillig. »Kann man denn hier nirgends ein Wort reden, ohne von einem Teleauge beobachtet zu werden?« »Oh, es hat mir nichts Neues verraten. Ich wußte, daß Evanie mich haßt und fürchtet. Und du hast mich nicht, verteidigt. Aber trotzdem will ich dir einen Gefallen tun. Du kennst noch wenig von unserer Welt. Nur die Wälder um Ormon und Urbs. Was soll ich dir zeigen?«
»Das Weltauge«, antwortete er prompt. »Das liegt in Asien. Dahin ist es zu weit. Aber ich kann dir etwas davon auf dem Bildschirm zeigen.« Sie drückte auf einen Knopf und befahl: »Das Weltauge.« Gleich darauf erschien auf dem Bildschirm ein bärtiger Asiate, der sich ehrfurchtsvoll verbeugte. »Laß uns den Mars sehen«, befahl die Prinzessin. »Die zentrale Region des Solis Lacus.« Das Bild des Asiaten verschwamm zu einem rosigen Nebel, aus dem sich nach einigen Sekunden eine bizarre Landschaft herauskristallisierte. Die Oberfläche des Mars, als wäre sie keine zwei Meilen entfernt. Man sah dunkle Flecken von auffallender Regelmäßigkeit, sich kreuzende Linien, die wie Straßen oder Kanäle aussahen, ein Glitzern wie von Wasser. Wann würde der Mars endgültig seine Geheimnisse preisgeben? Gab es dort Leben? Eine menschenähnliche Zwergenrasse? »Ich hoffe, ich bin unter den ersten, die eines Tages zum Mars vorstoßen«, sagte die Prinzessin leichthin. »Du? Aber – die Hin- und Rückreise würde zweieinhalb Jahre dauern!« »Was sind schon zweieinhalb Jahre für mich!« Sie knipste den Bildschirm aus. »Komm jetzt. Wir wollen einen kleinen Flug unternehmen. Du sollst ein Triangel aus der Nähe sehen – da du nun einmal sein Geheimnis kennst. Merkwürdig, daß du trotzdem noch am Leben bist.« »Wenn dein Bruder auf dich gehört hätte, wäre ich tot.« »So? Hattest du Angst?« »Kaum.« »Hast du jemals Angst?« »Gewiß. Aber ich versuche sie zu bekämpfen.« »Ich kenne keine Angst« sagte sie fast bedauernd. Sie zog eine Strahlenpistole aus einer Schublade und steckte sie zu sich. »Damit du keinen Fluchtversuch machst«, erklärte sie. »Wir verlassen den Palast. Aber ich habe vor, dich wieder hierher zurückzubringen.« Er lachte und folgte ihr, als sie sich zum Gehen wandte. Im Hof hinter dem Südturm stand ein Triangel auf metallener Landefläche. Es war kleiner als die andern, die er im Flug gesehen
hatte, und trug auf dem Rumpf den Namen »Himmelsratte.« »Mein Privattriangel«, erklärte die Prinzessin. »Es ist dasselbe, mit dem ich neulich eine kleine Reise unternahm, die ich nicht so bald vergessen werde.« Er hätte schwören können, daß sie in diesem Augenblick an ihre Begegnung in den Wäldern um Ormon dachte. In ihren meergrünen Augen sah er für Sekunden jenen zärtlichen, sanften Schimmer, der ihn damals so bezaubert hatte. Aber schon war sie wieder die kalte, hochmütige Herrscherin der Welt. »Steig ein!« befahl sie. »Oder hast du Angst?« »Ich fliege nicht zum erstenmal.« »O, du kannst ein Triangel nicht mit euren vorsintflutlichen Flugzeugen vergleichen! Du wirst ja sehen…« Mit der Gewalt einer Naturkatastrophe schoß das Triangel in den Raum hinaus, als die Schwarze Flamme den Starthebel berührte. Die riesige Stadt, die sich von Horizont zu Horizont dehnte, schrumpfte in wenigen Minuten zu einer Spielzeugstadt zusammen. Die Erdoberfläche unter ihnen begann sich zu krümmen. Tom Connor zuckte heftig zusammen, als mehrere Funken aus seinen Fingerspitzen sprangen. Die schwarzen Haare der Prinzessin flatterten wie in einem Windstoß. Funken sprühten aus den Schiffswänden. »Wir durchbrechen den Strahlengürtel«, erklärte sie nebenhin. »Angst?« »Nein.« Er warf einen Blick auf den Höhenmesser. Zwanzig Meilen von der Erdoberfläche. Und sie stiegen immer höher. Unter ihnen bildeten sich Nebelbänke, verhüllten die Erde, die jetzt eindeutig ihre kugelförmige Gestalt zeigte. Der Himmel verdunkelte sich, ein Stern tauchte auf, dann ein zweiter – fünfzig, hundert, tausend Sterne. Jetzt war der Himmel schwarz, die Sonne eine flammende blauweiße Scheibe, die Sterne blitzten zu Millionen, in nie gekanntem Feuer. Ein scharfes Knattern ließ Connor unwillkürlich zusammenfahren. »Ein Meteorschwarm«, sagte das Mädchen ruhig und drückte einen Hebel nieder. »Das hier ist ein Paige-Deflektor.« »Ich erinnere mich. Er schützt also nicht nur vor Geschossen, sondern auch vor Meteoren?«
»Nur vor den metallenen. Ein Stein läßt sich nicht von ihm aufhalten.« Ein unbehaglicher Gedanke! Schweigend flogen sie noch etwa eine halbe Stunde weiter. Plötzlich bediente die Prinzessin einen Hebel. Das Geräusch der Antriebsraketen verstummte. Das Schiff wurde so heftig herumgeworfen, daß Connor fast von seinem Sitz hochgeschleudert wurde. Sie kreuzten dreihundert Meilen über der Erde. Die Prinzessin lachte. »Darf ich nach der Ursache deiner Heiterkeit fragen?« erkundigte sich Connor steif. »Ich bringe mich um«, antwortete sie heiter. Sein Herzschlag stockte. Schwindel und Übelkeit befielen ihn. Ihm kam es vor, als fiele er in einen bodenlosen Abgrund. Er warf einen verstohlenen Blick auf den Höhenmesser. »Zweihundert«, lachte die Prinzessin. Und dann: »Hundertfünfzig.« Ein seltsames Feuer glomm in ihren grünen Augen. Trotz der unmittelbaren Gefahr konnte er den Blick, nicht von ihrer teuflischen Schönheit wenden. Noch nie war sie ihm so reizvoll, so unwiderstehlich erschienen wie in diesem Augenblick. Ein Heulen klang von draußen herein, als tobte die Hölle um das Schiff. Die Luft! Sie waren in die Atmosphäre eingedrungen. Der metallene Boden wurde heiß, so heiß, daß Connor unwillkürlich die Füße hochzog. Endlich riß er sich von dem Anblick der Schwarzen Flamme los und stellte fest, daß sie sich über dem Ozean befanden. Aber das war kein Trost. Denn bei der ungeheuren Fallgeschwindigkeit würde der Aufprall auf die Wasseroberfläche so heftig sein, als ob sie auf eine Zementplatte stürzten. Das Heulen der Atmosphäre verstärkte sich zu tosendem Donner. Die Prinzessin wandte sich ihm zu. Er verzog keine Miene, sondern biß schweigend die Zähne zusammen. Mit einer lässigen Bewegung riß sie einen Hebel zurück. Die Antriebsraketen brüllten auf. Aber war es nicht schon zu spät? Sie befanden sich so dicht über der Wasserfläche, daß Connor sah, wie der Luftdruck eine Wasserhose aufwirbelte. Das ganze Schiff wurde wie von einer Riesenfaust herumgeschleudert.
Und dann stiegen sie wieder! Die Prinzessin warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Sie war sichtlich enttäuscht, daß er keine Furcht gezeigt hatte. »Waren alle Menschen deiner Zeit so wie du?« murmelte sie, und gegen ihren Willen klang Bewunderung in ihrer Stimme mit. Er zuckte die Achseln. »Die einen stärker, die andern schwächer«, antwortete er leichthin. Aber er mußte sich Mühe geben, das Zittern seiner Hände zu verbergen. »Gibt es nichts, was dir Angst machen würde?« fragte sie leise. »O, Tom, ich glaube, ich könnte dich lieben.« Sie wandte sich ihm zu und streckte eine Hand nach ihm aus. Unwillkürlich wich er ein wenig vor ihr zurück. Sie lachte bitter. »Es gibt also doch etwas, was du fürchtest, Tom Connor! Mich!« Er sah ihr blasses, schönes Gesicht dicht vor sich, sah die funkelnden grünen Augen hinter halbgeschlossenen Lidern. Und plötzlich überwältigte ihn der Anblick ihrer einzigartige Schönheit so, daß er sie in seine Arme riß und seine Lippen in einem wilden Kuß auf ihren Mund preßte. Einen kurzen, wahnsinnigen Augenblick vergaß er alles um sich her, das wie ein Pfeil in die Höhe schießende Triangel, die Gefahr, der er soeben entgangen war, den unberechenbaren Charakter der Schwarzen Flamme. Er hielt die schönste Frau der Erde in seinen Armen und küßte sie, und ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte ihn und löschte alles andere aus. Sie schmiegte sich hingebungsvoll an ihn und erwiderte seinen Kuß. Ihre Stimme klang ganz verändert, weich und zärtlich, als sie flüsterte: »Tom! O Tom, ich liebe dich! Sag daß auch du mich liebst!« »Dich lieben?« Schon wollte er ihr seine Liebe bekennen, ihr sagen, daß er sie seit der ersten Begegnung im Wald geliebt und immer an sie gedacht hatte. Aber plötzlich glaubte er wieder einen Schimmer jenes kalten Spotts in ihren Augen wahrzunehmen. Und er schob sie brüsk von sich. »Lieben? Wie kann man eine Frau lieben, die kein Herz hat?« Margaret von Urbs lachte gezwungen. Es war das erstemal, daß der Panzer ihrer Unnahbarkeit und Herzenskälte einen Sprung bekommen hatte. Endlich hatte
Connor in ihr wieder jenes reizende, liebenswerte Geschöpf wiedererkannt, das er damals im Wald getroffen und für eine Nymphe gehalten hatte, für eine Waldgöttin, ein ungezwungenes Naturkind. Aber konnte man ihrer denn jemals sicher sein? Wenn man es am wenigsten erwartete, kam doch wieder die teuflisch grausame Herrscherin zum Vorschein. Seine Abweisung verletzte sie tief. Aber sie faßte sich und wandte sich wieder der Führung des Triangels zu. Ohne ein weiteres Wort flogen sie zum Palast zurück. Die Prinzessin setzte die »Himmelsratte« im Hof an derselben Stelle auf, von der sie gestartet waren, und begab sich in ihre Gemächer, ohne Connor noch eines Blickes zu würdigen. Sehr nachdenklich ging Tom Connor zu seinem Zimmer zurück. Er öffnete Evanies Tür, um sie zu begrüßen. Evanie saß aufrecht in ihren Kissen. Ein Mann in der Tracht der Palastdiener beugte sich über sie. Beide fuhren bei Connors Eintreten erschrocken auseinander. Zu seiner Verblüffung erkannte er in dem Diener Jan Orm aus Ormon! Schon wollte er den Mund zu einer freudigen Begrüßung öffnen, als er gerade noch rechtzeitig den warnenden Blick Evanies auffing. »Sieh ihn nicht an, Tom«, flüsterte das Mädchen. »Denk an das Teleauge.« »Natürlich! Wie bin ich froh, dich zu sehen, Jan!« flüsterte Connor, während er sich Evanie näherte und den Diener scheinbar nicht beachtete. »Wie kommst du hierher? Wie ist es dir ergangen?« Ebenso leise antwortete Jan: »Ich konnte unerkannt entkommen und habe in der Küche Arbeit gefunden.« Er deutete auf das Tablett mit Essen, das er Evanie gebracht hatte. »Tom! Du kannst uns helfen!« »Helfen? Wobei?« »Ein Ende zu machen…«, begann Jan. Aber das Mädchen warf ihm einen raschen verweisenden Blick zu und fiel ihm ins Wort: »Jan meint, du könntest mir helfen zu entfliehen.« Und bitter fügte sie hinzu: »Du darfst ihm nicht mehr trauen, Jan. Er hat sich von der Schwarzen Flamme einfangen lassen.« Connor errötete unwillig. »Evanie! Fängst du wieder davon an? Ich will euch sagen, wie
die Dinge stehen. Ich habe dem Meister versprechen müssen, vorläufig nichts gegen ihn zu unternehmen und ihm alles mitzuteilen, was ich von der Mathematik der Alten weiß. Ist das so schlimm? Evanies Sicherheit ist mehr wert als das.« Jans Miene wurde plötzlich abweisend und verschlossen. »Was gilt schon dem Meister gegenüber ein Wort«, murmelte er gehässig. »Ich halte mein Versprechen«, sagte Connor fest. »Aber das kann dich doch nicht hindern, mir zur Flucht zu verhelfen?« fragte Evanie lauernd. »Davon war nicht die Rede«, meinte Connor nachdenklich. »Aber was würde es dir helfen? Man würde dir wieder einen Boten schicken.« Evanie warf den Kopf zurück. »Diesmal könnte ich ihn bekämpfen! Er würde mich nicht so überraschend treffen wie das vorige Mal.« »Was soll ich tun?« fragte Connor zögernd. »Hilf mir, zum Meister zu gelangen!« »Warum bittest du nicht selbst um eine Audienz?« »Das habe ich getan. Ich habe versucht, ihn anzurufen. Aber man hat mich nicht verbunden. Es hieß, der Meister sei beschäftigt. Vielleicht stimmt das sogar.« Sie wechselte einen Blick mit Jan. »Jan hat erfahren, daß für übermorgen eine Versammlung der Unsterblichen der südlichen Halbkugel einberufen worden ist. Tom! Kannst du mir nicht helfen, bei ihm vorgelassen zu werden?« Connor lächelte, als ihm ein Einfall kam: Margaret von Urbs mußte heute morgen zerstreut gewesen sein. Sie hatte vergessen, ihre Münze zurückzuverlangen, die im Palast als eine Art Passierschein galt. Wie, wenn er die Medaille noch einmal verwendete, bevor sie ihm abgefordert wurde? »Vielleicht kann ich dir helfen, Evanie«, flüsterte er. »Komm sofort mit.« Die Wächter ließen sie nach einem Blick auf die Medaille achtungsvoll passieren. Der Meister saß hinter seinem Schreibtisch in seine Arbeit vertieft. Überrascht und etwas unwillig sah er bei ihrem Eintreten auf. Evanie ließ sich demütig auf ein Knie nieder, während Connor stolz und aufrecht stehenblieb und dem herrischen Blick der
Prinzessin standhielt, die am Schreibtisch lehnte. »Darf ich fragen, wie es euch gelungen ist, hier einzudringen?« fragte der Meister streng. Connor warf lässig die Münze auf den Schreibtisch. Belustigt sah er, wie die Prinzessin zusammenzuckte und dann feindselig auf die knieende Evanie starrte. Evanie erwiderte den Blick mit ebenso unverhohlener Abneigung. Zum erstenmal sah Connor die beiden Mädchen nebeneinander und konnte Vergleiche anstellen. Das erschien ihm fast unfair Evanie gegenüber. Als ob man die schlichte Lieblichkeit einer wilden Rose mit der flammenden Pracht einer Orchidee vergliche. Der sanfte, anmutige Reiz der kleinen Wilden verblaßte vor der stolzen Schönheit der Schwarzen Flamme, in deren grünen Augen ein gefährliches Feuer loderte. Der Meister sagte geduldig: »Ich nehme an, daß euch wichtige Gründe zu mir führen?« »Ja«, nickte Evanie demütig. »Ich kann diese Gefangenschaft nicht mehr ertragen. Ich bin in der Freiheit der Wälder aufgewachsen. Ich kann hier nicht atmen. Erlaube mir doch wenigstens, mich in den inneren Gärten des Palastes zu bewegen.« Connor fragte sich verwundert, was ihr diese kleine Freiheit nützen sollte. Sie wußte doch, daß sie aus den inneren Gärten nicht entfliehen konnte, da sie von den verschiedenen Flügeln des Palastes umgeben waren. »Ich habe die Absicht, dich freizulassen«, sagte der Meister. »Aber nicht, ehe ich Connors Wissen habe.« »Ich kann die Gefangenschaft nicht mehr ertragen!« flehte sie kläglich. Der Meister wandte sich an Connor. »Gut.« Der Meister sprach ein paar Worte in ein schwarzes Kästchen auf seinem Schreibtisch und sagte darum zu Evanie: »Du darfst dich in den Gängen und inneren Gärten frei bewegen – mehr nicht. Du kannst gehen.« Evanie erhob sich, verbeugte sich noch einmal und zog sich zurück. Connor wollte ihr folgen, aber der Meister hielt ihn zurück. »Ich sehe, meine Schwester hat meinen Befehl mißachtet.« Die Prinzessin höhnte in ihrer spöttischen Art: »Gehorche ich dir jemals, Joaquin?«
Der Meister lächelte fast gegen seinen Willen. »In wichtigen Dingen würde ich dir nicht raten, mir zu trotzen, Margaret.« Und zu Connor: »Ich bin jetzt sehr beschäftigt. Übermorgen erwarte ich die Unsterblichen der südlichen Erdhälfte. Aber ich habe dein Versprechen nicht vergessen. Und ich brauche das Wissen der Alten, das in deinem Besitz ist. Du wirst jetzt die Prinzessin in ihr Zimmer begleiten und damit beginnen, ihr dein Wissen mitzuteilen. Besonders interessieren uns die mathematischen Wissenschaften. Sie wird alles verstehen.« Die Prinzessin lächelte ihrem Bruder zu. »Diesmal gehorche ich gern, Joaquin.« Connor folgte der Prinzessin durch die Gänge des Palastes. Er bemerkte ein lebhafteres Kommen und Gehen als bisher, was wohl auf die bevorstehende große Versammlung zurückzuführen war. Mehrmals begegneten sie weißhaarigen, ernsten Männern, die Connor ihrer großen, kräftigen Gestalten und würdevollen Haltung wegen als Unsterbliche erkannte. Als sie das gläserne Zimmer hoch oben im Turm erreichten, setzte die Prinzessin sich an einen Tisch, wies Connor mit einer Handbewegung seinen Platz an und griff zu Papier und Feder. »Fang an!« befahl sie. Es war eine völlig neue Margaret von Urbs, die er jetzt kennenlernte, weder das ungezwungene Geschöpf aus dem Wald, noch die grausame, herrische Prinzessin und Herrin der Welt. Klug, wißbegierig und aufnahmefähig für alles Wissen, das er ihr zu geben hatte, gab sie sich. Freilich empfand er selbst sein Wissen als lückenhaft im Vergleich zu allem, was im Lauf dieses Jahrtausends verlorengegangen war. Er war in seinem früheren Leben Ingenieur gewesen und beherrschte die Grundlagen der Mathematik, Physik und Chemie. Aber wie viele Spezialzweige dieser Wissenschaften gab es, von denen er nur wenig wußte! Immerhin war das, was er bieten konnte, in dieser Zeit von unschätzbarem Wert. Und die Prinzessin nahm gierig jedes Wort von ihm auf. Der Nachmittag verging wie im Flug. Die Dämmerung begann sich auf die Stadt zu senken, als Margaret endlich die Feder auf den Tisch warf. »Genug für heute! Morgen werden wir zusammen diese
Logarithmentafeln ausarbeiten, von denen du gesprochen hast. Was für ein wunderbares Hilfsmittel für unsere Astronomen in dem Weltauge!« Wieder schwang der herausfordernd spöttische Ton in ihrer Stimme mit, als sie fortfuhr: »Bist du dir klar darüber, daß dein Leben nur so lange sicher ist, bis ich dein Wissen habe?« »Du willst mir Angst machen«, gab er eisig zurück. »Wann wirst du das endlich aufgeben? Der Meister hat mein Wort, und ich habe das seine. Hätte ich mein Versprechen brechen wollen, so wäre heute morgen Gelegenheit genug dafür gewesen. Glaubst du, ich hätte dir nicht ohne weiteres die Führung des Schiffes entreißen und mit deiner Himmelsratte entfliehen können? Ich hatte nicht versprochen, keinen Fluchtversuch zu machen. Was mich zurückhielt, war mein Vertrauen in das Wort deines Bruders. Nicht in deines. Denn dir traue ich nicht.« »Was hätte dir die Flucht genützt, Tom Connor?« lachte sie. »Du verdankst es mir, daß du noch lebst. Ich frage mich immer wieder, warum ich dich am Leben lasse. Aus Liebe? Nein, ich glaube, ich kann nicht lieben. Ich kann nur hassen. Kein Mann ist stark genug, mich zu besiegen.« »Oder vielleicht will es der einzige Mann nicht, der es könnte«, sagte Connor ruhig. Plötzlich brach es in wildem Schmerz und verletztem Stolz aus ihr heraus: »Warum liebst du Evanie und nicht mich? Was hat sie, was mir fehlt?« »Ein Herz, Margaret«, antwortete er ernst. Sie funkelte ihn zornig an. »Ich glaube dir einfach nicht, daß du sie mir vorziehst. Ich glaube, daß du mich liebst und dich fürchtest, dieser Liebe nachzugeben! Um so besser, Tom Connor! Denn du bist sterblich wie alle anderen. Du wirst altern, dein Körper wird runzlig und schlaff werden, dein Haar und deine Zähne werden ausfallen! Als ein Wrack wirst du ins Grab sinken, wie alle anderen!« Sie zündete sich mit bebenden Händen eine schwarze Zigarette an und blies ihm den Rauch ins Gesicht. »Geh und schrei es in die Welt hinaus, daß du als einziger Mann die Liebe Margarets von Urbs zurückweisen konntest! Brüste dich damit! Sag, daß die Schwarze Flamme dich nicht versengen, nicht
einmal erwärmen konnte!« Ihre Stimme brach fast, als sie hinzufügte: »Und sag, daß niemand außer dir weiß, wie unglücklich sie ist!« Ihre grünen Augen standen voller Tränen. Verwirrt und bestürzt betrachtete er sie. War das wieder eine Komödie? Oder zeigte sie ihm diesmal ihr wahres Gesicht? »Margaret…«, sagte er zögernd. Wann würde er endlich ihr wahres Wesen erfassen, wann ihr trauen dürfen? Sie wandte ihm den Rücken und trat an eines der breiten Fenster, die den Blick zum Hof des Palastes freigaben. Und plötzlich wurde sie auf etwas dort unten in der Tiefe aufmerksam. »Es ist ein Fremder im Garten«, murmelte sie. Sie drückte auf einen Knopf und befahl: »Den inneren Garten. Nordufer des Palastteichs.« Augenblicklich flammte ein Bild auf dem Schirm neben dem Diwan auf. Der innere Garten, das Ufer des Teichs, eine Bank unter Bäumen wurden sichtbar. Und auf dieser Bank saß Evanie, den Kopf an Jan Orms Schulter gelehnt, der sie zärtlich umfaßt hielt! Die Prinzessin warf den Kopf zurück und lachte höhnisch. »Ein Diener! Ein Küchenjunge aus dem Palast!« Aber trotz ihres verächtlichen Tons und seiner eigenen Verwirrung bemerkte Connor, daß ihre Augen immer noch feucht von Tränen waren. 7. Als Connor am nächsten Morgen spät erwachte, überlief ihn sofort wieder schmerzhaft die Erinnerung an den Anblick des Liebespaares auf der Bank am Teich. Die halbe Nacht hatte er versucht, eine Entschuldigung für diese verfängliche Szene zu finden. Schließlich waren Evanie und Jan Jugendfreunde, im selben Dorf aufgewachsen. Aber das anzügliche Gelächter der Prinzessin hatte einen Stachel in seinem Inneren zurückgelassen. Auch erinnerte er sich an Jans Bekenntnis, Evanie geliebt zu haben. Hatte Jan verschwiegen, daß er sie immer noch liebte? Und Evanie? Er kleidete sich an und eilte in ihr Zimmer. Sie war nicht da. Er
schaute durch das Fenster in den Garten hinaus und sah sie unter den Bäumen im Gras liegen. Die Wächter, die nicht wußten, daß er die Medaille der Prinzessin abgegeben hatte, ließen ihn achtungsvoll passieren. In einem der Gänge stieß er fast gegen eine Gruppe von Männern, die aus der entgegengesetzten Richtung kamen. Er entschuldigte sich hastig und wollte weiter, als er die Stimme des Meisters erkannte: »Das ist Thomas Connor, von dem wir das Wissen der Alten zu erhalten hoffen. Thomas, das ist Martin Sair, Entdecker der Unsterblichkeit. Er ist aus der Antarktis zu unserer Versammlung gekommen.« Er öffnete eine Tür und sagte über die Schulter zurück: »Thomas Connor, willst du unsere Telezentrale sehen? Alle Bilder, die die Teleaugen in meinem Reich erfassen, sind hier vereinigt. Wenn der Palast das Hirn der Welt ist, so könnte man diesen Raum das Sehzentrum nennen.« Connor hatte bisher fasziniert auf den blonden Martin Sair gestarrt, den Schöpfer der Unsterblichkeit, die sagenhafte Persönlichkeit des Weltreichs. Jetzt folgte er dem Meister neugierig, um einen Blick in den Raum zu werfen, von wo aus die ganze Welt beobachtet werden konnte. Millionen winziger Bildschirme bedeckten die Wände. Der Meister bediente eine Schalttafel – und augenblicklich wuchs eines der Bilder zur Größe einer Kinoleinwand und drängte alle übrigen in den Hintergrund. »Wir können nach Belieben jedes Bild herausgreifen und vergrößern«, erläuterte der Meister. »Von diesem Raum aus kann ich das Leben jedes Menschen von der Geburt bis zum Tod verfolgen, wenn ich will. Jedenfalls solange er in einer meiner Städte bleibt. Dies wollte ich dir zeigen, Thomas Connor«, sagte er bedeutungsvoll. »Vergiß es nicht. Du kannst gehen.« Connor warf noch einen scheuen Blick auf Martin Sair, der ihm wie ein Halbgott vorkam. Neben dem Meister hatte Sair am entscheidendsten an der Veränderung der Welt mitgewirkt. Mit einer leichten Verbeugung zog Connor sich zurück und schlug den Weg nach dem Garten ein. Er fand Evanie im Gras, wie er sie gesehen hatte. Sie lag vor einem Springbrunnen und beobachtete gespannt die Wassersäule, die aus dem Maul eines gewaltigen steinernen Löwen hervorsprudelte.
»Evanie«, sagte er und setzte sich zu ihr ins Gras. »Ich habe dich überall gesucht.« Sie schenkte ihm nur einen kühlen Blick. »Warum?« »Um bei dir zu sein, das weißt du doch.« Ihre Kälte verletzte ihn. »Was hast du plötzlich gegen mich, Evanie?« fragte er traurig. »Du hast die Wilden verraten«, antwortete sie abweisend. »Glaubst du, ich könnte das je verstehen?« »Hör mich an, Evanie«, bat er. »Du vergißt etwas. Ich wurde durch einen Zufall nach Ormon verschlagen. Muß ich deshalb alles gut und richtig finden, was ihr tut? Ich fange an zu begreifen, daß viele Ideen des Meisters gut und segensreich für die Welt sind. Und eure Revolution war purer Unsinn. Vielleicht ist manches an des Meisters Regierung auszusetzen. Aber er ist weiser und einsichtiger als ihr. Begreift das doch! Laßt euch nicht durch sinnlosen Haß verblenden.« Sie hörte kaum zu. »Ich weiß nur, daß die Schwarze Flamme dein klares Denken verwirrt hat«, sagte sie eigensinnig. »Ich hatte dich gewarnt. Aber du wolltest nicht auf mich hören.« »Evanie…«, begann er. Dann stockte er. Hatte sie recht? Hatte der teuflische Reiz der Prinzessin ihn wirklich so in ihren Bann gezogen, daß er sein klares Urteil verloren hatte? Und wie stand er zu Evanie? Er war so sicher gewesen, sie zu lieben. Er hatte sie für immer an sich binden wollen. Und nun schien sie ihm so fern, so fremd. »Geh!« sagte Evanie feindselig. »Geh doch zu ihr!« Er wandte sich unvermittelt um und verließ sie. Es hatte keinen Sinn, mit ihr zu streiten. Und er wollte es auch nicht. Er wollte allein sein und sich selbst über seine Gefühle klarwerden. Den ganzen Tag blieb er auf seinem Zimmer, ohne mit jemandem zu sprechen. Ein Diener brachte ihm seine Mahlzeiten und verschwand wieder. Er dachte an Evanie, ihre zarte, sanfte Schönheit und an die Wochen, die er in Ormon bei ihr verlebt hatte. Wie einfach, wie klar war ihm damals seine Beziehung zu ihr erschienen! Jetzt drängte sich immer wieder das schillernde, wechselvolle Bild der Prinzessin zwischen ihn und Evanie, der Prinzessin, die er
zu hassen glaubte, und zu der er sich doch auf unwiderstehliche Weise hingezogen fühlte… Am Nachmittag befahl die Prinzessin ihn wieder zu sich. Er gehorchte zögernd, hin und her gerissen zwischen Ärger und einer bestimmten Sehnsucht, die Schwarze Flamme wiederzusehen. Sie empfing ihn in ihrem gläsernen Zimmer, auf dem purpurroten Diwan ausgestreckt. Ihre herausfordernde Schönheit traf ihn wie ein elektrischer Schlag. Sie trug ein Urbaner Gewand, das ganz aus grünen Steinen zusammengesetzt schien. Sie schillerten und sprühten in allen Nuancen, vom tiefsten Smaragdgrün bis zum türkisfarbenen Schimmer des verblassenden Abendhimmels. Ihre zarten Füße steckten in Sandalen aus grünem Kristall. Eine Mondorchidee glitzerte in ihrem nachtschwarzen Haar. Zu seiner Verblüffung bemerkte er neben ihr eine große schwarze Katze, die sich behaglich auf den Kissen räkelte. Ihre grünlichen Augen schienen ebenso unergründlich wie die der Prinzessin selbst. »Ich dachte, die Katzen wären ausgerottet?« rief er verwundert aus. »Nicht alle«, antwortete sie mit einem rätselhaften Lächeln. »Satan ist unsterblich.« »Warum hast du mich rufen lassen?« fragte er kühl. »Um unser Gespräch fortzusetzen. Du vergißt, daß du dich verpflichtet hast, uns dein ganzes Wissen weiterzugeben. Wo waren wir stehengeblieben?« Und wieder verwandelte sich die schillernde, unberechenbare Frau von einer Sekunde zur anderen. Ihre verführerische Koketterie wich dem sachlichen Ernst der Wissenschaftlerin. Interessiert hörte sie seine Erklärungen an, stellte Fragen und machte Notizen. Er mußte sich Mühe geben, bei der Sache zu bleiben. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie seine Gedanken von dem wissenschaftlichen Thema abschweiften und seine Augen zu der teuflischen Schönheit der Schwarzen Flamme zurückkehrten. Auf ihrem weißen Hals waren noch die Male zu sehen, die seine Finger dort zurückgelassen hatten. Er schämte sich. Die Schwarze Flamme fühlte seinen Blick. Sie schob mit einer jähen Bewegung die Papiere von sich und warf die Feder auf den
Tisch. »Sonderbar«, sagte sie rauh. »Du hast mir weh getan und mich beleidigt. Und trotzdem lebst du noch. Es geht eine Macht von dir aus, der ich nicht widerstehen kann, eine Kraft, ein Mut und eine Unbekümmertheit, die noch aus der alten Welt stammen und unserer heutigen Zeit längst verlorengegangen sind. Ich habe nie im Leben etwas gefürchtet und nie um etwas gebeten. Aber dich fürchte ich. Und ich bitte dich: Küß mich!« Sie zog ihn an wie ein Magnet. Aber in den unergründlichen Tiefen ihrer Augen glaubte er ein spöttisches Funkeln wahrzunehmen. Er kämpfte gegen das Verlangen an, sie in die Arme zu reißen, und sagte schneidend: »Spar dir deine Verführungskünste. Ich falle nicht zum zweitenmal auf den gleichen Trick herein. Jedesmal, wenn ich dich küßte, hast du mich ausgelacht.« »Aber diesmal ist es mir ernst«, beteuerte sie. »Ich werde nie mehr über dich lachen.« »Du willst mich nur quälen. Aber dazu mußt du dir etwas anderes ausdenken. Ich habe keine Angst vor dir. Töte mich, wenn du willst. Aber du kannst mich nicht zwingen, dich zu lieben.« »Du hast mir weh getan, und ich habe dir verziehen«, erinnerte sie ihn. »Du sollst noch mehr zu verzeihen haben!« Er faßte sie grob am Handgelenk und verdrehte es mit einer raschen Wendung. Sie erblaßte vor Schmerz, gab aber keinen Laut von sich. Beschämt ließ er sie los. Sie sagte leise: »Ich danke dir auch dafür, Tom. Jetzt weiß ich ganz sicher, was ich bisher vielleicht noch bezweifeln konnte. Jeder andere Mann, der mich so behandelt hätte, wäre jetzt tot. Ich liebe dich!« Wie gerne hätte er ihren Worten geglaubt! Aber Margaret von Urbs war keine Frau wie andere. Sie war ein Dämon, dem man nie trauen durfte. »Ich glaube dir nicht, Schwarze Flamme«, sagte er zynisch. »Aber du mußt mir glauben! Es ist das erstemal in all diesen Jahrhunderten, daß ich meiner selbst sicher bin. Ich schwöre es, Tom! Sag, daß du mich liebst!« »Ich liebe – Evanie.«
Er mußte sich zu diesem Geständnis zwingen. Im tiefsten Innern zweifelte er jetzt selbst an seiner Liebe zu Evanie. Sie war ihm so fremd geworden. Sie gehörte einer anderen Welt an. Die Schwarze Flamme aber stammte wie er aus der Vergangenheit, war ihm tief innerlich verwandt. Aber er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als das zuzugeben. »Es ist nicht wahr! Du liebst mich!« rief sie beschwörend aus. »Ich bin die Schwarze Flamme. Aber ich bin nicht zu stolz, um deine Liebe zu erbitten. Sag, daß du mich liebst!« »Ich liebe – Evanie«, wiederholte er hartnäckig. »Willst du mich wenigstens einmal küssen?« bat sie leise. Er schaute finster auf sie hinunter. Noch nie war sie ihm so verführerisch erschienen. »Also gut!« sagte er grob. »Glaubst du, ich hätte Angst vor dir?« Er riß sie in seine Arme und küßte sie wild. Ihre Lippen brannten wie Feuer. »Sag, daß du mich liebst!« flüsterte sie fast flehend. »Ich liebe – Evanie.« Sie stieß ihn zurück und starrte ihn in wilder Verzweiflung an. »Ich wünschte, ich hätte dich nie gesehen«, stieß sie hervor. In einer jähen Aufwallung hob sie die Hand und schlug ihn ins Gesicht. »Geh!« schrie sie mit letzter Kraft und schon unter Tränen. Während er sich umwandte und aus dem Zimmer eilte, hörte er noch, wie sie sich schluchzend auf den Diwan warf. Unterwegs machte er sich die bittersten Vorwürfe, daß er sich schließlich doch von der Schwarzen Flamme hatte versengen lassen. Er hatte sie zwar zurückgestoßen und mißhandelt, aber im tiefsten Innern wußte er, daß er ihr verfallen war. Und war sie es nicht, die sich zwischen ihn und das verblassende Bild Evanies gedrängt hatte? Evanie… Ja, die sanfte Lieblichkeit Evanies war seine einzige Rettung vor der sengenden höllischen Flamme. Er klopfte an Evanies Tür, erhielt aber keine Antwort. Wollte sie ihn nicht sehen – gerade jetzt, wo er sie brauchte, wo er an ihrer zarten Schönheit Halt suchte, um gegen die teuflische Anziehungskraft der Schwarzen Flamme gefeit zu sein? Er wollte sich selbst einreden, daß er Evanie liebte. Was er der Prinzessin gegenüber empfand, hielt er nicht für Liebe, sondern
für eine Art Besessenheit. Sie hatte von seiner Seele Besitz ergriffen mit einer Gewalt, gegen die er sich bis zum Ende wehren wollte. * Tom Connor begab sich auf die Suche nach Evanie. Er wollte nicht glauben, daß sie in ihrem Zimmer war und auf sein Klopfen einfach nicht antwortete. Vielleicht nutzte sie ihre Freiheit zu einem Spaziergang durch die inneren Gärten aus. Wirklich fand er sie an genau derselben Stelle, am Ufer des Teiches. Sie lag im Gras und starrte wie gebannt auf den breiten Wasserstrahl, der aus dem steinernen Löwenmaul sprang. »Evanie«, sagte er zärtlich und trat auf sie zu. »O meine liebe kleine Evanie…« »Pst!« Sie fuhr erschrocken herum und legte einen Finger an die Lippen. »Aber…« »Still! Du wirst die Spione des Meisters auf mich ziehen!« Und nach einer Pause feindselig: »Es wäre mir lieber, du ließest mich allein.« Er schüttelte den Kopf und setzte sich neben sie. Warum wollte sie ihn los sein? Sie schien auf etwas zu warten. Vielleicht auf Jan? »Nein«, sagte er fest. »Ich gehe nicht. Du mußt mich anhören, Evanie.« »Bitte!« flüsterte sie ängstlich. »Sei still, Tom! Ich warte hier seit sechs Stunden.« »Worauf?« Sie antwortete nicht, sondern fuhr fort, auf den steinernen Löwen zu starren. Die breite Wassersäule, die aus dem mächtigen steinernen Maul drang, stürzte mit gleichmäßigem Rauschen in das Wasserbecken. Plötzlich aber wurde die Gleichmäßigkeit dieses Rauschens unterbrochen. Ein Gluckern, ein Stocken – und aus dem gewaltigen Löwenmaul tauchte eine gespenstische Gestalt auf: weiß und glänzend, fast mannsgroß, mit Schwimmflossen zwischen Fingern und Zehen, ein Alptraum, nicht Tier, nicht Mensch – ein Amphimorph! Das unheimliche Geschöpf plumpste ins Wasserbecken, tauchte wieder auf und streckte die weiße
Froschhand vor, die ein kleines Paket hielt. Hastig griff Evanie nach dem Päckchen und verbarg es unter ihrem Urbaner Umhang. »Rasch, Tom«, flüsterte sie. »Stell dich dorthin, damit du die Sicht vom Palast aus versperrst!« Er gehorchte mechanisch. Evanie gab ein sonderbares Schnalzen von sich, mit dem sie das Wesen lockte. Der Amphimorph hob sich aus dem Teich, schüttelte das Wasser ab wie ein Hund und watschelte dann eilig auf das andere Ende des Gartens zu, wo er in einem Wasserloch verschwand. Blaß und zitternd drückte Evanie das Päckchen an sich. »Wenn es nur niemand gesehen hat!« wisperte sie. »Wie, zum Teufel, ist der hierhergekommen?« fragte Connor. »Durch die unterirdische Wasserleitung aus den Bergen. Ein Amphimorph kann stundenlang ohne Luft auskommen. Eine große Luftblase in der Wasserleitung hat ihm genügt.« »Aber…« »Frag mich nicht, wie er den Weg gefunden hat. Die Amphimorphs haben einen stark ausgeprägten Instinkt, genau wie Tiere. Er wird auch den Weg nach den Bergen zurückfinden.« »Was ist das für ein Päckchen, und wer hat es dir geschickt?« »Es kommt von König Orm.« »Von wem?« »Tom, du darfst mich nicht mehr fragen. Ich kann dir nicht antworten. Ich darf dir nicht mehr trauen. Wir sind Feinde.« Sie sah seinen aufsteigenden Ärger und wollte ihn beschwichtigen. »Tom! Du hast mir versprochen, mir zur Flucht zu verhelfen!« »Evanie«, bat er, »laß uns doch dieses Mißverständnis beseitigen. Ich habe dich überall gesucht, um mit dir zu sprechen. Ich liebe dich, Evanie.« Er streckte die Arme nach ihr aus, aber sie wich vor ihm zurück. »Komm mir nicht nahe, Tom. Ich habe Angst vor dir. Und auch vor mir. Du bist zu stark für mich. Ich fürchte, ich kann dir nicht widerstehen. In dir ist die Kraft einer anderen Zeit, die wir nicht kennen. Du hast schon einmal meine Liebe geweckt. Das darf kein zweitesmal geschehen.« »O Evanie! Stoß mich nicht zurück, gerade jetzt, wo ich dich so brauche wie noch nie!« »Wieso?« Sie begriff plötzlich. »Oh, die Schwarze Flamme hat
dich also doch versengt! Tom, es tut mir aufrichtig leid für dich. Aber ich kann dir nicht helfen. Ich wage es nicht!« Sie wandte ihm den Rücken und lief auf den Palast zu, das kostbare Päckchen fest an sich gepreßt. * In dieser Nacht schlief Connor nur wenig. Und wenn er einschlief, geisterte das Lachen der schönen Prinzessin durch seine Träume. Er erhob sich zeitig und kleidete sich an, um in den Garten zu gehen. Bereits um diese frühe Stunde herrschte lebhaftes Kommen und Gehen in den Gängen des Palastes. Überall sah er die ernsten, feierlichen Gestalten der Unsterblichen, die zu der großen Versammlung gekommen waren. Der Garten lag verlassen. Tom schlenderte auf den Teich zu und setzte sich ans Ufer, tief in Gedanken versunken. Hoch oben im blauen Himmel zogen mehrere Triangel ihre Bahn. In den Büschen um den Teich sangen und zwitscherten die Vögel. Connor schrak zusammen, als er dicht neben sich leise seinen Namen rufen hörte. »Tom!« Er sah auf. Die Schwarze Flamme stand neben ihm, so prächtig gekleidet, wie er sie noch nie gesehen hatte, in einem langen, anliegenden Gewand aus gewirktem purem Gold. Die Mondorchidee war an ihrem Gürtel befestigt, und auf den nachtschwarzen Locken trug sie ein königliches Diadem. Sie lächelte ein wenig, als sie seine Verwunderung über den feierlichen Aufzug sah. »Das ist meine Staatsrobe«, erklärte sie. »Für die große Versammlung heute morgen.« Sie sah blaß und müde aus, als ob sie die letzte Nacht nicht viel geschlafen hätte. Aber ihre Blässe hob ihre Schönheit nur noch mehr hervor. »Tom«, begann sie unvermittelt, »ich habe dir eine große Neuigkeit zu überbringen. Mein Bruder hat beschlossen, dir die Unsterblichkeit zu verleihen.« »Was?«
Sie nickte. »Er hält dich für würdig, unter die Großen dieser Welt aufgenommen zu werden.« Er starrte sie mißtrauisch an. »Und der Preis?« Plötzlich ging ihm ein Licht auf. »Ich verstehe! Du hast ihn darum gebeten! Aber ich will kein Geschenk von dir, Margaret von Urbs. Ich nehme es nicht an.« »Überlebe dir, was du sagst, Tom!« Er fragte spöttisch: »Hast du deinen Bruder schon öfters um Unsterblichkeit für einen Mann gebeten, in den du dich gerade verliebt hattest?« Eine tiefe Röte überzog ihre Wangen, aber sie antwortete ruhig: »Ja, Tom. Vergiß nicht, daß ich siebenhundert Jahre gelebt habe. Und ich glaubte schon mehr als einmal, zu lieben. Aber mein Bruder kannte mich besser als ich selbst. Wenn ich ihn um Unsterblichkeit für einen Mann bat, den ich zu lieben glaubte, lehnte er jedesmal rundweg ab. Er kannte meine Unbeständigkeit und wußte, daß meine angebliche Liebe nicht dauern würde. Aber diesmal ist er anderer Meinung. Er glaubt mir die Echtheit meiner Liebe. Und du bist der erste, den er für würdig hält.« Connor zuckte die Achseln. »Vielleicht glaubt er dir. Aber ich glaube dir nicht, Margaret von Urbs. Du hast kein Herz. Du bist eine Tochter Satans, eine höllische Flamme, die alles verbrennt, was ihr zu nahe kommt.« Sie war sehr blaß, als sie jetzt sagte: »Tom Connor, willst du mir glauben, wenn ich bei allem schwöre, was mir heilig ist?« »Was ist dir schon heilig?« »Bei meiner Liebe, Tom«, sagte sie mit unheimlicher Ruhe. »Ich schwöre, daß ich jetzt die Wahrheit sage. Erinnerst du dich an unseren Flug mit dem Triangel, als ich sagte, daß ich Selbstmord begehen wollte? Das war die einzige Lüge, die ich dir je gesagt habe. Die einzige – verstehst du?« Sie wandte sich jäh um und lief leichtfüßig auf den Palast zu, bevor er noch ein weiteres Wort sagen konnte. Sehr nachdenklich starrte er hinter ihr her. Konnte es wahr sein? Durfte er ihr glauben? Sie hatte so lange mit ihm gespielt, bis er ihr nicht mehr zu glauben wagte. Sein Verstand warnte ihn vor ihr. Aber sein Gefühl sagte ihm, daß sie
die Wahrheit gesprochen hatte. Margaret von Urbs liebte ihn! War es möglich? Die schönste Frau der Welt, der sein Herz längst gehörte, auch wenn er sich mit aller Kraft dagegen zu wehren versuchte. Die Schwarze Flamme sollte ihm gehören, ihre überirdische Schönheit, ihre unbeugsame stolze Seele, ihr Geist und ihre hingebungsvolle Liebe – alles sein, für ein ganzes Leben! Ein Leben? Nein, für die Ewigkeit! Ein Schrei glücklichen Triumphs brach aus ihm hervor. Er rannte auf den Palast zu, um sie endlich, endlich in seine Arme zu schließen. Jede Erinnerung an Evanie war aus seinem Gedächtnis ausgelöscht. Die Prinzessin erfüllte alle seine Gedanken. Wo war sie? Er mußte zu ihr, mußte ihr seine Liebe bekennen, sie um Verzeihung bitten! Er wußte, wenn sie allein sein wollte mit ihren Gedanken, zog sie sich in das Zimmer hinter dem Thronsaal zurück. Dort wollte er sie suchen. Während er sich durch die belebten Gänge drängte, hörte er eine Stimme aus den Lautsprechern, die die Unsterblichen zur Versammlung rief: »Beginn in dreißig Minuten!« Er drängte sich an Dienern und Wächtern vorbei, an Gruppen von Unsterblichen. Mancher neugierige Blick folgte ihm, aber niemand hielt ihn auf als er das Portal zum großen Thronsaal erreichte. Es war geschlossen, und vier Bewaffnete hielten davor Wache. Er wollte an ihnen vorbeieilen, aber sie versperrten ihm den Weg. »Ich muß zur Prinzessin!« sagte er herrisch. »Niemand darf passieren«, antwortete einer der Wächter unbewegt. »Ausdrücklicher Befehl des Meisters.« »Ist die Prinzessin drinnen?« »Sie ist vor fünf Minuten eingetreten. Aber sie sagte nichts davon, daß ihr jemand folgen sollte.« Unschlüssig trat Connor zurück. Gegen die Wächter konnte er nichts ausrichten. Und dies war der einzige Zugang zu ihrem Laboratorium. Die Flügeltür öffnete sich, und der Meister trat heraus, von Martin Sair und einigen anderen Unsterblichen begleitet. Connor vertrat ihm den Weg.
»Befiehl deinen Leuten, mich eintreten zu lassen«, bat er. »Ich muß die Prinzessin sprechen.« Der Meister zog befremdet die Brauen hoch. »Die Prinzessin ist in ihrem Laboratorium hinter dem Thronsaal, Thomas Connor. Aber vor der großen Versammlung darf niemand den Saal betreten. Tut mir leid, ich kann keine Ausnahme machen.« »Aber ich muß sie sehen! Und ich weiß, daß sie mich erwartet!« Der Schatten eines Lächelns zuckte um die Mundwinkel des Meisters, als er antwortete: »Sie wird noch eine halbe Stunde warten müssen. Sie hat siebenhundert Jahre lang gewartet, ohne allzu große Geduld zu zeigen.« Damit ging er, und seine Begleiter folgten ihm. Connor mußte dem Meister recht geben. Eine Ewigkeit lag vor ihm und Margaret von Urbs; was machte eine halbe Stunde mehr oder weniger schon aus? Und doch war er von einer seltsamen Unruhe und Ungeduld ergriffen, die er sich nicht erklären konnte. Es schien wie eine Vorahnung, daß jeder Augenblick kostbar sei und er eine schreckliche Gefahr abwenden könnte… Er drehte sich um. Dem Thronsaal gegenüber lag ein großer Raum, der der Nachrichtenübermittlung diente. Mehrere Dutzend Palastbeamte waren hier mit den Vorbereitungen für die Fernsehübertragung der Versammlung beschäftigt, die in die ganze Welt ausgestrahlt werden sollte. Connor trat auf den ersten besten zu und verlangte eine Verbindung zu dem Laboratorium der Prinzessin hinter dem Thronsaal. Einige Sekunden später erschien ein Gesicht auf dem Bildschirm – aber nicht das der Prinzessin. Es war eine ältere Frau, die sehr bestimmt erklärte: »Keine Anrufe vor der Versammlung. Befehl des Meisters.« Niedergeschlagen ging er wieder in die Halle hinaus. * Vor der Flügeltür zum Thronsaal sah er Evanie stehen. Sie starrte gespannt auf die Tür und schien auf etwas zu warten. Als er sie ansprach, zuckte sie zusammen, faßte sich aber
schnell wieder. »Ach, du bist es.« Er konnte nicht mehr verstehen, daß er dieses Mädchen einmal geliebt und der Schwarzen Flamme vorgezogen hatte. Sie erschien ihm jetzt farblos und nichtssagend. Die Schwarze Flamme hatte ihr Bild aus seinem Herzen ausgebrannt. »Wartest du auf den Einzug der Unsterblichen?« fragte er, um irgend etwas zu sagen. »Vielleicht.« »Ich dachte, du haßt sie so sehr, daß du ihnen lieber aus dem Weg gehen würdest?« »Ich hasse sie auch weiterhin«, antwortete sie finster. »Merkwürdig. Warum stehst du dann hier?« »Du wirst es gleich erfahren.« Sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Warum sollte ich es dir nicht sagen? Du kannst doch nichts mehr daran ändern. Du wolltest wissen, was der Amphimorph mir in diesem Päckchen übergeben hat, ja?« »Natürlich!« Sie schaute sich rasch um und flüsterte dann, heiser vor Aufregung: »Es war eine Atombombe!« »Eine Atombombe?« »Ja. Und weißt du, wo sie jetzt liegt? In der Wand hinter dem Thron von Urbs! Hinter dem Thron, auf dem der Meister in diesem Augenblick sitzt!« Sie lachte ihm triumphierend ins Gesicht. »Ich danke dir, daß du mir die Freiheit erwirkt hast, in den inneren Gärten spazierenzugehen! Du hast uns einen großen Dienst erwiesen!« Er starrte sie entsetzt an. »Eine Atombombe? Aber glücklicherweise ist der Meister gar nicht im Thronsaal. Ich sah ihn vor wenigen Minuten herauskommen.« Er erblaßte, als ihn ein neuer Gedanke durchzuckte, wie ein Blitzstrahl. »Aber – die Prinzessin! Die Prinzessin ist dort!« Er stieß das Mädchen beiseite und versuchte sich an den Wächtern vorbeizudrängen. Evanie klammerte sich erschrocken an ihn: »Tom! Nicht! Die Bombe muß jede Sekunde losgehen!« Im selben Augenblick erschütterte eine furchtbare Detonation den ganzen Palast. Wände und Fußboden erzitterten und
schwankten, die Wächter wurden von dem Luftdruck zur Seite geschleudert. Ein ohrenbetäubendes Brüllen und Tosen drohte die Trommelfelle zu zersprengen. Krachend barsten die Türen. Eine beizende Wolke von Qualm drang heraus, von Flammen durchzuckt. Mit einem Sprung war Connor über der Schwelle und stand nun in dem weiten Thronsaal. Am anderen Ende des Saals, hinter den Thronen, tobte die Hölle. Wolken von Dampf und Rauch wallten auf, aus denen Blitze entfesselter Energie flammten. Die Luft sang wie der Chor der Verdammten. Lange zündende Flammen schlugen aus den Stufen, auf denen die Throne ruhten. Die Sitze selbst verschwanden hinter Rauch und Feuer. Von der Wand und der Tür, die zu Margarets Laboratorium führte, war nichts zu sehen. Mit gesenktem Kopf stürmte Connor in diesen Hexenkessel von Rauch, Feuer und Gammastrahlen hinein. Hinter all dem befand sich Margaret von Urbs, hilflos dem Untergang ausgeliefert! Die Strahlen versengten ihm Gesicht und Hände, aber unaufhaltsam drang er weiter vor, bis er den Thron erreicht hatte. In seinem Schutz verhielt er einen Augenblick und versuchte sich zu orientieren. Was für ein grauenhafter Mechanismus der Zerstörung war diese Atombombe! Anstatt all ihre Kraft in einer einzigen gewaltigen Detonation zu erschöpfen, entlud sie sich unaufhaltsam weiter in Milliarden einzelner Atomexplosionen. Er brauchte nicht nach der Tür zu suchen. Die Gewalt des Luftdrucks hatte die Wand gespalten. Ohne sich zu besinnen, stürzte er sich mitten in das Chaos und zwängte sich durch die Öffnung. Er fühlte, wie die Gammastrahlen sich in sein Fleisch bohrten. Sein ganzer Körper brannte. Seine Muskeln wollten ihm nicht mehr gehorchen. Das krachende Donnern der fortgesetzten Explosionen um ihn wurde unerträglich, sein Kopf dröhnte, seine Augen entzündeten sich unter dem beizenden Rauch. Und trotzdem arbeitete er sich verbissen weiter vor. Dort vorne mußte Margaret von Urbs sein, die er liebte! Er fühlte sich schuldig an dieser entsetzlichen Katastrophe. Evanie hatte ihn, ohne daß er es ahnte, zu ihrem Mitschuldigen gemacht. Er hatte seinen Eid dem Meister gegenüber gebrochen! Weil er Evanies Bitte um Bewegungsfreiheit unterstützt hatte, war das geschehen. Jan Orm allein hätte nichts ausrichten können.
Evanies Mischlingsblut hatte es ihr ermöglicht, einen Amphimorph zu ihrer Hilfe heranzuziehen. Evanie hatte ihn betrogen und getäuscht. Evanie, die er einmal zu lieben geglaubt hatte. Und nun war die Prinzessin, die er wirklich liebte, in ihrem Labor eingeschlossen, von Rauch und Gammastrahlen umgeben, einem grauenhaften Tod ausgeliefert! Martin Sairs Laboratorium, das unmittelbar hinter dem Thronsaal lag, war so verqualmt, daß er sich nur auf gut Glück vortasten konnte. Keuchend und hustend erreichte er die gegenüberliegende Wand und fand nach einigem blinden Suchen die Tür zu Margarets Zimmer. Er riß sie auf. Das Zimmer bot ein trostloses Bild der Zerstörung. Aber wenigstens waren nur vereinzelte kleine Rauchwolken bis hierher gedrungen. Er zog hastig die Tür hinter sich zu. Aber das Donnern und Krachen war noch immer gedämpft zu vernehmen. Und die Wand hinter ihm begann sich gefährlich zu wölben und zu knistern. »Margaret!« schrie er, und sah sich verzweifelt nach ihr um. »Margaret von Urbs!« Sie antwortete mit verblüffender Ruhe und Gelassenheit. Sie kauerte in einer Ecke zwischen den Trümmern. »Bist du verwundet?« schrie er. Aber dann sah er, daß sie nur unter den Trümmern wühlte und offenbar etwas suchte. Er rannte auf sie zu. »Meine Venus muß hier irgendwo liegen«, sagte sie ruhig. »Ich muß sie wiederhaben.« »Komm jetzt!« »Zuerst will ich meine Venus wiederhaben.« Er stieß mit dem Fuß gegen den Trümmerhaufen. Sein Blick fiel auf etwas Weißes, Glänzendes. Es war die elfenbeinerne Kopie der Venus von Milo. »Da!« rief er und drückte ihr hastig die Statuette in die Hand. »Um Himmels willen, komm endlich!« Sie blieb unbeweglich. Kühler Spott lag in ihren Augen. »Und wenn ich nicht will?« fragte sie herausfordernd. »Dann bringe ich dich mit Gewalt hinaus!« Sie fragte mit einem eigentümlich forschenden Blick: »Warum setzt du dein Leben aufs Spiel, um mich zu retten?« Ungeduldig schrie er sie an: »Glaubst du, ich lasse dich hier umkommen? Ich bin schuld an
all dem! Wenn auch gegen meinen Willen und ohne mein Wissen.« Eine tiefe Enttäuschung über diese Antwort malte sich auf ihrem Gesicht. »Ich gehe nicht!« »Dann…« Er sprang auf sie zu, um sie zu packen und fortzubringen. Aber sie wich ihm aus. Plötzlich erklärte sie mit scheinbarer Unterwürfigkeit: »Also gut. Wie du willst.« Die Wand knackte und krachte jetzt bedrohlich, als wolle sie jeden Augenblick bersten. Durch einige Risse drang bereits schwarzer Rauch. Margaret trat auf die Tür zu und öffnete sie. Mit furchtbarer Gewalt brach das Brüllen und Donnern der entfesselten Hölle über sie herein. Martin Sairs Labor war ein Chaos von Rauch, Dampf und Flammen. Wie der Krater eines Vulkans. Connor hatte den langen samtenen Umhang der Prinzessin aufgerafft und warf ihn ihr schützend über Kopf und Schultern. Dann faßte er sie um die Taille und riß sie mit sich fort, dem klaffenden Spalt in der Wand zu, durch den er selbst gekommen war. Er fand ihn instinktiv, obwohl er vor Rauch nichts sehen konnte. Er zwängte sich hindurch und zog die Prinzessin hinter sich her. Eine undurchdringliche Rauchwolke und die sengende Hitze der Strahlen empfingen sie, als sie den Thronsaal erreichten. Connor war zumute, als würde jeder Nerv einzeln aus seinem Körper gebrannt. Kochende Fontänen von Dampf verbrühten seine Haut. Die Prinzessin riß ihre Hand aus der seinen los und klammerte sich an den Thron. »Du tust mir weh«, zischte sie zornig. Selbst mit dem Tod vor Augen blieb sie trotzig und eigenwillig. Er packte sie grob am Handgelenk. »Du kommst mit!« sagte er nur. Blindlings stürzte er sich mit ihr in die wallenden Rauchschwaden, die den Saal vom Boden bis zur Decke füllten. Hustend, keuchend stolperten sie weiter, mit tränenden Augen und verätzten Lungen. Der Weg durch den Saal schien kein Ende zu nehmen. Connor verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit. Bewegten sie sich überhaupt auf den Ausgang zu?
Die Prinzessin hängte sich an seinen Arm und keuchte: »Nein! Dorthin!« Er überließ ihr die Führung. Sie mußte den Weg besser kennen. Ihr war der Saal vertrauter als ihm. Immer dichter ballten sich die Schwaden rings um sie zusammen, nahmen die gespenstischen Formen riesiger Ungeheuer an, die ihnen den Weg vertraten. Einmal strauchelte die Prinzessin, und er wollte sie hochreißen. Aber sie schüttelte ihn ab: »Ich brauche keine Hilfe!« Sie taumelte weiter. Ihm schien, als ob sich das Tosen wieder verstärkte. »Sind wir auf dem richtigen Weg?« brachte er mühsam hervor. Sie antwortete nicht. Er stieß mit dem Fuß gegen eine Stufe. Für den Bruchteil einer Sekunde lichtete sich der Nebel vor ihm. Aber was er sah, ließ seinen Atem stocken: Sie standen wieder vor dem Thron! Sie waren die ganze Zeit im Kreis gelaufen! Durch irgendeine Ventilation oder einen Luftzug war der Rauch in unmittelbarer Umgebung des Throns weniger dicht. Connor konnte jetzt das Gesicht der Prinzessin sehen. Ihr Haar war versengt, ihre Haut von Brandblasen bedeckt, gerötet und rußgeschwärzt. Trotzdem war sie immer noch so atemberaubend schon, daß er bei ihrem Anblick fast die Todesgefahr vergaß, in der sie schwebten. Er traute seinen Augen nicht, als er sah, wie ihre schönen Lippen sich zu einem spöttischen Lächeln verzogen. Durch das Prasseln und Zischen der Flammen konnte er ihre Worte kaum verstehen, er mußte sie ihr von den Lippen ablesen. »Ich habe dich falsch geführt, Tom«, sagte sie fast zärtlich. »Jetzt kann ich es dir ja sagen. In meinem Zimmer wären wir so gut wie sicher gewesen. Man wußte, daß ich dort war. Gewiß hätte mein Bruder früher oder später Leute geschickt, das Fenster von außen aufzuschweißen.« »Aber warum hast du dann…« »Du liebst mich nicht. Ich will mit dir zusammen sterben. Ich kann es nicht ertragen, weiterzuleben und dich altern und dahinsiechen zu sehen, Jahr um Jahr, bis zu deinem Tod.« »Schwarze Flamme!« schrie er leidenschaftlich und riß sie in seine Arme »Ich liebe dich doch! Glaub mir…«
Ihre Augen weiteten sich. »Du liebst mich? O Gott! Und jetzt ist es zu spät!« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Aber plötzlich hob sie den Blick in neuer Hoffnung. »Vielleicht nicht! Kann man uns hier sehen? Nein, der Rauch und Qualm versperrt jede Sicht. Aber gewiß werden Leute in Schutzanzügen kommen. Wenn wir so lange aushalten können.« Ein Hustenanfall ließ sie fast ersticken. Als sie wieder zu Atem kam, stammelte sie verzweifelt: »Nein, wir halten nicht so lange durch. Ich kann nicht mehr. Geh, Tom! Dort ist der Ausgang. Laß mich hier. Küß mich zum Abschied und laß mich allein. Ich will auf dem Thron von Urbs sterben. Ein natürlicher Tod war mir nicht beschieden. Nur ein gewaltsamer Tod kann das Leben eines Unsterblichen auslöschen.« »Dich verlassen?« rief er außer sich. »Lieber den Tod!« Er zog sie fester an sich, als könnte er sie in seinen Armen vor dem unausweichlichen Ende schützen. Sie flüsterte heiser: »Hilf mir – auf meinen Thron.« Ihre Stimme brach. Ihre Augen schlossen sich. Schlaff und bewußtlos hing sie in seinen Armen. Er preßte sie an sich. War es das beste, sie hochzuheben und auf den Thron zu legen, wie sie gewünscht hatte? Sie in seinen Armen zu halten und auf den Tod zu warten, der sie beide gleichzeitig erlösen würde? Aber etwas in ihm wehrte sich dagegen, den Kampf um das Leben aufzugeben. Noch nie war ihm das Leben so begehrenswert erschienen wie jetzt. Er liebte die Schwarze Flamme und wurde wiedergeliebt. Sie waren zwei Wesen, die durch eine seltsame Fügung Jahrhunderte gelebt hatten, um einander zu begegnen. Sollte es wirklich nur für einen einzigen schrecklichen Augenblick gewesen sein? Nein, Margaret mußte gerettet werden! Er hob sie auf seine Arme und stürzte sich wieder in das rauchende Chaos. Der Boden unter seinen Füßen schien zu brennen. Er versuchte an dem Muster der Fliesen zu erkennen, ob er sich auf dem richtigen Weg zum Ausgang befand. Aber dichte Nebelschwaden zu seinen Füßen verwehrten ihm auch hier die Sicht. Er hatte das Gefühl, daß sich seine Haut in Fetzen von Gesicht und Händen löste. In seinem Kopf drehte sich alles, er
taumelte und schwankte unsicher. Bei jedem Atemzug schienen ihm die heißen Schwaden Kehle und Lunge zu versengen. Die zarte Gestalt der Prinzessin lastete wie Blei auf seinen matten Armen. Er schwang sie über seine Schulter wie ein Bündel und stolperte weiter. Jeder Schritt war ein Spiel mit dem Tod. Er wußte, wenn er strauchelte, würde er nicht mehr die Kraft finden, sich wieder zu erheben. Der tosende Lärm schien etwas abzuebben. Oder kam ihm das nur so vor weil seine Sinne abstumpften, weil er in seiner Erschöpfung kaum noch etwas um sich wahrnehmen konnte? Wie ein Nachtwandler taumelte er benommen und halb bewußtlos weiter. Ein heftiger Stoß brachte ihn wieder zu sich. Er war mit dem Kopf gegen eine Wand gerannt Welche Wand? In welcher Richtung lag die Tür, die Rettung bedeutete? Ein Erstickungsanfall zwang ihn stehenzubleiben. Hustend lehnte er sich gegen die Wand, zu erschöpft, um einen Schritt weiterzugehen. Es ist aus, dachte er hoffnungslos. Wir können unserem Schicksal nicht entfliehen. Aber wenigstens sterben wir gemeinsam… In diesem Augenblick bemerkte er, wie etwas hinter ihm nachgab. Und plötzlich begriff er: Es war nicht die Wand, gegen die er sich gelehnt hatte, sondern eine Tür. Mit letzter Kraft stemmte er sich dagegen. Mitsamt seiner Last stürzte er durch die zurückschwingende Tür hinaus und auf die harten Fliesen des Korridors. Damit war seine Kraft erschöpft, er blieb wie gelähmt liegen. Aber dann nahm er Gesichter wahr, die sich über ihn und die Prinzessin beugten. Er wandte den Kopf etwas zur Seite und sah die leblosen, wachsbleichen Züge Margarets neben sich. Jemand sagte: »Rasch! Ruft Martin Sair her! Vielleicht kann er noch helfen.« Mühsam richtete Connor sich auf. Ein Unsterblicher beugte sich über ihn und sagte: »Du bist nur leicht verletzt. Aber für die Prinzessin sieht es schlimm aus.« Eine Bewegung ging durch die Gruppe, die sie umgab. Mehrere Männer in Schutzanzügen und Kristallhelmen kamen mit einer riesigen Zange, um die Bombe zu entfernen, bevor, sie den
ganzen Palast zerstörte. Dann erschien Martin Sair, hinter ihm der Meister, der bestürzt neben seiner Schwester niederkniete. Martin Sair befahl: »Laßt den Korridor frei machen! Je weniger Leute hier herumlungern, desto besser.« Die Wachen drängten alle Umstehenden zurück. Martin Sair deutete auf Connor: »Auch er soll gehen!« Ein Donnern übertönte seine Worte. Aus dem Saal tauchten die Leute in ihren Schutzanzügen auf, die immer noch Tod und Verderben ausspeiende Atombombe in der riesigen Zange. Connor sprang auf und warf sich zwischen sie und die Prinzessin, um die sengenden Strahlen mit seinem Körper abzufangen. Mit ihrer tödlichen Last eilten die Männer auf den nächsten Balkon hinaus. Eine Kette senkte sich vom Himmel, ein Kranhaken erfaßte das verhängnisvolle Werkzeug der Vernichtung. Und ein Triangel erhob sich mit der schrecklichen Last, um sie irgendwo weit draußen ins Meer zu versenken. Hastig wandte Tom Connor sich wieder der Prinzessin zu. Ihr Gesicht war weiß wie Marmor und starr wie das einer Toten. In steigender Angst wanderten seine Blicke zwischen der reglosen Gestalt und dem ernsten, verschlossenen Gesicht Martin Sairs hin und her. »Wird sie leben…?« murmelte er beklommen. Er achtete kaum darauf, daß Evanie und Jan Orm von einer Gruppe Bewaffneter vorübergeführt wurden. Er hörte nur mit halbem Ohr, wie jemand sagte: »Diese beiden versuchten, aus dem Südtor zu entkommen.« Martin Sair, der Spender ewigen Lebens, untersuchte schweigend die Bewußtlose, zog ihre Augenlider über den starren Augäpfeln hoch, fühlte ihren Puls und preßte die Finger in ihren weißen Arm. »Kein Puls mehr zu fühlen«, murmelte er beklommen. Connor ballte die Fäuste, bis seine Nägel sich tief ins Fleisch gruben. Das konnte, das durfte nicht sein! Sollte er umsonst sein Leben eingesetzt haben? Sollte die Schwarze Flamme mit ihrem lodernden Stolz, ihrer Leidenschaft und übermenschlichen Schönheit verlöschen wie eine armselige Kerze? Nein, das durfte
nicht geschehen! »Sie stirbt«, murmelte Martin Sair. »Stirbt?« echote Connor verzweifelt. »Nein! Nein! Margaret, verlaß mich nicht!« Martin Sair gab einem der Umstehenden einen Wink, und dieser reichte ihm einen Kasten mit medizinischen Instrumenten. Sair wählte eine Ampulle und spritzte der Prinzessin eine bläuliche Flüssigkeit in die Vene des Armes. »Die Maske!« befahl er dann kurz. Jemand reichte ihm die Sauerstoffmaske, und der Entdecker des ewigen Lebens legte sie über das bleiche Gesicht der Schwarzen Flamme. Es war sehr still. Mit angehaltenem Atem starrten alle auf den unbeweglichen Körper zu ihren Füßen. Martin Sair legte beide Hände auf Margarets Brustkasten und begann, ihn sanft zu massieren. Er nahm ihre Arme, hob sie abwechselnd über ihren Kopf und drückte sie wieder gegen ihre Seiten. Aber weder Sauerstoffmaske und künstliche Atmung noch die Injektion schienen irgendeine Wirkung zu haben. Martin Sair konnte wohl Gesunden Unsterblichkeit schenken. Tote zum Leben erwecken konnte er nicht… Verzweifelt starrte Tom Connor auf die bewußtlose Frau hinunter, in der jedes Fünkchen Leben erloschen schien. Plötzlich weiteten sich seine Augen in ungläubigem Erstaunen. Hatte er nicht eben ein leises Pochen in der kleinen blauen Ader an ihrem Hals bemerkt? Hob und senkte sich ihre Brust nicht ein wenig, kaum sichtbar? Ein Zittern überlief ihren Körper, ein leises Stöhnen drang unter der Maske hervor. Martin Sairs Gesicht leuchtete triumphierend auf. »Sie lebt!« Seine Kunst hatte das schwache Fünkchen Leben in ihr wieder zu einer kleinen, zögernden Flamme entfacht! Connor konnte es noch nicht fassen. Dieser Umschwung von tiefster Hoffnungslosigkeit zum Gipfel des Glücks war zuviel für ihn. »Ist es wahr?« flüsterte er benommen. »Wird sie wirklich leben…?« Martin Sairs Augen blitzten siegesgewiß.
»So leicht läßt Martin Sair sich nicht schlagen! Ich habe den Tod schon in vielerlei Gestalt bekämpft! Natürlich wird sie leben!« Er nahm ihr sanft die Maske vom Gesicht. Es war immer noch wachsweiß und durchscheinend, aber sie atmete jetzt ruhig und regelmäßig. Connor beugte sich zu ihr nieder, aber Martin Sair hielt ihn hastig zurück. »Berühre sie nicht!« sagte er streng. »Laß ihr Zeit, sich zu erholen. Sie war halb erstickt. Ihre roten Blutkörperchen müssen sich erst wieder mit Sauerstoff anreichern. Glücklicherweise hat ihr Organismus keinen entscheidenden Schaden davongetragen. Ihr Blut war noch nicht geronnen. Die Gehirnzellen sind noch nicht abgestorben…« Tom Connor hörte nicht mehr zu. Medizinische Einzelheiten bedeuteten ihm nichts. Für ihn war dies kein medizinischer Fall, sondern ein Wunder. Margret von Urbs, die Schwarze Flamme, lebte wieder! Er konnte sich nicht sattsehen an ihrem herrlichen, ebenmäßigen Gesicht. Er sah und hörte nicht, was um ihn her vorging. Eine Stimme riß ihn aus seiner Versunkenheit. Er hob den Kopf und sah einen Wächter vor sich stehen, der ihm bedeutete: »Der Meister wünscht dich im Thronsaal zu sprechen.« Connor zögerte. »Sie ist außer Gefahr«, sagte Martin Sair sanft. Connor erhob sich widerwillig und folgte dem Wächter in den Saal. Hier bot sich ihm ein unbeschreibliches Bild der Zerstörung. Aber Rauch und Qualm waren inzwischen durch die Ventilatoren beseitigt worden. Alles Brennbare war zu Asche zerfallen. Riesige Risse gähnten in den Wänden. Der Fußboden war immer noch heiß wie glühende Kohlen. Auf den halbgeschmorenen Trümmern seines Throns saß der Meister, den strengen Blick auf Jan und Evanie gerichtet, die zwischen bewaffneten Wächtern vor ihm standen. Trotz allem, was sie ihm angetan hatten, rührte Tom Connor der Ausdruck hilfloser Angst auf Evanies Gesicht. Schließlich hatte sie ihn gepflegt und ihn vor dem sicheren Tod gerettet. Sie hatte ihm Gastfreundschaft gewährt. Und er konnte nicht vergessen, daß er sie einmal geliebt hatte.
Der Meister sah ihm entgegen. »Ich kann aus diesen beiden nichts herausbekommen. Was weißt du von ihnen?« Evanie zuckte erschrocken zusammen und starrte Connor flehend an. Sie tat ihm leid. Ohne zu überlegen, sagte er: »Ich habe es selbst getan.« Der Ausdruck auf des Meisters undurchdringlichen Zügen veränderte sich nicht. »Wie?« fragte er nur. Connor warf Evanie einen raschen, warnenden Blick zu. »Ich habe die Bombe in Martin Sairs Laboratorium hergestellt«, behauptete er. »Ich arbeitete nachts daran und schmuggelte sie während der Dunkelheit hierher. Das ist alles.« »Wirklich, Thomas Connor? Und ich glaubte, in dir einen Freund gefunden zu haben«, sagte der Meister ruhig. Er ließ Connor nicht aus den Augen, während er nach der Strahlenpistole an seinem Gürtel griff. »Diesmal kann ich keine Gnade walten lassen«, fuhr er in bitterem Ton fort. »Ich werde dich eigenhändig töten müssen, um ein für allemal ein Ende zu machen.« »Halt!« schrie Jan Orm, als er sah, wie der Meister die Waffe hob. »Es ist nicht wahr! Ich habe es getan! Ich habe die Bombe in Ormon gemacht und in den Palast geschmuggelt. Ich habe sie heute Morgen hinter dem Thron versteckt!« Der Meister sah zweifelnd von einem zum andern. »Ich fürchte, ihr hattet beide eure Hand im Spiel«, sagte er langsam. Evanie trat entschlossen einen Schritt vor. »Glaub ihnen nicht«, rief sie erregt, »Sie wollen mich beide schützen. Ich war es. Ich ließ die Bombe durch einen Amphimorph in den Garten schmuggeln. Er brachte sie durch die Wasserleitung zum Springbrunnen. Das ist die Wahrheit.« »Wenn ich den Schuldigen nicht herausfinden kann«, bemerkte der Meister kalt, »muß ich euch alle drei vernichten. Nur so kann ich sicher sein, auch den Schuldigen bestraft zu haben.« »Ich habe keine Angst vor dem Tod«, rief Evanie mit blitzenden Augen. »Zwar ist mir der Anschlag auf dich mißglückt. Aber wenigstens habe ich die Schwarze Flamme ausgelöscht – und ich bin froh darüber!« Ein seltsames Lächeln spielte um die Lippen des Herrschers. Er
sah über die Köpfe der Angeklagten hinweg nach der Tür. Connor fuhr herum. Am Arm Martin Sairs kam Margaret von Urbs durch den Saal. Trotz ihrer Blässe, der zerrissenen und rußgeschwärzten Kleidung, der versengten Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht fielen, war sie immer noch so unsagbar schön, daß es ihm den Atem benahm. Evanie stieß einen leisen Schrei aus und klammerte sich an Jan Orms Arm. »Wovon war die Rede, Joaquin?« fragte die Prinzessin mit einem Anflug ihres spöttischen Lächelns. »Ich versuchte herauszubekommen, wer der Attentäter war«, antwortete der Meister. »Und…?« Er zuckte die Achseln. »Alle drei reißen sich um diese Ehre.« Die Prinzessin stieg die Stufen hinauf und setzte sich neben ihren Bruder. »Ich kann dieses Geheimnis lüften, Joaquin. Wenn jemand schuld ist, dann ich. Es war kein Attentat, sondern ein Unfall. Ein Experiment, das ich in Martin Sairs Laboratorium vornahm. Ich versuchte einen Kolben mit Detanol zum Kristallisieren zu bringen. Dabei muß mir irgendein Versehen unterlaufen sein. Es gab eine furchtbare Explosion. Ich wollte durch den Thronsaal ins Freie gelangen, wurde aber unterwegs ohnmächtig. Thomas Connor hat mich gerettet. Du siehst also, daß keiner von den dreien schuldig ist. Jeder möchte nur seine Freunde decken. In Wirklichkeit war es ein Unfall.« Der Meister sah ernst und streng auf sie hinunter. Eine tiefe Falte stand steil auf seiner Stirn. »Du weißt«, sagte er hart, »daß es für mich nur ein unverzeihliches Verbrechen gibt: Die Durchkreuzung meiner Pläne. Nicht einmal du, meine Schwester, darfst dich mir in den Weg stellen. Solange ich lebe, bin ich der Herrscher. Erst wenn eine stärkere Macht mich überwältigt, weiß ich, daß mein Lebenswerk erfüllt ist. So lange führe und lenke ich das Schicksal der Menschheit. Und niemand wird mich daran hindern.« Zum erstenmal sah Connor hinter der Maske der Milde den stahlharten Willen, die Unbeugsamkeit und den planvollen Weitblick des Herrschers, der das Wohl der Menschheit in seinen
Händen hielt. Und tiefe Bewunderung für diesen großen Mann erfüllte ihn. Dann lachte der Meister. »Ich muß meiner Schwester wohl glauben, wenn sie sagt, daß es ein Unfall war. So ist also keiner von euch schuldig. Ihr seid alle drei frei.« Er warf seiner Schwester einen Blick voll versteckter Ironie zu. »Du wirst mir ein andermal erklären, wieso sich bei der Kristallisation von Detanol Rauch, Feuer und Gammastrahlen bilden…« Er nickte den Freigesprochenen kurz zu und ging. Die Wachen folgten ihm. Evanie starrte die Prinzessin an, als könne sie das Geschehene noch nicht glauben. »Warum hast du das getan?« stammelte sie fassungslos. Die Prinzessin hatte nur Augen für Tom Connor. Sie lächelte glücklich. »Weil ich annahm, daß es Tom Connor gefallen würde«, sagte sie offen. In Evanies Augen dämmerte Verständnis. »Die Schwarze Flamme hat also selbst Feuer gefangen!« murmelte sie verwundert. »Das konnte kein Mann unserer Zeit fertigbringen! Nur ein Unsterblicher aus einem anderen Jahrtausend… Tom Connor, du hast die Schwarze Flamme besiegt – dafür wird die Welt dir dankbar sein. Ich bin glücklich, daß ich das noch erleben durfte.« Die Prinzessin errötete leicht. Connors Blick fiel auf einen Aschenhaufen, unter dem etwas Glitzerndes hervorschaute. Er beugte sich hinunter und zog die funkelnde Mondorchidee hervor, die die Prinzessin verloren hatte. Er trat auf Evanie zu und befestigte die kostbare Blume in ihrem kastanienbraunen Haar. »Unser Hochzeitsgeschenk für euch«, sagte er. »Ich versprach, dir einmal eine Mondorchidee zu schenken.« »Ich wünsche euch Glück«, sagte die Schwarze Flamme freundlich und machte eine verabschiedende Geste. Evanie und Jan verneigten sich tief und zogen sich zurück. Die Schwarze Flamme und Connor waren allein. »Ich weiß auch was ich dir zu Hochzeit schenken werde.« sagte Tom Connor. »Das Original der Venus von Milo. Die schönste Statue der Welt.«
Sie wandte sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihm. »Tom, auch ich habe ein Geschenk für dich. Leben!« »Du meinst die Unsterblichkeit?« »Nein, nicht nur Unsterblichkeit. Leben! Tom, du weißt, daß die Unsterblichen keine Kinder mehr bekommen können. War es für dich sehr schwer, dich mit diesem Gedanken abzufinden?« »Ja«, gab er zögernd zu. »Aber ich finde mich damit ab, weil ich dich liebe.« »Ich danke dir dafür«, sagte sie weich. »Aber es gibt einen Ausweg. Martin Sair kann eine Unsterbliche für eine gewisse Zeit wieder sterblich machen – und ihr damit auch die Fähigkeit, Kinder zu bekommen, wiedergeben. Ich opfere dir fünf Jahre meines Lebens. Das soll meine Mitgift sein. Mein biologisches Alter ist zwanzig. Wenn ich mich jetzt Martin Sairs Behandlung unterziehe, können wir Kinder haben. In fünf Jahren soll Martin Sair uns beide unsterblich machen. Dann bin ich fünfundzwanzig – und werde es für immer bleiben.« Er zog sie glücklich in seine Arme und küßte sie. »Das ist mehr Glück, als ich je hoffen durfte!« rief er aus. »Jetzt kann ich es zugeben: Die Aussicht auf Kinderlosigkeit hat mich sehr bedrückt. Nur aus Liebe zu dir hätte ich diesen Verzicht auf mich genommen. Aber nun hast du mir mehr geschenkt als Unsterblichkeit!« Sie murmelte verträumt: »Zwei Jungen und ein Mädchen möchte ich haben. Die Jungen sollen so werden wie du, Tom…« Er lachte. »Zwei Jungen, ja. Aber kein Mädchen wie du!« »Warum nicht, Tom?« Er drückte sie zärtlich an sich und lächelte in ihre meergrünen Augen. »Eine zweite Schwarze Flamme wäre zuviel für die Welt!« Ende Der fremde Zwang von Clark Darlton Die Invasion beginnt! – Raumfahrer der Erde stehen im Kampf
mit Infrarotwesen! TERRA-EXTRA-Band Nr. 162 in wenigen Tagen überall Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhandel – Preis 80 Pfg.
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