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Die vier lebenden Toten hatten noch eine gewisse Wahl in bezug auf die Todesart: sie konnten bleiben, wo sie waren, bis sie schließlich an Hunger und Durst zugrunde gingen – oder hinausgehen. Im Freien würden ihre Körper in etwas weniger als zehn Minuten eine tödliche Dosis an Radioaktivität aufnehmen, aber das Sterben würde länger dauern, sehr viel länger. Mit Hilfe der Schutzanzüge gegen radioaktive Strahlen hätten sie vielleicht lange genug überleben können, um eine andere Zufluchtstätte zu finden. Bisher schien jedoch keinem bewußt geworden zu sein, daß diese Anzüge jetzt unter den schwelenden Trümmern des Hauptvorratsraumes lagen. Statt dessen standen sie da, blickten dank der Macht der Gewohnheit zu ihm als Anführer auf und erwarteten, daß er irgendeine Wunderlösung fände.
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31013 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: INSIDE Aus dem Englischen übersetzt von Gudrun Faltermeier Umschlagillustration: Blair Wilkins Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1971 by Dan Morgan Printed in Germany 1980 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3 548 31013 3
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Morgan, Dan: Experiment unter der Kuppel: Roman/ Dan Morgan. [Aus d. Engl. übers. von Gudrun Faltermeier]. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1980. 160 S. ([Ullstein-Bücher] Ullstein-Buch; Nr. 31013: Science-fiction) Einheitssacht.: Inside
ISBN 3-548-31013-3
Dan Morgan
Experiment unter der Kuppel Roman
Science Fiction
1 Fünf erschöpfte Menschen blieben schließlich im Bunker zurück. Vier standen Gerry Clyne gegenüber; ihre Kleidung überzogen Ruß- und Schmutzkrusten, die letzten Funken Panik verloschen langsam in ihren Augen. Er blickte sie an, verdrängte bewußt die ungebetenen, hartnäckigen Gedanken an den Schmutz. Später konnte man sich damit befassen, aber jetzt – den beißenden Rauchgestank noch in der Nase – mußte ans Überleben gedacht werden. Zusammen hatten sie es fertiggebracht, das Feuer endlich zu löschen, aber es war ein nichtiger Sieg. Die Nahrungsmittel für zwölf Monate waren vernichtet, die Wohnräume vollkommen ausgebrannt, und die obere Etage, in der sie jetzt standen, hatte nur auf Kosten fast des gesamten wertvollen Vorrats an unverseuchtem Wasser gerettet werden können. Die vier lebenden Toten hatten noch eine gewisse Wahl in bezug auf die Todesart: sie konnten bleiben, wo sie waren, bis sie schließlich an Hunger und Durst zugrunde gingen – oder hinausgehen. Im Freien würden ihre Körper in etwas weniger als zehn Minuten eine tödliche Dosis an Radioaktivität aufnehmen, aber das Sterben würde länger dauern, sehr viel länger. Mit Hilfe der Schutzanzüge gegen radioaktive
Strahlen hätten sie vielleicht lange genug überleben können, um eine andere Zufluchtstätte zu finden. Bisher schien jedoch keinem bewußt geworden zu sein, daß diese Anzüge jetzt unter den schwelenden Trümmern des Hauptvorratsraums lagen. Statt dessen standen sie da, blickten dank der Macht der Gewohnheit zu ihm als Anführer auf und erwarteten, daß er irgendeine Wunderlösung fände. Jetzt, da die betäubende Wirkung des Adrenalins nachzulassen begann, schmerzten die Verbrennungen auf den Armen und im Gesicht mit jeder Sekunde stärker. Er hätte sich diese Schmerzen ersparen können, die von seinem Spurt durch die Flammen zu Kays Zimmer herrührten, doch hätte er es sich niemals verziehen, nicht wenigstens einen Versuch unternommen zu haben zur Rettung jener Frau, die ihn eine neue Erkenntnis über die Ausmaße der Liebe gelehrt hatte. Hinzu kam, daß er eigenhändig vorher am Abend die Injektion vorgenommen hatte, die sie von den würgenden Angstgefühlen eines erneuten asthmatisch-klaustrophobischen Anfalls befreite – eben jene Droge, die sie im Koma ans Bett fesselte, während die erbarmungslosen Flammen ihren Körper zerstörten. Als Palance ihn weckte, war es bereits zu spät gewesen. Falls man in der allgemeinen Panik nach der Entdeckung des Feuers überhaupt an Kay gedacht
hatte, so hatten die anderen angenommen, sie sei in seinen Privatgemächern im oberen Stockwerk in Sicherheit. Als er ihr Zimmer erreichte, war dieses bereits ein Inferno, und sie – Sein Verstand schreckte vor der grauenhaften Erinnerung zurück. Dieses gekrümmte, verkohlte Ding war nicht mehr Kay. Er hatte sich umgedreht und es den Flammen überlassen, ihre jetzt barmherzige Zerstörungspflicht zu vollenden. Es brachte wenig Befriedigung, die Schuld für ihren Tod Palance und Mitchell in die Schuhe zu schieben. Natürlich hätte sich das Feuer nicht so schnell ausbreiten können, ehe es entdeckt wurde, wenn die beiden ihre Aufgabe erfüllt hätten; aber sie würden für ihre Nachlässigkeit mit dem Leben bezahlen. Er nicht. Mit oder ohne Kay zweifelte er nicht daran, daß er weiterleben mußte. Die anderen existierten ja nur noch auf Grund seiner weisen Voraussicht. Ohne seinen Schutz wären sie schon vor einem Monat gestorben, zusammen mit den übrigen neunundneunzig Prozent der Bevölkerung. Der Bunker hatte Gerry Clyne mehrere Millionen gekostet, aber er hatte nicht um den Preis geschachert. Geld und Macht waren nutzlos ohne Leben, und der Bunker war notwendig zum Überleben. Er war von Garfield Burton entworfen worden, dem besten Architekten, den Gerry aufzutreiben vermochte.
Ein ungeheuer stabiles Gebilde aus Beton und Stahl, eingebettet unter dem Sandsteinhügel; ein perfektes Lebenserhaltungssystem, das seine Insassen vor jeder – naturbedingten oder von Menschen ausgelösten – Katastrophe schützen konnte. Als der teuflische Regen der ICBBs niederzuprasseln begann, hatte er den beabsichtigten Zweck erfüllt und Clyne zusammen mit seinen Gefährten gegen Explosion, Hitze sowie Strahlung – von außen – geschützt. Im Innern hatte sich Burtons Urteilsvermögen, entweder wegen seines großen Vertrauens auf die Unbezwinglichkeit des Außenbaus oder auf Grund eines wunden Punkts, als weniger gut erwiesen. Bis auf zwei kleine Feuerlöscher mit Kohlentetrachlorid, einen für jede Bunkeretage, schien er die Möglichkeit eines intern ausgelösten Brandes bei seinen Berechnungen übersehen zu haben. Die Feuerlöscher hatten sich als fast nutzlos erwiesen, während die Flammen über leicht entzündliches Plastik und Holz der Zimmer im unteren Stockwerk rasten; außerdem beschworen die toxischen Rauchgase, die beim Gebrauch der Feuerlöscher entstanden, in den beschränkten Räumlichkeiten eine zusätzliche Gefahr herauf. Aber es war jetzt sinnlos, an Burton zu denken, der wahrscheinlich während jener ersten schrecklichen Stunden des Atomkriegs ums Leben gekommen war.
An der Oberfläche rund um den Bunker hatte es seit mehr als zwei Wochen kein Lebenszeichen gegeben, und es waren fast drei Wochen verstrichen, seit die ferngesteuerten Maschinengewehre am Eingang von jemandem ausgelöst worden waren, der vor die ständig lauernden Peilstrahlen geraten war. Die einzigen Überlebenden konnten jetzt nur solche sein, die sich in tiefe Bunker zurückgezogen hatten; sowie solche – abgesehen von der unwahrscheinlichen Möglichkeit eines direkten Treffers –, die sich bereits vor Beginn der Massenvernichtung in der Kuppelstadt aufhielten. »Was machen wir jetzt, G.C.?« Buzz Mitchell brach das Schweigen. Vor einem Monat war er ein flott gekleideter Mann gewesen, aufgeweckt, respektvoll ohne Unterwürfigkeit: einer der besten Leibwächter. Jetzt trug er bloß schmierige leichte Shorts sowie ein schmutziges T-Shirt, der Wanst quoll über den Gürtel: ein ungewaschener, griesgrämiger Dreckfink. Elbert Inman hingegen trug noch immer eine peinlich saubere Jacke, Kragen mit Krawatte und die achteckige Brille ohne Fassung auf der blassen, dünnen Nase; den Arm hatte er schützend um Clare Inmans knochige Schultern gelegt. »Ich sehe keinen Grund zur übermäßigen Panik«, bemerkte er; seine Stimme beinhaltete selbst jetzt die ihm eigene affektierte Sicherheit seines Berufsstandes. »Wir werden
natürlich mehr Nahrung und Wasser benötigen. Aber solange das Hauptkraftwerk noch funktioniert, sehe ich keinen Grund, warum wir es hier nicht bis in alle Ewigkeit aushalten sollten.« Ich sehe keinen Grund ... überdachte Gerry ironisch die mit Scheuklappen versehene Schwülstigkeit der wiederholten Phrase. Das war typisch für Inman, den eifrigen Vertreter der hiesigen Handelskammer, Pfeiler der Kirche und großtuerischen sozialen Wohltäter. Inman und seine rot angemalte Frau mit dem Pferdegebiß, die sich fast die Beine ausgerissen hatten, um das Angebot eines Platzes im Bunker anzunehmen – trotz ihrer heimlichen Abneigung gegen ihn, gegen seine schamlose Freude am selbst geschaffenen Reichtum und sein Verhältnis mit Kay, deren erster Mann ein Angehöriger ihrer eigenen blutleeren Sippe gewesen war. Gerry hatte das Angebot keineswegs gemacht, weil es ihn nach ihrer Gesellschaft gelüstet hätte. Sie entsprachen bei weitem nicht seiner Vorstellung von einem unterhaltsamen Paar. Doch ihr Haus lag in der Nachbarschaft, und es hatte die Möglichkeit bestanden, daß Inmans medizinische Kenntnisse sich als nützlich erweisen könnten. »Sie glauben wohl, der Supermarkt wäre noch geöffnet, Doc?« Palance stand etwas abseits der drei anderen; seine geringschätzigen schwarzen Augen beobachteten Inman. Inman war trotz seiner ganzen
Schwülstigkeit in dieser Situation unwichtig, und Buzz Mitchells Verstand umnebelte die Trägheit sowie das regelmäßige Quantum von dem Alkoholvorrat, den er in den Bunker hatte schmuggeln können. Wahrscheinlich stellte keiner von beiden für Gerrys Überlebensplan eine ernsthafte Bedrohung dar. Palance war ein anderes Kapitel: ein grausamer, in der Gosse groß gewordener Killer von schlankem Wuchs und romanischer Schönheit; sein Scharfsinn sowie seine Rücksichtslosigkeit waren bisher von Nutzen gewesen, konnten jetzt jedoch eine gewisse Gefahr bedeuten. Inman preßte die dünnen Lippen zusammen. »Es liegt auf der Hand, daß beträchtliche Vorräte an unbeschädigten Konserven und getrockneten Lebensmitteln in der Gegend vorhanden sein müssen.« »Ein leckeres Gericht aus radioaktiven Bohnen gefällig?« spottete Palance. »Wir besitzen Geigerzähler«, sagte Inman. »Es sollte leicht herauszufinden sein, welche Lebensmittel unverseucht geblieben sind. Und was das Wasser anbelangt, so muß es eine Anzahl unterirdischer Brunnen in der Gegend geben.« »Klingt gut, Doc. Ich hoffe nur, daß es wirklich so leicht wird.« Palance wandte den Kopf und blickte Clyne offen an. »Was meinen Sie, G.C.?« Gerry wich den harten, dunklen Augen nicht aus
und fragte sich insgeheim, wieviel Palance wußte oder erraten hatte. Natürlich hätte er es vorgezogen, die Richtung, die die Unterhaltung in diesem Augenblick nahm, zu meiden. »Morgen werden wir die Lage viel besser überblikken können«, lenkte er ein. »Sobald die Sonne aufgeht, sehe ich mich im unmittelbar umliegenden Gebiet um. In der Zwischenzeit hielte ich es für gut, wenn wir ein wenig zu schlafen versuchten.« Er wandte sich an Mitchell: »Buzz, es dürften noch einige Decken und Wollstoffe im Behelfslager liegen für diejenigen, die welche wollen. Geh und sieh nach, ja?« »Sie meinen, wir sollten alle hier schlafen?« fragte Inman und blickte sich im Kontrollraum um. »Entweder hier oder im Generatorenraum, und ich glaube nicht, daß dort jemand ein Auge zutun könnte«, erklärte Clyne. »Später ist es vielleicht möglich, einen Teil des unteren Stockwerks wieder bewohnbar zu machen.« »Mir selbst macht es ja nichts aus, verstehen Sie«, versicherte Inman. »Aber schließlich, Clare – Könnte sie vielleicht zeitweilig Ihr Zimmer benützen?« »Nein«, lehnte Gerry rundweg ab. Palance deutete den Vorschlag absichtlich anders. »Ich wußte nicht, daß in Ihren Adern Eskimoblut fließt, Doc«, meinte er grinsend. »Aber wenn dem so
ist, dann vergessen Sie nicht, daß ich seit achtundzwanzig Tagen unberührt bin.« Inmans Mundwinkel zuckten, während er Palance einen haßerfüllten Blick zuwarf. Er verstärkte den Griff um die mageren Schultern seiner Frau und führte sie quer durch den Raum zur anderen Seite, während der Leibwächter über seinen eigenen rohen Scherz feixte. Gerry erkannte, daß dies erst der Anfang war. Palance würde immer unverschämter werden, nur um zu probieren, wie weit er gehen konnte; er würde die Lage Schritt für Schritt beurteilen und sich schließlich um die Herrschaft bemühen. Aber bis es soweit war – »Geh und sieh nach, was Buzz macht, ja?« bat Gerry. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und steuerte auf die Tür zu seinen Privaträumen zu. Seine Unterkunft unterschied sich kaum von den jetzt zerstörten Räumlichkeiten im unteren Stockwerk. Die Wände waren in einem blassen Eierschalenton getüncht, und es gab die gleiche Dusche und die gleichen sanitären Anlagen. Der Hauptunterschied lag im kombinierten Schlaf- und Wohnzimmer, das größer angelegt worden war, um einen Schreibtisch mit Sessel sowie den großen grauen Metallschrank, der in einer Ecke stand, aufnehmen zu können. Gerry zog sich aus und duschte, wobei er etliche
zusätzliche Liter des wertvollen Wassers in einer Fülle vergeudete, die Inman schockiert hätte. Er trocknete sich sorgfältig mit dem Handtuch ab und tupfte lindernde Salbe auf seine Verbrennungen. Nachdem er saubere Hosen und ein kurzärmeliges Hemd angelegt hatte, fühlte er sich beträchtlich wohler und vollkommen wach. Jetzt, da Kay tot war, konnte über seinen nächsten Schritt kein Zweifel bestehen. Gerry verspürte eine zunehmende Ungeduld, aufzubrechen, doch besann er sich darauf, daß in drei Stunden bereits die Sonne aufgehen und die Reise bei Tageslicht weniger gefährlich sein würde. Er legte sich aufs Bett und zwang sich, zu entspannen. Gerry lag etwa eine halbe Stunde so da, als er – leise, aber unverkennbar – das Geräusch hörte. Er stützte sich auf einen Ellbogen und beobachtete, wie die Türklinke langsam niedergedrückt wurde. »Komm rein, Palance«, sagte er ruhig. Palance schloß die Tür hinter sich. In der Rechten hielt er eine kleine Automatik, eine Waffe für Frauen, doch leicht zu verstecken und tödlich. Die Mündung war auf Gerry gerichtet. »Sie haben mich erwartet?« »Wen sonst«, fragte Gerry ruhig. »Schlafen die anderen?« Palance nickte. »Ja. Jetzt können wir beide uns vielleicht vernünftig, wirklich vernünftig, darüber unterhalten, was als nächstes geschieht.«
»Sicher, warum nicht?« meinte Gerry. Er deutete auf die Pistole. »Aber zum Reden brauchst du das Ding nicht.« »Nennen wir es eine Sicherheitsmaßnahme.« Palance lehnte sich scheinbar vollkommen ungezwungen mit dem Rücken gegen die Tür. Aber Gerry hatte den Mann zu oft im Einsatz gesehen, um zu glauben, daß diese Stellung Entspannung andeutete. Im Gegensatz zu Mitchell hatte Palance während seines Aufenthalts im Bunker seine berufsbedingte Wachsamkeit nicht verloren. Er war noch immer eine rücksichtslose Killermaschine, die jede Sekunde ihr zerstörerisches Werk beginnen konnte. Gerry wußte ganz genau, daß er vorsichtig sein mußte, wenn er nicht den nervösen Zeigefinger des anderen in Bewegung setzen wollte. »In Ordnung, wenn du dich damit besser fühlst«, lenkte er ein. »Wie lautet deine Ansicht darüber, was als nächstes geschieht?« Palances grausamer Mund verzerrte sich zu einem Grinsen. »Wissen Sie, was man von Ihnen behauptet, G.C.? Man munkelt, daß Sie aus einer Jauchegrube von Rosenduft umgeben auftauchen würden, zusammen mit einer neuen Idee für Rasierwasser, die Ihnen eine Million einbringt.« »Unwahrscheinlich, aber ich verstehe den Sinn. Also –?«
»Ich hab Sie jetzt fast drei Jahre lang beobachtet«, erklärte Palance, »lang genug, um zu verstehen, daß derlei witzige Einfälle nur einen Teil der Geschichte wiedergeben. Das Wichtigste ist, daß Sie nicht zu denen gehören, die sich von den Geschehnissen einfach überrollen lassen.« »Lenker meines Schicksals und Herr meiner Seele?« Gerry grinste leicht. »Keiner ist das.« »Vielleicht nicht, aber Sie wissen, was ich meine«, erwiderte Palance. »Ich habe Sie noch nie verlieren sehen, ohne daß Sie nicht bereits den nächsten Schritt in jeder Einzelheit ausgearbeitet gehabt hätten.« »Möglicherweise ist es dir so vorgekommen. Manchmal folge ich nur meinem Riecher und meiner Zuversicht.« »In Ordnung. Also denken Sie unterwegs und passen sich an, während Sie weitergehen, aber Sie lassen keinen Gesichtspunkt außer acht.« Langsam und vorsichtig – ständig auf der Hut vor der drohenden Pistole – senkte Gerry die Beine über den Bettrand und blieb sitzen. »Du scheinst mich ja richtiggehend studiert zu haben, Palance. Also, ich lasse keinen Gesichtspunkt außer acht. Was hat das mit der gegenwärtigen Lage zu tun?« »Einiges, denk ich«, versicherte Palance. »Zum Beispiel das, was Sie vorsichtshalber nicht erwähnt ha-
ben – daß, wenn jemand ins Freie gehen will, um Lebensmittel und Wasser zu besorgen, er einen Schutzanzug brauchen wird.« »Ich dachte, das wäre zu selbstverständlich, um zur Sprache gebracht werden zu müssen.« »Allerdings wissen nur wir beide, daß die Schutzanzüge im Hauptlagerraum im unteren Stockwerk aufbewahrt wurden; das bedeutet, daß sie – selbst wenn wir sie in all dem Plunder finden würden – mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu gebrauchen sind.« »Du hast tatsächlich nachgedacht, nicht wahr, Palance? Und, hast du eine Lösung gefunden?« »Vielleicht. Wie ich schon sagte – Sie gehören nicht zu der Sorte Mensch, die sich von den Geschehnissen einfach überrollen läßt – Sie haben immer einen Ersatzplan.« »Ich konnte schwerlich den Brand mit einkalkulieren.« »Vielleicht nicht«, gab Palance zu. »Aber Sie müssen sich irgendeinen Fluchtplan zurechtgelegt haben, nur für den Fall, daß sich der Bunker nicht bewährt.« »Fluchtweg – wohin? Du weißt genauso gut wie ich, daß es nichts gibt, wohin man gehen könnte. Es gibt andere Bunker in der Gegend – der alte Van Der Groot drüben auf dem Hillcrest hat sich einen doppelt so großen gebaut, aber er nimmt keine Gäste auf,
so viel steht fest. Seine Leibwächter würden einem das Lebenslicht auspusten, ehe man mehr als vierhundert Meter in die Nähe kommt.« »So wie wir bei den armen zerlumpten Kerlen vor drei Wochen?« meinte Palance. »Ironie, oder? Die ganze verdammte Welt ist zur Hölle gefahren, und man kann sich bloß ein Loch graben und es gegen alle Eindringlinge verteidigen, wie ein Graubär.« »Oder eine Ratte. So ist die Welt – ist sie immer gewesen. Das weißt du doch, Palance.« »Nun gut. Also hatten Sie die Absicht, weiter zu gehen. So viel war mir bereits klar. Vielleicht sogar bis zur Kuppelstadt? Mit den etwa sechzig Quadratkilometern hätten die doch wohl noch für ein paar zusätzliche Leute Platz, oder?« Also wußte Palance über die Kuppelstadt Bescheid. Gerry begegnete dem ruhigen, tückischen Blick der dunklen Augen und wußte, daß sein Leben von den nächsten paar Minuten abhing. »Möglich«, gab er zu, »immer vorausgesetzt, daß sie nicht einen Volltreffer abbekommen haben, als die Atomgeschosse umherschwirrten.« »Das halte ich für unwahrscheinlich – und Sie auch. Ein paar hundert Kilometer im Niemandsland und auf keiner Karte eingezeichnet –« »Du machst wohl Witze«, erwiderte Gerry. »Die andere Seite besitzt dort oben Satelliten, die das
Kleingedruckte auf einer Dollarnote zu lesen vermögen. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß sie nichts wissen von der Existenz einer geodätischen Kuppel, die ein so großes Gebiet überzieht?« »Nicht, wenn man rundum eine Anzahl TriDiProjektoren angebracht hat, die sie einfach wie Teil der großen Wüste erscheinen lassen. Apparate, die lange vor Beginn irgendwelcher Bauarbeiten aufgestellt wurden, eine perfekte Tarnung. Machen wir uns doch gegenseitig nichts vor, G.C. – wir wissen beide, daß die Monarch Engineering, Ihre eigene Firma, einen Hundert-Millionen-Vertrag abgeschlossen hat, um einen Teil der Bauten auszuführen.« »Du bist sehr gut informiert für einen –« »Einen angeheuerten Schläger?« grinste Palance. »Verwechseln Sie mich nicht mit Mitchell, G.C. Ich trag die meisten meiner Muskeln im Kopf, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich mach es mir zur Pflicht, Bescheid zu wissen, darauf zu achten, was um mich herum vorgeht. Zum Beispiel haben Sie, bevor Sie hier reinkamen, das zweisitzige Sportflugzeug überprüft, das sie in dem armierten Bunker auf der anderen Seite des Hügels verstaut haben. Obwohl die Zeit knapp war und die erste ICBM bloß noch ein paar Minuten entfernt sein konnte. Vermutlich hatten Sie niemals die Absicht, länger als unbedingt nötig hier unten zu bleiben. Das war nur ein vorübergehendes
Fluchtloch, bis die Bomben zu fallen aufgehört hatten und die schlimmste Strahlung vorbei war.« »Woraus schließt du das?« erkundigte sich Gerry neugierig. »Weil das hier mit nur fünf anderen Menschen ein zu winziges Königreich für einen Mann wie Sie ist, G.C. Das bloße Überleben mag im Moment genügen, aber Sie wußten, daß es nicht lange dauern würde, bis die alte Machtgier Sie wieder packen und Sie ungeduldig nach etwas Ausschau halten lassen würde, was Sie organisieren, übernehmen könnten.« »Und dann?« »Offensichtlich – hatten Sie vor, von hier in die Kuppelstadt zu gehen, dem einzigen Ort auf dem ganzen verdammten Kontinent – vielleicht auf der ganzen Welt – mit genügend Menschen und Mitteln, Ihre Kräfte zu beschäftigen. In meinen Augen hat der Brand an Ihren Plänen nicht viel geändert, außer daß Sie Ihren Abflug jetzt vorverlegen.« »Interessant«, meinte Gerry. »Aber hast du vergessen, was du zuvor sagtest? Ohne Schutzanzug kann niemand hier raus und überleben.« »Nein, G.C. Ich hab's nicht vergessen, und Sie auch nicht. Unten im Hauptlagerraum lagen vier Anzüge. Ich hab sie vor zwei Tagen mit eigenen Augen gesehen. Vier – aber Sie haben sich keinen Deut drum geschert, obwohl Sie wußten, daß sie kaputt sind.«
»Wie kannst du das mit Sicherheit wissen? Vielleicht wollte ich die anderen nur nicht in Panik versetzen.« »Und vielleicht haben Sie vor, hier rumzuhocken und auf den Tod zu warten?« Palance lachte rauh. »Nein, G.C. – Sie nicht. Sie geben nicht so leicht auf. Sie haben Ihren Fluchtweg geplant, und das Feuer spielte dabei keine Rolle, oder?« Spielte keine Rolle, dachte Gerry. Mein Gott! Wie wenig du weißt. Aber freilich läge ein solcher Zustand gänzlich außerhalb des Erfahrungsbereichs von Palance – wie bei ihm auch, bis ihm Kay über den Weg lief und sein Leben umkrempelte. Es hatte Frauen gegeben; viele davon waren jetzt vergessen, andere noch schattenhaft in Erinnerung, aber zu keiner hatte er eine solche Beziehung gehabt wie zu Kay. Früher – sei's durch ihre Schuld oder seine eigene – blieb immer ein Teil seines Ichs unbeteiligt. Nur bei Kay verlor er seine Selbstsucht, wurde Liebe mehr als nur ein vorübergehendes sinnliches Vergnügen. Und jetzt war Kay tot. Und weil sie tot war – »Vier Anzüge, aber sechs Menschen. Sie würden kein solches Detail übergehen, G.C. – Sie nicht«, behauptete Palance überzeugt. Gerry zuckte die Achseln. »In Ordnung, Palance, also hast du's erraten. Ich wollte warten, bis die Strahlung draußen noch um einige Grad gesunken ist, dann wären wir –«
»Sie und Kay?« »Wer sonst?« Die nervöse Spannung war ein wenig von Palance gewichen, während er auf den großen grauen Metallschrank deutete. »Und die Anzüge sind da drin?« Gerry nickte. »Du willst, daß ich statt Kay dich mitnehme – nicht wahr?« »Wenn Sie's nicht vorziehen, daß ich Sie umlege und allein fliege«, erwiderte Palance. »Vorausgesetzt, du kennst die Kombination vom Bunkerschloß und weißt, wo die Flugzeugschlüssel zu finden sind«, erwiderte Gerry. Palance zeigte kurz die Zähne. »Schön, G.C., also sind Sie noch im Vorteil. Warum sich Sorgen machen? In meinen Augen spricht nichts gegen unsere Zusammenarbeit. Wir können einander nur nützlich sein. Wenn Sie in die Kuppelstadt kommen, sehen Sie die Dinge vielleicht in einem anderen Licht. Wenn Sie eine Übernahme planen, können Sie sicher einen Mann gebrauchen, der Ihre Methoden kennt – einen Mann, dem Sie trauen dürfen –« »Stimmt.« Gerry genoß den grotesken Humor an der Tatsache, daß Palance so sprechen konnte, während er ihn gleichzeitig mit vorgehaltener Pistole in Schach hielt. »Aber was geschieht mit Mitchell und den anderen?« Palance grinste triumphierend. »Hören Sie auf,
G.C., Sie brechen mir das Herz.« Er blickte auf den Schrank. »Ein Glück für uns beide, daß Sie große Frauen bevorzugen. Dieser Anzug dürfte mir passen. Haben Sie die Schlüssel?« »Hier bitte«, sagte Gerry ruhig. Er stand auf und steckte die Hand in die Hosentasche. »Hör mal, wenn wir zusammenarbeiten, hältst du's dann nicht an der Zeit, die Pistole wegzulegen. Sie macht mich nervös.« »Sie – nervös? Das ist ein Witz«, antwortete Palance. »Wissen Sie was, G.C.? Ich hätte das Ding ungern benützt. In gewisser Weise erinnern Sie mich an mich selbst.« Er legte die Pistole auf den Schreibtisch und nahm den Schlüssel aus Gerrys ausgestreckter Hand. »Wissen Sie, meiner Meinung nach verstehen wir uns deshalb besser. Wir sind beide skrupellose Kerle, aber wir können zusammenarbeiten. Wenn wir in die Kuppelstadt kommen –« Palance plauderte jetzt fast unbefangen, während er auf den Schrank zuging, sonnte sich in seinem Sieg. Er steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn. Die Tür begann gerade aufzuschwingen, als ihm Gerry rasch zweimal hintereinander in den Hinterkopf schoß. Die Wucht der Geschosse schleuderte Palance gegen den Schrank, wodurch sich die Tür schloß. Dann sackte sein Körper langsam zu Boden, und die Tür schwang abermals auf. Im Innern hing der einzige, dunkelgraue Schutzan-
zug gegen Radioaktivität starr am Haken wie der Balg eines anthropomorphen Monsters. Auf dem Boden lag ein Helm mit getöntem Sichtglas, daneben ein Luftfilterapparat und der Sauerstoffvorrat. Gerry blickte auf die Leiche von Palance. Der Mann hätte ihn sicher getötet, wenn er geahnt hätte, daß im Schrank nur ein Schutzanzug hing. Der zweite befand sich jetzt unter den verkohlten Trümmern in Kays Wohnung. Palance, der sich für so viel klüger hielt, hatte nicht bedacht, welche Wirkung die Einengung in einem Schutzanzug auf jemand mit Kays asthmatisch-klaustrophobischen Symptomen ausgeübt hätte. Sie hatte es versucht. Gott wußte, daß sie es bei einem Dutzend Trockenübungen versucht hatte, die sie beide allein in Kays Zimmer unternahmen. Und jedesmal mußte Gerry in weniger als einer Minute den Helm entfernen und ihr blau angelaufenes Gesicht freilegen, während Kay in einem erneuten Anfall nach Atem rang. Mit unglaublichem Mut bestand sie darauf, wenigstens einen Versuch pro Tag zu machen. Kay behauptete, daß ihr widerspenstiger Verstand letztlich doch dazu gezwungen werde, die Beengtheit innerhalb des Anzugs zu akzeptieren. Gerry mußte sie immer wieder leiden sehen; dabei war ihm die hoffnungslose Lage klar, und er verheimlichte absichtlich seine zunehmende Überzeugung, daß ihre geplante gemein-
same Flucht jetzt unmöglich sei; denn er wußte genau, daß Kay, wenn sie zur gleichen Schlußfolgerung kam, darauf bestehen würde, er solle allein gehen. Gerry war entschlossen, sie nicht zu verlassen, und begründete es sich selbst gegenüber damit, daß innerhalb von etwa sechs Monaten die Radioaktivität im Freien genügend gesunken wäre, um den Bunker ohne Schutzanzüge verlassen zu können. Jetzt, da Kay tot war, durfte er zugeben, daß diese Argumente Selbstbetrug gewesen waren. Praktische Hinweise zeigten, daß die Vorräte innerhalb des Bunkers längst aufgebraucht sein würden, bevor die Strahlung in der unmittelbaren Umgebung bis zu einem unschädlichen Grad herabgegangen wäre. Sonstwo mochte es anders sein, aber um dorthin zu gelangen, hätte Kay für einige Zeit einen Schutzanzug tragen müssen. Wäre kein Brand ausgebrochen, hätten sie fünfzehn Monate überleben können, sogar länger – wenn es ihm gelungen wäre, draußen Beute zu machen. Aber schließlich hätte es unter diesen Umständen nur einen denkbaren Ausgang gegeben. Selbst dann, sie wären wenigstens beisammen gewesen, jetzt – Ein Klopfen an der Tür unterbrach seinen Gedankengang. Gerry schloß den Schrank und drehte den Schlüssel um, bevor er rief: »Herein!« Der Neuankömmling war Buzz Mitchell; seine rot-
geränderten und trüben Augen wanderten von Gerry zu der zusammengebrochenen Leiche von Palance. »Alles in Ordnung, G.C.?« Gerry erkannte, daß er noch immer Palances Pistole in der Hand hielt. »Sicher, mir geht es gut. Dein Kumpel da setzte sich plötzlich Flausen in den Kopf und bedrohte mich mit diesem Ding.« Mitchell brummte: »Scheißkerl – hab ihm nie getraut. Hab immer gemeint, er würde sich eines Tages selbst überlisten.« Gerry steckte die Pistole in die Hosentasche. Diesmal war Mitchells Dummheit von Vorteil; er schien sich mit der Sachlage ohne eine Frage abgefunden zu haben. »Hat Inman die Schüsse gehört?« »Ich glaube nicht. Er führte vor einer Weile seine alte Schachtel in den Generatorenraum.« »Gut!« sagte Gerry. »In diesem Fall könntest du mir helfen, den Unrat da in die Schleusenkammer zu verfrachten. Ich kann ihn mitnehmen, wenn ich draußen hamstern gehe.« »Sicher, G.C., ganz wie Sie wünschen«, erwiderte Mitchell. Am folgenden Morgen sahen Inman, seine Frau und Mitchell zufrieden zu, während Gerry im Schutzanzug die Innentür der Schleusenkammer hinter sich schloß; er beruhigte sein Gewissen, indem er sich einredete, daß er ihnen nichts schuldig sei.
Schließlich hatten sie eine größere Chance als die meisten Menschen, die zur Zeit noch lebten. Obwohl es Anfang Juni war, zwitscherten keine Vögel in den Zweigen der Bäume mit ihren welken und braunen Blättern. Innerhalb von zehn Minuten befand er sich an Bord des Flugzeugs und schwebte westwärts über eine leblose Landschaft, die die widernatürliche Stille eines falschen, von Menschenhand heraufbeschworenen Herbstes gefangenhielt.
2 »In Ordnung, ich habe genug gesehen.« Moule wandte den Blick von der verlassenen Landschaft, die sich langsam auf dem Enzephalogramm-Schirm ausbreitete. Michael Davidson drosselte die Lautstärke. Der hochaufgeschossene Mann mit dem sich lichtenden blonden Haar und den knochigen Zügen, die eigens dafür hätten ersonnen sein können, Bedenken zu registrieren, blickte den vierschrötigen Aufsichtsleiter an. Eine nervöse Spannung zerrte an ihm. »Billigen Sie das Programm?« Moule brummte: »Vermutlich, aber ich muß schon sagen, daß Sie für einen der lautstärksten Vertreter unter den Gegnern der Gewaltanwendung ein beachtliches Talent besitzen, unnötig gräßliche Phantasien zu entwickeln.« »Ich machte nur Gebrauch von Clynes natürlichen Charakteranlagen«, erwiderte Davidson mit einer sorgfältig dosierten Spur Entrüstung. »Ich nehme an, daß er ohne größeren Zwischenfall in die Kuppelstadt gelangt?« fragte Moule leise. Er war ein häßlicher Mann unbestimmbaren Alters, dessen runder Kahlkopf zwischen breiten Schultern festsaß, so daß man keinen Hals erkennen konnte. Seine Gestalt
erweckte den Eindruck, als wäre sie unter außerordentlichem Zeitdruck geschaffen worden. Diese Wirkung wurde durch die Arme und Beine mit ihrer grobschlächtigen, massiven Struktur noch verstärkt. Nur die Augen mit ihrem ungewöhnlich blassen Gelbbraun milderten die allgemeine Derbheit. Zeitweilig waren sie sanft, fast weiblich in ihrer Ausdruckskraft. »Das Programm wird seinen Zweck ganz gut erfüllen«, meinte er. »Aber das bedeutet nicht, daß ich darüber glücklich bin. Warum zum Beispiel haben Sie Laura Frayne für die Rolle als Clynes Geliebte genommen?« »Man muß nehmen, was man bekommen kann«, verteidigte sich Davidson. »Solche Methoden sind allgemein üblich.« »Trotzdem stört mich in diesem Fall etwas. Speziell die Brandszene scheint mir darauf hinzuweisen, daß Sie gefährliche Zwangsvorstellungen entwickeln.« »Sie war ein unbedingt notwendiger Bestandteil des dramatischen Rahmens«, protestierte Davidson. »Wenn ein Programmierer danach beurteilt wird –« »Schon gut, Michael. Zweifellos sind Sie fähig, eine stichhaltige Begründung für die ganze Sache zu geben«, lenkte Moule ein. »Nur eine Frage – wieviel Zeit haben Sie mit der Erinnerungsphantasie des Verhältnisses zwischen Clyne und Kay aufgewandt?« »Als Teil der Charakterstudie mußte sie ausführlich untersucht werden.«
»Möglich – aber ich glaube nicht, daß es nötig war, so tief in speziell sexuelle Erfahrungsgebiete einzudringen«, erwiderte Moule. »Da bin ich anderer Meinung. Übermäßige Sexualität gehört zum Syndrom bei einem rührigen Paranoiker wie Clyne. Ich mußte die fraglichen Gebiete erforschen, wenn ich die dramatischen Bedürfnisse der Versuchsperson verstehen wollte.« »Eine Aufgabe, der Sie offensichtlich mit ansehnlicher Hingabe nachgekommen sind«, spottete Moule. »Nun, vermutlich hat es niemandem geschadet, vorausgesetzt, Clyne kommt nicht tatsächlich mit Laura Frayne in Kontakt. Sollte das der Fall sein, könnte es – so weit es ihn betrifft – eine unnötig spannungsgeladene Situation heraufbeschwören, und für Laura wäre es peinlich.« »Möglich, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich, nicht wahr?« »Hoffentlich«, sagte Moule nachdenklich. »Übrigens, wann ist Ihre nächste Psychenuntersuchung fällig?« »Ungefähr in einem Monat«, antwortete Davidson. »Warum, wollen Sie vielleicht andeuten –?« »Ich will gar nichts andeuten«, erwiderte Moule ruhig. »Die Arbeit eines Programmierers ist sehr anspruchsvoll und bringt große Verantwortung mit sich. Diese Untersuchungen dienen Ihrem eigenen Schutz.«
Davidson beobachtete zurückhaltend, wie der Aufsichtsleiter gewichtig quer durchs Zimmer zu dem Ruhebett ging, auf dem die Versuchsperson lag. Die obere Kopfhälfte bedeckte die schimmernde Silberschale der Programmierungsanlage. Clyne hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht war unnatürlich blaß auf Grund der betäubenden Wirkung des Kraftfeldes, das sein Gehirn umgab. Aber selbst in dieser Verfassung lag ein Ausdruck der Macht auf dem sinnlichen, schönen Antlitz mit den vollen Lippen und dem vorspringenden Kinn. Moule sagte: »Ich erhielt während des kurzen Überblicks keinerlei Hinweis auf die Maschinenpistole.« »Ich habe sie zur Standardausrüstung von Clynes Flugzeug gerechnet, zusammen mit zweihundert Schuß Munition.« Moule nickte. »Gut. Brenners Leute werden ganz schön mutlos, und Ulanov hat kürzlich ziemlichen Druck ausgeübt.« »Ich hätte es für besser gehalten, mit der Hilfe Meyers etwas zu unternehmen.« »Die Dinge abschwächen?« Moule wandte seine bernsteinfarbenen Augen dem Programmierer zu. »Haben Sie Meyers Berichte nicht gelesen? Bitten Sie Laura, Ihnen darüber kurz zu erzählen. Ich beginne zu zweifeln, ob er überhaupt fähig ist, weiterhin den
Posten eines Beobachters auszuüben, ganz davon zu schweigen, daß er Ulanov in Sachen Politik beeinflussen könnte. Nein, Clyne wird helfen, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Er ist ein klassisches Beispiel – rücksichtslos, forsch und klug genug, um es fertigzubringen, sich mehr als fünfunddreißig Jahre dem Ministerium zu entziehen.« »Wie ich seinen Gedanken entnommen habe, war er gar nicht so gewandt«, widersprach Davidson. »Aus der Aufzeichnung geht klar hervor, daß er seit vielen Jahren ein Soziopath der gefährlichsten Sorte gewesen ist. Aber ein Mann, der mit Siebenundzwanzig seine erste Million verdient, muß sich über die psychischen Routineuntersuchungen wohl keine allzu großen Sorgen machen, nicht wahr?« »Weiter«, bat Moule ruhig und sah noch immer hinunter auf Clyne. »Ich bin ganz sicher, daß Clyne in gewissen Kreisen beträchtlichen Einfluß besessen haben muß. Er ist ein typisches Beispiel für Leute seines Schlages. Der Patient kommt mit einem sozialen Verbrechen nach dem anderen davon und entwickelt eine immer größere Geringschätzung für das Gesetzbuch, bis er schließlich etwas begeht, das einfach nicht mehr beglichen werden kann. In diesem Augenblick sind seine mächtigen Freunde – wie kostspielig das für sie auch sein mag – gezwungen, entweder ihren Schutz
abzuziehen oder ihre Beteiligung aufzudecken. Gewöhnlich wählen sie zu Gunsten ihrer eigenen Sicherheit die erste Möglichkeit, und der Patient wird der Tilgung und Erneuerung unterzogen oder zu uns geschickt.« »Wo er eine Umwelt erhält, in der er seine soziopathischen Aggressionen abreagieren kann«, ergänzte Moule. Davidsons Züge verrieten seine innere Erregung, als er sagte: »Und gut sterben könnte auf Grund der Situation, die Sie innerhalb des kontrollierten Gebietes hergestellt haben.« Moule blieb unzugänglich. »Selbst wenn dies passiert – und Sie müssen zugeben, daß es selten vorkommt, – kann es vom Standpunkt des Patienten nicht schlimmer sein als der sogenannte ›kleine Tod‹ der Tilgung, der den roten Faden des Bewußtseins zerreißt.« Davidson spürte, wie sich seine Bauchmuskeln spannten. Könnte er doch nur ein einziges Mal Moules Gleichmütigkeit durchdringen und ihm eine ärgerliche Antwort entlocken. »In Ordnung, wir wahren den Zusammenhang. Aber das ergibt noch immer keinen richtigen Sinn, weil wir nie jemand zurückschicken.« »Sie wollen sagen, daß wir bisher noch niemanden zurückgeschickt haben«, verbesserte Moule. »Und
zwar deshalb, weil unsere Aufgabe in dieser Phase eher der Forschung als der Therapeutik dient. Wir lernen durch die Beobachtung des Innenraums jeden Tag mehr über die soziopathischen Gesichtspunkte der Person.« »Möglich, aber das betrachte ich nicht als ausreichende Rechtfertigung, daß wir diese unglücklichen Menschen ewig dazu ermutigen, einander zu töten, zu verstümmeln und sich wie in einem Sack eingesperrte Wildkatzen zu bekämpfen.« Moule schüttelte mit aufreizender Ruhe den Kopf. »Mein lieber Michael, Sie lassen sich gefühlsmäßig zu sehr verstricken – ein Fehler, der sich sowohl auf Ihr berufliches als auch Ihr privates Leben auswirkt. Sie müssen es doch als Wissenschaftler zu schätzen wissen, daß wir hier eine einzigartige Möglichkeit besitzen zur Untersuchung der menschlichen Psyche, wie sie einem Wissenschaftler niemals zuvor zugänglich war.« »Entweder das, oder wir betreiben das grausamste, marktschreierischste Gottspiel, das jemals von Menschen mit Angehörigen ihrer eigenen Spezies durchgeführt wurde«, erwiderte Davidson. Die blassen Augen des Aufsichtsleiters blieben mild. »Ein interessanter Standpunkt«, bemerkte er nachdenklich. »Sie wollen scheinbar andeuten, daß das ganze Projekt nur der Befriedigung meiner per-
sönlichen Laune dient; ungefähr wie ein verrückter römischer Herrscher, der sich selbst von seiner Göttlichkeit überzeugt, indem er auf Tausende unglücklicher Sklaven Macht über Leben und Tod ausübt. Die Wahrheit ist viel weniger dramatisch, wie Sie wissen. Was im Innenraum geschieht, ist nur eine logische Extrapolation an Hand der Prinzipien der Daseinsanalyse, die Saing vor über hundertfünfzig Jahren festgelegt hat, und unter sorgfältig geplanten Bedingungen ausgeführt wird.« »Eine Methode, deren Gültigkeit zur damaligen Zeit oder seitdem nicht definitiv anerkannt wurde«, erinnerte Davidson. »Ich glaube, daß sie den geistig kranken Mitgliedern unserer Rasse eine größere Chance einräumt als das scheinchirurgische Verfahren der Erneuerung. Letzteres behandelt das menschliche Gehirn wie ein Geduldspiel, bei dem nach Belieben Einzelteile entfernt und ersetzt werden können«, verteidigte sich Moule. »Das kommt doch sicherlich jenem Gottspiel näher, das Sie mir vorwerfen?« Er blickte auf die Wanduhr. »Ich muß mich verabschieden. Ich überlasse Ihnen die Vorbereitung der Überführung.« Moule ging zur Tür. »Jawohl, Herr Direktor«, antwortete Davidson und erkannte, daß es keinen Sinn hatte, das Streitgespräch fortzuführen. Sie waren wieder einmal bei einem alt-
bekannten toten Punkt angelangt. Im Prinzip war er ja mit Moule einer Meinung; er verabscheute nur die Methoden des Mannes. Davidson erkannte, daß die Vermutung, er nähme gefühlsmäßig zuviel Anteil, in gewisser Weise stimmte. Dies war eine Neigung, die er im Zaum zu halten versucht hatte, aber früher oder später schien ihn seine übermäßige Intensität immer in eine Lage zu bringen, die wieder einmal seine eigene Verwundbarkeit deutlich machte. Er sah sich selbst wie ein Matador mit dem Leben spielen, der sich, wenn die Vernunft ihm dazu rät, nicht aus der Arena zurückziehen kann wegen seiner Verpflichtung, auszuharren und immer gefährlichere Tricks vorzuführen, bis er schließlich doch wieder auf die Hörner genommen wird. Sein Verhältnis zu Laura Frayne war dafür ein typisches Beispiel. Ihre Gleichgültigkeit wirkte wie ein Magnet, das ihn dazu veranlaßte, sie um so mehr zu hofieren, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und sei es auch nur, damit sie ihn mit einem verächtlichen Blick quälte. Zweifellos kam Moules angedeutete Analyse der Brandszene in Clynes Programmierung der Wahrheit ziemlich nahe. Daß er Laura zur Verkörperung der Rolle von Kay benützt hatte, war eindeutig ein Racheversuch für die Demütigung, die er durch sie erlitten hatte: ein gefährlich psychotischer, wenn man es genau betrachtete. Seine Wangen brannten, als un-
gewollt die Erinnerung zurückkehrte. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn Laura ein romantisches Ideal gewesen wäre, unerreichbar – aber sie ganz besessen zu haben und dann abgewiesen worden zu sein, das stieg ihm jedesmal wie Galle auf, wenn er daran dachte – Gewaltsam löste er seine Gedanken vom ausgetretenen Pfad der Selbstuntersuchung und beschäftigte sich mit der Fertigstellung von Clynes Programmierung. Wenigstens dabei wollte er seine Fähigkeit auf eine Weise zeigen, daß sie Laura, Moule und allen übrigen nicht entgehen konnte. Es lag ein wenig Befriedigung im Wissen darum, daß Clyne unter seiner Kontrolle eine Waffe sein würde, die die Realität zerstören konnte, die Moule im Innenraum geschaffen hatte. Die Soziopathen, mit denen sich das Projekt beschäftigte, waren höchst unterschiedliche, intelligente Menschen. Zumindest in einer Hinsicht hatte Moule recht: Tilgung und Erneuerung brachten keine Lösung; diese erforderte die Tilgung eben jener Elemente, die sie zu Individuen machten, und beschrieb die somit entstehende Tabula rasa mit bewährten unschädlichen Linien. Der Vorgang ließ sie zu sozial nützlichen, sich anpassenden Robotern werden, jedoch nicht zu menschlichen Wesen. Tilgung und Erneuerung war die allgemein anerkannte Methode zur
Behandlung von Soziopathen, weil sie jene Anpassung bewirkte, welche die Staatsoberhäupter verständlicherweise für den glatten Ablauf einer übervölkerten, überorganisierten Gesellschaft als wichtig erachteten. Die gleichen Staatsoberhäupter erkannten jedoch nicht, daß die meisten Fortschritte der gegenwärtigen Gesellschaft auf der Erde in erster Linie eben von jenen individuellen Köpfen entwickelt worden waren, die man jetzt so eifrig auszulöschen trachtete. Die Situation hatte geschichtliche Parallelen. Als der Mensch die Grenzen der Erde erweiterte und trotz aller Gefahren neue Gebiete erschloß, war die starke Persönlichkeit, der die Waffe schnell handhabende Killer, für das Überleben der Allgemeinheit notwendig. Als aber die Gesellschaft weniger primitiv und die Gefahr von auswärts geringer wurde, ließen dieselben Charakteranlagen, die diese Männer zu natürlichen Verteidigern für sie gemacht hatten, diese jetzt zu Mördern und Verbrechern werden, zu Feinden der Gesellschaft. In Wirklichkeit hatte sich nicht der Mensch geändert, sondern die Gemeinschaft, die lieber statisch blieb, als sich auszudehnen. Gewissermaßen war das ganze Menschengeschlecht jetzt eine statische Gemeinschaft geworden; 99,9 Prozent lebten auf einer übervölkerten Erde, obwohl die anderen Planeten des Sonnensystems – wenigstens theoretisch
– der Kolonisierung offenstanden. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn sich die Planeten dem menschlichen Leben gegenüber gastfreundlicher gezeigt hätten, aber selbst die feindliche Umwelt, die sie boten, hätte die Besiedlung nicht verhindert, wenn im Menschen noch genügend Pioniergeist lebendig geblieben wäre. Deshalb lag jetzt die gewaltige Kuppel, die der ersten Kolonie auf dem Mars als Heim dienen sollte, unbenutzt da. Sie wartete seit über fünfzig Jahren auf Kolonisten, die auf Grund einer Kombination aus stümperhafter Verwaltung, schlechten Beziehungen zur Öffentlichkeit und Teilnahmslosigkeit niemals eintrafen. Dies war so geblieben, bis die Abteilung für Soziopsyche vor etwa sieben Jahren einen geeigneten Platz für das geplante Projekt einer kontrollierten Umwelt zu suchen begann. Angespornt durch die Tatsache, daß es offenbar unmöglich war, auf der überfüllten Erde einen bewohnbaren, aber isolierten Platz zu finden, wurde eine Forschungsgruppe auf den Mars geschickt. Dort fand man, daß die Erbauer der alten Siedlungskuppel ihre Aufgabe besser ausgeführt hatten, als sie selbst wissen konnten. Die sich selbst ausbessernde, vierzig Quadratkilometer umfassende Kuppel mit ihrer eigenen von einem Computer gesteuerten Wetteranlage war jetzt ein üppiges, subtropisches Sy-
stem, in dem die ursprünglich eingeführte Flora und Fauna gediehen und gewachsen war. Auf dem öden Mars erwartete die Menschheit ein neuer Garten Eden, der die Versprechungen mehr als erfüllte, mit denen man vor so vielen Jahren erfolglos Kolonisten von der vertrauten Sicherheit der Erde fortzulocken versuchte. Die Abteilung ging in ihrer gewöhnlich zügigen Weise vor. Innerhalb von sechs Monaten hatte man neben dem Original eine kleinere Kuppel gebaut und mit Hilfe eines sorgfältig ausgeklügelten Systems damit verbunden. Dieses System ermöglichte den Beobachtern in dem neuen Kontrollturm die Aufzeichnung aller Vorgänge in der ursprünglichen Kuppel, welche von den am Projekt Beteiligten einfach Innenraum genannt wurde. Darüber hinaus war der Kontrollturm mit dem Innenraum durch ein unterirdisches Straßennetz verbunden, so daß – falls physisches Einschreiten innerhalb des Gebietes notwendig wurde – an einer der zwölf sorgfältig verborgenen Stellen Rollenspieler eingesetzt werden konnten. Auch wenn die unterirdischen Eingänge nicht versteckt gewesen wären, war zu bezweifeln, ob eine der Versuchspersonen im kontrollierten Gebiet versucht hätte, sie zu benützen. Die Programmierung, die ihrem Gehirn eingepflanzt wurde, bevor man sie im Innenraum aussetz-
te, vermittelte die feste Überzeugung, daß außerhalb der Kuppel nur radioaktiv verseuchte Wüste lag, die ein Überleben unmöglich machte. In dieser Hinsicht war die Programmierung aller Bewohner des Innenraums identisch, darüber hinaus gab es jedoch viele Variationen. Jeder Fall mußte von dem Programmierungsspezialisten individuell behandelt werden. Als Grundlage diente eine genaue Studie des Gehirns der einzelnen Person. Die Programmierung war eine heikle Angelegenheit, mehr Kunst als Wissenschaft, bei der sehr viel von der Diskretion des Programmierers und seiner persönlichen Interpretation des ihm zur Verfügung gestellten Materials abhing. Eine gewisse Tilgung gehörte dazu: man mußte die unmittelbare Erinnerung des Patienten entfernen, die sich auf die Umstände seiner Verhaftung durch Beamte der Abteilung für Soziopsyche und der späteren Klassifizierung als gefährlicher Soziopath bezog. Verglichen mit der Gründlichkeit, die man beim Verfahren Tilgung und Erneuerung anwandte, war es jedoch ein geringerer Eingriff in die Gehirnstruktur; ungefähr wie ein Zahnarzt, der zwar bohrt, aber den größten Teil des Zahns sowie dessen Wurzeln verschont und darauf eine neue Krone setzt. Anschließend bestand die Aufgabe des Programmierers darin, eine auf den Patienten zugeschnittene Abart von der Grundgeschichte über die atomare Katastrophe auf-
zubauen; außerdem eine bestätigende Rationalisierung, warum sich die Versuchsperson im Innenraum wiederfindet – eine Möglichkeit, die sowohl mit Charakter als auch vorhandenem Erinnerungsvermögen übereinstimmen mußte. Wenn diese Bindeglieder von einem erfahrenen Programmierer gefälscht wurden, akzeptierte die Versuchsperson ihren Posten im Innenraum ohne Frage und handelte ausnahmslos in Übereinstimmung mit der falschen Erinnerung, die ihr eingepflanzt worden war. In dieser Beziehung zeigte es sich, daß die Gehirnstruktur auf seiten der Programmierer stand, weil Verstand wie Natur eine Leere verabscheuen und ein Rationalisierungsnetz über die blanken Stellen weben, die die teilweise Tilgung zurückläßt – wie sich zum Beispiel auch der Körper selbst heilt und vernarbt. Dieser Vorgang untermauerte die subjektive Wahrheit der neuen Wirklichkeit, die dem Gehirn des Patienten eingepflanzt wurde, und er akzeptierte noch bereitwilliger den vom Programmierer geschaffenen Streifen als eigene Erfahrung. Ein grünes Licht leuchtete auf der Schalttafel vor Davidson und zeigte an, daß das Band abgespielt war. Davidson sah auf den Bildschirm, der mit Clynes Wahrnehmungszentren verbunden war, um seine subjektive Ansicht der in sein Gehirn eingepflanzten Ereignisse zu zeigen. Erschrocken erblickte er das Ge-
sicht jener Frau, an die sich Clyne jetzt als Kay erinnern würde: groß und schlank, mit kurzem, kunstvoll zerzaustem, honigblondem Haar und einem breiten Mund, der immer zu lächeln schien. Klar und unverkennbar war das Bild spontan an die Oberfläche von Clynes Träumen getrieben. Schnell schaltete Davidson den Bildschirm ab. Aber das Bild verweilte vor seinem geistigen Auge, während er zu dem Ruhebett trat und mit zitternden Händen die Silberschale der Auslösungsanlage von Clynes Kopf abzumontieren begann.
3 Laura Frayne zögerte vor Michael Davidsons Wohnungstür. Erfahrung und Ahnung sagten ihr, daß sie wie eine Närrin gehandelt hatte, weil sie seinem Videoruf gefolgt war. Während der vergangenen zwei Monate sollte sie eigentlich genug Erfahrung gesammelt haben, um vorsichtig zu werden; und trotzdem tappte sie immer wieder mit offenen Augen in Situationen wie diese, vermutlich wegen irgendwelcher verborgener Schuldgefühle darüber, wie sie mit Davidson umgesprungen war. Laura ballte die Hände zu Fäusten, als ihr bewußt wurde, daß sie tatsächlich auf einen Regisseur wartete, der ihr eine Anweisung für die Szene gab, die sie spielen wollte – der ihr zu verstehen gab, wie gefühlsmäßiger Tonfall und Einleitung sein sollten. Aber es gab keinen Regisseur. Dies war das Leben, keine Szene aus einem Sensorendrama. Es gab keine Schnitte und – vielleicht am wichtigsten – keine Wiederholungen. Wenn man in diesem Drama einen Satz verpfuschte, konnte daran nichts mehr geändert werden. Das Leben war das Leben – Und manchmal wurde es zur Hölle. Ihre Arbeit im Kontrollturm war in gewisser Hinsicht recht dankbar, aber es gab Zeiten, in denen sie in den frühen Mor-
genstunden aufwachte und über die mögliche Fortsetzung ihrer ehemaligen Karriere nachdachte. Bis zu ÖSTLICHE FLAMME war sie eine unbekannte junge Schauspielerin gewesen und hatte Nebenrollen gemimt. Anfangs schien es, als wäre die Rolle der Natascha in Berghoffs letzter Produktion nichts weiter als eine Fortsetzung der leicht ansteigenden Kurve ihres beruflichen Werdegangs. Die Rolle des weiblichen Soldaten, wie man sie ursprünglich im Drehbuch skizziert hatte, war so klein, daß sie sehr gut auf dem Boden des Schnittraums enden mochte, ganz gleich, wieviel Leben sie hineinlegen konnte. Genauso hätte es sein können, wenn nicht eine Reihe von Zufällen dazwischengefunkt hätte. Der erste war Haß auf den ersten Blick zwischen Kurt Jagerman und Helen Pomeroy, den beiden romantischen Hauptdarstellern. Bereits vor Probenbeginn wurde deutlich, daß eine Liebschaft zwischen den beiden ebensowenig Chancen besaß, wie wenn ein toter Vogel Strauß aufstehen wollte. In den alten Kino- und Fernsehtagen wäre es eventuell möglich gewesen, dieses Hindernis zu umschiffen – in der Tat war eine solche Situation ziemlich häufig, wenn man den alten Aufzeichnungen und Filmen glauben durfte. Aber das Sensorendrama verlangte den Hauptdarstellern wesentlich mehr ab als die rein äußerliche Vortäuschung von Gefühlen.
Berghoff hatte vor, FLAMME in den üblichen zwei Fassungen herauszubringen: einer männlichen und einer weiblichen. Die männliche bediente sich des Standpunkts und der Empfindungen von Jagerman in seiner Rolle als Karanin, dem sowjetischen General; die weibliche derjenigen von Helen Pomeroy als nordamerikanische Botschafterin Carmelita O'Rourke. Das Werk sollte ein typisches Berghoff-Epos werden: enorme zusätzliche Besetzung und kolossale Szenerien, jedoch mit dem intimen Kontrapunkt von der leidenschaftlichen Liebesbeziehung zwischen Karanin und der Botschafterin. In dieser Hinsicht durfte es kein Vortäuschen oder Synchronisieren geben – es mußte echt sein oder überhaupt nicht. Bei anderen Produktionen wurden manchmal ein oder beide Hauptdarsteller ein wenig vorprogrammiert. Man munkelte zum Beispiel, daß Gaston Morel für seine Hauptrolle in STERNENWANDERER vorbereitet werden mußte; aber wenn man das Thema und Gastons legendäre bisexuelle Veranlagung bedachte, gab es in diesem Fall einen triftigen Grund dafür. Berghoff weigerte sich jedoch, solche Kunstgriffe anzuwenden. Er forderte von seinen Schauspielern die ganze gefühlsmäßige Beteiligung und behauptete, daß die Empfindungsqualität der Aufzeichnung durch jegliche Vorprogrammierung beeinträchtigt werde. Sein Glaubensbekenntnis lautete, daß das Sensorendrama die volle emotionelle
und physische Wahrheit darstellen solle und dies nur durch aufrichtige Beteiligung von Seiten der Hauptdarsteller erreicht werden könne. In der ersten, stürmischen Drehbuchsitzung lag es auf der Hand, daß die Pomeroy und Jagerman gänzlich teilnahmslos blieben. Die Pomeroy hatte außerdem bei einem Fernsehinterview mit Bibsy Gordon die Lage noch verschärft durch ihre Erklärung, daß sie nicht die Absicht habe, eine Vorprogrammierung auch nur in Erwägung zu ziehen. Ein zusätzlicher Störfaktor war, daß Jagerman seine offensichtliche Zuneigung für Laura während der ersten Probesitzung nicht verheimlichte. Laura wußte um ihre eigene positive Reaktion auf Jagermans Interesse, doch unternahm sie zu diesem Zeitpunkt jeden erdenklichen Versuch, ihre Gefühle zu verbergen. Als kleine Schauspielerin kannte sie die Gefahr eines Angriffs auf die Pomeroy. Letztere war dafür berüchtigt, den Kopf jeder tiefer gestellten Person zu fordern, die sich ihr in den Weg stellte. Die Sitzungen waren dem Namen nach demokratisch und jedermann dazu berechtigt, seine Meinung frei zu äußern; aber Berghoff war schließlich Berghoff. Die Pomeroy ließ sich zu einem – selbst für sie – ungewohnt heftigen, ordinären Wutanfall hinreißen und überschritt ihre Befugnisse, indem sie Textänderungen verlangte, die im gänzlichen Widerspruch zu
Berghoffs Vorstellung von seinem Werk standen. Der dabei entstehende Konflikt gipfelte darin, daß Helen Pomeroy schwungvoll aus dem Zimmer rauschte, mit einem Abgangssatz auf den Lippen, welcher selbst die abgebrühtesten Drehbuchautoren rot werden ließ. Der Rest wurde in den Annalen des Sensorendramas Geschichte. Niemand, der Berghoff im Stich ließ, bekam zum zweitenmal die Gelegenheit, mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Pomeroy war für immer erledigt. Doch folglich stand Berghoff vor dem Problem, daß er den teuren Studioraum für drei Monate im voraus gebucht hatte, zusammen mit zweihundert Schauspielern und viermal soviel Technikern unter Vertrag. Deshalb war es nicht erstaunlich, daß er gierig nach einem Vorschlag griff, den Kurt Jagerman unterbreitete. Jagermans Idee lautete, die Handlung zu ändern und Lauras Rolle der Natascha zur Hauptrolle umzubauen; der nordamerikanische Botschafter wurde mit einem männlichen Charakterdarsteller besetzt. Man führte die Produktion auf dieser Linie weiter. Das Endergebnis nach fünf Monaten Drehzeit und fast vier der Bearbeitung wurde als Berghoffs Meisterstück anerkannt, als Höhepunkt seiner Karriere. Ein geschichtsbegeisterter Kritiker verglich es sogar mit Griffiths GEBURT EINER NATION. Die Liebesszenen zwischen Laura und Jagerman bejubelte man
als neuen Höhepunkt auf dem Gebiet der gefühlsmäßigen und sinnlichen Wahrnehmung. Laura fand sich plötzlich zum führenden weiblichen Star des Sensorendramas ihrer Epoche erklärt. In dieser Beziehung war ihr Aufstieg zum Startum ein Klischee, der Erfolgstraum jeder jungen Schauspielerin. Im Rückblick mußte Laura sich eingestehen, daß eine so schnell aufgeblähte Blase letztlich zerplatzen mußte, doch momentan schien dieses Ereignis ihr ganzes Leben zu verändern. Das traf zu, aber nicht ganz so, wie sie erwartete. Es begann ziemlich bald, nachdem die Bewertungsziffern einzutrudeln anfingen. Sie zeigten deutlich, daß die Natascha-Version von FLAMME die KaraninFassung in einem Verhältnis von mehr als drei zu eins ausstach, selbst bei den männlichen Sensorendrama-Fans. Ein beispielloses Phänomen. Eitelkeit ist gewöhnlich das Laster eines jeden Schauspielers, und Kurt Jagerman bildete dabei keine Ausnahme. Daher war es nicht weiter überraschend, daß er den plötzlichen, ihn ausstechenden Erfolg dieses unbekannten Mädchens, dem er bei seinem Aufstieg von kleinen Rollen zum Startum geholfen hatte – wenn auch hauptsächlich auf Grund seiner eigenen Gelüste – übelzunehmen begann. Ihr Verhältnis ging unglaublich schnell in die Brüche. Jagerman verließ sie nach einer Szene, bei der
das luxuriöse Penthaus, das sie gemeinsam bewohnten, praktisch zum Trümmerhaufen wurde. Laura blieb als zitterndes, fast katatonisches Häufchen Elend zurück. Ihre Zofe entdeckte sie ein paar Stunden später in diesem Zustand und besaß die Geistesgegenwart, Berghoff anzurufen. Der Regisseur veranlaßte augenblicklich ihre Verlegung nach Vanbrugh Lawn, der exklusivsten privaten Nervenklinik auf dem Festland. Dort erhielt sie die beste Behandlung, die für Geld zu bekommen war. Theoretisch hätte sie nach ihrer Entlassung drei Monate später und einer vernünftigen Genesungszeit dazu imstande sein müssen, wieder in die Laufbahn zurückzukehren, die Berghoff für sie bereits geplant hatte – angefangen mit einer Fortsetzung von FLAMME, später ein neues, historisches Werk, frei nach Shakespeares ANTONIUS UND KLEOPATRA. Aber trotz der Bestätigungen ihrer Psychiater schreckte Laura in einem solchen Maße davor zurück, daß sie praktisch unfähig war, auch nur den Fuß in ein Sensorendrama-Studio zu setzen. Diese Angst saß so tief, daß man ihren Fall schließlich ohne völlige Tilgung und Erneuerung für hoffnungslos erklärte. Und eine derartige Behandlung kam nicht in Frage, weil sie bedeutet hätte, daß Laura mit einer gänzlich anderen Individualität als jener, die sie als Sensorendrama-Star so erfolgreich gemacht hatte, daraus hervorgegangen wäre.
Angesichts dieser Situation reagierte sie mit typischem Mut und faßte einen Entschluß, der ihre Persönlichkeit unangetastet ließ und gleichzeitig ihrem Leben einen neuen Sinn gab. Sie ließ jeden Gedanken auf eine Fortsetzung ihrer Karriere als Schauspielerin fallen und schrieb sich für einen Kurs beim soziopsychischen Institut ein. Nach vier Jahren war Laura eine voll ausgebildete Psychendrama-Spezialistin. Bald darauf bewarb sie sich um eine freie Stelle im Mitarbeiterstab des Projekts auf dem Mars. Seitdem arbeitete sie in der Abteilung zur Ausbildung und Überwachung der Belegschaft, die als Rollenspieler in den Innenraum geschickt wurde. Ihre frühere Erfahrung auf dem Gebiet des Sensorendramas und ihre Hingabe hatten sie so erfolgreich sein lassen, daß sie seit einem Jahr Abteilungsleiterin war. Doch trotz der neuen Kenntnisse über das Wirken der Persönlichkeit, die ihr ihre Ausbildung vermittelt hatte, blieb Laura bis zu einem gewissen Grad bei ihren Beziehungen zum männlichen Geschlecht auch weiterhin gefühlsmäßig anfällig. Zweifellos existierten die traumatischen Narben aus der Episode mit Jagerman noch immer tief vergraben in ihrer Psyche, aber sie vermutete, daß die wirkliche Ursache sogar noch tiefer lag: ein Druck, der es ihr unmöglich machte, mit einem Mann ein festes Verhältnis einzugehen. Auf Grund dessen hatte sie während ihres Aufent-
halts auf dem Mars etliche Liebschaften, die nach einiger Zeit alle ohne viel Gewissensbisse endeten – bis sie sich mit Michael Davidson einließ – Es war bereits zu spät, ehe ihr klar wurde, daß Michael einen solchen Bruch nicht akzeptieren konnte. Statt zu verstehen, daß ihr Verhältnis auf vernünftige, zivilisierte Weise beendet werden sollte, veranstaltete er eine heftige, rührselige Szene und beschuldigte sie der absichtlichen Grausamkeit, weil sie seine Liebe zurückwies. Liebe – Jetzt wurde deutlich, daß sich ihre Auffassung über dieses Gefühl gründlich unterschied. Richtig oder fälschlich war Laura zur Überzeugung gelangt, die Liebe als Teilhaben am körperlichen Vergnügen verbunden mit einer gewissen gegenseitigen Zuneigung zu betrachten. Dies schien ihr die vernünftige Definition eines Verhältnisses, das – auf Grund der Grenzen ihres Naturells – nicht dauerhaft sein konnte. Für Michael Davidson bedeutete das Wort hingegen – wie sie herausfand – etwas völlig anderes. Liebe war für ihn eine Waffe, ein Mittel, um eine andere Person zu besitzen und sie hinter Gefühlswänden einzukerkern. Jedesmal, wenn er sie während der vergangenen zwei Monate allein zu fassen bekam, hatte er ihr Vorwürfe gemacht, sie angefleht, sie bedroht – je nach Laune; und jedesmal hatte sie die Begegnung
beendet mit der Wiederholung ihrer Entscheidung, daß es zwischen ihnen aus sei. Laura bedauerte ihn, aber gerade deshalb erschien ihr die eventuelle Fortsetzung der sexuellen Beziehungen widerwärtig. Verdammt! Man kann nicht ständig mit einem Mann ins Bett gehen, weil man Mitleid mit ihm hat – und was wäre das für ein Mann, der eine solche Situation akzeptieren würde? Als er sie vor einer halben Stunde anrief und sie bat, in seine Wohnung zu kommen, war Lauras erste Reaktion, ihm eine glatte Absage zu erteilen und die Verbindung zu unterbrechen. Aber es lag etwas in seinem Tonfall, in der Art, wie er sagte: »Komm, Laura, ich brauche deine Hilfe. Ich kann es über das Videofon nicht erklären.« Es war eine dringende Bitte, aber in einem von der Gewohnheit abweichenden Ton. Sie drückte auf den Türknauf und nahm sich währenddessen vor, daß sie sich beim ersten Anzeichen für rührselige Erpressung sofort verabschieden würde. »Laura – schön, daß du so schnell gekommen bist«, begrüßte er sie und lächelte ihr zu. »Nimm Platz. Was darf ich dir anbieten – das übliche?« Sie beobachtete ihn wachsam, während sie sich in einen der beiden rostfarbenen Sessel setzte. Als er zum Wandspender hinüberging, wurde die Verände-
rung, die bereits am Videofon ersichtlich war, noch deutlicher. In seiner Stimme klang neue Stärke durch, und jede Bewegung drückte Entschlossenheit aus. Er reichte ihr eines der gekühlten Gläser, in denen das Eis klirrte; dann setzte er sich ihr gegenüber. »Du fragst dich sicher, warum ich dich zu kommen bat?« Sie nickte und wunderte sich noch immer über das Schwinden der alten Verdrossenheit, die neue Selbstbeherrschung. »Ich habe die erste Phase des Plans eingeleitet«, begann er ruhig. »Ein Mann namens Clyne. Pelissiers Leute bringen ihn jetzt in den Nordsektor.« »Der Plan – aber ich dachte –« Sie starrte ihn erschrocken an. »Du dachtest, es sei alles nur Geschwätz?« »Nun, nein, aber –« »Warum es nicht zugeben? Du hast nie wirklich geglaubt, daß ich den Mumm zum entscheidenden Schritt haben würde, nicht wahr? Du dachtest, ich sei auch nur ein Revolutionär auf dem Papier – wie die anderen.« Es hatte keinen Zweck, was er sagte, zu leugnen. Die Gruppe, die mit Moules Methoden in Punkto Leitung des Innenraums nicht einverstanden war, versuchte ihre Meinung oft in der soziopsychischen Zentrale auf der Erde laut werden zu lassen; aber solche Appelle erwiesen sich als nutzlos. Was die Abteilung
betraf, war Moule der Leiter des Projekts auf dem Mars, und als solcher konnte seine Autorität nicht angezweifelt werden. Angesichts dieser offiziellen Sturheit mußte die Gruppe erkennen, daß sie auf ihre eigene Tatkraft angewiesen waren, wenn sich im Innenraum wirklich etwas ändern sollte. Die eine Möglichkeit bestand darin, Moule abzusetzen und die Leitung selbst zu übernehmen, aber dies hatte beträchtliche latente Nachteile. Genaugenommen wäre es Meuterei, die sicherlich ein Eingreifen der terranischen Behörden nach sich ziehen würde. Obwohl sie letztlich vielleicht die Rechtschaffenheit ihrer Motive und Handlungsweise rechtfertigen konnten, entstünde sicher ein langer Rechtsstreit, währenddessen man nichts unternehmen würde, um die Lage im Innenraum zu ändern. Sie waren sich einig über die Nachteile dieses Weges und hatten schließlich einen Vorschlag von Davidson angenommen, daß sie – statt das Problem durch Moule anzugehen – die gewünschten Veränderungen im Innenraum besser dadurch hervorrufen könnten, indem sie zwei Personen mit eigens darauf zugeschnittener Programmierung in das Gebiet einschleusten. Diese Patienten – einer im nördlichen und einer im südlichen Sektor – mußten äußerst beherrschende Persönlichkeiten besitzen; natürliche Führer, die beide ihren Willen einer der zwei Bevölkerungsgruppen vom Innenraum
aufzwingen, gleichzeitig jedoch gesteuert werden konnten, falls nötig. Einige aus der Gruppe hatten Zweifel angemeldet über die eventuellen Schwierigkeiten, zwei derartige Persönlichkeiten unter Kontrolle zu halten. Doch schließlich siegten nach zahlreichen Diskussionen Davidsons wiederholte Versicherungen, daß diese Probleme durch sorgfältige Programmierung überwunden werden könnten, und mangels einer anderen durchführbaren Möglichkeit fand man sich mit dem Plan ab. Im Prinzip. Laura fragte sich, wie wohl die weniger begeisterten Gruppenmitglieder reagieren würden, wenn sie erfuhren, daß Davidson die erste Phase des Plans bereits eingeleitet hatte. »Hast du schon mit jemand anderem darüber gesprochen?« fragte sie. Davidson schüttelte den Kopf. »Nein – ich wollte zuerst mit dir reden, weil die komplizierten Eingriffe an uns beiden hängenbleiben. Ich habe Clyne programmiert und sollte ihn unter Kontrolle halten können, doch die Mitarbeit der Rollenspieler – besonders die von Torrance – wird unentbehrlich sein.« »Aber Torrance weiß nichts von dem Plan«, wandte Laura ein. »Wenn er davon ahnte –« »Würde er wahrscheinlich sofort zu Moule gehen und uns entlarven? Ja, das habe ich bereits in Erwägung gezogen. Aber denk daran, daß Clynes Einset-
zung in das Gebiet bloß der erste Schritt ist. Es bleibt noch viel zu tun, ehe er die erforderliche Wirkung im nördlichen Sektor erzielen kann. Bevor dies geschieht, müssen wir auch seinen Gegenspieler in den südlichen Sektor einschleusen. Anfangs sollten wir mit Torrance arbeiten und uns vergewissern, daß er Clyne die notwendigen Anleitungen gibt und ihm ausreichende Kenntnisse über die neue soziale Sachlage vermittelt.« »Und das alles, ohne daß Torrance auch nur den kleinsten Verdacht schöpft?« fragte Laura zweifelnd. »Torrance ist kein Dummkopf. Wenn dieser Clyne wirklich eine so starke Persönlichkeit besitzt, wie du annimmst, glaube ich kaum, daß Torrance in ihm nicht eine mögliche Bedrohung für den jetzigen Zustand erkennt.« »Dann mußt du ihm als seine Abteilungsleiterin einreden, daß sich Moule völlig im klaren ist über die Möglichkeiten, die die Einführung von Clyne beinhaltet.« »Und wenn er die Umstände dann noch immer anzweifelt?« »Während er im Innenraum ist, kann Torrance mit Moule nur über die Berichte, die er dir macht, Verbindung aufnehmen«, betonte Davidson. »Fälschung von Berichten, Tilgungen und Bearbeitungen sind nur so lange möglich«, sagte Laura.
»Das sehe ich ein, aber solche Maßnahmen sind wahrscheinlich nur kurze Zeit nötig. Wenn sich die Lage im Innenraum erst einmal gewendet hat, kann Moule nichts mehr dagegen tun, außer alle Personen darin neu zu programmieren – und ohne unsere Mitarbeit wäre das gänzlich unmöglich.« »Das klingt ganz vernünftig –« »Natürlich ist es vernünftig«, erwiderte Davidson schroff. »Wir sind alle der Meinung, daß eine Änderung herbeigeführt werden muß, und auf diese Weise wird es geschehen, vorausgesetzt, wir beide spielen unsere Rollen korrekt.« Er blickte auf die Wanduhr. »Die anderen kommen in einer halben Stunde. Einige davon zaudern mit Sicherheit und machen Ausflüchte, aber wenn du mir den Rücken stärkst, werden sie mitmachen müssen. Was meinst du?« »Ich hätte gern mehr Zeit, um mir das Ganze zu überlegen –« »Überlegen! Was gibt es da noch lange zu überlegen? Der Plan ist besprochen worden, man war damit einverstanden, und jetzt habe ich ihn eingeleitet.« Laura blickte auf seine mageren, angespannten Züge. Der Plan wurde besprochen, und man war – im Prinzip – damit einverstanden, aber sie hegte den starken Verdacht, daß das Einverständnis eher als Ersatzmittel statt der Tat erreicht worden war; daß sie wenigstens zu irgendeinem Entschluß gekommen
waren, damit ließ ein Großteil der Gruppe ganz zufrieden die Angelegenheit auf sich beruhen. Laura war bloß neugierig auf die Reaktion der anderen, wenn sie ihre Selbstzufriedenheit zerstört sahen, weil Davidson sie vor vollendete Tatsachen stellte. »In Ordnung, Michael – ich unterstütze dich«, erklärte sie leise.
4 Der Raum maß etwa acht Meter im Durchmesser. Die Tür, durch die er eingetreten war, hatte sich jetzt geschlossen; eine andere lag offen vor ihm. Gerry Clyne schüttelte einen kurzen Schwindelanfall ab und konzentrierte sich auf die Stimme, die aus einem Lautsprecher rechts oben an der hellgrauen Wand ertönte. »Bitte entfernen Sie Kleidung, Unterwäsche sowie Schuhe und legen Sie alles in die Bekleidungs-Luke. Die übrigen Gegenstände müssen in der Luke mit der Aufschrift HABE plaziert werden. Sie werden bearbeitet und Ihnen zurückerstattet, nachdem die letzte Entseuchungs-Phase abgeschlossen ist. Falls Ihnen diese Anweisungen nicht verständlich sind, unterrichten Sie sich bitte an Hand der Wandkarte links neben der Bekleidungs-Luke. Die Karte erklärt den Entseuchungs-Vorgang in allen Einzelheiten. Sie werden nicht – ich wiederhole: nicht – zur Entseuchung zugelassen, ehe Sie diesen Anweisungen nicht Folge leisten.« Gerry nahm an, daß es keinen Sinn hatte, sich den Anordnungen zu widersetzen. Die EntseuchungsAnlage war vollkommen automatisch, die Stimme stammte von einem Tonband, das bei seinem Eintritt in Betrieb gesetzt worden war. Er legte die Maschi-
nenpistole zusammen mit der Munition auf den Boden und begann sich auszuziehen. Der Schutzanzug gegen Radioaktivität wurde jede Minute mehr zur Sauna, und es war eine Erleichterung, die Zimmertemperatur angenehm kühl auf der nackten Haut zu spüren. Der Plastikfußboden gab unter seinen bloßen Füßen angenehm nach. Die Architekten hatten scheinbar an alles gedacht. In seinen Taschen befand sich sehr wenig: eine Brieftasche mit dem Ausweis und etwas Geld – jetzt natürlich völlig nutzlos, da es in jene, nicht länger existierende Welt vor dem Atomkrieg gehörte – eine Armbanduhr, eine halbvolle Schachtel Zigaretten sowie ein Gasfeuerzeug. Mit diesen Gegenständen ging er zu der Luke für die persönliche Habe. Als Gerry den Griff nach unten zog, erschien ein ungefähr einen Quadratmeter großer Raum, der offensichtlich nach dem Schema der üblichen Nachtsafes einer Bank erbaut worden war. Gerry legte die Brieftasche zusammen mit den anderen Dingen hinein und ließ den Griff los. Die Klappe glitt wieder nach oben und entzog den Inhalt seinen Augen. Gerry fertigte aus Kleidern und Schuhen ein Bündel und warf es in die andere Luke. Dann bückte er sich, hob die Maschinenpistole auf, wand den Munitionsgurt um die nackte Schulter und ging auf die offene Tür zu.
Er war noch etwa einen halben Meter davon entfernt, als eine Sirene heiser zu schrillen begann; die Tür glitt schnell vor die Öffnung und schloß sich mit einem gewaltigen Knall. Die Sirene verstummte, und der Lautsprecher begann seine Mitteilung zu wiederholen. »Bitte entfernen Sie Kleidung, Unterwäsche sowie –« Die Anweisung war deutlich. Sie war es auf Anhieb, aber seine eigene Hartnäckigkeit und die Hoffnung, ein Hintertürchen zu entdecken, hatten ihn dazu getrieben, sie nicht wortgetreu auszuführen. »– zur Entseuchung zugelassen, ehe Sie diesen Anweisungen nicht Folge leisten.« Die gefühllose Stimme verstummte. Gerry zögerte, während er das beruhigende Gewicht des Gewehrs in der Rechten spürte. Die Stimme hatte versprochen, daß alle persönliche Habe nach der Bearbeitung zurückerstattet werden würde, aber konnte man sich darauf verlassen? Vielleicht hatten die vorausblickenden Architekten in ihrer Weisheit beschlossen, daß alle Waffen eingezogen werden sollten. Es gab keine Möglichkeit, vorzudringen, solange er die Waffe zurückhielt; aber es gab jetzt auch keinen Weg zurück, besonders ohne Kleider – Gerry trat wieder zur Luke für die persönliche Habe und öffnete sie erneut. Die Brieftasche und die anderen Dinge waren verschwunden. Er hob die Muni-
tion von der Schulter, legte sie hinein und ließ die Luke wieder zuklappen. Er blickte auf die Tür. Sie war noch immer geschlossen. Resigniert starrte er zum Lautsprecher empor, während seine Hände automatisch die Maschinenpistole hoben; dann senkte er sie wieder, weil ihn die Vernunft daran gemahnte, wie dumm es sei, mit einer gedankenlosen Vorrichtung die Geduld zu verlieren. Während er die Waffe senkte, öffnete Gerry die Luke. Der Munitionsgurt war verschwunden. Während er sich mit dem Gedanken tröstete, daß jeder, der sich auf diese Weise mit einer Waffe vorbeizuschmuggeln versucht hatte, eine ähnliche Niederlage erlitten haben mußte, legte er das Gewehr in die Luke und ließ den Griff los. Sogar ohne andere Verteidigungsmittel außer seinem kräftigen Körper sowie seinem Verstand hielt er sich noch immer nicht für ganz hilflos. Dieses Mal ertönte keine Sirene. Die Tür glitt auf, und Gerry betrat einen zweiten Raum. Er fand sich einer Reihe von vier offenen Nischen gegenüberstehen, die wie Duschkabinen aussahen. Auch hier gab es einen Lautsprecher an der Wand. Er verkündete: »Wenn das rote Licht aufleuchtet, treten Sie in die so bezeichnete Nische und bleiben darin aufrecht stehen, bis Sie weitere Anweisungen erhalten.«
Das Licht über der zweiten Nische von rechts flammte auf. Gerry ging hinein und gewahrte sofort ein tiefes, elektronisches Brummen. Kalter Schweiß tropfte von seinen Achselhöhlen die nackten Rippen hinunter. Es gab wahrscheinlich keinen Grund zur Beunruhigung, aber ohne Kleidung und waffenlos fühlte er sich irgendwie doppelt nackt und verletzlich. »In die Wände eingebaute Instrumente messen jetzt die Radioaktivität, die ihr Körper aufgenommen hat«, erklärte die Stimme vom Tonband. »Wenn diese Messung abgeschlossen ist, werden Sie einem Programm der Reinigung und Behandlung unterzogen, das der Stärke der festgestellten Strahlung angemessen ist. Bedenken Sie bitte, daß alle diese Maßnahmen in Ihrem eigenen Interesse erfolgen und eine vollkommene Zusammenarbeit während sämtlicher Phasen dieses Programms wichtig ist. Die Radioaktivität ist ein unsichtbarer Mörder, der –« Die Ermahnungen der körperlosen Stimme waren im Falle Gerry Clynes unnötig. Er hatte seine Wahl getroffen. Selbst wenn der Vorgang manchmal ermüdend verlängert zu sein schien, unterwarf er sich dennoch widerspruchslos allen Reinigungen, Sondierungen und Untersuchungen, die ihm in der automatischen Entseuchungs-Anlage auferlegt wurden. Schließlich gelangte er in einen rechteckigen, mit dem
ersten identischen grauen Raum; sogar die zwei Luken waren die gleichen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Gerry so daran gewöhnt, die Befehle der Stimme zu befolgen, daß er dem natürlichen Impuls widerstehen konnte, zuerst auf die Luke für die persönliche Habe loszustürzen. Statt dessen öffnete er, wie ihm angeschafft wurde, die Bekleidungs-Luke. Sie enthielt reine Unterwäsche, graues Hemd mit Hose sowie ein Paar leichte Mokassins. Das waren nicht die Kleidungsstücke, die er zuvor hineingelegt hatte; aber sie waren steril und hatten genau seine Größe, deshalb zog er sie an. Innerhalb der Kuppel würde er keinen Schutzanzug brauchen; auch würde er in einer Umwelt, in der die Temperatur automatisch auf ungefähr einundzwanzig Grad Celsius reguliert wurde, keine wärmeren Sachen benötigen. Fertig angezogen öffnete er die Luke für die persönliche Habe. Sie enthielt nur Brieftasche, Armbanduhr, Zigaretten und das Feuerzeug. Also hatte ihn die Stimme doch belogen – Aber jetzt war es zu spät, etwas dagegen zu unternehmen. Er streifte die Uhr übers Handgelenk – und steckte die anderen Gegenstände in seine Taschen. Gerry wollte sich gerade umdrehen und auf die noch immer geschlossene Tür mit der Aufschrift AUSGANG zugehen, als ihn ein plötzlicher Einfall
zum Stehen brachte. Er öffnete abermals die Luke für die persönliche Habe. Sie enthielt den Munitionsgurt mit den wertvollen zweihundert Schuß – Wertvoll? Nicht ohne Gewehr. Er zog das Paket heraus und warf es auf den Boden. Dann wartete er ungeduldig, bis sich die Klappe schloß. Er zog sie wieder auf und fand im Innern die Maschinenwaffe. Scheinbar behandelte die mit den Schließfächern verbundene Bearbeitungsanlage jeden deponierten Schub getrennt und lieferte ihn auch auf die gleiche Weise wieder aus. Es gab also doch keinen Trick dabei. Die Stimme vom Band meinte genau, was sie sagte. »– die Bearbeitung ist jetzt abgeschlossen, und Sie können durch den Hauptausgang gehen. Sie sind –« Die Stimme war nun unwichtig. Gerry schlang die Munition über die linke Schulter, packte das Gewehr fest mit der Rechten und schlenderte auf die Tür zu, die geräuschlos aufglitt. Der Kontrast zu dem düsteren, eintönigen Grau in der Entseuchungs-Anlage war verblüffend. Gerry stand auf einer etwa drei Meter breiten Zementstraße, die zu beiden Seiten subtropische Pflanzen säumten. Unter dem saftigen Grün prunkten aufs Geratewohl die leuchtenden Farben von Blumen, deren Namen ihm nicht geläufig waren. Im Gegensatz zur sterilen Atmosphäre in der Entseuchungs-Anlage war die
Luft feucht, warm und durchdrungen von seltsamen, exotischen Düften. Ungefähr fünfzig Meter weiter bog die Straße nach links und verschwand zwischen Palmen und Büschen. Gerry wollte gerade in diese Richtung gehen, als er im Kreuz einen Druck verspürte. »Laß das Gewehr fallen, Freundchen«, befahl überraschend eine Stimme hinter ihm. Steif und noch immer das Gewehr in der Hand, fragte Gerry: »Und wenn ich es nicht tue?« »Das liegt bei dir, Freundchen«, erwiderte die Stimme mit grausamer Heiterkeit. »Ich muß dich bloß umlegen, das ist alles.« Gerry verfluchte seine Sorglosigkeit, die ihn dazu verleitet hatte, aus der bekannten Umgebung der Entseuchungs-Anlage ohne irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen gleich in diese unbekannte Welt zu treten. Aber es gab keinen Grund, Gefahr vorauszusehen. Falls dies ein Hinterhalt war, wunderte sich Gerry, was für einen Zweck er haben sollte. In jenem Bunker, von dem er hierhergeflüchtet war, hatte es einen Sinn, den Menschen den Zutritt zu verwehren, weil der Bunker nur eine gewisse Anzahl an Insassen für einen begrenzten Zeitraum beherbergen und ernähren konnte. Die Kuppelstadt dagegen besaß genügend Vorräte und konnte darüber hinaus weitere hervorbringen –
»Hast du mich verstanden?« Die krächzende Frage unterstrich ein verstärkter Druck der Gewehrmündung gegen Gerrys Rückgrat. »In Ordnung, wie Sie wollen«, antwortete Gerry. Er bückte sich und legte das Gewehr vor sich auf den Zementboden. »Schön – sehr schön, Freundchen«, lobte der andere. »Jetzt mach vier Schritte nach vorn und dreh dich hübsch langsam um.« Gerry bewegte sich mit wohlüberlegter Vorsicht und drehte sich um. Sein Fänger entpuppte sich als großer Mann mit kurz geschnittenem kupferrotem Haar und einem runden Gesicht; letzteres vermittelte den Eindruck liebenswürdigen Schwachsinns, bis man die grünblauen, wachsamen Augen gewahrte. Das graue Hemd, das er trug, war ihm offensichtlich zwei Nummern zu klein, denn die Knöpfe spannten sich über der Brust. Sein Gewehr, ein alter 303er Armeekarabiner, zielte ständig auf Gerrys Nabel. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir mitzuteilen, was das Ganze soll?« erkundigte sich Gerry. »Jetzt stell ich die Fragen«, antwortete der große Mann. »Woher kommst du?« Gerry sagte es ihm. Der Mann schien unbeeindruckt. »Beweis es«, verlangte er. »Hören Sie mal, was zum Teufel macht es für einen
Unterschied, woher ich komme?« fragte Gerry mit wachsender Ungeduld. »Sie wissen doch, wie es dort draußen aussieht. Warum sollte ich überhaupt lügen?« Der große Mann sagte ein paar Worte in einer Sprache, die Gerry völlig unverständlich war. »Um Himmels willen!« rief Gerry. »Soll das ein Witz sein?« »Kein Witz, Freundchen«, erwiderte der Rotschopf. »Hättest du auf diesen letzten Satz geantwortet, dann hätte ich dich wahrscheinlich ohnehin umgepustet. Aber du hast es nicht getan. Also bist du entweder klug oder sprichst bloß einfach kein Russisch.« »Russisch – warum zum Teufel sollte ich?« fragte Gerry. »Da du die Antwort darauf nicht weißt, bist du vielleicht in Ordnung. Aber das geht mich nichts an. Meine Pflicht ist es, dich hineinzubringen, damit der Oberst dich ausfragen kann.« »Der Oberst?« »Sicher. Oberst Brenner.« Der Name sagte Gerry nichts, aber es gab auch keinen triftigen Grund, warum er das hätte tun sollen. »Dieser Brenner – hat er hier das Kommando?« »Du hast's erfaßt, Freundchen. Und wenn dir dein Leben lieb ist, gibst du ihm besser die richtigen Antworten.« Die Augen des großen Mannes senkten sich
auf das Gewehr, das zwischen ihnen auf dem Boden lag. »Dreh dich um und rühr dich nicht.« Gerry zuckte die Achseln. »Wenn es Sie glücklich macht.« Er drehte sich langsam um, die Muskeln seines kräftigen Körpers spannten sich. Er wußte, daß er bei dem, was er versuchen wollte, sein Leben aufs Spiel setzte. Aber er hatte nicht die Absicht, sich kampflos der Gefangenschaft zu unterwerfen. Gerry lauschte aufmerksam und wartete auf die Veränderung im Schnaufen des großen Mannes, während dieser sich bückte, um die Waffe aufzuheben. Schließlich kam es: ein fast unmerkliches Grunzen; aber noch immer zwang sich Gerry, abzuwarten und zu zählen: eins – zwei – Jetzt! Er drehte sich ruckartig herum und streckte dabei den rechten Fuß nach vorn. Gerry erhaschte einen kurzen Blick von dem Rotschopf, der wie ein Frosch umherkroch, dann prallte sein rechter Fuß mit beträchtlicher Kraft gegen den Kopf seines Häschers. Der Mann stürzte unter der Wucht des Schlages zur Seite, das Gewehr entfiel ihm und klapperte auf den Zement. Bevor sich der andere wieder erholen konnte, befand sich Gerry im Besitz der Maschinenpistole und hielt sie im Anschlag. »Los, aufstehen«, kommandierte er. Der große Mann gehorchte, während er sich mit einer Hand die getroffene Schläfe rieb. »Fix, sehr fix«,
krächzte er, »aber auf diese Weise bringst du dich eines Tages um, Freundchen.« »Du könntest recht haben«, stimmte Gerry zu. »Aber zuerst will ich mir ein paar Antworten holen. Nun – was soll die Sache mit dem Russisch?« »Das weißt du wirklich nicht?« »Würde ich sonst fragen? Ich habe in den vergangenen achtundzwanzig Tagen nur das Innere eines Bunkers sowie dreihundert Kilometer verseuchte Landschaft gesehen.« »Sie kamen am gleichen Tag, an dem der Krieg begann, durch den südlichen Eingang.« »Sie?« »Ein Kommando aus etwa fünfzig Mann«, erklärte der Große. »Der Oberst vermutet, daß ihr Befehlshaber den Gedanken hatte, die Kuppelstadt sei eine Art Kontrollzentrum für die Schlacht. Scheint, als hätten sie diese TriDi-Projektoren doch nicht täuschen können. Sie wußten, daß hier etwas Wichtiges vor sich ging, und waren entschlossen, herauszufinden, was.« »Ich kann kaum glauben, daß sie tatsächlich einen Stoßtrupp so tief in unser Gebiet schicken würden«, meinte Gerry. Der große Mann grinste. »Du machst wohl Witze, Freundchen. Sicher, niemand weiß bisher noch, wer auf den Knopf gedrückt hat. Aber als es tatsächlich losging, was wäre da natürlicher, als einen Trupp
hereinzuschicken, um in der Kuppelstadt nachzuforschen? Fünfzig Millionen unserer Leute und vielleicht doppelt soviel der ihren sind am ersten Tag hops gegangen. Glaubst du wirklich, es würde ihnen da viel ausmachen, was ein paar Kommandos passiert, besonders wenn sie auf ein wichtiges Kontrollzentrum zu stoßen hoffen?« »Und dieser Stoßtrupp befindet sich noch innerhalb der Kuppel?« »Der größte Teil. Wir haben sie die vergangenen sechs Monate abhalten können, aber sie sind noch immer in der Nähe.« Sechs Monate – Gerry ließ die zeitliche Ungenauigkeit im Moment durchgehen. Für den Augenblick beschäftigte ihn mehr die bemerkenswerte Ironie der Situation. Die Kuppelstadt war gedacht als Zufluchtsort, in der eine Reihe von Menschen ebensolch eine atomare Katastrophe, wie sie stattgefunden hatte, überleben und eine Art friedlicher Existenz aufbauen konnten. Statt dessen schien es, als wäre diese Zufluchtsstätte jetzt selbst zum Schlachtfeld geworden, auf dem der letzte Krieg, der sich selbst durch die fast vollständige Vernichtung der Außenwelt ein Ende gesetzt hatte, in kleinerem, mehr persönlichem Maßstab weitergeführt werden konnte. »Dieser Oberst Brenner organisierte den Widerstand gegen sie?« fragte Gerry.
»Du hast's erraten, Freundchen.« »Und deine Aufgabe ist es im Moment, jeden zu packen, der durch die Entseuchungs-Anlage kommt, nur für den Fall, die Kommunisten wären auf die Idee verfallen, sich auf diesem Weg in euer Gebiet zu schmuggeln?« Der Große nickte. »Du mußt zugeben, daß das eine Möglichkeit wäre, wenn sie genügend Schutzanzüge erwischen könnten.« »Wenn sie es nach – sechs Monate, sagtest du? – noch nicht versucht haben, bedeutet das, daß sie keine solchen Anzüge besitzen. Glaubst du nicht auch, daß du hier deine Zeit vergeudest – wie heißt du?« »Annersley – Bub Annersley«, knirschte der Rotschopf. Seine wachsamen, grünblauen Augen musterten Gerry. »Du könntest recht haben. Vielleicht solltest du mit Brenner reden.« »Das habe ich vor«, bestätigte Gerry. »Übrigens, mein Name lautet Gerry Clyne.« Er deutete auf den Boden. »Heb dein Gewehr auf, und dann gehen wir, Bub.« Annersleys Kiefer sank ein wenig nach unten. »Ist das dein Ernst?« »Natürlich. Wir könnten unterwegs jemand treffen, und ich will nicht, daß man auf den Gedanken kommt, es könne etwas nicht stimmen.« Annersley schüttelte den Kopf, ein Grinsen lag auf
seinem runden Bauernlümmel-Gesicht. »Ich weiß nicht genau, wer du bist, Clyne, doch das eine sag ich dir – du hast Mut.« »Danke für die Blumen«, flachste Gerry. »Jetzt machen wir uns auf die Socken, oder?«
5 Sie schwiegen ein paar Sekunden, nachdem Davidson mit seiner Ansprache fertig war. Ihre Gesichter drückten alle möglichen Empfindungen aus: von Erschütterung bis zur offenen Wut. Die Ironie der Lage entging ihm nicht. Früher hatte er oft den Eindruck, daß diese seltsam gemischte Gruppe aus Revolutionären lieber bis in alle Ewigkeit diskutiert hätte, als tatsächlich etwas zu unternehmen; und jetzt, angesichts der unerwarteten Neuigkeit, daß er den Plan eingeleitet hatte, wußten sie nichts zu sagen. Boehm, der Leiter der medizinischen Abteilung, erholte sich als erster. Seine einem Tapirrüssel gleichende Nase zuckte, während er zu bedenken gab: »Man hätte doch sicher zuerst Rücksprache halten müssen –?« »Rücksprache worüber?« unterbrach Davidson spitz. Er war entschlossen, seine beherrschende Rolle beizubehalten. »Wir waren uns einig, daß es auf diese Weise vor sich gehen müsse – daß, wenn ein geeigneter Patient auftaucht, der Plan eingeleitet werden sollte. Clyne ist ein geeigneter Patient.« »Ihrer Meinung nach«, warf Agostino dazwischen. »Laut jener Berichte, die ich gelesen habe, besitzt er eine gefährlich aggressive Persönlichkeit mit ausge-
sprochen paranoiden Anlagen.« Der kleine und – trotz einer täglichen Ration apolitischer Drogen – zu Übergewicht neigende Mario Agostino war für die psychische Abteilung verantwortlich. »Ich habe die Berichte gelesen«, entgegnete Davidson. »Es leuchtet doch gewiß ein, daß wir jemand mit diesen Anlagen benötigen?« »Aber werden Sie ihn unter Kontrolle halten können?« zweifelte Agostino. »Es scheint mir sehr wahrscheinlich, daß die Art Programmierung, die Sie beschrieben haben, sich verstärkend auf den paranoiden Aspekt seiner Persönlichkeit auswirken könnte.« Davidson hatte für den Italiener wenig übrig, den er als verweichlicht und genußsüchtig ansah. »Natürlich – machen Sie Ihr Messer gewöhnlich stumpf, bevor Sie in ein Steak schneiden, oder schleifen Sie es?« »Ihr Vergleich hinkt«, tadelte Agostino. Seine dunkelbraunen Augen wandten sich den anderen zu. »Sie müssen verstehen, daß wir uns hier nicht mit einer Marionette befassen, sondern mit einer komplizierten, unberechenbaren Person –« »Die jederzeit zerstört oder entfernt werden kann, wenn wir es für richtig halten«, schaltete sich Davidson ein. »Mit anderen Worten: Sie halten Clyne für entbehrlich?« erkundigte sich Agostino. Pelissier, ein Mann mit silbergrauem Haar und der
typischen rosigen Gesichtsfarbe eines älteren Staatsmannes, wetzte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Aber genau dagegen haben wir bei Moules Politik doch etwas einzuwenden? Die Vernichtung von diesem Clyne würde die Negation unserer Grundsätze bedeuten.« Diese verdammten theoretischen Revolutionäre mit ihren kostbaren Skrupeln – Davidson unterdrückte nur mühsam sein Wut. »Das wird auch nicht notwendig werden. Wenn es soweit ist, Clyne zu aktivieren, wird er die Rolle, die ich ihm zugedacht habe, unter meiner persönlichen Überwachung spielen.« »Sie gehen in den Innenraum?« fragte Agostino. »Natürlich«, antwortete Davidson. »Ich allein kann Clynes blockiertes Erinnerungsvermögen entschlüsseln. Aber es dauert ohnehin noch einige Zeit, bis sein Gegenspieler programmiert und in den südlichen Sektor eingeschleust worden ist. Im Augenblick wird Clyne vollauf damit beschäftigt sein, die Leitung über die nördliche Gemeinde an sich zu reißen. Laura sorgt dafür, daß Torrance ihm dabei hilft.« »Und Moule – was wird er tun, während dies geschieht?« wollte Boehm wissen. »Er hat Brenner die Leitung über den Nordsektor zu behalten gestattet, weil dessen Mangel an positiver Aggression dazu diente, die Auseinandersetzung zwischen Norden und Süden zu verlängern; doch
wird für ihn kein Grund zu der Annahme bestehen, daß die neuen Entwicklungen nicht auf Zufall beruhen. Er wird sich mit dem Beobachten zufriedengeben, ohne einzugreifen.« »Mir scheint, daß Clyne – falls er wirklich so aggressiv ist, wie Sie behaupten – mit Sicherheit die absurde Sachlage erkennt: eine Handvoll Eindringlinge terrorisiert und legt eine Gruppe von Menschen lahm, die jenen zahlenmäßig im Verhältnis zehn zu eins überlegen ist«, gab Boehm zu bedenken. »Wenn er erst einmal den Oberbefehl hat, wird er gewiß die Truppen im Norden neu organisieren und angreifen. Dann erzielen wir anstelle der vereinzelten Schlachten mit geringen Verlusten auf beiden Seiten ein blutiges Massaker, und meine Abteilung ist einfach nicht in der Lage, Verluste dieser Größenordnung zu bewerkstelligen.« »Es wird kein Massaker geben«, versicherte Davidson. »Ehe dieser Zeitpunkt erreicht ist, habe ich Clynes Erinnerungskette wieder in Betrieb gesetzt. Und wenn er die echten Zusammenhänge erkennt, wird der Kampf im Innenraum ganz aufhören.« »Vorausgesetzt, Sie konnten in der Zwischenzeit jene andere Versuchsperson in den Südsektor einschleusen, und diese vermochte die Befehlsmacht von Ulanov zu übernehmen – der, wie ich Sie erinnern möchte, ein anderes Kapitel ist als Brenner«, sagte Agostino.
»Sie vergessen, daß Meyer, Ulanovs stellvertretender Kommandeur, zu unseren Rollenspielern gehört«, erinnerte Davidson. »Mit Lauras Hilfe besteht kein Grund für die Befürchtung, daß die Übernahme des Südsektors größere Schwierigkeiten bereitet als im Norden.« Laura runzelte die Stirn. »Ich glaube, wir sollten uns nicht zu sehr auf Meyer verlassen. Ich halte es fast für einen Fehler, ihm überhaupt diese Rolle übertragen zu haben – die gemeinsame Wirkung von Ulanovs Persönlichkeit sowie der ungestümen Umgebung auf ihn –« »Dann müssen Sie seinen Austausch vorschlagen«, riet Agostino. »Wir brauchen im Südsektor jemand in einer einflußreichen Position, wenn die zweite Versuchsperson eingesetzt wird.« Laura entgegnete: »Im Augenblick kann ich gegen Meyer nur gefühlsmäßig etwas anführen – es gibt kein positives Zeichen für den Verfall. Wenn ich Moule auf Grund des geringen Beweises, den ich bis jetzt aufbringen kann, einen Vorschlag unterbreiten würde, könnte er Fragen stellen.« Davidson spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg, als ihm klar wurde, daß Laura gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem er ihre Unterstützung bei der Überwindung von Agostinos zweifelnder Kritik benötigte, eine Haltung negativer Unsicherheit an den
Tag legte. »Es bleibt noch genug Zeit, später darüber nachzudenken«, warf er ein. »Vielleicht dauert es noch Monate, bevor eine geeignete Versuchsperson eintrifft. Zumindest für den Augenblick müssen wir unser Augenmerk auf Clyne richten.« »Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis Clyne übernehmen kann«, fragte Boehm. »Das hängt bis zu einem gewissen Maße von der Hilfestellung ab, die ihm Torrance gibt.« »Sie wissen doch sicher genaueres?« mutmaßte Boehm. Besorgnis überschattete sein dunkles Gesicht mit der langen Nase. »Wenn ein zu großer Zeitabschnitt zwischen Clynes Übernahme im Nordsektor und der seines Gegenspielers im Süden liegt, dann ist das einzig mögliche Ergebnis eine verheerende Steigerung des Kampfes im Innenraum; eine Situation, die – ich wiederhole – sehr gut mehr Verluste bringen mag, als meine Abteilung verkraften kann. Unter diesen Umständen könnte sich ein beträchtlicher, nicht wiedergutzumachender Ausfall an Menschenleben ergeben.« »Falls irgendein Anzeichen für eine solche Situation auftaucht, müssen wir eingreifen«, erklärte Davidson. »Genau«, bestätigte Agostino und beugte sich in seinem Stuhl vor. »Und wie können wir das, ohne daß Moule Verdacht schöpft?«
»Nein – ich glaube, hier irren Sie«, warf Laura dazwischen. »Angenommen, er akzeptiert Clynes Machtaufstieg als natürlichen Vorgang. Dann besteht kein Grund zur Annahme, daß er einen notwendigen Eingriff ungewöhnlich finden würde, um jenes Blutbad zu verhindern, das Sie voraussagen. Wie dem auch sei, zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind solche Argumente nur hypothetisch. Michael hat den ersten Schritt in einem Plan unternommen, den wir – wie ich Sie erinnern möchte – alle hier im Prinzip guthießen. Unter den gegebenen Umständen meine ich, daß wir ihn wenigstens auf jede erdenkliche Art unterstützen können, statt bewußt im voraus Hindernisse für den Erfolg des Planes zu erwähnen.« »Ich bin mit Laura einer Meinung«, sagte Hofer, der Leiter der Elektronikerabteilung. Er war ein Mann Anfang dreißig mit vierschrötigem Gesicht und dunklem Bürstenschnitt. Während der Diskussion hatte Hofer ruhig dabeigesessen, aber jetzt stand er auf, ging zu Davidson hinüber und wandte sich den übrigen Versammlungsteilnehmern zu. »Diese Sache wird nicht leicht werden, aber das wußten wir alle von Anfang an, also warum uns jetzt über einen eventuellen Fehlschlag die Mäuler zerreißen? Michael ging ein verdammt großes Risiko ein, indem er Clynes Programmierung abänderte. Falls Moule den geringsten Verdacht geschöpft hätte, könnte er Michael
auf der Stelle aus dem Projekt ausgeschlossen und ihm Aufgaben übertragen haben, die zwangsläufig in Tilgung und Erneuerung geendet hätten. In meinen Augen hat Michael die Tat der langen Rede vorgezogen, und uns bleibt jetzt nur das gleiche zu tun.« Pelissiers silbergrauer Kopf nickte. »Sie haben natürlich recht, Hofer. Zweifellos unterstützen wir Davidsons Maßnahme. Meine einzige Befürchtung liegt in der Möglichkeit, daß wir gezwungen sein könnten, eben jene Methoden zu benützen, die zu ändern wir uns vorgenommen hatten.« »Die Zeit, über Folgen und Mittel zu diskutieren, ist vorbei«, warf Laura heftig dazwischen. »Das müssen Sie doch einsehen?« In Pelissiers Lächeln lag eine Spur Trauer, als er sie anblickte. »Oh, der rücksichtslose Idealismus der Jugend – Vergeben Sie mir, meine Liebe. Ich werde mich bemühen, Ihren Ansprüchen zu genügen.« Erkennend, daß er durch die Einmischung von Hofer und Laura den Sieg davongetragen hatte, blickte Davidson den einzig übrigbleibenden Andersdenkenden an. »Nun, Agostino, werden Sie zum Judas werden?« Der dicke Mann erhob sich würdevoll. »Ich unterstütze den Plan wie ausgemacht«, erwiderte er leise. Die Versammlung wurde kurz darauf aufgehoben. Erst später, als er in seiner Wohnung allein zurück-
blieb, wunderte sich Davidson, wie er nur so dumm sein konnte, sich von seinem zeitweiligen Triumphgefühl zu einer solchen Metapher gegenüber einem Mann, der wahrscheinlich der einzige ausübende Christ in der Gruppe war, hinreißen zu lassen.
6 Gerry Clyne und Annersley blieben an der Ecke des Häuserblocks stehen. Brenners Hauptquartier war ein langgestreckter, niedriger und einstöckiger Bau. Den Haupteingang, der von einem Uniformträger mit Maschinenpistole bewacht wurde, säumten zu beiden Seiten eine Reihe von Warntafeln. Wie die übrigen Gebäude in diesem Gebiet, die ursprünglich während der Errichtung der eigentlichen Stadt als vorübergehendes Arbeitslager dienen sollten, war das Hauptquartier aus leichten Fertigteilen erstellt. Eindeutig zu schwach, um auch nur einen einzigen Sturm im Freien zu überstehen, war der gesamte Verwaltungsbezirk ebenso empfindlich wie ein Kartenhaus, aber ganz passend für die geschützte Umwelt innerhalb der Kuppel. Im Moment blickte der Wachtposten in die andere Richtung, aber Gerry erkannte an seiner Haltung in dem Mann einen abgehärteten Veteran. Er traf eine Blitzentscheidung. »Schön, Bub. Ab hier darfst du den Helden spielen«, sagte er, drehte sich zu Annersley um und übergab ihm die Maschinenpistole. Der große Rotschopf nahm automatisch die Waffe, aber sein Mund klappte auf. »Ich versteh nicht –«
»Nein?« wunderte sich Gerry. »Sieh mal, ich bin sicherer, wenn du mich auf diese Weise hineinbringst, als wenn ich über den Hof direkt auf diesen Kerl zusteuern würde: ein völlig Fremder mit einer Waffe in der Hand. Ich bin nicht gerade scharf darauf, erschossen zu werden.« Annersley zuckte die muskulösen Schultern. »Klingt vernünftig, muß ich zugeben. Aber woher weißt du, daß ich dich nicht erschieße?« Gerry grinste: »Auf Grund unserer langen Bekanntschaft ist das eine Möglichkeit, die ich in Kauf nehme. Brechen wir auf?« Er begann über den Hof zu gehen. Seine Vermutung in bezug auf den Wachtposten erwies sich als richtig. Als sie noch über zwanzig Meter von dem Soldaten entfernt waren, drehte dieser sich um und hob die Maschinenpistole. »Wen hast du denn da aufgegabelt, Annersley?« fragte er. »Einer von draußen – kam gerade durch die Entseuchungsanlage«, erklärte Annersley. Die harten, wachsamen Augen musterten Gerry. »Halt ihn in Schach, während ich mit dem Oberst rede.« Er verschwand im Innern des Gebäudes. »Du bist ein kaltschnäuziger Hund«, bemerkte Annersley mit einer Spur Bewunderung. »Ich habe ziemlich viel gepokert«, spöttelte Gerry.
Einen Augenblick später war der Wachtposten zurück. »Der Oberst will sich jetzt mit dir unterhalten.« Brenner war ein schmal gebauter Mann mit strohblondem, von grauen Fäden durchzogenem Haar und einem jung gebliebenen Gesicht, das ein grotesk großer, struppiger, um einige Schattierungen dunklerer Schnurrbart beherrschte. »Bringen Sie das Gewehr mit der Munition ins Waffenarsenal und melden Sie sich wieder hier«, befahl er Annersley. Während sein Begleiter das Zimmer verließ, stand Gerry Clyne ungezwungen vor dem hellen Eichenschreibtisch und faßte seine ersten Eindrücke über jenen Mann zusammen, der offensichtlich den Nordsektor der Kuppelstadt leitete. Ihm schien, als sollten der skurrile Schnurrbart sowie die Orden auf dem sauber geplätteten Hemd eine Art Symbol für die Amtsgewalt darstellen. Er selbst verachtete die Verwendung derartiger Requisiten. Brenner hielt einen Kugelschreiber in der rechten Hand. »Name?« fragte er, und seine farblosen Fischaugen wichen Gerrys festem Blick aus. »Clyne – Gerald Clyne.« »Woher kommen Sie, Clyne?« Bei dem Versuch, plötzlich einen Befehlston vorzutäuschen, brach die Stimme irgendwo zwischen einem quengeligen Schrei und einem Winseln ab. Gerry kannte die An-
zeichen für Unsicherheit – er hatte sie zu häufig gesehen bei unbedeutenden Männern, welche sich in Stellungen zu behaupten suchten, die ihnen über den Kopf wuchsen. Solche Menschen waren verwundbar. Er gab die geforderte Auskunft kurz und bündig. Der Kugelschreiber bewegte sich über den vor Brenner liegenden Block. »Und wie sind Sie hierhergelangt?« fragte er schließlich. »In einem Privatflugzeug. Ich hatte es nicht weit vom Bunker für einen unvorhergesehenen Notfall untergestellt.« »In Wirklichkeit planten Sie eine solche Flucht im voraus?« »Es schien das einzig Vernünftige.« Brenners blasse Augen wurden hart. »Vorausgesetzt, Sie konnten sicher sein, daß es einen Zufluchtsort gab.« »Sie wundern sich, weshalb ich über die Kuppelstadt Bescheid wußte?« »Tu ich das?« »Eine meiner Firmen half bei der Errichtung – Monarch Engineering«, erklärte Gerry. »Ableson, der Bauleiter, sollte eigentlich noch hier sein. Er wird mich identifizieren.« »Vielleicht hätte er das getan.« »Sie wollen sagen, daß er fort ist?« »So könnte man es nennen.«
Gerry zügelte bewußt seine wachsende Ungeduld über das, was in eine Art Fragespiel auszuarten schien. »Ich dachte nur, es würde vielleicht helfen, wenn ich jemand nenne, der meine Identität bestätigen kann.« »Beschreiben Sie mir diesen Ableson.« Gerry runzelte die Stirn. »Er ist ein großer Geselle; ungefähr einszweiundneunzig und ebenso dick. Dunkelhaarig, beginnt aber schon kahl zu werden. Dazu hat er eine Nase, die einmal gebrochen war und etwas krumm blieb. Er pflegte sich in jüngeren Jahren ziemlich viel im Amateurboxsport zu betätigen und macht noch immer gern Krawall, wenn sich die Gelegenheit ergibt.« Brenner nickte. »In Ordnung. Ich glaube fast, daß Sie Ableson wirklich kannten.« »Kannten?« »Er ist tot«, erklärte Brenner. »Passierte vor sechs Monaten, ungefähr eine Woche nach dem großen Knall.« »Wie?« »Ihr Freund Ableson war sehr eigensinnig«, tadelte Brenner. »Ich versuchte ihn davon zu überzeugen, daß es zwecklos sei, das Bauprogramm weiterführen zu wollen; daß es – wenn das vorrätige Material aufgebraucht wäre – keinen Nachschub mehr geben würde, – aber er wollte ja nicht hören. Er und zehn
seiner Leute kamen ums Leben, bevor eine meiner Patrouillen den Feind zurückdrängen konnte.« »Verstehe«, sagte Gerry. »Hart für Ableson.« »Noch härter für die Männer, die auf Grund seiner Dummheit getötet wurden«, warf Brenner dazwischen. »Man warnte ihn vor einem möglichen Angriff. Er war dafür verantwortlich.« »Und das geschah vor sechs Monaten, sagten Sie?« »Ja – warum fragen Sie?« »Es ist nur, daß ich den Eindruck hatte, als sei seit dem Atomkrieg erst etwas mehr als ein Monat vergangen«, antwortete Gerry und runzelte die Stirn. »Ich kann nicht verstehen, wie ich mich im Bunker so gewaltig in der Zeit irren konnte.« »Offensichtlich sind bei Spätankömmlingen von draußen subjektive Zeitunterschiede ganz normal«, erwiderte Brenner. »Torrance, unser Arzt, wird Ihnen alles genau erklären. Doch der springende Punkt ist, daß kein menschliches Wesen die Vernichtung einer ganzen Zivilisation überstehen kann, ohne einige bleibende traumatische Folgen abzubekommen.« Gerry fand die Erklärung ziemlich unbefriedigend, aber es hatte offensichtlich keinen Zweck, diesem Thema mit Brenner noch länger nachzugehen. Auf jeden Fall gab es Dinge von unmittelbarerem Belang, die besprochen werden mußten. »Gewehr und Munition – wann bekomme ich sie zurück?« erkundigte er sich.
»Das hängt von Ihrer Zuteilung ab«, antwortete Brenner. »Als Zivilist, der bei der Nahrungsbeschaffung oder der Wartung arbeitet, unterstünden Sie dem Bürgerausschuß und würden keine Waffe benötigen. Wenn Sie hingegen dem Militärsektor zufallen und für den Kriegsdienst eingeteilt werden, rüstet man Sie mit angemessener Bewaffnung aus dem Arsenal aus.« »Der Militärsektor bedeutet, daß ich dann unter Ihrem Kommando stehe, oder?« fragte Gerry. Brenner nickte. »Ich kann Ihnen keine angenehme Zeit versprechen. Wir haben es mit einem rücksichtslosen, gut geschulten Feind zu tun, vor dem wir ständig auf der Hut sein müssen. Aber mir scheint, als würde es ein Mann mit Ihrem Temperament vorziehen, sich etwas aktiver zu betätigen, statt Kohl zu hacken.« »Dann habe ich folglich die freie Wahl?« »Wenn Sie hier fortgehen, wird man Sie vor dem Bürgerausschuß befragen. Sie dürfen sich darüber äußern, welchen Dienst sie für die Gemeinschaft gern leisten würden, und dieser besonderen Vorliebe wird man bei Ihrer Zuteilung Rechnung tragen.« »Aber nicht unbedingt entsprechen?« sagte Gerry. »Vielleicht könnten Sie mir einige Hinweise auf die anderen Faktoren geben, die dabei eine Rolle spielen?«
»Sie besitzen einen wachen Verstand, Clyne. Ich kann einen Mann wie Sie gebrauchen. Aber ich warne Sie: wenn Sie unter mein Kommando kommen, müssen Sie dazu bereit sein, Disziplin zu üben.« »Ich bin der Disziplin nicht abgeneigt, vorausgesetzt, ich kann erkennen, daß sie einer nützlichen Sache dient«, antwortete Gerry. »Gut – dann wollen wir sehen, was wir tun können. Aber zuerst müssen Sie sich vom Amtsarzt untersuchen lassen.« Brenner hob den Telefonhörer auf seinem Schreibtisch ab und wählte eine Nummer. »Torrance? ... Ich habe hier einen Neuankömmling zur Untersuchung ... Jawohl, er hat bereits eine besondere Vorliebe für den Militärdienst zum Ausdruck gebracht. Tun Sie, was in Ihrer Macht steht, ja? Gut ... Ich schicke ihn rüber.« Er legte den Hörer auf. »Schön, Clyne. Ihr Begleiter wartet draußen. Sagen Sie ihm, er soll Sie ins Mediozentrum führen.«
7 Amtsarzt Torrance, ein großer Mann mit krausem Haar, ähnelte einem freundlichen Koalabären. Sein massiger Körper steckte wie ein Sack in einem zerknitterten, gelbbraunen Zivilistenanzug. Er musterte Gerry, als würde er sich über einen guten Witz amüsieren. »Nun, Clyne – warum setzen Sie sich nicht? Unnötig, vor mir stramm zu stehen.« »Danke.« Gerry gehorchte ohne Kommentar, aber die indirekte Anspielung auf Brenner entging ihm nicht. Torrance nahm einen Formularblock im Kanzleiformat aus der Schublade und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch. »Als erstes erwartet man von mir, daß ich Sie einer gründlichen körperlichen Untersuchung unterziehe.« »Körperlich – zum Teufel! Ich habe in dieser verdammten Entseuchungsanlage gerade eine ganze Reihe Sondierungen und Messungen durchlaufen.« Torrance hob die dickfingrige Hand und kicherte. »Schon gut! Das hörte ich alles bereits früher, glauben Sie mir. Haben Sie irgendwelche Körperbehinderungen?« »Soviel ich weiß, bin ich ziemlich fit«, erwiderte Gerry.
»Also dann«, brummte Torrance. Seine Hand flog über das Formular. »Wirklich verfluchte Zeitverschwendung, das Ganze. Brenner kann ein Rückenmark nicht vom After unterscheiden. Ich bezweifle, ob er das ganze Zeug überhaupt liest. Vermutlich steckt er es einfach in einen seiner Aktenschränke und vergißt es. Aber bei Brenner muß alles picobello erledigt werden. Militärstil, doppelt gemoppelt, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben. Wie sind Sie übrigens mit ihm zurechtgekommen?« »Wollen Sie eine Antwort oder eine Höflichkeitsfloskel hören«, erkundigte sich Gerry argwöhnisch. Torrance schob lachend seinen Stuhl zurück. »Wie ich sehe, waren Sie nicht übermäßig beeindruckt.« »So könnte man es nennen.« »Ein engstirniger Mensch«, behauptete Torrance. »Ein engstirniger Mensch, der sein ganzes Leben auf eine solche Gelegenheit gewartet hat; und wenn sie endlich kommt, verpfuscht er alles.« »Sie scheinen von Ihrem Kommandeur keine allzu hohe Meinung zu haben«, sagte Gerry. »Nicht mein Kommandeur«, stellte Torrance richtig und wedelte höhnisch mit der kräftigen Pranke durch die Luft. »Ich bin das Ekel in der Mitte. Brenner, der Bürgerausschuß, für mich alles das gleiche – keiner von beiden kann ohne meine Mitarbeit auskommen. Was Brenner betrifft, wissen Sie, wer er ist – ein
zweitklassiger Elektrotechniker in Uniform. Er macht zwar ganz schön viel Geschrei, aber einer Handlung am nächsten kam er bloß bei der Eröffnungsnacht im Offizierskasino.« »Ich verstehe nicht, wieso –« »Wieso er hier die Verantwortung trägt?« vollendete Torrance den Satz. »Tat er nicht. Quilter war der Mann an der Spitze. Major Jim Quilter, doch der befand sich zufällig gerade auf Urlaub, als alles in die Luft flog, und so blieb Brenner übrig.« »Major Quilter?« »Aber sicher«, antwortete Torrance. »Brenners eigentlicher Rang ist der eines Hauptmanns. Doch als ihm klar wurde, daß er allein und es unwahrscheinlich war, daß man ihn ablösen würde, beförderte er sich selbst. Eingebildeter Mensch! Vermutlich hat er vor Ihnen die Werbetrommel gerührt, oder?« »Er meinte, daß ich mich eventuell gern freiwillig für den Militärdienst melde«, gestand Gerry. »Und was haben Sie geantwortet?« »Nun, ich habe mich eigentlich nicht festgelegt. Es klingt ganz gut, aber soviel ich verstand, liegt die Entscheidung gar nicht bei ihm.« Torrance lachte. »Vielleicht gebe ich Ihnen besser eine kurze Schilderung der hiesigen politischen Lage. Zur Zeit des ersten Angriffs hatte Brenner vierzig Mann unter seinem Kommando. Alles eher Nachrich-
tenspezialisten als Kampftruppen. Die übrige Bevölkerung setzt sich zusammen aus Bauarbeitern, Ingenieuren, Wissenschaftlern sowie diversem Büropersonal, weiblich und männlich. Natürlich legten sich im ersten Schrecken alle tüchtig ins Zeug, um die Guerillas abzuhalten. Brenner führte als amtierendes militärisches Genie das Kommando. Aber später, als sich die Lage beruhigte, wurde aus Verwaltungszwecken ein Bürgerausschuß gegründet, um die Nahrungsbeschaffung und dergleichen zu organisieren.« »Ja, er scheint sehr gute Arbeit zu leisten«, lobte Gerry. »Ich entdeckte auf dem Weg von der Entseuchungsanlage hierher ziemlich viel intensiven Anbau.« »Von Brenners Warte aus zu gut. Es gibt darunter einige, zum Beispiel Magruder, die Brenner politisch mit Leichtigkeit übervorteilen könnten. Er spielte so eifrig Soldat, daß er es zufrieden war, den meisten Verwaltungskram dem Ausschuß zu überlassen. Bevor er begriff, was vorging, hatte man beschlossen, daß eine Militärmacht von hundert Mann zur Verteidigung unseres Umkreises genügen würde; und man beschnitt seine Werbekampagne dementsprechend. Jetzt muß er praktisch um jeden einzelnen Mann auf Knien betteln. Das bedeutet, daß er – ehe das Komitee nicht einem völligen Gesinnungswandel unterliegt – niemals stark genug sein wird, um einen Gegenan-
griff zu organisieren und den Guerillas ein für allemal den Garaus zu machen. Das hätte er gekonnt, als er kräftemäßig weit überlegen war – wenn er die Chance rechtzeitig wahrgenommen hätte, hätte er das ganze verdammte Jagdrevier übernehmen und nach seinem Gutdünken leiten können.« »Eine Militärdiktatur, meinen Sie?« »Ganz richtig, obwohl Diktatur ein hartes Wort ist«, erwiderte Torrance. »Aber lassen Sie's mich so formulieren – was hätten Sie an seiner Stelle getan? Sicher leben wir alle ganz behaglich in diesem Sektor, und Brenners begrenzte Streitmacht hält uns die Guerillas vom Leib; aber das ist auf die Dauer keine Lösung. In Wirklichkeit brauchen wir einen Vorstoß in feindliches Territorium – einen genügend kräftigen und blutigen Vorstoß, um sie Verhandlungen zugänglich zu machen. Schließlich müssen sie doch – wie hart ihre Schulung auch sein mag – den Sinn einer Weiterführung des Kampfes bezweifeln, wenn ihre Heimat unwiederbringlich zerstört wurde.« »Leuchtet mir ein«, gab Gerry zu. »Möglicherweise, aber immer wenn Brenner versucht, die Zahl seiner Rekruten zu erhöhen, überstimmt man ihn mit dem einen oder anderen Einwand – und er muß es einfach hinnehmen.« »Sie glauben aber, der Ausschuß befinde sich im Unrecht?«
»Sie nicht?« stellte Torrance die Gegenfrage. »Wir mögen unseren Umkreis halten, aber wenn nicht tatsächlich etwas gegen die Guerillas unternommen wird, könnten sie uns am Ende besiegen. Das verhält sich wie bei dem steten Tropfen, der den Stein höhlt. Gestern töteten sie einen Mann bei einem Überfall auf ein Verpflegungslager – nächste Woche mögen es ein halbes Dutzend sein, oder keiner. Brenner hat seine Patrouillen rund um die Uhr draußen, aber es besteht immer die Möglichkeit, daß sich ein kleiner feindlicher Trupp einschleichen kann.« Gerry nickte. »Das alte Prinzip der Guerillas: wahllose Überfälle in unterschiedlichen Zeitabständen – sowohl psychisch als auch physisch wirkungsvoll. Ja, ich verstehe, was Sie meinen.« »Wirklich? Schön!« Torrances rundes Gesicht strahlte. »Dann können Sie vielleicht endlich etwas dagegen unternehmen, falls ich Sie dem militärischen Sektor zuteile. Das heißt, wenn Sie sich in der Zwischenzeit nicht erschießen lassen.« »Ich werde mein Bestes tun, das zu vermeiden«, versprach Gerry. Torrance strahlte. »Fein! Heute abend findet eine reguläre Zusammenkunft des Bürgerausschusses statt. In der Zwischenzeit macht Annersley mit Ihnen einen Rundgang und besorgt Ihnen eine Unterkunft.«
8 Der Häftling stand stramm. Die Hände hielt er an die Seitennähte der abgetragenen Hose seiner Kampfuniform gepreßt. Er war groß und blond mit einem gesunden, bäuerlichen Mondscheingesicht. Seine blauen Augen starrten geradeaus auf die Fahne, die hinter dem Kommandeur an der Wand hing. Zur Rechten des Gefangenen stand – vorschriftsmäßig zwei Schritt dahinter – Oberstabsfeldwebel Gorst. Über diesen schwarzbärtigen Riesen war das Gerücht im Umlauf, er habe mindestens fünfzehn Feinde mit bloßen Händen erwürgt. »Soldat Sikorski, Sie müssen mich weder daran erinnern, daß wir einen Feind bekämpfen, der für den Mord an unserem Vaterland verantwortlich zeichnet, noch daran, daß es unsere heilige Pflicht ist, die Unmasse unserer Toten zu rächen. Selbst wenn der Endsieg unser ist, werden wir uns an den Feind erinnern und sichergehen müssen, daß unsere Nachkommen niemals vergessen, wer für den Massenmord an unseren Landsleuten die Verantwortung trug. Aber keine dieser Tatsachen kann in irgendeiner Weise Ihren absichtlichen Ungehorsam gegen meine ausdrücklichen Befehle oder Ihr Verhalten hinsichtlich dieser weiblichen Gefangenen mildern. Sie verstehen, daß es
bei einem solchen Vergehen in meiner Macht steht, Ihre sofortige Bestrafung anzuordnen –« Hauptmann Avram Meyer, der rechts neben dem Schreibtisch des Oberbefehlshabers stand, musterte Oberst Ulanovs stark gefurchtes, energisches Gesicht und fragte sich wieder einmal, wieviel des rücksichtslosen Pflichteifers dieser Mann seinen natürlichen Charaktereigenschaften verdankte, und wieviel davon auf das Konto der geschickten Programmierer kam. Wie die Wahrheit auch lauten mochte, Ulanov war ein mutiger Mann, und Meyer konnte sich eines Gefühls der Trauer nicht erwehren in dem Wissen, daß eine solche Hingabe einem sinnlosen Zweck geweiht sein sollte; daß er und die anderen, die im Innenraum litten und starben, dies tun sollten in Fortsetzung eines Krieges, der niemals stattgefunden hatte. Dort im Kontrollturm, als man die auf die Monitorschirme projizierten Bänder sah und Moules theoretischen Erläuterungen vom therapeutischen Wert eines Konfliktes innerhalb der gesteuerten Welt zuhörte, schien alles so logisch, beinahe wie eine Art Schachspiel; aber nach drei Monaten in diesem Gebiet, während denen er mit diesen Leuten gelebt und ihre Opfer beobachtet hatte, wurde Meyer immer wieder klargemacht, daß – was Moule auch sagte – dies keine Schachfiguren oder auch nur Experimentiergegenstände im laboratorischen Sinne waren. Es
waren menschliche Wesen, mit deren Schicksal er sich tief verbunden fühlte. Sikorski zum Beispiel, dieser dumme, rotgesichtige Bauernlümmel, der da unter der Anklage der versuchten Vergewaltigung an einer weiblichen Gefangenen vor Ulanov stand. Auf der Erde hätte er seine verhinderten Bedürfnisse ganz harmlos mit Hilfe eines Sensorengeräts austoben können, und hier – »Gefangener, stillgestanden! Rechts um! Im Laufschritt marsch – links-rechts-links-rechts –« Das Gebrüll von Oberstabsfeldwebel Gorst und das Stampfen schwerer Stiefeltritte auf dem Holzboden der Baracke rissen Meyer aus seinen Überlegungen. Die Tür schlug hinter dem Häftling und seinem Geleitschutz zu; die beiden Offiziere blieben allein zurück, und Meyer bemerkte, daß Ulanov ihn beobachtete; zwei Furchen zeigten sich zwischen den tiefliegenden grauen Augen. »Ich weiß, was Sie denken, Meyer.« »Sir?« Obwohl das unwahrscheinlich war, trat Meyer unbehaglich von einem Bein auf das andere. »Wir sind sehr darum bemüht, diesen Männern beizubringen, sich bei bestimmten Gelegenheiten, die unserem Zweck dienen, wie die Tiere zu benehmen – und dann bestrafen wir sie dafür, daß sie in anderer Hinsicht die gleichen Charaktereigenschaften zeigen. Ist es nicht so?«
»Ich muß zugeben –« Ulanovs energisches Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Mein lieber Avram, Sie sind sowohl glücklich als unglücklich, da Sie zu den Denkern zählen. Für Männer wie Sie ist der Krieg schwieriger, weil Sie zuviel empfinden. Vielleicht habe ich mehr Glück. Ich gehöre zu den Handelnden – den Entschlossenen. Es gibt ein Angriffsziel, und ich senke wie ein Stier die Hörner, stürme direkt dagegen an und achte dabei nicht auf die etwaigen Nachteile.« »Das ist nicht wahr. Sie überlegen im voraus. Wenn dem nicht so wäre, könnten Sie unmöglich so gut planen, wie Sie es tun«, widersprach Meyer. Ulanov nickte mit dem kurzgeschorenen Kopf, auf dem das graue Haar immer mehr überhand zu nehmen begann. »Sie mögen recht haben, Avram, aber trotzdem unterscheidet sich meine Einstellung von der Ihren. Deshalb sind Sie für mich so wertvoll. Sie fungieren sozusagen als mein Gewissen.« Gott! Wie gut du im Bilde bist, dachte Meyer und wunderte sich wieder einmal über die Fähigkeiten dieses Mannes, der – obwohl er unmöglich eine Ahnung haben konnte von der wahren Beschaffenheit jener Kräfte, die sein Dasein lenkten – so scharfsinnige, genaue Beobachtungen über ihre Beziehung anzustellen vermochte. »Sikorski – dieser dressierte Bär«, fuhr Ulanov fort,
lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück und zündete sich eine seiner schlanken braunen Zigarren an. »Es hat keinen Sinn, mit ihm über die Zukunft zu reden. Alles, was er kennt, sind seine unmittelbaren Gelüste. Er futtert, wenn sein Bauch knurrt; er tötet, wenn er sich dem Feind Auge in Auge gegenübersieht; und er giert, wenn seine Geschlechtsdrüsen jucken. Dreißig Hiebe werden das Jucken für den Moment einschränken, oder sie machen ihn zumindest vorsichtiger. So muß man Tiere behandeln. Wir nehmen keine Männer gefangen, aber die Frauen sind für uns notwendig, wenn der Endsieg errungen ist. Ohne sie gibt es keine Zukunft für die vereinigte Gemeinde, die wir innerhalb der Kuppel errichten wollen. Jetzt halten sich die meisten von ihnen noch für unsere Feinde, aber zum gegebenen Zeitpunkt muß man ihnen begreiflich machen, daß sie die Mütter der neuen Rasse werden sollen – der einzigen Rasse, die auf dieser Erde überlebt, welche durch den Verrat der nach Krieg lechzenden, imperialistischen Angreifer verseucht wurde. Natürlich wären Frauen unserer eigenen Abstammung zu bevorzugen, aber das ist – wie wir beide wissen – ein Ding der Unmöglichkeit. Wir werden mit dem Material, das uns zur Verfügung steht, wieder aufbauen.« Du wirst aber niemals wieder aufbauen, dachte Meyer. Man wird es dir nicht gestatten, weil dieser
Streit ewig weitergeht. Fortgesetzt von einem gedrungenen, glatzköpfigen Mann, der dort draußen im Kontrollturm sitzt, durch zahllose versteckte Spione beobachtet und die Situationen mit Rollenspielern wie mir manipuliert. Man gönnt dir nicht mal die Würde des Sterbens. Was deinem Körper auch zustößt, die gräßlichen Reste werden an einem Transportpunkt hinausgeschafft, wieder zusammengeflickt und von Boehm und seinen Chirurgen neu belebt. Daraufhin programmiert man dich um, so daß du das nächstemal vielleicht als eben einer dieser Feinde zurückkehrst, für die du einen solch abgrundtiefen Haß empfindest. Und was diese neue Rasse betrifft, von der du sprichst – ist es dir nicht in den Sinn gekommen, daß es bereits andere sexuelle Beziehungen zwischen unseren Männern und den weiblichen Gefangenen gegeben haben muß? Stiller, heimlicher verübte Beziehungen, weil Männer und Frauen sich gegenseitig brauchen, und politische Rücksichtnahme auf Freund oder Feind unter diesen Umständen kaum von Belang ist. Nein, nicht für dich, mit deiner Hingabe und deinen Zukunftsplänen; denn wenn dem so wäre, hätte dir auffallen müssen, daß diese Liebschaften nichts weiter als ein momentanes, verbotenes Vergnügen einbrachten. Ich weiß, daß es in der Geschichte des Innenraums niemals so etwas wie eine Empfängnis gab, noch geben wird. Dein Ziel einer sowjetischen Zukunft mit der Nachkommenschaft dei-
ner tapferen Kämpen und der weiblichen Gefangenen ist nur ein Traum, ein fruchtloser Traum ... Weil innerhalb dieses Gebietes keine Empfängnis, keine Samenübertragung, keine Fötusbildung erfolgen kann. »Ich habe beschlossen, unsere nächtlichen Überfälle anzukurbeln, Meyer«, sagte Ulanov. »Sie sind vom moralischen Standpunkt gesehen wirkungsvoller als die Operationen bei Tageslicht, und wirtschaftlicher im Bezug auf die Verluste.« Das lose sitzende Messer, die Drahtschlinge; der eigentliche Schrecken an der Kriegführung der Guerillas, wo sich der Mörder in der Dunkelheit auf leisen Sohlen anpirscht. Der Tod im offenen Kampf, ja sogar die fürchterliche, das Fleisch zerfetzende explodierende Granate, schienen Meyer weniger bestialisch. Doch er wußte, daß man ihn gar nicht um Rat fragte – nur um die Bestätigung einer Entscheidung, die Ulanov bereits getroffen hatte. Dennoch widersprach er: »Früher mag das zugetroffen haben, Herr Oberst. Aber der Nachrichtendienst teilt mit, daß der Feind vor kurzem die Wirksamkeit der Verteidigungsanlagen in seinem Umkreis beträchtlich verstärkt hat: mit der Einsetzung einer Reihe von Auslösungsstrahlen sowie InfrarotSuchanlagen. Es geht auch das Gerücht von einem neu gelegten Minenfeld im Sektor 16F.« Ulanovs durchfurchte Züge verfinsterten sich. »Gerücht?« knurrte er. »Gerüchte sind für Weiber und al-
te Männer da, Meyer. Was wir brauchen – und was Sie beschaffen sollen, – sind Tatsachen.« Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch und ging hinüber zum Tisch, auf dem eine Höhenkarte vom Inneren der Kuppel lag. »16F, sagten Sie?« Meyer trat zu ihm und nahm einen Zeigestock, der daneben auf dem Tisch lag. »16F, möglicherweise erstreckt es sich auch durch 16G«, antwortete er und zeichnete einen Bogen an der Südgrenze des feindlichen Landes. Ulanov überragte den dunkelhaarigen, schlanken Meyer um gut fünfzehn Zentimeter. »Möglichkeiten nützen mir nichts, Hauptmann. Wir haben, wie viele – vier Suchanlagen? Sie nehmen heute nacht einen Spähtrupp aus zehn Mann und erfassen dieses sogenannte Minenfeld kartographisch – kapiert?« »Ist das unter diesen Umständen klug?« fragte Meyer. »Gut denkbar, daß die ganze Angelegenheit nur auf einem Gerücht beruht.« »Dann werden wir das ausfindig machen!« brüllte Ulanov. Meyer verfluchte insgeheim seine eigene Dummheit, Ulanovs Befehl anzuzweifeln. Er sollte nun eigentlich den Mann gut genug kennen, um einen derartigen Fehler zu vermeiden. Man meldete bei Ulanov in dieser Stimmung keine Zweifel an – man gehorchte. Wegen dieses Fehltritts war die ungestörte
Harmonie der vorausgegangenen Unterhaltung vorläufig vorbei. Das einzig Vernünftige war, aus Ulanovs Reichweite zu verschwinden, ehe noch mehr Unheil angerichtet wurde. »Jawohl, Herr Oberst. Mit Ihrer Erlaubnis ziehe ich mich sofort zurück und kommandiere die Männer für den Streifzug ab.« Ulanov brummte seine Zustimmung, und Meyer verließ ihn, während er mißmutig über dem Kartentisch brütete. Fünfundvierzig Minuten später, nachdem er einem Feldwebel die letzten Vorbereitungen für den Spähtrupp übertragen hatte, kehrte Meyer in seine eigene, spartanisch ausgestattete Behausung zurück. Der Hauptvorteil des Offiziersranges lag darin, daß man wenigstens nicht den Lärm und den Gestank einer Barackenbude ertragen mußte. Man besaß – so wie die Dinge lagen – eine gewisse Intimsphäre. In diesem Fall dazu, um sich die gräßlichen Möglichkeiten des nächtlichen Unternehmens auszumalen, in das er da verstrickt worden war. Meyer überprüfte Waffen und Munition. Weil er keine Lust hatte, den anderen Offizieren beim Abendessen Gesellschaft zu leisten, legte er sich anschließend auf sein hartes Bett, um ein wenig zu schlafen. Während er zur kahlen Zimmerdecke hin-
aufstarrte und das Knurren seines Magens spürte sowie den schmierigen Schweiß, der ihm aus den Poren trat, wurde ihm bald klar, daß an Schlaf nicht zu denken war. Eventuell starb er auf diesem nächtlichen Streifzug: eines grausamen, schmutzigen Todes, bei dem sein Körper von den schartigen Fragmenten einer explodierten feindlichen Mine zerfetzt wurde. Es änderte auch nichts, sich mit dem Gedanken zu trösten, daß ein solcher Tod nur vorübergehend wäre; daß am nächstgelegensten Transportpunkt Räumungstrupps ihn oder das, was von ihm übrigblieb, auflesen und schnellstens zur Operation und Wiederbelebung zum Kontrollzentrum zurückschaffen würden. Schmerz und Tod mochten zwar nur zeitweilig sein, aber sie wären trotzdem subjektiv echt. Andererseits würde dies bedeuten, daß seine gegenwärtige Rolle im Innenraum abgeschlossen wäre. Man würde ihn entweder wieder auf die Erde schicken, oder er könnte zumindest den Rest seiner Dienstzeit behaglich im Kontrollturm zubringen. Meyer dachte an Ulanov und die anderen im Innenraum, die dem Tod ohne das tröstliche Wissen um die Wiederbelebung täglich ins Auge blickten, und bezweifelte wieder einmal seine Fähigkeit, diese Rolle noch länger zu spielen. Ihm wurde klar, daß die Hauptursache seiner Schwierigkeit in einer überregen
Phantasie lag. Doch konnte er wenig dagegen tun, außer sich in die Gleichgültigkeit zu flüchten, und das war keine richtige Lösung. Blieb nur die Frage, wo die Phantasie endete und die Feigheit begann? Ulanov und die anderen schöpften aus ihrer Hingabe und Zielbewußtheit Kraft, aber auch er hatte ein Ziel. Die Schwierigkeit bestand darin, daß in den vergangenen paar Wochen sein Glaube an dessen Wert langsam von einem Gefühl der Nichtigkeit und Isolierung zerfressen wurde. Aber er war nicht immer allein. Als wolle er ihn daran erinnern, gab der Mikrosender, der in den Knochen hinter seinem linken Ohr eingepflanzt worden war, sein winziges Piepsignal von sich. »Avram, geht es dir gut?« Die trotz des kleinen Lautsprechers bemerkenswert wahrheitsgetreue Stimme gehörte eindeutig Laura Frayne. »Mir? Einfach großartig«, erwiderte er. »Versuch nicht, mich anzuschwindeln, Avram.« Er lächelte, während er sich die zartgliedrigen, wunderschön geformten Züge der Frau vorstellte, die im Nachrichtenzentrum des Kontrollturms saß. »Würde ich das dir gegenüber tun, liebe Mutter?« Sie fluchte mit empfindlich treffender Ruchlosigkeit. »Du machst dir Sorgen wegen dieses nächtlichen Streifzugs, nicht wahr?« Es überraschte ihn nicht, daß sie von dem Auftrag
wußte. Auch wenn sie dem Gespräch zwischen ihm und Ulanov nicht selbst zugesehen und zugehört hatte, hätte ihr die Überwachungsabteilung einen Auszug auf Band geschickt, weil man es sicher als Vorfall von ziemlicher Wichtigkeit ansah. »Das weißt du verdammt gut!« »Sachte, Avram, sachte –«, beschwichtigte sie. Das Wissen, daß sie ihn zu beruhigen versuchte, ließ seine Verzweiflung nur noch größer werden. »Zwecklos, uns etwas vorzumachen, Laura – ich hab diese Rolle satt. Ich will raus – RAUS – raus!« »Das ist nicht dein Ernst, Avram.« Ihre Stimme blieb ruhig, geduldig. Er lag auf dem harten Bett, warf den Kopf von einer Seite zur anderen und schnitt eine Grimasse. »Hör mir zu, Laura, um Himmels willen, hör mir zu! Ich glaube nicht mehr an das, was ich tu. Der Innenraum – die ganze Angelegenheit ist ein Verschleiß, ein sinnloser Verschleiß. Kannst du dir vorstellen, wie das ist: mit diesen Menschen tagtäglich zu leben, sie zu kennen, sich in ihre Lage zu versetzen und sie unnötig leiden sehen zu müssen?« »Das muß ich mir nicht vorstellen«, erwiderte sie, und ihre Stimme wurde hart. »Ich war selbst dort. Jedesmal, wenn bei uns ein Patient zur Wiederbelebung eintrifft, lasse ich vor der Neuprogrammierung ein Kopierband anfertigen. Ich weiß, wie sie leiden,
wie sie sterben ... Ich habe es gemeinsam mit ihnen durchlebt. Männer, Frauen ... Weißt du, wie das ist, wenn man im Sterben liegt: das Gesicht nach unten im Schmutz, ein Loch in der Brust, durch das man eine Faust stecken kann, das Blut blubbert aus den zerschmetterten Lungen? Weißt du, was man fühlt, wenn einen der Strahl eines Flammenwerfers trifft, sich die Haut zu spannen beginnt und –« Sie sprach die Wahrheit, daran zweifelte er nicht. Diese hochgewachsene, schöne Frau mit dem Herz einer Löwin würde sich kein Experiment ersparen, das sie ihre Arbeit besser verstehen half; noch würde sie jener Art Selbstmitleid freien Lauf lassen, wie es ihn quälte. Er kannte die Wahrheit, und sie beschämte ihn, aber dennoch – »Laura, ich kann es einfach nicht mehr ertragen. Ich habe den Sinn aus den Augen verloren, falls es jemals einen gab. Alles, was ich sehe, ist das Leiden und Sterben in einer Weise, die kein Grund rechtfertigen kann.« Avram Meyer preßte die geballten Fäuste gegen die schmerzenden Schläfen und stöhnte seine Todesangst ins leere Zimmer. »Ich weiß, Avram, ich weiß.« Lauras Stimme war wieder sanft. »Aber es besteht neue Hoffnung, ich verspreche es dir.« »Wie kann es Hoffnung geben, solange das hier andauert?«
»Vielleicht dauert es nicht mehr lange an.« Die Worte durchstießen die Isolierschicht seiner Verzweiflung. »Du meinst, es gibt eine Veränderung? Moule hat endlich beschlossen, das alles zu beenden?« »Nicht ganz, aber es wurde etwas unternommen, ein neuer Faktor einbezogen.« »Was? Um Himmels willen, sag mir, was, Laura!« »Ich kann dir in diesem Stadium noch nicht mehr erklären. Du mußt mir vertrauen, Avram.« »Vertrauen!« »Später darf ich dir mehr verraten. Im Moment muß das genügen. Aber wenn es soweit ist, brauchen wir dich. Du wirst eine wichtige Rolle zu spielen haben. Avram, mach noch eine Zeitlang weiter. Ich verspreche dir, daß es aufhört und du beim Abschluß, beim Aufbau einer neuen Hoffnung mithilfst.« »Warum sagst du das? Willst du mir damit nur Honig um den Mund schmieren?« »Nein, Avram – es ist die Wahrheit; die ganze Wahrheit, die ich dir derzeit mitzuteilen wage. Hab Geduld und halt noch eine Weile aus. Und gib auf dich acht.« Piep. Der Kontakt war unterbrochen. Avram Meyer lag wieder allein auf seiner harten Pritsche. Er wußte, daß er für diese Frau, der er glaubte und vertraute, weitermachen würde. Er würde weitermachen, so-
lange er konnte, denn selbst wenn das, was sie gesagt hatte, lauter Lügen waren, ein Mann mußte an etwas glauben.
9 Davidson hatte sich mit Laura Frayne um halb neun in der Saturn-Bar verabredet. Er hoffte, daß bis dahin die ersten Abendgäste fort sein würden, und sie den Platz mehr oder weniger für sich allein hätten. Statt dessen drängte sich bei seiner Ankunft zwischen Theke und Haupteingang eine lachende, schwatzende Menge wie eine Schar Hühner um eine Fuhre verschütteter Körner. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmenge. Mit einem erstarrten Grinsen auf dem Gesicht erwiderte er etliche alkoholbeseelte Grußworte von Leuten, die normalerweise seine Anwesenheit überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hätten. Laura saß am anderen Ende des langgestreckten, niedrigen Raumes an einem Tisch. Vor ihr standen zwei Getränke. Sie deutete auf das eine. »Ich wollte es dir lieber ersparen, dich bis zur Theke durchzukämpfen.« »Danke«, sagte er und blickte zurück auf die Menschenmenge. »Idioten mit Spatzengehirn! Was ist eigentlich los – eine Feier?« Als er sich zurückdrehte und sie ansah, schüttelte sie das honigblonde Haar und lächelte. »Wirklich, Michael, manchmal frage ich mich, ob du überhaupt Notiz davon nimmst, was um dich herum vorgeht.«
Ihre Herablassung irritierte ihn wegen seiner unmittelbaren Reaktion auf ihren geschmeidigen, begehrenswerten Körper doppelt. »Also, was soll das bedeuten?« wollte er wissen. »Du hast doch sicher nicht vergessen, daß heute abend die Orion fällig ist«, erwiderte sie. Als sei ihre Bemerkung ein Stichwort gewesen, erloschen die Bildschirme in der Bar, die synästhesische abstrakte Bilder zeigten zur Untermalung des Enojazz, der über die Lautsprecheranlage ausgestrahlt wurde. Die zahlreichen Gäste verstummten plötzlich, als einen Augenblick später das wohlbekannte Lächeln von Earl Madison, dem Ansager und Nachrichtensprecher der Fernsehstation im Kontrollturm, die blanken Bildschirme zierte. »Oh, hallo, all ihr die Erde beobachtenden Opportunisten!« spottete Madison mit seiner ausgereiften Baritonstimme. »Hier unterbrechen wir unser Regionalprogramm und zeigen Ihnen eine Direktübertragung von Anflug sowie Landung des wackeren Raumschiffs Orion. Zuerst ein paar Worte mit Captain Checkman, den Sie alle –« Davidson musterte verächtlich die schweigende, den Bildschirm beobachtende Menge. »Sieh dir das an! Vor zwei Minuten haben sie sich noch alle die Stimmbänder heiser geschrien; und jetzt lauschen sie diesem Unsinn, den sie mindestens ein
dutzendmal gehört haben, als würde ihr Leben davon abhängen.« »Nun, in gewisser Weise tut es das ja, nicht wahr?« meinte Laura leise. »Die sichere Landung der Orion ist ein ziemlich wichtiges Ereignis.« »Das will ich gar nicht leugnen. Aber ich sehe keinen Sinn dahinter, daß man uns allmonatlich den ganzen langweiligen Ablauf aufzwingt. Dieses Getue mit der großen Feier zu jeder Landung erinnert mich an einen primitiven Frachtkult. Ich weiß, daß wir weitgehend auf die Vorräte der Orion angewiesen sind, aber was ist jedesmal so besonders an der Landung?« »Du befindest dich in der Minderheit.« »Das ist nichts Neues«, antwortete er. »Vielleicht wirst du es niemals müde, in diesem umgestülpten Goldfischglas zu leben«, meinte Laura. »Aber mir tut es zum Beispiel gut, auf einen Bildschirm zu schauen und mir dabei zu überlegen, daß die Erde nur soweit entfernt ist wie dieses Raumschiff.« »Du meinst, du hast Heimweh?« »Nenn es so, wenn du willst – oder ein Bedürfnis nach Rückversicherung. Es vermittelt mir das Gefühl, mit der Erde in Verbindung zu bleiben«, erklärte Laura und blickte dabei auf den nächstgelegenen Schirm. »Außerdem gibt es die Aussicht auf Briefe
und Bänder. Korrespondierst du mit niemand dort unten?« »Zum Beispiel mit wem? Dem Mädchen aus dem Nachbarhaus? Mit einer kleinen, alten, weißhaarigen Mutter?« fragte Davidson bitter. »Ich will dir mal was sagen. Das einzige Mädchen, mit dem ich eventuell im Briefwechsel stehen möchte, lebt hier auf dem Mars, und sie will nichts davon wissen. Was meine Mutter betrifft: sie macht zweimal im Jahr eine Verjüngungskur, und dazwischen ist sie gewöhnlich damit beschäftigt, entweder zu heiraten oder sich scheiden zu lassen. Auf jeden Fall hat sie mir das letztemal, als sie mir ein Band schickte, deutlich zu verstehen gegeben, daß sie es als gesellschaftliche Behinderung empfindet, einen dreißigjährigen Sohn eingestehen zu müssen.« »Armer Mike!« Lauras Hand griff in einer impulsiven, mitleidigen Geste nach der seinen. Er entzog sich ihrer Berührung, denn er spürte in sich Groll gegen ihr Mitleid aufflackern. Manchmal schien ihm, als würde sie es genießen, ihn auf diese Weise zu quälen; ihn durch ihre Gegenwart, ihre offensichtliche Verfügbarkeit zu erregen. Vielleicht begehrte er sie zum Teil gerade deswegen, und zur gleichen Zeit empfand er gegen sie einen Groll, der fast schon in Haß umschlug. »Ich glaube, ich gehe besser«, meinte er. »Ich wollte mich mit dir über die augenblickliche Lage im Innen-
raum unterhalten, aber dies scheint nicht der geeignete Zeitpunkt zu sein.« »Natürlich ist er das«, versicherte sie. Die Bildschirme zeigten eine Totale des sich nähernden Raumschiffs, aber Laura wandte sich ab und blickte ihn an. »Du hast ganz recht, Michael – eine Landung ist wie die andere. Obwohl vom psychischen Standpunkt aus interessant –«, sie streifte kurz die schweigenden Zuschauer, »– manchmal denke ich, daß hinter dieser Nachtwache mehr steckt als der Zauber des Beteiligtseins; daß sie der Landung zusehen, um wissentlich ihr kleines Quantum an gutem Willen beizusteuern und damit sicherzugehen versuchen, daß alles klappt. Wie immer die Wahrheit lauten mag, sie sind alle vollauf mit dem Ereignis beschäftigt – daher sind wir hier genauso allein wie anderswo.« Davidson war einverstanden. »Hast du dir irgendwelche Aufzeichnungen über Clyne angesehen?« fragte er. Sie nickte. »Du hast gute Arbeit geleistet – fast zu gut.« »Zu gut?« Ihr Ausdruck enthielt etwas, das er nicht deuten konnte – auf unbestimmte Weise schien sie sich unbehaglich zu fühlen. »Ja, ich erhielt Rückfragen wegen der Mitwirkung. Laut Torrances Schilderung benötigt Clyne seine Hilfe kaum. Er kann sehr gut auf Grund seiner eigenen
Leistungen übernehmen und befindet sich auf dem besten Weg dazu. Er begann damit, den Bürgerausschuß dazu zu überreden, ihn für den Militärdienst einzuteilen; und in den letzten drei Wochen hat er sich durch eine Reihe erfolgreicher Einsätze als der geborene Führer im Felde Geltung verschafft. Anscheinend mögen ihn die Soldaten, weil er immer in vorderster Front steht; und Brenner schätzt ihn, weil er ihm etliche Pflichten abnimmt.« »Das habe ich auch gehört«, bestätigte Davidson. »Irgendwie ist es ihm gelungen, das Vertrauen beider Seiten zu gewinnen – der bürgerlichen sowie der militärischen. Ein guter Anfang. Wenn ich nur eine geeignete Versuchsperson fände, um seinen Gegenspieler im südlichen Sektor zu programmieren, dann könnten wir die Sache richtig angehen.« »Noch keinerlei Aussichten?« Davidson zuckte die Achseln. »Vielleicht bekomme ich den richtigen Mann morgen – oder es dauert sechs Monate. Wie kann man das voraussagen?« »In diesem Fall sieht es so aus, als müßte ich in bezug auf Avram Meyer etwas unternehmen. Ich hatte gehofft, ihn im Innenraum lassen zu können, bis die neue Versuchsperson eingeschleust ist, aber wenn es noch lange dauert, muß ich ihn möglicherweise abziehen.« »Warum? Woran fehlt's?«
»Eine der Hauptschwierigkeiten besteht darin, daß er zu gut ist – er war schon immer überempfindlich, aber jetzt entwickelt er ein alarmierendes Interesse an Ulanov und den Zielen des südlichen Sektors«, erwiderte Laura. »Ich vermag immer weniger seine Reaktionen in Streßsituationen vorauszusagen, und das kann bei einem Rollenspieler gefährlich werden.« »Aber das ist dumm! Wie kann er sich so engagieren, wo er doch weiß, daß die ganze Angelegenheit nur auf einer künstlich geschaffenen, dramatischen Situation beruht?« »Wie soll ein Gehirn zwei Wirklichkeiten akzeptieren?« konterte Laura. »In diesem Fall – was ist Wirklichkeit?« Davidson wandte die Augen ab und versuchte die Begierde in seinem Blick zu verbergen. Er wollte sagen: »Wirklichkeit sind du und ich, ist die Sehnsucht meines Körpers nach dir, das Bedürfnis, das ich ausschließlich nach dir empfinde.« Aber statt dessen zwang er sich ein heiseres Lachen ab und erwiderte: »Werd nicht philosophisch, Laura – das kann ich nicht vertragen. Tatsache ist, daß wir gerade jetzt keine Veränderungen im Innenraum wünschen außer solchen, die in unsere Pläne passen. Wieviel hast du Meyer bisher erzählt?« »Sehr wenig – nur daß ein Umschwung stattfinden und er dabei eine Rolle zu spielen haben wird.«
»Und seine Reaktion?« »Er wollte mehr wissen, aber ich habe ihn hingehalten«, erklärte Laura. »Ich sag dir eins, Michael – wir werden mit ihm Schwierigkeiten wegen Ulanovs Absetzung bekommen. Er sieht in dem Mann eine Art Heldenfigur.« »Aber das ist alles falsch«, protestierte Davidson. »Ulanov ist nur ein Ochse, dem dieser tapfere Guerillaführer einprogrammiert wurde. Er ist eine Marionette und spielt jene dramatische Rolle, die man ihm zugedacht hatte.« »Von unserem Standpunkt aus vielleicht«, erwiderte Laura. »Aber wir leben nicht dort drinnen und fühlen uns so miteinbezogen wie Avram Meyer.« »Steht es tatsächlich so schlimm um ihn?« Davidson runzelte die Stirn. »Verflucht! Wenn ich nur sicher wüßte, daß es noch etwa einen Monat dauert, bevor eine zweite geeignete Versuchsperson auftaucht, würde ich vorschlagen, Meyer sofort aus dem Innenraum zu entfernen. Aber der richtige Mann kann schon morgen in Erscheinung treten, und dann wäre gerade ein Rollenspieler in Meyers Position wichtig.« Laura nickte verständnisvoll. »Ich lasse ihn noch innen, aber wenn Anzeichen einer weiteren Verschlechterung auftreten, muß ich ihn abziehen und dem Glück vertrauen.«
10 »Ah, Michael – gut, daß Sie kommen«, begrüßte ihn Moule. »Bitte nehmen Sie Platz.« Davidson setzte sich in einen Sessel und versuchte gleichzeitig die Miene auf den einschläfernd häßlichen Zügen des anderen zu deuten. Die Aufforderung, sich im Direktionsbüro zu melden, war frühmorgens nach seiner Unterredung mit Laura in der Saturn-Bar erfolgt. Es hatte keinen Zweck, die Sekretärin zu fragen, wer die Nachricht abgegeben hatte. Deshalb ließ er die Routinearbeit, mit der er sich beschäftigte, liegen und eilte geradewegs zum Verwaltungsgebäude hinüber. Moules plumper Körper rutschte leicht nach vorn, während er sich über den Schreibtisch beugte und seine hellen, bernsteinfarbenen Augen tief in die seines Untergebenen versenkte. »Sagen Sie, Michael – sind Sie hier glücklich?« »Glücklich?« Die seltsame Frage verstärkte Davidsons Unbehagen. »Lassen Sie's mich anders formulieren«, schlug Moule ruhig vor. »Finden Sie Ihre Arbeit als Programmierer manchmal übermäßig anstrengend?« Davidson suchte nach einer geeigneten Antwort. Er wollte sich ungern festlegen, bevor er nicht den Grund
für dieses Gespräch kannte. »Meiner Meinung nach gibt es keinen lohnenden Beruf, der nicht Augenblikke der Anstrengung und Langeweile in sich birgt. Natürlich ist die Tätigkeit anspruchsvoll –« »Vielleicht könnten Sie sich etwas genauer ausdrücken?« »Es wäre einfacher, wenn ich wüßte, worüber wir eigentlich sprechen«, erklärte Davidson; sein Unbehagen wich langsam der Ungeduld. »In Ordnung, lassen Sie's mich anders formulieren«, sagte Moule und legte seine riesigen, blassen Hände vor sich auf die Tischplatte. »Wie Sie wissen, ist die Programmierung ein Gebiet, in dem ich früher selbst umfassend arbeitete. Daher verstehe ich die Probleme, mit denen Sie konfrontiert werden. Will er gute Arbeit leisten, muß der Programmierer einen hohen Grad an Einfühlungsvermögen für jeden Patienten aufbringen, mit dem er zu tun hat; und nur eine Person mit großer Sensibilität ist dazu fähig. Dazu kommt, daß trotz aller künstlichen Hilfsmittel nur das menschliche Gehirn ein Programm maßgerecht für die Bedürfnisse und Triebe einer bestimmten menschlichen Persönlichkeit anfertigen kann. Tatsache ist, daß wir – wie methodisch wir auch vorzugehen versuchten – keinen Weg gefunden haben, den Vorgang per Computer zu steuern. Bedenkt man das alles, beginnt man ein wenig die Verantwortung zu
schätzen, die auf dem Programmierer lastet. Er beschäftigt sich fortwährend mit gefährlich explosiven Unklarheiten, abstrakten Begriffen, Verhaltensweisen sowie Leidenschaften. Er gestaltet ständig neues, ähnliches Material in seinem eigenen Gehirn und überträgt es mit Hilfe der Programmieranlage auf das Gehirn des Patienten. Deshalb muß ein gut Teil der Tätigkeit eines Programmierers in hohem Maße intuitiv sein, ein Vorgang, den man nur mit künstlerischem Schaffen vergleichen kann.« »Ja, ich denke, darin sind wir einer Meinung«, gab Davidson zu. »Deshalb«, fuhr Moule fort, »schwankt der Programmierer ständig zwischen wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit auf der einen und Einfühlungsvermögen sowie Verstehen auf der anderen Seite. Zuviel rationale Berechnung seinerseits, und es könnte die Gefahr bestehen, daß er dem Patienten ein Programm aufzwingt, welches ihm nicht viel mehr als eine Marionette einbrächte. Wenn er sich jedoch gefühlsmäßig zu stark einbeziehen läßt, könnte er seinen eigenen Verstand gefährden. Ich habe Sie früher schon gewarnt, daß man durch zuviel Interesse Fehlern unterworfen ist. Es scheint mir, als wäre es im Falle dieses Clynes geschehen.« Davidson unterdrückte eine bei der Nennung dieses Namens aufkommende Bestürzung. »Ich hatte es
mit einer stark paranoiden Persönlichkeit zu tun, die mir jede Art Verfahren zu fordern schien, das ich ihr zukommen ließ. Sie selbst prüften einige Auszüge des Hintergrunds, für den ich zu sorgen notwendig fand.« »Und meine Stellungnahme war, wenn Sie sich erinnern, nicht ganz beifällig«, sagte Moule. »Doch das ist im Moment nicht wichtig. Mir liegt mehr Ihr eigenes Wohlbefinden am Herzen.« Da er noch immer versuchte, den eigentlichen Zweck dieses Gesprächs zu erraten, schwieg Davidson, während der Vorsteher seine Aufmerksamkeit einer grünen Aktenmappe zuwandte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Sagen Sie, Michael«, sprach er weiter, ohne aufzublicken, »warum haben Sie sich in erster Linie um die Stellung eines Programmierers beworben?« »Warum?« Davidson zögerte absichtlich und prüfte die verschiedenen Möglichkeiten, die ihm einfielen. Er fühlte, daß es irgendwie wichtig war, die richtige Antwort zu finden – falls es eine gab. »Vielleicht deshalb, weil ich in einem solchen Beruf den Menschen helfen konnte, die mich brauchten, und gleichzeitig die Gelegenheit hatte, meine eigene Individualität auszudrücken«, antwortete er schließlich. Moule blickte auf; eine Spur Belustigung stand in
den blassen Augen. »Keine einfache Kombination, meinen Sie nicht auch? Zu helfen – und doch im gleichen Atemzug zu herrschen.« »Ich sagte nichts vom Herrschen«, widersprach Davidson schnell, erzürnt über das, was ihm wie eine absichtlich falsche Auslegung seiner Motive vorkam. »Bitte, seien Sie nicht gekränkt«, bat Moule gelassen. »Ich werfe Ihnen nichts vor. Die Herrschsucht ist ein vollkommen natürlicher menschlicher Trieb. Aber die Ihre muß, wie wir bereits festgestellt haben, besonders geartet sein: erstens, weil Sie Programmierer sind; und zweitens, weil Sie zweifellos meine Taktik, die ich hinsichtlich der dramatischen Lage im Innenraum verfolgte, ablehnen.« »Ich habe nie versucht, meine Zweifel an dieser Taktik zu verheimlichen«, brauste Davidson auf. »Aber ich denke, daß ich in meinem Beruf immer nach bestem Wissen und Gewissen handelte.« »Das mag schon sein«, gab Moule zu. »Es liegt jedoch auf der Hand, daß auf Grund Ihrer Begabung, sich in Ihre Patienten hineinzuversetzen, in Verbindung mit jener eingestandenen Opposition gegenüber meiner Politik Ihre Nerven ständig bis zum Äußersten gespannt sein müssen. Dadurch entsteht eine potentiell gefährliche Konfliktsituation, die ernsthafte Folgen für Ihre eigene Persönlichkeit haben könnte. Ich möchte, daß Sie verstehen: dies ist nur eine Dia-
gnose aus dem Stehgreif; der Versuch, die Abweichungen in Ihrem Psychenprofil zu erklären, die bei der letzten Überprüfung auftauchten. Aber ich nehme an, daß eine Tiefenuntersuchung Klarheit schaffen wird.« Davidson war jetzt auf der Hut; sein magerer Körper zitterte vor Spannung. »Moment mal, selbst wenn sich eine leichte Instabilität in meinem Profil gezeigt hat, gibt es keine legalen psychischen und sozialen Gründe, mit denen man mich zu einer Tiefenuntersuchung zwingen könnte.« »Von Zwang war doch gar nicht die Rede, oder?« meinte Moule sanft. »Aber im Hinblick auf Ihre ganz besondere Tätigkeit würde ich meine Pflicht vernachlässigen, wenn ich die Angelegenheit unter den Tisch fallen ließe. Vielleicht besteht tatsächlich kein Grund zur Beunruhigung – aber andererseits könnten die neuen Werte die Entwicklung einer eventuell gefährlichen Psychose auf tieferer Ebene anzeigen.« Davidson empfand eine wachsende Hilflosigkeit, während er spürte, wie die Falle über ihm zuschnappte. Die Tiefenuntersuchung war eine Technik, die er in seinem Beruf als Programmierer selbst alltäglich anwandte. Aber wenn er eine derartige Untersuchung von seinem Gehirn machen ließe, kämen sowohl die Art, in der er Clynes Programm abgeändert hatte, als auch die zugrundeliegenden Motive
ans Tageslicht. Und sobald diese Kenntnisse in Moules Hände gerieten, war der Plan, für den man Clyne vorgesehen hatte, gänzlich gescheitert. Die Lage wurde sogar noch schlimmer, weil Davidson wußte, daß Agostino, dessen Abteilung für die Abfassung des Profilberichts verantwortlich zeichnete, die möglichen Konsequenzen nicht entgangen sein konnten. »Und wenn ich es ablehne, mich einer Tiefenuntersuchung zu unterziehen?« fragte er. »Ich fürchte, in diesem Fall sind Sie nicht länger dazu fähig, Ihre Aufgaben als Programmierer auszuführen«, bedauerte Moule mit steinernem Gesicht. »Man würde mich in eine andere Abteilung versetzen?« Moule schüttelte langsam den Kopf. »Nein, in einem Fall wie dem Ihren wäre es unklug, so zu handeln. Ihre Persönlichkeit ist so beschaffen, daß Sie sich wahrscheinlich nicht mit einer untergeordneten Rolle in einem anderen Arbeitsgebiet zufriedengeben würden. In Ihrer gegenwärtigen Verfassung wären Sie für das Unternehmen nicht länger von Nutzen. In der Tat gibt es Anzeichen dafür, daß Sie für dessen Fortbestehen eine ausgesprochene Gefahr darstellen könnten. Ich fürchte, daß Sie mir unter diesen Umständen keine andere Wahl lassen, als Ihre Rückkehr auf die Erde anzuordnen.« »Aber mein Vertrag!«
»Wird wegen Arbeitsuntauglichkeit aufgehoben, und Sie erhalten eine angemessene Entschädigung«, erklärte Moule. »Ich vereinbare mit Captain Checkman, daß Sie auf der Orion zur Erde zurückfliegen, wenn diese morgen abend ablegt. In der Zwischenzeit schlage ich vor, daß Sie packen und sich verabschieden.« »Aber Sie können mich doch nicht so einfach fortschicken!« protestierte Davidson. »Sie hatten die Wahl, Davidson«, erinnerte der Aufsichtsleiter. »Vielleicht hätte Hoffnung bestanden, wenn Sie einer Tiefenuntersuchung zugestimmt hätten. Unter diesen Umständen muß ich tun, was ich für das Wohlergehen des Projekts am besten halte. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen –« Benommen von der plötzlichen Vernichtung seiner Zukunftspläne verließ Davidson langsam Moules Büro.
11 Laura Fraynes erste Reaktion war Ärger, als Michael Davidson in ihre Abteilung platzte und sie allein zu sprechen verlangte. Doch als er den Grund für sein Drängen erklärte, schwand diese Stimmung bald. »Also siegt Moule letzten Endes doch«, meinte sie traurig. Ihr war klar, daß der Plan, für den sie beide gearbeitet hatten, nun niemals Erfolg haben würde. Boehm, Hofer und die anderen – auch sie selbst – waren in dieser Sache von Davidsons Führung abhängig geworden. Ohne seine treibende Kraft bestand wenig Aussicht, daß die Angelegenheit weiterverfolgt wurde. Die Situation im Innenraum würde ewig nach jenen Richtlinien weitergehen, die Moule festgelegt hatte. Das Leiden und Morden würde andauern, und sie müßte machtlos zusehen, ohne etwas ändern zu können. »Nicht, wenn wir jetzt handeln«, widersprach Davidson. Sie runzelte die Stirn. »Aber wie können wir das? Zweifellos sind wir nicht fertig – Du wartest noch immer auf die Gelegenheit, einen neuen Anführer in den Südsektor einzuschleusen – und im Norden hat Clyne noch nicht übernommen.« Davidson ging gereizt im Zimmer auf und ab,
während er sprach; offensichtlich konnte er nicht länger als wenige Sekunden an einer Stelle verweilen. »Clyne besitzt eine latente Gruppe von Förderern. Wenn man Brenner ausschalten würde, ginge seine Befehlsübernahme fast automatisch vonstatten.« »Ausschalten?« Er trat dichter an sie heran, und sie sah in seinem Gesicht die kleinen Muskelstränge unter der blassen Haut zucken. »Laura, glaubst du an die Notwendigkeit einer Veränderung im Innenraum? Du hast nicht nur davon geredet?« »Natürlich glaube ich daran«, versicherte sie. »Aber gewiß wäre es schlimmer, einen halbherzigen, erfolglosen Versuch zu starten, als überhaupt nichts zu tun. Und ich sehe einfach keine Möglichkeit, etwas wirklich Wirkungsvolles innerhalb der sechsunddreißig Stunden zu unternehmen, die uns bis zum Aufbruch der Orion bleiben.« »Ich spreche nicht von einem erfolglosen Versuch.« Davidsons Stimme klang spannungsgeladen. »Was wir tun müssen, kann auf andere, raschere Weise ausgeführt werden, als wir ursprünglich planten. In der Tat bedeutet gerade diese Schnelligkeit im Handeln einen ausgesprochenen Vorteil, der es weniger wahrscheinlich macht, daß Moule auch nur das geringste ahnt, bevor wir unser Ziel erreicht haben. Das geht, versichere ich dir – aber nur, wenn wir kühn
und rasch handeln. Den ersten Schritt mußt du tun. Ich möchte, daß du Torrance anrufst und ihm mitteilst, Brenner solle einem Herzanfall erliegen.« »Brenner töten?« Sie schreckte vor dem Gedanken an eine derartig kaltblütige Exekution zurück. Davidson machte eine ungeduldige Handbewegung. »Er wird natürlich hierhergebracht und wiederbelebt. Die Hauptsache ist, daß er aus dem Innenraum verschwindet.« »Ich bin nicht sicher, ob Torrance von mir einen solchen Befehl entgegennimmt«, gab Laura zu bedenken. »Nicht von dir – von Moule«, korrigierte Davidson. »Du hast ihm bereits mitgeteilt, der Vorsteher beabsichtige, Clyne schließlich die Leitung des Nordsektors übernehmen zu lassen. Es sollte nicht allzu schwer fallen, Torrance davon zu überzeugen, daß Moule den natürlichen Ablauf mit Hilfe eines kleinen, zusätzlichen Eingriffs zu beschleunigen beschlossen hat. Schließlich, wofür sonst sind Rollenspieler im Innenraum?« Laura konnte sich der Logik der düsteren Maßnahme nicht entziehen. »Schön, angenommen, ich überrede Torrance, einen solchen Befehl entgegenzunehmen, dann verstehe ich noch immer nicht, wie die Einsetzung eines neuen Anführers im Norden zu den gewünschten Ergebnissen verhelfen soll. Wenn über-
haupt, so war ich der Meinung, daß eine Übernahme durch Clyne die Lage nur noch verschlimmern würde. Wahrscheinlich wäre eine seiner ersten Maßnahmen eine Steigerung der militärischen Einsätze in dem Bestreben, einen entscheidenden Sieg über die Guerillas zu erringen.« »Möglich, wenn man ihn in seiner jetzigen Unwissenheit beließe«, gab Davidson zu. »Aber du vergißt, daß ich bei seiner ursprünglichen Programmierung bereits eine solche Situation vorsah. Wenn er erst übernommen hat, rufe ich die verdrängten Erinnerungen in seinen Gehirnzellen wieder ins Leben. Dann wird er bereit sein, unter meiner Anleitung dem nichtigen Kampf im Innenraum ein Ende zu setzen.« »Mir scheint, du machst es dir zu einfach, Michael«, gab Laura zu bedenken. »Die Aufzeichnungen, die ich von Clyne gesehen habe, deuten – zumindest für mich – darauf hin, daß er lieber herrscht, als sich zu fügen. Ich kann mir kaum vorstellen, daß er deine Befehle widerspruchslos entgegennimmt, auch wenn er die Wahrheit über die gesteuerte Welt kennt.« »Du hast Aufzeichnungen von Clyne gesehen?« fragte Davidson spitz. »Natürlich. Das gehört zu meinem Beruf, besonders, seit er mit Torrance in engem Kontakt steht.« Dies war nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit fand sich Laura von Clyne so fasziniert, daß sie zu-
sätzliches Material bei der Überwachungsabteilung anforderte. Der Mann schien von einer derartig angriffslustigen Männlichkeit erfüllt zu sein, gepaart mit unbestrittener Intelligenz, so daß sie nicht widerstehen wollte oder konnte. Während sie ihn auf ihrem Bildschirm beobachtete, hatte sie sich oft bei dem Gedanken ertappt, daß sie mit einem solchen Mann vielleicht das unglückselige Erlebnis überwinden könnte, das ihre zwischenmenschlichen Beziehungen so lange überschattete; aber Michael Davidson war der letzte, dem sie derartige Überlegungen eingestehen würde. Da sie es im Moment für klüger hielt, die Unterhaltung in andere Bahnen zu lenken, sagte sie: »Schön, nehmen wir mal an, es gelingt dir, mit Clyne ein brauchbares Abkommen zu treffen, wenn er die Wahrheit über den Innenraum weiß. Dein ursprünglicher Plan beruhte auf einem baldigen Waffenstillstand zwischen Norden und Süden, den die von dir programmierten Anführer abschließen sollten. In diesem Fall wird es nur einen solchen Anführer geben: Clyne. Ulanov hingegen ist beinahe ein Fanatiker ohne Kompromißbereitschaft. Er würde lieber sterben, als auch nur die Möglichkeit eines solchen Waffenstillstandes in Betracht zu ziehen.« »So lautet seine gegenwärtige Einstellung«, gab Davidson zu. »Aber Einstellungen kann man ändern, das weißt du sehr gut.«
»Mit Hilfe der Ausrüstung, die dir in der Programmierabteilung zur Verfügung steht, vielleicht«, sagte Laura. »Aber Ulanov ist im Innenraum. In der Zeitspanne, die dir zur Verfügung steht, wäre es unmöglich, ihn daraus zu entfernen und zur Umprogrammierung hierher zu bringen – selbst wenn du das könntest, ohne daß Moule sich einschalten würde.« »Dann muß es eben im Innenraum getan werden«, erklärte Davidson. »Ich habe bereits mit Jack Hofer vereinbart, daß er mir sein abgeändertes Sensorengerät leiht.« Laura fröstelte innerlich, als sie an die Folgen dessen dachte, was Davidson gesagt hatte. Unter den älteren Mitgliedern im Kontrollstab war es ein offenes Geheimnis, daß Jack Hofer, ein genialer Elektroingenieur, auch zu den »Bandwürmern« gehörte. Sensorengeräte, die normalerweise auf den Markt gebracht wurden, waren ziemlich harmlose Unterhaltungsspiele, die auf verschwommene Weise geisterhafte Gefühlseindrücke hervorriefen. Ihre Wirkung hing dabei größtenteils von der Bereitwilligkeit sowie der angeborenen Vorstellungskraft des Benutzers ab. Nicht so Hofers Sensorengerät. Es drang tief ein, sobald man die Auslösungskappe anlegte, und reproduzierte ganz gewöhnliche, leicht erhältliche Bänder aus der Bibliothek mit einer Originaltreue, die normalerweise bei einem handelsüblichen Gerät verlorenging.
Hofers Abänderungen waren nicht einzigartig in dem Sinne, daß niemand je zuvor daran gedacht hätte. Die handelsüblichen Geräte hätten ebenfalls derartige Ergebnisse erzielen können, aber auf Anordnung des Ministeriums für Soziopsychologie wurden sie absichtlich in schwächerer Qualität hergestellt. Ständige Überstimulierung durch eine solche Maschine konnte nämlich bei einigen Personen den dauerhaften Rückzug von der Wirklichkeit hervorrufen; sie blieben in einer katatonischen Trance, gefangen in einem sich unendlich wiederholenden Traum, und waren völlig unempfänglich für ihre Umwelt. Die meisten »Bandwürmer« auf der Erde waren Amateure, die versuchten, im Handel erhältliche Geräte mit Teilen aus zweiter Hand, die sie von zwielichtigen Händlern zu phantastischen Preisen erwarben, zu verstärken. Sie arbeiteten meist im dunkeln, besaßen kein Stromkreisschema, und ihre Experimente beruhten auf Versuch und Fehlschlag – Fehlschläge, die häufig verheerende Folgen für ihre eigene geistige Gesundheit hatten. Hofer andererseits war Profi, ein Elektronikspezialist, der einen großen Teil seiner Berufsjahre damit zubrachte, die vielen Ausrüstungsgegenstände, die man in der Programmierungsabteilung benötigte, zu pflegen; und die Programmieranlagen waren schließlich nicht mehr als superstarke, selektiv kontrollierte Sensorengeräte. Deshalb hatte es
Hofer nicht nötig, sich auf schadhafte, gebrauchte Ersatzteile zu verlassen. Er konnte jeden gewünschten Artikel einfach im Lager bestellen unter dem Vorwand, er werde als Ersatzteil für die Wartung der Programmieranlagen gebraucht. »Und das Band für diesen Eingriff?« fragte Laura. »Ich habe noch immer Zugang zur Programmierungsabteilung«, erinnerte Davidson. »Es erfordert höchstens einige Stunden Arbeit, ein geeignetes Programm aus dem vorrätigen Bibliotheksmaterial zusammenzustellen.« »Aber die bleibenden Folgen für Ulanov –« Davidson lächelte sparsam. »Du machst dir zuviel Sorgen, Laura. Sicher wird die Einfütterung eines solchen Bandes seinem Orientierungssinn einen ziemlichen Schock versetzen, aber die Integrität seines Ichs ist so stark, daß sie ruhig ein bißchen grobe Behandlung einstecken kann. Ich sehe keine Schwierigkeiten, wenn wir ihn erst einmal am Haken haben.« »Wir?« »Dein kleiner Freund Avram Meyer und ich«, erklärte Davidson. »Du erwartest, daß Avram dir dabei hilft?« »Natürlich«, betonte Davidson. »Das ist die Chance, endlich etwas gegen seine Gewissensbisse zu unternehmen.« »Aber begreifst du denn nicht«, protestierte Laura.
»Avram ist Ulanov völlig ergeben – er verehrt diesen Mann. Ich bezweifle, ob er bei so etwas mitmachen würde, wenn ihm die eventuelle Gefahr für Ulanov bekannt wäre.« »Dann werden wir nicht darauf bestehen, sie ihm zu sagen, oder?« meinte Davidson. »Jetzt muß ich gehen, das Band vorbereiten und ein paar von den anderen aufsuchen. Ich bin am frühen Nachmittag zurück und sehe es mit dir durch, in Ordnung?« Nachdem er fort war, blieb Laura noch lange sitzen und überdachte die Möglichkeiten der Lage. Vielleicht war sie doch nur eine Lehnstuhl-Revolutionärin, eine Schwätzerin. Jetzt, da sich die Räder der Maschine zu drehen begonnen hatten, regten sich bei ihr ernsthafte Zweifel. Davidson hatte im Prinzip recht, und sie unterstützte ihn bisher – aber jetzt beherrschte ihn eine gefährliche Euphorie, mangelnde Rücksichtnahme auf etwaige Nachteile seiner Bemühungen hinsichtlich des Leidens anderer. Vielleicht war Michael schon immer so gewesen, aber ihr eigener Idealismus hatte sie blind gemacht. Mit sich selbst ungeduldig, verscheuchte Laura die Zweifel. Die Zeit der Selbsterforschung war vorbei – jetzt mußte sie handeln. Sie ging hinüber zum Übertragungsgerät. Torrance war ein alter Hase, den man bereits im Innenraum eingesetzt hatte, lange bevor Laura ihren
Posten als Abteilungsleiterin übernahm. Obgleich er sie niemals direkt daran erinnerte, bezweifelte sie nicht, daß sein Wissen um sein höheres Dienstalter eine große Rolle bei ihrer Einstellung zueinander spielte. Nicht, daß er ihr ihren Posten mißgönnt hätte. In dieser Hinsicht hegte sie keinen Zweifel. Torrance gehörte nicht zu denjenigen, die sich an einen Verwaltungsschreibtisch binden ließen, für den Leiter Berichte zusammenstellten, sich mit jedermanns Wehwehchen befaßten und gewöhnlich die gemischten Rollenspieler verhätschelten, die von Zeit zu Zeit innerhalb der gesteuerten Welt kamen und gingen. Torrance war, wie er selbst bei einem seiner seltenen Besuche im Kontrollturm formulierte, ein InnenraumMensch mit einem in Fächer aufgeteilten Gehirn, so daß er ohne Vorbehalt die Vorgänge in seiner Umgebung als Tatsachen hinnehmen konnte, während er zur gleichen Zeit seine eigentliche Funktion sowie seine Beziehung zur ›realen‹ Welt im Kontrollturm kannte. Persönlich war ihm Laura nur dreimal begegnet: ein großes, verwildertes, plumpes Mannsbild, dessen schlecht sitzende, abgenutzte Kleidung in den keimfreien, von Robotern geputzten Gängen des Kontrollturms gänzlich fehl am Platz schien. Jedesmal hatte er sich ihr gegenüber wie ein Kavalier der alten Schule verhalten, was sie recht genoß, auch wenn sie sich
fragte, ob hinter seinen hervorquellenden, braunen Augen nicht möglicherweise eine Spur Spott lag. Deshalb war sie nicht so sicher wie Davidson, daß er die Befehle, die sie ihm geben wollte, widerspruchslos hinnehmen würde. Laura war dankbar dafür, daß – obwohl sie ihn auf dem Monitor sehen konnte – sein einziger Kontakt mit ihr im Ton ihrer Stimme bestand, der über den in seinen Schädel eingepflanzten Mikrosender weitergeleitet wurde. Ihre Zweifel erwiesen sich als begründet. Nachdem er sie angehört hatte, meinte er: »Ich sag dir ganz ehrlich, Laura: ich bin gar nicht glücklich über diese Sache mit Clyne. Ich hab gemäß deinen Anordnungen mit ihm zusammengearbeitet, aber je länger ich ihn beobachte, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, daß sich der Aufsichtsleiter verrechnet haben könnte. Als Kommandeur hat Brenner genau das richtige Maß an Untauglichkeit, um den Status quo aufrechtzuerhalten. Wenn Clyne übernimmt, weiß Gott, was dann geschieht. Übrigens, wer hat ihn programmiert?« »Davidson.« »Nun, meiner Meinung nach ist er zu weit gegangen«, grollte Torrance. »Hast du irgendwelche Aufzeichnungen von diesem Mann in Aktion gesehen?« Laura hatte, aber weil sie erkannte, daß es eine rein rhetorische Frage war, schwieg sie, während Torrance
fortfuhr: »Ich sehe einfach keinen Grund dafür, die Angelegenheit zu überstürzen. Taktik der Zusammenarbeit! Clyne brauchte weder meine Hilfe, noch die eines anderen – ist dir das klar? Und was die Sache betrifft, ihm den Weg zu ebnen, indem man Brenner los wird, wozu das Ganze? Clyne hat bereits neunzig Prozent der militärischen sowie bürgerlichen Bevölkerung auf seiner Seite, und er wird übernehmen, wann es ihm paßt, gib dich dabei keinen falschen Hoffnungen hin. Clyne ist ein Planetenstürmer im Alleingang, mit einer kilometerbreiten paranoiden Strähne sowie einer Redegewandtheit, mit der er sich in jeder Situation freisprechen kann.« »Ich glaube, du überschätzt Clyne«, dämpfte ihn Laura, obwohl ihr eigenes Urteil ganz ähnlich ausfiel. »Verflucht, von wegen Überschätzung!« explodierte Torrance. »Ich hab diesen Mann beim Handeln beobachtet und ihm zugehört. Wenn er übernimmt, stellt er einen Vernichtungsangriff gegen den Süden auf die Beine, und er wird dabei von dieser Gemeinde in jeglicher Weise unterstützt. Danach glaube ich ganz ehrlich, daß ihn der Innenraum nicht halten kann – Clyne ist zu großspurig, um dessen Grenzen zu akzeptieren. Er hat bereits angedeutet, daß er gern einen Erkundungstrupp aus der Kuppel schicken würde, wenn der Krieg erst mal vorbei ist.« »Du machst dir zuviel Sorgen, Bob«, meinte Laura.
»Es wird lange dauern, bevor er etwas Derartiges angehen kann.« »Das sagst du, aber da bin ich mir nicht so sicher.« Torrance wollte sich nicht beruhigen lassen. »Er denkt weit voraus und macht schnelle Fortschritte. Wenn wir es jemals soweit kommen lassen, und er eine solche Expedition hinausschickt, was würde dann deiner Ansicht nach wohl mit der eingeschränkten Wirklichkeit dieses ganzen Gebietes geschehen?« Von Torrances Standpunkt aus gesehen war die Möglichkeit, daß die Bewohner des Innenraums ausbrachen und entdeckten, statt unter einer schützenden Kuppel auf der verwüsteten Erde in Wirklichkeit sechzig Millionen Kilometer entfernt auf einem anderen Planeten zu leben, vielleicht eine Katastrophe, die – wenn nichts anders, – so doch die sorgfältige jahrelange Arbeit zerstören würde. Sie wußte auch, daß es zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig hoffnungslos wäre, ihn zu Michael Davidsons Anschauung zu bekehren. Daß nämlich ein solcher Schritt auf lange Sicht weniger Schaden anrichte, als die fortgesetzte Zurschaustellung menschlichen Leidens, das dazu verdammt schien, unter den jetzigen Umständen im Innenraum ewig anzudauern. Clynes eigentliche Funktion bestand darin, als Handlanger die soziale Lage im Innenraum zu stabilisieren; war dieses Ziel erreicht, konnte selbst eine Persönlichkeit wie die sei-
ne mit den Hilfsmitteln, die den Wissenschaftlern im Kontrollturm zur Verfügung standen, an die Kandare genommen werden. »Bob! Das sind jetzt natürlich Hirngespinste«, schalt sie und versuchte ein bißchen Munterkeit in die Stimme zu legen. »Von wegen Hirngespinste, verdammt!« brüllte Torrance. »Du bist ein braves Mädchen, Laura, aber ich weiß, was hier vorgeht.« »Niemand leugnet das, Bob – doch so lauten die Anordnungen des Vorstehers.« »In diesem Fall vergeude ich vielleicht meine Zeit, wenn ich mit dir spreche«, meinte Torrance. »Hör mal, warum verbindest du mich nicht direkt mit Moule und läßt mich ein paar Dinge klarstellen?« »Tut mir leid, du weißt doch, daß ich das nicht kann«, lehnte Laura ab, und Panik verschärfte ihre Stimme. »Der Herr Direktor ist gerade sehr beschäftigt. Außerdem müssen alle Berichte durch die richtigen Kanäle laufen, wie dir bekannt ist. Ich schicke ihm eine vollständige Aufzeichnung unseres Gesprächs, wenn er dann mit dir Verbindung aufnehmen will –« »Kanäle! Berichte!« rief Torrance. »In Ordnung, mach es auf deine Art, aber daß er die Aufzeichnung auch wirklich bekommt.« »Und die Anweisungen?« Laura wagte kaum, das
Thema zur Sprache zu bringen, aber die Dringlichkeit der Situation ließ ihr keine andere Wahl. »In Ordnung, ich mach Brenner mit einer glaubhaften Herzschwäche kampfunfähig. Aber ich will den Handlungsablauf wissen – eine endgültige Prognose über das neue dramatische Modell. Und sag dem Direktor, daß mich – wenn eine Änderung der Taktik vorgenommen wurde – mein Rang meines Erachtens dazu berechtigt, darüber informiert zu werden.« Laura stieß einen leisen, erleichterten Seufzer aus. »Bist du sicher, daß das alles in deinem Bericht bleiben soll? Ich denke, der Vorsteher hat es nicht gern –« »Du schickst ihm nur die Aufzeichnung und zerbrichst dir nicht deinen Kopf, kleines Mädchen«, belehrte Torrance sie. »Ja, Bob. Auf Wiederhören einstweilen.« Laura unterbrach die Verbindung; dann drückte sie auf einen Knopf des Geräts und sah gelassen zu, wie das Band lautlos am Tilgungsknopf vorbeilief. Als alle Spuren des Gesprächs mit Torrance beseitigt waren, rief sie abermals die Überwachungsabteilung an und bat, eine Kamera auf Avram Meyer im Südsektor zu richten.
12 Michael Davidson hatte seit langem erkannt, daß Jack Hofer und Laura seine verläßlichsten Verbündeten waren. Das erwies sich in gewissem Sinne als recht günstig, denn seine Mission hing speziell von den beiden ab. Von Hofer, weil er das abgeänderte Sensorengerät zu besorgen vermochte, das zur Neuprogrammierung von Ulanov benötigt wurde; außerdem konnte der Leiter der elektronischen Abteilung als einziger im Kontrollturm die Nachrichtensperre einleiten und beibehalten, die zumindest zum Auftakt für Davidsons Erfolg wichtig war. Von Laura, weil ihre Verbindung zu den beiden Rollenspielern und ihm von Hofers Nachrichtensperre unbeeinflußt blieb; sie würde ihn mit Informationen über die Lage im Innenraum versorgen, wodurch er seinen Plan dementsprechend anpassen konnte. Was die anderen drei betraf – Boehm, Agostino und Pelissier –, so hatten sie keinen unmittelbaren Anteil an den Vorgängen in der gesteuerten Welt, aber sie würden trotzdem später wichtig werden. Die erfolgreiche Manipulation der dramatischen Situation des Innenraums war nur die erste Phase des Plans. Selbst wenn diese abgeschlossen und die geänderte Situation stabilisiert war, bliebe Moule – wenigstens
dem Namen nach – noch immer der Leiter des Unternehmens. Er und seine Methoden waren unbeliebt, aber es gab mit Sicherheit gewisse Leute innerhalb des Kontrollturms, die aus dem einen oder anderen Grund Moule die Treue halten und sich auf die eine oder andere Weise weigern würden, ihn abzusetzen. Davidson erwartete keinerlei Gewaltausbrüche innerhalb des Kontrollturms, sondern eher einen unblutigen Coup. Dies hing von der stillschweigenden Vermutung ab, daß die meisten Kontrollstabsangehörigen ihren geschätzten Abteilungsleitern eher die Treue hielten als dem Vorsteher. Natürlich wäre es unmöglich gewesen, alle diese Leute ins Vertrauen zu ziehen, bevor man mit der Ausführung des Plans begann – selbst wenn die Zeit gereicht hätte. Er mußte sich auf die Mutmaßung verlassen, daß ein Großteil die Änderung unterstützen würde, wenn sie vor vollendete Tatsachen gestellt und über die Beteiligung ihrer Abteilungsleiter informiert wurden. Wie bereitwillig allerdings die Beteiligung im Fall Agostino sei, hatte Davidsons Gedanken seit heute morgen beschäftigt, nachdem Moule von einem ungünstigen Psychenprofil Mitteilung gemacht hatte. Während er mit der Vorbereitung des Programmierungsbands für Ulanov begann, fragte sich Davidson, wie er die Sache mit Agostino angehen sollte. Zweifellos wäre es naiv gewesen, zu erwarten, daß der
Psychologe freiwillig seinen Bericht fälschte. Andererseits mußte er sich ausmalen können, welche Wirkung die neue Profilbewertung für Davidsons Zukunft haben könnte. Natürlich vorausgesetzt, das neue Profil war tatsächlich echt – Davidson richtete sich mit einem Ruck auf. Agostino legte bei der letzten Zusammenkunft alles andere als Begeisterung über den Plan an den Tag. War es denkbar, daß bei der Anfertigung des Psychenprofils doch eine Fälschung vorgenommen wurde – aber eine Fälschung anderer Art? Zum Beispiel angenommen, Agostinos lauwarme Gefühle hatten seit diesem letzten Treffen in endgültiger Opposition gegen den Plan feste Form bekommen, daß er aber nicht direkt zu Moule gehen und das Treiben der Gruppe aufdecken wollte. Wäre es statt dessen nicht möglich, daß er die günstige Gelegenheit der routinemäßigen Profiluntersuchung nutzte, weil er genau wußte, daß die Verwirklichung des Plans hauptsächlich von Davidson abhing, – damit Davidson für untauglich erklärt wurde, weiterhin am Projekt zu arbeiten? Ein solcher Kunstgriff wäre für jemand auf Agostinos Posten ganz einfach. Er wußte genau, welche Aspekte im Profil zu ändern, welche Instabilitäten zu betonen waren, um Moules Entscheidung zur Selbstverständlichkeit zu machen. Und da er Davidsons Einstellung hinsichtlich der Tiefen-
untersuchung kannte, konnte er mit Sicherheit annehmen, daß er sich keiner Prüfung unterziehen würde, die die Lügen in einem gefälschten Psychenprofil aufdecken könnte. Außer sich über Agostinos eventuellen Verrat, legte Davidson seine Arbeit vorläufig beiseite und ging erregt im Zimmer auf und ab. Jetzt, da er über die Angelegenheit nachdachte, konnte er sich kaum vorstellen, warum er den wahren Sachverhalt nicht schon früher verstanden hatte – besonders da er wegen Agostino bereits seit einiger Zeit ein ungutes Gefühl verspürte. Aber was jetzt – in dieser entscheidenden Phase – tun? Selbstverständlich konnte er nicht der zitternden Raserei nachgeben, die ihn dazu anstachelte, in die psychische Abteilung zu eilen und den fetten Italiener gegen die Wand seines Büros zu klatschen. Gewalt mochte vorübergehend eine gewisse Befriedigung schaffen, aber sie brächte keine Lösung und würde mit ziemlicher Sicherheit die Fortsetzung seiner Mission gefährden. Das Vernünftigste wäre, den Mund zu halten, sein Temperament zu zügeln, die Entdeckung der Wahrheit derzeit zu verheimlichen und Agostino weiter als treuen Verbündeten zu behandeln. Es gab auch noch andere Fakten, die zu Gunsten einer solchen Selbstkontrolle sprachen: zum einen die offensichtliche Tatsache, daß er sich nach dem Erfolg des Plans sowie
der Absetzung von Moule in einer weitaus stärkeren Position befand, um mit Agostino nach seinem Willen zu verfahren. Sein mageres Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als ihm die Möglichkeiten dieser Stellung noch deutlicher wurden. Ja, er würde warten und sich Agostino zunutze machen, solange es ihm gefiel. Die Rache wurde durch diesen Aufschub nur um so süßer und gab dem Sieg eine zusätzliche Würze. Er wandte sich wieder dem Bearbeitungsgerät zu und beschäftigte sich weiter mit Ulanovs Band. Um vier Uhr kehrte Davidson in Laura Fraynes Abteilung zurück. Die berauschende Stimmung, in der er sich wegen der Aussicht auf Erfolg befand, machte ihn keineswegs blind für die offensichtliche Spannung in ihrem Gesicht, als sie ihn begrüßte. »Stimmt was nicht?« fragte er. »Hattest du Schwierigkeiten mit Torrance?« »Er brummte ein bißchen – wollte sogar selbst mit Moule sprechen, aber schließlich erklärte er sich damit einverstanden, meine Wünsche zu erfüllen.« »Gut! Dann brauchen wir uns keine Sorgen zu machen«, meinte Davidson und spürte ihrerseits noch immer die mangelnde Begeisterung. »Jetzt kann ich den Dingen im Nordsektor ihren Lauf lassen und mich ganz auf die Umprogrammierung von Ulanov konzentrieren.«
»Hast du das Band vorbereitet?« »Natürlich. Ich gehe kurz nach Einbruch der Dunkelheit in den Südsektor. Ich möchte, daß du Meyer verständigst. Er soll mich am unterirdischen Austrittspunkt erwarten.« Laura runzelte die Stirn. »Ich habe auch mit Avram Meyer gesprochen. Ich bin gar nicht zufrieden darüber, wie er dies wohl aufnimmt.« »Nicht zufrieden? Ich verstehe nicht«, sagte Davidson. »Seine Rolle in dieser Angelegenheit stellt sehr geringe Ansprüche. Er muß nur dafür sorgen, daß ich in Ulanovs Privaträume komme, ohne von den Wachtposten daran gehindert zu werden. Danach muß er sie mir vom Leib halten, während ich Ulanov das Band einfüttere. Hör mal, warum rufst du ihn nicht ein zweites Mal an und läßt es mich ihm erklären?« »Nein – das halte ich für keine gute Idee«, lehnte Laura ab. Davidsons Ungeduld schlug plötzlich in Wut um. »Was, zum Teufel, soll das alles bedeuten?« herrschte er. »Ich weiß, daß Meyer immer dein besonderer Liebling war, aber das geht zu weit. Es besteht keinerlei Gefahr, wenn er tut, was man ihm sagt. Die ganze Angelegenheit ist ein vollkommen einfach gearteter Einsatz, wie er für jeden Rollenspieler zur Routine gehören sollte.«
»Ich bin anderer Meinung«, widersprach Laura entschlossen. »Avram Meyer befindet sich seit einiger Zeit in einem Zustand wachsender seelischer Belastung, wie ich dir bereits erklärte. Nimm dazu seine persönliche Beziehung zu Ulanov, und du erhältst eine möglicherweise gefährliche Situation. Vielleicht wäre es anders, wenn man ihn bereits früher in den Plan eingeweiht hätte, aber das unüberlegte Risiko, ihn einfach einzuschieben, könnte ernsthafte Folgen haben.« »Was schlägst du folglich vor, daß wir tun sollen – die ganze Sache abblasen, um Meyers Gefühle zu schonen? Um Himmels willen, bleib realistisch, Laura. Du weißt genauso gut wie ich: wenn wir nicht innerhalb der nächsten paar Stunden handeln, gibt es einfach keine Gelegenheit mehr, und ich fliege auf der Orion zur Erde zurück.« »Nichts dergleichen«, versicherte sie und sah ihm unerschrocken in die Augen. »Ich bin mir vollkommen klar darüber, wie dringend die Umprogrammierung Ulanovs ist. Das Unternehmen muß nur auf andere Art angegangen werden, das ist alles.« »Schön – dann sag mir, wie«, meinte Davidson. »Welche Alternative gibt es?« »Laß mich in den Innenraum gehen und die Umprogrammierung von Ulanov vornehmen«, bat sie. »Es ist das Naheliegendste. Meyer wird sich mit der
Situation viel besser abfinden, wenn ich sie ihm erkläre; außerdem ist er an die Zusammenarbeit mit mir gewöhnt.« Davidson musterte sie ruhig. Was sie sagte, klang vom praktischen Standpunkt gesehen vernünftig, aber es schuf ein zusätzliches Wagnis, dessen sich nur er bewußt war. Zweifellos konnte Laura die Umprogrammierung Ulanovs genauso gut vornehmen wie er. Es war auch nicht zu leugnen, daß ihr Meyer wahrscheinlich vollste Unterstützung zukommen lassen würde. Aber durch Lauras Einschleusung in den Innenraum entstand die Möglichkeit eines Zusammentreffens zwischen ihr und Clyne, und das mußte er unbedingt vermeiden. Auf Grund seiner Programmierung beherrschte Clyne eine eingebaute enge Beziehung zu Kay, die nach Lauras Ebenbild geschaffen wurde. Ein Zusammentreffen mit Laura mochte sehr wohl eine neue, unvorhersagbare gefühlsmäßige Situation hervorrufen; und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die Voraussagbarkeit von Clynes Reaktionen wesentlich war. Obwohl es höchst unwahrscheinlich schien, daß Laura positiv auf derartige Gefühle seitens Clyne ansprechen würde – schließlich fühlt sich eine Frau mit ihrer Intelligenz schwerlich von einem solchen Rohling angezogen – wollte er lieber keine Probe aufs Exempel machen, besonders jetzt nicht.
»Abgesehen von allem anderen würde es doch sicher deine eigene Position erleichtern, wenn ich in den Innenraum ginge?« fragte Laura. »Schließlich kannst du nicht an zweierlei Orten gleichzeitig sein – und du hast vielleicht alle Hände voll zu tun, um mit Clyne fertig zu werden; ganz zu schweigen von eventuellen Schwierigkeiten mit Torrance.« Er zögerte noch immer. »Aber wie steht's mit den Meldungen? Ich habe mich darauf verlassen, daß du bei einem etwaigen Notfall hier bist.« »Wenn ich mich im Innenraum befinde, wird wahrscheinlich kein Notfall eintreten. Außerdem kann Hofer das Nachrichtenwesen erledigen.« Was sie sagte, ergab eindeutig Sinn. Und er sah keinen Grund, warum sie Clyne jemals persönlich begegnen sollte, besonders wenn der Mann die ganze Zeit von ihm überwacht wurde. »In Ordnung«, stimmte er schließlich zu. »Wir machen es auf deine Weise. Ich gehe in den Nordsektor, und du kannst mit Meyers Hilfe Ulanov übernehmen. In der Zwischenzeit setzt du dich besser mit Jack Hofer in Verbindung, damit er dir eine kurze Gebrauchsanleitung für das abgeänderte Sensorengerät gibt.«
13 Der Bürgerausschuß saß an drei Tischen, die man zu einem U zusammengestellt hatte. Mehr als geladener Gast denn als gewähltes Mitglied saß Gerry Clyne an der gegenüberliegenden Wand am offenen Ende des Us. Während er den Verhandlungen zuhörte, überlegte Clyne, daß derjenige genau wußte, wovon er sprach, der gesagt hatte: ein Kamel ist das zu erwartende Ergebnis von einer Versammlung, die zu Beginn ein Pferd entwerfen wollte. Soweit man ihm zu verstehen gab, wurde die gegenwärtige Sitzung einberufen, um über die Ernennung eines Nachfolgers von Brenner als Leiter für die militärischen Einsätze der Gemeinde nachzudenken. Die Diskussion schien jedoch größtenteils aus schwülstigen Ansprachen von solchen Mitgliedern zu bestehen, deren Befähigung für ihren Posten anscheinend hauptsächlich darin lag, daß sie sich überaus gern selbst reden hörten. Es gab bereits etliche ausschweifende Lobreden auf den verstorbenen Oberst Brenner, die – hätten sie auch nur zur Hälfte der Wahrheit entsprochen – bedeuten würden, daß dieser gewöhnliche, unbedeutende Mann der größte militärische Führer seit dem Herzog von Wellington war. Und jetzt endlich begann sich die Diskussion der Frage über die Ernen-
nung eines Nachfolgers zuzuwenden. Torrance hatte ihn wissen lassen, daß dies der eigentliche Grund für seine Einladung zur Versammlung sei. Auch sagte ihm der gesunde Menschenverstand, daß ihn seine Tätigkeit während der letzten paar Monate als geeigneten Kandidaten ausgewiesen hatte. Er wußte jedoch schon im voraus, daß es gewiß einigen Widerstand geben und Magruder in dessen Brennpunkt stehen würde, jener große, knochendürre Mann mit dem ärgerlichen, eingebildeten Gesicht, der im Moment sprach. »– Punkt, den ich über den neuen Anführer – wer immer er auch sei – zur Sprache bringen möchte, ist, daß er sich nicht leichtherzig auf irgendeine drastische Neuorganisation jener Politik einläßt, die sich in der Vergangenheit als so erfolgreich erwiesen hat.« Magruder besaß eine näselnde, hohe Stimme von der besonders aufreizenden Beschaffenheit einer Kreissäge. »Während der vergangenen zwei Monate erfolgten keine ernstlichen Überfälle, und unsere Verluste an Männern sowie Material wurden beträchtlich reduziert. Deshalb erscheint denjenigen, deren größter Wunsch es ist, das Leben wieder in normale Bahnen zu lenken, die ertragreichste Verhaltensweise in der Fortsetzung dieser weisen Eindämmungstaktik in unserem jetzigen Umkreis zu liegen. Es gibt unseres Erachtens keine Entschuldigung für drastische Abände-
rungen dieser Politik. Ehe wir über diesen Punkt der Tagesordnung abstimmen, sollten wir deshalb meiner Meinung nach eine Erklärung des Kandidaten anhören, die uns darüber Auskunft erteilt, welche Veränderungen er zu machen gedenkt, falls er gewählt werden sollte. Ein weiterer Punkt, den ich gern zur Sprache bringen möchte, ist, daß – obwohl Mr. Clyne einige Zeit mit Oberst Brenner gearbeitet hat – frühere Erfahrungen auf dem militärischen Sektor fehlen. Es wäre doch sicherlich möglich, einen anderen, besser qualifizierten Kandidaten unter dem regulären, uns zur Verfügung stehenden Heeresstab zu finden?« »Soll ich das so verstehen, daß sie einen anderen Kandidaten vorschlagen wollen?« erkundigte sich der Vorsitzende. »Es blieb wohl nicht genügend Zeit, andere in Betracht zu ziehen«, erinnerte Magruder. »Aber ich bin sicher, daß es etliche geben muß – und wir der gemeinsamen Sache nur schaden, wenn wir uns zu Entscheidungen drängen lassen, die wir später vielleicht bereuen. Ich schlage vor, daß wir – ehe wir dieses Risiko eingehen – die Sitzung vertagen und die Endabstimmung in dieser Angelegenheit für mindestens achtundvierzig Stunden aufschieben. Es scheint mir, daß –« »Herr Vorsitzender«, mischte sich Torrance ein, der am linken Tisch ungefähr in der Mitte saß. »Obgleich
ich vollkommen davon überzeugt bin, daß Mr. Magruder am meisten das Wohl der Gemeinde am Herzen liegt und sein Rat zur Vorsicht gut gemeint ist, sehe ich mich gezwungen, darauf hinzuweisen, daß ein Aufschub dieser Ernennung ernsthafte Folgen nach sich ziehen könnte.« »Ich habe das Wort!« protestierte Magruder und wurde rot, während er sich an Torrance wandte. »Jawohl, Mr. Magruder, und Sie haben es sehr lange gehabt«, erklärte Torrance sanft, während er schwerfällig aufstand. »Auf Grund der Tatsache, daß die Lage einige Zeit verhältnismäßig ruhig war, sollten wir uns nicht selbst beglückwünschen, sondern sogar noch mehr auf der Hut sein. Es wäre gut möglich, daß die Guerillas sich umgruppieren und einen neuen Angriff vorbereiten – und wann gäbe es wohl einen besseren Zeitpunkt für einen solchen Angriff als dann, wenn wir keinen militärischen Kommandeur haben? Deshalb behaupte ich, daß diese Ernennung keinen Aufschub duldet. Aber ehe wir fortfahren, scheint es mir vernünftig, der Erklärung eines Mannes zuzuhören, der zwar – wie er selbst als erster zugeben würde – keine umfassende militärische Schulung hat, sich aber dennoch während der Zeit, die er hier war, in einer Reihe von Gefechten auszeichnete und zum Beispiel auch mein Vertrauen gewann. Ob wir, nachdem wir ihn angehört haben, eine
Entscheidung treffen oder nicht, das bestimmen Sie. Doch zumindest können wir ihm das Wort erteilen, wenn wir ihn heute abend schon eingeladen haben.« Der Vorsitzende nickte und blickte hinüber zu Gerry. »Ich sehe keine Einwände gegen Ihre Erklärung, wenn Sie eine solche abgeben wollen, Mr. Clyne.« Gerry stand sofort auf und hörte das ärgerliche Gemurmel von Magruder recht gut. Letzterer spürte ganz deutlich, daß ihn die sanfte Gewalt von Torrance überfahren hatte. »Vielen Dank, Herr Vorsitzender. Ich würde gern ein paar Worte sagen«, begann er. Seine Verachtung für die Art zeitvergeudende, ›demokratische‹ Prozedur hatte ihn nicht daran gehindert, früher ein gewisses Maß an Geschicklichkeit bei der Behandlung solcher Gruppen zu erwerben. Jetzt, da er erst einmal stand, war er sicher, Magruder mehr als gewachsen zu sein. »Zu Beginn darf ich mich vielleicht auf das beziehen, was Mr. Magruder ›das Leben in normale Bahnen lenken‹ nannte? Ich bin nicht sicher, ob ich eigentlich verstehe, was er mit dem Wort ›normal‹ meint – aber ich würde Sie gern alle daran erinnern, daß unsere Enklave innerhalb der Kuppel die größte, wahrscheinlich einzige überlebende Gruppe menschlicher Lebewesen auf diesem Planeten bildet. Wenn er auf jene Zustände vor dem Atomkrieg hindeuten will, muß doch allen hier einleuchten, daß es nie wie-
der möglich sein wird, das Wort in diesem Sinne zu gebrauchen. Wir können nicht – wir dürfen nicht – die Gegebenheiten unserer Lage ignorieren, indem wir uns einbilden, daß wir uns endlich in einem behaglichen Dasein erholen und vergessen können, was geschah. Eine derartige Erholung bedeutet Stauung – und einen solchen Zustand kann es in unserer Lage nicht geben. Wir müssen entweder vor oder zurück. Im Augenblick stimmt es, daß wir unseren Umkreis einigermaßen erfolgreich gegen die Guerillas verteidigen. Aber das genügt nicht. Solange dies andauert, stellt die Bedrohung durch die Guerillas eine ständige Anforderung an unsere Kraftreserven dar. Wir können niemals hoffen, eine Situation herzustellen, die ich auf Grund unserer speziellen Position innerhalb dieser Kuppel als ›bedingt normal‹ bezeichnen würde, ehe dieses Problem nicht gelöst ist. Mit einer größeren, noch kampffähigeren Militärmacht wäre es möglich, in die Offensive zu gehen, ohne die Sicherheit unserer Gemeinde zu gefährden. Wenn wir den Feind erst einmal fesseln können, ist es möglich, ihn so zu besiegen, daß er von der Hoffnungslosigkeit seiner Lage überzeugt wird.« Magruder schlug mit der Faust auf den Tisch. »Niemals! Es sind Fanatiker, die bis zum letzten Mann weiterkämpfen.« Clyne schüttelte den Kopf. »Nein, ich weigere
mich, das zu glauben. Es sind intelligente Menschen, und sie müssen bereits erkannt haben, daß sie selbst unter den jetzigen Umständen höchstens hoffen können, uns weiterhin aufzureiben, indem sie einen nach dem anderen unschädlich machen. Angesichts eines entschlossenen Angriffs denke ich, daß sie auf Verhandlungen eingehen würden.« »Verhandlungen mit Mördern?« schrie Magruder. Clyne blieb gelassen. »Verlieren wir doch dabei nicht den Sinn für Größenordnungen. Sie mögen von unserem Standpunkt aus Mörder sein, aber soweit es sie betrifft, tun sie ihre Pflicht, indem sie den Tod einer Unmasse ihrer Landsleute zu rächen versuchen. Trotzdem glaube ich, sie akzeptieren jedes vernünftige Angebot, das wir zu machen bereit sind, wenn wir ihnen beweisen können, daß die militärische Niederlage unvermeidlich und ein weiterer Kampf zwecklos ist. Unter solchen Umständen dürfen wir uns großzügig zeigen. Würde es der Ausschuß vorziehen, daß wir eine gnadenlose Ausrottungstaktik verfolgen, bis jeder Guerilla vernichtet ist? Das würde doch beweisen, daß wir – nicht sie – die Fanatiker sind?« Gerry schien es dem allgemeinen Gemurmel nach, als besäße er die Unterstützung der meisten Ausschußmitglieder, obwohl Magruder mit gesenkten Augen schwieg. Bereit, seinen Vorteil auszunützen, überraschte ihn eine Unterbrechung durch Torrance,
der sich wieder schwerfällig erhob und sprach: »Mir kommt es so vor, als würde Clynes Anregung vernünftig klingen. Ob Sie nun seine Meinung über die Definition von ›Normal‹ teilen oder nicht, so leuchtet es doch ein, daß, falls wir eine Art zivilisierte Zukunft für die menschliche Rasse aufbauen wollen, wir innerhalb der Kuppel eine Einigkeit herstellen müssen. Für diejenigen unter Ihnen, die Bedenken wegen eines neuen Angriffs hegen sowie der unvermeidlichen Erhöhung, die ein solcher bei unserer Verlustquote zustande bringen würde, möchte ich darauf hinweisen, daß dies nur vorübergehend wäre. Trotzdem muß der ganze Plan stehen oder fallen mit der Richtigkeit von Clynes Vermutung, die Guerillas könnten davon überzeugt werden, daß die Fortsetzung ihres Kampfes zwecklos ist.« »Sie glauben nicht, daß man sie davon überzeugen kann?« fragte Gerry. Torrance zuckte schwerfällig mit den Schultern. »Wer kann mit Sicherheit sagen, was ein menschliches Wesen in einer bestimmten Situation tut? Die Guerillas sind von diesem Kampf abhängig – für die meisten von ihnen muß seine Fortsetzung der einzige Grund sein, tagtäglich weiterzuleben. Bedenken Sie doch: sie wissen, daß sie nirgendwohin zurückkehren können – in kein Land, zu keinem Volk. Sie haben in Wirklichkeit nichts zu verlieren.«
Gerry war verwirrt. »Plädieren Sie vielleicht zu Gunsten einer Ausrottungstaktik?« fragte er. »Ich denke, Sie kennen mich gut genug, um das nicht zu glauben«, erwiderte Torrance. »Ich weise nur auf einige mögliche Fehler hin, die ein Plan enthalten mag, der sich auf die Vermutung stützt, daß die Guerillas eine Niederlage hinnehmen würden. Sie mögen sich den Anschein geben, selbst bis zu dem Umfang, sich unserer Gemeinschaft anzupassen; aber wie können wir sichergehen, ob nicht zumindest einige unter ihnen ihre fremde Persönlichkeit beibehalten. Ein Saboteur innerhalb einer Gemeinschaft kann sogar noch schädlicher sein als ein Guerilla außerhalb.« Gerry mußte insgeheim zugeben, daß Torrance recht hatte. Er selbst hatte auch darüber nachgedacht, es jedoch absichtlich dem Ausschuß gegenüber nicht erwähnt, den er durchaus für fähig hielt, sich seine eigenen Vorurteile zusammenzuzimmern. Er fand es seltsam, daß Torrance das Thema gerade jetzt ins Gespräch brachte. Gerry hielt den Arzt für seinen Verbündeten, aber nun handelte er, als hätte er ein unabdingbares Interesse an der Fortsetzung des Konflikts. Eines war gewiß: wenn die Diskussion weiterging, konnte dieses Thema seine Chancen, den Ausschuß zu seiner Ernennung als militärischen Anführer zu überreden, scheitern lassen. Gerry beschloß, einen Bluff zu versuchen.
Er lächelte Torrance zu, faßte dann die übrigen Anwesenden ins Auge und sagte: »Nun, meine Herren, es scheint mir, als sollte ich unserem Amtsarzt für sein Vertrauensvotum danken. Aus der Art, wie er über die künftige Anpassung der Guerillas an unsere Gemeinde spricht, geht ganz klar hervor, daß er meine Pläne hinsichtlich des Sieges nicht anzweifelt. Natürlich wird es Probleme geben, selbst in Friedenszeiten – aber befassen wir uns doch zuerst mit den Dringlichkeiten. Das Wichtigste ist, daß wir den Feind besiegen. Nun – habe ich darin Ihre Unterstützung?« Der semantische Trick mit der Andeutung, daß eine Stimme gegen Gerry eine Stimme gegen die Aussicht auf den Sieg sei, erfüllte seinen Zweck. Selbst Magruder beteiligte sich widerwillig an der einstimmigen Handhebung, und es erfolgten keine weiteren Einwände gegen seine Ernennung als militärischer Anführer im Nordsektor. Die Befriedigung darüber, seinen Willen durchgesetzt zu haben, half ihm über die Langeweile während der übrigen Sitzung hinweg. Gerry war gewillt, sie jetzt weitersprechen zu lassen. Von der Unterstützung Bub Annersleys sowie anderer Kampfveteranen war er bereits überzeugt. Selbst nach dem Endsieg beabsichtigte er, sich einen Grundstock aus solchen Männern zu erhalten, denn mit ihrer Hilfe würde die
wahre Macht innerhalb der Kuppel ewig in seinen Händen ruhen. Als der Ausschuß die Sitzung schließlich vertagte, ging er und schritt im Dämmerlicht energisch durch die Straßen der Kuppelstadt. Stadt – grübelte er ironisch. Sie war nichts weiter als eine Barackenstadt, wenn man sie mit den richtigen Städten draußen verglich. Falls man noch fünf Jahre länger daran gebaut hätte, würde sie ihnen mit ihrer geräumigen, modernen Architektur vielleicht Konkurrenz machen. Die Grundmauern für die Hauptgebäude hatte man errichtet, als der Atomkrieg ausbrach, aber seit dieser Zeit waren sie unberührt geblieben: eine Wüste aus verstaubtem, weißem Beton, die in skelettartiger Geometrie die Umrisse von Bauten zeigte, die niemals entstehen würden. Gerry plagte die Neugier auf die Städte außerhalb. Stahl und Beton waren dauerhafter als Fleisch und Knochen. Trotz der heftigen Beschießung mußten einige Teile dieser Städte übriggeblieben sein. Selbst wenn im Moment die ganze Menschheit in der Kuppel eingeschlossen war, bestand kein Grund dafür, warum es immer so bleiben sollte. Inzwischen mußte die Radioaktivität im Freien beträchtlich gesunken sein – Wiederaufbau, die Neubevölkerung jener Erdteile, die frei von schädlicher Strahlung waren; Neubevölkerung mit Menschen, die ihn als Autorität und
Herrscher akzeptierten. Gerry Clyne lächelte, während er sich der Haustür zu seinem Fertigbungalow näherte. Er fand die Aussicht, eine ganze Welt zu leiten, seltsam erheiternd. Das Lächeln erlosch, als ihm klar wurde, daß er zuviel als selbstverständlich betrachtete. Wiederaufbau, ja – aber die Neubevölkerung stand auf einem anderen Blatt. Es gab keine Kinder in der Kuppelstadt, und so weit er wußte, war seit dem Atomkrieg keine Frau der Gemeinde schwanger geworden. Eine ganze Welt konnte nicht mit fünfhundert Menschen bevölkert werden, außer sie begannen sich wieder fortzupflanzen. Bei ihrem Gespräch über dieses Thema schien sich selbst Torrance bemerkenswert unklar zu sein, wann genau dieser Prozeß wieder anfangen würde. Alle Menschen, die seit Kriegsbeginn von draußen hereingekommen waren, wurden während der Entseuchung automatisch vorübergehend steril gemacht. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen eine möglicherweise durch die Strahlung hervorgerufene Mutation von Sperma oder Eisprung. Das war tragbar, was Gerry aber wirklich beunruhigte, war die Tatsache, daß keine der über hundert Frauen im empfängnisfähigen Alter bisher schwanger wurde. Offensichtlich mußte dies in den meisten Fällen auf die Tatsache zurückgeführt werden, daß die betreffenden Frauen mit lang-
fristig wirkenden Antibabypillen versorgt wurden, die wahrscheinlich noch immer eine Empfängnis verhütende Hormone absonderten, bis sie schließlich ganz aufgebraucht waren und die natürliche Körperfunktion wieder einsetzte. Laut Torrance konnte dieser Prozeß von einem Jahr bis zu achtzehn Monaten dauern. Deshalb schien es Gerry, daß es inzwischen wenigstens ein solches Versagen der Pille und eine daraus resultierende Schwangerschaft geben sollte. Gewiß war es mehr als Zufall, anzunehmen, daß alle diese Mittel verhältnismäßig frisch eingenommen wurden, als der Atomkrieg begann. Echt beunruhigend war, daß es auch keine Schwangerschaft bei jenen Frauen gegeben hatte, die abstritten, jemals eine Hormonpille erhalten zu haben. Torrance konnte keine richtige Erklärung bieten. Nur die vage Andeutung, daß eine derartige Unfruchtbarkeit wenigstens zum Teil psychologische Ursachen haben mochte; Ergebnis der traumatischen Effekte des Atomkriegs, möglicherweise in Verbindung mit der unwillkürlichen Überzeugung der betreffenden Person, daß der Rest der Menschheit auf unbegrenzte Zeit innerhalb der Kuppel eingesperrt bleiben mußte. Ähnliche Wirkungen, erklärte er Gerry, beobachtete man bei Versuchstieren, die dazu gezwungen wurden, in einem abgegrenzten Gebiet zu leben. Wenn an dieser Theorie etwas Wahres war,
schien sie Gerry einen noch wichtigeren Grund dafür zu liefern, daß der Krieg innerhalb der Kuppel so bald wie möglich beendet und somit der Gemeinde gestattet wurde, ihre Aufmerksamkeit und Talente der Außenwelt zu widmen. In dem schmalen Gang seines Bungalows war es düster, aber er machte kein Licht, weil er direkt zur Rückseite des Gebäudes gehen wollte. Noch immer vor sich hin brütend, hatte Gerry die Haustür hinter sich zugeschoben und wollte gerade weitergehen, als er in der Ecke eine Schattengestalt eher spürte als sah. Gerry wirbelte herum und griff nach der Pistole, aber es war schon zu spät. Der Revolvergriff ragte erst zwei Zentimeter aus dem Halfter, als er deutlich das Plop eines Betäubers vernahm. Bewußtlosigkeit schmetterte ihn lautlos zu Boden, und er fiel ins Nichts ...
14 Avram Meyer lag in einer Vertiefung aus geborstener Erde, die bei der Minenexplosion in den Boden gerissen worden war. Er hatte beide Hände auf den Bauch gepreßt und spürte die heiße, pulsierende Feuchtigkeit der hervorgequollenen Eingeweide, die sich zwischen seinen Fingern hindurchzuzwängen suchten. Bis jetzt empfand er keine Schmerzen. Vermutlich schützte ihn noch die Wirkung des ersten Schocks. Aber anscheinend wurde ihm die Flucht in Bewußtlosigkeit verweigert, und die Schmerzen würden kommen. Irgendwo in der Nähe hörte er das Rattern der Maschinengewehre sowie die Stimme von Oberfeldwebel Gorst, der Befehle brüllte. Die anderen, die mit von der Partie waren, hatten das Minenfeld hinter sich gelassen und führten energisch den Angriff durch. Vielleicht würden sie auf dem Rückweg Zeit finden, sich um ihn zu kümmern; eventuell – hoffentlich – wurde seine derzeitige Lage auch von einem Monitor im Kontrollturm aufgezeichnet, und ein Räumungstrupp befand sich bereits unter der Erde auf dem Weg zum nächstgelegenen Eintrittspunkt. Vielleicht – aber er konnte nur hier warten, bis der Schmerz begann. Er wollte hinunterschauen und sich
die Schweinerei ansehen, die zwischen seinen Fingern hindurchsickerte. Er widerstand jedoch der Versuchung, weil er wußte, daß er dann zu schreien anfinge und nicht mehr aufhören könnte – »Avram – Avram!« Eine vertraute Stimme dicht bei seinem Ohr. Eine sanfte Hand auf seiner Schulter. »Avram!« Er erwachte, fand seine gegen den Bauch gepreßten Hände mit Schweiß bedeckt – und wußte, daß er auf der harten Pritsche in seiner eigenen Behausung lag. Der letzte Streifzug ins Minenfeld hatte vor über einer Woche stattgefunden, und er war unversehrt zurückgekommen. Er wälzte sich herum, winselte vor Erleichterung und öffnete die Augen in der Dunkelheit. »Avram«, wiederholte die Stimme. Er wandte die Augen und blickte in das Gesicht einer Frau, die mitleidig auf ihn hinablächelte. »Laura! Du – hier –?« Er richtete sich im Bett auf. »Leise!« flüsterte sie, eine Hand auf die Lippen gelegt. Ihr schlanker Körper steckte in einem Anzug aus dem Fell eines schwarzen Panthers, der mit der Dunkelheit im Raum verschmolz; ihr blondes Haar verbarg eine schwarze Kappe, und ihr Gesicht war mit dunklem Make-up beschmiert. An ihrer Taille hing ein Halftergürtel, und ein Gurtband umschlang den großen Packen auf ihrem Rücken.
Meyer schwang seine mageren Beine über die Kante des schmalen Betts und saß ihr gegenüber. Der schreckliche Alptraum ließ seine Glieder noch immer bibbern. Gleichzeitig entstand eine halb eingestandene, bange Hoffnung in ihm, ihre Anwesenheit sei ein Zeichen dafür, daß alles vorbei war: die Wirklichkeit und der Alptraum. Daß sie kam und ihm sagte, er könne endlich von hier fort und in die ruhigen, schimmernden Gänge des Kontrollturms zurückkehren. Weg aus dieser mörderischen, niederträchtigen Hölle. »Wir – wir gehen zurück?« Seine Stimme bettelte. »Bald, aber jetzt noch nicht.« Sie hob den Packen von den Schultern zu Boden. »Zuerst müssen wir ein paar Dinge tun – du und ich. Ich sagte dir doch, daß du gebraucht wirst, wenn der Zeitpunkt kommt – und jetzt ist er da.« Enttäuschung und Scham durchfluteten ihn. Enttäuschung, daß dies nicht die schnelle Flucht war, die er sich erhofft hatte – und Scham über seinen eigenen Mangel an Mut im Vergleich zu dieser starken, attraktiven Löwin. »Ich versteh nicht –« »Ich konnte dich nicht früher in den ganzen Plan einweihen, aber jetzt erkläre ich dir alles. Davidson ist bereits im Nordsektor. Er hat –« Meyer hörte zu, während sie ihm den gesamten Plan anvertraute. Hoffnung keimte in ihm, während
er begriff, daß mit dem Erfolg eines solchen Planes die Gewalttätigkeiten im Innenraum beendet wären. »Aber der Direktor – sicher wird er bemerken, daß etwas Ungewöhnliches vorgeht, wenn er die Berichte von der Überwachungsabteilung erhält?« fragte er, als Laura schließlich schwieg. »Es gibt keine Berichte von der Überwachungsabteilung«, erwiderte sie. »Alle Stromkreise zwischen Innenraum und Kontrollturm blockiert eine Nachrichtensperre. Weil Hofer mit seinen Leuten auf unserer Seite steht, kann diese Störung für mindestens vierundzwanzig Stunden nicht behoben werden, aber wir müssen rasch handeln. Meine Pflicht ist es, Ulanov auf ein Treffen mit Clyne aus dem Nordsektor vorzubereiten. Dazu brauche ich deine Hilfe.« »Du willst sein echtes Erinnerungsvermögen auf die gleiche Weise auslösen, wie Davidson dies bei Clyne tut?« Sie schüttelte den Kopf. »Ulanov besitzt kein echtes Erinnerungsvermögen. Es wurde bei seiner Programmierung getilgt. Seine einzige Wirklichkeit ist die Situation hier im Innenraum. Ursprünglich war es unsere Absicht, ihn durch einen anderen, von Davidson besonders programmierten Mann zu ersetzen, aber dafür bleibt jetzt keine Zeit. Er muß in anderer Weise darauf vorbereitet werden, die Idee eines Waffenstillstandes zu akzeptieren.«
»Ulanov?« Meyer starrte sie erstaunt an. »Aber das kannst du doch nicht annehmen! Ulanov widmet sich völlig der Aufgabe, die nördliche Gemeinde zu zerstören. Eventuell könnte ihn kein einziges Argument, das du vorbringen magst, überzeugen.« »Wir werden uns nicht auf Argumente verlassen«, erwiderte Laura bestimmt. Sie deutete auf den Pakken, der auf dem Boden lag. »Das ist ein abgeändertes Sensorengerät mit einem speziell vorbereiteten Programmierungsband, das in sein Gehirn eingefüttert werden muß.« »Einer solchen Behandlung würde er sich niemals unterziehen.« »Ich besitze Drogen. Er muß zur Einwilligung gezwungen werden.« »Und wenn wir versagen?« »Dann wird Ulanov entfernt, und du übernimmst in diesem Sektor das Kommando.« »Unmöglich! Gorst und die anderen – du machst dir keine Vorstellung –« »Wir müssen unsere eigenen Entwicklungsmöglichkeiten schaffen, Avram.« Er schüttelte noch immer zweifelnd den Kopf. »Ich halte es trotzdem für hoffnungslos.« »Wenn nötig, führe ich die Aufgabe allein aus«, meinte sie. »Versteh, ich kann dir nicht befehlen, bei diesem Plan mitzuwirken, wenn du nicht willst, aber
ich bin dazu verpflichtet. Wenn du möchtest, hast du das Recht, durch den nächstgelegenen unterirdischen Eintrittspunkt zum Kontrollturm zurückzugehen. Man wird dir keine Vorwürfe machen.« »Und wenn du versagst?« »Tilgung und Erneuerung. Angesichts einer derartigen Rebellion gegen seine Herrschaft würde Moule keinen Augenblick zögern.« Er sah, daß es Laura damit todernst war. Ihre unerbittliche Tapferkeit beschämte Meyer. Er hatte sich so lange über das Leiden und Elend der Menschen im Innenraum beklagt. Wie konnte er es jetzt versäumen, seinen Anteil dazu beizutragen, wenn eine Chance bestand, dieses Elend für immer zu beenden? Konnte er jemals wieder sein eigenes Gesicht im Spiegel betrachten, ohne Verachtung zu empfinden, wenn er versagen sollte? »In Ordnung, Laura«, gab er nach. »Was muß ich tun?«
15 Der Feuerrauch hörte zu steigen auf. Er blieb für einen Augenblick in der Luft hängen, dann änderte er die Richtung völlig und begann sich auf die Flammen zu senken. Er erstickte sie und enthüllte darunter schwarzes verkohltes Holz; dann verblaßte das Schwarze; die Stöcke waren wieder sauberes, unangesengtes Holz und bildeten den sorgfältig aufgestapelten Horst für ein eventuelles Feuer. Sofort löste sich der Horst auf, während sich die Stöcke in einer komplizierten Gesamtheit aus räumlichen Mustern bewegten, unbearbeitetes Ende gegen unbearbeitetes Ende anpaßten und sich zusammenschlossen, bis sie wieder den völlig natürlichen Baumast bildeten. Gerry Clyne öffnete die Augen. Er saß in der Wohndiele seines eigenen Bungalows in einem Lehnstuhl. Ein Mann mit magerem, asketischem Gesicht saß ihm gegenüber in einem anderen Sessel. Irgendwie wußte Gerry, daß dieser Mann Davidson hieß – Michael Davidson – und Programmierer war. Ein Programmierer? Was ist ein Programmierer? Die Frage wirkte wie ein Schuß, den man in einem stillen Wald abfeuert. Wirrwarr ... Unordnung ... Wie schreiende, aufgescheuchte Tiere huschten Gedankenketten in alle Richtungen durch sein Gehirn. Zit-
ternd als Reaktion auf eine unkontrollierbare Panik erhob er sich halb aus dem Sessel und bekämpfte die überwältigende Furcht vor einem Sich-nicht-Zurechtfinden, das seine geistige Gesundheit bedrohte. Ein Gesicht beugte sich über ihn. Noch immer gegen den zersplitternden Schrecken kämpfend, nahm er den körperlichen Kontakt wahr, als ihn Hände entschlossen in den Sessel zurückdrückten. »Nimm's leicht, Clyne. Versuch es nicht zu stark. Laß es einfach seine Ebene selbst finden und widersetz dich nicht. Vertrau mir, und du wirst letztlich auf alle Fragen eine Antwort erhalten.« Vertrau mir ... Der Gedankenwald beruhigte sich langsam, während er in dem verschwommenen, wohlwollenden Bild des blassen, knochigen Gesichts nach einer Deutung, nach Stabilität suchte. »Das menschliche Gehirn kann nur soviel Wirklichkeit vertragen« – dieses Zitat fiel ihm ungewollt ein. Und dicht dahinter eine Frage: »Was ist mit einem Gehirn, das zwei Wirklichkeiten gegenübersteht?« Die Erinnerung war beim leisesten Gedanken da: Erinnerung an den Bunker, an den Brand und das verkohlte Ding, das einst Kay gewesen war; an jene schrecklichen Tage des Atomkriegs, bei dem eine ganze Welt voll Menschen zugrunde ging. »Wo –?« begann er und unterbrach sich, weil er die
Antwort auf seine Frage bereits wußte, während sich andere Erinnerungen zusammenfügten und ein sinnvolles Muster ergaben. Er erinnerte sich an seine Verhaftung durch die Beamten des Ministeriums für Soziopsychologie, an das Verhör vor dem Untersuchungsausschuß sowie das Urteil. Dann der Richterspruch, den der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses mit feierlichem Gesicht verlas, ein Richterspruch, der seine Überführung hierher auf – »Mars!« sagte er und kostete die bittere Hoffnungslosigkeit dieser einzigen Silbe. Davidson nickte. »Ja, Mars. In der gesteuerten Welt, programmiert wie alle anderen Patienten hier drinnen, um dies als deine Wirklichkeit hinzunehmen. Aber dein Fall liegt anders, weil ich deine echten Erinnerungen unangetastet ließ, so daß sie wieder ausgelöst werden konnten.« »Dann hat der Atomkrieg – die Vernichtung des größten Teils der Menschheit –« »Die Menschheit stolperte oft bis an den Rand dieses Abgrundes, aber etwas – nenn es Gott oder Glück – hat sie immer wieder zurückgezerrt. Außerhalb dieser Kuppel befindet sich – abgesehen vom Kontrollturm – nichts anderes als die luftleeren Wüsten des Mars. Und zurück zur Erde, dem überfüllten Planeten, an den du dich erinnerst – erstickt an Übervölkerung, Engstirnigkeit und ohne Ziel.«
»Ich hatte ein Ziel«, sagte Gerry. »Gier nach Geld, Macht, Frauen?« Davidsons schmaler Mund zuckte verächtlich. »Die Gesellschaft kann sich Menschen mit dieser Zielsetzung nicht länger leisten.« »Diese Argumente habe ich alle schon gehört, beim Verhör«, erwiderte Gerry. »Schön, also bin ich ein Krimineller, ein Psychopath wie alle übrigen hier; aber gleichzeitig bin ich anders, weil ich weiß, wo ich mich wirklich befinde. Warum ich? Welchen Sinn hat es, das Versuchstier wissen zu lassen, was es ist; ihm zu verstehen zu geben, daß sein Leben jederzeit von höheren Mächten als es ausgelöscht werden kann?« »Aber das ist doch zweifellos der natürliche Zustand des Menschen?« fragte Davidson. »Wir sind, waren immer verletzlich, welch kümmerliche Fortschritte wir auch eventuell in die Dunkelheit machen.« Gerry war jetzt auf der Hut. Seine Gedanken konzentrierten sich auf praktischere, unmittelbarere Fragen als die metaphysischen, die Davidson heraufbeschwor. »Der Krieg, der hier innen weitergeht – dieser mörderische Kampf mit den Guerillas. Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß das jemand für Therapie hält?« »Vielen von uns mißfällt die Art, wie der Vorsteher die Lage im Innenraum leitet. Wir sind mit seiner Taktik nicht einverstanden –«
»Sie mißfällt Ihnen?« Gerry spürte seine Gesichtsmuskeln unwillkürlich vor Verachtung und Wut zukken. »Aber Sie sind Programmierer. Wieviel menschliche Gehirne haben Sie mit falschen Wirklichkeiten gefüttert und sie zum Sterben hier hereingeschickt? Was ist das – eine Art Spiel? Wenn ja, dann übertrifft es alles, wovon die alten Römer jemals träumten.« »Die meisten sterben nicht; oder falls sie es tun, werden sie in den Kontrollturm gebracht, wiederbelebt, einer Operation unterzogen und neu programmiert.« »Sie wollen damit sagen, ihnen wird nicht einmal die Ehre gestattet, ein einziges Mal und endgültig zu sterben?« »Ich habe das System nicht erfunden«, verteidigte sich Davidson. »Du fragst, warum du anders bist – das ist der Grund. Es soll geändert werden, und du wirst es mit unserer Hilfe ändern.« Es war noch immer ein komisches Gefühl, ein Gehirn zu besitzen, das auf die gleichberechtigte Gültigkeit zweier verschiedener Erinnerungsmuster pochte. Doch jetzt wußte er wenigstens, warum dieser Zustand existierte, und mit diesem Wissen wuchs seine Zuversicht. Mittels dieser neuen Sicherheit beobachtete er Davidson schärfer und wertete aus, was er sah. In dem mageren Gesicht standen Intelligenz und Aufrichtigkeit – aber es gab da noch etwas anderes,
das gleich unter der Oberfläche jener übereifrigen Augen flackerte und sich in der kaum unterdrückten Erregung verriet, die die langfingrigen, knochigen Hände des Mannes zittern und den Winkel des schmallippigen Mundes zucken ließ. So groß Davidsons Geschicklichkeit und Wissen auch sein mochten, Gerry war klar, daß er es mit einem Mann zu tun hatte, der bis zum Fanatismus besessen war. »Sagen Sie mir mehr«, bat er ruhig. »Sagen Sie mir nur, wie es ist und wie es geändert werden soll.« »Die gesteuerte Welt steht unter der Leitung eines Mannes namens Moule, der sich nur vor dem Zentralrat für Soziopsychologie auf der Erde verantworten muß«, begann Davidson. »Er ist seit Beginn des Unternehmens vor etwa fünf Jahren hier der Leiter.« »Fünf Jahre ... Moment mal«, unterbrach Gerry. Er berichtete Davidson von dem noch ungeklärten Widerspruch, der sich während seiner ersten Unterredung mit Brenner ergeben hatte. Damals erwähnte Brenner, daß die Zeitspanne seit dem Atomkrieg sechs Monate betrug, während er selbst der Meinung war, es seien etwas mehr als vier Wochen. Davidson nickte. »Das ist völlig normal. Es wird verursacht durch einen im Verlauf der Programmierung angefachten Vorgang, der die Gedächtnisverkürzung und -trübung über eine Zeitspanne von wenigen Monaten hinaus bewirkt.«
»Wie die verdammten Hühner!« erklärte Gerry. »Hühner?« Davidson hob die Augenbrauen. »Lehrt man Sie keine Grundpsychologie mehr? Ein Huhn – Hausvogel – besitzt, wie man durch Experimente entdeckt hat, ein Zwanzig-MinutenGedächtnis. Kaninchen ebenso. Ein schneller Gedächtnisschwund ist in ihrem Fall eine Frage des Überlebens. Sie sind in der Natur so vielen Gefahren durch Raubtiere ausgesetzt, daß die verdammten Viecher in einer psychotischen Trance sich einfach hinlegen und sterben würden, wenn sie sich daran erinnern könnten.« »Ja, ich verstehe. Die Anspielung entging zuerst meiner Aufmerksamkeit«, entschuldigte sich Davidson. »Ich sprach mit Ihnen über Moule. Als Vorsteher hat er völlig freie Hand, den Innenraum – so nennen wir übrigens die gesteuerte Welt – gemäß den dramatischen Voraussetzungen auszustatten, die er für seine Untersuchungen am ergiebigsten hält. Deshalb begann er eine Grundsituation festzulegen, die für alle Versuchspersonen innerhalb des Gebiets gleich war.« »Der Atomkrieg.« »Genau. Seine Anfangstheorie lautete, die Beschaffung eines solchen allgemeinen Erlebnishintergrundes würde als vereinigende Macht auf die Menschen im Innenraum wirken und besäße darüber hinaus
den zusätzlichen Vorteil, daß sie die Notwendigkeit hinnähmen, innerhalb des Gebiets zu bleiben.« »Das klingt ziemlich vernünftig«, gab Gerry zu. »Ja, und es wäre vielleicht gelungen, wenn es sich um normale Menschen gehandelt hätte, statt um kriminelle Psychopathen«, fuhr Davidson fort. »So wie die Sache stand, brachen innerhalb der ersten drei Monate in der Gemeinde Gewalttätigkeiten aus. Bald wurde klar, daß eine solche Gemeinschaft selbst mit Hilfe des ständigen Einschreitens von Rollenspielern auf keinen Fall eine Art Stabilität erlangen konnte und sich schließlich selbst zerstören mußte. Um dies zu vermeiden, hatte Moule die Idee, eine ›Guerillastreitmacht‹ einzuschleusen, die angeblich während der ersten Tage des Atomkriegs in der Nähe der Kuppelstadt gelandet und durch den südlichen Eingang eingedrungen war. Die Einführung dieses neuen Elements zusammen mit einer gewissen Umprogrammierung von Schlüsselfiguren diente dazu, für die benötigte vereinigende Grundlage zu sorgen. Somit entstanden zwei Gruppen, deren jeweilige Aggression sich eher gegen die anderen richtete, als selbstzerstörerisch in den eigenen Reihen zu wüten. Die Parteien wurden sorgsam im Gleichgewicht gehalten – den Norden mit seiner zahlenmäßigen Übermacht behinderte die Tatsache, daß seine militärischen Unternehmungen von einer hoffnungslosen Null geleitet wurden: Brenner.
Die Guerillas andererseits besaßen einen erstklassigen Führer, Ulanov, waren jedoch knapp an Männern und dem nötigen Material, um einen entscheidenden Sieg zu erzielen. Ein solch toter Punkt benötigte zur Aufrechterhaltung ein Minimum an Einmischung seitens der Rollenspieler und hätte wahrscheinlich ewig existiert, wenn wir nicht beschlossen hätten, daß etwas dagegen unternommen werden muß.« »Wir?« fragte Clyne. »Eine Gruppe von Leuten, die im Kontrollturm arbeiten. Wir sind die fortwährende Schlachterei als Ergebnis der gegenwärtigen Situation im Innenraum immer mehr leid und entschlossen, eine andere zu schaffen. Keiner auf der Erde wollte uns anhören, deshalb müssen wir die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen.« Die ganze Sache klang in Gerrys Ohren wie eine gewöhnliche, idealistische Revolutionsrede. Selbst auf Grund der wenigen Informationen, die er besaß, zweifelte er an ihrer Durchführbarkeit. »Und diese ›andere‹ dramatische Situation – wieso glauben Sie, daß Sie sie aufrechterhalten können, während Moules ursprüngliche Bemühungen scheiterten?« »Zum einen sind wir nicht davon überzeugt, daß Moule wirklich scheiterte«, erwiderte Davidson. »Oder zumindest glauben wir, daß – wenn es sich so verhielt – dieses Versagen vielleicht beabsichtigt war,
freiwillig eingefädelt, damit er die bereits von ihm geplante Situation dem soziopsychischen Rat gegenüber verantworten konnte. Moule ist ein seltsamer Mensch – sogar diejenigen, die mit ihm eng zusammengearbeitet haben, wurden nicht richtig warm mit ihm. Er lebt zurückgezogen, sondert sich gegen jeglichen gesellschaftlichen Verkehr mit uns übrigen ab.« »Die Einsamkeit des Kommandeurs«, mutmaßte Gerry. »Schließlich ist in einer solchen Position ein gewisses Maß an Zurückgezogenheit notwendig, wenn man die Disziplin aufrechterhalten will.« »Aber dies ist angeblich ein soziopsychisches Versuchsprojekt, kein militärischer Feldzug«, widersprach Davidson. »Disziplin in deinem Sinne hat bei dieser Sachlage nichts zu suchen.« Gerry vertrat persönlich die Meinung, daß Disziplin der einen oder anderen Art zu jeder Sachlage gehörte, die Menschen einbezog, aber er unterließ es, weiter darüber zu diskutieren. Das Wichtigste war für ihn im Moment, Davidson soviel Informationen wie möglich zu entlocken. »Schön«, sagte er. »Angenommen, es stimmt, daß Sie und Ihre Gruppe die Gründe nicht akzeptieren, die Moule zur Schaffung dieses Konflikts zwischen der Gemeinde der Kuppelstadt und den Guerillas bewogen, dann müssen Sie doch zumindest theoretisch über seine wahren Motive gesprochen haben.«
»Unserer Meinung nach lautet darauf die einzig mögliche Antwort, daß er bedenklich unausgeglichen ist; daß er ein paranoides Gefüge aus Wahnvorstellungen entwickelte, das ihn von seiner gottähnlichen Unfehlbarkeit überzeugt – gepaart mit einem sadistischen Drang von ähnlichen Ausmaßen. Du mußt das so sehen: er übt auf fast tausend Menschen die Macht über Leben und Tod, ja sogar über die Wiederauferstehung aus. Welches Spielzeug könnte einen Paranoiker mehr befriedigen?« Clyne runzelte die Stirn. »Wenn das wahr ist, sollte es meines Erachtens eine Möglichkeit geben, der Obrigkeit auf der Erde dafür den Beweis zu liefern.« »Das hofften wir zuerst auch«, versicherte Davidson, »aber es erwies sich als völlig unmöglich. Ich selbst schickte auf die Erde Bänder an Leute, in die ich das größte Vertrauen setzte; Ergebnisse gleich Null. Ich kann nur vermuten, daß man sie vor ihrer Ankunft gefälscht hat. Obwohl der Mars für jeden Erdbewohner in weiter Ferne liegen mag, kann ich einfach nicht daran glauben, daß meine Geschäftsfreunde meine Beschwerden in dieser Weise unbeachtet gelassen hätten.« »Schön, angenommen, man hat Ihre Bänder gefälscht, wie steht's mit den Leuten vom Kontrollturm, die zur Erde zurückgeflogen sind?« »Es gibt deren nicht viele. Die meisten von uns ha-
ben langfristige Verträge; hin und wieder sind aber einige aus dem einen oder anderen Grund zurückgeflogen.« »Und?« Davidson zuckte mit den kräftigen Schultern. »Man hat nichts mehr von ihnen gehört – obwohl sie versprachen, in Verbindung zu bleiben und alles in ihren Kräften Stehende zu tun. Entweder wurden sie absichtlich zum Schweigen gebracht, oder unsere Probleme hier auf dem Mars erschienen ihnen nach ihrer Ankunft auf der Erde nicht länger wichtig. Angesichts dieser Sachlage blieb uns keine andere Wahl, als auf eigene Faust zu handeln.« »Verstehe«, sagte Clyne. »Aber aus dem, was Sie mir über den Kontrollturm erzählt haben, nehme ich als sicher an, daß alles, was hier im Innenraum vor sich geht, aufgezeichnet wird.« »Das stimmt«, bestätigte Davidson. »Es gibt zahllose versteckte Sondier- und Fernsehkameras sowie sehr viele Mikrofone mit Eigenantrieb, die alle von der Überwachungsabteilung gesteuert werden.« »Dann besagt das doch gewiß, daß man uns in diesem Augenblick beobachtet, und Moule bereits Ihren Plan kennt?« »Normalerweise schon«, gab Davidson zu. »Aber ein Mitglied unserer Gruppe, der Leiter der Elektronischen Abteilung, hat für eine scheinbar rein zufälli-
ge Nachrichtensperre gesorgt. Bis die notwendigen ›Reparaturen‹ abgeschlossen sind, haben wir die Situation im Innenraum unwiederbringlich geändert.« »Wie wollen Sie das anstellen?« »Das Wichtigste ist, den Kampf zwischen den Bewohnern der Kuppelstadt und den Guerillas zu beenden«, erklärte Davidson. »Das war einer der Hauptgründe für deine eigene, ungewöhnliche Programmierung. Du hattest die angeborene Anlage zum Führer, die wir brauchten; und ich verließ mich darauf, daß du mit etwas Unterstützung dazu fähig sein würdest, die militärische Leitung der Gemeinde zu übernehmen.« Unterstützung – Es dämmerte Gerry. »Ist Torrance einer Ihrer Rollenspieler?« »Ja. Er hatte die Aufgabe, dir den Weg für die Machtübernahme zu ebnen.« »Warum ist er dann jetzt nicht hier?« erkundigte sich Gerry. »Du mißverstehst mich«, warnte Davidson. »Torrance ist ein Rollenspieler und hat bei deiner Übernahme geholfen, aber er gehört nicht unserer Gruppe an. Soweit es ihn betrifft, handelt er nur laut Anordnungen, die seiner Meinung nach vom Aufsichtsleiter ausgingen.« Gerry überdachte die verwirrend verzweigte Intrige, die ihm Davidson bisher enthüllt hatte. Offen-
sichtlich war seine militärische Machtübernahme im Nordsektor eine Voraussetzung für den Gesamtplan – wie dieser auch aussehen mochte. Doch es gab noch immer eine Reihe von Gesichtspunkten, die er nicht verstand. Davidson war eindeutig ein Monomane, der annahm, daß die anderen Menschen automatisch seine Unfehlbarkeit anerkennen und keinen seiner Beschlüsse in Zweifel ziehen würden. Aber Gerry lag es nicht, blindlings dem Urteilsvermögen anderer zu trauen – besonders dem eines Mannes, dessen Stabilität er instinktiv bezweifelte. Selbst ehe er als Rollenspieler entlarvt wurde, konnte Torrance leicht als Persönlichkeit von einiger Bedeutung identifiziert werden – mit Eigenschaften, die Respekt und Achtung abverlangten. Davidson hingegen – »Offensichtlich weiß ich nichts über die Verhaltensweise, die bei solchen Dingen eine Rolle spielt«, gab Gerry zu, »aber wie wollen Sie Ihre Anwesenheit erklären, wenn Sie auf Torrance treffen?« »Das ist im Augenblick unwichtig«, winkte Davidson ungeduldig ab. »Man wird schon mit ihm fertig. Jetzt ist es wesentlich, daß du begreifst, was von dir verlangt wird. Aus den Aufzeichnungen über dich weiß ich, daß du bereits festgestellt hast, innerhalb der Kuppel könne es keine Entwicklung geben, bis der Kampf mit den Guerillas ein Ende gefunden habe.« »Stimmt.«
»Dein Plan erforderte Großangriff und Endsieg«, sagte Davidson. »Eine solche Aktion wird jetzt natürlich völlig überflüssig. Ich erwarte in Kürze eine Meldung von einem Kollegen, der mit dem Guerillaführer Verbindung aufgenommen hat.« »Dann bin ich doch nicht einzigartig? Ulanov wurde ebenfalls doppelt programmiert?« Davidson runzelte die Stirn. »Nein, unglücklicherweise war dies nicht möglich. Wir hatten die Absicht, ihn später durch eine andere geeignete Versuchsperson zu ersetzen, aber die Durchführung unseres Plans wurde vorverlegt.« Die Folgerungen aus dieser vorsichtigen, vagen Erklärung entgingen Gerry nicht. Trotz seiner gespielten Zuversicht war Davidson offensichtlich nicht ganz Herr der Lage. Er stand unter irgendeinem Druck. »Ulanovs stellvertretender Kommandeur ist einer unserer Rollenspieler«, erklärte Davidson. »Ein anderes Mitglied unserer Gruppe ging in das Gebiet der Guerillas, um ihm beizustehen. Diese beiden besitzen das nötige Gerät, Ulanov behelfsmäßig umzuprogrammieren. Danach bleibt bloß noch, eine Zusammenkunft zwischen ihm und dir als den beiden militärischen Anführern zu arrangieren. Ist diese erreicht, sollte die Vereinigung der Bevölkerung des Innenraums leicht zu gestalten sein.«
»Das scheint logisch – besonders, wenn die Menschen vom Nord- wie Südsektor erfahren, daß der bisherige Kampf völlig sinnlos war«, meinte Gerry. »In der Tat halte ich Ihre Art, das ganze Unternehmen anzugehen, für unnötig umständlich. Wenn Ihre Gruppe Zugang hat zu allen, dem Kontrollturm zur Verfügung stehenden Übertragungskanälen, läge es dann nicht ganz klar auf der Hand, daß man unter allen Menschen innerhalb der Kuppel den wahren Sachverhalt über ihr Dasein verbreitet hätte? Wenn erst alle diese Tatsachen kennen, bestünde natürlich keine Möglichkeit mehr zur Fortsetzung dieses Kampfes.« Davidson riß die Augen auf. »Mann Gottes! Weißt du überhaupt, was du da vorschlägst? Du kannst doch nicht im Ernst glauben, daß wir derartige Kenntnisse in die Hände etlicher hundert gefährlicher Psychopathen legen. Wir haben die Absicht, innerhalb des Gebiets eine stabilisierte, menschlichere Situation zu schaffen, aber letztere muß weiterhin unserer Kontrolle unterliegen.« Gerry verzichtete auf die naheliegende Bemerkung, daß er selbst einer dieser gefährlichen Psychopathen sei, auf die sich Davidson bezog. Er mußte noch viel über Davidson, seine Gruppe und den genauen Aufbau des Kontrollturms lernen, aber seine regen Gedanken untersuchten bereits gewisse Möglichkeiten,
die er zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht preiszugeben gedachte. »Verstehe«, erwiderte er ruhig. »Dann ist es Ihre Absicht, daß diese Kenntnisse auf mich und Ulanov beschränkt bleiben?« »Natürlich.« »Was macht Sie in diesem Fall so sicher, daß die Bevölkerung der Kuppelstadt einverstanden ist mit einem scheinbar willkürlichen Waffenstillstand, der zwischen mir und Ulanov geschlossen wird?« Davidson lächelte schwach. »Mein lieber Freund, das ist doch gewiß ganz klar? Beide seid ihr als starke und beliebte Anführer in euren entsprechenden Sektoren eingesetzt worden. Die Leute werden das tun, was ihr anordnet. In Wirklichkeit sogar gern, weil die meisten im Grunde ihres Herzens den ständigen, zermürbenden Kriegszustand satt haben müssen.« Gerry nickte. »Diese Vermutung scheint vernünftig. Aber wie und wo soll ich Ulanov treffen? Er kann schwerlich durch die sorgsam bewachte Verteidigungslinie gehen, ohne von unseren Wachtposten erschossen zu werden; noch kann ich in das von den Guerillas besetzte Gebiet eindringen, ohne die gleiche Gefahr zu laufen.« »Ein solches Risiko ist unnötig«, winkte Davidson ab. »Wie, meinst du wohl, bin ich selbst hierhergelangt, ohne von deinen Leibwächtern angehalten
worden zu sein?« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Ich glaube, es wird Zeit, daß wir gehen.« »Einen Moment«, bremste Gerry. »Woher weiß ich, daß das keine Falle ist?« Davidson stieß ein trockenes Kichern aus. »Falle? Zu welchem Zweck? Wenn ich dich töten wollte, hätte ich das leicht schon früher tun können.« »In Ordnung, da bin ich mit Ihnen einer Meinung«, sagte Gerry. »Aber ich würde doch gern wissen, wohin wir gehen.« »Zu einer Zusammenkunft mit Ulanov natürlich.« Davidson deutete auf die Pistole, die noch immer im Halfter um Gerrys Hüfte steckte. »Übrigens läßt du das besser hier. Wir wünschen zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Mißhelligkeiten. Dies wird ein friedliches Treffen sein.« »Hoffentlich wissen Sie, was Sie tun«, meinte Gerry, entfernte den Waffengurt etwas widerwillig und verstaute ihn in einem Schrank. »Ich glaube schon«, versicherte Davidson. »Können wir jetzt aufbrechen?« Draußen hatte sich die Dunkelheit über die Kuppel gesenkt. Die Straßen zwischen den Fertighäusern wurden von bläulich schimmernden Fluorröhren erleuchtet, die in unregelmäßigen Abständen darüberhingen. Sie sahen einen alten, einsamen Bummler, aber zu dieser Abendstunde versammelten sich die
meisten Einwohner dieses Sektors in den Hauptunterhaltungszentren rund um die Stadtmitte. Sie mieden diese Gegend und wanderten gen Nordosten; zehn Minuten später erreichten sie den Metallzaun rund um das Atomkraftwerk, das die Gemeinde mit Elektrizität versorgte. Gerry beobachtete schweigend, wie Davidson einen Schlüssel herauszog. Er schloß ein kleines Seitentor damit auf, und sie betraten das umzäunte Grundstück. Das Kraftwerk wurde per Computer gesteuert und behob Schäden selbständig. Das bedeutete, daß es selten aufgesucht wurde, bis auf die gelegentliche Inspektion durch den Oberingenieur. Gerry hatte noch nie zuvor das Innere des Gebäudes betreten, aber Davidson war offensichtlich damit vertraut. Er führte Gerry durch den Hauptkontrollraum des Gebäudes und in einen darunterliegenden Lagerraum. Hier stapelten sich auf Metallborden, die bis an die ungefähr dreieinhalb Meter hohe Decke reichten, verschiedene Ersatzteile, die seiner Meinung nach für Installationen in den Häusern der Hauptstadt bestimmt gewesen waren. Hinter den Borden befand sich am entgegengesetzten Ende des Raums eine weitere Tür. Diese führte in ein würfelförmiges Büro, das mit einem Schreibtisch, einem Sessel sowie einem Diktiergerät nur spärlich möbliert war. Während er den Kopf wandte und sich versicherte,
daß Gerry dicht hinter ihm stand, zog Davidson ein einem Kugelschreiber ähnelndes Ding aus der Tasche und drückte es gegen einen Verlängerungssockel neben dem Schreibtisch. Ein kurzes Summen ertönte, dann fiel der Boden des Zimmers rasch unter ihren Füßen. Wenige Sekunden später verließen sie den BüroAufzug und betraten ein hellerleuchtetes, halbkugelförmiges Zimmer mit vier davon ausgehenden runden Tunnels von ungefähr zwei Meter Durchmesser. In der Mitte des Raumes stand ein Zweipersonenfahrzeug auf vier Rädern. Davidson setzte sich auf den Fahrersitz, und Gerry nahm neben ihm Platz. Der Motor sprang auf einen Knopfdruck an, und Davidson steuerte in Richtung eines der Tunnels. Gerry saß ganz still, während sie mit zunehmender Geschwindigkeit durch das fuhren, was er für einen Teil des unterirdischen Straßennetzes hielt, das die Grundmauern des Innenraums untergrub und – der Gedanke weckte einen erwartungsvollen Nervenkitzel – zweifellos den Innenraum mit dem Kontrollturm verbinden mußte –
16 Die Fähigkeit, automatisch zu ungewohnten Zeiten und unter jeglicher Bedingung zu schlafen, hatte Oberst Nikolai Ulanov während seiner vielen aktiven Dienstjahre geschult. Aber heute nacht mangelte es ihm aus keinem klar erkennbaren Grund an dieser Fähigkeit und er befand sich in einem Zustand übermäßiger Alarmbereitschaft, bei dem von Schlaf gar keine Rede sein konnte. Er hatte dieses Gefühl schon früher kennengelernt. Es war fast wie eine Art PsiBewußtsein: eine Vorahnung, die ihm sagte, daß etwas geschehen würde, aber nicht verriet, was. Er spürte das bevorstehende Ereignis sogar in der Luft, die er atmete; er fühlte es um sich, während er in seinem Hauptquartier auf und ab ging und dabei eine schwarze Zigarre nach der anderen qualmte. Einmal trat er auf die Veranda hinaus, nickte dem Wachtposten zu und ging in den Funkraum. Auf eine Handbewegung seines Kommandeurs blieb der diensthabende Obergefreite sitzen. Sie lauschten gemeinsam ein paar Minuten dem leisen Summen der Trägerwelle oben aus dem Lautsprecher; dann nickte Ulanov zum Abschied und ging wieder in sein eigenes Zimmer. Am Schreibtisch versuchte er sich mit der Abfassung von Befehlen für den nächsten Tag zu
beschäftigen. Aber seine Gedanken wollten sich nicht auf die Routinearbeit konzentrieren. Sie waren angestachelt durch den ungebetenen sechsten Sinn eines Soldaten, der Ulanov erst vor wenigen Wochen das Leben rettete, weil er ihn dazu veranlaßte, einen anderen Weg zu nehmen; später entdeckte er, daß der ursprüngliche Pfad untermint war. Viele waren seit Beginn dieses Feldzugs gestorben, und ihnen würden noch viele folgen; aber all diese Todesfälle waren unbedeutend im Vergleich zu jenem wuchtigen, unpersönlichen Gemetzel: dem Atomkrieg. Unpersönlich ... nein, das konnte es von seinem Standpunkt aus nie sein. Als Soldat war er daran gewöhnt, seine Kameraden, andere Soldaten, sterben zu sehen. Das Ziel eines entscheidenden Sieges konnte als gewisse Rechtfertigung für diese Opfer angesehen werden. Aber ihn verfolgte die Gewißheit: welchen Sieg er auch hier innerhalb der abgeschlossenen Kuppelwelt erringen mochte, niemals konnte ihn dieser darüber hinwegtrösten, daß Nadia und der kleine Piotr in der lodernden radioaktiven Hölle von Kiew umgekommen waren. Das Geräusch der im Stillgestanden! gegeneinanderknallenden Haken des Wachtpostens unterbrachen seine düsteren Gedanken. Er blickte auf, als sich die Tür öffnete und Hauptmann Meyer einließ. Ihm folgte eine große Frau, deren überraschend hübsche
Gesichtszüge mit schwarzer Fettfarbe beschmiert waren. Die Frau trug einen wie angegossen sitzenden schwarzen Anzug; dazu einen Zeltplanenpacken, der an einem Gurtband von der rechten Schulter baumelte. »Herr Hauptmann?« Ulanovs Körper straffte sich, während er dem Paar entgegenblickte; seine Augen ruhten argwöhnisch auf der fremden Frau. »Wer ist das?« Meyer, offensichtlich nervös, gab keine Antwort, aber die Frau trat mutig vor. »Mein Name lautet Frayne, Laura Frayne«, stellte sie sich mit ruhiger, klarer Stimme vor. »Ich komme gerade von außerhalb der Kuppel.« »Das ist unmöglich«, widersprach Ulanov mit wachsender Spannung. »Nichts, niemand könnte nach so langer Zeit dort draußen existieren. Wer ist diese Frau?« wandte er sich wieder an Meyer. Wahrscheinlich eine Spionin aus dem Nordsektor, aber wenn das der Fall war, wie konnte Meyer dann so dumm sein und sie hierherbringen? »Oberst Ulanov, es wäre besser, wenn Sie zuhören würden, was ich Ihnen zu sagen habe.« Die Stimme der Frau klang hart, aber in ihren bernsteinfarbenen Augen lag eine seltsame Sanftheit. Trotzdem war Ulanov jetzt überzeugt, daß dies die Situation sein mußte, vor der ihn sein sechster Sinn
vage gewarnt hatte. Diese Frau, die Meyer herführte ... Er sprang aus seinem Stuhl hoch; der Schrei, der die Wache alarmieren würde, gurgelte bereits in seiner Kehle. Ein schimmernder Metallgegenstand tauchte in der Frauenhand auf; ein kurzes Plop, wie bei einem Korken, den man aus der Flasche zieht. Der Schrei auf Ulanovs Lippen erlosch, während er ins Vergessen taumelte. Laura steckte den Betäuber wieder in ihren Halfter, während Ulanov zu Boden sackte, und ging rasch zur Tür rechts neben dem Schreibtisch des Kommandeurs. In dem kleinen Zimmer dahinter entledigte sie sich des schweren Packens, kehrte sofort zurück, bückte sich und griff nach Ulanovs Beinen. »Los!« flüsterte sie Meyer zu, der noch immer mit verdutzter Miene dastand. »Wir müssen ihn in sein Schlafzimmer schaffen; dort kann ich an ihm arbeiten.« Meyer zögerte. »Die Wache«, sagte er. »Er hat nichts gehört, sonst wäre er jetzt schon hier. Beweg dich, Avram, los!« Meyer gehorchte und packte die ausgestreckte Gestalt unter den Schultern. Ulanov war ein kräftig gebauter Mann, und es fiel ihnen nicht gerade leicht, die schlaffe Gestalt ins Schlafzimmer zu schleppen und aufs Bett zu legen. Laura beugte sich über ihren Pak-
ken, öffnete die Verschnürung und sagte dabei zu Meyer: »Du kannst wieder ins Büro gehen und das mir überlassen. Deine Hauptaufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, daß ich während der Umprogrammierung nicht gestört werde.« »Gorst wird später während der Wachablösung wahrscheinlich vorbeischauen«, meinte Meyer unbehaglich. »Er erstattet Ulanov um diese Zeit gewöhnlich persönlich Bericht.« »Dann mußt du ihm mitteilen, daß der Oberst schläft und vorläufig du die Verantwortung trägst.« »Aber wenn ihm die Wache von dir erzählt hat –« »Oh, um Himmels willen, Avram!« Sie drehte sich ungeduldig nach ihm um. »Erfinde eine Ausrede, oder kannst du das nicht? Sag ihm, Ulanov habe dich gebeten, ihm eine Frau zu besorgen – das ist doch sicher ganz einfach?« »Nicht bei Ulanov. Du begreifst nicht. Er würde nie –« »Schön, dann erzähl ihm eine andere Story. Aber jetzt geh und laß mich arbeiten!« befahl Laura und hob das abgeänderte Sensorengerät hoch. Meyer blickte auf den ohnmächtigen Ulanov, dessen harte Gesichtszüge auf Grund der einlullenden Wirkung des Betäubungsmittels etwas weicher waren, und fühlte wegen seines Verrats Gewissensbisse. Dieser Mann hatte ihm vertraut –
»Avram!« Lauras Stimme brachte ihn in Schwung. Er verließ das Hinterzimmer, schlich vorsichtig zur Vordertür und horchte: Die Wache war noch auf dem Posten. Meyer wischte seine schweißfeuchten Hände an der Hemdbrust ab, kehrte zurück und setzte sich hinter Ulanovs Schreibtisch, um zu warten. Meyer versuchte sich einzureden, sein Schuldgefühl sei absurd. Nach der Umprogrammierung würde Ulanov verstehen, daß die ganze Sache seinem eigenen Wohle und dem der anderen Menschen im Innenraum diente. Aber selbst dann war dies doch gewiß Verrat? Es hätte eine andere Möglichkeit geben müssen – Meyer stellte Vergleiche an zwischen seinem eigenen, nervösen Zögern und dem Mut von Laura Frayne. Vielleicht wäre ihm das Ganze leichter gefallen, falls man ihn schon früher mit dem Gedanken vertraut gemacht hätte. Auf dem Höhepunkt seiner Schuld erkannte er jedoch ängstlich die möglichen Fallgruben im Plan. Davidson wollte Clyne durch das unterirdische Straßennetz führen, damit er mit Ulanov zusammentraf, und Laura schien ganz zuversichtlich, daß mit diesem Treffen die Fehde im Innenraum automatisch aufhören würde. Meyer vermochte ihr Zutrauen unmöglich zu teilen. Selbst wenn Ulanov umprogrammiert wurde, war es schwer vorstellbar, daß sich ir-
gend etwas über die Bitterkeit hinwegsetzen konnte, die sich während des jahrelangen Konflikts auf beiden Seiten in der breiten Masse der Kämpfenden eingenistet hatte. Oberfeldwebel Gorst zum Beispiel ließe sich wahrscheinlich nicht einmal von Ulanov befehlen, den Kampf einzustellen, der so lange seinen wichtigsten Lebensinhalt darstellte. Und im Norden mußte es welche geben, die wie Gorst dachten. Es wäre vielleicht möglich gewesen, eine Art Burgfrieden herzustellen, wenn man alle Menschen im Innenraum über den wahren Sachverhalt aufgeklärt hätte; aber das konnte nur durch die Umprogrammierung aller Personen im Innenraum erreicht werden, eine Aufgabe, die beim Zeitmangel dieses Eingriffs überhaupt nicht in Frage kam. So wie die Dinge standen, würde der ganze Plan mit Ulanovs und Clynes Einfluß auf die Leute ihrer entsprechenden Sektoren stehen oder fallen. Falls man ihre Autorität anzweifelte, dann mochte das gesamte Unternehmen durchaus in sich zusammenfallen. Meyer blickte auf die Uhr. Nur noch zehn Minuten bis zur Wachablösung. Er sah sich nach der geschlossenen Tür zum Hinterzimmer um und fragte sich, wie Laura wohl bei ihrer Arbeit vorankam, wagte aber nicht, es ausfindig zu machen. Er stand vom Schreibtisch auf und schritt im Zimmer auf und ab. Wenn er bloß mehr tun könnte, statt einfach nur warten –
Schwere Schritte draußen, und das Hackenknallen des Wachtpostens, als eine bekannte bellende Stimme einen Befehl rief. Kurz darauf öffnete sich die Außentür, und Gorst trat ein; der aufrechte Körper straffte sich salutierend. »Der Genosse Oberst?« Die Augen des schwarzbärtigen Riesen verrieten Überraschung. »Er schläft«, erklärte Meyer. »Sie können mir Bericht erstatten.« »Mit Verlaub, laut Genosse Obersts ausdrücklichem Befehl – Wenn er schläft, muß ich ihn wecken.« »Warum? Gibt es ein unvorhergesehenes Ereignis?« »Nein, Genosse Hauptmann, trotzdem –« »Der Oberst fühlte sich nicht ganz wohl, aber jetzt schläft er. Es hat keinen Zweck, ihn wegen eines Routineberichts zu stören.« Der kräftige Oberfeldwebel zögerte; ein verblüfftes Stirnrunzeln lag auf seinem bärtigen Gesicht. »Ich teile ihm mit, daß Sie hier waren, machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Gorst«, erklärte Meyer. Der riesige, muskulöse Oberfeldwebel stand noch immer stramm. Meyer, der ungefähr zehn Zentimeter kleiner war, blickte ihm ins Gesicht und versuchte eine Zuversicht zu verbreiten, die er gar nicht empfand. »Sie können jetzt gehen, Gorst!« befahl er schneidend.
Der Bluff hätte vielleicht gewirkt, wenn im selben Augenblick hinter der Tür zum Schlafraum des Kommandeurs nicht schwaches Rascheln zu hören gewesen wäre. Beide Männer vernahmen das Geräusch, aber Gorst handelte. An Meyer vorbei stürzte er auf die Tür zu und riß sie auf. Ulanov lag auf dem schmalen Bett; seine Schädeldecke umhüllte das schimmernde weiße Plastik der Auslösungskappe. Unterschiedlich starke, mit Farben chiffrierte Kabel sprossen aus ihrer Krone und führten hinunter zu dem tragbaren Sensorengerät. Die dunkel gekleidete Gestalt Laura Fraynes stand über das Instrument gebeugt und machte Feineinstellungen, während sich dessen Räder drehten und das Band langsam an den Spielköpfen vorbeiführten. »Avram!« Laura blickte bestürzt auf. Ihren Ausruf erstickte ein stierähnliches Wutgebrüll, während Gorsts zweihundertundzwanzig Pfund schwerer Körper in den engen Raum stürzte. Meyer war dicht hinter ihm und zielte einen Hieb auf den baumstarken Nacken des Oberfeldwebels, aber dieser schüttelte den Schlag ab, während er die Auslösungskappe vom Kopf des bewußtlosen Kommandeurs riß. Von Panik getrieben legte Meyer seine ganze Kraft in einen zweiten Schlag gegen Gorsts Nieren, aber auch dieser zeigte keine Wirkung. Der Oberfeldwebel schleuderte die Auslösungskappe am
Verbindungskabel durch die Luft und schmetterte sie auf das Sensorengerät hinunter. Plastik barst, und die Räder hörten auf, sich zu drehen. Gorst wandte sich Meyer zu, in seinen Augen loderte das Feuer der Schlacht. Meyer wußte, daß er in einem unbewaffneten Kampf diesem Koloß von einem Mann nicht gewachsen war, und er zerrte an seiner Pistole, als ihn ein niederschmetternder Schlag am Kopf traf. Das Bewußtsein schwand – Mühsam nahm er seine Umwelt wieder wahr und sah die zusammengekauerte Gestalt von Gorst über den Trümmern des Sensorengeräts. Ulanov lag noch immer bewußtlos auf dem Bett; aber keine Spur von Laura Frayne, und die Tür war geschlossen. Meyer rappelte sich auf, zog die Automatik aus dem Halfter und näherte sich vorsichtig der Tür. Dahinter vernahm er das scharfe, unverkennbare Plop eines Betäubers. Mit der Waffe im Anschlag zog er die Tür vorsichtig auf. Laura stand über dem hingestreckten Körper des Wachtpostens, den Betäuber in der Rechten. Sie wandte sich ihm zu. »Alles in Ordnung, Avram? Gut! Hilf mir mit dem da, ja?« Sie zerrten den bewußtlosen Mann ins Hinterzimmer, das jetzt langsam wie ein überfülltes Leichenschauhaus wirkte.
Laura untersuchte flüchtig das verstümmelte Sensorengerät. Als sie aufsah, war ihr Gesicht grimmig. »Das Ding nützt uns nichts mehr«, stellte sie fest. »Ich versuchte Gorst aufzuhalten«, sagte Meyer und war sich der kleinlauten Schwäche seiner Stimme peinlich bewußt. »Ja, sicher.« Laura stellte die Kontrollscheibe ihres Betäubers ein. Sie wandte sich wieder Ulanov zu, der noch immer regungslos dalag. »Was willst du jetzt tun?« fragte Meyer. »Was bleibt noch viel übrig? Ich werde Ulanov wiederbeleben und hoffen, daß er genügend von jenem Band aufnehmen konnte. Ist das der Fall, dann ergibt es für ihn vielleicht einen Sinn. Wenn nicht –« Sie zuckte die Achseln. Laura richtete den Betäuber auf Ulanov und verabreichte ihm mitten ins Herz einen belebenden Schuß. Zehn, fünfzehn Sekunden verstrichen, bevor sich die Gestalt auf dem Bett rührte. Ein Stöhnen entschlüpfte ihrem Mund, dann setzte sie sich plötzlich auf. Ulanovs Augen öffneten sich und offenbarten die Leere des Wahnsinns; ein Speichelfaden lief aus dem Winkel des schlaffen Mundes, während er unzusammenhängende Worte stammelte. Meyer starrte erschrocken die schwachsinnige Kreatur auf dem Bett an. »Um Himmels willen, was ist passiert?«
»Das habe ich befürchtet«, bedauerte Laura. »Die plötzliche Unterbrechung, als Gorst ihm die Auslösungskappe vom Kopf riß, war zuviel für ihn. Sein Gehirn befand sich in einem überempfindlichen Zustand und hatte nicht genügend Bandmaterial aufgenommen, um Ulanov mit einer sicheren Grundlage für die Wirklichkeit zu versorgen. Er steckt in einem tiefen, traumatischen Schock.« »Aber du mußt doch etwas dagegen tun können«, meinte Meyer. »Mit diesem Ding?« Laura deutete auf das zerstörte Sensorengerät. »Hoffnungslos. Er wird so bleiben, bis er in richtige Behandlung kommt. Ich kann ihn nur wieder ausschalten, bis man ihn zur Tilgung und Erneuerung zum Kontrollturm zurückbringt.« Meyer sah zu, während der Betäuber abermals Plop machte und die stöhnende Gestalt wieder bewußtlos wurde. »Aber er war doch sicher für deinen Plan wichtig?« Laura nickte heftig. »War er.« Meyer fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Was können wir jetzt tun?« fragte er. »Ich gehe zum unterirdischen Eintrittspunkt und bespreche die Lage mit Davidson.« »Aber ich dachte, ich sollte Ulanov dorthin bringen«, wandte Meyer ein. »Solltest du auch – aber das ist jetzt wohl nicht
mehr möglich, oder? Wir werden unsere Taktik ändern müssen. Ich verständige den Kontrollturm vom Untergrund aus und sorge dafür, daß ein Räumungstrupp die drei hinausschafft. In der Zwischenzeit mußt du hier übernehmen.« »Ich«, fragte Meyer bebend. »Natürlich du«, bestätigte Laura. »Wer ist sonst noch hier?« »Aber morgen – wenn die Leute zu fragen anfangen –« Lauras Mund wurde schmal. »Mein Gott, reiß dich zusammen, Avram. Du führst vorläufig hier das Kommando, das ist alles. Was die Männer betrifft, so mußt du ihnen nur sagen, daß Ulanov und Gorst verschwunden sind. Niemand wird dich als Ulanovs Stellvertreter verdächtigen. Du brauchst gar nichts zu erklären.« »Aber der Mann im Funkraum –« »Wenn er etwas gehört hätte, hätte er bereits Alarm geschlagen«, beruhigte ihn Laura. »Du mußt im Augenblick bloß dafür sorgen, daß die Lage in diesem Sektor unter Kontrolle bleibt. Das bringst du doch bestimmt fertig?« Meyer nickte unsicher. »Wie lange?« »Das kann ich dir nicht sagen, nicht wahr? Zuerst muß ich mit Davidson reden.« Meyer mied ihren Blick. »Gut, ich werde mein Be-
stes tun«, versprach er ohne Überzeugung. Es schien ihm, als könnte diese Nacht nur Unheil bringen.
17 Davidson blickte ängstlich zum zehnten Mal auf die Armbanduhr, seit sie am Treffpunkt angekommen waren. »Ich hörte, dieser Ulanov sei eine ziemlich zähe Nervensäge«, bemerkte Gerry beiläufig. »Vielleicht haben Ihre Leute Ärger mit ihm?« »Unsinn! Sie sind zu zweit und besitzen die nötige Ausrüstung«, entgegnete Davidson. Gerry ahnte, daß er an einen wunden Punkt gerührt hatte; aber er verspürte keinerlei Skrupel, eine Linie zu verfolgen, die ihm die. Reaktionen des anderen zu ergründen erlaubte. Er hatte sich bereits die Meinung gebildet, daß Davidson in Wirklichkeit eine Gelegenheit suchte, für sich eine Machtstellung über das gesamte Marsprojekt zu erringen. Obwohl er andere, ja sogar sich selbst, überredet haben mochte, daß er sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte, um die Menschen im Innenraum von der ständigen Ungewißheit und dem Leiden des Guerillakriegs zu befreien. Männer wie Davidson sehnten sich nach Macht, so wie verzogene Kinder ihre Mitmenschen zu beherrschen suchen – und wenn ihnen diese Macht verweigert wird, verfallen sie in eine kindliche Veranlagung gefährlicher Hysterie. Das eigentliche Problem im Umgang mit
einer so labilen Persönlichkeit war, sich zu vergewissern, daß diese schädlichen Ausbrüche lieber nach innen gerichtet wurden als gegen andere Menschen. Gerry wunderte sich, wie die angeblichen Verbündeten Davidsons die eventuellen Gefahren, einem solchen Führer zu folgen, übersehen haben konnten. »Ich verstehe nicht, warum nur Sie und dieses Frayne-Mädchen in den Innenraum kamen«, fragte Gerry. »Sicher hätte eine größere Gruppe die Situation leichter und wirkungsvoller handhaben können?« »Nein – das ist ja gerade der springende Punkt«, antwortete Davidson gereizt. »Es ist wichtig, daß wir die subjektive Wirklichkeit der Menschen im Innenraum so wenig wie möglich durcheinanderbringen.« »Daß sie im Zustand von Marionetten bleiben, wollten Sie wohl sagen?« »Sie müssen hierbleiben, wie die Sache auch ausgehen mag, und sie werden ihr Leben eher akzeptieren, wenn wir die Grundvoraussetzungen für ihre Anwesenheit im Innenraum nicht verändern. Das leuchtet doch gewiß ein?« »Wenn man sich mit der Anmaßung abfindet, daß sie hier weiter in der Gefangenschaft leben sollen wie die Tiere in einem Zoo«, erwiderte Gerry. »Sie müssen einsehen, daß ich als einer davon einen solchen Gedanken erniedrigend finde.« Davidson warf ihm flüchtig einen scharfen Blick
zu. »Das mag schon sein, aber dir bleibt kaum eine andere Wahl. Es kann nicht die Rede davon sein, daß deinen Leuten die Rückkehr auf die Erde erlaubt würde. Jedenfalls sehe ich nicht ein, warum gerade du Grund zur Klage haben solltest.« »Sie meinen, ich sollte zufrieden sein mit der Rolle eines großen Fisches in einem kleinen Teich?« »Wenn du es so nennen willst – ja«, antwortete Davidson. »Während ihr unsere Züchter bleibt – jene Männer mit den Netzen und der Macht, jeden von uns jederzeit herauszufischen und zu vernichten?« »Du schaltest absichtlich auf stur«, schimpfte Davidson wütend. »Von Ihrem Standpunkt aus vielleicht«, gab Gerry zu. »Es ist tatsächlich Ansichtssache, nicht wahr?« Davidson wollte gerade antworten, als durch den halbkugelförmigen Eintrittspunkt ein Summen jagte. Beide drehten sich um und sahen, daß über der Aufzugstür ein rotes Licht aufblitzte. »Das sind sicher Ulanov und Meyer«, sagte Davidson. »Jetzt möchte ich dich noch einmal daran erinnern, daß – welche natürliche Feindseligkeit du auch gegen diesen Mann hegen magst – sie in Wirklichkeit unbegründet ist.« »Die Begegnung zweier gebildeter Pinocchios«, kommentierte Gerry grinsend.
Das Grinsen erlosch, als die Aufzugstür aufzischte und nicht zwei Fahrgäste enthüllte, sondern einen: eine große Frau im schwarzen Fellanzug, die – unglaublich – Kay war. Kay, deren schrecklich verstümmelte Reste Gerry in den vom Feuer durchbrausten Bunkertrümmern zurückließ. Kay, die er geliebt und nach der er sich so lange gesehnt hatte. Starr vor Schreck staunte er die Frau schweigend an, während sie aus dem Aufzug trat und nur Augen für Davidson hatte. »Laura! Was ist passiert? Wo steckt Ulanov?« »Gorst platzte ins Zimmer, während ich ihn umprogrammierte.« »Gorst? Aber wo zum Teufel war Meyer?« wollte Davidson wissen. »Er tat sein Bestes, aber er konnte nicht verhindern, daß Gorst das Sensorengerät zerschmetterte.« »Und Ulanov?« »Er war halbwegs durch«, erwiderte Laura. »Die Vernichtung des Sensorengeräts versetzte ihn in einen traumatischen Schockzustand. Ich konnte ihn nur voll Anaesthetikum pumpen und zurücklassen. Gorst ebenfalls, sowie einen dritten Mann. Wir müssen einen Räumungstrupp organisieren, damit man sie vor Tagesanbruch hinausschafft. In der Zwischenzeit muß wohl Meyer das Kommando über den Südsektor übernehmen.«
»Du glaubst, daß er dazu fähig ist?« »Eigentlich nicht. Er bricht eventuell unter der geringsten zusätzlichen Belastung zusammen – aber was hätten wir sonst tun sollen? Ich mußte herkommen und dir mitteilen, was passiert ist.« »Ja – natürlich. Ich geh besser nach oben und seh zu, ob ich ihm nicht ein wenig Rückgrat beizubringen vermag«, meinte Davidson. »Wir können die Sache vielleicht noch immer durchziehen, wenn ihn die Guerillas als Führer anerkennen. Zuerst verständige ich aber den Kontrollturm und gebe Anordnung für den Räumungstrupp.« Vollkommen geistesabwesend eilte Davidson hinüber zum Videofon, das einige Meter neben dem Aufzug an der Wand hing. »Sie müssen Clyne sein«, sagte die Frau und richtete ihre hellbraunen Augen zum ersten Mal auf Gerry. »Ich habe Sie natürlich auf dem Monitor gesehen.« Sie trat einen Schritt vor und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Laura Frayne.« Gerry nahm die Hand und blickte in das dunkle, mit Fettfarbe beschmierte Gesicht. Er fragte sich, ob das Haar unter der schwarzen Kappe, die sie trug, honigblond war, wie er vermutete. Es war unmöglich, eine Wiederfleischwerdung ... Er wollte sagen: »Nein – du bist nicht Laura Frayne; du bist Kay Linder, und ich liebe dich.« Statt dessen schwieg er und spürte die warme Lebenskraft der Hand, die er umfaßt hielt.
Schließlich entzog sie ihm ihre Hand sanft; ein nervöses Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, während sie sagte: »Seltsam, irgendwie stellte ich Sie mir lauter, frecher vor.« Gerry lachte und verlor ein wenig von seiner nervösen Spannung. »Tut mir leid, wenn ich eine Enttäuschung bin. Es ist nur, daß Sie mich überaus stark an jemand erinnern, den ich kannte. Tat ich das wirklich? Vielleicht sind Sie nur etwas, das Davidson mir bei der Programmierung einfütterte.« Sie blickte zu Davidson hinüber, der noch immer ins Videofon sprach. »Schon möglich«, bestätigte sie leise, und ihre zarten Züge verhärteten sich. »Später müssen wir etwas dagegen unternehmen.« »Nein«, lehnte Gerry ab. »Diese Sache, zwei vollständige Garnituren Erinnerung zu haben, kann verwirrend sein, aber ich würde mein Gehirn von nun an lieber lassen, wie es ist.« Davidson kehrte dem Videofon den Rücken und näherte sich ihnen. Sein hageres Gesicht war sehr blaß. »Verdammt, dieser Pelissier! Warum muß er immer alles so erschweren?« »Schickt er einen Trupp?« fragte Laura. »Ja, aber nach dem, was er von sich gab, bat ich ihn um einen persönlichen Gefallen.« »Du mußt mit Avram Meyer behutsam umgehen. Er hat schon genug ausgestanden«, riet Laura. »Er
sollte eigentlich sofort aus dem Gebiet entfernt werden.« »Unmöglich!« widersprach Davidson. »Wir brauchen ihn im Innenraum, wenn wir das Gebiet der Guerillas unter Kontrolle halten wollen.« »Und der Norden?« »Clyne begreift die Situation. Er kann dort die Dinge erledigen.« Laura runzelte die Stirn. »Trotzdem glaube ich, ich sollte ihn begleiten.« »Das ist nicht nötig«, schnauzte Davidson. »Ich könnte dich brauchen.« »Vergißt du Torrance?« fragte Laura. »Wenn ihm erst einmal klar wird, was vorgeht, wird er sicher Ärger machen. Ich sollte dort sein.« Davidson zögerte, sein Blick huschte zwischen dem Mann und der Frau hin und her, die ihn anblickten. »Na schön«, meinte er schließlich. »Ich kann hier nicht mit dir diskutieren. Gott weiß, was Meyer möglicherweise anstellt. Geh mit Clyne zurück, wenn du willst – aber bleib über Funk in Verbindung. Ich muß jetzt los.« Er eilte in den Aufzug, und die Türen schlossen sich zischend hinter ihm. Während das Summen des nach oben fahrenden Aufzugs verklang, wandte sich Gerry an Laura: »Was ist das bloß für eine Gruppe, die sich einen Anführer wie ihn aussucht?« fragte er.
Laura reagierte verteidigend: »Michael stand unter Streß. Die Umstände –« »Von wegen Streß, verdammt!« unterbrach Gerry sie. »Er ist genauso neurotisch wie ein in Panik geratenes Kaninchen, das in alle Richtungen rennt.« »Während Sie, wie ich sehe, von beispielhafter Standfestigkeit sind?« sagte Laura kühl. Clyne grinste. »Ich bitte darum, wenn ich schon Ihren Messias kritisiere, nicht wahr?« »Michael ist sehr lauter. Er war seit langem wegen der Situation im Innenraum beunruhigt.« »Und Sie?« »Glauben Sie wirklich, daß eine Frau das Leiden, das sich hier abgespielt hat, gleichgültig lassen könnte?« »Wahrscheinlich nicht, aber ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, daß Leid und Gewalt eventuell zum Leben notwendig sind?« »Menschen sollten in Frieden zusammen leben können.« »Keine Konflikte, nur eine hübsch behagliche Trägheit – ist das die Idee? Trotz Ihrer Ausbildung können Sie daran noch immer glauben?« Sie musterte ihn trotzig und mit einer überheblichen Weiblichkeit, die er unwiderstehlich anziehend fand. »Sie reden wie Moule.« »Der Vorsteher des Projekts? Nun, vielleicht hat er
doch recht. Sehen Sie sich ihren Plan an. Theoretisch klang Davidsons Predigt über die Gewaltlosigkeit sehr schön, aber bisher hat nichts geklappt, oder? Vielleicht haben Sie einen Fehler gemacht, sich gegen Ihren planmäßigen Vorgesetzten zu stellen?« »Moules Taktik ist falsch. Viele haben das seit langem gespürt, aber Michaels Ideen verwandelten unsere Gedanken in Taten.« »Dann muß Moule ein Idiot sein, daß er so etwas zuläßt. Er hätte Davidson abschieben müssen, sobald dieser den Mund aufmachte.« »Er hat es versucht. Michael sollte morgen auf die Erde zurückgebracht werden.« »Verstehe.« Jetzt wurde Gerry der Grund für Davidsons Hektik klar. Der Plan mochte zwar schon seit einiger Zeit in Vorbereitung sein, aber er wurde wegen dieses Ereignisses beschleunigt und eiligst in die Tat umgesetzt. »Und Sie glauben wirklich, daß sich Moule so leicht geschlagen gibt?« »Was könnte er sonst tun?« »Gewiß könnte er von der Erde Unterstützung anfordern, um seiner Politik den Rücken zu decken?« »Nein – wenn die Lage im Innenraum erst einmal geändert ist, würde es zuviel Aufwand erfordern, den alten Zustand wieder herzustellen. Angesichts einer vollendeten Tatsache kann Moule nichts anderes tun, als sich mit der Situation abzufinden.«
Gerry lachte. »Sie und Davidson – Sie haben das alles ausgebrütet, nicht wahr? Der Innenraum soll in eine Art Arkadien umgewandelt werden: alle Bewohner sind glücklich und zufrieden und amüsieren sich, ob sie wollen oder nicht. Und ich – was haben Sie mit mir vor? Vielleicht Tilgung und Erneuerung?« Sie starrte ihn ehrlich erschrocken an. »Warum sagen Sie so etwas?« Er zuckte die Achseln. »Nun, ich bin kaum der Typ, der zum Begriff Arkadien paßt. Ich war nie besonders gut in passiver Zufriedenheit, oder haben Sie das nicht erraten?« »Ich kann Ihnen versichern, daß es keinen solchen Plan gibt.« »Nicht?« zweifelte Gerry. »Vielleicht hat Ihnen Davidson nur nichts davon erzählt, hm? Gewiß, im Augenblick bin ich für ihn von Nutzen, aber später kommt er eventuell zu dem Schluß, daß mein Wissen um die wahre Sachlage eine Gefahr darstellen könnte. Was dann?« »Ich glaube, es wird Zeit, daß wir aufbrechen«, wich sie aus und ging vor ihm her auf das wartende Fahrzeug zu. Gerry beobachtete einen Moment lang ihren graziösen Gang, dann folgte er ihr. Er wunderte sich, warum Davidson sie in die Programmierung einbaute; wie und warum er jene Erinnerungen herstellte
über sein niemals existentes Verhältnis zu Kay/Laura, die ihm immer noch deutlich vor Augen standen. Doch wie dies auch gemacht wurde, es wurde so gut gemacht, daß er trotz des Wissens um die Falschheit der Erinnerungen in diese Frau mehr als halb verliebt war. Gleichzeitig fragte er sich, ob es ebenfalls auf seine Programmierung zurückzuführen war, daß ihn jene merkwürdige Überzeugung erfüllte, sie fühle sich zumindest auch zu ihm hingezogen.
18 Sie unterhielten sich sachlich, während Laura den Kleinwagen auf den Nordsektor zusteuerte. Letztere beantwortete alle seine Fragen über das unterirdische Straßennetz sowie den Verwaltungsablauf im Kontrollturm, obwohl ihr in den Sinn kam, daß Davidson ihre Offenheit in solchen Dingen vielleicht mißbilligt hätte. Trotz einer Zusammenarbeit mit Clyne nach außen hin erkannte sie genau, daß Michael den Mann aus ihr unverständlichen Gründen nicht mochte; daß er ihm mißtraute und ihn nur als Mittel zum Zweck benutzte. Ein Grund für Michaels Verhalten war vielleicht, daß dieser große, lächelnde Mann, der scheinbar vollkommen gelöst auf Tuchfühlung neben ihr in dem kleinen Fahrzeug saß, das krasse Gegenteil zu seiner eigenen, knöchernen Neurose bildete. Indem sie sich aufs Fahren konzentrierte, brauchte Laura Clyne nicht direkt in die Augen zu sehen, aber trotzdem wurde sie sich der starken männlichen Aura immer bewußter, die ihn umgab. Anmaßung war vorhanden, aber gleichzeitig Güte und Humor. Die paar Mal, die sie den Mut hatte, ihm direkt ins Gesicht zu blicken, erkannte sie darin eine elektrisierende Offenheit, die in ihrer nackten Werbung um ihre Weiblichkeit ihre ganze Reserviertheit zu durchdrin-
gen schien. Sie wußte irgendwie, daß Gerry ein echter Mann war, der sie ihre Weiblichkeit neu entdecken lassen konnte; ein Mann, der sie beherrschen, aber gleichzeitig in einer Weise vervollständigen würde, wie kein anderer jemals zuvor. Irgendwo hatte sie gelesen: wenn es so etwas wie männliche Schönheit gibt, muß ihr Hauptbestandteil Lebenskraft sein. Bis zu diesem Augenblick verstand sie jedoch den Sinn dieser Definition nicht. Trotz ihrer selbstironischen Bemühungen, diese Gesinnung abzuschütteln, indem Laura sich sagte, daß sie wie eine fünfzehnjährige Jungfrau reagiere, schien ihr Gerry Clyne der hübscheste, begehrenswerteste Mann zu sein, den sie je kennengelernt hatte. Graues Dämmerlicht begann durch die Kuppel zu dringen, als sie das Kraftwerk verließen. Sie gingen durch die verlassenen Straßen des Nordsektors. Obwohl sie sich jetzt körperlich nicht so nah waren wie zuvor im Kleinwagen, nahm Laura mehr denn je die überhebliche Männlichkeit, die ruhige, beherrschte Kraft jeder Bewegung wahr. »Sie müssen müde sein«, vermutete er. »Es war eine lange Nacht«, gab sie zu. »Wohin gehen wir?« »Zu meinem Haus auf eine Dusche und etwas Kaffee. Danach fühlen wir uns bestimmt beide besser.« »Klingt gut. Und dann?«
»Dann sprechen wir lieber ein paar Worte mit Ihrem Freund Torrance«, riet er. »Ja, vermutlich haben Sie recht.« Dieser Begegnung sah sie keineswegs gern entgegen. Torrance war immer unabhängig gewesen. Gut möglich, daß er sich selbst angesichts einer bereits geänderten Situation im Innenraum weigern würde, sich dem Unvermeidlichen zu beugen. In diesem Fall wäre sie gezwungen, den Betäuber zu gebrauchen, der an ihrem Gurt hing – aber der Gedanke an eine solche Verhaltensweise gegenüber Torrance flößte ihr irgendwie Abscheu ein. Darin lag ein Verrat, der ihr großes Unbehagen bereitete. Das Innere von Clynes Bungalow war von einer keineswegs überfüllten, schlichten Eleganz, die es wie eine Entfaltung seiner eigenen Persönlichkeit wirken ließ. Er gehörte zu dieser Art Mensch – einer, der seinen Stempel allem aufdrückt, was er berührt, indem er es irgendwie durch seine eigene Lebendigkeit verändert. Gerry führte sie in die kleine, gut ausgerüstete Küche. »Kaffee? Und wie wär's mit etwas Eßbarem? Rühreier mit Schinken?« »Nur Kaffee, denke ich.« Er grinste. »Unsinn! Sie müssen hungrig sein; und falls nicht, werden Sie's sein, wenn Sie geduscht haben.« Er ging hinüber und öffnete die Tür des kleinen Badezimmers. »Sie zuerst. Ich wasche bloß rasch das
Geschirr im Spülbecken, dann mache ich das Frühstück.« Im Bad stand sie für einen Augenblick da und betrachtete ihr Spiegelbild. Als sie die Kappe ablegte, erschien zerzaustes und wie Stroh wirkendes Haar; und das schwarze Make-up auf ihrem Gesicht war teilweise zerronnen und verlieh ihr das Aussehen eines Zebras. Gott! Wie schrecklich sie aussah. Wie konnte sie sich nur jemals einbilden, daß Clyne sie in einem solchen Zustand anziehend finden würde? Laura schälte sich aus dem schmutzigen Fellanzug und drehte die Dusche auf. Das Wasser war angenehm heiß und einladend, und Laura seifte sich zum zweitenmal ein, als sie bemerkte, daß sie nicht allein im Bad war. Sie drehte sich um. Gerry stand lächelnd da und beobachtete sie. »Nun, gefalle ich Ihnen?« fragte sie, als seine Augen endlich die gemächliche Musterung ihres Körpers beendeten und wieder zu den ihren zurückkehrten. »Sagen wir mal, ich hätte gerade meine Meinung in punkto Frühstück geändert«, erwiderte er, während er ohne Hast sein Hemd aufknöpfte. Laura erwachte und richtete sich beim Anblick dieses fremden Zimmers plötzlich erschrocken auf; dann entspannte sie sich wieder, als sie erkannte, wo sie sich be-
fand. Es war schön gewesen – besser als alles, was sie je zuvor erlebt hatte. Aber irgendwie wußte sie vom ersten Augenblick ihrer Begegnung an, daß es so sein würde. Er nahm sie mit einer skrupellosen, suchenden Sinnlichkeit, die sie zu ungeträumten Höhen der Leidenschaft führte; während sie jetzt so dalag, durchströmten die Nachwirkungen ihren Körper, und sie begehrte ihn abermals – abermals und für immer, weil er die Männlichkeit besaß, für die sie geschaffen war. Laura blickte auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand und stellte fest, daß sie über drei Stunden geschlafen hatte. Beschämt dachte sie daran, daß ihr Funkgerät zusammen mit den abgelegten Kleidern noch immer im Bad liegen mußte. Hatte Davidson mit ihr Verbindung aufzunehmen versucht? Wenn nicht, hätte er sicher bis jetzt wenigstens einen Kontrollanruf erwartet. Faul setzte sie sich auf. Irgendwie schien es nicht mehr wichtig, nicht im Vergleich zu dem, was geschehen war, aber – Das Geräusch der sich öffnenden Haustür unterbrach ihre Überlegungen. Sie lauschte den näherkommenden Schritten; einen Moment später stand Gerry im Türrahmen zum Schlafzimmer. »Wo warst du?« fragte sie. »Es mußten Maßnahmen getroffen werden.« Sein Gesicht war seltsam undurchsichtig, verändert. »Torrance?«
»Er steht unter Bewachung. Von seiner Seite drohen keine Schwierigkeiten mehr.« »Und jetzt?« Etwas war anders an ihm – eine neue Spannung ersetzte das ungezwungene, gelockerte Auftreten. Sie wollte den Grund für diese Veränderung verstehen, und gleichzeitig fürchtete sie sich vor dem, was sie möglicherweise entdeckte. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte er. »Hilfe – wobei?« Er ging quer durchs Zimmer und stand ungefähr einen Meter entfernt, während er auf sie herabblickte. Die harten Linien um seine Mundwinkel und die Augen hatte sie davor nicht beobachtet. »In einer Stunde warten hundert Mann beim Kraftwerk. Wir finden den Weg auch selbst, es würde jedoch Zeit sparen, wenn du mitkommst und uns durch das unterirdische Straßennetz führst.« »Aber das ist nicht nötig. Ich gebe ja zu, daß das unterirdische Straßennetz eine ideale Möglichkeit böte, sich dem Guerillalager zwecks eines Überraschungsangriffs zu nähern. Aber der Krieg ist aus. Davidson hat versprochen –« Lauras Stimme verebbte, als sie merkte, daß sie nur redete, um die tatsächliche Bedeutung zu verhehlen. »Die Guerillas sind nicht mehr wichtig«, erklärte er und schüttelte den Kopf. »Unser Ziel ist der Kontrollturm.«
Sie starrte ihn an, seine schonungslose Erklärung machte sie für einen Augenblick sprachlos. Und doch – trotz ihrer kurzen Bekanntschaft – begriff sie, daß dieser Plan mit der skrupellosen, kompromißlosen Natur des Mannes völlig übereinstimmte. »Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, ich würde mich mit weniger zufriedengeben, oder?« fragte er. »Da angeblich niemand im Innenraum etwas von der Existenz des Untergrundsystems oder vom Kontrollturm weiß – deshalb nehme ich an, daß es wenig Verteidigungsmittel gibt. Und selbst wenn es sie gibt, wird uns die von Davidson arrangierte Nachrichtensperre die ideale Deckung bieten. Deswegen müssen wir – mit oder ohne deine Hilfe – schnell zuschlagen. Aber wenn du uns begleitest, rettet das vielleicht Menschenleben und verhindert unnötiges Blutvergießen.« Sie begann zu zittern, als sie seine Worte richtig zu verstehen anfing. »Du Hund! Du hinterlistiger, skrupelloser Hund!« rief sie. »Das war also der Grund, warum du den feurigen Liebhaber gespielt hast.« Er wich ihrem Blick nicht aus. »Wenn du das glauben willst, dann bitte. Aber du würdest dich selbst beschwindeln.« Sie hatte sich jetzt vom Bett erhoben; ihre Nacktheit war vergessen, während sie ihm wütend gegenüberstand. »Was könnte ich sonst glauben? Ich hätte es
von Anfang an wissen müssen, selbst als ich dich – mich benutzen ließ.« »Du fällst verworrene, gefühlsbedingte Urteile«, tadelte er ruhig. »Wir benutzten uns gegenseitig, wenn du es so nennen willst; auf Grund einer biochemischen Reaktion, nicht deshalb, wer oder was einer von uns beiden war. Das war eine Angelegenheit zwischen Mann und Frau und lag auf einer gänzlich anderen Ebene.« Obwohl sie instinktiv wußte, daß an seinen Worten etwas Wahres war, ließ sie ihr Stolz dies nicht zugeben. »Und du denkst tatsächlich, daß ich wegen dieser ... Beziehung dazu bereit wäre, meine Kollegen im Kontrollturm zu verraten und den Plan zum Scheitern zu bringen?« »Der Plan!« Er stieß das Wort verächtlich aus. »Du hast selbst gesagt, daß sein Erfolg sich auf zwei starke Anführer im Innenraum stützt; auf Anführer, die untereinander ein logisches Abkommen treffen und ihren Gefolgsleuten die Wahrung des Friedens aufzwingen können. Ich brächte das in diesem Sektor zustande, und Ulanov wäre bei den Guerillas dazu fähig gewesen. Aber Meyer nicht – nicht, ohne daß er ihnen die volle Wahrheit sagt, und das wird ihm Davidson nicht erlauben.« »Aber du hast sie deinen Männern gesagt?« Er nickte. »Was hast du erwartet? Hast du wirklich
wie dieser idealistische Dummkopf Davidson geglaubt, ihr könnt einem Gefangenen den Schlüssel zu seinem Käfig aushändigen und ihn gleichzeitig bei seiner Ehre packen, diesen nicht zu benützen? Hast du wirklich geglaubt, daß ich mit meinen jetzigen Kenntnissen noch länger bereit wäre, mich an Davidsons Spielregeln zu halten: den Innenraum in eine Art Arkadien umgestalten und damit sein Gewissen beschwichtigen? Kannst du dir tatsächlich vorstellen, ich würde eine solche Rolle hinnehmen und dabei genau wissen, daß Davidson und Konsorten auch weiterhin jede Bewegung von mir überwachen? Der bloße Gedanke ist obszön.« Sie spürte seinen Abscheu, während er ihr die Fragen pausenlos entgegenschleuderte, und trotz der Tatsache, daß seine Worte gänzlich im Widerspruch zu ihrer Ausbildung standen, erkannte sie die Gültigkeit seiner Argumente. »Ich muß zugeben, daß der Gedanke ständiger Überwachung an sich eine Verweigerung der menschlichen Würde ist«, begann Laura, aber er fiel ihr ins Wort. »Menschliche Würde? Du wagst es, mir davon zu sprechen, während das Gehirn eines jeden einzelnen von uns durch Davidson und die übrigen erforscht und bearbeitet wurde, so daß wir gezwungen sind, unsere Zeit damit zuzubringen, uns gegenseitig aus
völlig falschen Beweggründen wie die Tiere zu bekämpfen?« »Du weißt bereits, was ich, was die meisten von uns davon halten«, verteidigte sie sich jetzt. »Es war Moules Politik, nicht unsere – eine Politik, die wir zu ändern beschlossen.« »Um sie mit einer anderen falschen Wirklichkeit zu ersetzen?« Seine Rechte vollführte eine wegwerfende Geste. »Ich pfeife auf eure Wirklichkeit!« »Aber was hätten wir sonst tun sollen?« »Ihr hättet uns die Wahrheit sagen können.« »Wozu? Diese deine Wahrheit wirkt wie ein ätzendes, sich überall verbreitendes Gas, das die Grundlagen der Vernunft zerfrißt. Jetzt, wo du weißt, wer und warum du hier bist – macht dich das zufriedener?« »Zufrieden – was ist zufrieden?« fragte er. »Hätten wir nur das nötig gehabt, wäre es gewiß einfacher gewesen, uns alle zu lobomatisieren und in friedliches Gemüse zu verwandeln. Zumindest lehnte Moule diese Möglichkeit ab.« »Dann war der Krieg mit den Guerillas vielleicht gar nicht so sinnlos«, mutmaßte sie. »Zumindest lenkte er deine aggressiven Triebe auf eine verhältnismäßig harmlose Weise. Was du jetzt vorschlägst, ist um etliches gefährlicher.« »Von deinem Standpunkt aus gesehen – oder von unserem?«
»Was hoffst du eigentlich zu erreichen, wenn du in den Kontrollturm eindringst?« fragte sie. »Schließlich ist es nur eine andere Kuppel wie die hier, aber kleiner. Selbst wenn deine Übernahme erfolgreich ist, hast du nur die Größe deines Gefängnisses erweitert. Es gibt dennoch keine richtige Möglichkeit zur Flucht. Wohin wolltest du fliehen? Doch sicher nicht zurück auf die Erde, die dich bereits abgewiesen hat.« »Zumindest wird es keine Überwachung mehr geben, wenn wir den Kontrollturm übernommen haben.« »Und was ist mit den Leuten, die jetzt im Kontrollturm arbeiten?« »Wenn Sie zur Mitarbeit bereit sind, werden sie in unsere neue Gesellschaft eingegliedert.« »Und wenn nicht?« »Dann muß man sie ... angleichen.« »Warum sagst du nicht, was du wirklich meinst – daß man sie umprogrammiert?« fügte sie hinzu. »Du willst nur die eine Tyrannei gegen eine andere austauschen. Jetzt seid ihr die Herren – ist das die Absicht?« »Wir haben die Mehrheit«, betonte er. »Einverstanden, aber was macht dich so zuversichtlich, daß du richtig handelst?« Er trat vor und packte ihre nackten Schultern, während er ihr tief in die Augen sah. »Weil ich muß – verstehst du das nicht?« fragte er eindringlich. »Die
Lage hat sich jetzt geändert. Davidson hat sie geändert – zum Besseren oder Schlechteren –, als er meine wahre Erinnerung wieder auslöste. Es gibt kein Zurück.« Vielleicht war es anfangs ein biochemischer Vorgang, aber jetzt wollte Laura vor allem weiter an diesen Mann glauben, weil ein Leben ohne ihn sinnlos wurde. »Du versprichst, daß es kein Morden gibt?« fragte sie. »Nicht, wenn es zu vermeiden ist«, versicherte er. »Aber denk daran, daß wir uns vielleicht verteidigen müssen, wenn du nicht mit uns kommst.« Sie erwog die Situation. Es bestand wenig Zweifel, daß er – mit ihrer Hilfe oder ohne sie – den Kontrollturm übernehmen würde. Es gab – wie er vermutete – keine richtige Verteidigungsanlage gegen ein Eindringen durch das unterirdische Straßennetz; sicherlich keine, die seiner Stärke und Entschlossenheit widerstehen würde. Oberflächlich besehen wäre sie, wenn sie ihm Hilfe leistete, eine Verräterin an ihren Kollegen, aber wenn sie dadurch deren Leben retten konnte – »Die Zukunft«, fragte sie weiter. »Was passiert, nachdem du den Kontrollturm übernommen hast?« »Wir leben – aber alle in der gleichen Wirklichkeit. Diejenigen, die nicht hierbleiben wollen, können auf einem Versorgungsschiff zur Erde zurückfliegen.«
Sie runzelte die Stirn. »Wenn ein Versorgungsschiff kommt.« »Die Erde wird uns schon nicht verhungern lassen, falls du das befürchtest«, versicherte er. »Jetzt, da wir nicht mehr mit diesem dummen Krieg beschäftigt sind, sollten wir genügend Nahrungsmittel für beide Kuppeln erzeugen können.« »Aber wieso bist du so sicher, daß sie tatenlos zusehen –« »Und beobachten, wie die Patienten die Anstalt übernehmen?« grinste er plötzlich. »Baby, ich habe Neuigkeiten für dich: die Erde kann verflucht wenig dagegen tun. Das wird meine erste Botschaft an sie sein.« »Aber die Funktion des Marsprojekts als Sicherheitsventil für die Erde. Um die Psychopathen und Unzufriedenen aufzunehmen?« »Ich werde ihnen mitteilen, daß sie uns, wenn sie noch immer ein Sicherheitsventil brauchen, weiterhin Leute schicken können. Wußtest du nicht, daß Australien einst eine Strafkolonie war?« Es lag sowohl am hypnotischen Einfluß seines Selbstvertrauens als auch an ihren Gefühlen für ihn als Mann, daß seine Worte in ihren Ohren langsam vernünftig klangen – vernünftiger als die bisherige Situation auf dem Mars mit ihren beiden absichtlich geteilten Wirklichkeiten. Die Patienten waren tatsäch-
lich dabei, die Anstalt zu übernehmen, aber mit einem Anführer wie Gerry Clyne sowie der Mitwirkung der Spezialisten im Kontrollturm – »Gut«, kapitulierte sie. »Ich helfe dir.« »Das ist schön ... schön«, murmelte er. Gerry zog sie sanft an sich und küßte sie. Während sie sich diesem Vergnügen hingab, fiel ihr ein, daß er freiwillig auf ihre Entscheidung gewartet hatte, ehe er diesem Drang nachgab. Vielleicht konnte sogar Gerry Clyne mit der Zeit gezähmt werden. Das war ein interessanter Gedanke.
19 Der Räumungstrupp war fort und hatte Davidson mit Meyer im Hauptquartier der Guerillas allein gelassen. Meyer saß zusammengekauert in einem Sessel; das kohlrabenschwarze Haar betonte noch die Blässe seines hageren Gesichts. Gelegentlich schien er Davidsons Gegenwart gar nicht wahrzunehmen, so tief steckte er in einem Sumpf der Hoffnungslosigkeit. Davidsons Ungeduld wuchs, während er die Lethargie des anderen zu durchdringen suchte. »Ich verstehe nicht, wo die Schwierigkeiten liegen«, wunderte er sich. »Du wirst als Ulanovs Stellvertreter anerkannt. Du mußt den Männern nur weismachen, daß er mit Gorst in geheimer Mission unterwegs ist und dir die Verantwortung übertragen hat, bis sie zurückkehren.« »Und das Verschwinden des Wachtpostens?« Avram Meyers dunkelbraune Augen richteten sich traurig auf Davidson. »Verdammt, Menschenskind! Du machst es einem aber schwer«, schnauzte Davidson. »Der Wachtposten ist unwichtig. Du kannst behaupten, er habe die beiden begleitet.« »Gut, dann sag ich ihnen das. Aber wenn keiner der drei zurückkommt, was dann? Die Männer wer-
den von mir erwarten, daß ich wenigstens Suchtrupps nach ihnen ausschicke. Mehr als das, sie werden Vergeltungsmaßnahmen gegen den Nordsektor verlangen.« »Es darf keine Vergeltungsmaßnahmen geben«, bestimmte Davidson. »Verstehst du denn nicht? Der Krieg ist aus. Es gibt im Innenraum keine Kämpfe mehr.« »Ich verstehe das natürlich – aber wie soll ich die Männer davon überzeugen, daß der Krieg plötzlich aus ist, ohne ihnen einen glaubhaften Grund dafür zu liefern. Selbst Ulanov würde es schwerfallen, ihnen einen derartigen Vorschlag zu unterbreiten – gewiß nehmen sie ihn von mir nicht entgegen. Ohne Ulanovs Unterstützung glauben sie bestimmt, ich hätte Verrat begangen. Ich werde eine Meuterei am Hals haben.« »Nicht, wenn du die Sache richtig anpackst«, argumentierte Davidson. »Großer Gott, Menschenskind, kannst du dir vorstellen, daß diese Männer – daß Männer überhaupt – immer Krieg führen wollen?« Meyer zeigte sich eine Spur lebhafter. »Ja – in ihrem Fall halte ich das sehr gut für möglich. Vielleicht wäre es anders, wenn sie bei Kriegsende nach Hause zurückkehren könnten, aber sie wissen, daß das unmöglich ist. Die Fortsetzung dieser Fehde ist das ein-
zige, was ihrem Leben einen Sinn gibt, können Sie das nicht verstehen?« Davidson seufzte verzweifelt. Das Ärgerliche war, daß Meyer – wie er wußte – mit seiner Situationsanalyse in vieler Hinsicht recht hatte. Meyer wurde ursprünglich für diese besondere Rolle ausgesucht, weil seine erfolglose, sich selbst in den Schatten stellende Persönlichkeit den geeigneten Hintergrund für den herrischen Ulanov abgab. Man meinte, ein solcher Mann würde weniger wahrscheinlich mit dem feurigen Oberst zusammenprallen und wäre deshalb ein wirkungsvollerer Beobachter. Niemand hatte die jetzige, veränderte Lage vorausgesehen, die Meyer in die Stellung des Anführers gestoßen und die früheren Vorteile in Nachteile verwandelt hatte. »Schön, dann müssen wir es so abwickeln«, erklärte Davidson. »Angenommen, du erzählst den Leuten jene Geschichte, daß Ulanov und Gorst in geheimer Mission unterwegs sind, und erklärst, jeder Angriff könne den Erfolg dieser Mission gefährden.« »Und wie lange, glauben Sie, geben sie sich damit zufrieden?« fragte Meyer. »Zumindest solltest du sie für zwei bis drei Tage hinhalten können«, schätzte Davidson. »Genug Zeit für mich, Ulanov und Gorst neu zu programmieren. Danach werden die beiden hierher zurückgeschickt und sind ausgerüstet mit einer kompletten Garnitur
Erinnerungen, die die neue, friedliche Lage begründet und welche sie natürlich an ihre Leute weitergeben.« »Ja, ich vermute, das könnte funktionieren«, erwiderte Meyer ohne Begeisterung. Davidson drehte sich ihm ärgerlich zu. »Was stört dich denn jetzt schon wieder?« wollte er wissen. »Ich sprach zuvor mit Laura Frayne«, erklärte Meyer. »Sie sagte, es bestünde die Möglichkeit, daß ich bald abgelöst werde. Gott! Wieder in einer gesunden Gesellschaft zu leben –« »Du wirst abgelöst«, versprach Davidson. »Aber zuerst müssen wir die Lage im Innenraum stabilisieren.« Er trat zum Fenster hinüber und blickte hinaus. Draußen war jetzt heller Tag, und jede Möglichkeit, ungesehen den unterirdischen Eintrittspunkt zu erreichen, war vertan. »Ich muß bis heute abend hierbleiben. Glaubst du, du kannst dafür sorgen, daß niemand ins Hinterzimmer kommt?« Ohne Meyers Antwort abzuwarten, ging er ins Schlafzimmer und schloß hinter sich die Tür. Davidson zog seinen Miniatursender hervor und setzte sich mit Hofer im Kontrollturm in Verbindung. Der Elektroniker teilte ihm mit, daß bisher alles glatt ginge; er wies aber auch darauf hin, daß Moule die ersten Berichte von der Überwachungsabteilung die nächsten zwei Stunden noch nicht erwarten würde. Wenn die-
se nicht eintrafen, mußte man eine Erklärung für das offensichtliche Großversagen im Überwachungssystem abgeben. Ursprünglich beabsichtigte Davidson, Moule vor Wiederaufnahme der Überwachung persönlich mit der veränderten Lage im Innenraum zu konfrontieren. Auf Grund seiner vorläufigen Gefangenschaft im Gebiet der Guerillas mußte dieser Gedanke aufgegeben werden. Hofer schien zuversichtlich in bezug darauf, die Reparaturarbeiten am Nachrichtenwesen hinauszögern zu können, aber trotzdem mußte Moule mit Gewißheit annehmen, daß etwas Ungewöhnliches im Gange war. Unter diesen Umständen konnte einen die Aussicht auf notgedrungene Untätigkeit für einen ganzen Tag verrückt machen. Es schien, daß ihm außer der Überprüfung der Fortschritte von Clyne und Laura Frayne im Nordsektor nichts anders zu tun blieb, als bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten. Wenigstens stand außer Zweifel, daß diese zwei der Lage dort gewachsen waren, obwohl er einige Bedenken über die eventuelle Entwicklung ihrer persönlichen Beziehung hegte. Er hatte zuerst nicht die Absicht, daß sie sich überhaupt begegnen sollten, aber auch hier verlief nicht alles plangemäß. Nachdem er Hofer Anweisungen gegeben hatte, die jener an die anderen Mitglieder der Gruppe weiterleiten sollte, unterbrach er die Verbindung und
drückte auf den Wählknopf an seinem Funkgerät, um Laura Frayne zu rufen. Einige Minuten später schwieg der Empfänger – abgesehen vom Knistern atmosphärischer Störungen im Hintergrund – noch immer. Er versuchte es abermals. Keine Antwort. Davidson begann unbehaglich in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen und fragte sich über die möglichen Gründe für Lauras ausbleibende Antwort. Als er sie im Untergrundsystem mit Clyne zurückließ, hing das Funkgerät eingehakt am Gürtel. Dort konnte sie sein forderndes ›Piep‹ kaum überhören. Wenn Laura körperlich dazu in der Lage war, war es undenkbar, daß sie seinen Ruf nicht beachten würde. Als erfahrene Telegraphistin wußte sie genau, wie wichtig es in einer solchen Lage war, miteinander in Kontakt zu bleiben. Er versuchte es wieder, jedoch mit dem gleichen Resultat. Nichts als das negative atmosphärische Zischen. Mit wachsender Besorgnis überdachte er die eventuellen Gründe für Lauras Stillschweigen. Es könnte sein, daß ihr Funkgerät einen unberechenbaren Defekt zeigte, oder sogar sein eigenes – Er rief Hofer zum zweiten Male und bat den Elektronikspezialisten, Laura mit seinem stärkeren Sender anzupeilen.
Etliche Minuten später piepte sein eigener Empfänger. Er schaltete ein. »Nichts, Mike«, berichtete Hofer. »Bist du sicher, daß sie ihr Funkgerät trug?« »Natürlich bin ich sicher«, schnauzte Davidson. »In diesem Fall muß ihr etwas passiert sein«, meinte Hofer. »Willst du, daß ich jemand in den Nordsektor schicke und sie aufspüren lasse?« Davidson traf eine Blitzentscheidung. »Nein – ich nehme die Sache selbst in die Hand«, erklärte er. »Aber Mike –« »Ich ruf dich in einer Stunde wieder an«, versprach Davidson und schnitt Hofers Einwände ab. Er ging zur Tür. Als er sie sachte öffnete, sah er, daß Meyer mit grübelndem, blassem Gesicht allein am Kartentisch stand. »Meyer, ich muß jetzt hier raus!« Meyer wandte sich ihm zu. »Unmöglich. Es ist helllichter Tag.« »Dann müssen wir es möglich machen. Ich kann Laura über Funk nicht erreichen, deshalb muß ich in den Nordsektor und herausfinden, was ihr zugestoßen ist.« »Aber wie? Man könnte Sie sehen.« »Du wirst mich begleiten. Wenn wir einen deiner Soldaten treffen, kannst du sagen, ich sei ein Gefangener, den du verhören willst.«
»Aber –« »Kein Aber, Meyer«, schnitt ihm Davidson barsch das Wort ab. »Tu, was ich befehle. Gehen wir.«
20 Gefreiter Sikorski kauerte am Rand der Lichtung unterm Baum, lauschte dem Knurren seines Magens und verfluchte die Eselei seiner Vorgesetzten, die darauf bestanden, daß alles buchstabengetreu ausgeführt wurde. Wacheschieben hier draußen, südlich vom Lager, war vollkommene Zeitvergeudung. Jeder wußte, daß dies ein toter Sektor war, daß die Nordstaatler hier nicht angreifen würden, wenn sie überhaupt angriffen – warum sich also drum kümmern? Sikorski schwankte gegen den moosbedeckten Baumstamm und zuckte zusammen, als sein Schultersack über den noch immer empfindlichen Rücken rieb. Dreißig Peitschenhiebe – für etwas, was für einen Mann nur natürlich war. Gorst und Ulanov – diese halsstarrigen Schweinehunde mit ihrem frommen Gerede von wegen Vergehen gegen eine weibliche Gefangene. Gorst bekam seinen Anteil, das war sicher; und Ulanov führte auch nicht gerade das Mönchsleben, das er vortäuschte. Aber im Heer dieses Mannes galt immer die alte Geschichte zwischen Offizieren und Unteroffizieren: »Tu, was ich sag, nicht was ich tu« – und Ivan, der Gefreite, erhielt Tritte und Strafen, wenn er aus der Reihe tanzte. »Schweinehunde, elende Schweinehunde!« mur-
melte Sikorski, und seine Rechte packte die Maschinenpistole fester, als er sich daran erinnerte, wie Gorst dabeistand und laut die Hiebe zählte, die auf seinen bloßen Rücken herabsausten – und wie der Oberfeldwebel dreimal neunundzwanzig zählte, und niemand eine Frage zu stellen wagte. Während er sich auf die durch die Luft pfeifenden Lederriemen und den beißenden, weißglühenden Schmerz des geschundenen Fleisches besann, dachte Sikorski: Eines Tages sind Gorst und ich allein, irgendwo da draußen auf 'nem Streifzug, abgeschnitten von der restlichen Truppe. Nur eine Minute, mehr brauch ich nicht. Zeit, um Gorsts Augen zu sehen, während ich den Abzug drück. Er muß wissen, daß ich's bin, sonst wär's nicht richtig. Ich muß die Panik sehen, das Betteln in seinen Augen, während ihn die Kugelsalve in zwei Hälften zerreißt. Und danach – die Erklärung wäre einfach. Wir stolperten in einen Hinterhalt, und Gorst, der vorn war – er war immer vorn – kriegte das erste Feuergefecht ab. Solche Sachen passierten immer in diesem Kampf, und es würde nicht zuviel Fragen geben, selbst wenn jemand in den Rücken geschossen wurde – Aber der Rücken ist nicht gut – ich muß den Blick sehen – die Angst in seinen Augen. Ich werd nicht die Befriedigung haben, es später jemand erzählen zu können – obwohl's vielleicht einige erraten, – aber das
ist nicht so tragisch, wenn ich diese paar Sekunden bekomm, in denen er und ich Bescheid wissen. Wenn er mich anschaut und erkennt, daß ich ihn umlegen werd. Das ist die richtige Befriedigung. Ivan Sikorski rekelte sich schläfrig unter dem Busch; sein gesundes Bauerngesicht verzog sich zu einem Grinsen der Vorfreude, während er seinen Traum von der Rache an Gorst für diese Extrahiebe träumte. Wie gefallen dir hundert Kugeln in deine fetten Eingeweide, Genosse Oberfeldwebel? Der Traum verblaßte plötzlich, als nicht weit entfernt ein Schritt über brüchiges Unterholz knisterte. Sofort erwachte der Soldat in Sikorski. Er machte es sich hinter dem Baum bequem, brachte das Maschinengewehr in Anschlag und blickte auf seine Armbanduhr. Noch fünfundvierzig Minuten, bis er abgelöst wurde. Wer war dann der Eindringling? Machte der Zugführer einen überraschenden Kontrollgang in der Hoffnung, jemand im Dienst beim Schlafen zu erwischen? Mindestens weitere dreißig Hiebe für dieses Vergehen. Oder erfolgte ein Überfall vom Nordsektor? Nein, nicht hier. Das war der für sie unwahrscheinlichste Platz zum Zuschlagen. Und doch – Sikorski verzichtete auf seine geheimen Hirngespinste und reagierte mit jener Wachsamkeit, die ihm im Verlauf der jahre-
langen militärischen Ausbildung in Fleisch und Blut übergegangen war. Die Schritte kamen jetzt näher, krachten und raschelten unbeholfen durch die Pflanzenwelt. Mit Sicherheit konnte kein Stoßtrupp seine Anwesenheit so sorglos verraten – außer auf Grund der Vermutung, dieser Sektor werde wahrscheinlich nicht bewacht. Jetzt ertönten Stimmen. Zwei Männer sprachen leise miteinander. Sikorski versteifte sich. Die eine der Stimmen kam ihm vage bekannt vor, und die andere enthielt einen seltsamen, fremden Akzent, den er wiedererkannte. Es war der gleiche Akzent, den die Frau hatte, als sie fluchte und kämpfte – der Akzent des Nordens. Zwei Männer tauchten auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung auf. Die Identität des einen wurde sofort offenbar und verband sich mit der Stimme. Es konnte niemand anderer als Genosse Hauptmann Meyer sein. Aber der andere – Ein großer, hagerer Fremder in einem eng anliegenden schwarzen Anzug, der mit einem fremden Akzent redete. Ein Spion aus dem Norden! Was könnte er anderes sein? Und mit Hauptmann Meyer. Alle Offiziere waren Schweine – war dieser vielleicht auch ein Verräter? Sikorski widerstand der Versuchung, hervorzupreschen und die beiden Männer zur Rede zu stellen,
und blieb in Deckung; er beobachtete, wie die beiden am Rande der Lichtung entlanggingen und beim Stumpf eines gefällten Baumes stehenblieben. Neugier prickelte ihm über den Nacken, als er sah, wie der Fremde einen kleinen, einem Kugelschreiber ähnelnden Gegenstand aus dem Gürtel zog und auf den Baumstumpf richtete. Wenige Sekunden später rückte der riesige Stumpf, von einer lautlosen, unsichtbaren Kraft getrieben, wie ein zusammenklappbarer Deckel zur Seite und nach oben und enthüllte eine Art Schacht. Der schwarzgekleidete Fremde stieg bereits hinein, als Sikorski aus seinem Versteck stürzte. »Halt!« Auf Sikorskis Schrei flog Meyers Hand zum Halfter, sein Körper drehte sich um und trat dem Angriff mutig entgegen. Hinter ihm sah der Fremde bestürzt hoch. Automatisch betätigte Sikorskis Finger angesichts eines Mannes, der eine Waffe ziehen wollte, den Abzug seiner Maschinenpistole. Eine kurze Salve zischte genau in die Herzgegend von Meyers Brustkorb. Mit blassem, in einem seltsam leeren Ausdruck der Überraschung gefrorenen Gesicht stolperte der Hauptmann zur Seite und verdeckte einen Augenblick die Gestalt des Fremden. Als sein Körper auf den Boden aufschlug, war die
schwarzgekleidete Gestalt verschwunden. Sikorski stand da, hörte das entfernte Pfeifen anderer Wachen und wußte, daß ungefähr in einer Minute Hilfe zur Stelle sein würde. Inzwischen erinnerte er sich seiner exponierten Stellung, duckte sich mit schußbereiter Waffe und begann vorsichtig den zusammenklappbaren Baumstumpf anzuschleichen. Fünf Meter – vier – seine um die Waffe gekrallten Hände waren feucht – kalt und klebrig vom Schweiß; seine Augen suchten nach dem anderen Mann. »Kommen Sie mit erhobenen Händen raus!« Seine Stimme klang barsch, unnatürlich, wurde aus einer von der Furcht zusammengeschnürten Kehle hervorgepreßt. Stille, bis auf die entfernten Geräusche von Schritten im Unterholz, die seine näher kommenden Kameraden verrieten. Sikorski trat dichter an die zusammengekrümmte Gestalt von Meyer heran. Ein Schwein von einem Offizier; vielleicht nicht so schlecht wie Ulanov, aber ein Schwein – und er war tot, verfaulen soll er. Der peitschende Knall eines einzigen Schusses. Ivan Sikorski fiel nach vorn, sein breites Gesicht sank ins üppige Gras der Lichtung. Zwischen seinen Augen saß das Loch einer gut gezielten Kugel. Die schwarzgekleidete Gestalt tauchte wieder hinter dem nach oben geklappten Baumstumpf auf. Sie
packte die schlaffe Leiche von Meyer unter den Schultern, zerrte die Last auf den freigelegten Schacht zu und verschwand unter der Erdoberfläche. Einen Augenblick später glitt der Baumstumpf lautlos an seinen ursprünglichen Platz. Die Leiche des Gefreiten Ivan Sikorski blieb allein auf der Lichtung zurück.
21 Davidson stützte den schlaffen Körper gegen die Wand des unterirdischen Eintrittspunkts. Seine Hände waren klebrig, und als er hinabsah, entdeckte er, daß Meyers Blut sie rot gefärbt hatte. Der Anblick verursachte bei ihm heftige, würgende Übelkeit. Er hatte den Kampf im Innenraum oft auf den Übertragungsschirmen im Kontrollturm beobachtet, aber der unmittelbare, mörderische Tod lag bis zu diesem Augenblick völlig außerhalb seines Erfahrungsbereichs. Davidson bückte sich und wischte die blutbesudelten Hände so gut wie möglich an Meyers Kleidung ab. Seltsame Ironie, daß dies Meyer passiert sein sollte, der soviel Angst hatte. Konnte es sein, daß seine Furcht in Wirklichkeit gar nicht Feigheit war, sondern das Ergebnis einer überwältigenden Vorahnung jenes Schicksals, das ihn erwartete? Jetzt hatte die Furcht aufgehört. In dem blassen Gesicht stand überhaupt kein Ausdruck – nur völlige Leere. Leere – dieser Gedanke erinnerte ihn an seine Verpflichtung Meyer gegenüber. Es gehörte zu den Standardinstruktionen der ganzen Belegschaft im Kontrollturm, daß sämtliche Todesopfer so bald wie möglich zur Wiederbelebung und Operation zurückgebracht werden sollten, um den Verfall von Gehirnzellen auf
ein Minimum zu beschränken. Seine Sorgen um Laura würden im Augenblick warten müssen. Unter diesen Umständen war es eindeutig seine Pflicht, persönlich den Transport von Meyers Leiche zum Kontrollturm zu überwachen, bevor er etwas anderes in Angriff nahm. Abgesehen davon war es jetzt wichtiger denn je, daß Ulanov und Gorst neu programmiert und zum frühstmöglichen Zeitpunkt in den Innenraum zurückgeschickt wurden – und diese Aufgabe konnte nur er mit dem erforderlichen Wirkungsgrad ausführen. Davidson eilte hinüber zum Videofon und verständigte die Transportabteilung, von der ihm versichert wurde, daß man sofort ein Fahrzeug schicken würde, das ihn und Meyer abholte. Meyer saß in einem Teich seines eigenen Blutes; sein auf die zerfetzte Brust gesunkenes Gesicht überzog eine grünlichgraue Blässe. Armer Teufel! Das Team hatte einen Fehler begangen, ihn für diese Arbeit auszuwählen. Er war einfach nicht der richtige Typ dafür gewesen. Aber jetzt war er aus dem Schneider. Boehm und die anderen würden seine Knochen zusammenflicken, ihn mit neuen Organen und Blut versorgen; außerdem würde man das Todestrauma sorgfältig aus seinem Psychenprofil tilgen. Meyer würde zwar zuerst verwirrt und schwach auf den Beinen sein, aber bald könnte er einen anderen Posten im Kontrollturm übernehmen; oder – wenn er wollte – auf die Erde
zurückgebracht und als Invalide aus dem Vertrag entlassen werden. Vielleicht war dies für ihn das Beste. Ihn hatte seine Tätigkeit als Rollenspieler sicher nicht glücklich gemacht. Man konnte Lauras Ansicht in dieser Angelegenheit nicht leugnen. Laura – das erinnerte ihn daran, daß er sie seit einiger Zeit nicht anzurufen versucht hatte. Er drückte den Wählknopf auf seinem Funkgerät. Die Antwort erfolgte fast augenblicklich. »Hier Frayne.« »Laura! Wo zum Teufel hast du gesteckt? Ich versuche dich seit Stunden zu erreichen.« Sie zögerte kurz, bevor sie antwortete. »Tut mir leid, Mike. Ich mußte mein Gerät ausgeschaltet lassen. Konnte keinen Anruf riskieren, während ich mitten unter den Innenraum-Bewohnern steckte. Sie behandelten mich schon mißtrauisch genug.« Davidson runzelte die Stirn. Die Entschuldigung klang natürlich irgendwie einleuchtend. Eigentlich hätte er sie erraten können, falls er gleich darauf gekommen wäre, daß dies der Grund für ihr Schweigen war. Ihm drängte sich der unangenehme Gedanke auf, daß Meyer vielleicht noch am Leben wäre, wenn er diese Schlußfolgerung früher gezogen hätte. Er schob die eigenen Zweifel beiseite und fragte: »Was ist dort los?« »Geht alles glatt. Was macht Avram?«
»Er wird's durchstehen. Ich bin auf dem Weg zurück zum Kontrollturm, um die Umprogrammierung von Ulanov zu überwachen«, erklärte Davidson. Es hatte keinen Zweck, Laura zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit der Geschichte über Meyer zu beunruhigen. Er befürchtete, daß ihre persönliche Anteilnahme für diesen Mann sie von ihrer Aufgabe, Clyne zu kontrollieren, vielleicht ablenken konnte. »Du willst Ulanov und Gorst wieder einsetzen?« »Besser so. Meyer ist nicht stark genug, um mit der Situation hier fertig zu werden.« »Ich bin sicher, daß du damit recht hast«, bestätigte Laura. »Ich wollte so früh wie möglich seine Ablösung vorschlagen.« Davidson hörte das Summen eines sich nähernden Fahrzeugs. »Das klingt, als würde mein Transportmittel kommen«, meinte er. »Ich mache jetzt Schluß, und du rufst mich in einer Stunde im Kontrollturm an, wenn du etwas zu melden hast.« »Werde ich«, versicherte Laura und unterbrach die Verbindung. Davidson wandte sich um, als das Fahrzeug ausrollte und einer von Pelissiers Männern vom Führersitz stieg. »Teufel! Das sieht ja schlimm aus«, kommentierte der Chauffeur und blickte auf die ausgestreckt daliegende, blutige Leiche von Meyer.
22 »Ich meine, seien wir doch mal ehrlich, wir – das Innenpersonal der Kuppel – könnten die gleiche Arbeit genausogut auf der Erde ausüben. Ich will sagen, was bin ich anderes als ein Lastwagenfahrer, wenn man's genau betrachtet? Diese Rollenspieler, das sind die Jungs, die den Glanz und den Einfluß für sich gebucht haben, selbst wenn es sie ab und zu erwischt. Was ist das heutzutage überhaupt? Ich meine, auf eins-zwei-drei haben sie ihn zusammengeflickt, und er geht wieder spazieren –« Neben dem ermüdend geschwätzigen Chauffeur schien die Fahrt zurück zur Hauptstation des Untergrundsystems, die direkt unter dem Kontrollturm lag, länger als gewöhnlich zu dauern. Davidson ließ ihn seinen Monolog weiter herunterrasseln. Von Zeit zu Zeit drehte er sich um und blickte auf die Fracht im Fahrzeug, jene wachsgesichtige, blutige Masse, die einmal Avram Meyer hieß. Er hatte den Mann nie besonders gut leiden können oder große Hochachtung für ihn gehegt, aber er mußte Mut haben, um sich freiwillig um diese Stelle zu bewerben. Oder vielleicht war er wirklich ein Feigling und entschädigte sich über Gebühr dafür, um sich selbst etwas zu beweisen? Wie auch die Wahrheit lauten mochte, sie fiel
neben diesem schlaffen, sich versteifenden Körper nicht ins Gewicht. Davidson wußte leider nur zu gut, daß Meyer noch am Leben wäre, wenn er nicht so hartnäckig darauf bestanden hätte, am hellichten Tag zum Eintrittspunkt zu gehen. Boehm und die Chirurgen würden ihn wiederbeleben und die nicht mehr zu reparierenden Organe ersetzen, aber was dann? Was sagt man zu einem Mann, der auf Grund deiner eigenen gedankenlosen Handlungsweise getötet wurde? Wie ist das, wenn man tot war und dann wiederbelebt wurde? Selbst wenn sein Tod nur vorübergehend sein würde: blickte Davidson auf Meyers ausdruckslose Leiche, schien der Zustand von einer schrecklichen Endgültigkeit, die möglicherweise keine noch so große chirurgische Geschicklichkeit ungeschehen machen konnte. Meyer würde neu programmiert, das traumatische Todeserlebnis aus seinem Gehirn getilgt werden. Aber etwas mußte doch zurückbleiben, wenn auch nur auf einer unbewußten Ebene; und soweit es Davidson betraf, konnte ihm die Anwesenheit des Mannes nur als Anklage seiner eigenen Schuld dienen. »– einige dieser sogenannten Experten sind gar nicht so geschickt, wenn man es genau betrachtet«, redete der Fahrer weiter. »Ich will sagen, zum Beispiel diese Geschichte, daß das gesamte Überwachungssystem jetzt seit geschlagenen zwölf Stunden
nicht mehr funktioniert. Herrgott noch mal – ich erwisch 'ne durchgebrannte Spule oder so, und Pelissier macht mich zur Schnecke, als hätt ich das ganze verdammte Sonnensystem sabotiert. Aber Hofer und seine Eierköpfe müssen nur von technischen Fehlern reden, und niemand macht ihnen die Hölle heiß. Scheinbar muß man ein Experte sein, um 'ne ruhige Kugel zu schieben. Da fällt mir ein – kennen Sie den über den Programmierer, der mit einem Zwitter in einen Rückkoppelungsstromkreis gerät? Anscheinend war da –« Davidson fixierte mit den Augen die leeren, grauen Korridorwände und widerstand der Versuchung, abermals auf die Fracht zurückzublicken. Er persönlich konnte zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts, überhaupt nichts für Meyer tun – noch hatte es Zweck, sich mit Schuldgefühlen zu quälen. Es würde viel Arbeit geben, wenn er im Kontrollturm eintraf. Hofer und die anderen erwiesen sich scheinbar bei der Durchführung ihrer vereinbarten Aufgabe als ziemlich tüchtig – aber ihm als ihrem anerkannten Anführer blieben die beiden schwierigsten Aufgaben: zuerst die Gruppe anzuführen, die sich mit Moule auseinandersetzte, sowie ihm mitzuteilen, daß man ihn der Leitung enthoben habe; zum zweiten über die öffentliche Sprechanlage mit der gesamten Bevölkerung des Kontrollturms zu reden und sie zu überzeu-
gen, daß eine Zusammenarbeit mit dem neuen Regime in ihrem eigenen Interesse läge. Und Moule – wie würde er es aufnehmen? Schlecht – hoffte Davidson in gewisser Weise. Nicht, daß er dem Mann körperlich Gewalt antun wollte – aber es läge eine gewisse Befriedigung darin, mit anzusehen, wie diese stolze Häßlichkeit erniedrigt wurde, diese unerschütterliche Zuversicht endlich in sich zusammenfiel. »– und daher sagte der Zwitter: ›Ja, das ist ja alles ganz schön, aber wie paßt meine Schwester hier rein?‹« Der Fahrer gab endlich die Pointe des langen, verworrenen Witzes zum besten und kugelte beim Lachen über seinen eigenen Scherz fast vom Sitz, während er das Fahrzeug in die hell erleuchtete Endstation der Kontrollzentrale lenkte. »Sieht aus wie Ihr Empfangskomitee«, bemerkte er, während er neben zwei Sanitätern hielt, die mit einer leeren, fahrbaren Liege warteten. Davidson sprang zu Boden, sobald das Gefährt stand. Nach einem kurzen Wortwechsel mit den Sanitätern eilte er auf das Büro des Transportleiters zu. Pelissier blickte hoch; auf seinem rosigen, aristokratischen Gesicht lag ein merkwürdig angestrengter Ausdruck, als Davidson ohne anzuklopfen in sein Allerheiligstes stürmte. »Sie haben sich Zeit gelassen, diesen Trottel von ei-
nem Fahrer zu schicken«, maulte Davidson. »Ist Ihnen nicht klar, daß alles davon abhängt, die ganze Sache vor dem Eintreffen des Versorgungsschiffes abzuwickeln?« »In diesem Fall wären Sie besser hier im Kontrollturm geblieben, statt im Innenraum umherzuschlendern und den Superman im Alleingang spielen zu sollen, oder?« entgegnete Pelissier spitz. »Es war notwendig, daß ich Clyne aktivierte – schließlich habe ich ihn programmiert«, verteidigte sich Davidson; ihn verwirrte die fast hysterische Stimme des anderen sowie die offensichtlich spannungsgeladene Atmosphäre, die ihn umgab. »Sie hätten ihn auch so programmieren können, daß jemand anderer das Stimulans auszulösen vermocht hätte«, erwiderte Pelissier. »Wie lange könnte ich Ihrer Meinung nach wohl diese Abteilung leiten, wenn ich darauf bestehen würde, jede Mutter anzuziehen und jeden Meter Lesestoff selbst zu überprüfen. Ein Delegierter ist unter solchen Umständen die einzig richtige Lösung. Aber Sie können sich damit wohl nicht abfinden, oder?« »Was ist los, Pelissier?« fragte Davidson. Seine eigene Unruhe wuchs als Reaktion auf die schlecht verhehlte Erregung des Transportleiters. »Los? Nichts ist los«, schnauzte Pelissier. »Nur, daß die ganze Angelegenheit meiner Meinung nach zu
überstürzt war. Wir hätten uns mehr Zeit lassen und uns die Arbeitermasse sichern sollen.« »Die machen mit, wenn wir erst einmal Moule in der Tasche haben«, versprach Davidson. »Wo ist er eigentlich jetzt?« »In seinem Büro, soviel ich weiß.« »Gut!« Davidson deutete zum Videofon auf dem Schreibtisch. »Rufen Sie die anderen an und sagen Sie ihnen, sie sollen in zwanzig Minuten in die Programmierungsabteilung kommen.« »Das wird nicht nötig sein, Davidson«, behauptete eine Stimme hinter ihm. Davidson wirbelte herum und sah die vertraute, bärenähnliche Gestalt Torrances im Türrahmen stehen, flankiert von zwei bewaffneten Sicherheitsbeamten. »Aber du –« Davidsons Stimme verhallte unsicher. »Sie glauben doch nicht wirklich, daß ich mich von Clynes Meute im Innenraum einsperren lasse, wenn die eigentliche Handlung hier über die Bühne gehen soll, oder?« fragte Torrance. Angesichts des ruppigen Berufsspielertums von Torrance und der unpersönlichen Blicke der Wachen fühlte Michael Davidson plötzlich eine Schwäche, als wäre etwas in ihm zerbröckelt. Er ergab sich widerstandslos in die Gefangenschaft.
23 Die Gruppe blieb etwa zweihundert Meter vor der Hauptstation des unterirdischen Straßennetzes in einer nicht verwendeten Aufenthaltsnische stehen, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Laura und Gerry Clyne blickten auf die helle Ungewißheit am Ende des Tunnels, während die Männer hinter ihnen ihre Waffen prüften und untereinander leise über den bevorstehenden Einsatz Vermutungen anstellten. Laura fragte sich ängstlich, wie diese auf Grund des Guerillakriegs hartgesottenen, altgedienten Soldaten im Augenblick der Begegnung wohl handeln würden. Diese Männer waren Mordmaschinen und so programmiert, beim ersten Anblick von allem, was eventuell als Feind angesehen werden konnte, in Aktion zu treten. Obwohl sie Bub Annersley anführte, der – wie Laura wußte – Gerry treu ergeben war, schien es ihr zweifelhaft, daß jemand sie in Schach halten konnte, wenn der Kampf erst einmal begann. Viele von ihnen mußten schon lange Rachegedanken genährt haben für Kameraden, die umgekommen waren. Jetzt, da sie die Wahrheit kannten, mußte sich diese tödliche Wut nicht mehr gegen die Guerillas richten, von denen sie wußten, daß sie ebenso zum Narren gehalten wurden wie sie selbst, sondern ge-
gen die bisher unsichtbaren Marionettenspieler im Kontrollturm. Vielleicht hegte sogar Gerry Clyne ohne ihr Wissen solche Mordgedanken hinter seinem scheinbar ruhigen Auftreten. Sie blickte in sein energisches Gesicht. »Gerry – laß mich vorausgehen«, bat sie. »Ich könnte helfen.« Er blickte auf sie hinunter, ein hartes Funkeln in den Augen. »Uns helfen – oder ihnen«, brummte er. »Uns allen«, versicherte sie hartnäckig und flüsterte, um zu vermeiden, daß die in der Nähe stehenden Männer sie hörten. »Du willst doch nicht wirklich kämpfen und töten, wenn es vermieden werden kann, oder? Die meisten Leute im Kontrollturm sind nur gewöhnliche Männer und Frauen, die Befehle entgegennehmen und Tag für Tag ihren Beruf ausüben –« »Wie der Mitarbeiterstab in Buchenwald und Auschwitz?« Laura wurde auf Grund der Bitterkeit in seiner Stimme blaß, aber sie versuchte es weiter. »Gerry, du weißt selbst, daß das kein fairer Vergleich ist. Um Himmels willen, bitte hör auf mich! Viele dort drinnen sind meine Freunde. Es gibt nicht einen, den ich nicht wenigstens vom Sehen her kenne, oder der mich nicht kennt. Wenn ich vorausgehe und mit ihnen spreche, werden sie zuhören.« »Wie dein Freund Michael Davidson, wenn es ihm
gelungen ist, die Kontrolle zu übernehmen? Sicher wird er dich anhören, und dann schickt er ein Kommando herein und läßt uns unschädlich machen – vielleicht mit Gas, außer er zieht eine endgültigere Lösung vor – und dorthin zurückbringen, wohin wir gehören.« »Michael ist nicht so«, protestierte sie. »Er war schon immer gegen Moules Machtpolitik. Ich dachte, du hättest das verstanden.« »Vielleicht verstehe ich mehr als du«, meinte Gerry. »Ich glaube nicht, daß Davidson so sehr gegen Moules Gewaltpolitik als gegen Moule selbst ist. Wenn er das Kommando besitzt, wird er die zweckmäßigsten Methoden anwenden.« Laura konnte die etwaige Richtigkeit seiner Worte nicht leugnen. Sie gaben ihren eigenen Bedenken über Davidson feste Form. »Also gut, sicher ist das um so mehr Grund dafür, daß ich allein in die Station gehe und genau herausfinde, wie die Lage gegenwärtig steht. Wenn Michael übernommen hat, ist möglicherweise das Überwachungsnetz wieder in Betrieb; aber hier im unterirdischen Straßennetz gibt es keine Kameras, daher kann er keine Ahnung davon haben, daß du mit deinen Leuten da bist. Meine Ankunft in der Station würde keinen Alarm auslösen, und du kannst hier absolut sicher warten, bis ich zurückkomme.« Sie blickte bittend zu ihm auf. »Glaubst du
wirklich, ich hätte das alles getan, nur um dich in einen Hinterhalt zu locken?« Sein Ausdruck wurde etwas milder. Er legte ihr sanft die Hände auf die Schultern und sagte: »Nein, das glaube ich nicht, Laura. Doch ich denke, daß wir uns keinen Aufschub leisten können. Überraschung ist unsere beste Waffe, aber mit jeder verstreichenden Sekunde könnte diese Waffe infolge einer zunehmenden Bereitschaft auf seiten der Leute im Kontrollturm stumpf werden. Jetzt, da wir so weit gekommen sind, müssen wir alle vorwärts. Wenn wir nach deinem Vorschlag handelten, befänden wir uns in einer abschlägigen Situation, aber sobald wir die Station übernommen haben, können wir von einer starken Position aus verhandeln. Dann kannst du vielleicht für uns sprechen.« »In Ordnung, Gerry«, gab sie nach und beugte sich dem Unvermeidlichen. »Mach es nach deiner Methode.« Er lächelte auf sie hinunter und drückte kurz ihre Schultern, dann entfernte er sich. Sie beobachtete, wie Gerry von einer Gruppe zur anderen ging, und erfreute sich an den ungezwungenen, selbstsicheren Bewegungen dieses kräftigen, geschmeidigen Körpers. Die Logik sagte ihr, daß es lächerlich sei, so für einen Mann zu empfinden, den sie erst wenige Stunden kannte; daß es für eine Frau ihrer vermeintlichen
Reife lächerlich sei, sich in diesen skrupellosen Wilden, der ihr am Ende wahrscheinlich schrecklich weh tun würde, so zu verlieben. Vielleicht war dies der Schlüssel zu jener unerwarteten Tiefe ihres Verhältnisses. Seit Kurt Jagerman hatte sie sich unbewußt als Liebhaber Männer mit weniger Energie ausgesucht – schwächere Persönlichkeiten, deren Anziehungskraft bald verblaßt war und denen sie ohne Kummer den Laufpaß geben konnte. Vielleicht war das fehlende Leid schuld, daß diese Liebschaften auch nicht jene Befriedigung brachten, nach der sie sich sehnte. Möglich, daß sie tief im Innersten eine Primitive war mit dem Bedürfnis, vom stärkeren Mann beherrscht, an den Haaren geschleift zu werden ... Sie verwarf ihre Neigung zur Selbstanalyse. Wenn sie im Leben überhaupt etwas gelernt hatte, dann das, daß die sicherste Methode, jedes Glück zu zerstören, darin bestand, sich an seine Vergänglichkeit zu erinnern. Alles war vergänglich, selbst das Leben. Nach Abschluß seiner Inspektionsrunde kehrte Gerry zu ihr zurück. »Sie sind fertig. Gehen wir?« Seite an Seite übernahmen sie die Führung der Kolonne und marschierten zielstrebig auf die helle Kontrollstation zu. Eingedenk ihrer exponierten Stellung empfand Laura keine Angst, sondern eine Art Heiterkeit, daß sie – was auch geschehen mochte – beisammen waren.
Erst als sie endlich in die geräumige, unterirdische Höhle tauchten, stockten Lauras Schritte. Normalerweise war die Station ein Zentrum der Rührigkeit, in dem von Arbeitern der Transportabteilung die Fahrzeuge hin- und herbefördert wurden. Aber jetzt lag der ganze Komplex ruhig und ohne ein Anzeichen für menschliches Leben vor ihnen, und die Wagen parkten in ordentlichen Reihen. Laura grub die Fingernägel in die feuchten Handflächen, als sie sich darauf besann, daß die Berührung eines Schalters die Türen der Notausgänge schließen und sie wie Wespen in einer Flasche gefangen setzen konnte. Wenn jemand sie beobachtete, und eine Hand über dem Schalter lag – Gerry zeigte kein Zögern. Unter seiner Leitung trennten sich rasch einzelne Männergruppen von der Gesamtmasse und eilten zu vorher zugewiesenen Schlüsselpunkten. Innerhalb von fünf Minuten war die Übernahme abgeschlossen, ohne daß ein Schuß abgegeben worden wäre oder man im ganzen Komplex ein menschliches Wesen angetroffen hätte. Sie und Gerry standen zusammen im verlassenen Büro des Transportleiters und blickten durch die Glaswand auf die Versammlung in der darunterliegenden Station. »Ich verstehe das nicht«, murmelte sie. »Die Station ist rund um die Uhr zumindest mit einem Wartungsteam bemannt.«
Auf Clynes Gesicht lag ein grimmiger Ausdruck. »Ich kann mir etliche Möglichkeiten denken. Die wahrscheinlichste ist jedoch die, daß sie von unserer Ankunft wissen und oben auf uns warten.« »Dann mußt du mich diesmal allein vorgehen lassen«, erklärte sie bestimmt. »Ich fahre im Aufzug hinauf und rufe dich über das Videofon, sobald ich mich umgesehen habe.« Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich schicke keine Frauen, damit sie meine Gefechte austragen.« »Allein greifen sie mich nicht an. Man wird mich erkennen.« »Und gefangennehmen. Was brächte das ein?« »Zumindest könnte es Menschenleben retten«, erklärte sie und ging bereits zum Aufzug. »Schön«, lenkte er ein. »Aber wenn du in zehn Minuten nicht zurückrufst, kommen wir hinauf.« Sie nickte. »Zehn Minuten.« Die Tür des Aufzugs öffnete sich zischend. »Du nimmst lieber das«, meinte er und hielt ihr seine Automatik hin. »Nein, Gerry, ich bin auf deiner Seite – aber die dort oben sind noch immer meine Leute.« Er steckte die Waffe wieder in den Halfter und blickte sie ruhig an. »Gut, mach es auf deine Art. Aber sei vorsichtig. Ich will dich jetzt nicht verlieren.«
Clyne sah, wie sich die Aufzugstür schloß, und eine krankhafte Furcht wuchs in ihm, daß er sie zum letztenmal sah. Er war noch immer tief in sein Elend verstrickt, als Bub Annersley ins Zimmer trat. »Wir fanden einige –« Der große Rotschopf hörte zu sprechen auf; ein verdutzter Ausdruck lag auf seinem gesunden Gesicht. »Sag mal, wo ist das Mädchen?« »Sie fuhr im Aufzug hinauf, um herauszufinden, was an der Oberfläche vor sich geht.« »Du hast sie geschickt? Aber sie ist –« »Ich habe sie nicht geschickt – es war ihre Idee«, widersprach Gerry grob. »Und wenn du andeuten willst, daß sie uns verraten könnte – bemüh dich nicht!« »Schon gut, Gerry. War nur überrascht, das ist alles. Ich wollte dir nur sagen, daß wir dort drüben an der Rückseite der größten Reparaturwerkstätte einige Feuerleitern gefunden haben«, berichtete Annersley. »So?« »Nun, meiner Meinung nach erwarten sie, daß wir die Aufzüge benützen. Warum führ ich nicht eine Gruppe von zwanzig Männern über diese Leitern nach oben?« Gerry bemühte sich, die Gedanken von Lauras Schicksal loszureißen und seine Aufmerksamkeit dem Gespräch mit Annersley zu widmen. Es schien gut möglich, daß die Aufzüge den Schwerpunkt eines
Hinterhalts bildeten; vielleicht stand ein Wachtposten auf dem Flur. Er blickte auf seine Armbanduhr. Laura war bereits seit fünf Minuten fort. Gerry sah hinüber zu dem schweigenden Videofon auf dem Schreibtisch des Abteilungsleiters, dann wieder zurück auf den kreisenden Sekundenzeiger der Uhr. Er war immer überzeugter davon, daß, wenn Laura zurückrufen würde, sie das bereits getan hätte. Es gab keinen logischen Grund für diese Anschauung; sie war nur ein Ausläufer jener Niedergeschlagenheit, die ihn gepackt hielt, seit sie im Aufzug verschwand. In diesem Fall – Zeit ... spielte die Zeit eine Rolle, außer daß die Lage – falls sie schlecht war – mit jeder verstreichenden Sekunde noch schlimmer werden konnte. Wenn Annersley und seine Leute jetzt nur ungefähr vierzig oder fünfzig Meter höher gelegenen Oberfläche aufbrachen, wäre Lauras Zehn-Minuten-Grenze bis zu deren Eintreffen längst vorbei – »In Ordnung, Bub«, sagte er plötzlich. »Nimm dir zwanzig Mann, aber bleibt gelassen. Brecht nicht hervor wie die Apachen bei einem Überfall. Bezieht ruhig Posten, seht euch um, und dann rufst du mich hier zurück, wenn du ein Videofon finden kannst.« »Mach ich.« Annersleys rundes Gesicht strahlte bei der Aussicht auf Taten, und er eilte hinaus. Gerry blieb noch eine Minute stehen und blickte
durch das Kontrollfenster auf die Männer mit den harten Gesichtern, die wachsam an Schlüsselpunkten auf dem Stationsgelände standen. Er fragte sich, ob er sie in eine Falle geführt hatte. Dann setzte er sich hinter den Schreibtisch, als hoffe er dem schweigenden Videofon eine Antwort entlocken zu können. Unversehens wanderten seine Augen vom leeren Schirm zur Uhr an seinem Handgelenk, zum roten Sekundenzeiger, der über das Zifferblatt kreiste; sie kam ihm vor wie eine winzige, mörderische Sense, die jene Fäden durchschnitt, die ihn mit Laura verbanden, und ihn in der dumpfen Gewißheit zurückließ, daß sie nicht anrufen würde. Jetzt war es egal, ob sie ihn absichtlich in diese Falle gelockt hatte oder nicht; so oder so war sie für ihn in den Händen dessen, der nun den Kontrollturm leitete, verloren. Wie sie gesagt hatte, waren das dort oben ihre eigenen Leute, und sehr wahrscheinlich würde man ihr keinen körperlichen Schaden zufügen. Aber der Gedanke spendete wenig Trost. Jene Menschen konnten, hatten seltsame Dinge mit dem Gehirn aller menschlichen Lebewesen im Innenraum angestellt: falsche Erinnerungen eingefüttert, alte ausgelöscht, Gehirne völlig neu programmiert. Er bezweifelte Lauras Gefühle für ihn nicht. Ihre Beziehung war eines dieser wunderbaren, im Leben nur einmal auftretenden Beispiele für Liebe auf den er-
sten Blick – aber so tief die Wurzeln eines solchen Gefühl auch verankert sein mochten, die Programmierer konnten sie herausreißen und ihm Laura für immer fortnehmen. Eine solche Macht in den Händen von Menschen war unvorstellbar, teuflisch, nur zu deutlich dem Mißbrauch ausgeliefert. Er wußte nichts über Moule, aber möglicherweise hatte seine eigene Macht den Mann verdorben. Was den offensichtlich in erster Linie labilen Davidson anging, so war die Aussicht schreckerregend. Das Videofon auf dem Schreibtisch summte; Gerry beugte sich vor und knallte den Schalter in seiner Hast mit brutaler Gewalt nach unten. Aber das Gesicht auf dem kleinen Bildschirm war nicht das, das er zu sehen hoffte. »Hier ist nichts, Gerry«, verkündete Bub Annersley. »Die ganze Gegend wirkt wie ausgestorben.« »Laura?« Der Name schmerzte wie ein Messer, das in seinen Eingeweiden wühlte. »Keine Spur von ihr. Der Ort ähnelt einer Geisterstadt. In einem Umkreis von hundert Metern befindet sich keine Menschenseele in den Büros oder Wohnungen. Willst du, daß wir weitergehen?« »Nein, bleibt, wo ihr seid«, befahl Gerry und stand auf. »Ich bringe die übrigen Männer in den Aufzügen nach oben.« Er verließ im Laufschritt das Büro.
24 Bub Annersley zuckte mit den Schultern. »Verflucht, Gerry, wie soll ich das wissen? Vielleicht haben sie sie gepackt, sobald sie aus dem Aufzug trat; vielleicht hat sie aber auch nur beschlossen, auf eigene Faust weiterzugehen.« Die ganze Gruppe war auf dem offenen Platz vor dem Ausgang des Untergrundsystems versammelt. Den viereckigen Platz umgaben einstöckige Häuser aus eintönig grauem Beton; Straßen mit ähnlichen Gebäuden begannen an allen vier Ecken. Scheinbar gab es keine Abweichung in der geometrischen Präzision dieser Straßen, als sei dies eine Modellstadt: ohne eine Spur für menschlichen Aufenthalt, stumm, staubfrei und tot – Tot, und doch erfüllte Gerry die überwältigende Überzeugung, daß alle seine Bewegungen beobachtet wurden, daß jemand irgendwo mit ihm Katz und Maus spielte. Mühsam unterdrückte er den Drang, in die leere, keimfreie Luft seine Herausforderung hinauszubrüllen. »Wir könnten ein Suchverfahren einleiten und das als Mittelpunkt benützen«, schlug Annersley vor. »Um was zu suchen?« fragte Gerry, ärgerlich über die Störung.
»Nun, zum Teufel, ich weiß nicht – Menschen vermutlich«, antwortete Annersley stirnrunzelnd. »Ich meine, wohin sind sie gegangen? Wie du gesagt hast: im Freien ist nichts als Marswüste und alles vernichtende Luft. Sie müssen hier irgendwo sein. Außer –« »Außer was?« Annersley schüttelte seinen Rotschopf. »Nein, das ergibt überhaupt keinen Sinn«, meinte er. »Ich wollte sagen, außer sie sind in das unterirdische Straßennetz gegangen, haben andere Tunnels benützt als jene, durch die wir gekommen sind, und befinden sich jetzt im Innenraum.« Gerry ließ mit einem dröhnenden Gelächter ein wenig Dampf ab. »Bub, du hast vielleicht Einfälle. Sei lieber vorsichtig.« Er wollte noch etwas sagen, als er aus den Augenwinkeln – am äußersten Gesichtskreis – über sich eine flimmernde Bewegung einfing. Seine Hand griff zur Pistole, als sich ein paar Meter über seinem Kopf etwas Ähnliches wie ein schimmernder Hitzeschleier schnell in der Luft auszubreiten begann. Er zerrte die Pistole aus dem Halfter und schoß; das mehrfache Echo dröhnte in der bisher stillen Straße schrecklich in den Ohren. Der noch immer schimmernde, aber nun klarer erkennbare, glockenförmige Schleier sank jetzt, begleitet von Warnschreien der in der Nähe stehenden Männer, schnell nach unten. Es blieb keine Zeit zur Flucht, noch – spürte er
mit einem Gefühl der Hilflosigkeit – hätte diese etwas bezweckt. Man hatte ihn ausgesucht, und jetzt wurde er genauso sicher eingefangen wie der einzige Fisch in einem kleinen Aquarium. Alle Geräusche von außen verstummten, während ihn der Schleier in ein hohes, elektronisches Summen einhüllte, das Bewußtsein sowie Willenskraft schwinden ließ. Gerry saß in einem Sessel, der so bequem war wie eine Wiege. Der Mann ihm gegenüber am Schreibtisch war untersetzt und kahl. Seine blassen, abgerundeten Züge vermittelten den Eindruck, als hätte man sie aus grauem Plastik modelliert. Die einzigen Farbflecke in dem eintönigen Gesicht bildeten die Augen, die in einem warmen Bernsteinton schimmerten. Fast die gleiche Farbe wie die von – »Mein Name lautet Moule«, stellte sich der Mann vor. »Sie haben vielleicht schon von mir gehört?« »Der Leiter des Projekts ›Gesteuerte Welt‹«, bestätigte Gerry. »Also hatte Davidson keinen Erfolg.« Die Bernsteinaugen zeigten so etwas wie Belustigung. »Das kommt auf den Standpunkt an, von dem aus man den Erfolg beurteilt. Davidsons Funktion im Gesamtplan war die eines Beschleunigers, und den spielte er perfekt.« »Ich verstehe nicht. Sie meinen, daß Sie die ganze Zeit wußten, was er tat?«
Moule hob die graue Hand. »Bitte, es stiftet nur Verwirrung, wenn ich Ihnen die Erklärung stückchenweise gebe. Wollen Sie sich nicht in Geduld fassen und mich von vorn berichten lassen?« Gerry zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, mir bleibt keine andere Wahl. Schießen Sie los.« Moule nickte zustimmend. »Fein! Nun, einen Teil der Geschichte kennen Sie bereits oder glauben ihn zu kennen, aber ich will, daß Sie alle Vorurteile zu vergessen versuchen. Man hat gesagt, der Mensch sei eine falsche Bestie und niemals sich selbst gegenüber so ehrlich, wie wenn er eine Rolle spielt. In gewissem Sinne spielen wir vom Tag unserer Geburt an alle eine Rolle, oder besser ausgedrückt viele Rollen. Manchmal dienen diese Rollen unserem Vorteil, manchmal dem anderer. Ein Mann kann in seinem Leben viele Gestalten mimen – Sohn, Liebhaber, Freund, Feind, Vater. In jeder bleibt er noch immer er selbst, aber auf geringfügige Weise verändert gemäß der Rolle, die er spielt.« »Ich verstehe nicht –« »Bitte haben Sie mit mir Geduld«, unterbrach Moule. »Ich verbreite mich über dieses Thema nur, um verständlich zu machen, daß das, was wir ›Wirklichkeit‹ nennen, in Wahrheit ein subjektiver, abstrakter Begriff ist, der je nach Gesichtspunkt variiert. Soweit es Sie betrifft, waren Sie gern dazu bereit, an den Innenraum zu
glauben, bis Davidson Sie eines anderen belehrte. Die Kuppelstadt war damals Ihres Wissens der einzig verbleibende, bewohnbare Zufluchtsort auf einer Erde, die ein Atomkrieg zerstörte. Diese Wirklichkeit eignete sich für die Erinnerungen, die Ihrem Gehirn einprogrammiert wurden, bevor man sie in den Innenraum brachte. Als solches akzeptierten Sie sie ohne Frage – so wie Sie sich auch mit der Konfliktsituation abfanden, auf die Sie dort stießen. Letztere diente als Mittel, die aggressiven Tendenzen abzuleiten, die bei Ihrer Gattung allgemein anzutreffen sind.« Gerry starrte den untersetzten, kahlen Mann mit erneuter Scharfsinnigkeit an. Ein so pedantischer Redner konnte sich nicht nur versehentlich auf »Ihre Gattung« beziehen. Moule mußte folglich wissen, daß er sich mit dem Gebrauch einer solchen Phrase als jenseits der menschlichen Rasse stehend identifizierte. Wenn dies tatsächlich der Fall war ... Gerry zwang sich, die Untersuchung der unzähligen Möglichkeiten zu verschieben, die sich auf Grund dieser Vermutung eröffneten, und konzentrierte sich auf Moules Worte. »Daneben gab es eine andere Wirklichkeit – die der Leute im Kontrollturm. Sie wußten, daß sie sich auf dem Mars befanden und glaubten, sie würden an einem Projekt arbeiten, das die terranische Regierung zur Umwelttherapie krimineller Psychopathen ins Leben gerufen hatte. Auf gewisse Weise kommt diese
Version der Wirklichkeit näher als die andere, die wir soeben erwähnten. Aber auch sie hat ihre Mängel; der davon nicht gerade unbedeutendste ist jener, daß es die letzten hundertfünfzig Jahre keine terranische Regierung mehr gibt.« Gerry bemerkte, daß er zitterte. Klammheimlich und ohne falsche Dramatik zerstörte Moule die Stützen, die sein subjektives Universum trugen. Nur mühsam unterdrückte er den Wunsch, sich in den weichen Sesselbezug zu schmiegen und in einem, der Katatonie im Mutterleib ähnlichen Zustand auf jenen entscheidenden Augenblick zu warten, in dem die letzte Stütze entfernt wurde und er sich verlassen in einer kosmischen Leere wiederfand. Mit großer Willensanstrengung zwang er sich dazu, der gleichmäßigen Stimme zuzuhören und den Sinn der über ihn hinwegsprudelnden Worte zu erfassen. »Der Atomkrieg gehört unglücklicherweise nicht nur der programmierten Erinnerung an. Dieses Gefecht – entweder zufällig oder absichtlich ausgelöst – verwandelte die Oberfläche des Planeten in eine radioaktive Hölle und beraubte sie aller einheimischen Lebensformen. Das wahrhaft Schreckliche an dieser Katastrophe ist, daß sie genauso häufig von Propheten vorausgesagt wurde wie das unvermeidliche Ergebnis des wissenschaftlichen ›Fortschritts‹ einer gesellschaftlich unreifen Rasse. Der Menschheit gelang
es, sich selbst zu vernichten, bis auf jene wenigen, bedauernswerten Überlebenden, die entweder unter der Erdoberfläche in tiefen Bunkern eingeschlossen oder in den beiden winzigen Kolonialprojekten ausgesetzt waren: eins auf dem Mond, das andere auf dem Mars; keins von beiden konnte sich auch nur im entferntesten selbst versorgen. In diesem Augenblick stand es ganz sicher fest, daß die menschliche Rasse in diesem Sonnensystem zum Aussterben verurteilt war, wenn nicht in kürzester Zeit Hilfe von außerhalb käme. Es gab solche, die behaupteten, eine Einmischung unsererseits wäre unklug; aber andere brachten vor, daß die Schuld für die Katastrophe ebensogut auf uns laste, weil wir uns – obwohl wir die Erde seit Jahrhunderten beobachteten – nicht schon früher eingeschaltet hatten, als der fatale Kurs vielleicht noch zu ändern gewesen wäre. Sogar manche derer, die letztere Ansicht vertraten, waren der Meinung, daß wir zu lange gewartet hätten und keine Hoffnung hinsichtlich eines Überlebens der Erdbewohner bestünde. Aber eine erwartungsvollere und für ihre Verpflichtungen empfänglichere Gruppe konnte schließlich einen Mehrheitsbeschluß gegen Isolationismus und Gleichgültigkeit erringen. Die noch lebenden Menschen wurden gerettet und in einen Zufluchtsort gebracht, der für diesen Zweck auf dem Mars errichtet wurde.
Selbst das genügte noch nicht. Der Mars konnte diesen Leuten nur zeitweilig als Heimat dienen, wenn sie jemals wieder als freie Menschen existieren sollten. Man kann eine intelligente Spezies nur für gewisse Zeit in einer künstlichen Umgebung unterhalten. Wird die Zeitspanne überschritten, muß eine solche Gefangenschaft den unwiderruflichen Verfall der Spezies zur Folge haben. Deshalb war es wichtig, daß man eine neue, von Natur aus gastfreundlichere Heimat für die überlebenden Terraner fand. Ein etwas schwieriges Problem, weil alle bekannten Planeten vom Typ Erde auf unserer Milchstraße bereits von intelligenten Spezies unterschiedlicher Zivilisationsstadien bewohnt wurden. Man machte mit Recht geltend, daß es nicht in Frage kam, Erdlinge auf einen solchen Planeten zu bringen in der Hoffnung, sie würden friedlich neben der Urbevölkerung leben. Aus unseren Studien über die Erdspezies ging eindeutig hervor, daß eine solche Situation nur eine Brutstätte für einen weiteren verheerenden Konflikt wäre. Nach zahlreichen Diskussionen beschloß man, daß die beste Lösung in der Reinigung der Erde selbst läge. Eine ungeheuer große, aber keine unmögliche Aufgabe mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln sowie der Erfahrung einiger unserer Mitglieder in der Bewohnbarmachung bisher unwirtlicher Plane-
ten ihres eigenen Sonnensystems. Nach den hundertfünfzig Jahre währenden Bemühungen wurde das Projekt jetzt vollendet. Die Zeit für eure Rückkehr auf die Erde ist gekommen. Wie Sie vielleicht schon aus dem verlassenen Zustand des Kontrollturms erraten haben, hat die Übersiedlung bereits begonnen. Wenn sie abgeschlossen ist, kehren diejenigen von uns, die nicht zur Erde gehören, in ihre eigenen Systeme zurück, und Ihr Volk ist sich wieder einmal selbst überlassen. Wir werden uns nicht mehr einmischen. Man wird euch die Erinnerung an das, was hier geschehen ist, nicht nehmen. Man denkt, dieses Erlebnis könnte eventuell dazu beitragen, daß ihr eure neue Zivilisation auf festeren Grundlagen errichtet, ohne die Fehler aus der Vergangenheit zu wiederholen. Verhält es sich so, war unsere Arbeit hier nicht vergebens – wenn nicht, dann bleibt uns nur zu vermuten, daß den Erdlingen eine besondere Art von Perversion anhaftet, die den Samen der Selbstzerstörung in sich birgt. Wir hoffen, daß dem nicht so ist, aber nur die Zeit kann die wahre Antwort lehren. Eins steht fest: die Terraner bekommen keine vierte Chance.« Gerry riß sich von der wohligen Behaglichkeit des Sessels los. »Eine vierte Chance?« »Sie müssen in Ihrer eigenen Mythologie den Beweis für die letzte Gelegenheit finden«, erklärte Mou-
le. »Die Legenden über Götter und Riesen, die die Erde bereisten, sowie jene Geschichten von verlorenen Kontinenten sind keineswegs unbegründet entstanden.« »Und Ihr Volk hat uns damals gerettet?« Moule schüttelt den Kopf; ein seltsamer Ausdruck der Trauer lag auf seinen grauen Zügen. »Nicht wir, sondern eine andere, höherstehende Rasse, in deren Fußstapfen wir noch immer trotten wie hoffnungsvolle Kinder. Sie sind seit langem aus dieser Galaxis verschwunden, aber eines Tages werden wir ihnen vielleicht gerecht.« »Warum wird ausgerechnet mir das alles erzählt?« fragte Gerry. »Weil Ihre Rolle als Anführer der wieder angesiedelten Menschen in diesen Frühstadien schwierig sein wird und es wichtig ist, daß Sie Ihre Verantwortung voll begreifen.« »Eine weitere Rolle?« spöttelte Gerry. »Und wenn ich es vorziehe, sie nicht zu spielen?« Moules grobe Züge wurden weich. »Ich glaube nicht, daß wir uns bei unserer Wahl so geirrt haben sollten. Auf jeden Fall betrachtet Sie bereits ein Großteil der Gemeinde als Anführer und wird dies in der neuen Umgebung sogar noch stärker tun. Es gehört zur unwandelbaren Natur Ihrer Persönlichkeit, daß Sie eine solche Verantwortung nicht zurückweisen
können, wie schwierig sie auch sein mag. Täuschen Sie sich nicht: obwohl die Erde gesäubert und wieder bewohnbar gemacht wurde, sind die Bedingungen nicht idyllisch. Viele Jahre lang wird es ein hartes Leben sein. Sie werden keine Waffen oder Werkzeuge besitzen, und das einzig erreichbare Wissen über Technologie wird sein, was Sie im Kopf haben. Sie erkennen sicher, daß letzteres eine vernünftige Anzahl an Grundgeschicklichkeiten beinhaltet, das Dasein der Gemeinde wird aber dennoch mindestens ein paar Generationen hindurch verhältnismäßig primitiv ablaufen. Es kann durchaus allein von Ihnen abhängen, ob auf der Erde wieder eine menschliche Zivilisation entstehen oder sie der Verwilderung anheimfallen soll.« »Sie sprechen von Generationen, meines Wissens hat es im Innenraum aber niemals Geburten gegeben«, gab Gerry zu bedenken. »Aus demselben Grund, warum nur wenige Monate verstrichen zu sein scheinen, seit Sie zum ersten Mal in den Innenraum kamen. Diese offensichtliche Teleskopierung des Gedächtnisses ist eine Begleiterscheinung des Zellenerneuerungsfeldes, das Innenraum sowie Kontrollturm umhüllt.« Gerry hatte angenommen, daß er und die anderen die Nachfahren jener von Moules Leuten ursprünglich in Schutz genommenen Menschen seien, aber
jetzt fiel ihm eine andere Möglichkeit ein. »Sind wir die gleichen Menschen, die Sie vor hundertfünfzig Jahren gerettet haben?« fragte er. Moule nickte. »Die Wirkung des Feldes kann den genetischen Verfall korrigieren und gestattet es den Zellen des menschlichen Körpers, sich hundertprozentig zu regenerieren.« »Macht uns praktisch unsterblich, aber unfruchtbar?« »Nur, solange ihr in dem Feld bleibt«, erklärte Moule. »Auf der Erde setzt wieder der normale Alterungsprozeß ein, obwohl ich es für wahrscheinlich halte, daß eine Nachwirkung des Feldes eine Zuwachsquote um mindestens ein Drittel der normalen Lebenserwartung erzielen könnte. Es werden auch weniger Erkrankungen auftreten, weil wir an den Mikroorganismen gewisse Änderungen vollzogen haben, die für die Ökologie des Planeten erforderlich sind.« »Sie scheinen an alles gedacht zu haben«, lobte Gerry. »Das bezweifle ich sehr«, erwiderte Moule. »Aber wir haben unser Bestes getan.« »Wie bringt man uns zur Erde zurück – auf jenem Versorgungsschiff, von dem Davidson gesprochen hat?« »Die Orion?« fragte Moule. »Eine Legende; hervor-
gerufen durch ein paar vorrätige Aufnahmen von einem Raumschiff, das landet und wieder ablegt, sowie die gelegentliche Anwesenheit zweier meiner Kollegen, die die Rollen von Captain und Erstem Offizier spielten. Wir benützen diese Schiffe seit fast einem Jahrhundert nicht mehr, außer bei der Errichtung eines Sendenetzes. Eine Empfangsstation wurde dicht an der Küste eines Kontinents in der nördlichen Hemisphäre der Erde aufgebaut. Nachdem sie alle durch sind, ist es zur Selbstzerstörung angewiesen. Von diesem Zeitpunkt an werdet ihr vollkommen auf euch selbst gestellt sein, frei von jeglicher Überwachung.« »Sie meinen, daß Sie den Kontakt mit uns gänzlich abbrechen?« »Unser Rat hat in seiner Weisheit eine Quarantäneperiode von tausend Erdjahren angeordnet«, erklärte Moule mit offensichtlichem Bedauern. »Man nimmt an, daß, wenn sich die menschliche Rasse auf der Erde bis zu diesem Zeitpunkt nicht endgültig ausgerottet hat, sollte sie sich wohl auf dem Weg zu Reife und eventuell galaktischem Status befinden. Ich würde viel darum geben, zu wissen, was zutrifft – ob sich unsere Mühe und unser Vertrauen letzten Endes doch gelohnt haben. Aber das ist unmöglich. Wir sind längst alle tot und begraben, ehe die Ergebnisse unserer Arbeit bekannt werden.« Obwohl er Moules offensichtliche Trauer würdigte,
wuchs in Gerry die Freude, als er sich der Aufgabe bewußt wurde, die vor ihm lag. Es schien ihm, als sei er dazu auf die Welt gekommen: zumindest die Verantwortung für eine Welt und ihre Gesamtbevölkerung. Eine Welt, die entweder wieder in die lange Nacht der Barbarei verfallen oder die zur Wiege einer neuen Menschheit werden konnte; eine von jenen Fehltritten, die die Rasse bisher nur zerstörten, freie Welt. Er war ja nicht ganz allein. Andere würden ihm helfen; Menschen, die er bereits aus dem Innenraum kannte – und wieder andere, die sich im Kontrollturm aufhielten. Seine erste Aufgabe war es, die ganze Menschheit davon zu überzeugen, daß dieses Ziel nur durch Einigkeit erreicht werden konnte. Laura, Davidson und Torrance waren unschätzbare vereinigende Faktoren, weil sie den Hintergrund der bisher getrennten Gemeinden verstanden. Versunken in diese Zukunftsvision nahm er nur mit halbem Ohr wahr, daß sich hinter ihm eine Tür öffnete. »Die Übertragung verläuft plangemäß. Der letzte Schub ist in einer halben Stunde durch.« Die Stimme schreckte Gerry sofort auf. Er sprang aus seinem Sessel und drehte sich um, um den Neuankömmling zu begrüßen. Etwas an ihr war anders, aber Gerry konnte es nicht definieren. Sie hatte die Kleidung gewechselt
und trug einen silbergrauen Hosenanzug aus einem schillernden, leichten Material. Aber der Unterschied lag nicht nur in ihrer Kleidung. Es war etwas – »Laura!« Er trat mit ausgestreckten Armen vor. Sie schreckte zurück und wich seinen Händen aus; bevor er sie berühren konnte, hatte sie sich umgedreht und war aus dem Zimmer gelaufen. Er wollte ihr folgen. »Clyne, bitte! Machen Sie es ihr nicht noch schwerer!« forderte Moules Stimme ihn auf; und während sich Gerry wieder dem Mann zuwandte, erkannte er im Rückblick den Unterschied an Laura. Körperlich hatte sie sich offensichtlich nicht verändert, aber hinter ihren Augen lag eine Spur Schmerz, ein tiefes Leid, das nicht unbemerkt bleiben konnte. Kummer hinter ihren Bernsteinaugen – »Laura ist eine von uns«, erklärte Moule unnötigerweise. »Eine äußerst mutige und pflichtbewußte Frau.« »Aber sie – ich –« stammelte Gerry unzusammenhängend; die Aussicht auf sein ruhmreiches Los zerfiel in ihm bereits zu Staub, während er sich zwang, diese neue Tatsache anzuerkennen. Mit aufgewühlten Gedanken bekämpfte er ein überwältigendes Gefühl von Treuebruch sowie den Groll. »Bitte setzen Sie sich und lassen Sie mich erklären«, bat Moule.
Gerry bekämpfte das in ihm entstehende, aufbrausende Ungestüm und gehorchte. »Für die Rolle Lauras war es notwendig, daß ihre echten Erinnerungen vorübergehend blockiert wurden«, erklärte Moule. »Ohne eine solche Anpassung wäre es für sie unmöglich gewesen, sich die Identität einer Erdfrau für unseren Zweck genügend echt anzueignen. Sie verstand das und meldete sich ganz freiwillig. Unglücklicherweise gerieten gewisse Verhaltenserscheinungen in ihre Programmierung, die erst entdeckt wurden, als es zu spät war, einzugreifen.« »Sie wollen damit sagen, daß Sie nicht voraussehen konnten, was sich zwischen ihr und mir entwickeln würde, nicht wahr?« fragte Gerry. »Und jetzt hat sie ihre Erinnerung wieder und weiß, daß sie zu den Beherrschern des Universums gehört; jetzt ist sie empört bei dem Gedanken, daß sie sich je mit einem Primitiven paaren konnte«, fuhr er fort und genoß die ätzende Bitterkeit seiner Worte. »Es war ... bedauerlich«, meinte Moule stirnrunzelnd. »Besonders, daß sie hier hereinkommen und Ihnen Auge in Auge gegenüberstehen mußte. Sie begreifen doch, warum es völlig unklug wäre, sie wieder zu sehen oder zu sprechen?« »Glauben Sie, ich würde das tatsächlich wollen, nach dem, was Sie mir erzählt haben?« fragte Gerry und ver-
suchte den sengenden Schmerz mit einer Lüge zu lindern. Er würde vermutlich mit der Zeit darüber hinwegkommen, aber im Augenblick konnte sich Gerry unmöglich mit dem Gedanken abfinden, daß er Laura nie mehr sehen, nie mehr berühren würde. Unglückliche Verhaltenserscheinungen – War das wirklich eine befriedigende Definition der Beziehung zwischen ihm und Laura? Und dennoch hegte er kaum Zweifel an der Wahrheit, die er in ihren Augen las; diese Botschaft des Kummers, die das Ergebnis sein mußte aus der Demütigung beim Anblick jener Kreatur, mit der sie sich gepaart hatte. Von ihrem kulturellen Standpunkt aus konnte er für sie kaum mehr bedeuten als ein Tier. Und doch wollte er noch immer bei ihr sein; wenn nicht als Liebhaber, dann vielleicht als ihr Sklave – Nein – er verwarf die hysterische Reaktion entschlossen. Gerry Clyne war nicht der Sklave einer Frau. Mit seinen jetzigen Kenntnissen blieb keine Möglichkeit für irgendeine Beziehung zwischen ihm und Laura. »Sie müssen verstehen«, sagte Moule leise, »daß wir einen derartigen emotionalen Unglücksfall nicht gut voraussehen konnten.« »Vergessen Sie's«, entgegnete Gerry matt. »Wenn Sie mir nichts mehr zu sagen haben, würde ich jetzt lieber gehen.«
»Nichts, außer sie haben noch besondere Fragen«, erklärte Moule. Er erhob sich hinter dem Schreibtisch: ein plumper, dicker Mann. Seine Bernsteinaugen brannten in sanfter Trauer. »Denken Sie mit Freundlichkeit an uns und vergeben Sie uns unsere Fehler.« Gerry erkannte, daß dies ein bedeutender Augenblick war, einer, in dem er seine eigenen geringfügigen Vorurteile überwinden sollte. Er schluckte seine Verbitterung hinunter und sagte: »Danke, Moule. Ich werde mein Bestes tun.«
25 Gerry blickte empor und erinnerte sich daran, wie lange er schon keine Sterne mehr gesehen hatte. Es war eine warme Sommernacht; Gerry stand auf der Sanddüne und sah ungefähr zwei Kilometer die Küste entlang auf den Zufuhrort. Für ihn hatte die Nähe des Meeres immer etwas Besonders bedeutet, und das sanfte Murmeln der Brandung war eine weitere Erinnerung daran, daß er sich wieder in der Heimat befand. Die anderen lagerten für diese Nacht in einem grasbewachsenen Tal weiter landeinwärts. Zur Zeit konnte Bub Annersley gut allein alle nötigen Aufbauarbeiten ausführen. Die eigentliche Aufgabe begann morgen: die Erforschung der unmittelbaren Umgebung; der Entwurf eines dauerhafteren Stützpunkts für diese Siedlung auf ihrem eigenen, neu gesäuberten Planeten. Auch Davidson war da: bewegungslose, gequälte Augen starrten aus seinem blassen, eingefallenen Gesicht; ihn lähmte die Enthüllung dieser unvermuteten Wirklichkeit geistig noch immer. Er würde sich mit der Zeit erholen und in der Gemeinde irgendwie nützlich machen. Es blieb genug Arbeit für alle. Nach der Errichtung eines festen Wohnsitzes mußte man alte Geschicklichkeiten pflegen und neue
entwickeln. Und später gab es dann Kinder, die Vorboten einer neuen Menschheit. Gerrys Augen verschleierten sich leicht, als sich die Kette aus Zusammenhängen, die dieser letzte Gedanke hervorlockte, verlängerte. Er drang in Gebiete ein, die er lieber unerforscht lassen wollte. Gerry blinzelte und hatte jetzt wieder die Lichter des Sendenetzturms vor Augen. Zur Zeit stand er mit einem Transmitter auf dem Mars in Verbindung, und von dort mit anderen Stationen – weit über das Sonnensystem und die näher gelegenen Sterne hinaus – auf den Zentralplaneten. Jene bildeten den Kern der gewaltigen Zivilisation; sie lagen Hunderte von Lichtjahren entfernt von diesem düsteren Ort der Rückständigkeit, dessen Volk die Chance für einen neuen Anfang erhielt auf Grund des Pflichtbewußtseins von Moule und einer Handvoll anderer. Anderer wie Laura, die wahrscheinlich mit Hilfe dieses wunderbaren Sendenetzes schon auf ihrem Heimatplaneten war, auf einem Planeten, dessen Namen er nicht einmal erraten konnte. Dort würde sie den Rest ihres Lebens bei ihrem eigenen Volk verbringen, vom Makel der Erde freien menschlichen Wesen, die zusammen in Frieden leben und eine Höhe der Zivilisation erreichen konnten, die – selbst wenn Gerry in seiner gegenwärtigen Aufgabe Erfolg hatte – in tau-
send Jahren noch alles weit übertreffen würde, was die Erde schaffen mochte. Tausend Jahre – Sein eigenes Leben stellte nur einen Kratzer auf der Oberfläche eines solch gewaltigen Zeitmonolithen dar. Wie konnte das, was er tat, überhaupt einen bedeutenden Einfluß auf die Zukunft haben? Er verwarf die Zweifel und tadelte sich selbst für sein mangelndes Vertrauen. Was er jetzt und in den kommenden Jahren unternahm, war – mußte wichtig sein. Wenigstens Moule hatte das geglaubt; und es war nötig, daß er selbst daran glaubte, wenn er seine Aufgabe erfüllen wollte. Die Gemeinde brauchte eine starke Hand, jemand, der sie in die richtigen Bahnen lenken konnte; außerdem auch jemand, der genügend skrupelloses Pflichtbewußtsein besaß, jeden Trieb zurechtzustutzen, der in die alten, verdrehten Richtungen zu wachsen drohte. Kraft, Skrupellosigkeit und Zielsicherheit – alle drei waren für seine Funktion notwendig; und vielleicht war es zur Erreichung eines solchen Ziels gleichfalls notwendig, daß er allein, von niemandem abhängig sein mußte – Aus keinem ersichtlichen Grund wurde ihm plötzlich klar, daß er auf den Sendeturm zuging. Es war eine automatische Handlung, die keine Beziehung zu einem bewußten Gedanken oder einer Entscheidung zu haben schien. Man hatte ihn gewarnt, daß eine gefähr-
liche Energiefreisetzung erfolge, wenn der Zerstörungsmechanismus des Sendenetzes aktiviert wurde, aber die Warnung übte auf diesen seltsamen, unfreiwilligen Tropismus keinen Einfluß aus. Die Lichter der Empfängerplattform wurden heller, die ganze Vorrichtung glühte jetzt, ihr skelettartiger Umriß hob sich stark gegen die Dunkelheit ab. Gerry blieb auf der Hügelkuppe stehen und sah zu, während die in dem Gebilde enthaltene Energie auf kritische Ausmaße zujagte, die sich schnell in dem sichtbaren Spektrum entwickelten. Ein grelles Licht blendete seine Augen, und dennoch sah er noch immer zu wie ein Verstoßener, der auf einer verlassenen Insel ausgesetzt wurde und den Umrissen eines davonfahrenden Schiffes nachstarrt; der Anblick prägte sich seinem Gedächtnis tief ein, damit er über die öden Jahre hinweg, die vor ihm lagen, von Zeit zu Zeit zurückgerufen werden konnte – eine Erinnerung an das, was in einer fernen Zukunft – lange nach seinem Tod – vielleicht wieder möglich wäre. Der Turm schimmerte jetzt und sandte wie eine gefangene Sonne funkelnde Energiespiralen aus. Diese Aktivität war lautlos, doch gleichzeitig ungestümer als alles, was er sich vorstellen konnte. Dann begann die pulsierende Energie plötzlich zu schrumpfen und sich zu einem intensiven weißen Feuerpunkt zusammenzuziehen, bis sie schließlich verschwunden war.
Gerry stand fußtief im aufgewühlten Sand; das überlastete Sehvermögen tauchte ihn in die samtartige Finsternis des Blinden. Er stand da und gewahrte das Murmeln der Brandung sowie den Schlag seines eigenen Herzens, allein – Schließlich gerieten die Sterne wieder in sein Blickfeld, aber der Sendeturm war für immer verschwunden. Gerry drehte sich langsam um. Seine Welt, sein Ziel lag in der anderen Richtung, unter Menschen seiner eigenen Rasse. Er hatte ihnen und sich selbst gegenüber eine Pflicht: zu beweisen, daß die Menschheit sich auf der Erde wieder bilden konnte, um vielleicht diesmal ihre Bestimmung inmitten der anderen Rassen im Universum zu finden. Und doch zögerte er und erkannte, daß ihn noch etwas zurückhielt – eine Erinnerung, ein Traum – Da hörte er es, das neue Geräusch. Leichte Schritte hinter sich im Sand. Gerry wagte nicht, sich umzudrehen, sondern blieb bloß wie versteinert stehen, das Gesicht der noch unentwickelten Siedlung zugewandt. Sein Verstand fürchtete, zu deuten, was er hörte; er fürchtete sich, doch begann darin eine neu aufflammende Hoffnung zu keimen – Er drehte sich um und sah sie vor sich: im Mondlicht eine Gestalt wie aus weichem Marmor. »Laura!« Er ging auf sie zu und sah, daß sie lächelte.
»Ich kam gerade noch vor dem Zerstörungsbefehl durch«, erklärte sie. »Aber ich verstehe nicht ... So, wie du dich von mir zurückgezogen hast, als wir uns in Moules Büro begegnet sind –« »Der Schock dieser Begegnung brachte eine sorgfältig errichtete Rationalisierungsfassade zum Einsturz«, erklärte sie. »Bis zu jenem Augenblick war ich bereit, zurückzukehren und mich mit Moules Versicherungen abzufinden, daß ich vergessen würde.« »Und jetzt kannst du nie mehr zurück.« »Nein – nur vorwärts – mit dir«, sagte sie, während er sie in die Arme schloß. »Moule versteht es. Er versuchte mich vom Gegenteil zu überzeugen, aber schließlich erkannte er, daß ich dies wollte. Man wird mich dort nicht vermissen. Und tausend Jahre später ist es ziemlich gleichgültig.« Den Arm um ihre Schulter gelegt, blickte Gerry hinauf zu den fernen Sternen und wußte, daß diesmal die Geschichte anders ausgehen würde. Wenn dieser weit in der Zukunft liegende Tag dämmerte, würde die Menschheit mit Zuversicht und Liebe zu den Sternen aufbrechen –