Gore Vidal - Ewiger Krieg für ewigen Frieden Frage: Ist der >Krieg gegen den Terror< ein gerechter Krieg? Antwot: Falsch...
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Gore Vidal - Ewiger Krieg für ewigen Frieden Frage: Ist der >Krieg gegen den Terror< ein gerechter Krieg? Antwot: Falsche Frage. Verwechslung von Ursache und Wirkung. Frage: Welches sind die Gründe für den Terror? Antwort: Jetzt stelen Sie de richtige Frage. Antwort im Buch!
Dieses Ebook ist nicht zum Verkauf bestimmt! Unterstützen Sie den Autor indem Sie seine Bücher kaufen. ebook 2003 by AxelBöse
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Gore Vidal, geboren 1925 in West Point, Enkel eines Senators und verwandt mit dem früheren Vizepräsidenten AI Gore, ist das Enfant terrible unter den Intellektuellen Amerikas und einer der schärfsten Kritiker des amerikanischen Establishments. Seine Kritik an der amerikanischen Plutokratie vertritt er seit geraumer Zeit in Interviews für Zeitungen und Magazine, bevorzugt in »Vanity Fair«. Vidal begann seine Karriere als Schriftsteller 1948. Bereits sein dritter Roman, über einen Homosexuellen, wurde zu einem derartigen Skandal, dass die »New York Times« ankündigte, sie werde seine nächsten fünf Romane ignorieren. Er schrieb über zehn Jahre lang unter Pseudonym Fernseh- und Filmdrehbücher (»Ben Hur«). Er war Redenschreiber für John F. Kennedy und bewarb sich 1960 erfolglos um einen Sitz im Kongress. 1964 erschien, mit phänomenalem Erfolg, sein historischer Roman »Julian«. Vidal ist Verfasser von insgesamt zwanzig Romanen, fünf Theaterstücken und über zweihundert Essays. Seiner Autobiographie (1995) hat er den Titel »Palimpsest« gegeben. Seit dreißig Jahren lebt Gore Vidal in Ravello/Italien und in Los Angeles. Der Essay »11. September 2001 (Ein Dienstag)«, der den Auftakt zum vorliegenden Buch bildet, wurde unmittelbar nach dem Attentat geschrieben, konnte jedoch zunächst in den USA nicht erscheinen. Er wurde erstmals, auf dem Umweg über Brasilien und Mexiko, als Teil der italienischen Ausgabe »La fine della libertä. Verso un nuovo totalitarismo?« (Fazi Editore, November 2001) veröffentlicht. Die deutsche Ausgabe folgt der amerikanischen Fassung, die um einige Texte erweitert wurde und im April 2002 erschien.
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GORE VIDAL
Ewiger Krieg für ewigen Frieden Wie Amerika den Hass erntet, den es gesät hat
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernhard Jendricke und Barbara Steckhan
EUROPÄISCHE VERLAGSANSTALT
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Die amerikanische Originalausgabe erschien im April 2002 unter dem Titel »Perpetual War for Perpetua! Peace. How we got to be so hated« bei Thunder‘s Mouth Press | Nation Books, New York. © 2002 Gore Vidal Der Essay »Der Krieg im eigenen Land« wurde von Ulrich Blumenbach übersetzt und erschien zuerst in der Essaysammlung »Das ist nicht Amerika!« von Gore Vidal, ausgewählt und herausgegeben von Willi Winkler. © 2000, Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Informationen zu unseren Verlagsprogrammen finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich 3. Auflage 2002 © Europäische Verlagsanstalt | Sabine Groenewold Verlage, Hamburg 2002 Umschlaggestaltung: projekt ® | Walter Hellmann, Hamburg Foto: »US marines raise a flag atop Mt Suribachi«, 1945 Iwo Jima, Joe Rosenthal Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945) Herstellung: Das Herstellungsbüro, Hamburg Druck und Bindung: Druckerei Himmer, Augsburg
Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany ISBN 3-434-50539-3
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INHALT
Vorwort
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11. September 2001 (Ein Dienstag)
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Wie es kam, dass ich mich für Timothy McVeigh interessierte und er sich für mich 35 Der Krieg im eigenen Land
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Die Bedeutung von Timothy McVeigh Fallout
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Die neuen Theokraten Ein Brief-bitte zustellen
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Vorwort
Ein physikalisches Gesetz besagt (jedenfalls war es noch in Kraft, als ich zuletzt nachgelesen habe), dass jede Aktion in der Natur eine Reaktion nach sich zieht. Das Gleiche trifft offenbar auch auf die Natur des Menschen zu - das heißt auf die Geschichte. Zwei Daten der letzten sechs Jahre heben sich dadurch hervor, dass sie wohl länger als gewöhnlich im Gedächtnis der Vereinigten Staaten von Amnesien verbleiben werden: Der 19. April 1995, als ein hoch dekorierter Infanteriesoldat namens Timothy McVeigh in Oklahoma City ein Gebäude der Bundesbehörden in die Luft sprengte und dabei168 unschuldige Männer, Frauen und Kinder tötete. Warum er das tat, erklärte uns McVeigh in beredter Ausführlichkeit, dennoch zogen es die Herrschenden und ihre Medien vor, ihn als sadistisches, verrücktes Monster darzustellen - also nicht als guten Menschen, wie wir andere es sind —, das lediglich den Nervenkitzel gesucht hatte. Und der 11. September 2001, als Osama bin Laden und seine islamistische Terrororganisation Attentate in Manhattan und auf das Pentagon verübten. Die mit unseren Angelegenheiten betraute Pentagon-Junta programmierte ihren Präsidenten, uns gegenüber die Erklärung abzugeben, bin Laden sei ein »Schurke«, der uns unsere Freiheit, unseren Wohlstand und die Tatsache, dass wir die Guten sind, neidet. Diese Erklärungen schienen nicht besonders einsichtig, doch schließlich befleißigen sich unsere Herrschenden seit einem halben Jahrhundert der Praxis, uns niemals zu irgendetwas, was unsere Regierung Menschen anderer Nationen - im Fall Timothy McVeigh sogar unserer eigenen - antut, die Wahrheit zu sagen. Uns speist man lediglich mit den unscharfen Titelbildern von Time und Newsweek ab, von denen uns monströse Figuren im Stil von Hieronymus Bosch mit Höllenfeuer in den Augen entgegen funkeln, während sich die New York Times und der Chor ihrer Epigonen komplizierte Geschichten über den wahnsinnigen bin Laden und den feigen McVeigh aus den Fingern saugen 6
und damit den meisten Amerikanern einreden, dass nur ein paar Verrückte es wagen können, eine Nation anzugreifen, die ihrer eigenen Ansicht nach der Vollkommenheit so nahe ist, wie ihr eine menschliche Gesellschaft nur kommen kann. Dass die Junta unserer Herrschenden McVeigh (einen Helden des Golfkriegs aus dem amerikanischen Herzland) und Osama, den selbst ernannten Verfechter des muslimischen Glaubens, ernsthaft provoziert haben könnte, kam bisher nie zur Sprache. So geht man vor in den US-amerikanischen Medien; man braucht uns Konsumenten nicht zu erklären, warum etwas geschieht. Und jene von uns, die sich die Frage nach dem Warum stellen, stehen vor der schwierigen Aufgabe, sich in den konzernabhängigen amerikanischen Medien Gehör zu verschaffen, wie ich am eigenen Leibe erfahren musste, als ich eine Studie zu McVeigh in Vanity Fair veröffentlichen wollte, und immer noch muss, da man mir seit dem 11. September nur noch Absagen erteilt, wenn ich einen Verleger suche. Eine weitere Stimme, der man seit September kein Gehör mehr schenkt, ist die von Arno J. Mayer, einem emeritierten Professor für Geschichte aus Princeton, dessen Artikel mit dem Titel »Unzeitgemäße Betrachtungen« in ganz USA abgelehnt wurde - auch von The Nation, für die ich seit vielen Jahren Leitartikel schreibe (und die auch meine eigenen unzeitgemäßen Betrachtungen zum 11. September ablehnte). Mayers Artikel wurde von der französischen Le Monde veröffentlicht. Hier ein Ausschnitt: »Terrorakte von Einzelnen waren in unseren modernen Zeiten bisher die Waffe der Armen und Machtlosen, während staatlicher und önonomischer Terror zu den Waffen der Mächtigen gehörten.In beiden Fällen von Terror müssen wir natürlich klar zwischen Ziel und Opfer differenzieren. In dem schrecklichen Anschlag auf das World Trade Center liegt diese Unterscheidung auf der Hand: Ziel war das herausragende Symbol und Sinnbild der finanziellen und wirtschaftlichen Globalisierung durch die Konzerne; Opfer waren die unglücklichen und zum Teil subalternen Arbeitskräfte. Im Fall des PentagonAttentats trifft diese Unterscheidung jedoch nicht mehr zu: Es beherbergt die ranghöchsten militärischen Befehlshaber- die ultima ratio regnum - der kapitalistischen Globalisierung selbst wenn es, wie es das Pentagon selbst ausdrückt, zu menschlichen >Kollateralschäden< kam. Unstrittig sind die Vereinigten Staaten seit 1947 die bahnbrechenden und wichtigsten Vertreter des >präventiven< Staatsterrors, der ausnahmslos in der Dritten Welt stattfand und daher weitgehend im Verborgenen blieb. 7
Neben der beispiellosen Unterwanderung von Regierungen und deren Sturz im Wettstreit mit der Sowjetunion während des Kalten Krieges bediente sich Washington politischer Morde, gedungener Todesschwadronen und angeblicher Freiheitskämpfer (z.B. bin Laden). Washington steckte hinter dem Tod von Lumumba und Allende und versuchte vergeblich, Castro, Ghadafi und Sadam Hussein umbringen zu lassen. Zudem verhinderten die USA durch ihr Veto, dass Israel wegen des Verstoßes gegen internationale Abkommen und UN-Resolutionen sowie seiner Praxis despräventiven Staatsterrors verurteilt wurde.« Ich sollte hinzufügen, dass es sich bei Le Monde um eine gemäßigtkonservative, intellektuell anspruchsvolle Zeitung handelt, die seit Jahrzehnten Israel unterstützt. Arno Mayer verbrachte seine»Schulzeit« teilweise in einem deutschen Konzentrationslager. Mein eigener Artikel zum 11. September wurde schließlich in Italien in einem Buch ähnlich dem vorliegenden veröffentlicht. Zum allgemeinen Erstaunen wurde es rasch ein Bestseller und daraufhin in ein Dutzend andere Sprachen übersetzt. Angesichts von bin Laden und McVeigh hielt ich es für sinnvoll, die zahlreichen Provokationen von unserer Seite zu beschreiben, die sie zu diesen schrecklichen Taten trieben. Los Angeles, Ende Februar 2002
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11. September 2001 (Ein Dienstag)
Im Koran heißt es, Allah erschuf die Dunkelheit an einem Dienstag. Als sich am 11. September letzten Jahres in den Vereinigten Staaten Selbstmordpiloten mit Verkehrsflugzeugen in Gebäude voller Menschen stürzten, brauchte ich nicht im Kalender nachzusehen, welcher Wochentag es war: Der Schwarze Dienstag warf seine langen Schatten über Manhattan und die Ufer des Potomac. Und es überraschte auch nicht, dass wir trotz der etwa sieben Billionen Dollar, die wir seit 1950 für das ausgegeben haben, was wir euphemistisch»Verteidi gung« nennen, keine Vorwarnung vom FBI, der CIA oder dem militärischen Geheimdienst erhalten hatten. Während sich die Bushisten eifrig auf den vorvorletzten aller Kriege vorbereiteten - Raketen aus Korea, weithin an den aufgemalten Flaggen erkennbar, die auf Portland, Oregon, niederregnen, nur um von den Ballons unseres Raketenabwehrsystems abgefangen zu werden —, konnte sich der gerissene Osama bin Laden darauf verlassen, dass er für seinen heiligen Krieg gegen die Ungläubigen nicht mehr brauchte als Piloten, die bereit waren zu sterben, und jene zufällige Auswahl an Fluggästen, die nun einmal gerade an Bord einer der entführten Maschinen saßen. Das Telefon klingelt ununterbrochen. Im Sommer lebe ich südlich von Neapel, und italienische Zeitungen, Fernsehanstalten und Radiosender bitten mich um eine Einschätzung. Also gebe ich sie ihnen. Kürzlich habe ich über Pearl Harbor geschrieben. Nun stellt man mir ein aufs andere Mal die gleiche Frage: Erkennen Sie da nicht deutliche Parallelen zu dem Sonntagmorgen vom 7. Dezember1941? Nein, keineswegs, antworte ich. Soweit wir bisher wissen, gab es keine Warnung vor dem Angriff vom Dienstag. Natürlich hat unsere Regierung ungeheuer viele Geheimnisse, die unsere Feinde offenbar stets im 9
Voraus kennen, während unsere Bürger sie – wenn überhaupt - erst Jahre später erfahren. Wie ich in meinem Buch The Golden Age ausführlich schildere, provozierte Präsident Roosevelt die Japaner zu ihrem Angriff auf Pearl Harbor. Inzwischen wissen wir auch, welche Absicht er damit verband: Er wollte England im Kampf gegen Hitler beistehen, Japans Alliierten, ein glänzender Plan, der mit einem glorreichen Sieg für die Menschheit endete. Doch welche Absicht bewegte - oder bewegt - bin Laden? Seit mehreren Jahrzehnten wird die muslimische Welt in den amerikanischen Medien unablässig dämonisiert. Da ich loyal zu Amerika stehe, dürfte ich eigentlich nicht erklären, warum das geschieht, doch die Frage nach dem Warum wird bei uns in der Regel ja ohnehin nicht gestellt. Viel lieber beschuldigen wir den anderen schlichtweg einer motivlosen Bösartigkeit. »Wir sind die Guten«, ruft G.W., »und sie sind die Bösen«, womit die Sache klar wäre. Später setzt Bush in einer gemeinsamen Sitzung von Senat und Kongress höchstselbst dem Ganzen die Krone auf, indem er den Abgeordneten — und auch dem Rest von uns draußen im Lande —seine profunden Erkenntnisse zu den Eigenheiten und Schlichen des Islam mitteilt: »Sie hassen, was diese Kammer hier verkörpert.« Ich furchte, eine Million Amerikaner vor ihren Fernsehgeräten nickten traurig bei diesen Worten. »Ihre Führer haben sich selbst ernannt. Sie hassen unsere Rechte, unsere Religions- und unsere Redefreiheit, unser Recht zu wählen und uns zu versammeln und unterschiedlicher Meinung zu sein.« Welcher Amerikaner spürte in diesem erhabenen Augenblick nicht den gleichen Reflex, mit dem ein Fisch nach dem Köder schnappt? Sollte es sich herausstellen, dass der vierundvierzigjährige Saudi bin Laden der entscheidende Drahtzieher war, wissen wir erstaunlich wenig über ihn. Der einssiebenundneunzig große Osama betritt im Jahr 1997 den Schauplatz der Geschichte, um als Guerillakrieger an der Seite der CIA in Afghanistan gegen den Vormarsch der Sowjets zu kämpfen. War er ein Antikommunist? Die Frage ist ohne Bedeutung. Er will keine Ungläubigen gleich welcher Couleur in der islamischen Welt haben. Zwar beschreibt man ihn als märchenhaft reich, doch nach Aussage eines Verwandten besitzt Osama »nur« einige Millionen Dollar. Es war sein Vater, der ein sagenhaftes Vermögen erwirtschaftete, indem er mit einer darauf spezialisierten Baufirma für die saudische Königsfamilie Paläste errichtete. Der Wert dieser Firma wird heute auf mehrere Milliarden Dollar geschätzt, die Osamas vierundfünfzig Geschwister wahrscheinlich unter sich aufteilen. Obwohl er ein fehlerfreies Englisch spricht, erhielt er seine gesamte Ausbildung nur in Djidda. Mehrere seiner Geschwisterleben in der Region um Boston und haben größere 10
Summen an Harvard gespendet. Es heißt, dass ihn viele seiner Angehörigen verstoßen haben und ein Großteil seines Besitzes im Königreich Saudi Arabien eingefroren ist. Woher also bezieht Osama seine Gelder? Er versteht es ausgezeichnet, für Allah Spenden aufzutreiben. Dies gilt jedoch nur für die arabische Welt; entgegen mancher Gerüchte hat er von der CIA kein Geld angenommen. Osama warnte den saudischen König vor der bevorstehenden Invasion Sadam Husseins in Kuwait. Weil er sich als Guerillaführer erfolgreich mit den Russen geschlagen hatte, ging er davon aus, dass die Saudis ihn und seine Organisation einsetzen würden, um die Iraker aufzuhalten. Zu seinem Entsetzen rief König Fahd jedoch die Amerikaner herbei: Auf diese Weise konnten die Ungläubigen auf dem heiligen Boden Mohammeds Fuß fassen.»Es war«, so sagte er, »der schrecklichste Augenblick meines Lebens.« »Ungläubig«, wie er es versteht, bezieht sich nicht auf einen moralischen Lebenswandel — etwa dass man seine Frau nicht betrügt -, sondern er bezeichnet damit alle, die nicht an Allah, den einzigen Gott, und seinen Propheten Mohammed glauben. Osama gewann viertausend Saudis, die sich in Afghanistan von seiner Organisation militärisch ausbilden ließen. 1991 siedelte er in den Sudan über. Als ihm die Saudis 1994 die Staatsbürgerschaft entzogen, war er in der islamischen Welt bereits zu einer Legende geworden, von daher konnte er den königlichen Saudis wie Shakespeares Coriolanus erklären: »Ich banne dich. Noch anderswo gibt‘s eine Welt.« Diese Welt ist leider die unsrige. In einer zwölfseitigen »Kriegserklärung« präsentiert sich Osama als der potenzielle Befreier der muslimischen Welt von dem großen Satan der modernen Verderbnis, den Vereinigten Staaten. Osamas Organisation sprengte in Afrika zwei unserer Botschaften in die Luft und riss ein Loch in ein amerikanisches Kriegsschiff, das vor Jemen lag, Clinton schoss eine Rakete auf eine sudanesische Aspirin-Fabrik ab, und so ging es weiter bis zu den Ereignissen am Schwarzen Dienstag. In der Folge verwandelte sich G.W. Bush vor unseren Augen wieder zu dem Cheerleader, der er schon in der Grundschule gewesen war. Zunächst versprach er uns nicht nur»einen neuen Krieg«, sondern einen »geheimen Krieg«, und, am besten von allem, dem Glitzern in seinen Augen nach zu urteilen, einen»sehr langen Krieg«. Allerdings »wird diese Regierung über irgendwelche Pläne, die wir vielleicht haben oder nicht haben, kein Wort verlauten lassen ... Wir werden die Übeltäter finden, und wir werden sie zur Rechenschaft ziehen«, gemeinsam mit 11
den anderen Teufeln, die Osama Unterschlupf gewährt haben. Zu Beginn des Jahres 2002 verkaufte uns die Pentagon-Junta die Zerstörung Afghanistans durch unsere hochfliegende Luftwaffe als großen Sieg (dass die Afghanen nicht mit den Vereinigten Staaten verfeindet waren, erwähnt in diesem Zusammenhang niemand —als würde man Palermo zerstören, um die Mafia auszulöschen). Jedenfalls werden wir wohl nie erfahren, ob und was dadurch gewonnen oder verloren wurde (abgesehen von einem Großteil der Bill of Rights). Ein Mitglied der Pentagon-Junta, Rumsfield, ein begabter Komiker, stellte sein Talent täglich vor einer großen Gruppe von »Journalisten« und zur besten Sendezeit zur Schau. Mit einer oft amüsanten Ausführlichkeit brachte es Rummy fertig, nichts über die Verluste der einen oder der anderen Seite zu berichten. Offenbar war er davon überzeugt, dass sich Osama in einer Höhle nahe der pakistanischen Grenze verschanzt hatte, und nicht in einem Palast in Indonesien oder Malaysia, zwei dicht besiedelten Ländern, in denen er weitaus mehr Bewunderung genießt als wir. Eins steht jedoch fest: Noch nie in unserer langen Geschichte der nicht erklärten, nicht verfassungskonformen Kriege sind wir, das amerikanische Volk, mit derart kalkulierter Geringschätzung behandelt worden — nie mussten so viele unbedeutende Speerträger so hohe Steuern zahlen (jene von uns, die nicht zu den Reichen gehören), um gelegentlich an einer ominösen Scheinwahl teilnehmen zu dürfen. Als Osama vier Jahre alt war, fuhr ich zu einem Interview mit Nasser, das in der Zeitschrift Look erscheinen sollte, nach Kairo. Ich wurde von Mohammed Hekal, Nassers wichtigstem Berater, empfangen. Nasser selbst sah ich nicht. Nachdem er gerade einem Attentatsversuch entkommen war, hielt er sich in der »Barricade« auf, seinem Zufluchtsort am Nil. Hekal sprach ein ausgezeichnetes Englisch; er war ein Spötter, wie er im Buche steht. »Wir durchstöbern den Koran nach Zitaten zur Geburtenkontrolle.« Dann seufzte er. »Mit Erfolg?« »Keinem großen. Aber wir hoffen weiter, eine entsprechende Stelle zu finden.« Wir führten eine Woche lang angeregte Gespräche. Nasser wollte Ägypten modernisieren. Doch leider gab es da eine reaktionäre religiöse Bewegung ... Wieder ein Seufzen. Und dann die Überraschung. »Wir haben etwas Seltsames festgestellt. Die jungen Männer vom Lande - die klugen, die wir zu Ingenieuren, Chemikern und so weiter ausbilden wollen, wenden sich mit der Religion gegen uns.« 12
»Eine Bewegung von rechts?« »Sehr weit rechts.« Hekal war ein geistiger Sohn unserer Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts. Als am Schwarzen Dienstag ein Angehöriger seiner modernisierten Generation im Namen des Islam das angriff, was vierzig Jahre zuvor für Nassers modernen Staat Modell gestanden hatte, musste ich an Hekal denken. Allerdings schien Osama bin Laden, den Berichten nach zu urteilen, keineswegs ein fanatischer, sondern lediglich praktizierender Muslim zu sein. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass er Ingenieur war, und man kann verstehen, dass ihm nicht gefiel, was die Vereinigten Staaten faktisch und symbolisch verkörpern. Doch als unsere Kunden, die saudische Königsfamilie, es zuließen, dass amerikanische Truppen das Heilige Land des Propheten besetzten, bezeichnete Osama den Erzfeind als »Kreuzritter der zionistischen Allianz«. Mit dieser Wendung definierte er sich selbst und gab seinen Kritikern zu verstehen, dass er der muslimischen Strömung der Wahabi angehört und ein puritanischer Aktivist ist, ganz ähnlich unseren Clowns vom Schlage Falwell /Robertson, nur ernsthafter. Er würde gegen die Vereinigten Staaten, »den Kopf der Schlange«, in den Krieg ziehen. Ehrgeiziger ist sein Ziel, alle muslimischen Staaten, angefangen bei seinem Geburtsland, von den vom Westen unterstützten Regierungen zu befreien. Mit dem Wort »Kreuzritter« hatte er sich verraten. Viele Muslime vertreten die Ansicht, dass der christliche Westen im Bündnis mit den Zionisten seit tausend Jahren versucht, die Länder der Umma - der wahren Gläubigen - zu beherrschen. Aus diesem Grunde sehen auch so viele einfache Menschen in Osama bin Ladenden wahren Erben Saladins, des großen Königs und Heerführers, der Richard Löwenherz und die westlichen Kreuzritter besiegte. Saladin war armenischer Kurde und lebte von 1138 bis 1193. Indem Jahrhundert vor seiner Geburt hatten die Christen aus dem Westen zum Schrecken der islamischen Gläubigen Jerusalem erobert und dort einen König eingesetzt. So wie die Vereinigten Staaten den Golfkrieg als Vorwand nutzten, um Saudi-Arabien zu besetzen, hob Saladin ein Heer aus, um die Kreuzritter zu vertreiben. Er eroberte Ägypten, unterwarf Syrien und zerschlug schließlich das Königreich von Jerusalem in einem Religionskrieg, in dem Mohammedaner gegen Christen kämpften. Dadurch vereinte und »reinigte« er die muslimische Welt, und obwohl Richard Löwenherz der bessere Feldherr war, gab er schließlich auf und kehrte in die Heimat zurück. Wie es ein Historiker einmal erklärte, verkörperte sich in Saladin die»schlichte Selbstaufopferung eines Mohammedaners für die heilige Sache«. Allerdings hinterließ er keine 13
Regierung, keine politische Struktur, denn, wie er selbst sagte, »solange ich nicht an ihrer Spitze reite, unternehmen meine Soldaten gar nichts«. Nun ist sein Geist zurückgekehrt, erfüllt von Rache. Die Regierung Bush, die sich in allen Aufgaben außer ihrer wichtigsten - die Reichen von den Steuern zu befreien - als so schaurig unfähig erweist, hat einen Großteil der Verträge, denen sich zivilisierte Nationen verpflichtet fühlen, beiläufig in Stücke gerissen wie etwa das Kyoto-Abkommen oder den Atomwaffenvertrag mit Russland. Die Bushisten plündern rücksichtslos das Staatsvermögen und, dank Osama bin Laden, mittlerweile auch die Kassen der Sozialversicherung (ein vermeintlich unantastbarer Treuhandfonds), die wie einst Lucky Strike in der grünen Verpackung in den Krieg zog, welcher uns zurzeit monatlich 3 Milliarden Dollar kostet. Darüber hinaus ließen sie es zu, dass FBI und CIA wahlweise Amok liefen oder sich überhaupt nicht rührten, so dass uns, dem ersten »unverzichtbaren« und, auf allgemeinen Wunsch, letzten Weltimperium, nur Tricks im Stil des Zauberers von Oz bleiben, der darauf hofft, dass man seine eigenartigen Kunststückchen nicht durchschaut. Derweil tönt G W.: »Entweder man ist für uns, oder man ist für die Terroristen.« Das ist es, was man von ihm erwartet. Wenn man fair sein will, darf man unsere augenblickliche Nummer eins im Oval Office für unsere Inkohärenz nicht allein verantwortlich machen. Obwohl seine Vorgänger in der Regel einen eher höheren IQ hatten als er, dienten auch sie eifrig dem einen Prozent, dem das Land gehört, und ließen zu, dass alle übrigen abrutschen. Besonders hervorgetan hat sich darin Bill Clinton. Zwar war er der fähigste Vorstandsvorsitzende seit Franklin Delano Roosevelt, doch letztlich veranlasste er in seinem verzweifelten Kampf um Wahlsiege die entscheidenden Schritte zu jenem Polizeistaat, in dessen Genuss jetzt sein glücklicher Nachfolger kommt. Polizeistaat? Was soll das heißen? Im April 1996, einen Monat nach dem Bombenanschlag von Oklahoma City, unterzeichnete Präsident Clinton den Anti Terrorism and Effective Death PenaltyAct (Gesetz gegen den Terrorismus und über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe), ein so genanntes Beratungsgesetz, bei dessen Entstehung viele schmutzige Hände mitgewirkt hatten, einschließlich die seines zweiten prominenten Verfechters, des Mehrheitsführers im Senat, Dole. Obwohl Clinton um der Wahlsiege willen viele unkluge und opportunistische Entscheidungen traf, sagte er gleich Charles II. fast nie etwas Unkluges. Doch angesichts des Widerstands gegen 14
das Antiterrorgesetz - das nicht nur den Justizminister ermächtigte, bewaffnete Streitkräfte gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen, und damit auf hübsche Art und Weise den Posse Comitatus Act von 1878 aushebelt, sondern stückweise auch gleich den Habeas Corpus Act außer Kraft setzt, also das Herzstück der angloamerikanischen Freiheitsrechte — beschimpfte Clinton seine Kritiker als »unpatriotisch«. In die Flagge gehüllt, verkündete er dann von seinem Thron: »Es ist keineswegs patriotisch, so zu tun, als könne man sein Land lieben, seine Regierung jedoch verachten.«Das raubt einem den Atem, denn zu der einen oder anderen Zeit trifft das auf fast jeden von uns zu. Anders ausgedrückt, war ein Deutscher, wenn er 1939 erklärte, die Nazi-Diktatur zu verachten, etwa unpatriotisch? Vage Hinweise, dass unsere verletzlichen Freiheiten ernstlich bedroht waren, häuften sich seit den Siebzigern, als das dezent mit Schlips und Kragen gekleidete, in Jura und Buchhaltung geschulte Heer von »Generalisten« des FBI sich zu schlagkräftigen »Special Weapons and Tactics« (alias SWAT)-Teams formierte, einem Heer von Kämpfern im Stil der Green Berets, die sich gern in Tarnanzüge, schwarzes Ninja-Outfit oder, je nachdem, welche Gaunerei sie im Schilde fuhren, in Skimasken hüllen. Anfang der Achtziger gründetedas FBI eine Mega-SWAT-Truppe, das Hostage 270 Rescue Team. Im bewährten amerikanischen Neusprech heißt das, dass diese Truppe nicht etwa darauf gedrillt ist, Geiseln zu befreien oder Menschenleben zu retten, sondern mit mörderischer Gewalt gegen jene vorzugehen, die sie beleidigten - wie etwa die Branch Davidians, evangelikanische Christen, die friedlich auf ihrem Anwesen in Waco, Texas,lebten, bis ein SWAT-Team des FBI unter illegalem Einsatz von Panzern zweiundachtzig Mitglieder der Gruppe, darunter fünfundzwanzig Kinder, umbrachte. Dies geschah 1993. Seit dem Schwarzen Dienstag dürfen SWAT-Teams eingesetzt werden, um verdächtige Amerikaner arabischer Herkunft zu verfolgen und darüber hinaus jeden, der sich möglicherweise des Terrorismus schuldig gemacht hat, ein Begriff, der rechtlich nicht definiert ist (welche Wirksamkeit hat die Aussetzung des Habeas Corpus Act in der Terrorismusbekämpfung, wenn jene, die ihren »Corpus«aus der Haft befreien möchten, bereits hinter Gittern sitzen?). Doch unter dem Trauma des Bombenanschlags von Oklahoma City sagte Clinton, alle, die seine drakonischen Gesetze nicht unterstützten, seien terroristische Mitverschwörer, die Amerika »in einen Hort für Terroristen« verwandeln wollten. Wenn schon der coole Clinton so schäumte, was können wir da erst von einem überhitzten, dienstagsgeschädigten Bush erwarten? 15
Jeder, der bei Bushs Ruf, wir befänden uns mit bin Laden »im Krieg«, entsetzt zusammenfuhr, sollte zudem rasch sein Gehirn wieder anschalten. Bedenkt man die Tatsache, dass ein Land nur mit einem anderen Land Krieg führen kann, fragt man sich, warum unser schwelender, wenn noch nicht brennender Busch einen solchen Kriegsschrei ausstieß. Überlegen Sie mal. Hier geht es um die Abschlussnote. Was, Sie müssen passen? Nun, die meisten Ver sicherungsgesellschaften haben eine Klausel, die besagt, dass sie für Schäden, die durch »einen kriegerischen Akt« entstanden sind, nicht aufkommen müssen. Zwar haben die Männer und Frauen in Bushs Umgebung keine Ahnung vom Krieg und noch weniger von unserer Verfassung, doch im Spenden sammeln kennen sie sich aus. Und für diese kriegsbedingte Ausschlussklausel hätte die Hartford Life Insurance sicher unverzüglich ihr Sparschwein geplündert, um die Republikaner für Jahre im Voraus zu finanzieren. Gemeiner weise wies die Washington Post darauf hin, dass nach US-amerikanischer Rechtsprechung einzig und allein eine souveräne Nation, nicht jedoch ein Haufen Radikaler »einen kriegerischen Akt« begehen könne. Aber einen Versuch war es wert, G.W. Dies bedeutet nun, dass wir, das Volk die Versicherungsgesellschaften mit unseren Steuergeldern aus ihren Verpflichtungen freikaufen dürfen, ein seltenes Privileg, das kaum einer Generation vor uns gewährt war. Zwar hat das amerikanische Volk keine Möglichkeit, direkt auf seine Regierung einzuwirken, doch dafür studiert man seine »Ansichten« gelegentlich mittels Meinungsumfragen. Nach einer von CNN-Time durchgeführten Erhebung hielten im November 1995 55 Prozent der Befragten »die Bundesregierung für so mächtig, dass sie eine Bedrohung für die Rechte der Durchschnittsbürger« darstellt. Drei Tage nach dem Schwarzen Dienstag meinten 74 Prozent,»es könne nötig werden, dass die Amerikaner auf einige ihrer persönlichen Freiheiten verzichten«. 86 Prozent sprachen sich für Kontrollen durch Wachposten und Metalldetektoren vor öffentlichen Gebäuden und Veranstaltungen aus. Während sich also gemütlich der Polizeistaat bei uns breit macht, kann man sich vorstellen, wie Cheney und Rumsfield fassungslos vor Freude diese Zahlen betrachten. »Im Grunde haben sie das schon immer gewollt, Dick.« »Und stell dir vor, wir haben es nicht gewusst, Don!« »Das ist nur die Schuld der Liberalen, Dick.« »Aber jetzt machen wir diese Scheißkerle fertig, Don.« Bei unseren amnesischen Medien scheint es in Vergessenheit geraten zu 16
sein, dass wir Sadam Hussein im Krieg des Irak gegen den Iran mit allen Mitteln unterstützt haben, so dass Sadam, gar nicht so abwegig, zu der Auffassung kam, wir hätten nichts dagegen einzuwenden, wenn er sich Kuwaits Öltanks einverleibte. Über Nacht wurde unser Angestellter zum Satan — und bleibt es, während wir in der Hoffnung, dass es sich erhebt und ihn stürzt, sein Volk quälen -, sowie man von den Kubanern angesichts ihrer von den USA aufgezwungenen Armut erwartete, dass sie Castro aus dem Amt jagten, als er sich hartnäckig weigerte, von den Kennedy-Brüdern in ihrer sogenannten Operation Mongoose ermordet zu werden. Unsere imperialistische Verachtung für die von Geburt weniger Begünstigten blieb der jüngsten Generation gebildeter Saudis nicht verborgen, ebenso wenig ihrem sich aufschwingenden Führer Osama bin Laden, dessen Augenblick gekommen war, als 2001 in Amerika ein schwacher Präsident unter fragwürdigen Umständen sein Amt antrat. Die New York Times ist das wichtigste Sprachrohr der amerikanischen Großkonzerne, wenn sie eine Meinung vertreten haben möchten. In der Regel erledigt sie das mit großer Geste, oder versucht es zumindest — selbst wenn ihre Leitartikel, wie der vom13. September, etwas daneben liegen. Unter der Überschrift: »Anforderungen an die Führungskraft«,gab sich die NYT irgendwie aufgeräumt. Es geht schon alles in Ordnung, Mr. President, wenn Sie sich nur Mühe geben und Ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren. Offensichtlich steht Bush »vor zahlreichen Herausforderungen, doch seine wichtigste Aufgabe ist schlicht und einfach, Führungskraft zu beweisen«. Gott sei Dank. Es ist nicht nur eine einzige Aufgabe, sondern sie ist auch noch einfach! Zumindest vorläufig ... Dann beschäftigt sich die NYT mit dem Problem, dass die Dinge oft anders aussehen, als sie eigentlich aussehen sollten. »Gestern bemühte sich die Regierung einen Großteil des Tages, gegen den Eindruck anzukämpfen, Mr. Bush habe Schwäche gezeigt, als er nach den Terroranschlägen nicht nach Washington zurückkehrte.« Doch soweit ich es beurteilen konnte, kümmerte das niemanden, mehr noch, einigen von uns gab es sogar ein leises Gefühl der Sicherheit, dass unser nationales Landei in einem Bunker in Nebraska festsaß. Geduldig buchstabierte es die Mördern Präsidenten und auch uns vor. »In den kommenden Tagen wird Mr. Bush die Nation vielleicht bitten, Militäraktionen zu unterstützen, die vielen Bürgern, insbesondere jenen, die Verwandte bei den Streitkräften haben, vielleicht Sorge bereiten. Er muss zeigen, dass er weiß, was er tut.« Da haben sie voll ins Schwarze getroffen. Wenn Franklin Delano Roosevelt von Arthur Krock bei der alten NYT doch nur auch solche Briefe bekommen hätte. 17
Schließlich spricht sich Anthony Lewis dafür aus, den bushistischen Unilateralismus zugunsten der Zusammenarbeit mit anderen Ländern aufzugeben, um die Finsternis dieses Dienstags dadurch zu bezwingen, dass wir ihren Ursprung verstehen (Hervorhebung von mir). Zugleich sollten wir jegliche Provokation anderer Kulturen, die uns und unserer Lebensweise nicht entsprechen, beenden. Ungewohnt für einen Redakteur der New York Times, fordert Lewis sofortigen Frieden. Dem schließe ich mich an. Doch wir sind alt, sind selbst in den Krieg gezogen und schätzen unsere so rasch dahin schmelzenden Freiheiten — im Gegensatz zu den Chauvinisten, die auf dem Times Square für einen Krieg, der nicht auf unserem Boden stattfindet und den andere Amerikaner führen müssen, die Trommel rühren. Wie üblich ist William Pfaff von der International Herald Tribüne (17. September 2001) der vernünftigste politische Kolumnist dieser Tage. Anders als die provinziellen Kriegstreiber der New York Times erschreckt ihn das Spektakel eines amerikanischen Präsidenten, der es ablehnte, seinem Land in Vietnam zu dienen, jetzt aber nach einem Krieg schreit, und zwar nicht gegen ein Land oder eine Religion, sondern gegen einen Mann und seine Komplizen, eine Kategorie, die sich beliebig ausweiten lässt. Pfaff: »Der Gegenschlag einer zivilisierten Nation, einer Nation, die an das Gute, an die Gemeinschaft der Menschen glaubt und sich dem Bösen widersetzt, muss auf ein enges Ziel gerichtet und vor allem intelligent geplant sein. Raketen sind einfach nur Waffen. Jene Terroristen sorgen jedoch klugerweise dafür, dass andere den Preis für ihre Taten zahlen müssen und sie die Folgen für ihre Zwecke nutzen können. Ein irrationaler Gegenschlag der USA, bei dem andere zu Schaden kommen, ist genau das, was sie wollen. Er schürt den Hass, der schon jetzt die Selbstgerechtigkeit nährt, mit der sie ihre kriminellen Übergriffe auf Unschuldige rechtfertigen. Die Vereinigten Staaten müssen jetzt kühl überlegen, wie es zu dieser Zuspitzung kommen konnte. Noch wichtiger jedoch ist, dass sie sich auf das Unheil einstellen, das vielleicht vor uns liegt.« In einem Krieg gibt es keine Gewinner. Es ist nun an der Zeit, dass wir den guten Kofi Annan zum Einsatz bringen. So herrlich ein fürchterlicher Rachefeldzug unseren Kriegsenthusiasten auch erscheinen mag — ein Waffenstillstand zwischen Saladin und den zionistischen Kreuzrittern liegt im Interesse der gesamten Menschheit .Lange bevor die schrecklichen Monotheisten 18
die Geschichte in ihren Würgegriff nahmen, hat uns kein Geringerer als der Gott Apollo gelehrt, wie man einen Zwist beendet - nachzulesen bei Aischylos in Die Eumeniden (einer höflichen griechischen Bezeichnung für die Furien, die uns täglich auf CNN Gesellschaft leisten). Nachdem Orest die Sünde begangen hat, mit seiner Mutter zu schlafen, wird er auf Schritt und Tritt von den Furien verfolgt und versucht vergeblich, sich von ihnen zu befreien. Er wendet sich an den Gott Apollo, der ihm rät, die UNO zu Hilfe zu holen - auch bekannt als die Stadtversammlung von Athen. Dort spricht man ihn frei, unter der Bedingung, dass er jeglicher Blutrache abschwört, da sie ansonsten weit er schwelt, von einer Generation auf die nächste übertragen wird und aus großen Türmen Flammen schlagen, bis sie uns alle unter sich begraben, auf dass »nimmer der Staub mit dem Blute der Bürger sich tränke, nie Rachgier wechselmordender Schuld lüstern ... Freude belohne, gemeinsam Gleiches mit allen zu lieben, allen gleich zu hassen auch, das heilt vielen Gram der Sterblichkeit«. Soll Annan zwischen Ost und West vermitteln, ehe es auf beiden Seiten nichts mehr gibt, was sich zu retten lohnt. Der schreckliche physische Schaden, den Osama und Konsorten uns am Schwarzen Dienstag zugefügt haben, ist nichts im Vergleich zu dem Todesstoß, der unseren ohnehin schon schwindenden Freiheiten versetzt wurde - durch das Antiterrorgesetz von 1996 im Verbund mit den kürzlich vor dem Kongress gestellten Anträgen aufzusätzliche Sondervollmachten, die erlauben, ohne richterlichen Beschluss Lauschangriffe durchzuführen, legal und dauerhaft bei uns lebende Menschen, Besucher sowie illegale Einwanderer ohne ordentliches Gerichtsverfahren auszuweisen und so weiter. Währen dich dies schreibe, füllt sich auf unserem Marinestützpunkt Guantanamo Bay in Kuba das US-amerikanische »Konzentrationslager X-Ray«. Niemand weiß, ob seine bedauernswerten Insassen Kriegsgefangene oder einfach nur Schurken sind. In jedem Fall wurden sie in Afghanistan von US-Soldaten verschleppt und landen jetzt wohl vor einem Femegericht, wenn man sie aus ihren Käfigen lässt. Hier ein Zitat aus der Zeit vor Osama bin Laden: »Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmungen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig.« Klingt vertraut. Stammt es von Clinton? Von Bush? Oder Ashcroft? Nein. Es ist ein Auszug aus 19
einer Rede Hitlers von 1933,in der er ein »Ermächtigungsgesetz zum Schutz von Volk und Staat«forderte, nachdem der Reichstag — von den Nazis heimlich angezündet - in Flammen aufgegangen war. Nur eine Kongressabgeordnete, Barbara Lee aus Kalifornien, stimmte gegen die Erweiterung der Machtbefugnisse für den Präsidenten. Inzwischen hatte eine von New York Times-CBS durchgeführte Umfrage ergeben, dass sich nur noch 6 Prozent gegen einen Militärschlag aussprachen, während eine große Mehrheit der Bevölkerung einen Krieg befürwortete, »selbst wenn Tausende unschuldiger Zivilisten getötet werden«. Entsprechend gestiegen ist auch Bushs Beliebtheitsquote - doch schließlich ist ein Präsident bei uns in Kriegszeiten von jeher unantastbar wie die Flagge. Kennedy schnitt am besten ab nach dem Debakel an der Schweinebucht, und in der für ihn typischen Art stellte er fest: »Es sieht ganz so aus, als würde man umso beliebter, je mehr man in diesem Job versaut.« Vielleicht schaffen es die Bushs, Vater und Sohn, ja doch noch bis zum Mount Rushmore, obwohl wir billiger davonkämen, wenn wir Barbara Bushs Doppelgänger, George Washington, zwei Reihen Riesenperlen um den Kalksteinhals legten - in seligem Angedenken gewissermaßen. Letztlich wiegen die physischen Schäden, die Osama und seine Freunde bei uns anrichten können - so schrecklich sie bisher auch gewesen waren —, gering im Vergleich mit dem, was er unseren bürgerlichen Freiheiten antut. Sobald wir auf ein »unverzichtbares«Recht einmal verzichtet haben, ist es wohl für immer verloren, und in diesem Fall sind wir nicht einmal auch nur entfernt der letzte Hoffnungsschimmer auf Erden, sondern bloß noch ein schmieriger Imperalistenstaat, dessen Bürger von SWAT-Teams auf Vordermann gebracht werden und dessen Sterbensart, nichts Lebensart, weltweit imitiert wird. Seit dem V-J Day von 1945 (dem Sieg über Japan und dem Ende des Zweiten Weltkriegs) führen wir einen, wie der Historiker Charles A. Beard es nennt, »ewigen Krieg für ewigen Frieden«. Ich habe gelegentlich schon früher von unserem »Feind-des-Monats Club« gesprochen: Jeden Monat werden wir von einem neuen Furchteinflößenden Feind bedroht, auf den wir losschlagen müssen, ehe er uns vernichtet. Da man mich der Übertreibung bezichtigte, füge ich hier eine Aufstellung bei, die vom Kosovo-Konflikt (1999) bis zur Berliner Luftbrücke (1948-1949) zurückreicht. Darin fällt auf, dass die Verfasser, die Federation of American Scientists, eine Reihe unserer Kriege als noch andauernd bezeichnen, obwohl sie bei einem Großteil der Öffentlichkeit bereits in Vergessenheit geraten sind. Unter der Rubrik »Name« 20
sind die fantasievollen Codenamen des Verteidigungsministeriums aufgeführt wie etwa »Urgent Fury«(Drängende Wut), der Deckname für Reagans Angriff auf die Insel Grenada, ein Schurkenstück von einem Monat Dauer, das, wie General Haig unloyal bemerkte, vom Polizeirevier der Stadt Provincetown wirkungsvoller hätte erledigt werden können. (Die Fragezeichen stammen von den Verfassern.)
Name
Ort
Datum
Truppenstärke
1. OPERATIONEN IN DER GEGENWART
a. Balkan Joint Guardian
Kosovo
11. Juni 1999 bis?
Allied Forces/
Kosovo
Noble Anvil Determined
23. März 1999 bis 10. Juni 1999
Kosovo
Force
8. Oktober 1998 bis 23. März 1999
Cobalt Flash
Kosovo
Shining Hope
Kosovo
Sustain Hope/
Kosovo
Allied Harbor Provide Refuge
Kosovo
5. April 1999 bis Herbst 1999
Open Arms
Kosovo
21
Name
Ort
Datum
Eagle Eye
Kosovo
16. Oktober 1998 bis 24.
Truppenstärke
März 1999 Determined
Kosovo & Albanien
Falcon Determined Effort
15. Juni 1998 bis 16. Juni 1998
BosnienHerzegowina
Juli 1995 bis Dezember 1995
Joint Endeavor
BosnienHerzegowina
Dezember 1995 bis Dezember 1996
Joint Guard
BosnienHerzegowina
Dezember 1996 bis 20. Juni 1998
Joint Forge
BosnienHerzegowina
20. Juni 1998 bis
6900
Gegenwart DELIBERATE
Bosnische Serben
FORCE Quick Lift
29. August 1995 bis 21. September 1995
Kroatien
3. Juli 1995 bis 11. August 1995
Nomad Vigil
Albanien
1.Juli 1995 bis 5. November 1996
Nomad Endeavor
Taszar, Ungarn
März 1996 bis Gegenwart
Able Sentry
Serbien/ Mazedonien
5. Juli 1994 bis Gegenwart
Deny Flight
BosnienHerzegowina
12. April 1993 bis 20.
2000
Dezember 1995 Decisive Endeavor/
BosnienHerzegowina
Januar 1996 bis Dezember 1996
Decisive Edge
Decisive Guard/
Bosnien-
Dezember 1996
Deliberate Guard
Herzegowina
bis 20. Juni 1998
Deliberate Forge
BosnienHerzegowina
20. Juni 1998 bis Gegenwart
22
Name
Ort
Datum
Sky Monitor
BosnienHerzegowina
16. Oktober 1992 bis
Truppenstärke
Gegenwart Maritime Monitor
Adria
16. Juli 1992 bis 22. November 1992(?)
Maritime Guard
Adria
22. November 1992 bis 15. Juni 1993(?)
Sharp Guard
Adria
15. Juni 1993 bis
11700
Dezember 1995 Decisive
Adria
Enhancement Determined
Dezember 1995 bis Juni 1996
Adria
Dezember 1996
Guard bis Gegenwart Provide Promise
Bosnien
3. Juli 1992 bis März 1996 1000
Irak
13. Januar 1993 bis 26.
b. Vorderasien Ohne Namen (Luftangriff) Ohne Namen
Juni 1993 Irak
(Raketenangriff) Ohne Namen
Januar 1993 Irak
(Raketenangriff) DESERT
Irak
3. September 1996 bis 4. September 1996
Irak
THUNDER DESERT FOX
17. Januar 1993 bis 26. Juni 1993
STRIKE DESERT
13. Januar 1993 bis 17.
Februar 1998 bis 16. Dezember 1998
Irak
16. bis 20. Dezember 1998
Shining Presence
Israel
Dezember 1998
Phoenix
Irak
Dezember 1998
Scorpion IV
23
Name
Ort
Datum
Phoenix
Irak
November 1998
Irak
Februar 1998
Irak
November 1997
Desert Focus
Saudi-Arabien
Juli 1996 bis Gegenwart
Vigilant Warrior
Kuwait
Oktober 1994 bis
Truppenstärke
Scorpion III Phoenix Scorpion II Phoenix Scorpion I
November 1994 Vigilant Sentinel
Kuwait
August 1995 bis 15. Februar 1997
Intrinsic Action
Kuwait
1. Dezember 1995 bis 1. Oktober 1999
Desert Spring
Kuwait
1. Oktober 1999 bis Gegenwart
Iris Gold
Vorderasien
?? 1993 bis Gegenwart
Pacific Haven/
Irak - Guam
Quick Transit Provide Comfort
15. September 1996 bis 16. Dezember 1996
Kurdistan
5. April 1991 bis
42500
Dezember 1994 Provide Comfort
Kurdistan
II Northern Watch
24. Juli 1991 bis 31. Dezember 1996
Kurdistan
31. Dezember 1996 bis Gegenwart
1100 14000
Southern Watch
Vorderasien/Irak
1991 bis Gegenwart
Desert Falcon
Saudi-Arabien
1991 bis Gegenwart
24
Name
Ort
Datum
Truppenstärke
c. Andere Einsätze Korea
Korea
Andauernd
New Horizons
Mittelamerika
Andauernd
Sierra Leone
Mai 2000
Luftraum Kongo
Februar 2000 bis
Sierra Leone Luftraum MONUC (UNFriedenseinsatz) Resolute
Gegenwart Afrika
Response
August 1998 bis Gegenwart
Gatekeeper
Kalifornien
1995 bis Gegenwart
Hold-the-Line
Texas
1995 bis Gegenwart
Safeguard
Arizona
1995 bis Gegenwart
Golden Pheasant
Honduras
März 1998 bis Gegenwart
Alliance
Südgrenze USA
1986 bis Gegenwart
Provide Hope I
Ehem. Sowjetunion
10. Februar 1992 bis 26. Februar 1992
Provide Hope II
Ehem. Sowjetunion
15. April 1992 bis 29. Juli 1992
Provide Hope III
Ehem. Sowjetunion
1993(?)
Provide Hope IV
Ehem. Sowjetunion
10. Januar 1994 bis 19. Dezember 1994
Provide Hope V
Ehem. Sowjetunion
6. November 1998 bis 10. Mai 1999
25
Name
Ort
Datum
Truppenstärke
d. Anti-Drogen-Einsätze Coronet
Mittel-/Südamerika
1991 bis Gegenwart
Mittel-/Südamerika
Oktober 1977
Nighthawk Coronet Oak
bis 17. Februar 1999 Selva Verde
Kolumbien
1995 bis Gegenwart
Badge
Kentucky
1990 bis Gegenwart(?)
Ghost Dancer
Oregon
1990 bis Gegenwart(?)
Greensweep
Kalifornien
Juli 1990 bis August 1990
Grizzly
Kalifornien
1990 bis Gegenwart(?)
Wipeout
Hawaii
1990 bis Gegenwart
Ghost Zone
Bolivien
März 1990 bis 1993(?)
Constant Vigil
Bolivien
199? bis ??
Support Justice
Südamerika
1991 bis 1994
Steady State
Südamerika
1994 bis April 1996
Green Clover
Südamerika
199? bis ??
Laser Strike
Südamerika
Agate Path
CONUS*
1989 bis ??
Enhanced Ops
CONUS*
?? bis Gegenwart
April 1996 bis Gegenwart
* Conterminus United States = die 48 US-Kontinentalstaaten
26
2. ABGESCHLOSSENE OPERATIONEN
Name
Ort
Datum
Silent Promise
Mosambik/ Südafrika
Februar 2000 bis April 2000
Fundamental
Venezuela
20. Dezember 1999
Response Stabilize
Truppenstärke
bis Beginn 2000 Timor
11. September 1999 bis November 1999
Avid Response
Türkei
18. August 1999 bis September 1999
Strong Support
Mittelamerika
(Fuerte Apoyo)
Oktober 1998 bis 10.
5700
Februar 1999
Infinite Reach
Sudan/ Afghanistan
20. August 1998
Shepherd Venture
Guinea-Bissao
10. bis 17. Juni 1998
130
Ohne Namen
Asmara Luftraum
5. bis 6. Juni 1998
130
Eritrea Noble Response
Kenia
21 .Januar 1998 bis 25. März 1998
Bevel Edge
Kambodscha
Juli 1997
Noble Obelisk
Sierra Leone
Mai bis Juni 1997
Guardian
Kongo (ehem.
März bis Juni 1997
Retrieval
Zaire)
Silver Wake
Albanien
14. bis 26. März 1997
Guardian
Zaire, Ruanda,
15. November 1996
Assistance;
Uganda
bis 27. Dezember 1996
Zentralafrik.
Mai bis August 1996
Assurance/ Phoenix Tusk Quick Response
Republik Assured Response
Liberia
April bis August 1996
Zorro II
Mexiko
Dezember 1995 bis 2. Mai 1996
27
Name Third Taiwan
Ort
Datum
Straße von Taiwan
21. Juli 1995 bis 23. März
Straits Crisis
Truppenstärke
1996
Safe Border
Peru/Ecuador
1995 bis 30. Juni 1999
United Shield
Somalia
3. Januar 1995 bis 25.
4000
März 1995 Uphold/ Restore
Haiti
Democracy Quick Resolve/
21000
31. März 1995 Ruanda
Support Hope Safe Haven/ Safe
19. September 1994 bis 22. Juli 1994 bis 30.
2592
September 1994 Kuba - Panama
Passage
6. September 1994 bis 1. März 1995
Sea Signal/ JTF-
Haiti -
18. Mai 1994 bis Februar
160
Guantanamo/Kuba
1996
Distant Runner
Luftraum Ruanda
9. April 1994 bis 15. April 1994
Korean Nuclear
Nordkorea
Crisis
10. Februar 1993 bis Juni 1994
Ohne Namen
Luftraum Liberia
22. bis 25. Oktober 1992
Provide Relief
Somalia
14. August 1992 bis 8. Dezember 1992
Restore Hope
Somalia
4. Dezember 1992 bis 4.
26000
Mai 1993 Continue Hope
Somalia
4. Mai 1993 bis Dezember 1993
Provide Transition Angola
3. August 1992 bis 9. Oktober 1992
Garden Plot
Los Angeles, CA
Mai 1992
Silver Anvil
Sierra Leone
2. bis 5. Mai 1992
4500
(Luftraum)
28
Name
Ort
Datum
GTMO
Haiti -
23. November 1991
(Guantanamo Bay
Guantanamo/Kuba
Truppenstärke
Cuba) Safe Harbor
Haiti -
1992
Guantanamo/Kuba Quick Lift
Zaire
24. September 1991 bis 7. Oktober 1991
Victor Squared
Haiti (Luftraum)
September 1991
Fiery Vigil
Philippinen
Juni 1991
(Luftraum) Productive Effort/
Bangladesch
Mai bis Juni 1991
Eastern Exit
Somalia
2. bis 11. Januar 1991
Desert Shield
Vorderasien
2. August 1990 bis 17.
Sea Angel
Januar 1991 Imminent
Vorderasien
November 1990
Vorderasien
17. Januar 1991 bis 28.
Thunder Proven Force
550000
Februar 1991 DESERT
Vorderasien
STORM DESERT
Vorderasien
24. bis 28. Februar 1991
Vorderasien
1.März 1991
SWORD/ DESERT SABRE Desert Calm
bis 1.Januar 1992 Desert Farewell
Vorderasien
1.Januar 1992 bis 1992(?)
Steel Box Golden
Johnston Insel
26. Juli 1990 bis 18.
Python Sharp Edge
November 1990 Liberia
Mai 1990 bis 8. Januar 1991
29
Name
Ort
Datum
3. KALTER KRIEG Classic Resolve
Philippinen
November 1989 bis Dezember 1989
Hawkeye
St. Croix, USVirgin Islands
20. September 1989 bis 17. November 1989
Nimrod Dancer
Panama
Mai 1989 bis 20. Dezember 1989
JUST CAUSE
Panama
20. Dezember 1989 bis 31.Januar 1990
Promote Liberty
Panama
31.Januar 1990 bis??
ERNEST WILL
Persischer Golf
24. Juli 1987 bis 2. August 1990
PRAYING
Persischer Golf
17. bis 19. April 1988
Blast Furnace
Bolivien
Juli bis November 1986
EL DORADO
Libyen
12. bis 17. April 1986
Attain Document
Libyen
26. Januar 1986 bis 29. März 1986
Achille Lauro
Mittelmeer
7. bis 11. Oktober 1985
Intense Look
Rotes Meer/ Golf
Juli 1984
MANTIS
CANYON
von Suez URGENT FURY
Grenada
23. Oktober 1983 bis 21. November 1983
Arid Farmer
Tschad/Sudan
August 1983
Early Call
Ägypten/Sudan
18. März 1983 bis August 1983
US Multinational
Libanon
25. August 1982 bis 1. Dezember 1987
Force (USMNF)
30
Name
Ort
Datum
Truppenstärke
Bright Star
Ägypten
6. Oktober 1981 bis November 1981
Gulf of Sidra
Libyen/
18. August 1981
Mittelmeer RMT (Rocky Mountain
Colorado )
August bis September 1981
El Salvador/
1.Januar 1981 bis 1.
Nicaragua
Februar 1992
Creek Sentry
Polen
Dezember 1980 bis 1981
SETCON II
Colorado
Mai bis Juni 1980
EAGLE CLAW/
Iran
25. April 1980
Korea
26. Oktober 1979
Transfer Central Amerika
Desert One ROK Park Succession-Krise
Bis 28. Juni 1980
Elf One
Saudi-Arabien
März 1979
Jemen
Iran/Jemen/
6. Dezember 1978 bis 6.
Indischer Ozean
Januar 1979
Red Bean
Zaire
Mai bis Juni 1978
Ogaden-Krise
Somalia/
Februar 1978 bis 23. März
Äthiopien
1978
SETCON I
Colorado
1978
Paul Bunyan/
Korea
18. bis 21. August 1976
Kambodscha
15. Mai 1975
Bis 15. April 1989
»Tree«-Vorfall Operation Mayaguez New Life
Vietnam (Luftraum)
Frequent Wind
Evakuierung
April 1975
29. bis 30. April 1975
Saigons
31
Name
Ort
Datum
Eagle Pull
Kambodscha
11. bis 13. April 1975
Nickel Grass
Nahost
6. Oktober 1973 bis 17.
Truppenstärke
November 1973 Garden Plot
US-Territorium
30. April 1972 bis 4. Mai 1972
Red Hat
Johnston Island
Januar 1971 bis September 1971
Ivory Coast/
Son Tay, Vietnam
Kinpin
20. November 1970 bis 21. November 1970
Graphic Hand
US-Territorium
1970
Red Fox (»Pueblo«-
Korea
23. Januar 1968 bis 5. Februar 1969
Vorfall) Sechstagekrieg
Naher Osten
13. Mai 1967 bis 10. Juni 1967
CHASE
Verschiedene
1967 - 1970
Einsatzorte Powerpack Red Dragon
Dominikanische
28. April 1965 bis 21.
Republik
September 1966
Kongo
23. bis 27. November 1964
Ohne Namen
Kubakrise
Chinesische
15. Oktober 1963
Atomkraftwerke
bis Oktober 1964
Kuba, weltweit
24. Oktober 1962 bis 1. Januar 1963
Vietnamkrieg
Vietnam
16. März 1962 bis 28. Januar 1973
Operation Ranch
Vietnam
Januar 1962 bis 1971
Operation Rolling Vietnam Thunder
24. Februar 1965 bis
Hand Oktober 1968
32
Name
Ort
Datum
Operation Are
Südostasien
18. Juni 1965 bis April
Light Operation
1970 Nordvietnam
Freedom Train Operation Pocket
Nordvietnam Nordvietnam Nordvietnam
18. bis 29. Dezember 1972
Nordvietnam
Endsweep Operation Ivory
10. Mai 1972 bis 23. Oktober 1972
Linebacker II Operation
9. Mai 1972 bis 23. Oktober 1972
Linebacker I Operation
6. April 1972 bis 10. Mai 1972
Money Operation
Truppenstärke
27. Januar 1972 bis 27. Juli 1973
Nordvietnam
21. November 1970
Laos
1970
Berlin
14. August 1961 bis 1.
Coast/Kinpin Operation Tailwind Berlinkrise
Juni 1963 Laoskrise
Laos
19. April 1961 bis 7. Oktober 1962
Kongokrise
Kongo
14. Juli 1960 bis 1. September 1962
Taiwan Taiwan Blue Bat
Straße von
23. August 1958 bis
Taiwan
1.Januar 1959
Quemoy&
23. August 1958 bis
Matsu-Inseln
1.Juni 1963
Libanon
15. Juli 1958 bis 20. Oktober 1958
Suezkrise
Ägypten
26. Juli 1956 bis 15. November 1956
33
Name
Ort
Datum
Taiwan
Straße von Taiwan
11. August 1954 bis 1.
Truppenstärke
Mai 1955 Koreakrieg
Korea
27. Juni 1950 bis 27. Juli 1953
Berliner Luftbrücke
Berlin
26. Juni 1948 bis 30. September 1949
In diesen mehreren hundert Kriegen gegen den Kommunismus, Terrorismus, gegen Drogen oder auch gar nicht sonderlich viel, zwischen Pearl Harbor und Dienstag, dem 11. September 2001, waren es meist wir, die den Erstschlag führten. Aber schließlich sind wir auch die Guten. Oder etwa nicht? Oktober 2001
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Wie es kam, dass ich mich für Timothy McVeigh interessierte und er sich für mich
Wenn man sich einmal klarmacht, dass die Vereinigten Staaten die übrige Welt unablässig mit Gewalt überziehen und hierzu Vorwände benutzen, die so durch und durch fadenscheinig sind, dass wohl selbst Hitler gezögert hätte, sie zur Rechtfertigung seiner dreistesten Lügen zu verwenden, begreift man allmählich, weshalb uns Osama bin Laden aus der Ferne und im Namen von einer Milliarde Muslimen angegriffen hat. Schließlich haben wir sie durch unsere Präventivschläge und durch ihre unaufhörliche Verteufelung in den Medien dazu angehalten, uns in einem - wie soll ich sagen? - nicht gerade freundlichen Licht zu sehen. In den fünf Jahren vor dem Schwarzen Dienstag habe ich mich ausführlich mit dem Fall McVeigh beschäftigt, und in den fünf Jahrzehnten davor hatte ich, als Soldat im Zweiten Weltkrieg und danach als Chronist unserer imperialen Geschichte, stets, wie mir scheint, einen genauen Blick auf den erbittert geführten Kampf zwischen der amerikanischen Republik, deren Verteidiger ich bin, und dem amerikanischen Weltimperium, dem Feind unserer alten Republik. Osama, provoziert, griff uns aus der Ferne an. McVeigh, provoziert, griff uns am 19. April 1995 von innen heraus an. Beide waren aufgebracht über die rücksichtslosen Anschläge unserer Regierung auf andere Gesellschaften, durch die wir das verfolgten, was ein großer amerikanischer Historiker als den »dauerhaften Krieg für den dauerhaften Frieden« bezeichnet hat. Ich muss gestehen, dass mich der Bombenanschlag auf das staatliche Murrah-Gebäude in Oklahoma City anfangs nicht sonderlich interessierte, 35
weil die Medien das Verbrechen so rasch und gründlich diesem Inbegriff eines amerikanischen Schurken, diesem einsamen verrückten Killer zugeschrieben hatten und die Taten von Verrückten nur diejenigen interessieren, die am Morbiden Gefallen finden. Auch hat der weise Henry James die Schriftsteller stets davor gewarnt, einen Verrückten in den Mittelpunkt einer Story zu rücken, weil sich mit jemandem, der moralisch nicht haftbar gemacht werden kann, keine gute Geschichte erzählen lässt. Es war vielmehr die Stadt Oklahoma, die zuerst mein Interesse weckte. Sie erschien mir als unwahrscheinlicher Ort für ein so befremdliches Ereignis. 1907 hat mein Großvater Thomas Pryor Gore den Staat Oklahoma der Union angegliedert; er wurde zum ersten Senator von Oklahoma gewählt und übte dieses Amt bis 1937 aus. Ich verbrachte die ersten zehn Jahre meines Lebens in seinem Haus in Rock Creek Park, Washington, D.C., wo ich ihm, der von frühester Jugend an blind war, oft vorlas. Meine Kindheit verbrachte ich inmitten der Gründer eines Staates, den man zuweilen als Schnalle am BibelGürtel bezeichnete: Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass mein Großvater Atheist war, ein Geheimnis, das zu Hause strengstens gehütet wurde. In der Zeit des Ersten Weltkriegs war Oklahoma gleichzeitig Stützpunkt für den Ku-KluxKlan und die Sozialistische Partei, wahrlich ein eklektischer Ort der Sammlung. Als das Murrah-Gebäude zerstört wurde, las ich fälschlicherweise »Murray«, nach Alfalfa Bill Murray, dem ersten Gouverneur von Oklahoma, der eine Weltgeschichte schrieb, ohne jemals - wie es heißt - den Staat verlassen oder gar ein Buch aufgeschlagen zu haben. Planlos begann ich den Prozess gegen McVeigh zu verfolgen. Die Quelle der allgemeinen Weisheit, die New York Times, blieb ihrer großen Tradition treu und befand ihn von Anfang an für schuldig. Vielleicht taten sie das, dachte ich törichterweise, dieses eine Mal ja guten Glaubens. Aber je mehr Einzelheiten ans Licht kamen, umso unglaubwürdiger wurde die ganze Geschichte. Schließlich wollte man uns weismachen, ein einzelner schmächtiger junger Mann habe sich, möglicherweise mit Hilfe eines Unbekannten, den das FBI niemals fand, und eines unzuverlässigen, ebenso schmächtigen Mitverschwörers eine ziemlich komplizierte Bombe ausgedacht, dieses mehrere tausend Pfund schwere Mordinstrument allein auf einen RyderLastwagen gehievt, es zum Murrah-Gebäude gefahren, ohne sich selbst in die Luft zu jagen (Nordirland ist übersät mit den Überresten von Bombenlegern der IRA, die mit ähnlicher Fracht holprige Straßen benutzt haben), und es dann an 36
einem strahlenden Morgen vor einem mit unzähligen Fenstern ausgestatteten Gebäude zur Detonation gebracht, ohne dass ihn jemand gesehen hatte. Dies sprach jeder Vernunft Hohn. Nachdem man ihn schuldig gesprochen hatte, sagte McVeigh jedoch, er habe es ganz allein getan, aus Rache für das staatliche Massaker an einer religiösen Sekte in Waco, Texas. In einer kurzen Erklärung an das Gericht vor dem Urteilsspruch zitierte er aus dem großartigen Minderheitsvotum des Obersten Bundesrichters Brandeis zur Sache Olmstead. Dies machte mich neugierig. Brandeis hatte die Regierung gewarnt, dass sie der Lehrmeister der Nation sei. Sollte sie daher das Gesetz brechen, so gebe sie ein Beispiel, das zur Nachahmung animieren und in die Anarchie führen könne. Besorgt über die muntere Art und Weise, wie verschiedene Bundesministerien die Bill of Rights Stück für Stück säuberlich entsorgten, schrieb ich den folgenden Artikel für die Ausgabe von Vanity Fair vom November 1998. McVeigh, damals in der Todeszelle in Colorado, las ihn und schickte mir daraufhin einen Brief. So begann unser Gedankenaustausch, der in der Einladung an mich gipfelte, als Zeuge bei seiner Hinrichtung mittels einer Giftspritze zugegen zu sein. Ich sagte zu. Hier der Artikel, den er im Gefängnis las.
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Der Krieg im eigenen Land
Die meisten Amerikaner einer bestimmten Altersgruppe können sich haargenau erinnern, was sie am 20. Oktober 1964 gerade machten, als die Meldung kam, Herbert Hoover sei tot. Einer Nation stockten Herz und Verstand. Aber wie viele Menschen können sagen, wann und wie ihnen erstmals klar wurde, dass dieser oder jener Verfassungszusatz dran glauben musste? Für mich war das irgendwann 1960 bei einer Party in Beverly Hills der Fall, und der Überbringer der schlimmen Botschaft war der gewohnheitsmäßig fröhliche Schauspieler Cary Grant. Er war gerade aus New York herübergeflogen und erzählte, wie er seinen Flugschein am Schalter der Fluggesellschaft in Idlewild abgeholt hatte, diesem verwunschenen Alte-Welt-Flughafen, dessen Name unsere Wildheit im Wartestand auf den Begriff brachte. »Da standen süße Mädchen hinter dem Schalter, die mir unbedingt helfen wollten, jedenfalls haben sie das gesagt. Ich gebe ihnen ein paar Autogramme, und dann bitte ich eine um meinen Flugschein. Plötzlich wird sie todernst. >Können Sie sich denn ausweisen?<, fragt sie.« (Von weitläufigen Freunden habe ich gehört, dass der »Kern« dieser Anekdote inzwischen eine mir unbekannte Reihe von Werbespots für Visa ausgelöst hat.) Ich kann nun nicht behaupten, ich hätte an jenem lang versunkenen Abend in Beverly Hills das kalte Grausen bekommen. Ehrlich gesagt, haben wir bloß gelacht. Aber ich fragte mich doch ganz kurz, ob wohl gerade die Zukunft mit zierlichen Füßchen über unser Massengrab getrippelt wäre. Merkwürdigerweise war es wieder Grant, der unbeschwert wie eh und je die Nachricht überbrachte, dass auch die Privatsphäre an einem seidenen Faden hing. »Heute morgen hat mich ein Freund aus London angerufen«, erzählte er am 4. Juni 1963. »Sonst benutzen wir immer Codenamen, aber diesmal hat er nicht dran gedacht. Nachdem er sich nach meinem Befinden erkundigt hatte, sagte ich 38
in den Hörer: >Okay, St. Louis, raus aus der Leitung. Sie auch, Milwaukee< und so weiter. Die Telefonistinnen hören ja zu gerne mit. Als wir das Geschäftliche hinter uns hatten, fragte er: >Und was gibt‘s Neues an Hollywoodklatsch?< Ich meinte: >Na ja, Lana Turner hat immer noch die Affäre mit dem schwarzen Baseballwerfer.< Eine Telefonistin schrie entsetzt auf: >O nein!<« Schön war die Zeit. Heute stimmen die Medien und der Kongress ihre dröhnende Hymne an: »Twinkle, twinkle, little Starr, how we wonder what you are«, und der Präsident hat in Bausch und Bogen auf Privatsphäre zu verzichten, denn schauen Sie, hier geht es doch um Sex und nicht um Wahrheit, diesen ewigen Blindgänger im politischen Alltag. Während Grants Name ihm die Anhimmelung der Telefonistinnen garantierte, wurden wir anderen üblicherweise in Ruhe gelassen. Das war einmal. Im heutigen massiven und aussichtslosen Doppelkrieg gegen Drogen und Terrorismus fangen Polizeibeamte jährlich zwei Millionen Telefongespräche ab. Und am berühmten »Arbeitsplatz«, den die schiere Notwendigkeit so vielen Amerikanern zugeteilt hat, »ist der tägliche Verstoß gegen die Bürgerrechte ... eine nationale Schande«, wie die American Civil Liberties Union 1996 in einem Bericht festhielt. Diesem Bericht zufolge stieg die Zahl der elektronisch überwachten Arbeiter und Angestellten zwischen 1990 und 1996 von 8 auf 30 Millionen im Jahr. Parallel dazu hören Arbeitgeber jährlich schätzungsweise 400 Millionen Telefonate ab - ungefähr 750 pro Minute. 1990 zwangen Großunternehmen 38 Prozent ihrer Belegschaft dazu, ihren Urin auf Drogen untersuchen zu lassen. 1996 wurden über 70 Prozent auf diese Weise behelligt. Den Rechtsweg zu beschreiten, war nicht gerade ratsam. Kaliforniens Oberster Gerichtshof hat die Arbeitgeber der öffentlichen Hand sogar in ihrem Recht bestärkt, nicht nur die Angestellten Drogenkontrollen zu unterziehen, die Düsenflugzeuge fliegen oder unsere Grenzen gegen panamaische Imperialisten schützen, sondern auch die, die nur die Böden wischen. Das Gericht hat außerdem entschieden, dass der Staat Stellenanwärter auf Drogen und Alkohol überprüfen könne. Diese Entscheidung wurde durch den Fall der kalifornischen Kommune Glendale herbeigeführt, die alle Angestellten mit anstehender Beförderung überprüfen wollte. Man verklagte die Kommune mit der Begründung, sie verstoße gegen den vierten Verfassungszusatz, der die Sicherheit »vor willkürlicher Durchsuchung, Verhaftung und Beschlagnahme« garantiere. Glendales Politik wurde von Kaliforniens Oberstem Gerichtshof 39
bestätigt, allerdings schrieb Richter Stanley Mosk in seinem Minderheitsvotum: »Drogenkontrollen stellen in erheblichem Maße eine zusätzliche Einschränkung des Grundrechts der Anwärter auf Unverletzlichkeit der Person dar ... und die Stadt hat den erforderlichen Nachweis nicht erbringen können, dass diese Einschränkung im Fall sämtlicher Stellenanwärter gerechtfertigt ist.« Im letzten Jahr hatte ich zwei Cary-Grant-artige Offenbarungen, beide um einiges bedrohlicher als damals in der guten alten Zeit relativer Freiheit vor dem Staat. Ein bekanntes Schauspielerehepaar besuchte mich im Sommer mit seinen zwei kleinen Kindern. Die beiden, vier und sechs Jahre alt, wurden geknipst, wie sie nackt im Meer herumtobten. Nach der Rückkehr nach Manhattan gab der Vater den Film zur Entwicklung in einem Fotogeschäft ab. Kurz darauf bekam er einen entsetzten Anruf des ihm glücklicherweise wohlgesonnenen Besitzers: »Wenn ich diese Negative abziehe, muss ich Sie anzeigen, und Sie können wegen Kinderpornografie fünf Jahre ins Gefängnis kommen.« Der Krieg gegen Kinderpornografie läuft auf Hochtouren, obwohl Wardell Pomeroy, Alfred Kinseys sexualwissenschaftlicher Kollege, mir vor langer Zeit versicherte, Pädophilie erreiche in der Statistik kaum nachweisbare Prozentwerte und liege ungefähr gleichauf mit Bauernburschen und ihren vierbeinigen Freunden. Amerikas Freiheit war schon immer daran zu erkennen, dass man anders als in Ländern unter der Knute des Code Napoleon nicht ständig einen Ausweis bei sich haben und neugierigen Beamten und penetranten Polizisten vorweisen musste. Der Terrorismus ist schuld daran, dass wir heute an Flughäfen angehalten werden und einen Ausweis vorzeigen müssen, der ein Verbrecherfoto enthalten muss (was, Allah sei Dank, kein Terrorist je zu fälschen wagen würde). Nach einem Interview mit Studs Terkel beklagte ich in Chicago mal, da ich keinen Führerschein hätte, musste ich in meinem eigenen Heimatland ständig mit einem Reisepass herumlaufen, als wäre ich ein Bürger der alten Sowjetunion. Terkel hatte dasselbe Problem. »Ich bin mal an einem Flughafen im Süden um einen Ausweis — mit Foto - gebeten worden, und ich meinte, ich hätte keinen Ausweis dabei, dafür aber die Lokalzeitung, und die hätte auf der Titelseite gerade ein großes Foto von mir gebracht. Das zeigte ich ihnen, bekam aber zu hören, das wäre kein Ausweis. Schließlich hatten sie die Nase voll und haben mich durchgewunken.« In letzter Zeit habe ich Statistiken über Terrorismus gewälzt (für gewöhnlich 40
schlagen hier die Verbrechen des Staates gegen Ausländer zu Buche - obwohl die Zahl der Übergriffe gegen amerikanische Bürger neuerdings zunimmt). Nur zweimal in zwölf Jahren sind amerikanische Charterflugzeuge von Luftpiraten zerstört worden; in beiden Fällen waren diese nicht in den Vereinigten Staaten an Bord gegangen. Aber um eine Wiederholung dieser beiden Verbrechen zu vermeiden, müssen Abermillionen von Reisenden Durchsuchungen, Beschlagnahmungen und Verspätungen über sich ergehen lassen. Die Kunst der Bürgerschikane steckt noch in den Kinderschuhen, aber immer neuere und teurere Geräte drängen auf den Markt - demnächst auf Ihrem Flughafen -, darunter die Traummaschine jedes verklemmten Schuljungen. Der von der Firma American Science and Engineering entwickelte Körperscanner »BodySearch« durchdringt Kleidungsstücke mit Röntgenstrahlen und enthüllt den nackten Körper, der dann zur lüsternen Analyse auf einen Bildschirm projiziert werden kann. Der stolze Hersteller prahlt, die Bilder seien so scharf, dass man selbst Bauchnabel erkennen könne, die dem Voyeur zublinzeln — sofern sie nicht mit Kokain vollgepackt und zugeklebt worden seien. Einem Bericht der ACLU zufolge hat das System eine »Joystick-betriebene Zoomfunktion«, mit der der Durchleuchter interessante Bildsegmente vergrößern kann. Das Opfer bleibt die ganze Zeit voll bekleidet, merkt AS&E stolz an. Bestellungen der Maschine an die Adresse von Reverend Pat Robertson würden in der Reihenfolge ihres Eingehens bearbeitet, und der stolze Neubesitzer eines »BodySearch« werde automatisch in die FBI-Datenbank sexueller Anomalien, Klasse B, aufgenommen. Im Februar 1997 forderte die »AI« Gore Commission die Anschaffung von 54 Hightech-Bombensuchgeräten namens CTX 5000, einem Gepäckscanner zum Spottpreis von einer Million Dollar zuzüglich 100 000 Dollar Wartungskosten pro Jahr. Dummerweise scannt der CTX 5000 pro Stunde nur 250 Gepäckstücke, das heißt, große Flughäfen brauchten rund tausend Stück davon, um Reisende vor den zwei mutmaßlichen Terroristen zu »beschützen«, die in den nächsten zwölf Jahren wie in den vergangenen zwölf Jahren zuschlagen werden - oder aber auch nicht. Warum will man Reisende stundenlangen Verspätungen aussetzen, von Gerätschaften im Wert von 54 Millionen Dollar ganz zu schweigen, wo das heutige Scan-System doch gut zu funktionieren scheint? Im Moment gibt es einigermaßen verwirrende Richtlinien für Flughafenangestellte, um auf den ersten Blick zu erkennen, ob jemand das »Profil« eines potenziellen Terroristen hat. Menschen mit Fes und dunklem Teint werden selbstverständlich auf der Stelle hopsgenommen. Für Terroristen, die 41
sich nicht an dieses »Profil« halten, haben die zuständigen Regierungsbehörden folgende Leitsätze zusammengestellt, die Missetäter schnell enttarnen sollten. Ein hinterhältiger Drogenkurier verlässt das Flugzeug häufig als Erster, außer er ist wirklich hinterhältig und steigt als Letzter aus. Flotte Meisterverbrecher entscheiden sich oft für eine Position in der Mitte. Allein reisende, ahnungslose junge Blondinen werden oft zum Schmuggeln von Bomben oder Drogen eingesetzt, die Doppelgänger von Omar Sharif ihnen in unheildräuenden Kasbahs untergejubelt haben. Kaum gehen sie im Land der Freiheit von Bord, werden große Drogenspürhunde auf sie losgelassen; leider verwechseln diese vierbeinigen Detektive Drogenkuriere oft mit Frauen, die ihre Periode haben: Wenn einem so viel Gutes wird beschert, steigt oft perlendes Gelächter auf an den Zollkontrollen. Höchst verdächtig die übermäßige Nervosität seitens eines Reisenden, aber auch hier gilt, dass der Meisterverbrecher oft eher durch übertriebene Nonchalance auffällt. Kurz, egal, welche Faustregel zur Anwendung kommt, ein Zollbeamter hat jedes erdenkliche Recht, jemanden ohne den geringsten Anhaltspunkt zu kriminalisieren, zu durchsuchen und sein Gepäck zu konfiszieren, und all das selbstverständlich ohne ordentliches Gerichtsverfahren. Drogen. Wenn es sie nicht gäbe, hätte unsere Regierung sie erfunden, um sie dann zu verbieten und einen Großteil der Bevölkerung den Gefahren von Festnahme, Inhaftierung, Eigentumsbeschlagnahmung und so ewig weiter auszusetzen. 1970 schrieb ich ausgerechnet in der New York Times, diesem unerfreulichen Ort: »Der größte Teil der Drogensucht in den Vereinigten Staaten wäre innerhalb kurzer Zeit aus der Welt zu schaffen. Man brauchte bloß alle Drogen zu legalisieren und zum Selbstkostenpreis zu verkaufen. Bei jeder Droge schreibt man dazu, welche - gute oder schlechte Wirkung sie auf den Konsumenten hat. Das verlangt natürlich gnadenlose Ehrlichkeit. Sagen Sie nicht, Marihuana sei suchtbildend oder gefährlich, wenn das, wie Millionen von Menschen wissen, nicht der Fall ist — anders als bei >Speed<, das äußerst unschön umbringt, oder Heroin, das suchtbildend und nicht mehr leicht aufzugeben sein kann. Neben Ermahnungen und Warnungen wäre es für unsere Bürger ganz lehrreich, sich darauf zu besinnen (oder zum erstenmal zu hören), dass die Vereinigten Staaten von Männern gegründet wurden, die glaubten, jeder Mensch habe das Recht, mit seinem Leben anzufangen, was er wolle, solange er seines Nachbars Streben nach Glück nicht in die Quere käme (dass seines Nachbars Traum vom Glück sich in der Verfolgung anderer erschöpft, 42
erschwert die Sache etwas).« Ich furchte, was ich vor 28 Jahren schrieb, ist heute so inakzeptabel wie damals, hinzugekommen ist allenfalls das Problem reizbarer Damen, die mir Sexismus vorwerfen, weil ich mich genau wie die sexistischen Gründerväter ausschließlich der männlichen Form befleißigt habe. Ich ging auch auf das Scheitern der Prohibition von Alkohol zwischen 1919 und 1933 ein. Und die von der Prohibition ausgelöste Verbrechenswelle ähnelte der von heute, denn »sowohl die Bundesbehörde für Drogenbekämpfung als auch die Mafia fordern strenge Gesetze gegen den Verkauf und den Konsum von Drogen, denn würden Drogen zum Selbstkostenpreis abgegeben, dann gäbe es bei dem Geschäft für sie nichts mehr zu holen«. Wird man hier je zu einer vernünftigen Entscheidung kommen, fragte ich? »Die Amerikaner sind den Vorstellungen von Sünde und ihrer Bestrafung ebenso treu ergeben wie dem Geldverdienen - und der Kampf gegen die Drogen ist in ähnlichem Maße zum Geschäft geworden wie ihr Konsum. Da die Verbindung von Sünde und Geld unwiderstehlich ist (besonders für Berufspolitiker), wird sich die Situation nur verschlimmern.« Wenn ich auch sonst nichts geleistet haben sollte, als Prophet war ich doch nicht ganz schlecht. Die Medien verteufeln unentwegt die Drogenkultur und geben verschiedenen anderen Ländern wie Kolumbien die Schuld, das eherne Gesetz von Angebot und Nachfrage zu befolgen, dem unsere Nation doch ewige Treue geschworen hat. Und wir haben unsere helle Freude an militärischen Metaphern. Zaren fuhren unsere Armeen in Kriege gegen Drogendealer und Drogensüchtige. Der ständige Ausnahmezustand ist so schlimm, dass wir uns Mätzchen wie den Schutz der Privatsphäre oder ordentliche Gerichtsverfahren nicht mehr leisten können. 1989 verlangte der ehemalige Drogenbaron und Talkshowclown William Bennett in »Drogen«fällen die nominelle wie faktische Abschaffung des Schutzes der Privatsphäre sowie (das ist nicht erfunden) die öffentliche Hinrichtung von Dealern. Ein Jahr darauf erklärte Ayatollah Bennett: »Ich wüsste nicht, was für die Befürworter der Legalisierung spräche. Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass Drogenkonsum falsch ist. Und das moralische Argument ist letztlich ausschlaggebend.« Gewiss, was dieser gemeingefährliche Komiker für moralisch hält, hatten James Madison, der Präsident, und George Mason, der Politiker und Autor der virginischen Bill of Rights, für gefährlichen Blödsinn gehalten, erst recht, da diese »Moral« ihr Geschenk an uns, die Bill of Rights, aushebeln würde. Aber Bennett steht in seinem Wahnsinn nicht 43
allein. Ein Berater des Präsidenten in Sachen Drogenmissbrauch erklärte 1984: »Man kann nicht die eine Droge zulassen und sagen, diese Droge sei in Ordnung. Irgendwo muss Schluss sein. Es gibt keine weichen Drogen.« Schon ist Tylenol-3 futsch, weil es Kodein enthält. Wer hätte gedacht, dass altbewährte Beruhigungsmittel an die Stelle der einzigen Nationalreligion treten könnten, die die Vereinigten Staaten je gekannt haben, den Antikommunismus? Am 10. Juni 1998 erhoben sich auf einer Innenseite der New York Times einige tapfere Ketzerstimmen. Unter der Überschrift BERÜHMTHEITEN KRITISIEREN IN OFFENEM BRIEF DEN KRIEG GEGEN DROGEN. Ein Milliardär namens »George Soros hat hunderte von Prominenten aus der ganzen Welt einen Brief unterschreiben lassen, nach dessen Aussage der weltweite Krieg gegen Drogen mehr Schaden anrichte als der Drogenmissbrauch«. Das von Soros finanzierte Lindesmith Center in New York hatte anscheinend in der Times inseriert und so für ein Heidengeld die Aufmerksamkeit der Redaktion auf sich gezogen. Zu den Unterzeichnern gehörten ein ehemaliger Außenminister und eine Reihe von Ex-Senatoren, aber obwohl die Anzeige anlässlich einer Sondersitzung der Vereinten Nationen über satanische Substanzen erschien, wurde ihr von einem General namens Barry McCaffrey keine Bedeutung beigemessen: McCaffrey war kriegerischer Direktor bei Präsident Clinton und erkannte in dem Brief »eine Sicht der Fünfziger«, was immer das heißen mag. In den fünfziger Jahren wurden schließlich weniger Drogen konsumiert als heute nach vierzig Jahren unerbittlicher Kriegsführung. Im Kommentar der Times wurden die Unterzeichner merkwürdigerweise als ein verlorenes Häufchen von Exzentrikern dargestellt, während der englische Guardian berichtete, unter den »internationalen Unterzeichnern befinden sich der ehemalige Premierminister der Niederlande ... die ehemaligen Präsidenten von Bolivien und Kolumbien ... drei [US-amerikanische] Bundesrichter ... ranghohe Geistliche, pensionierte Drogenfahnder ...« Aber die Times weiß eben am besten, was sich für den Druck eignet. Es ist gelinde gesagt ironisch, dass eine Regierung, die zu spontaner Tyrannei neigt und so abgebrüht ist wie unsere, im Lauf der Jahre auf die Idee gekommen ist, sich um unsere Gesundheit zu kümmern. Endlos werden wieder und wieder kommerzielle Medikamente geprüft, die in anderen Ländern längst frei erhältlich sind, aber Menschen, die »harte« Drogen nehmen, werden mit der gängelnden Begründung festgenommen, diese seien gesundheitsschädlich. Man 44
ist gerührt ob so viel Anteilnahme - gerührt und skeptisch. Schließlich sind es diese mitfühlenden Wächter unseres Wohlergehens, die uns seit Jahren standhaft verweigern, was in jedem anderen Industrieland schlichtweg selbstverständlich ist, nämlich eine allgemeine Krankenversicherung. Als Mr. und Mrs. Clinton nach Washington kamen, grün, so grasgrün wie die Hügel von Arkansas, rosig und kerngesund dank schnell fließender WhitewaterBäche, da wollten sie den Amerikanern eine medizinische Grundversorgung bescheren als kleines Zeichen der Anerkennung für all die Steuergelder, die in die »Verteidigung« gegen einen Feind geflossen waren, der fieserweise zusammengeklappt war, als wir gerade nicht hingesehen hatten. Auf die erste Andeutung hin, es wäre Zeit, der zivilisierten Welt beizutreten, bildete sich eine riesige Verschwörung, um jeden Ansatz eines staatlichen Gesundheitsdienstes im Keim zu ersticken. Das war kaum nur das »rechte Lager«, wie Mrs. Clinton behauptete. Eher schon wollten Krankenversicherungen und Pharmariesen im Verbund mit Teilen des Amerikanischen Ärzteverbandes für immer und ewig jeden Gedanken daran ausrotten, wir wären ein Land, das seinen Bürgern irgendeine medizinische Versorgung böte. Ein Problem einer so streng kontrollierten Gesellschaft wie der unseren ist, dass wir keine Ahnung haben, was im Kopf und im Herzen unserer Mitbürger, von denen wir niemals etwas wissen oder sehen werden, eigentlich vorgeht. Das klingt paradox, wo die heutige Politik doch im Minutentakt Umfragen über alles und jeden in Auftrag gibt, aber Politiker und Meinungsforscher wissen natürlich nur zu gut, dass die Art der Fragestellung das Ergebnis bestimmt. Außerdem sind riesige Gebiete etwa im ländlichen Amerika ein unerschlossenes Ultima Thule für die Manager der Konsortien, die die Medien kontrollieren und Milliarden von Dollars für Meinungsumfragen ausgeben, um ihre Interessenvertreter in einflussreiche Positionen zu bringen. Ruby Ridge. Waco. Oklahoma City. Drei Warnsignale aus dem Herzen des Landes, von dem wir Städter meist wenig oder gar nichts wissen. Ursache des Zorns der Landmenschen? 1996 kam es zu 1471 Fusionen amerikanischer Firmen mit dem Ziel der »Konsolidierung«- Das war die höchste Zahl von Fusionen in der amerikanischen Geschichte und die Spitze eines Trends in der Landwirtschaft, der Ende der siebziger Jahre eingesetzt hatte. Die Opfer von Ruby Ridge und Waco sowie Timothy McVeigh, der in Oklahoma City in ihrem Namen zum Massenmörder wurde, teilten die Überzeugung, die Regierung der Vereinigten Staaten sei ihr erbitterter Feind, und ihre einzige Rettungsmöglichkeit 45
bestehe darin, sich in der Wildnis zu verstecken, einer messianischen Sekte beizutreten oder aber als Rache für die kaltblütige Ermordung zweier Mitglieder der Familie Weaver in Ruby Ridge den Gebäudekomplex in die Luft zu jagen, in dem das für die Morde verantwortliche Bundesamt seinen Sitz hatte. Eins muss man den Medien lassen, sie haben uns ungewöhnlich großzügig über die religiösen und politischen Anschauungen der ländlichen Dissidenten informiert. Es gibt demnach die neonazistischen »Aryan Nations«. Es gibt christliche Fundamentalisten namens »Christian Identity«, auch bekannt als »British Israelism«. Dieser ganze biblisch inspirierte Firlefanz hat bei denen Wurzeln geschlagen, deren Farmland in der letzten Generation enteignet worden ist. Man muss wohl kaum hinzufügen, dass christliche Fernsehdemagogen die Feuer sektiererischen Rassenhasses noch schüren und Kirchengelder illegal in politische Kampagnen pumpen. Prompt erblühen Verschwörungstheorien in der Wildnis wie nachtblütige Dementia praecox, und die Menschen in ihrem Bann machen sich unweigerlich zum Gespött der ... der wirklichen Verschwörer. Joel Dyer hat in Harvest ofRage: Why Oklahoma City is only the Beginning einige handfeste Verschwörungen aufgedeckt, aber die Verschwörer haben Routine darin, jede Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Auf Drogen? Ja, wussten Sie denn nicht, dass Queen Elizabeth II. die oberste Direktorin des weltweiten Drogenhandels ist? (Wenn die arme alte Lilibet in diesen republikanischen Zeiten bloß so viel Weitsicht gehabt hätte!) Es heißt, die Trilateral Commission sei eine kommunistische Weltverschwörung unter Vorsitz der Rockefellers. An dieser Denkfabrik des Neoliberalismus lässt sich tatsächlich en miniature demonstrieren, wie die Rockefellers karrieresüchtige Politiker und Akademiker zusammenbringen, um in und außerhalb der Regierung ihre Geschäftsinteressen zu vertreten. Wer immer Lyndon LaRouche zu der Behauptung brachte, diese Cosa Nostra der Rockefellers diene eigentlich den Kommunisten als Fassade, war ausgesprochen inspiriert. Dyer hat jedoch eine echte Verschwörung ausfindig gemacht, die jeden Amerikaner tangiert. Eine Hand voll Agrokonglomerate arbeitet gegenwärtig daran, die wenigen verbliebenen Kleinfarmer der USA von ihrem Grund und Boden zu vertreiben, indem sie ihnen systematisch weniger für ihre Produkte zahlen, als deren Anbau kostet. Damit zwingen sie sie, Hypotheken und Darlehen bei den Banken der Konglomerate aufzunehmen und Pfändungen sowie Zwangsversteigerungen ihres Landes an konglomeratkontrollierte 46
Agrarbetriebe hinzunehmen. Nun fragt sich, ob das wirklich eine Verschwörung oder nur die darwinistische Funktionsweise einer freien Marktwirtschaft ist. Ausnahmsweise liegen jedoch eindeutige Beweise in Gestalt eines Plans vor, wie die Nation die Kleinfarmer am besten loswerden könne. Dyer schreibt: »1962 saßen im Komitee für wirtschaftliche Entwicklung rund 75 der mächtigsten Firmenbosse des Landes. Sie vertraten nicht nur die Lebensmittelindustrie, sondern auch Mineralölkonzerne, Versicherungen, Investmentgesellschaften und Einzelhandelsketten. Fast alle Gruppen, die von der Konsolidierung profitieren konnten, waren in diesem Komitee vertreten. Ihr Bericht [An Adaptive Programme for Agriculture] skizzierte einen Plan, um Farmer und Farmen abzuschaffen. Er war detailliert und gut durchdacht.« Parallel dazu bekamen »Kongressabgeordnete von Industriegiganten wie Pillsbury, Swift, General Foods und Campbell Soup schon 1964 zu hören, das größte Problem der Landwirtschaft stellten die überflüssigen Farmer dar«. Als guten Psychologen war den Vorstandsvorsitzenden aufgefallen, dass Farmerkinder mit Collegeabschlüssen selten auf den Familienhof zurückkehrten. Oder wie ein berühmter Ökonom mal zu einem berühmten Senator sagte, der sich nach einem Nachtflug aus New York nach London über den Jetlag beklagte: »Allemal besser als Farmarbeit.« Das Komitee brachte den Staat dazu, Farmerkinder aufs College zu schicken. Wie erwartet, kehrten die meisten nicht zurück. Anschließend konnten Farmer mit staatlicher Unterstützung in anderen Berufen Fuß fassen, und ihre Anbaufläche wurde in immer größeren Kombinaten im Besitz von immer weniger Unternehmen zusammengefasst. So organisierte sich eine Verschwörung, die Jeffersons Traum einer Nation, deren Rückgrat die unabhängige Farmerfamilie bildete, durch eine Reihe von Agrarmonopolisten ersetzte. In Dyers Worten: »Nur fünf bis acht multinationale Konzerne sind im Grunde die einzigen Käufer und Distribuenten der Getreidevorräte nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern der ganzen Welt geworden.« 1982 »kontrollierten diese Konzerne 96 Prozent der Weizenexporte der USA, 95 Prozent ihrer Maisexporte« und so weiter, einmal quer durch die belebten Gänge der schicken, gemütlichen oder anheimelnden Supermarktketten von Gristede, Ralph und Piggly Wiggly. Hat sich die Konsolidierung für die Kunden gelohnt? Im Großen und Ganzen nein. Monopole kennen keine Sonderangebote, und die Produktqualität kann ihnen egal sein, denn wir haben ja keine andere Wahl. Dass Gewerkschaften für sie ein rotes Tuch und die Arbeitsbedingungen einst unabhängiger Farmer und jetzt schlecht bezahlter Angestellter ihnen herzlich egal sind, versteht sich von 47
selber. Wer in den Vereinigten Staaten der Vorkriegszeit aufgewachsen ist, weiß noch, wie ein echtes Schinkensandwich schmeckt. Seit der Konsolidierung enthält Schinken so viele Konservierungsstoffe, dass er nach nichts mehr schmeckt und sich anfühlt wie rosiges Plastik. Warum? In den großen Schweinemästereien steht ein Schwein sein Leben lang auf demselben Fleck. Da es nirgends herumwühlen - oder gar frei herumlaufen - kann, entwickelt es keine Abwehrkraft gegen Krankheitserreger. Das heißt, der Häftling wird bis zu seinem Tode und der Verwandlung in ungenießbaren Schinken mit jeder Menge Impfstoffen voll gepumpt. In der Praxis sind Shermans Kartellgesetze längst außer Kraft. Drei Konsortien kontrollieren heute 80 Prozent des gesamten Rindfleischmarkts. Wie kann das sein? Warum können sich enteignete Farmer nicht an Vertreter im Kongress wenden? Warum haben Konsumenten bei Produkten, deren Qualität schlechter ist als früher, mit einer undurchschaubaren Preispolitik zu kämpfen? Dyers Antwort ist so einfach wie schlagend. Die Manager der großen Firmen, die damals das »Reformprogramm« der Landwirtschaft in die Wege leiteten, haben Lobbyisten. Über diese besitzen, schmieren oder nötigen sie ganz einfach Kongresse und Präsidenten, und in den Gerichten präsidieren ihre ehemaligen Lobbyisten - ein nie versiegender Nachschub an Schreibtischtätern, denn zwei Drittel aller Juristen auf unserem kleinen Planeten sind Amerikaner. Mit einem Wort, das Volk wird von den Volksvertretern nicht vertreten, wohl aber die Wirtschaft, und zwar nicht zu knapp. Was kann man da machen? Dyers Ansicht nach gibt es nur eine Möglichkeit: eine umfassende Reform der Wahlkampffinanzierung. Aber wer vom gegenwärtigen System profitiert, wird nie und nimmer Gesetze verabschieden, die seine Macht einschränken. Daher verfallen zwischen der kanadischen und der mexikanischen Grenze auch weiterhin Städte und Dörfer, und die enteignete Landbevölkerung verzweifelt oder tobt. Daher der neuerdings erhobene apokalyptische Ton in einer Reihe nichtreligiöser Analysen und journalistischer Arbeiten, die mit fasziniertem Entsetzen registrieren, wie sich eine Gruppe nach der anderen von den Idealen der Vereinigten Staaten verabschiedet. Da die Encyclopedia Britannica sich um Britannika und nicht Amerika kümmert, ist es kaum verwunderlich, dass ihr Eintrag zu »Bill of Rights, United States« nur eine Spalte umfasst und damit genauso lang ist wie sein Nachbar »Bill of Sale« (Kaufvertrag), zweifeilos ein Dokument, das die kompilierenden Insulaner stärker beschäftigt. Immerhin erfahren wir von den Wurzeln unserer 48
Grundrechte in der Magna Charta, und dass die Bill of Rights, die aus den zehn 1791 verabschiedeten Verfassungszusätzen besteht, im Wesentlichen dem späteren Präsidenten James Madison zu verdanken ist, der sich seinerseits auf die Virginia Declaration of Rights von 1776 bezog. Zunächst galten diese zehn Zusatzartikel nur für amerikanische Bürger als Bürger der ganzen USA, nicht von Einzelstaaten wie Virginia oder New York, und »die Machtbefugnisse, die von der Verfassung weder den Vereinigten Staaten übertragen noch den Einzelstaaten entzogen werden, bleiben den Einzelstaaten oder dem Volke vorbehalten«, wie es in Zusatzartikel X heißt, dem letzten der ursprünglichen Zusätze. Erst der 1868 in Kraft getretene Zusatzartikel XIV verbot den Einzelstaaten das »Erlassen oder Durchführen« von Gesetzen im Widerspruch zur ursprünglichen Bill of Rights. Alle Bürger der Vereinigten Staaten genießen seither in ihren Heimatstaaten das Recht auf »freie Religionsausübung ... Redeund Pressefreiheit [sowie] das Recht... sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Missständen zu ersuchen«. Den zweiten Zusatzartikel über »das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen«, muss Charlton Heston zusammen mit Handfeuerwaffen und kinderfreundlichen Uzis vom Berge DeMille herabgebracht haben. Dieses Recht bezog sich ursprünglich auf Bürgerwehren und galt der Abwehr stehender Bundes- oder Staatsheere und all des Schadens, den eine bis an die Zähne bewaffnete Obrigkeit unter einer Bevölkerung anrichten kann, die nicht im Schatten irgendwelcher Waffenarsenale, sondern in aller Abgeschiedenheit auf einem ländlichen Ruby Ridge leben will. Im Moment wird gerade der vierte Zusatzartikel mit der Begründung »militärischer Erfordernisse« ausgehöhlt - ein verfassungsrechtlicher Jargon, mit dessen Hilfe Lincoln den Bürgerkrieg vorbereitete, den Anspruch von Verhafteten auf Ausstellung richterlicher Vorführungsbefehle abschaffte, Zeitungen verbot und die Sklaven der Südstaaten befreite. Zusatzartikel IV garantierte: »Das Recht des Volkes auf Sicherheit der Person und der Wohnung, der Urkunden und des Eigentums, vor willkürlicher Durchsuchung, Verhaftung und Beschlagnahmung darf nicht verletzt werden, und Haussuchungsund Haftbefehle dürfen nur bei Vorliegen eines eidlich oder eidesstattlich erhärteten Rechtsgrundes ausgestellt werden und müssen die zu durchsuchende Ortlichkeit und die in Gewahrsam zu nehmenden Personen oder Gegenstände genau bezeichnen.« Zusatzartikel IV ist die wichtigste Verteidigungslinie der Bevölkerung gegen einen totalitären Staat; eine Verteidigungslinie, die 49
inzwischen täglich in Gesetzeswort und Tat durchbrochen wird. James Bovard hat in seinem 1994 erschienenen Buch Lost Rights stupende Materialmengen darüber zusammengetragen, was sich unsere Gesetzeshüter so alles einfallen lassen in ihrem aussichtslosen Kampf gegen Drogen und Terrorismus und welchen täglichen Kampf sie in Wirklichkeit gegen das amerikanische Volk führen, in seinen Häusern und Autos, in Bussen und Flugzeugen, kurz, überall, wo sie seiner auf Biegen oder Brechen oder Stechen habhaft werden können. »Militärische Erfordernisse« sind als Konzept etwas zu hoch gegriffen für das Vorgehen heutiger Bundes- und Staatspolizisten, in Nacht-und-Nebel-Aktionen Hausfriedensbruch zu begehen, in der Regel ohne Vorwarnung oder Durchsuchungsbefehl, und die unglückseligen Bewohner zu terrorisieren. Gesetzwidrige Übergriffe und Beschlagnahmungen werden oft mit dem möglichen Vorhandensein von Wasserklosetts in der betreffenden Wohnung begründet. (Wenn die Anti-Drogen-Krieger die Drogenschurken nicht Knall auf Fall überraschen, könnten diese die Beweismittel wegspülen.) Das ist Menschen, die uns sündenfrei und gehorsam halten wollen, natürlich unzumutbar. Ergo wird im erhabenen Namen von Sir Thomas Kackstuhls primitiver Erfindung Zusatzartikel IV abgeschafft und der Krieg erklärt. 1992. Bridgeport, Connecticut. The Hartfort Courant berichtete, taktische Einheiten des örtlichen Rauschgiftdezernats würden bei ihren »Durchsuchungen« routinemäßig Wohnungen und Gewerbeflächen verwüsten. Zivilbeamte hätten das Lebensmittelgeschäft und das Restaurant eines Jamaikaners mit dem fröhlichen Ruf »Hände hoch, Nigger. Keine Bewegung« gestürmt. Regale wurden leer gefegt, Waren vernichtet. »Sie haben sich nicht einmal als Polizei ausgewiesen«, merkte der Courant an. Obwohl sich außer einer vorschriftsmäßig registrierten Waffe nichts fand, wurde der Besitzer festgenommen, des »Widerstands gegen die Ergreifung« bezichtigt und aus dem Verkehr gezogen. Ein Richter wies die Klage kurz darauf ab. Bovard berichtet: »1991 brachen schwarz gekleidete und maskierte Polizisten in Garland, Texas, in einen Wohnwagen ein, fuchtelten mit ihren Waffen herum und traten die Tür zum Schlafzimmer ein, wo Kenneth Bauich neben seinem siebzehn Monate alten Sohn geschlafen hatte. Ein Polizist behauptete später, Bauich sei eine tödliche Bedrohung gewesen, da er einen Aschenbecher in der Hand hatte, und er habe ihn mit einem finalen Rettungsschuss in den Rücken getötet. (Ein polizeiinternes Verfahren konnte dem Beamten später keine 50
Verletzung seiner Dienstpflichten nachweisen.) Im März 1992 brachte ein polizeiliches Sondereinsatzkommando Robin Pratt um, eine junge Mutter in Everett, Washington, in einem Handstreich, der der Verhaftung ihres Mannes galt. (Ihr Mann wurde später freigelassen, nachdem sich die Behauptungen, auf denen der Haftbefehl beruhte, als falsch erwiesen hatten.)« Diese auch Starr-Justiz genannte KGB-Taktik - jemanden wegen eines Verbrechens zu schnappen, ihn aber laufen zu lassen, wenn er einen anderen eines größeren Verbrechens bezichtigt - führt oft zu falschen Beschuldigungen, denen die Polizei vielleicht nicht ganz so mörderisch nachgehen sollte. The Seattle Times beschreibt Robin Pratts letzte Minuten. Sie war mit ihrer sechsjährigen Tochter und fünfjährigen Nichte zusammen, als die Polizei zuschlug. Während der tapfere SEK-Mann namens Aston mit vorgehaltener Waffe auf sie zuging, schrie der andere Polizist: >»Runter!<, und sie kniete sich hin. Sie sah zu Aston hoch und sagte: >Bitte tun Sie meinen Kinder nichts ...< Aston schoss und traf sie in den Hals. Laut John Muenster, dem Anwalt der Familie Pratt, lebte sie noch einige Minuten, konnte aber nicht mehr sprechen, weil die Kugel ihren Kehlkopf durchschlagen hatte. Sie wurde mit dem Gesicht auf den Boden gepresst und bekam Handschellen angelegt.« Aston hatte bestimmt Angst vor einer wundersamen Auferstehung und Rache. Es ist ein offenes Geheimnis, dass amerikanische Polizisten geltendes Recht mit Füßen treten, wenn sie sich mit ihresgleichen austoben, und wie Ihnen jeder unvoreingenommene Strafrichter bestätigen kann, ist vor Gericht oft Meineid ihre Mundart. In letzter Zeit ist die Infernal Revenue Service (Oberste Finanzverwaltung) in ein schiefes Licht geraten, weil sie nicht nur gegen den vierten, sondern auch den fünften Zusatzartikel verstößt. Dieser fordert ein Großes Geschworenengericht bei der Strafverfolgung von Kapitalverbrechen. Des weiteren sieht er vor: »Niemand darf in einem Strafverfahren zur Aussage gegen sich selber gezwungen noch des Lebens, der Freiheit oder des Eigentums ohne vorheriges ordentliches Gerichtsverfahren nach Recht und Gesetz beraubt werden. Privateigentum darf nicht ohne angemessene Entschädigung für öffentliche Zwecke eingezogen werden.« Im Lauf der Jahre hat die im Verborgenen wirkende IRS jedoch Privateigentum in Hülle und Fülle eingezogen, ohne dem nächsten Großen Geschworenengericht auch nur eine Postkarte zu schicken, und in ihrer unstillbaren Beutegier gibt es nicht einmal die Vorstellung eines 51
ordentlichen Gerichtsverfahrens. Bovard schreibt: »Seit 1980 ist die Zahl von Steuereintreibungen durch die IRS - Pfändung von Bankkonten und Gehaltszahlungen - um das Vierfache angestiegen und lag 1992 bei 3253000. Das General Accounting Office (Oberster Bundesrechnungshof) schätzt, dass die IRS 1990 über 50000 fehlerhafte oder ungerechtfertigte Pfändungen gegen Bürger und Firmen verfügt hat. Nach Schätzungen des GAO sind bis zu 6 Prozent der IRS-Firmenpfändungen fehlerhaft ... Außerdem lässt die IRS jedes Jahr fast anderthalb Millionen Pfandrechte eintragen, ein Ansteigen von über 200 Prozent seit 1980. Die Zeitschrift Money führte 1990 eine Untersuchung an 156 Steuerzahlern durch, auf deren Grundbesitz das Pfandrecht eingetragen worden war, und stellte fest, dass 35 Prozent von ihnen die vorgeschriebene Fristsetzung von dreißig Tagen, nach deren Verstreichen die IRS das Pfandrecht eintragen lassen werde, nie erhalten hatten. Einige erfuhren von den eingetragenen Pfandrechten erst durch den Kontakt mit der Zeitschrift.« Der gegenwärtige Oberste Gerichtshof bekundet wenig Interesse daran, eine so mächtige und klandestine Bundesbehörde an die Kandare zu nehmen, auch wenn diese routinemäßig gegen Zusatzartikel IV, V und XIV verstößt. Nun ist dieser Gerichtshof natürlich auch seinem Wesen nach autoritär, delektiert sich am staatlichen Gewaltmonopol, und seine agileren Mitglieder zeigen sehr viel Fantasie bei der Abhaltung von Seancen, um endlich präzise festzustellen, was den Gründervätern vorschwebte. Dazu muss man natürlich standhaft darüber hinwegsehen, dass Mason, Madison und Co. solche Absoluta ausbuchstabiert hatten wie, niemand darf sich das Eigentum eines anderen schnappen, ohne ihn zunächst vor einem Großen Geschworenengericht eines Verbrechens überführt zu haben. In diesen Dingen ist die Intention des geheiligten Originals dermaßen klar, dass sich der Gerichtshof lieber sonstwo nach Amüsement umschaut. Im Kongress lassen sich dazu gelegentlich einsame Rufer in der Wüste vernehmen. 1993 fand Senator David Pryor, es wäre doch ganz nett, wenn die IRS Kreditschutzvereine benachrichtigen würde, sobald eindeutig erwiesen sei, dass die Behörde auf das Grundeigentum eines Steuerzahlers fälschlich ein Pfandrecht habe eintragen lassen, was immerhin seine künftige Kreditwürdigkeit zerstöre. Die IRS fing an zu greinen. Das Umsetzen einer so weit reichenden Forderung wäre viel zu viel Arbeit für seine völlig überlasteten Beamten. Das US-amerikanische Steuerrecht umfasst mit allen Einzelfallbestimmungen rund 9000 Seiten. Da können selbst Steuerexperten Mist bauen, und es ist nur zu gut möglich, dass ein Inspektor Javert von der IRS die unterm Strich 52
aufgeführte Steuerschuld von Familie X beanstandet. Letzten Endes setzt sich hier jedoch nicht eine Behörde ins Unrecht, kriminell ist vielmehr ein System der Besteuerung, das Schlüsselfiguren im Kongress geschaffen haben, um ihren Freunden und finanziellen Wohltätern die Steuerhinterziehung zu erleichtern. Die IRS selber hat gewiss allen Grund, sich über ihre nominellen Herren im Kongress zu beklagen. Robert LeBaube, Leiter der Steuerberatung der IRS, sprach das 1989 offen aus: »Seit 1976 hat es 138 Gesetzesnovellen zur Modifizierung des Nationalen Steuerrechts gegeben. Seit der Steuerreform 1986 sind 13 Novellen hinzugekommen, und allein 1988 waren es schon wieder sieben.« Wie Bovard erwähnt, aber nicht erklärt: »Das Steuerrecht ist für Regierungsbeamte schlicht und einfach die jüngste Möglichkeit zur schöpferischen Interpretation des Gesetzesdschungels, den die Legislative im Kongress hinterlassen hat. Die Beamten der IRS brauchen fünf, sieben oder noch mehr Jahre, um die Verordnungen auszuarbeiten, die ein neues Steuergesetz in die Praxis umsetzen - im Allgemeinen ändert der Kongress das Gesetz jedoch wieder, bevor die neuen Verordnungen rechtskräftig geworden sind. Das gesamte Steuerrecht ist praktisch ein Provisorium — entweder muss es noch an die letzte ratifizierte Steuerreform angepasst werden, oder Änderungen sind für die nächste Steuerreform bereits angekündigt.« Was soll dieses ganze Hin und Her eigentlich? Nun, die großen Unternehmen schicken ihre Justitiare in den Kongress, damit zusätzliche Gesetze erlassen werden, die die jeweiligen Unternehmensprofite ungebührlicher Besteuerung entziehen. Das nimmt die Gestalt von immer komplexeren und undurchschaubareren Steuergesetzen an, die zwangsläufig provisorisch bleiben, denn jedes Mal ist garantiert eine neue Firma dabei, deren Steuerbefreiung noch ein Sondergesetz braucht, das dann im Frühling am Tag des Baumes an die anderen drangeklatscht wird. Ein Senator, der Firmen Steuerbefreiungen in Millionenhöhe beschert, muss wohl kaum viel Zeit am Telefon verbringen, um Spenden zu sammeln, wenn ihm - oder ihr die Wiederwahl ins Haus steht. Außer - man wird ja noch träumen dürfen - die Wahlkampfkosten werden um neunzig Prozent gesenkt, weil kein Wahlkampf länger als acht Wochen dauern darf. Solange nicht das Bundesfernsehen für Bundeskandidaten und das Regionalfernsehen für Regionalkandidaten kostenlos ist (wie in zivilisierten Ländern üblich), wird es keine Steuerreform geben. Und bis dahin heften sich die Maulwürfe der IRS, denen die grandiose unberührbare Korruptheit ihrer Herren und Meister im Kongress sehr wohl bekannt ist, hilflosen Bürgern an die Fersen und demoralisieren den Staat. 53
Es ist ein hübscher Zufall, dass der Begriff »Terrorist« dem Oxford English Dictionary zufolge aus der Zeit der Französischen Revolution stammt und ursprünglich »einen Anhänger oder Parteigänger der Jakobiner« bezeichnete, »der Partisanentechniken und Blutvergießen favorisierte und praktizierte, um die Grundsätze von Demokratie und Gleichheit zu verbreiten«. Obwohl unsere Machthaber das Wort auf gewalttätige Feinde der Vereinigten Staaten umgemünzt haben, finden sich die meisten faktischen Terroristen von heute in unseren eigenen Behörden, ob nun auf Bundes-, Staatsoder Gemeindeebene. Die Bundesbehörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen ATF, die Bundesbehörde für Drogenbekämpfung, FBI, IRS und andere sind allesamt Jakobiner im Krieg gegen Leben, Freiheit und Eigentum unserer Bürger. Die Ermordung Unschuldiger durch das FBI in Waco war eine jakobinische Operation par excellence. Ein leicht abgedrehter Guru namens David Koresh hatte einige hundert Anhänger - Männer, Frauen und Kinder - um sich geschart und eine Kommune gegründet. Koresh predigte das bevorstehende Ende der Welt. ATF und FBI erkoren ihn unabhängig voneinander zum idealen Feind. Man warf ihm zahllose unbewiesene Verbrechen vor, darunter auch Pädophilie, den Favoriten der neunziger Jahre, und gewährte ihm selbstverständlich kein ordentliches Gerichtsverfahren, um seine Schuld oder Unschuld zu ermitteln. David Kopel und Paul H. Blackman haben vor kurzer Zeit die beste und ausführlichste Untersuchung des gegenwärtigen Krieges der USA gegen ihre unglücklichen Untertanen vorgelegt: No More Wacos: What‘s Wrong with Federal Law Enforcement and How to Fix lt. Sie beschreiben erstens die Schikanen, denen David Koresh und seine religiöse Gruppierung der Branch Davidians ausgesetzt waren, die sich in ihrer Kommune um Gottes Angelegenheiten kümmerten; zweitens seine Verteufelung in den Medien; drittens den Angriff am 28. Februar 1993: 76 Beamte attackierten den Gebäudekomplex der Kommune, wo sich 127 Männer, Frauen und Kinder aufhielten. Vier Beamte des ATF und sechs Branch Davidians starben. Koresh war illegaler Waffenbesitz vorgeworfen worden, obwohl er die Polizisten eingeladen hatte, sich in der Kommune seine Waffen und ihre Registriernummern anzusehen. Unter Berufung auf das Gesetz für die Freiheit der Information haben Kopel und Blackman entdeckt, dass sich ATF-Beamte, lange bevor sich die Belagerung und der »dynamische Zugriff« (Militärjargon für uneingeschränkten Waffengebrauch und Mord) abzeichneten, insgeheim an Army-Einheiten zur Terrorismusbekämpfung gewendet hatten, obwohl das Landsturmgesetz von 1878 den Einsatz von Bundestruppen zur 54
zivilen Strafverfolgung untersagt. Wie so viele andere Gesetze der USA kann auch dieses annulliert werden, wenn es um die Drogenhatz geht und die Army von der Bundesbehörde für Drogenbekämpfung gebeten wird, wider die Sünde zu streiten. Das ATF bezichtigte Koresh insgeheim, mit Methamphetaminen zu dealen, die er über die nahe, 500 Kilometer weiter südlich gelegene mexikanische Grenze ins Land schmuggelte. SOS! Die Army muss her. Sie kam auch, obwohl die Anklagepunkte gegen den Drogenhasser Koresh falsch waren. Die Zerstörung der Branch Davidians war keine Angelegenheit des Zivilrechts mehr, wo angeblich die Verfassung greift. Sie wurde vielmehr zu einer Angelegenheit dringender militärischer Erfordernisse: daher der Einsatz von CS-Gas (dessen völkerrechtliche Ächtung die USA kurz zuvor mit unterzeichnet hatten) am 19. April 1993, gefolgt von Panzern, die Breschen in die Gebäude schlugen und 27 Kinder in Lebensgefahr brachten, und schließlich eine klasse Feuersbrunst, die die Kommune zerstörte und dabei auch den nach wie vor weder angeklagten noch vor Gericht gebrachten David Koresh beseitigte. Justizministerin Janet Reno übernahm die Verantwortung und die »Schuld« und verglich den Präsidenten und sich mit Generälen im Zweiten Weltkrieg, die auch nicht immerzu den Überblick behalten konnten ... eine von diesen Aussagen, die jeder Weltkriegsveteran als Persilschein durchschaut. Ms. Reno präsidierte faktisch dem größten Massaker an Amerikanern durch amerikanische Bundesbeamte seit dem Feuerwerk am Wounded Knee im Jahre 1890. In Waco starben 82 Branch Davidians, darunter 30 Frauen und 25 Kinder. Ob unsere Jakobiner jemals wie die französischen unterliegen werden? Schön war‘s. Die vorsätzliche Abschaffung von Elementen der Bill of Rights (in der Rechtstheorie ebenso wie überall in der Praxis, wo Polizisten zu randalieren anfangen und Gesetze und Genicke brechen) findet sich in aberwitzigen Entscheidungen niederer Gerichte wieder, über deren Abweichen von der Bill of Rights der Oberste Gerichtshof hinwegsieht. Es ist nur zu bekannt, dass die Bundesbehörde für Drogenbekämpfung und die IRS sich gewohnheitsmäßig an Privateigentum vergreifen, ohne dass der ohne eigenes Verschulden vom Staat Bestohlene später je auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, auf Wiedergutmachung oder Entschädigung zählen könnte. Gegenwärtig sieht die Rechtspraxis auf der Ebene des Bundes wie einiger Einzelstaaten laut Kopel und Blackman folgendermaßen aus: Wenn ein Polizeibeamter erst — ob nun mit oder ohne richterliche Genehmigung - den Auftrag bekommen hat, in einer potenziellen Straftat zu ermitteln, kann er so viel Eigentum des angeblichen Täters konfiszieren und einbehalten, wie er für angemessen hält. Obwohl die 55
Einziehung des Eigentums de jure zur Voraussetzung hat, dass es Bestandteil einer Straftat war, muss der Eigentümer de facto nicht schuldig gesprochen worden sein. Es spielt auch keine Rolle, ob er von der Schuld an der Tat, die zur Beschlagnahmung führte, freigesprochen oder überhaupt nicht angeklagt wird. Offensichtlich präsidierte Richter Kafka 1987 (im Fall Vereinigte Staaten vs. Sandini), als diese Wahnsinnsformel für polizeilichen Diebstahl Gesetz wurde: »Die Unschuld des Eigentümers ist irrelevant«, entschied das Gericht. »Es genügt, dass das Eigentum Teil eines Vergehens ist, das die Beschlagnahmung nach sich zieht.« Wenn man zwar kein Verbrechen begangen hat, aber eines Tages eines begehen könnte, sieht man sein Eigentum also nie wieder? Schließlich heißt es in Vereinigte Staaten vs. Sandini unmissverständlich: »Die Beweislast liegt bei der Partei, die das Eigentum beansprucht.« Eine solche Situation ist besonders aufregend für die Wauwaubrigade der Polizei, denn dem ehemaligen Justizminister Richard Thornburgh zufolge tragen über 90 Prozent des gesamten amerikanischen Geldes Drogenspuren; das heißt, wenn jemand, sagen wir, tausend Dollar in bar dabeihat, wird er mit »Drogengeld« ertappt, das konfisziert und ins Labor gebracht werden muss und irgendwie nie zu seinem Besitzer zurückkehrt, wenn der schlaue Polizist seinen Sandini kennt. Landauf, landab greift man sich Highschool-Sportler zu Drogenkontrollen heraus, zugleich werden stichprobenartig Klassenräume durchsucht. Bovard schreibt, am 8. März 1991 hätten zwei Lehrer (ihr Geschlecht bleibt ungenannt, fantasiebegabte Pornografen mögen sich die Einzelheiten also selber ausmalen) an der Sandburgh High School in Chicago einen Sechzehnjährigen in einer Trainingshose gesehen. Ihre glänzenden vier Augen inspizierten seinen Schritt, der ihnen »>zu reichlich ausgestattet vorkam«. Sie brachten ihn in eine Umkleidekabine, und er musste sich ausziehen. Drogen fanden sich nicht, nur ein normabweichendes Gemächt. Die beiden ließen ihn laufen, denn bisher stellt kein Gesetz einen Teenager unter Strafe, der besser bestückt ist als seine Lehrer. Die Familie des Jungen klagte. Der Richter kannte kein Erbarmen. Die Lehrer, entschied er, »haben nichts unversucht gelassen, um die Intimsphäre des Klägers zu schützen«. Richter Kafka schläft nie. Obwohl Drogen unmoralisch sind und der Jugend verwehrt werden müssen, üben Tausende von Schulen Druck auf Eltern aus, jedem lebhaften Kind, das sich im Klassenraum einleuchtenderweise langweilt, die Droge Ritalin zu geben. Ritalin macht ein Kind lammfromm, um nicht zu sagen, komatös. 56
Nebenwirkungen? »Wachstumsstörungen, nervöse Zuckungen, Erregungsund Aggressionszustände, Schlaflosigkeit, Appetitverlust, Kopfschmerzen, Magenschmerzen und epileptische Anfälle.« Marihuana wäre weniger schädlich. Die Sprengung des Alfred P. Murrah Federal Building in Oklahoma City versetzte ähnlich wie Pearl Harbor einer ganzen Nation einen Schock und war dem amerikanischen Volk hoffentlich ein Warnsignal, dass etwas faul ist im Staate Amerika. Die Massenmedien reagierten prompt auf die einzige ihnen bekannte Weise. Ein Timothy McVeigh wurde über Nacht zum personifizierten Bösen. Bosheit ohne jedes Motiv. Natürlich kam es genau wie bei Lee Harvey Oswald zu Spekulationen über mögliche Mittäter. Aber es fand sich nur ein zweiter Irrer, Terry Nichols; er wurde der »Verschwörung« mit McVeigh schuldig gesprochen, war am Massaker selber jedoch nicht beteiligt. Der Journalist Richard A. Serrano hat vor kurzer Zeit das Buch One of Ours: Timothy McVeigh and the Oklahoma City Bombing veröffentlicht. Ich fürchte, das Thema hing mir genauso zum Hals raus wie dem Rest der Welt. Nichts konnte den Mord an 168 Männern, Frauen und Kindern rechtfertigen, von denen, soweit bekannt, niemand auch nur das Geringste mit dem staatlichen Blutbad in Waco zu tun hatte, der angeblichen Triebfeder von McVeighs Zorn. Wozu also dieses Buch? Serrano findet McVeigh nicht gerade sympathisch, aber sein gefährlich faszinierendes Buch gibt ihm Glaubwürdigkeit. Der 1968 geborene McVeigh stammte aus einer Farmerfamilie, die vor einer Generation mehr oder weniger enteignet worden war. Der Vater Bill war in der US-Army, die Mutter berufstätig. Sie wohnten in einem Arbeiterstädtchen namens Pendleton im Westen des Staates New York. Bill baut Gemüse an, arbeitet in der örtlichen Fabrik von General Motors und ist Katholik. Über die Gegend sagt er: »In meiner Kindheit gab es hier nur Farmen. In Tims Kindheit stand es halb und halb.« Tim wächst zu einem ungewöhnlich intelligenten und wissbegierigen Jungen heran. In der Highschool kommt er gut voran. Er ist ein »Zoon politikon«, wie sein Verteidiger betont. Er liest Geschichtsbücher und studiert die Verfassung. Außerdem hat er sein Leben lang eine Leidenschaft für Waffen, weswegen er später zur Armee geht. In Bushs Golfkrieg erweist er sich als geborener Soldat und wird als Infanterist mehrfach ausgezeichnet. Aber der Krieg öffnet ihm die Augen, wie die meisten Kriege denen die Augen öffnen, die sie ausfechten 57
müssen. Hinterher schreibt er einem Journalisten, »wir sind bewusst fanatisiert worden«. Die ritualisierte Dämonisierung Saddams, der Araber und Irakis in den Medien war so übertrieben, dass McVeigh im Irak überrascht feststellt, »die sind ja genauso normal wie du und ich. Man hat uns fanatisiert, um sie abzuknallen. Man hat uns erzählt, wir müssten Kuwait verteidigen, wo die Leute vergewaltigt und abgeschlachtet würden. Der Krieg hat mich wachgerüttelt«. Die Fraternisierung amerikanischer Truppen mit dem Feind war wie immer streng verboten. McVeigh schreibt einem Freund: »Hungernde Kinder und manchmal auch Erwachsene kommen bei uns an und betteln um Lebensmittel... Da kriegt man echt Gewissensbisse. Es ist wie mit einem Welpen am Esstisch; nur viel schlimmer. Je eher wir hier verschwinden, desto besser. Langsam verstehe ich, warum die Typen in Vietnam von Kindern umgebracht werden konnten.« Serrano schreibt: »Gegen Ende des Krieges, eines sehr populären Krieges, hatte McVeigh gelernt, dass er keine Lust hatte, Unschuldige umzubringen. Er spuckte in den Sand beim Gedanken daran, andere verletzen zu müssen, die ihn genauso wenig hassten wie er sie.« Als der Krieg aus war, trennen sich die Army und McVeigh. Er nimmt Gelegenheitsjobs an. Interessiert sich zunehmend für die paranoiden Theorien der extremen Rechten und für die von Joel Dyer so genannte »Religion der Verschwörung«. Terry Nichols, ein Kumpel aus der Army, wird sein Ratgeber. Gemeinsam beschaffen sie sich ein Buch mit dem Titel Privacy, das Anleitungen bereithält, wie man aus dem Sichtfeld der Regierung abtaucht, in den Untergrund geht und Waffen baut. Andere haben es ihnen vorgemacht, darunter die Familie Weaver, die auf den abgeschiedenen Ruby Ridge in Idaho gezogen war. Randy Weaver war ein spinnerter weißer Separatist mit Christian-Identity-Anschauungen. Seine Familie und er wollten mit dem restlichen Amerika nichts mehr zu tun haben. Das empfand das FBI als Affront. Als Weaver nicht vor Gericht erschien, um sich wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu verantworten, umstellten FBI-Beamte am 21. August 1992 sein Anwesen. Als der Hund der Weavers bellte, wurde er erschossen; als der vierzehnjährige Sohn in Richtung der FBI-Leute schoss, wurde er mit Schüssen in den Rücken umgebracht. Als Mrs. Weaver mit einem Baby im Arm vor die Tür trat, schoss der FBI-Scharfschütze Lon Horiuchi ihr den Kopf weg. Im Jahr darauf setzten die Bundesbullen die Branch Davidians außer Gefecht. Für Timothy McVeigh war das ATF gleichbedeutend mit Unterdrückung und Mord. Er war zum Gerechtigkeitsfanatiker geworden — unter Amerikanern eher eine Seltenheit —, zog auf eigene Faust in den Krieg und brachte mehr Unschuldige um als das FBI in Waco. Ob er überhaupt wusste, was er tat, als er 58
das Alfred R Murrah Federal Building in Oklahoma City in die Luft jagte, bloß weil es eine verhasste Behörde enthielt? Im Gerichtsverfahren blieb McVeigh stumm. Vor der Urteilsverkündung fragte das Gericht, ob er noch etwas sagen wolle. Allerdings. Er stand auf und sagte: »Ich möchte Richter Brandeis zitieren, dessen Worte in Olmstead wohl kaum auf mich gemünzt waren. Er schrieb: >Unsere Regierung ist der mächtige und allgegenwärtige Lehrer. Zum Guten wie zum Bösen setzt sie dem Volk ein Beispiele« Dann verurteilte der Staat McVeigh zum Tode. Den Anwesenden verschlug McVeighs Zitat die Sprache. Wie konnte sich der Teufel auf einen so heiligen Richter berufen? Ich könnte mir denken, dass er es im selben Geiste tat, in dem Jago Othello auf die Frage antwortete, warum er getan habe, was er getan hatte: »Fragt mich um nichts mehr: was ihr wisst, das wisst ihr. Von dieser Stund an rede ich kein Wort.« Auch wir wissen es jetzt, oder wie mein Großvater damals in Oklahoma zu sagen pflegte: »Jeder Pfannkuchen hat zwei Seiten.« Vanity Fair 1998
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Die Bedeutung von Timothy McVeigh
Gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts besuchte Richard Wagner die süditalienische Stadt Ravello, wo man ihm den Park der eintausend Jahre alten Villa Rufolo zeigte. »Maestro«, fragte der Chefgärtner, »kommen diese fantastischen Gärten unter dem azurblauen Himmel, der in solch vollkommener Harmonie mit dem azurblauen Meer verschmilzt, nicht jenen sagenumwobenen Gärten des Klingsor gleich, in denen Ihr einen so großen Teil Eurer neuesten, nicht enden wollenden Oper Parsifal spielen lasst? Hat dieser Anblick von Lieblichkeit Euch nicht zu Klingsor inspiriert?« Wagner murmelte daraufhin etwas in Deutsch. »Er sagt«, meinte sein Dolmetscher neben ihm: »>Wieso eigentlich nicht?<« Wieso eigentlich nicht? - Das dachte auch ich auf dem Weg zu einem Winkel in jenen sagenumwobenen Gärten, wo die Fernsehanstalten ABC und CBS für die Sendungen Good Morning America und Early Show ihre Kameras aufgebaut hatten, damit ich zu den Zuschauern daheim in Gottes eigenem Land auch wirklich »live« sprechen konnte. Das war im letzten Mai. In einer Woche sollte der »Bombenleger von Oklahoma City«, der ordendekorierte Held des Golfkriegs und Mitglied des Pfadfinderverbands Nature‘s Eagle, Timothy McVeigh, mittels einer Giftspritze in Terre Haute, Indiana, hingerichtet werden, weil er, wie er selbst beteuerte, als Einzeltäter eine Bombe gebaut und gezündet und damit das Gebäude einer Bundesbehörde zerstört hatte, in dem 168 Männer, Frauen und Kinder umkamen. Es war das größte Massaker von Amerikanern an Amerikanern seit zwei Jahren. Damals hielt es die Bundesregierung für geboten, das Anwesen einer Sekte von Sieben-Tags-Adventisten in der Nähe von Waco, Texas, auszuheben. Die Branch Davidians, wie sich die Sekte nannte, waren eine friedliche Gruppe von Männern, Frauen und Kindern, die zusammen lebten 60
und beteten, um sich so auf das Ende der Welt vorzubereiten, das für sie am 28. Februar 1993 anbrechen sollte. Die Bundesbehörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen ATF, der die »Regelung« des Schusswaffenbesitzes obliegt, wies alle Angebote des Sektenführers David Koresh zurück, seine registrierten Schusswaffen zu inspizieren. Stattdessen beschloss die ATF, sich ein wenig Spaß zu gönnen. Ohne rechtmäßigen Haftbefehl griffen mehr als 100 ATF-Agenten das Sektenanwesen an, gleichzeitig feuerte mindestens ein ATF-Hubschrauber auf das Dach des Hauptgebäudes. An jenem Tag kamen sechs Branch Davidians ums Leben. Auch vier ATF-Agenten wurden erschossen, vermutlich starben sie im Kugelhagel der eigenen Leute. Die Situation hatte sich festgefahren: Während der 51-tägigen Belagerung, die folgte, spielte man vor dem Gebäudekomplex rund um die Uhr laute Musik. Dann sperrte man den elektrischen Strom. Nahrungsmittellieferungen für die Kinder wurden verweigert. Zugleich unterrichtete man die Medien regelmäßig von den Schandtaten des David Koresh. Angeblich stellte er die Droge Crystal Meth her und dealte damit; zudem sei er - wie könnte es in diesen kranken Zeiten anders sein? — kein Diener Gottes, sondern ein Kinderschänder. Schließlich beschloss die neue Justizministerin Janet Reno, hart durchzugreifen. Am 19. April gab sie dem FBI Order, das zu Ende zu bringen, was die ATF begonnen hatte. Unter Verstoß gegen den Posse Comitatus Act (ein elementares Bollwerk unserer fragilen Freiheiten, das den Einsatz von Militär gegen Zivilisten untersagt) beschossen Panzer der texanischen Nationalgarde und die Joint Task Force Six der Armee das Anwesen mit einem Kampfgas, das für Kinder tödlich und für Erwachsene nicht sonderlich gesundheitsfördernd ist, und rammten Löcher in das Gebäude. Einige Davidians entkamen. Andere wurden von Scharfschützen des FBI erschossen. Bei einer Untersuchung sechs Jahre später bestritt das FBI jedoch, jemals etwas anderes abgefeuert zu haben als eine Tränengasgranate. Gegen Ende des sechsstündigen Angriffs wurde das Gebäude in Brand gesetzt und danach von gepanzerten Bradley-Fahrzeugen dem Erdboden gleichgemacht. Dank göttlicher Vorsehung kam kein einziger FBI-Mann zu Schaden, wohingegen mehr als 80 Sektenmitglieder ihr Leben ließen, darunter 27 Kinder. Es war ein großer Sieg für Uncle Sam und ganz im Sinne des FBI, das dem Angriff den Codenamen »Show Time« gegeben hatte. Erst am 14. Mai 1995 gestand Janet Reno in der Sendung 60 Minutes ein, dass sie die Dinge inzwischen anders sieht. »Nach allem, was passiert ist, ist mir klar, dass ich es nie wieder tun würde.« Mit einem Wort: Die Tochter einer meisterlichen Alligator-Dompteuse aus Florida hat etwas hinzugelernt. 61
Die Show vom 19. April 1993 in Waco war, so stellte sich heraus, das größte Massaker an Amerikanern durch die eigene Regierung seit 1890, als eine Anzahl von Ureinwohnern unseres Landes bei Wounded Knee in Süd-Dakota abgeschlachtet wurde. So hält man die Vergangenheit lebendig. Obwohl McVeigh schon bald zu erkennen gab, dass er seine Tat als Vergeltung für das verstand, was in Waco geschehen war (er hatte sich sogar den zweiten Jahrestag des Massakers, den 19. April, für seinen Racheakt ausgesucht), rückte die Geheimpolizei unserer Regierung gemeinsam mit ihren Verbündeten in den Medien das Ganze ins richtige Licht. Es gab nur die eine Erklärung, die man gelten ließ: Ein Einzeltäter von unfassbarer, angeborener Bösartigkeit wollte unschuldige Menschen vernichten, und zwar aus keinem anderen Grund als spontaner Mordlust. Gleich zu Beginn wurde festgelegt, dass McVeigh, abgesehen von einer grundlosen Verderbtheit Shakespeare‘scher Dimension, kein erkennbares Motiv für seine Tat haben durfte. Jago schleicht also wieder durch die Stadt, jedoch nicht mit einem Taschentuch, sondern diesmal mit einer Bombe. Schon eher den Tatsachen entsprach das, worauf sich McVeigh und die Staatsanwaltschaft einigten, nämlich dass er keine ernst zu nehmenden Komplizen hatte. Ich saß auf einem unbequemen Stuhl und blickte in die Kamera. Inmitten des Rittersporns brummten die Generatoren. Good Morning America sollte den Anfang machen. Es war verabredet, dass das Interview von Diane Sawyer in New York geführt werden würde, aber da ABC über einen eigenen McVeigh»Experten« verfügt, einen gewissen Charles Gibson, hatte man nun ihn als Moderator eingesetzt. Unser Gespräch sollte ungefähr vier Minuten dauern. Doch, man wollte wirklich auf die Hintergründe eingehen, was bedeutet, dass nur jede zweite Frage mit der Aufforderung: »Also, schildern Sie uns kurz ...« beginnt. Pflichtgemäß schilderte ich also kurz, wie es dazu kam, dass mich McVeigh, dem ich nie begegnet war, eingeladen hatte, als einer der fünf ausgewählten Zeugen bei seiner Hinrichtung anwesend zu sein. Kurz geschildert, begann es mit der Vanity Fair-Ausgabe vom November 1998, in der ein Artikel von mir über den »Krieg im eigenen Land« erschienen war. Darin zählte ich Beispiele dafür auf, wie die Oberste Finanzverwaltung IRS ohne ordentliches Gerichtsverfahren Privateigentum beschlagnahmt, wie Einheiten der Drogenfahndung unschuldige Menschen behelligen und nicht einmal vor Mord zurückschrecken, wie die Regierung Hand in Hand mit Agrarkonzernen Kleinfarmer in den Ruin treibt, und vieles mehr. Zum Schluss 62
ging ich auf die ungesühnten Morde in Ruby Ridge, Idaho (durch das FBI) ein, auf die im Jahr darauf die Morde in Waco gefolgt waren. Als McVeigh in einem Gefängnis in Colorado auf die Berufung wartete, las er, was ich geschrieben hatte. Er schickte mir einen Brief und .. Aber jetzt habe ich Sie einfach in Klingsors Ravello-Garten stehen lassen, wo ich in einer Live-Sendung des Fernsehens das unaussprechliche Wort »warum« aussprach und dann auch noch das Wort »Waco«, mit dem man eine Atombombe zünden kann. 3500 Meilen entfernt, begann Charles Gibson zu hyperventilieren. »Also, einen Moment mal ...«, unterbrach er mich. Ich ließ mir jedoch nicht das Wort abschneiden. Plötzlich hörte ich ihn sagen: »Wir haben Schwierigkeiten mit dem Ton.« Dann zog er den Stöpsel aus der Leitung, die ABC mit mir verband. Der Tontechniker neben mir schüttelte den Kopf. »Die Tonübertragung war völlig in Ordnung. Er hat Sie einfach abgeschnitten.« Nachdem schon unsere Regierung die Zusatzartikel 4, 5, 6, 8 und 14 unserer Verfassung ins Altpapier geworfen hatte, trat Mr. Gibson nun auch noch das Erste Heilige Gebot des Journalismus mit Füßen. Weshalb? Wie so viele seiner austauschbaren Kollegen im Fernsehen ist er angestellt, damit den Zuschauern jemand sagt, dass der frühere Senator John Danforth gerade eine vierzehnmonatige Untersuchung über das FBI abgeschlossen hat, die die Bundespolizei von jeglichem Fehlverhalten in Waco freispricht. Dabei räumte Danforth ausdrücklich ein, er habe »diese ganzen Unterlagen dem FBI regelrecht aus der Nase ziehen müssen«. Im März 1993 fuhr McVeigh von Arizona nach Waco in Texas, um die staatliche Belagerung mit eigenen Augen zu verfolgen. Wie es sich gehört, wurde er dabei zusammen mit anderen Demonstranten vom FBI fotografiert. Während der Belagerung unterhielt man die Sektenmitglieder rund um die Uhr mit ohrenbetäuben der Musik vom Band (Nancy Sinatra: »These boots are made for walkin‘ / And that‘s just what they‘ll do, / One of these days these boots are gonna walk all over you«) und mit den Todesschreien von Kaninchen. Man hatte nämlich noch gut in Erinnerung, dass im unerklärten Krieg des ersten George Bush gegen Panama der Oberdrogenschurke (und frühere CIA-Agent) Noriega nach mehreren ähnlichen Konzerten vor der Botschaft des Vatikans, in die er geflüchtet war, zermürbt aufgegeben hatte. Es ist wie bei den Fernsehsendern - wenn unsere Regierung einmal einen Hit entdeckt hat, wird er immer wieder aufgelegt. Oswald? Verschwörung? Lachkonserve. Eines ist den Fernsehzuschauern bestimmt schon aufgefallen: dass sie 63
es gar nicht mehr merken, wie oft die auswechselbaren Moderatoren jeden abfertigen, der sich mit der Frage nach dem Warum beschäftigt. »Wollen Sie damit andeuten, dass eine Verschwörung dahinter steckt?« Und schon beginnt es in einem Paar heller Kontaktlinsen zu funkeln. Egal, wie die Antwort ausfällt - mit einem verlegenen Herumrutschen auf dem Stuhl, auf das ein winziges Aufstöhnen und ein viel sagender Blick in die Kamera folgen, signalisiert man, dass der Gast soeben von einer fliegenden Untertasse ins Studio geschneit ist. Auf diese Weise wird verhindert, dass die Öffentlichkeit jemals begreift, was die wirklichen Verschwörer — ob innerhalb des FBI, im Obersten Bundesgericht oder bei den emsigen Knechten der Tabakmultis - aushecken. Es ist auch eine sichere Methode, um der Öffentlichkeit Informationen vorzuenthalten. Aber dazu sind die Medienkonzerne ja leider da. Einmal drohte der ehemalige Senator Danforth dem widerspenstigen FBIDirektor Louis Freeh sogar mit einem Durchsuchungsbefehl. Schade, dass er ihn nicht ausgestellt bekam. Vielleicht hätte er dadurch ein wenig mehr über Freehs Mitgliedschaft im Opus Dei (übersetzt: »Gottes Werk«) in Erfahrung gebracht, einem geheimbündlerischen, international tätigen, römisch-katholischen Orden, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, seinen Mitgliedern in diversen Ländern und zu diversen Zwecken hohe Posten in Politik, Wirtschaft und Kirche (und vielleicht sogar im Himmel) zu verschaffen. Dieser Orden geriet kürzlich, wenn auch zögerlich, ins Rampenlicht, als sich herausstellte, dass der FBI-Agent Robert Hansen 22 Jahre lang für die Russen spioniert hatte und dass er und sein Direktor Louis Freeh nach Aussage ihres Bundesgenossen William Rusher (laut Washington Times vom 15. März 2001) »nicht nur beide Mitglieder derselben römisch-katholischen Kirchengemeinde in einer Vorortsiedlung in Virginia waren, sondern ... auch dem örtlichen Kapitel von Opus Dei angehörten«. Mr. Rusher, einst bei der leichtfertigen National Review tätig, fand dies »pikant«. Opus Dei wurde 1928 von Jose-Maria Escrivä gegründet. In den Anfangsjahren fungierte der spanische Diktator Francisco Franco als weltlicher Pate des Ordens. Einer seiner jüngsten Paladine war der korrupte peruanische Präsident Alberto Fujimoro, noch immer in absentia. Obgleich Opus Dei dem Faschismus zugetan ist, hat der jetzige Papst Escrivä selig gesprochen. Dagegen erhob der spanische Theologe Juan Martin Velascozu - vergeblich - Einspruch: »Wir können nicht jemanden zum Vorbild für eine christliche Lebenseinstellung erheben, der der staatlichen Macht [dem Faschisten Franco] diente und diese Macht für die Zwecke seines Ordens nutzte, den er nach obskuren Kriterien führte - wie eine Mafia in weißem Gewand -, und der die päpstliche Autorität 64
nicht anerkannte, wenn sie mit seiner Denkweise nicht übereinstimmte.« Als der geheimnisvolle Mr. Freeh einmal gefragt wurde, ob er Mitglied von Opus Dei sei, lehnte er es ab, darauf zu antworten. Stattdessen nötigte er einen Special Agent des FBI, an seiner Stelle Auskunft zu geben. Special Agent John E. Collingwood sagte daraufhin: »Da ich Ihre spezifischen Fragen nicht beantworten kann, halte ich fest, dass Sie nicht korrekt >informiert< worden sind.« Dass in den sekulären Vereinigten Staaten, einem Land, dessen Verfassung auf der dauerhaften Trennung von Kirche und Staat beruht, ein absolutistischer religiöser Orden nicht nur eines seiner Mitglieder an der Spitze unserer geheimen und (weitestgehend unkontrollierten) Polizei platziert hat, sondern nun auch auf die guten Dienste von mindestens zwei Mitgliedern des Obersten Bundesgerichts zählen kann, ist äußerst beunruhigend. Aus Newsweek vom 9. März 2001: »[Richter Antonin] Scalia gilt als die Verkörperung des katholischen Konservativen ... Zwar gehört er selbst nicht dem Opus Dei an, doch seine Frau Maureen nahm an geistlichen Feiern des Opus Dei teil ... [und ihr Sohn], Vater Paul Scalia, wirkte vor vier Jahren beim Übertritt von Clarence Thomas zum Katholizismus mit. Letzten Monat hielt Thomas eine leidenschaftliche Rede vor dem American Enterprise Institute, einer konservativen Denkfabrik, wobei das Publikum großenteils aus Vertretern der Bush-Regierung bestand. In seiner Rede lobte Thomas Papst Johannes Paul II. dafür, dass er unpopuläre Positionen beziehe.« Man bedenke, dass Thomas Jefferson und John Adams sich dagegen verwahrt haben, dass der vergleichsweise gutartige Jesuitenorden in unserem Land des Gesetzes, wenn nicht gar Gottes, Fuß fasst. Präsident Bush jedoch erklärte, Scalia und Thomas seien das Vorbild für jene Art von Richtern, die er in seiner Amtszeit ernennen möchte. Zur Sühne für sein Buhlen im Wahlkampf um die fundamentalistischen Protestanten der Bob Jones University hat Bush kürzlich der extremen römisch-katholischen Rechten die Hand gereicht. Mit den fundamentalistischen Protestanten steht er bereits auf gutem Fuß. So ist sein Justizminister J. D. Ashcroft ein Pfingstchrist, der den Arbeitstag um Punkt acht mit einem gemeinsamen Gebet der Mitarbeiter des Ministeriums einläutet, die freudig darauf hoffen, dass das Blut des Lamms auf sie herniederkommt. 1999 klärte Ashcroft die Absolventen der Bob Jones University darüber auf, dass Amerika auf religiöse Prinzipien gegründet worden sei (dies bitte Jefferson u.a. mitteilen) und »wir keinen anderen König als Jesus« haben. 65
Während sich McVeighs so dramatisch manipulierte Geschichte auf jenes grässliche Wort »Ende« hin zubewegte, was in seinem Fall schlichtweg einen Neuanfang bedeuten wird, wurde mir klar, wie verschiedene Verschwörungen immer mehr ineinander griffen. Die Opus-Dei-Verschwörung formiert - oder formierte? - sich im Zentrum des Justizministeriums. Dann konspirierte das FBI, um bestimmte Dokumente nicht nur der Verteidigung McVeighs, sondern auch der angeblichen Kontrollinstanz über das Ministerium vorzuenthalten: uns, dem im Kongress versammelten Volk, verkörpert durch den ehemaligen Senator Danforth. Und schließlich die andauernde und freiwillige Kampagne der Medien zur Verteufelung von McVeigh, der trotz gegenteiliger Indizien allein gehandelt habe. Aber kehren wir zu der Verschwörung des FBI zurück, mit der seine Verbrechen in Waco vertuscht werden sollten. Senator Danforth ist ein ehrenwerter Mann, aber das war einst auch der Oberste Bundesrichter Earl Warren, und die Untersuchungsergebnisse der nach ihm benannten Kommission zur Aufklärung der Ereignisse in Dallas haben, so hört man, nicht einmal ihn selbst ganz überzeugt. Am 1. Juni meinte Danforth gegenüber der Washington Post »Ich glaube, zu irgendeinem Zeitpunkt wird man Timothy McVeigh hinrichten, und nach der Hinrichtung wird man irgendwo eine Kiste finden.« Das haben Sie, Senator, bestimmt nicht bloß so dahingesagt. Ebenfalls am 1. Juni brachte die New York Times eine Meldung von A. R, wonach die Anwälte der Branch Davidians behaupten, das FBI habe die Sektenangehörigen mit einer Art kurzläufigem Sturmgewehr beschossen, das später nicht ballistisch untersucht worden war. Unser Freund, der FBI-Sprecher John Collingwood, meinte dazu, eine Kontrolle der Unterlagen des FBI habe ergeben, dass »sich das kurzläufige Gewehr unter den geprüften Waffen befunden« habe. Danforths Erwiderung klang ziemlich nach einem »Na, was Sie nicht sagen«. Er betonte erneut, das FBI habe »nicht ganz in vollem Umfang kooperiert«. H. L. Mencken formulierte es so: »[Das Justizministerium] war schon immer in üble Machenschaften verstrickt und ist bis auf den heutigen Tag eine sprudelnde Quelle der Unterdrückung und Korruption geblieben. Man kann sich kaum an eine Regierungsperiode erinnern, in der es nicht im Mittelpunkt eines schwerwiegenden Skandals gestanden hätte.« Freeh selbst scheint süchtig nach Machenschaften der abgedroschensten Art zu sein. 1996, nach dem Bombenattentat bei den Olympischen Spielen 66
in Atlanta, mimte er den unbarmherzigen Javert und fiel gnadenlos über den Sicherheitsbeamten Richard Jewell her. Jewell war unschuldig. Kaum hatte sich Freeh ein frisches härenes Hemd bringen lassen (die Mitglieder des Opus Dei kasteien das Fleisch) und Befehl gegeben, eine neue Guillotine zu errichten stellte sich heraus, dass das FBI-Labor bei Ermittlungen regelmäßig gepfuscht hatte (nachzulesen in Tainting Evidence von J. F. Kelly und P. K. Wearne). Danach machte sich Freeh zum Vorreiter einer Kampagne, um Wen Ho Lee als kommunistischen Spion zu entlarven. Freehs schwachsinnige Beschuldigungen gegen den unbescholtenen Wissenschaftler aus Los Alamos wischte ein Bundesrichter wütend mit den Worten vom Tisch, das FBI »habe das ganze Land in eine peinliche Lage gebracht«. Nun ja, Gottes Werk zu tun ist immer ein wenig riskant. Dennoch - je mehr man über das FBI erfährt, umso deutlicher wird, wie gefährlich diese Behörde ist. Im Rahmen ihrer Untersuchung über die Laborarbeit des FBI, bei denen es für die Verdächtigen buchstäblich um Leben und Tod geht, zitieren Kelly und Wearne zwei englische Gerichtsmediziner, die sich zum Bombenattentat in Oklahoma City äußerten. Nachdem er sich die Ergebnisse des FBILabors genau angesehen hatte, meinte Professor Brian Caddy dazu: »Falls das die Untersuchungsberichte sind, die dem Gericht als Beweismittel vorgelegt werden sollen, bin ich entsetzt über ihre Beschaffenheit und ihren Informationsgehalt. Die Beschaffenheit der Berichte scheint darauf abzuzielen, den Leser zu verwirren, anstatt ihn aufzuklären.« Und Dr. John Lloyd merkte an: »Die Berichte sind ihrer Art nach allein auf Ergebnisse orientiert. Man kann aus ihnen unmöglich den Gang der Untersuchungen nachvollziehen oder ersehen, auf welche Weise die einzelnen Gegenstände untersucht wurden.« Es ist also schlichtweg an der Zeit, diese immens unfähige und weitgehend unkontrollierte Geheimpolizei durch eine bescheidenere und effizientere Behörde zu ersetzen, die man »United States Bureau of Investigation« nennen sollte. Heute ist der 11. Juni, eine heißer, dunstiger Morgen hier in Ravello. Wir haben uns gerade die Ausgeburt der »Show Time« in Terre Haute Indiana, angesehen. CNN berichtete zutreffend, dass es mir nicht möglich gewesen war, McVeighs Bitte entsprechend als Zeuge bei der Hinrichtung anwesend zu sein: Der Justizminister ließ mir zu wenig Zeit, um nach Terre Haute zu reisen. Ich war ein wenig erleichtert gewesen, als man mir sagte, dass McVeigh nicht in der Lage sein würde uns durch das getönte Glas rundum zu erkennen, wenn er auf 67
der Rollbahre im Hinrichtungsraum festgeschnallt wird. Dann aber berichteten Presseleute, die zugegen gewesen waren, er habe bewusst »Augenkontakt« mit den eingeladenen Zeugen und mit ihnen gesucht. Dass er die Zeugen sah, bestätigt auch Cate McCauley, die selbst zugegen gewesen war. »Man merkte, dass es nach der ersten Spritze mit ihm vorbei war«, sagte sie. Sie hatte ein Jahr lang als Ermittlerin der Verteidigung bei seinem Gerichtsverfahren mitgewirkt. Ich erkundigte mich nach seinen letzten Stunden. Er hatte noch einen Film im Fernsehen ansehen wollen, konnte jedoch nur Fargo finden, und für den war er nicht in Stimmung gewesen. Bestimmt starb er so, wie es seiner Art entsprach, das heißt sehr selbstbeherrscht. Die erste Spritze, eine Dosis Natriumpentothal, raubt einem das Bewusstsein. Doch er behielt die Augen offen. Die zweite Spritze mit Pancuroniumbromid blockiert die Atmung. Als Überlebenskämpfer, der McVeigh war, schien er sich die ihm verbleibende Luft einzuteilen. Als er nach vier Minuten offiziell für tot erklärt wurde, hielt er noch immer die Augen geöffnet und starrte in die an der Decke installierte Kamera, die ihn »live« für sein Publikum in Oklahoma City aufnahm. Zwar gab McVeigh keine letzte Erklärung ab, doch er hatte, offenbar aus dem Gedächtnis, »Invictus« niedergeschrieben, ein Gedicht von W.E. Henley (1849-1903). Zu Henleys zahlreichen Werken gehört auch eine populäre Anthologie namens Lyra Heroics (von 1892), die von selbstlosen, heldenhaften Taten handelt. Ich glaube zwar nicht, dass McVeigh dieses Buch jemals in Händen hatte, doch mit der Gruppe von jungen Schriftstellern, zu denen auch Kipling gehörte und die man als »Henleys junge Männer« bezeichnete – stets einer neuen Gefahr trotzend, jeder der Herr seines Schicksals und Bezwinger seiner Seele -, hätte er gewiss eine Seelenverwandtschaft verspürt. Bezeichnenderweise erwähnte keiner der schlauen Köpfe im Fernsehen Henleys Namen, weil sie eben alle nicht wussten, wer Henley war. Viele dachten, dieses berühmte Gedicht sei McVeighs eigene Schöpfung. Eine erzürnte Frau jedoch beschimpfte Henley, der einbeinig war, als »Krüppel aus dem neunzehnten Jahrhundert«. Ich schickte daraufhin eine böse E-Mail an ihren Fernsehsender: Sie solle Henleys extreme Positionen nicht mit seinen Extremitäten verwechseln. Durch die stoische Gemütsruhe, die er in seinen letzten Tagen zeigte, qualifizierte sich McVeigh zu einem Helden im Sinne Henleys. Er klagte nicht über sein Schicksal, übernahm die Verantwortung für das, was er angeblich getan hatte, und bat nicht um Gnade, wie das unsere sadistischen Medien 68
immer wieder fordern. Inzwischen kommen mehr und mehr widersprüchliche Einzelheiten über ihn ans Licht - ein wahrhaft verwirrendes Mosaik —, und es hat zunehmend den Anschein, dass er in die falsche amerikanische Epoche gestolpert ist. Im Grunde brauchte er eine selbstzerstörerische Aufgabe, um sich zu definieren. Die Abschaffung der Sklaverei oder der Erhalt der Union wäre den Einsatz seines Lebens eher wert gewesen als der Zorn auf die Exzesse unserer korrupten Geheimpolizei. Und weil er nicht aus seiner Haut konnte, erklärte er einer Regierung den Krieg, die seiner Ansicht nach dem eigenen Volk den Krieg erklärt hatte. In dem, was weitgehend eine orchestrierte Hymne des Hasses war, zeigte sich allerdings auch ein poetischer Moment: Vor dem Gefängnis hatte sich im Licht des frühen Morgens eine Gruppe von Gegnern der Todestrafe zum Gebet versammelt. Plötzlich kam ein Vogel herangeflogen und ließ sich auf dem linken Unterarm einer Frau nieder, die ihr Gebet fortsetzte. Als sie sich schließlich erhob, blieb der Vogel auf ihrem Arm - ein Zeichen des Trosts? Ora pro nobis. CNN berichtete häppchenweise von McVeighs letzten Morgenstunden. Auf die Frage, weshalb er nicht zumindest einräumen würde dass er die Ermordung Unschuldiger bedaure, erwiderte er, das wäre für ihn nur ein unehrliches Lippenbekenntnis. Er sei Soldat in einem nicht von ihm angezettelten Krieg. Das war ganz im Stil von Henley, den ein Biograf als übertrieben aufrichtig beschrieb. McVeigh fügte hinzu, auch HarryTruman habe niemals sein Bedauern ausgedrückt, dass er zwei Atombomben auf das bereits besiegte Japan werfen ließ, wodurch 200 000 Menschen umkamen, die meisten davon kollaterale Frauen und Kinder. Die Medien heulten auf das sei schließlich im Krieg geschehen. McVeigh jedoch sah sich ebenfalls, ob zu Recht oder zu Unrecht, als Kombattant in einem Krieg. Angesichts unseres sich entfaltenden imperialen Systems ist es übrigens nur eine Frage der Zeit, wann Harry Truman selig gesprochen wird. Schließlich herrscht die weit verbreitete Ansicht, die Bomben seien abgeworfen worden, um das Leben von Amerikanern zu retten. Aber das ist nicht wahr. Die Bomben sollten dazu dienen, unseren neuen Feind Stalin einzuschüchtern. Obwohl sich die militärische Führung im Zweiten Weltkrieg, unter ihnen Eisenhower, C.W. Nimitz und sogar Curtis LeMay — den George C. Scott in Dr. Seltsam so fabelhaft verkörpert hat -, geschlossen dagegen aussprach, dass Truman die Bomben gegen einen bereits geschlagenen Feind einsetzte, der gerade Verhandlungen zu seiner Kapitulation aufnehmen wollte. Ein Freund aus dem Live-Fernsehen, der verstorbene Robert Alan 69
Arthur, drehte einmal einen Dokumentarfilm über Truman. Ich fragte ihn, was er von Truman halte. »Er speist einen mit diesen vorgefertigten Antworten ab. Ich konnte ihn nur ein einziges Mal aus der Reserve locken, und zwar, als ich auf die Frage zu sprechen kam, wie er die Entscheidung getroffen habe, die Atombomben auf das bereits in Trümmern liegende Hiroshima zu werfen. Da sah mir Truman zum ersten Mal in die Augen. >In Ordnung<, sagte er, >aber ich werde deswegen nicht zu Kreuze kriechen.<« Noch so ein Henley-Held, aber einer mit weit mehr Kollateralschaden auf dem Konto als McVeigh. War es Chaplins Monsieur Verdoux, der sagte, wenn es darum geht, die Schuld an einem Mord abzuwägen, sei das letztlich eine Frage der Zahl der Opfer? Nach meinen Abenteuern in den Gärten von Ravello (Bryant Gumbel von CBS war so zurückhaltend und höflich, wie man es von ihm gewohnt ist; er hat auch kein Kabel herausgezogen) machte ich mich über Manhattan auf den Weg nach Terre Haute. Ich trat in mehreren Sendungen auf, wo man mir bei dem Begriff »Waco« jedes Mal das Wort abschnitt. Nur Greta Van Susteren von CNN verstand, worum es mir ging. »Aber zwei Fehler«, wandte sie ganz zu Recht ein, »ergeben noch lange nicht etwas Richtiges.« Ich pflichtete ihr vollkommen bei. Aber da ich gegen die Todesstrafe bin, fügte ich noch hinzu, dass drei Fehler auch kaum besser sind. Dann kam die Aussetzung der Hinrichtung, und ich flog zurück nach Ravello. Nun nahmen die Medien mich aufs Korn. Immer wieder konnte ich hören oder lesen, ich selbst hätte per Brief den Kontakt zu McVeigh gesucht und ihm offenbar zu seiner Mordtat gratuliert. Mit Engelsgeduld erklärte ich wieder und wieder, dass er es war, der mir nach der Lektüre meines Artikels in Vanity Fair den ersten Brief unserer sich über drei Jahre hinziehenden, unregelmäßigen Korrespondenz geschickt hatte. Wie sich herausstellte, konnte ich dann doch nicht hinfahren und mit eigenen Augen sehen, wie sich in der Morgendämmerung der Vogel auf dem Arm der Frau niederließ. Im seinem ersten Brief lobte er mich für das, was ich geschrieben hatte. Wie eifrig ich in meiner Selbstvermarktung bin - so dass ich wohl nie in die Fußstapfen von Capote treten kann -, kann man daran ersehen, dass ich außer vom letzten Brief im Mai keine Abschriften meiner Briefe an ihn aufbewahrt habe. Der zweite Brief aus dem Gefängnis in Colorado ist auf den »28 Feb. 99« datiert. »Mr. Vidal, danke für Ihren Brief. Letzte Woche habe ich Ihr Buch 70
United States erhalten und bin jetzt fast schon mit Teil 2 durch - Ihre poetischen Betrachtungen.« Ich sollte hinzufügen, dass Orthografie und Grammatik durchwegs korrekt sind, die Handschrift merkwürdig gleichmäßig ist und nach links kippt, als würde man sie in einem Spiegel sehen. »Ich glaube, es würde Sie überraschen, in wie vielen Punkten ich mit Ihnen einer Meinung bin ... Was Ihren Brief betrifft - ich stimme Ihnen voll zu, dass >die allgemeine Rebellion gegen das, was aus unserer Regierung geworden ist, den interessantesten (und ich glaube wichtigsten) Aspekt in der Geschichte dieses Jahrhunderts darstellte Deshalb war ich meist enttäuscht, wenn ich Artikel gelesen habe, in denen das Bombenattentat von Oklahoma City auf einen simplen >Racheakt< für Waco reduziert wurde - und deshalb hat mich Ihr Artikel in der Novemberausgabe von Vanity Fair sehr gefreut. In den 4 Jahren seit dem Bombenanschlag war Ihr Artikel der erste, in dem wirklich über die zugrunde liegenden Motive für einen solchen Angriff gegen die Bundesregierung nachgedacht wird, und dafür danke ich Ihnen. Ich glaube, dass solch tief gehende Überlegungen unverzichtbar sind, wenn man die Ereignisse vom April 1995 wirklich verstehen will. Zwar habe ich eine Menge Beobachtungen gemacht, die ich Ihnen gerne mitteilen würde, aber ich darf diesen Brief nicht zu lang werden lassen — also werde ich nur eine nennen: Wenn Bundesbeamte mit den Bürgern dieses Landes ähnlich wie >so viele Jakobiner im Krieg< stehen, und wenn Bundesbehörden >täglich Krieg fuhren< gegen diese Bürger, wäre dann das Bombenattentat von Oklahoma City nicht eher ein >Gegenangriff< als ein selbst ernannter Krieg? Ähnelt es nicht eher Hiroshima als Pearl Harbor? (Ich bin sicher, die Japaner waren genauso entsetzt und überrascht über Hiroshima war diese einkalkulierte Wirkung denn nicht wesentlicher Bestandteil der Gesamtstrategie dieser Bombardierung?) Doch zurück zu Ihrem Brief. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass Ihr Alter ein Hindernis sein könnte [hier schwelgt er richtiggehend in Takt], bis ich diesen Brief erhielt - und mir auffiel, dass er auf einer mechanischen Schreibmaschine getippt ist. Kein Grund zur Sorge, neueste medizinische Untersuchungen haben ergeben, dass die italienische Vorliebe für Rapsöl, Olivenöl und Wein zur Verlängerung des Lebens beiträgt und bei den Italienern vorbeugend gegen Herzkrankheiten hilft - Sie haben sich also den richtigen Altersruhesitz ausgesucht. Nochmals danke, dass Sie mir geschrieben haben - und was irgendwelche Bedenken angeht, was und wie man jemandem >in meiner Situation< schreiben 71
kann, werden Sie vermutlich feststellen, dass viele von uns ganz normale >Durchschnittsmenschen< sind — egal, wie die Öffentlichkeit das darstellt - also müssen Sie sich nicht nicht den Kopf darüber zerbrechen, was Sie mir schreiben sollen. Gut, dann bis zum nächsten Mal...« Unter diese Zeile hatte er in Anfuhrungszeichen gesetzt: »Jeder normale Mensch muss zuweilen versucht sein, in die Hände zu spucken, die schwarze Flagge zu hissen und ein paar Kehlen aufzuschlitzen< H. L. Mencken. Geben Sie gut auf sich Acht.« Signiert hat er handschriftlich mit seinen Initialen. Es versteht sich von selbst, dass dieser Brief nicht im Geringsten dem Bild entsprach, das die hasserfüllte amerikanische Presse von ihm gezeichnet hatte. Angeleitet worden war sie wie immer von der New York Times und ihren plumpen Versuchen in Freud‘scher Analyse (zum Beispiel, dass er in seiner Persönlichkeit gebrochen sei, weil seine Mutter seinen Vater verlassen hatte, als er sechzehn war tatsächlich wirkte er erleichtert darüber). Danach hörte ich ungefähr ein Jahr lang nichts mehr von ihm. Zwei Reporter einer Zeitung aus Buffalo (er war in der Nähe von Buffalo geboren und dort aufgewachsen) führten für ihr Buch American Terrorist mit ihm eine Reihe von Interviews. Ich glaube, ich habe ihm geschrieben, dass Mencken oft in Swift sehen Übertreibungen Zuflucht suchte und dass man ihn nicht allzu wörtlich nehmen durfte. Gilt dasselbe auch für ihn? Nach wie vor können wir nicht ausschließen, - seien Sie jetzt auf die größte Verschwörung überhaupt gefasst -, dass nicht er es war, der die Bombe hergestellt oder sie vor dem Murrah-Gebäude deponiert hat: Erst als ihm die Todes- oder zumindest eine lebenslange Haftstrafe drohte, war er darauf bedacht, als alleiniger Verantwortlicher für das Hissen der schwarzen Flagge und das Aufschlitzen der Kehlen dazustehen, sehr zum Zorn der verschiedenen »Milizen« im ganzen Land, die mittlerweile lautstark ihren Unmut äußern, dass man seinen Namen im Zusammenhang mit einer revolutionären Tat nennt, die, wie manche behaupten, von vielen anderen ausgeübt wurde. Sollte sich dieses Szenario irgendwann als wahr erweisen, dann steuerten er und die verhassten FBI-Beamten das gleiche Ziel an. Wie Senator Danforth vorhergesehen hatte, wollte die Regierung McVeigh so schnell wie möglich hinrichten lassen (innerhalb von zehn Tagen nach Danforths Erklärung gegenüber der Washington Post), um den Zeitpunkt, da man jene verlegte Kiste mit den Dokumenten findet, die vielleicht die Beteiligung anderer 72
Personen an dem Attentat beweisen, so lange wie möglich hinauszuzögern. Dass McVeigh selbst seinen, wie er es nannte, »Selbstmord mit staatlicher Hilfe« betrieb, schien bloß eine bizarre Wendung in einer Geschichte zu sein, die - egal, wie man sie zu entwirren versucht - nie ganz mit dem archetypischen Szenario des einsamen verrückten Killers (Oswald) übereinstimmt, der von einem zweiten einsamen verrückten Killer (Ruby) umgebracht wird, welcher im Knast stirbt, ohne das preiszugeben, was er angeblich zu erzählen gehabt hätte. Anders als Lee Harvey (»Ich bin der Sündenbock«) Oswald konnte unser Henley-Held der Rolle des einsamen Kriegers gegen einen bösen Staat nicht widerstehen. Während er am Beginn unseres Briefwechsels überhaupt nichts zugibt - offenbar aus dem einfachen Grund, dass seine Anwälte gerade das Berufungsverfahren betreiben -, schreibt er in seinem letzten Brief vom 20. April 2001 - »T. McVeigh 12076-064 POB 33 Terre Haute, In. 47808 (USA)« - an mich: »Mr. Vidal, falls Sie das kürzlich erschienene Buch >American Terrorist< gelesen haben, ist Ihnen wahrscheinlich aufgefallen, dass Sie mit Ihrem Artikel >The War at Home< den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Beiliegend schicke ich Ihnen hierzu noch ergänzendes Material.« Zu den Aufzeichnungen, die er mir sandte, gehörte das Transkript eines Gesprächs, das Timothy McVeighs Psychiater im Chatroom von ABC News geführt hatte. Das Interview mit Dr. John Smith fand am 29. März dieses Jahres statt und wurde von einem Moderator geleitet. Dr. Smith hatte nur eine einzige Sitzung mit McVeigh absolviert, und zwar sechs Jahre zuvor. Offenbar hatte ihn McVeigh von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden, sodass er Lou Michel und Dan Herbeck, den Autoren von American Terrorist, Auskunft geben konnte. Moderator: »Sie sagen, Timothy McVeigh sei >nicht geistesgestört gewesen< und habe >keine schwere Geisteskrankheit<. Aber wie konnte er dann, Ihrer Ansicht nach, ein so schreckliches Verbrechen verüben?« Dr. John Smith: »Nun, ich glaube nicht, dass er es verübt hat, weil er geistesgestört oder realitätsfremd war ... Er war übermäßig sensibel, bis hin zu einer leichten Paranoia, was das Vorgehen der Regierung betrifft. Den Anschlag hat er vor allem aus Rache für den Angriff auf Waco verübt, aber zugleich wollte er damit eine politische Erklärung zur Rolle der Bundesregierung abgeben und gegen den Einsatz von Gewalt gegenüber Bürgern protestieren. Um also zu Ihrer Ausgangsfrage zurückzukehren: Er hat sich ganz bewusst dazu entschlossen, nicht, weil er geistesgestört, sondern weil er ein ernsthafter Mensch ist.« 73
Dann erwähnt Dr. Smith McVeighs Enttäuschung, dass die Medien jeglicher Diskussion über »den Machtmissbrauch durch die Bundesregierung« ausgewichen waren. Des weiteren »hat er mir erklärt: >Ich habe keine Revolution erwartete Anschließend erzählte er mir, dass er mit Angehörigen der Miliz, die in den Bergen bei Kingman, Arizona, lebten, darüber gesprochen hatte, wie einfach man mit ein paar Gewehren in den Hügeln dort die Interstate 40 blockieren und dadurch den ganzen Verkehr zwischen dem Osten und dem Westen der Vereinigten Staaten lahmlegen könnte - eine ziemlich verstiegene Überlegung.« Verstiegen, aber, wie mir scheint, typisch für jene Rebellen, die sich gern als Patrioten bezeichnen und sich in der Nachfolge der amerikanischen Kolonisten sehen, die den Separationskrieg gegen England gefuhrt hatten. Man schätzt ihre Zahl auf zwei bis vier Millionen, wovon etwa 400 000 in den Milizen aktiv sind. MCVeigh trat zwar formal nie einer dieser Gruppen bei, reiste aber drei Jahre lang durchs ganze Land, um mit gleichgesinnten Waffennarren und Leuten, die die Bundesregierung hassten, Kontakte zu knüpfen; laut dem Buch American Terrorist erfuhr er dabei auch, »dass die Regierung plante, im Frühjahr 1995 gegen Waffenbesitzer und Mitglieder der patriotischen Bewegung massiv vorzugehen«. Das alles war der Auslöser, den MCVeigh für sein Vorhaben brauchte - die Karten neu zu mischen, gewissermaßen. The Turner Diaries ist das rassistische Machwerk eines ehemaligen Physiklehrers, der unter dem Pseudonym Andrew Macdonald schreibt. McVeigh hat zwar keine Abneigung gegen Schwarze, Juden oder die, die für die verschiedenen »arischen« weißen Gruppierungen aus dem Umfeld der Patrioten als Feindbild gelten, aber er teilt die in den Diaries beschriebene Besessenheit für Waffen und Sprengstoff und den totalen Krieg gegen das »System«. Großes Aufsehen erregte zu Recht die Tatsache, dass das Buch in einer Passage beschreibt, wie man eine Bombe ähnlich derjenigen baut, die in Oklahoma City verwendet wurde. Auf die Frage, ob McVeigh zugegeben habe, diesen Abschnitt abgeschrieben zu haben, antwortete Dr. Smith: »Nun, indirekt schon. Tim wollte klarstellen, dass er im Gegensatz zu den Turner Diaries nicht rassistisch ist. Er hatte keinen Hass auf die Homosexuellen. Das hat er sehr deutlich gemacht.« Und was das Buch als geistigen Anstifter angeht, sei McVeigh »nicht bereit, den Ruhm mit jemand anderem zu teilen«. Um ein Resümee gebeten, antwortete der gute Doktor schlicht und einfach: »Ich habe 74
mir immer gesagt: Hätte es kein Waco gegeben, hätten wir auch kein Oklahoma City erlebt.« Außerdem schickte mir McVeigh einen 1998 entstandenen Artikel, den er für Media Bypass verfasst hatte. Er ist mit »Essay über die Heuchelei« betitelt: »Die Regierung sagt, der Irak habe kein Recht, chemische oder biologische Waffen zu lagern ... vor allem, weil sie diese in der Vergangenheit bereits eingesetzt haben. Wenn dies jedoch der Maßstab ist, nach dem solche Fragen entschieden werden, so sind die Vereinigten Staaten das Land, das den Präzedenzfall geschaffen hat. Die Vereinigten Staaten lagern seit über 40 Jahren genau solche Waffen (und noch andere). Die Vereinigten Staaten behaupten, dies sei aus Gründen der Abschreckung während des >Kalten Krieges< mit der Sowjetunion nötig geworden. Warum gilt dann für den Irak nicht derselbe Grund (Abschreckung) - im Hinblick auf den (wirklichen) Krieg des Irak mit seinem Nachbarn Iran, der ihn anhaltend bedroht?... Doch wenn die Diskussion auf den Irak kommt, wird jede Kindertagesstätte in einem staatlichen Gebäude sofort zu einem menschlichen Schutzschild<. Denken Sie einmal darüber nach. (Tatsächlich gibt es hier einen Unterschied. Unsere Regierung hat zugegebenermaßen gewusst, dass sich in oder bei staatlichen Gebäuden im Irak Kinder aufhalten, und dennoch hält sie an ihren Bombardierungsplänen fest - und sagt, dass man sie nicht verantwortlich machen kann, wenn dabei Kinder sterben. Es gibt jedoch keinen Beweis, dass der Bombenattentäter von Oklahoma City wusste, dass sich in dem Gebäude Kinder befanden.)« Auf diese Weise bestreitet er, vor der Tat von den Kindern im MurrahGebäude gewusst zu haben, während das FBI, über die Anwesenheit von Kindern in den Gebäuden der Davidians informiert, bewusst in Kauf nahm, 27 von ihnen umzubringen. McVeigh zitiert erneut Richter Brandeis: »>Unsere Regierung ist der mächtige und allgegenwärtige Lehrer. Zum Guten wie zum Bösen setzt sie dem Volk ein Beispiele<« An dieser Stelle bricht McVeigh ab. Aber Brandeis fährt in seinem Minderheitsvotum noch fort: »Verbrechen ist ansteckend. Wenn die Regierung zum Gesetzesbrecher wird, fördert sie damit die Missachtung der Gesetze und lädt jedermann dazu ein, sich sein eigenes Gesetz zu schaffen.« So zog der grundanständige, vorbildhafte Soldat sein schrecklich treffsicheres Schwert, worauf Unschuldige starben. Aber eine gesetzlose Regierung, schreibt Brandeis, »lädt zur Anarchie ein. Zu erklären, dass bei der Anwendung des 75
Strafrechts der Zweck die Mittel heilige - zu erklären, dass die Regierung unter Umständen Verbrechen verüben wird, um die Überführung eines Kriminellen sicherzustellen -, würde eine schreckliche Strafe nach sich ziehen.« Man fragt sich, ob die Überzahl der Opus-Dei-Mitglieder in der Fünf-zuvier-Mehrheit des gegenwärtigen Obersten Bundesgerichts diese Worte je anders verstand als - sagen wir - einer der grundlegenden Verfechter eines solchen Denkens, Machiavelli, der darauf pochte, dass ein Fürst in erster Linie gefürchtet werden muss. Schließlich schickte mir McVeigh drei Seiten mit Aufzeichnungen in Langschrift, datiert vom 4. April 2001, also einige Wochen vor der Festlegung des ersten Hinrichtungstermins. Die Seiten sind an »C.J.«(?) adressiert, dessen Initialen er ausgestrichen hat. Hiermit erkläre ich, weshalb ich das staatliche Murrah-Gebäude in Oklahoma City in die Luft gesprengt habe. Dies erkläre ich nicht, um damit zu prahlen, noch will ich damit eine Diskussion um Richtig oder Falsch entscheiden. Ich erkläre es, damit deutlich wird, aus welchem Denken und mit welchen Motiven ich ein Bombenattentat auf eine Einrichtung der Regierung verübt habe. Ich wählte ein staatliches Gebäude für die Bombe, weil sich damit mehr Ziele auf einmal erfüllen ließen als mit einem anderen Objekt. Zuallererst war der Bombenanschlag ein Akt der Vergeltung: ein Gegenangriff für die gehäuften Angriffe (und die daraus folgenden Gewalttaten und Schäden), an denen in den vergangenen Jahren Bundesbeamte beteiligt gewesen waren (darunter auch in Waco, aber nicht dort allein). Seit der Aufstellung von Einheiten wie der »Hostage Rescue« des FBI und anderer Überfallkommandos von Bundesbehörden in den 80er Jahren, die in den Ereignissen von Waco gipfelten, wurden die Einsätze staatlicher Organe zunehmend militaristischer und gewalttätiger, bis hin zu dem Punkt, dass in Waco unsere Regierung - wie die chinesische - gegen die eigenen Bürger Panzer einsetzte. ... Ihrer ganzen Absicht und Zielsetzung nach waren die Bundesbeamten zu »Soldaten« geworden (und orientierten sich, was Ausbildung, Taktik, Technik, Ausrüstung, Sprache, Kleidung, Organisation und Denkweise betrifft, am Militär) und traten immer gewalttätiger auf. Deshalb sollte dieser Bombenanschlag auch ein Präventiv-(oder Proaktiv-)Schlag gegen 76
eben diese Streitkräfte und ihre Kommando- und Kontrollzentralen in dem besagten Gebäude sein. Führt ein Aggressor seine Angriffe ständig von einer bestimmten Operationsbasis aus, so entspricht es guter militärischer Strategie, den Kampf ins Lager des Feindes zu tragen. Außerdem orientierte ich mich am Vorbild der US-amerikanischen Außenpolitik und beschloss, dieser Regierung, die sich zunehmend feindselig zeigte, eine Botschaft zu senden, indem ich ein staatliches Gebäude und die darin befindlichen Staatsbeamten, die die Regierung repräsentieren, in die Luft sprengte. Die Bombardierung des Murrah Gebäudes entspricht moralisch und strategisch der von den Vereinigten Staaten durchgeführten Zerstörung eines staatlichen Gebäudes in Serbien, im Irak oder in anderen Ländern. Gestützt auf die Beobachtung, wie meine eigene Regierung handelt, erschien mir diese Tat als eine annehmbare Option. Aus dieser Perspektive steht das Ereignis von Oklahoma City in einer Reihe mit dem, was Amerikaner unablässig anderen zufügen, und folglich war und ist meine Haltung die eines kühlen Analytikers. (Die Zerstörung des MurrahGebäudes war kein persönlicher Angriff, so wie es kein persönlicher Angriff ist, wenn ein Angehöriger der Luftwaffe, der Armee, der Seestreitkräfte oder der Marines eine (ausländische) staatliche Einrichtung und deren Angehörige bombardiert oder mit Raketen beschießt.) Ich hoffe, mit dieser Klarstellung konnte ich Ihre Frage umfassend beantworten. Mit freundlichen Grüßen
T. M. USP Terre Haute (In.)
Es gab viele wütende Pressekommentare und Briefe, als ich sagte, dass McVeigh an »einem übersteigerten Gerechtigkeitssinn« leide. Dabei hatte ich diesen Begriff nur deshalb verwendet, weil meines Wissens kaum ein Amerikaner ernsthaft davon ausgehen würde, es sei etwas anderes als Eigeninteresse im Spiel, wenn ein Mensch zur Tat greift, während es sich nur um einen Wahnsinnigen handeln kann, wenn jemand freiwillig sein Leben riskiert und opfert, um seine Mitbürger auf die Bedrohlichkeit ihrer Regierung aufmerksam zu machen. Aber das hat der gute Dr. Smith ja gerade gerückt: McVeigh war 77
nicht geistesgestört. Er war ein ernsthafter Mensch. Es ist der 16. Juni. Mir kommt es so vor, als liege die Hinrichtung schon fünf Jahre und nicht erst fünf Tage zurück. Am Tag vor der Exekution, am 10. Juni, befasste sich die New York Times mit dem Thema »Die Zukunft des amerikanischen Terrorismus«. Offenbar hat der Terrorismus wirklich Zukunft: Deshalb hüte dich vor Nazi Skinheads im Wald. Gelegentlich hat die Times Recht, wenn auch aus den üblichen falschen Gründen. Zurzeit hält sie es zum Beispiel für weise, Hirngespinste zu zerstreuen, McVeigh sei »nur eine unbedeutende Schachfigur in einer breit angelegten, von einer Anzahl Unbekannter angeführten Verschwörung, in die möglicherweise sogar die Regierung verwickelt ist. Aber nur eine kleine Randgruppe wird an dieser Theorie länger festhalten.« Gott sei Dank: Man hatte ja schon befürchtet, die Gerüchte über eine Verschwörung größeren Ausmaßes würden sich hartnäckig halten und das Sternenbanner selbst könnte vor unseren Augen in Fetzen gehen. Mehr erzürnt als betrübt meint die Times, McVeigh wollte sich zum Märtyrer aufspielen, indem er sich zuerst für nicht schuldig erklärte und dann seinen Prozess nicht dazu nutzte, um »eine politische Erklärung zu Ruby Ridge und Waco abzugeben«. Dabei war McVeigh ebenso wie die Times der Meinung gewesen, dass sein erster Anwalt, Stephen Jones, mit dem Richter eine unheilige Allianz eingegangen sei, um ihn aufs Kreuz zu legen. Im Berufungsverfahren behaupteten seine neuen Anwälte, zu diesem Mandantenverrat sei es gekommen, nachdem sich der publicitybesessene Jones mit Pam Belluck von der Times getroffen hatte. McVeighs Schuld wurde stillschweigend eingeräumt, woraus sich erklärt, weshalb die Verteidigung so schwach war. (Jones allerdings behauptet, niemals unlauter gehandelt zu haben.) Unmittelbar nach dem Bombenanschlag stellt die Times fest, dass die MilizBewegung von 220 staatsfeindlichen Gruppierungen im Jahr 1995 auf über 850 Ende 1996 in die Höhe geschnellt sei. Zu diesem Anwachsen habe auch die in den Milizen verbreitete Überzeugung beigetragen, »Regierungsbeamte hätten die Bombe platziert, um dadurch die neuen Gesetze zur Terrorbekämpfung zu rechtfertigen. Kein Geringerer als ein ehemaliger General der Air Force vertritt die Theorie, wonach zusätzlich zu Mr. McVeighs Autobombe weitere Sprengsätze in dem Gebäude versteckt waren.« Obwohl die Times sonst gern Analogien zu Nazi-Deutschland zieht, hält sie sich in diesem Fall auffällig 78
zurück, etwa auf die Brandstiftung im Reichstag von 1933 hinzuweisen (zu diesem kreativen Verbrechen bekannte sich später Göring), vor deren Hintergrund Hitler sein Ermächtigungsgesetz durchsetzen konnte - ein Gesetz, das ihn mit uneingeschränkter diktatorischer Macht »zum Schutz von Volk und Staat« und weiter bis nach Auschwitz ausstattete. Der schlaue Chefredakteur der Portland Free Press, Ace Hayes, wies daraufhin, dass der Hund, der zwangsläufig zu jedem Terrorismusfall gehört, noch nicht angeschlagen hat. Dass sich jemand dazu bekennt, ist eine entscheidende Komponente des Terrorismus, denn schließlich soll sich ja im Land die Angst ausbreiten. Aber niemand bekannte sich, bis McVeigh es tat, und zwar nach der Verhandlung, in der er aufgrund der von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Indizienbeweise zum Tode verurteilt worden war. Ace Hayes schrieb: »Wenn der Bombenanschlag kein terroristischer Anschlag war, was war er dann? Er war Pseudoterrorismus, verübt von ... verdeckten Agenten zum Nutzen der bundesstaatlichen Polizeimacht.« Ergänzend zu den Schlussfolgerungen von Hayes schrieb Adam Parfrey in CultRapture: »[Das Bombenattentat] unterscheidet sich in seiner Machart nicht von den unechten VietcongEinheiten, die ausgesandt wurden, um in Vietnam zu vergewaltigen und zu morden und dadurch die Nationale Befreiungsfront in Misskredit zu bringen. Es unterscheidet sich nicht von den erlogenen >Funden< kommunistischer Waffen in El Salvador. Es unterscheidet sich nicht von der fiktiven Symbionistischen Befreiungsarmee, die von CIA und FBI geschaffen wurde, um die echten Revolutionäre zu diskreditieren.« Beweis für eine Verschwörung? Am 23. Mai 1995 wurde Edye Smith in CNN von Gary Tuchman interviewt. Sie wies korrekterweise darauf hin, dass im Büro der ATF im neunten Stockwerk, in dem etwa 17 Leute tätig sind, niemand zu Schaden kam. Anscheinend war an diesem Tag niemand zur Arbeit erschienen. Einzelheiten dazu kann man bei Jim Keith in OKBOMB! lesen, während Smith im Fernsehen bemerkte: »War die ATF vielleicht gewarnt worden? Ich meine, haben sich die Leute überlegt, dass es an diesem Tag nicht so gut wäre, ins Büro zu gehen? Sie hatten die Möglichkeit, an diesem Tag nicht zur Arbeit zu erscheinen, meine Kinder jedoch hatten diese Möglichkeit nicht.« Sie verlor bei dem Anschlag zwei Kinder. Die ATF hat eine Reihe von Erklärungen abgegeben. Die neueste lautet: In den Büroräumen befanden sich fünf Mitarbeiter, die unverletzt blieben. Es gibt noch eine Spur, die nicht weiter verfolgt wurde: McVeighs Schwester verlas bei der Vorverhandlung einen Brief von ihm, in dem es heißt, er sei 79
Mitglied einer »Sondereinheit« geworden, »die in kriminelle Machenschaften verwickelt ist«. Nachdem man ihn bereits zum Tode verurteilt hatte, bekannte sich McVeigh schließlich doch in vollem Umfang zu dem Bombenattentat. Wollte er sich damit als guter, pflichtbewusster Soldat erweisen, der seine Kameraden deckt? Oder sah er sich mittlerweile in einer historischen Rolle als Befreiungskämpfer, dessen Gebeine zwar im Grab vermodern können, dessen Geist aber weitermarschieren würde? Vielleicht erfahren wir es eines Tages. Was den »Nutzen für die bundesstaatliche Polizeimacht« betrifft, unterzeichnete Clinton nach dem Bombenattentat einen Gesetzentwurf, der der Polizei im Kampf gegen den Terrorismus sämtliche Arten von Verstößen gegen die Verfassung erlaubt. Am 20. April 1996 (Hitlers Geburtstag seligen Gedenkens, zumindest für die Produzenten von Frühling für Hitler) setzte Präsident Clinton seinen Namen unter den Anti Terrorism Act (»zum Schutz von Volk und Staat« - die Betonung liegt natürlich auf »Staat«), während einen Monat zuvor der dubiose Louis Freeh den Kongress über seine Pläne informiert hatte, die Einsatzmöglichkeiten für Lauschangriffe durch seine Geheimpolizei auszuweiten. Clinton rechtfertigte sein Antiterrorgesetz im bekannten Tenor (am 1. März 1993 in USA Today}: »Wir dürfen uns nicht darauf versteifen, um jeden Preis an den Rechten des Durchschnittsbürgers festzuhalten.« Und ein Jahr später (am 19. April 1994 auf MTV): »Viele Leute sagen, wir hätten zu viel individuelle Freiheit. Wenn die individuelle Freiheit missbraucht wird, müsse man etwas tun, um sie zu einzuschränken.« Mit dieser staatstragenden Einstellung durfte er cum laude an der Newt-GingrichAkademie promovieren. In seinem Kern fuhrt Clintons Antiterrorgesetz zur Aufstellung einer Staatspolizei, auf den Gräbern der Gründerväter. Die Einzelheiten regelt das Dokument H. R. 97, ein von Clinton, Reno und dem dubiosen Mr. Freeh ausgehecktes Schreckgespenst. Geplant ist eine 2500 Mann starke Schnelle Einsatztruppe, die unter dem Befehl des Justizministers steht und über diktatorische Vollmachten verfugt. Der Polizeichef von Windsor, Missouri, Joe Hendricks, sprach sich gegen eine solche, über der Verfassung stehende Polizeimacht aus. Mit einem Gesetz wie diesem, sagte Hendricks, »könnte ein Agent des FBI in mein Büro marschieren und dort das Kommando übernehmen. Wenn Sie das nicht glauben, lesen Sie einmal den Gesetzentwurf, 80
den Clinton unterzeichnet hat ... Es heißt, dass das FBI in Washington, D.C., die Polizeidirektion übernimmt. Für mich schafft so etwas einen gefährlichen Präzedenzfall.« Nachdem schon seit einem halben Jahrhundert die Russen kommen, gefolgt von den Terroristen der immer zahlreicher werdenden Schurkenstaaten und dem anhaltenden Schreckgespenst der Drogenkriminalität, lässt man der Bevölkerung, die so regelmäßig — so eindringlich — desinformiert wird, kaum eine Pause zum Durchatmen. Dennoch herrscht ein tief verwurzelter Argwohn, der offenbar zur amerikanischen Individualpsyche gehört zumindest den Meinungsumfragen nach zu urteilen. Laut einer Erhebung des Scripps Howard News Service halten es 40 Prozent der Amerikaner für recht wahrscheinlich, dass das FBI Waco in Brand gesteckt hat. Einundfünfzig Prozent glauben, dass John F. Kennedy von Bundesbeamten umgebracht wurde (oh Oliver, was hast du nur angerichtet!). Achtzig Prozent meinen, dass das Militär Beweise unterdrückt, die belegen, dass der Irak im Golfkrieg Nervengas oder etwas ähnlich Tödliches eingesetzt hat. Die Kehrseite dieser Medaille gibt jedoch leider Anlass zur Sorge: Nach Oklahoma City waren laut der Los Angeles Times 58 Prozent der Amerikaner bereit, manche ihrer Freiheiten aufzugeben, wenn dadurch Terroranschläge verhindert werden können - man fragt sich, ob dazu auch das heilige Recht gehört, von der Regierung falsch informiert zu werden. Kurz nach McVeighs Verurteilung beruhigte Direktor Freeh den Rechtsausschuss des Senats: »Die meisten der Miliz-Organisationen im Land sind unserer Ansicht nach weder bedrohlich noch gefährlich.« Vor dem Haushaltsausschuss des Senats hatte er zuvor jedoch »eingeräumt«, dass seine Behörde beunruhigt sei über »verschiedene Einzelpersonen wie auch Organisationen, die zum Teil einer Ideologie anhängen, nach der die Regierung an einer weltweiten Verschwörung beteiligt ist - Einzelpersonen, die sich gegen die Vereinigten Staaten zusammengeschlossen haben«. Alles in allem hält dieser Bürokrat, der sich dem Werk Gottes widmet, solche »Einzelpersonen« für eine Bedrohung, »da sie sich einer Ideologie verschreiben, die den Prinzipien der Bundesregierung widerspricht«. Seltsamerweise scheint Freeh, ein ehemaliger Richter, nicht zu merken, wie erschreckend es ist, was er da sagt. Den früheren Direktor der CIA William Colby machen die Unzufriedenen ebenfalls nervös. In einem Gespräch mit dem aus Nebraska stammenden Senator John Decamp (kurz vor dem Bombenanschlag in Oklahoma City) meinte er nachdenklich: »Ich habe gesehen, wie die Antikriegsbewegung das Land daran gehindert hat, den Vietnamkrieg zu fuhren oder zu gewinnen ... 81
Diese Miliz- oder Patriotenbewegung ... ist viel einflussreicher und gefährlicher für die Amerikaner, als es die Antikriegsbewegung je war, wenn man nicht intelligent mit ihr umgeht... Und nicht weil diese Leute Waffen haben, sollte Amerika besorgt sein.« Dann fährt Colby fort: »Sie sind gefährlich, weil sie zahlenmäßig so stark sind. Ein paar Durchgeknallte oder Abweichler zu haben, ist eine Sache. Mit denen wird man fertig, rechtlich oder auf andere Weise [Hervorhebung von mir], so dass sie das System nicht gefährden können. Die Sache sieht aber ganz anders aus, wenn Sie es mit einer echten Bewegung zu tun haben - Millionen von Menschen, die an etwas glauben -, vor allem, wenn die Bewegung aus gesellschaftlich erfolgreichen Durchschnittsbürgern besteht.« Eine der Möglichkeiten, mit einer solchen Bewegung »auf andere Weise« fertig zu werden, besteht vermutlich in folgender Taktik: Man lässt sie mit einer Stimmenmehrheit von einer halben Million einen Präsidenten wählen, ruft daraufhin die Gesinnungsbrüder im entsprechend besetzten Obersten Bundesgericht an, sorgt dafür, dass sie die Stimmenauszählung in einem Bundesstaat abbrechen, willkürliche Endtermine festsetzen und Verzögerungen erfinden, bis unser antikes Wahlsystem die Präsidentschaft aufgrund von Verzug dem Kandidaten des »Systems« zusprechen muss und nicht dem Kandidaten, für den die Bevölkerung votiert hat. Viele selbst ernannte und echte Experten glauben, dass McVeigh die Bombe, die am 19. April 1995 das staatliche Murrah-Gebäude weitgehend zerstörte, weder gebaut noch gezündet hat. Um von hinten anzufangen - also etwa so, wie das FBI in dem Fall ermittelte: Wenn McVeigh nicht schuldig war, weshalb gestand er dann die Mordtat? Nach dem Briefwechsel mit ihm und dem, was ich über ihn aus einer wachsenden Zahl von Büchern erfahren habe, gelangte ich zu der Überzeugung, dass McVeigh glaubte, den Schuldspruch habe er der schluderigen Arbeit seines Hauptverteidigers Stephen Jones zu verdanken, die mit der brillanten Verteidigung seines »Mitverschwörers« Terry Nichols durch Michael Tigar nicht zu vergleichen war. Als einzige Alternative zum Tod durch die Giftspritze bliebe ihm die Aussicht auf ein halbes Jahrhundert oder mehr hinter Gittern. In Bezug auf unser Gefängnissystem - das als eines der barbarischsten in der Ersten Welt gilt - müssen wir jedoch auch einen Aspekt bedenken, auf den ein britischer Autor im Guardian hingewiesen hat. Er zitierte den kalifornischen Justizminister Bill Lockyer, der sich über den Vorsitzenden eines Stromversorgers ausließ; das Unternehmen profitierte gerade gewaltig von der unzureichenden Energieversorgung Kaliforniens. »>Diesen Vorsitzenden 82
würde ich liebend gern eigenhändig in eine Acht- bis Zehn-Mann-Zelle bringen. Die könnte er sich dann mit einem tätowierten Kerl teilen, der ihn mit den Worten empfängt: Hallo mein Süßer, man nennt mich den Nagler.< Dieser hochrangige Vertreter des Rechts bestätigte, was wir bereits vermutet haben, nämlich, dass Vergewaltigung zur Politik der Bestrafung gehört. Im Gefängnis einem Heils Angel als Sexsklave zu dienen, wird als Bestandteil des Strafmaßes angesehen.« Einige Jahrzehnte lang sich den Nagler vom Leib halten zu müssen, entspricht nicht gerade der Vorstellung, die sich ein Henley‘scher Held von einer angenehmen Zeit macht. Lieber tot sein als genagelt werden. Deshalb: »Ich habe das Murrah-Gebäude in die Luft gesprengt.« Es gibt jedoch erdrückende Beweise für eine Verschwörung, an der in vorderster Reihe Mitglieder von Milizen und - wer weiß? staatliche Infiltratoren beteiligt waren. So wollte man Panik erzeugen, damit Clinton das schändliche Antiterrorgesetz unterzeichnete. Falls jedoch, wie es nun scheint, viele interessierte Parteien darin verwickelt waren, wird man wahrscheinlich niemals eine Art einheitliche Feldtheorie finden; sollte es aber dennoch eine geben, wäre wohl Joel Dyer ihr Einstein. (Aber natürlich hat auch Einstein seine Feldtheorie nie ganz zu Ende geführt.) 1998 las ich Dyers Harvest of Rage. Dyer war Redakteur beim Boulder Weekly. Er schreibt über die Krise des ländlichen Amerika, die auf den Niedergang der familienbetriebenen Farmen zurückgeht und zeitlich mit der Bildung verschiedener Milizen und religiöser Sekten zusammentrifft, von denen einige gefährlich und einige nur jämmerlich sind. In Harvest ofRage legte Dyer dar, dass McVeigh und Terry Nichols bei dem Bombenanschlag in Oklahoma City nicht allein gehandelt haben konnten. Nun hat er nach langen Recherchen einen Epilog auf die Prozesse gegen die beiden Verschwörer geschrieben. Es wird interessant sein zu verfolgen, ob das FBI ausreichend Interesse an Joel Dyers Erkenntnissen entwickelt, um die Spuren weiter zu verfolgen, die er ihnen so großzügig überlassen hat. Bisher ist David Hoffmans The Oklahoma City Bombing and the Politics of Terror die gründlichste von einem guten Dutzend Studien zu dem, was an jenem Tag im April geschehen und was nicht geschehen ist. Hoffman stellt seinen Überlegungen den Brief des ehemaligen Brigadegenerals der Luftwaffe Benton K. Partin voran, den dieser am 17. Mai 1995 allen Mitgliedern des Senats und des Abgeordnetenhauses zukommen ließ: »Als ich zum ersten 83
Mal Aufnahmen von den ungleichmäßigen Schäden sah, die die Autobombe an dem staatlichen Gebäude hinterlassen hatte, kam mir sofort in den Sinn, dass ein solches Schadensmuster ohne zusätzliche Sprengladungen an den Stahlbetonträgern im Fundament technisch nicht möglich sein kann ... Dass eine einfachst konstruierte, in einem Fahrzeug deponierte Sprengbombe der Größe und Beschaffenheit, wie berichtet wurde, über eine Distanz von 20 Metern hinweg eine solche Sprengwirkung erzielen soll, dass ein Säulenfundament aus Stahlbeton mit einer Säulenstärke von A7 zum Einsturz gebracht wird, liegt jenseits aller Glaubwürdigkeit.« Unabhängig von Partin kam Samuel Cohen, der Vater des Manhattan Project und der Neutronenbombe, zu einem ähnlichen Ergebnis. Er schrieb an einen Abgeordneten des Parlaments von Oklahoma: »Es ist absolut unmöglich und widerspricht den Naturgesetzen, dass ein Lastwagen, angefüllt mit Kunstdünger und Heizöl ... egal, von welcher Menge ... dieses Gebäude zum Einsturz hätte bringen können.« Man möchte meinen, dass McVeighs Verteidiger, der unablässig nach einer Verbindung in den Nahen Osten forschte, diese beiden anerkannten Experten als Zeugen berufen hätte, aber in Jones‘ Zusammenfassung über den Fall, Others Unknown, findet sich keiner der beiden Namen. In der Ausgabe vom 20. März 1996 des Mitteilungsblatts Strategie Investment wird berichtet, dass Wissenschaftler des Pentagon geneigt waren, General Partins Theorie zuzustimmen. »Zwei unabhängige Experten des Pentagon kommen in einem als geheim eingestuften Bericht zu dem Schluss, dass die Zerstörung des staatlichen Gebäudes in Oklahoma City letzten April durch fünf einzelne Bomben verursacht wurde ... Aus gut unterrichteten Kreisen heißt es, Timothy McVeigh habe zwar eine Rolle bei dem Bombenanschlag gespielt, aber nur >am Rande<, als >nützlicher Idiot<.« Und am Ende heißt es - wie könnte es auch anders sein, schließlich herrscht Krieg —, »die Verwendung mehrerer Bomben zeigt eine nahöstliche >Handschrift<, die auf eine Verwicklung entweder des Irak oder Syriens schließen lässt«. Wie sich herausstellte, waren Partins und Cohens gut gemeinte Bemühungen, die Trümmer genauer untersuchen zu lassen, vergeblich. Sechzehn Tage nach dem Anschlag wurde die Suche nach Opfern eingestellt. In einem weiteren Brief an den Kongress trat Partin dafür ein, das Gebäude nicht abzureißen, ehe nicht ein unabhängiges forensisches Team die Schäden begutachtet hatte. »Es ist auch leicht, wichtige Beweise zu vertuschen, wie es offenbar in Waco geschehen ist... Warum überstürzt handeln und Beweismittel vernichten?« Wie auf ein Stichwort hin ließ das FBI sechs Tage später die Trümmer abtragen. Dafür 84
führten sie denselben Grund an wie schon in Waco, »Gesundheitsgefährdung«. Partin: »Das ist ein klassischer Vorwand für Vertuschung.« Partin hatte eine kommunistische Verschwörung dahinter vermutet. Na und, niemand ist vollkommen. »Wie lautet also unser Fazit?« hieß die Frage, die die Moderatoren im so genannten goldenen Zeitalter des Live-Fernsehens oft stellten. Das bedeutete: Was soll das Publikum denken, wenn die Show vorüber ist? Die Geschichte von McVeigh gestattet uns verschiedene Schlussfolgerungen. Falls McVeigh bloß ein »nützlicher Idiot« war, ein Werkzeug für eine möglicherweise sehr große Verschwörung, an der verschiedene einheimische Milizen und - wie manche glauben Helfershelfer aus dem Nahen Osten beteiligt waren, dann übertrifft die Weigerung des FBI, so viele viel versprechende Spuren weiterzuverfolgen, ihre übliche Inkompetenz bei weitem und riecht nach Landesverrat. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass McVeigh allein für die Vorbereitung und Ausführung des Bombenanschlags verantwortlich war, hätte diese »inhumane« (so hat man die Taten des UnaBombers tituliert) Vernichtung so vieler Menschenleben nicht den geringsten Sinn gehabt, sofern wir sie nicht ernsthaft als das verstehen, was sie war, ein Alarmruf an die Bundesregierung, die - wie es scheint - von Millionen inständig gehasst wird. (Man sollte nicht vergessen, dass der beliebte Ronald Reagan stets gegen die Bundesregierung Stellung bezog, wenngleich oft aus den falschen Gründen.) Und ein letztes, weit hergeholtes Fazit: McVeigh hat die Bombe weder hergestellt noch transportiert, noch gezündet, aber, als man ihn wegen einer anderen Sache festnahm, den ganzen »Ruhm« für sich in Anspruch genommen und damit sein Leben aufgegeben. Das ist keine Geschichte für W. E. Henley, sondern eher für einen seiner jungen Männer, Rudyard Kipling, Autor von Der Mann, der König sein wollte. Und schließlich lässt die Tatsache, dass das McVeigh/NicholsSzenario überhaupt keinen Sinn ergibt, darauf schließen, dass wir es mit einem »perfekten« Verbrechen zu zun haben - vorläufig jedenfalls. Vanity Fair, 2001
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Fallout
Sobald unsere Medien von einem Nationalhelden oder von einem Bösewicht der Nation ein Zerrbild gezeichnet haben, lassen sie an keinem, der ihrer Version widerspricht, noch ein gutes Haar. So interpretierte man meine umsichtige Deutung von McVeigh dahingehend, ich hätte sein Bombenattentat in Oklahoma City gutgeheißen und würde ihn als »Freiheitskämpfer« feiern, eine Wendung, die ich, wie Sie lesen konnten, nie gebraucht habe. Eigentlich hielt ich es für unmissverständlich, dass ich die Meinung des Psychiaters teile, der ihn untersucht hatte. »Hätte es Waco nicht gegeben«, hatte er gesagt, »hätten wir auch kein Oklahoma City erlebt.« Jeder, dem an der Wahrheit gelegen ist, sollte sich mit den Umständen beschäftigen, die zu dem Massaker der Bundesbehörden in Waco geführt haben, denn was immer die Bundesregierung tut, tut sie im Namen von uns allen. McVeigh hingegen handelte auf eigene Rechnung und aus Gründen, mit denen wir uns genauer auseinander setzen sollten, weil er offenbar in vielerlei Hinsicht Millionen von Amerikanern aus dem Kernland repräsentiert. In dem urprünglichen Artikel zitiere ich Joel Dyer weitaus ausführlicher als heute. Er verbrachte Jahre damit, Hinweise auf potenzielle Mitverschwörer McVeighs zu untersuchen. Es gab sogar eine Spur in Oklahoma City, die auf eine Verwicklung des Irak hätte schließen lassen können, was unseren Aktivisten vom rechten Flügel wohl gut ins Konzept gepasst hätte, so versessen sie darauf sind, gegen den Irak, den Iran, Somalia und überhaupt gegen jedes islamische Land in den Krieg zu ziehen, das uns nicht aufs Wort folgt. Auf Hinweise, die vom FBI vernachlässigt wurden, gehe ich allerdings hier nicht
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weiter ein, denn schon Tarzan sagte, dass eine Fährte immer mehr verblasst, je mehr Zeit verstreicht. Doch irgendwann waren Dyer und ich so weit, unsere Erkenntnisse, so unerwünscht sie auch sein mochten, mit dem FBI zu teilen. Der ominöse Louis Freeh hatte seine Stellung als FBI-Direktor geräumt. An seinen Nachfolger R. S. Muller richtete ich folgenden Brief, den ich in der Today Show von NBC verlas. Die Namen der Personen, von denen die Hinweise stammten, sparte ich aus, aber ich nannte die Dokumentennummern der FBI-Berichte, die Dyer bei der »gerichtlichen Beweisaufnahme« zusammengetragen hatte. An den ehrenwerten Robert S. Muller III., designierter Direktor Federal Bureau of Investigation. J. Edgar Hoover Building 935 Pennsylvania Avenue, N.W. Washington, D. C. 20535-001
27. August 2001
Sehr geehrter Herr designierter Direktor Muller, meinen Glückwunsch zu Ihrer kürzlichen Ernennung zum Direktor des Federal Bureau of Investigation. Wenn wir den Berichten der letzten Tage Glauben schenken dürfen, scheint es Ihnen von größter Wichtigkeit, das Ansehen Ihrer Behörde, das unter Ihrem Vorgänger Freeh Schaden genommen hat, wiederherzustellen. Für uns sind Sie damit Shane, der Retter in der Not. Darf ich Ihnen in diesem Zusammenhang eine Untersuchung auf Treu und Glauben des Bombenattentats von Oklahoma City vorschlagen? Zu diesem ehrenwerten Zweck schicke ich Ihnen eine Aufstellung von »302«-Berichten aus den angeblichen »Ermittlungen« des FBI, an der Sie hoffentlich mehr Interesse finden werden als Ihr Vorgänger, Mr. Louis Freeh. Offen gelegtes Beweismaterial im Fall McVeigh (302-Berichte) Dok. Nr. 005290001-1
Dok. Nr. 004623001-1
Dok. Nr. 016598001-1
Dok. Nr. 004622001-1 87
Dok. Nr. 004412001-1
Dok. Nr. Rüssel Roe
Dok. Nr. 004613001-1
Dok. Nr. - (unleserlich)
Dok. Nr. 001647001-1
Dok. Nr. 007936001-1
Dok. Nr. 006333001-1
Dok. Nr. 008597001-1
Dok. Nr. 015040001-1
Dok. Nr. 015830001-1
Dok. Nr. 015042001-1
Dok. Nr. 016016001-1
Dok. Nr. 015039001-1
Dok. Nr. 007986001-1
Dok. Nr. 015041001-1
Spur #15004 Dok. Nr. (unleserlich)
Bei der Lektüre werden Sie feststellen, dass diese 19 »302«Berichte die Ergebnisse der von Ihrer Behörde durchgeführten Befragungen und Verhöre von Polizeibeamten, Augenzeugen, vertraulichen Informanten, Angehörigen von Milizen usw. sind. Sie alle enthalten Informationen über unter anderem vier Männer, die zur Zeit des Bombenanschlags von Oklahoma City im Osten von Kansas lebten und die als regierungsfeindliche Radikale bekannt waren. Lassen Sie mich den Inhalt dieser Dokumente kurz zusammenfassen: Die erste Reihe besteht aus einem Bericht des vielleicht einzigen Augenzeugen beim Zusammentragen der Bestandteile der Bombe. Er befand sich am oder um den 17. April 1995 am Geary Lake und beobachtete einen Mann und andere Unbekannte, die Kunstdünger von einem landwirtschaftlichen Fahrzeug auf einen Ryder-Lastwagen umluden. Die zweite Reihe von Dokumenten befasst sich mit einem Mann, der mehrere Wochen vor dem Bombenanschlag belauscht wurde, als er sagte: »Jemand wird ein paar Okies Feuer unterm Arsch machen — wartet nur, bis Timmy das erledigt hat.« Außerdem wurde festgehalten, dass der Besagte selbst zahlreiche Terroranschläge vorgeschlagen hatte, die vor und nach dem Anschlag von Oklahoma City stattfinden sollten. Tatsächlich nahm ihn Ihre Behörde später wegen eines dieser Vorhaben fest. Wollen wir nur hoffen, dass man Ihnen darüber Bericht erstattet. Eine dritte Reihe von »302«-Berichten beschäftigt sich ausführlich mit einem Mann, der im Verdacht steht, ein gefährlicher, regierungsfeindlicher Radikaler zu sein und auf seinem abgelegenen Grundstück Bomben aus 88
Kunstdünger zur Explosion gebracht zu haben, bevor in Oklahoma City eine Bombe aus Kunstdünger explodierte. Weitere Informationen über diesen Mann in Erfahrung zu bringen, dürfte Ihnen nicht schwer fallen, denn Ihre Behörde hatte im Laufe der vergangenen Jahre oftmals auf recht ungewöhnliche Weise mit ihm zu tun. Um Ihnen nicht wertvolle Zeit zu rauben, die Sie sicher benötigen, um nach dem Fortgang von Mr. Freeh gründlich aufzuräumen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass es Ihnen möglicherweise Probleme bereiten wird, die Akte des besagten Mannes unter dem ursprünglichen vom FBI zugewiesenen Aktenzeichen (W9243 76484) ausfindig zu machen, denn wie man mir mitteilte, wurde dieses Aktenzeichen rätselhafterweise einem damit nicht in Verbindung stehenden Fall in New Jersey zugewiesen, während die Akte des Mannes aus Kansas eine neue Nummer bekam. Was, so fragt man sich, hat das zu bedeuten? Die letzte Reihe enthält Informationen von Polizeibeamten aus Kansas über einen regierungsfeindlichen Radikalen, der in der gleichen Kleinstadt wohnt wie Terri Nichols, der einzige namentlich bekannte Mitverschwörer McVeighs. Sie werden seinen Namen auch auf den »Posse-Comitatus«Videobändern finden, die das FBI auf der Farm der Brüder Nichols in Michigan beschlagnahmte. Ich denke, die beschlagnahmten Videobänder werden ihn als engen persönlichen Freund des Anführers der »Posse«-Miliz zeigen, dessen Telefonnummer sich zum Zeitpunkt seiner Festnahme in Mr. Nichols‘ Brieftasche befand. Andererseits ist es ja durchaus möglich, das sich diese beiden gleich gesinnten Freunde eines Freundes in einer Stadt mit 636 Einwohnern nie über den Weg gelaufen sind. Darüber hinaus lassen die obigen Berichte auf Verbindungen dieser Männer mit der »Michigan Militia« und den »Arizona Patriots« schließen, zwei regierungsfeindliche Organisationen, zu denen McVeigh vor dem Bombenattentat Kontakt hatte. Hier nun sind meine Bedenken, die von jedem nachdenklichen Amerikaner geteilt werden dürften: Nach Prüfung der Beweismittel, die während des Ermittlungsverfahrens und im Prozess vorgelegt wurden, gewinnt man den Eindruck, dass dem FBI nie wirklich daran gelegen war, den vorhandenen Informationen ernsthaft nachzugehen, obwohl sie, wie oben beschrieben, äußerst viel versprechend waren. Die fraglichen Männer wurden nicht verhört, nicht einmal per Telefon stellte man ihnen die obligatorische Frage nach ihrem Aufenthaltsort zum betreffenden Zeitpunkt. Tatsächlich fanden zu ihrer Person 89
keinerlei Ermittlungen statt, weder eine Überprüfung der Autokennzeichen noch sonst etwas. Übrigens könnte ich mir denken, dass gerade die Frage nach den Fahrzeugen sehr aufschlussreich für Sie wäre. Hätte man obige Spuren auch nur beiläufig verfolgt, so hätte das FBI herausgefunden, dass alle vier Männer durch ihre Mitgliedschaft in ein und derselben radikalen regierungsfeindlichen Gruppierung in enger Verbindung zueinander stehen. Sicher teilen Sie meine Meinung, dass uns eine solche Verbindung zwischen diesen vernachlässigtenSpuren Aufschluss geben könnte, wer an diesem schrecklichen Apriltag was getan hat. Zudem wurde, wie ich kürzlich in Vanity Fair schrieb, dem FBI von drei unterschiedlichen Personen der Name zumindest eines weiteren Mannes genannt, der mit eben jener Organisation in Verbindung stehen soll, dennoch gibt es keine »302«-Berichte zu diesen drei Zeugen und auch keinerlei Informationen zu diesem Punkt in dem Beweismaterial, das die Regierung vorlegte. Ob diese Männer an der Durchführung des Bombenanschlags, der 168 Menschen das Leben kostete, beteiligt waren, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Solch einen kühnen Schluss zu ziehen ist unmöglich, nachdem das FBI es versäumt hat, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass die Regierung zwar beharrlich daran festhält, es sei »jede Spur verfolgt worden« und es gebe »keinerlei glaubwürde Hinweise auf die Beteiligung weiterer Personen«, dass dies jedoch nicht von den Tatsachen gestützt wird, sondern allein von der zunehmend nervösen Presseabteilung des FBI. Das bisher in diesem Fall präsentierte Material lässt auf eine Gleichgültigkeit gegenüber allem Recht schließen, das weit über die beängstigende Inkompetenz Ihrer Behörde hinausgeht. Großzügigerweise will ich annehmen, dass das FBI tatsächlich mehr Spuren verfolgt hat, als es zugibt, so dass das eintritt, was Senator Danforth vor McVeighs Hinrichtung voraussagte: Nach seinem Tod wird man eine Kiste mit Beweismaterial finden, das McVeighs Verteidigern vorenthalten wurde. Da man McVeigh mittlerweile in eine bessere Welt befördert hat, bin ich überzeugt, dass dem FBI eine Antwort auf meine Nachfrage nicht leicht fallen wird. Wurden die Ermittlungen unsachgemäß geführt, was man aufgrund der vielen ignorierten Spuren vermuten könnte? Oder verbirgt sich dahinter etwas noch Schlimmeres, wie etwa die Unterdrückung von Beweismaterial, was eine kriminelle Handlung wäre? Wie auch immer, ich meine, das amerikanische 90
Volk und insbesondere jene Menschen, die unter dem mörderischen Bombenanschlag zu leiden hatten, haben eine Erklärung verdient. Ich bitte um baldmöglichste Antwort. Hochachtungsvoll Gore Vidal c/o Vanity Fair
Times Square 4, 22nd Floor New York, N.Y. 10036 Alle Leser, die ich nun, wie Alfalfa Bill Murray es nannte, »am Haken« habe, werden sich fragen, wie die Antwort des designierten FBIDirektors ausfiel. Ich bekam keine. Außerdem wurde aufs Neue das Lee-Harvey-Oswald-Szenario durchgespielt. Als ich NBC ein Interview gab - warum haben Sie das alles aufgerührt, warum reißen Sie bei den Bürgern von Oklahoma die alten Wunden wieder auf? -, sagte ich, ich wollte ihnen und dem Rest des Landes damit neues Leid ersparen, denn es liefen noch immer zahlreiche Feinde der Vereinigten Staaten frei herum, und sie würden mit Sicherheit erneut zuschlagen. Leider wusste ich damals noch nicht, dass sich in jenem Augenblick gewisse Leute in Oklahoma gerade damit beschäftigten, wie man ein Flugzeug steuert, ohne den Startvorgang zu beherrschen. Schließlich sprach McVeigh zu mir aus dem Grab. Ich erhielt ein Schreiben von Eric F. Magnuson, dem Vorsitzenden des World Libertarian Order. Am 21. Mai 2001 hatte Magnuson einen Brief an McVeigh in die Todeszelle geschickt und ihn gefragt, was er an der Art und Weise, wie sich die Vereinigten Staaten regieren, ändern würde. Pflichtschuldigst antwortete McVeigh mit zehn Ergänzungen zu den zehn Verfassungszusätzen, die unsere Bill of Rights bilden. Gemeinsam mit Magnusons Erklärung zu seinem Standpunkt in dieser Sache stelle ich sie hier vor:
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Eric F. Magnusons Widerruf
20. Juni 2001
Hiermit möchte ich betonen, dass der World Libertarian Order nicht zwangsläufig mit Timothy McVeighs Ansichten übereinstimmt, nur weil wir sie hier veröffentlichen. Unsere Auffassungen entsprechen nicht den seinen. Und keinesfalls können wir Bombenanschläge auf große Gebäude, in denen sich uns unbekannte Menschen aufhalten, verteidigen oder entschuldigen. Womöglich kommt dabei ein zukünftiger Libertarianer ums Leben. Jedoch sind wir der Meinung, dass solche tragischen Vorfälle in der Zukunft nicht verhindert werden können, solange wir nicht bereit sind, uns klar und ehrlich mit der Frage zu beschäftigen, wie es in der Vergangenheit dazu kommen konnte. Wir sind zuversichtlich, dass alle richtig denkenden Menschen diesem fundamentalen Prinzip zustimmen werden. Jene, die es nicht tun, geben der Fantasie den Vorzug vor der Wahrheit. Und diese Menschen sind das Problem, nicht ein Teil der Lösung. Die Tatsache, dass Timothy McVeigh eine derartige Verzweiflungs- und Zerstörungstat beging, darf nicht die Tatsache vergessen lassen, dass die Regierung Amerikas zu mächtig und zu tyrannisch geworden ist, sondern unterstreicht sie nur. Eric F. Magnuson Vorsitzender World Libertarian Order
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Tims Bill of Rights 1. Die Freiheit der Rede, der Presse, der Religion und der Versammlung dürfen weder beschnitten noch einer Person durch die Regierung der Vereinigten Staaten aufgezwungen werden. 2. Zu Friedenszeiten ist die Einrichtung einer stehenden militärischen Macht nicht erlaubt, (dies) umfasst große Teile der bundesstaatlichen Polizeibehörden bzw. Zusammenschlüsse seiner Beamten, die eine militärische Streitmacht bilden könnten, mit Ausnahme der Marineeinheiten auf See. 3. Der Exekutive kommt nicht das Recht zu, einseitig die Verfassung zu ändern. 4. Keine Person soll in irgendeiner Form der direkten Besteuerung oder der Einkommensbesteuerung durch die Bundesregierung ausgesetzt sein. 5. Keiner Person darf ohne ordentlichen Prozess die Freiheit oder das Leben genommen werden. Jeder Regierungsbeamte, der die Prozessordnung missachtet, ist mit Gefängnis zu bestrafen. Beamten der Bundesregierung ist untersagt, in die Wohnung oder das Eigentum eines Bürgers einzudringen. Eigentum und andere Vermögenswerte eines Bürgers der Vereinigten Staaten dürfen von der Bundesregierung nicht beschlagnahmt werden. 6. Handlungen einer Person, die eine andere Person in ihrem Recht und Eigentum nicht beschneiden, dürfen von der Regierung der Vereinigten Staaten nicht angeklagt, verfolgt oder bestraft werden. Jede zur Anzeige gebrachte Straftat muss von der der angezeigten Straftat jeweils nächstgelegenen Justizbehörde verfolgt werden. Keine Person darf wegen einer angezeigten Straftat zum zweiten Mal an einem anderen Gerichtsstand abgeurteilt werden. Keine Person darf einer grausamen oder unüblichen Strafe ausgesetzt werden, noch hat die Bundesregierung das Recht inne, eine Person zur Strafe für ihr nachgewiesenes Verbrechen hinzurichten oder diese Aufgabe einer anderen Institution zu übertragen. Keine Person darf für die Handlungen einer anderen haftbar gemacht werden, ehe nicht durch mehr als einen Zeugen bestätigt wurde, dass sie der Haupttäter ist. 7. Das gesamte in Umlauf befindliche Geld muss in ein weltweit anerkanntes Material von eigenem Wert, wie zum Beispiel Silber, eingelöst werden können. 8. Angehörige der Legislative dürfen kein höheres Gehalt verdienen als das Doppelte des Betrags, auf den die jeweilige Armutsgrenze festgelegt ist, und nicht in den Genuss zusätzlicher Entlohnungen, Boni, Belohnungen, Schenkungen, 93
Übertragungen oder Privilegien ähnlicher Art kommen, da das Innehaben solcher Ämter dem Volk dienen soll und nicht als kapitalistisches Karrieresprungbrett zu betrachten ist. 9. Sollte durch gewaltfreie Kontrollen und Maßnahmen nicht der Missbrauch oder die Tyrannei der Regierung zu verhindern sein, steht dem gemeinen Bürger das Recht der Rebellion zu. Aus diesem Recht leitet sich das uneingeschränkte Recht des gemeinen Bürgers ab, die gleichen Waffen zu erwerben und zu besitzen, die auf jedweder bundesstaatlichen Ebene für polizeiliche Arbeit verwendet werden. 10. Jedes Recht, das hier nicht aufgeführt wird, verbleibt seinem Wesen nach beim Volk oder dem jeweiligen Einzelstaat und geht bei Unterlassung nicht in die Kompetenz der Bundesregierung über. Timothy J. McVeigh
28. Mai 2001
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Die neuen Theokraten
Wie andere vor ihm, ist der 18. Juni 1997 ein Tag, der in der langen Geschichte von Infamitäten des Wall Street Journal einen besonderen Stellenwert einnimmt, oder der w.Z.d.W., der »wichtigsten Zeitung der Welt«, wie sie sich gern selbst tituliert, in seliger Unkenntnis der Tatsache, wie unbekannt dieses muntere neofaschistische Blatt den meisten Amerikanern ist - ganz abgesehen von jenen Milliarden, die in Finsternis verkümmern, weil sie die schwefligen Ausdünstungen von Wall Streets kleiner Zeitung nicht anders erreichen als in Form des Gestanks aus den fernen Sümpfen eines wahnsinnig gewordenen Imperiums. Am 18. Juni schaltete die w.Z.d.W. in der New York Times, die eine Nachricht nur dann druckt, wenn sie in ihr unvergleichliches Weltbild passt, eine Anzeige. Diese Anzeige bestand aus dem Abdruck eines Leitartikels der w.Z.d.W. mit dem Titel »Moral der Moderne«, ein Thema, das ich zunächst einmal nicht zu den Herzensanliegen der beiden Blätter zählen würde. Andererseits hat Moral für einen Amerikaner nicht das Geringste mit Ethik zu tun, mit richtigem Handeln oder der Frage, wer wem welches Geld oder welche Freiheitsrechte - stiehlt, sondern einzig und allein mit Sex, Sex und noch mal Sex. Schon die Einleitung des Artikels ist ein richtiger Knüller. »In der gleichen Woche, in der ein Armeegeneral mit 147 Kampfeinsätzen in Vietnam« (wisst ihr noch, wie dieser wirklich gute Krieg den Dow Jones Index hochtrieb?) »wegen eines 13 Jahre zurückliegenden Seitensprungs seinen Posten verlor« (hier bewegt sich die w.Z.d.W. auf sicherem Boden, denn weder der General noch die betreffende Dame noch sonst ein Krieger sollte für Seitensprünge belangt werden, wenn sie nicht mitten im Kampfeinsatz stattfanden), »wurde gemeldet« - ich liebe diese Formulierung in einer Zeitung von so ausgeprägter Meinung und mit so zahllosen unbedeutenden Meldungen -, »dass ein Mädchen aus New Jersey während einer Highschool-Party in der Toilette ein Kind gebar und es 95
in den Mülleimer steckte, hinausging und den Diskjockey bat, einen Song von Metallica zu spielen - für ihren Freund. Das Baby ist tot.« Durch den Begriff »Mädchen« in die Irre geführt, stellte ich mir eine von Panik getriebene Pubertierende vor. Doch als einige Tage später eine gewisse Melissa Drexler des Mordes angeklagt wurde, beschrieb die Times sie korrekt als »Frau« von 18 Jahren. Auf einem kürzlich veröffentlichten Foto wiederum, das sie neben ihrem Geliebten auf der besagten Party zeigt, sehen die beiden wie Anfang dreißig aus. Die w.Z.d.W. jedoch ließ es sich nicht nehmen, Ms. Drexler als eines jener unschuldigen Kinder auszugeben, die durch das Laisserfaire der liberalen »Wertvorstellungen« in den Vereinigten Staaten verdorben werden - während der Laisser-faire-Kapitalismus natürlich den Inbegriff des Guten darstellt. Dies alles sei das »moralische Chaos«, klagt der Autor. Ich hingegen sage, dies alles ist schlicht und einfach die altbekannte amerikanische Dummheit, dass sich eine bigotte Mehrheit vom herrschenden Establishment, dessen fanatischstes Sprachrohr das Wall Street Journal darstellt, auf zynische Weise aufstacheln lässt. »Für die Frage, wie sich das Land aus dem Sumpf der sexuellen Verirrungen befreien kann, wissen auch wir keinen guten Rat...« Das können Sie ruhig noch einmal sagen, und sicher werden Sie das auch. Anstatt also einen schlechten Rat zu erteilen, sollten Sie lieber damit aufhören, mit Ihren Anzeigen diejenigen zu verunglimpfen, die man die Liberalen nennt. In einem Land, das die politischen Reaktionäre und die religiösen Eiferer unter sich aufteilen, sehe ich kaum noch einen Liberalen, der seine Stimme erhebt. Doch der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass dem geächteten General Unrecht widerfahren sei, während das »Mädchen« mit dem Baby zu einer Nummer in der Statistik wird, die rechtsgerichtete Journalisten für sich ausschlachten, wobei sich diese oft gar nicht so sehr von dem grässlichen, Metallica-liebenden Menschenschlag unterscheiden, der Babys ins Klo wirft - eine üble Sache, die man durch Verwendung eines, sagen wir mal, Gummis hätte vermeiden können, wenn ein »Mädchen« und ein »Junge« miteinander schlafen. Aber nein. Man versichert uns, das moralische Chaos sei Resultat des Sexualkundeunterrichts und der Tatsache, dass »der Sumpf«, wie es in der Anzeige heißt, »mit Kondomen übersät ist, die seit etwa fünf Jahren von den erwachsenen Leitern unserer Highschools verteilt werden ... oder aus Automaten stammen, die rein zufällig in der Toilette angebracht sind«. Vielleicht wäre der 96
Beichtstuhl dafür ja ein besserer Standort. Dass es schlimm ist, wenn eine Frau ein Baby bekommt und es dann im Stich lässt, steht außer Zweifel; andererseits hält man es jedoch aus irgendwelchen metaphysischen Gründen für falsch, zu verhindern, dass es zu solch einer Geburt überhaupt erst kommt. Doch wenn diese Esel mit ihrem Geschrei erst einmal beginnen, gibt es kein Verständnis von Ursache und Wirkung. Natürlich präsentiert uns die w.Z.d.W. ihren eigenen Vorschlag: Keinen Sex jeglicher Art ohne Trauschein für die unteren Klassen und Überwachung aller, einschließlich der Generäle und wirklich wertvoller Menschen, dank der gleichen Liberalen, die im Augenblick »nichts verbieten, jedoch alles bestrafen«. Eine solche Philosophie nennt man »Zurück in die Zukunft«. Fast alle Welt (abgesehen von einigen fundamentalistischen monotheistischen Juden, Christen und Muslimen) hält sich an die vernünftige Regel, dass den Staat »in Übereinkunft getroffene« Beziehungen sexueller Art nichts angehen. Die Vereinigten Staaten erwiesen sich in dieser Hinsicht schon von jeher als rückständig, woran teilweise ihre puritanischen Wurzeln schuld sind und teilweise die gesellschaftlichen Gegebenheiten, die aus einer Jahrtausende alten Agrarwirtschaft mit ihrer Tradition des engen Familienzusammenhalts herrühren. Ins Wanken geriet dies erst durch die industrielle Revolution und die Verstädterung und neuerdings durch die postindustrielle Welt der Dienstleistungen, zu deren funkelnden Perlen inzwischen die »sichere« Prostitution gezählt werden darf. Obwohl die »Tiraden« (ein Lieblingswort der Rechten) in der TimesAnzeige recht abgedroschen klingen und nicht weiter ernst zu nehmen sind, verbirgt sich hinter all dem Geschwätz doch eine erstaunliche Heuchelei. Der w.Z.d.W. geht es nicht um die Moral. Schließlich wird jedes Unternehmen, das seine vierteljährlichen Gewinne dadurch erhöht, dass es einen Fluss verseucht, lautstark beklatscht. Doch in dem Artikel spiegelt sich ein gewisses Unbehagen wider, die Menschen könnten sich, wie am Beispiel der Sexualität deutlich zu sehen ist, von ihren Herren befreien wollen, während die mit ihren Verboten immer unnachgiebiger und anmaßender werden - einmal streiken, und du bist draußen, lautet ihr schmutziges kleines Geheimnis. In der Mitte seiner Tirade bringt es das Blatt fast auf den Punkt: »Wir wollen ganz einfach (sie) daran erinnern, dass der sexuelle Verhaltenskodex, wie er von den anerkannten Religionen in den USA entwickelt wurde, die Gesellschaft mehr oder weniger 97
gesund erhalten hat, im Gegensatz zu der Katastrophe, die wir augenblicklich erleben.« Da haben wir‘s. Wo bleibt Norman Lear, Erfinder der Siebziger-JahreKultserie Mary Hartman, Mary Hartman, jetzt, da wir ihn brauchen? Stellen wir uns auf der Leinwand einen pappgrauen bleiernen Himmel vor und dazu (wie Daryl Zanuck sie nannte) unheilvolle Musik. Dann ruft eine Frau klagend: »Hester Prynne, Hester Prynne!«, während ein pulsierendes, scharlachrotes »A« die Leinwand ausfüllt. So rückständig, dass sie oft schon wieder progressiv erscheint, ist die w.Z.d.W. tatsächlich einer Sache auf der Spur. Zwar glaube ich nicht, dass jemand aus ihrem Umfeld schon einmal von dem neapolitanischen Gelehrten Vico aus dem achtzehnten Jahrhundert gehört hat, doch meine Leser werden sich erinnern, dass Vico, gestützt auf Plato, verschiedene organische Phasen in der menschlichen Gesellschaft definiert hat. Zuerst herrscht das Chaos. Dann entwickelt sich die Theokratie, dann die Aristokratie und schließlich die Demokratie. Da eine Republik jedoch dazu neigt, imperialistische und tyrannische Züge anzunehmen, bricht sie zusammen, und wir stehen wieder vor dem Chaos und ihrem Abkömmling, der Theokratie, somit vor einem neuen Kreislauf. Gegenwärtig sind die Vereinigten Staaten eine leicht chaotische, imperialistische Republik, die auf ihr Ende zusteuert, was nicht weiter schlimm ist, solange es nicht zu einem Ausbruch des Chaos kommt, denn das würde bedeuten, dass uns ein neues Zeitalter der Religion bevorsteht. Jedem, dem trotz ihres religiösen Übergewichts an unserer alten Republik etwas lag, muss das Chaos dem harschen Regiment der Theokraten vorziehen. Wir erleben diese Brutalität in ihrer schlimmsten Form heute in Israel und gewissen islamischen Ländern wie Afghanistan. Zum Glück können es ihre gesellschaftlichen Reglementierungen noch nicht mit der universellen Gier nach Konsumgütern, dieser schönen neuen Welt an der Schwelle zur Demokratie, aufnehmen. Was uns Amerikaner betrifft, halten wir bislang noch die Stellung gegen unsere eigenen psalmodierenden Gottesanbeter - größtenteils fundamentalistische Christen, die sich von einem wüsten, dekadenten, mit dem Totalitarismus liebäugelnden Kapitalismus aufhetzen lassen, wie er so frech in der New York Times vom 18. Juni 1997 propagiert wurde. Die Truppen haben Aufstellung bezogen. Während das unselige »Mädchen« in New Jersey dem Diskjockey seine Bitte vortrug, sammelte sich die christliche Rechte, um gegen die in der Unterhaltungsindustrie herrschende Freizügigkeit vorzugehen. Am 18. Juni rief die Jahresversammlung der Southern Baptists zum Boykott des Disney-Konzerns und ihres Fernsehsenders ABC auf, weil sie 98
eine Lesbierin als menschliches Wesen dargestellt hatten, sich in PulpFicfionGewaltorgien ergingen und die Werte der christlichen Familie in den Schmutz zogen. Leider liegt mir die komplette Aufstellung nicht vor (man verteilte eine Liste mit mehr als 100 Punkten), aber dies alles klingt sehr nach der priesterlichen Amtsenthebung in den glorreichen Tagen Salems. Zwar habe ich das Disney-Kartell einst wegen seiner Mediendominanz kritisiert, doch nun muss ich mich dem bedrohten Moloch an die Seite stellen. Dies ist der Augenblick, in dem Disney das volle Gewicht seiner Finanzen in die Waagschale werfen muss. Die Baptisten brauchen eine Lektion in Verfassungsrecht, die sie so schnell nicht vergessen werden. Man sollte sie wegen des üblichen Verstoßes gegen den ersten Verfassungszusatz und die Behinderung des freien Handels vor Gericht bringen. Darüber hinaus sollten wir jetzt endlich zur Wurzel des Übels vordringen: Die Steuerbefreiung für Religionsgemeinschaften, von den Baptisten bis zu den gleichermaßen dubiosen — und ebenso bösartigen - Scientologen muss aufgehoben werden. Die ehrenwerte Übereinkunft zwischen Kirche und Staat lautete dahingehend, dass Wir, das Volk (der Staat) jegliche Religionsausübung weder fördern noch behindern und dass — in der stillschweigenden Annahme, bei der Religion handele es sich »um eine gute Sache« - die kleine Kirche an der Elm Street keine Vermögenssteuer zu zahlen braucht. Niemand konnte vorhersehen, dass wir damit die wertvollsten Grundstücke im Herzen unserer alten Städte von der Steuerlast befreien, während Kirchen und Tempel und Orgonakkus* Aktien und Vermögenswerte nur so scheffelten. Die Gegenleistung für dieses riesige Zugeständnis lautete, die Religion dürfe sich nicht in die Politik einmischen und Uns das Volk nicht mit ihrem Aberglauben behelligen. Dass diese Übereinkunft schon vor Jahren gebrechen wurde, zeigt sich am skandalösen Aufstieg des Präsidentschaftskandidaten Hochwürden Pat Robertson. Da der Kongress nicht zur Tat schreiten wird, muss eine Bewegung von unten dafür sorgen, dass die Verfassung ergänzt wird, obwohl der Text des ersten Verfassungszusatzes mit keinem Wort vorsieht, Kirchen, Tempel und Orgonakkus * Der Orgon-Theorie von Wilhelm Reich zufolge können kosmische Lebensenergien mit bestimmten Apparaten gespeichert und auf diese Weise weitergegeben werden (A.d.Ü.).
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eine Steuerbefreiung oder sonst irgendwelche Sonderrechte einzuräumen. In diesem Kampf könnte Disney sich also nützlich machen, obwohl ich auch weiß, dass es neben einem Filmstudio und einer Fernsehanstalt nichts Feigeres gibt als einen Konzern, der im Offenen agieren muss. Aber wenn du es nicht tust, Mr. Mickymaus, kriegen dich 15,7 Millionen Baptisten am Arsch. Und uns andere auch. The Nation 21. Juli 1997
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Ein Brief - bitte zustellen
Ich schreibe dies knapp zwei Wochen, bevor der Verlierer der Präsidentschaftswahlen des Jahres 2000 in das Amt eingeführt wird. Wir haben nun eine Konstellation wie im Japan des siebzehnten Jahrhunderts: ein machtloser Mikado, beherrscht von einem Shogun-Vizepräsidenten und seinen Pentagon-Kriegsräten. Träumen sie vielleicht wie einst die Shoguns von der Eroberung Chinas? Das werden wir, denke ich, noch früh genug erfahren. Sayonara. 11. Januar 2001* Meinen Glückwunsch, Herr designierter Präsident. Wie jedermann warte ich schon gespannt auf Ihre Rede zur Amtseinführung. Denn inzwischen dürften Sie ja wissen, dass wir uns an Ihren Reden des vergangenen Wahlkampfs gar nicht satt hören konnten, einem Wahlkampf, aus dem der Beste als Sieger hervorging, wie wir es in der, nach Spiro Agnews berühmtem Ausspruch, »größten Nation im Land« gewohnt sind. Bleiben wir noch ein wenig bei der ersten Rede, die Sie als Präsident an uns richten werden. Hoffentlich stört es Sie nicht, wenn ich Ihnen dazu ein paar Anregungen gebe, so wie ich es schon in densechziger Jahren gehalten habe, als ich in David Susskinds Fernsehsendung - Gott hab sie selig - regelmäßig mein Resümee zur Lage der Nation zog. Dazu fällt mir sogleich ein, dieser Neubeginn wäre vielleicht eine gute Gelegenheit, um endlich zuzugeben, dass wir die letzten fünfzig Jahre lang etwas betrieben haben, das der Historiker Charles A. Beard so hübsch als »dauerhaften Krieg für dauerhaften Frieden« bezeichnete. * Dieser Artikel wurde vor der Präsidentschaftswahl des 7. November 2000 für Vanity Fair geschrieben.
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Meinem Eindruck nach, Herr designierter Präsident, wünschen die meisten Amerikaner, dass sich unsere Wirtschaft vom Krieg auf den Frieden umstellt. Natürlich möchten wir auch weiterhin protzig auftreten. Allerdings möchten wir nicht, dass auch nur ein Teil unserer Steuern für die Gesundheitsvorsorge hinausgeschmissen wird, denn das wäre Kommunismus, vor dem uns allen graust. Aber wir hätten gern ein paar unserer Steuergroschen für die Bildung abgezweigt. Erinnern Sie sich noch an Ihre Worte in der abschließenden Debatte mit Ihrem Gegner, der nun geschlagen im Staube liegt: »Bildung ist der Schlüssel zum neuen Jahrtausend.« (Meinen Notizen nach haben das sogar alle vier von Ihnen gesagt.) Jedenfalls ist es an der Zeit, unsere allgemein nicht sehr geschätzte Rolle des Weltpolizisten aufzugeben, als der wir gegenwärtig Kolumbien, die Quelle teuflischer Drogen, verwüsten und Kuba, den Irak und bis vor kurzem auch Serbien »in Umerziehung« genommen haben, wie der Polizeijargon für Hausarrest lautet. Dieses zwanghafte Sich-Einmischen in die Angelegenheiten anderer Länder ist kostspielig und nutzlos. Besser, wir setzen unser eigenes Land mit »internen Verbesserungen« instand, wie Henry Clay es zu nennen pflegte. Aber um das zu schaffen, wird es Ihre erste wichtige Aufgabe sein, die Kriegsherren im Pentagon sowie ihre Mitverschwörer im Kongress und in den Vorstandsetagen der amerikanischen Konzerne an die Kandare zu nehmen. Seit die Sowjetunion auf so unsportliche Art das Handtuch geworfen hat, um sich nun dem Urkapitalismus und der doppelten Buchführung zu widmen, halten unsere Kriegsherren verzweifelt Ausschau nach neuen Feinden, mit denen sie den ständig steigenden Militäretat rechtfertigen können. So muss eben der Terrorismus bekämpft werden. Außerdem fuhren wir einen Krieg gegen die Drogen, der aber nicht zu gewinnen ist. Selbst wenn dabei alle Mühen vergeblich sind, versprechen sich die Kriegsherren und Medien von der bevorstehenden Zerstörung Kolumbiens, eines ehemals liberalen demokratischen Landes, eine Menge Spaß, den die Einwohner dieses einst glücklichen Landes wohl nicht so ganz teilen werden. Dann hat man kürzlich eine weitere eindeutige Gefahrenquelle entdeckt: die Schurkenstaaten beziehungsweise die »Länder, die Anlass zur Sorge bieten«. Als solche hat man bisher Nordkorea, den Irak und den Iran entlarvt. Gleichzeitig wurden die weltweit eine Milliarde zählenden Muslime als durchgeknallte Fanatiker verteufelt, die entschlossen seien, alles zu vernichten, was gut ist auf Erden, das heißt uns. Nun, da wir unsere Feinde buchstäblich ins Visier genommen haben, geht das Pentagon davon aus, dass diese Schurken früher oder später unsere Städte auslöschen werden, und zwar vermutlich von Raumschiffen aus. Folglich muss zu unserem Schutz der atomare Ronald-Reagan-GedächtnisWeltraumschutzschild installiert werden, dessen Einfuhrungspreis 60 Milliarden 102
Dollar beträgt, obwohl die Tests dieses Systems, wie zuletzt im Juli, beharrlich fehlschlagen, so sehr das Pentagon die Ergebnisse auch manipulieren mag. Dass laut Umfragen eine Mehrheit Ihrer Wähler glaubt, dieser Schutzschild sei bereits im Einsatz, erlaubt Ihnen zu sagen, Sie würden ihn auf den neuesten Stand bringen, und in Wirklichkeit nichts zu tun. Schließlich haben sich die Vereinigten Staaten von 1949 bis 1999 die »Landesverteidigung« 7,1 Billionen Dollar kosten lassen. Als Folge betragen die Staatsschulden - allein verursacht durch die Militärausgaben und die dadurch anfallenden Zinsen - 5,6 Billionen Dollar, wobei der Staat mit 3,6 Billionen bei der Öffentlichkeit in der Kreide steht und mit 2 Billionen bei den Treuhandfonds der Sozialversicherung und der Medicare-Krankenversicherung. Herr designierter Präsident, da die Zahlen des Finanzministeriums traditionellerweise frisiert sind, wäre es nett, wenn Sie dafür sorgen könnten, dass die tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben im Bundeshaushalt korrekt wiedergegeben werden. Letztes Jahr wollte uns die Regierung weismachen, die Einnahmen hätten etwas mehr als 1,8 Billionen Dollar betragen und die Ausgaben seien knapp unter 1,8 Billionen Dollar geblieben; daher das berühmte, erstaunliche Plus — während natürlich wie gewohnt ein Defizit von rund 90 Milliarden Dollar entstanden war. Jahr für Jahr rechnet man die offiziellen Staatseinnahmen hoch, indem man die Einnahmen der öffentlichen Sozialversicherung und der Medicare hinzuzählt. Diese Fonds sind aber keine Staatseinkünfte. In diesem Jahr hat die Sozialversicherung einen satten Überschuss von 150 Milliarden Dollar erwirtschaftet. Kein Wunder, dass die amerikanischen Konzerne und ihre Gehaltsempfänger im Kongress es kaum erwarten können, diesen gesunden Fonds, dem bisher nur von ihrer Seite Gefahr droht, zu privatisieren. Obwohl letztes Jahr die Militärausgaben tatsächlich geringer waren als sonst, floss nach wie vor die Hälfte des Staatsbudgets in die Finanzierung künftiger Kriege und in die Bombardierung der ominösen Aspirin-Fabrik im Sudan. Die Ausgaben für das Militär betrugen 344 Milliarden Dollar, während sich die Zinsen für die durch das Militär verursachten Staatsschulden auf 282 Milliarden Dollar beliefen. Tut mir Leid, dass ich Sie mit diesen Statistiken langweilen muss, aber sie sind der Kern unserer - wie nannte es Jimmy Carter einst so ungeschickt? - Malaise (das ist Französisch und bedeutet »Pleite«). Das fröhliche Versprechen der Regierung Clinton, während der nächsten zehn Jahre einen Überschuss von 1,8 Billionen Dollar vorzuweisen, war natürlich eine kühne, wenngleich tröstliche Fiktion und beruhte auf Schätzungen der künftigen Staatseinnahmen, die durch und durch surreal waren - ganz zu schweigen von Ausgaben, die uns tiefrote Zahlen bescheren, wenn der Kongress wie letzten September das Geld mit vollen Händen verschleudert. 103
Mein Herr, wenn Sie für unser Land und für die Welt, die es als Geisel hält, nur im Mindesten von Nutzen sein wollen, müssen Sie das amerikanische Militär in die Schranken weisen. Rufen Sie die außer Kontrolle geratene militärische Führung zur Ordnung. Vergangenen September erklärte der Vorsitzende des Generalstabs, General H.H. Shelton, man benötige nicht weniger, sondern mehr Geld. Im Einzelnen fordern die Marines jährlich 1,5 Milliarden Dollar zusätzlich, die Armee über 30 Milliarden, die Marine 20 Milliarden, die Luftwaffe 30 Milliarden, und das alles ohne Feind in Sicht (wir wenden zweiundzwanzig Mal so viel auf wie unsere sieben potenziellen Feinde - Kuba, der Iran, der Irak, Libyen, Nordkorea, der Sudan und Syrien - zusammengenommen). Sie dürfen diese ruinösen Steigerungen nicht bewilligen. Im August 1961 besuchte ich Präsident Kennedy in Hyannis Port. In Berlin wurde gerade die Mauer gebaut, und er war drauf und dran, gewaltig aufzurüsten — wenn auch widerwillig, wie er sagte, wobei er eine Zigarre paffte, die ein Freund für ihn aus Castros Kuba befreit hatte. Ich muss hinzufügen, dass Kennedy die Liberalen mehr hasste als die Konservativen. »Niemand kann der New York Post je liberal genug sein«, sagte er. »Na gut, jetzt kann sich die Post ja freuen. Berlin wird uns mindestens dreieinhalb Milliarden Dollar kosten. Mit dieser Aufrüstung bekommen wir im laufenden Jahr ein Defizit von sieben Milliarden Dollar. Das wird die Wirtschaft ganz schön ankurbeln.« Er zog eine finstere Miene. »Mein Gott, ich hasse es, wie die da drüben im Pentagon mit dem Geld herumschmeißen.« »Das sind nicht die«, erwiderte ich. »Das bist du selbst. Es ist deine Regierung.« In knapper Form legte er mir daraufhin die Tatsachen des Lebens dar, die ich Ihnen nun als Ratschlag des fünfunddreißigsten an den - wo rangieren Sie eigentlich, Herr Präsident? dreiundvierzigsten Präsidenten weitergeben möchte: »Die einzige Möglichkeit für einen Präsidenten, das Pentagon zu zügeln, besteht darin, die ganzen vier Jahre der ersten Amtszeit nichts anderes zu tun, als diesen Saustall auszumisten, was bedeutet, dass er für alles Übrige keine Zeit mehr hat...« »Sich zum Beispiel um seine Wiederwahl zu kümmern?« Er grinste. »Zum Beispiel.« Da jetzt noch Zeit dafür ist, schlage ich Ihnen, Herr designierter Präsident, deshalb vor, dass Sie sich einmal die Verbindungen der amerikanischen Konzerne mit dem Militär genau ansehen und nach besten Kräften die verschiedenen Beschaffungsmaßnahmen unter die Lupe nehmen, insbesondere den atomaren Ronald-ReaganGedächtnis-Weltraumschutzschild. Außerdem 104
sollten Sie der amerikanischen Bevölkerung auch ein paar der PentagonGeheimnisse anvertrauen. 1995 hatten wir unsere Raketen auf 2500 Ziele im Ausland gerichtet. Heute, zur Feier des Weltfriedens, visieren unsere Raketen 3000 Ziele im Ausland an - davon 2260 allein in Russland, die übrigen in China und in den Schurkenstaaten. Obwohl Präsident Clinton beredt auf die Notwendigkeit hingewiesen hat, diese gefährliche nukleare Bedrohung zu verringern, schaltet und waltet das Pentagon weiterhin nach eigenem Gutdünken und stellt so eine Gefahr für die Sicherheit der ganzen Welt dar. Dennoch berichtete USA Today erst kürzlich, dass von allen Einrichtungen im Land das Militär bei der Bevölkerung das höchste Ansehen genießt (bei 64 Prozent), wohingegen der Kongress und die Großunternehmen ganz weit unten rangieren. Kein Wunder, schließlich geben die Streitkräfte 265 Millionen Dollar pro Jahr allein für Werbung aus. John F. Kennedy hatte der Thriller Seven Days in May von Fletcher Knebel, der später verfilmt wurde, ausgesprochen gut gefallen. Die Geschichte handelt von einem Chauvinisten - die Vorlage dazu lieferte Admiral Arthur Radford -, der einen Militärputsch plant, um das Weiße Haus zu übernehmen. John war ganz gefesselt von dem Buch. »Allerdings kann ich mir eher vorstellen«, lachte er ziemlich grimmig, »dass dieser Präsident eines Tages seine eigene Armee aufstellt und ihr verfluchtes Gebäude drüben besetzt.« Nein, im Gegensatz zu Oliver Stone glaube ich nicht, dass die Generäle ihn umgebracht haben. Trotzdem, irgendwo dort draußen gibt es einen Wachhund, der des Nachts offenbar nicht bellen mag. Dabei sollte dieser Hund, der nicht bellt, das Haus vor Einbrechern schützen, in unserem Fall vor dem militärisch-industriellen Komplex, vor dem Präsident Eisenhower uns so offenherzig gewarnt hat. Zwar berichten die Medien oft über teure Budgetüberschreitungen in der Verteidigungsindustrie sowie über die zögerlichen Anfänge dessen, was vielleicht einmal zu einer Debatte über den Nuklearschild werden wird, den Reagan sich für uns ausgemalt hat, nachdem er Alfred Hitchcocks Der zerrissene Vorhang gesehen hatte, einen Film, der nicht annähernd so gut ist wie Seven Days in May. Doch bisher gibt es keine Debatte über die Rolle des Militärs im Leben der Nation und seine andauernde Bedrohung für uns alle. Das verdanken wir der Überheblichkeit hochrangiger Beamter, die es gewohnt sind, von dem Geld der Bevölkerung riesige Summen auszugeben für Raketen, die nicht ins Ziel treffen, und Bomber, die bei Regen nicht fliegen können. Doch der Kongress, der eigentlich die Zügel in der Hand halten sollte, lässt sie schleifen, weil zu viele seiner Abgeordneten von eben jenen Unternehmen bezahlt werden, an die unsere Steuergelder fließen. Da hilft es uns auch nicht gerade weiter, dass hochrangige Beamte zuerst bei der Militärindustrie Bestellungen aufgeben und 105
sich anschließend von denselben Unternehmen, bei denen sie zuvor eingekauft haben, als Handelsvertreter anstellen lassen. Von allen Präsidenten der letzten Jahre hatte man es Clinton am ehesten zugetraut, bei wirtschaftlichen Entscheidungen Vernunft walten zu lassen. Er wusste, wie die Wirtschaft funktioniert. Aber weil er sich mit verschiedenen Tricks vor dem Vietnamkrieg gedrückt hatte, war ihm bei Amtsantritt gegenüber dem Militär nicht wohl in seiner Haut. Als Clinton versuchte, sein Wahlversprechen gegenüber den schwulen Wählern einzulösen, nämlich dass das Privatieben eines Soldaten niemanden etwas angehe außer ihn selbst, heulten die Kriegsherren auf, dies würde die Moral untergraben. Clinton kniff. Und als er an Bord des Flugzeugträgers Theodore Roosevelt ging, um den Salut abzunehmen, tänzelten die Marinesoldaten mit Mops auf dem Kopf wie Tunten herum und buhten den Präsidenten, der einfach nur dastand, aus. Diese erfolgreiche Beleidigung der zivilen Autorität hat das Militär nur noch aufsässiger und anmaßender werden lassen. Daher muss man es jetzt in die Schranken weisen. Diesen Sommer haben die Kriegsherren aus dem Pentagon dem Verteidigungsminister ihr Memorandum zu den Programmzielen vorgelegt. Gewöhnlich handelt es sich dabei um einen höflichen Wunschzettel, auf dem steht, welche Präsente sie gern unter dem Weihnachtsbaum auspacken würden. Im September klang dieser Wunschzettel eher wie ein barsches Ultimatum. Ein Offizier, dem dieser Ton nicht gefiel, formulierte es so: »Das Budget, das die militärische Führung fordert, richtet sich nicht nach den zur Verfugung stehenden Mitteln, sondern nach der Militärstrategie.« Wenngleich die Strategien der vereinten militärischen Führung, die während der letzten fünfzig Jahren im Krieg erprobt wurden, regelmäßig in eine Katastrophe mündeten, bedeutet »Militärstrategie« in diesem Zusammenhang einfach, der Regierung pro Jahr 30 Milliarden Dollar über die 51 Prozent hinaus abzunötigen, die jetzt bereits im Staatsetat für Kriege vorgesehen sind. Herr designierter Präsident, ich möchte Ihnen raten, Ihr Büro vom Westflügel des Weißen Hauses über den Fluss nach drüben ins Pentagon zu verlegen. Obwohl jeder Tag dort zu Ihren Iden des März werden könnte, werden Sie zu Ihrer Genugtuung zumindest die Gewissheit haben, dass Sie nichts unversucht ließen, etwas für uns, das bisher nicht repräsentierte Volk, zu tun. Vor fünfzig Jahren hat Harry Truman die alte Republik m einen Staat der nationalen Sicherheit umgewandelt, dessen einziger Zweck darin besteht, einen dauerhaften Krieg zu fuhren, sei er heiß, kalt oder lauwarm. Das Aufführungsdatum dieses Dramas? 27. Februar 1947. Schauplatz: 106
der Kabinettsaal im Weißen Haus. Darsteller: Truman, Dean Acheson (Staatssekretär im Außenministerium) und eine Hand voll Kongressführer. Der republikanische Senator Arthur Vandenberg erklärte Truman, er könne seine gewünschte militarisierte Wirtschaft nur dann haben, wenn er zuerst »dem amerikanischen Volk auf Teufel komm raus einbläuen würde«, dass die Russen vor der Tür stehen. Truman gehorchte. Damit begann der dauerhafte Krieg, und die repräsentative Regierung vom, durch und für das Volk verblasst inzwischen in der Erinnerung. Einzig die amerikanischen Konzerne erfreuen sich der Vertretung durch den Kongress und den jeweiligen Präsidenten, für die sie mit der Übereinkunft bezahlen, dass niemand voll zur Rechenschaft gezogen wird, weil denjenigen, die die Regierung gekauft haben, auch die Medien gehören. Mit dem Aufbegehren der Prätorianergarde im Pentagon treten wir nun in eine neue und gefährliche Phase. Zwar verunglimpfen wir regelmäßig andere Gesellschaften als Schurkenstaaten, doch wir selbst sind zum größten Schurkenstaat überhaupt geworden. Wir halten uns nicht an geschlossene Verträge. Wir strafen die internationalen Gerichtshöfe mit arroganter Nichtachtung. Wir schlagen einseitig zu, wo immer es uns passt. Wir erteilen den Vereinten Nationen Befehle, zahlen aber unsere Beiträge nicht. Wir klagen über den Terrorismus, dabei ist unser Imperium inzwischen der größte Terrorist von allen. Wir bombarbieren andere Länder, dringen in sie ein und unterminieren sie. Obwohl Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, die einzige Quelle der legitimen Macht in diesem Land sind, werden wir im Kongress nicht mehr repräsentiert. Unser Kongress ist von den amerikanischen Konzernen und ihrem Erfüllungsgehilfen, der imperialen Militärmaschinerie, in Geiselhaft genommen worden. Wir, das unrepräsentierte Volk der Vereinigten Staaten, sind ebenso Opfer dieser militarisierten Regierung wie die Panamaer, die Irakis oder die Somalier. Wir haben zugelassen, dass unsere Institutionen im Namen eines globalisierten amerikanischen Imperiums, das in seiner Zielrichtung völlig konträr ist zu allem, was unsere Gründerväter beabsichtigt hatten, vereinnahmt werden. Wahrscheinlich ist es, so fürchte ich, bereits viel zu spät, um die Republik wiederherzustellen, die wir vor einem halben Jahrhundert verloren haben. Herr designierter Präsident, wenn Sie jetzt darangehen, den Kriegsherren in den Arm zu fallen, besteht noch eine gewisse Chance, eine Veränderung herbeizuführen. Mindern Sie die Militärausgaben: Das wird Ihnen Popularität eintragen, weil Sie dann legitim unsere Steuern senken können, anstatt das zu tun, wofür man Sie bezahlt hat, nämlich die amerikanischen Konzerne von ihrer ohnehin schon geringen Steuerlast gänzlich zu befreien. 1950 machten die Steuern auf Unternehmensgewinne 25 Prozent des Bundeshaushalts aus; 1999 waren es nur noch 10,1 Prozent. So gewiss es ist, dass Sie nicht durch Uns, 107
das Volk, gewählt worden sind, sondern durch die ungeheuren Geldbeträge aus den Konzernen, die niemandem verantwortlich sind, so gewiss wird der Tag des Gerichts kommen. Nutzen Sie Ihre erste Amtszeit, um das Pentagon in die Knie zu zwingen. Verschwenden Sie keinen Gedanken an eine zweite Amtszeit. Immerhin werden Sie, wenn Sie auf der anderen Seite des Potomac Erfolg haben, für Uns, das Volk ein Held sein. Sollten Sie scheitern oder - was noch schlimmer wäre - die Hände in den Schoß legen, könnten Sie der Präsident sein, in dessen Regierungszeit die Zeitgeschichte aufhört, von den Vereinigten Staaten Notiz zu nehmen, und all unsere stolze Rhetorik in einem immer schwächer werdenden Echo verhallt. Und denken Sie einmal gründlich über eine seltsame Bemerkung nach, die von Ihrem durchtriebenen, wenn auch glücklosen Vorgänger Clinton stammt. Als Gingrich und sein »Kontrakt« mit (oder besser gesagt gegen) Amerika die Kontrolle über den Kongress übernahm, sagte Clinton: »Der Präsident ist nicht irrelevant.« Welch verblüffendes Eingeständnis, dass es dazu kommen könnte. Also, mein Herr, seien Sie relevant. Erhalten, schützen und verteidigen Sie das, was von unseren alten Freiheiten noch übrig ist, ganz zu schweigen von unserem schwer hypothekenbelasteten Vermögen.* Vanity Fair Dezember2000
* Mittlerweile hat der Herr Präsident, gewählt vom Obersten Bundesgericht (mit 5 zu 4 Stimmen), nicht nur einen Vizepräsidenten, der früher einmal Verteidigungsminister war, sondern auch einen weiteren ehemaligen Verteidigungsminister wieder in sein altes Amt eingesetzt und außerdem einen General zum Außenminister ernannt; also hat er uns alle verraten. Wir befinden uns nun, erklärt uns der Präsident, in einem »langen Krieg« - vermutlich endgültig.
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