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V Vorwort „Europäisches und öffentliches Wirtschaftsrecht I“ ist eine seit Jahren bewährte einführende Lehr- und Lernunterlage in einem doppelten Sinn: sie will Studierende, die am Beginn eines sozialwissenschaftlichen Studiums stehen, in den Gegenstand „Europäisches und öffentliches Wirtschaftsrecht“ ebenso einführen wie in die Problemstellungen, Grundstrukturen und wissenschaftlichen „Denkweisen“ des öffentlichen Rechts und des Europarechts. Der vorliegende Lehrbehelf dient daher als Unterlage für eine einführende Lehrveranstaltung an der Wirtschaftsuniversität Wien, die sich sowohl an Studierende der Wirtschaftswissenschaften wie an Studierende der Rechtswissenschaften wendet. Er ist Teil eines umfassenden Konzepts einer Studieneingangsphase, die den Studierenden an einer Großuniversität leichtere Orientierung und Hilfestellung insbesondere auch bei der Entscheidung über die künftige Studienausrichtung bieten soll. Dazu gehören das Angebot eines organisierten Studienprogramms in dieser Eingangsphase ebenso wie eine in dieser Art einmalige Unterstützung der Lehr- und Lernprozesse durch e-Learning. Didaktisch verfolgt der Lehrbehelf den Ansatz, die im Rahmen eines unverzichtbaren „common body of knowledge“ erforderlichen Einblicke in das europäische und öffentliche Wirtschaftsrecht als notwendige Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns aus einer integrativen Sichtweise sowohl des europäischen wie des innerstaatlichen als auch des materiellen und des formellen Rechts zu geben. Der Einstieg erfolgt in dieser Auflage erstmals klassisch juristisch über eine Einführung in das Recht, ohne dabei den bisherigen Ansatz des starken Praxisbezugs preiszugeben. Anhand von Fällen und zahlreichen kleinen Beispielen sollen die Bedeutung öffentlich-rechtlicher Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, Zielsetzungen und Instrumente der Wirtschaftsregulierung sowie die grundsätzlichen Regelungsanliegen des europäischen und innerstaatlichen Wirtschaftsrechts in ihrem Zusammenwirken vom konkreten Anwendungsfall her vermittelt werden. Auf diese Weise sollen die Studierenden am Ende zu einem Grundverständnis rechtswissenschaftlicher Methoden und einem Systemüberblick über das europäische und innerstaatliche öffentliche Recht hingeführt werden. Geübt und überprüft werden kann das im vorliegenden Lehrbehelf vermittelte Wissen an der Wirtschaftsuniversität Wien mit Hilfe der bereits bewährten e-Learning Plattform Learn@WU, in deren Rahmen Prüfungen in einer Art „Trockentraining“ von WU-Studierenden selbst simuliert werden können. Diese telematische Lernfortschrittskontrolle ist – ebenso wie Vortragsfolien und ein Glossar zum Lehrbehelf – über die Lernplattform der Wirtschaftsuniversität Wien abrufbar: http://learn.wu.ac.at. In der siebenten Auflage des Lehrbehelfs haben wir die umfangreichen Neuerungen im Europarecht durch den im Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon ebenso eingearbeitet, wie Neuerungen im innerstaatlichen Recht. Didaktisch wurde das Skriptum
VI unter anderem durch eine Neuordnung der Lektionen weiterentwickelt, die eine stark veränderte, in das Recht und die Systembildung einführende Lektion einschließt, die nunmehr an den Beginn des Skriptums gerückt ist. Des Weiteren wurden - auch dies nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Rückmeldungen von Studierenden, für die wir uns sehr bedanken – eine Reihe von Unklarheiten sowie inhaltliche und drucktechnische Fehler beseitigt. Die siebente Auflage bringt neuerlich eine Erweiterung des Kreises der Koautoren, der nunmehr alle Universitätsprofessoren des Instituts für österreichisches und europäisches öffentliches Recht sowie des Instituts für Europarecht und internationales Recht der Wirtschaftsuniversität Wien umfasst. Auch diese Auflage ist, wie die früheren, das Ergebnis kontinuierlicher langjähriger Teamarbeit einer Vielzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beiden genannten Institute. In seiner ursprünglichen Form wurde das Skriptum ebenso wie seine telematische Unterstützung in ganz wesentlichem Ausmaß von Gerald Anselm Eberhard und Ulrich Jedliczka mitgestaltet. Gabriele Burda und Peter Sander haben in der Folge mit ebenso großem Einsatz und Sachwissen, aber auch technischen Fertigkeiten das Projekt weitergeführt und weiterentwickelt. Christoph Bezemek hat es wesentlich neu strukturiert und Robert Hammerl hat es zum heutigen Stand geführt. Allen früheren und gegenwärtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beiden beteiligten Institute, die die einzelnen Abschnitte dieses Lehrbehelfs im Laufe der bisherigen Auflagen wesentlich gestaltet, überarbeitet und damit das Gesamtprojekt tatkräftig unterstützt und auch mitgeprägt haben, sind wir dafür zu großem Dank verpflichtet. Um die vorliegende siebente Auflage haben sich in diesem Sinn neben Robert Hammerl insbesondere Mathis Fister, Stephan Keiler, Michael Kalteis, Josefine Kuhlmann, Verena Madner, Erich Pürgy, Christian Simon und Peter Thalmann verdient gemacht. Wien, im September 2010
Gerhard Baumgartner
Christoph Grabenwarter
Michael Holoubek
Georg Lienbacher
Stefan Griller
Michael Potacs
Inhalt: Lektion 1 .......................................................................................................... 1 Recht – Wirtschaftsrecht – Juristische Interpretation – Systembildung .. 1 I. II. III. IV. V. VI. VII.
Recht, Rechtsbegriff, Normenlehre ................................................................................. 5 Die Auslegung (Interpretation) von Rechtsvorschriften ................................................. 16 Erfordernis rechtswissenschaftlicher Systembildung .................................................... 22 Die klassische Systembildung im Wirtschaftsrecht ....................................................... 23 Die Systembildung im Wirtschaftsrecht im Lichte neuerer Entwicklungen .................... 30 Weiterführende Literatur................................................................................................ 35 Wiederholungsfragen .................................................................................................... 35
Lektion 2 ........................................................................................................ 37 Innerstaatliches Organisationsrecht .......................................................... 37 I. II. III. IV. V. VI. VII.
Die Staatsgewalt ........................................................................................................... 39 Die drei Gebietskörperschaften ..................................................................................... 39 Verfassungsrechtliche Grundlagen ............................................................................... 40 Gesetzgebung ............................................................................................................... 51 Vollziehung.................................................................................................................... 52 Weiterführende Literatur................................................................................................ 63 Wiederholungsfragen .................................................................................................... 63
Lektion 3 ........................................................................................................ 65 Organisationsrecht der EU .......................................................................... 65 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.
Was ist die EU? ............................................................................................................. 67 Wie ist die EU aufgebaut? ............................................................................................. 71 Was ist Supranationalität?............................................................................................. 73 Welche Institutionen gibt es in der EU?......................................................................... 74 Wann darf die EU tätig werden? ................................................................................... 79 Welche EU-Rechtsvorschriften gibt es und wer vollzieht sie?....................................... 80 Wodurch zeichnet sich das Unionsrecht aus?............................................................... 86 Weiterführende Literatur................................................................................................ 92 Links .............................................................................................................................. 92 Wiederholungsfragen .................................................................................................... 93
VIII
Lektion 4 ........................................................................................................ 95 Grundrechte der Wirtschaft......................................................................... 95 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.
Allgemeines zu den Grundrechten ................................................................................ 99 Die Erwerbsfreiheit ...................................................................................................... 105 Die Eigentumsfreiheit .................................................................................................. 113 Der Gleichheitssatz ..................................................................................................... 116 Verfahrensgrundrechte................................................................................................ 121 Der VfGH als Hüter der Bundesverfassung................................................................. 124 Weiterführende Literatur.............................................................................................. 131 Wiederholungsfragen .................................................................................................. 131
Lektion 5 ...................................................................................................... 133 Binnenmarktrecht ....................................................................................... 133 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI.
Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes...................................................................... 135 Regelungsanliegen der Grundfreiheiten...................................................................... 136 Warenverkehrsfreiheit ................................................................................................. 141 Arbeitnehmerfreizügigkeit............................................................................................ 150 Niederlassungsfreiheit................................................................................................. 157 Dienstleistungsfreiheit ................................................................................................. 160 Die Dienstleistungsrichtlinie ........................................................................................ 163 Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit ......................................................................... 164 Weiterführende Literatur.............................................................................................. 167 Links ............................................................................................................................ 167 Wiederholungsfragen .................................................................................................. 167
Lektion 6 ...................................................................................................... 169 Europäisches Wettbewerbsrecht .............................................................. 169 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.
Warum gibt es überhaupt Wettbewerbsregeln? .......................................................... 171 Das Kartellverbot ......................................................................................................... 173 Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung ................................... 180 Das Verfahren zur Abstellung von Kartellen und des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung.................................................................................... 184 Fusionskontrolle .......................................................................................................... 186 Verbot staatlicher Beihilfen.......................................................................................... 189 Öffentliche Unternehmen und Wettbewerbsrecht........................................................ 192 Weiterführende Literatur.............................................................................................. 195 Wiederholungsfragen .................................................................................................. 195
IX
Lektion 7 ...................................................................................................... 197 Gewerbeantritt ............................................................................................ 197 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.
Die Gewerbeordnung 1994. Was regelt sie und worauf zielt sie ab?.......................... 199 Für welche Tätigkeiten gilt die GewO?........................................................................ 199 Welche Gewerbearten gibt es? ................................................................................... 203 Unter welchen Voraussetzungen darf ein Gewerbe ausgeübt werden? ..................... 208 Wozu und wen ermächtigen Gewerbeberechtigungen?.............................................. 212 Wann erlöschen Gewerbeberechtigungen? ................................................................ 216 Weiterführende Literatur.............................................................................................. 218 Wiederholungsfragen .................................................................................................. 218
Lektion 8 ...................................................................................................... 219 Betriebsanlagenrecht und Baurecht......................................................... 219 I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII.
Das Betriebsanlagenrecht ........................................................................................... 223 Wann ist eine Betriebsanlage genehmigungspflichtig? ............................................... 224 Das Genehmigungsverfahren ..................................................................................... 226 Auflagen ...................................................................................................................... 229 Betrieb der Anlage vor Rechtskraft des Genehmigungsbescheids ............................. 231 Nachträgliche Änderungen von Betriebsanlagen ........................................................ 232 Überwachung von Betriebsanlagen............................................................................. 233 Die Zuständigkeit im Betriebsanlagenrecht ................................................................. 234 Das Baurecht............................................................................................................... 235 Raumordnungsrecht.................................................................................................... 237 Weiterführende Literatur.............................................................................................. 241 Wiederholungsfragen .................................................................................................. 241
Lektion 9 ...................................................................................................... 243 Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz.............................. 243 I. II. III. IV. V. VI.
Verfahrensrecht und materielles Recht ....................................................................... 245 Das Verfahren erster Instanz ...................................................................................... 245 Rechtsschutz ............................................................................................................... 264 Rechtsschutzinstanzen UVS und VwGH..................................................................... 273 Weiterführende Literatur.............................................................................................. 279 Wiederholungsfragen .................................................................................................. 279
............................................................................ 281
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Recht – Wirtschaftsrecht – Juristische Interpretation – Systembildung
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Lektion 1 RECHT – WIRTSCHAFTSRECHT – JURISTISCHE INTERPRETATION – SYSTEMBILDUNG
Der Kampf um die Fußballübertragungsrechte Die Österreichische Fußballbundesliga, ein Verein, in dem sich die Fußballvereine der obersten österreichischen Spielklasse zur Organisation der Fußballmeisterschaft zusammengeschlossen haben, schließt mit dem Pay-TV-Fernsehveranstalter „Premiere“ einen Vertrag ab, der für die nächsten fünf Jahre „Premiere“ das exklusive Recht einräumt, Fernsehberichte über die Spiele der Österreichischen Bundesliga zu senden. „Premiere“ verpflichtet sich in diesem Vertrag nicht nur zur Zahlung einer beachtlichen Summe für diese Exklusivrechte sondern auch zu einer ausführlichen Berichterstattung, in der über alle Spiele einer Meisterschaftsrunde berichtet und jeweils zumindest ein Spiel auch live gezeigt wird. Mit dem Start der Fußballmeisterschaft beginnt „Premiere“ einen groß angelegten „Fußball-Schwerpunkt“. Im Rahmen einer aufwendig gestalteten „Fußball-Show“ wird jeweils ausführlich über die Meisterschaftsrunden berichtet, zumindest das Spitzenspiel einer Runde wird live ausgestrahlt. Der Fußballschwerpunkt ist für „Premiere“ auch Anlass für eine groß angelegte Werbekampagne, in der darauf hingewiesen wird, dass künftig die österreichische Fußballmeisterschaft ausschließlich auf „Premiere“ verfolgt werden kann. Auf diese Weise möchte „Premiere“ die Zahl seiner Abonnenten (für den Empfang von „Premiere“-Fernsehprogrammen ist der Abschluss eines entsprechenden Vertrages mit „Premiere“ und in diesem Rahmen der Erwerb eines „Decoders“ erforderlich, um die verschlüsselt ausgestrahlten Fernsendungen am heimischen Fernsehgerät empfangen zu können) erheblich steigern, um auf diese Weise die Investitionskosten des Erwerbs der Fernsehexklusivrechte an der österreichischen Fußballmeisterschaft herein zu bekommen. Ebenfalls mit dem Start der österreichischen Fußballmeisterschaft beginnt der ORF im Rahmen seiner Sportsendungen jeweils kurze „Fußballblöcke“ zu senden, die er ausdrücklich als „Kurzberichte“ bezeichnet und in denen er die Tore der einzelnen Spiele der jeweiligen Meisterschaftsrunde zeigt. Außerdem werden die einzelnen Spiele sowie die gesamte Fußballrunde mit einem prominenten Studiogast analysiert. Im Zuge dieser Analyse werden Wiederholungen einzelner Spielzüge gezeigt und in Zeitlupe die Entstehungsgeschichte entscheidender Tore näher erörtert. „Premiere“ ist über diesen „Eingriff“ in seine exklusiven Übertragungsrechte empört und fordert den ORF auf, derartige Sendungen zu unterlassen. Der ORF verweist daraufhin auf das „Fernseh-Exklusivrechtegesetz“, dessen § 5 Abs. 1 unter anderem Folgendes bestimmt (Wortlaut nicht exakt): „Ein Fernsehveranstalter, der ausschließliche Übertragungsrechte an einem Ereignis von allgemeinem Informationsinteresse erworben hat, hat jedem anderen Fernsehveranstalter das Recht auf Kurzberichterstattung zu angemessenen Bedingungen einzuräumen. Ein
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Recht – Wirtschaftsrecht – Juristische Interpretation – Systembildung
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allgemeines Informationsinteresse liegt dann vor, wenn zu erwarten ist, dass das Ereignis aufgrund seiner Bedeutung breiten Niederschlag in der Medienberichterstattung in Österreich finden wird. Die Kurzberichterstattung ist auf eine dem Anlass entsprechende nachrichtenmäßige Kurzberichterstattung beschränkt. Die zulässige Dauer der Kurzberichterstattung bemisst sich nach der Länge der Zeit, die notwendig ist, um den nachrichtenmäßigen Informationsgehalt des Ereignisses zu vermitteln und beträgt mangels anderer Vereinbarung höchstens 90 Sekunden.“ „Premiere“ ist über dieses „schreiend ungerechte“ Gesetz empört. Es kann doch nicht sein, dass der Gesetzgeber die Exklusivrechte von „Premiere“ „so einfach vernichtet“. Wenn schon, dann müsse der ORF für seine „Kurzberichterstattung“ an Premiere etwas zahlen. Und überhaupt dürfe er höchstens 90 Sekunden pro Meisterschaftsrunde berichten und keinesfalls Wiederholungen und Analysen in Zeitlupe zeigen. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Was ist Recht und wie kann man „Recht“ einteilen? Wie funktioniert die Auslegung von Gesetzen? Wie kann man das (öffentliche) Wirtschaftsrecht systematisieren? Was ist der „Stufenbau der Rechtsordnung“? Wie „funktioniert“ rechtswissenschaftliche Systembildung?
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Recht – Wirtschaftsrecht – Juristische Interpretation – Systembildung
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Inhalt: Recht, Rechtsbegriff, Normenlehre ......................................................................... 5 Recht als ein System von positiven Normen ............................................................... 5 Das positive Recht ...................................................................................................... 5 Der Rechtsbegriff ........................................................................................................ 7 Normenlehre................................................................................................................ 8 Die Rechtsnorm … ...................................................................................................... 8 … und ihr Geltungsbereich.......................................................................................... 9 Die Struktur von Rechtsnormen ................................................................................ 10 Einteilungsmöglichkeiten des Rechts ........................................................................ 14 Formelles und materielles Recht ............................................................................... 14 Zwingendes und nachgiebiges Recht ....................................................................... 15 Staatlich gesetztes Recht und Privatautonomie ........................................................ 15 Öffentliches und privates Recht, Justiz- und Verwaltungsrecht ................................ 15 Die Auslegung (Interpretation) von Rechtsvorschriften...................................... 16 Erfordernis rechtswissenschaftlicher Systembildung ........................................ 22 Die klassische Systembildung im Wirtschaftsrecht ............................................ 23 Wirtschaftsverfassungsrecht und unterverfassungsgesetzliches Wirtschaftsrecht ... 23 Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschaftsjustizrecht............................................ 24 Vollzugszuständigkeiten von Gerichten und Verwaltungsbehörden … ..................... 24 … und die Unterscheidung von privatem und öffentlichem Wirtschaftsrecht ............ 24 Wirtschaftsverwaltungsrecht als Wirtschaftsordnungs-, Wirtschaftslenkungs- und Wirtschaftsaufsichtsrecht........................................................................................... 25 1. Ordnungskriterien für die Systembildung im Wirtschaftsverwaltungsrecht................ 25 2. Wirtschaftsordnungsrecht.......................................................................................... 25 3. Wirtschaftslenkungsrecht .......................................................................................... 27 4. Wirtschaftsaufsichtsrecht........................................................................................... 28 V. Die Systembildung im Wirtschaftsrecht im Lichte neuerer Entwicklungen ...... 30 A. Das Wirtschaftsverfassungsrecht als europäisches Wirtschaftsverfassungsrecht.... 30 B. Die Erosion der herkömmlichen Kategorien des Wirtschaftsverwaltungsrechts ....... 32 VI. Weiterführende Literatur......................................................................................... 35 VII. Wiederholungsfragen.............................................................................................. 35 I. A. 1. 2. B. 1. 2. 3. C. 1. 2. 3. 4. II. III. IV. A. B. 1. 2. C.
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Recht – Wirtschaftsrecht – Juristische Interpretation – Systembildung
I.
Recht, Rechtsbegriff, Normenlehre
A.
Recht als ein System von positiven Normen
1.
Das positive Recht
5
Der Mensch ist seiner Natur nach ein gesellschaftsbezogenes Wesen. Er bedarf der Gesellschaft, damit er seine Persönlichkeit, seine Anlagen entfalten kann. Das soziale System, in dem der Mensch lebt, wird durch verschiedene Ordnungsvorschriften (Spielregeln, Normen) geprägt. Dazu gehören gesellschaftliche Verhaltensnormen ebenso wie moralische oder religiöse Regeln. Zu diesen „Spielregeln des Miteinander“ gehören auch die Normen des positiven Rechts. Das positive Recht unterscheidet sich von allen anderen Normensystemen („guter Ton“, Sitte, Moral etc.), die unser soziales Zusammenleben steuern, durch folgende Aspekte:
Rechtsnormen unterscheiden sich von religiösen und moralischen Normen.
x
Es ist „von Menschen“ gesetzt (und nicht bspw. von Natur oder göttlicher Anordnung vorgegeben). In einer repräsentativen Demokratie (vgl. LE 2) wird Recht wesentlich (aber nicht nur; auch der Abschluss eines privatrechtlichen Vertrages ist Rechtssetzung) von Organen gesetzt, die durch das Volk (die Rechtsunterworfenen) durch Wahl legitimiert sind (Grundidee der Identität von Rechtssetzern und Rechtsunterworfenen).
x
Es wird von Menschen „für Menschen“ (= natürliche oder juristische Person) gesetzt. Diese und nur diese (und nicht Naturereignisse, der „Markt“, Börsenkurse, (oä) sind die „Normadressaten“ des Rechts. Auch wenn man daher von „rechtlicher Marktregulierung“ spricht meint man Rechtsvorschriften, deren Von Menschen… …für Menschen Normadressaten insbesondere die Marktteilnehmer (also natürliche und juristische Personen) oder auch die staatliche (= juristische Person) Marktaufsicht sind und die dadurch eine „Regulierung“ des Wirtschaftsprozesses „Markt“ bewirken.
x
Es wird „gesetzt“ (man sagt: positiviert, von lat. „ponere = setzen“). Recht wird von Menschen nach bestimmten Erzeugungsregeln erlassen und kundgemacht. Das Recht hat dann den Anspruch, von jedem Rechtsunterworfenen gekannt zu werden und verbindlich zu sein.
x
Es ist durch den Staat „sanktionsbewehrt“. Die Rechtsordnung wird unter Zuhilfenahme staatlichen Zwangs (und nicht durch gesellschaftliche Sanktionen oder höhere Gewalten) durchgesetzt, dh der Staat stellt die Organe, Instrumente und Verfahren zur Rechtsdurchsetzung zur Verfügung (umgekehrt muss sich der Rechtsunterworfene zur Durchsetzung seines Rechts dieser rechtlich vorgesehenen Verfahren bedienen und kann nicht zur „Selbsthilfe“ greifen).
Unter positivem „Recht“ ist demnach ein von Menschen für Menschen geschaffenes System von Normen zu verstehen, das mit Hilfe organisierten staatlichen Zwangs durchgesetzt werden kann und gegebenenfalls auch wird. Recht hat wesentlich eine Orientierungsfunktion. Es
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Recht – Wirtschaftsrecht – Juristische Interpretation – Systembildung
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ist eine Ordnung für „rechtskonformes“ und daher „erwartbares“ Verhalten innerhalb einer Union. Dadurch, dass das Recht gewisses Verhalten als rechtmäßig und andere Verhaltensformen als unrechtmäßig qualifiziert, wird das Verhalten von Menschen oder staatlichen Organen in hohem Maße vorhersehbar und damit ein geordnetes Zusammenleben vielfach erst möglich. Bsp: Ob auf der Straße links oder rechts gefahren wird, ergibt sich nicht aus natürlichen Gegebenheiten des Autofahrens, sondern bedarf der Festsetzung. Weil die Straßenverkehrsordnung in Österreich das Rechtsfahrgebot festlegt, muss ich mich daran halten und kann auch erwarten, dass die anderen Verkehrsteilnehmer auf der entsprechenden Straßenseite unterwegs sind. Recht hat weiters die wesentliche Funktion, Ordnungssysteme zu kreieren, die in komplexeren Gesellschaften durch abstrakte Ordnungs- und Zuordnungsmodelle („künstliche Wirklichkeiten“) Interaktionen ermöglichen (Ordnungsfunktion). So funktioniert der Handel mit „Geld“ in Form von Banknoten (und nicht von Goldmünzen etc) deswegen, weil diesen rechtlich verbindlich ein bestimmter Wert zugeschrieben wird. Der Börsehandel ist nur möglich, weil das Gesellschaftsrecht Aktiengesellschaften „konstruiert“ Recht hat: Orientierungsfunktion und Aktien zu handelbaren Wertpapieren erklärt. HypothekarOrdnungsfunktion darlehen sind nur möglich, wenn ein Grundbuchsystem besteht, Friedensfunktion das der Eintragung in das Grundbuch bestimmte dingliche Rechte an Liegenschaften zuschreibt. „Juristische Personen“ des Privatrechts wie GmbH oder AG gibt es, wie der Name sagt, nur deswegen, weil Rechtsvorschriften bestimmten „Gesellschaftsverträgen“ bestimmte Wirkungen zuschreiben. Eine weitere wesentliche Bedeutung des Rechts ist seine Friedensfunktion. Recht schafft Möglichkeiten und Mechanismen, um die in einer Gesellschaft zwangsläufig entstehenden Konflikte ohne Gewalt zu lösen und so friedliches Zusammenleben erst zu ermöglichen („Friede ist nicht die Absenz von Gewalt, Friede ist die Präsenz des Rechts“, Martin Luther King). Bsp: In einer Tageszeitung erscheinen Karikaturen, die sich über eine bestimmte Religion lustig machen. Die Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft fühlen sich zutiefst verletzt. Sie dürfen freilich nicht selbst zu „heiligen Sanktionen“ greifen, also bspw die Zeitungsredaktion stürmen und die Zeitungsauflage mit den Karikaturen vernichten, sondern sie müssen die rechtlich vorgesehenen Verfahren in Anspruch nehmen, um gegen eine mögliche Verletzung ihrer Grund- und Freiheitsrechte vorzugehen. In vielen Fällen sichert der Staat von sich aus die Durchsetzung des Rechts, um die Einhaltung der Rechtsordnung zu gewährleisten und damit ein geordnetes gesellschaftliches Miteinander zu sichern. Bsp: Die Verkehrspolizei setzt die Straßenverkehrsordnung durch. § 188 des Strafgesetzbuches stellt die Herabwürdigung religiöser Lehren unter Strafe.
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2.
Recht – Wirtschaftsrecht – Juristische Interpretation – Systembildung
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Der Rechtsbegriff
Indem man als Recht wie hier ausschließlich „positives Recht“ versteht, verwendet man einen bestimmten „Rechtsbegriff“, der eben nur positives Recht als Recht qualifiziert. Wissenschaftlich gesehen folgt man damit bei der Festlegung des Gegenstandes der Rechtswissenschaft der heute herrschenden Theorie des „Rechtspositi- Positivistischer Rechtsbegriff: vismus“, die als Erkenntnisgegenstand der Rechtswissen- Erkenntnisgegenstand der Rechtswissenschaft ist das positive Recht schaft wiederum nur das „positive Recht“ festlegt. Es gibt auch andere Auffassungen. Die „Naturrechtslehre“ meint bspw., dass es eine natürliche – in einer anderen Variante: eine göttliche – „Gerechtigkeitsordnung“ gebe, der auch das von Menschen gesetzte Recht entsprechen müsse, um überhaupt als Recht gelten zu können. Über diese grundlegenden Fragen lässt sich leidenschaftlich diskutieren. Der Rechtspositivismus und damit der auch hier verwendete Begriff des positiven Rechts haben sich allerdings für die Zwecke der Analyse der in einer Gesellschaft bestehenden effektiven Zwangsordnung als deutlich gegenstandsadäquater und leistungsstärker als andere Theorien und Gegenstandsfestlegungen erwiesen. Wesentlich ist dabei (insbesondere auch in der Diskussion mit den eben erwähnten Naturrechtslehren), dass mit der Qualifikation als „Recht“ keine „inhaltliche Bewertung“ der Rechtsvorschriften verbunden ist. Ob eine rechtliche Rege- Recht und Gerechtigkeit sind nicht lung sinnvoll oder unsinnig, „gerecht“ oder „ungerecht“ etc. ist, dasselbe… hat nach dem Rechtspositivismus mit der Qualifikation als „Recht“ nichts zu tun. Recht als Gegenstand der Beschreibung muss nicht „gerecht“ sein, es muss nur entsprechend den rechtlich vorgesehenen Normerzeugungsregeln gemäß geschaffen worden sein (dazu gleich unten). Das bedeutet freilich nicht, dass Recht inhaltlich völlig „wertfrei“ wäre. Rechtsnormen drücken sehr oft bestimmte „Werte“ oder „Wertentscheidungen“ aus. Wenn das Wettbewerbsrecht die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung verbietet oder unlauteren Wettbewerb untersagt, dann wird dem Prinzip des „fairen“ Wettbewerbs ein „Wert“ zuerkannt. Wenn das gewerbliche Betriebsanlagenrecht verlangt, dass neu zu genehmigende Betriebsanlagen ihre Luftschadstoffemissionen nach dem Stand der Technik zu begrenzen und damit „Vorsorgegedanken“ zu genügen haben (siehe LE 8), dann wird nachhaltiger Umweltschutz als wesentlicher Wert anerkannt. Aus einzelnen Rechtsvorschriften lassen sich auch allgemeine „Prinzipien“ ableiten, die diesen Rechtsvorschriften zugrunde liegen. So beruht das Vertragsrecht des ABGB auf dem Prinzip der Privatautonomie, ohne dass das eine Vorschrift In Rechtsvorschriften finden Werte und des ABGB ausdrücklich so anordnen würde. Das Prinzip er- Prinzipien Niederschlag. gibt sich aus den einzelnen Regelungen über das zu Stande kommen von Verträgen und aus dem Bestand von nachgiebigem, dispositivem Recht im Gegensatz zum zwingenden Recht als Grenze und Schranke der Privatautonomie (Verträge dürfen nicht gegen gesetzliche Verbote oder die guten Sitten verstoßen; § 879 Abs. 1 ABGB). Die österreichische Bundesverfassung enthält eine Reihe von Vorschriften, die Österreich als „Rechtsstaat“ ausweisen (zB die Bindung der Vollziehung an das Gesetz, die Regelungen über den Rechtsschutz, geregelte Verfahren, wie insbesondere Gesetze er-
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Recht – Wirtschaftsrecht – Juristische Interpretation – Systembildung
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zeugt und kundgemacht werden müssen etc., siehe LE 9, Punkt III). Dem B-VG liegt daher ein rechtsstaatliches Prinzip zugrunde, auch wenn dieses ausdrücklich in der Verfassung mit diesen Worten nicht gesagt wird. Wesentlich ist, dass die Werte und Prinzipien, die das Recht enthält, im positiven Recht selbst geregelt (man sagt „positiviert“) sind (und eben nicht kraft „natürlicher Geltung“ oder „höherer Einsicht“ gelten). Diese Werte und Prinzipien müssen also durch Auslegung aus dem positiven Recht abgeleitet werden (zur Auslegung siehe unten Punkt II). Daher spielen bei der Auslegung sehr oft auch Argumente eine Rolle, die man herkömmlich mit „Gerechtigkeitsüberlegungen“ bezeichnen würde. Es sind aber „nur“ Gerechtigkeitsüberlegungen, die sich aus dem positiven Recht und nicht aus einer höheren oder übernatürlichen Ordnung ergeben. Art 5 StGG lässt Rechtsprechung und Lehre zufolge staatliche Eingriffe in Eigentumsrechte nur zu, wenn diese öffentlichen Interessen dienen und verhältnismäßig sind (vgl. LE 4, Punkt II.1). Bei der Regelung des Fernseh-Exklusivrechtegesetzes handelt es sich zweifellos um eine Beschränkung des Eigentums von „Premiere“, nämlich seiner vertraglich erworbenen Exklusivrechte. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten kann es daher wichtig sein, dass das Fernseh-Exklusivrechtegesetz das Kurzberichterstattungsrecht nur „zu angemessenen Bedingungen“ einräumt. Die Gesetzesvorschrift verwirklicht über diesen unbestimmten Rechtsbegriff (siehe zu diesen LE 2, Punkt III.A.e.) einen angemessenen Ausgleich zwischen den Zielen des Kurzberichterstattungsrechts und den Interessen des Exklusivrechteinhabers, stellt also insoweit „Gerechtigkeit“ her. Unter diesem Gesichtspunkt kann man dann bspw. argumentieren, dass „zu angemessenen Bedingungen“ jedenfalls bedeutet, dass der ORF für seine Kurzberichterstattung an den Exklusivrechteinhaber „Premiere“ ein Entgelt leisten muss (das freilich wiederum nicht so bemessen sein darf, dass damit die Ausübung des Kurzberichterstattungsrecht faktisch unmöglich gemacht wird, es also für den ORF „ungerecht“ wäre).
B.
Normenlehre
1.
Die Rechtsnorm …
Da Recht von Menschen für Menschen gesetzt ist, zielt es auf die Steuerung menschlichen Verhaltens ab. Man kann in dieser Hinsicht daher eine Rechtsnorm als den Sinn eines Willensaktes, der auf das Verhalten von Menschen gerichtet ist, definieren. Rechtsnormen erhalten ihre Existenz mit ihrer Geltung, also damit, dass sie den Rechtserzeugungsregeln entsprechend erlassen und kundgemacht werden. Wann eine Norm gilt, ergibt sich also aus der Rechtsordnung, nicht aus der gesellRechtsnorm: Bereich des Sollens schaftlichen Realität, auch wenn diese im Großen und Ganzen Sachverhalt: Bereich des Seins mit der Rechtsordnung im Einklang steht. Man spricht auch davon, dass die spezifische Existenz einer Rechtsnorm ihre „Geltung“ darstellt und unterscheidet auf diese Weise den Bereich des Rechts (also der Sollensanordnungen) vom Bereich des Tatsächlichen, dem „Sein“. Pointiert kann sagen: Eine Rechtsnorm gilt. Ein Sachverhalt ist.
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Bsp: Das Verbot, im Ortsgebiet nicht schneller als 50 km/h mit dem Auto fahren zu dürfen, gilt unabhängig davon, ob sich die Autofahrer daran halten oder ob die Polizei regelmäßig die Einhaltung überwacht. Die Geltung dieser Norm ergibt sich allein daraus, dass sie den Rechtserzeugungsregeln entsprechend erlassen und kundgemacht wurde. „Premiere“ muss die gesetzliche Beschränkung seines Exklusivrechts beachten. Das Argument, dass „nirgendwo sonst auf der Welt ein Fernsehveranstalter einen anderen an Exklusivrechten teilhaben lassen würde“, hat für die Frage der Geltung dieses Gesetzes und damit seiner Verbindlichkeit auch für Premiere keine Bedeutung.
2.
… und ihr Geltungsbereich
Eine Norm verfügt über einen persönlichen, sachlichen, räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich. Die Rechtsordnung bestimmt die Personen, für die sie gilt, die Sachverhalte, auf die sie Anwendung findet, sowie, wo und seit wann bzw. wie lange die Norm gilt. x
Der persönliche Geltungsbereich einer Norm bestimmt jene Personen, für die diese Norm gilt. Bsp: Die Gewerbeordnung gilt für alle Personen, die eine Tätigkeit gewerbsmäßig ausüben wollen (siehe LE 7, Punkt II)
x
Der sachliche Geltungsbereich umschreibt jene realen Umstände, die zur Anwendung einer Norm führen. Bsp: Die Gewerbeordnung findet nur hinsichtlich jener Tätigkeiten Anwendung, die gewerbsmäßig ausgeübt werden sollen und nicht vom Anwendungsbereich der Gewerbeordnung ausgenommen sind.
x
Der örtliche Geltungsbereich sagt aus, wo die Norm gilt. Bsp: Die Gewerbeordnung gilt als Bundesgesetz in ganz Österreich. Die Niederösterreichische Bauordnung gilt nur im Bundesland Niederösterreich.
x
Zeitlicher Geltungsbereich: Grundsätzlich regeln Rechtsnormen auch, ab wann bzw. wie lange sie gelten. Bsp: Ein Mietvertrag regelt, ab wann und für wie lange das Mietrechtsverhältnis gilt.
Für Gesetze enthält die Bundesverfassung Regeln für deren Inkrafttreten. Bundesgesetze treten grundsätzlich mit Ablauf des Tages ihrer Kundmachung im Bundesgesetzblatt in Kraft. Das Gesetz kann freilich sein Inkrafttreten hinausschieben (man spricht dann von Legisvakanz), ähnliche Regelungen enthält der AEUV für Verordnungen. Diese treten am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU in Kraft, wenn sie nicht selbst Abweichendes festlegen.
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3.
Die Struktur von Rechtsnormen
a.
Gebote, Verbote, Erlaubnisse und „Zwangsnormen“
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Rechtsnormen enthalten in der Regel Anordnungen an die Normunterworfenen, wie sie sich zu verhalten zu haben: Gebote und Verbote. Dazu kommen – Primäre Normen: Gebote, Verbote, ausdrückliche oder aus der Beschränktheit der Gebot und Erlaubnisse Verbote erschließbare – Erlaubnisse. Ermächtigungen, nämlich zur Rechtssetzung (Erzeugungsnormen), sind Erlaubnisse besonderer Art: Die Erlaubnis, rechtsverbindliche Normen zu erzeugen, verbunden mit der Verpflichtung anderer, diese zu beachten. Man kann diese Gruppe von Verhaltensregeln auch „primäre Normen“ nennen. Da Recht ein sanktionsbewehrtes System ist, muss es noch eine zweite Gruppe geben, die man als „sekundäre Normen“ bezeichnen kann: Jene Regeln, die – notfalls durch Zwang – sicherstellen, dass Gebote und Verbote eingehalten und ErSekundäre Normen: Zwangsnormen laubnisse respektiert werden: Exekutionsregeln und Sanktionsregeln. Diese zweite Gruppe von Normen kann man auch als „Zwangsnormen“ bezeichnen. b.
Gebote, Verbote, Erlaubnisse
Eine Verhaltensvorschrift (Gebot, Verbot, Erlaubnis) besteht grundsätzlich aus zwei Teilen: dem Tatbestand und der Rechtsfolge. Der Tatbestand ist in allgemein-abstrakter Form die Gegebenheit, die mit dem Rechtssatz erfasst werden soll. Er normiert jene Merkmale, die ein tatsächliches Ereignis (der Sachverhalt) aufweisen muss, damit Rechtsnorm: Tatbestand und der Rechtssatz darauf anzuwenden ist. Auch die Rechtsfolge ist Rechtsfolge abstrakt formuliert und kann Pflichten (Pflicht zur Einholung einer behördlichen Genehmigung etc.) oder Rechte (Recht auf Erhalt der Ware, Recht auf Ausübung eines Gewerbes) normieren. Tatbestand und Rechtsfolge werden nun so verknüpft, dass ein rechtliches Sollen festgelegt wird: Bsp: § 74 Abs 2 Gewerbeordnung legt Folgendes fest (siehe näher LE 8): Tatbestand: Wenn gewerbliche Betriebsanlagen wegen der Verwendung von Maschinen und Geräten, wegen ihrer Betriebsweise, wegen ihrer Ausstattung oder sonst geeignet sind, 1. das Leben, die Gesundheit des Gewerbetreibenden,…zu gefährden. 2. die Nachbarn durch Geruch, Lärm, Rauch, Staub etc. zu belästigen,… Rechtsfolge: dann dürfen sie nur mit Genehmigung der Behörde errichtet und betrieben werden. Wenn eine Betriebsanlage abstrakt dazu geeignet ist, zB Nachbarn durch Geruch, Lärm etc zu belästigen (Tatbestand), folgt, dass es für die Errichtung bzw den Betrieb einer Anlage einer Genehmigung der Behörde bedarf (Rechtsfolge). Wer jedoch eine Betriebsanlage ohne Genehmigung betreibt, ist zu bestrafen (§ 366 Gewerbeordnung). Das ist die dazugehörige Sanktionsnorm (Zwangsnorm), also jene Norm, die durch die Anordnung von Zwang sicherstellt, dass das Gebot: Betriebsanlagen bedürfen der Bewilligung, beachtet wird. Die Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge kann in der Rechtsordnung unterschiedlich ausgestaltet sein. So kann der Gesetzgeber als Tatbestand ein unerwünschtes Verhal-
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ten und als Rechtsfolge sogleich eine Sanktion vorsehen: § 75 StGB ordnet für Mord eine Gefängnisstrafe an; § 1295 ABGB verlangt, dass der Schädiger Ersatz für rechtswidrig den schuldhaft verursachten Schaden leistet. Wenn Tatbestand A (Mord, Schaden) in einem konkreten Sachverhalt verwirklicht ist, dann soll Rechtsfolge B (Gefängnis, Schadenersatz) eintreten. Der Gesetzgeber kann aber auch dem Rechtsunterworfenen bei Erfüllung eines Tatbestandes mehrere Rechtsfolgen zur Auswahl stellen (zB Einstellung von Behinderten oder „Ausgleichstaxe“ nach dem BehinderteneinstellungsG). Eine Rechtsfolge sagt also nicht unbedingt etwas darüber aus, ob und in wie weit die Rechtsordnung eine bestimmte Verhaltensweise untersagen will. Die Rechtsnorm bestehend aus Tatbestand und Rechtsfolge ist außerdem von den konkreten Rechtsvorschriften, die die Rechtsnormen enthalten, zu Rechtsnorm Rechtsvorschrift unterscheiden. In vielen Fällen sind Tatbestand und Rechtsfolge auf verschiedene Rechtsvorschriften verteilt. Bsp: § 51 Abs 2 Z 15 Universitätsgesetz (UG) 2002 legt fest, dass „ordentliche Studierende“ im Sinne des Universitätsgesetzes all jene Personen („Studierende“) sind, die zu den ordentlichen Studien zugelassen sind. Wer das im Einzelnen ist, dh insbesondere, welche Voraussetzungen für eine solche Zulassung vorliegen müssen, regeln in komplexer Weise die §§ 63 iVm 60 und 61 UG 2002. Ist der „Tatbestand“ – Zulassung als ordentlicher Studierender – erfüllt, folgen daraus eine ganze Reihe von Rechten und Pflichten der Studierenden („Rechtsfolge“), die im Einzelnen in § 59 UG 2002 geregelt sind. Bei der Rechtsanwendung muss nun in der Regel ein Sachverhalt zu einer Rechtsnorm in Beziehung gesetzt werden, man spricht davon, dass der Sachverhalt unter eine bestimmte Norm „subsumiert“ wird (Subsumtion des Sachverhalts unter den Tatbestand der Rechtsnorm – juristischer Syllogismus). Bsp: § 366 GewO bestimmt: Eine Verwaltungsübertretung … begeht, wer ein Gewerbe ausübt, ohne die erforderliche Gewerbeberechtigung erlangt zu haben. Bei der Falllösung – hier also am Beispiel einer Sanktionsnorm, der Vorgang ist gedanklich gleich wie bei der Verhaltensnorm: Gebot der Erlangung einer Gewerbeberechtigung – ist nun zu untersuchen, ob ein konkreter Sachverhalt den Tatbestand verwirklicht. Erfüllt der Sachverhalt alle Merkmale des Tatbestandes, so gilt für den Sachverhalt, dass die Rechtsfolge (hier die Bestrafung) eintreten soll. Bsp: Nehmen Sie folgenden Sachverhalt an: Sie planen, errichten und warten Computernetzwerke von kleinen Betrieben. Vor drei Jahren Subsumtion haben Sie mit dieser Tätigkeit hobbymäßig in ihrer FreiSachverhalt zeit neben dem Studium begonnen, heute haben Sie Tatbestand schon so viele Aufträge, dass Sie ganztags dieser Tätigkeit nachgehen und drei Mitarbeiter halbtags beschäftigen. Sie betreuen über 20 kleine Betriebe und verdienen ca € 60.000,- pro Jahr. Das Studium haben Sie aufgegeben. Vorgang der Subsumtion: Prüfung, ob alle Voraussetzungen für eine Bestrafung erfüllt sind. Alle Elemente der Gewerbsmäßigkeit sind vorhanden (vgl LE 7). Sie haben je-
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doch keine Gewerbeberechtigung. Der Tatbestand des § 366 Z 1 GewO ist verwirklicht. Allerdings ist die Verwirklichung weiterer Tatbestandselemente für eine Bestrafung gemäß VStG notwendig (siehe im Einzelnen EÖR II, LE 3). Sie haben das 14. Lebensjahr überschritten (Strafmündigkeit), schuldhaft gehandelt (vorsätzlich oder fahrlässig), ihr Verhalten ist weder gerechtfertigt noch entschuldigt. Somit sind alle Tatbestandselemente für eine Bestrafung gemäß § 366 Gewerbeordnung in Verbindung mit dem VStG erfüllt (Untersatz), Sie sollen bestraft werden (Schluss). So einfach gelagert sind die Dinge allerdings in der Praxis selten. Um Tatbestand und Rechtsfolge zu ermitteln, muss man in der Regel die Rechtsvorschriften, die die Rechtsnormen enthalten interpretieren. In unserem Beispiel also: Was bedeutet „ein Gewerbe ausüben“, was heißt „die erforderliche Gewerbeberechtigung“ etc. Aufgabe der Auslegung (Interpretation) ist es, aus den Rechtsvorschriften (die in aller Regel in schriftlicher Form oder durch Interpretation: Auslegung der Rechtsvorschriften, um ihre Bedeutung sonstige Zeichen – zB Verkehrsschilder – vorliegen) die zu ermitteln. Rechtsnormen, also den Sinn der Anordnungen, die sie konkret für den vorliegenden Sachverhalt enthalten, zu ermitteln. Man sagt verkürzt auch, dass es bei der Auslegung darum geht, die Bedeutung der Rechtsvorschriften zu ermitteln. (Siehe dazu gleich näher unten Punkt II). Im Ausgangsfall ist der Sachverhalt, dass ein Fernsehveranstalter ausschließliche Übertragungsrechte an einem Ereignis von allgemeinem Informationsinteresse erworben hat. Die Subsumtion unter den gesetzlichen Tatbestand löst die Rechtsfolge aus, dass er anderen Fernsehveranstaltern das Recht auf Kurzberichterstattung zu angemessenen Bedingungen einzuräumen hat. Aufgrund unseres Sachverhalts muss nun genauer geklärt werden, ob „Premiere“ ausschließliche Übertragungsrechte erworben hat und ob es sich entweder bei der Fußballmeisterschaft, bei der einzelnen Runde der Fußballmeisterschaft oder beim einzelnen Spiel einer Runde der Fußballmeisterschaft um ein „Ereignis von allgemeinem Informationsinteresse“ handelt. Auch zur Ermittlung der konkreten Rechtsfolge muss die Rechtsvorschrift ausgelegt werden: Bedeutet „zu angemessenen Bedingungen“, dass der ORF an „Premiere“ ein Entgelt für die Kurzberichterstattung zu zahlen hat, und wenn ja, umfasst dieses Entgelt nur die Produktionskosten der Übertragung etwa des einzelnen Fußballspiels oder sind in ein „angemessenes“ Entgelt auch die Investitionskosten in Form des von „Premiere“ für die Exklusivrechte gezahlten Entgelts einzurechnen? Bildlich wird dieser Vorgang der Subsumtion bisweilen auch als „Hin- und Herwandern des Blicks“ zwischen Norm und Wirklichkeit bezeichnet (Engisch). c.
Erzeugungsnormen
Das Recht als von Menschen gesetztes Normensystem regelt seine Erzeugung selbst. Die Rechtsordnung enthält daher auch Rechtsnormen, die regeln, in welchem Verfahren wer welche Rechtsvorschriften erzeugen darf. Bsp: Die Bundesverfassung regelt in Art 24, dass die Gesetzgebung des Bundes der Nationalrat gemeinsam mit dem Bundesrat ausübt und enthält darüber hinaus nähere
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Vorschriften über den „Weg der Bundesgesetzgebung“ (siehe LE 2, Punkt IV). Der AEUV legt unterschiedliche Verfahren fest, wie im Zusammenwirken von Kommission, Europäischem Parlament und Rat letztlich der Rat ermächtigt ist, Verordnungen zu erlassen (siehe LE 3, Punkt IV). Wenn Rechtsnormen (Erzeugungsnormen) die Setzung von anderen Rechtsnormen (Geboten, Verboten, Erlaubnissen oder Zwangsnormen) regeln, so bedeutet dies, dass das Recht seine eigene Erzeugung regelt. Solche Erzeugungsnormen bestimmen, man sagt „determinieren“ die Form und den Inhalt der erzeugten Normen (die Bundesverfassung legt bspw. fest, welche Anforderungen ein Gesetz erfüllen muss). Untersucht man die verschiedenen Erzeugungsregeln, so kann man feststellen, dass es nach manchen einfacher und nach manchen schwieriger ist, Rechtsnormen zu erzeugen (ein Verfassungsgesetz unterliegt schwierigeren ErzeugungsbeUnterschiedliche Erzeugungsbedingundingungen als ein „einfaches“ Gesetz etc.). Daraus ergibt gen führen zum „Stufenbau der Rechtssich eine gewisse „Rangordnung“ der Rechtsnormen, der so ordnung“ genannte „Stufenbau der Rechtsordnung“ (siehe LE 2, Punkt III.C). Die „Erzeugungsvorschriften“ enthalten dabei oft nicht nur Regelungen über das Verfahren der Rechtserzeugung, sondern auch inhaltliche Determinanten für die Rechtsvorschriften, deren Erzeugung sie regeln. Bsp: Das Verfassungsrecht enthält nicht nur Erzeugungsregeln im engeren Sinn – wie die Vorschriften, die für das Zustandekommen einfacher Gesetze ein bestimmtes Präsenz- und Konsensquorum im Nationalrat vorsehen (siehe LE 2, Punkt IV) – sondern insbesondere im Wege der Kompetenzbestimmungen – in welchen Bereichen ist der Nationalrat überhaupt ermächtigt, Gesetze zu erlassen (siehe LE 2, Punkt IV) – und der Grundrechte (siehe LE 4) inhaltliche Vorgaben, die einfache Gesetze beachten müssen (Rechtsvorschriften sind also durch ihre Erzeugungsregeln heteronom determiniert, die jeweils zuständige Rechtssetzungsautorität hat aber auch einen „autonomen“ Spielraum, siehe LE 2, Punkt III). Auf diese Weise kann eine Rechtsordnung als gestuftes, hierarchisches System bedingender und bedingter Rechtsnormen beschrieben werden, die jeweils im Hinblick auf die Erzeugungsbedingungen der höheren Stufe in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen („Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit“, siehe LE 2, Punkt III.C). Stufenbau nach der rechtlichen Recht entsteht damit in einem Rechtserzeugungsprozess, der Bedingtheit. grundsätzlich von obersten, abstrakten Normen zu konkreten Rechtsnormen führt. Auf jeder einzelnen Stufe (zB Gesetz, Bescheid, Vertrag) wird Recht gesetzt. Die jeweils höhere Stufe gibt Erzeugungsbedingungen vor, die bei der Erzeugung von Normen der unteren Stufe beachtet werden müssen. Der Rechtsetzende (zB Gesetzgeber, bescheiderlassende Verwaltungsbehörde, vertragsschließende Privatperson) ist stets an die übergeordnete Norm (zB der Gesetzgeber an die Verfassung, die bescheiderlassende Verwaltungsbehörde an das Gesetz und die Verfassung, die vertragsschließende Privatperson an das zwingende Gesetzesrecht) gebunden (heteronome Determinante); es verbleibt
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ihm aber meist ein Bereich rechtlicher Gestaltungsfreiheit innerhalb des bindenden Rahmens (autonomer Gestaltungsspielraum).
-
In diesem Rechtskonkretisierungsprozess ist die Intensität der Bindung typischerweise unterschiedlich: So ist dem Gesetzgeber im Allgemeinen von der Verfassung ein relativer weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt, während der Verwaltung durch das Legalitätsprinzip (Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung – siehe LE 2) ein wesentlich geringerer Spielraum eingeräumt ist, um das Verwaltungshandeln insbesondere vorhersehbar zu machen und die Verwaltung an den demokratischen Willen des Gesetzgebers zu binden. Bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtsnormen besteht die Rechtsfrage darin, ob bei der Rechtserzeugung die heteronomen Determinanten einHeteronome Determinanten gehalten wurden. Wie der Rechtssetzer im Rahmen der GestalAutonomer Gestaltungsspielraum tungsfreiheit gehandelt hat, ist keine Frage der Rechtmäßigkeit, sondern eine Frage der (politischen) Willensentscheidung (zB der VfGH kann ein Gesetz am Maßstab der Verfassung überprüfen, also etwa nachprüfen, ob der Gesetzgeber in der Gewerbeordnung die Vorgaben der Erwerbsfreiheit eingehalten hat; siehe LE 4 und LE 7. Ob eine Regelung wirtschaftspolitisch zweckmäßig ist, ist im Rahmen der Verfassung autonome Entscheidung des Gesetzgebers: So hat der VfGH etwa entschieden, dass die GewO „Haustürgeschäfte“ mit Kosmetika aus Konsumentenschutzgründen verbieten darf, diese Beschränkung der Erwerbsausübungsfreiheit also zulässig ist. Das bedeutet aber nur, dass der Gesetzgeber so ein Verbot erlassen darf – ob er es tut oder aufrechterhält ist seine autonome Entscheidung). d.
Zwangsnormen
Zwangsnormen regeln, dass und außerdem von wem und wie, dh insbesondere in welchem Verfahren Verhaltensnormen durchgesetzt werden, bis hin zur Verhängung von Sanktionen. Bsp: § 1 JN bestimmt, dass die „Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtssachen … durch ordentliche Gerichte“ ausgeübt wird. Hier wird also geregelt, dass die Gerichte zur Vollziehung der „bürgerlichen Rechtssachen“, also des Privatrechts zuständig sind. § 40 VStG bestimmt, dass die Behörde einem Beschuldigen im Verwaltungsstrafverfahren Gelegenheit geben muss, sich zu rechtfertigen. Diese Bestimmung legt also das Vorgehen der Verwaltungsbehörde bei der Durchsetzung bestimmter Rechtsfolgen, nämlich der Verhängung von Verwaltungsstrafen, fest.
C.
Einteilungsmöglichkeiten des Rechts
1.
Formelles und materielles Recht
Als „formelles Recht“ bezeichnet man sämtliche Vorschriften, die sich auf die Organisation bzw. das Verfahren der Rechtsanwendung beziehen. Bsp: Strafprozessrecht, Zivilprozessrecht, Verwaltungsverfahrensrecht Die Rechtsvorschriften, die direkt das Verhalten der Rechtsunterworfenen regeln, werden als „materielles Recht“ bezeichnet.
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Bsp: Strafgesetzbuch, ABGB, UGB, große Teile der Gewerbeordnung (mit Ausnahme der Verfahrensvorschriften).
2.
Zwingendes und nachgiebiges Recht
Zwingendes Recht kann nicht durch eine abweichende Vereinbarung der beteiligten Rechtssubjekte abgeändert werden; nachgiebiges (man sagt auch: dispositives) Recht tritt demgegenüber hinter die Vereinbarung der beteiligten Rechtssubjekte zurück. Zwingendes Recht begegnet uns vor allem im öffentlichen Recht, aber nicht nur dort. Im Privatrecht dominiert zwar grundsätzlich die Privatautonomie: Bei der Gestaltung insbesondere von Verträgen sind die Parteien grundsätzlich frei zu entscheiden, welche Rechte und Pflichten sie eingehen wollen. Sie können daher vertraglich grundsätzlich all das vereinbaren, was sie wollen. Doch schränkt auch das Privatrecht die Vertragsfreiheit durch zwingendes Recht ein, wenn der Schutz öffentlicher Interessen, der Verkehrssicherheit oder von strukturell „schwächeren“ Vertragspartnern im Vordergrund stehen. Bsp: Das Mietrecht enthält zwingende Regelungen über die Auflösung von Mietrechtsverhältnissen (Kündigungsschutzbestimmungen), die Anwendung der Vorschriften des Konsumentenschutzgesetzes kann vertraglich nicht ausgeschlossen werden, Verträge dürfen nicht gegen die guten Sitten verstoßen, es gibt zwingende Formvorschriften beim Liegenschaftserwerb oder besondere Regeln über das Eingehen oder die Auflösung einer Ehe etc.
3.
Staatlich gesetztes Recht und Privatautonomie
Recht wird entweder durch staatliche Organe gesetzt (Gesetz, Verordnung, Richtlinie, Bescheid, Entscheidung etc.) oder kommt privatautonom durch Rechtssetzung Privater zustande (insbesondere Verträge, aber auch einseitige Rechtshandlungen wie Testamente oder kollektive Rechtssetzung in Form des Kollektivvertrags). Wesentlich ist hier zu sehen, dass auch im Fall von privatautonomer Rechtssetzung das Recht seine Erzeugung selbst regelt. Das ABGB enthält Vorschriften darüber, wie Verträge zwischen Privaten zustande kommen, das Arbeitsverfassungsgesetz enthält die Regelungen über das Zustandekommen von Kollektivverträgen etc. Insofern steht auch privatautonome Rechtserzeugung im Stufenbau der Rechtsordnung und ist nur nach Maßgabe entsprechender rechtlicher, in der Regel gesetzlicher (oder verfassungsrechtlicher) Anordnung verbindlich. Bsp: Ein Testament, das zwingenden gesetzlichen Formvorschriften nicht genügt, ist ungültig. Anordnungen der Eltern müssen von minderjährigen Kindern beachtet werden, weil das Familienrecht den Eltern eine entsprechende „Erziehungsgewalt“ einräumt.
4.
Öffentliches und privates Recht, Justiz- und Verwaltungsrecht
Die Abgrenzung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht hat jahrhundertelange Tradition. Dennoch gibt es keine trennscharfen Kriterien, mit denen Rechtsvorschriften dem einen oder dem anderen Bereich zugeordnet werden könnten. Allgemein und vereinfacht kann man sagen, dass dem Privatrecht diejenigen Rechte und Rechtsverhältnisse zugeordnet
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werden, die im Wesentlichen auf die Beziehungen Einzelner untereinander und ihre Interessen bezogen sind. Zum öffentlichen Recht gehören im Gegensatz dazu jene Rechtsvorschriften, die vor allem den Ausgleich zwischen öffentlichen Öffentliches Recht und privaten Interessen, und die Regelung des Verhältnisses Privatrecht zwischen (untergeordneten) Privaten und (übergeordnetem) Staat (insbesondere, wenn am Rechtsverhältnis ein mit Hoheitsgewalt ausgestattetes Organ teilnimmt) im Auge haben (siehe LE 2, Punkt V.). Bsp: Das Strafrecht oder die Regelungen der Gewerbeordnung sind öffentliches Recht, das Zivil- und Handelsrecht sind Privatrecht. Zum öffentlichen Recht werden durchgängig auch alle Regeln über die Staatsorganisation und die Regelungen über das Verfahren der Rechtsdurchsetzung (Zwangsnormvollzugsnormen) gezählt (also beispielsweise das Bundesverfassungsrecht oder das AVG, aber auch die Zivilprozessordnung oder das Gerichtsorganisationsgesetz). Die auf privatautonomer, vertraglicher Grundlage erfolgende gesellschaftliche Organisation und deren gesetzliche Regelung, das Gesellschaftsrecht (Aktiengesetz, GmbH-Gesetz etc) insbesondere, zählt demgegenüber zum Privatrecht. Um den Unschärfen der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht zu entgehen, wird auch zwischen Justizrecht und Verwaltungsrecht, also ausschließlich nach der Vollzugszuständigkeit unterschieden: Zum Justizrecht zählen Verwaltungsrecht alle jene Rechtsvorschriften, die von den ordentlichen Gerichten Justizrecht vollzogen werden (also insbesondere das Privatrecht, aber auch das weite Feld des gerichtlichen Strafrechts), zum Verwaltungsrecht demgegenüber alle jene Rechtsvorschriften, die von Verwaltungsbehörden vollzogen werden.
II.
Die Auslegung (Interpretation) von Rechtsvorschriften
Interpretation bzw. Auslegung einer Rechtsvorschrift ist ein Denkverfahren, dessen zweckmäßiges Ergebnis das Verstehen der Rechtsvorschrift ist. Zuerst werden dabei die denkbaren Deutungsmöglichkeiten einer Rechtsvorschrift entwickelt (sog Normhypothesen), dann wird mit Hilfe bestimmter Auslegungsargumente (man spricht Interpretation = Sinnermittlung von „Interpretationsmethoden“) jenes Verständnis der Rechtsvorschrift ermittelt, das deren Bedeutung möglichst zutreffend erfasst, genauer: die in der Rechtsvorschrift enthaltene Rechtsnorm, also den Sinn des Willensaktes, den die Rechtsvorschrift „kommunizieren“ will, möglichst zutreffend wiedergibt. Es ist zu ermitteln, was das Fernseh-Exklusivrechtegesetz unter einem „Ereignis von allgemeinem Informationsinteresse“ versteht. Kann unter diesen Tatbestand auch der Sachverhalt „Meisterschaftsspiel der Fußball-Bundesliga“ subsumiert werden? Und weiter: Ist das konkrete „Ereignis“ dann das einzelne Fußballspiel im Rahmen einer Meisterschaftsrunde oder ist eine Meisterschaftsrunde ein solches „Ereignis“? Was heißt „nachrichtenmäßige Kurzberichterstattung“: Ist unter diesen Tatbestand nur das Verlesen der Ergebnisse zu subsumieren, ist darunter auch eine „Bildberichterstattung“ im
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Fernsehen zu subsumieren und wenn ja, fällt darunter jede Form der Bildberichterstattung (also bspw. auch umfangreiche Analysen mit Zeitlupenwiederholungen etc.), oder ist eine „nachrichtenmäßige“ Kurzberichterstattung auf die einmalige Wiedergabe bspw. der Tore eines Fußballspiels beschränkt? Üblicherweise bedient man sich zur Ermittlung des Bedeutungsgehalts einer Rechtsvorschrift folgender Auslegungsargumente (Interpretationsmethoden): x
Grammatikalische Interpretation: Diese stellt auf den Wortlaut des Normtextes ab und sucht nach jenen Bedeutungen, die sich daraus ableiten lassen. Bsp: Das „Hausrecht“ ist grundrechtlich insoweit besonders geschützt, als „Hausdurchsuchungen“ grundsätzlich nur aufgrund eines richterlichen Befehls vorgenommen werden dürfen. Als „Hausdurchsuchung“ gilt in diesem Zusammenhang „die Durchsuchung der Wohnung oder sonstiger zum Hauswesen gehöriger Räumlichkeiten“. Sind vom Wortlaut dieser Definition umfasst: Ein Einfamilienhaus, die vom Einfamilienhaus abgetrennte Garage, eine Hundehütte, das Auto, Büro- und Geschäftsräumlichkeiten (einmal im selben Haus wie die Wohnung, im selben Einfamilienhaus wie die Wohnung, getrennt von der Wohnung in einem anderen Stadtteil)?
Manchmal kann es für die Bedeutung einer Rechtsvorschrift auch nur auf einzelne Satzzeichen ankommen: Variante 1: Martha, meine Tante und ich. Variante 2: Martha, meine Tante, und ich. x
Die systematische Interpretation untersucht den Zusammenhang einzelner Sätze eines Rechtstextes oder mehrerer Rechtstexte in deren Zusammenhang. Bsp: Eine Gesetzesvorschrift verwendet den Begriff „Hof“. Steht die Gesetzesvorschrift einmal im Kontext eines Grundverkehrsgesetzes, so liegt es nahe, dass damit „Bauernhof“ gemeint ist; steht die Rechtsvorschrift im Schulunterrichtsgesetz im Zusammenhang mit Regelungen über Verhaltenspflichten der Schülerinnen und Schüler während der Schulpause so ist mit „Hof“ wohl „Schulhof“ gemeint.
x
Die teleologische Interpretation sucht die Bedeutung des Rechtstextes aus seiner Zielsetzung, aus dem Zweck der Regelung zu ermitteln. Bsp: Eine Vorschrift der Wiener Marktordnung, ein Landesgesetz, verbietet in ihrem Abs. 1 das Mitnehmen von Tieren auf Märkte. Abs. 2 lautet sodann: „Hunde sind unbeschadet Abs. 1 an der Leine zu führen und mit einem sicheren Maulkorb zu versehen.“ Darf ich meinen Affen mit Leine und Beißkorb auf den Naschmarkt mitnehmen?
Bei der Anwendung all dieser Auslegungsmethoden kann entweder auf jene Verhältnisse abgestellt werden, die zur Zeit der Entstehung der Rechtsvorschrift bestanden haben (historische Interpretation) bzw. wie sie der historische Normsetzer vor Augen hatte (subjektive Interpretation), oder es kann auf die im Anwendungszeitpunkt bestehenden Verhältnisse und auf den diesen Verhältnissen unterstellten Willen des Rechtssetzers abgestellt werden (objektive Interpretation).
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In historischer Interpretation kann untersucht werden, ob zum Zeitpunkt der Erlassung des Fernseh-Exklusivrechtegesetzes etwa in anderen Ländern schon vergleichbare Regelungen bestanden haben, an denen sich der Gesetzgeber nachweislich orientiert hat. Eine subjektive Interpretation bedient sich insbesondere der sog „Gesetzesmaterialien“ (das sind bestimmte, veröffentlichte Dokumente, die das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren begleiten, also insbesondere die Regierungsvorlage und dazu erfolgende Erläuterungen, Ausschussberichte oder, wenn auch zumeist wenig aussagekräftig, Wortmeldungen in der parlamentarischen Debatte, siehe LE 2, Punkt IV). Wichtig ist, Gesetzesmaterialien als Basis subjektivhistorischer Interpretation dass nur diese Dokumente bei der subjektiv-historischen Interpretation einen entsprechenden „Erklärungswert“ haben. Äußerungen einzelner Personen, auch wenn sie am Gesetzgebungsverfahren beteiligt waren, die diese im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsverfahren oder danach tätigen, kommt ein solcher besonderer „Erklärungswert“ nicht zu.
Wesentliche Ausprägungen der systematischen Interpretation sind die sog „verfassungskonforme Interpretation“ und die „unionskonforme Interpretation“. „Verfassungskonforme Interpretation“ meint, eine Rechtsvorschrift muss so ausgelegt Besondere systematische Interpretatiwerden, dass sie im Einklang mit den verfassungsrechtlichen onsmethoden: Vorgaben steht. Diese verfassungskonforme Interpretation verfassungskonforme Interpretation kommt insbesondere bei der Auslegung von Gesetzen zum unionskonforme Tragen. Allgemein kann diese Auslegungsregel dahingehend Interpretation formuliert werden, dass Rechtsvorschriften im Zweifel im Einklang mit den sie bedingenden höherrangigen Rechtsvorschriften interpretiert werden müssen. Die „unionrechtskonforme Interpretation“ besagt, dass innerstaatliche Rechtsvorschriften so ausgelegt werden müssen, dass Widersprüche zum Unionsrecht vermieden bzw. dem Unionsrecht möglichst effektiv zur Durchsetzung verholfen wird. Ein Hauptanwendungsfall ist die „richtlinienkonforme Interpretation“. Ein Gesetz ist im Lichte jener Richtlinie zu interpretieren, die es umsetzen will.
Die dargelegten Interpretationsmethoden können auch zu einem vom Wortlaut der auszulegenden Vorschrift nicht mehr getragenen Ergebnis führen. x
Wird die Vorschrift auf einen von ihrem Wortlaut nicht erfassten Sachverhalt angewendet, dann handelt es sich um eine Analogie. Bsp: Eine Vorschrift der Gewerbeordnung verpflichtet den „auflassenden Inhaber“ einer Betriebsanlage zu bestimmten Vorkehrungen. Diese Vorschrift wird analog auf denjenigen angewendet, der eine bereits aufgelassene Betriebsanlage erwirbt und innehat, weil der Zweck der Vorschrift (Umweltschutz) dies verlangt.
x
Eine besondere Art von Analogieschlüssen stellen Größenschlüsse dar. Demnach ist aus dem Zweck einer Vorschrift zu schließen, dass sie für von ihrem Wortlaut nicht erfasste Fälle „umso mehr“ (argumentum a minori ad maius) oder „umso weniger“ (argumentum a maiori ad minus) gilt.
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Bsp: Die Straßenverkehrsordnung enthält eine Verständigungspflicht der Polizei bei Verletzung von Personen aus Anlass eines Verkehrsunfalles. Diese Verständigungspflicht gilt im Hinblick auf den Zweck der Regelung (rasche Aufklärung) argumentum a minori ad maius auch in Bezug auf bei Verkehrsunfällen getötete Personen. Nach dem B-VG darf in Verfahren vor „Gerichten“ kein Analogie , Größenschluss und teleologiBeschuldigter zu einem Geständnis gezwungen sche Reduktion als vom Wortlaut nicht werden. Nach Auffassung des VfGH gilt dies getragene Interpretationsmethoden argumentum a maiori ad minus (Gerichte stehen für einen höheren Rechtsschutzstandard als Verwaltungsbehörden) auch im Verwaltungsstrafverfahren. x Führt die Interpretation zu einem engeren Ergebnis als es der Wortlaut erlauben würde, dann liegt eine teleologische Reduktion vor. Bsp: Nach einer Bestimmung der Straßenverkehrsordnung ist das Halten und Parken vor Hauseinfahrten verboten. Gilt dieses Verbot, auch für die EigentümerInnen der Häuser? Analogien, Größenschlüsse und teleologische Reduktionen stehen stets in Konkurrenz zu einem Umkehrschluss, bei dem die Auslegung zum Ergebnis führt, dass die Interpretation mit dem Wortlaut im Einklang steht. Auslegungsmethoden: grammatikalisch systematisch teleologisch historisch
Wortlaut
darauf beschränkt:
darüber hinaus:
enger:
Umkehrschluss
Analogie, Größenschluss
teleologische Reduktion
Eine am Wortlaut der Gesetzesvorschrift des Fernseh-Exklusivrechtegesetzes orientierte Auslegung könnte darauf abstellen, dass im Gesetz von „einem Ereignis“ und nicht von mehreren zusammenhängenden Ereignissen die Rede ist. Dem könnte entgegengehalten werden, dass es um ein Ereignis geht, an dem „ausschließliche Übertragungsrechte“ erworben werden und diese wurden im gegenständlichen Fall ja überhaupt an der gesamten Fußballmeisterschaft erworben. Systematisch könnte man daraufhin wieder in Rechnung stellen, dass die gesamte Fußballmeisterschaft deswegen nicht als „Ereignis“ verstanden werden kann, weil der „bildliche“ Informationsgehalt eines solchen Ereignisses wohl nicht in 90 Sekunden vermittelbar ist. Auch könnte teleologisch argumentiert werden, dass eine „Kurzberichterstattung“, die ganz offensichtlich der Information dienen soll (Stichwort: „nachrichtenmäßiger Informationsgehalt des Ereignisses“) jedenfalls für eine ganze Fuß-
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ballmeisterschaft im Nachhinein geradezu absurd wäre, aber auch für eine gesamte Runde im Rahmen der Fußballmeisterschaft weniger nahe liegt, besteht doch der „Informationsbedarf“ zunächst einmal am Ausgang des konkreten Fußballspiels. Was die Frage der „nachrichtenmäßigen“ Berichterstattung anlangt, so ergibt sich wohl aus der systematischen Stellung der Vorschrift in einem „Fernseh-Exklusivrechtegesetz“, dass jedenfalls Bildberichterstattung gemeint ist. Denn dafür, dass ein Nachrichtensprecher die Ergebnisse der Fußballspiele bloß verliest, bedürfte es keiner eigenständigen Regelung, diese Information kann er sich als einfacher Zuschauer des Fußballspiels ohne weiteres beschaffen. Das Besondere der Regelung besteht ja darin, das Exklusivrecht von „Premiere“ bei der Bildübertragung zu beschränken. Das Wort „nachrichtenmäßig“, insbesondere auch die Wortfolge „nachrichtenmäßiger Informationsgehalt“ legen es möglicherweise nahe, dass bei der Kurzberichterstattung nur in einfacher Form berichtet, dass aber aus der „Kurzberichterstattung“ keine „Sport-Show“ durch lange Analysen, Zeitlupenwiederholungen etc. gemacht werden darf. Allerdings, so könnte man argumentieren, werden auch im Rahmen von „Nachrichten“ im Fernsehen Analysen und Kommentare gebracht, die auf Bildberichterstattung Bezug nehmen und ganz allgemein lassen sich heute „Informationsgehalt“ und „Unterhaltungsfunktion“ von Fernsehsendungen kaum mehr trennscharf unterscheiden (man spricht vom „Infotainment“). Schwierig ist Sinn und Zweck dieser Vorschrift zu ermitteln. Die teleologische Interpretation ist hier wie zumeist deswegen besonders heikel, weil die Gefahr besteht, dass der Interpret das, was er selbst als Zweck der Vorschrift ansehen würde, der Vorschrift auch „entnimmt“ (also in Wahrheit nicht den Willen des Normsetzers (hier des Gesetzgebers) ermittelt, sondern seine eigenen Vorstellungen in die Rechtsvorschrift „hineinliest“). Dennoch lassen sich Rechtsvorschriften in aller Regel nur unter Rückgriff auf ihren Zweck sachgemäß auslegen. Was ist nun der Zweck dieser Vorschrift des Fernseh-Exklusivrechtegesetzes? Wohl nicht die Information der Bevölkerung über den Ausgang des Fußballspiels – diese Information kann sich jeder einfacher und schneller als über Kurzberichterstattung im Fernsehen beschaffen (in der Regel ist diese Information im Internet oder über diverse Dienste von Mobilfunkanbietern zeitgleich mit dem Ereignis selbst verfügbar). Das Wesentliche der Regelung dürfte also sein, dass nicht nur den Zusehern, die die Fernsehsendungen des Exklusivrechteinhabers empfangen (dürfen oder können), sondern möglichst vielen, also der Allgemeinheit zumindest wesentliche Vorkommnisse dieses Ereignisses in Bildberichterstattung zugänglich sind. Ganz konkret: Die Fußballmeisterschaft soll nicht nur aufgrund der Exklusivrechtevereinbarung von „Premiere“ mit der Fußball-Bundesliga im Pay-TV, sondern zumindest im Rahmen der „nachrichtenmäßigen Kurzberichterstattung“ auch im „free TV“ zugänglich sein. Auf diese Weise soll ein Bedürfnis nach allgemein zugänglicher Bildberichterstattung über solche Ereignisse von allgemeinem Informationsinteresse befriedigt werden. Wenn man das als Zielsetzung der Vorschrift akzeptiert, dann stellt sich freilich die Frage, was daraus abzuleiten ist: Man kann daraus ableiten, dass das Kurzberichterstattungs-
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recht eben nur eine einmalige Bildberichterstattung über wesentliche Vorkommnisse im Rahmen eines Fußballspiels, also insbesondere über die Tore umfasst und nicht umfangreiche Zeitlupenwiederholungen oder die Berichterstattung über ganze, für das Spiel wesentliche Abschnitte oder umfangreiche Spielzüge. Eine verfassungskonforme Interpretation kann schließlich in Rechnung stellen, dass das Fernseh-Exklusivrechtegesetz eine wesentliche Beschränkung des Eigentumsrechts des Exklusivrechteinhabers darstellt. Insoweit kann – unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten (vgl. LE 4) – auch argumentiert werden, dass das Kurzberichterstattungsrecht jedenfalls nur soweit gehen darf, als dies für die Befriedigung des allgemeinen Informationsinteresses erforderlich ist (und dass etwa umfangreiche Analysen dazu nicht erforderlich sind, sondern dass diese eben exklusiv der Berichterstattung durch den Exklusivrechteinhaber überlassen sind). Im Hinblick auf die „nachrichtenmäßige“ Kurzberichterstattung kann man auf der anderen Seite aber auch in Rechnung stellen, dass die Frage, in welcher Art ein Fernsehveranstalter über Geschehnisse berichtet, wie er also seine Informationen präsentiert, Bestandteil seiner durch Art 10 EMRK geschützten „Rundfunkveranstaltungsfreiheit“ ist (genauso wie die Pressefreiheit auch schützt, in welcher Art und Weise Zeitungsmeldungen verfasst werden). Insoferne darf das Fernseh-Exklusivrechtegesetz die journalistische Freiheit des Fernsehveranstalters, der den Kurzbericht sendet, ebenfalls nicht unverhältnismäßig beschränken. Alle diese Fragen waren bereits Gegenstand höchstgerichtlicher Verfahren. Das Beispiel zeigt, dass Auslegungsergebnisse selten „eindeutig“ sind, sondern zumeist „Auslegungsspielräume“ bestehen. In solchen Fällen kommt dann die endgültige Entscheidung den letztinstanzlichen Gerichten zu, die für den konkreten Rechtsstreit verbindlich eine bestimmte Auslegung festlegen. Bspw. hat der Verwaltungsgerichtshof zur Frage, was als „Ereignis“ anzusehen ist, folgendermaßen entschieden: „Der Begriff „Ereignis“ im Sinne des FernsehExklusivrechtegesetzes (FERG) erfasst „Veranstaltungen gleichermaßen wie sonstige Geschehnisse, die von ausschließlichen Übertragungsrechten erfasst sind. ‚Ereignis’ in diesem Sinne kann demnach jeder Vorgang sein, der nach der Verkehrsauffassung als ein Geschehen anzusehen ist, also eine in sich geschlossene Einheit bildet. Darunter fallen nicht organisierte Einzelereignisse ebenso wie ‚selbständige Elemente’ von Ereignissen, die aus deren Verklammerung zu größeren Ereigniskomplexen bestehen, aber auch solche ‚Gesamtereignisse’ selbst. Ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß in Ansehung solcher Ereignisse ein Recht auf Kurzberichterstattung besteht, bemisst sich nach dem ‚allgemeinen Informationsinteresse’ im Sinne des § 5 Abs. 1 zweiter Satz FERG. Abhängig von diesem Informationsinteresse kann sich das Recht auf Kurzberichterstattung sowohl auf das Einzelereignis, das ‚selbständige Element’ eines Gesamtereignisses, als auch auf das Gesamtereignis selbst beziehen. … Davon ausgehend entspricht die Auffassung der belangten Behörde, die beschwerdeführende Partei habe ein lediglich auf die Spielrunde, nicht aber auf die einzelnen Spiele bezogenes Kurzberichterstattungsrecht, weil ‚unter Ereignis die jeweilige Spielrunde’ zu verstehen sei, nicht dem FERG. Vielmehr ist es nach dem Gesagten unzweifelhaft das einzelne im Rahmen der Bundesliga ausgetragene Spiel, das … als das das Kurzberichterstattungsrecht begründende Ereignis … anzusehen ist.
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Das einzelne Spiel erfüllt nämlich nicht nur die von einem ‚Ereignis’ zu verlangende Eigenschaft, nach der Verkehrsauffassung ein ‚selbständiges Element’ des im Rahmen der Bundesliga ausgetragenen Bewerbs zu sein, sondern es besteht daran unbestreitbar auch ein ‚allgemeines Informationsinteresse’“. (VwGH 20.12.2005, Zl 2004/04/0199).
III. Erfordernis rechtswissenschaftlicher Systembildung Niemand, auch kein noch so guter Jurist ist heute in der Lage, alle Regelungsbereiche des Wirtschaftsrechts oder auch nur des öffentlichen Wirtschaftsrechts zu überblicken oder gar in allen Details zu beherrschen. Wie in allen Wissenschaften ist auch im Bereich der Rechtswissenschaft die Spezialisierung weit fortgeschritten (es gibt heute Vergaberechtsspezialisten, Anlagenrechtsspezialisten, Beihilfenrechtsspezialisten etc., die – vergleichbar Fachärzten in der Medizin – beruflich zumeist auch nur in ihrem engeren Fachgebiet tätig sind). Für jede noch so ausdifferenzierte Wissenschaft ist es aber wichtig, den Gesamtzusammenhang im Blick zu behalten (um im Medizinbeispiel zu bleiben: Ein Neurochirurg braucht auch allgemeinmedizinisches Wissen). Um im Gesamtsystem den Überblick zu bewahren, benötigt man Ordnungskriterien. Es ist eine wichtige Aufgabe der Rechtswissenschaft, über zweckmäßige Systembildungen Ordnung in die Masse an Rechtsvorschriften zu bringen. Derartige Systembildungen ermöglichen es erst, die vielen rechtlichen Regelungen zu ordnen, damit zu überblicken und ihre grundlegenden Regelungsstrukturen und Zielsetzung zu verstehen. Auf diese Weise verfügt der Rechtsanwender (der betroffene Unternehmer, der Anwalt, der Verwaltungsbeamte, der Richter etc.) über ein Systemverständnis, das ihm wiederum hilft, konkrete Einzelregelungen und ihre Probleme zu verstehen und zu bewältigen. Ein solches Systemverständnis benötigen aber auch alle jene, die in vielfältigen Funktionen an der Schaffung „neuen Rechts“ beteiligt sind (also vor allem die Systembildung: Ordnung in die Masse Juristen, die Vielzahl von Sachverständigen, der Rechtsvorschriften Interessenvertretern und politisch Verantwortlichen, die auf innerstaatlicher wie europäischer Ebene in den einzelnen Normsetzungsverfahren zusammenarbeiten, beraten oder selbst in diesem Prozess mitwirken). Sie müssen nicht nur neue Regeln in das bestehende System einpassen, sondern sie müssen vor allem auch wissen, welche Wirkungen sie mit welchen rechtlichen Regelungen hervorrufen können. Die Rechtsvorschriften sind in dieser Hinsicht ja vor allem die Instrumente, mit denen letztlich politische Entscheidungsträger in einem demokratisch und rechtsstaatlich geregelten Prozess das Verhalten von natürlichen und juristischen Personen steuern. Für das Wirtschaftsrecht hat sich in Österreich die nachfolgend dargestellte Systembildung über lange Zeit etabliert. Sie unterscheidet zum einen – Wirtschaftsverfassungsrecht und unterverfassungsgesetzliches Wirtschaftsrecht – im Hinblick auf den „Rang“ der Rechtsnormen, orientiert sich also als Ordnungskriterium am „Stufenbau Systembildung benötigt der Rechtsordnung“ (siehe LE 2, Punkt III.C). Sie orientiert sich Ordnungskriterien. weiters – Wirtschaftsverwaltungs- und Wirtschaftsjustizrecht – an dem Ordnungskriterium der Unterscheidung zwischen Verwaltungsrecht und Justizrecht, die wiederum auf der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht aufbaut (siehe LE 2, Punkt V. B). Und sie orientiert sich drittens innerhalb des Wirtschaftsverwal-
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tungsrechts zum einen an einem Ordnungskriterium, das auf die „Intensität der Regulierung“, also darauf abstellt, wie intensiv die Rechtsvorschriften in die unternehmerische Gestaltungsfreiheit eingreifen. Dazu tritt als weiteres Ordnungskriterium die Zielsetzung der jeweiligen Regelungen. Wichtig ist dabei zu sehen, dass es sich hier um eine rechtswissenschaftliche Systembildung handelt. Es wird danach getrachtet, einen Untersuchungsgegenstand – das Wirtschaftsrecht – nach zweckmäßigen Kriterien zu ordnen und den einzelnen Ordnungskategorien zweckmäßige Begriffe zuzuordnen, die möglichst prägnant zum Rechtswissenschaft ist systematisch oder sie ist es nicht… Ausdruck bringen, was das Ordnungskriterium hinter der einzelnen Ordnungskategorie ist. Sowohl Ordnungskriterien als auch Ordnungsbegriffe sind rechtswissenschaftliche Festlegungen: Sie sind danach zu beurteilen, ob sie – nach wissenschaftlichen Kriterien der Widerspruchsfreiheit, Abgrenzungsfähigkeit oder ihres Erklärungswerts – zweckmäßig sind. Systembildung und Ordnungsbegriffe sind also rechtswissenschaftliche Festlegungen, die nicht wahr oder falsch, sondern nur mehr oder weniger zweckmäßig sein können.
IV. Die klassische Systembildung im Wirtschaftsrecht A.
Wirtschaftsverfassungsrecht und unterverfassungsgesetzliches Wirtschaftsrecht
Anknüpfend an den Stufenbau der Rechtsordnung (siehe oben Punkt III.B) unterteilt man das Wirtschaftsrecht in „Wirtschaftsverfassungsrecht“ und Wirtschaftsverfassungsrecht: „unterverfassungsgesetzliches“ Wirtschaftsrecht. Allerdings, Verfassungsvorschriften, die für das Wirtschaftsleben von besonderer und das ist wichtig, wird hier als Ordnungskriterium nicht nur Bedeutung sind. die „rechtliche Bedingtheit“ verwendet (weil sonst hätte diese Einteilung gegenüber dem Stufenbau ja auch keinen besonderen eigenständigen Erklärungswert). Für die Zuordnung zum „Wirtschaftsverfassungsrecht“ wird auch noch ein inhaltliches Kriterium, nämlich jenes der „Bedeutung für das Wirtschaftsleben“ herangezogen. In diesem Sinne grenzt man als Wirtschaftsverfassungsrecht alle jene Normen in Verfassungsrang ab, die für das Wirtschaftsleben von besonderer Bedeutung sind (die für Österreich diesbezüglich grundlegenden Arbeiten stammen vom ehemaligen Präsidenten des VfGH Karl Korinek). Die Zielsetzung dieser Systembildung – Wirtschaftsverfassungsrecht – liegt also nicht nur in einer Beschreibung der Struktur (Verfassungsrecht – einfaches Gesetzesrecht), sondern auch in einer inhaltlichen Ordnung anhand eines Bewertungskriteriums („Bedeutung für das Wirtschaftsleben“). Auf diese Weise kann man dann sagen, dass zum österreichischen Wirtschaftsverfassungsrecht insbesondere die Vorschriften über die Kompetenzverteilung (welcher Gesetzgeber ist zuständig, die Wirtschaft zu regulieren), die Wirtschaftsgrundrechte, die dieser Regulierung Schranken setzen, die Finanzverfassung oder der Grundsatz der Wirtschaftsgebietseinheit in Art 4 B-VG gehören. Diese Systembildung hat eine weitere Zielsetzung: Nimmt man die so abgegrenzten Normen des „Wirtschaftsverfassungsrechts“ in den Blick, kann weiters Grundsätzlich marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung gefragt werden, ob sie ein bestimmtes „Wirtschaftssystem“
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konstituieren. Insbesondere wegen der starken Verankerung von Wirtschaftsgrundrechten (insb. Eigentums- und Erwerbsfreiheit) kann man dann sagen, dass das österreichische Wirtschaftsverfassungsrecht eine „grundsätzlich marktwirtschaftliche Ordnung“ konstituiert (siehe LE 2, Punkt III.4).
B.
Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschaftsjustizrecht
1.
Vollzugszuständigkeiten von Gerichten und Verwaltungsbehörden …
In einem zweiten Schritt zur „Systembildung im Wirtschaftsrecht“ wird die große Masse des verbliebenen „unterverfassungsgesetzlichen Wirtschaftsrechts“ zunächst einmal zweigeteilt: in Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschaftsjustizrecht. Das Ordnungskriterium ist hier zunächst ein formales, nämlich die Vollzugszuständigkeit: dem Wirtschaftsprivatrecht o Justiz Wirtschaftsverwaltungsrecht o Wirtschaftsverwaltungsrecht werden alle jene gesetzlichen Verwaltungsbehörden Regelungen zugeordnet, die – insoferne wird wiederum das schon aus dem Wirtschaftsverfassungsrecht bekannte Kriterium der „besonderen Bedeutung“ zusätzlich herangezogen – für das Wirtschaftsleben von besonderer Bedeutung sind und die von Verwaltungsorganen angewendet und vollzogen werden, mit deren Hilfe also die staatliche Verwaltung das Wirtschaftsgeschehen ordnet, seinen Ablauf steuert oder selbst an ihm teilnimmt. Das Wirtschaftsjustizrecht ist demgegenüber jener Teil des Wirtschaftsrechts, mit dessen Hilfe die Gerichtsbarkeit das Wirtschaftsgeschehen ordnet oder seinen Ablauf steuert (umfasst also das gerichtliche Wirtschaftsstrafrecht und insbesondere das Wirtschaftsprivatrecht, vor allem das Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, aber auch große Teile des Wettbewerbsrechts).
2.
… und die Unterscheidung von privatem und öffentlichem Wirtschaftsrecht
Das Ordnungskriterium ist hier freilich ein vordergründiges. Dahinter steht erkennbar eine andere Unterscheidung, nämlich die zwischen privatem und öffentlichem im Sinne von verwaltungsrechtlichem Wirtschaftsrecht. Weil das (Wirtschafts)Privatrecht in Österreich weitgehend mit der Vollzugszuständigkeit der ordentlichen Gerichte übereinstimmt (siehe LE 2, Punkt V.B), passt die formale Zuordnung über die Wirtschaftsverwaltungsrecht Vollzugskompetenz gut, weil damit auch das gerichtliche Wirtschaftsprivatrecht Wirtschaftsstrafrecht Wirtschaftsstrafrecht dem Wirtschaftsjustizrecht zugeordnet werden kann (im alltäglichen juristischen Sprachgebrauch wird daher oft mit „Öffentlichem Recht“ verstanden als rechtswissenschaftliche Teildisziplin nur das Verfassungs- und Verwaltungsrecht bezeichnet). Der Sache nach zielt die Unterscheidung aber vor allem auch darauf ab, das Wirtschaftsverwaltungsrecht (das wesentlich durch seinen nahezu ausschließlich zwingenden Charakter und die primäre Aufgabe der Durchsetzung öffentlicher Interessen gekennzeichnet ist) vom Wirtschaftsprivatrecht (das vor allem auch durch den Grundsatz der „Privatautonomie“ und damit durch vertragliche Rechtssetzung gekennzeichnet ist – siehe Handels- und Gesellschaftsrecht) zu unterscheiden. Nicht zuletzt hängt diese Unterscheidung auch damit zusammen, dass sich diese beiden rechtswissenschaftlichen Disziplinen – das Verfassungs- und Verwaltungsrecht (das „öffentliche Recht“ in diesem Sinn rechtswissenschaftlicher Disziplinen) und das Privatrecht – aufgrund
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langer Tradition selbständig entwickelt haben. Die hier vorgestellte Systembildung des Wirtschaftsrechts ist auch eine, die stark unter „öffentlich-rechtlichem“ Blickwinkel erfolgt, also in Wahrheit vor allem auf eine Systembildung im Bereich des Wirtschaftsverfassungsrechts und des Wirtschaftsverwaltungsrechts abzielt und das Wirtschaftsjustizrecht nur als „Abgrenzungs- und Auffangkategorie“ begreift, die nicht näher systematisiert wird. Die einschlägige Systematisierungsleistung wird dem Wirtschaftsprivatrecht überlassen.
C.
Wirtschaftsverwaltungsrecht als Wirtschaftsordnungs-, Wirtschaftslenkungs- und Wirtschaftsaufsichtsrecht
1.
Ordnungskriterien für die Systembildung im Wirtschaftsverwaltungsrecht
Die im öffentlichen Wirtschaftsrecht wichtige und dieses bis heute prägende Systembildung für das Wirtschaftsverwaltungsrecht ist die Unterscheidung von Wirtschaftsordnungs-, Wirtschaftslenkungs- und Wirtschaftsaufsichtsrecht. Grundlegend ist zunächst die Unterscheidung von Wirtschaftsordnungs- und Wirtschaftslenkungsrecht. Sie verwendet zwei Ordnungskriterien: primär jenes der Intensität der staatlichen Wirtschaftsverwaltungsrecht Wirtschaftsordnungsrecht Einflussnahme auf die Wirtschaft, wobei diese aus dem Wirtschaftslenkungsrecht Blickwinkel der betroffenen Unternehmen beurteilt wird: wie Wirtschaftsaufsichtsrecht stark wird typischerweise (die Systembildung muss abstrahieren und stellt daher auf typische Fallkonstellationen ab, im Einzelfall kann dies natürlich anders sein) die privatautonome wirtschaftliche Gestaltungsfreiheit des Unternehmers durch die verwaltungsrechtlichen Regelungen und die darauf gestützten verwaltungsbehördlichen Vollzugsakte beschränkt. Dieses Ordnungskriterium steht in der Tradition des Verständnisses von öffentlichem Recht als im öffentlichen Interesse festgelegte Schranke wirtschaftlichen Handelns (das Wirtschaftsverwaltungsrecht als „Datum“, das der Unternehmer genauso wie andere externe Vorgaben bei seinen Unternehmensentscheidungen zu beachten hat). Außerdem wird zur Unterscheidung ein weiteres Ordnungskriterium, nämlich das der Zielsetzung der in Rede stehenden wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Regelungen herangezogen. Wirtschaftslenkungsrecht liegt demnach vor, wenn dem unternehmerischen Handeln aus wirtschaftspolitischen Gründen (wie Vollbeschäftigung, Preisstabilität, Wirtschaftswachstum) und nicht aus ordnungspolitischen Gründen (Umwelt-, Konsumenten- und Arbeitnehmerschutz) Schranken gesetzt werden. In diesem Sinn wird zunächst traditionellerweise zwischen Wirtschaftslenkungsrecht und Wirtschaftsordnungsrecht unterschieden. Dazu kommt – weil es auch hier zumindest traditionell um wenn auch nicht hoheitliches Vollzugshandeln von Wirtschaftsordnungsrecht Verwaltungsorganen geht, nämlich um die sog PrivatwirtWirtschaftslenkungsrecht schaftsverwaltung (siehe LE 2) – herkömmlich die Kategorie des Rechts der wirtschaftlichen Betätigung des Staates (sie kann hier in der Folge ausgeklammert bleiben).
2.
Wirtschaftsordnungsrecht
Als Wirtschaftsordnungsrecht werden jene wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Regelungen zusammengefasst, die vor allem im Interesse der „Gefahrenabwehr“ der wirtschaftlichen Tä-
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tigkeit Schranken setzen, also, umgekehrt betrachtet, ordnungspolitische Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Tätigkeit festlegen. Das Wirtschaftsordnungsrecht schließt aus Gründen der Gefahrenabwehr aus einer Vielzahl möglicher Wirtschaftsordnungsrecht: Gefahrenabbestimmte Handlungen der Unternehmen aus (zB verdorbene wehr Ware anzubieten, irreführend zu werben, für die Nachbarn unzumutbar laute Maschinen zu verwenden etc.). Das Gesetz dient also – daher der Name – als Ordnungsrahmen für die Wirtschaft. Auch die Regelung der Wettbewerbsverhältnisse, also das Verbot von Kartellabsprachen oder missbräuchlicher Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung, werden in diesem Sinn als Ordnungsrahmen für die Wirtschaft Ordnungsrahmen verstanden und daher das allgemeine Wettbewerbsrecht (soweit es dem Wirtschaftsverwaltungsrecht zugerechnet wird, also insbesondere soweit es durch Verwaltungsbehörden vollzogen wird) dem Wirtschaftsordnungsrecht zugerechnet. Typisch für das Wirtschaftsordnungsrecht sind daher zum einen Vorschriften, die den Marktzugang bzw. den Berufsantritt im Interesse der Gefahrenabwehr und der Sicherung eines „Qualitätsstandards“ regeln. Dabei greift das Wirtschaftsordnungsrecht auf ein abgestuftes Instrumentarium von Zulassungsschranken zurück: Objektive und subjektive Marktzugangsbeschränkungen (siehe LE 4, II.A), Zulassungssysteme im engeren Sinn (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt – also Erfordernis einer ausdrücklichen behördlichen Bewilligung für die Aufnahme der Tätigkeit oder das Inverkehrbringen des Produkts), Anmeldesysteme etc. Die Tendenz im Wirtschaftsordnungsrecht der letzten Jahre geht deutlich in die Richtung, behördliche Bewilligungen nur mehr dort vorzusehen, wo dies aufgrund von Sicherheitsinteressen zwingend erforderlich ist, und sonst Anmeldesysteme (siehe LE 7) oder, insbesondere im Produktrecht, Systeme der „Selbsteinstufung“ (der Unternehmer muss selbst prüfen oder bei einer privaten, dazu staatlich ermächtigen Stelle prüfen lassen, ob sein Produkt bestimmten Sicherheitsanforderungen entspricht) vorzusehen. Soweit das Wirtschaftsordnungsrecht die Unternehmenstätigkeit und die Berufsausübung reguliert, arbeitet es als Ordnungsrahmen typischerweise mit Verhaltenspflichten (Ver- und Geboten) für die Unternehmen. Charakteristisch ist, dass diese notwendigerweise einem Kontroll- und Sanktionssystem unterliegen, dieses aber zumeist dann ausgelöst wird, Verwaltungspolizei wenn im Einzelfall Missstände auftreten. Bei Gewerberechtsverstößen werden Verwaltungsstrafen verhängt, bei Verdacht auf Kartellabsprachen ermittelt die Wettbewerbsbehörde etc. Die Steuerung des unternehmerischen Handelns erfolgt also vor allem über den allgemeinen Ordnungsrahmen. Individuelles, insbesondere verwaltungsbehördliches Eingreifen erfolgt typischerweise nur bei Verstößen gegen diesen Ordnungsrahmen (also repressiv), nicht aber durch eine laufende individuelle Kontrolle des unternehmerischen Handelns (also präventiv). Man spricht im Wirtschaftsverwaltungsrecht daher auch davon, dass die laufende Unternehmensüberwachung Ausübung der „Verwaltungspolizei“, also beispielsweise der „Gewerbepolizei“ ist („Polizei“ meint hier nicht eine bestimmte Organisationseinheit, sondern eine materielle Tätigkeit, nämlich die Abwehr von Gefahren, die mit der Ausübung einer bestimmten Tätigkeit verbunden sind; ein weiteres Beispiel für eine solche Tätigkeit wäre die Verkehrspolizei. Der Begriff leitet sich von altgrie-
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chisch „polis“ = „Stadt“ ab; ursprünglich war damit die Verwaltung insgesamt gemeint, im Mittelalter sprach man von der „guten Policey“, vgl heute den Ausdruck „good governance“). Insoweit handelt es sich beim Wirtschaftsordnungsrecht also um ein die unternehmerische Freiheit nicht sehr intensiv beschränkendes Wirtschaftsrecht. Freilich ist dies eine auf typologische Kriterien abstellende Systembildung. Es gibt Bereiche, die dennoch zum Wirtschaftsordnungsrecht gezählt werden, in denen auch die laufende Überwachung der Unternehmenstätigkeit intensiver ausgestaltet ist (also beispielsweise laufende Berichtspflichten des Unternehmens und korrespondierende Überwachungs- und Informationsrechte der zuständigen Behörden mit einschließt). Dies ist etwa im Betriebsanlagenrecht jedenfalls bei entsprechend „gefährlichen“ Betriebsanlagen (vgl. diesbezüglich das abgestufte Bewilligungssystem des Betriebsanlagenrechts, siehe LE 8, Punkt II) oder im Produktrecht bei besonders sensiblen Produkten wie Arzneimitteln oder Chemikalien der Fall.
3.
Wirtschaftslenkungsrecht
Als Wirtschaftslenkungsrecht werden jene Regelungen zusammengefasst, die gezielt unternehmerisches Handeln zur Erreichung wirtschaftspolitischer Zielsetzungen beeinflussen sollen. Ausgangspunkt derartiger Regelungen ist insbesondere, dass die Marktmechanismen aus besonderen Gründen nicht funktionieren und daher gewünschte Ergebnisse nicht „von selbst“ erbringen und der Staat daher wirtschaftspolitisch in den Markt interveniert. Traditionell wird dabei weiters zwischen direktem und indirektem Lenkungsrecht unterschieden: Direktes Lenkungsrecht arbeitet mit hoheitlichen Ver- und Geboten. Typische Konstellation ist, dass aus akuten Krisensituationen (zB Erdölknappheit infolge politischer Krisen) heraus für bestimmte Güter oder Leistungen eine „Bewirtschaftung“ angeordnet wird, im Rahmen derer bestimmte Unternehmensentscheidungen nicht mehr vom Unternehmer, sondern mittels hoheitlicher Anordnung von der Verwaltungsbehörde getroffen werden. Typische Beispiele sind das Preisgesetz, das für den Fall, dass in Krisenzeiten Versorgungsengpässe drohen, die Bestimmung von volkswirtschaftlich Direktes Wirtschaftslenkungsrecht: gerechtfertigten Preisen für Sachgüter und Leistungen „Bewirtschaftung“ bei Marktversagen. vorsieht, soweit diese nicht ohnedies gesetzlichen Lenkungsoder Bewirtschaftungsvorschriften unterliegen. Zu diesem klassischen direkten Lenkungsrecht zählen weiters nämlich auch jene besonderen Bewirtschaftungsvorschriften, die beispielsweise die Erdölbevorratung, den Benzinpreis oder die Bevorratung und Verteilung von Arzneimitteln regeln. Kennzeichnend für all diese Formen von direktem Lenkungsrecht ist also das Vorliegen von Marktversagen und die Reaktion darauf durch behördliche Bewirtschaftungsmaßnahmen. Das – viel häufigere – indirekte Lenkungsrecht umfasst jene Regelungen, die positive Anreize für bestimmtes unternehmerisches Verhalten setzen sollen: die klassischen Instrumente indirekter Wirtschaftslenkung sind Förderungen und Indirektes Wirtschaftslenkungsrecht: Förderungen steuerrechtliche Bestimmungen, die ein bestimmtes Verhalten Steuerliche Anreize weil unerwünscht belasten (beispielsweise Energieverbrauchsabgabe) oder - weil erwünscht - entlasten (zB Investitionsfreibetrag).
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4.
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Wirtschaftsaufsichtsrecht
Schließlich hat sich traditionell eine dritte Subkategorie bei der Systematisierung des Wirtschaftsverwaltungsrechts herauskristallisiert, das Wirtschaftsaufsichtsrecht. Ordnungskriterium ist – Abgrenzung sowohl zum Wirtschaftsordnungs- wie zum Wirtschaftslenkungsrecht – die Zielsetzung der Regelung: Während es dem Wirtschaftsordnungsrecht primär um Gefahrenabwehr, dem Wirtschaftslenkungsrecht (wenn man das direkte Lenkungsrecht in den Blick nimmt) um wirtschaftspolitische Intervention bei drohendem oder eingetretenem Marktversagen geht, hat das Wirtschaftsaufsichtsrecht das Anliegen, bestimmte so genannte „volkswirtschaftliche Schlüsselbranchen“ einem besonderen Wirtschaftsaufsichtsrecht: Funktionieren präventiven staatlichen Funktionsschutz zu unterstellen. Weil volkswirtschaftlicher Schlüsselbranchen diese Branchen – Musterbeispiele sind der Banken- und Versicherungssektor – für das Funktionieren der Gesamtwirtschaft von besonderer Bedeutung sind, gibt es besondere „sondergewerbliche“ Regelungen, die insbesondere durch strengere Marktzugangsbeschränkungen und intensive Ausübungsregeln und – daher der Name – staatliche Aufsichtsbefugnisse das „Funktionieren“ dieses Sektors sicherstellen, also Krisensituationen durch Marktversagen von vornherein verhindern sollen. Kennzeichnend für das Wirtschaftsaufsichtsrecht ist daher insbesondere eine intensive laufende Überwachung der Unternehmen, die die unternehmerische Tätigkeit durchgehend begleitet und sich nicht auf eine Missstandskontrolle beschränkt. Die Kategorie des Wirtschaftsaufsichtsrechts ist nicht unumstritten, weil sie Regelungsbereiche zusammenfasst, die im Hinblick auf die Ordnungskriterien „Intensität“ und „Ziel“ der Regulierung Querschnittsbereiche aus den Kategorien Ordnungs- und Lenkungsrecht vereint. Wirtschaftsaufsichtsrechtliche Regelungsbereiche, etwa das Bankenaufsichtsrecht, enthalten nämlich im Hinblick auf ihre Intensität sowohl typisch „ordnungsrechtliche“ wie auch „lenkungsrechtliche“ Maßnahmen. Das Wirtschaftsaufsichtsrecht bedient sich aber „im Normalfall“ vor allem der Mittel des Wirtschaftsordnungsrechts (direkt lenkende Maßnahmen sind nur als ultima ratio vorgesehen). Von der Zielsetzung her steht es allerdings dem Wirtschaftslenkungsrecht näher: Es geht um die Intervention zur Vermeidung von Marktversagen (wobei das Wirtschaftsaufsichtsrecht durch einen tendenziell präventiven Zugang gekennzeichnet ist, während das Lenkungsrecht typischerweise erst bei aktuellem Marktversagen greift – Beispiel Preisregelungen). So unterliegt ein Bankunternehmen einer laufenden Überwachung, die – und daher der gesonderte Begriff „Aufsicht“ – typischerweise deutlich intensiver als jene im „normalen“ Gewerberecht ist. Und die Zielsetzung der Bankenaufsicht liegt nicht nur – aber freilich auch – darin, die Konsumenten zu schützen, also Gefahrenabwehr im klassisch verwaltungspolizeilichen Sinn zu betreiben, sondern auch darin, präventiv Marktversagen zu verhindern. Weil das „Wirtschaftsaufsichtsrecht“ als eigene Kategorie für die Beschreibung der traditionell erfassten „klassischen Aufsichtsbereiche“ einen erhöhten Systematisierungs- und Erklärungswert gegenüber einer reinen Zweiteilung in Ordnungs- und Lenkungsrecht aufweist, ist es wissenschaftlich durchaus zweckmäßig, diese Kategorie hervorzuheben. Insgesamt ergibt sich auf diese Weise ein weitgehend geschlossenes, also alle Bereiche des Wirtschaftsrechts erfassendes, und in sich konsistentes, das heißt nach durchgängigen Ord-
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nungskriterien gegliedertes „System des Wirtschaftsrechts“, wie es die nebenstehende Abbildung nochmals zusammenfasst.
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V.
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Die Systembildung im Wirtschaftsrecht im Lichte neuerer Entwicklungen 1
Die vorstehend dargestellte, jedenfalls in Österreich immer noch dominierende Systembildung im Wirtschaftsrecht erfüllt ihre Ordnungs- und Erkenntnisfunktion (siehe oben Punkt III.B) solange, als die verwendeten Ordnungskriterien besser als andere in der Lage sind, die große Masse des positiven Wirtschafts(verwaltungs)rechts zu ordnen und zu erklären. Neuere Rechtsentwicklungen stellen freilich die Funktionsfähigkeit dieser Ordnungskriterien immer mehr in Frage. Dies soll im Folgenden an einigen Beispielen auf allen drei Stufen der Systembildung erläutert werden. Die rechtswissenschaftliche Beschreibung des (öffentlichen) Wirtschaftsrechts und dabei insbesondere die Kriterien für eine ordnende Systembildung befinden sich derzeit in mehrerlei Hinsicht (dazu noch näher unten) in einer Umbruchphase. Es ist nicht untypisch für rechtswissenschaftliche Erkenntnisprozesse, dass etablierte, aber aufgrund von Veränderungen im Untersuchungsgegenstand, dem positiven Recht, nicht mehr ausreichend gegenstandsadäquate methodische Zugänge, Kriterien und Nachhaltige Veränderungen im positiven Begriffsbildungen über längere Zeit immer mehr in Frage Wirtschaftsrecht stellen die traditionellen Ordnungskriterien und wissenschaftgestellt und auf diese Weise die Neuerungen wissenschaftlich liche Systembildung in Frage. analysiert werden, bevor sich wiederum neue Begrifflichkeiten und Systembildungen anstelle der alten etablieren und die rechtswissenschaftliche Arbeit bestimmen können. Die Rechtswissenschaft dürfte heute zwar die Notwendigkeit einer Neubetrachtung der „klassischen“ Systembildung im Wirtschaftsrecht und insbesondere ihrer Ordnungskriterien erkannt haben, ist aber noch ein gutes Stück weit davon entfernt, gegenstandsadäquate neue Ordnungskriterien entwickelt zu haben und damit eine, den Veränderungen Rechnung tragende zweckmäßigere Systembildung leisten zu können.
A.
Das Wirtschaftsverfassungsrecht als europäisches Wirtschaftsverfassungsrecht
Die Europäische Union ist – nicht nur, aber vor allem auch – eine Wirtschaftsgemeinschaft (siehe LE 3). Daher enthalten die Rechtsvorschriften des EUV nicht nur, aber vor allem auch – Wirtschaftsrecht (im Sinne von Rechtsvorschriften, die für das Wirtschaftsleben von besonderer Bedeutung sind). Nun kann mit Hilfe des „Stufenbaudenkens“ auch die Rechtsordnung der Europäischen Union als gestuftes System bedingender und bedingter Rechtsnormen beschrieben und auf diese Weise folgender Stufenbau des Unionrechts entwickelt werden: Innerhalb des Unionsrecht nimmt das primäre Unionsrecht Stufenbau des Unionsrechts die höchste rechtliche Stufe ein. Dabei handelt es sich um den EU-Vertrag (EUV) und den Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) sowie den Euratom Vertag. Das abgeleitete sekundäre Unionsrecht (also Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen) beruht auf dem primären Unionsrecht. Im Einzelnen ist das sehr differenziert
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zu sehen, es gibt innerhalb des primären Unionsrechts ebenso Differenzierungen wie vor allem innerhalb des sekundären Unionsrechts, allerdings lassen sich dort keine so einfachen und klaren Kategorien wie im österreichischen innerstaatlichen Recht bilden. Für die Zwecke der hier in Rede stehenden Systembildung des Wirtschaftsrechts kann man allerdings anhand dieses formalen Ordnungskriteriums („Stufenbau“) und anhand des „Bedeutungskriteriums“ auch innerhalb des Unionsrechts zusammenfassende Aussagen zur „europäischen Wirtschaftsverfassung“ entwickeln, die wesentlich durch primärrechtliche Regelungen wie das Wettbewerbsprinzip, die Europäische Wirtschaftsverfassung: Binnenmarktgrundsätze und die wesentliche Zuständigkeit der Entscheidung für Marktwirtschaft Europäischen Union für das Wirtschaftsrecht gekennzeichnet ist. Aufgrund dessen kann man dann wohl auch sagen, dass die europäische Wirtschaftsverfassung deutlich durch eine Systementscheidung für eine freie Marktwirtschaft gekennzeichnet ist, die wesentlich auf dem Gedanken des Marktwettbewerbs beruht und Interventionen in Marktprozesse als Ausnahmen von der Regel versteht. Auch wenn dies im Einzelnen alles andere als unumstritten ist, lässt sich somit im Vergleich festhalten, dass die europäische Wirtschaftsverfassung deutlich markt- und wettbewerbsorientierter ist als die diesbezügliche Systementscheidung ausschließlich der österreichischen Bundesverfassung, die insoferne den (einfachen) Gesetzgeber weit weniger festlegt, sondern mehr Spielräume für Marktintervention offen lässt. Schwierig wird es nun, wenn europäische und innerstaatliche Rechtsordnungen und damit auch „Wirtschaftsverfassungen“ nicht jeweils für sich betrachtet werden sollen, sondern gemeinsam. Für eine gegenstandsadäquate Betrachtung ist dies freilich unabdingbar notwendig, weil Unionsrecht heute in Österreich – zu wesentlichen Teilen darüber hinaus unmittelbar anwendbar – genauso gilt wie genuin innerstaatliches Rechtsordnung in Österreich: StaatliRecht (es wurde dafür das plastische Bild geprägt, dass EUches Recht und Unionsrecht Recht in Österreich so gilt, wie österreichisches Bundesrecht in einem Bundesland, also zB in Wien oder Tirol). Die Rechtsordnung in Österreich umfasst also heute sowohl EU-Recht wie innerstaatliches (österreichisches) Recht. Das Zusammenwirken der beiden Rechtsbereiche erfolgt dabei nicht nur in jeweils eigenen rechtlichen Regelungen und Instrumenten, sondern auch inhaltlich wiederum in einem System bedingender und bedingter Rechtsnormen (insbesondere dort, wo innerstaatliche Rechtsvorschriften europäisches Unionsrecht umsetzen [also zB das Bundesvergabegesetz die Allgemeine Vergaberichtlinie] oder organisatorisch innerstaatliche Behörden funktionell als EU-Behörden unmittelbar anwendbares Unionsrecht vollziehen (also zB ein Finanzamt als Zollbehörde einen Bescheid aufgrund einer EG-Zollverordnung erlässt). Ordnet man innerstaatliches Recht und europäisches Unionsrecht für die Rechtsordnung in Österreich gemeinsam nach „Stufenbaukriterien“, so ergibt sich allerdings ein sehr komplexes, im Einzelfall durchaus oft nicht zu eindeutigen Zuordnungen führendes Bild. Dies liegt schon darin begründet, dass das Unionsrecht zwar sich in einen klaren Stufenbau zwischen Primär- und Sekundärrecht aufweist, in Bezug auf das innerstaatliche Recht aber auch zahlreiche Bestimmungen des Sekundärrechts (nämlich soweit sie unmittelbar anwendbar sind, insbesondere also Verordnungen, und bei nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinien darüber hinaus „vertikal“ Beziehungen zwischen staatlichen Organen und dem Einzelnen regeln, sie-
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he näher LE 3, Punkt VII) aufgrund des „Vorrangs des Unionsrechts“ (siehe LE 3, Punkt VII) im Stufenbau sogar über dem innerstaatlichen Verfassungsrecht stehen (was jedenfalls hinsichtlich der so genannten „Grundprinzipien“ der österreichischen Bundesverfassung, siehe zu diesen LE 2, Punkt III.A.2, allerings wiederum eine höchst umstrittene Frage ist).
B.
Die Erosion der herkömmlichen Kategorien des Wirtschaftsverwaltungsrechts
Im Wirtschaftsverwaltungsrecht haben neuere Rechtsentwicklungen dazu geführt, dass die herkömmliche Unterscheidung in Wirtschaftsordnungs-, Stufenbau der Rechtsordnung in Wirtschaftslenkungsund Wirtschaftsaufsichtsrecht zunehmend Österreich fragwürdig wird. Dazu einige Beispiele: Insbesondere das Anlagenrecht hat sich zu einem Rechtsgebiet entwickelt, das im Hinblick auf eine nachhaltige Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen wie Wasser und Luft stark durch Vorsorgegedanken weit über traditionelle Gefahrenabwehr hinaus geprägt ist. So besteht heute für wesentliche Teile gewerblicher Betriebsanlagen (einschließlich Energieanlagen) ein System des „Emissionszertifikatehandels“, das über einen erst durch dieses Gesetz bzw. seine europa- und völkerrechtlichen Grundlagen rechtlich geschaffenen Markt die Schadstoffproduktion im Hinblick auf bestimmte Luftschadstoffe nachhaltig bewirtschaften und begrenzen will. Ist damit das Anlagenrecht vom Wirtschaftsordnungsrecht zum Wirtschaftslenkungsrecht (Bewirtschaftung bei Marktversagen) Gefahrenabwehr wird Vorsorge „gewandert“? Es passt weder die eine noch die andere Kategorie inhaltlich: Die Regulierungsintensität geht deutlich über die herkömmlicher „Verwaltungspolizei“ im Rahmen des Wirtschaftsordnungsrechts hinaus und auch die Zielsetzungen lassen sich mit „Gefahrenabwehr“ im Sinne etwa anlagenrechtlichen Nachbarschutzes nicht mehr wirklich sinnvoll erfassen. Auf der anderen Seite knüpft gerade das System des Emissionszertifikatehandels nicht an „Marktversagen“ an, sondern will, gerade umgekehrt, den Markt (nämlich einen rechtlich extra dafür geschaffenen Markt) als besonders effizientes Instrument der „Bewirtschaftung“ einsetzen. Das klassische Preisrecht des Preisgesetzes und diese Vorschriften haben inhaltlich miteinander auch im Hinblick auf ihre Zielsetzungen wenig gemeinsam. Vor allem im Zusammenhang mit netzgebundenen Infrastrukturmärkten haben sich in den letzten Jahren – wiederum zumeist auf europarechtliche Initiative – spezielle „Marktrechte“ entwickelt, die – manchmal unter dem Begriff des Von der „Erfüllungsverantwortung“ zur „Regulierungsrechts“ zusammengefasst – folgende „Gewährleistungsverantwortung“ des Grundgedanken gemeinsam haben: Es handelt sich Staates typischerweise um Dienstleistungen, die für das Funktionieren unserer Gesellschaft von hoher Bedeutung sind (beispielsweise Kommunikations-, Energieoder Verkehrsversorgung). Diese Leistungen wurden lange Zeit hindurch im Rahmen einer „Erfüllungsverantwortung des Staates“ erbracht. Auf Grund EU-rechtlicher Vorgaben wurden diese Infrastrukturleistungen aber liberalisiert und der Staat hat sich auf eine „Gewährleistungsverantwortung“ der Funktionsfähigkeit der Märkte zurückgezogen. Weil hier durch Libe-
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Recht – Wirtschaftsrecht – Juristische Interpretation – Systembildung
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ralisierung Märkte vielfach aber erst geschaffen wurden, muss die rechtliche Regulierung dieser Märkte nicht nur die Funktionsfähigkeit des Marktes erhalten, sondern diese vielfach erst herstellen. Anders als insbesondere dem allgemeinen Wettbewerbsrecht geht es diesem sektorspezifischen Wettbewerbsrecht (siehe schon oben) also nicht nur um die Sicherung bestehenden Wettbewerbs, sondern auch um dessen präventive Herbeiführung. In ihrer „Regulierungsintensität“ gehen diese Rechtsbereiche (das Recht der Kommunikationsinfrastrukturmärkte, das Energiemarktrecht etc) über klassisches Wirtschaftsordnungsrecht deutlich hinaus, unterscheiden sich in ihrer Zielsetzung auch zum einen von Gefahrenabwehr, zum anderen aber eben auch von derjenigen des „klassischen“ Wirtschaftsaufsichtsrechts. Mit dem Wirtschaftslenkungsrecht haben manche dieser Rechtsbereiche am ehesten gemeinsam, dass der Staat speziell lenkend in den Markt interveniert, um bestimmte Leistungen sicherzustellen, die der Markt – trotz Regulierung – nicht angemessen erbringen kann: Universaldienstleistungen im Telekombereich oder Ausgleichszahlungen im öffentlichen Personennahverkehr sind Beispiele dafür. Die Instrumente unterscheiden sich freilich von denjenigen des klassischen Wirtschaftslenkungsrechts, weil sie oft gerade wiederum wettbewerbliche Elemente integrieren (so wird im öffentlichen Regulierung von Infrastrukturmärkten Personennahverkehr oft der Leistungswettbewerb – mehrere Buslinien konkurrieren miteinander – durch einen Wettbewerb um die Leistung – es gibt ein wettbewerblich organisiertes Verfahren zur Vergabe einer Konzession für die Buslinie – ersetzt). Derartige staatliche Interventionen zur Sicherung gemeinwohlorientierter Leistungen finden sich dabei sowohl in Infrastrukturbereichen, die im oben genannten Sinn auch einer sektorspezifischen Wettbewerbsregulierung unterliegen und damit oft als „Regulierungsrecht“ bezeichnet werden (Beispiel: Universaldienst im Telekommunikationsrecht), aber auch in anderen Bereichen, in denen – Beispiel öffentlicher Personennahverkehr – die rechtliche Liberalisierung von den Instrumenten her doch inhaltlich ein gutes Stück weit andere Wege geht. Auf der anderen Seite kennt etwa das Energiemarktrecht direkte „lenkungsrechtliche“ staatliche Interventionen zur Versorgungssicherung weitgehend nur mehr im Krisenfall (es gibt im Energiebereich beispielsweise keinen dem Telekombereich vergleichbaren „Universaldienst“). All dies kann und soll hier nicht näher ausgebreitet werden. Es soll nur blitzlichtartig zeigen, dass die herkömmlichen Ordnungskategorien des Wirtschaftsverwaltungsrechts ihre Abgrenzungsfunktion immer mehr verlieren und damit fragwürdig werden. Vergleichbar leistungsfähige neue Ordnungskriterien und –kategorien zur Systembildung müssen freilich erst gefunden werden. Die vorstehenden Ausführungen bedeuten aber nicht, dass die klassische Systembildung, wie sie oben (Punkt IV) vorgestellt wurde, heute ihren Wert verloren hat. Sie ist vielmehr nach wie vor wichtig, um einmal eine Ordnung in der großen Zu neuen Ufern kann man nur von alten Masse des Wirtschaftsrechts herzustellen, mit deren Hilfe aufbrechen… dieses überhaupt erfasst werden kann. Sie hat also nach wie vor wesentlichen Erklärungswert und wesentliche Erkenntnisfunktion. Erst auf dieser Basis ist man nämlich sinnvoll in der Lage, die vorstehend kurz umrissenen neueren Rechtsentwicklungen beschreiben und in ihrem „Neuigkeitswert“ und damit in ihrem „Veränderungspotential“ für den Zustand des Wirtschaftsrechts insgesamt erkennen zu können.
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Recht – Wirtschaftsrecht – Juristische Interpretation – Systembildung
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Wie immer in der Wissenschaft ist die profunde Kenntnis des Status quo, also des Standes der Wissenschaft, unabdingbare Voraussetzung für wissenschaftliche Innovationen (das unterscheidet wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt von „Erfindungen“).
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Recht – Wirtschaftsrecht – Juristische Interpretation – Systembildung
VI. Weiterführende Literatur Adomeit, Rechtstheorie für Studenten4 (1998) F. Bydlinkski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre (2005) Griller, Zur Systembildung im Wirtschaftsrecht (1989) Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht (2009) Öhlinger, Verfassungsrecht8 (2009) B. Raschauer (Hrsg.), Österreichisches Wirtschaftsrecht2 (2003) Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts10 (2007)
VII. Wiederholungsfragen
Wodurch unterscheidet sich Recht von anderen Normensystemen? Was ist unter der „Orientierungsfunktion“ der Rechtsordnung zu verstehen? Wodurch zeichnet sich der „positivistische“ Rechtsbegriff aus? Wie ist das Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit zu fassen? Was ist unter dem Geltungsbereich einer Rechtsnorm zu verstehen? Wodurch unterscheiden sich primäre von sekundären Rechtsnormen? Was versteht man unter dem „juristischen Syllogismus“? Was ist juristische Interpretation? Was sind Erzeugungsnormen? Was versteht man unter „materiellem“ Recht? Gibt es im Bereich des Privatrechts zwingende Bestimmungen? Welche Auslegungsinstrumente stehen der Rechtswissenschaft zur Verfügung? Worin besteht das vordringliche Anliegen rechtswissenschaftlicher Systembildung? Was versteht man unter dem Stufenbau der rechtlichen Bedingtheit? Was ist die „reine Rechtslehre“? Welche Normen bilden das „Wirtschaftsverfassungsrecht“? Wodurch unterscheiden sich: Wirtschaftsaufsichtsrecht, Wirtschaftslenkungsrecht und Wirtschaftsordnungsrecht?
Was versteht man unter „Verwaltungspolizei“?
Was versteht man unter „Gewährleistungsverantwortung“?
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Innerstaatliches Organisationsrecht
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Lektion 2 INNERSTAATLICHES ORGANISATIONSRECHT
Der eigenmächtige Gemeinderat In Großkleinstadt gehen die Uhren noch anders. In diesem malerischen Städtchen hält man von der modernen aufgeschlossenen Konsumgesellschaft nicht viel. Der Gemeinderat will sich von den „Ignoranten“ in Bundes- und Landesparlament distanzieren und seine eigene Wirtschaftspolitik betreiben. Der Gemeinderat beschließt daher ein „Gesetz, das die Ausübung von Gewerben in Großkleinstadt regelt“ und veröffentlicht es in der Gemeindezeitung Nr 6/2006. Unter anderem findet sich in diesem Gesetz die Bestimmung, dass der Bürgermeister die Gewerbebehörde erster Instanz ist; Gewerbebehörde zweiter und letzter Instanz ist der Gemeinderat. Weiters ist festgelegt, dass die Gewerbebehörde zur Entscheidung darüber berufen ist, welche Waren zu welchen Preisen in den Geschäften von Großkleinstadt verkauft werden dürfen und dass auf Warenlieferungen, die von außerhalb kommen, Zölle eingehoben werden. Schließlich ist ausdrücklich festgelegt, dass nur diese Gewerbeordnung gelten soll und keine andere. Sie betreiben in Großkleinstadt eine kleine Modeboutique. Die Gewerbebehörde verbietet Ihnen, die von Ihnen eigens aus Paris eingeführte Haute Couture zu verkaufen. Für alle weiteren Kleidungsstücke legt die Gewerbebehörde die Preise fest. Kann so etwas in Österreich passieren? Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Wer übt in Österreich die Staatsgewalt aus? Was ist ein Gesetz und wer darf Gesetze erlassen? Welche Grenzen sind der Gesetzgebung gesteckt?
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Innerstaatliches Organisationsrecht
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Inhalt: Die Staatsgewalt ...................................................................................................... 39 Die drei Gebietskörperschaften ............................................................................. 39 Bund .......................................................................................................................... 39 Länder ....................................................................................................................... 39 Gemeinden ................................................................................................................ 40 Verfassungsrechtliche Grundlagen....................................................................... 40 Die österreichische Bundesverfassung ..................................................................... 40 Allgemeines ............................................................................................................... 40 Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung ......................................... 41 Staatszielbestimmungen und Gesetzesaufträge ....................................................... 48 Die soziale Marktwirtschaft........................................................................................ 49 Landesverfassungen ................................................................................................. 50 Einfache Gesetze ...................................................................................................... 50 Stufenbau der Rechtsordnung .................................................................................. 50 Gesetzgebung.......................................................................................................... 51 Bundesgesetzgebung................................................................................................ 51 Gesetzgebung der Länder......................................................................................... 52 Vollziehung .............................................................................................................. 52 Wer handelt, wenn der Staat handelt? ...................................................................... 53 Organe und Organwalter ........................................................................................... 53 Behörden................................................................................................................... 53 Kollegialorgane (-behörden) – monokratische Organe (Behörden)........................... 53 Vollziehung: Gerichtsbarkeit und Verwaltung............................................................ 54 Gerichtsbarkeit .......................................................................................................... 54 Verwaltung ................................................................................................................ 55 Die Akte der Vollziehung ........................................................................................... 60 Die Akte der Gerichtsbarkeit: das Urteil, der Beschluss............................................ 60 Die Akte der Verwaltung: der Bescheid, die Verordnung, Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, die Weisung, einfaches Verwaltungshandeln, privatwirtschaftliches Verwaltungs-handeln ............................ 60 D. Rechtsschutz bei der Vollziehung ............................................................................. 61 VI. Weiterführende Literatur......................................................................................... 63 VII. Wiederholungsfragen.............................................................................................. 63 I. II. A. B. C. III. A. 1. 2. 3. 4. 5. B. C. IV. 1. 2. V. A. 1. 2. 3. B. 1. 2. C. 1. 2.
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I.
Innerstaatliches Organisationsrecht
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Die Staatsgewalt
Unter Staatsgewalt sind jene Einrichtungen und Handlungsformen zu verstehen, die dem Staat zur Erreichung seiner Aufgaben zur Verfügung stehen. Die Bestimmungen über die Staatsgewalt regeln, wer im Staat die Möglichkeit hat, allgemein verbindliche Vorgaben zu erlassen und durchzusetzen. Die Staatsgewalt tritt in zwei Aspekten zu Tage: Gesetzgebung und Vollziehung. Die Vollziehung unterteilt sich wiederum in die Verwaltung und in die Gerichtsbarkeit. Österreich ist ein Bundesstaat. Die Staatsgewalt ist daher zunächst auf die Gebietskörperschaften Bund und Länder aufgeteilt. Aber auch Selbstverwaltungskörper wie die Gemeinden als weitere Gebietskörperschaften, oder die Kammern und die Sozialversicherungsträger haben beschränkten Anteil an der Verwaltung innerhalb der vollziehenden Staatsgewalt. Österreich ist in neun Bundesländer unterteilt, die Bundesländer gliedern sich in Bezirke und in Gemeinden. Auf der Ebene der Gesetzgebung werden der Bund und die Länder, auf Ebene der Verwaltung der Bund, die Länder, die Gemeinden und andere Selbstverwaltungskörper tätig. Die Gerichtsbarkeit ist beim Bund konzentriert.
II.
Die drei Gebietskörperschaften
Eine Gebietskörperschaft ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts. Gebietskörperschaften werden als „Personengesamtheiten“ bezeichnet, weil sie alle Personen erfassen, die in einer örtlichen Beziehung (zB Wohnsitz, Aufenthalt) zu einem bestimmten Gebiet stehen. Diese Körperschaften werden durch Verfassungsgesetz eingerichtet, sie haben Hoheitsgewalt und sind Träger von Rechten und Pflichten.
A.
Bund
Der Bund als größte Gebietskörperschaft erstreckt sich über ganz Österreich. Die Gesetzgebungsorgane des Bundes sind der Nationalrat (NR) und der Bundesrat (BR); Bundesregierung, Bundesminister und Bundespräsident sind die höchsten Bund – Länder – Gemeinden Verwaltungsorgane; die Höchstgerichte (Verfassungs-, Verwaltungsgerichtshof, Oberster Gerichtshof) sind als gleichberechtigte nebeneinander stehende Höchstgerichte Kontrollinstanzen für Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit.
B.
Länder
Nach der Kompetenzverteilung der Art 10 - 15 B-VG ist die Staatsgewalt, also Gesetzgebung und Vollziehung (gemeint ist hier die Verwaltung), zwischen Bund und Ländern geteilt. Die Gesetzgebungsorgane der Länder sind die Landtage, die höchsten Verwaltungsorgane sind die Landesregierungen bestehend aus Landesräten unter dem Vorsitz des Landeshauptmannes.
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C.
Innerstaatliches Organisationsrecht
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Gemeinden
Den Gemeinden ist von der Staatsgewalt nur ein Teil der Verwaltung (als Teil der Vollziehung) übertragen. Die Organe der Gemeinde sind der Bürgermeister, der Gemeindevorstand und der Gemeinderat. Den Gemeinden sind nur bestimmte Angelegenheiten der Verwaltung als Teil der Staatsgewalt übertragen. Ihnen kommt keine Gesetzgebungskompetenz zu.
III. Verfassungsrechtliche Grundlagen A.
Die österreichische Bundesverfassung
1.
Allgemeines
Das Stammgesetz der österreichischen Bundesverfassung ist das BundesVerfassungsgesetz (B-VG vom 1. 10. 1920 in der Fassung BGBl I 2010/57). Verfassungsrecht bezeichnet in Österreich jedoch nicht eine Verfassungsurkunde, in der alle Verfassungsbestimmungen aufgenommen werden müssen (es gibt in Ö kein Inkorporationsgebot), sondern meint vielmehr die besondere Qualität, die einer Norm auf Grund der erschwerten Bedingungen, die zu ihrer Erzeugung erforderlich sind, zukommt. Der Grund für diese – im Vergleich zu sonstigen Gesetzen – erhöhten Erzeugungsanforderungen ist darin zu finden, dass Verfassungsrecht (jedenfalls seiner konzeptionellen Ausrichtung nach) als Handlungsanleitung für das gesellschaftliche Zusammenleben fungiert. Nicht alle dieser Normen finden sich im B-VG. Unter diesen „sonstigen Bestimmungen“ des Bundesverfassungsrechts sind die Grundrechtskataloge der österreichischen Rechtsordnung – das Staatsgrundgesetz aus 1867 (StGG) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) besonders wichtig. Daneben existieren zahlreiche weitere Bundesverfassungsgesetze und auch viele Verfassungsbestimmungen in „einfachen“ Gesetzen. Die Bundesverfassung enthält somit die Grundregeln für das Funktionieren des (österreichischen) Staates, man spricht auch von „Spielregeln“. In der Bundesverfassung ist beispielsweise geregelt: Österreich ist eine demokratische Republik. Sie besteht aus neun Bundesländern. Der Nationalrat, der Bundesrat und die Landtage sind die gesetzgebenden Organe. Weiters ist bestimmt, wie Normen zu erlassen sind (Normerzeugungsregeln), wer die obersten Staatsorgane sind und wie diese eingerichtet werden, welche Grundrechte gewährt werden etc. Auf Grund dieser Leitfunktion und ihrer erschwerten Abänderbarkeit kommt den Verfassungsbestimmungen innerhalb der Rechtsordnung ein besonderer Rang zu. Um sie zu beschließen, abzuändern oder aufzuheben, bedarf es der Anwesenheit (Präsenzquorum) der Hälfte der Abgeordneten im NR, wobei zwei Drittel dieser anwesenden Abgeordneten zustimmen müssen (Konsensquorum). Weiters sind Verfassungsbestimmungen ausdrücklich als solche zu bezeichnen.
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2.
Innerstaatliches Organisationsrecht
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Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung
Aus der Gesamtheit der Verfassungsrechtsordnung lassen sich sog Grundprinzipien der Bundesverfassung ableiten: das demokratische, das republikanische, das bundesstaatliche, und das rechtsstaatliche Prinzip, das verschiedentlich auch noch in ein gewaltenteilendes und liberales Prinzip unterteilt wird. Diese Grundprinzipien (oder: Baugesetze) sind als solche nicht ausdrücklich formuliert oder gekennzeichnet, sondern ergeben sich aus dem Gesamtzusammenhang der Bundesverfassung. Sie sind als tragende Grundsätze der österreichischen Rechts- und Wertegemeinschaft die höchsten Normen innerhalb der österreichischen Rechtsordnung; alle anderen Normen müssen ihnen entsprechen. Um Grundprinzipien abzuändern oder aufzuheben, bedarf es gemäß Art 44 Abs 3 B-VG zusätzlich zu den Präsenz- und Konsensquoren für ein Verfassungsgesetz in NR und nach dem Einspruchsverfahren im Bundesrat einer Volksabstimmung (sog Gesamtänderung der Bundesverfassung). Eine derartige Gesamtänderung der Bundesverfassung war der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. Dieser wurde durch das Beitritts-Bundesverfassungsgesetz bewerkstelligt, das im Verfahren für die Gesamtänderung, also mit obligatorischer Volksabstimmung beschlossen wurde. Dieses Bundesverfassungsgesetz hat im Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsvertrag mehrere Grundprinzipien der Bundesverfassung wesentlich abgeändert und ist bislang die einzige Gesamtänderung, die das Bundesverfassungsrecht in Österreich seit 1920 erfahren hat. a.
Demokratisches Prinzip
Art 1 B-VG bestimmt programmatisch: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Die konkrete verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Demokratie ergibt sich insbesondere aus den Bestimmungen des B-VG über die Gesetzgebung auf Bundesund Landesebene (zB Art 26 – Wahl des NR, Art 41ff – Weg der Bundesgesetzgebung, Art 95 B-VG – Wahl der Landtage). Die österreichische Verfassungsordnung sieht eine parlamentarische Demokratie (Gesetzgebung durch gewählte Organe), also ein System mittelbarer (repräsentativer) Demokratie vor. Ein Übergang zu einem System der unmittelbaren (direkten) Demokratie oder die Einführung von einzelnen Rechtserzeugungsprozessen auf direktem Wege (also unmittelbar durch das Volk) wäre daher als Gesamtänderung der Bundesverfassung anzusehen. Elemente der unmittelbaren oder direkten Demokratie in der österreichischen Bundesverfassung sind das Volksbegehren (Art 41 Abs 2 B-VG), die Volksabstimmung (Art 43 f B-VG) und die Volksbefragung (Art 49b B-VG). Sie führen aber nie unmittelbar zur verbindlichen Rechtserzeugung. Diese bleibt ausschließlich den dafür durch Wahl Östereich = mittelbare Demokratie legitimierten Gesetzgebungsorganen (Nationalrat, Landtage) vorbehalten. Direktdemokratische Instrumente sind auch in den Ländern und Gemeinden vorgesehen und haben dort in der Praxis weit mehr Bedeutung als auf Bundesebene. Grundsätzlich kann auch bei den Organen der Vollziehung eine demokratische Organisation verwirklicht werden (z.B. Direktwahl des Bundespräsidenten). Im Normalfall ist die Verwaltungsorganisation aber vom Prinzip der Weisungsgebundenheit innerhalb der Verwaltung und der Verantwortung der obersten Verwaltungsorgane (zB Bundesregierung, Bundesminister) gegenüber dem Parlament geprägt.
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Bsp: Demokratische Elemente in der Vollziehung sind zB die Mitwirkung der Bevölkerung an der Strafgerichtsbarkeit als Schöffen bzw Geschworene bei politischen und bestimmten anderen, schwerwiegenden Straftaten (Raub, Mord etc) oder die demokratische Organisation der Gemeinden sowie sonstiger Selbstverwaltungskörper. Mit dem Beitritt Österreichs zur EU am 1.1.1995 erfuhr das demokratische Prinzip bedeutende Änderungen. So geht zB das sekundäre Unionsrecht nicht unmittelbar „vom (österreichischen) Volk“ aus, sondern wird von EU-Organen erzeugt (siehe LE 3). Im Rat der Europäischen Union ist Österreich durch Fachminister vertreten, dh der Rat ist nicht direkt vom österreichischen Volk legitimiert. Freilich sind zumindest die österreichischen Abgeordneten zum Europäischen Parlament unmittelbar vom österreichischen Volk gewählt. Es darf aber nicht übersehen werden, dass das Europäische Parlament nicht in allen Angelegenheiten mitentscheidungsbefugt ist und dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments nicht das österreichische Volk, sondern die Völker Europas vertreten. Vor allem aber kehrt sich das Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen Gesetzgebungsund Vollziehungsorganen auf Ebene der Europäischen Union teilweise um: Als Teilorgane der „EU-Gesetzgebung“ können österreichische Minister im Rat der EU Richtlinien und Verordnungen erlassen, die das österreichische Parlament binden bzw höheren Rang als österreichische Gesetze haben. Das demokratische Konzept iSd B-VG erfuhr also durch die EU-Mitgliedschaft gravierende Veränderungen. b.
Republikanisches Prinzip
Auch das republikanische Prinzip ist bereits in Art 1 B-VG programmatisch festgelegt: „Österreich ist eine demokratische Republik“ (dh nicht monarchisch, vgl dazu auch Art 60 Abs 3 B-VG, wonach vom passiven Wahlrecht zum Bundespräsidenten Mitglieder regierender Häuser oder solcher Familien, die ehemals regiert haben, ausgeschlossen sind). Das republikanische Prinzip konkretisiert sich in der zeitlich begrenzten, politisch und rechtlich verantwortlichen Position des Staatsoberhauptes, des Bundespräsidenten (vgl Art 60 B-VG – Wahl des BP, Art 68 B-VG – Verantwortlichkeit des BP gegenüber der Bundesversammlung, Art 142 B-VG – Anklage kann durch die Bundesversammlung [NR und BR] beim VfGH erhoben werden). Das republikanische Prinzip wurde durch den EU-Beitritt nicht verändert. c.
Bundesstaatliches Prinzip
Art 2 B-VG lautet programmatisch: „Österreich ist ein Bundesstaat“. Das bundesstaatliche Prinzip besagt, dass die Staatsfunktionen auf den Bund und die Länder aufgeteilt sind. In der österreichischen Verfassungsordnung zeigt es sich insbesondere in folgenden Regelungen: x
Die Kompetenzverteilung in den Art 10-15 B-VG weist die Staatsgewalt (Gesetzgebung und Vollziehung[Verwaltung]) in Österreich entweder dem Bund oder den Bun-
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x
x
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desländern zu. Verstößt ein Gesetz oder ein Vollziehungsakt gegen diese Vorschriften, ist das Gesetz oder der Vollziehungsakt verfassungswidrig und kann vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben werden. Zwar sind die beiden Rechtskreise (Bund und Länder) prinzipiell gleichgeordnet; es gibt somit Kompetenzverteilung: Art 10 bis 15 B-VG keinen Vorrang von Bundesrecht gegenüber Landesrecht („Bundesrecht bricht nicht Landesrecht“) – Bund und Länder sollen aber die Akte der jeweils anderen Körperschaft berücksichtigen. Es besteht allerdings ein Kompetenzübergewicht zugunsten des Bundes (insbesondere wirtschaftlich zentrale Gesetzgebungskompetenzen – Gewerbe und Industrie, Finanzmärkte, Außenwirtschaft etc – aber auch Kompetenzen im Bereich des Äußeren, der Sicherheit, der Bildung usw kommen gemäß Art 10 B-VG dem Bund zu). Den Ländern verbleiben hingegen zur Gesetzgebung wenige bzw wenig bedeutsame Bereiche (wie etwa Naturschutz, Baurecht, Raumordnung, Landwirtschaft, Jagd-, Veranstaltungs- und Jugendschutzrecht). Den Ländern kommt aber im Bereich der Vollziehung durch Verwaltungsbehörden eine wichtige Stellung zu. In den meisten Bereichen sind nämlich Landesverwaltungsbehörden zur Vollziehung zuständig (man spricht daher auch vom „Vollzugsföderalismus“). Die Länder wirken an der Gesetzgebung des Bundes durch den Bundesrat mit, der aber in der politischen Praxis infolge des Parteieneinflusses und des freien Mandats der Bundesräte nur beschränkt die Funktion einer „Länderkammer“ wahrnimmt bzw wahrnehmen kann. Überdies ist der Einfluss des Bundesrates auf die Bundesgesetzgebung eher gering (idR nur suspensives Veto: Der Nationalrat kann einen Beharrungsbeschluss fassen und sich damit gegenüber dem Bundesrat durchsetzen). Den Ländern kommt innerhalb der Bundesverfassung „relative Verfassungsautonomie“ zu; sie haben die Befugnis, sich innerhalb der Bundesverfassung selbst eine Verfassung zu geben (siehe hiezu unten Punkt 5). Die Landesgesetzgebung und die Landesverfassungsgesetzgebung dürfen aber die Bundesverfassung nicht „berühren“, dh der Bundesverfassung nicht widersprechen.
Durch den Beitritt zur EU wurde auch das bundesstaatliche Prinzip geändert: Da das europäische Recht „bundesstaatsblind“ ist, wird auf die bundesstaatliche Kompetenzverteilung keine Rücksicht genommen. Es ist der staatlichen Verfassungsordnung überlassen, ob Unionsrecht durch Bundes- oder Landesorgane auszuführen ist. Insofern bleibt die innerstaatliche Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Ländern unberührt. Art 23 d Abs 5 B-VG sieht jedoch vor, dass bei Säumigkeit eines Landes die Zuständigkeit zur Durchführung von EU-Recht, insbesondere zur Erlassung der erforderlichen Gesetze, auf den Bund übergeht (Devolution). Dies allerdings nur, wenn die Säumigkeit von einem Gericht im Rahmen der Europäischen Union festgestellt wurde. Die Devolution der Zuständigkeit an den Bund endet aber, sobald das Land seiner Verpflichtung nachkommt. Der Bund ist weiters gemäß Art 23 d Abs 1 B-VG verpflichtet, die Länder sowie auch die Gemeinden über alle Vorhaben der Europäischen Union, die deren selbständigen bzw eigenen Wirkungsbereich oder sonst für sie wichtige Interessen berühren, unverzüglich zu informieren und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Eine einheitliche Stellungnahme
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der Länder ist für den Bund verbindlich (sofern er nicht aus zwingenden außen- oder integrationspolitischen Gründen davon abweichen darf). d.
Grundsatz der Gewaltenteilung
Das B-VG beruht auf dem Gedanken, dass staatliche Funktionen (Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung) getrennt werden müssen, um staatliche Macht in Grenzen zu halten (diese Theorie wird mehrheitlich mit Montesquieus Werk L´esprit des lois in Verbindung gebracht, findet sich jedoch bereits bei Aristoteles). Dieser Grundsatz ist in der österreichischen Bundesverfassung nicht ausdrücklich festgelegt, ergibt sich aber aus: x
der organisatorischen Trennung von Gesetzgebungs- und Verwaltungsorganen;
x
dem (ausdrücklich normierten) Grundsatz der Trennung von Verwaltung und Justiz (Art 94 B-VG: „Die Justiz ist von der Verwaltung in allen Instanzen getrennt.“);
x
den Unvereinbarkeitsbestimmungen (zB Unvereinbarkeit einer Mitgliedschaft zur BReg mit anderen Organfunktionen, wie zB Bundespräsident, Präsident des Rechnungshofs, Mitgliedschaft zu VfGH, OGH) und
x
dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Zusammenwirken der obersten Verfassungsorgane im Rahmen ihrer jeweils begrenzten Kompetenzen einschließlich der damit bewirkten wechselseitigen Kontrolle (System der „checks and balances“ – Parlament, Regierung, Bundespräsident). Bsp: die Ernennungs- und Entlassungsmöglichkeit des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten; die Ernennung der Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten bzw die Entlassung der Bundesminister durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag des Bundeskanzlers; die Möglichkeit der Bundesversammlung (NR und BR) gegen den Bundespräsidenten vor dem VfGH Anklage zu erheben; das Misstrauensvotum des Nationalrates gegen die Bundesregierung bzw Bundesminister etc.
Die freiheitssichernde Funktion der Begrenzung der Staatsgewalt durch deren Aufteilung kommt auch in der bundesstaatlichen Gliederung und in der Errichtung von Selbstverwaltungskörpern (insbes Gemeinden, Kammern, Sozialversicherungsträger, ÖH) zum Ausdruck. Politisch wirksam ist neben der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit von den Organen der Gesetzgebung und der Verwaltung (Richter sind in der Ausübung ihres Amtes unabhängig, unabsetzbar und unversetzbar), dem Bundesstaat und den Selbstverwaltungseinrichtungen auch die Funktionstrennung von Regierung und Opposition sowie das politische Nebeneinander verschiedener politischer Parteien und Verbände des Wirtschafts- und Soziallebens (Kammern, ÖGB, Industriellenvereinigung etc). Der Beitritt zur EU brachte auch Änderungen im Bereich der Gewaltenteilung: Im europäischen Wettbewerbsrecht zB wirkt ein Vollziehungsorgan, die Europäische Kommission, sehr weitgehend an der Rechtssetzung mit und es gibt einen Rechtszug von der Kommission zum EuGH bzw zum EuG (vgl LE 6, Wettbewerbsrecht).
LE 2 e.
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Das rechtsstaatliche Prinzip
Das Recht der demokratischen Republik Österreich geht gemäß Art 1 B-VG vom Volk aus. Die Bundesverfassung konstituiert ein Gemeinwesen, in dem die staatliche Macht nur anhand strikter (verfassungs-)gesetzlicher Vorgaben ausgeübt werden darf und die Richtigkeit von Entscheidungen eines Organs überprüft werden kann. (1)
Rechtsstaat
Zu unterscheiden ist einerseits x
der Rechtsstaat im formellen Sinn: Ein Staat, in dem das Zusammenleben der Menschen durch Rechtsnormen geregelt wird, deren Durchsetzung dem Staat vorbehalten ist (Gewaltmonopol des Staates – Friedenspflicht der Rechtsunterworfenen) und in dem auch die Staatsgewalt an positive Rechtsvorschriften gebunden ist und entsprechende Einrichtungen zur Sicherung der Einhaltung von Rechtsvorschriften zur Verfügung stehen.
x
der Rechtsstaat im materiellen Sinn: Ein Staat, dessen Rechtsordnung auf verschiedenen inhaltlichen Wertvorstellungen wie Gerechtigkeit, Humanität, Freiheit, Ordnung etc basiert.
Das Gegenteil des Rechtsstaates besteht in der Willkür der Machthaber oder in anarchischen Strukturen. Der Rechtsstaat ist „berechenbar“, dh er ist Rechtsstaat: am Gedanken der Rechtssicherheit orientiert. Er muss Verfassungsstaat Gesetzesstaat Verfassungsstaat, Gesetzesstaat und Rechtsschutzstaat sein Rechtsschutzstaat – es müssen die Rechte und Pflichten des Einzelnen gesetzlich relativ präzise festgelegt und deren Durchsetzung durch entsprechende Institutionen garantiert sein. Die österreichische Bundesverfassung enthält auch Vorschriften, die Ausdruck einer materiellen Rechtsstaatvorstellung sind: Sie ergeben sich insbesondere aus den Grundrechten, die insgesamt gesehen auf dem Prinzip der Freiheit und der Würde des Menschen beruhen und die durch das Sachlichkeitsgebot, das dem Gleichheitssatz entnommen werden kann, bestimmte grundlegende Gerechtigkeitsvorstellungen verwirklichen. (2)
Legalitätsprinzip
In der österreichischen Bundesverfassung zeigt sich das (formelle) rechtsstaatliche Prinzip insbesondere in der strikten Bindung staatlichen Handelns an Gesetz und Verfassung (Legalitätsprinzip) sowie in zahlreichen verfassungsrechtlichen Einrichtungen im Dienste des individuellen Rechtsschutzes und der Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Staatshandelns (insbesondere ordentliche Gerichtsbarkeit, öffentlich-rechtliches Rechtsschutzsystem – UVS, VwGH, VfGH). Das Legalitätsprinzip (Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung) ist in Art 18 Abs 1 B-VG verankert: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden“, dh jeder Verwaltungsakt (zB Bescheid) muss im Gesetz begründet sein. Das Legalitätsprinzip gilt aber auch für die Gerichtsbarkeit, auch jeder Gerichtsakt (zB ein Urteil) muss im Gesetz begründet sein. Dies wird von der Bundesverfassung vorausgesetzt. Der
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Gesetzgeber ist demnach verpflichtet, das Verhalten der Verwaltungsbehörden in formeller (Organisation und Verfahren) sowie materieller Hinsicht (Vorherbestimmung des Inhalts von Verwaltungsakten) zu determinieren. Das Legalitätsprinzip hat daher Bedeutung sowohl für die Vollziehung (sie darf hoheitlich nur handeln, wenn es dafür eine eigene gesetzliche Ermächtigung gibt) als auch die Gesetzgebung. Diese muss das Vollziehungshandeln, insbesondere das Gesetzesbindung der gesamten Handeln der Verwaltungsbehörden entsprechend staatlichen Vollziehung (Verwaltung und Gerichtsbarkeit) determinieren, damit Vorhersehbarkeit des Verwaltungshandelns und dessen gesetzliche „Steuerung“ gewährleistet sind. Tut die Gesetzgebung das nicht handelt, sie verfassungswidrig. Durch die Gesetzesbindung wird die Verwaltung demokratisch legitimiert, das Verhalten der Vollziehungsorgane wird vorhersehbar. Mit dem Beitritt zur EU erfolgte eine partielle Verdrängung des österreichischen durch das europäische Legalitätsprinzip, das geringere Anforderungen an die Bestimmtheit genereller Normen stellt. In Erweiterung der Vorgaben von Art 18 Abs 1 B-VG darf die staatliche Verwaltung nicht nur auf Grund von Gesetzen, sondern auch auf Grund von unmittelbar anwendbarem EG-Recht erfolgen. (3)
Ermessen und unbestimmte Gesetzesbegriffe
Ein Spielraum der Vollziehungsbehörden ergibt sich jedoch aus der Möglichkeit des Gesetzgebers, ihnen Ermessen (Art 130 Abs 2 B-VG) einzuräumen, und aus der Verwendung von unbestimmten Gesetzesbegriffen. Man unterscheidet zwischen Handlungsermessen (die Behörde kann, muss aber nicht handeln) und Auswahlermessen (die Behörde hat die Wahl Handlungsermessen - Auswahlermessen zwischen mehreren Reaktionen, sie muss aber jedenfalls handeln). Immer muss die Behörde vom Ermessen „im Sinne des Gesetzes“ Gebrauch machen. Bsp: Als Indiz für die Einräumung von Ermessen wird die Verwendung des Wortes „kann“ in einem Gesetz angesehen, dies trifft aber nicht immer zu („kann“ drückt oft auch ein „müssen“ oder „dürfen“ aus). Ermessensüberschreitung (die Behörde überschreitet den vom Gesetz eingeräumten Spielraum) und Ermessensmissbrauch (die Behörde agiert zwar im Ermessensspielraum, verhält sich dabei aber nicht „im Sinne des Gesetzes“ – lässt sich von irrelevanten Erwägungen leiten) machen den betreffenden Akt rechtswidrig und bekämpfbar. Auch ein unbestimmter Gesetzesbegriff gibt den Vollziehungsorganen einen gewissen Spielraum. Ist ein Gesetzesbegriff unbestimmt („Dunkelheit“, „in angemessener Weise“), muss die Behörde den Begriff auslegen. Dabei hat sie sich insbesondere am systematischen Zusammenhang, in dem der Gesetzesbegriff steht, sowie an den Zielsetzungen des Gesetzes zu orientieren. Unbestimmte Gesetzesbegriffe kommen sehr häufig vor. Entweder ist eine exakte Umschreibung nicht möglich oder zumindest doch unpraktikabel (der Gesetzgeber könnte angeben, ab welcher Lichtstärke in Lux er „Dunkelheit“ annimmt, eine solche Regelung wäre aber in den wenigsten Fällen als
Unbestimmte Gesetzesbegriffe
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Innerstaatliches Organisationsrecht
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Handlungsanleitung praktikabel) oder weil die vielen Möglichkeiten des Einzelfalls nicht vorhersehbar sind und der Gesetzgeber bewusst auch im Interesse der „Einzelfallgerechtigkeit“ der Vollziehung ein flexibles Vorgehen „in angemessener Weise“ ermöglichen will. Das Legalitätsprinzip verlangt, dass der Gesetzgeber die Kriterien, an denen im konkreten Zusammenhang die „Angemessenheit“ zu beurteilen ist, im Gesetz nennt. Das Vollziehungsorgan muss dem Gesetz entnehmen können, worauf es bei der Einzelfallbeurteilung ankommt. (4)
Rechtsschutz
Als wesentliches Element des Rechtsstaates stellt die Rechtsordnung Verfahren zur Verfügung, in denen behauptete Fehler von Vollziehungsakten geltend gemacht und diese gegebenenfalls beseitigt bzw korrigiert werden können (man spricht vom „Fehlerkalkül“ der Rechtsordnung; siehe LE 9). Dieses dient insbesondere dem Rechtsfrieden. Es soll in einem geordneten Verfahren durch Berufungsinstanzen bzw Gerichte entschieden werden, ob ein Fehler vorliegt. Der Rechtsstaat gewährt dem Einzelnen verfahrensförmigen Rechtsschutz. Die Kehrseite ist, dass Vollziehungsakte, etwa Bescheide von Verwaltungsbehörden auch in einem solchen Verfahren bekämpft werden müssen. Wird es unterlassen, Rechtsschutz in den dafür vorgesehenen Verfahren rechtzeitig zu suchen, werden Vollziehungsakte typischerweise verbindlich (man spricht von „rechtskräftig“). Dabei ist das Rechtsschutzsystem der österreichischen Bundesverfassung vor dem Hintergrund der Trennung von Verwaltungsbehörden und Gerichtsbarkeit und der exponierten Stellung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zu sehen: Im Zivil- und Strafrecht obliegt der Rechtsschutz der ordentlichen Gerichtsbarkeit, im Verwaltungsrecht vor allem den Berufungsbehörden, wie zB den LReg, den LH oder BM, den UVS der Länder und dem UFS sowie dem Verwaltungsgerichtshof und in speziellen Fällen auch dem Verfassungsgerichthof (im Einzelnen siehe LE 4 und LE 9). Das rechtsstaatliche Prinzip der Bundesverfassung enthält also das Gebot, dass dem Einzelnen bei Eingriffen in seine Rechtsposition erstens der Zugang zu einem Rechtsschutzsystem gewährleistet sein muss, und dass zweitens dieses Rechtsschutzsystem so ausgestaltet zu sein hat, dass ein Mindestmaß an faktischer Effizienz dieses Rechtsschutzes gewährleistet ist. In diesem Punkt sind liberales Prinzip (insbesondere die Gewährleistung der Grundrechte) und rechtsstaatliches Prinzip eng miteinander verbunden: Grundrechtsschutz und dessen verfahrensförmige, letztlich gerichtliche Durchsetzbarkeit gehören im österreichischen Verfassungssystem untrennbar zusammen. f.
Liberales Prinzip
Als Ergänzung zum demokratischen Prinzip, die Freiheit des Einzelnen durch seine Beteiligung an der Rechtserzeugung zu gewährleisten, gewährt das liberale Prinzip dem Einzelnen Freiheit in Gestalt von staatsgerichteten Abwehrrechten. Dem Individuum wird etwa in Form des Eigentumsschutzes, der Freiheit der Religionsausübung und weiteren sog „liberalen Grundrechten“ ein Bereich eingeräumt, in den der Staat nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen eingreifen darf (siehe LE 4).
48
3.
Innerstaatliches Organisationsrecht
LE 2
Staatszielbestimmungen und Gesetzesaufträge
Staatszielbestimmungen und Gesetzesaufträge zählen nicht zu den Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung. Ihre Änderung oder Aufhebung bedarf daher keiner Volksabstimmung im Sinne des Art 44 Abs 3 B-VG. Anders als Grundrechte gewähren sie dem Einzelnen auch kein subjektives Recht. Sie stellen aber eine Art „Programmauftrag“ an den Gesetzgeber dar, der danach zu trachten hat, sie zu verwirklichen. a.
Gleichstellung von Menschen mit Behinderung
1997 wurde der allgemeine Gleichheitssatz gemäß Art 7 Abs 1 B-VG um folgende Sätze ergänzt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten.“ Damit wurde neben einem ausdrücklichen Verbot der Diskriminierung wegen Behinderung auch eine Staatszielbestimmung zur Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Lebensbereichen geschaffen. In Ausführung dieser Verfassungsbestimmung und unionsrechtlicher Verpflichtungen wurde 2005 auf einfachgesetzlicher Ebene das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz erlassen. b.
Gleichstellung von Frauen und Männern
1998 wurde mit Art 7 Abs 2 B-VG folgende Staatszielbestimmung in den allgemeinen Gleichheitssatz eingefügt: „Bund, Länder und Gemeinden bekennen sich zur tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau. Maßnahmen zur Förderung der faktischen Gleichstellung von Frauen und Männern insbesondere durch Beseitigung tatsächlich bestehender Ungleichheiten sind zulässig“. Neben dem „Bekenntnis“ der Gebietskörperschaften zur Herstellung der faktischen Gleichstellung bedeutet diese Regelung auch eine verfassungsrechtliche Legitimierung von Maßnahmen zur Beseitigung tatsächlich bestehender Ungleichheiten, wie zB sog Quotenregelungen für den öffentlichen Dienst. c.
Umfassender Umweltschutz
Das BVG aus dem Jahr 1984 enthält eine Deklaration Österreichs zum umfassenden Umweltschutz. Dieser wird als Bewahrung der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage des Menschen vor schädlichen Einwirkungen verstanden. Er besteht insbesondere in Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie zur Vermeidung von Störungen durch Lärm. Diese Verfassungsbestimmung hat in der Rechtsprechung des VfGH als Auslegungsmaßstab Bedeutung erlangt (der VfGH hat etwa Umweltschutzinteressen als Kriterium der Bedarfsprüfung bei der Erteilung von Konzessionen für die Binnenschifffahrt angenommen). d.
Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks
Nach Art I Abs 3 des BVG Rundfunk, BGBl 1974/396, ist Rundfunk eine öffentliche Aufgabe. Mit diesem Satz soll eine besondere Bedeutung des Mediums Rundfunk (Hörfunk und Fernsehen) für eine demokratische Gesellschaftsordnung und die Verantwortung des Gesetzgebers für eine funktionierende Rundfunkordnung angesprochen werden.
LE 2 e.
Innerstaatliches Organisationsrecht
49
Immerwährende Neutralität?
Die Republik Österreich hat sich durch das BVG vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs zum immerwährend neutralen Staat erklärt. Durch die Änderung des Art 23f B-VG (im Zuge des Amsterdamer Vertrages 1999 im Zusammenhang mit der GASP) wurde klargestellt, dass Österreich nicht nur an Maßnahmen der EU-Beitritt: Österreich hat keine verfassungsrechtliche Pflicht mehr, Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) auf der neutral zu sein! Grundlage des Maastrichter Vertrages – insbesondere was die Verhängung von Wirtschaftsembargos betrifft – teilnehmen kann, sondern vollumfänglich auch an den durch den Vertrag von Amsterdam in den EU-Vertrag neu eingeführten sog Petersberg-Aufgaben (humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen). In Entsprechung des Vertrages von Amsterdam gilt dies auch für den Fall, dass eine solche Maßnahme nicht in Durchführung eines Beschlusses des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ergriffen wird (sog Sicherheitsmandat der UNO). Selbstverständlich ist Österreich nicht daran gehindert, sich (im Rahmen der GASP) neutral zu verhalten, aber es hat in dem skizzierten Umfang keine verfassungsrechtliche Verpflichtung mehr dazu (gerade die allgemeine Verpflichtung, sich im Kriegsfall neutral zu verhalten, ist aber das entscheidende Element einer dauernden Neutralität). Es kann daher gesagt werden, dass Österreich nicht mehr „immerwährend neutral“ ist. f.
Weitere Staatszielbestimmungen und Gesetzesaufträge
Weitere Staatszielbestimmungen und Gesetzesaufträge betreffen zB das Verbot nazistischer Tätigkeit, die umfassende Landesverteidigung, den Schutz der verschiedenen Volksgruppen oder das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht.
4.
Die soziale Marktwirtschaft
Die österreichische Bundesverfassung hat sich nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden. Aus zahlreichen Verfassungsvorschriften, insbesondere aus Art 4 B-VG (Grundsatz eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets) und den Wirtschaftsgrundrechten (siehe LE 4) lässt sich aus der österreichischen Bundesverfassung ein grundsätzlich marktwirtschaftliches System ableiten. Im Rahmen dieses „Grundsatzes“ kommen dem Gesetzgeber jedoch deutliche Gestaltungsmöglichkeiten zu, insbesondere aus sozialen Gründen zugunsten der Absicherung sozial schwacher Gruppen, aber etwa auch zur Durchsetzung Durch die Wirtschaftsgrundrechte wird umweltpolitischer Zielsetzungen. ein marktwirtschaftliches Wirtschaftssystem garantiert. Eine Reihe einfachgesetzlicher Regelungssysteme (Sozialversicherungsrecht, Pensionssystem, Gleichbehandlungsgesetze etc) sowie das System der Sozialpartnerschaft (unbeschadet des Wandels, dem es unterliegt) weisen Österreich als soziale Marktwirtschaft aus.
Diese Grundentscheidung der österreichischen Rechtsordnung ist heute freilich durch das unionsrechtlich determinierte Bekenntnis zu einem marktwirtschaftlich funktionierenden Binnenmarkt auf europäischer Ebene überlagert.
50
5.
Innerstaatliches Organisationsrecht
LE 2
Landesverfassungen
Den Ländern kommt das Recht zu, sich selbst Verfassungen zu geben, die aber nicht gegen die Bundesverfassung verstoßen dürfen. Im Rahmen der sog relativen Verfassungsautonomie kann durch Landesverfassung jener Bereich, der durch die Bundesverfassung nicht vorgegeben ist, frei geregelt werden (so kann bspw jedes Land in seiner Landesverfassung selbst entscheiden, ob in den Gemeinden die Bürgermeister vom Gemeinderat oder direkt vom Gemeindevolk gewählt werden).
B.
1. 2. 3. 4.
Einfache Gesetze
Einfache Gesetze regeln in ihrer Funktion als Steuerungs- und Ausgestaltungsinstrumente verschiedenste Sachbereiche, Verfahren oder organisatorische Rahmenbedingungen. Dem Gesetzgeber steht es – innerhalb der durch die Verfassung vorgegebenen Grenzen – frei, jeden Sachbereich zu regeln („rechtspolitischer Grundprinzipien der Bundesverfassung Gestaltungsspielraum“). Auf Grund der Notwendigkeit, eine EU-Recht Vielzahl möglicher Lebenssachverhalte allgemeinverbindlichen einfaches Bundesverfassungsgesetz Rahmenbedingungen zu unterwerfen, um ein geordnetes Bundesgesetz Zusammenleben in einer Gesellschaft zu ermöglichen, sind zahlreiche Fragen des täglichen Lebens, der Wirtschaft und der Gesellschaft als solcher derartigen Regelungen unterworfen: Straßenverkehr, Universitäten, Bauvorhaben, wirtschaftliche Transaktionen, Fragen der Gewerbeausübung, der Sicherheitspolizei, des Naturschutzes wie auch der Nutzung von Friedhöfen oder Ansprüche und Verpflichtungen aus dem Sozialversicherungswesen uvm. Um ein einfaches Gesetz zu beschließen, bedarf es im gesetzgebenden Organ einer einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Konsensquorum); mindestens ein Drittel der Abgeordneten muss anwesend sein (Präsenzquorum). In der österreichischen Bundesverfassung sind nur zwei Gesetzgebungsorgane vorgesehen. Der Nationalrat (mit dem Bundesrat) und die Landtage. Andere Organe oder Behörden können keine Gesetze erlassen. Der Gemeinderat ist kein Gesetzgebungsorgan, seine Anordnungen sind absolut nichtig. Das Gesetz wird rechtlich nicht existent, es erlangt keine Geltung, niemand muss sich daran halten.
C.
Stufenbau der Rechtsordnung
Recht entsteht in einem Erzeugungsprozess, der von obersten, abstrakten Normen zu konkreten Rechtsnormen führt. Auf jeder einzelnen Stufe wird Recht gesetzt. Dabei ist der Rechtssetzende stets an die übergeordnete Norm gebunden („heteronome Determinante“); es verbleibt ihm aber der Bereich rechtlicher Gestaltungsfreiheit innerhalb des bindenden Rahmens („autonome Determinante“). Die Verwaltungsbehörden und Gerichte sind bei der Erlassung von Bescheiden und Urteilen an das Gesetz gebunden, die verordnungserlassende Behörde ist an das Gesetz gebunden, der Gesetzgeber an die Verfassung und der Verfassungsgesetzgeber an die Grundprinzipien. Eine niedrigere Rechtsstufe muss also mit der höheren Rechtsstufe in Einklang stehen.
LE 2
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Innerstaatliches Organisationsrecht
StufenbauderRechtsordnung Grundprinzipiender österreichischenBundesverfassung EuropäischesUnionsrecht primäres sekundäres
Bundesverfassung Landesverfassung Bundesgesetz
Landesgesetz Verordnung
Urteil,Bescheid,AktunmittelbarerBefehls undZwangsgewalt
IV. Gesetzgebung Gesetzgebung ist jener Vorgang, bei dem generell abstrakte Normen (Gesetze) von den Gesetzgebungsorganen (Nationalrat und Bundesrat, Landtage) geschaffen werden. Diese gesetzlichen Bestimmungen werden deshalb als „generell-abstrakt“ bezeichnet, weil sie nicht auf reale Einzelsachverhalte und konkrete Individuen abstellen, sondern in den geregelten Bereichen für die Allgemeinheit verbindliche Wirkung entfalten. Durch Gesetze werden politische Zielsetzungen verwirklicht (zB Ausbau oder Abbau des Sozialsystems, wie hoch sollen die Steuern sein, welche Handlungen sind vom Staat unter Strafe zu stellen, wie soll die universitäre Bildung aussehen, oder grundlegender: Sollen die Instrumente, die der Bevölkerung unmittelbare Mitbestimmung ermöglichen, ausgebaut werden?).
1.
Bundesgesetzgebung
In den Bereichen, in denen gemäß der Kompetenzverteilung der Art 10-15 B-VG der Bund zur Gesetzgebung berufen ist, übt der Nationalrat gemeinsam mit dem Bundesrat die Gesetzgebung aus. Als zweite Kammer soll der Bundesrat Länderinteressen im Prozess der Bundesgesetzgebung wahrnehmen (siehe auch Punkt III.).
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Innerstaatliches Organisationsrecht
LE 2
Die Initiative zu Gesetzen geht dabei meist von der Bundesregierung in Form so genannter Regierungsvorlagen aus, die von den Mitarbeitern in den Ministerien nach den politischen Vorgaben der Minister erstellt (Ministerialentwürfe) und von der Bundesregierung als Regierungsvorlage beschlossen werden. Diese Initiativen werden Bundesgesetze werden vom NR gemeinsam mit dem BR erlassen. dann im NR in mehreren Lesungen diskutiert und in den zuständigen Ausschüssen beraten. In weiterer Folge wird über den Gesetzesantrag im Plenum abgestimmt. Wird der Gesetzesvorschlag von der Mehrheit der Abgeordneten (bzw zwei Drittel der Abgeordneten bei Verfassungsgesetzen) als Gesetzesbeschluss verabschiedet, muss er dem Bundesrat zur Durchführung des Einspruchsverfahrens übermittelt werden. Nach der Beendigung der Verfahren im Nationalrat und im Bundesrat beurkundet der Bundespräsident das verfassungsmäßige Zustandekommen des Gesetzesbeschlusses, der Bundeskanzler zeichnet ihn gegen. Danach wird er vom Bundeskanzler im (nunmehr: elektronischen, www.ris.bka.gv.at) Bundesgesetzblatt verlautbart und mit diesem letzten Schritt der Kundmachung zum Gesetz. Das Gesetz tritt in der Regel mit Ablauf des Tages seiner Kundmachung in Kraft, soweit nicht im Gesetz anderes bestimmt ist. Der Nationalrat ist ein Kollegialorgan mit 183 Mitgliedern (Abgeordnete), die vom österreichischen Bundesvolk zumindest alle fünf Jahre durch allgemeine, freie, gleiche und geheime Wahlen bestimmt werden. Der Bundesrat stellt die Länderkammer dar (bundesstaatliches Prinzip). Die Mitglieder des BR werden von den jeweiligen Landtagen gewählt. In den meisten Fällen der einfachen Bundesgesetzgebung und Bundesverfassungsgesetzgebung kommt dem Bundesrat nur das Recht des „suspensiven Vetos“ zu. Erhebt er gegen einen Beschluss des Nationalrats Einspruch, kann dieser einen Beharrungsbeschluss fassen (dafür ist ein erhöhtes Anwesenheitsquorum von der Hälfte der Abgeordneten erforderlich, das Konsensquorum bleibt gleich). Der Gesetzesbeschluss wird dann trotz Einspruchs des Bundesrats gefasst und an den Bundespräsidenten zur Beurkundung weitergeleitet. Bei einzelnen Angelegenheiten muss der Bundesrat zustimmen (zB bei solchen, die seine Stellung betreffen oder bei Bundesverfassungsbestimmungen, die die Kompetenzen der Länder einschränken), bei einzelnen anderen Angelegenheiten hat er überhaupt kein Mitwirkungsrecht und muss daher nicht befasst werden (zB Bundesbudget, vgl Art 42 B-VG).
2.
Gesetzgebung der Länder
Die Gesetzgebung der Länder erfolgt durch den jeweiligen Landtag. Die Mitglieder des Landtages werden vom Landesvolk gewählt. Das Landesgesetzgeber: Landtag Gesetzgebungsverfahren ist dem im NR sehr ähnlich, wobei auch dem Bund eine Mitwirkung an der Landesgesetzgebung zukommt (siehe auch Pkt. III.).
V.
Vollziehung
Der Begriff der Vollziehung umfasst sämtliche Akte, die auf Grund der Gesetze zu deren Konkretisierung und Durchsetzung gesetzt werden. Die Vollziehung teilt sich in die zwei Bereiche Gerichtsbarkeit und Verwaltung. Die gesamte Vollziehung darf nur auf Grund der Ge-
LE 2
Innerstaatliches Organisationsrecht
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setze ausgeübt werden (Legalitätsprinzip). Lässt sich ein Vollziehungsakt nicht auf ein Gesetz zurückführen, ist der Akt rechtswidrig und vernichtbar.
A.
Wer handelt, wenn der Staat handelt?
Wenn der Staat handelt, handeln natürliche Personen in Vertretung für den Staat. Man unterscheidet dabei:
1.
Organe und Organwalter
Organe sind „Bündel von Zuständigkeiten“. Darunter sind vom Gesetz vorgesehene Einrichtungen zu verstehen, die bestimmte Staatsaufgaben wahrnehmen. Der NR ist ein Organ der Gesetzgebung, der Polizist ist ein Organ der öffentlichen Organe handeln für den Staat. Sicherheitsverwaltung, die Bezirksverwaltungsbehörde ein Organ der Landesverwaltung. Die Menschen, die hinter dem Organ stehen, sind Organwalter. Bsp: Das Organ ist der Bundespräsident; der Organwalter ist Dr. Heinz Fischer. Man kann weiters „Organ im organisatorischen Sinn“ und „Organ im funktionellen Sinn“ unterscheiden. Die Bezirksverwaltungsbehörde beispielsweise ist ein Landesorgan im organisatorischen Sinn (der Landesgesetzgeber ist zuständig, ihre Organisation zu regeln) Die BVB wird aber nicht nur im Bereich der Landesvollziehung, sondern auch im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung (und damit funktionell für den Bund tätig; insoweit ist sie funktionell ein Bundesorgan siehe unten Punkt B. 2. a).
2.
Behörden
Behörden sind Organe, die über imperium verfügen. Imperium ist die rechtliche, durch Gesetz verliehene Fähigkeit, einseitig verbindliche Rechtsakte zur Vollziehung von Gesetzen zu erlassen (Bescheide, Urteile, Verordnung). Bsp: Ein Bundesminister ist eine Behörde, das Bundesministerium ist der Verwaltungsapparat (Hilfsapparat), der ihm zur Erledigung seiner Aufgaben beigegeben ist. Die BVB, der Landeshauptmann, die Landesregierung, der Unabhängige Verwaltungssenat, die Landesgrundverkehrsbehörde, der Gemeinderat, der Bürgermeister, sind Behörden.
3.
Kollegialorgane (-behörden) – monokratische Organe (Behörden)
Diese Unterscheidung ergibt sich daraus, ob innerhalb eines Organs (einer Behörde) die Willensbildung durch einen Organwalter (zB Bundesminister, Landeshauptmann, Bezirkshauptmann, Bürgermeister) allein oder durch mehrere Personen erfolgt (zB Bundesregierung, Landesregierung, Gemeinderat). Bürgermeister und Gemeinderat sind zwar Behörden und können daher grundsätzlich Vollziehungssakte erlassen. Jedoch stützen sie sich im Ausgangsfall auf ein absolut nichtiges Gesetz. Damit fehlen diesen Vollziehungsakten sämtliche Voraussetzungen für ihre Rechtmäßigkeit.
54
Innerstaatliches Organisationsrecht
B.
Vollziehung: Gerichtsbarkeit und Verwaltung
1.
Gerichtsbarkeit
LE 2
Über Streitigkeiten zwischen Privatpersonen urteilen gemäß § 1 JN (Jurisdiktionsnorm) die ordentlichen Gerichte (man spricht vom Privatrecht). Bei Angelegenheiten, an denen der hoheitlich handelnde Staat bei der Erfüllung seiner Staatsaufgaben beteiligt ist, sind Verwaltungsbehörden zuständig (man spricht vom öffentlichen Recht). Um zu ermitteln, ob Behörden oder Gerichte zuständig sind und welche Gesetze zu vollziehen sind, ist die Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht wichtig. Die österreichische Rechtsordnung baut auf dieser Unterscheidung Gericht: Angelegenheiten des Zivilrechts auf. Allerdings nimmt der Gesetzgeber die Zuteilung zu den und Strafrechts jeweiligen Behörden und Gerichten in den meisten Fällen in den Materiengesetzen selbst vor. Er erspart uns also die Feststellung, ob Privatrecht vorliegt (und somit die ordentlichen Gerichte zuständig sind) oder ob öffentliches Recht gegeben ist (und eine Verwaltungsbehörde zuständig ist). Zur Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht wurden gleichermaßen viele Theorien entwickelt wie verworfen. Pauschal betrachtet kann man sagen, dass ein rechtlich relevanter Vorgang jedenfalls dann dem öffentlichen Recht zuzurechnen ist, wenn er durch die Teilnahme eines übergeordneten, mit Hoheitsgewalt ausgestatteten Rechtssubjekts gekennzeichnet ist, das von dieser Hoheitsgewalt Gebrauch macht. Neben der Zuständigkeit zur Entscheidung von Zivilrechtsstreitigkeiten kommt den ordentlichen Gerichten nach der österreichischen Bundesverfassung auch die Zuständigkeit zur Vollziehung des großen Teils des Strafrechts (man spricht vom gerichtlichen Strafrecht) zu. Daneben gibt es auch im Verwaltungsrecht Strafbestimmungen. Zum Justizstrafrecht gehören insbesondere der „klassische“ strafrechtliche Schutz elementarer Rechtsgüter wie Leib, Leben, Eigentum etc (Körperverletzung, Mord, Diebstahl, Betrug etc) sowie alle Delikte, deren Verwirklichung mit schweren Strafen (insb. Freiheitsstrafen) sanktioniert sind. Für das Strafrecht sind in der Bundesverfassung, insbesondere in Art 6 EMRK, besondere Garantien vorgesehen (siehe dazu LE 4 Punkt VI). Das besondere an der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist, dass sie von unabhängigen, unabsetzbaren und unversetzbaren Organen (Richtern) ausgeübt wird. Die Richter sind an keinerlei Weisungen gebunden, sie entscheiden allein aufgrund des Gesetzes. Auch ein übergeordnetes Gericht hat keinerlei Weisungsbefugnis an ein untergeordnetes Gericht. Gerichte sind Bundesbehörden; das Zivil- und Strafrecht sind Angelegenheiten des Bundes in Gesetzgebung und Vollziehung.
LE 2
Innerstaatliches Organisationsrecht
2.
Verwaltung
a.
Hoheitsverwaltung
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Die Hoheitsverwaltung ist jener Teil der Staatsgewalt, in Verwaltungsbehörde: Angelegenheiten des öffentlichen dessen Rahmen das öffentliche Recht von Rechts Verwaltungsbehörden vollzogen wird. Die Vollziehung der GewO ist klassisches Verwaltungsrecht. Die Behörde tritt dem Einzelnen in einer durch Über- und Unterordnung gekennzeichneten Konstellation in Ausübung ihrer Hoheitsgewalt gegenüber. (1)
Prinzipien der Verwaltung
i. Weisungsgebundenheit Für die staatliche Verwaltung ist charakteristisch, dass sie hierarchisch organisiert ist und die jeweils nachgeordneten Organe den jeweils übergeordneten Organen weisungsgebunden sind. Die gesamte staatliche Verwaltung steht unter der Leitung der obersten Organe, die ihrerseits für ihre Amtsführung (und damit für das gesamte Ressort) den betreffenden gesetzgebenden Körperschaften verantwortlich sind (staatsrechtliche Verantwortlichkeit).
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Innerstaatliches Organisationsrecht
LE 2
Bsp: Der Abteilungsleiter weist seinen Mitarbeiter für die EDV-Betreuung an, am Wochenende 8 Überstunden für dringend notwendige Arbeiten am Computerserver der Abteilung, die nicht während der regulären Dienstzeit möglich sind, zu leisten (individuelle Weisung). Der Innenminister erlässt die Weisung an alle Bundespolizeibehörden in Österreich, in Zukunft nur mehr zu zweit auf Streife zu gehen (generelle Weisung). Kommt es vor, dass die Beamten eines Bundesministers häufig rechtswidrige Bescheide erlassen, die der Verfassungs- bzw Verwaltungsgerichtshof regelmäßig aufhebt, hat der Nationalrat – auf Grund der Verantwortung des Ministers für die Handlungen der Bediensteten seines Ressorts – die Möglichkeit, dem zuständigen Minister das Misstrauen auszusprechen und ihn so abzuberufen. ii. Legalitätsprinzip (Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung) Das Legalitätsprinzip (Art 18 Abs 1 B-VG) fordert, dass die gesamte staatliche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden darf. Jeder Verwaltungsakt (Bescheid, Verordnung, unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsakt) muss im Gesetz begründet sein (siehe oben Punkt III. A. 2. e). (2)
einfaches Verwaltungshandeln
Andererseits werden Behörden und Organe aber auch tätig, ohne hoheitliche Akte zu erlassen. Dann spricht man von schlichter Hoheitsverwaltung. Auch dieses Verwaltungshandeln lässt sich auf die eine oder andere Weise auf Gesetze zurückführen. Unter diese schlichte Hoheitsverwaltung fallen: Vorbereitung von Entscheidungen, Erstellung von Gesetzesentwürfen, Ausstellung von Urkunden, Bürotätigkeiten, Auskunftserteilung etc. Die meisten Staatsangelegenheiten fallen unter diese schlichte Hoheitsverwaltung. Greift der Staat aber in subjektive Rechte von Personen ein, muss er sich einer Rechtsform bedienen, die eine nachfolgende Kontrolle ermöglicht (Bescheid, VO, unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsakt), um die Gesetzmäßigkeit der Vollziehung zu gewährleisten (Prinzip des Rechtsstaates). (3)
Bundesverwaltung
Auf höchster Ebene der Bundesverwaltung stehen der Bundespräsident, die Bundesregierung (Bundesminister unter Vorsitz des Bundeskanzlers; auch der Bundes- und Vizekanzler sind „Minister“) als Kollegialorgan und der Bundeskanzler, der Vizekanzler und die einzelnen Bundesminister als monokratische Organe. Diese Organe sind gleichgeordnet, es besteht kein Weisungszusammenhang zwischen ihnen. Allerdings sind sie bei Setzung von bestimmten Akten voneinander abhängig (Art 29, 67, 68, 70, 74, 76 B-VG). Jeder Bundesminister ist für seinen Vollziehungsbereich oberstes Verwaltungsorgan und für diesen verantwortlich. Im Bundesministeriengesetz (BMG) sind die einzelnen Sachgebiete den Ministern zugeordnet. Dabei gibt die Bundesverfassung Rahmenbedingungen dafür vor, ob und welche Angelegenheiten unmittelbar von Behörden des Bundes oder mittelbar von Landesbehörden zu vollziehen sind.
LE 2
Innerstaatliches Organisationsrecht
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i. unmittelbare Bundesverwaltung Bundeseigene Behörden erledigen in den Unterinstanzen die Verwaltungsagenden. Dies stellt in der österreichischen Verwaltung eher die Ausnahme dar (zB Bundespolizei, Finanzämter, Studienbeihilfenbehörden) (siehe LE 9 Punkt III. B. 2). ii. mittelbare Bundesverwaltung Zahlreiche Angelegenheiten der Bundesverwaltung werden von Landesbehörden vollzogen. So sieht es die Bundesverfassung in Art 102 B-VG vor. Diese Landesbehörden werden dann funktionell für den Bund, also funktionell als Bundesbehörden, obwohl sie organisatorisch Landesbehörden sind, tätig. In den Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung besteht ein Weisungszusammenhang zwischen den Bundesbehörden und den Landesbehörden (der zuständige Bundesminister kann dem Landeshauptmann [als Träger der mittelbaren Bundesverwaltung in den Ländern] Weisungen erteilen). Dies hat mehrere Vorteile. Zum einen vermeidet man in weiten Teilen eine doppelte Verwaltungsorganisation. Zum anderen werden die Länder, die über wenige eigene Gesetzgebungs- und Vollziehungskompetenzen verfügen, stärker an der Staatsgewalt beteiligt (bundesstaatliches Prinzip). Dem Landeshauptmann als Träger der mittelbaren Bundesverwaltung sind die Bezirksverwaltungsbehörden (BVB) der Länder unterstellt und somit ihrerseits seinen Weisungen unterworfen. In zahlreichen Angelegenheiten der mittelbaren Bundesverwaltung sind zur Entscheidung in zweiter Instanz jedoch nicht die Landeshauptleute, sondern Unterscheide mittelbare und unmittelbare Bundesverwaltung die Unabhängigen Verwaltungssenate der Länder (UVS) berufen. Hier besteht – wegen der Unabhängigkeit der UVS – kein Weisungszusammenhang zu Bundes- oder Landesorganen mehr (siehe LE 9, Punkt III. B.1). Bsp: Betriebsanlagenbewilligung: 1. Instanz: BVB, 2. Instanz: UVS. Der Landeshauptmann ist nicht mehr Berufungsbehörde, sondern kann der BVB – nicht aber dem UVS – nur noch Weisungen erteilen. (4)
Landesverwaltung
Die Landesverwaltung wird von Landesbehörden besorgt. Jedes Bundesland ist in politische Bezirke gegliedert, die von Bezirksverwaltungsbehörden verwaltet werden. An der Spitze der BVB steht der Bezirkshauptmann. An zweiter und letzter Stelle im Instanzenzug der Landesverwaltung steht die Landesregierung als Kollegialorgan (bzw die einzelnen Mitglieder der Landesregierung, soweit dies in der Geschäftsordnung der Landesregierung vorgesehen wird) (siehe LE 9, Punkt III. B. 3). (5)
Gemeinden
Gemeinden spielen innerhalb der österreichischen Die örtliche Gemeinschaft soll das erledigen, was sie erledigen kann. Verwaltung eine besondere Rolle. Ihnen kommt ein eigener und ein übertragener Wirkungsbereich zu. Ihr eigener Wirkungsbereich umfasst alle Angelegenheiten, die im ausschließlichen oder überwiegenden Interesse der örtlichen Gemeinschaft gelegen und geeignet sind, durch die Gemeinschaft innerhalb ihrer örtlichen Grenzen besorgt zu werden (Art 118 Abs 2 B-VG). Was somit in den eigenen Wirkungsbereich fällt (örtliche Sicherheitspolizei, örtliche Straßenpolizei etc, vgl insb
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Innerstaatliches Organisationsrecht
LE 2
Art 118 Abs 3 B-VG), soll von der Gemeinde auch besorgt werden (nur unter besonderen Voraussetzungen können Organen anderer Gebietskörperschaften einzelne Befugnisse der Gemeinde übertragen werden). Auch der ordentliche Instanzenzug endet im Rahmen des eigenen Wirkungsbereichs innerhalb der Gemeinde (zB ist in Bauangelegenheiten typischerweise – im Einzelnen ist das in den jeweiligen Gemeindeordnungen geregelt – der Bürgermeister erste, der Gemeinderat zweite Instanz). In den Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereichs der Gemeinden besteht kein Weisungsrecht von Bundes- oder Landesbehörden an Gemeindeorgane. Allerdings steht die Gemeinde (wie Selbstverwaltungskörper im Allgemeinen) unter staatlicher Aufsicht, um eine Verantwortlichkeit der höchsten Organe gegenüber den (gewählten) gesetzgebenden Organen begründen zu können. Diese Kontrolle (in Form der so genannten „Vorstellung“ an die Gemeindeaufsichtsbehörde) ermöglicht aber nur eine Aufhebung von fehlerhaften Entscheidungen; die Aufsichtsbehörde kann nicht in der Sache selbst entscheiden. Neben dem eigenen haben die Gemeinden auch einen übertragenen Wirkungsbereich. In diesen Angelegenheiten werden sie je nachdem, um welchen Kompetenztatbestand es sich handelt (Landes- oder Bundesvollziehung), funktionell für das Land oder den Bund tätig. Das zuständige Organ ist hier der Bürgermeister, es besteht ein Eigener Wirkungsbereich und übertragener Wirkungsbereich Weisungszusammenhang über die Gemeinde hinaus zu den übergeordneten Landes- bzw Bundesorganen. ZB obliegt den Gemeinden die Führung der Landes-Wählerevidenz (in Vollziehung von Landessachen) oder das Meldewesen (in Vollziehung von Bundessachen) im übertragenen Wirkungsbereich. Gemeinden haben nur Verwaltungs-, jedoch keine Gesetzgebungsbefugnis. Das vom Gemeinderat in der Gemeindezeitung veröffentlichte „Gesetz“ ist auch keine Verordnung aufgrund der Gewerbeordnung, weil die Gewerbeordnung eine solche Kompetenz der Gemeinde nicht vorsieht. In besonderen Fällen kann der Gemeinderat zwar Verordnungen erlassen (zB ortspolizeiliche Verordnungen zur Lärmbekämpfung), aber nur zur Abwehr von Gefahren und nur solche, die nicht gegen Bundes- oder Landesrecht verstoßen. Dies trifft hier ebenfalls nicht zu. (6)
Andere Selbstverwaltungskörper
Neben den Gemeinden bestehen noch andere – ebenfalls verfassungsrechtlich verankerte – Selbstverwaltungskörper: Für sie gilt Ähnliches wie für die Gemeinden (eigener und übertragener Wirkungsbereich, staatliche Aufsicht etc). Die wichtigsten sind: Kammern, Sozialversicherungsträger, Österreichische Hochschülerschaft, Jägerschaften. b.
Privatwirtschaftsverwaltung
Der Staat (Bund, Länder und Gemeinden) kann aber auch im Rahmen des Privatrechts handeln und zB Verträge abschließen. Art 17 B-VG verleiht Bund und Ländern, Art 116 Abs 2 B-VG den Gemeinden „Privatrechtsfähigkeit“. In diesen Fällen handelt der Staat rechtlich gesehen wie jede „Privatperson“. Seine Verträge unterliegen wie Verträge zwischen Privatpersonen der Kontrolle der ordentlichen Gerichtsbarkeit.
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Innerstaatliches Organisationsrecht
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Allerdings ist diese „Privatrechtsfähigkeit“ des Staates inhaltlich – insbesondere durch die so genannte Fiskalgeltung der Grundrechte (siehe LE 4) – begrenzt. Anders als Privaten kommt dem Staat eben keine umfassende Privatautonomie, sondern nur eine verfassungsrechtlich begrenzte Privatrechtsfähigkeit zu. Bsp: Die Gemeinde ist Eigentümerin eines Seegrundstückes und betreibt dort ein Strandbad; der Bund gründet eine Aktiengesellschaft für die Erhaltung, Errichtung und den Betrieb des hochrangigen Straßennetzes; die Landesregierung vergibt einen Bauauftrag für ein neues Amtsgebäude.
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Innerstaatliches Organisationsrecht
C.
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Die Akte der Vollziehung
Die Akte der Vollziehung sind in der Gerichtsbarkeit insbesondere das Urteil und der Beschluss, in der Verwaltung die Verordnung, der Bescheid und der Der Bescheid ist eine konkrete individuAkt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und elle Norm. Zwangsgewalt. Greift ein Akt der Vollziehung in ein subjektives Recht einer Person ein, dann muss sich das staatliche Vollziehungsorgan eines dieser Akte bedienen. Dies ergibt sich aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Diese Akte unterliegen der nachprüfenden Kontrolle übergeordneter Instanzen (zB Unabhängiger Verwaltungssenat) und der Höchstgerichte (Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof, Oberster Gerichtshof).
1.
Die Akte der Gerichtsbarkeit: das Urteil, der Beschluss x
Das Urteil ist ein individuell konkreter Rechtsakt. Er bezieht sich auf bestimmte Rechtssubjekte (individuell) und verpflichtet diese zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen (konkret).
x
Beschlüsse sind ebenfalls individuell-konkrete Entscheidungen der Gerichte. Oft sind dies Entscheidungen über prozessuale Fragen, wie zB die Zurückweisung einer Klage, weil die Angelegenheit bereits streitanhängig ist, oder die Einstellung des Verfahrens.
2.
Die Akte der Verwaltung: der Bescheid, die Verordnung, Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, die Weisung, einfaches Verwaltungshandeln, privatwirtschaftliches Verwaltungshandeln x
Der Bescheid ist die Entscheidung in einer konkreten Verwaltungsrechtssache. Der Bescheid ist ein individueller und konkreter Akt (siehe näher LE 9, Punkt II. C.3).
x
Die Verordnung ist eine von einer Verwaltungsbehörde erlassene generelle abstrakte Norm und dient zur Konkretisierung gesetzlicher Bestimmungen (vgl etwa Verordnungen auf Grund der GewO: VO über vereinfachte Betriebsanlagengenehmigungen oder Befähigungsnachweisverordnungen). Materiell (inhaltlich) gesehen ist eine VO ein Gesetz, weil sie generell-abstrakt Verhaltensweisen regelt, formell (von ihrem Zustandekommen her) betrachtet ist die VO ein Verwaltungsakt, weil sie von einer Verwaltungsbehörde erlassen wird (und nicht von gesetzgebenden Organen: NR, Landtag). Sie steht somit zwischen Gesetz und Bescheid.
x
Akte unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt sind Handlungen einer Behörde aufgrund des Gesetzes, die ohne vorhergehendes Verfahren gesetzt werden. Bsp: Sie werden von einem Polizisten (Organ der öffentlichen Sicherheitsverwaltung) verhaftet, weil Sie bei einer Verwaltungsübertretung auf frischer Tat betreten wurden. (Sie sind alkoholisiert zu schnell mit dem Auto gefahren und Ihre Identität war, weil Sie
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keinen Führerschein und auch keinen sonstigen Ausweis dabei hatten, nicht feststellbar.) x
Weisungen sind „Befehle“ eines übergeordneten Organs an ein untergeordnetes (zB Landeshauptmann an Bezirksverwaltungsbehörde). Weisungen sind auch innerhalb ein- und derselben Behörde möglich (zB Bundesminister an Sektionschef). Sie richten sich immer nur an staatliche Organe und nie an Dritte (Privatpersonen). Sie können generell abstrakt (Erlässe), aber auch individuell konkret (dh an ein bestimmtes Organ gerichtet) sein (siehe oben Punkt B. 2. a).
x
Einfaches Verwaltungshandeln: Dieser Begriff umfasst jenes Verwaltungshandeln, das – wenn auch im Für jeden Vollzugsakt, der Rechte von Zusammenhang mit der Vollziehung von Gesetzen – Personen berührt, bestehen Rechtsschutzmöglichkeiten. formlos geschieht. Bsp: Auskunftserteilung etc.
x
D.
Privatwirtschaftliches Verwaltungshandeln: Handelt die Verwaltung rechtstechnisch mit denselben Mitteln, wie sie auch jeder Privatperson zur Verfügung stehen, (schließt sie zB Verträge ab, errichtet Gesellschaftsverträge oder übt zivilrechtliche Eigentümerbefugnisse aus), spricht man davon, dass die Verwaltung hier „privatwirtschaftlich“ handelt.
Rechtsschutz bei der Vollziehung
Gemäß dem rechtsstaatlichen Prinzip muss es möglich sein, fehlerhafte Entscheidungen einer Behörde oder eines Gerichtes von einer übergeordneten Behörde auf ihre Gesetzmäßigkeit überprüfen zu lassen (siehe LE 9, Punkt III). Die Rechtsmittel gegen zivilrechtliche Entscheidungen der Gerichte werden Berufung, Rekurs, Revision und Revisionsrekurs genannt. In gerichtlichen Strafverfahren spricht man von Berufung und Nichtigkeitsbeschwerde. Die höchste Instanz in Zivilrechtssachen und gerichtlichen Strafsachen ist der Oberste Gerichtshof (OGH) zum Teil aber auch in bestimmten Fällen die Oberlandesgerichte oder die Landesgerichte. In Verwaltungsangelegenheiten sind die übergeordneten Behörden (zB Landesregierung in der Landesverwaltung, Landeshauptmann in der mittelbaren Bundesverwaltung oder zum Teil auch die Bundesminister) und die UVS als Rechtsmittelbehörden vorgesehen. In Verwaltungsstrafangelegenheiten ist immer der Unabhängige Verwaltungssenat (UVS) Rechtsmittelbehörde (siehe zu den UVS näher LE 9 Punkt IV). Wenn Sie nun konkret von einem Vollziehungsakt dieses „Gesetzes“ betroffen sind, sind Sie nicht verpflichtet, diesem Akt Folge zu leisten. Würde gegen Sie ein Akt unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt gesetzt werden (zB zwangsweise Schließung Ihres Geschäftslokals), wäre dieser Akt ein rechtswidriger Eingriff in Ihr Eigentum.
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Innerstaatliches Organisationsrecht
LE 2
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Innerstaatliches Organisationsrecht
VI. Weiterführende Literatur Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht2 (2008) Grabenwarther/Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht (2009) Öhlinger, Verfassungsrecht8 (2009) Raschauer, Allgemeines Verwaltungsrecht3 (2009)
VII. Wiederholungsfragen
Wie ist die Staatsgewalt gegliedert? Welche Gebietskörperschaften gibt es? Welche Arten von Gesetzen gibt es und wie werden sie erlassen? Nennen Sie die Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung! Was ist das gewaltenteilende Prinzip und was besagt das rechtsstaatliche Prinzip? Welche Organe der Gesetzgebung gibt es? Beschreiben Sie den Stufenbau der Rechtsordnung! Wodurch unterscheidet sich die Hoheitsverwaltung von der Privatwirtschaftsverwaltung? Was sind Organe, Organwalter und Behörden? Welche Angelegenheiten gehören vor ein ordentliches Gericht, welche vor eine Verwaltungsbehörde? Was unterscheidet die Verwaltung von der Gerichtsbarkeit? Wer sind die höchsten Organe der Bundesverwaltung? Was versteht man unter mittelbarer und unmittelbarer Bundesverwaltung? Wer ist höchstes Organ der Landesverwaltung? Welche Aufgaben haben die Gemeinden nach der österreichischen Bundesverfassung? Was sind die Akte der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung? Aus welchem Prinzip der österreichischen Bundesverfassung ergibt sich der Rechtsschutz?
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Organisationsrecht der EU
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Lektion 3 ORGANISATIONSRECHT DER EU
Der Konkurs und die Richtlinie Nehmen Sie an, Sie arbeiten schon seit längerem in einer Firma, die Halbleiter-Chips vor allem für Handys herstellt. Da auf Grund des bereits gesättigten Handy-Marktes die Nachfrage nach Handys immer stärker sinkt, müssen die Handyhersteller ihre Produktion zurückschrauben. Das bekommt auch Ihre Firma zu spüren, da die Aufträge der Handyhersteller zur Lieferung von Halbleiter-Chips drastisch zurückgehen. Ihre Firma versucht daher, sich durch Teilzeitregelungen, Personalabbau etc über Wasser zu halten. Doch leider vergebens. Ihr Arbeitgeber muss wegen Zahlungsunfähigkeit schließlich den Konkurs anmelden. In der letzten Zeit vor dem Konkurs haben Sie von Ihrem Arbeitgeber nur noch gelegentlich Lohnzahlungen erhalten. Ihrer Klage auf Zahlung des noch ausständigen Restlohnes im Ausmaß von zwei Monatsgehältern wird zwar stattgegeben, auf Grund der Zahlungsunfähigkeit Ihres Arbeitgebers nützt Ihnen das jedoch leider auch nichts mehr. Etwas verärgert über den Lohnausfall erfahren Sie allerdings eines Tages von Ihrer Nachbarin, die an der WU „Wirtschaftsrecht“ studiert, dass es eine EU-Richtlinie gibt, die die Mitgliedstaaten verpflichtet, Garantieeinrichtungen (zB Fonds) zu schaffen, welche im Fall eines Konkurses von Unternehmen sicherstellen sollen, dass die noch ausstehenden Lohnforderungen der Arbeitnehmer befriedigt werden. Sie erkundigen sich daher sofort beim AMS (Arbeitsmarktservice) nach einem solchen „Konkurs-Fonds“. Der zuständige Sachbearbeiter meint jedoch, dass es so etwas nicht gibt. Sie wundern sich über diese Auskunft, hatte doch Ihre Nachbarin erklärt, dass es eine entsprechende EU-Richtlinie gibt und dass EU-Richtlinien von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssen. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Was ist die EU und wie ist sie aufgebaut? Welche EU-Rechtsvorschriften gibt es? Was ist das Besondere am Unionsrecht und wie verhält es sich zum nationalen Recht?
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Organisationsrecht der EU
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Inhalt: I. A. B. 1. 2. 3. II. A. B. C. III. IV. A. B. C. D. E. F. G. H. 1. 2. 3. 4. I. V. VI. A. B. 1. 2. 3. C. VII. A. B. C. VIII. IX. X.
Was ist die EU? ....................................................................................................... 67 Die Ursprünge der Europäischen Union - die drei Gemeinschaften (EGKS, EAG, EWG)......................................................................................................................... 67 Die Weiterentwicklung der Europäischen Union ....................................................... 67 Vertrag über die Europäische Union 1992, Vertrag von Amsterdam 1997, Vertrag von Nizza 2000, Vertrag über eine Verfassung für Europa.............................................. 67 Vertrag von Lissabon 2007 ....................................................................................... 69 Die räumliche Ausdehnung der EU ........................................................................... 70 Wie ist die EU aufgebaut? ...................................................................................... 71 Die EU ....................................................................................................................... 72 Die GASP .................................................................................................................. 72 Die EAG .................................................................................................................... 73 Was ist Supranationalität? ..................................................................................... 73 Welche Institutionen gibt es in der EU?................................................................ 74 Der Europäische Rat ................................................................................................. 74 Der Rat ...................................................................................................................... 74 Das Europäische Parlament...................................................................................... 75 Die Europäische Kommission ................................................................................... 76 Der Gerichtshof der Europäischen Union.................................................................. 77 Die Europäische Zentralbank .................................................................................... 78 Der Europäische Rechnungshof................................................................................ 78 Sonstige Organe ....................................................................................................... 78 Die Europäische Investitionsbank ............................................................................. 78 Der Wirtschafts- und Sozialausschuss ...................................................................... 78 Der Ausschuss der Regionen.................................................................................... 78 Der Bürgerbeauftragte............................................................................................... 79 Die Rolle der nationalen Parlamente......................................................................... 79 Wann darf die EU tätig werden? ............................................................................ 79 Welche EU-Rechtsvorschriften gibt es und wer vollzieht sie? ........................... 80 Primäres Unionsrecht ................................................................................................ 80 Abgeleitetes Unionsrecht .......................................................................................... 81 Welche abgeleiteten Unionsrechtsakte gibt es?........................................................ 81 Sekundärrechtsakte mit und ohne Gesetzgebungscharakter; tertiäres Unionsrecht 83 Inkrafttreten von Rechtsakten.................................................................................... 85 Die Vollziehung von Unionsrecht............................................................................... 86 Wodurch zeichnet sich das Unionsrecht aus?..................................................... 86 Unionsrecht gilt autonom und unmittelbar ................................................................. 87 Das Unionsrecht ist in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar.......................... 88 Das Unionsrecht hat Vorrang .................................................................................... 90 Weiterführende Literatur......................................................................................... 92 Links ......................................................................................................................... 92 Wiederholungsfragen.............................................................................................. 93
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Organisationsrecht der EU
I.
Was ist die EU?
A.
Die Ursprünge der Europäischen Union - die drei Gemeinschaften (EGKS, EAG, EWG)
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Die Gründung der Europäischen Union (EU) im Jahr 1993 markiert den bedeutendsten Schritt des sich seit mittlerweile über 50 Jahren vollziehenden Prozesses der europäischen Integration. Heute nimmt die EU in vielen Bereichen vormals staatliche Aufgaben wahr und beeinflusst das in den Mitgliedstaaten geltende Recht weitreichend. Der erste Schritt zur EU wurde im Jahre 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, auch Montanunion geRobert Schuman nannt) gesetzt. Die Schaffung dieser Organisation durch ei(1886-1963) nen entsprechenden völkerrechtlichen Vertrag hängt mit den deutsch-französischen Beziehungen zusammen, die hauptsächlich durch politische Feindschaft und zuletzt durch den 2. Weltkrieg belastet waren. Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich strebten nach einer beiderseits vorteilhaften "Wir müssen mit dem Begriff des Regelung ihrer wirtschaftlichen Beziehungen und einer politi'Erzfeindes' Schluss machen und schen Aussöhnung. Den Grund- Jean Monnet unseren Völkern eine Gemeinschaft stein legte der damalige franzö- (1888-1979) vorschlagen, die eines Tages den Grundstein für ein europäisches Vasische Außenminister Robert terland bildet." Schuman mit seiner Erklärung vom 09.05.1950, in der er den von ihm und Jean Monnet entwickelten Plan vorstellte, die europäische Kohle- und Stahlindustrie in einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zu ver- „Menschen sind für Veränderungen erforderlich, einigen. Zur Teilnahme an diesem Vorhaben fanden sich jedoch Institutionen für deren Umsetzunächst nur Deutschland, Frankreich, die Benelux-Staaten und zung.“ Italien bereit. Die EGKS nahm ihre Arbeit 1952 auf. Der ihr zugrunde liegende Vertrag war auf 50 Jahre befristet und lief 2002 aus. Damit unterliegen nun auch Kohle und Stahl den allgemeinen Warenverkehrsregelungen. 1957 wurden die Europäische Atomgemeinschaft (EAG, auch EURATOM genannt) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) durch entsprechende völkerrechtliche Verträge gegründet.
B.
Die Weiterentwicklung der Europäischen Union
1.
Vertrag über die Europäische Union 1992, Vertrag von Amsterdam 1997, Vertrag von Nizza 2000, Vertrag über eine Verfassung für Europa
Die EU wurde durch einen völkerrechtlichen Vertrag, den Vertrag von Maastricht (VvM), gegründet, den die damaligen zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften 1990 abgeschlossen haben. Der Vertrag über die Europäische Union (EUV), der 1993 in Kraft getreten ist, bezeichnet sich selbst als „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“. Er sieht einen europäischen Raum ohne Binnengrenzen,
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eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres vor. Die EU ersetzte zum damaligen Zeitpunkt nicht die Europäischen Gemeinschaften, sondern stellt diese mit den neuen Politiken und Formen der Zusammenarbeit unter ein gemeinsames Dach. Dies führte bildlich gesprochen zu den drei Säulen der EU: Die Europäischen Gemeinschaften, die Gemeinsame Außenund Die EU wurde durch den Vertrag von Sicherheitspolitik sowie die „Zusammenarbeit in Sachen Justiz Maastricht geschaffen. und Inneres“ (seit dem Vertrag von Amsterdam [VvA] heißt die dritte Säule „Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“). Der VvM hat ferner die EWG in „Europäische Gemeinschaft“ (EG) umbenannt: Aus dem EWGV wurde der EGV. Eine zugleich vorgenommene wichtige Änderung waren die Regelungen über die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Eine Weiterentwicklung hat die EU mit dem VvA erfahren, der am 01.05.1999 in Kraft getreten ist. Eine Neuerung stellt zum Beispiel die in den EUV eingefügte Regelung über die verstärkte Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten dar. Die Methode der verstärkten Zusammenarbeit – auch flexible Integration genannt – soll es einzelnen Mitgliedstaaten ermöglichen, in bestimmten Bereichen im Rahmen der EU näher zusammenzuarbeiten, während die anderen Mitgliedstaaten auf dem jeweiligen Status Quo verbleiben. Damit wird der Weg für ein „Europa der mehreren Geschwindigkeiten“ eröffnet. Im Dezember 2000 fand eine weitere Regierungskonferenz ihren Abschluss, deren Ergebnis, der Vertrag von Nizza (VvN), am 01.02.2003 in Kraft getreten ist. Dieser Vertrag sollte die EU vor allem für die Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Staaten fit machen. In der dem VvN beigefügten Erklärung Nr 23 zur „Zukunft der Union“ machte der Europäische Rat aber bereits deutlich, dass eine weitere und tiefer gehende Debatte über die Zukunft der EU stattfinden solle. Der VvA und der VvN entwickelten den EUV und den EGV fort. Mit der Erklärung von Laeken über „Die Zukunft der Europäischen Union“ beschloss der Europäische Rat ein Jahr darauf (am 15.12.2001) einen „Konvent zur Zukunft Europas“ einzuberufen. Der Konvent nahm seine Arbeit am 28.02.2002 auf und Vertrag über eine Verfassung für Europa legte bei der Tagung des Europäischen Rates am 19./20.06.2003 in Thessaloniki den Entwurf eines Verfassungsvertrages („Vertrag über eine Verfassung für Europa“; VVE) vor. Dieser Entwurf wurde – mit einigen Modifikationen – im Herbst 2004 von den Vertretern der Mitgliedstaaten unterzeichnet. Zum Inkrafttreten der Verfassung kam es allerdings nicht, denn dafür war, wie bei jeder Primärrechtsänderung, die Ratifikation des Vertragstextes (nach Parlamentsbeschluss und/oder Referendum) durch alle Mitgliedstaaten erforderlich. Kritiker dieses Verfassungsvertrages brachten unter anderem vor, nur Staaten hätten Verfassungen, sodass die Verwendung dieses Terminus in Bezug auf die EU verfehlt sei; gravierender war der damit verbundene Vorwurf, durch diesen Vertrag und seine Bezeichnung würde die Gründung eines europäischen Bundesstaates gefördert werden, was die meisten Mitgliedstaaten und deren Bevölkerungen ablehn(t)en. Im Mai bzw Juni 2005 lehnten die Franzosen und die Niederländer den Verfassungsvertrag in zwei Volksabstimmungen mehrheitlich ab.
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2.
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Vertrag von Lissabon 2007
Nach diesen zwei negativen Referenden berief der Europäische Rat für den 21./22.06.2007 eine Regierungskonferenz mit dem Ziel ein, noch im zweiten Halbjahr 2007 einen „Reformvertrag“ auszuarbeiten und zu unterzeichnen, der gegenüber dem Verfassungsvertrag wesentliche Abstriche enthalten sollte. Das galt insbesondere für Reformvertrag = Vertrag von Lissabon Vereinfachungen und Klärungen im Primärrecht, aber auch für organisatorische Fragen und für den Grundrechtsschutz. Der Terminus „Verfassung“ bzw „Verfassungsvertrag“ sollte vermieden werden und der Vertrag dürfe „keinen Verfassungscharakter“ haben. Nach der hier vertretenen Auffassung ändert dieser „terminologische Trick“ an Folgendem nichts: Bereits vor 2005 besaß die EU insofern eine Verfassung, als die Gründungsverträge in den vergangenen fünf Jahrzehnten ganz ähnliche Funktionen übernommen haben wie nationale Verfassungen: Sie hatten sich zur rechtlichen Grundlage und Grenze für die Erlassung von unmittelbar für die Bürger verbindlicher Rechtsakte, für die Definition von Rechtssetzungsverfahren, und für die Kompetenzabgrenzung sowohl zwischen den Organen als auch zu den Mitgliedstaaten (Verfassung im materiellen Sinn) entwickelt. Auch genießen sie, ganz wie nationale Verfassungen, erhöhten Bestandsschutz durch erschwerte Änderungsverfahren (Verfassung im formellen Sinn). Der Vertrag von Lissabon (VvL, auch „Reformvertrag“ genannt) wurde am 13.12.2007 unterzeichnet. Es sollte jedoch beinahe zwei Jahre dauern, bis er in Kraft treten konnte. Der erste Rückschlag kam im Juni 2008 durch ein negatives Referendum in Irland. Dieser Volksentscheid stärkte die Position der Kritiker, die unter anderem zu Recht beanstandeten, dass an den wesentlichen materiellen Inhalten des früheren VVE nichts verändert worden war. Ihnen ging die Übertragung von Aufgaben auf die EU teilweise bereits vor dem VvL zu weit. Durch den VvL werden neue Übertragungen in weiteren wichtigen Bereichen (etwa Justiz und Inneres) vorgenommen. Nach der negativen irischen Volksabstimmung kam der Ratifikationsprozess auch in anderen Ländern immer wieder ins Stocken: Der polnische und der tschechische Präsident weigerten sich bis zuletzt den Vertrag zu unterzeichnen und in Deutschland, sowie der tschechischen Republik wurden die Verfassungsgerichte angerufen, um zu überprüfen, ob Aspekte des VvL im Einklang mit den nationalen Verfassungen seien. Das zweite Referendum in Irland am 02.10.2009, bei dem sich eine klare Mehrheit für den VvL aussprach, brachte den entscheidenden Durchbruch und die letzten fehlenden Unterschriften folgten in wenigen Wochen. Am 01.12.2009 trat der VvL in Kraft. Dadurch entsteht eine neue Europäische Union, neben der die EAG fortbesteht. Bei diesen beiden Gebilden handelt es sich um ineinander verzahnte Internationale Organisationen mit teilweiser Organidentität. Die EU wird Rechtsnachfolgerin der EG und erhält damit eine einheitliche Struktur und ihre – bis dahin umstrittene – Rechtspersönlichkeit. Der VvL regelt unter anderem die Ausweitung des Prinzips der qualifizierten Mehrheit im Rat der Europäischen Union und eine Aufwertung des Europäischen Parlaments. Dadurch und durch die Einführung eines Europäischen Bürgerbegehrens, sowie durch eine stärkere Einbindung der nationalen Parlamente in den europäischen Gesetzgebungsprozess soll das „demokratische
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Defizit“ der EU verringert werden. Außerdem bringt der VvL die Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) und eine im Vertrag festgeschriebene Möglichkeit aus der EU auszutreten. Aber auch der VvL macht die EU nicht zu einem Staat im Sinne des Völkerrechts, da es insbesondere am Staatsgründungswillen der Mitgliedstaaten mangelt. Verschiedentlich wird auch betont, dass die Kompetenzfülle der EU für die Qualifikation als Staat noch nicht ausreiche, oder dass ihr dazu insbesondere noch die Befugnis fehle, über die Grenzen der eigenen Kompetenzen zu entscheiden. Diese so genannte Kompetenz-Kompetenz liegt nach wie vor bei den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“, die im Wege der Änderung der Gründungsverträge auch die Befugnisse der EU begrenzen und gestalten.
3.
Die räumliche Ausdehnung der EU
Der Mitgliederstand ist seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften stark angewachsen. Die Gründungsmitglieder sind – wie bereits festgehalten – Frankreich, Deutschland, Belgien, Niederlande, Luxemburg und Italien. Im Jahre 1973 sind Dänemark, Großbritannien und Irland beigetreten. Griechenland wurde 1981 Mitglied, Portugal und Spanien folgten 1986. Finnland, Österreich und Schweden wurden am 01.01.1995 in die Union aufgenommen. Die ehemals kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, Slowakei, Slowenien und Ungarn traten gemeinsam mit Malta und Zypern am 01.05.2004 der EU bei. Bulgarien und Rumänien folgten am 01.01.2007. Am 03.10.2005 wurden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und Kroatien eröffnet. Gemeinsam mit Kroatien wurden auch alle anderen Staaten des Die „EU-Familie“ soll größer werden. Westbalkans, inklusive des Gebiets der Republik Kosovo, das derzeit unter UN-Protektorat steht, eine mögliche EU-Mitgliedschaft vom Europäischen Rat in Aussicht gestellt. Im Dezember 2005 erhielt die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien (FYROM) den Status eines Beitrittskandidaten, Beitrittsverhandlungen finden derzeit aber noch keine statt. Albanien, Serbien und Montenegro haben die Mitgliedschaft ebenfalls bereits beantragt. Am 16.07.2009 hat auch Island, das bisher Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) war, einen Beitrittsantrag abgegeben. Island erhofft sich, dass dadurch die Rezession, die durch die weltweite Finanzkrise 2008 ausgelöst wurde, eingedämmt und das Land ökonomisch stabilisiert wird. Durch die Mitgliedschaft im EWR enthält die isländische Rechtsordnung in vielen Bereichen bereits Rechtsakte der EU, was einen Beitritt wie auch entsprechende Verhandlungen erleichtert. Noch wurden diese aber nicht aufgenommen.
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Die wichtigsten Gründungsverträge der EU Die Integration der EU beruht auf völkerrechtlichen Verträgen: 1) EGKSV (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl): 2002 ausgelaufen 2) EGV (Europäische Gemeinschaft): in AEUV aufgegangen 3) EAGV (Europäische Atomgemeinschaft) 4) EUV (Europäische Union)
Änderungen und Weiterentwicklungen: Vertrag von Amsterdam (1997/99) Vertrag von Nizza (2001/03) [Vertrag über eine europäische Verfassung (2004) nicht ratifiziert] Vertrag von Lissabon (2007/09)
Status Quo nach dem Vertrag von Lissabon: 1) AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) 2) EUV neu (Vertrag über die Europäische Union) 3) EAGV
II.
Wie ist die EU aufgebaut?
Auf der Grundlage der Verträge (genauer: insbesondere des EUV bzw AEUV und des EAGV; alle Verträge sind rechtlich gleichrangig) werden tagtäglich Entscheidungen getroffen, die auch den einzelnen Bürger unmittelbar betreffen. Der Einzelne ist längst nicht
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mehr nur Bürger seines Landes, seiner Stadt oder seiner Gemeinde, sondern auch Unionsbürger. Die EU ist allerdings noch kein fertiges Gebilde, sondern vielmehr ein „System im Werden“, dessen endgültiges Aussehen noch nicht feststeht. Die EU ist weder eine „klassische“ Internationale Organisation wie zum Beispiel die UNO, noch ein Staat, sondern liegt irgendwo dazwischen.
A.
Die EU
Bis zum Inkrafttreten des VvL folgte die Struktur der EU dem Tempelmodell, bei dem die EU das Dach über ihren drei Säulen bildete. Die erste Säule bildeten die Europäischen Gemeinschaften (EG, EAG), einschließlich der Vertiefung durch die WWU. Die zweite Säule stellte die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) dar und in der dritten Säule wurde die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) geregelt. Die letzten beiden Säulen kannten besondere Verfahren und Rechtsinstrumente. Diese Säulenstruktur wird durch den VvL aufgehoben, wobei die PJZS nun größtenteils den allgemeinen Regeln folgt und keinen Sonderregelungen mehr unterliegt. Hingegen funktioniert die GASP weiterhin in besonderen Verfahren und Rechtsformen.
Im Mittelpunkt der EU steht der Binnenmarkt mit seinen Grundfreiheiten (Näheres dazu in LE 5) und seiner Wettbewerbsordnung (Näheres dazu in LE 6). Der AEUV legt fest, in welchen Politikbereichen und unter welchen Umständen die EU Maßnahmen erlassen darf (siehe unten Punkt V).
B.
Die GASP
Um der EU ein ihrem Gewicht als Welthandelsmacht angemessenes Auftreten in wichtigen Fragen der Weltpolitik zu ermöglichen, sind im Maastrichter Unionsvertrag die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten übereingekommen, GASP = Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schrittweise auch eine GASP zu entwickeln. Damit die EU in außenpolitischen Angelegenheiten möglichst „mit einer Stimme“ spricht, hat der VvA einen eigenen „Hohen Vertreter“ – den so genannten „Mister GASP“ – geschaffen. Dieses Amt wird durch den VvL stark aufgewertet: Der Hohe Vertreter sitzt dem Außenministerrat (d.h. dem Rat der Europäischen Union in der Zusammensetzung der Außenminister) vor und ist Außenkommissar und Vizepräsident der Europäischen Kommission. Dadurch kommt ihm auch die Möglichkeit zu, selbständig Rechtssetzungsinitiativen zu ergreifen (siehe dazu auch unten Punkt IV. D.). Die Außen- und Sicherheitspolitik zählt zu denjenigen Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten ihre Souveränität bzw Eigenständigkeit nicht aufgeben wollen, deshalb gelten für sie in der EU nach wie vor Sonderreglungen. Wie auch schon vor dem VvL werden die Entscheidungen in der GASP deshalb weiterhin noch vielfach im Rahmen der zwischenstaatlichen (= intergouvernementalen) Zusammenarbeit getroffen. Die im Rahmen der GASP ergehenden „Beschlüsse“ bedürfen – wie im allgemeinen Völkerrecht üblich – grundsätzlich der Zustim-
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mung aller Mitgliedstaaten (Einstimmigkeitsprinzip) und richten sich nur an die Mitgliedstaaten.
C.
Die EAG
Die EAG ist der Kontrolle der Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Kernenergie, insbesondere auch der Sicherheitsüberwachung und der Kontrolle der Versorgung mit spaltbarem Material, gewidmet. Sie bleibt auch nach dem VvL als eigenständige Internationale Organisation bestehen, ist jedoch der EU angegliedert und teilt mit ihr die Organe. Dass sich die nachfolgenden Ausführungen – trotz des Fortbestehens der EAG (und ihrer zweifellos gegebenen Existenzberechtigung) – ausschließlich auf das Recht der EU mit Ausnahme der EAG beziehen, ist der praktischen Relevanz geschuldet.
III. Was ist Supranationalität? Der Begriff „supranational“ bezeichnet in der juristischen Sprache internationales Recht, welches von einer überstaatlichen Institution gesetzt wird und die rechtsunterworfenen Staaten auch gegen ihren Willen zu binden vermag: Es gibt also die Möglichkeit von – für alle Mitgliedstaaten – verbindlichen Mehrheitsbeschlüssen. Hinzu kommt, dass sich das supranationale Recht der EU nicht nur an die Mitgliedstaaten, sondern – genauso wie staatliche Gesetze – auch an den einzelnen Bürger richtet, was bei herkömmlichem Völkerrecht nicht der Fall ist. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Durchgriffswirkung“ des EURechts. EU-Recht hat darüber hinaus Vorrang vor nationalem Recht (siehe unten Punkt VII). In supranationalen Bereichen kommt der Europäischen Kommission das Monopol zu, Richtlinien- und Verordnungsvorschläge zu unterbreiten. Darüber hinaus besteht die obligatorische Gerichtsbarkeit des EuGH, der die Wahrung des Rechts bei Auslegung und Anwendung sichert. Die GASP weist diese supranationalen Besonderheiten nicht auf, sondern intergouvernementale (völkerrechtliche) Charakteristika.
Die Supranationalität von EU-Recht x
Mehrheitsbeschlüsse (Möglichkeit der Überstimmung von Mitgliedstaaten)
x
Durchgriffswirkung des EU-Rechts (unmittelbare Geltung, Anwendung)
x
Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht
x
Unabhängige Organe (z.B. EU-Kommission)
x
Zwingende Gerichtsbarkeit (EuGH) Î Gilt nicht für die GASP!
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IV. Welche Institutionen gibt es in der EU? Die EU nimmt Funktionen wahr, die sonst nur Staaten zustehen. Die Aufgabenwahrnehmung erfolgt durch die Organe, die mit ihren Pendants in den Mitgliedstaaten grundsätzlich vergleichbar sind, obgleich die Unterschiede im Detail erheblich Nach dem VvL findet sich eine Aufzähsind. lung der Organe der EU in Art 13 Abs 1 EUV: EP, ER, Rat, Kommission, EuGH, EZB, ERH
Diese eigenen Institutionen versetzen die EU in die Lage, der europäischen Einigung neue Impulse zu geben. Mit eingeschlossen ist die Befugnis, im Rahmen ihrer Zuständigkeit für die Mitgliedstaaten verbindliches Recht zu schaffen und dieses durchzusetzen. Es bestehen nach dem VvL folgende Organe: x x x x x x x
das Europäische Parlament (EP), der Europäische Rat (ER), der Rat, die Europäische Kommission (Kommission), der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), die Europäische Zentralbank (EZB), der Rechnungshof (ERH).
Daneben gibt es noch den Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), den Ausschuss der Regionen (AdR), die Europäische Investitionsbank (EIB) und den Europäischen Bürgerbeauftragten (Ombudsmann).
A.
Der Europäische Rat
Aus der Praxis der Gipfeltreffen hat sich der ER entwickelt, der nun durch den VvL den Status eines eigenen Organs bekommt und dadurch aufgewertet wird. Neu ist im Zuge des VvL auch der Präsident des ER (zur Zeit Herman van Rompuy), der vom ER selbst für 30 Monate gewählt wird und kein nationales Amt ausüben darf (Art 15 EUV). Neben dem Präsidenten setzt sich der ER aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten der Kommission zusammen Seine Aufgabe ist es, der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse zu geben und die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung festzulegen, mithin die politische Gesamtleitung der EU. Der Europäische Rat tritt mindestens vierteljährlich zusammen und ist kein Legislativorgan, er kann aber Beschlüsse fassen, die rechtsförmlich sind und Rechtswirkungen für Dritte entfalten (Art 289 Abs 3 AEUV). Der ER ernennt außerdem den Hohen Vertreter der EU für Außen und- Sicherheitspolitik und nominiert den Präsidenten der Kommission. Seit 2003 finden sämtliche Tagungen des Europäischen Rates in Brüssel statt.
B.
Der Rat
Der Rat – er wird aufgrund seiner Zusammensetzung auch Ministerrat genannt – ist das zentrale Entscheidungsorgan der EU und eines der beiden legislativen Organe der neuen EU. Er beschließt alle wesentlichen Rechtsakte und schließt internationale Abkommen ab, in
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den meisten Fällen gemeinsam mit dem EP. Mitglieder des Rates sind die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten, dabei gibt es folgende Zusammensetzungen: x x x x x x x x x x
Allgemeine Angelegenheiten: Auswärtige Angelegenheiten; Wirtschaft und Finanzen Justiz und Inneres; Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz; Wettbewerbsfähigkeit (Binnenmarkt, Industrie und Forschung); Verkehr, Telekommunikation und Energie; Landwirtschaft und Fischerei; Umwelt Bildung, Jugend und Kultur.
Die Beschlussfassung im Rat erfolgt einstimmig oder (nur) mit Mehrheit. Durch den VvL wurden diese Mehrheitsentscheidungen noch ausgeweitet und zur allgemeinen Abstimmungsregel erhoben (Art 16 Abs 3 AEUV), damit die Entscheidungsfindung in einer EU mit -zur Zeit27 Mitgliedstaaten erleichtert wird. Für einen Beschluss mit qualifizierter Mehrheit sind in einer Übergangszeit bis 2014 weiterhin 255 von insgesamt 345 Stimmen nötig, welche überdies die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder erfordert. Dabei werden die Stimmen der einzelnen Mitgliedstaaten gewichtet (zB Österreich: 10, Deutschland/Frankreich: jeweils 29, „EU-Legislative“ sind Rat und EP gemeinsam Estland/Zypern: jeweils 4). Jeder Mitgliedstaat darf außerdem beantragen, dass überprüft wird, ob die Vertreter der Mitgliedstaaten, die bei einer Beschlussfassung eine qualifizierte Mehrheit bilden, mindestens 62 % der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren (sog „fakultative doppelte Mehrheit“). Erst ab 2014 kommt die durch den VvL eingeführte sog „Doppelt-qualifizierte Mehrheit“ zum Tragen, die mindestens 55% der Mitgliedstaaten und 65% der Bevölkerung der EU, repräsentiert durch die Mitgliedstaaten erfordert. Daneben gibt es noch eine höher qualifizierte Mehrheit, die erforderlich ist, wenn der Rat nicht auf Vorschlag der Kommission tätig wird.
C.
Das Europäische Parlament
Seit 1979 wählen die Bürgerinnen und Bürger der EU-Mitgliedstaaten ihre Vertretung direkt in das EP. Es vertritt daher nun bereits mehr als 500 Millionen Unionsbürger. Mit dem VvL wird die Zahl der Abgeordneten zum EP auf maximal 750 begrenzt (zuzüglich eines Präsidenten), allerdings fanden die Wahlen zum EP 2009 noch auf Grundlage des VvN statt, weswegen sich die tatsächliche Anzahl der Abgeordneten bis zur nächsten Wahl im Jahr 2014 noch unterscheidet. Österreich hat nach den Wahlen für die Periode 2009-2014 insgesamt 17 Abgeordnete, Deutschland 99 und Malta 5. Nach Inkrafttreten des VvL erhält Österreich nun allerdings zwei Mandate mehr (19), Deutschland verliert drei (96) und Malta kann um eines aufstocken (6). Dies resultiert aus Art 14 Abs 2 EUV, der die Mindestzahl pro Mitgliedstaat mit sechs und die Höchstzahl mit 96 festlegt. Gewählte Mandatare behalten ihren Sitz jedenfalls noch bis zum Ende der aktuellen Periode.
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Das EP tagt viermal im Jahr für zwei Tage in Brüssel (sog „Miniplenum“) und zwölfmal im Jahr für je eine Woche in Straßburg. Die Sitzordnung im Saal richtet sich nach Fraktionszugehörigkeit und nicht nach Nationalität. Im Rechtssetzungsprozess kommt nun in der überwiegenden Anzahl der Politiken das sog „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“ (Art 294 AEUV) zur Anwendung, in welchem das EP gemeinsam und gleichberechtigt mit dem Rat (nach Vorschlag Nach dem VvL ist das ordentliche Gedurch die Kommission) legislativ tätig wird. In manchen setzgebungsverfahren (ehemaliges Mitentscheidungsverfahren), in welchem Sachbereichen kommt aber ein sog „besonderes GesetzgeRat und EP gleichberechtigt entscheibungsverfahren“ zur Anwendung, in welchem das EP entweder den, die Regel. bloß eine beratende Stellungnahme abgibt (Anhörung) oder für das Inkraftreteten einem Beschluss des Rates zustimmen muss (Zustimmung). Der VvL hat in diesem Bereich eine Ausweitung der Befugnisse des EP gebracht und so seine Position im Machtgefüge der EU weiter gestärkt. Das Europäische Parlament verabschiedet zusammen mit dem Rat den jährlichen Gesamthaushaltsplan und kontrolliert seinen Vollzug. Es ist auch Kontrollorgan, insoweit es die Kommission bestätigt und diese durch ein sog Misstrauensvotum zum Rücktritt zwingen kann. Das EP muss für die Ernennung des Präsidenten des ER, des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Kommission als Kollegium zustimmen, außerdem kann das EP der gesamten Kommission das Misstrauen aussprechen, wonach diese zurücktreten muss.
D.
Die Europäische Kommission
Die Kommission übt ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit von den Mitgliedstaaten zum allgemeinen Wohl der Union aus (Art 17 EUV). Sie hat die alleinige Kompetenz, Initiativen zur Schaffung von sekundärem Unionsrecht zu ergreifen (sprich: Vorschläge für Rechtsakte vorzulegen) und sie überwacht die Einhaltung der Verträge durch die Mitgliedstaaten. Sie ist sozusagen „Motor der Integration und Hüterin der Verträge“. In Die Kommission ist Motor der manchen Bereichen ist die Kommission selbst zur Durchführung Integration und Hüterin der Verträge. zuständig (zB Kartellrecht, Beihilfenrecht; siehe LE 6), in anderen beauftragt der Rat die Kommission auch mit der Erlassung von Durchführungsvorschriften oder die Befugnis zur Rechtsetzung wird an die Kommission delegiert. Die Kommission handelt als Kollegium und versucht in der Regel, Einvernehmen unter den Mitgliedern herzustellen. Falls notwendig entscheidet sie jedoch per Abstimmung, wobei für die Annahme eines Entscheides die absolute Mehrheit der Kommissionsmitglieder erforderlich ist. Die Kommission besteht derzeit aus 27 Mitgliedern (ein Kommissar je Mitgliedstaat) und wird für fünf Jahre bestellt, wobei sich jeder Kommissar zuvor einer Anhörung durch das EP stellen muss. Der VvL sieht allerdings vor, dass ab 2014 die Anzahl auf 2/3 der Zahl Mitgliedstaaten reduziert wird, soferne der Rat nicht einstimmig davon abgehen will. Die Inanspruchnahme dieser Ermächtigung war ein wesentliches Ergebnis der Verhandlungen vor dem
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zweiten, erfolgreichen Referendum in Irland über den VvL: somit ist auch in Zukunft jedem Mitgliedstaat ein Kommissars gesichert. Die Position des Präsidenten der Kommission (aktuell José Manuel Barroso) wurde aufgewertet, er wird auf Vorschlag des ER vom EP gewählt und kann einzelne Kommissare zum Rücktritt aufzufordern. Seit dem VvL neu ist die Funktion des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (aktuell Catherine Ashton), der die Rolle eines EUAußenministers einnehmen soll und sowohl als Vizepräsident der Kommission als auch als Vorsitzender des Rates „auswärtige Angelegenheiten“ tätig und nimmt daher eine sog „Doppelhut-Stellung“ ein (Art 18 EUV).
E.
Der Gerichtshof der Europäischen Union
Der Gerichtshof der Europäischen Union setzt sich aus dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), dem Europäischen Gericht (EuG) und Fachgerichten zusammen. Der Europäische Gerichtshof mit Sitz in Luxemburg übt die gesamte unionsunmittelbare Gerichtsbarkeit aus (Art 19 EUV). Der EuGH besteht aus einem von jedem Mitgliedstaat nominierten Richter, die Ernennung erfolgt für sechs Jahre durch die Regierungen der Mitgliedstaaten in gegenseitigem Einvernehmen. Neben den Richtern sind auch acht (in Bälde elf) Generalanwälte beim EuGH tätig, die in den jeweiligen Verfahren Gutachten erarbeiten und Entscheidungsvorschläge unterbreiten (sog Schlussanträge), an die die Richter allerdings nicht gebunden sind. Die Aufgabe des Gerichtshofes besteht in der Wahrung des Rechts bei der Auslegung und der Anwendung des Unionsrechts. Er entscheidet über Streitigkeiten, an denen Mitgliedstaaten, Unionsorgane, Unternehmen und Einzelpersonen beteiligt sein können. Der EuGH ist exklusiv befugt, über die Auslegung von Unionsrecht mit der Der EuGH sichert die Wahrung des Unionsrechts. Ausnahme des Bereichs der GASP zu befinden und dieses allenfalls für ungültig zu erklären; ihm kommt daher ein Auslegungs- und Verwerfungsmonopol für das Unionsrecht zu. Hat ein nationales Gericht (oder eine Verwaltungsbehörde) Zweifel, wie eine Vorschrift des Unionsrechts zu verstehen ist, dann kann es (ein letztinstanzliches Gericht ist sogar verpflichtet) den EuGH um Auslegung ersuchen. Damit wird ein so genanntes Vorabentscheidungsverfahren (Art 267 AEUV) eingeleitet (siehe LE 9). Dem EuGH ist das Europäische Gericht beigeordnet, das für Entscheidungen über bestimmte Klagen im ersten Rechtszug sowie gegen Entscheidungen der Kommission und des EuGöD zuständig ist und gegen dessen Entscheidungen unter Umständen ein Rechtsmittel beim EuGH erhoben werden kann. Das einzige derzeit bestehende Fachgericht ist das Gericht für den öffentlichen Dienst (EuGöD). Es ist dem EuG beigeordnet und für Streitigkeiten zwischen der EU und ihren Beamten zuständig. Der Gerichtshof der EU (bestehend aus EuGH, EuG und EuGöD) soll im Rahmen seiner Zuständigkeiten die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (EUV, AEUV) sichern. Dem EuGH als Supreme Court of Europe bleibt jedoch die Rechtsprechung in den grundlegenden Fragen des Unionsrechts.
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F.
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Die Europäische Zentralbank
Die EZB legt die europäische Geldpolitik fest. Sie führt Devisengeschäfte durch, verwaltet die Währungsreserven, die die Euro-Mitgliedstaaten in Drittlandswährungen (insbesondere Dollar, Yen) bei der EZB halten müssen, und sorgt für ein reibungsloses Funktionieren der Zahlungssysteme. Ihr Hauptziel ist es, Preisstabilität zu gewährleisten. Aus diesem Grund ist sie auch an keinerlei Weisungen von Außen gebunden.
G.
Der Europäische Rechnungshof
Der ERH überprüft die Recht- und Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Ausgaben der Union (Finanzgebarungskontrolle) und sorgt für ein effizientes Finanzmanagement auf europäischer Ebene.
H.
Sonstige Organe
1.
Die Europäische Investitionsbank
Die EIB finanziert Investitionsvorhaben, um zu einer ausgewogenen Entwicklung der Union beizutragen.
2.
Der Wirtschafts- und Sozialausschuss
Der EWSA vertritt gegenüber der Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament die Gesichtspunkte und Interessen der verschiedenen Gruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Er besteht dementsprechend aus Vertretern repräsentativer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Gruppen wie Unternehmern, Arbeitnehmern, Verbrauchern etc. Er muss zu Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik gehört werden und kann darüber hinaus Stellungnahmen zu Fragen abgeben, die ihm wichtig erscheinen.
3.
Der Ausschuss der Regionen
Der AdR setzt sich aus Vertretern der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften (wie Bundesländern, Gemeinden etc) zusammen. Er sorgt für die Wahrung der lokalen und regionalen Identitäten. Er muss in Bereichen wie denen der Regionalpolitik, des Umweltschutzes und der Ausbildung gehört werden.
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4.
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Der Bürgerbeauftragte
Der Europäische Bürgerbeauftragte, auch Ombudsmann genannt, kann von allen in der Union ansässigen Bürgern, Unternehmen und Einrichtungen befasst werden, wenn diese meinen, dass sie von den Unionsinstitutionen oder -organen nicht korrekt behandelt wurden.
I.
Die Rolle der nationalen Parlamente
Durch den VvL wird auch die Rolle der nationalen Parlamente gestärkt, Diese können zum einen ihre eigenen Regierungen kontrollieren, wenn diese in EU-Angelegenheiten – zB im Rat – tätig werden und zum anderen kommt ihnen kraft Unionsrechts eine Kontrollfunktion im Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip (siehe unten V.) zu: sie können einen Frühwarnmechanismus auslösen, wenn sie dieses Prinzip durch ein EU-Vorhaben verletzt sehen.
V.
Wann darf die EU tätig werden?
Weder der EUV, AEUV noch EAGV erteilen den Unionsorganen eine unbegrenzte Befugnis zum Erlass von Rechtsvorschriften. Vielmehr dürfen die Unionsorgane nur dann tätig werden, wenn ihnen in diese Verträge von den Mitgliedstaaten zur Erledigung übertragen wor-
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den ist (sog „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“: Art 5 EUV). Dieser Weg ist von den Mitgliedstaaten deshalb gewählt worden, um den Verzicht auf eigene Befugnisse überschaubar und kontrollierbar zu machen. Dennoch ist in EUV und AEUV der Umfang der Befugnisse mitunter sehr weit gefasst. So können zum Beispiel im Bereich der gemeinsamen Verkehrspolitik oder der Arbeitnehmerfreizügigkeit alle zweckdienlichen bzw erforderlichen Der Zuständigkeit der EU sind Grenzen gesetzt: Prinzip der begrenzten EinzelMaßnahmen gesetzt werden. Besondere Bedeutung in der ermächtigung und Subsidiaritätsprinzip Praxis kommt auch Art 114 AEUV zu, der eine Generalermächtigung der EU zum Erlass von Rechtsakten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben, vorsieht (sog „Binnenmarktkompetenz“). Besonders weitreichend und entsprechend kontrovers ist ferner die sog „Lückenschließungsklausel“ in Art 352 EGV, derzufolge die EU durch einstimmigen Ratsbeschluss und nach Zustimmung des EP auch dann agieren darf, wenn zwar im Vertrag die erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind, aber ein Tätigwerden im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche „erforderlich“ ist. Die Ausübung der Kompetenzen (= Zuständigkeiten) durch die EU unterliegt darüber hinaus dem sog „Subsidiaritätsprinzip“ (Art 5 Abs 3 EUV). Dieses besagt, dass die EU nur dann handeln soll, wenn die angestrebten Ziele besser auf Unionsebene als auf nationaler Ebene erreicht werden können. Die EU darf also nicht tätig werden, wenn das Handeln der Mitgliedstaaten zur Zielverwirklichung ausreicht. In der Praxis bedeutet das, dass die Kommission bei ihren Gesetzesvorschlägen nachzuweisen hat, dass ein Handeln der Union notwendig ist. Ferner ist EU-Richtlinien, Mindestvorschriften und Regeln zur gegenseitigen Anerkennung nationaler Vorschriften gegenüber Verordnungen, Vollharmonisierungen sowie übermäßig detaillierten Vorschriften der Vorzug zu geben. Die EU-Richtlinie, auf die Ihre Nachbarin hingewiesen hat, gibt es tatsächlich. Und zwar handelt es sich dabei um die RL 80/987/EWG des Rates vom 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers. Sie stützte sich auf Art 94 EGV, welcher den Rat ausdrücklich dazu ermächtigt, Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben, zu erlassen.
VI. Welche EU-Rechtsvorschriften gibt es und wer vollzieht sie? A.
Primäres Unionsrecht
Das primäre Unionsrecht stellt das „Verfassungsrecht“ der EU dar (siehe oben, Abschnitt I.B.2). Es basiert inhaltlich nach wie vor auf dem 1957 unterzeichneten und später mehrmals und teils grundlegend geänderten EWGV (seit 1993 EGV). Nach dem VvL sind als konsolidierte Quellen des Primärrechts und als „Grundlage der Union“ nunmehr der (geänderte)
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EUV und der AEUV zu nennen, welche rechtlich gleichrangig sind. Während der EUV im Wesentlichen Grundlagenbestimmungen sowie allgemeine Bestimmungen über das auswärtige Handeln und besondere Bestimmungen über die GASP Primärrecht: insbesondere EUV, AEUV, enthält, umfasst der AEUV neben Vorschriften über die EU-Grundrechtecharta, Allgemeine Rechtsgrundsätze Funktionsweise und das Zusammenspiel der Organe insbesondere die materiellen Politikbereiche der Union (zB Binnenmarkt, Wettbewerb, Gemeinsame Handelspolitik). Eine klaren systematischen Gesichtspunkten folgende Aufteilung der Regelungsfelder auf EUV einerseits und AEUV andererseits ist jedoch nicht zu erkennen. Rechtsverbindlich und ebenfalls gleichrangig mit EUV und AEUV ist seit dem Inkrafttreten des VvL die EU-Grundrechtecharta, die das Handeln der Unionsorgane zum Schutz der Bürger bestimmten Schranken unterwirft (zB Recht auf Leben, Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit, Achtung des Privat- und Familienlebens, Gleichheit vor dem Gesetz etc). Vom Geltungsbereich der EU-Grundrechtecharta erfasst ist auch das Handeln der Mitgliedstaaten, soweit diese in Durchführung von Unionsrecht tätig werden. Zum Primärrecht zählen außerdem die – von der Union mit den jeweils neu hinzugekommenen Mitgliedstaaten abgeschlossenen – Beitrittsverträge, sowie die diesen und den genannten Verträgen zur Modifikation der Union beigefügten Protokolle und Anhänge. Als „ungeschriebenes Primärrecht“ werden schließlich die vom EuGH in seiner Judikatur entwickelten Allgemeinen Rechtsgrundsätze (zB Verhältnismäßigkeitsprinzip, Vertrauensschutz, Staatshaftung) bezeichnet, wobei diese mitunter im Wege einer späteren Vertragsmodifikation Eingang in das geschriebene Unionsrecht gefunden haben (zB gewährleistete der EuGH vor der Erlangung von Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtecharta durch den VvL unter dem Titel der Allgemeinen Rechtsgrundsätze auch umfassenden Grundrechtsschutz). Auch Gewohnheitsrecht ist dem ungeschriebenen Primärrecht zuzurechnen (vgl zB die Entsendung von Staatssekretären in den Rat).
B.
Abgeleitetes Unionsrecht
1.
Welche abgeleiteten Unionsrechtsakte gibt es?
Als abgeleitetes Unionsrecht wird das von den Organen der EU auf materiell- wie verfahrensrechtlicher Grundlage des Primärrechts („sekundäres Unionsrecht“) bzw des sekundären Unionsrechts („tertiäres Unionsrecht“) erzeugte Recht bezeichnet. Als Akte des abgeleiteten Unionsrechts kommen nur Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse sowie – jeweils nicht rechtsverbindliche – Empfehlungen und Stellungnahmen in Frage. a.
Verordnung
In der Verordnung (VO) kommt der supranationale Charakter des Unionsrechts am deutlichsten zum Ausdruck. Die Verordnung gilt nämlich allgemein und unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Sie ist von den mitgliedstaatlichen Organen (Gerichten Verordnungen wirken in etwa wie und Verwaltungsbehörden) unmittelbar – dh einem nationalen nationale Gesetze. Gesetz vergleichbar – anzuwenden und begründet dementspre-
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chend Rechte und Pflichten für die einzelnen Bürger. Verordnungen gelten auch zwischen Privatpersonen. Näheres zur „unmittelbaren Anwendbarkeit“ siehe unten Punkt VII. Bsp: Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung 1612/68/EWG. b.
Richtlinie
Anders als die Verordnung ist die Richtlinie (RL) nicht an den einzelnen Bürger, sondern an die Mitgliedstaaten gerichtet. Sie ist grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar, sondern muss von den Mitgliedstaaten erst in nationales Recht umgesetzt werden, um von deren Gerichten und Verwaltungsbehörden konkreten Entscheidungen im Einzelfall (insbesondere Urteilen oder Bescheiden) zugrunde gelegt werden zu können (bzw zu müssen). Die Richtlinie überlässt dabei den innerstaatlichen Stellen (zB Parlamenten) die Wahl der Form und der Mittel bei der Umsetzung des von ihr vorgeschriebenen Zieles. Damit können mitgliedstaatliche Besonderheiten (zB Rechtstraditionen) berücksichtigt werden. Die Parlamente der Mitgliedstaaten sind immer wieder mit der Verpflichtung zur Umsetzung von Richtlinien konfrontiert. Bsp: Das österreichische Parlament musste eine Novelle zum Konsumentenschutzgesetz beschließen, die die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen in das österreichische Recht umsetzt. Es mussten Vergabegesetze beschlossen werden, die die Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge umsetzen usw. Die Mitgliedstaaten müssen eine Richtlinie innerhalb einer bestimmten Frist umsetzen. Diese Umsetzungsfrist wird von der Richtlinie selbst festgelegt. Ist ein Mitgliedstaat mit der korrekten Umsetzung säumig, kann sich der Einzelne ausnahmsweise gegenüber den staatlichen Stellen des säumigen Mitgliedstaates unmittelbar auf die Richtlinien müssen von den Mitgliedstaaten erst umgesetzt werden. Richtlinie berufen, sofern diese dem Einzelnen hinreichend Nur ausnahmsweise können sie auch genau bestimmte Rechte gegenüber dem Staat einräumt (dh es unmittelbar anwendbar sein. kommt in diesem Fall ausnahmsweise zu einer unmittelbaren Wirkung der Richtlinie). Der säumige Mitgliedstaat soll nämlich aus seinem eigenen Fehlverhalten – der Nichtumsetzung der Richtlinie – keine Vorteile ziehen. Der säumige Mitgliedstaat kann außerdem von einer aus der (nicht korrekt umgesetzten) Richtlinie begünstigten Person auf Schadenersatz verklagt werden („Staatshaftung“). Ein solcher unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch ist in Österreich vor den ordentlichen Gerichten bzw mitunter vor dem Verfassungsgerichtshof geltend zu machen (Grundsatz der institutionellen und verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten). Im Verhältnis zwischen Privatpersonen kann eine nicht umgesetzte Richtlinie – anders als eine Verordnung – keine „horizontale" Wirkung entfalten: Sofern also eine Richtlinie (ausnahmsweise) unmittelbar wirksam ist, kann man sich nur gegenüber dem Staat auf sie berufen, nicht jedoch gegenüber einer anderen Privatperson. Die Auskunft Ihrer Nachbarin ist richtig: EU-Richtlinien müssen von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden. Österreich ist dieser Verpflichtung in Bezug auf die RL 80/987/EWG auch nachgekommen. Die betreffende RL wurde von Österreich insbesondere durch das Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz umgesetzt.
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Da Richtlinien grundsätzlich nicht unmittelbar wirksam sind, können Sie sich auf die RL 80/987/EWG vor den nationalen Behörden nicht direkt berufen. Sie können sich nur auf das Umsetzungsgesetz, nämlich das Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz berufen. Dieses sieht entsprechende Garantieeinrichtungen für jene Arbeitnehmer, deren Arbeitgeber in Konkurs gegangen sind, zur Befriedigung von noch ausstehenden Lohnforderungen vor. Nach § 1 Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz haben Arbeitnehmer Anspruch auf InsolvenzAusfallgeld, wenn über das Vermögen des Arbeitgebers der Konkurs eröffnet wird. Hätte Österreich die RL 80/987/EWG noch nicht in nationales Recht umgesetzt, dann könnten Sie die Republik Österreich (konkret den Bund) wegen Nichtumsetzung der Richtlinie auf Schadenersatz in Anspruch nehmen. c.
Beschluss
Ebenfalls Rechtsverbindlichkeit kommt dem Beschluss zu. Sofern ein solcher an bestimmte Adressaten (zB an bestimmte Unternehmen oder an bestimmte Mitgliedstaaten) gerichtet ist, ist er nur für diese verbindlich. Ein derartiger individuell-konkreter Beschluss entspricht der primärrechtlich bisher vorgesehen „Entscheidung“; von seinen Wirkungen her ist er in etwa auch mit dem Bescheid des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts vergleichbar (siehe dazu LE 9). Bsp: Die Verhängung einer Geldbuße durch die Europäische Kommission gegen ein Unternehmen, das gegen das Kartellverbot verstoßen hat, ergeht in Form eines Beschlusses. Ein Beschluss braucht jedoch nach Maßgabe des AEUV nicht mehr an bestimmte Adressaten gerichtet zu sein: Weist er einen unbestimmten Adressatenkreis auf, so bedingt dies zugleich seine allgemeine Verbindlichkeit. Dabei ergeben sich Abgrenzungsprobleme zur Verordung, die ähnliche Wirkungen entfaltet. d.
Empfehlung, Stellungnahme
Empfehlungen können vom Rat, von der Kommission und mitunter von der EZB abgegeben werden. Die Abgabe einer Stellungnahme steht hingegen allen Unionsorganen offen. Nach Ansicht des EuGH haben nationale Behörden Empfehlungen und Stellungnahmen trotz ihrer Unverbindlichkeit unter Umständen bei der Auslegung nationaler Rechtsvorschriften zu berücksichtigen, weshalb es unangemessen wäre, ihnen jede rechtliche Wirkung abzusprechen.
2.
Sekundärrechtsakte mit und ohne Gesetzgebungscharakter; tertiäres Unionsrecht
Der AEUV unterscheidet Sekundärrechtsakte – genauer: Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse – mit und ohne „Gesetzgebungscharakter“. Im unionsrechtlichen Sinn kommt einem Rechtsakt dann Gesetzgebungscharakter zu, wenn er in einem Rechtsakte mit Gesetzgebungscharakter wurden durch ordentliches oder besonordentlichen oder besonderen Gesetzgebungs-verfahren deres Gesetzgebungsverfahren erzeugt. erzeugt worden ist. Als ordentliches Gesetz-gebungsverfahren ist dabei jenes Normerzeugungsverfahren vorgesehen, im Zuge dessen das Europäische Parlament und der Rat gemeinsam auf Vorschlag der Kommission eine Verordnung, eine
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Richtlinie oder einen Beschluss annehmen (ähnlich dem vor dem VvL anzuwendenden Mitentscheidungsverfahren). Bei weitem überwiegend ist Sekundärrecht nunmehr nach diesem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu erzeugen. Dabei genießt das Europäische Parlament eine neben dem Rat völlig gleichberechtigte Stellung. Die Beschlussfassung im Rat erfolgt grundsätzlich mit qualifizierter, jene im Parlament mit einfacher Mehrheit (siehe auch oben, Abschnitte IV.B. und C.). Nur in primärrechtlich explizit vorgesehenen Fällen kommt das besondere Gesetzgebungsverfahren zum Tragen, in dessen Rahmen die Annahme eines Sekundärrechtsakts durch den Rat unter Beteiligung des Europäischen Parlaments oder – im Ausnahmefall – durch das Europäische Parlament unter Beteiligung des Rates erfolgt. Eine solche Beteiligung erfolgt auf Basis eines (bloßen) Anhörungs- oder Zustimmungsrechts. Auch das besondere Gesetzgebungsverfahren wird in der Regel durch einen Vorschlag der Kommission eingeleitet („Initiativmonopol“ der Kommission).
In den eben skizzierten Gesetzgebungsakten kann der Kommission die Befugnis übertragen werden, Rechtsakte mit allgemeiner Geltung – mangels Gesetzgebungsverfahren notwendigerweise jedoch ohne Gesetzgebungscharakter – zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Rechtsakte ohne GesetzgebungscharakGesetzgebungsaktes zu erlassen („delegierte Rechtsakte“). Die ter können von Kommission, Rat und EZB erlassen werden, sofern sie dazu Kommission macht von dieser Befugnis Gebrauch, indem sie ermächtigt worden ist. wiederum – nach Maßgabe des Gesetzgebungsaktes – Verordnungen, Richtlinien oder Beschlüsse erlässt. Solche von Sekundärrechtsakten abgeleitete Rechtsakte der Kommission können als „tertiäres Unionsrecht“ betrachtet werden. Dies trifft neben delegierten Rechtsakten auch auf „Durchführungsrechtsrechtsakte“ zu, welche von der Kommission (in Ausnahmefällen vom Rat) aufgrund sekundärrechtlicher Ermächtigung geschaffen werden, um erforderlichenfalls in allen Mitgliedstaaten einheitliche Bedingungen für die Durchführung verbindlicher Rechtsakte der Union herbeizuführen. Rechtsakte ohne Gesetzgebungscharakter können aber auch unmittelbar auf primärrechtliche Bestimmungen gestützt werden. Ermächtigt dazu sind je nach vertraglicher Konstellation die Kommission, der Rat und – in bestimmten Fällen – die EZB. Die Unionsorgane haben sich auch hier der Verordnung, der Rechtlinie oder des Beschlusses zu bedienen. Solcherart erzeugtes, unmittelbar auf Primärrecht gestützes Recht kann wiederum als sekundäres Unionsrecht betrachtet werden.
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Ungeachtet dessen, ob sich ein abgeleiteter Rechtsakt auf zum Sekundärrecht gehörige Gesetzgebungsakte stützt (und insofern tertiäres Unionsrecht verkörpert) oder ob er sich unmittelbar auf Primärrecht stützt (und insofern sekundäres Unionsrecht verkörpert), gilt, dass sich
EU-Rechtsquellen Primäres Unionsrecht x
Vertrag über die Europäische Union (EUV) und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
x
Allgemeine Rechtsgrundsätze, Gemeinschaftsgrundrechte
Sekundäres Unionsrecht x
Verordnung
x
Richtlinie
x
Beschluss
abgeleitete Rechtsakte eines bestimmten Typs (zB Richtlinien) in ihrer Terminologie und ihren grundsätzlichen normativen Eigenschaften (zB ausnahmsweise unmittelbare Wirkung von Richtlinien, Vorrangwirkung; siehe Punkt VII.) nicht voneinander unterscheiden. Auf den ersten Blick erkennbar sind zwar ausdrücklich als solche zu bezeichnende delegierte Rechtsakte (zB „delegierte Verordnung“) und Durchführungsrechtsakte (zB „Durchführungsverordnung“); ob eine Verordnung, welche sich unmittelbar auf Primärrecht stützt und somit jedenfalls sekundäres Unionsrecht verkörpert, ein Gesetzgebungsakt oder aber ein Rechtsakt ohne Gesetzgebungscharakter ist, ist jedoch nicht ohne Weiteres ersichtlich. Unzweifelhaft ist es umgekehrt aber, dass sich jene abgeleiteten Rechtsakte, die in der sich aus dem primärrechtlich vorgezeichneten Rechtsquellensystem ergebenden Normenhierarchie eine untergeordnete Position einnehmen, den jeweils übergeordneten Normen des Primär- bzw des Sekundärrechts formell- und materiell-rechtlich entsprechen müssen. Dies bedeutet insbesondere, dass abgeleitete Rechtsakte des sekundären und tertiären Unionsrechts rechtswidrig und anfechtbar sind, sofern sie sich nicht im Rahmen eben jener Normen des primären oder sekundären Unionsrechts bewegen, auf welche sie sich vorgeblich stützen. Andererseits kann eine Normenhierarchie zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzgebungscharakter nicht ausgemacht werden, sofern beide unmittelbar auf primärem Unionsrecht basieren.
3.
Inkrafttreten von Rechtsakten
Damit ein EU-Rechtsakt in Kraft treten kann, muss er im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl) kundgemacht werden. Das ABl ist in mehrere Reihen unterteilt: In der Reihe L (legislation, Rechtssetzung) werden EU-Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse, in der Reihe C
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(communications, Mitteilungen) unverbindliche Rechtsakte (Empfehlungen, Stellungnahmen, aber auch Berichte, Entwürfe etc) kundgemacht. Verordnungen und Richtlinien treten, wenn nichts Anderes vorgesehen ist, am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft.
Verordnungen und Richtlinien müssen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werden.
Die RL 80/987/EWG wurde vom Rat erlassen. Der Vorschlag zu dieser Richtlinie stammt von der Europäischen Kommission. Das Europäische Parlament hatte (nur) das Recht, eine Stellungnahme zum Richtlinienvorschlag abzugeben. Eine Stellungnahme wurde auch vom Wirtschafts- und Sozialausschuss abgegeben. Veröffentlicht wurde die RL 80/987/EWG im Amtsblatt Nr L 283 vom 28.10.1980 auf Seite 23 ff.
C.
Die Vollziehung von Unionsrecht
Es wurde soeben dargelegt, wie europäische Gesetzgebungs- bzw Rechtsakte entstehen. Doch wer vollzieht sie, das heißt, wer wendet sie in der Praxis Das Unionsrecht wird in erster Linie von den Behörden der auf den konkreten Einzefall an? Das Unionsrecht wird Mitgliedstaaten vollzogen. hauptsächlich nicht – wie man zunächst vermuten könnte – von den Organen der EU, sondern von den Behörden der Mitgliedstaaten vollzogen! Man spricht in diesem Fall vom mitgliedstaatlichen Vollzug des Unionsrechts. Bsp: Ein Bescheid wird auf Grund einer EU-Verordnung oder auf Grund eines Gesetzes erlassen, das eine Richlinie umsetzt. Dass zum Beispiel ein EU-Ausländer in Österreich eine Betriebsanlage unter den gleichen Voraussetzungen wie ein Österreicher betreiben kann, wird letztlich durch den Betriebsanlagengenehmigungsbescheid verwirklicht, welchen die zuständige österreichische Behörde unter mittelbarer Berücksichtigung des Unionsrechts in Bescheidform erlässt. Nur in beschränktem Umfang vollziehen die EU-Institutionen selbst das Unionsrecht (sog direkter Vollzug). Bsp: Die Kommission verhängt Geldbußen, wenn ein Unternehmer gegen das Europäische Wettbewerbsrecht verstößt. Die RL 80/987/EWG wird durch das Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz umgesetzt. Das Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz wird wiederum von der Arbeitsmarktverwaltung vollzogen. Die Vorgaben der RL 80/987/EWG werden daher nicht durch die Organe der EU, sondern durch die Organe der Mitgliedstaaten realisiert (= mitgliedstaatlicher Vollzug).
VII. Wodurch zeichnet sich das Unionsrecht aus? Es gilt zu beachten, dass alles im folgenden Abschnitt VII Beschriebene nicht für das gesamte Unionsrecht sondern für Unionsrecht mit Ausnahme von Maßnahmen die im Rahmen der GASP erlassen werden gilt. Der Begriff „Unionsrecht“ ist im Folgenden also mit dieser Einschränkung zu verstehen.
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Bootsvermietung am Bodensee Werner Wellinger ist Geschäftsführer der XYZ-Boots-Charter GmbH am Bodensee. Diese verfügt über eine Genehmigung, dort 200 Bootsliegeplätze zu errichten und zu vermieten. Das Geschäft läuft gut und Werner Wellinger vermietet diese Bootsanliegeplätze auch an internationale Kunden aus Deutschland und Liechtenstein. Eines Tages erhält er einen Strafbescheid von der Bezirkshauptmannschaft Bregenz, in welchem ihm mitgeteilt wird, dass er gegen das Vorarlberger Landschaftsschutzgesetz aus dem Jahr 1990 verstoßen hat, in welchem vorgesehen ist, dass jeder Vermieter von Bootsliegeplätzen am Bodensee maximal 20% seiner Liegeplätze für Boote, deren Eigner ihren Wohnsitz im Ausland haben, vermieten darf. Dieses Kontingent war von der XYZ-Boots-Charter GmbH überschritten worden. Werner Wellinger will die verhängte Strafe nicht zahlen und erkundigt sich daher bei einem Freund, der Wirtschaftsrecht an der WU studiert hat, ob denn hier alles „mit rechten Dingen“ zugehe. Welche Auswirkungen hat es, wenn ein österreichisches Gesetz den Vorschriften des Unionsrechts zuwiderläuft?
A.
Unionsrecht gilt autonom und unmittelbar
Die Mitgliedstaaten haben durch die Gründung der Europäischen Union (bzw bereits durch deren „Vorgängerorganisationen“ EGKS, EWG bzw EG sowie EAG) ihre ausschließliche Kompetenz zur Gesetzgebung zum Teil aufgegeben und eine eigenständige (= autonome) Rechtsordnung geschaffen, die in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt und daher von den Behörden und Bürgern – genauso wie die jeweilige nationale Rechtsordnung – beachtet werden muss. Die Feststellung der autonomen und unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts (jetzt: Unionsrecht) hat der EuGH in der Rechtssache „Costa/E.N.E.L." getroffen (14.07.1964 Rs 6/64 Slg 1964, 1251). Bsp: Rs „Costa/E.N.E.L.“: Der Mailänder Rechtsanwalt Costa war Aktionär einer Stromerzeugungsgesellschaft. Der italienische Staat verstaatlichte das Unternehmen mit einem Gesetz und gründete die staatliche Stromgesellschaft E.N.E.L. Herr Costa sah sich als Aktionär der von der Verstaatlichung betroffenen Stromerzeugungsgesellschaft um seine Gewinnbeteiligung gebracht und verweigerte daraufhin die Begleichung der Stromrechnung. Es kam zum Prozess um die Zahlungspflicht. Costa machte dabei geltend, die Verstaatlichung sei gemeinschaftsrechtswidrig. Da sich das mit dem Fall betraute italienische Gericht nicht sicher war, wie die einschlägigen Vorschriften des E(W)G-Vertrages auszulegen sind, ersuchte es den EuGH um Auslegung des Gemeinschaftsrechts (= sog Vorabentscheidungsfrage). In seinem Urteil führte der EuGH unter anderem aus, dass zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen hat, die von den Behörden der Mitgliedstaaten anzuwenden ist. Die Mitgliedstaaten haben ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.
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Die Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung ist deshalb so wichtig, weil dadurch eine Aushöhlung des Unionsrechts durch nationales Recht verhindert werden kann. Unionsrechtliche Begriffe wie zum Beispiel der Arbeitnehmerbegriff der Arbeitnehmerfreizügigkeit (siehe LE 5) werden nicht von den Mitgliedstaaten, sondern vom Unionsrecht selbst festgelegt. Wäre dem nicht so, könnten die Mitgliedstaaten durch unterschiedliche Begriffsverständnisse das Unionsrecht aushebeln und ihm so jegliche Wirkung nehmen. Durch die autonome Geltung des Unionsrechts wird also dessen einheitliche Geltung in allen Mitgliedstaaten sichergestellt. Kennzeichnend für das Unionsrecht ist weiters, dass es – anders als das bei Völkerrecht der Fall ist – in den Mitgliedstaaten unmittelbar gilt. Das heißt, es muss zu seiner Geltung in den Mitgliedstaaten nicht in nationales Recht umgesetzt werden. Es Das Unionsrecht gilt in den gilt so wie zB österreichisches Bundesrecht in den einzelnen Mitgliedstaaten so, wie zum Beispiel österreichisches Bundesrecht in den Bundesländern gilt. Damit das Unionsrecht in Österreich gilt, einzelnen Bundesländern gilt. muss es also nicht erst im Bundesgesetzblatt kundgemacht werden. Es gilt bereits mit der Kundmachung im Amtsblatt der Europäischen Union. Von der unmittelbaren Geltung des Unionsrechts ist seine unmittelbare Anwendbarkeit (siehe unten) zu unterscheiden. Da in Österreich nicht nur (genuin) österreichisches Recht, sondern auch Unionsrecht gilt, sind demnach für den vorliegenden Fall nicht nur die Bestimmungen des Vorarlberger Landschaftsschutzgesetzes, sondern auch die Vorschriften des Unionsrechts relevant. Im vorliegenden Fall sind insbesondere die Grundfreiheiten (vgl zu diesen LE 5) von Bedeutung.
B.
Das Unionsrecht ist in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar
Die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts bedeutet, dass das Unionsrecht neben den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten auch den Bürgern in den Mitgliedstaaten unmittelbar Rechte verleihen kann, die sie vor den nationalen Das Unionsrecht kann – wie ein nationaBehörden geltend machen können, und ihnen auch Pflichten les Gesetz – den Bürgern der auferlegen kann („Durchgriffswirkung des Unionsrechts“). Mitgliedstaaten Rechte verleihen, die sie vor nationalen Behörden geltend maGenauso wie die autonome Geltung geht auch die unmittelbare chen können, aber auch Pflichten auferAnwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts (jetzt: Unionsrechts) legen. auf die Rechtsprechung des EuGH zurück. Bsp: Rs „Van Gend & Loos“: Das niederländische Transportunternehmen Van Gend & Loos hatte vor einem niederländischen Gericht die niederländische Zollverwaltung geklagt, weil diese für die Einfuhr eines chemischen Erzeugnisses aus Deutschland einen gegenüber früheren Einfuhren erhöhten Zoll erhoben hatte. Das Unternehmen sah in dieser Praxis einen Verstoß gegen Artikel 12 EWGV (jetzt Art 30 AEUV), der den Mitgliedstaaten die Einführung neuer und die Erhöhung bestehender Zölle im Gemeinsamen Markt verbietet (siehe LE 5). Das niederländische Gericht setzte daraufhin das Verfahren aus und richtete an den EuGH eine Frage nach der Auslegung des Art 12 EWGV. Der EuGH urteilte (05.02.1963 Rs 26/62 Slg 1963, 1), dass die Gemeinschaft
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eine neue Rechtsordnung darstellt, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Im konkreten Fall gelangte der EuGH zum Ergebnis, dass Art 12 EWGV unmittelbar anwendbar ist und Rechte verleiht, die vor den nationalen Behörden geltend gemacht werden können. Das Unternehmen Van Gend & Loos konnte sich demnach mit Erfolg auf diese Vorschrift vor dem niederländischen Gericht berufen, welches den gemeinschaftsrechtswidrig erhobenen Zoll schließlich für ungültig erklärte. Nach Auffassung des EuGH ist eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts (jetzt: Unionsrecht) immer dann unmittelbar anwendbar, wenn sie so formuliert ist, dass keine Bedingungen daran geknüpft sind und zu ihrer Wirksamkeit keine weiteren Handlungen der Mitgliedstaaten oder der Unionsorgane mehr erforderlich sind. Unmittelbar anwendbar sind insbesondere die Grundfreiheiten (vgl zB EuGH 04.12.1974 Rs 41/74 [Van Duyn] Slg 1974, 1405 betreffend Arbeitnehmerfreizügigkeit) und die EUVerordnungen. Richtlinien sind demgegenüber grundsätzlich Die Grundfreiheiten und die EUnicht unmittelbar anwendbar; sie müssen in nationales Recht Verordnungen sind unmittelbar anwendbar. umgesetzt werden (siehe Punkt VI. B). Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind die Grundfreiheiten unmittelbar anwendbares Unionsrecht. Werner Welling kann sich vor der BH Bregenz unmittelbar auf die Grundfreiheiten berufen. Die BH muss diese bei ihrer Entscheidung genau so wie ein Gesetz berücksichtigen.
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C.
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Das Unionsrecht hat Vorrang
Wie bereits festgehalten, gilt in den Mitgliedstaaten nicht nur das jeweilige innerstaatliche Recht, sondern außerdem auch noch das Unionsrecht. Soweit sich diese beiden Rechtsordnungen nicht überschneiden, entsteht kein Problem. Jede Rechtsordnung regelt Lebenssachverhalte in ihrem Anwendungsbereich. Problematisch wird die Rechtsanwendung aber dann, wenn es Überschneidungen beim Anwendungsbereich gibt und wenn das innerstaatliche Recht einen Sachverhalt anders regelt als das Unionsrecht. In diesem Fall kommt es zu einer Kollision, die aufgelöst werden muss. Es muss also bestimmt werden, welches Recht in einem solchen Fall vorgeht. Der EuGH hat in der Rs „Costa/E.N.E.L.“ (siehe oben Punkt VII.A) entschieden, dass „dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten Nationales Recht, das unmittelbar innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen" können. anwendbarem Unionsrecht widerspricht, darf nicht angewendet Konsequenz des Vorrangs des Unionsrechts ist, dass nationawerden. les Recht, das unmittelbar anwendbarem Unionsrecht widerspricht, nicht angewendet werden darf. Das haben alle staatlichen Organe – also alle Gerichte und Verwaltungsbehörden – zu beachten. Sie müssen bei ihren Entscheidungen das Unionsrecht anwenden, auch – bzw gerade – dann, wenn es nationalem Recht widerspricht. Bsp: Die Rs „Costa/E.N.E.L.“ ist im Ergebnis so ausgegangen, dass die italienischen Behörden das Verstaatlichungsgesetz wegen Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nicht hät-
LE 3
Organisationsrecht der EU
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ten anwenden dürfen und daher Italien die Verstaatlichung wieder rückgängig machen musste.
Die BH Bregenz hätte zu prüfen, ob die von ihr anzuwendende Bestimmung des Vorarlberger Landschaftsschutzgesetzes, die vorschreibt, dass jeder Vermieter von Bootsliegeplätzen einen bestimmten Prozentsatz der Liegeplätze an Eigner von Booten, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, vermieten darf, dem Unionsrecht widerspricht. Da die Dienstleistungsfreiheit unmittelbar anwendbar ist, hätte die BH Bregenz jene Bestimmung, die diese Kontingentierung enthält und insoweit gegen die Dienstleistungsfreiheit verstößt, unangewendet lassen müssen (zur Dienstleistungsfreiheit siehe näher LE 5). (Dieser Fall ist der Rs „Ciola“ [EuGH 29.04.1999 Rs C-224/97 Slg 1999 I-02517] nachgebildet. Eine derartige Bestimmung gab es im Vorarlberger Landschaftsschutzgesetz jedoch nicht, die unionsrechtswidrige Kontingentierung war der Bootsvermietungsgesellschaft mittels Bescheid vorgeschrieben worden.)
92
LE 3
Organisationsrecht der EU
VIII. Weiterführende Literatur Craig/de Búrca, EU law. Text, Cases, and Materials4 (2008) Griller, Die Europäische Union – Ein staatsrechtliches pert/Pernice/Haltern (Hg), Europawissenschaft (2005)
Monstrum?,
in
Schup-
Griller/Ziller, The Lisbon Treaty – EU Constitutionalism without a Constitutional Treaty? (2008) Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht – Die Anwendung des Europarechts im innerstaatlichen Bereich3 (2006) Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht4 (2009) Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht – Das Recht der Europäischen Union (2007) Streinz, Europarecht8 (2008) Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU – Einführung mit Synopse3 (2010)
IX. Links <europa.eu> (Portal der Europäischen Union) (Europäischer Rat sowie Rat) <europarl.europa.eu> (Europäisches Parlament) <ec.europa.eu> (Europäische Kommission) <curia.europa.eu> (Gerichtshof der Europäischen Union) <eca.europa.eu> (Rechnungshof) <eib.europa.eu> (Europäische Investitionsbank) <eesc.europa.eu> (Wirtschafts- und Sozialausschuss) (Ausschuss der Regionen) (Europäischer Bürgerbeauftragter)
LE 3
X.
Organisationsrecht der EU
Wiederholungsfragen Hat die EU einen Außenminister? Wie hat sich die EU auf die Erweiterung vorbereitet? Was bedeutet „GASP“? Was versteht man unter "supranational"? Nennen Sie die Organe der EU! Was macht der Rat? Wie ist die Europäische Kommission aufgebaut? Wie wirkt das Europäische Parlament an der europäischen „Gesetzgebung“ mit? Was versteht man unter dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung? Was besagt das Subsidiaritätsprinzip? Welche Gerichte üben die Rechtsprechung im Rahmen der EU aus? Was versteht man unter primärem Unionssrecht? Welche Akte des abgeleiteten Unionsrechts gibt es? Enthält das Unionsrecht Grundrechte? Wodurch unterscheidet sich die Richtlinie von der Verordnung? Wer vollzieht das Unionsrecht? Müssen/dürfen EU-Verordnungen in nationales Recht umgesetzt werden? Was ist das Besondere am Unionsrecht? Was versteht man unter autonomer Geltung des Unionsrechts? Nennen Sie zwei Beispiele für unmittelbar anwendbares Unionsrecht. Müssen nationale Behörden und Gerichte EU-Recht anwenden? Geht nationales Recht dem Unionsrecht vor?
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LE 4
Grundrechte der Wirtschaft
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Lektion 4 GRUNDRECHTE DER WIRTSCHAFT
Autoreifenaktion: Nimm 4, zahl 2 Nehmen Sie an, Sie möchten in einer von Ihnen betriebenen Tankstelle mitsamt AutoZubehörgeschäft der Kundschaft ein besonderes „Zuckerl“ anbieten, um das Geschäft weiter anzukurbeln. Sie haben vor, im Rahmen einer Reifenaktion „Nimm 4, zahl 2“ vier neue, qualitativ hochwertige Autoreifen zum Preis von nur zwei anzubieten. Damit liegt zwar der Kaufpreis unter jenem Betrag, den Sie selbst für die Anschaffung zahlen müssen. Angesichts der wachsenden Konkurrenz sehen Sie jedoch keinen anderen Weg, Ihren Kundenstock zu halten und so am Markt zu „überleben“. Kurz nachdem Sie die ersten Inserate in die Zeitung und ins Internet gegeben haben, flattert bereits ein Brief der Rechtsabteilung Ihres Konkurrenten „Autohaus Forestinger“ ins Haus, in dem Sie aufgefordert werden, die Aktion „Nimm 4, zahl 2“ sofort einzustellen, widrigenfalls „Forestinger“ sich genötigt sieht, klagsweise gegen Sie vorzugehen. Zur Begründung wird auf folgende Bestimmung im Nahversorgungsgesetz verwiesen: „Wer im geschäftlichen Verkehr Waren zum oder unter dem Einstandspreis verkauft oder zum Verkauf anbietet, kann auf Unterlassung in Anspruch genommen werden ...“ Da Sie von diesem Gesetz unmittelbar betroffen sind, rät Ihnen ein rechtskundiger Bekannter, beim Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Aufhebung dieses Gesetzes wegen Verstoßes gegen die Grundrechte zu stellen. Welche Grundrechte werden Sie geltend machen? Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Was versteht man unter Grundrechten? Welche Grundrechte der Wirtschaft gibt es? Was und wovor schützen die (Wirtschafts-)Grundrechte? Wer wacht über die Einhaltung der Grundrechte? Welche Aufgaben und Kompetenzen hat der VfGH?
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Grundrechte der Wirtschaft
LE 4
Inhalt: I. A. B. C. D. 1. 2. 3. 4. E. F. II. A. 1. 2. B. 1. 2. C. III. A. 1. 2. B. 1. 2. 3. 4. C. IV. A. B. 1. 2. 3. 4. C. V. A. 1. 2.
Allgemeines zu den Grundrechten ........................................................................ 99 Was sind Grundrechte?............................................................................................. 99 Wo sind die Grundrechte geregelt?......................................................................... 100 Welche Grundrechte gibt es? .................................................................................. 100 Wen verpflichten die Grundrechte? ......................................................................... 102 Bindung der Gesetzgebung..................................................................................... 102 Bindung der Verwaltung und Gerichtsbarkeit .......................................................... 102 Fiskalgeltung der Grundrechte ................................................................................ 103 Mittelbare Wirkung zwischen Privatpersonen („Drittwirkung“)................................. 103 Wen berechtigen die Grundrechte?......................................................................... 103 Wer überwacht die Einhaltung der Grundrechte? ................................................... 104 Die Erwerbsfreiheit................................................................................................ 105 Schutzbereich der Erwerbsfreiheit und Eingriffe ..................................................... 105 Schutzbereich der Erwerbsfreiheit........................................................................... 105 Eingriffe in die Erwerbsfreiheit................................................................................. 106 Bindung der Gesetzgebung..................................................................................... 107 Gesetzesvorbehalt .................................................................................................. 107 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz......................................................................... 107 Bindung der Vollziehung ......................................................................................... 111 Die Eigentumsfreiheit............................................................................................ 113 Schutzbereich und Eigentumseingriffe .................................................................... 113 Schutzbereich.......................................................................................................... 113 Eigentumseingriffe................................................................................................... 113 Bindung der Gesetzgebung..................................................................................... 114 Gesetzesvorbehalt – Verhältnismäßigkeit ............................................................... 114 Verbot unverhältnismäßiger Enteignungen ............................................................. 114 Verbot unverhältnismäßiger Eigentumsbeschränkungen........................................ 115 Gebot der Entschädigung........................................................................................ 115 Bindung der Vollziehung ......................................................................................... 115 Der Gleichheitssatz ............................................................................................... 116 Rechtsquellen.......................................................................................................... 116 Bindung der Gesetzgebung..................................................................................... 116 Verbot, Gleiches unsachlicherweise ungleich zu regeln ......................................... 116 Verbot, Ungleiches unsachlicherweise gleich zu regeln.......................................... 117 Allgemeines Sachlichkeitsgebot .............................................................................. 118 Vertrauensschutz .................................................................................................... 118 Bindung der Vollziehung ......................................................................................... 119 Verfahrensgrundrechte......................................................................................... 121 Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 B-VG) .......... 121 Bindung der Gesetzgebung..................................................................................... 121 Bindung der Vollziehung ......................................................................................... 121
LE 4 3. B. 1. 2. C. VI. A. B. C. 1. 2. D. 1. 2. VII. VIII.
Grundrechte der Wirtschaft
Der EuGH als gesetzlicher Richter.......................................................................... 122 Recht auf ein faires Verfahren (Art 6 EMRK) .......................................................... 122 Anwendungsbereich des Art 6 EMRK ..................................................................... 122 Gewährleistungsumfang.......................................................................................... 123 Weitere Verfahrensgrundrechte .............................................................................. 123 Der VfGH als Hüter der Bundesverfassung ........................................................ 124 Einleitung................................................................................................................. 124 Zuständigkeit ........................................................................................................... 125 Organisation ............................................................................................................ 125 Mitglieder (Art 147 B-VG) ........................................................................................ 125 Spruchkörper ........................................................................................................... 126 Ausgewählte Verfahrensarten ................................................................................. 126 Verordnungs- und Gesetzesprüfung (Art 139 u 140 B-VG)..................................... 126 Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit (Art 144 B-VG).................................................. 128 Weiterführende Literatur....................................................................................... 131 Wiederholungsfragen............................................................................................ 131
97
LE 4
Grundrechte der Wirtschaft
I.
Allgemeines zu den Grundrechten
A.
Was sind Grundrechte?
99
Grundrechte sind verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte (vgl Art 144 B-VG). Es handelt sich um subjektive Rechte, dh um Rechte des Einzelnen. Sie sind regelmäßig in einem rechtlichen Verfahren durchsetzbar. Ihre Grundlage haben die Grundrechte = verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte Grundrechte in Vorschriften mit Verfassungsrang. Grundrechte wirken in erster Linie als staatsgerichtete Abwehrrechte. Damit schaffen sie für den Bürger einen Freiheitsraum gegenüber Eingriffen durch den Staat. Sie setzen dem Handeln des Staates in allen seinen Erscheinungen Grenzen. Bsp: Das Grundrecht der Meinungsfreiheit verbietet dem Staat – etwa einer Verwaltungsbehörde – auf den Inhalt von politischer Berichterstattung Einfluss zu nehmen. Aus der Wirkung der Grundrechte als Abwehrrechte folgen in der Regel Unterlassungspflichten für den Staat. Es können aus den Grundrechten aber gelegentlich auch positive Handlungspflichten (Gewährleistungspflichten) folgen, die den Grundrechte wirken in erster Linie als Staat zu einem Handeln verpflichten, das erst die Abwehrrechte gegen den Staat. Inanspruchnahme des Grundrechts ermöglicht. Zumeist kann den Grundrechten allerdings nicht entnommen werden, in welcher Weise der Staat seine Handlungspflicht zu erfüllen hat. Insofern verbleibt ihm ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum. Solche Handlungspflichten treten in verschiedenen Konstellationen auf, von denen hier nur zwei wesentliche erwähnt werden: 1. Bestimmte Grundrechte können nicht ohne Tätigwerden des Staates in Anspruch genommen werden. Hier folgt aus dem Grundrecht, dass der Staat die Voraussetzungen für die grundrechtliche Gewährleistung schaffen muss. Bsp: Die Verfahrensgrundrechte setzen voraus, dass der Staat Gerichte einrichtet, sie mit Richtern besetzt und die Gerichtsorganisation und das –verfahren gesetzlich regelt. Das geheime Wahlrecht verpflichtet den Staat, durch geeignete Vorkehrungen („blickdichte“ Wahlzellen) sicherzustellen, dass das Wahlgeheimnis gewahrt bleibt. Eine Gruppe bilden hier die sog Institutsgarantien, die voraussetzen, dass der Staat den rechtlichen Rahmen für bestimmte Einrichtungen zur Verfügung stellt. Bsp: Die Eigentumsfreiheit verlangt, dass der Staat eine Eigentumsordnung schafft. Das Recht auf Eheschließung setzt voraus, dass die Rechtsordnung Voraussetzungen und Folgen einer Ehe regelt. 2. Der Staat ist verpflichtet, die Grundrechte vor Eingriffen von dritter, nichtstaatlicher Seite zu schützen (Schutzpflicht). Bsp: Der Staat ist verpflichtet, gegen die Gefahren durch den Straßenverkehr geeignete Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Bürger zu treffen. Aus dem Recht auf Le-
100
Grundrechte der Wirtschaft
LE 4
ben (vgl Art 2 EMRK) folgt aber nicht, welche Maßnahmen im Einzelnen (zB Gurtpflicht, Tempolimit) getroffen werden müssen.
B.
Wo sind die Grundrechte geregelt?
Die Grundrechte sind üblicherweise integraler Bestandteil einer Verfassungsurkunde und stehen in einer solchen an prominenter Stelle (zB Art 1 ff Bonner Grundgesetz). Auf Grund der „Zersplitterung“ der österreichischen Bundesverfassung in Wichtige Rechtsquellen der Grundrechte zahlreiche Verfassungsgesetze und Verfassungsbestimmungen sind das StGG, die EMRK, das B-VG sowie spezielle Gesetze wie das als Teile „einfacher“ Gesetze (Näheres dazu in LE 2) enthält die Datenschutzgesetz oder das BVG Verfassung der Republik Österreich keinen einheitlichen und Persönliche Freiheit abschließenden Grundrechtskatalog, sondern besteht aus zahlreichen Grundrechtsquellen. Die bedeutendsten sind das Staatsgrundgesetz 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (StGG) sowie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der seit 1964 in Österreich in Verfassungsrang steht. Somit können auch Konventionsrechte, wie etwa Art 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte vor dem VfGH geltend gemacht werden. Bedeutende Grundrechte finden sich auch im Stammgesetz der österreichischen Bundesverfassung, dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG vom 1. 10. 1920), zB der Gleichheitsgrundsatz in Art 7 Abs 1 B-VG (siehe auch Art 2 StGG) oder das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 B-VG). Ein Beispiel für ein Grundrecht in einem ansonsten „einfachen“ Gesetz ist das Grundrecht auf Datenschutz nach § 1 Datenschutzgesetz. Ein Beispiel für ein in einem eigenen Bundesverfassungsgesetz geregeltes Grundrecht ist das BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit (siehe auch Art 5 EMRK).
C.
Welche Grundrechte gibt es?
Die Grundrechte lassen sich nach ihrem Inhalt einteilen in: x
Freiheitsrechte; die Freiheitsrechte lassen sich – wiederum entsprechend dem Inhalt ihrer Gewährleistung – unterteilen in Fundamentalgarantien (Recht auf Leben, Folterverbot, Verbot der Zwangs- und Pflichtarbeit), in sonstige Rechte der Person (zB das Recht auf persönliche Freiheit, Recht auf Freizügigkeit, Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens, Hausrecht, Religionsfreiheit etc), in Grundrechte des Gemeinschaftslebens (Kommunikationsfreiheiten, Wissenschaftsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Kunstfreiheit etc) und in Grundrechte des Wirtschaftslebens (Erwerbsfreiheit, Eigentumsfreiheit, Liegenschaftsfreiheit und Freizügigkeit des Vermögens);
x
Gleichheitsrechte (zB allgemeiner Gleichheitssatz, BVG Rassendiskriminierung etc);
x
Verfahrensgarantien (zB Recht auf Zugang zu Gericht, Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter etc);
LE 4
Grundrechte der Wirtschaft
101
x
Politische Rechte (zB Wahlrecht, Petitionsrecht etc);
x
Soziale Grundrechte (= subjektive verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte, die dem Einzelnen einen Anspruch auf soziale Leistung durch den Staat geben, zB Recht auf Arbeit oder Recht auf Wohnung). Die österreichische Bundesverfassung sieht solche Rechte nicht vor. Aus Freiheits- und Gleichheitsrechten können aber in gewissem Maße Ansprüche mit sozialem Bezug („Teilhaberechte“) abgeleitet werden.
Die Darstellung von einzelnen Grundrechten beschränkt sich im vorliegenden Kapitel auf die für die Wirtschaft in besonderer Weise relevanten Grundrechte der Erwerbsfreiheit, der Eigentumsfreiheit und des Gleichheitssatzes. Zudem werden wichtige Verfahrensgrundrechte erläutert.
Wichtige Grundrechte des österreichischen Verfassungsrechts Freiheitsrechte
•Fundamentalgarantien (Recht auf Leben, Folterverbot, Verbot der Zwangsund Pflichtarbeit)
•Sonstige Rechte der Person (das Recht auf persönliche Freiheit, Recht auf Freizügigkeit, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Hausrecht, Religionsfreiheit, etc)
•Grundrechte des Gemeinschaftslebens (Kommunikationsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Kunstfreiheit, etc)
•Grundrechte des Wirtschaftslebens (Erwerbsfreiheit, Eigentumsfreiheit, Liegenschaftsfreiheit und Freizügigkeit des Vermögens) Gleichheitsrechte
(zB allgemeiner Gleichheitssatz, BVG Rassendiskri-
minierung, …)
Verfahrensrechte
(zB Recht auf Zugang zu Gericht, Recht auf den ge-
setzlichen Richter, …)
Politische Rechte
(zB Wahlrecht, Petitionsrecht, …)
[Soziale Rechte] (im österr. Verfassungsrecht nicht ausdrücklich enthalten; Teilhaberechte aus best. Grundrechten)
102
D.
Grundrechte der Wirtschaft
LE 4
Wen verpflichten die Grundrechte?
Die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Grundrechte verpflichten den Staat in allen seinen Erscheinungsformen. Sie binden sowohl die Gesetzgebung als auch die Vollziehung (Verwaltungsbehörden, Gerichte).
1.
Bindung der Gesetzgebung
Die Bindungswirkung der Grundrechte gegenüber der (einfachen) Gesetzgebung ergibt sich aus ihrem Verfassungsrang. Ihr Inhalt ergibt sich aus dem jeweiligen Grundrecht. Dem Gesetzgeber kann verboten sein, die Ausübung einer grundrechtlichen Freiheit zu beschränken (zB Verbot, einen Zeitungsartikel zu zensieren). Er kann aber auch ermächtigt oder sogar verpflichtet sein, die Ausübung einer grundrechtlichen Freiheit zu beschränken (zB Ermächtigung, im Interesse der Sicherheit des Straßenverkehrs eine Ausbildung für Lastwagenfahrer vorzuschreiben). Die meisten Grundrechte stehen unter einem sog Gesetzesvorbehalt, der den einfachen Gesetzgeber ermächtigt, Grundrechte sowohl näher auszugestalten als auch zu beschränken. So heißt es beispielsweise in Art 6 Abs 1 StGG, dass jeder Staatsbürger „unter den gesetzlichen Bedingungen“ jeden Erwerbszweig ausüben kann. Nach Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist. Art 8 Abs 2 EMRK schränkt den Gesetzesvorbehalt allerdings dahingehend ein, dass gesetzliche Eingriffe zulässig sind, „die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche An die Grundrechte sind jede Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verwaltungsbehörde und jedes Gericht, aber auch die Gesetzgeber gebunden. Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“ Am Beispiel des Art 8 Abs 2 EMRK sieht man deutlich, dass dem Gesetzgeber bei Eingriffen in Grundrechte Grenzen gesetzt sind. Gesetzliche Beschränkungen von Grundrechten sind nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zulässig. Insbesondere muss das Gesetz, das in ein Grundrecht eingreift, verhältnismäßig sein. Eine gesetzliche Grundrechtsbeschränkung, die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht beachtet, verletzt das betreffende Grundrecht (siehe unten Punkt II.B.).
2.
Bindung der Verwaltung und Gerichtsbarkeit
Die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte binden auch die Verwaltungsbehörden und die Gerichte. Wenn demnach ein Gericht ein Urteil fällt bzw eine Verwaltungsbehörde einen Bescheid erlässt, dann muss die betreffende Behörde dabei die Grundrechte beachten. Insbesondere bedarf jeder behördliche Grundrechtseingriff einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung. Die Behörde darf auch nicht willkürlich handeln (siehe dazu unten Punkt IV.C.).
LE 4
3.
Grundrechte der Wirtschaft
103
Fiskalgeltung der Grundrechte
Der Staat ist nicht nur dann an die Grundrechte gebunden, wenn er hoheitlich tätig wird, also etwa Bescheide erlässt, sondern auch dann, wenn er wie ein Privater beispielsweise Verträge (zB Dienstverträge, Auftragsverträge) abschließt. Die Bindung des Staates als Träger von Privatrechten an die Grundrechte bezeichnet man auch als Fiskalgeltung der Grundrechte. Bsp: Die Gemeinde X möchte ein neues Rathaus bauen lassen und zu diesem Zweck entsprechende öffentliche Aufträge vergeben. Wegen der Bindung an den Gleichheitssatz darf die Gemeinde aus dem Kreis der sich um den Bauauftrag bewerbenden Unternehmen nicht einzelne Bewerber unsachlich bevorzugen.
4.
Mittelbare Wirkung zwischen Privatpersonen („Drittwirkung“)
Die Grundrechte binden den Staat, nicht jedoch auch Privatpersonen. Das heißt, ein Grundrecht vermag einer Privatperson keine unmittelbaren Ansprüche gegenüber einer anderen Privatperson einzuräumen. Ein Unternehmer kann sich also nicht gegenüber einem anderen Unternehmer unmittelbar auf ein Grundrecht berufen. Allerdings wirken die Grundrechte mittelbar zwischen Privatpersonen (mittelbare Drittwirkung). Einmal wirken sie über die Gesetze, die das Verhalten zwischen Privaten regeln und dabei die Grundrechte nicht verletzen dürfen. Außerdem wirken sie dadurch, dass die Behörden und Gerichte in ihren Entscheidungen, die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten betreffen, die Gesetze unter Beachtung der Grundrechte anwenden müssen. Bsp: Eine grundrechtskonforme Auslegung des § 879 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB), demzufolge ein Vertrag, der gegen die guten Sitten verstößt, ungültig ist, verbietet eine 30-jährige Konkurrenzverbotsklausel in einem Arbeitsvertrag, die den Arbeitnehmer für den Fall einer Kündigung verpflichtet, während der darauf folgenden 30 Jahre kein Konkurrenzunternehmen zu gründen oder für ein Konkurrenzunternehmen zu arbeiten. Ein derart umfassendes Konkurrenzverbot ist nämlich unsachlich bzw im Hinblick auf die Erwerbsfreiheit grundrechtswidrig.
E.
Wen berechtigen die Grundrechte?
Die Grundrechte schützen natürliche Personen (Menschen) und juristische Personen (zB Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung) vor unverhältnismäßigen Eingriffen durch den Staat. Die in der EMRK verankerten Auf die Grundrechte können sich grundsätzlich natürliche und juristische Grundrechte sind Jedermannsrechte, das heißt, dass sich Personen berufen, auf manche jedoch jedermann (= jede Person) darauf berufen kann. Einige im nur Inländer (bzw EU/EWR-Angehörige). StGG und B-VG verankerte Grundrechte sind dagegen als Staatsbürgerrechte verbrieft (zB Erwerbsfreiheit, Gleichheitssatz). Auf diese Grundrechte können sich nur inländische (natürliche und juristische) Personen berufen. Wegen des in der EU und auch im EWR geltenden Verbotes der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit können sich nach herrschender Lehre aber auch Personen mit Staatszugehörigkeit zu einem EU- bzw EWR-Mitgliedstaat auf solche Grundrechte berufen.
104
F.
Grundrechte der Wirtschaft
LE 4
Wer überwacht die Einhaltung der Grundrechte?
Die Überwachung der Einhaltung der Grundrechte obliegt vor allem dem Verfassungsgerichtshof (VfGH). So kann zum Beispiel ein (letztinstanzlicher) Bescheid, der eine Enteignung (Näheres dazu unter Punkt III.A.2.) vorsieht, wegen des Eingriffs Die Einhaltung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten in das Grundrecht auf Eigentumsfreiheit beim VfGH bekämpft Rechte überwacht vor allem der werden. Voraussetzung ist allerdings, dass zuvor alle Verfassungsgerichtshof (VfGH). Rechtsmittel (zB Berufung) erfolglos geblieben sind. Gelangt der VfGH zur Auffassung, dass der bei ihm bekämpfte Bescheid wegen Verstoßes gegen ein Grundrecht verfassungswidrig ist, dann hebt er den Bescheid auf. Der VfGH überwacht auch, dass die Gesetze (Verwaltungsgesetze, Zivilgesetze, Strafgesetze etc) grundrechtsbzw verfassungskonform sind (Näheres zur Organisation und zu den Kompetenzen des VfGH siehe unten Punkt VI.D.). Wenn ein Urteil eines Zivil- oder Strafgerichtes die Grundrechte missachtet, so kann dieses ebenfalls bekämpft werden, allerdings nicht beim VfGH, sondern vor dem jeweils übergeordneten ordentlichen Gericht und in oberster Instanz vor dem Obersten Gerichtshof (OGH), dies im Rahmen der Rechtsmittelgründe der jeweiligen Prozessordnung (vgl zB § 503 ZPO, § 281 StPO). Eine Verfassungsbeschwerde gegen Urteile der Gerichte gibt es in Österreich – anders als etwa in Deutschland – nicht. Verstößt ein Organ bei der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen die Grundrechte, so besteht im Verwaltungsbereich eine Beschwerdemöglichkeit beim örtlich zuständigen UVS.
LE 4
Grundrechte der Wirtschaft
II.
Die Erwerbsfreiheit
A.
Schutzbereich der Erwerbsfreiheit und Eingriffe
1.
Schutzbereich der Erwerbsfreiheit
105
Unter dem Schutzbereich eines Grundrechts versteht man den durch das Grundrecht geschützten Lebensbereich. Nach Art 6 Abs 1 StGG kann jeder Staatsbürger unter den gesetzlichen Bedingungen jeden Erwerbszweig ausüben. Jede Schutzbereich = der durch das Grundrecht geschützte Lebensbereich inländische natürliche Person (= jeder Österreicher) und jede
106
Grundrechte der Wirtschaft
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inländische juristische Person (zB österreichische Aktiengesellschaft, österreichische GmbH) hat demnach das Recht auf freie Erwerbsbetätigung. Das gilt auch für Personen mit Staatszugehörigkeit zu einem sonstigen EU- bzw EWR-Mitgliedstaat (zB deutsche Staatsbürger, italienische Kapitalgesellschaften etc). Sachlich geschützt wird jede selbständige oder unselbständige Tätigkeit, die auf wirtschaftlichen Erfolg gerichtet ist, also jede Art, Vermögen zu erwerben, Die Erwerbsfreiheit schützt jede Art, Vermögen zu erwerben. und nicht etwa nur eine gewerbliche Tätigkeit iSd GewO. Geschützt wird sowohl der Antritt einer Erwerbsbetätigung als auch deren Ausübung. Da Sie eine Tankstelle mitsamt Auto-Zubehörgeschäft betreiben, üben Sie eine Tätigkeit aus, die auf wirtschaftlichen Erfolg gerichtet ist, und unterliegen damit dem Schutz der Erwerbsfreiheit. Die Erwerbsfreiheit schützt nämlich nicht nur den Erwerbsantritt, sondern auch die Erwerbsausübung. Voraussetzung ist allerdings, dass Sie die österreichische Staatsbürgerschaft oder die Staatsbürgerschaft eines sonstigen EU- bzw EWRMitgliedstaates besitzen.
2.
Eingriffe in die Erwerbsfreiheit
Grundrechtseingriff ist jeder staatliche Akt, der die grundrechtlich geschützte Sphäre (Schutzbereich) eines Grundrechtsträgers in belastender oder Grundrechtseingriff = jeder staatliche Akt, der den Schutzbereich belastet oder beschränkender Weise berührt. Beim Grundrecht der beschränkt Erwerbsfreiheit kann man je nach Eingriffsintensität drei Typen von Beschränkungen unterscheiden: 1. Objektive Zugangsbeschränkungen: Unter objektiven Zugangsbeschränkungen versteht man Schranken des Zugangs zu einer Erwerbstätigkeit, die der Betroffene aus eigener Kraft nicht überwinden kann. Objektive Zugangsbeschränkungen stellen besonders gravierende Eingriffe in die Erwerbsfreiheit dar. Bsp: Herr X darf das Rauchfangkehrergewerbe nur dann ausüben, wenn in dem betreffenden Gebiet ein Bedarf an Rauchfangkehrern besteht (sog Bedarfsprüfung). 2. Subjektive Zugangsbeschränkungen: Subjektive Zugangsbeschränkungen sind solche, die in der Person des Betroffenen liegen und die dieser aus eigener Kraft überwinden kann (insbesondere spezifische Ausbildungserfordernisse). Ein Gesetz, das subjektive Zugangsbeschränkungen festlegt, stellt einen gewichtigen Eingriff in die Erwerbsfreiheit dar, der allerdings in der Regel weniger schwer wiegt als eine objektive Zugangsbeschränkung. Bsp: Um das Gastgewerbe ausüben zu dürfen, muss Frau X ihre Befähigung zum Betreiben einer Gaststätte nachweisen (Näheres zum Befähigungsnachweis siehe LE 7). 3. Ausübungsschranken: Als dritten Beschränkungstyp lassen sich Ausübungsschranken festmachen. Diese reglementieren nicht den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit, sondern (nur) deren Ausübung. Sie stellen im Vergleich zu den objektiven und subjektiven
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107
Zugangsbeschränkungen regelmäßig weniger schwerwiegende Eingriffe in die Erwerbsfreiheit dar. Bsp: Auf Grund von Ladenschlussvorschriften muss Frau X ihr Geschäft täglich um 19:00 Uhr schließen. Wegen gesetzlich vorgeschriebener Werbeverbote darf der Zigarettenhersteller X seine Produkte nicht im Fernsehen bewerben.
Eingriffe in die Erwerbsfreiheit: obj. Zugangsbeschränkungen subj. Zugangsbeschränkungen Ausübungsbeschränkungen
Das Gesetz, das Ihnen den Verkauf der Autoreifen unter dem Einstandspreis verbietet, greift in die Ihnen verfassungsgesetzlich gewährleistete Erwerbsfreiheit ein, da es Ihnen eine bestimmte Vorgangsweise bei der Preiskalkulation vorgibt und Sie daher Ihrer Erwerbstätigkeit nicht nach eigenem Gutdünken nachgehen können. Da Ihnen nicht der Zugang zum Tankstellengewerbe untersagt wird, sondern (lediglich) das „Wie“ Ihres Geschäftsbetriebes reglementiert wird, handelt es sich nicht um eine Erwerbsantrittsschranke, sondern um eine Erwerbsausübungsschranke. Dem Gesetzgeber steht bei Regelung der Berufsausübung ein größerer rechtspolitischer Gestaltungsspielraum offen als bei Regelungen, die den Zugang zu einem Beruf (den Erwerbsantritt) beschränken, soweit durch solche die Ausübung einer Erwerbstätigkeit regelnden Vorschriften der Eingriff in die verfassungsgesetzlich geschützte Rechtssphäre weniger gravierend ist als durch Vorschriften, die den Zugang zum Beruf überhaupt behindern.
B.
Bindung der Gesetzgebung
Nicht jeder Eingriff in ein Grundrecht stellt eine Verletzung des Grundrechts dar. Vielmehr ist noch zu prüfen, ob der festgestellte Eingriff verfassungsmäßig oder verfassungswidrig ist.
1.
Gesetzesvorbehalt
Die Erwerbsfreiheit steht unter einem sog Gesetzesvorbehalt. Das heißt, dass das Grundrecht der Erwerbsfreiheit nicht absolut garantiert ist: Der Gesetzgeber darf die freie Erwerbsbetätigung beschränken. Die Erwerbsfreiheit steht dem Der Gesetzgeber darf unter bestimmten Voraussetzungen die Erwerbsfreiheit Wortlaut nach unter einem unbeschränkten beschränken. Gesetzesvorbehalt („unter den gesetzlichen Bedingungen“). Das bedeutet allerdings keineswegs, dass der Gesetzgeber jede nur erdenkliche Beschränkung der Erwerbsbetätigung anordnen dürfte. Vielmehr muss jede gesetzliche Beschränkung der Erwerbsfreiheit dem sog Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Das heißt, der Staat darf zwar die Erwerbsbetätigung reglementieren, er muss dabei aber im Hinblick auf die von der Verfassung garantierte Erwerbsfreiheit möglichst schonend vorgehen.
2.
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Jeder gesetzliche Eingriff in die Erwerbsfreiheit muss verhältnismäßig sein, andernfalls stellt er eine Verletzung des Grundrechts aus Art 6 StGG dar. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist beachtet, wenn das Gesetz ein öffentliches Interesse verfolgt, zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich ist und das Grundrecht nicht inadäquat einschränkt. In
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Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: öffentliches Interesse Geeignetheit Erforderlichkeit Adäquanz
der Abwägung des öffentlichen Interesses mit der Grundrechtseinschränkung muss die Bedeutung des öffentlichen Interesses umso gewichtiger sein, je höher die Eingriffsintensität – siehe die oben genannten Beschränkungstypen – ist. Je geringer die Eingriffsintensität ist, desto größer ist der Gestaltungsspielraum, den der Gesetzgeber bei der Beschränkung der Erwerbsfreiheit hat. a.
Öffentliches Interesse
Das Ziel der gesetzlichen Regelung muss im öffentlichen Interesse liegen. Dabei kann das öffentliche Interesse in vielerlei Hinsicht bestehen (zB Umweltschutz, Konsumentenschutz, öffentliche Ordnung etc). Der Verfassungsgerichtshof prüft dieses Kriterium nicht sehr streng, sondern respektiert hier einen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers (sog „Vertretbarkeitskontrolle“). Da die Erwerbsfreiheit unter einem Gesetzesvorbehalt steht, dieser aber nicht zu jedweder Einschränkung der Erwerbsfreiheit ermächtigt, ist zu prüfen, ob sich die angefochtene Regelung noch im Rahmen des Gesetzesvorbehaltes hält oder aber diesen überschreitet. Mit anderen Worten: Es ist zu prüfen, ob die bekämpfte Vorschrift verhältnismäßig ist. Zunächst stellt sich dabei die Frage, ob das Ziel der Regelung im öffentlichen Interesse liegt. Man könnte argumentieren, dass das Verbot des Verkaufes unter dem Einstandspreis die Ausnutzung spezifischer Wettbewerbsvorteile, die größere Unternehmen gegenüber kleineren und mittleren Unternehmen haben, in Grenzen halten soll. Durch die Verhinderung der Verdrängung kleinerer und mittlerer Unternehmen vom Markt soll die Aufrechterhaltung einer allgemein als notwendig angesehenen ausreichenden Nahversorgung gesichert werden. Die angefochtene Regelung will aber offenbar auch vor unlauterem Wettbewerb durch Lockvogelwerbung oder irreführender Niedrigpreiswerbung schützen, was im Interesse des Konsumentenschutzes liegt. Der VfGH akzeptierte in einem Fall (VfSlg 12.379/1990), dem unser Fallbeispiel nachgebildet ist, alle diese Aspekte als im öffentlichen Interesse gelegen und konnte nicht finden, dass deren Verfolgung außerhalb des dem einfachen Gesetzgeber zukommenden rechtspolitischen Gestaltungsspielraums liegt. Kein öffentliches Interesse erkannte der VfGH demgegenüber in einer Verpflichtung der Hausbesitzer, neue Hausbrieffachanlagen auf ihre Kosten anbringen zu lassen, um auch privaten Zustellern die Verteilung von Postsendungen zu ermöglichen. Dies liege nämlich nicht im öffentlichen, sondern im Interesse dieser privaten Zusteller. b.
Geeignetheit
Das Gesetz, das die freie Erwerbsbetätigung beschränkt, muss zur Erreichung des im öffentlichen Interesse gelegenen Ziels geeignet sein. Auch bei der Beurteilung der Geeignetheit einer Beschränkung steht dem Gesetzgeber ein relativ weiter Gestaltungsspielraum zu. Bsp: Standortbeschränkungen für Einkaufszentren sind ein geeignetes Mittel zur Verhinderung des „Greißlersterbens“ und damit zur Verwirklichung einer funktionierenden Versorgungsinfrastruktur.
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Ein Werbeverbot für Kontaktlinsenoptiker ist demgegenüber kein geeignetes Mittel, um eine intensivere Konsultation von Fachärzten für Augenheilkunde im Zusammenhang mit dem Anpassen von Kontaktlinsen zu erreichen. Mitunter kann auch eine Bedarfsprüfung ein untaugliches Mittel darstellen: Im Gelegenheitsverkehrsgesetz war vorgesehen, dass für die Erteilung einer Konzession (= Bewilligung) für das Taxigewerbe eine Bedarfsprüfung erforderlich ist. Die Behörde musste dabei auf die Bevölkerungszahl, die Anzahl der bereits bestehenden Taxikonzessionen, einen funktionsfähigen Straßenverkehr, auf Bequemlichkeit und Wartezeiten für die Fahrgäste Bedacht nehmen. Der VfGH (VfSlg 10.932/1986) gelangte zu dem Ergebnis, dass ein funktionstüchtiger Taxiverkehr gewiss im öffentlichen Interesse liege. Die Bestimmung über die Bedarfsprüfung bei der Verleihung von Taxikonzessionen sei allerdings ein untaugliches Mittel zur Durchsetzung der vom Gesetz verfolgten öffentlichen Interessen. Sie diene nur dem Konkurrenzschutz und sei daher mit dem Grundrecht der Erwerbsfreiheit nicht vereinbar. Ist die bekämpfte Regelung zur Erreichung des im öffentlichen Interesse liegenden Zieles (funktionierender Leistungswettbewerb, Nahversorgungssicherung, Konsumentenschutz) geeignet? Der VfGH beantwortete diese Frage wie folgt (VfSlg 12.379/1990): Angesichts des Umstandes, dass eine Reihe von ernstzunehmenden Stimmen in der in- und ausländischen Literatur das Verbot des Verkaufs unter dem Einstandspreis für geeignet hält, den Intentionen eines funktionierenden Leistungswettbewerbs und dem Ziel des Verbraucherschutzes zu dienen, kann nicht davon gesprochen werden, dass die bekämpfte Regelung zur Zielerreichung absolut untauglich ist und schon deswegen der verfassungsrechtlich festgelegten Erwerbsausübungsfreiheit widerspricht. Der VfGH hielt es auch nicht für ausgeschlossen, dass die Regelung – wenn auch nicht immer – einen Schutz kleinerer Handelsbetriebe gegenüber Großunternehmen bewirkt. c.
Erforderlichkeit
Aus den geeigneten Mitteln muss der Gesetzgeber das gelindeste wählen, das heißt jenes, das das Grundrecht so wenig wie möglich einschränkt. Mit anderen Worten: Das betreffende Gesetz muss erforderlich sein, um das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel zu erreichen. In Betracht zu ziehen sind allerdings nur solche gelinderen Mittel, die in gleicher Weise geeignet sind, das öffentliche Interesse zu verwirklichen. Zu beachten ist, dass der VfGH die Erforderlichkeitsprüfung nur bei Erwerbsantrittsbeschränkungen durchführt. Bsp: Eine Bedarfsprüfung für Fahrschulen ist nicht das gelindeste Mittel, um eine möglichst fundierte Ausbildung für KFZ-Lenker zu sichern. Weniger eingriffsintensiv wären etwa gewerbepolizeiliche oder wettbewerbsrechtliche Regelungen. In unserem Fallbeispiel ist zu prüfen, ob die von Ihnen bekämpfte Regelung zur Erreichung der im öffentlichen Interesse gelegenen Ziele notwendig ist. Man wird es wohl zumindest als zweifelhaft betrachten können, dass ein umfassendes Verbot des Verkaufs unter dem Einstandspreis jenes Mittel ist, das die Erwerbsfreiheit zur Erreichung des vom
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Gesetzgeber angestrebten Ziels so wenig wie möglich einschränkt. Verbraucherschutz, funktionierender Leistungswettbewerb und Nahversorgungssicherung könnten wohl auch durch weniger einschneidende Regelungen sichergestellt werden, zB dadurch, dass nur Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung der Verkauf unter dem Einstandspreis untersagt wird. d.
Adäquanz (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn)
Eingriffe in die Erwerbsfreiheit müssen bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der sie rechtfertigenden Gründe adäquat (= verhältnismäßig) sein. Es muss zwischen dem öffentlichen Interesse und der durch den Eingriff beschränkten Grundrechtsposition eine angemessene Relation bestehen. Bei der Prüfung, ob ein Grundrechtseingriff adäquat ist, ist also eine Güterabwägung vorzunehmen. Je intensiver die Beschränkung der Erwerbsfreiheit ist, desto gewichtiger muss das öffentliche Interesse sein, zu dessen Gunsten der Grundrechtseingriff vorgenommen wird. Entsprechend den oben erläuterten Beschränkungstypen stellen objektive Zugangsbeschränkungen regelmäßig die intensivsten Eingriffe dar, weniger intensiv sind subjektive Zugangsbeschränkungen und relativ am wenigsten gewichtig sind Beschränkungen der Erwerbsausübung. Bsp: Das Interesse an einem einheitlichen Sperrhalbtag, der den Bediensteten die Vorhersehbarkeit der individuellen Arbeitszeit erleichtert, vermag nach Auffassung des VfGH die Beeinträchtigung der Erwerbsfreiheit des Unternehmers nicht aufzuwiegen und ist daher erwerbsfreiheitswidrig. Ein Verbot von Vertriebspartys und Haustürgeschäften für Kosmetika (vgl § 57 GewO) ist demgegenüber nach Auffassung des VfGH im Interesse des Konsumentenschutzes gerechtfertigt und nicht unverhältnismäßig. Konsumenten sollen nämlich nicht überrumpelt werden oder infolge eines psychologischen Drucks Bestellungen tätigen. Eine Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs in die Erwerbsfreiheit und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe (funktionierender Leistungswettbewerb, Nahversorgungssicherung, Verbraucherschutz) ergibt, dass die bekämpfte Regelung jedenfalls nicht adäquat bzw verhältnismäßig ist. Sie verbietet Ihnen als kleinerem Unternehmen nämlich den Verlustverkauf auch dann, wenn dieser notwendig ist, um am Markt zu überleben – etwa im Interesse des Erwerbs von Marktanteilen, zur Bewältigung eines finanziellen Engpasses oder zur Korrektur unternehmerischer Fehleinschätzungen, die zu einem „Sitzenbleiben auf dem Lager“ führen können. Angesichts dessen vertrat der VfGH in dem Fall, dem unser Fallbeispiel nachgebildet ist (VfSlg 12.379/1990), die Auffassung, dass die betreffende Regelung des Nahversorgungsgesetzes den Unternehmer im Kern seiner unternehmerischen Betätigung trifft. Die Folgen der – überdies von Unsicherheiten über den Begriff des Einstandspreises und den nachteiligen Folgen der Ermittlung dieses Preises belasteten – Regelung wiegen derart schwer, dass sie in Anbetracht der Unvollkommenheit der Zielerreichung als unverhältnismäßig gewertet werden müssen. Der VfGH hob daher die betreffende Regelung des Nahversorgungsgesetzes wegen Verstoßes gegen die Erwerbsfreiheit als verfassungswidrig auf.
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Anmerkung: Nach der heute geltenden Rechtslage ist nur Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung der Verkauf unter dem Einstandspreis untersagt: § 5 Abs 1 Z 5 Kartellgesetz 2005 sieht den sachlich nicht gerechtfertigten Verkauf von Waren unter dem Einstandspreis als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung an. Zuwiderhandlungen hat das Kartellgericht abzustellen (vgl § 26 Kartellgesetz 2005).
C.
Bindung der Vollziehung
Auch Bescheide und Urteile können, wenn sie den Antritt oder die Ausübung einer bestimmten Erwerbstätigkeit untersagen oder beschränken, die Erwerbsfreiheit verletzen. Bei Bescheiden ist dies dann der Fall, wenn die Auch Bescheide und Urteile können die Erwerbsfreiheit verletzen. Verwaltungsbehörde den Bescheid ohne gesetzliche Grundlage erlassen hat, aber auch dann, wenn das Gesetz, auf dem der Bescheid beruht, verfassungswidrig ist. Eine Grundrechtsverletzung wird schließlich auch dann bewirkt, wenn die Behörde das zugrunde liegende Gesetz in verfassungswidriger Weise oder krass gesetzwidrig auslegt bzw anwendet. Bsp: In Salzburg wurde ein Antrag auf Zulassung als RinderzuchtBesamungstechniker für ein bestimmtes Gemeindegebiet durch Bescheid unter Hinweis darauf abgewiesen, dass für das betreffende Gebiet bereits ein Besamungstechniker zugelassen sei und daher kein Bedarf im Sinne des Salzburger Rinderzuchtgesetzes für einen weiteren Besamungstechniker bestehe. Der VfGH, der in dieser Sache vom Antragsteller angerufen worden war (VfSlg 12.643/1991), gelangte zu dem Ergebnis, dass die Behörde dem Rinderzuchtgesetz fälschlicherweise einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt und damit den Antragsteller im Grundrecht auf Erwerbsfreiheit verletzt habe. Denn hätte das Rinderzuchtgesetz den von der Behörde angenommenen Inhalt, nämlich dass die Zulassung als Besamungstechniker zu verweigern ist, wenn der Bedarf nach der angestrebten Tätigkeit durch einen anderen bereits zugelassenen Besamungstechniker gedeckt ist, so wäre das Rinderzuchtgesetz erwerbsfreiheitswidrig. Es besteht nämlich – so der VfGH – kein besonderes öffentliches Interesse an einem Schutz der bereits rechtmäßig am Erwerbsleben Teilnehmenden vor Konkurrenz. Die im Salzburger Rinderzuchtgesetz vorgesehene Bestimmung, dass der für die Zulassung als Besamungstechniker erforderliche Bedarf als gegeben anzusehen ist, wenn die künstliche Besamung am Hof durch Tierärzte nicht in ausreichendem Umfang durchgeführt wird oder auf Grund großer Entfernung vom Sitz des Tierarztes unverhältnismäßige Kosten verursacht, ist nach Auffassung des VfGH vielmehr so zu verstehen, dass bei der Prüfung des Bedarfs ausschließlich auf die Versorgung des betreffenden Gemeindegebietes durch Tierärzte abzustellen ist. Das Salzburger Rinderzuchtgesetz bringt also insoweit lediglich die Subsidiarität (= Nachrangigkeit) der Besamungstechniker gegenüber den Tierärzten zum Ausdruck. Ein solches Verständnis des Salzburger Rinderzuchtgesetzes ist nach Auffassung des VfGH auch verfassungskonform, da der Vorrang der (akademisch veterinärmedizinisch umfassend ausgebildeten) Tierärzte gegenüber Besamungstechnikern sachlich gerechtfertigt ist und keine übermäßige Beeinträchtigung der Erwerbsfreiheit darstellt.
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Da nun aber die Behörde bei Erlassung des Bescheides das Salzburger Rinderzuchtgesetz nicht in dieser verfassungsrechtlich unbedenklichen Weise, sondern fälschlicherweise erwerbsfreiheitswidrig ausgelegt hat, ist der Antragsteller im Grundrecht auf Erwerbsfreiheit verletzt worden, weshalb der Bescheid vom VfGH wegen Grundrechtsverletzung schließlich aufgehoben wurde.
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III. Die Eigentumsfreiheit A.
Schutzbereich und Eigentumseingriffe
1.
Schutzbereich
Die österreichische Verfassung schützt nicht nur die Erwerbsbetätigung, sondern auch das Eigentum, das für einen Wirtschaftstreibenden mindestens ebenso wichtig ist. Nach Art 5 StGG ist das Eigentum unverletzlich. Eine Enteignung gegen den Willen des Eigentümers kann nur in den Fällen und in der Art eintreten, welche das Gesetz bestimmt. Auch Art 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (ZPEMRK) sieht einen Schutz des Eigentums vor. Auf die verfassungsgesetzlich geschützte Eigentumsfreiheit kann sich jedermann (= jede natürliche und jede juristische Person unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit) berufen. Gegenstand des Eigentumsschutzes sind alle Die Eigentumsfreiheit schützt alle vermögenswerten Rechte. vermögenswerten Rechte. Geschützt sind nicht nur vermögenswerte Privatrechte wie das Eigentum an einer Sache, das Mietrecht, das Pachtrecht, das Urheberrecht. Auch öffentlich-rechtliche Ansprüche können in den Schutzbereich der Eigentumsfreiheit fallen, und zwar jedenfalls dann, wenn dem betreffenden Anspruch eine Leistung (zB Beitragszahlungen etc) des Anspruchsberechtigten gegenübersteht. So sind beispielsweise auch der Anspruch auf Notstandshilfe oder öffentlich-rechtliche Gehaltsansprüche geschützt. Der Schutzbereich der Eigentumsfreiheit umfasst das Recht, Eigentum zu erwerben und darüber zu verfügen. Außerdem schützt das Grundrecht die Privatautonomie schlechthin (= das Recht zum Abschluss von privatrechtlichen Verträgen). Durch das Verbot des Verkaufes unter dem Einstandspreis werden Sie in Ihrem Recht, Ihre Reifen zu einem von Ihnen selbst festgesetzten Preis zu verkaufen, und damit in Ihrer Privatautonomie beschränkt. Die Privatautonomie wird von der Eigentumsfreiheit geschützt, sodass insoweit ein Eigentumseingriff vorliegt.
2.
Eigentumseingriffe
Ein Eingriff in das Eigentum liegt dann vor, wenn ein durch das Grundrecht geschütztes Recht entzogen oder beschränkt wird. Zwei Eingriffsarten sind zu unterscheiden: 1. Von einer Enteignung wird dann gesprochen, wenn dem Eigentümer eine Sache oder ein vermögenswertes Recht durch einen hoheitlichen Grundrechtseingriff = jeder staatliche Akt (Gesetz, Bescheid etc) entzogen wird und auf Akt, der den Schutzbereich belastet oder einen anderen bzw den Staat übertragen wird. Zu beschränkt einer Enteignung kann es zum Beispiel dann kommen, wenn der Staat eine Schnellstraße errichten will, die über fremde Grundstücke verlaufen soll, deren Eigentümer jedoch zu einem Verkauf nicht bereit sind. 2. Eine bloße Eigentumsbeschränkung liegt dann vor, wenn das Eigentumsrecht nicht entzogen, sondern lediglich die Ausübung des Eigentumsrechts eingeschränkt wird.
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Bsp: Ein Gebäude wird unter Denkmalschutz gestellt. In einem solchen Fall ist der Eigentümer in der Nutzung seines Gebäudes nicht mehr völlig frei, sondern ist an die Auflagen des Denkmalamtes gebunden. Eigentumsbeschränkungen können allerdings in ihren Wirkungen auch so weit gehen, dass sie praktisch einer Entziehung des Eigentums gleichkommen. Solche Eigentumsbeschränkungen mit enteignungsgleicher Wirkung werden auch als materielle Enteignungen bezeichnet.
Bloße Eigentumsbeschränkungen können in ihrer Wirkung einer Enteignung gleichkommen.
Bsp: Ein Grundstück, das bislang als Bauland gewidmet ist, wird in Grünland umgewidmet und obendrein mit einer Bausperre versehen. Da der Eigentümer somit in Hinkunft sein Grundstück nicht mehr sinnvoll nutzen kann, bewirkt die Eigentumsbeschränkung praktisch eine Enteignung. Das Verbot des Verkaufes unter dem Einstandspreis bewirkt keine Enteignung, weil durch diese Vorschrift ja nicht eine Sache oder ein Recht entzogen und einem anderen übertragen wird. Es bewirkt allerdings eine Eigentumsbeschränkung, da es Sie in der Ausübung Ihrer Privatautonomie beeinträchtigt.
B.
Bindung der Gesetzgebung
1.
Gesetzesvorbehalt – Verhältnismäßigkeit
Wie die Erwerbsfreiheit ist auch die Eigentumsfreiheit nicht absolut geschützt. Das heißt, dass der Gesetzgeber die Eigentumsfreiheit beschränken darf, Der Gesetzgeber darf unter bestimmten Voraussetzungen die Eigentumsfreiheit allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen. Konkret einschränken. muss der Staat bei Eingriffen in das Grundrecht auf Eigentumsfreiheit den – schon mehrfach erwähnten – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten. Das gilt sowohl für Enteignungen als auch für bloße Eigentumsbeschränkungen.
2.
Verbot unverhältnismäßiger Enteignungen
Eine Enteignung ist nur dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn sie einem öffentlichen Interesse dient und verhältnismäßig ist. Der VfGH hat für Enteignungen dieses Erfordernis noch weiter konkretisiert. Eine Enteignung ist nur unter folgenden Voraussetzungen verfassungskonform: 1. Es muss ein konkreter Bedarf vorliegen, dessen Deckung im öffentlichen Interesse liegt. 2. Das zu enteignende Objekt muss zur Deckung dieses Bedarfs geeignet sein. 3. Es muss unmöglich sein, diesen Bedarf anders als durch Enteignung zu decken. Bsp: Wenn der Staat zum Zwecke der Errichtung einer Schnellstraße Grundeigentümer enteignen möchte, so müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Es muss einen konkreten Bedarf für den Bau der betreffenden Schnellstraße geben. Der Bau der Schnellstraße muss im öffentlichen Interesse (zB Verkehrsinteresse) liegen. Die zu enteignenden Grundstücke müssen von der Lage und Beschaffenheit her zum Stra-
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ßenbau geeignet sein. Es darf keine andere Möglichkeit als die Enteignung geben. Das ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn auch eine gütliche Einigung mit den betreffenden Grundstückseigentümern möglich ist oder wenn die Straßentrasse verlegt werden kann.
3.
Verbot unverhältnismäßiger Eigentumsbeschränkungen
Genauso wie Enteignungen müssen auch bloße Eigentumsbeschränkungen einem öffentlichen Interesse dienen und verhältnismäßig sein, widrigenfalls die Eigentumsfreiheit verletzt wird.
Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen verletzen die Eigentumsfreiheit dann, wenn sie unverhältnismäßig sind.
Bsp: Wenn ein Gebäude unter Denkmalschutz gestellt wird, dann dürfen die Nutzungsbeschränkungen nur so weit gehen, wie dies im Interesse des Denkmalschutzes unbedingt notwendig ist. Das gesetzliche Verbot des Verkaufes unter dem Einstandspreis verfolgt – wie schon zur Erwerbsfreiheit ausgeführt – ein öffentliches Interesse in geeigneter Weise. Die Abwägung zwischen der Schwere der Eigentumsbeschränkung und dem Gewicht der rechtfertigenden Gründe ergibt einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Eigentumsfreiheit, so dass auch dieses Grundrecht verletzt ist.
4.
Gebot der Entschädigung
Weder Art 5 StGG noch Art 1 1. ZPEMRK räumen den Grundrechtsträgern im Fall von Eingriffen in ihr Eigentum ausdrücklich einen Anspruch auf finanzielle Entschädigung ein. Der EGMR leitet allerdings aus Art 1 1. ZP-EMRK ab, dass jeder Eigentumseingriff eines gerechten Ausgleichs zwischen den Allgemeininteressen und dem Grundrechtsschutz des Einzelnen bedarf; eine Enteignung ohne angemessene Entschädigung bildet im Hinblick auf den geforderten Ausgleich regelmäßig einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Eigentum. Der VfGH hat sich dem in seiner jüngsten Rechtsprechung angeschlossen und hält eine Entschädigung ebenso für geboten. Die meisten Enteignungsgesetze (vgl zB § 18 Bundesstraßengesetz) sehen aber ohnehin eine entsprechende Entschädigung vor. Wenn die enteignete Sache nicht innerhalb einer angemessenen Frist dem vorgesehenen Zweck zugeführt wird, so besteht eine Pflicht zur Rückübereignung.
C.
Bindung der Vollziehung
Entsprechend der Bescheidprüfungsformel des VfGH verletzt ein in das Eigentum eingreifender Bescheid das Grundrecht, wenn er gesetzlos ergeht, sich auf eine verfassungswidrige Rechtsgrundlage stützt oder eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage denkunmöglich anwendet. Bsp: Ein Grundeigentümer wird auf Grund des Bundesstraßengesetzes mittels Bescheid enteignet, damit der Staat sein Grundstück zur Anpflanzung von Bäumen entlang der geplanten Straße nutzen kann. Der Enteignungsbescheid verletzt in diesem Fall die Eigentumsfreiheit. Eine eigentumsfreiheitskonforme Auslegung des Bundesstraßengesetzes, welches die Möglichkeit einer Enteignung für den Bau von Bundes-
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straßen vorsieht, verbietet nämlich Enteignungen, die nicht dem Bundesstraßenbau, sondern bloß landschaftspflegerischen Interessen dienen sollen.
IV. Der Gleichheitssatz A.
Rechtsquellen
Die österreichische Bundesverfassung enthält an mehreren Stellen Grundrechte, die einen Status rechtlicher Gleichheit vor dem Gesetz verbürgen. Neben dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nach Art 7 B-VG und Art 2 StGG, der auf die gesamte Rechtsordnung ausstrahlt, gibt es eine Reihe von Ausprägungen der Rechtsgleichheit in der Form besonderer Gleichheitsgebote. Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz ist in Art 7 B-VG und nahezu wortgleich in Art 2 StGG verankert. Darin wird bestimmt, dass vor dem Gesetz alle Staatsbürger gleich sind. Durch die Rechtsprechung des VfGH wurde bald klargestellt, dass Art 7 B-VG nicht nur als Befehl zu gleicher Gesetzesanwendung zu verstehen ist, sondern auch unmittelbar an den Gesetzgeber adressiert ist. Nach dem BVG betreffend das Verbot rassischer Diskriminierung sind Gesetzgebung und Vollziehung verpflichtet, jede auf Rasse, Hautfarbe, Abstammung, nationaler oder ethnischer Herkunft gründende Ungleichbehandlung zu unterlassen; damit wurde der Gleichheitssatz auf die Behandlung von Fremden untereinander ausgedehnt. Ungleichbehandlungen zwischen Bürgern und Nichtbürgern (die keine rassische Grundlage haben) steht das BVG indes nicht entgegen. Das in Art 14 EMRK enthaltene Verbot der Benachteiligung wiederum hat keine generelle Wirkung, sondern garantiert (nur), dass die Rechte und Freiheiten der EMRK ohne Benachteiligung insbesondere aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe etc gewährleistet werden. Neben verfassungsrechtlichen Vorschriften kennt auch das Unionsrecht Gleichheitsverbürgungen. Spezifische Diskriminierungsgebote sind den Regeln über die Grundfreiheiten des Binnenmarktes zu entnehmen (siehe LE 5). Nach Art 18 AEUV besteht ein umfassendes Diskriminierungsverbot, das im Anwendungsbereich des Unionsrechts die Schlechterstellung von Unionsbürgern gegenüber Inländern untersagt. Gegen die Schlechterstellung von Inländern gegenüber sonstigen Unionsbürgern sind die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote nicht gerichtet. Der VfGH erachtet eine solche „Inländerdiskriminierung“ aber im Regelfall als Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nach Art 7 B-VG bzw Art 2 StGG und damit als verfassungswidrig.
B.
Bindung der Gesetzgebung
1.
Verbot, Gleiches unsachlicherweise ungleich zu regeln
Der Gleichheitssatz fordert, dass der Gesetzgeber gleiche Sachverhalte gleich behandelt. Damit ist es dem Gesetzgeber verboten, andere als sachlich begründbare Differenzierungen zu schaffen. Gesetzliche Differenzierungen müssen stets Unterschieden im Tatsächlichen
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entsprechen. Über die in Art 7 Abs 1 B-VG genannten verbotenen Differenzierungsmerkmale (Geburt, Geschlecht, Stand, Klasse, Bekenntnis) hinaus ist heute auch jede Differenzierung aus anderen Gründen gleichheitswidrig, wenn sie nicht durch Der Gleichheitssatz verbietet, andere als Unterschiede im Tatsächlichen begründet ist. Eine mögliche sachlich begründbare Differenzierungen zu schaffen. Verletzung des Gleichheitssatzes wird also in zwei gedanklichen Schritten geprüft: Zunächst ist festzustellen, ob eine rechtliche Differenzierung vorliegt. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob Unterschiede im Tatsächlichen diese unterschiedliche rechtliche Behandlung rechtfertigen (Abwägung). Bsp: Im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz war vorgesehen, dass einer Witwe eine Pension nach ihrem verstorbenen Ehemann auch dann zusteht, wenn dieser für ihren Lebensunterhalt bisher nicht gesorgt hatte. Demgegenüber bekam ein Witwer eine Pension nach seiner verstorbenen Ehefrau nur dann, wenn er erwerbsunfähig sowie bedürftig war und die Ehefrau bisher seinen Lebensunterhalt bestritten hatte. Der VfGH hob die Regelung als gleichheitswidrig auf. Die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in Bezug auf Witwer- bzw Witwenpensionen findet nämlich keine Deckung in Unterschieden in den tatsächlichen Verhältnissen. Die betreffende Regelung ging noch vom Modell der Hausfrauenehe aus, welches jedoch nicht mehr der Realität entspricht. Heutzutage sind Frauen ebenso wie Männer berufstätig. Insoweit darf es daher auch keine Ungleichbehandlung in Bezug auf die Regelung von Witwer- bzw Witwenpensionen geben. Auch unterschiedliche Pensionsantrittsalter für Männer und Frauen hat der VfGH als gleichheitswidrig eingestuft. Ein Nachtarbeitsverbot für Frauen hat der VfGH als sachlich gerechtfertigt angesehen, mit der Begründung, dass Frauen einem stärkeren Druck zur Nachtarbeit unterliegen, die es ihnen ermöglicht, sich tagsüber häuslichen Angelegenheiten zu widmen. Diese Rechtsansicht widerspricht jedoch nunmehr dem Unionsrecht. Das österreichische Nachtarbeits-Anpassungsgesetz sieht dementsprechend eine geschlechtsneutrale Regelung der Nachtarbeit vor. Zum Zweck der Herstellung von Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen im Erwerbsleben sind allerdings unter bestimmten Voraussetzungen gezielte Bevorzugungen von Frauen (sog Quotenregelungen, denen zufolge einer Bewerberin um eine Anstellung gegenüber einem gleich qualifizierten männlichen Bewerber der Vorzug einzuräumen ist) nach Art 7 Abs 2 B-VG zulässig (positive Diskriminierung) (vgl dazu auch LE 2).
2.
Verbot, Ungleiches unsachlicherweise gleich zu regeln
Der Gleichheitssatz verbietet es dem Gesetzgeber auch, Ungleiches unsachlicherweise gleich zu behandeln. Dementsprechend müssen wesentliche Unterschiede im Tatsächlichen zu entsprechenden unterschiedlichen Regelungen führen. Bsp: Wenn nach dem Gesetz Barbetriebe trotz ihrer von trieben unterschiedlichen Betriebsart zur gleichen Zeit zusperren müssen wie diese, so verstößt der Gesetzgeber gegen den Gleichheitssatz, da er Ungleiches unsachlicherweise gleich behandelt.
sonstigen GastgewerbebeDer Gleichheitssatz verbietet die unsachliche Gleichbehandlung von Ungleichem.
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Das Verbot des Verkaufes unter dem Einstandspreis verbietet Verlustverkäufe, die notwendig sind, um am Markt zu überleben, genauso wie reine Lockvogelangebote, die nur darauf abzielen, den Wettbewerb zu verfälschen. Das von Ihnen angefochtene Gesetz behandelt demnach Ungleiches gleich, ohne dass es dafür eine sachliche Rechtfertigung gäbe. Die betreffende Gesetzesvorschrift ist daher gleichheitswidrig.
3.
Allgemeines Sachlichkeitsgebot
Der Verfassungsgerichtshof hat den Gleichheitssatz zu einem allgemeinen Sachlichkeitsgebot weiterentwickelt. Das heißt, dass jeder Akt der Gesetzgebung sachlich gerechtfertigt sein muss. Der Gleichheitssatz kommt dementsprechend auch dann Der Gesetzgeber ist an ein allgemeines Sachlichkeitsgebot gebunden. zur Anwendung, wenn es gar nicht um vergleichbare Vorschriften, sondern nur um die Frage geht, ob eine Vorschrift in sich sachlich ist. So kann ein Gesetz zum Beispiel auch dann gegen den Gleichheitssatz verstoßen, wenn es zur Erreichung des angestrebten – im öffentlichen Interesse gelegenen – Zieles nicht geeignet oder aus anderem Grund nicht verhältnismäßig ist. Bsp: Der Verfassungsgerichtshof wertete die uneingeschränkte Pflicht zur Rückzahlung unberechtigt bezogenen Arbeitslosengeldes als unsachlich. Sachlich wäre seiner Auffassung nach eine Einschränkung dahingehend, dass den Bezieher ein Vorwurf treffen muss oder dass seine Leistungsfähigkeit auf Grund einer neuen Erwerbsquelle feststeht. Die Gleichheitswidrigkeit der von Ihnen angefochtenen Vorschrift lässt sich auch noch folgendermaßen begründen: Wie im Zusammenhang mit der Erörterung der Erwerbsfreiheit bereits festgestellt wurde, ist das Verbot des Verkaufes unter dem Einstandspreis nicht verhältnismäßig. Damit mangelt es auch an der Sachlichkeit der betreffenden Gesetzesvorschrift, deren Beachtung der Gleichheitssatz jedoch vorschreibt.
4.
Vertrauensschutz
Der VfGH leitet aus dem allgemeinen Gleichheitssatz auch ein verfassungsrechtliches Vertrauensschutzprinzip ab. Es schützt (in einem engen Rahmen) Der Gesetzgeber muss unter bestimmten das Vertrauen des Bürgers in die geltende Rechtslage, auf Voraussetzungen bei beabsichtigten Gesetzesänderungen auf das Vertrauen deren Grundlage er seine Dispositionen trifft. Allerdings ist dieder Bürger auf die bestehende Rechtslaser Vertrauensschutz schon deswegen begrenzt, da dem ge Rücksicht nehmen. Gesetzgeber die Möglichkeit zur Anpassung der Rechtsordnung erhalten bleiben muss. Drei Ausprägungen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzprinzips lassen sich festmachen: 1. Der Gesetzgeber darf nicht ohne sachliche Rechtfertigung Gesetze (zB Steuergesetze) rückwirkend in Kraft setzen. Ob ein rückwirkendes Gesetz verfassungswidrig ist, hängt insbesondere von der Schwere des Eingriffs in die Vertrauensposition und vom Gewicht der für die Rückwirkung sprechenden Gründe ab. 2. Der Gesetzgeber darf nicht beliebig in wohlerworbene Anwartschaften eingreifen, indem er (künftig) gebührende Leistungen (zB Pensionen) von heute auf morgen gravierend kürzt oder gar zur Gänze streicht. Immerhin haben diejenigen Personen, die
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zum Beispiel kurz vor der Pensionierung stehen oder bereits in Pension sind, im Vertrauen auf eine bestimmte Pensionshöhe über lange Zeit hinweg Pensionsversicherungsbeiträge bezahlt und auch die Planung ihrer Lebensführung dementsprechend ausgerichtet. 3. Ausnahmsweise und unter ganz besonderen Umständen (zB Veranlassung eines erheblichen Aufwandes durch die ursprüngliche Regelung) wird das Vertrauen in eine bestehende sonstige Rechtslage geschützt mit der Folge, dass der Gesetzgeber eine einmal geschaffene Rechtslage nicht ohne weiteres zum Nachteil der Betroffenen ändern darf. Einer Verletzung des Vertrauensgrundsatzes kann der Gesetzgeber durch die Schaffung von Übergangsvorschriften entgehen, die keine sofortige Änderung der Rechtslage, sondern eine bloß schrittweise Anpassung bewirken. Damit wird sichergestellt, dass sich die Bürger/Unternehmer auf die geänderten rechtlichen Verhältnisse rechtzeitig einstellen können. Bsp: Für Lastkraftwagen galt in Tirol ein Nachtfahrverbot, von dem lärmarme LKW ausgenommen waren. Viele Frächter rüsteten daher – unter erheblichem Investitionsaufwand – auf so genannte Flüster-LKW um. Plötzlich dehnte der Gesetzgeber das Nachtfahrverbot auch auf lärmarme LKW aus. Der VfGH wertete diese Ausdehnung des Nachtfahrverbotes als Verstoß gegen den gleichheitsrechtlichen Vertrauensgrundsatz, da durch die vorher normierte Ausnahme die Frächter zu Investitionen in lärmarme LKW geradezu motiviert worden waren und die positiven Umwelteffekte nur geringfügig waren.
C.
Bindung der Vollziehung
Der Gleichheitssatz bindet auch die Verwaltungsbehörden und Gerichte. Im Hinblick auf die Bindung der Verwaltung hat die Judikatur des VfGH aus dem Gleichheitssatz zum einen den die gesamte Verwaltung bindenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zum anderen das allgemeine Willkürverbot abgeleitet. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, dass je intensiver ein Verwaltungsakt in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreift, desto höhere Anforderungen an seine sachliche Rechtfertigung zu stellen sind. Das Willkürverbot ist von der Rechtsprechung nach Rechtsformen konkretisiert worden. Eine Verordnung als genereller Verwaltungsakt verletzt das Gleichheitsgebot, wenn sie auf einem gleichheitswidrigen Gesetz beruht oder wenn sie Differenzierungen schafft, die sachlich nicht gerechtfertigt sind. Für Bescheide hat der VfGH eine spezifische Form der Bescheidprüfungsformel entwickelt. Danach verletzt ein Bescheid den Gleichheitssatz, wenn er auf einem gleichheitswidrigen Gesetz beruht, die Behörde dem anzuwendenden Gesetz einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn sie Willkür übt. Willkür liegt nicht nur bei einem absichtlichen Zufügen von Unrecht („subjektive Willkür“) vor, sondern auch dann, wenn ein Bescheid durch ein gehäuftes oder gröbliches Verkennen der Rechtslage oder ein Verkennen der Rechtslage in einem entscheidenden Punkt in einem besonderen Maß mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht („objektive Willkür“).
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Bsp: Im Verfahren zur Erteilung der Betriebsanlagengenehmigung für eine Papierfabrik melden die Nachbarn massive Bedenken wegen Geruchsbelästigung und Gefährdung der Gesundheit an. Wenn die Behörde ohne jegliche Bezugnahme auf diese Einwendungen die Bewilligung erteilt, handelt sie willkürlich.
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V.
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Verfahrensgrundrechte
Die Verfahrensgrundrechte sichern dem Einzelnen die Durchsetzung seiner zahlreichen materiellen Rechte in fairen Verfahren, an denen dieser in einer verfahrensmäßig gesicherten Rechtsposition teilnehmen kann. Sie gewährleisten damit den im Rechtstaatlichkeitsprinzip der Bundesverfassung (siehe LE 2) verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes. Im Folgenden sollen mit dem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und mit dem Recht auf ein faires Verfahren die beiden wichtigsten Verfahrensgrundrechte skizziert werden.
A.
Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 B-VG)
Art 83 Abs 2 B-VG bestimmt, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Dieses Grundrecht, das ursprünglich Schutz gegen die sog „Kabinettsjustiz“ bieten sollte, also gegen Versuche des Monarchen, gerichtliche Verfahren an sich zu ziehen bzw nach Gutdünken Richter zu bestellen bzw abzusetzen, ist heute auf den Schutz und die Wahrung der gesetzlich begründeten Behördenzuständigkeit gerichtet. „Gesetzlicher Richter“ im Sinn dieses Grundrechts ist somit jede staatliche Behörde, das heißt jedes Gericht und jede Verwaltungsbehörde, die mit hoheitlichen Kompetenzen ausgestattet ist.
1.
Bindung der Gesetzgebung
Für den Gesetzgeber folgt aus Art 83 Abs 2 B-VG die Verpflichtung, die behördlichen Zuständigkeiten bereits im Gesetz ausreichend präzise festzulegen und so sicherzustellen, dass niemand im Einzelfall durch einen Akt der Vollziehung seinem gesetzlichen Richter entzogen werden kann. Dem aus Art 83 Abs 2 B-VG erfließenden Gebot strikter Zuständigkeitsgrenzen laufen auch konkurrierende Zuständigkeiten verschiedener Behörden zuwider. Bsp: Eine Regelung ist im Hinblick auf Art 83 Abs 2 B-VG verfassungswidrig, wenn sie je nach Einwohnerzahl einer Gemeinde unterschiedliche Berufungsbehörden vorsieht.
2.
Bindung der Vollziehung
Im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit haben die Gerichte die Einhaltung der gesetzlichen Zuständigkeitsregeln im Instanzenzug wahrzunehmen. Für die Verwaltung gilt, dass ein Bescheid einer Verwaltungsbehörde dann das Grundrecht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt und damit eine Sachentscheidung verweigert. Bsp: Eine Verletzung von Art 83 Abs 2 B-VG liegt etwa vor, wenn eine sachlich oder örtlich unzuständige Behörde entscheidet; eine Strafe nach eingetretener Verjährung verhängt wird; ein antragsbedürftiger Bescheid ohne entsprechenden Antrag erlassen wird.
122
3.
Grundrechte der Wirtschaft
LE 4
Der EuGH als gesetzlicher Richter
Weil der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art 267 AEUV (siehe dazu näher LE 9) ein „gesetzlicher Richter“ im Hinblick auf die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts ist, wird das Grundrecht auch verletzt, wenn ein vorlagepflichtiges Gericht gegen die Vorlagepflicht verstößt. In einem solchen Fall würde nämlich Verstoß gegen die Vorlagepflicht an den den Parteien insofern der gesetzliche Richter entzogen, als eine EuGH als Verletzung von Art 83 Abs 2 B-VG. dem EuGH vorbehaltene Frage nicht durch diesen gelöst werden könnte. Vorlagepflichtig ist ein Gericht, „dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“ (in Österreich jedenfalls VfGH, VwGH und OGH; beachte: bei Gültigkeitszweifeln in Bezug auf EUSekundärrecht sind alle Gerichte zur Vorlage verpflichtet) (siehe dazu näher LE 9).
B.
Recht auf ein faires Verfahren (Art 6 EMRK)
Art 6 EMRK enthält eine Reihe von verfahrensrechtlichen Mindestgarantien in Verfahren, in denen zivilrechtliche Ansprüche betroffen sind oder in denen es um eine strafrechtliche Anklage geht (Anwendungsbereich).
1.
Anwendungsbereich des Art 6 EMRK
Art 6 EMRK findet auf Streitigkeiten, die zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen („civil rights and obligations“) betreffen und auf Entscheidungen über strafrechtliche Anklagen Anwendung. Zur Bestimmung des Anwendungsbereichs müssen beide Begriffe als Begriffe eines völkerrechtlichen Vertrages (der EMRK) autonom, das heißt nicht im Sinne des nationalen Rechts ausgelegt werden. Zivilrechtliche Ansprüche im Sinne des Art 6 EMRK umfassen zunächst Streitigkeiten unter Privaten. Darüber hinaus fallen aber auch Verfahren, die im Voraussetzung für die Geltendmachung der Verfahrensrechte des Art 6 EMRK: innerstaatlichen Recht dem öffentlichen Recht zugeordnet Vorliegen zivilrechtlicher Ansprüche werden, in den Anwendungsbereich des Art 6 EMRK, wenn ihre oder strafrechtlicher Anklagen. Ergebnisse für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen unmittelbar entscheidend sind, wenn sie in die Erwerbstätigkeit einer Person eingreifen oder vermögenswerte Auswirkungen haben. Bsp: Ist das Eigentum betroffen, liegt in der Regel eine Entscheidung über civil rights vor, zB bei Verfahren betreffend die grundverkehrsbehördliche Genehmigung bzw Untersagung eines Liegenschaftserwerbs; bei Enteignungsmaßnahmen und der Höhe der zu zahlenden Entschädigung; bei öffentlich-rechtlichen Nutzungsbeschränkungen wie zB einem Bauverbot; beim Verfahren über die Erteilung einer Baubewilligung; erfasst sind aber auch Berufsverbote und sozialversicherungs- und beamtenrechtliche Ansprüche (zB auf Hinterbliebenen- oder Invalidenrente bzw auf Pensionen oder sonstige Geldleistungen). Der Begriff der strafrechtlichen Anklagen bestimmt sich nach dem Inhalt der entsprechenden Beschuldigung und den vorgesehenen Strafen. Im österreichischen Recht zählt jedenfalls das Justizstrafrecht zu den strafrechtlichen Anklagen. Strafrechtlicher Natur ist aber auch das Verwaltungsstrafrecht, das somit auch in den Anwendungsbereich des Art 6 EMRK fällt.
LE 4
Grundrechte der Wirtschaft
123
Nach Ansicht des VfGH können überdies auch Disziplinarstrafen, durch welche die Freiheit entzogen wird oder die in ihrer Schwere einer solchen Strafe gleichkommen (zB Berufsausübungsverbote), in den Anwendungsbereich des Art 6 EMRK fallen.
2.
Gewährleistungsumfang
Art 6 EMRK enthält zahlreiche verfahrensrechtliche Mindestgarantien für zivil- und strafrechtliche Verfahren sowie spezielle Garantien im Strafprozess (Abs 2, 3). Zu den allgemeinen Verfahrensgarantien zählen:
C.
x
Zugang zu einem und bindende Entscheidung durch ein „Tribunal“ (= gesetzlich eingerichtetes, unabhängiges und unparteiische Gericht oder eine entsprechende unabhängige Verwaltungsbehörde),
x
Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer,
x
Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung,
x
Anspruch auf Durchführung eines fairen Verfahrens (zB Gewährung von Parteiengehör).
x
Im Strafverfahren gelten darüber hinaus noch zB der Grundsatz der Unschuldsvermutung und das Recht auf eine Verteidigung.
Weitere Verfahrensgrundrechte
Weitere wichtige Verfahrensgrundrechte sind der Grundsatz „nulla poena sine lege“ (keine Strafe ohne Gesetz – Art 7 EMRK), das Recht, sich nicht selbst einer Straftat bezichtigen zu müssen (Art 90 Abs 2 B-VG), das Recht auf eine wirksame Beschwerde (Art 13 EMRK) sowie das Verbot der Doppelbestrafung (Grundsatz des „ne bis in idem“).
124
Grundrechte der Wirtschaft
LE 4
VI. Der VfGH als Hüter der Bundesverfassung A.
Einleitung
Die Kontrolle der Einhaltung der Grundrechte obliegt in erster Linie, aber nicht ausschließlich dem Verfassungsgerichtshof (VfGH). Der VfGH ist insofern Grundrechtsgerichtshof, als er in seinen zahlreichen Prüfungsverfahren insbesondere die Grundrechte als Kontrollmaßstab heranziehen und somit die Tätigkeit der Gesetzgebung wie der Verwaltung an den Grundrechten überprüfen kann. Im Folgenden soll zunächst ein kurzer Überblick über die Zuständigkeiten und die Organisation des VfGH gegeben werden. Anschließend werden das Verordnungs- und Gesetzprüfungsverfahren sowie das Bescheidprüfungsverfahren als jene Verfahren, in denen mögliche Grundrechtsverletzungen festgestellt werden können, näher erläutert.
LE 4
B.
125
Grundrechte der Wirtschaft
Zuständigkeit
Der VfGH ist wie der VwGH ein in der Bundesverfassung vorgesehenes Höchstgericht, dessen Kompetenzen in den Art 137 bis 148 B-VG geregelt sind. Der VfGH erkennt nach diesen Bestimmungen über
Art 137 – 140 B-VG, VfGG
x
Klagen wegen Geldleistungen gegen den Bund, die Länder, Bezirke und Gemeinden, sofern darüber nicht ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde entscheidet (Kausalgerichtsbarkeit, Art 137 B-VG);
x
Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten (einschließlich VwGH und VfGH) und Verwaltungsbehörden bzw Ländern (auch untereinander) und dem Bund (Kompetenzgerichtsbarkeit, Art 138 B-VG);
x
die Gesetzmäßigkeit von Verordnungen (Verordnungsprüfung, Art 139 B-VG; siehe dazu näher unten);
x
die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (Gesetzesprüfung, Art 140 B-VG; siehe dazu näher unten);
x
die Rechtmäßigkeit der Wahlen zu allgemeinen Vertretungskörpern (Wahlprüfung, Art 141 B-VG);
x
Klagen gegen die obersten Bundes- und Landesorgane wegen der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit (Staatsgerichtsbarkeit, Art 142, 143 B-VG);
x
Beschwerden gegen einen Bescheid wegen Verletzung eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes (Grundrechte) oder Anwendung einer rechtswidrigen generellen Rechtsgrundlage (Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit, Art 144 B-VG; siehe dazu näher unten).
Die näheren Bestimmungen über die einzelnen Zuständigkeiten sowie über Organisation und Verfahren finden sich im Verfassungsgerichtshofgesetz (VfGG) bzw in der Geschäftsordnung des VfGH.
C.
Organisation
1.
Mitglieder (Art 147 B-VG)
Der VfGH besteht aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten, zwölf weiteren Mitgliedern und sechs Ersatzmitgliedern. Die Mitglieder werden vom Präsident Bundespräsidenten ernannt, ein Vorschlagsrecht besitzen die Vizepräsident Bundesregierung (Präsident, Vizepräsident, 6 Mitglieder, 3 Zwölf Mitglieder Sechs Ersatzmitglieder Ersatzmitglieder), der Nationalrat (3 Mitglieder, 2 Ersatzmitglieder) und der Bundesrat (3 Mitglieder, 1 Ersatzmitglied). Das Amt endet mit dem 31. Dezember des Jahres, in dem das Mitglied das 70. Lebensjahr vollendet hat. Die Ausübung des Amts des Verfassungsrichters ist formal eine nebenberufliche Tätigkeit, wobei Mitglieder der Bundesregierung, der Landesregierung oder von allgemeinen Vertretungskörpern dem VfGH nicht angehören können. In Ausübung ihrer Tätigkeit sind die Mitglieder des VfGH an keinerlei Weisungen gebunden.
126
2.
Grundrechte der Wirtschaft
LE 4
Spruchkörper
Grundsätzlich entscheidet der VfGH im Plenum, das aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und den zwölf Mitgliedern besteht. Beschlussfähig ist das Plenum, wenn neben einem Vorsitzenden mindestens acht Mitglieder anwesend sind. Bestimmte Angelegenheiten (zB wenn eine Beschwerde in nicht öffentlicher Sitzung erledigt werden kann und die Rechtsfrage durch die bisherige Judikatur Entscheidungen grundsätzlich im bereits genügend klargestellt ist) können in der so genannten Plenum „Kleinen Besetzung“ (Präsident, Vizepräsident und vier Mitglieder) entschieden werden. Entscheidungen werden grundsätzlich mit Stimmenmehrheit getroffen.
D.
Ausgewählte Verfahrensarten
1.
Verordnungs- und Gesetzesprüfung (Art 139 u 140 B-VG)
Dem VfGH obliegt die Prüfung von generellen Rechtsvorschriften („Normenkontrolle“). Gegenstand dieser Prüfung sind einerseits Verordnungen (Art 139 B-VG) und andererseits Gesetze (Art 140 B-VG). Nach ähnlichen Gesichtspunkten wie im Folgenden dargestellt, werden vom VfGH auch Staatsverträge auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft. a.
Maßstab der Prüfung
Verordnungen werden auf ihre Gesetzmäßigkeit geprüft. Maßstab der Gesetzesprüfung ist das Verfassungsrecht. Grundsätzlich kann der VfGH auch Verfassungsgesetze prüfen, und zwar auf ihre Übereinstimmung mit den Grundprinzipien der Bundesverfassung (zum Stufenbau der Rechtsordnung siehe LE 2). b.
Antragsberechtigung
Im Verordnungsprüfungsverfahren sind zunächst sämtliche Gerichte, die UVS und das Bundesvergabeamt antragsberechtigt. Der Antrag hat von Amts wegen zu erfolgen, wenn die betreffende Verordnung anzuwenden ist und Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit der Verordnung bestehen (konkrete Normenkontrolle). Demgegenüber besitzen die Bundesregierung hinsichtlich Verordnungen von Landesbehörden, die Landesregierungen hinsichtlich Verordnungen von Bundesbehörden eine von einem Anlassfall unabhängige Antragsberechtigung (abstrakte Normenkontrolle). Eine solche abstrakte Normenkontrolle steht auch den Gemeinden hinsichtlich Verordnungen von Gemeindeaufsichtsbehörden zu. Auch die Volksanwaltschaft kann ein Verordnungsprüfungsverfahren beantragen, sofern es sich um Verordnungen von Bundesbehörden handelt oder entsprechende Landesverfassungsgesetze die Anfechtung der von Landesbehörden erlassenen Verordnungen vorsehen. Im Gesetzesprüfungsverfahren sind der OGH, jedes zweitinstanzliche Gericht, der VwGH, die UVS und das Bundesvergabeamt antragsberechtigt, wenn sie ein Gesetz anwenden müssen, gegen dessen Verfassungsmäßigkeit sie Bedenken haben (konkrete Normenkontrolle). Das Recht auf abstrakte Normenkontrolle besitzen die Bundesregierung sowie ein Drittel der Mitglieder eines Landtages hinsichtlich Landesgesetzen, die Landesregierungen
LE 4
Grundrechte der Wirtschaft
127
sowie ein Drittel der Mitglieder des Nationalrates hinsichtlich Bundesgesetzen. Das bedeutet, diese Organe können ohne jeden Anlass ein Gesetz anfechten. Der VfGH kann ein Verordnungs- oder Gesetzesprüfungsverfahren von Amts wegen durch Beschluss einleiten, wenn er in einem bei ihm anhängigen Verfahren (beispielsweise in einem Bescheidbeschwerdeverfahren gemäß Art 144 B-VG) eine Gesetzesbestimmung anzuwenden hat und gegen diese verfassungsrechtliche Bedenken hegt. Einzelpersonen können Gesetze oder Verordnungen grundsätzlich nicht direkt beim VfGH anfechten. Sie müssen entweder in einem gerichtlichen Anlassverfahren (etwa in einem Zivilprozess, in dem die fragliche Norm Anwendung findet) die Bedenken gegen ein dort anzuwendendes Gesetz bzw eine Verordnung vorbringen und das (zweitinstanzliche) Gericht von diesen Bedenken überzeugen, sodass dieses einen Gesetzesprüfungsantrag bzw einen Antrag auf Verordnungsprüfung an den VfGH stellt. Ist ein Der VfGH kann von Amts wegen durch Gesetz oder eine Verordnung in einem Verwaltungsverfahren Beschluss ein Verordnungs- oder Gesetzesprüfungsverfahren einleiten, anzuwenden, so muss in der Regel ein letztinstanzlicher Bewenn er im Hinblick auf (eine) scheid erwirkt werden, der dann im Wege der anzuwendende Bestimmung(en) Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit (Art 144 B-VG – siehe verfassungsrechtliche Bedenken hegt. sogleich unten Punkt 2) beim VfGH bekämpft werden kann. Im Rahmen dieses Beschwerdeverfahrens kann auch die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes bzw die Rechtswidrigkeit der Verordnung geltend gemacht werden. Nur subsidiär, zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken, steht einer Einzelperson über den so genannten „Individualantrag“ auch ein direktes Anfechtungsrecht eines Gesetzes (einer Verordnung) beim VfGH zu: Voraussetzung dafür ist, dass Individualantrag nur subsidiär zur diese Person durch die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes Vermeidung von Rechtsschutzlücken in Rechten verletzt ist und dass das Gesetz ohne gerichtliche oder verwaltungsbehördliche Entscheidung für sie unmittelbar und aktuell wirksam geworden ist. Zusätzlich muss es – etwa, weil sich die Person rechtswidrig verhalten müsste, um ein entsprechendes Strafverfahren zu provozieren – unzumutbar sein, diese Frage im Rahmen eines Gerichts- oder Verwaltungsverfahrens anhängig zu machen (umgekehrt ist es durchaus zumutbar, auch Feststellungsverfahren anzustrengen, um im Ergebnis verfassungswidrige gesetzliche Bestimmungen bekämpfen zu können). In unserem Fallbeispiel handelt es sich um eine Anfechtung einer Bestimmung im Nahversorgungsgesetz wegen Verletzung der Erwerbsfreiheit (siehe oben Punkt II), es muss dabei in formeller Hinsicht geprüft werden, wer zur Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens antragsberechtigt ist. Ein Individualantrag ist nur zulässig, wenn der Antragsteller durch die Verfassungswidrigkeit der Norm unmittelbar betroffen und ein Umweg über ein gerichtliches oder verwaltungsbehördliches Verfahren unzumutbar ist. Im vorliegenden Fall hat der VfGH (VfSlg 12.379/1990) einen solchen Individualantrag für zulässig erachtet, da die rechtliche Betroffenheit des Antragstellers von aktueller Wirkung sei und es diesem „nicht zumutbar ist, eine verbotene Handlung zu setzen, um sich in einem gegen ihn eingeleiteten Verfahren mit der Behauptung zur Wehr zu setzen, dass die Verbotsnorm verfassungswidrig sei…“.
128 c.
Grundrechte der Wirtschaft
LE 4
Entscheidung
Kommt der VfGH zu dem Ergebnis, dass die betreffende Verordnung gesetzeswidrig oder das betreffende Gesetz verfassungswidrig ist, hebt er die Verordnung bzw das Gesetz auf. Ist die betreffende Vorschrift nicht mehr in Geltung, so spricht der VfGH aus, dass die Verordnung oder das Gesetz rechtswidrig waren. Kommt der VfGH zu dem Ergebnis, dass die angefochtene Verordnung oder das Gesetz nicht gesetzes- bzw verfassungswidrig waren, weist er den Antrag ab. In einem von Amts wegen eingeleiteten Prüfungsverfahren spricht der VfGH in diesem Fall aus, dass die Norm nicht als verfassungswidrig (gesetzwidrig) aufgehoben wird. Ist die betreffende Vorschrift schon außer Kraft getreten, ist auszusprechen, dass die Vorschrift nicht gesetzes- bzw verfassungswidrig war. Wird eine Verordnung durch ein Erkenntnis des VfGH als gesetzeswidrig aufgehoben, so hat die zuständige oberste Verwaltungsbehörde des Bundes oder des Landes dies unverzüglich kundzumachen. Die Aufhebung tritt mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft. Die Aufhebung eines verfassungswidrigen Gesetzes ist vom Bundeskanzler im BGBl bzw vom jeweiligen Landeshauptmann im LGBl kundzumachen und tritt mit Ablauf des Tages der Kundmachung in Kraft. Der VfGH kann aber für das Außerkrafttreten von Verordnungen und Gesetzen auch eine Frist bestimmen. In einem solchen Fall beginnt die Frist (bei Verordnungen höchstens 6 Monate, wenn gesetzliche Vorkehrungen erforderlich sind Aufhebung von verfassungswidrigen höchstens 18 Monate; bei Gesetzen höchstens 18 Monate) mit Gesetzen ist im BGBl/LGBl kundzumachen. dem Tag der Kundmachung zu laufen. In einem solchen Fall ist die Verordnungs- oder Gesetzesbestimmung bis zum Ablauf der Frist weiterhin anzuwenden und kann auch nicht mehr bekämpft werden (der Rechtssicherheit und der Vermeidung von Regelungslücken – es wird beispielsweise ein Steuertatbestand wegen Gleichheitswidrigkeit aufgehoben – wird hier der Vorrang vor der Einzelfallgerechtigkeit eingeräumt). Eine Ausnahme gilt nur für den „Anlassfall“, also den oder die Beschwerdeführer, die eine Rechtssache beim VfGH anhängig gemacht haben. Für sie ist die aufgehobene Bestimmung jedenfalls nicht anzuwenden (sog „Ergreiferprämie“).
2.
Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit (Art 144 B-VG)
a.
Überprüfung von Bescheiden
Die in der Praxis am häufigsten in Anspruch genommene Kompetenz des VfGH stellt die Zuständigkeit zur Überprüfung von Bescheiden der Verwaltungsbehörden dar. Diese besteht jedoch nur, soweit der Beschwerdeführer in seinen Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit = praktisch bedeutsamste Kompetenz des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten oder durch VfGH Anwendung von rechtswidrigen Verordnungen, Gesetzen oder Staatsverträgen in seinen Rechten verletzt zu sein behauptet. Behauptet der Beschwerdeführer, dass ein Bescheid gegen „einfaches“ Gesetz verstößt, fällt die Streitigkeit in die Zuständigkeit des VwGH.
LE 4 b.
Grundrechte der Wirtschaft
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Prozessvoraussetzungen
Voraussetzung für eine Bescheidbeschwerde ist die Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges sowie die Einbringung der Beschwerde innerhalb von sechs Wochen ab Zustellung des letztinstanzlichen Bescheides. In der Voraussetzungen: Beschwerde müssen konkrete Angaben über den Sachverhalt Erschöpfung des Instanzenzuges Innerhalb von sechs Wochen enthalten sein, wie auch die ausdrückliche Behauptung, in eingebracht verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten oder durch die Anwendung einer rechtswidrigen generellen Vorschrift in Rechten verletzt zu sein. Diese Rechtsverletzung muss zumindest möglich sein. Auch muss das Beschwerdebegehren auf Aufhebung des angefochtenen Bescheides lauten. Die Beschwerde ist durch einen bevollmächtigten Rechtsanwalt einzubringen. Mangels Vorliegen eines Bescheids kommt für Sie in unserem Fallbeispiel keine „Bescheidbeschwerde“ gemäß Art 144 B-VG in Betracht. Die Grundrechtswidrigkeit der Bestimmung im Nahversorgungsgesetz können Sie aber per Individualantrag geltend machen (siehe oben). c.
Entscheidung
Die Entscheidung des VfGH im Bescheidbeschwerdeverfahren lautet auf x
Ablehnung durch Beschluss;
x
Zurückweisung oder Einstellung durch Beschluss;
x
Entscheidung in der Sache durch Erkenntnis.
Eine Ablehnung der Behandlung der Beschwerde kann dann erfolgen, wenn die Beschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art 144 Abs 2 B-VG). Die Ablehnung muss einstimmig erfolgen. Mangelt es an einer Prozessvoraussetzung oder weist die Beschwerde an sich einen Mangel auf, der trotz Verbesserungsauftrag nicht beseitigt wurde, so ist sie zurückzuweisen. Eine Sachentscheidung kann entweder in einer Aufhebung des Bescheides (wegen Verletzung von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten oder als Folge der Anwendung einer rechtswidrigen generellen Bestimmung) bestehen oder Nach einer Aufhebung ist die Behörde bei neuerlicher Erlassung eines in der Abweisung der Beschwerde, weil eine solche Bescheides an die Rechtsansicht des Verletzung nicht vorliegt (§ 87 VfGG). Wird der Bescheid VfGH gebunden. aufgehoben, so ist die letztinstanzliche Behörde bei der neuerlichen Erlassung eines Bescheides an die Rechtsansicht des VfGH gebunden. d.
Abtretungsantrag
Wird eine Beschwerde abgewiesen oder die Behandlung der Beschwerde abgelehnt, so kann der Beschwerdeführer innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung des Erkenntnisses bzw des Beschlusses einen Abtretungsantrag an den VwGH stellen, sofern es sich um eine Sache handelt, die in die Zuständigkeit des VwGH fällt. Besteht keine Zuständigkeit des VwGH, darf die Behandlung der Beschwerde nicht abgelehnt werden.
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Grundrechte der Wirtschaft
LE 4
LE 4
Grundrechte der Wirtschaft
VII. Weiterführende Literatur Berka, Lehrbuch Grundrechte (2000) Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht2 (2008) Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention4 (2009) Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht (2009)
VIII. Wiederholungsfragen
Wo sind die Grundrechte geregelt? Was ist die Zielsetzung der Grundrechte? Wen binden die Grundrechte? Was versteht man unter Fiskalgeltung der Grundrechte? Gelten die Grundrechte auch zwischen Privatpersonen? Kann der Gesetzgeber nach Belieben die Grundrechte einschränken? Wer überwacht die Einhaltung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte? Nennen Sie für die Wirtschaft relevante Grundrechte! Erörtern Sie den Schutzbereich der Erwerbsfreiheit. Was sind objektive Zugangsschranken? Was besagt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz? Wann verletzt ein Bescheid die Erwerbsfreiheit? Nennen Sie zwei Beispiele für einen Eigentumseingriff! Was ist eine materielle Enteignung? Wann ist ein Gesetz gleichheitswidrig? Was versteht man unter dem Vertrauensschutz des Gleichheitssatzes? Nennen Sie ein Beispiel für willkürliches Handeln der Behörde! Welche Verfahrensgrundrechte kennen Sie? Kann der EuGH „gesetzlicher Richter“ im Sinne von Art 83 Abs 2 B-VG sein? Welche Gewährleistungen enthält Art 6 EMRK? Was versteht man unter „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ im Sinne von Art 6 EMRK? Kann ein Disziplinarstrafverfahren Art 6 EMRK unterfallen? Welche speziellen Garantien für strafrechtliche Verfahren enthält Art 6 EMRK? In welchen Spruchkörpern entscheidet der VfGH? Nennen Sie die Verfahrensarten vor dem VfGH!
131
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Grundrechte der Wirtschaft
LE 4
Anhand welchen Maßstabs nimmt der VfGH Gesetzes- und Verordnungsprüfungen vor?
Unter welchen Voraussetzungen kann der von einem Gesetz betroffene Bürger dessen Verfassungskonformität durch den VfGH überprüfen lassen?
LE 5
Binnenmarktrecht
133
Lektion 5 BINNENMARKTRECHT
Dänischer Räucherlachs (Teil 1) Im Rahmen von routinemäßigen lebensmittelpolizeilichen Kontrollen in Wiener Fischrestaurants wurden geräucherte Fischprodukte, darunter auch aus Dänemark importierter Räucherlachs, geprüft. Dabei wurde festgestellt, dass dieser von sog Listeria monocytogenes Bakterien befallen ist. Nach einer Entscheidung des österreichischen Ständigen Hygieneausschusses galt zu diesem Zeitpunkt in Österreich für diese Bakterien angesichts der potentiellen Risken, die von kontaminierten Fischen ausgehen, eine sog Null-Toleranz. Im konkreten Fall waren keine Erkrankungen von Personen nach dem Verzehr der Räucherfische aufgetreten, da sich nur eine minimale Anzahl der Bakterien im Fisch befand. Der Geschäftsführer der Restaurantkette Nordpol GmbH, Herr Jochen Hering, berief sich zu seiner Verteidigung auf die Hygiene-Richtlinie 91/493/EWG der EU, da darin lediglich normiert war, dass die Risiken auf ein „annehmbares Maß“ zu reduzieren seien. Von einer Null-Toleranz hingegen war nirgendwo in der Richtlinie die Rede. Darüber hinaus führte er an, dass zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen wären, dass eine derartige Null-Toleranz nicht begründet sei. Die Bakterien seien in der Umwelt und auch in Lebensmitteln außerordentlich weit verbreitet und eine minimale Anzahl von Bakterien stelle keine Gesundheitsgefährdung dar. Außerdem gebe es nur eine sehr kleine Anzahl klinischer Erkrankungen. Im Übrigen sei es unmöglich, die völlige Abwesenheit dieser Bakterien zu erreichen. Die österreichischen Behörden ließen diese Argumente jedoch nicht gelten. Der Nordpol GmbH wurde ein Strafbescheid gemäß dem Lebensmittelgesetz iVm der österreichischen Fischhygieneverordnung, die die Richtlinie der EU umgesetzt hat, zugestellt. Darin wurde über die Restaurantkette eine saftige Geldstrafe mit der Begründung verhängt, sie habe die befallenen Fische fahrlässig in Verkehr gebracht. Der Geschäftsführer wollte diesen Vorwurf jedoch nicht auf sich sitzen lassen, da er der Meinung war, die Räucherfische, die er ordnungsgemäß aus Dänemark importiert hatte, aufgrund der EURichtlinie und des Grundsatzes des freien Warenverkehrs auch in Österreich verkaufen zu dürfen. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Was versteht man unter dem so genannten Binnenmarkt der EU? Wen, was und wovor schützen die Grundfreiheiten? Was versteht man unter Rechtsangleichung?
134
Binnenmarktrecht
LE 5
Inhalt: I. II. A. B. C. III. A. B. C. 1. 2. IV. A. B. C. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI.
Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes............................................................. 135 Regelungsanliegen der Grundfreiheiten ............................................................. 136 Diskriminierungsverbot ............................................................................................ 136 Beschränkungsverbot.............................................................................................. 138 Exkurs: Rechtsangleichung („Harmonisierung“)...................................................... 139 Warenverkehrsfreiheit........................................................................................... 141 Der Schutzbereich im Überblick .............................................................................. 141 Zollunion.................................................................................................................. 142 Die Beseitigung mengenmäßiger Ein- und Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten...................................................... 142 Verpflichtung der Mitgliedstaaten ............................................................................ 142 Ausnahmen und Rechtfertigungsgründe ................................................................. 146 Arbeitnehmerfreizügigkeit .................................................................................... 150 Schutzbereich.......................................................................................................... 150 Ausnahmen vom Schutzbereich.............................................................................. 152 Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot .......................................................... 153 Niederlassungsfreiheit.......................................................................................... 157 Dienstleistungsfreiheit.......................................................................................... 160 Die Dienstleistungsrichtlinie ................................................................................ 163 Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit................................................................ 164 Weiterführende Literatur....................................................................................... 167 Links ....................................................................................................................... 167 Wiederholungsfragen............................................................................................ 167
LE 5
I.
Binnenmarktrecht
135
Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes
Als Mitglied der Europäischen Union (Näheres dazu in LE 3) nimmt Österreich insbesondere auch am Europäischen Binnenmarkt teil. Dieser umfasst nach Art 26 AEUV einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Der freie Warenverkehr, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit, die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs sowie die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs werden auch als die „Grundfreiheiten des Warenverkehrsfreiheit Binnenmarktes“ bezeichnet. Aus ökonomischer Sicht liegt den Dienstleistungsfreiheit Niederlassungsfreiheit Grundfreiheiten die volkswirtschaftliche Theorie des komparati- Arbeitnehmerfreizügigkeit ven Vorteiles zu Grunde die auf eine optimale Allokation von Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit wirtschaftlichen Ressourcen abzielt. Während die Waren- und Dienstleistungsfreiheiten den freien Verkehr von materiellen und immateriellen Produkten, nämlich von Waren und Dienstleistungen, innerhalb des Binnenmarktes ermöglichen sollen, fördern die Kapitalverkehrsfreiheit und die Personenverkehrsfreiheiten (= Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit) die Mobilität der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital. Die Grundfreiheiten verleihen den Unionsbürgern und juristischen Personen mit Sitz in der EU subjektive Rechte, die sie insbesondere gegenüber den mitgliedstaatlichen Behörden durchsetzen können. Sie erfassen allerdings Waren, Kapital, Die Grundfreiheiten schützen nur Dienstleistungen und Personen nur bei und nach dem Grenz- grenzüberschreitende Sachverhalte! übertritt von einem Mitgliedstaat in einen anderen. Sie schützen dementsprechend nur grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeiten. Bsp: Eine italienische Unternehmerin eröffnet in Österreich ein Modehaus. Sie kann sich dabei auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Ein deutscher Unternehmer importiert Qualitätswein aus Frankreich. Er kann sich dabei auf die Warenverkehrsfreiheit berufen. Reine Inlandssachverhalte – das sind Sachverhalte, die mit keinem Element einen Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen – werden von den Grundfreiheiten nicht geschützt. Bsp: Ein österreichischer Unternehmer eröffnet in Österreich noch eine weitere Filiale. Er kann sich dabei nicht auf die Grundfreiheiten (konkret: Niederlassungsfreiheit) berufen, da es sich um einen reinen Inlandssachverhalt ohne jeglichen Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat handelt. Wenn er freilich in dieser Filiale Waren zB aus Großbritannien verkaufen möchte, kann er sich beim Import der betreffenden Waren nach Österreich auf die Warenverkehrsfreiheit berufen, da insoweit ja ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Aufgrund des Umstandes, dass die Grundfreiheiten reine Inlandssachverhalte nicht erfassen, kann nun der Fall eintreten, dass EU-Ausländer besser behandelt werden als Inländer. Man bezeichnet dieses Phänomen als Inländer- bzw Inlandsmarktdiskriminierung. Bsp: Die Einhaltung der in der GewO für ein bestimmtes Gewerbe vorgesehenen Qualifikationsanforderungen kann mitunter von Personen aus anderen EU-Mitgliedstaaten,
136
LE 5
Binnenmarktrecht
die in Österreich bspw das betreffende Handwerk ausüben möchten, zufolge des Beschränkungsverbotes der Grundfreiheiten (siehe dazu näher Punkt B) nicht verlangt werden; sehr wohl aber von Österreichern, die nie in einem anderen Mitgliedstaat tätig waren und sich dementsprechend nicht auf die Grundfreiheiten berufen können. Das Unionsrecht beseitigt solche Inländerdiskriminierungen nur dann, wenn Richtlinien zur Rechtsangleichung (siehe dazu näher Punkt II.C.) erlassen werden, die für die gesamte Union harmonisiertes Recht schaffen, unabhängig davon, ob es um zwischenstaatliche Sachverhalte geht oder nicht. Inländerdiskriminierungen geraten zudem mit dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Gleichheitssatz (näheres dazu in LE 4) in Konflikt.
Grundfreiheiten des Binnenmarktes
Freier Warenverkehr
Art 28ff AEUV
II.
Freier Personenverkehr Arbeitnehmerfreizügigkeit
Niederlassungsfreiheit
Art 45ff AEUV
Art 49ff AEUV
Freier Dienstleistungsverkehr
Freier Kapital- und Zahlungsverkehr
Art 56ff AEUV
Art 63ff AEUV
Regelungsanliegen der Grundfreiheiten
Einerseits normieren die EU-Grundfreiheiten das Verbot der Schlechterbehandlung von EUausländischen Marktteilnehmern gegenüber inländischen (= Diskriminierungsverbot). Andererseits stellen sie zusätzlich jede mitgliedstaatliche, nicht diskriminierende Regulierung, die Marktteilnehmer in ihrem grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Handeln betrifft, unter einen Rechtfertigungszwang. Geht dieser Test negativ aus, darf die Regelung nicht angewendet werden (= Beschränkungsverbot).
A.
Diskriminierungsverbot
Die Grundfreiheiten begleiten Waren, Personen und Dienstleistungen bei und nach dem Grenzübertritt von einem Mitgliedstaat in einen anderen und schützen dabei vor Benachteiligungen gegenüber inländischen Personen und Waren. Die Grundfreiheiten verbieten also Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Oder anders gewendet: Die Grundfreiheiten verlangen Inländergleichbehandlung bzw Gleichbehandlung mit inländischen Waren (Unterscheide davon die Inlandsmarktdiskriminierung!).
LE 5
Binnenmarktrecht
137
Bsp: Eine holländische Staatsbürgerin, die in Österreich als Angestellte arbeiten möchte, muss bei ihrem Vorhaben gleich behandelt werden wie eine inländische Person. Sie darf nicht wegen ihrer holländischen Herkunft benachteiligt werden. Italienische Autos dürfen vom deutschen Gesetzgeber nicht strengeren Zulassungsvorschriften unterworfen werden als deutsche Fabrikate. Eine ausdrückliche Diskriminierung liegt dann vor, wenn eine nationale Regelung schon vom Wortlaut her zu Lasten von EUAusländern (= von Bürgern anderer EU-Mitgliedstaaten) geht.
Diskriminierungsverbot = Inländergleichbehandlungsgebot
Bsp: Wenn Fremdsprachenlektoren aus dem EU-Ausland an einer inländischen Universität immer nur befristete Verträge bekommen, für inländische Fremdsprachenlektoren diese Einschränkung jedoch nicht gilt, so ist das eine ausdrückliche Diskriminierung von Fremdsprachenlektoren aus anderen EU-Mitgliedstaaten. Aber auch sog versteckte Diskriminierungen sind grundsätzlich verboten. Eine versteckte Diskriminierung liegt dann vor, wenn bei einer Vorschrift zwar nicht expressis verbis zwischen in- und ausländisch unterschieden wird, sondern nach Auch versteckte Diskriminierungen sind einem scheinbar neutralen Kriterium, wobei aber durch das verboten. betreffende Kriterium de facto nur oder hauptsächlich Ausländer bzw ausländische Waren benachteiligt werden. Bsp: Angenommen, der spanische Gesetzgeber sieht für den Fall einer Kündigung durch den Arbeitgeber für jeden (in- und ausländischen) Arbeitnehmer einen Abfertigungsanspruch vor, allerdings mit der Einschränkung, dass der betreffende Arbeitnehmer fließend spanisch sprechen muss. Da es für einen Ausländer in der Regel schwieriger als für einen Inländer sein wird, dieses Erfordernis zu erfüllen, würde damit praktisch hauptsächlich nur Inländern eine Abfertigung zustehen. In Wahrheit bewirkt das vorgeschriebene Spracherfordernis daher eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Da nicht vom Wortlaut der Regelung (das Spracherfordernis gilt ja auch für Inländer), sondern von den praktischen Auswirkungen her EU-Ausländer benachteiligt werden, liegt eine versteckte Diskriminierung vor. Die Grundfreiheiten verbieten nicht jede Diskriminierung schlechthin. So können Diskriminierungen zum Beispiel aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ausnahmsweise erlaubt sein. Bsp: Eine unterschiedliche Behandlung eingeführter und inländischer Erzeugnisse kann zur Verhinderung der Ausbreitung von schädlichen Organismen gerechtfertigt sein (Art 36 AEUV). Die Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten sind nach der Rechtsprechung des EuGH spezifische Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitssatzes, der einen Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze der Union (Art 6 Abs 3 EUV) und jetzt auch der Charta der Grundrechte (Art 20 und 21) bildet. Während die Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten an das Vorliegen einer grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Tätigkeit gebunden sind, hat der EuGH diese Anforderung im letzten Jahrzehnt nach und nach so gut wie zur Gänze beseitigt, und zwar hauptsächlich gestützt auf das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger (jetzt
138
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Art 21 AEUV). Danach muss nunmehr grundsätzlich jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig in einem anderen EU-Mitgliedsland aufhält – was keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr voraussetzt – gleich wie jeder Inländer behandelt werden. Dieser Gleichbehandlungsanspruch umfasst grundsätzlich auch Leistungsansprüche gegen den Staat einschließlich Sozialleistungen (Stipendien, Mindestunterhalt usw). Dieser Gleichbehandlungsanspruch, der in diesem Kapitel über den Binnenmarkt nicht behandelt wird, geht daher im Anwendungsbereich über das Diskriminierungsverbot der Grundfreiheiten weit hinaus. Seine Reichweite und die möglichen Rechtfertigungsgründe für Ausnahmen sind alles andere als geklärt. Dementsprechend umstritten ist diese neuere Judikatur.
B.
Beschränkungsverbot
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten zu Beschränkungsverboten weiterentwickelt. Während das Diskriminierungsverbot die Schlechterstellung von Ausländern gegenüber Inländern verbietet, fordert das Beschränkungsverbot, dass sich auch nicht diskriminierende nationale Vorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht rechtfertigen lassen müssen. Es können nämlich auch unterschiedslose, dh nicht zwischen Inländern und Ausländern oder inländischen und ausländischen Waren differenzierende Maßnahmen eines MitgliedstaaDie Grundfreiheiten richten sich auch gegen nicht diskriminierende tes den durch die Grundfreiheiten des AEUV angestrebten und Beschränkungen. geschützten freien Wirtschaftsverkehr erheblich erschweren, wenn nicht sogar unmöglich machen. Die Grundfreiheiten verbieten dementsprechend auch – nicht diskriminierende – staatliche Maßnahmen, die die Inanspruchnahme der Grundfreiheiten unattraktiv machen, indem sie zB zusätzliche Kosten verursachen oder eine abschreckende Wirkung entfalten. Bsp: In Belgien durfte – ausländische und auch inländische – Margarine nur in Würfelform verkauft werden. Aus Deutschland importierte Margarine, die in Schalenbechern verpackt war, konnte daher so nicht auf den belgischen Markt gebracht werden. Die Grundfreiheiten verbieten allerdings Beschränkungen nicht schlechthin. Einerseits können diese bei Erfüllung der zuvor genannten, im AEUV ausdrücklich normierten Rechtfertigungsgründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (bei der Warenverkehrsfreiheit noch zusätzlich andere, siehe unten Punkt III. ) zulässig sein. Andererseits können bloße Beschränkungen im Gegensatz zu (direkten) Diskriminierungen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses (zB Verbraucherschutz, Arbeitnehmerschutz, Schutz der Medienvielfalt etc – sog Cassis-Schutzgüter) gerechtfertigt und damit erlaubt sein. Dabei gibt es keine taxative Liste an zulässigen Allgemeininteressen, weshalb diese Kategorie auch als „ungeschriebene Rechtfertigungsgründe“ bezeichnet wird und somit der mitgliedstaatlichen Kreativität einen gewissen Handlungsspielraum eröffnet. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes müssen nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den AEUV garantierten Grundfreiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, jedenfalls vier Voraussetzungen erfüllen: 1. Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden. 2. Sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein.
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3. Sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten. 4. Sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Kurzum: Nationale Beschränkungsmaßnahmen müssen gerechtfertigt und verhältnismäßig sein, widrigenfalls sie die Grundfreiheiten verletzen. Bsp: Unverhältnismäßig kann zB ein gänzliches Verkehrsverbot für ein Produkt sein, wenn das damit verfolgte Ziel des Konsumentenschutzes auch durch gelindere Mittel – zB durch entsprechende Kennzeichnungspflichten am Produktetikett – erreicht werden kann.
C.
Exkurs: Rechtsangleichung („Harmonisierung“)
Die aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigten und verhältnismäßigen Beschränkungen der Grundfreiheiten können von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden sein. Bsp: Österreich kann bei seinen Vorschriften in Bezug auf (in- und ausländische) Produkte einen höheren Umweltschutzstandard als ein anderer Mitgliedstaat haben. Die Berufsausübungsvoraussetzungen (Befähigungsnachweise etc) für (in- und ausländische) Personen können von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat differieren, weil es den mitgliedstaatlichen Kompetenzen obliegt, das Anforderungsniveau für bestimmte Berufe festzulegen. Solche unterschiedlichen – wenngleich gerechtfertigten und damit aus Sicht der Grundfreiheiten erlaubten – Standards der Mitgliedstaaten können jedoch ihrerseits den freien Warenund Personenverkehr innerhalb der EU beeinträchtigen. Bsp: Wenn in Österreich strengere Schutzvorschriften für (in- und ausländische) Arbeitnehmer als in Großbritannien gelten, dann wird ein britischer Unternehmer Österreich als Unternehmensstandort eher meiden, da ihm dort wegen der strengen Arbeitnehmerschutzvorschriften zusätzliche Kosten erwachsen. Wenn Schweden aus Gründen des Gesundheitsschutzes strengere Anforderungen an (in- und ausländische) Produkte als zum Beispiel Holland stellt, dann beeinträchtigt das den Export von Produkten aus Holland nach Schweden. Mit Hilfe der Grundfreiheiten kann dem nicht immer entgegengetreten werden, da die strengen Produktvorschriften Schwedens ja nicht diskriminieren und die Beschränkung des freien Warenverkehrs aus Gründen des Gesundheitsschutzes erlaubt sein kann. Das Unionsrecht räumt daher dem EU-Gesetzgeber die Möglichkeit ein, Rechtsangleichsmaßnahmen (= Harmonisierungsvorschriften) zu erlassen. Es handelt sich dabei um Richtlinien oder Verordnungen, die die von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat divergierenden Rechtsvorschriften inhaltlich aneinander angleichen, so dass im Ergebnis in jedem
Da die Grundfreiheiten nicht alle Beeinträchtigungen des freien Binnenmarktes beseitigen können, darf der EU-Gesetzgeber Harmonisierungsvorschriften erlassen.
Mitgliedstaat im Wesentli-
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chen die gleiche Rechtslage gilt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Vollharmonisierungen, durch die alle relevanten Aspekte eines Regelungsbereichs auf EU-Ebene harmonisiert werden, und Teilharmonisierungen, die nur gewisse Aspekte der Materie vereinheitlichen. Harmonisierungsvorschriften finden sich vor allem dort, wo zwingende Gründe des Allgemeininteresses (zB Gesundheitsschutz, Konsumentenschutz, Arbeitnehmerschutz, Umweltschutz, hohes Ausbildungsniveau etc) von den Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten ins Treffen geführt werden können. Bsp: Richtlinie 93/41/EWG zur Angleichung der einzelstaatlichen Maßnahmen betreffend das Inverkehrbringen technologisch hochwertiger Arzneimittel, insbesondere aus der Biotechnologie; Richtlinie 2003/20/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Gurtanlegepflicht in Kraftfahrzeugen mit einem Gewicht von weniger als 3,5 Tonnen; Richtlinie 76/116/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Düngemittel; Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen. Die EU-Harmonisierungsvorschrift muss sicherstellen, dass jenen Schutzinteressen, die den entsprechenden nationalen Vorschriften zugrunde liegen, auf Unionsebene angemessen Rechnung getragen wird. Dabei kann es dazu kommen, dass der Harmonisierungsrechtsakt für einzelne Mitgliedstaaten eine Absenkung des Schutzniveaus bedeutet. Aus diesem Grund können derartige Harmonisierungsbestimmungen den Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen erlauben, ausnahmsweise strengere nationale Vorschriften weiterhin anzuwenden bzw neu zu erlassen.
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Die EU-Richtlinie 91/493/EWG zur Festlegung von Hygienevorschriften für die Erzeugung und Vermarktung von Fischereierzeugnissen sah eine teilweise, aber keine vollständige Harmonisierung der nationalen Vorschriften vor. So wurden durch diese RL zwar die Verfahren der Behandlung und Verpackung von Fischereierzeugnissen sowie die Gesundheitskontrollen, die bei der Erzeugung dieser Produkte zu befolgen sind, harmonisiert, nicht aber die Grenzwerte zur Bekämpfung der Kontaminierung von Räucherfischereierzeugnissen durch Listeria monocytogenes Bakterien. Diesbezüglich nahm die RL keine Harmonisierung der für den Menschen als gesundheitsschädlich erachteten Grenzwerte vor, sondern beschränkte sich auf generalklauselartig formulierte grundlegende Schutzziele („...Zur Risikobeherrschung können alle Maßnahmen und Vorkehrungen getroffen werden, die geeignet sind, ein Risiko zu verhüten oder zu beseitigen oder seine Auswirkungen bzw die Möglichkeit seines Entstehens auf ein annehmbares Niveau zu reduzieren...“). Ihre Ausführung im Rahmen des nationalen Umsetzungsaktes (in Ö: BGBl 260/1997) oblag daher den Mitgliedstaaten (auf der Grundlage von Sachverständigengutachten), womit es Österreich weiterhin gestattet war, die vergleichsweise strengen Grenzwerte aufrecht zu erhalten.
III.
Warenverkehrsfreiheit
A.
Der Schutzbereich im Überblick
Die eben erörterten Verbote der Diskriminierung und Beschränkung gelten nur dann, wenn es um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt geht, der auch tatsächlich vom sachlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten erfasst wird. Die Warenverkehrsfreiheit etwa umfasst, wie der Name schon sagt, den ungehinderten Verkehr von Waren innerhalb des Binnenmarktes. Waren sind körperliche Gegenstände (einschließlich elektrischer Strom und Datenträger), die einen Die Warenverkehrsfreiheit schützt den ungehinderten Grenzübertritt und Geldwert haben. In den Genuss der Warenverkehrsfreiheit Markteintritt von Gemeinschaftswaren kommen Waren dann, wenn sie „Gemeinschaftswaren“ (es ist innerhalb des Binnenmarktes. davon auszugehen, dass dieser Begriff in Zukunft an die Terminologie des VvL angepasst und zu „Unionsware“ werden wird) sind: Darunter versteht man alle aus den Mitgliedstaaten stammenden Waren sowie diejenigen Waren aus NichtMitgliedstaaten, für die die Einfuhrformalitäten bei der Einfuhr in einen Mitgliedstaat erfüllt sowie die vorgeschriebenen Zölle eingehoben worden sind. Bsp: Ein „BMW“ ist eine Gemeinschaftsware, wenn er in einem EU-Mitgliedstaat hergestellt wird. „BMW Z 3“ werden ausschließlich in Südamerika hergestellt, und sind daher erst nach ordnungsgemäßer Einfuhr Gemeinschaftswaren. Letzteres gilt auch für in Japan hergestellte Video-Recorder. Der AEUV enthält mehrere Bestimmungen, die den freien Warenverkehr im Binnenmarkt sicherstellen sollen. Ziel dabei ist die Sicherung eines freien Wettbewerbs zwischen den Gütern
Da die Grundfreiheiten nicht alle Beeinträchtigungen des freien Binnenmarktes beseitigen können, darf der EU-Gesetzgeber Harmonisierungsvorschriften erlassen.
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der verschiedenen Mitgliedstaaten, der nicht durch nationale Vorschriften beeinträchtigt oder verzerrt werden darf. So ist vorgesehen, dass die Union eine Zollunion ist (Art 28 AEUV) und dass mengenmäßige Ein-, Aus- und Durchfuhrbeschränkungen grundsätzlich verboten sind (Art 34 ff AEUV). Die Mitgliedstaaten werden darüber hinaus verpflichtet, ihre staatlichen Handelsmonopole – das sind ausschließliche Handelsrechte in Bezug auf Waren (zB Tabakmonopol) – derart umzuformen, dass jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist (Art 37 AEUV). Nicht erlaubt sind zum Beispiel ausschließliche Import- und Exportrechte. Schließlich verbietet die im AEUV verankerte Warenverkehrsfreiheit auch die steuerliche Begünstigung inländischer Waren (Art 110 AEUV). Bsp: Wenn importiertes Obst besteuert wird, heimisches Obst dagegen keiner Verbrauchssteuer unterliegt, dann ist das eine verbotene steuerliche Begünstigung inländischer Waren. Die Nordpol GmbH hatte den Räucherlachs aus Dänemark nach Österreich importiert. Es liegt somit kein Inlandssachverhalt, sondern ein solcher mit Bezug zu einem anderen EUMitgliedstaat vor. Die Grundfreiheiten sind demnach prinzipiell anwendbar. Da die von der Nordpol GmbH angebotenen Fische in einem EU-Mitgliedsstaat (Dänemark) hergestellt wurden, geht es um Gemeinschaftswaren, so dass die Warenverkehrsfreiheit in Betracht kommt.
B.
Zollunion
Während in einer Freihandelszone (zB Europäische Freihandelszone – EFTA, Europäischer Wirtschaftsraum – EWR) die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen (= gegenüber NichtMitgliedstaaten) eigenständig Zölle festlegen können, ist die Zollunion der EU dadurch gekennzeichnet, dass die Mitgliedstaaten nach außen über einen gemeinsamen Zolltarif verfügen und nach innen (= untereinander) alle Handelshemmnisse wie Ein- und Ausfuhrzölle sowie Abgaben gleicher Wirkung abschaffen. Unter Abgaben gleicher Wirkung wie Zölle sind finanzielle Abgaben zu verstehen, die zwar nicht ausdrücklich – wie ein Zoll – anlässlich des Grenzübertritts der Ware eingehoben werden, jedoch letztendlich auch eine einseitige finanzielle Belastung der Importware darstellen. Bsp: Die Einhebung einer Gebühr für die Kontrolle, ob die eingeführte Ware die vorgeschriebene Etikettierung in inländischer Sprache enthält, ist eine verbotene Abgabe zollgleicher Wirkung.
C.
Die Beseitigung mengenmäßiger Ein- und Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten
1.
Verpflichtung der Mitgliedstaaten
Nach Art 34 und 35 AEUV sind mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten verboten.
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Bsp: Wenn Österreich die Einfuhr von Joghurt aus Italien ganz oder zum Teil verbietet, dann ist das eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung. Eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung wäre es etwa, wenn Deutschland nur die Ausfuhr einer begrenzten Anzahl an Fernsehgeräten nach Frankreich gestatten würde. Verboten sind aber nicht nur – in der Realität äußerst selten gewordene – mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen (= Kontingentierungen), sondern auch Maßnahmen, die die gleiche Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen „Dassonville-Formel“: haben. Der EuGH hat den Begriff der Maßnahmen gleicher Eine Maßnahme kontingentgleicher Wirkung (MglW) mit der sog Dassonville-Formel (EuGH, Rs Wirkung ist jede Handelsregelung, die geeignet ist, den innergemeinschaftli8/74, Slg 1974, 837) näher erläutert: Jede Handelsregelung, die chen Handel unmittelbar oder mittelbar, geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar tatsächlich oder potentiell zu behindern. oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, ist eine MglW. Bsp „Dassonville“: Belgien forderte für importierten Whisky ein besonderes Ursprungszeugnis zum Beleg typischer Qualitätsmerkmale. Da sich die Importeure Benoit und Gustave Dassonville, die Whisky nicht unmittelbar aus dem Ursprungsland einführten, solche Zeugnisse nur unter erheblichen Schwierigkeiten beschaffen konnten, war die belgische Vorschrift über das Erfordernis eines Ursprungszeugnisses geeignet, die Importaktivitäten zu behindern, und damit eine MglW. Auf jeden Fall sind alle Regelungen, die ausländische Waren diskriminieren, MglW. Im Cassis de Dijon-Urteil (EuGH, Rs 120/78, Slg 1979, 649) stellte der EuGH klar, dass die Dassonville-Formel auch für unterschiedslos auf inländische und Auch unterschiedslos anwendbare eingeführte Waren anwendbare Maßnahmen Anwendung findet. Regelungen können MglW sein. Es können demnach auch nicht diskriminierende Regelungen MglW sein. Bsp „Cassis de Dijon“: Nach deutschem Recht durften Fruchtsaftliköre nur mit einem Mindestalkoholgehalt von 25% als Likör in Verkehr gebracht werden. Da der französische Johannisbeerlikör „Cassis de Dijon“ wegen seines geringeren Alkoholgehalts (15 – 20%) in Deutschland nicht als Likör vermarktet werden durfte, stufte der EuGH das betreffende deutsche Gesetz über den Mindestalkoholgehalt als MglW ein, obwohl es auch für inländische Fruchtsaftliköre galt. Das Erfordernis des Mindestalkoholgehaltes von 25% nach deutschem Recht erschwerte nämlich den Zugang ausländischer Fruchtsaftliköre (unter 25%) zum deutschen Markt. Daraus ergab sich ein sehr weites Verständnis der Warenverkehrsfreiheit im Sinne der Urteile „Dassonville“ und „Cassis de Dijon“, das jegliche mitgliedstaatliche Maßnahme, die eine Behinderung des EU-ausländischen Markteilnehmers darstellte Keck-Formel: – auch wenn diese gleichermaßen auf Inländer Anwendung Vertriebsbezogene Regelungen sind fand – für rechtswidrig (mit Rechtfertigungsmöglichkeit) erklärte. keine MglW, wenn sie weder rechtlich noch tatsächlich diskriminieren. Der EuGH sah sich daher im Keck-Urteil (EuGH, Rs C-267 und 268/91, Slg 1993, I-6097) gezwungen einer drohenden nahezu flächendeckenden Kontrolle nationaler Regelungen entgegenzutreten. Der EuGH vertrat dabei die Auffassung, dass Regelungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken
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oder verbieten (sog vertriebsbezogene Regelungen wie zB Ladenschlussregelungen, Werbebeschränkungen, Preisregelungen usw), keine MglW sind, sofern diese Bestimmungen für alle Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im betreffenden Mitgliedstaat ausüben, und sofern diese Bestimmungen den Absatz inländischer Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Auf inländische und eingeführte Waren unterschiedslos anwendbare Maßnahmen sind nach Auffassung des EuGH in der Regel nur dann an den Garantien der Warenverkehrsfreiheit zu messen, wenn es sich dabei um direkt den Marktzutritt betreffende mitgliedstaatliche Maßnahmen (zB Regelungen hinsichtlich Zusammensetzung, Form, Bezeichnung und Verpackung der Ware etc) handelt. Als solche werden produktbezogene Regelungen verstanden. Nur diese können daher potentiell MglW sein. Bsp „Keck“: Zwei Betreiber von Supermärkten in Straßburg, Herr Bernard Keck und Herr Daniel Mithouard, wurden bestraft, weil sie Kaffee bzw Aperitif zu unter dem tatsächlichen Einkaufspreis liegenden Preisen weiterverkauft hatten, was in Frankreich verboten ist. Sie brachten vor, dass der Verlustverkauf einzelner Artikel eine notwendige Verkaufspraxis sei, deren Untersagung erhebliche Nachteile mit sich bringe, und sie im Übrigen im Vertrieb von importierten Waren gegenüber Wettbewerbern aus anderen Mitgliedstaaten, in denen der Verkauf unter dem Einstandspreis erlaubt ist, diskriminiert würden. Der EuGH, der von dem mit dem Rechtsstreit befassten Gericht in Straßburg um Auslegung des Gemeinschaftsrechts ersucht worden war, qualifizierte das betreffende französische Gesetz über das Verbot des Weiterverkaufes von (in- und ausländischen) Waren zum Verlustpreis nicht als MglW, da es sich dabei um eine vertriebsbezogene Regelung handelt, die für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer, die ihre Tätigkeit in Frankreich ausüben, gilt und den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berührt. Hervorzuheben ist, dass der EuGH in seiner jüngeren Rechtsprechung (zB Rs C-405/98, Gourmet, Slg 2001, I-1795) neuerlich eine Judikaturwende vorgenommen hat und den Begriff der MglW wieder weiter als im Keck-Urteil fasst. Demnach sind auch vertriebsbezogene Regelungen MglW, wenn sie geeignet sind, den Marktzugang für Erzeugnisse aus einem anderen Mitgliedstaat zu versperren oder stärker zu behindern, Warenverkehrsfreiheit = Marktzugangsrecht als sie dies für inländische Erzeugnisse tun. Bsp „Gourmet“: Nach schwedischem Recht war es verboten, alkoholische Getränke in Rundfunk, Fernsehen, Zeitungen, Zeitschriften oder sonstigen Druckschriften zu bewerben. Einer Firma wurde es daher untersagt, in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift „Gourmet“ Werbeanzeigen für alkoholische Getränke zu veröffentlichen. Der EuGH stufte das in Schweden bestehende umfassende Werbeverbot für (in- und ausländische) alkoholische Getränke als MglW ein: Ein Verbot jeder an die Verbraucher gerichteten Alkohol-Werbung durch Anzeigen in der Presse oder Werbeeinblendungen in Rundfunk und Fernsehen etc sei nämlich geeignet, den Marktzugang für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten stärker zu behindern als für inländische Erzeugnisse, mit denen der Verbraucher unwillkürlich besser vertraut ist. Daher hielt der EuGH die
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für MglW vorgesehene strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung für geboten. Dazu hielt er allerdings fest: Eine Regelung, die die Möglichkeit der Werbung für alkoholische Getränke einschränkt und damit zum Kampf gegen den Alkoholismus beitragen soll, dient dem Gesundheitsschutz und kann daher gerechtfertigt bzw erlaubt sein. Für die konkrete Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des streitigen Werbeverbots, insbesondere zur Frage, ob das angestrebte Ziel durch Verbote/Beschränkungen, die weniger umfangreich sind oder den innergemeinschaftlichen Handel weniger beeinträchtigen, bedarf es laut EuGH der Untersuchung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände, die die Lage in dem betroffenen Mitgliedstaat kennzeichnen und die – in diesem Fall – das vorlegende schwedische Gericht in der Folge durchzuführen hatte. (EuGH Rs C405/98, Gourmet, Slg 2001, I-01795). Die österreichische Regelung, die das Inverkehrbringen eines Fischereierzeugnisses bei Nachweis von Listeria monocytogenes Bakterien verboten hat (Null-Toleranz), ist, wenn es sich um aus einem anderen Mitgliedstaat importierte Fischereierzeugnisse handelt, geeignet, unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern, und ist daher als Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Urteiles „Dassonville“ anzusehen. Dass es sich dabei um eine Vorschrift handelte, die genauso auch für inländische Lebensmittel galt (auch inländische Fische dürften ohne vorherige behördliche Kontrolle und Freigabe nicht in Verkehr gebracht werden), vermag daran nichts zu ändern, denn nach ständiger Rechtsprechung des EuGH („Cassis de Dijon“ etc) können auch unterschiedslos anwendbare Regelungen MglW sein. Da es bei der betreffenden Vorschrift um die Zusammensetzung von Lebensmitteln (Befall von Bakterien) ging, handelte es sich um eine produktbezogene Regelung, sodass die für vertriebsbezogene Regelungen geltenden Besonderheiten („Keck“, „Gourmet“) nicht beachtet werden müssen. Im Ergebnis ist sowohl jede mitgliedstaatliche Maßnahme, die den Marktzugang einer Ware zu beinträchtigen im Stande ist, als auch jede vertriebsbezogene (= Marktausübungsregulierung) Maßnahme, die sich in substantiiert negativer Weise auf den Marktzugang auswirken kann, als verboten anzusehen und kann daher nur bei Bestehen der vollen Verhältnismäßigkeitsprüfung vom betroffenen Mitgliedstaat aufrechterhalten werden. Die „reduzierte“ Prüfung für Verkaufsmodalitäten (de-facto- und de-iure-Gleichbehandlung) spielt insofern keine Rolle mehr. In der jüngsten Judikatur – insb EuGH Rs C-110/05, Kommission/Italien, Slg 2009, I-519, Rz 37, sowie EuGH Rs C-142/05, Mickelsson und Roos, 4. Juni 2009, noch nicht in Slg, Rz 24 – hat der EuGH diese Entwicklung folgerichtig durch die Reformulierung der Abgrenzung der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen zusammengefasst. Demnach unterliegen der (vollen) Überprüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit nunmehr -
Maßnahmen eines Mitgliedstaats, mit denen bezweckt oder bewirkt wird, Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten weniger günstig zu behandeln, sowie
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-
Hemmnisse, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften daraus ergeben, dass Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten Vorschriften entsprechen müssen, selbst wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten („Cassis-de-Dijon-Regel“), und
-
alle sonstigen Maßnahmen, die den Zugang zum Markt eines Mitgliedstaats für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten behindern.
Ausnahmen und Rechtfertigungsgründe
Die Warenverkehrsfreiheit verbietet Kontingentierungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung nicht schlechthin. Nach Art 36 AEUV können mitgliedstaatliche diskriminierende Vorschriften ausnahmsweise aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Rechtfertigungsgründe nach Art 36 Ordnung und Sicherheit, des Schutzes der Gesundheit und des AEUV: öffentliche Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, Gesundheitsschutz, Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des Schutzes des Kulturgüterschutz, gewerblicher nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder Eigentumsschutz archäologischem Wert oder des gewerblichen oder kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sein. Voraussetzung ist allerdings stets, dass die betreffende Maßnahme auch verhältnismäßig (= zur Zielerreichung geeignet, erforderlich und angemessen) ist. Entsprechendes gilt auch für auf in- und ausländische Waren unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, die den freien Warenverkehr beeinträchtigen können. Wie erwähnt können dies produktbezogene oder sonst den Marktzugang Cassis Schutzgüter: zwingende behindernde Maßnahmen sein. In der Rechtssache „Cassis“ Erfordernisse wie zB Verbraucherschutz, urteilte der EuGH, dass unterschiedslose mitgliedstaatliche Umweltschutz, Schutz der Medienvielfalt etc Regelungen als MglW rechtfertigbar und damit zulässig sind, wenn sie notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen, insbesondere einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes, gerecht zu werden. Es muss ein Zweck verfolgt werden, der im Allgemeininteresse liegt (zB auch Umweltschutz, Medienvielfalt etc) und den Erfordernissen des freien Warenverkehrs vorgeht. Das Es gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Verhältnismäßigkeitsgebot muss dabei beachtet werden. Bsp: In Deutschland war es verboten, Bier, das nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot für Bier erzeugt wurde, in Verkehr zu bringen. Diese Regelung galt für in- und ausländisches Bier gleichermaßen. Da im Ergebnis dadurch ausländisches Bier vom Verkauf in Deutschland ausgeschlossen wurde, qualifizierte der EuGH das deutsche Reinheitsgebot als MglW. Was die Frage nach einer allfälligen Rechtfertigung anbelangt, urteilte der EuGH, dass das Reinheitsgebot zwar im Interesse des Verbraucherschutzes gelegen sei, ein Importverbot für ausländisches Bier allerdings nicht erforderlich sei, um dieses Ziel zu erreichen. Eine entsprechende Etikettierungsvorschrift hätte dem Verbraucherschutz hinlänglich Genüge getan. Der EuGH gelangte daher zu dem Ergebnis, dass das deutsche Reinheitsgebot für Bier mangels Verhältnismäßigkeit die Warenverkehrsfreiheit verletzt.
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Ähnlich hatte der EuGH auch im Fall „Cassis de Dijon“ entschieden: Die deutsche Vorschrift über den Mindestalkoholgehalt von Likör, die eine MglW darstellt, kann zwar dem Verbraucherschutz dienen, wenn der Konsument in Deutschland von einem Likör einen bestimmten Alkoholgehalt erwartet und durch den französischen Likör „Cassis de Dijon“ in dieser Erwartung getäuscht wird. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit führt aber dazu, dass dies jedenfalls grundsätzlich ein Verkehrsverbot nicht rechtfertigen kann. Vielmehr genügt es zur Erreichung des Zieles, wenn die Ware eine angemessene Etikettierung erhält, in der der Alkoholgehalt deklariert wird. Beachte: Die Mitgliedstaaten können sich dann nicht mehr auf die in Art 36 AEUV genannten Ausnahmegründe oder auf ein zwingendes Erfordernis im Sinne des „Cassis de Dijon“Urteils berufen, wenn der betreffende Bereich durch Richtlinien oder Verordnungen bereits abschließend harmonisiert ist. Die Warenverkehrsfreiheit steht Einfuhrverboten oder -beschränkungen nicht entgegen, wenn diese auf Grund zwingender Erfordernisse gerechtfertigt und zur Zielerreichung verhältnismäßig sind. Es ist daher zu prüfen, ob die österreichische Entscheidung für eine Null-Toleranz, wie vom Ständigen Ausschuss festgelegt, zum Beispiel aus Gründen des Gesundheitsschutzes bzw des Schutzes von Leben gerechtfertigt und zur Zielerreichung auch verhältnismäßig war. Nach der Rechtsprechung des EuGH nimmt unter den Gründen, die geeignet sind, MglW zu rechtfertigen, der Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen den ersten Rang ein. Soweit beim gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Forschung Unsicherheiten bestehen, ist es Sache der Mitgliedstaaten, in den durch den Vertrag gesetzten Grenzen zu bestimmen, in welchem Umfang sie diesen Schutz gewährleisten wollen, insbesondere, wie streng die durchzuführenden Kontrollen ausfallen sollen. Jedoch ist eine nationale Regelung oder Praxis, die eine den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr beschränkende Wirkung hat oder haben kann, mit dem Vertrag nur vereinbar, soweit sie für einen wirksamen Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen notwendig ist. Für die Beurteilung der Frage, ob eine Gefahr für die Gesundheit besteht, waren insbesondere die zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Ergebnisse der wissenschaftlichen Ausschüsse der Gemeinschaft, im konkreten Fall des wissenschaftlichen Ausschusses für tierärztliche Maßnahmen im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens zu berücksichtigen. Dieser hatte in seiner Stellungnahme festgestellt, dass es sich bei Listeria monocytogenes um einen bakteriellen Krankheitserreger handelt, der ernsthafte Krankheiten beim Menschen verursachen kann. Er kann verschiedene Infektionen hervorrufen, meist greift er jedoch die Gebärmutter von Schwangeren, das Zentralnervensystem und den Blutkreislauf an. Zwar kann Listeriose auch gesunde Kinder und Erwachsene befallen, doch sind die üblicherweise bedrohten Gruppen schwangere Frauen, Neugeborene, ältere Personen und solche, deren Immunsystem durch Medikamente oder Krankheit geschwächt ist. Die Verbreitung der Listeriose ist beim Menschen zwar verhältnismäßig gering (zwei bis fünfzehn Fälle pro 1 Million Einwohner), doch scheint die Todesrate im Bereich zwischen 2040%, bei immungeschwächten Personen sogar bei 75% zu liegen. Der wissenschaftliche Ausschuss für tierärztliche Maßnahmen hat daraus geschlossen, dass Listeriose eine seltene, aber ernste Bedrohung für die menschliche Gesundheit, insbesondere für die er-
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wähnte Risikogruppe, darstellt. Es zeige sich auch, dass beim gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Forschung nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ab welcher Konzentration von Listerien-Krankheitserregern ein Fischereierzeugnis eine Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellt. Da in der RL keine Harmonisierung der Grenzwerte für Bakterien in Fischerzeugnissen durch die EU vorgenommen wurde, war es somit Sache der Mitgliedstaaten, die Grenzwerte für Bakterien in Fischererzeugnissen festzulegen. Die nationale Regelung, die eine Null-Toleranz für Listerien-Krankheitserreger vorsah, war daher mit dem Vertrag vereinbar und stellte einen Rechtfertigungsgrund (Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen) dar. Die Nordpol GmbH hatte sich daher mit den Kontrollen abzufinden und war zur Zahlung der Geldstrafe verpflichtet. (Dieser Fall wurde der Entscheidung des EuGH Rs C-121/00, Slg 2002, I-9193, nachgebildet, zu finden unter http://curia.europa.eu). Mittlerweile wurde die Richtlinie, auf die sich dieser Fall gründet, durch neue Vorschriften auf EU-Ebene ersetzt. Eckpfeiler des neuen Regelungsregimes im Lebensmittelbereich sind ua die VO 852/2004 über Lebensmittelhygiene, die VO 853/2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs sowie die ua auch Listeria monocytogenes Bakterien betreffende Durchführungsverordnung 2073/2005 der Europäischen Kommission über mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel. Letztere legt nun auch hinsichtlich der zulässigen Kontaminierung von Lebensmitteln mit solchen Bakterien Höchstwerte fest und gilt in den Mitgliedstaaten unmittelbar.
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IV. Arbeitnehmerfreizügigkeit
Vom Räucherlachs zu „Clean Car“ (Teil 2) Der Geschäftsführer der Nordpol GmbH, Jochen Hering, hat von den Turbulenzen rund um den dänischen Räucherlachs genug. Er entschließt sich, überhaupt „umzusatteln“ und in Wien eine noch nie da gewesene Servicestation „Clean Car“ für Kraftfahrzeuge in der Form einer GmbH zu errichten, um endlich reich zu werden. Als Geschäftsführer der neuen GmbH gedenkt er, einen guten alten Bekannten aus Berlin, der zwar nicht in Österreich wohnt, dafür aber über sehr viel Erfahrung im Zusammenhang mit „Top-Kfz-Servicestationen“ verfügt, zu bestellen. Sein deutscher Bekannter freut sich schon sehr auf seinen neuen Job, nicht zuletzt auch wegen des angebotenen stattlichen Gehalts, möchte allerdings seinen Wohnsitz vorerst nicht nach Österreich verlegen. Nach Abschluss eines entsprechenden Dienstvertrages meldet Herr Hering beim Magistrat der Stadt Wien das Gewerbe „Wartung und Pflege von Kraftfahrzeugen (Servicestation)“ an. Angenommen, der Magistrat untersagt bescheidmäßig die Ausübung dieses Gewerbes mit der Begründung, dass nach § 39 Abs 2 GewO der Geschäftsführer seinen Wohnsitz im Inland haben und in der Lage sein muss, sich im Betrieb entsprechend zu betätigen. Ist ein solches – angenommenes – Wohnsitzerfordernis europarechtlich erlaubt?
A.
Schutzbereich
Bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit geht es darum, den Staatsangehörigen der EUMitgliedstaaten die Wahl ihres Arbeitsplatzes im gesamten Gebiet der EU zu ermöglichen. Gemäß Art 45 AEUV in Verbindung mit der Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung 1612/68/EWG hat jeder Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates (= Unionsbürger) das Recht, in einem anderen EU-Mitgliedstaat eine unselbständige, wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen und auszuüben. Bsp: Ein österreichischer Informatiker möchte in Deutschland in einer Computerfirma arbeiten. Unselbständig ist die Tätigkeit dann, wenn sie auf Grund eines Arbeitsvertrages ausgeübt wird. Wirtschaftlich ist eine Tätigkeit dann, wenn sie gegen eine Vergütung erbracht wird. Auf die Höhe des Einkommens kommt es dabei nicht an. Auch eine Gegenleistung in Form von Bekleidung, Kost und Unterkunft kann ein Entgelt darstellen. Der Arbeitnehmerbegriff der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist also sehr weit. Man bezeichnet Arbeitnehmer, die in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten, auch als „Wanderarbeitnehmer“. Bsp: Da Profisportler eine unselbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, sind sie nach Auffassung des EuGH (Rs C-415/93, Bosman, Slg 1995, I-4921) ebenfalls Arbeitnehmer im Sinne der Arbeitnehmerfreizügigkeit.
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Die Arbeitnehmerfreizügigkeit schützt nicht nur die grenzüberschreitende, unselbständige Erwerbsbetätigung als solche, sondern gewährt auch Rechte, die mit der Erwerbsbetätigung notwendigerweise eng zusammenhängen. So hat der Wanderarbeitnehmer das Recht, in den anderen Mitgliedstaat einzureisen, dort eine Stelle zu suchen, sich dort frei zu bewegen, aufzuhalten und eine Wohnung zu suchen sowie nach Beendigung der Beschäftigung im Beschäftigungsland zu verbleiben. Seit dem Vertrag von Maastricht besteht darüber hinaus ein allgemeines Aufenthaltsrecht für Unionsbürger, das nicht – wie die Aufenthaltsfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit – eine Erwerbsbetätigung, dafür aber das Vorhandensein einer Krankenversicherung und ausreichender Existenzmittel voraussetzt. Was den Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit in persönlicher Hinsicht anbelangt, wurde bereits festgehalten, dass grundsätzlich nur Wanderarbeitnehmer mit Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates Nutznießer dieser Freizügigkeit Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährt ein Recht auf: sein können. Damit die Arbeitnehmerfreizügigkeit ihre Wirkung Einreise in einen anderen voll entfalten kann, kann sich aber auch ein Arbeitgeber, der im Mitgliedstaat Mitgliedstaat seiner Niederlassung Angehörige eines anderen Stellensuche Aufnahme und Ausübung einer Mitgliedstaates als Arbeitnehmer beschäftigen will, auf die unselbständigen Tätigkeit Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen. Wohnungssuche Aufenthalt Auch den Angehörigen eines Wanderarbeitnehmers stehen Verbleib gewisse Freiheiten zu (zB Wohnrecht und Arbeitsrecht für Ehegatten und Kinder), selbst dann, wenn diese nicht die Staatsangehörigkeit eines EUMitgliedstaates besitzen.
Bsp: Die indische Ehegattin eines britischen Staatsbürgers, der in Frankreich arbeitet, darf in Frankreich ebenfalls wohnen und arbeiten. Aufgrund des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) – in diesem werden die EU und die Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelszone EFTA mit Ausnahme der Schweiz zusammengeführt – können sich aber auch die Auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit könStaatsbürger von Island, Norwegen und Liechtenstein auf die nen sich berufen: Staatsbürger eines EUArbeitnehmerfreizügigkeit berufen. Ferner ist im AssoziatiMitgliedstaates (= Unionsbürger) onsabkommen mit der Türkei eine Arbeitnehmerfreizügigkeit Staatsbürger eines EWRvereinbart worden, allerdings mit der Einschränkung, dass die Mitgliedstaates Angehörige eines WanderarbeitMitgliedstaaten über die Erstzulassung von türkischen nehmers (auch wenn sie nicht Staatsangehörigen, dh über die Zuwanderungsquote, selbst frei EU/EWR-Bürger sind!) entscheiden können. Angesichts der politischen Sensibilität des Themas finden sich im Beitrittsvertrag zur EUErweiterung 2004 Übergangsvorschriften, welche die volle Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf Arbeitnehmer aus den „neuen“ Mitgliedstaaten für maximal sieben Jahre aufschiebbar machen. Innerhalb dieses Zeitraums dürfen die „alten" Mitgliedsstaaten den Zugang zu ihren Arbeitsmärkten weiterhin beschränken. Bis zur Dauer von zwei Jahren nach dem Beitritt ist dies ohne weitere Einschränkung zulässig. Österreich hat, wie viele andere „alte“ Mitgliedsstaaten, davon Gebrauch gemacht, nämlich durch das EU-ErweiterungsAnpassungsgesetz (BGBl I 2004/28). Eine Verlängerung auf fünf Jahre ist auf der Grundlage einer Mitteilung an die Kommission möglich. Eine nochmalige Verlängerung auf insgesamt
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sieben Jahre (und nach neuerlicher Mitteilung) ist dann nur noch zulässig im Falle „schwerwiegender Störungen“ des Arbeitsmarktes oder bei Gefahr derartiger Störungen. Eine grundsätzlich gleiche, einen maximalen Rahmen von sieben Jahren umfassende Regelung gilt auch gegenüber den 2007 beigetretenen Ländern Bulgarien und Rumänien. Zusätzliche Erleichterungen für die Inanspruchnahme des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts brachte die neue Freizügigkeits- und Aufenthaltsrichtlinie 2004/38/EG. Die Richtlinie sieht einen Abbau administrativer Hürden vor und verleiht allen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Recht auf Daueraufenthalt, wenn sie sich fünf Jahre lang ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben. Auch der Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Ablehnung und Beendigung des Aufenthaltes von EU-Bürgern aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit wird durch die RL weiter eingeschränkt. Jochen Hering hat einen deutschen Staatsbürger, der in Berlin wohnt, zum Geschäftsführer für seine Kfz-Servicestation in Wien bestellt. Es liegt somit kein reiner Inlandssachverhalt, sondern ein solcher mit Bezug zu einem anderen EU-Mitgliedsstaat vor. Die Grundfreiheiten sind demnach prinzipiell anwendbar. Da es um die Mobilität des Produktionsfaktors Arbeit geht, kommt vor allem die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Betracht. Sein deutscher Bekannter möchte in Österreich auf der Grundlage eines mit ihm abgeschlossenen Dienstvertrages für ihn arbeiten. Er möchte also in einem anderen Mitgliedstaat eine unselbständige wirtschaftliche Tätigkeit aufnehmen. Er kann sich daher grundsätzlich auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen. Da jedoch nicht sein Bekannter, sondern Jochen Hering gewerbeanmeldender Adressat des Untersagungsbescheides ist, stellt sich die Frage, ob auch er sich auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann, um den Bescheid des Magistrats zu „kippen“. Der EuGH beantwortete diese Frage im beispielhaft angeführten Fall „Clean Car“ (Rs C350/96, Slg 1998, I-252) folgendermaßen: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit kann nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn die Arbeitgeber ein entsprechendes Recht darauf haben, Arbeitnehmer nach Maßgabe der Bestimmungen über die Freizügigkeit einstellen zu können. Ansonsten könnte ja ein Mitgliedstaat die in den Bestimmungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit enthaltenen Verbote leicht dadurch umgehen, indem er den Arbeitgebern die Einstellung eines Arbeitnehmers verbietet, der gewisse Voraussetzungen nicht erfüllt, die – wenn der Arbeitnehmer unmittelbar zu ihrer Erfüllung verpflichtet würde – Beschränkungen seines Rechts auf Freizügigkeit darstellen würden. Daraus folgt, dass sich auch ein Arbeitgeber, der im Mitgliedstaat seiner Niederlassung Angehörige eines anderen Mitgliedstaats als Arbeitnehmer beschäftigen will, auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann. Fazit: Auch Herr Hering als Arbeitgeber kann unrechtmäßige Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die seine (potentiellen) Arbeitnehmer betreffen, geltend machen.
B.
Ausnahmen vom Schutzbereich
Nicht der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterliegen Beschäftigungen in der öffentlichen Verwaltung. Darunter werden jene Tätigkeiten verstanden, die in Ausnahme: Ausübung öffentlicher Gewalt Ausübung hoheitlicher Befugnisse erfolgen und inhaltlich
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Aufgaben betreffen, die ein besonderes Naheverhältnis zwischen Stelleninhaber und Staat voraussetzen. Bsp: Tätigkeiten bei der Polizei, in der Justiz, Armee, Steuerverwaltung; nicht jedoch Beschäftigungen in öffentlichen Unternehmen oder die Beschäftigung als Lehrer.
C.
Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot
Der Kerngehalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit besteht darin, dass in ihrem Anwendungsbereich (also bei Sachverhalten, die der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterliegen) weder ausdrücklich noch versteckt diskriminiert werden darf. Jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmern, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaates sind, hinsichtlich Beschäftigung, Entlohnung und sonstiger Arbeitsbedingungen, aber auch hinsichtlich sozialer und steuerlicher Vergünstigungen (zB Kündigungsschutz für Behinderte, Fahrtkostenentschädigung, Bereitstellung einer Wohnung durch den Arbeitgeber) ist grundsätzlich verboten; es sei denn, die Diskriminierung lässt sich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit – unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – rechtfertigen. Bsp: Nach den Statuten der Berufs-Fußballverbände in Europa durften bei Meisterschaftsspielen von Vereinsmannschaften nicht mehr als drei Ausländer gleichzeitig eingesetzt werden. Der EuGH (Rs C-415/93, Bosman, Slg 1995, I-4921) qualifizierte diese Regelung als ausdrückliche Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, weil in Bezug auf Inländer keine solche Sperrklausel bestand. Da es dafür auch keinen Rechtfertigungsgrund gab, sah der EuGH in der betreffenden Regelung einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das Diskriminierungsverbot der Arbeitnehmerfreizügigkeit weist darüber hinaus noch eine Besonderheit auf. Es richtet sich nämlich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht nur an die Mitgliedstaaten, sondern auch an Das Diskriminierungsverbot der Arbeitnehmerfreizügigkeit richtet sich auch an private Personen. Das heißt, dass auch alle Bestimmungen in den privaten Arbeitgeber. Kollektiv- und Einzelarbeitsverträgen betreffend Zugang zur Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeits- und Kündigungsbedingungen, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten diskriminieren, grundsätzlich verboten sind. Bsp: Roman Angonese, ein italienischer Staatsangehöriger deutscher Muttersprache, der in Österreich studierte und dort auch Berufserfahrungen gesammelt hatte, bewarb sich für eine Stelle in einer privaten Bankgesellschaft in Bozen. Zu den Bedingungen für die Zulassung zum Auswahlverfahren gehörte der Besitz einer Bescheinigung über die Zweisprachigkeit (Italienisch/Deutsch), welche von der öffentlichen Verwaltung der Provinz Bozen nach einer Prüfung, die nur in dieser Provinz stattfand, ausgestellt wurde. Da Herr Angonese nicht im Besitz einer solchen Bescheinigung war, wurde er zum Auswahlverfahren nicht zugelassen – trotz vollkommener Beherrschung sowohl der italienischen als auch der deutschen Sprache. Der EuGH (Rs C-281/98, Angonese, Slg 2000, I-4139) sah darin einen Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit und begründete dies wie folgt: Das Diskriminierungsverbot der Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt auch für Privatpersonen. Das von der betreffenden privaten Bankgesellschaft in Bozen
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aufgestellte Erfordernis einer Bescheinigung über die Zweisprachigkeit, die nur in der Provinz Bozen erworben werden kann, bewirkt eine versteckte Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Personen, die nicht in der Provinz Bozen wohnen (das sind vor allem auch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten), haben nämlich wenig Möglichkeiten, die betreffende Bescheinigung zu erwerben, so dass es für sie schwierig, ja sogar unmöglich sein wird, den betreffenden Arbeitsplatz zu erhalten. Es kann zwar legitim sein, von einem Bewerber um eine Stelle Sprachkenntnisse eines bestimmten Niveaus zu verlangen, und es kann der Besitz eines Diploms wie der Bescheinigung ein Kriterium darstellen, anhand dessen sich diese Kenntnisse beurteilen lassen. Es muss aber als unverhältnismäßig angesehen werden, wenn es unmöglich ist, den Nachweis dieser Kenntnisse auf andere Weise, insbesondere durch andere im EU-Ausland erlangte gleichwertige Qualifikationen zu erbringen. Der EuGH gelangte daher zum Ergebnis, dass die von der privaten Bankgesellschaft geforderte Bescheinigung wegen Unverhältnismäßigkeit die Arbeitnehmerfreizügigkeit verletzt. Grundsätzlich verboten sind neben direkten und versteckten Diskriminierungen auch nicht diskriminierende Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, es sei denn, dass diese aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses erforderlich und verhältnismäßig sind. Bsp: Nach den Statuten der Berufs-Fußballverbände in Europa war bei einem Vereinswechsel eines Spielers auch nach Ablauf des Vertrages durch den neuen Verein an den bisherigen eine „Ablösesumme“ zu zahlen, die nicht selten Beträge in Millionenhöhe erreichte. Ohne Zahlung der Ablösesumme konnte dementsprechend zB ein Spieler eines französischen Fußballvereins bei Ablauf seines Vertrages nicht zu einem italienischen Fußballklub wechseln. Der EuGH (Rs C-415/93, Bosman, Slg 1995, I4921) wertete diese nicht nach der Staatsangehörigkeit differenzierende Vorschrift über die Leistung einer Transferentschädigung als Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Regelung ist nämlich geeignet, die Freizügigkeit der Spieler, die ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollen, dadurch einzuschränken, dass sie die Spieler sogar nach Ablauf der Arbeitsverträge mit den Vereinen, denen sie angehören, daran hindern oder davon abhalten, diese Vereine zu verlassen. Kurzum: Sie behindert die Mobilität der Spieler. Da der EuGH weder sportliche Gründe noch allfällige Interessen der ausbildenden Vereine als Rechtfertigungsgründe gelten ließ, kam er zum Ergebnis, dass die Vorschrift über die Leistung einer Transferentschädigung gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstößt. Es stellen demnach auch unterschiedslos anwendbare Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, Beeinträchtigungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit dar. Dies ist jedoch nur dann der Arbeitnehmerfreizügigkeit = Fall, wenn sie den Zugang der Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt Marktzugangsfreiheit eines anderen Mitgliedstaates beeinflussen. Bsp: Das österreichische Angestelltengesetz sieht für den Fall der Auflösung des Dienstverhältnisses für den Dienstnehmer einen Abfertigungsanspruch vor. Ein solcher bestand nach alter Rechtslage (dh bis zum In-Kraft-Treten des Betrieblichen Mitarbei-
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tervorsorgegesetzes, BGBl I 100/2002) jedoch dann nicht, wenn der Angestellte selbst kündigte. Der deutsche Staatsbürger Volker Graf, der einige Jahre in Österreich als Angestellter gearbeitet hatte, kündigte seinen Dienstvertrag, um nach Deutschland zu übersiedeln und dort eine neue Beschäftigung aufzunehmen. Von seinem bisherigen Arbeitgeber verlangte er eine Abfertigung. Diese wurde ihm jedoch verweigert unter Hinweis darauf, dass er ja selbst gekündigt hätte. Herr Graf vertrat jedoch die Ansicht, dass ihm auf Grund der Arbeitnehmerfreizügigkeit nichtsdestotrotz eine Abfertigung zustehen müsse. Der EuGH, der von dem mit dem Rechtsstreit befassten österreichischen Gericht um Auslegung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im konkreten Fall ersucht worden war, urteilte (Rs C-190/98, Graf, Slg 2000, I-00493), dass die Abfertigungsregelung des österreichischen Angestelltengesetzes nicht gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstoßen hat. Sie bewirkte nämlich weder eine ausdrückliche noch eine versteckte Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, da ja auch inländischen Arbeitnehmern im Falle einer Selbstkündigung kein Abfertigungsanspruch zustand. Es lag nach Ansicht des EuGH aber auch keine Beschränkung vor, die Herrn Graf daran hinderte, Österreich zu verlassen, um eine Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben. Eine Beschränkung liegt nämlich nur dann vor, wenn der Zugang der Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt eines anderen Mitgliedstaates beeinflusst wird. Eine allfällige beschränkende Wirkung der Abfertigungsregelung des österreichischen Angestelltengesetzes war jedoch zu ungewiss und indirekt, als dass von einer Marktzugangsbeschränkung und damit von einer Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gesprochen werden konnte. Anmerkung: Man kann darüber diskutieren, ob dies wirklich eine überzeugende Begründung für die im Ergebnis vom Bosman-Urteil abweichende Entscheidung ist. Die vom Magistrat ins Treffen geführte gesetzliche Bestimmung verlangt, dass der gewerberechtliche Geschäftsführer seinen Wohnsitz im Inland haben muss. Da dies nicht nur für einen ausländischen, sondern auch für einen österreichischen Geschäftsführer gilt, werden durch das betreffende Gesetz Ausländer jedenfalls nicht ausdrücklich diskriminiert. Eine nationale Vorschrift, die eine Unterscheidung auf Grund des Kriteriums des Wohnsitzes trifft, wirkt sich allerdings hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten aus, da Gebietsfremde meist Ausländer sind. Das vom Magistrat eingemahnte Inlandswohnsitzerfordernis stellt demnach eine versteckte Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar. Diskriminierungen sind allerdings nicht schlechthin verboten. So könnte die mit dem Wohnsitzerfordernis einhergehende Diskriminierung erlaubt sein, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer unabhängigen Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimen Zweck stünde, den das nationale Recht verfolgt. Der EuGH konnte im Fall „Clean Car“ keine Rechtfertigung für die Diskriminierung finden. Das Wohnsitzerfordernis bietet nämlich nicht notwendig Gewähr dafür, dass – was als Rechtfertigung ins Treffen geführt werden könnte – der Geschäftsführer in der Lage ist, sich im Betrieb entsprechend zu betätigen, wenn er in dem Mitgliedstaat wohnt, in dem das Gewerbe ansässig ist und ausgeübt wird. Ein Geschäftsführer, der in diesem Staat an einem Ort wohnt, der vom Ort des Gewerbebetriebes weit entfernt ist, wird im Allgemeinen größere Schwierigkeiten haben, sich
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im Betrieb entsprechend zu betätigen, als eine Person, die in einem anderen Mitgliedstaat an einem Ort wohnt, der vom Ort des Gewerbebetriebs nicht weit entfernt ist. Des Weiteren lässt sich auch durch weniger einschneidende Maßnahmen sicherstellen, dass – was als weitere Rechtfertigung ins Treffen geführt werden könnte – die Bescheide über die gegen den Geschäftsführer verhängten Geldstrafen diesem zugestellt und die Strafen vollstreckt werden können. Zu denken wäre etwa an die Zustellung des Strafbescheids am Sitz des Gewerbebetriebs, der den Geschäftsführer beschäftigt, oder die Absicherung seiner Zahlung durch die vorherige Stellung einer Sicherheit. Der EuGH würde daher zum Ergebnis gelangen, dass das Wohnsitzerfordernis gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstößt. (Unser Beispielfall ist dem Fall „Clean Car“, Rs C-350/96, Slg 1998, I-00252, nachgebildet, die Bestimmung in der österreichischen GewO hat es tatsächlich gegeben. Nach § 39 Abs 2a GewO in der heute geltenden Fassung muss der Geschäftsführer seinen Wohnsitz nicht im Inland haben, sofern die Zustellung der Verhängung und die Vollstreckung von Verwaltungsstrafen durch Übereinkommen sichergestellt sind, oder es sich um einen Staatsangehörigen einer EWR-Vertragspartei handelt, der seinen Wohnsitz in einem EWR-Vertragsstaat hat.)
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V.
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Niederlassungsfreiheit
Was für Arbeiter und Angestellte gilt, gilt auch für Selbständige. Auch sie können innerhalb des Binnenmarktes erwerbstätig sein, wo sie wollen. Hievon Die Niederlassungsfreiheit schützt Unionsbürger und EWR-zugehörige ausgenommen ist lediglich der Bereich der Ausübung Personen, die in einem anderen Mitöffentlicher Gewalt (zB hoheitliche Tätigkeiten eines Notars wie gliedstaat unternehmerisch tätig sein Beglaubigungen etc). wollen. Die Niederlassungsfreiheit gewährt das Recht zur Aufnahme und Ausübung einer dauerhaften selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat mittels einer dortigen festen Einrichtung (Art 49 AEUV). Selbständig ist eine Erwerbstätigkeit dann, wenn sie auf eigene Rechnung und Gefahr – also nicht in einem Arbeitsverhältnis – ausgeübt wird. Die Niederlassungsfreiheit umfasst laut AEUV auch das Recht zur Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften unter denselben Bedingungen wie für Inländer. Auf die Niederlassungsfreiheit können sich alle Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates der EU bzw des EWR berufen, und zwar grundsätzlich unabhängig davon, wo sie ansässig sind. Die Gründung von Agenturen und Zweigniederlassungen kommt Staatsbürgern eines Mitgliedstaates aber nur dann zu, wenn sie in einem Mitgliedstaat ansässig sind. Bsp: Ein EU-Bürger, der in den USA ansässig ist und dort ein Unternehmen betreibt, kann sich nicht auf die Niederlassungsfreiheit berufen, wenn er eine Agentur oder eine Zweigniederlassung seines Unternehmens in einem Mitgliedstaat errichten will. Auf die Niederlassungsfreiheit können sich auch Gesellschaften und juristische Personen berufen. Voraussetzung ist, dass sie nach den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaates gegründet worden sind und ihren Sitz, ihre Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung in einem Mitgliedstaat haben. Gesellschaften haben auch das Recht, in jedem Mitgliedstaat Tochtergesellschaften zu gründen. Im Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit sind (ausdrückliche und versteckte) Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit sowie Beschränkungen der freien Standortwahl grundsätzlich verboten.
Die Niederlassungsfreiheit schützt vor Diskriminierungen und Beschränkungen der freien Standortwahl.
Bsp: Einem deutschen Rechtsanwalt, der eine Kanzlei in Deutschland unterhielt, wurde die Gründung einer weiteren Kanzlei in Paris unter Berufung auf eine französische Vorschrift, welche (in- und ausländischen) Anwälten nur einen (in seinem Handlungsradius stark eingeschränkten) Kanzleisitz gestattet, untersagt. Der EuGH (Rs 107/83, Klopp, Slg 1984, 2971) betrachtete diese – nicht diskriminierende – französische Regelung als unzulässige Beschränkung der freien Standortwahl. Die Niederlassungsfreiheit gibt natürlichen und juristischen Personen das Recht, in einem anderen Mitgliedstaat eine dauernde selbständige Tätigkeit unter den gleichen Bedingungen wie Inländer auszuüben. Nach wie vor nicht ganz geklärt ist aber die Frage, ob Gesellschaften aufgrund der Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit auch ein Anspruch auf Ver-
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legung des Hauptsitzes in einen anderen Mitgliedstaat zusteht. Ein solcher Anspruch würde dazu führen, dass im Falle einer Sitzverlegung die Gesellschaft nach den – eventuell strengeren Vorschriften – des Aufnahmestaates nicht neu gegründet werden muss und darüber hinaus auch ihre Liquidierung im Herkunftsmitgliedstaat (unter Auflösung und Versteuerung stiller Reserven) unterbleiben kann. Dies könnte im Ergebnis somit eine Bevorzugung von im EU-Ausland gegründeten Unternehmen gegenüber inländischen Unternehmensgründungen bewirken bzw die Besteuerungsrechte des „Wegzugsstaates“ beinträchtigen (= Inländerdiskriminierung). Da das Gesellschafts- und Steuerrecht in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche Bedingungen für Unternehmensgründungen und Sitzverlegungen aufstellt, hat die Beantwortung dieser Frage in der Praxis weitreichende Folgen. Der EuGH hat bislang klargestellt (Rs C-208/00, Überseering, Slg 2002, I-9919), dass der Aufnahmestaat dazu verpflichtet ist, die Rechtsfähigkeit von im EU-Ausland gegründeten Gesellschaften anzuerkennen. Hingegen hat er sich noch nicht darüber geäußert, ob bei Sitzverlegung einer Gesellschaft eine Neugründung im Aufnahmestaat und die Liquidierung der Gesellschaft im Herkunftsstaat unterbleiben können. Geplant ist, diese Frage in einer Richtlinie über die Sitzverlegung zu regeln. Geklärt ist hingegen die Rechtslage bei Gründung einer Zweigniederlassung in einem anderen EU-Mitgliedstaat. Bsp: In Großbritannien wurde pro forma eine Gesellschaft gegründet, um sodann eine Zweigniederlassung in Dänemark errichten zu können. Man ersparte sich dadurch die Erfüllung der – im Vergleich zum englischen Gesellschaftsrecht – strengeren rechtlichen Voraussetzungen für Gesellschaftsgründungen nach dänischem Recht. Der EuGH (Rs C-212/97, Centros, Slg 1999, I-1459) sah darin keine Umgehung des dänischen Gesellschaftsrechts. Da er auch keine Rechtfertigungsgründe unter dem Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes anerkannte, war Dänemark entsprechend verpflichtet, im Sinne der Freiheit der Standortwahl die wirksam nach englischem Recht gegründete Gesellschaft (und ihre Zweigniederlassung in Dänemark) als rechtsfähig anzuerkennen. In einem solchem Fall ist laut EuGH das Recht des Gründungsmitgliedstaates hinsichtlich Mindestkapitalvorschriften und Haftung der Gesellschafter anzuwenden (im Beispiel ist für dänische Behörden also englisches Recht als Entscheidungsgrundlage relevant). Der Aufnahmemitgliedstaat darf des Weiteren keine zusätzlichen Vorschriften in diesen Regelungsbereichen erlassen (Rs C-167/01, Inspire Art, Slg 2003, I-10155). Ist in den bisher angeführten Fällen die Beschränkung immer von jenem Mitgliedstaat, in den sich die juristische Person begeben wollte, ausgegangen, so kann es dazu auch seitens des Gründungsmitgliedstaates kommen, also zB um den Wegzug von Unternehmen zu verhindern. Diesbezüglich geht der EuGH davon aus, dass die Niederlassungsfreiheit zwar grundsätzlich auch ein Wegzugsrecht beinhaltet. In der Rechtssache Daily Mail (C-81/87, Slg 1988, 5483) hat der Gerichtshof aber steuerliche Wegzugsbeschränkungen für Gesellschaften für zulässig erklärt. Den soeben skizzierten Unsicherheiten der Sitzverlegung kann neuerdings durch Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE) begegnet werden. Die Er-
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richtung einer solchen „Europa-AG“ bedingt allerdings, dass die Wirtschaftstätigkeit in mindestens zwei EU-Mitgliedstaaten ausgeübt wird. Die SE kann durch grenzüberschreitende Verschmelzung, durch Errichtung einer gemeinsamen Holdinggesellschaft, durch Gründung einer gemeinsamen Tochtergesellschaft oder etwa durch Umwandlung einer nationalen Aktiengesellschaft, wenn diese eine Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat hat, erfolgen. Die konkrete Ausgestaltung der SE richtet sich nach den Bestimmungen der unmittelbar anwendbaren EU-Verordnung über das Statut der Europäischen Gesellschaft (VO 2157/2001), nach dem jeweiligen nationalen Gesetz sowie der Satzung der SE. Der Sitz der SE muss in der Union liegen, und zwar in dem Mitgliedstaat, in dem sich die Hauptverwaltung befindet, das Stammkapital mindestens € 120.000,-- betragen. Der Sitz der SE kann gemäß den Bestimmungen der Verordnung in einen anderen Mitgliedstaat verlegt werden, was weder die Auflösung der SE noch die Gründung einer neuen juristischen Person erfordert. Im Rahmen der Niederlassungsfreiheit können ganz allgemein Diskriminierungen – wie bei den anderen Grundfreiheiten – aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein. Auch nicht diskriminierende Beschränkungen können aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses – und unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – gerechtfertigt sein. Bsp: Angenommen, Italien schreibt für die Ausübung des Rechtsanwaltberufes die Absolvierung des rechtswissenschaftlichen Studiums in Italien vor. EU-Ausländer könnten demnach zwar auch in Italien den Rechtsanwaltberuf ausüben. Voraussetzung wäre jedoch, dass sie in Italien Jus studiert haben. Da dieses Erfordernis von Inländern viel leichter erfüllt werden kann als von ausländischen Unionsbürgern, die in der Regel nicht in Italien leben, läge insoweit eine versteckte Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vor. Diese ließe sich allenfalls mit dem Argument rechtfertigen, dass das Erfordernis eines italienischen Jus-Studienabschlusses Rechtsberatung durch Rechtsanwälte, die des italienischen Rechts nicht kundig sind, hintanhalten soll. Im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügt es jedoch zur Erreichung dieses Regelungszwecks (Schutz der Klienten vor rechtsunkundiger Beratung), die Berufsbezeichnung nach dem Heimatstaat führen zu müssen, wodurch der Klient nämlich leicht erkennen kann, dass der betreffende Rechtsanwalt nicht im italienischen Recht ausgebildet ist. Die betreffende italienische Reglung verletzt daher wegen Unverhältnismäßigkeit die Niederlassungsfreiheit. Herr Hering möchte in Österreich auf eigene Rechnung und Gefahr eine Servicestation für Kraftfahrzeuge betreiben. Er will demnach in Österreich einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit auf Dauer nachgehen. Unter der Voraussetzung, dass er Österreicher ist und nicht von einem anderen EUMitgliedsstaat nach Österreich „heimgekehrt“ ist, um hier eine Kfz-Servicestation zu errichten, kann er sich allerdings nicht gegenüber Österreich auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Er selbst wird nämlich nicht in einem anderen Mitgliedstaat tätig, so dass insoweit ein rein interner Sachverhalt vorliegt. Reine Inlandssachverhalte sind ausschließlich nach innerstaatlichem Recht zu beurteilen.
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VI. Dienstleistungsfreiheit Bei der Dienstleistungsfreiheit geht es um selbständige (insbesondere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche oder freiberufliche) vorübergehende Tätigkeiten, die gegen Entgelt erbracht werden und ein grenzüberschreitendes Element aufweisen (Art 56 AEUV). Die Dienstleistungsfreiheit kommt allerdings erst dann zum Tragen, wenn die betreffende Tätigkeit nicht schon den Vorschriften über die anderen Grundfreiheiten unterliegt. Die Dienstleistungsfreiheit ist insoweit eine „Auffang“-Grundfreiheit. Das „grenzüberschreitende Element“ kann auf verschiedene Weise verwirklicht sein. Von aktiver Dienstleistungsfreiheit wird dann gesprochen, wenn die Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich in dem, in dem der Dienstleistungsempfänger ansässig ist, erbracht wird.
Aktive/passive Dienstleistungsfreiheit
Bsp: Ein Heilmasseur aus Deutschland bietet auch in Österreich im Rahmen einer Gesundheitswoche seine Therapien und Massagen an. Unter die sog passive Dienstleistungsfreiheit fallen all jene Fälle, in denen sich der Leistungsempfänger zur Entgegennahme der Leistung in einen anderen Mitgliedstaat begibt. Bsp: Eine Schwedin reist nach Griechenland, um dort Urlaub zu machen.
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Grenzüberschreitender Dienstleistungsverkehr liegt aber auch dann vor, wenn sich beide – Dienstleistungserbringer und Dienstleistungsempfänger – in einen anderen Mitgliedstaat begeben. Bsp: Österreichische Touristen reisen mit einem österreichischen Fremdenführer nach Frankreich. Grenzüberschreitender Dienstleistungsverkehr liegt schließlich auch dann vor, wenn nur die Dienstleistung die Grenze überschreitet, Dienstleistungserbringer und -empfänger jedoch in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat verbleiben. Bsp: Grenzüberschreitende Durchführung von Bank- und Versicherungsdienstleistungen, grenzüberschreitende Rundfunksendungen, Telefonwerbung über die Grenze etc. Auf die Dienstleistungsfreiheit kann sich eine natürliche Person dann berufen, wenn sie die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EU bzw des EWR besitzt und in einem Mitgliedstaat ansässig ist. Auch Gesellschaften können sich auf die Die Dienstleistungsfreiheit schützt UniDienstleistungsfreiheit berufen, sofern sie nach den onsbürger und EWR-zugehörige Persogesellschaftsrechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaates nen, die in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen erbringen oder in gegründet worden und innerhalb der EU ansässig sind. AnAnspruch nehmen wollen. gemerkt sei (nochmals), dass sich auch Dienstleistungsempfänger auf die Dienstleistungsfreiheit berufen können (passive Dienstleistungsfreiheit). Bsp: Ein Tourist mit Staatsangehörigkeit eines (anderen) Mitgliedstaates der EU bzw des EWR, der – anders als die einheimischen Touristen – keine Ermäßigung für den Museumseintritt bekommt, kann sich auf die passive Dienstleistungsfreiheit berufen. Von der Warenverkehrsfreiheit unterscheidet sich die Dienstleistungsfreiheit dadurch, dass es bei der Warenverkehrsfreiheit um materielle, bei der Dienstleistungsfreiheit dagegen um immaterielle Produkte geht. Bsp: Der Export von Uhren von Frankreich nach Deutschland unterliegt der Warenverkehrsfreiheit. Wenn ein deutscher Uhrmacher auch in Frankreich vorübergehend Reparaturleistungen anbietet, dann ist die Dienstleistungsfreiheit einschlägig. Ein Werbeverbot in Bezug auf die Ausstrahlung einer Werbesendung ohne Bezug zu einer Ware muss die Anforderungen der Dienstleistungsfreiheit beachten. Ein Werbeverbot, das sich auf den Vertrieb bestimmter Waren bezieht, unterliegt demgegenüber der Warenverkehrsfreiheit. Von der Niederlassungsfreiheit unterscheidet sich die Dienstleistungsfreiheit durch den bloß vorübergehenden Charakter der Tätigkeit. Während bei der Niederlassung die betreffende Tätigkeit dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübt werden soll, will der Dienstleistungserbringer nur vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat tätig werden. Der vorübergehende Charakter einer Dienstleistung im Sinne der Dienstleistungsfreiheit schließt allerdings nicht die Möglichkeit für den Dienstleistungserbringer aus, sich im Aufnahmemitgliedstaat mit der Infrastruktur einschließlich eines Büros, einer Praxis oder einer Kanzlei auszustatten, die für die Erbringung seiner Leistung erforderlich ist.
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Bsp: Wenn ein deutscher Rechtsanwalt hin und wieder in Italien Mandanten in Prozessen vertritt und zu diesem Zweck in Mailand einen Büroraum angemietet hat, so geht es bei der betreffenden Prozessvertretung um Dienstleistung im Sinne der Dienstleistungsfreiheit. Von der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterscheidet sich die Dienstleistungsfreiheit dadurch, dass der Arbeitnehmer unselbständig, der Dienstleistende dagegen selbständig tätig wird. Was die Abgrenzung zur Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit anbelangt, unterliegen nur Dienstleistungen, die mit dem Kapitalverkehr verbunden sind, nicht aber bereits Kapitalverkehr ausmachen, der Dienstleistungsfreiheit. Bsp: Eine österreichische Bank erbringt Beratungsdienstleitungen gegenüber deutschen Kunden. Überweist der deutsche Kunde hingegen Geld auf sein österreichisches Bankkonto, gelangt (unter Umständen neben der Dienstleistungsfreiheit) die Zahlungsverkehrsfreiheit zur Anwendung. Im Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit sind (ausdrückliche und versteckte) Diskriminierungen des Erbringers oder Empfängers von Diskriminierungen und Beschränkungen Dienstleistungen verboten, es sei denn, sie lassen sich aus sind grundsätzlich verboten. Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit – unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – rechtfertigen. Bsp: Nach französischem Recht konnten nur inländische Opfer von Straftaten bei schweren Körperverletzungen vom Staat eine Entschädigung verlangen, wenn ausreichende Wiedergutmachung vom Verletzer nicht erlangt werden konnte. Der Brite Cowan, der bei einem touristischen Aufenthalt in Paris überfallen, ausgeraubt und schwer verletzt worden war, hatte dementsprechend keinen Anspruch auf Opferentschädigung. Der EuGH (Rs 186/87, Cowan, Slg 1989, 195) sah darin einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit, da ausländische Dienstleistungsempfänger gegenüber inländischen ohne Rechtfertigung ausdrücklich diskriminiert wurden. Verboten sind auch alle nicht diskriminierenden Beschränkungen, die sich nicht aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses rechtfertigen lassen und/oder nicht verhältnismäßig sind. Bsp: In den Niederlanden ist es In- und Ausländern verboten, mit Privatleuten (im Inund Ausland) ohne deren vorherige schriftliche Zustimmung telefonisch Kontakt aufzunehmen, um ihnen verschiedene Finanzdienstleistungen anzubieten. Dieses Verbot des so genannten „cold calling“ bewirkt nach Auffassung des EuGH (Rs C-384/93, Alpine Investments, Slg 1995, I-1141) zwar keine Diskriminierung, sehr wohl aber eine Beschränkung. Das Verbot nimmt nämlich den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern ein schnelles und direktes Mittel der Werbung und der Kontaktaufnahme mit potentiellen Kunden in anderen Mitgliedstaaten. Es beeinflusst damit unmittelbar den Zugang zum Dienstleistungsmarkt in den anderen Mitgliedstaaten. Der EuGH sah das Verbot des „cold calling“ allerdings aus Gründen des Verbraucherschutzes und des Schutzes des guten Rufes der niederländischen Finanzmärkte als gerechtfertigt und zur Wahrung dieser Interessen als verhältnismäßig an.
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Herr Hering will in Österreich auf eigene Rechnung und eigene Gefahr eine Servicestation für Kraftfahrzeuge betreiben. Er möchte demnach einer selbständigen, in der Regel entgeltlichen Tätigkeit nachgehen, allerdings nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer. Da er nicht von einem anderen Mitliedstaat aus in Österreich Leistungen anbieten will, mangelt es zudem auch am grenzüberschreitenden Element, sodass eine Berufung auf die Dienstleistungsfreiheit jedenfalls ausscheidet.
VII.
Die Dienstleistungsrichtlinie
Die Ende 2006 nach heftig geführten öffentlichen Diskussionen verabschiedete Dienstleistungsrichtlinie (Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt) findet – allerdings erst ab 2010 – Anwendung auf eine Vielzahl von grenzüberschreitenden Dienstleistungstätigkeiten im wirtschaftlichen Sinn, die im rechtlichen Sinn entweder in Form der Dienstleistungsfreiheit oder der Niederlassungsfreiheit erbracht werden können. Die Richtlinie ist daher für beide zuvor behandelten Grundfreiheiten einschlägig. Wird eine Dienstleistung in Form der Niederlassungsfreiheit erbracht, so sieht der Sekundärrechtsakt als lex specialis zu den zuvor unter dem Kapitel Niederlassungsfreiheit erläuterten Bestimmungen vor, dass bestimmte mitgliedstaatliche Maßnahmen nicht eingeführt oder
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aufrecht erhalten werden können bzw die Mitgliedstaaten die Beibehaltung bestimmter Maßnahmen mit Umsetzung der Richtlinie melden und besonders begründen müssen. So dürfen die Mitgliedstaaten die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit nicht davon abhängig machen, dass der Dienstleistungserbringer bereits für eine gewisse Dauer in nationalen Berufsregistern eingetragen war. Wird die Dienstleistung hingegen in Form der Dienstleistungsfreiheit erbracht, so sind weiter reichende Bestimmungen in der Richtlinie vorgesehen: Erstens werden die bis dato im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit offenen Rechtfertigungsmöglichkeiten, nämlich die „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“ auf die in der Richtlinie explizit genannten Gründe beschränkt. Hier sind vor allem die öffentliche Ordnung, Sicherheit, Gesundheit, der Umweltschutz, die kulturelle oder sprachliche Vielfalt, der Grundrechts- oder Verbraucherschutz zu nennen. Zweitens, werden – wie im Rahmen der Niederlassungsfreiheit – bestimmte mitgliedstaatliche Anforderungen für unzulässig erklärt. Und drittens werden die Kontrollzuständigkeiten zwischen Herkunfts- und Aufnahmemitgliedstaat insofern festgelegt, als jeder Mitgliedstaat für die Einhaltung nur der eigenen, rechtmäßig auf den Dienstleistungserbringer angewandten Bestimmungen zuständig ist. Beide Grundfreiheiten sind durch die in der Richtlinie verankerten Bestimmungen über die Verwaltungsvereinfachung betroffen. So müssen die Mitgliedstaaten einheitliche Ansprechpartner, die alle für Genehmigungsverfahren relevanten Vorgänge zentral abwickeln können, einrichten, gewisse Informationsrechte den Dienstleistungserbringern und -empfängern gewähren und elektronischen Verfahren zur Genehmigungsabwicklung (im Wesentlichen über das Internet) obligatorisch zur Verfügung stellen. Der Mehrwert der Dienstleistungsrichtlinie liegt vor allem in der Kodifizierung vergangener EuGH-Judikatur in weiten Bereichen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit und somit in der Loslösung von Einzelfallentscheidungen. Als zumindest problematisch sind der aufgrund von vielen, sachlich nicht immer gerechtfertigten Ausnahmebestimmungen eingeschränkte Anwendungsbereich sowie die Beibehaltung des Systems des allgemeinen Beschränkungsverbotes an Stelle des Herkunftslandprinzips zu beurteilen. Den Mitgliedstaaten bleibt dadurch einerseits weiterhin ausreichend Spielraum für protektionistische Maßnahmen. Andererseits zieht die Aufgabe des ursprünglichen zentralen Anliegens (Realisierung des Herkunftslandprinzips) den Gesamtnutzen der Richtlinie in Zweifel.
VIII.
Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit
Der AEUV sieht vor, dass grundsätzlich alle Beschränkungen des Kapital- und des Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten verboten sind (Art 63 AEUV). Es soll dadurch ein europäischer Finanzraum geschaffen werden, in dem alle Marktteilnehmer zu den gleichen Bedingungen ihre Kapital- und Zahlungstransaktionen tätigen können. Die EU hat sich darüber hinaus dazu entschieden, die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit grundsätzlich auch auf Drittstaaten auszuweiten. Unter Kapitalverkehr versteht man jede grenzüberschreitende Übertragung von Geld- oder Sachkapital, die primär zu Anlagezwecken erfolgt. Der Begriff Kapital umfasst sowohl Sach-
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kapital (zB Immobilieninvestionen, Unternehmensbeteiligungen) als auch Geldkapital (zB Wertpapiere, Kredite, Darlehen, Bürgschaften). Umfasst sind sowohl Direkt- als auch Portfolioinvestitionen. Der Zahlungsverkehr betrifft hingegen den Transfer von Geld (Bargeld, Überweisungen, Scheck, Wechsel etc) als Gegenleistung im Rahmen einer der anderen Grundfreiheiten. Sie wird daher häufig als Annexfreiheit zu den anderen Grundfreiheiten bezeichnet. Im Gegensatz zu den anderen Grundfreiheiten sind die für den Bereich der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit zulässigen Beschränkungen im Vertrag genauer umschrieben (Art 65 AEUV). So darf ein Mitgliedstaat steuerrechtlich zwischen Nicht gerechtfertigte und/oder unverhältnismäßige Beschränkungen Personen mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort des Kapital- und Zahlungsverkehrs sind differenzieren. Unterschiedliche steuerrechtliche Vorschriften, verboten. die zweifelsohne zumindest indirekt die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit behindern, können solange aufrechterhalten werden, als keine Harmonisierung der Steuern durch die Union erfolgt ist. Darüber hinaus ist es den Mitgliedstaaten erlaubt, unerlässliche Maßnahmen zur Vermeidung finanzrechtlicher Vergehen oder zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit (zB zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Geldwäsche, Rauschgifthandel) zu ergreifen. Dadurch soll die Umgehung nationaler Rechts- und Verwaltungsvorschriften vermieden werden. Solche beschränkenden Maßnahmen dürfen jedoch weder ein Mittel der willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs darstellen (Art 65 Abs 3 AEUV). Bei der Rechtfertigungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung ist derselbe strenge Maßstab wie bei den anderen Grundfreiheiten anzulegen. Unzulässig ist idR eine Genehmigungspflicht für Kapital- und Zahlungsverkehrstransaktionen, nicht hingegen ein bloßes Anmeldesystem. Auch Privatisierungsvorgänge fallen unter den Schutz der Kapitalverkehrsfreiheit. Sondereinflussrechte des Staates in Form von Sonderaktien (sog „Golden Shares“), mit denen Zustimmungsrechte zu besonderen Geschäftsvorgängen wie Anteilsveräußerungen oder andere wichtige Entscheidungen verbunden sind, stellen daher regelmäßig eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit dar. Bsp: Im Zuge der Privatisierung bringt Spanien ehemals staatliche Unternehmen als Aktiengesellschaften an die Börse. Gleichzeitig wird ein spanisches Gesetz erlassen, wonach ua für bestimmte Transaktionen, insbesondere für Veräußerungen von Aktien dieser Unternehmen ab 10% des Gesellschaftskapitals eine behördliche Genehmigung erforderlich ist. Das Gesetz umschreibt die Voraussetzungen, unter denen eine Genehmigung erteilt wird, nicht näher. Nach Auffassung des EuGH (Rs C-463/00, Golden Shares IV, Slg 2003, I-4581) ist bei Direktinvestitionen in Form der Beteiligung an einem Unternehmen durch den Erwerb von Aktien und beim Erwerb von Wertpapieren auf dem Kapitalmarkt der Kapitalverkehr betroffen. Zwar sind nach dem spanischen Gesetz die Beschränkungen von Investitionen unterschiedslos sowohl auf Gebietsansässige als auch auf Gebietsfremde anwendbar, doch sind sie geeignet, Anleger aus anderen Mitgliedstaaten von solchen Investitionen abzuhalten und damit den Marktzugang zu beeinflussen. Ein System vor-
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heriger behördlicher Genehmigungen muss in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen, dh, dass das gleiche Ziel nicht durch weniger restriktive Maßnahmen, namentlich durch ein System nachträglicher Anmeldungen, erreicht werden kann. Zwar kann prinzipiell das Ziel, im Krisenfall die Versorgung mit Erdölprodukten und Elektrizität sowie ein Mindestmaß an Telekommunikationsdienstleistungen in einem Mitgliedstaat sicherzustellen, einen Grund der öffentlichen Sicherheit darstellen und somit gegebenenfalls eine Beeinträchtigung des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen, doch muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen. Die spanische Regelung geht jedoch über das hinaus, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist und liefert keine objektiven und genauen Kriterien, die die betreffenden Anleger darauf hinweisen, unter welchen konkreten objektiven Umständen eine vorherige Genehmigung erteilt oder versagt wird; sie kann deshalb nicht gerechtfertigt werden. In einem anderen Urteil (Golden Shares I, Rs C-503/99, Slg 2002, I-4809) hat der EuGH eine belgische Regelung als gerechtfertigt angesehen, mit der eine Sonderaktie des Staates an zwei Gasbeförderungs- und -vertriebsgesellschaften geschaffen wurde. Denn diese Aktie räumt dem Staat ein genau umrissenes nachträgliches Widerspruchsrecht - das somit weniger einschneidend ist als ein System vorheriger Genehmigungen - gegen bestimmte Entscheidungen von Energieversorgungsunternehmungen ein, mit dem Ziel, strategische Aktiva und damit die Sicherheit der Energieversorgung im Krisenfall sicherzustellen. Als Grund für die Rechtfertigung der belgischen Regelung führte der EuGH an, dass das Widerspruchsrecht dadurch gekennzeichnet ist, dass die betroffenen strategischen Aktiva sowie die Verwaltungsentscheidungen, die punktuell vom Staat beeinsprucht werden können, einzeln aufgeführt sind und die behördlichen Eingriffe strikt auf Fälle einer Gefährdung der energiepolitischen Ziele beschränkt sind.
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IX. Weiterführende Literatur Streinz, Europarecht8 (2008) Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU3 (2010)
X.
Links
<europa.eu> (EU-Server) <ec.europa.eu/dgs/internal_market/index_de.htm> (Europäische Kommission Generaldirektion Binnenmarkt und Dienstleistungen) <eur-lex.europa.eu/de/index.htm> (Recht der EU - Gesetzgebung, Rechtsprechung)
XI. Wiederholungsfragen
Was versteht man unter Binnenmarkt? Was sind die Personenverkehrsfreiheiten? Was ist der Unterschied zwischen Beschränkungs- und Diskriminierungsverbot? Warum bedarf es der Rechtsangleichung? Welche Konsequenzen hat es, dass die EU eine Zollunion ist? Was besagt die „Dassonville-Formel“? Verbietet die Warenverkehrsfreiheit nur Diskriminierungen? Worum ging es im Fall „Gourmet“? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine Einfuhrbeschränkung ausnahmsweise erlaubt ist? Nennen Sie drei „Cassis“-Schutzgüter? Welche Rechte gewährt die Arbeitnehmerfreizügigkeit? Was sagt Ihnen die Zahlenkombination „1612/68/EWG“? Schützt die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch Familienangehörige von EU-WanderarbeitnehmerInnen, auch wenn sie nicht die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates besitzen? Unterliegen Beschäftigungen in der öffentlichen Hoheitsverwaltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit? Worum ging es im Fall „Bosman“? Bindet das Diskriminierungsverbot der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch private Personen? Wen und was schützt die Niederlassungsfreiheit?
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Unter welcher Voraussetzung kann sich eine Gesellschaft auf die Niederlassungsfreiheit berufen?
Schützt die Niederlassungsfreiheit auch vor nicht diskriminierenden Beschränkungen?
Wodurch unterscheidet sich die Niederlassungsfreiheit von der Arbeitnehmerfreizügigkeit?
Was versteht man unter passiver Dienstleistungsfreiheit?
Wodurch unterscheidet sich die Dienstleistungsfreiheit von der Niederlassungsfreiheit?
Worum geht es bei der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit
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Lektion 6 EUROPÄISCHES WETTBEWERBSRECHT
Das Farbenkartell Sie sind Geschäftsführer eines in Deutschland und Österreich operierenden Farbstoffunternehmens. Der Farbstoffmarkt in Europa wird von einigen wenigen Unternehmen beherrscht. Eines davon ist Ihr Unternehmen. Diese Unternehmen liefern grundsätzlich nur in den Gebieten, in denen sie ansässig sind. Am 01.01.2002 teilt Ihnen ein Konkurrent, der den Markt in Frankreich bedient, mit, dass er und ein anderes Farbstoffunternehmen, welches in den Beneluxstaaten sein Geschäftsfeld hat, die Preise für Anilinfarbstoffe am 01.06.2002 um 10% anheben werden. Daraufhin beschließen Sie, Ihre Preise ebenfalls mit 01.06.2002 anzuheben, leiten die Informationen aus Frankreich an einen italienischen Konkurrenten weiter und teilen diesem auch Ihre Absichten mit. Am 01.06.2002 steigen am gesamten europäischen Markt die Preise für Anilinfarbstoffe um 10% an. Ein paar Jahre später lässt Sie Ihr italienischer Konkurrent wissen, dass er seine Preise für Anilinfarbstoffe am 01.03.2006 ein weiteres Mal um 10% erhöhen wird. Diese Information geben Sie an das französische Farbunternehmen weiter. Selber planen Sie ebenfalls eine Preiserhöhung um 10%. Am 01.03.2006 steigen die Preise am europäischen Farbenmarkt wieder um durchschnittlich 10%. Am 07.03.2006 bekommen Sie ein amtliches Schreiben der Europäischen Kommission, in dem Sie aufgefordert werden, Ihr wettbewerbsfeindliches Verhalten sofort einzustellen. Welche europarechtlichen Vorschriften haben Sie verletzt? Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Warum sind Wettbewerbsvorschriften notwendig? Welche europarechtlichen Wettbewerbsregeln gibt es?
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Europäisches Wettbewerbsrecht
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Inhalt: Warum gibt es überhaupt Wettbewerbsregeln?................................................. 171 Das Kartellverbot................................................................................................... 173 Was ist ein Kartell und warum ist es verboten?....................................................... 173 Die Kartellmerkmale ................................................................................................ 174 Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen sowie Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen ........................................................ 174 2. Spürbare Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten und Bezweckung oder Bewirkung einer spürbaren Wettbewerbsbeschränkung ........... 176 3. Kartellvereinbarungen sind ungültig (Art 101 Abs 2 AEUV) .................................... 176 C. Ausnahmen vom Kartellverbot (Art 101 Abs 3 AEUV) ............................................ 177 III. Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung ....................... 180 A. Allgemeines ............................................................................................................. 180 B. Was ist der relevante Markt?................................................................................... 180 1. Der sachlich relevante Markt (= Produktmarkt) ....................................................... 181 2. Der örtlich relevante Markt ...................................................................................... 181 C. Wann liegt eine marktbeherrschende Stellung vor?................................................ 182 D. Wann liegt ein Missbrauch vor? .............................................................................. 183 1. Behinderungsmissbrauch ........................................................................................ 183 2. Ausbeutungsmissbrauch ......................................................................................... 184 IV. Das Verfahren zur Abstellung von Kartellen und des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung ................................................................................... 184 V. Fusionskontrolle ................................................................................................... 186 A. Allgemeines ............................................................................................................. 186 B. Unionsweite Bedeutung .......................................................................................... 187 C. Das Genehmigungsverfahren ................................................................................. 187 VI. Verbot staatlicher Beihilfen .................................................................................. 189 A. Das grundsätzliche Beihilfeverbot (Art 107 Abs 1 AEUV) ....................................... 189 B. Ausnahmen vom Beihilfeverbot (Art 107 Abs 2 und 3 AEUV)................................. 190 C. Das Verfahren der Beihilfeaufsicht .......................................................................... 191 1. Melde- und Genehmigungspflicht............................................................................ 191 2. Möglichkeit der Untersagung bestehender Beihilfen ............................................... 191 3. Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Kommission ............................................ 192 VII. Öffentliche Unternehmen und Wettbewerbsrecht.............................................. 192 VIII. Weiterführende Literatur....................................................................................... 195 IX. Wiederholungsfragen............................................................................................ 195 I. II. A. B. 1.
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I.
Europäisches Wettbewerbsrecht
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Warum gibt es überhaupt Wettbewerbsregeln?
Dem in Art 3 EUV verankerten Zielkatalog gemäß hat die EU durch die Errichtung eines Binnenmarktes auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf Basis eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums ebenso hinzuwirken wie auf eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft sowie auf die Förderung des Im europäischen Binnenmarkt soll der freie Wettbewerb nicht verfälscht wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Dass das werden. unionsrechtliche Konzept des Binnenmarktes explizit auch ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt, ist seit dem Inkrafttreten des VvL nicht mehr den Verträgen selbst, wohl aber dem diesen beigefügten Protokoll Nr 27 zu entnehmen. Ob diese politisch motivierte „Verschiebung“ einer Bestimmung, auf welche insbesondere der Gerichtshof zur Auslegung der konkrete Verhaltenspflichten normierenden Wettbewerbsregeln rekurrierte, Veränderungen auf rechtlicher Ebene nach sich ziehen wird, ist derzeit nicht abzusehen. Der primärrechtliche Normenbestand an unternehmens- und staatsgerichteten Wettbewerbsregeln hat sich – von der Nummerierung der Artikel abgesehen – durch den VvL jedenfalls nicht geändert (nunmehr Art 101 bis 109 AEUV). Schließlich bestimmt auch Art 120 AEUV, dass die Union und auch die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb handeln. Daher darf es zwischen den Mitgliedstaaten keine Zölle geben, die Grundfreiheiten müssen verwirklicht sein und der Wettbewerb muss ohne Verzerrungen bzw Verfälschungen stattfinden. Die Wettbewerbsbestimmungen des AEUV richten sich dabei nicht nur an den Staat, sondern auch an private Unternehmen. Denn auch diese können den Wettbewerb innerhalb der Europäischen Union beschränken. Es besteht die Gefahr, dass Unternehmen zB durch Kartellbildung die einzelnen nationalen Märkte voneinander abschotten und damit die Bemühungen um die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts zunichte machen. Zudem führen Kartellabsprachen zu höheren Preisen, vermindern die Auswahl für den Verbraucher und schaden damit auch der Gesamtwirtschaft, weil sie langfristig deren Wettbewerbsfähigkeit schwächen und sich negativ auf die Beschäftigung auswirken. Die Wettbewerbsregeln des AEUV verfolgen daher primär folgende Zielsetzung: Der Wettbewerb soll als das grundlegende Ordnungsprinzip der Wirtschaft gegen Beschränkungen und Verfälschungen geschützt werden. Von privater Seite sollen keine Schranken für den Waren- und Dienstleistungsverkehr innerhalb der EU errichtet werden. Dementsprechend richten sich das Kartellverbot, das Verbot der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung und die Fusionskontrollvorschriften gegen Maßnahmen privater Unternehmen, welche den Wettbewerb eliminieren oder abschwächen können.
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Demgegenüber zielen die Binnenmarktvorschriften (siehe dazu LE 5), die Beihilfevorschriften sowie die Vorschriften über öffentliche Auftragsvergabe primär gegen Beschränkungen des Wettbewerbsprinzips durch die Mitgliedstaaten. Beide Bereiche berühren sich in Art 106 AEUV, der öffentliche und privilegierte Unternehmen betrifft. Überwacht wird die Einhaltung der europäischen Wettbewerbsregeln durch die Europäische Kommission und, seit Inkrafttreten der VO 1/2003 (Verordnung zur Durchführung der in den Art 101 und 102 AEUV niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl 2003 L 1/1), nunmehr verstärkt durch die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten, wie zB in Österreich durch die Bundeswettbewerbsbehörde (vgl Art 11 ff VO 1/2003). Gemäß VO 1/2003 sind die nationalen Wettbewerbsbehörden verpflichtet, je nach Anwendbarkeit ein Kartell bzw den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auf Grundlage des jeweiligen nationalen oder des europäischen Wettbewerbsrechts zu prüfen (vgl Art 3 VO 1/2003). Soweit daher ein Kartell oder das wettbewerbswidrige Verhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und damit die Anwendungsschwelle des europäischen Wettbewerbsrechts erreicht ist, müssen die nationalen Wettbewerbsbehörden die europäischen Wettbewerbsregeln (Art 101 und 102 AEUV) anwenden. Die Einheitlichkeit des europäischen Wettbewerbsrechts soll dadurch garantiert werden, dass die Kommission und die Behörden der Mitgliedstaaten gemeinsam ein Netz von Behörden bilden, die die EU-Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit anwenden.
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Zu diesem Zweck sieht VO 1/2003 Informations- und Konsultationsverfahren zwischen den Behörden vor. Die einzelnen Mitgliedstaaten haben darüber hinaus auch eigene Kartellrechtsvorschriften. Diese verbieten allerdings Wettbewerbsverzerrungen nur innerhalb des jeweiligen Mitgliedstaates. Ist sowohl das europäische als auch das nationale Wettbewerbsrecht anwendbar, so geht im Fall eines Widerspruchs (zB ein Kartell ist nach nationalem Kartellrecht erlaubt, nach EU-Recht dagegen verboten oder umgekehrt) das europäische Wettbewerbsrecht vor (Art 3 VO 1/2003). VO 1/2003 hat damit einen (erweiterten) Vorrang des Unionsrechts statuiert, der im Fall eines Widerspruchs im Anwendungsbereich des Art 101 AEUV faktisch zur Verdrängung des nationalen Rechts führt. Hingegen verbietet VO 1/2003 den Mitgliedstaaten nicht, im Bereich des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (siehe hierzu unten Punkt III) strengere innerstaatliche Vorschriften zu erlassen oder anzuwenden (Art 3 Abs 2 VO 1/2003). Bsp: Wenn eine Kartellvereinbarung zwischen Unternehmen geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen, muss die nationale Wettbewerbsbehörde den Fall auf Grundlage des Art 101 AEUV prüfen. Kommt die Behörde zu dem Ergebnis, dass die fragliche Vereinbarung auf der Grundlage des Art 101 AEUV dem Kartellverbot nicht unterliegt, weil der Wettbewerb im Sinne dieser Bestimmung nicht eingeschränkt wird oder die Voraussetzungen des Art 101 Abs 3 AEUV vorliegen, darf sie das Kartell in der Folge auch nicht nach nationalem Kartellrecht verbieten. Im Bereich des Kartellverbotes sind strengere mitgliedstaatliche Vorschriften daher nur noch für Sachverhalte zulässig, die nicht geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Hingegen darf nach dem Wortlaut der VO 1/2003 eine Behörde ein wettbewerbswidriges Verhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens, das nach Art 102 AEUV erlaubt wäre, nach nationalem Recht verbieten, wenn strengere innerstaatliche Vorschriften bestehen
II.
Das Kartellverbot
A.
Was ist ein Kartell und warum ist es verboten?
Kartelle werden von Unternehmen gebildet, um den Wettbewerb auszuschalten oder zumindest zu minimieren und damit den eigenen Ertrag zu steigern. Der AEUV versteht unter einem Kartell x
eine Vereinbarung oder eine abgestimmte Verhaltensweise zwischen Unternehmen oder einen Beschluss einer Unternehmensvereinigung,
x
die/der geeignet ist, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen und eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung bezweckt oder bewirkt.
Nach Art 101 AEUV sind Kartelle verboten. Sie beeinträchtigen den freien Wettbewerb im Binnenmarkt der EU, was nicht nur zu Lasten der Kartelle sind grundsätzlich verboten, weil sie den Wettbewerb beschränken. Konkurrenzunternehmen und Konsumenten, sondern auch der Mitglieder des Kartells selbst geht, sofern diese aus dem Kartell wieder aussteigen wollen.
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Bsp: Angenommen, in Österreich gibt es nur zwei Unternehmen, die Schi herstellen und verkaufen. Beide Unternehmen, die einen Marktanteil von je ca. 50% haben, versuchen, durch billigere Preise dem anderen Unternehmen Kunden abzuwerben, um mehr Marktanteile zu bekommen. Das führt zu einem Preiskampf, der für beide Unternehmen sehr unangenehm ist (sie müssen bessere Waren zu geringeren Preisen als der Konkurrent anbieten können). Wenn sich beide Unternehmen darauf einigen, dass der eine nur West-, der andere nur Ostösterreich beliefert, oder dass der eine nur teure Rennschi, der andere dafür billige Wegwerfschi anbietet oder dass sie Schi nicht unter 400 € verkaufen werden, kommt das beiden Unternehmen zugute, und sie können in Ruhe und ohne Gefahr eine Oligopolrente lukrieren. Der Wettbewerb zwischen ihnen ist ausgeschaltet. Aber auch für neue Schianbieter ist es angesichts der Marktaufteilung zwischen den beiden Unternehmen praktisch unmöglich, auf dem österreichischen Schimarkt Fuß zu fassen. Schließlich sind die Konsumenten den beiden Unternehmen ausgeliefert, sie haben tatsächlich keine Wahl mehr zwischen Produkten verschiedener Unternehmen.
B.
Die Kartellmerkmale
1.
Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen sowie Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen
Das Kartellverbot erfasst nicht nur Verträge zwischen Unternehmen, sondern auch abgestimmte Verhaltensweisen zwischen ihnen, wie zB Absprachen und andere Formen des koordinierten unternehmerischen Marktverhaltens. Bsp: Zwei Tankstellenbetreiber vereinbaren ausdrücklich, die Benzinpreise einheitlich anzuheben oder zu senken (= Vertrag). Oder sie heben die Benzinpreise einvernehmlich in gleicher Weise an oder senken sie, ohne dies jedoch ausdrücklich zu vereinbaren (= abgestimmtes Verhalten). Eigenständiges Parallelverhalten ist demgegenüber erlaubt, also zum Beispiel das „Nachziehen“ mit den Preisen, ohne dass eine (geheime) Vereinbarung dahintersteckt. Bsp: Ein Unternehmen, das 50% Marktanteil hat, senkt den Preis von Schi. Die 10 anderen Schi-Unternehmen, die sich den restlichen Markt aufteilen, entschließen sich, das auch zu tun, um konkurrenzfähig bleiben zu können. Das Kartellverbot erfasst nicht nur Absprachen von privaten, sondern auch von öffentlichen Unternehmen. Der Unternehmensbegriff des Art 101 AEUV ist also sehr weit. Vom Kartellverbot erfasst sind auch Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen. Unter einer Unternehmensvereinigung versteht man einen (beliebig strukturierten) Zusammenschluss mehrerer Unternehmen, dessen Zweck unter anderem darin besteht, die Interessen seiner Mitglieder wahrzunehmen (zB Interessensvertretungen, Kammern der freien Berufe). Die Rechtsprechung tendiert dazu, den Begriff der „Beschlüsse“ von Unternehmensvereinigungen weit auszulegen. Bsp: Preisempfehlungen von wirtschaftlichen Interessensvertretungen, Prämienempfehlungen von Versicherungsverbänden, Beschlüsse von Kammern der freien Berufe,
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mit denen bspw Gebühren festgesetzt werden, wettbewerbsbeschränkende Beschlüsse von Genossenschaften. Innerhalb der Kartellabsprachen wird zwischen horizontalen und vertikalen unterschieden: a.
Horizontale Vereinbarungen
Horizontale Absprachen sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen derselben Wirtschaftsstufe (= Unternehmen, die miteinander im Wettbewerb stehen) wie zB Preisabsprachen zwischen Produzenten oder zwischen Händlern. Die Preisabsprachen, Absprachen in Bezug Unternehmer einigen sich dabei auf einheitliche An- und auf Erzeugung, Beschaffung, Absatz etc Verkaufspreise. Mitunter sprechen sich Unternehmen auch über die Gewährung von Rabatten ab oder koordinieren sonstige Geschäftsbedingungen (Verwendung eines bestimmten Standardvertrages, Koordinierung von Kredit- und Zahlungsbedingungen etc). Horizontale Vereinbarungen können auch in Bezug auf Absatz und Beschaffung von Produkten oder über mengenbezogene Erzeugungsbeschränkungen (sog Quotenvereinbarungen) getroffen werden. Bsp: Das Schi-Unternehmen A und das Schi-Unternehmen B vereinbaren, Schi nicht unter 400 € zu verkaufen; A und B vereinbaren, fast identische Geschäftsbedingungen gegenüber ihren Lieferanten und Abnehmern zu verwenden; A und B beschließen, nur gemeinsam Rohmaterialien für die Schiproduktion einzukaufen bzw fertige Produkte zu verkaufen; A und B teilen sich den Markt räumlich auf (A nur Ost-, B nur Westösterreich); A und B vereinbaren, pro Saison nicht mehr als 500.000 Paar Schi zu produzieren. b.
Vertikale Vereinbarungen
Vertikale Absprachen sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen unterschiedlicher Wirtschaftsstufe (= Unternehmen, die nicht im Wettbewerb stehen) wie zB Preisbindungsvereinbarungen zwischen dem Produzenten und den Händlern, die Preisbindungen, Alleinvertriebsverträge etc seine Produkte an die Konsumenten verkaufen. Dabei wird vereinbart, dass nicht der Händler, sondern der Produzent die Preise festsetzt. Aber auch noch andere Beschränkungen des Händlers können Gegenstand von vertikalen Vereinbarungen sein. Bsp: A weist seine Abnehmer an, Schi nur zu den von A festgesetzten Preisen an Konsumenten zu verkaufen; A verpflichtet seine Letztverkäufer, auf jeden Fall mindestens 200.000 Paar Schi von A zu kaufen, egal wie viele Paare der Letztverkäufer tatsächlich absetzen kann (entweder er nimmt die vorgegebene Menge oder er bekommt gar nichts); A verpflichtet seine Abnehmer, seine Schi nur von geschulten Verkäufern an Konsumenten verkaufen zu lassen und den Konsumenten ein umfangreiches Serviceangebot anzubieten; A verpflichtet seine Abnehmer, die Verkaufslokale nur nach seinen Vorstellungen zu gestalten (die Verkäufer müssen Uniformen von A tragen etc).
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2.
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Spürbare Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten und Bezweckung oder Bewirkung einer spürbaren Wettbewerbsbeschränkung
Absprachen zwischen Unternehmen sind dann verboten, wenn sie sich spürbar auf den Wirtschaftsverkehr innerhalb des Binnenmarktes auswirken und eine spürbare Beschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs am relevanten Markt (Näheres zum relevanten Markt siehe unten Punkt III) bezwecken oder bewirken. Wann eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung anzunehmen ist, hat die Kommission in der sog Bagatell- bzw De-Minimis-Bekanntmachung näher definiert. Demnach wird eine Wettbewerbsbeschränkung erst ab Erreichen eines gewissen Marktanteils der beteiligten Unternehmen oder – ohne Beachtung der Marktmacht der Parteien – bei besonders verpönten Vereinbarungen angenommen. Konkret ist vorgesehen, dass Bagatellabsprachen sind erlaubt, es sei denn, es handelt sich um grobe Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die miteinander im Wettbewerbsbeschränkungen. Wettbewerb stehen (also horizontale Vereinbarungen) bis zu einem gemeinsamen Marktanteil von 10% als (noch) nicht wettbewerbsbeschränkend gelten. Wenn die Beteiligten nicht im Wettbewerb stehen (also bei vertikalen Vereinbarungen), trifft das bis zu einem Marktanteil von 15% zu. Vereinbarungen, die zwar nicht einzeln, jedoch in ihrer Gesamtwirkung durch nebeneinander bestehende Netze von Vereinbarungen (zB Bierbezugs- oder Tankstellenverträge) den Markt beeinträchtigen können, sind dann kartellrechtlich nicht relevant, wenn entweder einzelne der beteiligten Unternehmen einen Marktanteil von 5% nicht überschreiten oder insgesamt weniger als 30% des relevanten Marktes durch die nebeneinander bestehenden Vereinbarungen abgedeckt werden. Hervorzuheben ist, dass diese Bagatellgrenzen nicht für besonders verpönte Absprachen (zB Preisabsprachen, Produktions- und Absatzbeschränkungen, Aufteilung von Märkten oder Kunden) gelten, da diese den Wettbewerb innerhalb der EU dermaßen grob verfälschen, dass es dafür keine Ausnahme geben darf. Bsp: Die Klein-PKW-Hersteller A und B vereinbaren, dass sie ihre Klein-PKWs nicht unter 10.000 € in Österreich und Deutschland verkaufen werden. Auch wenn die beiden Autohersteller gemeinsam einen Marktanteil von unter 10 % am relevanten Markt (= Klein-PKW-Markt) haben, ist ihre Absprache verboten. Für Vereinbarungen, die zum Ziel haben, die Preise festzusetzen, gilt nämlich keine Bagatellgrenze. Nicht dem Kartellverbot unterliegen übrigens auch Absprachen innerhalb eines Konzerns (sog Konzernprivileg). Dies deshalb, da Unternehmen innerhalb Konzerninterne Absprachen sind eines Konzerns nicht wirtschaftlich selbständig sind. Das erlaubt. Tochterunternehmen ist vom Mutterunternehmen abhängig. Zwischen den beiden Unternehmen herrscht kein Wettbewerb, vielmehr wird ein Konzern ja gerade zum Zwecke der Zusammenarbeit gegründet.
3.
Kartellvereinbarungen sind ungültig (Art 101 Abs 2 AEUV)
Verbotene Kartellabsprachen sind nach Art 101 Abs 2 AEUV nichtig, das heißt rechtlich nie wirksam zustande gekommen. Verbotene Kartellvereinbarungen müssen dementsprechend nicht erfüllt werden und ihre Einhaltung kann auch nicht eingeklagt werden.
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Bsp: Die Unternehmen A und B mit jeweils ca. 20% Marktanteil in Österreich, Deutschland und Italien vereinbaren, Schi nicht unter 400 € an ihre Händler abzugeben. Wenn sich nun A wegen seiner wirtschaftlichen Situation nicht mehr daran halten kann und gezwungen ist, Schi unter 400 € zu verkaufen, kann B den A nicht auf Unterlassung und Schadenersatz klagen, da der Vertrag ein verbotenes Kartell darstellt und daher ungültig ist. Es stellt sich die Frage, ob Ihr Verhalten ein „abgestimmtes Verhalten“ im Sinn des AEUV darstellt. Nach Auffassung des EuGH liegt abgestimmtes Verhalten dann vor, wenn eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen besteht, die noch nicht bis zum Abschluss eines Vertrages im eigentlichen Sinn gediehen ist, jedoch bewusst eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten lässt und zu Wettbewerbsbedingungen führt, die im Hinblick auf die Art der Waren, die Bedeutung und Anzahl der beteiligten Unternehmen sowie den Umfang und die Eigentümlichkeiten des in Betracht kommenden Marktes nicht den normalen Wettbewerbsbedingungen entspricht. Ihr Verhalten und das Verhalten Ihrer Konkurrenten entsprechen diesem Tatbestand des „abgestimmten Verhaltens“. Durch die Vorankündigung der Preiserhöhung beseitigen die Unternehmen untereinander jede Ungewissheit über ihr zukünftiges Verhalten und damit das Risiko des Verlustes von Marktanteilen, das mit einer einseitigen Veränderung der Preise durch ein Unternehmen im Wettbewerb verbunden ist. Das abgestimmte Verhalten beeinträchtigt die Verwirklichung des Entstehens des europäischen Binnenmarktes, da es den grenzüberschreitenden Handel beeinträchtigt und Preiswettbewerb unterbindet. Es ist praktisch unmöglich, Farben aus dem europäischen Ausland billiger zu beziehen, da ja alle Unternehmen gleichzeitig ihre Preise erhöhen. Damit wird die Aufteilung des Marktes verstärkt. Genau dieses Ergebnis widerspricht aber dem Grundgedanken des europäischen Binnenmarktes, in dem ein grenzenloser Handel ermöglicht werden soll. Jeder Marktteilnehmer soll ja die Vorteile unterschiedlicher Preise nützen können. Das abgestimmte Verhalten ist spürbar, da es sich auf das gesamte Unionsgebiet erstreckt. Die involvierten Unternehmen haben außerdem am relevanten Markt einen Marktanteil von praktisch 100%.
C.
Ausnahmen vom Kartellverbot (Art 101 Abs 3 AEUV)
Unter bestimmten Voraussetzungen sind an sich tatbestandsmäßige Vereinbarungen, Beschlüsse oder abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen vom Kartellverbot ausgenommen und damit erlaubt. Art 101 Abs 3 AEUV nennt vier Voraussetzungen, die kumulativ dh gleichzeitig erfüllt sein müssen, damit eine Kartellabsprache zulässig ist: x
Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder auch Beitrag zum wirtschaftlichen oder technischen Fortschritt;
x
angemessene Beteiligung der Verbraucher an den daraus resultierenden Vorteilen;
x
keine Wettbewerbsbeschränkungen, die über das hinausgehen, was zur Erreichung des Vertragszwecks erforderlich ist;
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Bsp: Mehrere Unternehmen schließen sich zur gemeinsamen Forschung zusammen, zusätzlich wird zwischen den beteiligten Unternehmen vereinbart, dass es nicht erlaubt ist, auch selbständig außerhalb des Kartells zu forschen. Das Verbot, außerhalb des Kartells zu forschen, ist für die Erreichung des Ziels, nämlich durch gemeinsames Forschen, die Kosten zu senken und den Fortschritt schneller voranzutreiben, nicht unbedingt erforderlich. x
funktionierender Wettbewerb auf dem von der Vereinbarung betroffenen Markt. Bsp: Zwei Unternehmen vereinbaren, den Verkauf ihrer Waren über eine gemeinsame Verkaufsstelle abzuwickeln. Wenn nun zusätzlich vereinbart wird, dass neben dieser gemeinsamen Verkaufsstelle keine Verkäufe mehr getätigt werden dürfen, können die Unternehmen den Wettbewerb untereinander fast vollständig ausschließen, da ja alle Verkäufe über die gemeinsame Stelle laufen.
Bis zum Inkrafttreten der VO 1/2003 konnte auf der Grundlage dieser Voraussetzungen eine Freistellung vom Kartellverbot jeweils nur durch eine so genannte Einzelfreistellungsentscheidung oder durch Gruppenfreistellungsverordnungen (GVO) der Europäischen Kommission erfolgen. Jene Kartellabsprachen, die nicht unter den Anwendungsbereich einer GVO fielen, mussten der Europäischen Kommission gemeldet werden. Die Kommission konnte mittels Einzelfreistellung die fragliche Absprache auf Grundlage des Art 101 Abs 3 AEUV vom Kartellverbot freistellen, oder auf Antrag feststellen, gegen die Kartellabsprache nicht einzuschreiten (sog Negativattest) oder auch durch ein bloß informelles Schreiben mitteilen, dass die beabsichtigte Kartellabsprache europarechtskonform ist. Durch die VO 1/2003, die seit 01.05.2004 in Kraft ist und die VO 17/62 ersetzt, wird das System der Ausnahmen vom Kartellverbot auf eine völlig neue Grundlage gestellt. An die Stelle des Anmelde- und Genehmigungssystems tritt ein System der gesetzlichen Ausnahme („Legalausnahme“), indem die unmittelbare Anwendbarkeit des Art 101 Abs 3 AEUV angeordnet wird (Art 1 VO 1/2003). Dies bedeutet, dass Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne von Kartellabsprachen, die die VoraussetArt 101 Abs 1 AEUV, die die Voraussetzungen des zungen des Art 101 Abs 3 AEUV erfüllen, sind nicht verboten, ohne dass dies eiArt 101 Abs 3 AEUV erfüllen, per se vom Kartellverbot ner vorherigen Entscheidung bedarf. freigestellt sind. Eine Ausnahme vom Kartellverbot bedarf demnach keines konstitutiven Rechtsaktes (in Form einer Genehmigung) mehr, sondern das betroffene Unternehmen kann (und muss) sich direkt auf Art 101 Abs 3 AEUV berufen. Unternehmen müssen daher in erster Linie selbst die Rechtmäßigkeit ihrer Absprachen auf der Grundlage der Voraussetzungen des Art 101 Abs 3 AEUV beurteilen. Überdies ist Art 101 Abs 3 AEUV nun auch für die nationalen Gerichte und Wettbewerbsbehörden unmittelbar anwendbar. Diese sind ermächtigt und verpflichtet zu prüfen, ob eine Absprache unter Art 101 Abs 3 AEUV fällt und damit nicht den Rechtsfolgen des Art 101 Abs 1 (Kartellverbot) und Abs 2 (Nichtigkeit der Vereinbarung) AEUV unterliegt. Das (Einzel)Freistellungsmonopol der Kommission ist damit beseitigt worden. Lediglich in Einzelfällen, wenn dies aus Gründen des öffentlichen Interesses erforderlich ist, kann die Kommission mit Entscheidung feststellen, dass das Kartellverbot keine Anwendung findet (Art 10 VO 1/2003). Insgesamt stellt die Neuregelung in VO 1/2003 einerseits ein erhöhtes Beurteilungsrisiko für
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die betroffenen Unternehmen dar, führt aber andererseits zu einem nicht unwesentlichen Abbau an administrativer Belastung der Europäischen Kommission. Mit einer Fülle an spezifischen Mitteilungen und Leitlinien über die Anwendbarkeit des Art 101 AEUV versucht die Kommission den Verlust an Rechtssicherheit auszugleichen. Auch unter VO 1/2003 kann die Kommission nach wie vor Gruppenfreistellungsverordnungen erlassen, mit denen sie Art 101 Abs 3 AEUV auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen, Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen anwendet. Ist ein tatbestandsmäßiges Kartellverhalten von einer GVO erfasst, ist es jedenfalls vom Kartellverbot freigestellt. Aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art 101 Abs 3 AEUV haben die GVO nur noch „feststellende Bedeutung“ – dh es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass ähnliche Sachverhalte vom Kartellverbot des Art 101 Abs 1 AEUV ausgenommen sind, obwohl sie nicht von einer GVO geschützt werden (aber die Voraussetzungen des Art 101 Abs 3 AEUV erfüllen). GVO wurden von der Europäischen Kommission bspw im Bereich horizontaler Vereinbarungen für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen (VO 2659/2000, ABl 2000 Nr L 304/7) sowie Spezialisierungsvereinbarungen (VO 2658/2000, ABl 2000 Nr L 304/3), weiters Technologietransfervereinbarungen (VO 772/2004, ABl 2004 Nr L 123/11) und im Bereich vertikaler Vereinbarungen für Alleinvertriebsverträge, Alleinbezugsvereinbarungen und Franchise-Verträge (VO 2790/1999, ABl 1999 Nr L 336/21) erlassen. Ein weiteres Beispiel für eine vertikale GVO bildet jene im Automobilsektor für den Vertrieb von Neufahrzeugen (VO 1400/2002, ABl Nr L 203/30). Wenn eine Vereinbarung den Anforderungen einer GVO entspricht, wird davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des Art 101 Abs 3 AEUV erfüllt sind. VO 1/2003 sieht jedoch vor, dass die Kommission oder die nationalen Wettbewerbsbehörden in Einzelfällen den „Rechtsvorteil einer GVO entziehen“ können, soweit Absprachen, auf die derartige GVO Anwendung finden, ausnahmsweise dennoch Wirkungen haben, die mit Art 101 Abs 3 AEUV unvereinbar sind (Art 29 VO 1/2003). Außerdem gelten die Vorteile einer GVO niemals für besonders verpöntes Verhalten (zB Preisabsprachen, Produktions- und Absatzbeschränkungen, Aufteilung von Märkten oder Kunden). Bsp: Herr A, der Fernsehgeräte in Deutschland produziert, vereinbart mit seinem französischen Zwischenhändler B, dass er seine Fernsehgeräte in Frankreich nur an ihn liefert. Im Gegenzug verspricht B die TV-Geräte des A seinen Kunden besonders ans Herz zu legen. Es handelt sich dabei um einen so genannten Alleinvertriebsvertrag, der unter die GVO 2790/1999 fällt.
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III. Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung A.
Allgemeines
Der freie Wettbewerb innerhalb der EU kann nicht nur auf Grund von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, sondern auch durch wettbewerbswidriges Verhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens beeinträchtigt werden. Dementsprechend verbietet Art 102 AEUV die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil davon durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Je nach Fallkonstellation können Art 101 und Art 102 AEUV alternativ, aber auch zusammen zur Anwendung kommen.
B.
Was ist der relevante Markt?
Anknüpfungspunkt des Verbotes nach Art 102 AEUV ist das Bestehen einer marktbeherrschenden Stellung auf dem ganzen oder einem Teil des BinUnternehmen, die den Markt beherrnenmarktes. Die Prüfung, ob ein Unternehmen eine schen, dürfen ihre marktbeherrschende marktbeherrschende Stellung innehat, setzt eine Abgrenzung Stellung nicht missbräuchlich ausnutzen, da dies den Wettbewerb des für den jeweiligen Einzelfall sachlich und örtlich relevanten beeinträchtigt. Marktes voraus. In der „Bekanntmachung über die Definition
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des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft“ (ABl 1997, Nr C 372/5) erläutert die Kommission, was unter dem sachlich und örtlich relevanten Markt zu verstehen ist. Diese Definitionen sind auch im Rahmen der Fusionskontrolle und für das Kartellrecht von Bedeutung. Sie dienen der genauen Abgrenzung des Gebietes, auf dem Unternehmen miteinander in Wettbewerb stehen.
1.
Der sachlich relevante Markt (= Produktmarkt)
Bei der Festlegung des sachlich relevanten Markts kommt es auf die Substituierbarkeit (= Austauschbarkeit) des betreffenden Produkts aus der Sicht der Marktgegenseite (Abnehmer/Konsument) an. Wichtige Indikatoren sind dabei die Preislage, die Qualität, technische Merkmale und die Kreuzpreiselastizität: Wenn die Verbraucher Es kommt auf die Substituierbarkeit an. bei einer geringfügigen, aber dauerhaften Preiserhöhung auf ein anderes Produkt umschwenken, so wird angenommen, dass dieses andere Produkt zum sachlich relevanten Markt zählt. Reagieren die Abnehmer auf Preisveränderungen hingegen langsam und träge, so kann von unterschiedlichen Produktmärkten ausgegangen werden. Bsp: Im Fall United Brands (Rs 27/76, Slg 1978, 207) prüfte der EuGH die Austauschbarkeit von Bananen und anderem frischen Obst und kam zum Ergebnis, dass zwischen diesen nur ein sehr geringer Grad an Substituierbarkeit besteht, da die Banane sehr spezifische Eigenschaften aufweist. Sie ist „durch ihr Ansehen, ihren Geschmack, ihre weiche Beschaffenheit, das Fehlen von Kernen, eine einfache Handhabung und ein gleichbleibendes Produktionsniveau geeignet, den gleichbleibenden Bedarf einer bedeutenden, sich aus Kindern, Alten und Kranken zusammensetzenden Bevölkerungsgruppe zu befriedigen.“ Neben der Nachfragesubstituierbarkeit kommt es bei der Ermittlung des relevanten Markts auch auf die Angebotssubstituierbarkeit an, dh darauf, wie einfach und kurzfristig potenzielle Mitbewerber ihre Produktion auf das relevante Erzeugnis umstellen können. Können Mitbewerber mit vernachlässigbar geringen Kosten und in kurzer Frist ihre Produktion umstellen, so werden ihre bisher hergestellten Produkte in den relevanten Markt miteinbezogen.
2.
Der örtlich relevante Markt
Bei der räumlichen Marktabgrenzung geht es um die Bestimmung jener am Produktmarkt auftretenden Unternehmen, die nach geographischen Gesichtspunkten als alternative Bezugsquellen der Abnehmer bzw als Konkurrenten des möglichen Marktbeherrschers angesehen werden können. Die Kommission definiert den örtlich relevanten Markt als das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen die relevanten Produkte und Dienstleistungen anbieten und nachfragen, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von den benachbarten Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet. Der örtliche Markt muss – um europarechtlich relevant zu sein – Binnenmarkt oder wesentlicher Teil daden Binnenmarkt oder einen wesentlichen Teil desselben von. umfassen. Das Staatsgebiet eines Mitgliedstaats ist jedenfalls ein wesentlicher Teil des Binnenmarktes. Aber auch größere Teile einzelner Mitgliedstaaten
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werden als wesentlicher Teil des Binnenmarktes angesehen (zB der Raum Süddeutschland für den Zuckermarkt oder zB London bzw Kopenhagen). Schließlich können wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung auch wichtige Flug- und Seehäfen als wesentlicher Teil des Binnenmarktes angesehen werden.
C.
Wann liegt eine marktbeherrschende Stellung vor?
Auf dem sachlich und örtlich relevanten Markt hat ein Unternehmer dann eine beherrschende Stellung, wenn er in der Lage ist, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs zu verhindern, indem er sich seinen Mitbewerbern, seinen Ein marktbeherrschendes Unternehmen ist keinem nennenswerten Wettbewerb Abnehmern und letztlich auch den Verbrauchern gegenüber ausgesetzt. weitgehend unabhängig verhalten kann. Ein marktbeherrschendes Unternehmen zeichnet sich also dadurch aus, dass es keinem nennenswerten Wettbewerb ausgesetzt ist. Ein wichtiges Indiz für eine beherrschende Stellung ist der Marktanteil des betreffenden Unternehmens. Da im Einzelfall aber sowohl dessen absolute als auch relative Höhe (dh der Abstand zum nächsten Mitbewerber) und auch Marktanteilsschwankungen in die Beurteilung einbezogen werden können, lassen sich keine allgemeingültigen Schwellenwerte ableiten. Bei einem Marktanteil unterhalb von 30% bzw oberhalb von Bei einem Marktanteil von über 80% am 80% kann allerdings vom Nichtvorliegen bzw Vorliegen einer sachlich und örtlich relevanten Markt kann von Marktbeherrschung beherrschenden Stellung ausgegangen werden. Aber auch ausgegangen werden. schon bei einem Marktanteil von 40% kann Marktbeherrschung vorliegen. Bei einem Monopol (= Unternehmen mit 100% „Marktanteil“) ist jedenfalls vom Bestehen einer beherrschenden Stellung auszugehen. Möglich ist auch, dass nicht ein Unternehmen alleine, sondern mehrere Unternehmen eine Marktbeherrschung ausüben (kollektive Marktbeherrschung/Oligopol).
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D.
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Wann liegt ein Missbrauch vor?
Das Unionsrecht verbietet nicht die marktbeherrschende Stellung als solche, sondern (nur) deren missbräuchliche Ausnutzung. Ein solcher Missbrauch liegt dann vor, wenn das Verhalten des Marktbeherrschers am Markt von den Mitteln eines Missbrauch liegt dann vor, wenn ein Unnormalen Produkt- oder Leistungswettbewerbs abweicht. ternehmen Bedingungen diktiert, die es unter Wettbewerbsbedingungen nicht Werden dadurch die Mitwerber behindert, spricht man von Bedurchsetzen könnte. hinderungsmissbrauch. Wird durch den Missbrauch die Marktgegenseite ausgebeutet, spricht man von Ausbeutungsmissbrauch.
1.
Behinderungsmissbrauch
Beim Behinderungsmissbrauch richtet das marktbeherrschende Unternehmen seine Marktmacht direkt gegen die Mitbewerber, indem es etwa Lieferungen verweigert, den Zugang zu unerlässlichen Infrastruktureinrichtungen verhindert, unsachliche chliche Kopplungsverträge erzwingt oder seine Produkte zu Verlustpreisen verkauft, um die Konkurrenz vom Markt zu verdrängen. Bsp: Das marktbeherrschende Unternehmen A verkauft seine Waren nicht an den Zwischenhändler B, da dieser Waren eines Konkurrenten vertreibt. Das Unternehmen B, das ein Telefonnetz betreibt und Telekommunikationsdienstleistungen anbietet, versagt anderen Telekommunikationsunternehmen, sein Netz mitzubenutzen – es verhindert damit jeglichen Wettbewerb.
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Das Unternehmen C verpflichtet seine Abnehmer, 20 Jahre lang ausschließlich seine Waren abzusetzen – damit beeinträchtigt er die Absatzmöglichkeit aller seiner Mitbewerber. Das Softwareunternehmen M koppelt eine Applikation an sein Betriebssystem, wobei es am Markt für Betriebssysteme annähernd 100% Marktanteil hat; Unternehmen, die eine ähnliche Applikation anbieten, werden so vom Markt verdrängt.
2.
Ausbeutungsmissbrauch
Beim Ausbeutungsmissbrauch nützt das marktbeherrschende Unternehmen die Abhängigkeit seiner Marktpartner aus, um geschäftliche Vorteile zu erzwingen, die unter normalen Wettbewerbsbedingungen nicht erzielbar wären. Dazu zählen etwa das Verlangen unangemessen überhöhter Preise, die Erzwingung unfairer Geschäftsbedingungen, die unsachliche Verknappung der Produktion oder die Diskriminierung von Mitbewerbern etc. Bsp: Das marktbeherrschende Unternehmen X schränkt die Produktion ohne sachlichen Grund ein, um das Angebot zu verknappen, was zu einer Erhöhung der Preise führt, oder koppelt „Ladenhüter“ an begehrte Produkte. Der Unternehmer Y betreibt eine Supermarktkette, die in Österreich ca. 80% Marktanteil hat. Y verlangt von seinen Obstlieferanten, ab einer gewissen Absatzmenge bis zu 50% des Preises nachzulassen, widrigenfalls er die Lieferanten wechselt. Mit 80 % Anteil am relevanten Markt (= Obstmarkt in Österreich) hat das Unternehmen von Y eine marktbeherrschende Stellung. Da das Unternehmen so dominant ist, haben seine Lieferanten gar keine andere Wahl, als den geforderten Mengenrabatt zu gewähren. An wen sollten sie sonst liefern? Würden die Lieferanten Y als Kunden verlieren, dann wäre ihr wirtschaftliches Überleben in Gefahr. Folglich missbraucht Y seine marktbeherrschende Stellung. Man könnte schon fast von Erpressung sprechen. Damit der Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung verboten ist, muss er sich auf den Binnenmarkt oder einen wesentlichen Teil davon auswirken (zum relevanten Markt siehe Punkt III. B).
IV. Das Verfahren zur Abstellung von Kartellen und des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung Das Verfahren zur Abstellung von Kartellen und des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung wurde durch VO 1/2003 im Sinne einer verstärkten Dezentralisierung und gleichzeitig einer engen Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden novelliert. In erster Linie sind nun die nationalen Wettbewerbsbehörden (Verwaltungsbehörden oder Gerichte) neben bzw unter Aufsicht der Europäischen Kommission für den Vollzug des EU-Wettbewerbsrechts zuständig. Werden die nationalen Wettbewerbsbehörden nach Art 101 oder 102 AEUV tätig, so richten sich das Verfahren und die anwendbaren Sanktionen nach dem jeweiligen nationalen Recht. Die Wettbewerbsbehörden müssen die Kommission jedoch über die Einleitung sowie rechtzeitig vor Abschluss eines Verfahrens über die beabsichtigte Entscheidung und die wesentlichen Umstände zur Beurteilung des Falls informieren (Art 11 VO 1/2003). Die Europäische Kommis-
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sion kann außerdem nach wie vor selbst (auf Antrag oder von Amts wegen) ein Verfahren einleiten oder ein laufendes Verfahren vor einer nationalen Wettbewerbsbehörde an sich ziehen. In diesen Fällen erlischt die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde (Art 11 Abs 6 VO 1/2003). Dieses System soll der Kommission ermöglichen, sich einerseits auf die Verfolgung der schwerwiegendsten Verstöße zu konzentrieren und andererseits die Wettbewerbspolitik durch allgemeine Maßnahmen wie Gruppenfreistellungsverordnungen oder Leitlinien weiterzuentwickeln und die einheitliche Auslegung der Wettbewerbsregeln zu fördern. VO 1/2003 enthält jedoch keine konkreten Anhaltspunkte dazu, wie die Zuständigkeiten zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden im Einzelnen aufgeteilt werden soll. Ein Verfahren auf Grundlage der Art 101 und 102 AEUV kann auf Antrag eines Unternehmens (zB Konkurrenzunternehmen, ein am Kartell beteiligtes Unternehmen), von Amts wegen oder auch auf Antrag eines Mitgliedstaats bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder der Kommission eingeleitet werden. Die nationalen Behörden bzw die Kommission können die an einem Kartell oder einer Missbrauchshandlung beteiligten Unternehmen verpflichten, das wettbewerbswidrige Verhalten abzustellen, Die nationalen Wettbewerbsbehörden und die Kommission können Unterneheinstweilige Maßnahmen anordnen, Verpflichtungszusagen der men auffordern, Kartelle abzustellen. Unternehmen annehmen und Geldbußen bzw andere Sanktionen verhängen (Art 5 und Art 7ff VO 1/2003). Einstweilige Maßnahmen können angeordnet werden, wenn die Gefahr eines ernsten, nicht wieder gutzumachenden Schadens für den Wettbewerb besteht. Die sog Verpflichtungszusagen ermöglichen den Unternehmen, bestimmte Verpflichtungen (zB Verzicht auf bestimmte Rechte, Gewährung bestimmter Vorteile aus einer Absprache auch an Wettbewerber, Änderungen in der Unternehmensstruktur) anzubieten, um die wettbewerbsrechtlichen Bedenken der Kommission oder der nationalen Wettbewerbsbehörden auszuräumen. Die der Europäischen Kommission zur Verfügung stehenden Sanktionen sind in VO 1/2003 geregelt (Art 23f VO 1/2003) und sehen empfindliche Geldstrafen (bis zu 10% des Jahresumsatzes) vor. Dabei können Strafen in einer Größenordnung von bis zu einer Milliarde Euro je überführtem Kartell erreicht werden (zB Lift- und Rolltreppenkartell, 2007). VO 1/2003 erlaubt der Kommission nunmehr auch, Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter Art sowie im äußersten Fall struktureller Art (Änderungen in der Unternehmensstruktur, ggf auch bis hin zu einer Entflechtungsbefugnis, wie sie in den USA existiert) vorzuschreiben, wenn dies für eine wirksame Abstellung einer Zuwiderhandlung erforderlich (und verhältnismäßig) ist (Art 7 VO 1/2003). Neben den wesentlichen verfahrensrechtlichen Vorschriften (näher zu diesen vgl die VerfahrensVO 773/2004, ABl 2004 Nr L 123/18) und den Sanktionen regelt VO 1/2003 auch die Ermittlungsbefugnisse der Kommission. Demnach kann die Kommission zB von Unternehmen alle erforderlichen Auskünfte verlangen. Durch VO 1/2003 hat die Kommission nunmehr auch die Möglichkeit, Zeugen zu vernehmen und deren Aussagen im Verfahren als Beweismittel zu verwerten. Ferner kann die Kommission – ohne Vorankündigung – Überprüfungen durchführen. Eine solche Überprüfung besteht darin, dass Beamte der Kommission, unterstützt von Beamten des Mitgliedstaates, auf dessen Territorium die Überprüfung durchgeführt wird, bei dem zu überprüfenden Unternehmen erscheinen und um die Vorlage aller er-
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forderlichen Dokumente „bitten“. Die Unternehmen sind dann verpflichtet mit der Kommission zusammen zu arbeiten. Bei Nichtbefolgung von Entscheidungen der Kommission drohen Geldstrafen. Die Kommission kann bei schweren Verstößen gegen Art 101 und 102 EGV Hausdurchsuchungen nunmehr auch in den Privatwohnungen von Unternehmensinhabern und Mitarbeitern vornehmen (Art 21 VO 1/2003). Auf Ersuchen der Kommission haben auch die nationalen Wettbewerbsbehörden selbständig Nachprüfungen vorzunehmen, die die Kommission für erforderlich hält oder angeordnet hat. Kartellmitglieder, die mit Insiderinformationen mithelfen, Kartelle aufzudecken oder aufzuklären, können jedoch – als Gegenleistung für ihre Unterstützung der Kommission – mit einer Reduktion oder gar dem Erlass der Geldbuße für die Teilnahme am Kartell rechnen. Durch diese „Kronzeugenregelung“ (vgl die Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl 2006, Nr C 298/17) soll den immer raffinierteren Methoden der Kartelle effizienter begegnet werden. Eine nationale Wettbewerbsbehörde oder die Kommission fordert Sie (und die übrigen Kartellmitglieder) auf, ein abgestimmtes Verhalten einzustellen oder die missbräuchliche Ausnutzung ihrer marktbeherrschenden Stellung abzustellen. Kommen Sie dem nicht nach, drohen Ihnen Geldstrafen oder andere Sanktionen.
V.
Fusionskontrolle
A.
Allgemeines
Das Bestehen eines unverfälschten Wettbewerbs kann nicht nur durch Kartellbildung und Marktmissbrauch, sondern auch durch Zusammenschlüsse (= Fusionen) von zuvor miteinander konkurrierender Unternehmen gefährdet werden. Seit Auch Unternehmenszusammenschlüsse können den freien Wettbewerb 01.05.2004 ist eine neue Verordnung über die Kontrolle von beeinträchtigen. Unternehmenszusammenschlüssen (FusionskontrollVO 139/2004, ABl L 24/1) in Kraft, die eine wirksame Kontrolle sämtlicher Zusammenschlüsse in Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der Union ermöglichen soll. Nach der neuen Verordnung ist es Ziel der Fusionskontrolle zu verhindern, dass durch den Zusammenschluss zweier oder mehrerer Unternehmen wirksamer Wettbewerb im Binnenmarkt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert wird, und zwar insbesondere infolge der Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung. Bsp: Das Unternehmen A, das 40% Marktanteil hat, fusioniert mit dem Unternehmen B, das ebenfalls 40% Marktanteil hat. Zusammen haben sie einen Marktanteil von 80% und damit jedenfalls eine beherrschende Stellung begründet, die geeignet ist, wirksamen Wettbewerb erheblich zu behindern. Ein Unternehmenszusammenschluss liegt in folgenden Fällen vor: x
Verschmelzung: Die Gesellschaft B geht in der Gesellschaft A auf oder die Gesellschaft A verschmilzt mit der Gesellschaft B zu einer neuen Gesellschaft C.
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B.
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x
Kontrollerwerb: Die Gesellschaft A übernimmt durch Kauf von Gesellschaftsanteilen (Aktien, GmbH-Anteilen) die Kontrolle über die Gesellschaft B, ohne diese zu „schlucken“. Die Gesellschaften bleiben also weiterbestehen.
x
Errichtung eines Gemeinschaftsunternehmens: Ein Unternehmen C wird von den – bestehenbleibenden – Unternehmen A und B gegründet, um in gewissen Geschäftsbereichen zu kooperieren.
Unionsweite Bedeutung
Damit ein Zusammenschluss der FusionskontrollVO (FKVO) unterliegt, muss er von unionsweiter Bedeutung sein, dh eine gewisse Größenordnung aufweisen. Dies ist dann der Fall, wenn die Umsätze der beteiligten Unternehmen bestimmte Schwellenwerte, die in der FKVO festgelegt sind, überschreiten (Näheres dazu siehe unten: Grafik Fusionskontrolle). In diesem Fall ist dieser Zusammenschluss jedenfalls bei der Kommission anzumelden. Da die Umsatzschwellen relativ hoch angesetzt sind, unterliegt der Erwerb der meisten mittelständischen Unternehmen durch Großunternehmen – ob grenzüberschreitend oder nicht – nicht der FKVO, sondern dem nationalen Fusionskontrollrecht. Die neue FKVO sieht aus diesem Grund Regelungen vor, die es der Kommission auf Antrag mehrerer Mitgliedstaaten oder der beteiligten Unternehmen erlauben, die Prüfung eines Zusammenschlussvorhabens an sich zu ziehen, auch wenn die Umsatzschwellen nicht erreicht werden (Art 9 FKVO). Umgekehrt kann die Kommission auch die Prüfung eines Zusammenschlussvorhabens an eine mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde delegieren. Bsp: Das Unternehmen A möchte am Unternehmen B 55% der Anteile erwerben. Dies stellt einen Zusammenschluss durch Kontrollerwerb dar. Ob dieser Zusammenschluss unionsweite Bedeutung hat und damit der FKVO unterliegt, ergibt sich aus den Umsatzzahlen der beiden Unternehmen.
C.
Das Genehmigungsverfahren
Nach der FKVO müssen Unternehmenszusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung bei der Kommission angemeldet werden. Die Kommission hat sodann über die Erlaubnis oder das Verbot des betreffenden Zusammenschlusses zu Unternehmenszusammenschlüsse von entscheiden. Dabei wendet die Kommission den sog unionsweiter Bedeutung müssen bei der Kommission angemeldet werden. „modifizierten Dominanztest“ an. Dieser untersucht nicht nur, ob durch den Zusammenschluss wirksamer Wettbewerb im Binnenmarkt oder einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert wird (durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung), sondern er erfasst auch wettbewerbsbeschränkende Effekte, die durch Zusammenschlüsse in oligopolistischen Märkten auftreten können, ohne dass dabei ein neuer Marktführer entsteht. Der Zusammenschluss darf nur dann genehmigt werden, wenn er wirksamen Wettbewerb im Binnenmarkt oder in einem wesentlichen Teil desselben nicht erheblich behindert. Durch Verpflichtungserklärungen können Unternehmen Bedenken, die die Kommission bezüglich eines Zusammenschlusses hat, ausräumen. Mit diesen Verpflichtungserklärungen
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verzichten die Unternehmen verbindlich auf gewisse Rechte, um sich nicht des Missbrauchs ihrer marktbeherrschenden Stellung verdächtig zu machen. Bsp: Die fusionierenden Unternehmen A und B sind in verschiedenen Produktmärkten tätig. In einem davon erreichen die beiden einen kumulierten Marktanteil von über 80%. Um die Chancen einer Fusionsgenehmigung zu erhöhen, verpflichtet sich das übernehmende Unternehmen A, die betreffende Sparte des Unternehmens weiterzuveräußern. Gegen Entscheidungen der Kommission im Fusionskontrollverfahren kann Klage beim Europäischen Gericht erhoben werden.
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VI. Verbot staatlicher Beihilfen A.
Das grundsätzliche Beihilfeverbot (Art 107 Abs 1 AEUV)
Nach Art 107 Abs 1 AEUV sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen, gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Staatliche Beihilfen sind also grundsätzlich verboten. Der Begriff der Beihilfe ist weit zu verstehen. Ganz allgemein sind darunter alle staatlichen Maßnahmen zu verstehen, die in verschiedener Form die Belastungen vermindern, welche ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat. Staatliche Beihilfen können nicht nur finanzielle Zuwendungen (zB Zuschüsse; günstige Kredite; staatliche Staatliche Beihilfe = staatliche Begünstigung ohne äquivalente Gegenleistung Beteiligung an einem maroden Unternehmen, die ein marktwirtschaftlich handelnder Privatinvestor nicht vorgenommen hätte), sondern auch Erleichterungen oder Befreiungen von staatlich auferlegten Leistungspflichten (zB begünstigte Steuersätze, Steuerbefreiung, Befreiung von der Kanalgebühr) sein. Auch die Übernahme von Bürgschaften oder günstige Haftungsübernahmen sowie die unentgeltliche oder besonders günstige Zurverfügungstellung von Immobilien bzw Grundstücken können als staatliche Beihilfen qualifiziert werden. Typisch dafür sind die begünstigende Wirkung bei den Empfängern und das Fehlen einer äquivalenten Gegenleistung. Das Unternehmen erhält also eine wirtschaftliche Vergünstigung, die es unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte. Bsp: Ein Mitgliedstaat besitzt zu 51% eine Airline. Da diese auf Grund von Misswirtschaft in Turbulenzen gerät, beschließt die Aktionärsversammlung der Airline AG (in der der Staat die Mehrheit stellt), dem Unternehmen „unter die Arme zu greifen" und das Kapital der AG aufzustocken, um dem Unternehmen wieder zu liquiden Mitteln zu verhelfen. Sonst drohen der Konkurs des Unternehmens und die Entlassung aller Arbeitnehmer. Grundsätzlich hat der Staat das Recht, sich an Aktiengesellschaften zu beteiligen und im Zuge dieser Beteiligungen auch auf das Unternehmen einzuwirken. Der Staat darf aber keine Beihilfen – wie in unserem Beispiel in Form von Kapitalerhöhungen – leisten, wenn dies zu einer Wettbewerbsverzerrung führen würde. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein marktwirtschaftlich handelnder Privatinvestor eine Investition in dieser Höhe nicht vorgenommen hätte. Anders wäre es, wenn etwa eine angemessene Rendite erwartet werden kann. Auch sog Quersubventionierungen durch den Staat bzw von staatlich beherrschten (= öffentlichen) Unternehmen sind staatliche Beihilfen und damit verboten. Bsp: Ein vom Staat betriebenes Unternehmen verwendet Einnahmen aus dem Tätigkeitsfeld, in dem es Monopolist ist (zB Brief- und Paketpostzustellung), zur Finanzierung von Tätigkeitsfeldern, bei denen es Konkurrenz ausgesetzt ist (zB Erbringung von Telekommunikationsdiensten). Dies stellt eine unerlaubte staatliche Quersubventionierung dar, da es an einer äquivalenten Gegenleistung mangelt. Staatlich deshalb, weil das betreffende Unternehmen dem Staat gehört.
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Ein weiteres Kriterium für die Einstufung als Beihilfe ist die Budgetwirksamkeit der Maßnahme: Neben der Bereicherung bzw der Ausgabenersparnis bei den Begünstigten muss es gleichzeitig zu einer Belastung bzw einem Einnahmeverlust oder –verzicht des Staates kommen. Maßnahmen wie bspw der Erlass milderer Produktionsvorschriften bzw Umweltauflagen oder ein verminderter Arbeitnehmerschutz für bestimmte Unternehmen sind demgemäß wegen mangelnder Budgetwirksamkeit keine Beihilfen im Sinne des Art 107 Abs 1 AEUV. Darüber hinaus liegt eine Beihilfe im Sinn des AEUV nur dann vor, wenn die Beihilfe nur bestimmten Unternehmen oder Unternehmenszweigen zukommen soll. Werden Gelder generell an alle Wirtschaftstreibenden eines Landes ausgeschüttet Allgemeine konjunkturpolitische Maßnahmen des Staates sind keine (zB Investitionsfreibetrag), handelt es sich nicht um eine Beihilfen. Beihilfe, sondern um eine allgemeine wirtschaftspolitische Maßnahme. Ein im Sommer 2005 eingeleiteter Reformprozess („Aktionsplan staatliche Beihilfen“) zielt auf die Anpassung des EU-Beihilferechts an die künftigen Anforderungen ab. So sollen Beihilfen in Zukunft stärker auf Forderungen von Wachstum und Beschäftigung gerichtet sein. Auch verfahrensrechtliche Änderungen sind geplant.
B.
Ausnahmen vom Beihilfeverbot (Art 107 Abs 2 und 3 AEUV)
Welche Beihilfen mit dem Binnenmarkt vereinbar sind oder vereinbar erklärt werden können, legt der AEUV selbst bzw durch Genehmigungsermächtigungen an die Kommission fest. Nach Art 107 Abs 2 AEUV sind zum Beispiel soziale Beihilfen an einzelne Verbraucher, wenn sie ohne Diskriminierung nach der Herkunft der Waren gewährt werden, oder Beihilfen für Katastrophenfälle mit dem Binnenmarkt vereinbar. Staatliche Beihilfen können von der Kommission ausnahmsweise genehmigt werden.
Ferner können die in Art 107 Abs 3 lit a bis d AEUV genannten Beihilfen von der Kommission als mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden. Dabei handelt es sich insbesondere
um folgende Beihilfen: x
Beihilfen zur Förderung von wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten;
x
Beihilfen zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats;
x
Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete;
x
Beihilfen zur Förderung wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interesse oder
x
Beihilfen zur Förderung der Kultur und des kulturellen Erbes.
Näher konkretisiert werden diese Ausnahmen vom Beihilfeverbot durch Leitlinien der Kommission. Es besteht dazu eine reiche und sehr kasuistische Genehmigungspraxis der Kommission.
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In Gruppenfreistellungsverordnungen der Kommission ist schließlich vorgesehen, dass, unter anderem, auch sog De-minimis-Beihilfen (das sind Beihilfen, die weniger als 200.000 € pro Unternehmen für einen Zeitraum von drei Jahren betragen), bestimmte Beihilfen für kleinere und mittlere Unternehmen, bestimmte Regionalbeihilfen sowie Ausbildungsbeihilfen vom Beihilfeverbot ausgenommen sind (VO 68/2001, 1628/2006; 70/2001). Die De-minimisRegelungen beruhen auf der Annahme, dass diesen Betrag nicht übersteigende Beihilfen den Handel zwischen Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigen bzw den Wettbewerb nicht verfälschen.
C.
Das Verfahren der Beihilfeaufsicht
1.
Melde- und Genehmigungspflicht
Jede beabsichtigte Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe ist – unabhängig davon, ob sie mit dem Binnenmarkt vereinbar ist oder nicht – vom betreffenden Mitgliedstaat der Kommission zu melden (= zu notifizieren). Ausgenommen von der Anmeldepflicht sind nur die bereits erwähnten De-minimis-Beihilfen sowie sonstige Beihilfen, die von einer Gruppenfreistellungsverordnung erfasst sind. Nach erfolgter Anmeldung führt die Kommission eine Vorprüfung durch, um zu klären, ob die angemeldete Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist oder nicht. Kommt die Kommission zum erstgenannten Ergebnis, so teilt sie dies dem Mitgliedstaat mit. Kommt sie zum zweitgenannten Ergebnis, hat sie ein sog Hauptprüfungsverfahren Grundsätzlich müssen alle Beihilfen der Kommission gemeldet und von ihr einzuleiten. Dieses endet mit der Genehmigung der Beihilfe genehmigt werden. (allenfalls mit Auflagen) oder mit einem Verbot. Trifft die Kommission innerhalb von zwei Monaten keine Entscheidung, dann gilt sie als (stillschweigend) genehmigt, unterliegt aber als bestehende Beihilfe einer Überwachung durch die Kommission (siehe sogleich Punkt 2.). Solange eine Beihilfe der Kommission nicht gemeldet und von dieser nicht genehmigt wurde, darf sie vom Mitgliedstaat nicht eingeführt werden. Wird trotz des Beihilfeverbots eine staatliche Beihilfe ausbezahlt, dann kann die Kommission von dem betreffenden Mitgliedstaat die Aussetzung und Wiedereinziehung der Beihilfe verlangen. Es kann aber auch ein nichtsubventionierter Konkurrent vor den nationalen Gerichten die Rechtswidrigkeit der Beihilfe rügen und die Rückgängigmachung verlangen.
2.
Möglichkeit der Untersagung bestehender Beihilfen
Hinsichtlich bereits bestehender Beihilfen gilt ein anderes Kontrollsystem. Während neue Beihilfen – wie gerade erörtert – nicht gewährt werden dürfen, solange keine Genehmigung der Kommission erteilt wurde (Genehmigungssystem), sind Altbeihilfen werden von der Kommission bereits bestehende Beihilfen solange zulässig, bis sie von der (nur) überwacht. Kommission untersagt werden (Untersagungssystem). Bestehende Beihilfen sind solche, die ein Mitgliedstaat im Zeitpunkt seines Beitritts zur EU bereits gewährt hat (sog Altbeihilfen). Bestehende Beihilfen sind aber auch solche, die die Kommission bereits genehmigt hat.
192
3.
Europäisches Wettbewerbsrecht
LE 6
Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Kommission
Die Entscheidungen der Kommission können vom betroffenen Mitgliedstaat und von den am Hauptverfahren beteiligten Unternehmen bekämpft werden. Hiefür zuständig ist das Europäische Gericht. Gegen Urteile des EuG kann in weiterer Folge ein – auf Rechtsfragen beschränktes – Rechtsmittel beim EuGH eingelegt werden.
VII. Öffentliche Unternehmen und Wettbewerbsrecht Art 106 AEUV erlaubt die Existenz und den Betrieb von öffentlichen oder vom Staat privilegierten (weil mit ausschließlichen oder besonderen Rechten ausgestatteten) Unternehmen und anerkennt deren wichtigen Beitrag bei der Erfüllung von gemeinwirtschaftlichen Aufgaben im allgemeinen öffentlichen Interesse (zB Stromversorgung, Abfallbeseitigung, öffentlicher Verkehr etc). Jedoch unterscheidet das europäische Kartellrecht prinzipiell nicht zwischen privaten und öffentlichen Unternehmen, so dass die Wettbewerbsvorschriften grundsätzlich auch auf öffentliche Unternehmen Anwendung finden. Das bedeutet, dass Ausnahmen vom Wettbewerbsrecht unter bestimmten Voraussetzungen zwar möglich sind, diese vom EuGH in seiner Rechtsprechung allerdings sehr restriktiv ausgelegt werden. Zunächst ist es wichtig festzustellen, nach welchen Kriterien ein „öffentliches Unternehmen“ definiert wird. Da die Rechtsformen unternehmerischen Handelns in den Mitgliedstaaten durchaus unterschiedlich sein können und insbesondere auch das Gesellschaftsrecht nicht vollständig harmonisiert ist, können europäische Vorschriften nicht an bestimmten Rechtsformen anknüpfen, sondern müssen eine eigenständige Definition des Begriffs Unternehmen entwickeln. In diesem Sinn versteht der EuGH als „Unternehmen“ jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit. Wesentliches Element ist also die wirtschaftliche Tätigkeit, worunter das Anbieten von Waren und Dienstleistungen am Markt gegen Entgelt zu verstehen ist. In welcher Rechtsform (natürliche Person, juristische Person oder einfach „Magistratsabteilung“ der Gemeinde) die wirtschaftliche Tätigkeit durchgeführt wird und wie sie finanziert wird (aus öffentlichen oder privaten Geldern) ist für das Vorliegen eines „Unternehmens“ unerheblich.
LE 6
Europäisches Wettbewerbsrecht
193
Als „öffentliche“, dh einem Mitgliedstaat zuzurechnende Unternehmen behandelt das europäische Wettbewerbsrecht insbesondere Unternehmen bei Vorliegen folgender Voraussetzungen, die sich wesentlich aus der sog „Transparenzrichtlinie“ ergeben: „Öffentlich“ ist – laut Transparenzrichtlinie – ein Unternehmen dann, wenn der Staat (Bund, Länder oder Gemeinden) auf Grund Eigentums, finanzieller Unternehmen, deren Geschäftsführung Beteiligung oder sonstiger Bestimmungen, die die Tätigkeit des der Staat steuern kann, sind öffentliche Unternehmens regeln (Mehrheit der Stimmrechte, oder die Unternehmen. Kompetenz, mehr als die Hälfte der Mitglieder des Verwaltungs, Leitungs- oder Aufsichtsorgans zu bestellen), unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden Einfluss auf das Unternehmen ausüben kann. Der wesentliche Unterschied zu privaten Unternehmen liegt in der Fähigkeit der öffentlichen Hand, die Geschäftsführung unmittelbar zu steuern. Wesentlich ist zudem, ob das Unternehmen mit seiner Tätigkeit im ökonomischen Wettbewerb mit anderen Unternehmen steht. Öffentlichen Unternehmen werden häufig besondere oder ausschließliche Rechte verliehen, die als Ausgleich zur Erbringung bestimmter (sonst unprofitabler) Leistungen konzipiert sind oder die Gewährung eines gewissen Wettbewerbschutzes vor Konkurrenten darstellen. Art 106 Abs 1 AEUV verbietet den Mitgliedstaaten zunächst, in Bezug auf öffentliche Unternehmen sowie hinsichtlich jener Unternehmen, denen die Mitgliedstaaten besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, gegen das Diskriminierungsverbot und die europäischen Wettbewerbsvorschriften verstoßende Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten. Das richtet sich insbesondere auch gegen protektionistische Maßnahmen. Bsp: Ein Verstoß gegen das aus Art 106 Abs 1 AEUV folgende Missbrauchsverbot liegt nach der Rechtsprechung des EuGH etwa vor, wenn einem Unternehmen ein ausschließliches Recht zur Erbringung bestimmter Leistungen eingeräumt wird, dieses Unternehmen aber gar nicht in der Lage ist, die Nachfrage zu erfüllen. Damit werden nämlich jene Unternehmen vom Markt verdrängt, die die Nachfrage befriedigen könnten. In diesem Sinn hat der EuGH das ausschließliche Recht zur Vermittlung von Führungskräften, das der deutschen Bundesanstalt für Arbeit übertragen war, als gegen Art 106 Abs 1 AEUV verstoßend qualifiziert, weil diese Anstalt offenkundig nicht in der Lage war, die Nachfrage auf dem Markt nach Führungskräfteleistungen zu befriedigen. Art 106 Abs 2 AEUV legt in der Folge – in im Einzelnen sehr komplizierter Art und Weise – Folgendes fest: Grundsätzlich gilt das europäische Wettbewerbsrecht auch für öffentliche Unternehmen, und zwar auch dann, wenn diesen Unternehmen vom Mitgliedstaat aus Gründen etwa der Versorgungssicherung besondere oder ausschließliche Rechte eingeräumt sind. Voraussetzung ist, dass die erfassten Unternehmen Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (dh zu Marktbedingungen) erbringen (zB Energieversorgung, Post, Telekom). Das Wettbewerbsrecht ist aber so weit nicht anwendbar, als diese besonderen oder ausschließlichen Rechte und deren Ausübung erforderlich sind, um konkrete Ziele, die „im Allgemeininteresse liegen müssen“, erfüllen zu können. Damit anerkennt Art 106 Abs 2 AEUV, dass besondere und ausschließliche Rechte an öffentliche Unternehmen, soweit sie zur Erreichung spezieller öffentlicher Interessen insbesondere der Versorgungssicherung erforderlich sind, als Ausnahme von den allgemeinen Wettbewerbsregeln zulässig sind. Im
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Europäisches Wettbewerbsrecht
LE 6
Einzelfall prüft diese Frage der EuGH im Rahmen einer komplexen Verhältnismäßigkeitsprüfung nach. Die häufigsten Anwendungsfälle des Art 106 Abs 2 AEUV in der Praxis betreffen die Ausnahme vom Beihilfenverbot in Hinblick auf die Finanzierung gemeinwirtschaftlicher Tätigkeiten. Diesbezüglich hat der EuGH in seiner Rechtsprechung vier Kriterien herausgeschält, die kumulativ erfüllt sein müssen, damit Ausgleichszahlungen an öffentliche Unternehmen für die Erbringung gemeinwirtschaftlicher Tätigkeiten keine Beihilfe darstellen und somit nicht gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen: 1. das begünstigte Unternehmen muss tatsächlich mit gemeinwirtschaftlicher Tätigkeit betraut sein und die Verpflichtungen müssen klar definiert sein; 2. die Parameter, anhand derer der Ausgleich berechnet wird, müssen zuvor objektiv und transparent aufgestellt sein; 3. der Ausgleich darf nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung (unter Berücksichtigung von Einnahmen und Gewinn) ganz oder teilweise zu decken; 4. die Höhe des Ausgleichs ist anhand der Kosten zu berechnen, welches ein wirtschaftlich gut geführtes Unternehmen hätte. Diese Analyse kann entfallen sofern das Unternehmen welches mit gemeinwirtschaftliche Tätigkeit betraut ist, im Rahmen eines öffentlichen Vergabeverfahrens ermittelt wurde; Ein Verstoß gegen das Beihilfeverbot des europäischen Wettbewerbsrechts kann etwa darin bestehen, dass der Staat als Eigentümer Eigenkapitalzuschüsse gewährt, die ein vernünftiger, marktkonform agierender Eigentümer nicht investieren würde.
LE 6
Europäisches Wettbewerbsrecht
VIII. Weiterführende Literatur Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU3 (2010) Streinz, Europarecht8 (2008) Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht2 (2004)
IX. Wiederholungsfragen
Welche EU-Rechtsvorschriften richten sich gegen Beschränkungen des Wettbewerbsprinzips durch die Mitgliedstaaten und welche gegen Beschränkungen des Wettbewerbsprinzips durch private Unternehmen?
An wen richtet sich das Kartellverbot?
Warum sind Kartelle verboten?
Welche Handlungsformen von Unternehmen werden vom Kartellverbot erfasst?
Ist eigenständiges Parallelverhalten erlaubt?
Nennen Sie je zwei Beispiele für horizontale und vertikale Kartellabsprachen!
Was regelt die jeweilige De minimis Verordnung der Kommission im Kartellrecht?
Kann ein Unternehmer auf die Einhaltung einer Kartellabsprache klagen?
Wer vollzieht das europäische Kartellrecht?
Was sind Gruppenfreistellungsverordnungen?
Welche Änderungen im Kartell- und Missbrauchsverfahren sieht VO 1/2003 vor?
Verbietet der AEUV Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung?
Wie bestimmt sich der relevante Markt?
Wann hat ein Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung?
Welche Arten von Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gibt es?
Wer überwacht Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung?
Was bezweckt die Fusionskontrolle?
Welche Formen des Zusammenschlusses gibt es?
Wann liegt ein Zusammenschluss von unionsweiter Bedeutung vor?
Wem müssen Zusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung angezeigt werden?
Was ist eine staatliche Beihilfe?
Warum sind staatliche Beihilfen verboten?
Nennen Sie drei Beispiele für staatliche Beihilfen!
Was versteht man unter der Pflicht zur Notifizierung von Beihilfen?
Unter welchen Voraussetzungen kann die Kommission Beihilfen genehmigen?
Was versteht man unter ‚öffentlichen Unternehmen’?
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Was verbietet Artikel 106 Abs 1 AEUV?
Unter welchen Bedingungen stellen Ausgleichszahlungen für gemeinwirtschaftliche Tätigkeiten keine Beihilfen dar?
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Lektion 7 GEWERBEANTRITT
Disco in der Wiener Innenstadt (Teil 1) Sie haben die Idee, in der Innenstadt von Wien ein Lokal zu eröffnen, das endlich so sein soll, wie Sie es sich schon immer vorgestellt haben. Nach Ihren Vorstellungen soll das Lokal eine Diskothek werden. In den Räumlichkeiten soll Platz für ca. 200 Gäste sein. Eine professionelle Musikanlage samt DJ soll für den richtigen Sound sorgen. Es ist geplant, dass sowohl Cocktails, Longdrinks als auch Bier, Wein, Schnaps und nichtalkoholische Getränke ausgeschenkt werden. Den Gästen sollen im hinteren Bereich des Lokals – etwas entfernt von der Tanzfläche – auch Speisen in Form von Suppen, Salaten, überbackenen Broten, Toasts und kleinen Hauptspeisen angeboten werden. An Räumlichkeiten sind ein großer Raum mit Tanzfläche und Bar, ein kleinerer Raum an der gegenüberliegenden Seite der Tanzfläche für die Verköstigung der Gäste, eine Küche, ein Vorraum mit Garderobe sowie sanitäre Einrichtungen geplant. Auf Ihren Streifzügen durch die Innenstadt ist Ihnen schon ein entsprechendes, leer stehendes Lokal ins Auge gefallen. Mit dem Eigentümer haben Sie sich bereits geeinigt. Da Sie fünf Jahre lang eine Höhere Lehranstalt für Tourismus (HBLA) mit Erfolg besucht und im Zuge dieser Ausbildung ein fünfmonatiges Praktikum absolviert haben, fühlen Sie sich für das Vorhaben „Disco in der Wiener Innenstadt“ bestens geeignet. Nun gilt es, die rechtlichen Fragen zu klären: Für Fragen des Zivilrechts etc hat sich einer Ihrer Freunde für zuständig erklärt. Die Klärung der öffentlich-rechtlichen Fragen bleibt allerdings an Ihnen „hängen“. Sie stellen sich daher die Frage, welche Behördenwege notwendig und welche gesetzlichen Regelungen zu beachten sind. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Wozu braucht man eine Gewerbeordnung? Was ist ein Gewerbe? Welche Voraussetzungen müssen Sie erfüllen, um ein Gewerbe ausüben zu dürfen? Welche Rechte und Pflichten sind mit der Ausübung eines Gewerbes verbunden?
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Gewerbeantritt
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Inhalt: Die Gewerbeordnung 1994. Was regelt sie und worauf zielt sie ab? ............... 199 Für welche Tätigkeiten gilt die GewO?................................................................ 199 Gewerbsmäßigkeit .................................................................................................. 200 Selbständigkeit ........................................................................................................ 200 Regelmäßigkeit ....................................................................................................... 200 Ertragsabsicht ......................................................................................................... 200 Keine verbotene Tätigkeit........................................................................................ 201 Ausnahmen ............................................................................................................. 202 Welche Gewerbearten gibt es? ............................................................................ 203 Reglementierte Gewerbe, Teilgewerbe und freie Gewerbe .................................... 204 Anmeldungspflichtige und sensible Gewerbe.......................................................... 205 Gewerbeausübung als Industriebetrieb................................................................... 207 Unter welchen Voraussetzungen darf ein Gewerbe ausgeübt werden? .......... 208 Die allgemeinen Voraussetzungen.......................................................................... 208 Gewerberechtliche Handlungsfähigkeit ................................................................... 208 Unbescholtenheit..................................................................................................... 208 Österreichische bzw gleichgestellte Staatsbürgerschaft oder legaler Aufenthalt im Inland....................................................................................................................... 209 B. Die besonderen Voraussetzungen .......................................................................... 210 1. Befähigungsnachweis ............................................................................................. 210 2. Zuverlässigkeit ........................................................................................................ 211 3. Weitere Bedingungen .............................................................................................. 211 V. Wozu und wen ermächtigen Gewerbeberechtigungen?.................................... 212 A. Umfang der Gewerbeberechtigung ......................................................................... 212 1. Allgemeines ............................................................................................................. 212 2. Nebenrechte ............................................................................................................ 212 3. Für welchen örtlichen Bereich gelten Gewerbeberechtigungen? ............................ 215 B. Wen berechtigen Gewerbeberechtigungen? ........................................................... 215 C. Der gewerberechtliche Geschäftsführer .................................................................. 216 VI. Wann erlöschen Gewerbeberechtigungen? ....................................................... 216 VII. Weiterführende Literatur....................................................................................... 218 VIII. Wiederholungsfragen............................................................................................ 218 I. II. A. 1. 2. 3. B. C. III. A. B. C. IV. A. 1. 2. 3.
LE 7
I.
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Gewerbeantritt
Die Gewerbeordnung 1994. Was regelt sie und worauf zielt sie ab?
Die österreichische Bundesverfassung garantiert in ihrem Art 6 1867) allen Staatsbürgern die Freiheit, jeden Erwerbszweig – sei es selbständig (zB Unternehmer) oder unselbständig (zB Angestellter) – auszuüben. Dies allerdings nur „unter den gesetzlichen Bedingungen“.
Staatsgrundgesetz (StGG Ziele der GewO: Qualitätssicherung Gefahrenabwehr Konsumentenschutz
Erwerbsbetätigungen sind also nicht völlig frei, sondern können vom Gesetzgeber reglementiert werden. Tatsächlich findet sich eine Reihe derartiger gesetzlicher Vorschriften. Unter den zahlreichen Gesetzen, die den Antritt selbständiger Erwerbstätigkeit regeln und Ausübungsvorschriften vor allem branchen- oder berufsspezifischer Natur enthalten, nimmt die Gewerbeordnung (GewO) eine zentrale Stellung ein. Es handelt sich dabei um ein Bundesgesetz, dessen Stammfassung aus dem Jahr 1994 (BGBl 1994/194) stammt und das seither vielfach novelliert wurde. Die Gewerbeordnung versucht die Vielzahl an erwerbswirtschaftlichen Tätigkeiten in geordnete Bahnen zu lenken. Ihr Ziel ist es, die Qualität der angebotenen Leistungen zu fördern und etwaige, von den Gewerben ausgehende Gefahren abzuwehren. Daher verlangt die GewO etwa für den Antritt eines Gewerbes den Nachweis fachlicher Eignung und gewährt so grundsätzlich nur qualifizierten Fachleuten den Zugang zum jeweiligen Markt. Damit soll Qualität im Wettbewerb gefördert werden („Wettbewerb unter Qualifizierten“). Neben dem Antritt wird auch die Ausübung der Gewerbe geregelt, um mögliche Gefahren für Kunden, Nachbarn, den Gewerbetreibenden selbst oder sonst betroffene Personen abzuwehren und den Schutz der Konsumenten zu gewährleisten. Die Vorschriften der GewO betreffen einerseits die Ausübung gewerblicher Erwerbstätigkeiten allgemein, andererseits enthalten sie für einzelne Gewerbe auch detailliertere Regelungen.
II.
Für welche Tätigkeiten gilt die GewO?
Die GewO gilt nicht für sämtliche, sondern nur für bestimmte Erwerbstätigkeiten, nämlich für x
alle gewerbsmäßig ausgeübten und
x
nicht gesetzlich verbotenen Tätigkeiten, soweit sie
x
nicht durch die §§ 2 bis 4 ausgenommen sind (§ 1 Abs 1 GewO).
Es müssen also drei Voraussetzungen erfüllt sein, damit die GewO zur Anwendung kommt. Ist eine Voraussetzung nicht erfüllt, so unterliegt die betreffende Tätigkeit nicht der GewO und es besteht keine Pflicht zur Anmeldung eines Gewerbes oder zur Einholung einer Betriebsanlagengenehmigung (Ausnahme wiederum: dies wird in speziellen Gesetzen wie zB dem Gelegenheitsverkehrsgesetz bzw dem Berufsausbildungsgesetz verlangt). Die Frage, ob eine Tätigkeit der GewO unterliegt oder nicht, hat also weitreichende Konsequenzen.
200
A.
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LE 7
Gewerbsmäßigkeit
Gewerbsmäßig wird eine Tätigkeit dann ausgeübt, wenn sie
1.
x
selbständig,
x
regelmäßig und
x
in der Absicht betrieben wird, einen Ertrag oder sonstigen wirtschaftlichen Vorteil zu erzielen, gleichgültig für welche Zwecke dieser bestimmt ist (§ 1 Abs 2 GewO).
Selbständigkeit
Selbständig wird eine Tätigkeit dann ausgeübt, wenn sie auf eigene Rechnung und Gefahr ausgeübt wird. Der Selbständige trägt also das geschäftliche Risiko: Er bekommt den ganzen Gewinn, muss aber auch für den Verlust einstehen. Dadurch unterscheidet er sich vom unselbständigen Arbeitnehmer: für diesen manifestiert sich das geschäftliche Risiko „lediglich“ mittelbar in der Gefahr, die Arbeitsstelle zu verlieren. Den Verlust schlechter Wirtschaftsführung in seiner gesamten finanziellen Dimension trägt er jedoch nicht. Des Weiteren hat der Unselbständige von seinem Vorgesetzten gegebenenfalls Weisungen entgegennehmen und diese zu befolgen, wogegen der Selbständige sein „eigener Chef“ ist. Wirtschaftliche Abhängigkeit schließt Selbständigkeit nicht unbedingt aus. Wenn zum Beispiel ein Gewerbetreibender nur für einen einzigen Auftraggeber tätig und insoweit von diesem wirtschaftlich abhängig ist, so kann er dennoch selbständig tätig iSd § 1 Abs 3 GewO sein. Bsp: Herr X designt Homepages nur für einen einzigen Kunden. Er ist trotz der wirtschaftlichen Abhängigkeit von diesem selbständig tätig, da er auf eigene Rechnung und Gefahr tätig wird.
2.
Regelmäßigkeit
Regelmäßig ist eine Tätigkeit, wenn sie wiederkehrend vorgenommen wird. Es gilt aber auch schon eine einmalige Tätigkeit als regelmäßig, wenn nach den Umständen des Falles (objektiv!) auf Wiederholungsabsicht geschlossen werden kann oder wenn sie längere Zeit erfordert, wie es etwa bei Bauarbeiten der Fall sein kann. Das Anbieten einer den Gegenstand eines Gewerbes bildenden Tätigkeit an einen größeren Kreis von Personen (zB Inserat) wird der Ausübung des Gewerbes gleichgehalten (vgl § 1 Abs 4 GewO).
3.
Ertragsabsicht
Als Ertragsabsicht wird die Absicht bezeichnet, einen Ertrag oder sonstigen wirtschaftlichen Vorteil, dh Gewinn, zu erzielen. Dass dieser Ertrag tatsächlich Die GewO gilt für gewerbsmäßig (= selbständig, regelmäßig und in Geerzielt wird, ist nicht erforderlich: Es genügt die Absicht, einen winnabsicht) ausgeübte Tätigkeiten. solchen zu erwirtschaften. Das Anbieten von Waren und Dienstleistungen gegen Entgelt bedeutet nicht automatisch, dass eine Ertragserzielungsabsicht vorliegt.
LE 7
Gewerbeantritt
201
Bsp: Eine karitative Einrichtung bietet Waren ausschließlich zum Selbstkostenpreis an. Mangels Gewinnabsicht handelt es sich dabei um keine gewerbliche Tätigkeit. Umgekehrt bedeutet aber das Anbieten von Waren und Dienstleistungen gegen ein variables Entgelt nicht notwendiger Weise, dass die Ertragserzielungsabsicht fehlt. Bsp: Führt ein Restaurant ein sog. „pay as you wish“-System ein, bei dem der Kunde lediglich jenen Betrag bezahlt, den ihm das konsumierte Essen und der Service wert sind, so wird man von einer Ertragsabsicht ausgehen müssen: in mehreren Pilotprojekten fand man heraus, dass Kunden oft sogar mehr zahlen, wenn ihnen die Festsetzung des Preises anheimgestellt wird. Betriebe, welche nun ein solches System einführen, tun dies gerade aufgrund dieser Erkenntnis – sie erhoffen sich einen wirtschaftlichen Vorteil durch die oftmals besser zahlenden Kunden. Daher ist bei „pay as you wish“Systemen entgegen dem ersten Anschein ebenso von einer Ertragsabsicht auszugehen. Bei Vereinen, die nach dem Vereinsgesetz gegründet worden sind (sog ideelle bzw nicht auf Gewinn gerichtete Vereine), kann die Frage nach dem Vorliegen von Ertragsabsicht mitunter schwierig zu beantworten sein. Nach § 1 Abs 6 GewO handeln ideelle Vereine dann mit Gewinnabsicht, wenn die Vereinstätigkeit das Erscheinungsbild eines einschlägigen Gewerbebetriebes aufweist und auf Erlangung vermögensrechtlicher Vorteile für die Vereinsmitglieder gerichtet ist. Bsp: Ein Reiseverein veranstaltet oder vermittelt zu günstigen Konditionen Reisen seiner Mitglieder. Übt ein Verein eine an sich der GewO unterliegende Tätigkeit öfter als einmal in der Woche aus, so wird die Ertragsabsicht vermutet. Bsp: Ein Sportverein schenkt täglich in einer eigenen Kantine an die Mitglieder Getränke zu günstigen Preisen aus und finanziert damit den Ankauf neuer Sportbekleidung. Da diese Tätigkeit öfter als einmal in der Woche ausgeübt wird, unterliegt das Betreiben der Kantine durch den Sportverein den Vorschriften der GewO.
B.
Keine verbotene Tätigkeit
Für gesetzlich verbotene Tätigkeiten, wie etwa Drogenhandel, Vermietung von Mautvignetten oder Hehlerei, kann man keine Gewerbeberechtigung erhalten. Dies gilt jedoch nur, wenn die Tätigkeit als solche verboten ist. Der Verstoß gegen einzelne Rechtsvorschriften im Zuge der Ausübung einer an sich erlaubten Tätigkeit spricht hingegen nicht gegen ihre Gewerbsmäßigkeit iSd GewO. Bsp: Ein Fleischhauer verkauft geschmuggeltes oder gewildertes Fleisch. Ein Bäcker verkauft seine Waren außerhalb der gesetzlich erlaubten Ladenöffnungszeiten. Ein Goldschmied schließt vereinzelt Wuchergeschäfte ab, indem er unwissenden Kunden wertlose Falschware zum üblichen Schmuckpreis verkauft.
202
C.
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Ausnahmen
Wenn eine der Ausnahmen der §§ 2 bis 4 GewO zutrifft, unterliegt die betreffende gewerbsmäßig ausgeübte Tätigkeit nicht der GewO, dh die Regelungen der GewO kommen nicht zur Anwendung. Für diese nicht der GewO unterliegenden Nicht alle gewerbsmäßig ausgeübten Tätigkeiten bestehen Sondergesetze, die spezielle Regelungen Tätigkeiten werden von der GewO erfasst. für den jeweiligen Berufsstand normieren. Der Grund für den Ausschluss der Anwendbarkeit der GewO liegt zumeist darin, dass die allgemeinen Bestimmungen der GewO für die genaue Reglementierung dieser Tätigkeiten nicht ausreichen (zB Banken, Versicherungen, Rechtsanwälte, Notare, Ziviltechniker, Ärzte, etc). Daneben darf der Bundesgesetzgeber aufgrund der Kompetenzverteilung unter Berufung auf die Kompetenzgrundlage „Angelegenheiten des Gewerbes“ keine Sachverhalte regeln, deren Regelung den Ländern vorbehalten ist (zB Landwirtschaft, Berg- und Schiführer, Privatzimmervermietung, Kinos und Veranstaltungsbetriebe, etc). Auch diese Angelegenheiten fallen daher nicht in den Anwendungsbereich der GewO.
Zunächst wollen Sie natürlich wissen, ob Sie überhaupt die Vorschriften der GewO beachten müssen. Sie müssen daher prüfen, ob die GewO auf Ihr Vorhaben Anwendung findet. Mit anderen Worten: Sie müssen feststellen, ob das Betreiben einer Disco von der GewO erfasst wird. Ihre Tätigkeit soll das Bewirten von Gästen sein. Sie müssen prüfen, ob alle Voraussetzungen (juristisch ausgedrückt: alle Tatbestandselemente), die in der GewO für das Vorliegen eines Gewerbes vorgesehen sind, vorliegen. 1. Selbständigkeit: Sie wollen das Lokal allein betreiben, Sie bekommen den ganzen Gewinn, müssen aber auch einen möglichen Verlust allein tragen. Sie sind Ihr eigener Boss. Selbständigkeit ist demnach gegeben. 2. Regelmäßigkeit: Sie wollen das Lokal regelmäßig über mehrere Jahre hinweg und nicht bloß eine kurze Zeit lang (zB für ein Wochenende) betreiben. Regelmäßigkeit ist also auch gegeben. 3. Natürlich wollen Sie mit ihrem Lokal einen Ertrag erwirtschaften, also einen Gewinn erzielen. Ertragsabsicht liegt demnach auch vor. 4. Das Bewirtschaften eines Lokals ist in Österreich gesetzlich nicht verboten, damit ist es erlaubt. 5. Das Bewirtschaften eines Lokals fällt nicht unter die Ausnahmen der §§ 2 - 4 GewO. Ergebnis: Ihre Tätigkeit – das Bewirtschaften eines Lokals – fällt unter die GewO.
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203
III. Welche Gewerbearten gibt es? Unterliegt eine konkrete Tätigkeit der Gewerbeordnung, so kann man in einem weiteren Schritt – je nach Gesichtspunkt (Befähigungsnachweis, Zuverlässigkeitsprüfung, Betriebsbeschaffenheit) – zwischen verschiedenen Gewerbearten unterscheiden. Für alle Gewerbearten ist dabei die Erfüllung allgemeiner Voraussetzungen notwendig (siehe IV.A.). Nur für
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manche Gewerbearten benötigen Sie zusätzlich bestimmte besondere Voraussetzungen (siehe IV.B.).
A.
Reglementierte Gewerbe, Teilgewerbe und freie Gewerbe
Je nachdem, ob zur Ausübung eines bestimmten Gewerbes ein Befähigungsnachweis erforderlich ist und wie dieser zu erbringen ist, unterscheidet die GewO zwischen reglementierten Gewerben, Teilgewerben und freien Gewerben; ferner innerhalb der Kategorie der reglementierten Gewerbe zwischen „normalen“ reglementierten Gewerben, Handwerken und verbundenen Gewerben. x
Die reglementierten Gewerbe werden in § 94 GewO in einer eigenen Liste aufgezählt: zB Arbeitsvermittlung, Tischler, Metalltechnik, Ingenieurbüros, Gastgewerbe, Kosmetik (Schönheitspflege), Lebensund Bei reglementierten Gewerben muss ein Sozialberatung, Fremdenführer, Reisebüros, etc Um ein Befähigungsnachweis erbracht werden, bei freien Gewerben nicht. reglementiertes Gewerbe ausüben zu dürfen, muss neben der Erfüllung allgemeiner Voraussetzungen ein Befähigungsnachweis erbracht werden (§ 18 GewO). Unter einem Befähigungsnachweis versteht man den Nachweis der Befähigung für das jeweilige Gewerbe, etwa durch Vorlage eines entsprechenden Abschlusszeugnisses (Näheres dazu unter IV.B.). o
In der Liste der reglementierten Gewerbe werden einige der angeführten Tätigkeitsfelder als Handwerke bezeichnet: zB Augenoptik, Bäcker, Dachdecker, Fleischer, Friseur und Perückenmacher (Stylist), Rauchfangkehrer, Schuhmacher, Uhrmacher, Zahntechniker etc Für diese ist der Befähigungsnachweis in der Regel durch Ablegung der sog Meisterprüfung zu erbringen.
o
Einzelne Handwerke werden in § 94 GewO als verbundene Handwerke bezeichnet. Dabei handelt es sich um Tätigkeitsfelder, die sich aus zwei oder mehreren Gewerben mit besonders engem fachlichem Zusammenhang zusammensetzen. Wird ein Befähigungsnachweis für ein Gewerbe, das zu einem verbundenen Gewerbe gehört, in vollem Umfang erbracht, so dürfen auch die Leistungen der anderen Gewerbe, aus denen sich das verbundene Gewerbe zusammensetzt, erbracht werden (§ 30 GewO).
Bsp: Wer eine Meisterprüfung als Tischler ablegt, darf auch gewerblich als Bootbauer oder Bildhauer tätig werden (vgl § 94 Z 71 GewO); Gewerbeberechtigungen von Gärtnern umfassen auch Tätigkeiten als Blumenbinder (vgl § 94 Z 24 GewO). x
Einen Sonderfall stellen die sog Teilgewerbe dar. Teilgewerbe umfassen Tätigkeiten eines reglementierten Gewerbes, deren selbständige Ausführung auch von Personen erwartet werden kann, die die Befähigung hierfür auf vereinfachte Art (Lehrabschluss, einschlägige Tätigkeit, etc) nachweisen (§ 31 Abs 2 - 4 GewO). Welche der in § 94 GewO genannten Gewerbe als Teilgewerbe gelten und wie für diese der „reduzierte“ Befähigungsnachweis zu erbringen ist, bestimmt der zuständige Bundesminister per
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205
Verordnung. Da Teilgewerbe auf die Liste des § 94 GewO zurückgreifen, sind sie keine eigene Gewerbeart. Bsp: Autoverglasung, Zusammenbau von Möbelbausätzen. x
Alle anderen Gewerbe sind freie Gewerbe: zB Handelsgewerbe (ausgenommen der Handel mit Medizinprodukten und Handelstätigkeiten, die ausdrücklich Bestandteil eines reglementierten Gewerbes sind, wie zB Waffenhandel), Werbeagenturen, Gewerbe der Dienstleistungen in der automatischen Datenverarbeitung und Informationstechnik etc Bei ihnen besteht keine Pflicht zur Vorlage eines Befähigungsnachweises (§ 5 Abs 2 GewO). Die GewO enthält allerdings für einzelne freie Gewerbe spezielle Ausübungsvorschriften (zB für Adressverlage und Direktmarketingunternehmen, Handelsgewerbe, Tankstellen, vgl § 151 ff GewO).
Beachte: Wird eine gewerbliche Tätigkeit in Form eines Industriebetriebes nach § 7 GewO ausgeübt, so bedarf es in der Regel (beachte aber § 7 Abs 5 GewO) wiederum keines Befähigungsnachweises (siehe unten III.C.).
B.
Anmeldungspflichtige und sensible Gewerbe
Im Anschluss an die Frage nach einem allenfalls zu erbringenden Befähigungsnachweis, ist zusätzlich zu untersuchen, ob zur Ausübung eines konkreten Gewerbes die bloße Anmeldung oder aber noch zusätzlich eine Zuverlässigkeitsprüfung vorgeschrieben ist. Auch anhand dieses Kriteriums kann man daher die unterschiedlichen Gewerbe unterteilen, nämlich in (bloße) Anmeldungsgewerbe einerseits und sensible Gewerbe (= besonders zulassungspflichtige Gewerbe) andererseits. Gemäß § 5 Abs 1 GewO dürfen Gewerbe bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen (Näheres dazu unter IV.) auf Grund der Anmeldung des betreffenden (reglementierten oder freien) Gewerbes bei der Gewerbebehörde ausgeübt werden. Anmeldung bedeutet, dass die Gewerbebehörde davon verständigt wird, dass nun ein bestimmtes Gewerbe ausgeübt werden soll. Die Anmeldung hat die genaue Bezeichnung des Gewerbes und des für die Ausübung in Aussicht genommenen Standortes zu enthalten. Des Weiteren sind diverse Belege (zB betreffend Name, Staatsangehörigkeit, allenfalls Befähigung, etc) anzuschließen. Liegen die Voraussetzungen für die Ausübung des Gewerbes vor, so trägt die Gewerbebehörde den Anmelder in das – Begründung aller Gewerbe durch elektronisch geführte – Gewerberegister ein. Der Anmelder wird Anmeldung. Bei einigen reglementierten Gewerben ist zusätzlich noch eine durch Übermittlung eines Auszugs aus dem Gewerberegister Zuverlässigkeitsprüfung vorgesehen. von der Eintragung verständigt (§ 340 Abs 1 GewO). Wer die Anmeldung unterlässt, macht sich verwaltungsrechtlich strafbar (§ 366 Abs 1 Z 1 GewO: Geldstrafe bis zu 3.600 €). Liegen die Voraussetzungen nicht vor, so wird dies von der Gewerbebehörde mit Bescheid festgestellt und die Ausübung des Gewerbes untersagt. Bsp: Piercen und Tätowieren sind dem Gewerbe der Kosmetik (Schönheitspflege) vorbehalten (§ 109 Abs 3 GewO). Da dieses ein reglementiertes Gewerbe ist (§ 94 Z
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42 GewO), bedarf es eines Befähigungsnachweises (§ 18 GewO). Ausgeübt werden darf das Gewerbe auf Grund der Anmeldung bei der Gewerbebehörde. Bei einigen reglementierten Gewerben bedarf es neben der Anmeldung zusätzlich noch einer Zuverlässigkeitsprüfung – man spricht von sensiblen Gewerben. Sie werden in § 95 GewO aufgelistet (zB Baumeister, chemische Laboratorien, Pyrotechnikunternehmen, Gas- und Sanitärtechnik, Reisebüros, Vermögensberatung, etc). Bei ihnen ist aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, des Schutzes von Leben und Gesundheit, des Konsumentenschutzes etc das Vorliegen der an sich während der gesamten Gewerbeausübung erforderlichen Zuverlässigkeit des Bewerbers bereits vor Gewerbeantritt von der Behörde anlässlich der Gewerbeanmeldung zu überprüfen. Sind die Voraussetzungen für die Ausübung eines angemeldeten sensiblen Gewerbes erfüllt, so stellt die Gewerbebehörde dies mittels Bescheid fest. Erwächst dieser in Rechtskraft (Näheres zur Rechtskraft in L 9, II.C.3.e), so trägt die Behörde den Anmelder in das Gewerberegister ein (§ 340 Abs 2 GewO). Der Anmelder darf mit der Gewerbeausübung erst mit der Rechtskraft des Bescheides beginnen, was im Ergebnis auf eine behördliche Zulassung hinausläuft. Besonderes gilt für das Waffengewerbe. Bei diesem müssen nämlich für die Erteilung einer Gewerbeberechtigung zusätzlich zur Überprüfung der Zuverlässigkeit des Bewerbers noch weitere besondere Voraussetzungen erfüllt sein (vgl §§ 139 ff GewO). In Angelegenheiten des Gewerberechts entscheidet in erster Instanz die Bezirksverwaltungsbehörde (BVB), also der Bezirkshauptmann (BH) und – in Städten mit eigenem Statut – der Bürgermeister bzw der Magistrat (§ 333 GewO). Berufungsinstanz in Gewerbesachen ist der LH. Zur Erteilung einer Gewerbeberechtigung für Waffengewerbe betreffend militärische Waffen ist jedoch der Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Inneres zuständig (§ 148 GewO).
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Gewerbeantritt
Da das Gastgewerbe ein reglementiertes Gewerbe ist (§ 94 Z 26 GewO), müssen Sie neben den allgemeinen auch noch besondere Voraussetzungen (Befähigungsnachweis, siehe dazu unten IV.B.1) erfüllen, damit Sie im Gastgewerbe tätig sein dürfen. Das Gastgewerbe ist ein Anmeldegewerbe (da das Gastgewerbe kein sensibles Gewerbe im Sinne des § 95 GewO ist, bedarf es keiner weiteren Zuverlässigkeitsprüfung). Das bedeutet, Sie müssen die geplante Ausübung dieses Gewerbes bei der Gewerbebehörde anmelden; da sich das Lokal in Wien befindet, ist der Magistrat der Stadt Wien zuständig. Würden Sie Ihr Lokal ohne Anmeldung eröffnen, müssten Sie mit einer Verwaltungsstrafe rechnen.
Gewerbe
Unterscheidungskriterium
§ 94 GewO
Befähigungsnachweis
Unterscheidungskriterium
§ 95 GewO
Zuverlässigkeitsprüfung
C.
freie
reglementierte
nein
ja Anmeldegewerbe nein
Sensible Gewerbe ja
Gewerbeausübung als Industriebetrieb
Schließlich kennt die GewO hinsichtlich der Betriebsbeschaffenheit eine besondere Art der Gewerbeausübung: den Industriebetrieb. Ein solcher zeichnet sich unter anderem durch hohen Kapital- und Maschineneinsatz, serienmäßige Produktion, Kein Befähigungsnachweis für Industgrößere Zahl an ständig beschäftigten Arbeitnehmern sowie riebetriebe nötig organisatorische Trennung von technischer und kaufmännischer Führung aus (§ 7 Abs 1 GewO). Es kommt dabei auf das Gesamtbild des Betriebes an. Es müssen also – entsprechend einer typisierenden Betrachtung– nicht alle genannten Merkmale und diese nicht gleich stark ausgeprägt vorhanden sein. Die Qualifikation eines Gewerbebetriebs als Industriebetrieb ist insofern von Bedeutung, als für Gewerbe, die in Form eines Industriebetriebes ausgeübt werden, kein Befähigungsnach-
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weis erforderlich ist, es sei denn, es liegt eines der in § 7 Abs 5 GewO aufgezählten Gewerbe (Baumeister, Herstellung von Arzneimitteln und Giften, Waffengewerbe, etc) vor. Der Sinn dieser Regelung liegt darin, dass Industriebetriebe in der Regel so groß sind, dass der Gewerbeinhaber ohnehin keinen prägenden Einfluss auf die gewerbliche Tätigkeit hat, ein von ihm vorgelegter Befähigungsnachweis also nicht viel Sinn machen würde. Einige Gewerbe, wie das Handelsgewerbe oder das Tourismusgewerbe, können nicht industriemäßig ausgeübt werden.
IV. Unter welchen Voraussetzungen darf ein Gewerbe ausgeübt werden? Um ein Gewerbe ausüben zu dürfen, müssen sowohl allgemeine als auch besondere Voraussetzungen erfüllt werden. Freie Gewerbe können im Regelfall ohne besondere Voraussetzungen ausgeübt werden.
A.
Die allgemeinen Voraussetzungen
1.
Gewerberechtliche Handlungsfähigkeit x
x
2.
Gem § 8 GewO müssen natürliche Personen eigenberechtigt sein, dh o
sie müssen grundsätzlich volljährig sein (dh das 18. Lebensjahr vollendet haben)
o
und dürfen nicht unter Sachwalterschaft stehen.
Juristische Personen, dh zB Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) oder Aktiengesellschaften (AG), müssen einen Geschäftsführer bestellen, um gewerberechtlich handlungsfähig zu sein (§ 9 Abs 1 GewO).
Unbescholtenheit
Von der Ausübung eines Gewerbes ausgeschlossen sind nach § 13 GewO insbesondere x
Personen, die wegen betrügerischen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen und Zuschlägen nach dem Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungsgesetz (§ 153d StGB), organisierter Schwarzarbeit (§ 153e StGB), oder Kridadelikten (§§ 156 - 159 StGB) verurteilt wurden (unabhängig von Art und Höhe der Strafe).
x
Personen, die wegen sonstiger Straftaten zu einer drei Monate übersteigenden Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe von mehr als 180 Tagessätzen von einem Gericht verurteilt wurden, sofern die Verurteilung noch nicht getilgt ist etc,
x
Von der Ausübung des Gastgewerbes sind Personen ausgeschlossen, gegen die eine nicht getilgte gerichtliche Verurteilung wegen bestimmter Suchtgiftdelikte (Handel mit Suchtmitteln und psychotropen Stoffen, vgl §§ 28 - 31a SMG) vorliegt.
x
Personen, die wegen bestimmter Finanzvergehen mit Geldstrafe von mehr als 726 € oder mit Geld- und Freiheitsstrafe bestraft wurden, wenn seit der Bestrafung noch nicht fünf Jahre vergangen sind,
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3.
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x
Personen, denen die Gewerbeberechtigung entzogen wurde, sowie
x
Personen, deren Vermögen nicht mehr ausreicht, um die Kosten des Konkursverfahrens abzudecken. Die Eröffnung des Konkurses über das Vermögen des Antragstellers ist dagegen noch kein Gewerbeausschlussgrund.
Österreichische bzw gleichgestellte Staatsbürgerschaft oder legaler Aufenthalt im Inland
Die Erwerbsfreiheit ist ihrem Wortlaut nach ein Staatsbürgerrecht und gewährt daher nur Österreichern die Freiheit, jeden Erwerbszweig auszuüben. Gewerbe dürfen allerdings gem. § 14 GewO auch von Ausländern ausgeübt werden, sofern dies Nicht nur Österreicher dürfen ein Gewerbe ausüben. in Staatsverträgen festgelegt worden ist. Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union (Näheres zur EU in LE 3 und 5) dürfen aufgrund des für den Binnenmarkt der EU geltenden europarechtlichen Verbots der Schlechterstellung aus Gründen der Staatsangehörigkeit Gewerbe überhaupt wie Inländer ausüben. Durch den Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) wurde der Binnenmarkt der EU auf die Vertragsstaaten des EWR ausgedehnt, weshalb auch Staatsbürger Norwegens, Islands und Liechtensteins (als Nicht-EU-Mitglieder) Unionsbürgern hinsichtlich der sog Grundfreiheiten des Binnenmarktes (Warenverkehrsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungs-, Dienstleistungs-, Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit) grundsätzlich gleichgestellt sind. Im VI. Hauptstück der GewO finden sich Bestimmungen, die die vorübergehende grenzüberschreitende Dienstleistung im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit und die Anerkennung von Ausbildungsnachweisen im Rahmen der Niederlassungsfreiheit näher regeln. Für Schweizer Staatsangehörige und Gesellschaften nach schweizerischem Recht trifft § 373b GewO eine Sonderregelung. Im Übrigen setzt bei Ausländern das Recht zur Ausübung eines Gewerbes deren legalen Aufenthalt in Österreich und einen Aufenthaltszweck, der die Erwerbstätigkeit zulässt, voraus (§ 14 Abs 1 GewO). Juristische Personen müssen ihren Sitz oder ihre Niederlassung im Inland haben (§ 14 Abs 4 GewO). Gesellschaften mit Sitz oder Niederlassung in einem EWR-Mitgliedstaat dürfen jedoch im Rahmen der Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit bestellte gewerbliche Arbeiten in Österreich unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer ausführen. Sie müssen prüfen, ob Sie die allgemeinen Voraussetzungen erfüllen: 1. Sie sind über 18 Jahre alt und stehen nicht unter Sachwalterschaft, damit sind Sie gewerberechtlich handlungsfähig. 2. Da Sie nicht wegen einschlägiger Straftaten verurteilt worden sind und Ihnen auch nicht eine Gewerbeberechtigung entzogen worden ist, sind Sie unbescholten. 3. Sie müssen die Staatsbürgerschaft Österreichs bzw eines EU/EWR- Mitgliedstaates besitzen. Als sonstiger (Drittlands)ausländer müssen Sie sich in Österreich legal aufhalten und es muss einen Aufenthaltszweck geben, der die Erwerbstätigkeit zulässt, um das Gastgewerbe ausüben zu dürfen.
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B.
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Die besonderen Voraussetzungen
Neben den obigen allgemeinen Voraussetzungen schreibt die GewO für den Antritt bestimmter Gewerbe die Erfüllung weiterer, besonderer Voraussetzungen vor.
1.
Befähigungsnachweis
Um ein reglementiertes Gewerbe antreten zu können, müssen die fachlichen, insbesondere auch kaufmännischen (= betriebswirtschaftlichen und rechtlichen) Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen zur selbständigen Ausführung der betreffenden Tätigkeit nachgewiesen werden (§ 16 GewO). Dies geschieht durch den sog Befähigungsnachweis = Nachweis der fachlichen, einschließlich der kaufmänBefähigungsnachweis, der einen hohen Leistungsstandard, nischen ( = betriebswirtschaftlichen und aber auch die Sicherheit der Konsumenten sicherstellen soll. rechtlichen) Kenntnisse Bei juristischen Personen hat der Geschäftsführer den entsprechenden Nachweis zu erbringen. Auch natürliche Personen können den Befähigungsnachweis durch einen Geschäftsführer erbringen lassen (Näheres dazu unter V.C). Der Befähigungsnachweis kann auf folgende Arten erbracht werden: x
Für die einzelnen reglementierten Gewerbe legt der zuständige Bundesminister mittels Verordnung bestimmte Zugangswege fest, bei deren Nachweis die fachliche Qualifikation jedenfalls als erbracht anzusehen ist (sog genereller Befähigungsnachweis). Als Belege sind dabei zB vorgesehen: Zeugnisse über erfolgreich abgelegte Meisterprüfungen bei den Handwerken, Zeugnisse über erfolgreich abgelegte Unternehmerprüfungen, Zeugnisse über den erfolgreichen Besuch einer Schule oder eines Lehrganges, Zeugnisse über erfolgreich abgelegte Lehrabschlussprüfungen, Zeugnisse über eine Tätigkeit in leitender Stellung oder als Betriebsleiter, Nachweise über eine Tätigkeit als Selbständiger, etc (§ 18 GewO).
Bsp: So gibt es etwa für das Gastgewerbe eine GastgewerbeBefähigungsnachweisVO (BGBl II 2003/51). x
Qualifizierte Bewerber, die die Vorgaben der Befähigungsnachweis-Verordnungen nicht erfüllen, können ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen auch durch individuelle Belege nachweisen – individueller Befähigungsnachweis (vgl § 19 GewO). Ist auch dies nicht möglich, kann die Gewerbebehörde eine der Befähigung entsprechende Beschränkung auf Teiltätigkeiten des jeweiligen Gewerbes aussprechen. Diese, auf die konkrete Befähigung abstellende Einschränkung der Gewerbeberechtigung darf nicht mit den Teilgewerben verwechselt werden, deren Umfang und Befähigungsnachweis per Verordnung festgesetzt wird (siehe oben III.A).
Für Bürger der Mitgliedstaaten der EU bzw des EWR muss bei Vorliegen einer entsprechenden Richtlinie über die Anerkennung ausländischer Diplome (Näheres zu EU-Richtlinien siehe LE 3, VI.B.1.b) eine den vorgeschriebenen Befähigungsnachweis ersetzende Qualifikation anerkannt werden. Der zuständige Bundesminister legt zu diesem Zweck Art und Dauer der Tätigkeiten fest, deren Nachweis Voraussetzung für eine Anerkennung ist (§ 373c
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GewO). Wenn es keine einschlägige Anerkennungsrichtlinie gibt, hat der Bundesminister im Rahmen einer Äquivalenzprüfung zu entscheiden, inwieweit die erworbene Befähigung jener für den Befähigungsnachweis geforderten gleichzuhalten ist (§ 373d GewO).
2.
Zuverlässigkeit
Bei den sensiblen Gewerben (siehe oben III.B.) überprüft die Behörde, ob der Bewerber die für die Ausübung des Gewerbes erforderliche Zuverlässigkeit besitzt (§ 95 GewO). Die für die Gewerbsausübung erforderliche Zuverlässigkeit ist dann nicht mehr gegeben, wenn der Gewerbeinhaber schwerwiegend gegen die im Zusammenhang mit dem betreffenden Gewerbe zu beachtenden Rechtsvorschriften und Schutzinteressen – die insbesondere auch zur Wahrung des Ansehens des Berufsstandes dienen – verstößt (§ 87 Abs 1 Z 3 GewO). Bsp: Ein Bauunternehmer, der kontinuierlich gegen das Ausländerbeschäftigungsgesetz verstößt, ist für das Baumeistergewerbe unzuverlässig.
3.
Weitere Bedingungen
Bei einzelnen Gewerben müssen noch zusätzliche Voraussetzungen erfüllt sein. Eine sog Bedarfsprüfung wird heute nur mehr beim Gewerbe der Rauchfangkehrer durchgeführt. Dabei handelt es sich um eine Prüfung, ob wirklich ein Bedarf an einem (weiteren) Rauchfangkehrer in einem bestimmten Gebiet besteht (§ 121 GewO).
Bsp: Augenoptiker haben sich qualifizierter Fachkräfte zu bedienen (§ 98 GewO). Gastgewerbetreibende sind verpflichtet, Betrunkenen keine alkoholischen Getränke mehr auszuschenken (§ 112 Abs 5 GewO).
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Erfüllen Sie auch die besonderen Voraussetzungen? 1. Befähigungsnachweis: Sie haben vor, in Ihrem Lokal sowohl warme als auch kalte Speisen, nichtalkoholische sowie alkoholische Getränke zu servieren. Bei Ihrem Gewerbe handelt es sich damit um ein Gastgewerbe. Nach § 94 Z 26 GewO ist das Gastgewerbe ein reglementiertes Gewerbe, dh, Sie benötigen einen (generellen oder individuellen) Befähigungsnachweis (vgl aber auch § 111 Abs 2 GewO, der für bestimmte Ausformungen des Gastgewerbes keine Gastgewerbeberechtigung verlangt). 2. In einer Verordnung des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit wird der generelle Befähigungsnachweis für das Gastgewerbe genauer definiert. Da Sie eine Höhere Lehranstalt für Tourismus mit Erfolg besucht und im Rahmen dieser Ausbildung ein fünfmonatiges Praktikum absolviert haben, können Sie ohne Probleme Ihre Befähigung für das Gastgewerbe durch Vorlage der einschlägigen Zeugnisse nachweisen (vgl § 1 Z 4 der Gastgewerbe-BefähigungsnachweisVO BGBl II 2003/51). 3. Weitere besondere Bedingungen für den Gewerbeantritt des Gastgewerbes existieren nicht (keine Bedarfsprüfung). Somit erfüllen Sie alle allgemeinen und besonderen Voraussetzungen. Sie können mit der Eintragung in das elektronische Gewerberegister rechnen, wovon Sie durch Übermittlung eines Gewerberegisterauszugs verständigt werden.
V.
Wozu und wen ermächtigen Gewerbeberechtigungen?
A.
Umfang der Gewerbeberechtigung
1.
Allgemeines
Inhalt und Umfang der Gewerbeberechtigung ergeben sich bei den Anmeldegewerben aus dem Wortlaut der Gewerbeanmeldung und bei den sensiblen Gewerben aus dem Bescheid, mit dem festgestellt wird, dass die Voraussetzungen für die Gewerbeausübung vorliegen (§ 29 GewO).
2.
Nebenrechte
Die GewO räumt den Gewerbetreibenden daneben weitere Befugnisse ein. Dabei ist zu beachten, dass bei der Ausübung von Nebenrechten der wirtschaftliche Schwerpunkt sowie die Eigenart des Betriebes erhalten bleiben müssen (§ 32 Abs 2 GewO). x
Gewerbetreibende dürfen einzelne, einfache Tätigkeiten von reglementierten Gewerben, deren fachgemäße Ausübung keinen sonst vorgeschriebenen Befähigungsnachweis erfordert, ausüben. Nicht zu den einfachen Tätigkeiten zählen die für ein Gewerbe typischen Kerntätigkeiten, die für die Gewerbeausübung erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen voraussetzen (§ 31 Abs 1 GewO).
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Bsp: Bereitstellung einer Einrichtung zum Selbstfotografieren als einzelnes, einfaches Tätigkeitsfeld des reglementierten Gewerbes Berufsfotograf (§ 94 Z 20 GewO), Nähen von Vorhängen als einzelnes, einfaches Tätigkeitsfeld des reglementierten Gewerbes Tapezierer und Dekorateur (§ 94 Z 68 GewO), etc x
Alle Gewerbetreibenden dürfen Teilgewerbe (siehe oben III.A) ausüben, soweit das Teilgewerbe in fachlichem Zusammenhang mit der hauptberuflich ausgeübten gewerblichen Tätigkeit steht. Diese kann auch um ein Teilgewerbe erweitert werden, wenn der Gewerbetreibende nicht selbst, sondern ein im Betrieb beschäftigter Arbeitnehmer, der voll sozialversicherungspflichtig ist, den Befähigungsnachweis erbringt (§ 32 Abs 1 Z 12 iVm Abs 3 GewO). Da es sich nur um ein Teilgewerbe handelt, kann der Nachweis in vereinfachter Art und Weise erbracht werden.
x
Ferner dürfen Gewerbetreibende Tätigkeiten eines reglementierten Gewerbes in ihren Betrieb einbeziehen, wenn dies im Rahmen eines Gesamtbetriebes erfolgt: man spricht dann von einem sog „integrierten Betrieb“ (vgl § 37 GewO). Unter einem integrierten Betrieb versteht man einen Ausgangsbetrieb (für die dort ausgeübten gewerblichen Tätigkeiten liegt eine Befähigung vor), in dem gewerbliche Tätigkeiten einbezogen werden, für die dem Unternehmer an sich die Befähigung fehlt. Hierfür ist ein so genannten „befähigter Arbeitnehmer“, der den Befähigungsnachweis für das betreffende Gewerbe erbringt und voll sozialversicherungspflichtig ist, hauptberuflich im Betrieb zu beschäftigen (sog integrierter Betrieb). Die sensiblen Gewerbe (siehe oben III.B), das Spediteurgewerbe und Tätigkeiten der Versicherungsvermittlung dürfen nicht als integrierter Betrieb geführt werden. Im Unterschied zur Ausübung eines Teilgewerbes lässt sich im integrierten Betrieb die gewerbliche Tätigkeit auch um ein Gewerbe im vollen Umfang erweitern, ohne dass der Gewerbeinhaber selbst den erforderlichen Befähigungsnachweis erbringen muss.
x
Gewerbetätige dürfen auch verbundene Gewerbe aus der gleichen Gruppe der Tätigkeit, für die sie einen Befähigungsnachweise in vollem Umfang erbracht haben, ausüben (§ 30 GewO).
x
Die §§ 32 - 34 GewO enthalten weitere Nebenrechte:
So dürfen Gewerbetreibende zum Beispiel Arbeiten planen, Vorarbeiten und Vollendungsarbeiten vornehmen, die der Absatzfähigkeit ihrer Produkte dienen, sowie in geringem Umfang Leistungen anderer Gewerbe erbringen, die eigene Leistungen wirtschaftlich sinnvoll ergänzen. Des Weiteren dürfen Gewerbetreibende ihre Betriebseinrichtungen wie Maschinen, Anlagen Die GewO gewährt den Gewerbeund Gebäude instand setzen und instand halten, treibenden gewisse zusätzliche Befugunentgeltlich Getränke ausschenken sowie ihre Güter nisse: einfache Tätigkeiten und Mitarbeiter transportieren (Werkverkehr). Alle Teilgewerbe Gewerbetreibenden dürfen zum Beispiel aber auch Integrierter Betrieb verbundene Gewerbe Waren zurücknehmen, kaufen, verkaufen, vermieten
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und vermitteln (allgemeines Handelsrecht der Gewerbetreibenden; davon ausgenommen ist der Handel mit Medizinprodukten sowie Handelstätigkeiten, die einzelnen reglementierten Gewerben vorbehalten sind). Gewerbetreibende dürfen auch Dienstleistungen auf dem Gebiet des Postwesens mit Ausnahme des Geld- und Zahlungsverkehrs erbringen, ohne hierfür eine besondere Gewerbeberechtigung einholen zu müssen (§ 34 GewO).
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Was dürfen Sie in Ihrem Lokal tatsächlich tun bzw welche Speisen und Getränke dürfen angeboten werden? Das Gastgewerbe ist ein Anmeldegewerbe – die Antwort darauf ergibt sich daher aus dem Wortlaut der Gewerbeanmeldung. Bei der Anmeldung haben Sie der Behörde mitgeteilt, welche Art von Gastgewerbe ausgeübt werden soll: Sie beabsichtigen ein Musiklokal (Diskothek) zu führen, in dem kleinere warme und kalte Speisen sowie alkoholische und nichtalkoholische Getränke angeboten werden sollen. Die Berechtigung bezieht sich somit nur auf das Betreiben eines Lokals dieser Art. Sie dürfen aber auch bestimmte Waren verkaufen (§ 32 Abs 1 Z 10, § 111 Abs 4 GewO; zB Waren des üblichen Reisebedarfs, Geschenkartikel). Ferner sind Sie nach dem Tabakmonopolgesetz berechtigt, Tabakerzeugnisse an Ihre Gäste zu verkaufen (§ 40 Abs 1 Tabakmonopolgesetz), was ansonsten Trafiken vorbehalten ist.
3.
Für welchen örtlichen Bereich gelten Gewerbeberechtigungen?
Die Gewerbeberechtigung berechtigt grundsätzlich zur Ausübung des Gewerbes auch in weiteren Betriebsstätten (§ 46 Abs 1 GewO). Der Gewerbeinhaber hat der Behörde die Ausübung des Gewerbes in einer weiteren Betriebsstätte oder die Weitere Betriebsstätten sind durch die Verlegung des Betriebes eines Gewerbes bzw einer weiteren Stammgewerbeberechtigung abgedeckt. Betriebsstätte in einen anderen Standort anzuzeigen. Die Anzeige hat bloßen Mitteilungscharakter. Für die Gewerbeausübung in einer weiteren Betriebsstätte kann ein Filialgeschäftsführer bestellt werden (§ 47 GewO). Dieser ist dann der Behörde gegenüber für die Einhaltung der gewerberechtlichen Vorschriften in der weiteren Betriebstätte verantwortlich. Wenn Sie eine „Disco-Filiale“ eröffnen wollen, so ist dies durch Ihre Gewerbeberechtigung abgedeckt. Die Ausübung des Gewerbes in der weiteren Betriebsstätte müssen Sie der Behörde mitteilen.
B.
Wen berechtigen Gewerbeberechtigungen?
Als Gewerbeinhaber wird bezeichnet, wer über eine Gewerbeberechtigung verfügt. Gewerbetreibender ist hingegen derjenige, der eine Gewerbeberechtigung tatsächlich ausübt: Das kann neben dem Gewerbeinhaber auch der Fortbetriebsberechtigte sein. Übertragen lässt sich eine Gewerbeberechtigung nicht. Der Fortbetriebsberechtigte hat das Recht, einen Gewerbebetrieb auf Grund der Gewerbeberechtigung einer anderen Person fortzuführen. Fortbetriebsberechtigt sind im Falle des Todes des Gewerbeinhabers dessen Ehepartner und Kinder, im Falle eines Konkurses die Konkursmasse, wobei dem Masseverwalter die Funktion des Geschäftsführers zukommt (§ 41 GewO).
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C.
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Der gewerberechtliche Geschäftsführer
Gewerbeinhaber können allerdings für die Ausübung ihres Gewerbes Geschäftsführer bestellen, die sodann ihnen gegenüber für die fachlich einwandfreie Ausübung des Gewerbes und der Behörde gegenüber für die Einhaltung der Verantwortlichkeit für die Einhaltung der gewerberechtlichen Vorschriften gewerberechtlichen Vorschriften verantwortlich sind (§ 39 Abs 1 GewO). Bei Übertretungen der gewerberechtlichen Vorschriften ist also primär der Geschäftsführer haftbar. Geschäftsführer müssen ihrer Bestellung zustimmen. Ein gewerberechtlicher Geschäftsführer ist kein Gewerbetreibender, sondern ein bloßes Hilfsorgan des Gewerbeinhabers: Er wird als Vertreter im Namen und auf Rechnung des Gewerbeinhabers tätig und verfügt nicht selbst über die Gewerbeberechtigung.
Hilfsorgan des Gewerbeinhabers
Wenn eine juristische Person oder sonstige Gesellschaft ein Gewerbe ausüben will, dann muss ein gewerberechtlicher Geschäftsführer bestellt werden (§ 9 Abs 1 GewO). Dies gilt auch für den Fall, dass eine natürliche Person, die um eine Gewerbeberechtigung ansucht, zB den Befähigungsnachweis nicht erbringen kann (§ 39 Abs 1 GewO). Der Geschäftsführer muss den für die Ausübung des Gewerbes vorgeschriebenen persönlichen Voraussetzungen (Eigenberechtigung, Befähigungsnachweis, etc) genügen und in der Lage sein, sich im Betrieb entsprechend zu betätigen. Bei einer Gesellschaft muss ein gewerberechtlicher Geschäftsführer Insbesondere muss er befugt sein, gegenüber den Mitarbeitern bestellt werden. Anordnungen zu treffen. Der bei einer juristischen Person zu bestellende Geschäftsführer muss bei reglementierten Gewerben dem zur Vertretung berufenen Organ der juristischen Person angehören oder ein zumindest halbtägig beschäftigter Arbeitnehmer sein. Der Geschäftsführer darf also nicht bloß zum Schein bestehen (§ 39 Abs 2 GewO). Der Geschäftsführer muss ferner seinen Wohnsitz im Inland haben. Dies gilt allerdings nicht, sofern es sich um Staatsangehörige einer EWR-Vertragspartei handelt, die ihren Wohnsitz in einem EWR-Vertragsstaat haben (§ 39 Abs 2a GewO). EWR-Bürger, die in Österreich eine gewerberechtliche Geschäftsführertätigkeit ausüben wollen, müssen also ihren Wohnsitz nicht in Österreich haben, sondern können auch anderswo im EWR wohnen. Der Gewerbeinhaber hat die Bestellung und das Ausscheiden eines Geschäftsführers der Gewerbebehörde anzuzeigen; bei den sensiblen Gewerben muss die Bestellung des Geschäftsführers behördlich genehmigt werden. Da Sie selbst alle vorgeschriebenen Anforderungen (Befähigungsnachweis, etc) erfüllen, müssen Sie keinen gewerberechtlichen Geschäftsführer bestellen.
VI. Wann erlöschen Gewerbeberechtigungen? Die Gewerbeberechtigung endet bei einer natürlichen Person mit deren Tod (bei Fortbetrieb erst mit Endigung des Fortbetriebsrechts), bei einer Gesellschaft mit deren Auflösung. Sie
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endet aber auch mit Zurücklegung der Gewerbeberechtigung oder mit Entziehung der Gewerbeberechtigung durch die Behörde (§§ 85 ff GewO). Gründe für die Entziehung der Gewerbeberechtigung sind zum Beispiel bestimmte strafgerichtliche oder finanzstrafbehördliche Verurteilungen mit zu befürchtender Wiederholungsgefahr bei Ausübung des Gewerbes, sonstige schwerwiegende Erlöschen der Gewerbeberechtigung bei Verstöße gegen die im Zusammenhang mit dem betreffenden Tod, Auflösung, Zurücklegung oder Entziehung der Gewerbeberechtigung Gewerbe zu beachtenden Rechtsvorschriften oder die rechtskräftige Nichteröffnung eines Konkurses, wenn das Vermögen nicht einmal mehr ausreicht, um die Kosten des Konkursverfahrens zu decken. Die Gewerbeberechtigung eines Ausländers ist ferner dann zu entziehen, wenn sich dieser nicht mehr legal in Österreich aufhält (§ 88 GewO).
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VII. Weiterführende Literatur Feik, Gewerberecht, in Bachmann et al (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht7 (2008) Potacs, Gewerberecht, in Holoubek/Potacs (Hrsg), Öffentliches Wirtschaftsrecht2 (2007)
VIII. Wiederholungsfragen
Bei welchen Tätigkeiten muss man die Vorschriften der GewO beachten? Wann wird eine Tätigkeit gewerbsmäßig ausgeübt? Wodurch unterscheiden sich reglementierte Gewerbe von freien Gewerben? Wie begründet man ein Gewerbe? Was ist das Besondere an sensiblen Gewerben? Inwieweit ist die Industrieförmigkeit der Gewerbsausübung von Relevanz? Welche allgemeinen Voraussetzungen müssen zum Gewerbeantritt erfüllt sein? Dürfen auch Ausländer ein Gewerbe ausüben? Wie kann die Befähigung für ein Gewerbe nachgewiesen werden? Woraus ergibt sich der Umfang einer Gewerbeberechtigung? Wofür ist der gewerberechtliche Geschäftsführer verantwortlich? Für welchen örtlichen Bereich gilt die Gewerbeberechtigung? Wo melden Sie ein Gewerbe an?
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Betriebsanlagenrecht und Baurecht
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Lektion 8 BETRIEBSANLAGENRECHT UND BAURECHT
Disco in der Wiener Innenstadt (Teil 2) Parallel zur Anmeldung Ihres Gewerbes müssen Sie sich auch darum kümmern, ob Sie die geplante Tätigkeit in dem von Ihnen gewählten Lokal überhaupt ausüben dürfen. Sie müssen klären, ob Sie Ihre Disco ohne eine behördliche Bewilligung eröffnen und betreiben dürfen. Dabei ist zu berücksichtigen, ob Ihre Diskothek zu Beeinträchtigungen der Nachbarn führen könnte. Einer Ihrer Nachbarn, der in unmittelbarer Nähe ein Hotel betreibt, hat Sie schon wissen lassen, dass ihm die Vorstellung, dass eine lärmende Diskothek in seiner Nähe eröffnet werden soll, nicht recht zusagt. Sie müssen also damit rechnen, dass Ihnen der Hotelbesitzer möglicherweise den einen oder anderen Stein in den Weg legen wird. Außerdem muss Ihr Lokal baulich umgestaltet werden. Diese Veränderungen werden zwar nur geringfügig sein, trotzdem stellt sich die Frage, ob Sie solche Änderungen ohne eine Bewilligung der Behörde vornehmen dürfen. Die zentralen Fragen dieses Kapitels sind: Was ist eine Betriebsanlage? Unter welchen Voraussetzungen bewilligt die Behörde eine Betriebsanlage? Was muss die Behörde unternehmen, wenn von einer solchen Anlage Gefahren oder Belästigungen ausgehen? Welche Pflichten treffen den Inhaber einer Betriebsanlage? Welche Bedeutung hat das Bau- und Raumordnungsrecht für die Errichtung einer Betriebsanlage?
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Betriebsanlagenrecht und Baurecht
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Inhalt: I. A. B. 1. 2. 3. II. A. B. C. D. III. A. B. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. IV. A. B. C. D. E. V. VI. A. B. C. VII. A. B. VIII. IX. A. B. 1. 2. 3.
Das Betriebsanlagenrecht .................................................................................... 223 Grundsätzliches....................................................................................................... 223 Die gewerbliche Betriebsanlage .............................................................................. 223 Ortsgebundenheit .................................................................................................... 223 Regelmäßigkeit ....................................................................................................... 224 Gewerbliche Tätigkeit .............................................................................................. 224 Wann ist eine Betriebsanlage genehmigungspflichtig?.................................... 224 Nicht genehmigungspflichtige Betriebsanlagen....................................................... 224 „Normalanlagen“...................................................................................................... 224 „Bagatellanlagen“ (§ 359b GewO)........................................................................... 225 IPPC- und Seveso II-Betriebsanlagen (§§ 77a, 84a ff GewO) ................................ 225 Das Genehmigungsverfahren .............................................................................. 226 Allgemeines ............................................................................................................. 226 Genehmigungskriterien ........................................................................................... 226 Gefährdung von Leben, Gesundheit und Eigentum (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 1) ...... 226 Belästigungen der Nachbarn (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 2 GewO).............................. 227 Beeinträchtigung öffentlicher Interessen (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 3-4 GewO)......... 227 Nachteilige Einwirkungen auf Gewässer (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 5 GewO)............ 228 Luftschadstoffe (§ 77 Abs 3 GewO) ........................................................................ 228 Abfall (§ 77 Abs 4 GewO)........................................................................................ 228 Nahversorgung (§ 77 Abs 5-9 GewO) ..................................................................... 228 Besondere Genehmigungskriterien bei IPPC-Anlagen (§ 77a GewO).................... 229 Auflagen ................................................................................................................. 229 Auflagen dürfen das Projekt nicht in seinem Wesen verändern.............................. 230 Bestimmtheit............................................................................................................ 230 Geeignetheit ............................................................................................................ 231 Erforderlichkeit ........................................................................................................ 231 Behördliche Erzwingbarkeit ..................................................................................... 231 Betrieb der Anlage vor Rechtskraft des Genehmigungsbescheids ................. 231 Nachträgliche Änderungen von Betriebsanlagen .............................................. 232 Änderung der Betriebsanlage auf Initiative des Gewerbetreibenden (§ 81 GewO). 232 Änderung der Betriebsanlage aufgrund behördlicher Anordnung (§§ 79, 79b)....... 232 Sanierungskonzept (§ 79 Abs 3 und 4 GewO) ........................................................ 233 Überwachung von Betriebsanlagen .................................................................... 233 Überwachung durch den Anlagenbetreiber ............................................................. 233 Überwachung durch die Behörde ............................................................................ 233 Die Zuständigkeit im Betriebsanlagenrecht........................................................ 234 Das Baurecht ......................................................................................................... 235 Regelungsgegenstand ............................................................................................ 235 Kategorien von Bauvorhaben .................................................................................. 236 Bewilligungspflichtige Bauvorhaben ........................................................................ 236 Anzeigepflichtige Bauvorhaben ............................................................................... 236 Freie Bauvorhaben .................................................................................................. 236
LE 8 C. X. A. B. 1. 2. 3. 4. XI. XII.
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
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Verfahren/Zuständigkeit .......................................................................................... 236 Raumordnungsrecht ............................................................................................. 237 Regelungsgegenstand ............................................................................................ 237 Flächenwidmungsplan und gewerbliche Betriebsanlagen....................................... 238 Funktion des Flächenwidmungsplans und Widmungskategorien............................ 238 Verfahren zur Erlassung eines Flächenwidmungsplans.......................................... 239 Prüfung der Einhaltung der Flächenwidmung ......................................................... 239 Sonderfall Einkaufszentren ..................................................................................... 240 Weiterführende Literatur....................................................................................... 241 Wiederholungsfragen............................................................................................ 241
LE 8
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
I.
Das Betriebsanlagenrecht
A.
Grundsätzliches
223
Das einen Teil des Gewerberechts bildende Betriebsanlagenrecht regelt die Voraussetzungen, unter denen ein Unternehmer eine gewerbliche Betriebsanlage errichten und betreiben darf. Dem Interesse des Unternehmers an einer Genehmigung und Ausübung seiner Tätigkeit in einer Betriebsanlage stehen regelmäßig Interessen der Nachbarn und Aspekte des Umweltschutzes entgegen. Die Nachbarn wollen durch die Nachbar- und Umweltschutz contra Betriebsanlage (zB durch Geruch, Lärm, Staub) nicht belästigt Wirtschaft und schon gar nicht gefährdet werden. Auch die Umwelt (insbesondere Gewässer, Luft) ist vor unzulässigen Verschmutzungen und anderen Beeinträchtigungen zu bewahren. Das Betriebsanlagenrecht ist somit durch ein Spannungsverhältnis zwischen den Interessen und den Anforderungen der Wirtschaft auf der einen Seite und einem effektiven Nachbar- und Umweltschutz auf der anderen Seite gekennzeichnet. Nachbar- und Umweltschutz sind dabei miteinander verknüpft, weil die Ausübung von Nachbarrechten (subjektiven Rechten) vielfach nicht nur individuellen Interessen, sondern auch dem öffentlichen Interesse am Umweltschutz dient. Das gewerbliche Betriebsanlagenrecht ist in den §§ 74 und 353 ff GewO geregelt und enthält Vorschriften über Betriebsanlagen zur Ausübung gewerblicher Tätigkeiten.
B.
Die gewerbliche Betriebsanlage
Eine Betriebsanlage ist eine örtlich gebundene Einrichtung, die der Entfaltung einer gewerblichen Tätigkeit (vgl LE 7) regelmäßig zu dienen bestimmt ist (§ 74 Abs 1 GewO). Unter diesen Begriff fallen Baulichkeiten und sonstige Einrichtungen, die ein Wirtschaftstreibender benützt, um seiner unternehmerischen Tätigkeit nachzugehen. Dazu gehören bspw Büros, Fabriken, Gaststätten, Lagerhallen, ein Steinbruch oder ein Autoabstellplatz. Folgende drei Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit man von einer gewerblichen Betriebsanlage sprechen kann (und damit das Betriebsanlagenrecht der GewO Anwendung findet):
1.
Ortsgebundenheit
Das Wesen der Anlage liegt in ihrer ortsfesten Einrichtung. Aber auch bewegliche Einrichtungen sind Betriebsanlagen, wenn sie nach der Absicht des Gewerbetreibenden ausschließlich oder überwiegend und für längere Zeit an einem Ortsgebundenheit, Regelmäßigkeit und gewerbliche Tätigkeit bestimmten Standort der Entfaltung der gewerblichen Tätigkeit dienen sollen (zB fahrbare Würstelbude mit regelmäßigem Standplatz).
224
2.
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
LE 8
Regelmäßigkeit
Die gewerbliche Tätigkeit muss in der Betriebsanlage regelmäßig entfaltet werden. Dies ist zB bei kurzfristigen gewerblichen Tätigkeiten (Messen) oder Baustelleneinrichtungen für eine konkrete Bauführung nicht gegeben (eine Baustelle, die errichtet wird, um ein Wohnhaus zu errichten, ist keine Betriebsanlage!).
3.
Gewerbliche Tätigkeit
In der Betriebsanlage muss eine gewerbliche Tätigkeit entfaltet werden (vgl LE 7). Es muss sich daher um eine Tätigkeit handeln, die gewerbsmäßig (§ 1 Abs 2 GewO: Selbständigkeit, Regelmäßigkeit, Ertragsabsicht) ausgeübt wird und unter die Bestimmungen der GewO fällt. Sie müssen nun feststellen, ob es sich bei einer Diskothek um eine Betriebsanlage im Sinne des Betriebsanlagenrechts handelt. Sie planen, das Lokal, bei dem es sich zweifelsohne um eine ortsgebundene Einrichtung handelt, regelmäßig für die gewerbliche Tätigkeit des Gastgewerbes zu nützen. Somit stellt die Diskothek eine gewerbliche Betriebsanlage dar.
II.
Wann ist eine Betriebsanlage genehmigungspflichtig?
A.
Nicht genehmigungspflichtige Betriebsanlagen
Bei Betriebsanlagen, bei denen nach allgemeiner Erfahrung von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass sie geeignet sind, Gefährdungen, Belästigungen oder sonstige relevante Einwirkungen (§ 74 Abs 2 GewO) herbeizuführen, besteht keine Keine Beeinträchtigung o keine Bewilligungspflicht Genehmigungspflicht (zB reine Bürobetriebe). Außerdem kann der zuständige BM durch VO „Arten von Betriebsanlagen“ bezeichnen, „für die jedenfalls keine Genehmigung erforderlich ist“, wenn von ihnen erwartet werden kann, dass die gem § 74 Abs 2 GewO wahrzunehmenden Interessen hinreichend geschützt sind (§ 74 Abs 7 GewO). Beachte: Für die Errichtung derartiger Baulichkeiten kann jedoch eine baurechtliche Genehmigung erforderlich sein, zumal die Bauordnungen der Länder andere Ziele verfolgen als das Gewerberecht (siehe unten IX.).
B.
„Normalanlagen“
Ist die Betriebsanlage wegen der Verwendung von Maschinen und Geräten, wegen ihrer Betriebsweise, wegen ihrer Ausstattung oder sonst geeignet, bestimmte Schutzgüter (zB Leben, Gesundheit; siehe § 74 Abs 2 GewO) zu beeinträchtigen, muss die Errichtung bzw der Betrieb durch die Behörde genehmigt werden. Es ist daher Abstrakte Eignung zur Gefährdung der zu fragen, ob eine bestimmte Anlage „geeignet“ ist, Schutzgüter (§ 74 Abs 2 GewO) o BewilGefährdungen, Belästigungen etc iSd § 74 Abs 2 GewO ligungspflicht hervorzurufen („abstrakte Gefährdung, Belästigung etc“). Ist das der Fall, so ist ein Betriebsanlagengenehmigungsverfahren (siehe III.) einzuleiten. Dies geschieht durch einen Antrag des Unternehmers (§§ 353 ff GewO).
LE 8
C.
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
225
„Bagatellanlagen“ (§ 359b GewO)
Als „Bagatellanlagen“ werden Betriebsanlagen bezeichnet, die zwar geeignet sind, schädliche Wirkungen (iSd § 74 Abs 2 GewO) hervorzurufen, die aber Bagatellanlage o vereinfachtes nur einen geringen Belästigungsgrad aufweisen. Welche Verfahren Anlagen damit konkret gemeint sind, ergibt sich aus § 359b GewO und den einschlägigen VO. Für solche „Bagatellanlagen“ ist ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren vorgesehen, in dem die Nachbarn keine Parteistellung haben. Zu den „Bagatellanlagen“ zählen etwa Anlagen, bei denen das Ausmaß der zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten und sonstigen Betriebsflächen insgesamt nicht mehr als 800 m² beträgt, die elektrische Anschlussleistung der zur Verwendung gelangenden Maschinen und Geräte 300 kW nicht übersteigt und auf Grund der geplanten Ausführung der Anlage zu erwarten ist, dass Gefährdungen, Belästigungen, Beeinträchtigungen oder nachteilige Einwirkungen iSd § 74 Abs 2 oder Belastungen der Umwelt vermieden werden (§ 359b Abs 1 Z 2 GewO). Betriebsanlagen, die in der sog BagatellanlagenVO (BGBl 1994/850 idgF) aufgezählt sind (zB Restaurants mit bis zu 200 Sitzplätzen mit bloßer Hintergrundmusik), sind jedenfalls dem vereinfachten Genehmigungsverfahren zu unterziehen.
D.
IPPC- und Seveso II-Betriebsanlagen (§§ 77a, 84a ff GewO)
Der Begriff IPPC-Betriebsanlage leitet sich von der sog IPPC-RL (Integrated Pollution Prevention and Control-RL) über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung ab und bezeichnet bestimmte, besonders umweltgefährdende Betriebe. Für die in der Anlage 3 zur GewO angeführten IPPC-Betriebsanlagen sind zusätzliche Genehmigungsvoraussetzungen vorgesehen (zB geeignete IPPC- und Seveso II-Anlagen o erhöhte Vorsorgemaßnahmen gegen Umweltverschmutzungen, Anforderungen Maßnahmen gegen Unfälle). Außerdem gelten für die Genehmigung von IPPC-Betriebsanlagen verfahrensrechtliche Sonderregelungen, ein vereinfachtes Verfahren ist ausgeschlossen. Bsp: Raffinerien, bestimmte Abfallbehandlungsanlagen, Anlagen zur Herstellung von Zellstoff aus Holz oder anderen Faserstoffen. Auch die Seveso II-Betriebsanlagen verdanken ihren Namen einer EU-RL, der sog Seveso II-RL zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen. Diese RL ist nach dem Ort Seveso in Italien benannt, wo sich 1976 ein folgenschwerer Industrieunfall ereignete. Als Seveso II-Betriebsanlagen iSd GewO gelten Anlagen, in denen „gefährliche Stoffe“ vorhanden sind. Unter „gefährlichen Stoffen“ versteht man Stoffe oder Zubereitungen, die in der Anlage 5 zur GewO angeführt sind oder die dort festgelegten Kriterien erfüllen (§ 84b GewO). Für solche Betriebsanlagen gelten zusätzliche Anforderungen. Insbesondere hat der Betriebsinhaber alle nach dem Stand der Technik notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um schwere Unfälle zu verhüten und deren Folgen für Mensch und Umwelt zu begrenzen (§ 84c Abs 1 GewO).
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Betriebsanlagenrecht und Baurecht
LE 8
III. Das Genehmigungsverfahren A.
Allgemeines
Sofern eine Betriebsanlage bewilligungspflichtig ist, muss die Behörde im Betriebsanlagengenehmigungsverfahren prüfen, ob die Anlage die Genehmigungskriterien der GewO (§ 77 iVm § 74 GewO) erfüllt. Voraussetzung für die Erteilung einer Schutzgüter der GewO (§ 74 Abs 2 GeBetriebsanlagengenehmigung ist, dass nach dem Stand der wO) Technik (§ 71a GewO) und dem Stand der medizinischen und der sonst in Betracht kommenden Wissenschaften zu erwarten ist, dass überhaupt oder bei Einhaltung der erforderlichenfalls vorzuschreibenden Auflagen (siehe IV.) voraussehbare Gefährdungen des Lebens oder der Gesundheit von Menschen sowie Gefährdungen des Eigentums oder sonstiger dinglicher Rechte (§ 74 Abs 2 Z 1 GewO) vermieden und Belästigungen, Beeinträchtigungen oder nachteilige Einwirkungen iSd § 74 Abs 2 Z 2 bis 5 GewO auf ein zumutbares Maß beschränkt werden. Gegenstand der Genehmigung ist nicht der Typus einer Betriebsanlage, sondern die konkrete Betriebsanlage. Nachbarn haben im Betriebsanlagengenehmigungsverfahren grundsätzlich Parteistellung und können sich zur Wahrung ihrer Interessen auf jene Genehmigungskriterien der GewO berufen, die dem Schutz der Nachbarn dienen. Die Nachbarn können ihre Parteistellung aber verlieren, wenn sie es unterlassen, zeitgerecht taugliche Einwendungen zu erheben (siehe dazu LE 9).
B.
Genehmigungskriterien
Folgende Genehmigungskriterien sind – vereinfacht dargestellt – zu unterscheiden:
1.
Gefährdung von Leben, Gesundheit und Eigentum (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 1 GewO)
Die Behörde hat zum einen zu prüfen, ob von der Anlage eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit des Gewerbetreibenden, der mitarbeitenden Familienangehörigen oder des mittätigen eingetragenen Partners, der Nachbarn oder der Kunden ausgeht. Eine Gefährdung der Gesundheit liegt bei einer Einwirkung auf den menschlichen Organismus vor, die in Art und Nachhaltigkeit über eine bloße Belästigung (zB durch Geruch oder Lärm) hinausgeht. Voraussehbare Gefährdungen sind jedenfalls zu vermeiden. Bsp: Eine Betriebsanlage verursacht gesundheitsschädliche Abgase. Zum anderen ist zu untersuchen, ob das Eigentum oder sonstige dingliche Rechte der Nachbarn hinreichend geschützt sind. Die Möglichkeit einer bloßen Minderung des Verkehrswertes des Eigentums gilt jedoch noch nicht als Gefährdung des Eigentums. Eine Gefährdung des Eigentums oder dinglicher Rechte ist nur dann gegeben, wenn die Substanz des Eigentums bedroht ist, oder wenn eine sinnvolle Nutzung der Sache wesentlich beeinträchtigt wird oder überhaupt nicht mehr möglich ist (VwGH 21.12.2004, 2000/04/0201). Bsp: Ein Hotel, das mit absoluter Ruhelage wirbt, muss einen Lebensmittelgroßhandel in der Nachbarschaft dulden, auch wenn dadurch das Verkehrsaufkommen in der Zufahrtsstraße zum Hotel steigt und sich der „Werbeslogan“ nicht mehr durchhalten lässt.
LE 8
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
227
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass durch die raumordnungsrechtliche Widmung (siehe X.B.). bestimmter Flächen als Industriegebiet, gemischtes Wohn- und Gewerbegebiet udgl, schon im Vorfeld von Betriebsansiedelungen versucht wird, allzu eklatante Interessengegensätze (zB Wohnhaus neben Fabrik) zu vermeiden. Dieser Anspruch lässt sich jedoch nicht überall verwirklichen, weil etwa auch gemischte Nutzungen (Wohnflächen neben Gewerbeflächen) für die Ortsentwicklung notwendig sind. In diesen Fällen soll das Betriebsanlagenrecht der GewO den notwendigen Interessenausgleich herstellen.
2.
Belästigungen der Nachbarn (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 2 GewO)
Belästigungen sind von einer Betriebsanlage ausgehende Emissionen, die zwar nicht gesundheitsgefährdend sind, aber das Wohlbefinden stören. Nachbarn müssen solche Belästigungen, zB infolge von Geruch, Lärm oder Staub, sofern sie das zumutbare Maß nicht überschreiten, hinnehmen. Ob bestimmte Belästigungen der Nachbarn zumutbar sind, hat die Behörde danach zu beurteilen, wie sich die durch die Betriebsanlage verursachten Änderungen der tatsächlichen örtlichen Verhältnisse („Istmaß“) auf ein gesundes, normal empfindendes Kind und auf einen gesunden, normal empfindenden Erwachsenen auswirken. Besondere Empfindlichkeiten von Nachbarn bilden daher insoweit keinen Versagungsgrund. Erforderlichenfalls hat die Behörde dem Projektwerber Auflagen vorzuschreiben, durch die die Belästigungen auf ein zumutbares Maß beschränkt werden (siehe IV.). Sind solche Auflagen nicht möglich, muss die Behörde die Genehmigung versagen. Bei der Untersuchung im Einzelfall stützt sich die Behörde in aller Regel auf Gutachten einschlägiger Sachverständiger (zB eines Arztes). Bsp: Der Geruch einer Betriebsanlage ist nicht gesundheitsgefährdend, zwingt aber die Nachbarn, die Fenster geschlossen zu halten. Beachte: Im Gegensatz zu Gesundheitsgefährdungen müssen Belästigungen nicht vermieden, sondern nur auf ein zumutbares Maß beschränkt werden!
3.
Beeinträchtigung öffentlicher Interessen (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 3-4 GewO)
Die Behörde hat außerdem zu prüfen, ob die Betriebsanlage die Religionsausübung in Kirchen, den Schulunterricht, den Betrieb von Kranken- und Kuranstalten oder die Verwendung oder den Betrieb anderer öffentlichen Interessen dienender benachbarter Anlagen oder Einrichtungen beeinträchtigt. Außerdem hängt die Genehmigung einer Betriebsanlage auch davon ab, ob diese Anlage die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs an oder auf Straßen mit öffentlichem Verkehr wesentlich beeinträchtigt. Die genannten Beeinträchtigungen müssen – allenfalls durch behördlich vorgeschriebene Auflagen – auf ein zumutbares Maß beschränkt werden. Sind solche Auflagen nicht möglich, hat die Behörde die Genehmigung zu versagen. Bsp: So wird ein Sexshop nicht unmittelbar neben einer Kirche oder ein Waffengeschäft nicht unmittelbar neben einer Schule errichtet werden können.
228
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LE 8
Beachte: Die GewO schützt alle Anlagen und Einrichtungen, die öffentlichen Interessen dienen (wie zB Wasserversorgungsanlagen, Badeanstalten, Kindergärten, Sportstätten), vor Beeinträchtigungen durch gewerbliche Betriebsanlagen.
4.
Nachteilige Einwirkungen auf Gewässer (§ 77 iVm § 74 Abs 2 Z 5 GewO)
Sofern nicht ohnedies eine wasserrechtliche Bewilligung erforderlich ist, hat die Behörde schließlich auch sicherzustellen, dass durch die Betriebsanlage verursachte nachteilige Einwirkungen auf Gewässer auf ein zumutbares Maß beschränkt werden. Beachte: Den Nachbarn steht ein isoliertes Recht auf Prüfung der nachteiligen Einwirkungen einer Betriebsanlage auf die Beschaffenheit der Gewässer gemäß § 74 Abs 2 Z 5 GewO, losgelöst von einer damit allenfalls verbundenen Gefährdung ihres Eigentums, sonstiger dinglicher Rechte oder ihrer Gesundheit bzw von einer damit verbundenen Belästigung, nicht zu.
5.
Luftschadstoffe (§ 77 Abs 3 GewO)
Eine Anlage darf grundsätzlich Luftschadstoffe emittieren. Allerdings hat die Behörde die Emission von Luftschadstoffen jedenfalls nach dem Stand der Technik zu begrenzen („Minimierungsgebot“). Besonderes gilt für bereits vorbelastete Gebiete: In diesem Fall darf die Genehmigung nur erteilt werden, wenn die Emissionen der Anlage keine relevante Zusatzbelastung darstellen („Irrelevanzklausel) oder die Zusatzbelastung durch emissionsbegrenzende Auflagen im technisch möglichen und wirtschaftlich zumutbaren Ausmaß beschränkt wird und die zusätzlichen Emissionen erforderlichenfalls durch Maßnahmen zur Senkung der Immissionsbelastung soweit ausgeglichen werden, dass in einem realistischen Szenario langfristig keine weiteren Grenzwertüberschreitungen anzunehmen sind („Kompensationsklausel“). Durch diese Regelung soll im Interesse des Umweltschutzes ein bestimmtes Qualitätsniveau der Luft gesichert werden.
6.
Abfall (§ 77 Abs 4 GewO)
Einem Ansuchen um Genehmigung einer gewerblichen Betriebsanlage ist ein Abfallwirtschaftskonzept anzuschließen (§ 353 Z 1 lit c GewO). Dieses Konzept wird von der Gewerbebehörde geprüft. Erforderlichenfalls wird die Behörde bestimmte Auflagen vorschreiben, um sicherzustellen, dass die Abfälle nach dem Stand der Technik vermieden oder verwertet werden oder, soweit dies wirtschaftlich nicht vertretbar ist, ordnungsgemäß entsorgt werden.
7.
Nahversorgung (§ 77 Abs 5-9 GewO)
§ 77 Abs 5 GewO sieht für bestimmte Arten von Betriebsanlagen (Anlagen für Handelsbetriebe und Einkaufszentren, die überwiegend dem Handel mit Konsumgütern des kurzfristigen und des täglichen Bedarfs dienen) zusätzliche Genehmigungsvoraussetzungen vor. Liegen solche Betriebsanlagen außerhalb eines Stadt- oder Ortskerngebiets und weisen sie eine Gesamtverkaufsfläche von mehr als 800 m2 auf, so kommt eine Bewilligung nur in Betracht, wenn dadurch keine Gefährdung der Nahversorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern des kurzfristigen und des täglichen Bedarfs (zB Lebensmittel, Drogeriefachmarktartikel, Zeitungen) im Einzugsbereich zu erwarten ist. Die gewerbebehördliche Genehmigung
LE 8
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229
eines Einkaufszentrums setzt außerdem voraus, dass der in Aussicht genommene Standort für eine derartige Gesamtanlage gewidmet ist. Siehe dazu auch X.B.4.
8.
Besondere Genehmigungskriterien bei IPPC-Anlagen (§ 77a GewO)
Im Bescheid zur Genehmigung einer IPPC-Betriebsanlage (II.D.) ist zusätzlich sicherzustellen, dass diese Anlage so errichtet, betrieben und aufgelassen wird, dass: -
alle geeigneten Vorsorgemaßnahmen gegen Umweltverschmutzungen getroffen werden;
-
die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, um Unfälle zu verhindern und deren Folgen zu begrenzen;
-
die erforderlichen Maßnahmen getroffen werden, um bei der Auflassung der Betriebsanlage die Gefahr einer Umweltverschmutzung zu vermeiden und um einen zufriedenstellenden Zustand des Betriebsanlagengeländes wiederherzustellen.
Sie kommen nach Prüfung des Projekts zum Ergebnis, dass die Diskothek eine Normalanlage darstellt, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass Schutzgüter des § 74 Abs 2 GewO berührt werden. Eine Belästigung der Nachbarn durch Lärm aus der Gaststätte ist sogar wahrscheinlich. Zu beachten ist darüber hinaus, dass der BMWA eine BagatellanlagenVO bezüglich Gaststätten erlassen hat, der zufolge Betriebsanlagen zur Ausübung des Gastgewerbes, in denen bis zu 200 Verabreichungsplätze bereitgestellt werden und weder musiziert noch, zB mit einem Tonbandgerät, Musik wiedergegeben wird (nicht unter dieses Musizieren bzw Wiedergeben von Musik fällt bloße Hintergrundmusik, die leiser ist als der übliche Gesprächston der Gäste), dem vereinfachten Verfahren zu unterziehen sind. Das trifft auf Ihr Lokal (Diskothek!) nicht zu. Somit stellt dieses Lokal eine Normalanlage dar, auf die das allgemeine Verfahren Anwendung findet. In vorliegenden Fall stellt sich vor allem die Frage, ob die durch die Diskothek zu erwartende Lärmbelästigung der Nachbarn einer Bewilligung entgegensteht. Die Behörde muss nun die Zumutbarkeit dieser Belästigung beurteilen, indem sie prüft, wie sich die tatsächlichen örtlichen Verhältnisse durch die Betriebsanlage ändern (§ 77 Abs 2 GewO). Dazu wird sie die Lärmsituation ohne Discomusik und mit Discomusik vergleichen und die Nachbarn, die dazu Stellung nehmen wollen, anhören. Die Behörde stellt tatsächlich eine Belästigung fest. Durch die laute Musik zu nächtlicher Stunde werden die Gäste des naheliegenden Hotels gestört; es liegt eine Belästigung eines Nachbarn im Sinn des § 74 Abs 2 Z 2 GewO vor.
IV. Auflagen Die beschriebenen Voraussetzungen für die Genehmigung einer gewerblichen Betriebsanlage werden vielfach erst durch die Vorschreibung von Auflagen erfüllt. Bescheide, mit denen eine gewerbliche Betriebsanlage bewilligt wird, enthalten daher in der Regel eine Reihe von
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Auflagen. Die Behörde wird insbesondere jene Auflagen vorschreiben, die erforderlich sind, um die nach den Umständen des Einzelfalles voraussehbaren Gefährdungen iSd § 74 Abs 2 Z 1 GewO zu vermeiden und Belästigungen, Beeinträchtigungen oder nachteilige Einwirkungen auf ein zumutbares Maß zu beschränken (§ 77 Abs 1 GewO). Eine beantragte Genehmigung darf sohin nicht schon deswegen versagt werden, weil die Behörde feststellt, dass das Vorhaben zur Beeinträchtigung von Schutzgütern der GewO (§ 74 Abs 2) führt. Vielmehr muss die Behörde von Amts wegen prüfen, ob die festgestellten Genehmigungshindernisse durch Vorschreibung zulässiger Auflagen beseitigt werden können. Für die Zulässigkeit einer Auflage ist allerdings weder die Zustimmung des Bewilligungswerbers noch der Nachbarn entscheidend. Auch auf die wirtschaftliche Tragbarkeit der Auflage kommt es nicht an.
Auflagen machen die Anlage erst genehmigungsfähig.
Eine Auflage ist eine pflichtenbegründende Nebenbestimmung in einem dem Hauptinhalt nach begünstigenden Bescheid. Auflagen haben akzessorischen Charakter: Sie werden erst dann relevant, wenn von der Begünstigung Gebrauch gemacht wird (zB die Betriebsanlage in Betrieb genommen wird). Auflagen dürfen das eingereichte Projekt nicht in seinem Wesen verändern und müssen bestimmt, geeignet, erforderlich und behördlich erzwingbar sein.
Auflagen dürfen das Projekt nicht in seinem Wesen ändern; sie müssen bestimmt, geeignet, erforderlich und behördlich erzwingbar sein.
A.
Auflagen dürfen das Projekt nicht in seinem Wesen verändern
Die Behörde darf das Vorhaben durch Auflagen nur soweit modifizieren, dass dieses in seinem Wesen unberührt bleibt. Es ist daher der Behörde nicht erlaubt, durch Auflagen das beantragte Projekt so zu verändern (und dann zu genehmigen), dass es sich praktisch um ein neues Projekt handelt. Kann allerdings die Genehmigungsfähigkeit der beantragten Anlage durch andere Auflagen, die das Wesen des Projekts unverändert lassen, nicht erreicht werden, ist die Genehmigung zu versagen. Bsp: Auflagen, die eine Lärmkapselung einer Maschine vorsehen, berühren das Vorhaben nicht in seinem Wesen. Da sich das Wesen einer Warmwasserkesselanlage gerade durch die Art des eingesetzten Betriebsmittels (Brennstoff) bestimmt, würde die Vorschreibung eines anderen Betriebsmittels (zB Heizöl extra leicht) das Vorhaben in seinem Wesen ändern.
B.
Bestimmtheit
Auflagen müssen konkrete Ge- bzw Verbote („Befehle“) enthalten. Da die Missachtung von Auflagen strafbar ist, müssen Auflagen so klar formuliert sein, dass der Verpflichtete jederzeit erkennen kann, ob er die Auflagen einhält. Bsp: Eine Betriebszeitenbeschränkung auf „während der Winterzeit“ ist nicht ausreichend bestimmt, weil hieraus nicht mit der erforderlichen Klarheit folgt, inwiefern damit die kalendermäßig bestimmte Winterzeit oder ein davon unabhängiger Zeitraum der „Wintersaison“ oder allenfalls einer „winterlichen Jahreszeit“ erfasst werden soll.
LE 8
C.
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231
Geeignetheit
Auflagen müssen zur Erreichung des Ziels geeignet sein. Dies schließt mit ein, dass die Erfüllung von Auflagen faktisch möglich, dh vor allem auch technisch durchführbar sein muss.
D.
Erforderlichkeit
Die vorgeschriebenen Auflagen müssen erforderlich sein, um (iSd § 77 Abs 1 GewO) eine Gefährdung zu vermeiden und Belästigungen etc auf ein zumutbares Maß zu beschränken. Bestehen mehrere Möglichkeiten zur Erreichung des Schutzzweckes, muss die Behörde jene Maßnahme wählen, die den Unternehmer am wenigsten belastet.
E.
Behördliche Erzwingbarkeit
Auflagen müssen so gestaltet sein, dass sie von der Behörde durchgesetzt werden können. Dies setzt voraus, dass die Auflage so formuliert ist, dass ihre Einhaltung von der Behörde überprüft werden kann. Bsp: Einer Auflage fehlt sowohl die Bestimmtheit als auch die behördliche Erzwingbarkeit, wenn die darin alternativ vorgesehenen – im Einzelnen nicht näher konkretisierten – Alternativvorkehrungen durch die Anordnung eingeleitet werden, die Verfrachtung staubender Güter durch Wind sei durch folgende Maßnahmen „nach Möglichkeit zu vermeiden“. Die Behörde bewilligt Ihre Betriebsanlage unter Vorschreibung folgender Auflage: „Sie sind verpflichtet, in der Zeit, in der Ihr Lokal geöffnet hat und Musik gespielt wird, die Fenster und Türen des Lokals geschlossen zu halten. Außerdem sind Sie verpflichtet, schalldichte Fenster und Türen zu verwenden.“ Da Sie ohnehin geplant hatten, nur schalldichte Fenster und Türen zu verwenden, stellt diese Auflage für Sie kein Problem dar. Diese Auflage entspricht den gesetzlichen Anforderungen: Sie verändert das Wesen Ihrer Betriebsanlage nicht und sie ist ausreichend bestimmt; somit kann sie von der Behörde überwacht und von dieser nötigenfalls erzwungen werden. Weiters ist sie geeignet, die Lärmbelästigung auf das zumutbare Maß zu beschränken, und erforderlich, damit die Gäste des Hotels nicht gestört werden. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass es sich um die gelindeste Maßnahme zur gebotenen Reduktion der Lärmbelästigung handelt. Andere Maßnahmen, wie etwa eine Verringerung der Lautstärke Ihrer Musikanlage oder ähnliches, würden Sie in Ihrer gewerblichen Tätigkeit stärker einschränken.
V.
Betrieb der Anlage vor Rechtskraft des Genehmigungsbescheids
Ist der Genehmigungsbescheid noch nicht in Rechtskraft erwachsen, etwa weil ein Nachbar gegen die behördliche Genehmigung der Anlage Berufung erhoben hat (Näheres zur Rechtskraft siehe LE 9), kann der Projektwerber dennoch mit dem Bau bzw dem Betrieb der
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LE 8
Anlage beginnen, wenn er die Auflagen der Genehmigung einhält (§ 78 GewO). Diese Bestimmung dient dem Unternehmer als Überbrückung bis zur rechtskräftigen Entscheidung bei länger andauernden Verfahren und soll Investitionen des Unternehmers begünstigen. Der Gewerbetreibende trägt dabei aber das Risiko, dass die Genehmigung von der Berufungsinstanz abgeändert oder im schlimmsten Fall verwehrt wird. Dann müsste er seine Anlage nachträglich anpassen oder vielleicht sogar abreißen.
VI. Nachträgliche Änderungen von Betriebsanlagen Es kann notwendig sein, bereits genehmigte Betriebsanlagen zu verändern. Hierbei sind zwei Fallgruppen zu unterscheiden:
A.
Änderung der Betriebsanlage auf Initiative des Gewerbetreibenden (§ 81 GewO)
Soll bspw eine technisch überholte Fabrik auf den neuesten Stand gebracht werden, weil die alten Produktionsmaschinen nicht mehr rentabel sind, stellt sich die Frage, ob eine solche Modernisierung eine gewerbebehördliche Bewilligung erfordert. Änderungen einer genehmigten Anlage können bewilligungspflichtig sein
§ 81 Abs 1 GewO sieht vor, dass auch die Änderung einer rechtskräftig genehmigten Betriebsanlage einer behördlichen Genehmigung bedarf, wenn es zur Wahrung der in § 74 Abs 2 GewO umschriebenen Interessen erforderlich ist. Die Genehmigungsvoraussetzungen für die Änderung einer Anlage sind die gleichen wie für die Errichtung einer Anlage. Die Genehmigungspflicht entfällt jedoch in den in § 81 Abs 2 GewO (demonstrativ) aufgezählten Fällen. Nicht genehmigungspflichtig sind daher Änderungen, die das Emissionsverhalten der Anlage nicht nachteilig beeinflussen oder der Ersatz von Maschinen, Geräten oder Ausstattungen durch gleichartige Maschinen, Geräte oder Ausstattungen (Ersatzinvestitionen).
B.
Änderung der Betriebsanlage aufgrund behördlicher Anordnung (§§ 79, 79b GewO)
Ergibt sich nach Abschluss des Verfahrens und trotz Einhaltung der im Bewilligungsbescheid vorgesehenen Auflagen, dass die Schutzgüter des § 74 Abs 2 Nachträgliche Auflagen dienen der Anpassung der Genehmigung an die GewO gefährdet sind, hat die Behörde von sich aus oder auf tatsächliche Gefährdungs- und BelästiAntrag andere oder zusätzliche Auflagen vorzuschreiben (§ 79 gungssituation Abs 1 GewO). Der Grund hierfür kann in einer Fehleinschätzung der Sachverständigen im Genehmigungsverfahren, im Vorliegen neuer technischer Erkenntnisse über die Auswirkungen einer Betriebsanlage oder aber auch in unzureichenden Auflagen des Genehmigungsbescheides liegen. Nachträgliche Auflagen dürfen nicht vorgeschrieben werden, wenn sie unverhältnismäßig sind, insbesondere wenn der mit der Erfüllung der Auflagen verbundene Aufwand außer Verhältnis zu dem mit den Auflagen angestrebten Erfolgt steht. Beachte: Auflagen zum Schutz der Gesundheit und des Lebens können niemals unverhältnismäßig sein.
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Ist es dem Inhaber der Anlage wirtschaftlich nicht zuzumuten, die Umsetzung neuer Auflagen sofort vorzunehmen, kann ihm, sofern im Hinblick auf die Schutzinteressen der GewO keine Bedenken bestehen, eine Frist von bis zu fünf Jahren zur Erfüllung von Auflagen gewährt werden. Die Vorschreibung anderer oder zusätzlicher Auflagen ist auch für den Fall vorgesehen, dass trotz Einhaltung des Abfallwirtschaftskonzepts und der im Bescheid vorgeschriebenen Auflagen die gem § 77 Abs 4 GewO wahrzunehmenden Interessen nicht hinreichend gewahrt sind (§ 79b GewO).
C.
Sanierungskonzept (§ 79 Abs 3 und 4 GewO)
Würden die erforderlichen Auflagen jedoch die Betriebsanlage in ihrem Wesen verändern, so hat die Behörde dem Anlageninhaber die Vorlage eines Sanierungskonzepts aufzutragen (§ 79 Abs 3 GewO). Auch für dieses Sanierungskonzept ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit maßgebend. Entspricht das vorgelegte Sanierungskonzept den gesetzlichen Voraussetzungen, so hat die Behörde die Sanierung mit Bescheid zu genehmigen. In diesem Bescheid ist eine entsprechende Sanierungsfrist festzulegen. Die Vorlage eines Sanierungskonzepts kommt außerdem im Zusammenhang mit Sanierungen gem dem IG-L in Betracht (§ 79 Abs 4 GewO).
VII. Überwachung von Betriebsanlagen Nach der GewO gilt das Gebot, dass Betriebsanlagen im Interesse des Umweltschutzes und des Schutzes der Interessen der Nachbarn kontinuierlich zu kontrollieren sind. Diese Aufgabe teilt das Gesetz auf Anlagenbetreiber und Behörde gleichermaßen auf.
A.
Überwachung durch den Anlagenbetreiber
Der Inhaber der genehmigten Betriebsanlage muss in regelmäßigen Abständen (wenn nichts anderes bestimmt ist: alle fünf Jahre; bei Bagatellanlagen: alle sechs Jahre) selbst prüfen oder prüfen lassen, ob die Anlage dem Bewilligungsbescheid Der Inhaber einer genehmigten Betriebsbzw den sonst für die Anlage geltenden gewerberechtlichen anlage ist verpflichtet, diese regelmäßig Vorschriften entspricht (§ 82b GewO). Über jede wiederkehzu prüfen oder prüfen zu lassen. rende Prüfung ist eine Prüfbescheinigung auszustellen. Werden darin Mängel festgehalten, so hat der Inhaber der Anlage diese Prüfbescheinigung unverzüglich der Behörde vorzulegen und ihr überdies innerhalb angemessener Frist eine Darstellung der zur Mängelbehebung getroffenen Maßnahmen zu übermitteln.
B.
Überwachung durch die Behörde
Soweit dies zur Vollziehung der gewerberechtlichen Vorschriften erforderlich ist, sind die Organe der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörden (siehe VIII.) sowie die von diesen Behörden herangezogenen Sachverständigen berechtigt, Betriebe Die behördliche Überprüfung (§ 338 GewO) erfolgt von Amts wegen. sowie deren Lagerräume während der Betriebszeiten zu betreten und zu besichtigen und Kontrollen des Lagerbestandes
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vorzunehmen und in alle Geschäftsunterlagen Einsicht zu nehmen und Beweismittel zu sichern (amtswegige Überprüfungen nach § 338 GewO). Nachbarn einer Betriebsanlage haben allerdings kein subjektiv-öffentliches Recht auf die Durchführung einer Überprüfung. Unter bestimmten Voraussetzungen ist die Behörde jedoch zum Einschreiten verpflichtet. Als Konsequenz einer amtswegigen Überprüfung kann es bspw zur Einleitung eines Verwaltungsstrafverfahrens oder zu einstweiligen Zwangs- und Sicherheitsmaßnahmen (§ 360 GewO) kommen. § 360 GewO ermächtigt die Gewerbebehörde zu gewerbepolizeilichen Maßnahmen im Rahmen der allgemeinen Gewerbeaufsicht. Die dort vorgesehenen einstweiligen Zwangsund Sicherheitsmaßnahmen dienen der Herstellung des der Rechtsordnung entsprechenden Zustandes, der Abwehr von Gefahren für Leben, Gesundheit und Eigentum sowie zur Beendigung unzumutbarer Belästigungen der Nachbarn durch nicht genehmigte Betriebsanlagen. Als äußerstes Mittel kommt auch die gänzliche Schließung des Betriebes in Betracht. Maßnahmen nach § 360 GewO sind von Amts wegen zu treffen. Nachbarn einer Betriebsanlage steht kein Antragsrecht und auch kein Recht auf Einleitung eines Verfahrens zu.
VIII. Die Zuständigkeit im Betriebsanlagenrecht Die Genehmigung in erster Instanz sowie die Überwachung aller Betriebsanlagen im Sinn der GewO fallen in die Kompetenz der Bezirksverwaltungsbehörden (BVB). Der Antrag auf Genehmigung einer Anlage ist daher bei den Bezirkshauptmannschaften (BH) und – in Städten mit eigenem Statut – beim Bürgermeister bzw beim Magistrat einzubringen (§ 333 Abs 1 GewO). Berufungsinstanz ist der Unabhängige Verwaltungssenat (§ 359a GewO).
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235
IX. Das Baurecht Erfordert eine gewerbliche Betriebsanlage die Errichtung oder Änderung einer baulichen Anlage, so benötigt der Unternehmer in der Regel auch eine Genehmigung nach der BauO des jeweiligen Bundeslandes (Baurecht). Dabei bedingt der Umstand, dass eine Betriebsanlage nach §§ 74 ff GewO genehmigt worden ist, noch nicht, dass diese Anlage auch nach baurechtlichen Bestimmungen zulässig sein muss.
A.
Regelungsgegenstand
Als (öffentliches) Baurecht bezeichnet man – vereinfach gesagt – die Gesamtheit jener (öffentlich-rechtlichen) Vorschriften, die das Bauen regeln. Dabei geht es zum einem um die Sicherheit und einwandfreie Beschaffenheit von Bauwerken vor allem in technischer Hinsicht. Zum anderen dient das Baurecht aber auch dem Schutz der Nachbarn. Augenfällig ist auch die enge Verzahnung des Baurechts mit dem Raumordnungsrecht, zumal baurechtliche Bescheide (Bauplatzerklärung, Baubewilligung) den raumordnungsrechtlichen Vorgaben (Flächenwidmungsplan) entsprechen müssen (siehe dazu X.). Schließlich zählen auch As-
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pekte des Ortsbild- und des Umweltschutzes (zB Verwendung energiesparender Baustoffe) zu den typischen Inhalten baurechtlicher Regelungen. Da das Baurecht gemäß der österreichischen Bundesverfassung in Gesetzgebung und Vollziehung Landessache ist (siehe LE 2), hat jedes Bundesland eine eigene Bauordnung. Diesem Abschnitt wird das Wiener Baurecht zu Grunde gelegt (Bauordnung für Wien; LGBl 1930/11 idgF), die Ausführungen gelten aber für die Bauordnungen anderer Bundesländer sinngemäß.
B.
Kategorien von Bauvorhaben
Die Wiener Bauordnung gliedert Bauvorhaben in solche, die vor Ausführung von der Baubehörde bewilligt werden müssen, und solche, die bei der Behörde angezeigt werden müssen, sowie solche, für die weder eine Bewilligung noch eine Anzeige notwendig ist (§§ 60 ff Wr BauO).
1.
Bewilligungspflichtige Bauvorhaben
Bewilligungspflichtig sind grundsätzlich Neubauten (= Errichtung neuer Gebäude), Zubauten (= Vergrößerungen eines Gebäudes in waagrechter oder lotrechter Richtung) und Umbauten (= grundlegende Änderungen eines Gebäudes). Unter die Neu-, Zu- und Umbauten sind grundsätzBewilligungspflicht fallen etwa auch Änderungen oder lich bewilligungspflichtig (§ 60 Wr BauO). Instandsetzungen von Bauwerken, wenn diese von Einfluss auf die Festigkeit, die gesundheitlichen Verhältnisse, die Feuersicherheit oder auf die subjektivöffentlichen Rechte der Nachbarn sind.
2.
Anzeigepflichtige Bauvorhaben
Bestimmte Bauvorhaben erfordern kein Bewilligungsverfahren, sondern sind der Behörde lediglich anzuzeigen. Nach Vorlage der vollständigen Unterlagen darf grundsätzlich mit der Bauführung begonnen werden. Ergibt jedoch die Prüfung der Angaben in den Bauplänen, dass die zur Anzeige gebrachten Baumaßnahmen nicht den gesetzlichen Erfordernissen entsprechen oder einer Baubewilligung bedürfen, hat die Behörde binnen sechs Wochen die Bauführung mit schriftlichem Bescheid zu untersagen. Eine Bauanzeige genügt zB für den Einbau oder die Abänderung von Badezimmern und Sanitäranlagen, Loggienverglasungen und den Austausch von Fenstern (§ 62 Wr BauO).
3.
Freie Bauvorhaben
§ 62a Wr BauO listet darüber hinaus Vorhaben auf, für die weder eine Bewilligung noch eine Anzeige erforderlich ist. Darunter fallen zB Badehütten, Verkaufsstände, Marktstände, Telefonhütten, öffentliche Toiletten etc.
C.
Verfahren/Zuständigkeit
Das Baubewilligungsverfahren ist – sowie das Betriebsanlagengenehmigungsverfahren – ein Mehrparteienverfahren unter Beiziehung der Nachbarn des geplanten Vorhabens (siehe LE 9).
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In Bauangelegenheiten ist in erster Instanz grundsätzlich der Bürgermeister der Gemeinde, in deren Gebiet das Bauwerk errichtet werden soll, zuständig. In zweiter Instanz entscheidet regelmäßig der Gemeinderat. Anderes gilt in Wien: Hier ist in erster Instanz der Magistrat, in zweiter Instanz die Bauoberbehörde zuständig. Da Sie nur geringfügige Umbauten vornehmen müssen und die Räumlichkeiten, die Sie verwenden wollen, auch bisher als Gaststätte genutzt wurden, benötigen Sie keine Bewilligung, sondern müssen lediglich Ihre Absichten der Behörde mitteilen. Diese kann innerhalb von sechs Wochen nach Ihrer Anzeige die Bauführung per Bescheid untersagen. Erfolgt keine rechtskräftige Untersagung der Bauführung, gilt das Bauvorhaben als bewilligt (§ 62 Abs 6 Wr BauO).
X.
Raumordnungsrecht
Im Zuge eines baubehördlichen Verfahrens im Zusammenhang mit dem Bau einer Betriebsanlage ist zu prüfen, ob dieses Vorhaben den raumordnungsrechtlichen Vorgaben entspricht.
A.
Regelungsgegenstand
Das Raumordnungsrecht zielt auf die planmäßige und vorausschauende Gestaltung des Raumes ab. Die natürlichen Gegebenheiten aber auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung sollen dabei Berücksichtigung finden.
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Betriebsanlagenrecht und Baurecht
LE 8
Nach der Kompetenzverteilung der österreichischen Bundesverfassung ist die Raumordnung eine „Querschnittsmaterie“: Die Raumordnung ist Sache der Länder in Gesetzgebung und Vollziehung soweit nicht Teile davon in die Zuständigkeit des Bundes fallen oder die Gemeinden zur Vollziehung zuständig sind. Raumordnungszuständigkeiten des Bundes bestehen für verschiedene Fachbereiche, zB im Verkehrswesen (Festlegung von Eisenbahntrassen; Bundesstraßenplanung). Für gewerbliche Betriebsanlagen ist hingegen die allgemeine Raumordnung auf Landes- und Gemeindeebene maßgeblich. Die Länder haben zur Regelung des allgemeinen Raumordnungsrechts Raumordnungsgesetze erlassen. In Wien gibt es kein eigenes Raumordnungsgesetz, sondern die raumordnungsrechtlichen Regelungen finden sich in der Wiener Bauordnung.
B.
Flächenwidmungsplan und gewerbliche Betriebsanlagen
Nachdem Sie Ihr Lokal nun schon einige Zeit überaus erfolgreich betreiben, denken Sie über eine neue Herausforderung nach: eine Großraumdisco am Stadtrand von Wien. Ihr Onkel verfügt dort über ein Grundstück, das er früher als Gärtnerei genutzt hat. Ein altes Betriebsgebäude, das sich als Büro nutzen ließe, steht dort leer. Eine Halle für die Disco ließe sich auf dieser Liegenschaft mit wenig Aufwand neu errichten und Probleme mit Anrainern wären in dieser Gegend auch nicht zu erwarten, da ringsum keine Wohnhäuser liegen. Ihr Onkel dämpft Ihren Enthusiasmus jedoch und meint, dass es wegen der Flächenwidmung Probleme mit der Baubewilligung geben wird, weil das Grundstück als „ländliches Gebiet“ gewidmet ist. Sie sind erstaunt, zumal dort schon ein Gebäude steht und es bei Ihrem Lokal in der Innenstadt keine Probleme mit der Flächenwidmung gab.
1.
Funktion des Flächenwidmungsplans und Widmungskategorien
Der Flächenwidmungsplan ist das zentrale Planungsinstrument der örtlichen Raumplanung. Er wird von den Gemeinden als Verordnung erlassen. Der Flächenwidmungsplan legt rechtsverbindlich die Art der Nutzung („Widmung“) der im Gemeindegebiet gelegenen Grundflächen fest. Als Hauptwidmungskategorien sind in der Regel x
Bauland,
x
Vorbehaltsflächen (zB Verkehrsflächen) und
x
Grünland (Freiland)
vorgesehen. Innerhalb dieser drei Hauptwidmungskategorien sind wiederum verschiedene Widmungsarten auszuweisen: Für das Bauland zB Wohngebiete, Dorfgebiete, Kerngebiete, gemischte Baugebiete, Betriebsbaugebiete, Industriegebiete und Zweitwohnungsgebiete. Die zulässige Nutzung eines Grundstücks („Widmung“) ergibt sich aus dem Flächenwidmungsplan.
Welche Widmungsarten generell zur Verfügung stehen und welche Arten von Betrieben (Betriebstypen) im Rahmen der verschiedenen Baulandwidmungen jeweils zulässig sind, wird den Gemeinden durch das Raumordnungsrecht der
LE 8
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
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Länder vorgegeben.
2.
Verfahren zur Erlassung eines Flächenwidmungsplans
Letztlich ist es nicht möglich, in einem Raumordnungsgesetz genau vorherzubestimmen, für welches Gebiet, welche Widmung gelten soll. In den Raumordnungsgesetzen der Länder sind Ziele und Grundsätze festgelegt, nach denen alle weiteren Planungsakte auszurichten sind. Diese Zielvorgaben sind jedoch sehr abstrakt (Schutz der Umwelt, Gewährleistung wirtschaftlicher und sozialer Bedürfnisse etc). Wegen ihrer Vielfalt stehen sie oft auch zwangsläufig miteinander in Konflikt (zB die Vermeidung von Es bestehen Vorgaben und Verfahrensregeln, Zersiedelung und die Sicherstellung von Interessen des die bei der Erstellung des Flächenwidmungsplanes eingehalten werden müssen. Fremdenverkehrs). Bei der Festlegung der konkreten Widmungen in einem Flächenwidmungsplan verfügt die Gemeinde daher letztlich über einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Die Vorgaben des Raumordnungsrechts dürfen von der Gemeinde aber nicht unsachlich oder willkürlich angewendet werden. In den Raumordnungsgesetzen der Länder sind zudem wesentliche Verfahrensschritte festgelegt, die zu beachten sind, bevor ein Flächenwidmungsplan vom Gemeinderat beschlossen wird: x
Grundlagenforschung
x
Öffentliche Bekanntmachung der Planungsabsicht
x
Öffentliche Auflage des Entwurfs
x
Einräumung von Stellungnahme- und Einwendungsmöglichkeiten.
Bei der Festlegung der Widmungen sind gegenseitige Beeinträchtigungen (zB Betriebsbaugebiet/Wohngebiet) möglichst zu vermeiden.
3.
Prüfung der Einhaltung der Flächenwidmung
Nach den Bauordnungen der Länder ist die Erteilung einer Baubewilligung grundsätzlich nur dann zulässig, wenn das betreffende Bauvorhaben dem Flächenwidmungsplan nicht widerspricht. Auch für den Bau einer gewerblichen Betriebsanlage darf die Baubewilligung daher in der Regel nur dann erteilt werden, wenn für den Standort eine passende Widmung im Flächenwidmungsplan vorliegt. Im gewerberechtlichen Die Einhaltung der Flächenwidmung wird im baurechtlichen Verfahren geprüft. Betriebsanlagengenehmigungsverfahren ist hingegen die raumordnungsrechtliche Zulässigkeit des Standorts der geplanten Betriebsanlage nicht zu überprüfen (Ausnahme: Einkaufszentren, siehe dazu X.B.4.) Ob eine gewerbliche Betriebsanlage unter dem Blickwinkel der Flächenwidmung zulässig ist, hat die Baubehörde – wenn die Gesetze nichts anderes vorschreiben – nicht im Hinblick auf den konkreten Betrieb zu beurteilen; maßgeblich ist vielmehr der Betriebstypus. Wenn ein bestimmter Betriebstypus am Standort nicht zulässig ist, kann er – im Gegensatz zum gewerblichen Betriebsanlagenrecht – auch durch entsprechende Auflagen im Baubewilligungsbescheid nicht zulässig gemacht werden. Auf diese Weise soll die Ansiedlung störender Betriebe im Wohngebiet von vornherein verhindert werden.
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Betriebsanlagenrecht und Baurecht
LE 8
Beispiel: Ein Metallverarbeitungsbetrieb zur Erzeugung von Lüftungsanlagen ist seinem Typ nach im Wohngebiet auch dann unzulässig, wenn für das konkrete Bauvorhaben die Lärmentwicklung durch Schallschutzmaßnahmen gering gehalten werden könnte. Gewerbliche Betriebsanlagen dürfen – von bestimmten Ausnahmen wie etwa Erwerbsgärtnereien abgesehen – nur im Bauland errichtet werden.
Der Standort für Ihr Lokal in der Innenstadt ist offenbar als gemischtes Baugebiet (§ 6 Abs 8 Wr BauO) gewidmet. In Wien dürfen in gemischten Baugebieten Bauwerke oder Anlagen nur dann nicht errichtet werden, wenn sie geeignet sind, durch Rauch, Ruß, Staub, schädliche oder üble Dünste, Niederschläge aus Dämpfen oder Abgasen, Geräusche, Wärme, Erschütterungen oder sonstige Einwirkungen, Gefahren oder unzumutbare Belästigungen für die Nachbarschaft herbeizuführen. Für Ihr Projekt einer Großraumdisco liegt hingegen keine passende Widmung vor. Ländliche Gebiete sind für eine land- und forstwirtschaftliche oder berufsgärtnerische Nutzung bestimmt (§ 6 Abs 1 Wr BauO). In ländlichen Gebieten dürfen grundsätzlich nur Bauwerke errichtet werden, die landwirtschaftlichen, forstwirtschaftlichen oder berufsgärtnerischen Zwecken dienen und das betriebsbedingt notwendige Ausmaß nicht überschreiten. Für die geplante „Großraumdisco“ werden Sie daher an diesem Standort keine baurechtliche Genehmigung erhalten.
4.
Sonderfall Einkaufszentren
Die Errichtung von Einkaufszentren hat vielfältige und intensive Auswirkungen auf die Interessen der Raumordnung. Für Einkaufszentren sehen die Raumordnungsgesetze daher Sonderwidmungen vor. Die Einhaltung dieser Sonderwidmung ist von der Baubehörde zu überprüfen. Bei Einkaufszentren (§ 77 Abs 5 GewO) muss aber zusätzlich auch von der Gewerbebehörde geprüft werden, ob der betreffende Betriebsstandort die erforderliche Flächenwidmung aufweist. Außerhalb eines Stadt- oder Ortskerngebiets geplante Einkaufszentren, die überwiegend dem Handel mit Konsumgütern des kurzfristigen und des täglichen Bedarfs dienen und eine Gesamtverkaufsfläche von mehr als 800 m2 aufweisen, dürfen von der Gewerbebehörde darüber hinaus nur genehmigt werden, wenn das Projekt keine Gefährdung der Nahversorgung der Bevölkerung mit den genannten Konsumgütern erwarten lässt (siehe dazu schon III.B.7.).
LE 8
Betriebsanlagenrecht und Baurecht
241
XI. Weiterführende Literatur Feik, Gewerberecht, in: Bachmann et al (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht8 (2010) Jahnel, Baurecht, in: Bachmann et al (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht8 (2010) Lienbacher, Raumordnungsrecht, in: Bachmann et al (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht8 (2010) Potacs, Gewerbliches Betriebsanlagenrecht, in: Holoubek/Potacs (Hrsg), Öffentliches Wirtschaftsrecht2 (2007) Stolzlechner/Wendl/Bergthaler, Die gewerbliche Betriebsanlage3 (2008)
XII. Wiederholungsfragen
Was ist eine Betriebsanlage im Sinne der GewO? Welche Formen von Betriebsanlagen gibt es? Wann ist eine Betriebsanlage bewilligungspflichtig? Was unterscheidet die Normalanlage von - der nicht genehmigungspflichtigen Betriebsanlage? - der IPPC-Betriebsanlage? - der Seveso II-Anlage? - von der Bagatellanlage? Nennen Sie die Kriterien der GewO für die Bewilligung einer Betriebsanlage? Welche Arten von Bewilligungskriterien gibt es? Was ist eine Auflage? Welchen Anforderungen müssen Auflagen genügen? Welche Regelungen gelten für die nachträgliche Änderung einer Betriebsanlage? Wem obliegt die Überwachung von Betriebsanlagen? Welche Kategorien von Bauvorhaben kennen Sie? Welche Bedeutung hat der Flächenwidmungsplan für gewerbliche Betriebsanlagen?
LE 9
Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
243
Lektion 9 VERWALTUNGSVERFAHREN UND NATIONALER RECHTSSCHUTZ
Disco in der Wiener Innenstadt (Teil 3) Nachdem die Voraussetzungen für die Ausübung des Gastgewerbes und die Anforderungen, die Ihr Lokal erfüllen muss, geklärt sind, stellt sich die Frage, wie Sie an die notwendigen behördlichen Bewilligungen gelangen. Insbesondere ist für Sie von Interesse, an welche Behörde Sie sich wenden können und welche Schritte von der Behörde zu setzen sind, damit Sie letztlich Ihr Lokal in Betrieb nehmen können. Die zentralen Fragen sind: Wie läuft das Verfahren zur Bewilligung einer Betriebsanlage ab? Wer nimmt am Verfahren teil? Wie (dh mit welchem rechtlichen Instrument) entscheidet die Behörde? Nachdem Sie die behördliche Bewilligung erhalten haben und Ihr Lokal betreiben, erfahren Sie von einem Hotelbesitzer in Ihrer Nachbarschaft, dass sich seine Gäste immer wieder über den Lärm des Lokals beschweren. Die Behörde prüft diese Vorwürfe und lässt Messungen von einem Sachverständigen in einem einzigen, der Disco am nächsten gelegenen Hotelzimmer durchführen. Sie stellt tatsächlich eine erhöhte Lärmbelästigung um 5 dB fest, obwohl die schalldichten Fenster und Türen Ihres Lokals geschlossen waren. Sie werden von der Behörde verständigt und geben eine Stellungnahme ab, in der Sie Ihren Standpunkt zu dieser Problematik darlegen. Sie weisen darauf hin, dass das Abspielen von lauter Musik für Ihr Lokal wichtig ist, da es einen grundlegenden Bestandteil Ihres Geschäftskonzeptes bildet. Dennoch erlässt die Behörde einen Bescheid, mit dem zusätzliche Auflagen vorgeschrieben werden. Ihnen wird vorgeschrieben, die Lautstärke Ihrer Musikanlage zu drosseln. Das soll durch Einbau eines Dynamikbegrenzers in Ihre Musikanlage erreicht werden, der es Ihnen unmöglich macht, die Musikanlage über eine gewisse Lautstärke zu betreiben. Das ist ein schwerer Schlag für Sie. Ihre Gäste waren gewohnt, bis spät in die Nacht zu lauter Musik zu tanzen und zu feiern. Sie müssen ein Ausbleiben der Gäste und damit Umsatzeinbußen befürchten. Sie beschließen daher, den Bescheid zu bekämpfen. Die zentralen Fragen sind: Warum ist nach der Verfassung Rechtsschutz geboten? Welche Rechtsmittel und -behelfe kann man gegen Verwaltungsakte ergreifen? Bei welcher Behörde muss man sie einbringen? Welche Behörde entscheidet darüber?
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Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
LE 9
Inhalt: I. II. A. 1. 2. B. 1. 2. 3. C. 1. 2. 3. 4. 5. III. A. B. 1. 2. 3. 4. 5. C. 1. 2. 3. IV. A. 1. 2. 3. B. C. V. VI.
Verfahrensrecht und materielles Recht............................................................... 245 Das Verfahren erster Instanz................................................................................ 245 Die Zuständigkeit..................................................................................................... 245 Allgemeines ............................................................................................................. 245 Zuständigkeit im Betriebsanlagenverfahren ............................................................ 246 Die Parteistellung .................................................................................................... 246 Allgemeines ............................................................................................................. 246 Akteneinsicht ........................................................................................................... 248 Parteistellung im Betriebsanlagenverfahren............................................................ 249 Der Ablauf des Verwaltungsverfahrens ................................................................... 250 Einleitung des Verfahrens ....................................................................................... 250 Das Ermittlungsverfahren ........................................................................................ 251 Die Erledigung des Verfahrens: Der Bescheid ........................................................ 255 Exkurs: Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt . 262 Zustellung und Fristen ............................................................................................. 262 Rechtsschutz ......................................................................................................... 264 Rechtsstaatsprinzip und Rechtsschutz ................................................................... 264 Der administrative Instanzenzug ............................................................................. 265 Mittelbare Bundesverwaltung .................................................................................. 266 Unmittelbare Bundesverwaltung.............................................................................. 266 Landesverwaltung ................................................................................................... 267 Gemeindeverwaltung .............................................................................................. 267 Gesondert geregelte Instanzenzüge ....................................................................... 268 Berufung.................................................................................................................. 268 Berufungslegitimation und Berufungsfrist................................................................ 268 Form und Inhalt der Berufung ................................................................................. 269 Entscheidung über die Berufung ............................................................................. 270 Rechtsschutzinstanzen UVS und VwGH ............................................................. 273 Das Verfahren vor dem UVS ................................................................................... 273 Organisation ............................................................................................................ 273 Zuständigkeit ........................................................................................................... 274 Verfahrensrechtliche Besonderheiten ..................................................................... 274 Der Verwaltungsgerichtshof .................................................................................... 275 Vorabentscheidungsverfahren ................................................................................ 276 Weiterführende Literatur....................................................................................... 279 Wiederholungsfragen............................................................................................ 279
LE 9
I.
Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
245
Verfahrensrecht und materielles Recht
Das Verwaltungsverfahrensrecht regelt jenes Verfahren, das Behörden bei der Vollziehung von Verwaltungsrecht (Baurecht, Gewerberecht, Straßenverkehrsrecht etc) anzuwenden haben, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Es geht also darum, wie ein Unternehmer eine Betriebsanlagenbewilligung erlangt, wie ein Strafverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung abläuft oder wie die Behörde Betriebsanlagen überwacht. Das Verfahrensrecht ist meist mit den entsprechenden Sachregelungen (den sog Materiengesetzen) verbunden. So finden sich in der GewO sowohl Regelungen über die Voraussetzungen für den Gewerbeantritt und für die Errichtung von Betriebsanlagen als auch Regelungen über das dabei einzuhaltende Verfahren. Soweit die Materiengesetze, also die anzuwendenden Verwaltungsvorschriften (zB GewO, BauO, StVO), keine eigenen Regelungen über bestimmte Verfahrensabschnitte enthalten, gilt das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG). Regelungen für die Erlassung von Das Verfahren ist geregelt in AVG, VStG, Strafbescheiden durch Verwaltungsbehörden enthält das Materiengesetzen Verwaltungsstrafgesetz (VStG). Das Verfahren zur Die Vollstreckung ist geregelt in: VVG zwangsweisen Durchsetzung von Bescheiden ist im Verwaltungsvollstreckungsgesetz (VVG) geregelt. Das Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen (EGVG) nennt die Behörden, die diese Verfahrensgesetze anzuwenden haben. Aus der Zusammenschau der materiengesetzlichen Regelungen mit den Bestimmungen von EGVG, AVG, VStG oder VVG ergeben sich jene Normen, anhand derer das konkrete Verwaltungsverfahren durchzuführen ist. Die allgemeinen Grundsätze und der Ablauf des Verfahrens vor Verwaltungsbehörden werden im Folgenden – in Fortführung der LE 8 – hauptsächlich anhand des Verfahrens der Bewilligung von Betriebsanlagen illustriert.
II.
Das Verfahren erster Instanz
A.
Die Zuständigkeit
1.
Allgemeines
Bevor die Behörde tätig wird, muss sie prüfen, ob sie überhaupt zuständig ist und damit in der betreffenden Angelegenheit Rechtsakte setzen darf. Entscheidet eine Behörde, ohne zuständig zu sein, ist ihre Entscheidung gesetzwidrig und kann bekämpft werden. Die Einhaltung der Zuständigkeitsordnung ist durch das Grundrecht auf War die Behörde nicht zuständig, ist die ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter auch Entscheidung der Behörde gesetzwidrig. verfassungsrechtlich gewährleistet (vgl LE 4). Art 83 Abs 2 BVG und das Legalitätsprinzip des Art 18 B-VG verpflichten dabei auch den Gesetzgeber, die Zuständigkeit gesetzlich eindeutig zu regeln (siehe LE 2). Welche Behörde in einer Rechtssache entscheidet, ist abhängig davon, ob es sich um eine Vollziehungskompetenz des Bundes, der Länder oder der Gemeinden handelt. Die Kompe-
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Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
LE 9
tenzverteilung zwischen Bund und Ländern ist in den Art 10 bis 15 B-VG verankert (siehe LE 2). Daraus ergibt sich, ob es sich bei der zu entscheidenden Verwaltungssache um eine Angelegenheit der Bundes- oder der Landesverwaltung handelt. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Sonderbestimmungen über die Vollziehung, zB für die Gemeinden in Art 118 ff BVG. Anhand der Kompetenzfestlegung und der auf dieser Grundlage ergehenden Materiengesetze (zB GewO) sowie dem AVG (§§ 2 ff) ergibt sich die zuständige Behörde erster Instanz. Auf diese Weise lassen sich für alle Sachmaterien und Verfahren eindeutige Zuständigkeiten feststellen.
2.
Zuständigkeit im Betriebsanlagenverfahren
Zuständig für Betriebsanlagenverfahren ist in erster Instanz die Bezirksverwaltungsbehörde (BVB), dh grundsätzlich der Bezirkshauptmann (BH), in Städten mit eigenem Statut der Bürgermeister und in Wien der Magistrat. Die Berufungsinstanz ist gem § 359a GewO der Unabhängige Verwaltungssenat (UVS); (siehe LE 8). Ihr Lokal soll in der Wiener Innenstadt errichtet werden. Zuständig für die behördliche Bewilligung Ihrer Betriebsanlage ist der Magistrat der Stadt Wien. Der Antrag auf Bewilligung der Betriebsanlage kann daher beim jeweils zuständigen magistratischen Bezirksamt eingebracht werden.
B.
Die Parteistellung
1.
Allgemeines
Eine entscheidende Frage ist, wer an einem Verwaltungsverfahren überhaupt und wenn ja, mit welchen Rechten teilnehmen darf. Hinsichtlich der am Verfahren teilnehmenden Personen unterscheidet das AVG zwischen Beteiligten und Parteien. Wichtig ist diese Unterscheidung, weil nur Parteien aktiv am Verfahren teilnehmen können. Nur Parteien können aktiv am Verfahren teilnehmen. Dies gilt grundsätzlich (eine Ausnahme besteht für mündliche Verhandlungen vor dem UVS, siehe unten Punkt IV.A.3) auch für mündliche Verhandlungen: Im Verwaltungsverfahren erster Instanz herrscht der Grundsatz der sog „Parteienöffentlichkeit“ (im Gegensatz zur „Publikumsöffentlichkeit“, wie sie etwa im UVS-Verfahren und in den meisten zivilgerichtlichen oder strafgerichtlichen Verhandlungen besteht). Beteiligte sind einer mündlichen Verhandlung zwar beizuziehen, sie verfügen dort (und sonst im Verfahren) aber lediglich über ein Anhörungsrecht. „Beteiligte“ sind Personen, die die Tätigkeit einer Behörde in Anspruch nehmen oder auf die sich die Tätigkeit einer Behörde bezieht. Als „Partei“ wird demgegenüber eine Person bezeichnet, die an der Verwaltungssache (am Verfahren) auf Grund eines „Rechtsanspruches“ oder eines „rechtlichen Interesses“ beteiligt ist. Der Beteiligtenbegriff ist weiter und bezieht Parteien mit ein. Ein Beteiligter kann Partei eines Verwaltungsverfahrens sein, eine Partei wiederum ist immer gleichzeitig auch Beteiligter eines Verfahrens. Bsp: Personen, denen bloße Anhörungsrechte im Verfahren zukommen, sind Beteiligte, aber keine Parteien. Das betrifft zB die Verfahren, in denen den Gemeinden Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird – die Gemeinden erlangen dadurch keine
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Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
247
Parteistellung. Bloße Beteiligte sind darüber hinaus Personen, deren Interessen durch das betreffende Verfahren in faktischer, meist wirtschaftlicher Hinsicht, nicht aber in rechtlicher Hinsicht berührt werden. Das gilt zB für Mieter hinsichtlich der Erhaltung der Bausubstanz – in einem baurechtlichen Räumungs- und Abbruchverfahren kommt zwar dem Hauseigentümer Parteistellung zu, nicht aber den Mietern. Ob ein „Rechtsanspruch“ oder ein „rechtliches Interesse“ besteht, ist den Materiengesetzen zu entnehmen. Nicht immer besagen die betreffenden Verwaltungsvorschriften klar, ob einer Person ein subjektives öffentliches Recht bzw Parteistellung eingeräumt werden soll. Für die Klärung dieser Frage ist darauf abzustellen, ob die Person durch die Tätigkeit einer Behörde rechtlich „betroffen“ ist, indem sie ihre rechtlich geschützten Interessen gegenüber der Behörde verfolgt (zB ein Unternehmer will eine Betriebsanlage errichten; ein Nachbar wehrt sich gegen Gestank, der aus einer Fabrik strömt) oder ihr von der Rechtsordnung eine Verpflichtung auferlegt wird (zB die Verpflichtung zur Erhaltung eines Hauses, wenn dieses Haus aufgrund des Denkmalschutzgesetzes zum „Denkmal“ erklärt wird). In diesem Zusammenhang spricht man von „subjektiven Rechten“: Partei ist eine Person, die durch den Gegenstand des Verfahrens in ihren subjektiven Rechten unmittelbar berührt wird. Ein subjektives Recht liegt vor, wenn gesetzliche Bestimmungen ein konkretes Interesse einer Person mit der Zielsetzung schützen, dass die Person ihr geschütztes Interesse auch unmittelbar selbst vor Gerichten oder Verwaltungsbehörden durchsetzen können soll. Ob gesetzliche Bestimmungen ein „subjektives Recht" einräumen, ist oft eine Auslegungsfrage, die insbesondere im Hinblick auf den „Schutzzweck der Norm" (sog Schutznormtheorie) geklärt werden muss: Zu fragen ist, ob der Gesetzgeber mit einer bestimmten Regelung nur allgemein öffentliche Interessen bzw die Interessen von PersoSubjektive Rechte nen oder Personengruppen (zB aller Verkehrsteilnehmer durch Geschwindigkeitsbeschränkungen) oder die konkreten Interessen einer Person gesetzlich besonders schützen will, indem er der Person ein „subjektives Recht" einräumt, ihr also die eigenständige Durchsetzung des Interesses in einem verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren ermöglicht (zB das Interesse des Nachbarn einer gewerblichen Betriebsanlage vor unzumutbaren Belästigungen, siehe LE 8). Bsp: Wenn Sie einen Verstoß eines Autofahrers gegen die StVO beobachten und diesen zur Anzeige bringen, sind Sie im Verfahren zur Bestrafung des Verkehrssünders nicht Partei. Ihnen kommt kein subjektives Recht auf Bestrafung eines Verkehrssünders zu. Sie sind allenfalls Zeuge. Soll allerdings in Ihrer Nachbarschaft eine Fabrik errichtet werden, haben Sie ein subjektives Recht darauf, dass ihr Leben und ihre Gesundheit nicht durch Emissionen dieser neuen Fabrik gefährdet werden. Dieses Recht räumt Ihnen § 74 Abs 2 Z 1 GewO ein, und Sie können dieses Recht im Verfahren zur Bewilligung der Fabrik vor der Behörde durchsetzen. Wer aufgrund eines „Rechtsanspruches" oder eines „rechtlichen Interesses", also zur Geltendmachung seiner subjektiven Rechte, am Verwaltungsverfahren teilnimmt, ist Partei. Nur Parteien kommen die grundlegenden Verfahrensrechte („Parteirechte") zu, aufgrund derer das Verwaltungsverfahren aktiv beeinflusst werden kann: Das Recht auf Stellungnahme
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Verwaltungsverfahren und nationaler Rechtsschutz
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(Parteiengehör), das Recht auf Akteneinsicht, auf Zustellung des Bescheides und auf die Erhebung von Rechtsmitteln. Darüber hinaus kommt auch nur Parteien das Recht zu, nichtamtliche Sachverständige oder Dolmetscher wegen Befangenheit abzulehnen. Diese Verfahrensrechte – sie schützen das Interesse der Partei auf Wichtige Parteirechte: Durchsetzung ihres materiellen subjektiven Rechts, also zB des - Parteiengehör subjektiven Rechts des Nachbarn auf Abwehr unzumutbarer - Akteneinsicht - Ablehnung nichtamtlicher Belästigungen aus einer Betriebsanlage – stellen selbst wieder Sachverständiger und Dolmetscher subjektive Rechte dar, auf deren Einhaltung die Partei einen - Zustellung der Entscheidung - Erhebung von Rechtsmitteln Rechtsanspruch hat. Wird also einer Partei eines dieser Rechte im Verfahren verwehrt (zB die Behörde erlässt einen Bescheid, ohne die Partei zu den Ergebnissen ihres Ermittlungsverfahrens anzuhören und ihr damit Gelegenheit zu geben, dazu Stellung zu nehmen), ist das Verfahren rechtswidrig und die Partei kann die Verletzung ihrer subjektiven Verfahrensrechte – allerdings nicht eigenständig, dh nicht losgelöst von materiellen Rechten – mit Rechtsmittel (im Verwaltungsverfahren: Berufung) bekämpfen. Bloßen Beteiligten kommen diese Verfahrensrechte hingegen nicht zu. Beteiligte sind aber, wenn eine mündliche Verhandlung stattfindet, von der Behörde darüber in Kenntnis zu setzen und dürfen an der Verhandlung teilnehmen (§§ 40 Abs 1 und 41 Abs 1 AVG).
2.
Akteneinsicht
Ein fundamentales Recht der Parteien im Verwaltungsverfahren ist das Recht auf Akteneinsicht. Das Recht auf Akteneinsicht ist eng mit dem Recht auf Gehör verbunden, denn erst die Möglichkeit, sich im Verfahren über alle relevanten Tatsachen und Anträge sowie behördliche Erhebungen informieren zu können, ermöglicht es der Partei, sich im Verfahren zu diesen Dingen zu äußern und so das Parteiengehör vollumfänglich wahrzunehmen. Die Parteien können daher in Verfahrensunterlagen (Schriftstücke, Protokolle, Pläne, Videos, elektronische Daten etc) Einsicht nehmen und davon Abschriften verfassen bzw Kopien herstellen. Zudem kann auch ein elektronischer Zugriff auf Akten(bestandteile) gewährt werden (Teil des sog e-Government). Das Recht auf Akteneinsicht umfasst grundsätzlich sämtliche Verfahrensunterlagen und ist allen Parteien des Verfahrens in gleichem Umfang und in der gleichen Weise zu gewähren (es darf zB nicht einer Partei die elektronische Einsichtnahme gestattet, eine andere aber davon ausgeschlossen werden). Seine Grenze findet dieses weitreichende Einsichtsrecht dort, wo eine Einsichtnahme Interessen Dritter gefährden könnte. Soweit die berechtigten Interessen einer Partei des Verfahrens oder dritter Personen gefährdet sind oder eine Einsichtnahme eine Gefährdung der Aufgaben der Behörde herbeiführen oder den Zweck des Verfahrens beeinträchtigen würde, hat die Behörde die Akteneinsicht hinsichtlich der von der Gefährdung betroffenen Aktenbestandteile zu verweigern. Gegen die Verweigerung der Akteneinsicht ist gem § 17 Abs 4 AVG kein gesondertes Rechtsmittel zulässig. Eine rechtswidrige Verweigerung der Akteneinsicht kann allerdings von den Verfahrensparteien im Zuge der Berufung gegen den das Verfahren abschließenden Bescheid bekämpft werden. Bsp: Verweigerung der Akteneinsicht, wenn es sich um staatspolizeiliche Erhebungen handelt, die der Geheimhaltung unterliegen; Verweigerung der Akteneinsicht, um den
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Zweck des Verwaltungsstrafverfahrens nicht dadurch zu unterlaufen, dass der Einsicht nehmende Beschuldigte frühzeitig über Verdachtsmomente oder Beweismittel informiert würde.
3.
Parteistellung im Betriebsanlagenverfahren
a.
Antragsteller
Wer eine Betriebsanlage errichten und betreiben will, ist Partei des Verfahrens. Das ergibt sich daraus, dass im Bewilligungsverfahren über die Interessen des Betriebsanlagenwerbers entschieden wird und dass dieser vom Ausgang des Verfahrens direkt betroffen ist. Erfüllt die Anlage alle gesetzlichen Voraussetzungen, hat der Antragsteller (Unternehmer) ein subjektives Recht, also einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Bewilligung. b.
Nachbarn
Darüber hinaus haben auch Nachbarn Parteistellung im betriebsanlagenrechtlichen Bewilligungsverfahren. Nachbarn sind all jene Personen, die durch die Errichtung, den Bestand oder den Betrieb einer Betriebsanlage gefährdet oder belästigt werden könnten oder deren Eigentum gefährdet werden könnte (§ 75 Abs 2 GewO). Sie erhalten durch die Verleihung der Parteistellung die Möglichkeit, sich gegen negative Einwirkungen von Betriebsanlagen, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gelegen oder geplant sind, zur Wehr zu Parteien im Bewilligungsverfahren: Antragsteller setzen. Die Nachbarn haben ein subjektives Recht auf Nachbarn körperliche Unversehrtheit, Freiheit von unzumutbaren Belästigungen und Schutz ihres Eigentums. Diese subjektiven Rechte werden ihnen durch die GewO (vgl § 74 Abs 2) verliehen, im Verein mit § 8 AVG begründen sie die Parteistellung der Nachbarn im Bewilligungsverfahren. Damit Nachbarn die ihnen grundsätzlich zukommende Parteistellung bewahren, müssen sie aber Einwendungen gegen die Betriebsanlage erheben (siehe Punkt II.C.2.d). Zusätzlich zum Bewilligungswerber und den Nachbarn kommt im Betriebsanlagenverfahren auch Inhabern von Beherbergungsbetrieben, Krankenanstalten, Heimen und Schulen, jeweils in dem Ausmaß, in dem es um den Schutz der beherbergten Personen geht, Parteistellung zu. Demgegenüber haben die sich bloß vorübergehend im benachbarten Gebäude aufhaltenden Personen, also zB die Schulkinder, die Hotelgäste etc, keine Parteistellung. Die durch die GewO geschützten öffentlichen Interessen (insbesondere die Schutzgüter des § 74 Abs 2 GewO) hat die Behörde von Amts wegen, also ohne Parteienaufforderung, wahrzunehmen. Sofern es um den Schutz der Gesundheit und des Lebens sowie den Schutz vor Beeinträchtigungen und Belästigungen geht, muss die Gemeinde, in deren Ortsgebiet die Anlage errichtet werden soll, von der Behörde im Verfahren gehört werden. Der Gemeinde kommt dabei aber lediglich Beteiligtenstellung zu. Als Unternehmer, der die Diskothek errichten und betreiben will, sind Sie Partei des Bewilligungsverfahrens vor dem Magistratischen Bezirksamt. Sofern Sie sämtliche Voraussetzungen erfüllen, haben Sie ein subjektives Recht auf Erteilung der betriebsanlagenrechtli-
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chen Bewilligung. Auch Ihrem Nachbarn, dem Hotelbesitzer, kommt hinsichtlich des Schutzes der beherbergten Gäste Parteistellung zu. Er kann seine Einwendungen bezüglich belästigender Lärmentwicklung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erheben.
C.
Der Ablauf des Verwaltungsverfahrens
Das erstinstanzliche Verwaltungsverfahren gliedert sich in drei Abschnitte: Einleitung des Verfahrens, Ermittlungsverfahren und Erledigung.
x x
1.
Einleitung des Verfahrens
a.
Einleitung auf Antrag oder von Amts wegen
Grundsätzlich müssen Verfahren, die eine Partei begünstigen sollen, von dieser mit Antrag eingeleitet werden (zB Erteilung einer Betriebsanlagenbewilligung oder einer Baubewilligung, Ausstellung eines Reisepasses, Erteilung der Lenkerberechtigung). Verfahren, die hauptsächlich im öffentlichen Interesse stehen, werden amtswegig, also von der Behörde selbst eingeleitet (zB zum Schutz des öffentlichen Verkehrs wird die Lenkerberechtigung wegen Alkohol am Steuer entzogen; eine Betriebsanlage wird überprüft, ob die vorgeschriebenen Auflagen eingehalten werden; ein Haus wird unter Denkmalschutz gestellt etc).
Einleitung des Verfahren auf Antrag bei begünstigenden Verfahren Einleitung von Amts wegen bei öffentlichen Interessen
Das Betriebsanlagenbewilligungsverfahren beginnt mit der Einbringung des Ansuchens auf Erteilung der Bewilligung zur Errichtung und zum Betrieb einer Anlage durch den Unternehmer bei der zuständigen Behörde. Diese Eingabe hat insbesondere zu umfassen (§ 353 GewO):
b.
x
die Betriebsbeschreibung (samt Auflistung von verwendeten Maschinen)
x
die erforderlichen Pläne und Skizzen
x
die Beschreibung der durch den Betrieb der Anlage zu erwartenden Abfälle und die Vorkehrungen zur Vermeidung, Verwertung und Entsorgung dieser (Abfallwirtschaftskonzept)
x
technische Unterlagen bezüglich der Beurteilung des Projekts und bezüglich der zu erwartenden Emissionen. Verkehr zwischen Behörde und Partei
Einer Partei stehen meist sämtliche Wege der modernen Kommunikation zur Kontaktaufnahme mit der Behörde zur Verfügung (schriftlich, per Brief, Fax, E-Mail oder anderen Technologien). Weist ein Anbringen einer Partei Mängel auf, muss die Behörde auf die Behebung dieser Mängel hinwirken und die Eingabe unter Setzung einer angemessenen Frist mit dem Hinweis auf das Verbesserungserfordernis an die Partei zurückstellen (sog Verbesserungsauftrag). Wird diesem Auftrag nicht binnen der von der Behörde festgesetzten Frist nachgekommen, ist das Anbringen von der Behörde zurückzuweisen (§ 13 Abs 3 AVG).
LE 9
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Ist eine Partei im Verfahren vor einer Verwaltungsbehörde nicht durch einen berufsmäßigen Vertreter vertreten (zB Rechtsanwalt), muss die Behörde der Partei die zur Vornahme ihrer Verfahrenshandlungen nötigen Anleitungen geben, der Partei also helfen, dh ihrer „Manuduktionspflicht" nachkommen (manu ducere = an der Hand führen).
2.
Das Ermittlungsverfahren
Der Entscheidung der Behörde geht ein Ermittlungsverfahren voraus, in dem die Behörde den maßgeblichen Sachverhalt erhebt, um auf Grundlage dieser Sachverhaltsermittlung eine Entscheidung fällen zu können. a.
Befangenheit der Behörde
Damit das Verfahren fair abläuft und die Entscheidung sachlich richtig ist, sieht das AVG entsprechende Regelungen vor, die die Unparteilichkeit der Behörde sicherstellen. Wenn das entscheidende Organ befangen ist, etwa weil der Ehegatte oder Verwandte am Verfahren beteiligt sind, hat es seine Befangenheit selbst von Amts wegen wahrzunehmen, sich der Ausübung seines Amtes zu enthalten und seine Vertretung zu veranlassen (§ 7 AVG). Ein Recht der Parteien auf Ablehnung befangener Verwaltungsorgane sieht das AVG demgegenüber nicht vor. Setzt ein befangenes Organ eine Amtshandlung, kann das (nur) im Rechtsmittelweg, insbesondere im Rahmen der Berufung gegen den verfahrensbeschließenden Bescheid von den Parteien angefochten werden. b.
Grundsätze des Ermittlungsverfahrens
Das Ermittlungsverfahren ist das Herzstück des Verwaltungsverfahrens. Es dient allen Parteien dazu, ihre rechtlichen Standpunkte darzulegen und ihre Interessen geltend zu machen. Folgende Grundsätze prägen das Ermittlungsverfahren: (1)
Offizialmaxime und Grundsatz der materiellen Wahrheit
Die Behörde muss den maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen feststellen. Sie ist dabei nicht an Parteienanträge gebunden. Sie ist vielmehr verpflichtet, Die Behörde muss den wahren Sachverhalt von Amts wegen feststellen. alles zu unternehmen, bis sie sich selbst über die wahre Situation im Klaren ist. Ein „Außerstreitstellen“ von Tatsachen durch die Parteien ist nicht möglich. Bsp: Der Gewerbetreibende einigt sich mit dem Nachbarn darauf, dass dieser auf seine Einwendung, die sich auf eine Gefährdung seiner Gesundheit bezieht, gegen eine Betriebsanlage verzichtet, wenn er dafür ein stattliches Entgelt als „Entschädigung“ erhält. Die Behörde muss dennoch alle Interessen der GewO (auch den Schutz des Nachbarn vor Gefährdungen seiner Gesundheit) verfolgen, unabhängig davon, ob ein Nachbar das wünscht oder nicht. (2)
Grundsatz der arbiträren Ordnung
Der Behörde steht es grundsätzlich frei, wie sie das Ermittlungsverfahren durchführt, also ob sie Sachverständige hört, welche Zeugen sie vernimmt etc. Die Behörde bestimmt den Gang des Verfahrens, sie ist „Herrin des Verfahrens“.
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Im Betriebsanlagenverfahren prüft die Behörde nach Einbringen des Ansuchens, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Betriebsanlagenbewilligung erfüllt sind. Sie stellt fest, ob die Schutzinteressen der GewO berührt werden. Die Behörde bestimmt den Gang des Dazu wird sie die Unterlagen selbst prüfen, sie kann Verfahrens. Sachverständigengutachten vom Unternehmer anfordern oder selbst in Auftrag geben, um festzustellen, ob eines der Schutzgüter der GewO berührt wird. Allenfalls veranlasst die Behörde den Antragsteller, fehlende Unterlagen nachzureichen. (3)
Grundsatz der freien Beweiswürdigung
Es gibt keine festen Beweisregeln. Die Behörde würdigt die Beweise nach freier Überzeugung. Sie kann zB dem Gutachten eines Sachverständigen oder der Aussage eines Zeugen glauben oder auch nicht. Allerdings muss die Behörde ihre Entscheidung in der Sache (also über den Bewilligungsantrag für die Betriebsanlage) begründen und somit nachvollziehbar erklären, welche Bedeutung sie welchen Beweismitteln zugemessen hat. Als Beweismittel kann alles verwendet werden, was zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts geeignet ist. Beweismittel können zB sein: Urkunden, Zeugenaussagen, Vernehmung von Beteiligten, Sachverständigengutachten, der Augenschein. (4)
Recht auf Parteiengehör
Die Behörde muss den Parteien die Gelegenheit geben, alles vorzubringen, was den Rechtsstandpunkt der Partei stützt, und sich mit jedem Parteivorbringen auseinandersetzen (auch dann, wenn der Behörde die Sinnhaftigkeit eines Die Parteien müssen gehört werden. Vorbringens nicht einsichtig ist). Das Parteiengehör ist ein ganz besonders wichtiger Grundsatz des Verwaltungsverfahrens. So ist sichergestellt, dass die Interessen und Rechte der Parteien ausreichend berücksichtigt werden. Grundsätzlich kann im Verwaltungsverfahren das Parteiengehör auch ausschließlich schriftlich wahrgenommen werden. Eine Partei kann aber ihr Vorbringen auch mündlich bei der Behörde zu Protokoll geben. In der Praxis laufen viele Verwaltungsverfahren ausschließlich schriftlich ab (zB Verleihung der Staatsbürgerschaft, Anerkennung von Prüfungen nach § 78 UG, Verleihung akademischer Grade etc). Insbesondere sieht das AVG grundsätzlich (Sonderregeln bestehen wiederum für das Verfahren vor den UVS, siehe Punkt IV.A.3) keine verpflichtende mündliche Verhandlung vor, die Behörde hat daher zu entscheiden, ob sie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur vollständigen Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält. In besonderen Konstellationen (zB Betriebsanlagengenehmigungsverfahren, Baugenehmigungsverfahren etc) schreiben aber Materiengesetze die zwingende Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor (so typischerweise für bestimmte bewilligungspflichtige Bauten die einzelnen Bauordnungen, siehe LE 8). (5)
Effizienzprinzip
Die Behörde hat bei der Führung des Verfahrens auf möglichste Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis Rücksicht zu nehmen. Dadurch darf aber weder das Recht auf Parteiengehör geschmälert werden, noch darf die Feststellung der materiellen Wahrheit darunter leiden.
LE 9 c.
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Die mündliche Verhandlung
Wenn die Behörde beschließt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, muss sie den Grundsatz der Parteienöffentlichkeit beachten. Das bedeutet, dass alle am Verfahren teilnehmenden Parteien ein Recht auf Teilnahme an der Verhandlung haben. Im Betriebsanlagenverfahren wird in aller Regel eine Augenscheinsverhandlung, also eine mündliche Verhandlung an Ort und Stelle der zu errichtenden Betriebsanlage, durchgeführt. Sie wird von einem Behördenvertreter geleitet. Ziel der Verhandlung ist es, der Behörde durch unmittelbare Wahrnehmung Informationen über tatsächliche Vorgänge oder Gegebenheiten zu verschaffen. Gleichzeitig wird allen Parteien die Gelegenheit gegeben, zum Projekt Stellung zu nehmen und Einwendungen zu erheben. d.
Präklusion
Damit Parteien die ihnen zukommende Stellung im Verfahren bewahren, müssen sie Einwendungen erheben. Diese Einwendungen müssen rechtserheblich, also rechtlich relevant, und rechtzeitig sein. Rechtserheblich sind Einwendungen dann, wenn sich der Einwand auf ein sich aus einer gesetzlichen Norm ergebendes subjektives Recht der Partei bezieht. Bsp: Aus § 74 Abs 2 Z 2 GewO, wonach Betriebsanlagen bewilligungspflichtig sind, wenn sie geeignet sind, „... die Nachbarn durch Geruch, Lärm, Rauch, Staub, Erschütterung oder in anderer Weise zu belästigen ...“, ergibt sich ein subjektives Recht des Nachbarn, nicht durch die genannten Emissionen in unzumutbarer Weise belästigt zu werden. Darauf kann sich der Nachbar stützen und mittels Einwendung im Verfahren behaupten, durch Lärm, der durch die Betriebsanlage verursacht wird, unzumutbar belästigt zu werden. Kein subjektives Recht des Nachbarn ist hingegen betroffen, wenn die Fabrik seiner Meinung nach die Gegend „verschandelt“ oder den öffentlichen Verkehr beeinträchtigt. Diese öffentlichen Interessen können nicht im Rahmen von Einwendungen im Verfahren vorgebracht werden, sondern sind von der Behörde im gegebenen Fall selbst aufzugreifen und von Amts wegen wahrzunehmen. Einwendungen müssen rechtzeitig, also spätestens am Tag vor Beginn der Verhandlung in mündlicher oder schriftlicher Form bei der Behörde oder während der mündlichen Verhandlung vorgebracht werden. Bsp: Ihr Nachbar errichtet eine Betriebsanlage und die Behörde setzt eine mündliche Verhandlung vor Ort (Augenscheinsverhandlung) an. Zu dieser Verhandlung werden Sie als Nachbar geladen, die Ladung erfolgt durch persönliche Verständigung und durch Anschlag am „Schwarzen Brett“ in Ihrem Haus. Lesen Sie die Ladung und den Anschlag nicht und versäumen Sie deshalb die Verhandlung, so verlieren Sie Ihre Parteistellung. Gibt eine Partei ihre Einwendung zu spät ab oder ist diese nicht rechtserheblich, verliert sie ihre Parteistellung, man spricht von „Präklusion“. Der Verlust der Parteistellung tritt aber nur dann ein, wenn eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat und die Partei über die Anberaumung der Verhandlung im Wege persönlicher Verständigung und/oder durch allgemeine Kundmachung informiert war. Hat keine mündliche Verhandlung stattgefunden oder war die
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Partei hiervon nicht in Kenntnis gesetzt, präkludiert sie nicht, dh sie bleibt Partei des Verfahrens. Der Antragsteller selbst, also der Unternehmer, der die Bewilligung der Betriebsanlage beantragt, kann demgegenüber nicht präkludieren, er verliert seine Parteistellung nicht. Die Präklusion hat zur Folge, dass die Partei ihre Parteistellung und damit die ihr ursprünglich zugekommenen Parteienrechte verliert. Insbesondere kann sie fortan keine Einsicht in die Akten des laufenden Verfahrens nehmen, sie wird von der Behörde nicht mehr gehört, ihr wird der Bescheid über die Erteilung der Bewilligung nicht zugestellt und sie kann gegen die Entscheidung der Behörde kein Rechtsmittel ergreifen. Kurz: Die betroffene Person kann auf das Verfahren keinen Einfluss mehr nehmen. Durch die Präklusionswirkung wird der Kreis der Parteien eines Verfahrens also auf jene Personen eingegrenzt, die sich aktiv am Verfahren beteiligen. Jene Parteien, die keine Einwendungen erheben und somit keine Initiative im Verfahren zeigen, werden demgegenüber vom Verfahren als Parteien ausgeschieden. Auf diese Weise kommt es zu einer Konzentration des Verfahrens: Die Behörde hat sich in weiterer Folge auf die Wahrnehmung der von den verbliebenen Parteien geltend gemachten subjektiven Rechtspositionen und die von Amts wegen wahrzunehmenden Interessen zu beschränken. Einwendungen präkludierter Parteien sind hingegen im weiteren Verfahren unbeachtlich. Um eine Bewilligung der Betriebsanlage zu erreichen, haben Sie einen entsprechenden Antrag an die zuständige Behörde (Magistrat der Stadt Wien) gestellt. Die Behörde hat den Antrag geprüft und eine Augenscheinsverhandlung anberaumt, in der der Betreiber des Hotels seine Einwendungen vorgebracht hat. Er hat seine Parteistellung gewahrt. x
Das vereinfachte Verfahren bei Bagatellanlagen
Wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass von einer Anlage eine abstrakte Gefährdung ausgeht, es aber sicher erscheint, dass Gefährdungen und Belästigungen nicht oder nur in geringem Maß tatsächlich auftreten werden, findet ein vereinfachtes Bewilligungsverfahren statt. Den Nachbarn kommt dabei grundsätzlich keine Parteistellung zu, sie können weder Einwendungen erheben, noch gegen eine Bewilligung berufen. Allein die Behörde ist zum Schutz der Interessen der GewO berufen. Welche Anlagen dem vereinfachten Verfahren zu unterziehen sind, ergibt sich aus § 359b Abs 1 GewO (Verwendung nur typenzugelassener Maschinen oder solcher, die in erster Linie in Privathaushalten Verwendung finden; Betriebsanlagen, deren gesamte Betriebsfläche nicht mehr als 800 m2 beträgt und deren elektrische Anschlussleistung 300 kW nicht übersteigt) und Verordnungen gemäß § 359b Abs 2 und 3 GewO (siehe LE 8). Beachte: Die Bewilligungskriterien sind auch im vereinfachten Bewilligungsverfahren dieselben wie bei einer Normalanlage. e.
Exkurs: Verfahren in Bausachen
Auch in Bausachen, deren materielle Regelungen in die Generalkompetenz der Länder nach Art 15 Abs 1 B-VG fallen, ist der Bundesgesetzgeber zur Regelung des Verfahrens zuständig (Art 11 Abs 2 B-VG: Bedarfsgesetzgebung). Das Verfahren in Bausachen richtet sich in ers-
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ter Linie nach dem AVG. Daneben sind gegebenenfalls Verfahrensvorschriften der Bauordnungen der einzelnen Länder zu berücksichtigen. Im Baurecht findet vergleichbar mit dem Betriebsanlagenrecht eine Bauverhandlung (Augenscheinsverhandlung) statt, zu der neben dem Bauherrn (= Antragsteller bzw Person, die ein Bauwerk errichten will) auch sämtliche Nachbarn zu laden sind. Während dieser Bauverhandlung haben die Nachbarn die Möglichkeit, Einwendungen zu erheben. Die subjektiven Rechte, die zu einer Einwendung berechtigen, sind denen des Betriebsanlagenverfahrens ähnlich. Subjektive Rechte sind: Einhaltung der Abstandsregeln, Einhaltung der Regeln über die Gebäudehöhe, Bestimmungen zum Schutz vor Emissionen etc (vgl § 134a BauO für Wien). Vereinzelt sehen gesetzliche Bestimmungen für den Fall, dass der Schutz vor Emissionen bereits durch andere Bestimmungen bzw durch ein anderes Verfahren (etwa das Betriebsanlagengenehmigungsverfahren) gewährleistet ist, vor, dass aus diesem Grund der Schutz vor Emissionen in einem anderen Verfahren (etwa dem Bauverfahren) kein subjektives Recht mehr begründet (zB § 134a Abs 2 BauO für Wien). Sofern der Hotelbetreiber seine Einwendung bezüglich belästigender Lärmentwicklung schon im Betriebsanlagenverfahren erhoben hat, stünde ihm diese Einwendung in einem Bauverfahren nicht mehr zur Verfügung. In diesem Fall hat sich der Problematik bereits eine Behörde angenommen. Müsste sich nun auch noch eine andere Behörde mit diesem Vorbringen auseinandersetzen, könnte das zu Konflikten führen. Es sollte reichen, wenn eine Behörde im öffentlichen Interesse das Notwendige unternimmt, um den von der Anlage ausgehenden Gefahren entgegenzuwirken. Dem trägt § 134a Abs 2 BauO für Wien Rechnung.
3.
Die Erledigung des Verfahrens: Der Bescheid
a.
Was ist ein Bescheid?
Bescheide sind x
auf Grund eines Verfahrens erlassene
x
konkrete Erledigungen
x
einer Verwaltungsbehörde,
x
die sich ihrem Inhalt nach an individuell bestimmbare Rechtsunterworfene (zB Max Mustermann) richten.
Bescheide sind mit Gerichtsurteilen vergleichbar: Was für den justiziellen Bereich das Urteil ist, ist für den Bereich der Verwaltung der Bescheid. Er ist das zentrale Element des österreichischen Verwaltungsrechts, weil das gesamte Rechtsschutzsystem auf ihn ausgerichtet ist. Bescheide ergehen meist schriftlich. Sie können zwar grundsätzlich auch mündlich verkündet (und diesfalls bloß schriftlich protokolliert) werden, das stellt aber in der Praxis die Ausnahme dar.
Bescheide sind auf Grund eines Verfahrens erlassene individuelle und konkrete Erledigungen einer Verwaltungsbehörde, die sich ihrem Inhalt nach an bestimmte Rechtsunterworfene richten.
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Keine Bescheide sind: x
Verordnungen einer Behörde. Diese sind nicht individuell an bestimmte Personen, sondern wie Gesetze an einen generellen Adressatenkreis gerichtet (zB eine auf Basis der StVO erlassene Verordnung, mit der im Ortsgebiet von Baden eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h angeordnet wird; diese ist an alle Lenker eines Kfz im Ortsgebiet von Baden adressiert).
x
Rechtsgeschäfte, die der Staat im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung abschließt, weil der Staat in diesem Fall nicht mit behördlicher Hoheitsgewalt (= imperium) handelt, sondern privatrechtliche Verträge wie jeder Private abschließt (zB Behörde kauft Computer für ihr Amt).
x
Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (AuvBZ) (zB Festnahme eines randalierenden Fussballrowdies durch die Polizei; Beschlagnahme verdorbener Lebensmittel durch Organe der Lebensmittelaufsicht; im Zuge der Überprüfung einer Betriebsanlage ergehende Anordnung der behördlichen Aufsichtsorgane, eine bestimmte Maschine aufgrund bestehender Explosionsgefahr sofort stillzulegen oder das Lokal wegen Einsturzgefahr sofort zu schließen).
Bescheide weisen gelegentlich Fehler auf; einige davon führen zur Nichtigkeit des Bescheides, andere hingegen berühren das Vorliegen eines Bescheides nicht, sondern machen den Bescheid bloß rechtswidrig und aus diesem Grund anfechtbar („Fehlerkalkül": Differenzierung zwischen der normativen Existenz, die gegeben ist, und der Rechtmäßigkeit eines Rechtsaktes, die in einem solchen Fall fehlt). Welche Folgen bestimmte Fehler haben, ergibt sich aus der Rechtsordnung. Im Rahmen des Fehlerkalküls ist Bescheid-Mindesterfordernisse: die Fehlerhaftigkeit für die Qualifikation eines Rechtsaktes als Behördenqualität der Bescheid irrelevant. bescheiderlassenden Stelle -
Bezeichnung der bescheiderlassenden Stelle Bezeichnung des Adressaten Spruch Unterschrift bzw Feststellbarkeit des Genehmigenden
Ein Bescheid unterliegt nach § 58 AVG bestimmten Inhalts- und Formerfordernissen. Insbesondere ist der Bescheid ausdrücklich als solcher zu bezeichnen, er hat die bescheiderlassende Behörde zu benennen, das Datum der Genehmigung und den Namen des Genehmigenden zu enthalten. Zudem muss der Bescheid einen Spruch und eine Rechtsmittelmittelbelehrung enthalten. Bescheide sind darüber hinaus zu begründen, wenn dem Standpunkt des Antragstellers nicht vollinhaltlich entsprochen wird oder wenn – wie im Betriebsanlagenbewilligungs-verfahren zumeist der Fall – über Einwendungen von Parteien abgesprochen wird. Einige dieser Kriterien sind freilich so wesentlich, dass sie jedenfalls vorliegen müssen, damit überhaupt von einem Bescheid gesprochen werden kann. Fehlen sie, dann kann von vorneherein kein Bescheid entstehen (man spricht davon, dass solche Enunziationen dann „absolut nichtig" sind). Ein Bescheid muss also jedenfalls bestimmte Merkmale aufweisen (sog „Mindesterfordernisse"), um überhaupt einen Bescheid entstehen zu lassen: Aus dem Bescheid muss die bescheiderlassende Stelle hervorgehen (man muss wissen, von wem der Bescheid erlassen wird) und es muss sich dabei um eine Behörde handeln. Unter einer „Behörde" ist im gegebenen Zusammenhang ein Verwaltungsorgan zu verstehen, dem gesetzlich abstrakt die Zu-
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ständigkeit zukommt, Hoheitsakte zu setzen, also insbesondere Bescheide zu erlassen (zB die Bezirkshauptmannschaft, der Magistrat der Stadt Wien, der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit etc). Es kommt dabei nicht darauf an, ob das Verwaltungsorgan (die Behörde) für den konkreten individuellen Rechtsakt zuständig ist (das ist eine Frage der Gesetzmäßigkeit des Bescheides, nicht eine solche, ob es sich überhaupt um einen Bescheid handelt). Bsp: Der ORF ist eine Stiftung des öffentlichen Rechts aufgrund des ORF-Gesetzes. Weder dieses Gesetz noch irgendeine andere gesetzliche Grundlage ermächtigen den ORF allerdings dazu, Hoheitsakte zu setzen, insbesondere Bescheide zu erlassen. Für die Einhebung der Rundfunkgebühren ist aufgrund des Rundfunkgebührengesetzes eine eigene Einrichtung, die GIS (Gebühreninfoservice GmbH) zuständig. Anders als die GIS ist also der ORF keine Behörde. Ein Schreiben des ORF, mit dem Sie aufgefordert werden, Ihre Rundfunkgebühren zu zahlen, kann daher von vorneherein kein Bescheid sein. Aus einem Bescheid muss weiters der Bescheidadressat hervorgehen, dieser muss genau bezeichnet sein. Weiters muss jeder Bescheid einen normativen Ausspruch enthalten, den sog „Spruch" des Bescheides (in der Praxis wird dieser in der Regel auch als solcher bezeichnet und der Bescheid in „Spruch“ und „Begründung“ explizit getrennt – das ist aber keine unbedingte Voraussetzung, es reicht, wenn aus dem Bescheid hervorgeht, wer wem gegenüber was anordnet). Im Unterschied zum Spruch des Bescheides wird mit der Begründung kein normativer Ausspruch getroffen. „Rechtskräftig“ (siehe unten Punkt II.C.3.e) wird daher nur, worüber im Spruch des Bescheides abgesprochen wird. Bsp: Das an Herrn Max Mustermann, Kellergasse 7, 1070 Wien, gerichtete Schreiben: „Sehr geehrter Herr Mustermann! In Beantwortung Ihres Schreibens vom 1.4. dieses Jahres dürfen wir Ihnen mitteilen, dass wir Ihnen für das laufende Studienjahr monatlich € 112,- auf das von Ihnen angegebene Konto zur Förderung Ihres WU-Studiums überweisen werden“, das mit: Brigitte Tiroler, Leiterin der Stipendienstelle Wien, gezeichnet ist, kann durchaus einen Bescheid darstellen, wenn wir wissen, dass Max Mustermann am 1.4. einen Antrag auf Studienbeihilfe nach dem Studienförderungsgesetz gestellt hat, und für seinen Antrag gemäß der §§ 34 und 35 dieses Gesetzes die Stipendienstelle Wien als erstinstanzliche Behörde zuständig ist. Schließlich muss erkennbar sein, wer in einer Behörde den Bescheid „genehmigt" hat. Im Normalfall wird das durch die Unterschrift auf dem Bescheid klargestellt. Es reicht aber auch, wenn die Person, die die Erledigung genehmigt hat, auf andere Weise festgestellt werden kann. Die Rechtsprechung verlangt, dass der Genehmigende eigenhändig einen Vorgang setzt, aufgrund dessen ihm die Erledigung auch in Zukunft jederzeit zugerechnet werden kann und aufgrund dessen die Erledigung faktisch unabänderlich wird (zB Speicherung der Benutzeridentifikation im EDV-System der Behörde). Wenn diese Mindesterfordernisse vorliegen, dann handelt es sich bei einem Schriftstück also um einen „Bescheid". Fehlt eines dieser unabdingbaren Bescheidmerkmale (ist also kein Bescheidadressat erkennbar, stammt das Schriftstück nicht erkennbar von einer Behörde oder enthält es keine normative Aussage), dann entsteht von vorneherein kein Bescheid,
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und zwar auch dann nicht, wenn ein solcher intendiert ist (zB Ihnen der ORF in irrtümlicher Annahme, er sei dazu ermächtigt, einen „Gebührenbescheid" zuschicken wollte). Erfüllt ein konkretes Schriftstück die Mindesterfordernisse und liegt somit ein Bescheid vor, verstößt dieser aber gegen andere Inhalts- oder Formerfordernisse des § 58 AVG, so handelt es sich um einen rechtswidrigen Bescheid. Dieser kann aufgrund eines Rechtsmittels (insbesondere einer Berufung) von der Rechtsmittelinstanz entsprechend abgeändert oder überhaupt aufgehoben werden. Bsp: Ein Bescheid enthält nur den Spruch, dass die beantragte Betriebsanlagenbewilligung versagt wird, aber keinerlei Begründung. Wichtig ist zu sehen, dass auch derartige Fehler nur dann aufgegriffen und beseitigt werden, wenn die Partei, die in ihren subjektiven Rechten betroffen ist, ein entsprechendes Rechtsmittel ergreift oder ausnahmsweise eine Abänderung oder Nichtigerklärung des Bescheides von Amts wegen (in besonders schwerwiegenden Fällen, zB Gefährdung von Leben oder Gesundheit, volkswirtschaftliche Schädigung etc) erfolgt. Bei einigen wenigen der gesetzlichen Anforderungen (insbesondere Bezeichnung des Schriftstückes als „Bescheid" oder Datum der Bescheidausstellung) handelt es sich um „bloße Formvorschriften" oder „Meisterfordernisse", die auf die rechtliche Qualität des Bescheides keine Auswirkungen haben (so ist das Datum der Bescheidausstellung insbesondere für Rechtsmittelfristen nicht relevant, es kommt hierfür vielmehr auf die Zustellung des Bescheides an, siehe unten Punkt III.C.1). b.
Welche Bescheide gibt es?
Im Allgemeinen wird zwischen Leistungs-, Rechtsgestaltungs- und Feststellungsbescheiden unterschieden. x
Leistungsbescheide schreiben die Erfüllung einer bestimmten Leistung vor. Bsp: Strafbescheid, mit dem eine Geldstrafe verhängt wird; Abbruchauftrag nach der Bauordnung; Vorschreibung einer Steuer Leistungsbescheide können, wenn die vorgeschriebene Leistung nicht freiwillig erbracht wird, von der Behörde zwangsweise vollstreckt werden.
x
Rechtsgestaltungsbescheide begründen, gestalten oder heben ein Rechtsverhältnis auf. Bsp: Baugenehmigung, Betriebsanlagengenehmigung, Entzug der Gewerbeberechtigung
Im Betriebsanlagenverfahren entscheidet die Behörde und erlässt einen Bescheid, der die Anlage entweder genehmigt (eventuell unter Vorschreibung von Auflagen) oder das Ansuchen abweist, weil das Projekt nicht genehmigungsfähig ist. x
Feststellungsbescheide stellen das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses mit rechtlicher Verbindlichkeit fest. Bsp: Feststellung, ob es sich um eine Bagatellanlage oder um eine Normalanlage handelt
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Nebenbestimmungen in Bescheiden
Der Spruch des Bescheides kann auch Nebenbestimmungen enthalten. Diese ergänzen die Haupterledigung und können daher nur in Zusammenhang mit dieser ergehen. Zu den Nebenbestimmungen zählen insbesondere Auflagen, Bedingungen und Befristungen. Auflagen können in Zusammenhang mit begünstigenden Bescheiden ergehen. Durch die Auflage werden dem Bescheidadressaten, wenn er die zuerkannte Berechtigung in Anspruch nimmt, Verpflichtungen auferlegt. Gerade im Betriebsanlagenrecht werden dem Bewilligungswerber häufig im Bewilligungsbescheid Auflagen vorgeschrieben, insbesondere im Anschluss an ein Sachverständigengutachten. In der Regel wirkt die Behörde dabei darauf hin, dass ihre Entscheidung im Konsensweg zwischen Gewerbetreibenden, Nachbarn und Behörde erreicht wird. Dadurch wird sichergestellt, dass sowohl die Interessen des Gewerbetreibenden ausreichend berücksichtigt werden und somit die Einhaltung der Auflagen gewährleistet erscheint, als auch den Bedenken der Nachbarn angemessen entsprochen wird. Die Behörde hat die Einwendungen des Hotelbesitzers gewürdigt und einen Bescheid mit folgenden Auflagen vorgeschrieben: Verwendung von schalldichten Türen und Fenstern, Geschlossenhalten von Türen und Fenstern während der Betriebszeiten. Bedingungen machen demgegenüber den Eintritt oder das Erlöschen der im Bescheid angeordneten Berechtigung oder Verpflichtung von einem zukünftigen ungewissen Ereignis (zB vom Handeln einer dritten Person) abhängig. Aufschiebende Bedingungen knüpfen den Rechtserwerb bzw das Entstehen einer Verpflichtung, auflösende Bedingungen das Erlöschen eines Rechts bzw einer Verpflichtung an den Eintritt eines solchen Ereignisses. Bsp: Die Bewilligung zum Bau eines Schleppliftes wird, um eine sinnvolle Erschließung des Schigebiets zu gewährleisten, an die Bedingung geknüpft, dass in demselben Schigebiet auch mit der Errichtung eines Sesselliftes begonnen wird. Die Befristung verknüpft den Eintritt oder die Beendigung der im Bescheid ausgesprochenen Berechtigung oder Verpflichtung mit einem zukünftigen gewissen Ereignis (zB Datum, Ablauf einer Zeitspanne). d.
Wie wird ein Bescheid erlassen?
In der österreichischen Rechtsordnung kann – der von der Bundesverfassung vorgesehenen strikten Bindung der Verwaltung an das Gesetz zufolge (sog Legalitätsprinzip gem Art 18 BVG, dazu noch unten Punkt III.A) – ein Bescheid immer nur das Ergebnis der Anwendung eines Gesetzes oder einer Verordnung auf einen Sachverhalt Erlassen ist der Bescheid mit seiner Zustellung oder mündlichen Verkündung. durch eine Behörde sein. Die Behörde hat dabei grundsätzlich von der Rechtslage im Zeitpunkt ihrer Entscheidung auszugehen, sie muss also Rechtsänderungen bis zu ihrer Entscheidung berücksichtigen. Bei der Entscheidungsfindung kann der Behörde vom Gesetz mitunter auch Ermessen, also ein gewisser Entscheidungsspielraum, eingeräumt sein (siehe dazu LE 2). „Erlassen“ ist der Bescheid erst mit der mündlichen Verkündung oder – was praktisch der Regelfall ist – mit Zustellung an den Adressaten (Näheres dazu unten Punkt II.5). Der Zeit-
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punkt der Erlassung ist wichtig, da damit die Fristen zur Erhebung von Rechtsmitteln zu laufen beginnen. e.
Wann ist der Bescheid rechtskräftig und was bedeutet das?
Rechtskraft bedeutet Unabänderlichkeit des Bescheides: Grundsätzlich sollen ab einem gewissen Zeitpunkt Bescheide nicht mehr abgeändert werden können, selbst dann nicht, wenn sie rechtswidrig sind. Dadurch wird dem Wert der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens Vorrang vor jenem der Rechtsrichtigkeit (Rechtmäßigkeit) eingeräumt. Man unterscheidet zwischen formeller und materieller Rechtskraft: Formell rechtskräftig ist ein Bescheid, wenn er mit ordentlichen Rechtsmitteln (zB Berufung) nicht mehr bekämpft werden kann. Eine solche „Unanfechtbarkeit“ tritt mit der Erlassung der letztinstanzlichen Berufungsentscheidung (zB Entscheidung der LReg, des BM, der UVS), mit ungenütztem Verstreichen der Rechtsmittelfrist, mit Rechtsmittelverzicht oder auch mit Zurückziehung eines eingebrachten ordentlichen Rechtsmittels ein. Folge der formellen Rechtskraft ist die materielle Rechtskraft, derzufolge der betreffende Bescheid grundsätzlich unwiderrufbar, unwiederholbar und verbindlich ist. Das bedeutet, dass die Behörde nicht in derselben Angelegenheit ihre frühere Materielle Rechtskraft: Unanfechtbarkeit Entscheidung widerrufen oder abändern kann. Auch die Partei Unwiderrufbarkeit kann in derselben Sache nicht nochmals eine Entscheidung Unwiederholbarkeit begehren. Der Bescheid wird durch den Eintritt der Rechtskraft Verbindlichkeit zu einer auf den Bescheidempfänger speziell zugeschnittenen (individuellen) verbindlichen Rechtsnorm: So sind etwa der Unternehmer und die Nachbarn an den rechtskräftigen Bescheid über die Bewilligung der Errichtung bzw des Betreibens der Betriebsanlage gebunden. Bsp: Wenn die Landesregierung von Wien als zuständige Staatsbürgerschaftsbehörde (sie entscheidet in erster und letzter Instanz) eine Staatsbürgerschaft verleiht, ist dieser Bescheid nach Erlassung rechtskräftig und verbindlich. Bsp: Hat der UVS ein erstinstanzliches Straferkenntnis vollinhaltlich bestätigt, ist der entsprechende Bescheid des UVS – da dieser in zweiter und letzter Instanz entscheidet – ab Zustellung rechtskräftig und verbindlich. Die durch die Rechtskraft bewirkte Unabänderlichkeit des Bescheides ist aber relativ. Denn die Rechtsordnung sieht ausnahmsweise Durchbrechungen der Rechtskraft vor (zB Antrag auf Wiederaufnahme, Vorschreibung nachträglicher Auflagen für Betriebsanlagen). f.
Persönliche und dingliche Wirkung des Bescheides
Bescheide entfalten grundsätzlich persönliche Wirkung. Das bedeutet, sie richten sich an einen individuell-konkreten Adressaten oder Adressatenkreis (das sind jene Personen, die am Verfahren teilgenommen haben und denen gegenüber der Bescheid erlassen wurde) und entfalten diesem gegenüber ihre Rechtswirkungen (durch Berechtigung oder Verpflichtung). Da es dabei auf persönliche Umstände des Berechtigten bzw des Verpflichteten ankommt, gelten die mit dem Bescheid verbundenen Rechte und Pflichten nur gegenüber den Bescheidadressaten (zB sind die Gewerbeberechtigung, die Verleihung der Staatsbürgerschaft
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oder die sich aus dem Sponsionsbescheid ergebende Berechtigung zur Führung eines akademischen Grades nicht übertragbar). Der anlagenrechtliche Bewilligungsbescheid ist demgegenüber ein Beispiel für einen Bescheid, dem dingliche Wirkung zukommt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Bescheid an der Betriebsanlage und nicht am Unternehmer „haftet“. Gegenstand der Bewilligung ist die Anlage, nicht ihr jeweiliger Inhaber. Wird die Betriebsanlage veräußert, geht die Bewilligung daher auf den Erwerber der Betriebsanlage über.
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Exkurs: Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt
Prinzipiell bedarf ein verwaltungsbehördlicher Eingriff in subjektive Rechte der Rechtsunterworfenen einer bestimmten Form, nämlich der des Bescheides. Voraussetzung für die Erlassung eines Bescheides ist die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens. Mitunter ist in Gesetzen und Verordnungen aber vorgesehen, dass Verwaltungsbehörden ohne ein vorangehendes Verfahren in die subjektiven Rechte von Personen eingreifen dürfen. Das B-VG bezeichnet solche „verfahrensfreien Verwaltungsakte“ als Akte der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (vgl Art 129a Abs 1 Z 2 B-VG). Darunter ist eine individuell an einen bestimmten Adressaten gerichtete einseitige Erteilung eines Befehls bzw die Ausübung von Zwang durch ein Verwaltungsorgan im Rahmen der Hoheitsverwaltung zu verstehen. Bsp: Festnahme durch die Polizei auf Grundlage des VStG; Entnahme von Warenproben durch die Lebensmittelbehörde; Beschlagnahme von Gegenständen durch Organe der öffentlichen Aufsicht auf Grundlage des VStG; Schließung eines Gewerbebetriebes durch die Gewerbebehörde; vorläufige Abnahme des Führerscheins durch die Polizei.
5.
Zustellung und Fristen
Ein Bescheid muss allen am Verfahren beteiligten Parteien zugestellt werden. Die Zustellung ist Voraussetzung dafür, dass ein Bescheid gegenüber dem Bescheidadressaten rechtlich wirksam wird. Die Zustellung kann entweder durch die Post (Regelfall) oder durch Organe der Behörden bzw Gemeinden vorgenommen werden oder aber Ohne Zustellung kein Fristenlauf elektronisch über sog Zustelldienste erfolgen, sofern der Empfänger sich bei einem solchen Zustelldienst registriert hat. Näher geregelt wird das Zustellwesen im Zustellgesetz. Auf nichtelektronischem Weg können behördliche Dokumente entweder ohne Zustellnachweis (zB durch Einwurf in den Postkasten des Empfängers) oder mit einer Bestätigung der Übergabe an den Empfänger durch den Zusteller (Postbote) auf einem sog Rückschein (RS) zugestellt werden. Dabei wird unterschieden, ob das Dokument ausschließlich dem Empfänger zuzustellen ist (RSa), oder ob das Schriftstück bei Abwesenheit des Empfängers auch von Ersatzempfängern an der gleichen Adresse (zB Eltern, Ehepartnern, Angestellten) entgegengenommen werden darf (RSb). Bei der elektronischen Zustellung wird der Empfänger – im Regelfall per E-Mail – verständigt, dass das zuzustellende Dokument auf einem Server zu Abholung bereit liegt. Der Zeitpunkt der Zustellung ist vor allem deshalb so wichtig, weil ab diesem Zeitpunkt die Fristen für die Erhebung von Rechtsmitteln zu laufen beginnen. Bspw muss eine Berufung binnen zwei Wochen ab Bescheidzustellung erhoben werden (§ 63 Abs 5 AVG). Der mit Auflagen versehene Bescheid des Magistrats über die betriebsanlagenrechtliche Genehmigung Ihrer Disco muss Ihnen und dem Hotelbesitzer zugestellt werden.
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III. Rechtsschutz Mit Hilfe eines Rechtsmittels ist es einer Partei eines Verfahrens möglich, die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen. Das ist ein wesentliches Element des Rechtsstaates, da es möglich sein muss, dass Fehler von Staatsorganen verhindert oder korrigiert werden. Auch für den Staat (Bund, Länder und Gemeinden) und ihre Organe können, wie bei jeder juristischen Person, letztlich nur Menschen handeln („Organwalter" – siehe LE 2). Wo Menschen tätig sind, passieren Fehler. Die Rechtsordnung rechnet von vorneherein mit diesem Umstand und der Rechtsstaat als „Rechtsschutzstaat" muss entsprechende Verfahren zur Verfügung stellen, in denen behauptete Fehler von Vollzugsakten beseitigt werden können. Das hat auch die Konsequenz, dass der Rechtsstaat davon ausgeht, dass der Einzelne „seine Sache" auch selbst in die Hand nimmt und betreibt. Auf der anderen Seite gibt es auch ein wesentliches Interesse an Rechtssicherheit, also daran, dass Vollzugsakte – insbesondere dann, wenn Personen daraus eine Berechtigung, also ein „Recht" erwachsen ist (zB Betriebsanlagengenehmigungsbescheid im Hinblick auf den Anlagenbetreiber) – nicht zeitlich unbegrenzt von einer Aufhebung durch Rechtsmittelinstanzen bedroht sind. Wer etwa aus einem Bescheid ein Recht erhalten hat, möchte sich darauf Die Möglichkeit von Rechtsmitteln ist ein auch zukünftig verlassen können. Daher knüpft die Merkmal des Rechtsstaates. Rechtsordnung typischerweise die Geltendmachung von Rechtsmitteln und damit die Bekämpfung von Fehlern an Fristen („Rechtsmittelfristen"). Wer einen an ihn als Partei gerichteten Bescheid nicht innerhalb der Rechtsmittelfristen wegen einer allfälligen Rechtswidrigkeit bekämpft, der nimmt in Kauf, dass der Bescheid, so wie er ist, unabänderlich verbindlich wird (man spricht von „Rechtskraft", siehe oben Punkt II.C.3.e). Bsp: Ihr Einkommensteuerbescheid weist im Spruch eine bestimmte Bemessungsgrundlage und auf dieser Basis die Festsetzung der Einkommenssteuer für das konkrete Steuerjahr aus. Sie lesen den Bescheid nicht so genau, die Summe der zu entrichtenden Einkommenssteuer kommt Ihnen plausibel vor und Sie erheben daher kein Rechtsmittel. Im Folgejahr kommen Sie bei der Erstellung Ihrer Steuererklärung zur Einsicht, dass das Finanzamt bei der Festsetzung der Bemessungsgrundlage einen Anlagegegenstand nicht als Betriebsvermögen anerkannt und daher die entsprechende im Vorjahr erstmals von Ihnen geltend gemachte AfA (Absetzung für Abnutzung) ebenfalls nicht als Betriebsausgabe anerkannt hat. Sie können daher auch in diesem nachfolgenden Steuerjahr keine AfA mehr geltend machen.
A.
Rechtsstaatsprinzip und Rechtsschutz
Eines der Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung ist das Rechtsstaatsprinzip. Das diesem Prinzip zugehörige Legalitätsprinzip (Art 18 B-VG) besagt, dass die gesamte staatliche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt Legalitätsprinzip: Die gesamte staatliche werden darf (siehe auch LE 2). Daraus ergibt sich die Verwaltung darf nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden. Notwendigkeit, die Einhaltung der Verfassung und der Gesetze durch entsprechende Einrichtungen zu sichern.
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Im Bereich des Verwaltungsrechtes ist das wichtigste Rechtsmittel gegen einen rechtswidrigen Bescheid die Berufung (§§ 63 ff AVG). Darüber hinaus bietet das AVG noch Rechtsbehelfe wie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung (§ 71 AVG) und den Devolutionsantrag bei Säumnis der Behörde (§ 73 AVG). Zu den außerordentlichen Rechtsmitteln zählt der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. x
Ordentliche Rechtsmittel richten sich gegen einen Bescheid und schließen bei rechtzeitiger Einbringung den Eintritt der formellen Rechtskraft aus. Dazu gehören die Berufung (§§ 63 ff AVG), welche devolutiv ist, dh eine übergeordnete Behörde zur Entscheidung beruft, und die remonstrative Vorstellung gegen einen Mandatsbescheid (§ 57 AVG).
x
Außerordentliche Rechtsmittel sind ebenfalls gegen einen Bescheid gerichtet, der allerdings bereits rechtskräftig ist. Dazu gehören der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gem § 69 AVG und die gegen letztinstanzliche Bescheide gerichteten Beschwerden an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts.
x
Rechtsbehelfe schließlich erfordern keinen Bescheid (Antrag auf Wiedereinsetzung gem § 71 AVG, Devolutionsantrag gem § 73 AVG).
Sinn und Zweck eines Rechtsmittels oder -behelfes ist die (Ermöglichung der) Kontrolle von verwaltungsbehördlichen Entscheidungen durch eine im administrativen Instanzenzug übergeordnete Behörde oder durch die UVS der Länder und die Beseitigung rechtswidrigen Verhaltens, das in subjektive Rechte des Rechtsmittelwerbers eingreift. Eine ausschließlich von Verwaltungsbehörden wahrgenommene Überprüfung von Verwaltungsakten reicht rechtsstaatlich allerdings nicht aus. Das B-VG sieht daher zusätzlich gerichtliche Kontrollmechanismen vor, wozu vor allem die Kontrolle des Verwaltungshandelns durch den VwGH und den VfGH zählen. Auf diesem Weg können Entscheidungen auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung (o VfGH, siehe LE 4) sowie mit einfachen Gesetzen und Verordnungen (o VwGH, siehe unten Punkt IV.B) überprüft werden.
B.
Der administrative Instanzenzug
Welche Behörde über Rechtsmittel und -behelfe gegen Entscheidungen von Verwaltungsbehörden zu befinden hat, bemisst sich nach dem B-VG (beispielsweise nach der Kompetenzverteilung und nach den Bestimmungen über die UVS) und nach auf Grund des B-VG erlassenen Regelungen (vgl Art 129a Abs 1 Z 3 B-VG). Die „Reihenfolge“, in der die Behörden entscheiden, bezeichnet man als administrativen Instanzenzug. Der Instanzenzug wird vom jeweils nach der Kompetenzverteilung zuständigen Materiengesetzgeber in den einzelnen Gesetzen festgelegt. Ist das nicht der Fall, gilt nach der Judikatur des VfGH der Grundsatz, dass der Instanzenzug zur jeweils obersten Verwaltungsbehörde des jeweiligen Vollzugsbereichs (Bundes- oder Landesverwaltung) geht. Bsp: Der LH entscheidet über eine Berufung gegen einen Bescheid einer BVB, in dem über den obertägigen Abbau von Erzen abgesprochen wird (vgl § 171 Mineralrohstoffgesetz).
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1.
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Mittelbare Bundesverwaltung
Von der mittelbaren Bundesverwaltung spricht man immer dann, wenn eine Angelegenheit, deren Verwaltung dem Bund zugewiesen ist, durch Behörden der Länder vollzogen wird. Die Vollziehung von Angelegenheiten des Bundes (die Materien, in denen der Bund zuständig ist, sind in Art 10 B-VG einzeln aufgelistet) durch Instanzenzug: BVB o LH Landesbehörden – also die mittelbare Bundesverwaltung – stellt LH o BM den verfassungsrechtlichen Grundtypus dar. Der Instanzenzug im Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung ist grundsätzlich zweigliedrig. Entscheidet in erster Instanz die BVB, ist der LH Berufungsbehörde. Abweichend von diesem Grundsatz sind zunehmend in Materiengesetzen die UVS als Berufungsbehörden vorgesehen. Das hat, wie etwa im Häufige Ausnahme: Betriebsanlagenrecht, zur Folge, dass der LH gegenüber den BVB o UVS BVB zwar noch ein Weisungsrecht hat, über Berufungen gegen Bescheide der BVB aber der UVS entscheidet (Weisungszusammenhang und Instanzenzug fallen also auseinander). Bsp: Der UVS entscheidet über eine Berufung gegen einen Bescheid einer BVB, in dem Auflagen zum Betrieb einer Betriebsanlage vorgeschrieben sind (vgl § 359a GewO). Den Bescheid der Behörde, mit dem Ihnen zusätzliche Auflagen auferlegt werden, können Sie mit dem Rechtsmittel der Berufung bekämpfen. Berufungsbehörde ist der jeweils örtlich zuständige UVS, hier also der UVS Wien. Entscheidet der LH in erster Instanz, geht der Instanzenzug – sofern bundesgesetzlich nichts anderes bestimmt ist – bis zum zuständigen BM. Auch hier besteht somit grundsätzlich ein zweigliedriger Instanzenzug. Verschiedentlich sehen allerdings Gesetze Abweichungen von diesem Grundsatz vor. Gesondert ist der Instanzenzug in Wien geregelt, weil Wien eine Sonderstellung als Bundesland und Gemeinde (womit Landes-, Bezirksverwaltungs- und Gemeindezuständigkeiten „zusammenfallen“) einnimmt. Als „Faustregel“ kann man davon ausgehen, dass zumeist in der ersten Instanz der Magistrat der Stadt Wien zuständig ist (in der Praxis hat man es dabei mit den weitgehend eigenständig agierenden „Magistratsabteilungen“ zu tun, rechtlich gesehen bildet der Magistrat der Stadt Wien jedoch eine Einheit). Ab der zweiten Instanz sind die Zuständigkeiten dann aufgrund der Bundesverfassung und den speziellen Vorschriften der Wiener Stadtverfassung unterschiedlich geregelt. Wesentliche Berufungszuständigkeiten nimmt der „Berufungssenat der Stadt Wien“ wahr. Es gibt aber auch eine Reihe von Sonderzuständigkeiten, wie etwa die „Bauoberbehörde“ als zweite Instanz in Baurechtssachen.
2.
Unmittelbare Bundesverwaltung
Neben dem Bereich der mittelbaren Bundesverwaltung gibt es den Bereich der unmittelbaren Bundesverwaltung, in dem der Bund organisatorisch durch Instanzenzug bis zum obersten Organ eigene Behörden tätig wird (zB Bundespolizeidirektion, Militärkommanden, Finanzverwaltung, Arbeitsmarktverwaltung). Im Gegensatz zur mittelbaren Bundesverwaltung gibt es keine ausdrückliche bundesverfassungsgesetzliche Regelung
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über den Instanzenzug. Vom VfGH wird jedoch angenommen, dass der Instanzenzug bis zum obersten Organ der Bundesverwaltung reicht, also bis zum zuständigen BM bzw zur BReg, wenn nicht durch einfaches Bundesgesetz anderes bestimmt ist. Eine Materie fällt in die unmittelbare Bundesverwaltung, wenn für sie in Art 10 B-VG die Vollziehung in der Bundesverwaltung vorgesehen ist und Art 102 Abs 2 B-VG zusätzlich vorsieht, dass sie in unmittelbarer Bundesverwaltung vollzogen werden kann (ansonsten: mittelbare Bundesverwaltung), soweit der einfache Gesetzgeber die Vollziehung tatsächlich eigenen Bundesbehörden überträgt. Bsp: Den großen Bereich der Finanzverwaltung vollzieht der Bund durch eigene Organe. Wenn Sie also in Österreich Steuern zahlen müssen, so wenden Sie sich an das für Sie zuständige Finanzamt, welches im Gegensatz zu den BVB eine bundeseigene (Finanz)Behörde ist. Der Instanzenzug in Steuerangelegenheiten geht in der Regel zum Unabhängigen Finanzsenat (UFS).
3.
Landesverwaltung
Besteht nach den Kompetenzartikeln keine ausdrückliche Bundeskompetenz in einer Sache, wird diese im Wirkungsbereich der Länder geregelt und vollzogen (sog Generalklausel in Art 15 B-VG: alles, was nicht dem Bund zugewiesen ist, ist zwingend Landessache; Art 15 BVG enthält keine ausdrückliche Auflistung der Landeskompetenzen, daher die Bezeichnung als „Generalklausel“). Darüber hinaus werden auch im Bereich des Art 11 B-VG Bundesgesetze durch die Länder vollzogen, und Art 12 B-VG sieht vor, dass der Bund in bestimmten Materien Grundsatzgesetze erlassen kann, die von den Landesgesetzgebern durch Landesgesetze ausgestaltet werden. Auch letztere werden von den Ländern vollzogen. In der Landesverwaltung besteht keine explizite bundesverfassungsgesetzliche Regelung über den Instanzenzug. Grundsätzlich reicht der Instanzenzug bis zum obersten Organ der Landesverwaltung, also bis zur LReg (vgl Art 101 Abs 1 B-VG). Damit ergibt sich ein zweigliedriger Instanzenzug von der BVB zur LReg. Allerdings kann der Instanzenzug durch einfaches Landesgesetz abgeändert werden. Bsp: Auf Ihrem Grundstück in Lilienfeld (NÖ) befindet sich eine hundertjährige Eiche, die Sie zum Naturdenkmal erklären lassen wollen. Einen diesbezüglichen Antrag stellen Sie an die Bezirkshauptmannschaft Lilienfeld (BVB). Sollten Sie mit der Entscheidung der BH Lilienfeld nicht zufrieden sein, können Sie mittels Berufung bei der NÖ LReg eine Überprüfung des Bescheides der BVB erreichen.
4.
Gemeindeverwaltung
Für den Bereich der Gemeindeverwaltung muss zwischen Angelegenheiten des eigenen und Angelegenheiten des übertragenen Wirkungsbereiches unterschieden werden. Der eigene Wirkungsbereich umfasst Angelegenheiten, die im ausschließlichen oder überwiegenden Interesse der Gemeinde liegen und geeignet sind, Eigener Wirkungsbereich – übertragener innerhalb der örtlichen Grenzen durch die Gemeinde besorgt zu Wirkungsbereich werden (Art 118 Abs 2 B-VG). Eine demonstrative Aufzählung findet sich in Art 118 Abs 3 B-VG. In Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches ist
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der Instanzenzug in der jeweiligen Gemeindeordnung geregelt. In der Regel entscheidet der Bgm in erster Instanz, in zweiter und letzter Instanz der Gemeinderat. Bsp: Über die Erlassung einer Baubewilligung entscheidet in erster Instanz der Bürgermeister, der Instanzenzug geht zum Gemeinderat. Für Wien richtet sich der Instanzenzug im Baurecht nach besonderen Regelungen: Erste Instanz in Bauverfahren ist der Magistrat, die Entscheidung in oberster Instanz steht der Bauoberbehörde zu. Angelegenheiten des übertragenen Wirkungsbereiches besorgt die Gemeinde nach Maßgabe von Bundes- oder Landesgesetzen im Auftrag und nach den Weisungen des Bundes bzw der Länder. Die Zuständigkeit in erster Instanz obliegt dem Bgm (Art 119 Abs 1 B-VG). Nach den oben dargestellten Grundsätzen der Bundes- bzw Landesverwaltung können die jeweils übergeordneten Organe der Landes- oder Bundesverwaltung in zweiter Instanz angerufen werden. Bsp: Gem § 13 Meldegesetz sind die Meldebehörden die Bürgermeister. Über Berufungen gegen Bescheide der Meldebehörden hat in letzter Instanz die Sicherheitsdirektion zu entscheiden.
5.
Gesondert geregelte Instanzenzüge
Für einige Verwaltungsmaterien sind zum Teil besondere Instanzenzüge vorgesehen. So ist der unabhängige Umweltsenat (UUS) oberste Rechtsmittelbehörde in Umweltverträglichkeitsprüfungsverfahren (Art 11 Abs 7 und 8 B-VG), in Asylsachen erkennt nach Erschöpfung des Instanzenzuges der Asylgerichtshof (AsylGH) (Art 129c B-VG).
C.
Berufung
Da Sie nun wissen, welche Behörde über eine Berufung gegen den Bescheid entscheiden wird, beschließen Sie, dieses Rechtsmittel zu ergreifen. Allerdings stellt sich nun für Sie die Frage, bei welcher Behörde die Berufung einzubringen ist und welche Fristen dafür vorgesehen sind. Die Berufung ist das ordentliche Rechtsmittel gegen Bescheide. Die Berufung ist ein aufsteigendes (devolutives) Rechtsmittel, das heißt, dass die im Berufung = aufsteigendes Rechtsmittel Instanzenzug übergeordnete Behörde über die Berufung entscheidet. Daher ist eine Berufung nur dann möglich, wenn überhaupt noch ein Instanzenzug offen steht.
1.
Berufungslegitimation und Berufungsfrist
Zur Berufung legitimiert sind nur die Parteien des Verfahrens. Verzichtet eine Partei ausdrücklich auf die Möglichkeit einer Berufung oder zieht sie ihre Berufung zurück, geht die Berufungslegitimation verloren. Der Verzicht auf die Erhebung der Berufung ist erst nach Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides möglich und kann, wie auch die Zurückziehung einer Berufung, nicht widerrufen werden.
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Die Berufung ist binnen einer gesetzlichen Frist von 2 Wochen ab Zustellung des Bescheides an die Partei vollständig einzubringen. Sofern in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheides (irrtümlich) eine längere als die zweiwöchige Berufungsfrist angegeben ist, ist die längere Frist maßgeblich. Ansonsten kann die Binnen gesetzlicher Frist (2 Wochen) vollständig bei 1. Instanz einzubringen Berufungsfrist nicht verlängert werden (vgl § 33 Abs 4 AVG). Einzubringen ist die Berufung bei jener Behörde, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Wird die Berufung fristgemäß bei der Berufungsbehörde eingebracht, gilt sie ebenfalls als rechtzeitig eingebracht, wobei die betreffende Behörde die Berufung unverzüglich an die erstinstanzliche Behörde weiterzuleiten hat. Ist die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheides unrichtig oder enthält sie keine Angaben über die Einbringungsbehörde, gilt die Berufung als richtig eingebracht, wenn sie bei der genannten oder der bescheidausstellenden Behörde eingebracht wird (vgl im Einzelnen § 61 AVG). Gegen den Bescheid können Sie Berufung an den UVS Wien erheben. Sie müssen die Berufung binnen zwei Wochen ab Zustellung bei der Behörde erster Instanz, also dem Magistrat Wien, einbringen.
2.
Form und Inhalt der Berufung
Die Berufung ist schriftlich einzubringen (vgl § 13 Abs 1 und 2 AVG), wobei insbesondere auch das Einbringen per Telefax oder im Wege Berufung ist schriftlich einzubringen automationsunterstützter Datenverarbeitung zulässig ist. Die Berufung muss einen gewissen Mindestinhalt aufweisen: x
Bezeichnung des Bescheides: Die Berufung muss den angefochtenen Bescheid bezeichnen. Ist der Spruch des Bescheides teilbar, kann auch nur ein Teil mit Berufung angefochten werden. Die nicht von der Berufung umfassten Teile werden dann Mindestinhalt der Berufung: rechtskräftig. Die Berufungsbehörde ist insoweit an die 1. Bezeichnung des Bescheides 2. Berufungsantrag Bezeichnung in der Berufung gebunden und darf den 3. Begründung Bescheid grundsätzlich nur in diesem Umfang überprüfen.
x
Berufungsantrag: Der Berufungswerber muss deutlich machen, ob er eine Aufhebung oder welche Abänderung des angefochtenen Bescheides er anstrebt.
x
Begründung des Berufungsantrags: Der Berufungsantrag muss begründet sein. Es muss zumindest erkennbar sein, worauf sich die Partei zu stützen glaubt. Ob die Begründung inhaltlich stichhältig ist, ist für die Zulässigkeit einer Berufung irrelevant.
In der Berufung können Sie vorbringen, dass die vorgeschriebenen neuen Auflagen nicht der GewO entsprechen. Gemäß § 79 GewO müssen nachträgliche Auflagen nämlich verhältnismäßig sein. Der mit der Erfüllung verbundene Aufwand muss mit dem durch die Auflage angestrebten Erfolg im Verhältnis stehen. Um diese Verhältnismäßigkeit zu gewährleisten, muss einerseits der durch die Auflage erwartete Erfolg und andererseits der
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mit der Auflage verbundene Aufwand von der Behörde festgestellt werden, um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen zu können. Dies ist hier nicht geschehen, da die Behörde eine Lärmbelästigung um 5 dB in einem einzigen Hotelzimmer gemessen und festgestellt hat. Es ist Ihrer Meinung nach unverhältnismäßig, dass Sie die Lautstärke Ihrer Musikanlage beschränken müssen, damit in einem einzigen Hotelzimmer (dort wo gemessen wurde) keine Lärmbelästigung in der Höhe von 5 dB auftritt. Ob auch in anderen Hotelzimmern Belästigungen auftreten, wurde von der Behörde nicht festgestellt. Somit kann gesagt werden, dass der mit der Auflage verbundene Aufwand (Beschränkung der Musiklautstärke und dadurch verursachte schwere Umsatzeinbußen) nicht im Verhältnis zum angestrebten Erfolg (Einschränkung der Lärmbelästigung um 5 dB auf das zumutbare Maß in einem einzigen Hotelzimmer) steht. Im Berufungsverfahren besteht kein Neuerungsverbot, dh der Berufungswerber kann in der Berufung auch neue, im erstinstanzlichen Verfahren nicht behandelte Tatsachen und Beweise vorbringen. In diesem Fall hat die Behörde die anderen Kein Neuerungsverbot im Verwaltungsverfahren Parteien des Verfahrens (Berufungsgegner) unverzüglich zu unterrichten und ihnen Gelegenheit zu geben, innerhalb einer angemessenen, maximal zweiwöchigen Frist vom Inhalt der Berufung Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Eine rechtzeitig eingebrachte und zulässige Berufung hat aufschiebende Wirkung, dh der angefochtene Bescheid erwächst nicht in Rechtskraft und wird damit auch nicht vollstreckbar. Die Behörde kann aber die aufschiebende Wirkung ausschließen, wenn die vorzeitige Vollstreckung im Interesse einer Partei oder des öffentlichen Wohls Zulässige und rechtzeitige Berufung hat wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist. Diesfalls wird aufschiebende Wirkung der Bescheid zwar nicht rechtskräftig, er ist aber vorzeitig vollstreckbar.
3.
Entscheidung über die Berufung
Sie bringen Ihre Berufung beim Magistrat Wien als Einbringungsbehörde ein. Kurz darauf erhalten Sie eine „Entscheidung“ über Ihre Berufung vom Magistrat und Sie fragen sich, warum schon wieder die erstinstanzliche Behörde entscheidet. a.
Berufungsvorentscheidung
Mit der Entscheidung über die Berufung ist zunächst die Behörde befasst, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat. Sie kann binnen 2 Monaten nach Einlangen der Berufung über diese absprechen, indem sie den angefochtenen Bescheid aufhebt, abändert oder als unzulässig oder verspätet zurückweist (nicht aber die Berufung zur Berufungsvorentscheidung binnen zwei Gänze abweist). Ob die Behörde eine solche Monaten möglich Berufungsvorentscheidung (§ 64a AVG) erlässt, liegt in ihrem Ermessen, bei dessen Ausübung sie abzuwägen hat, ob der Berufungswerber die Berufungsvorentscheidung akzeptieren wird und damit eine endgültige Erledigung erwartet werden kann.
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Gegen die Berufungsvorentscheidung, die in Bescheidform ergeht, kann jede Partei innerhalb von 2 Wochen nach Zustellung das Rechtsmittel des Vorlageantrags erheben und darin beantragen, dass die Berufung der Berufungsbehörde zur Entscheidung vorgelegt wird. Die Berufungsvorentscheidung tritt damit außer Kraft und die Sache ist von der Berufungsbehörde in Behandlung zu nehmen. Der Vorlageantrag ist bei der Behörde einzubringen, die die Berufungsvorentscheidung erlassen hat. Nachdem die Berufungsvorentscheidung des Magistrats Wien den Bescheid zwar in manchen Punkten abgeändert hat, dieser aber noch immer nicht Ihren Vorstellungen entspricht, stellen Sie einen Vorlageantrag, da Sie wollen, dass der Bescheid von einer im Instanzenzug übergeordneten Behörde überprüft wird. b.
Entscheidung der Berufungsbehörde
Da es im Verwaltungsverfahren kein Neuerungsverbot gibt, steht der Berufungsbehörde die gleiche umfassende Entscheidungsbefugnis wie der unterinstanzlichen Behörde zu, sie entscheidet daher „in der Sache selbst“. Sie ist berechtigt, ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern (§ 66 Abs 4 AVG). Auch für die Berufungsbehörde gelten die Grundsätze des AVG, insbesondere daher auch die Offizialmaxime und der Grundsatz der materiellen Wahrheit. Grundsätzlich entscheidet die Berufungsbehörde wie jede Verwaltungsbehörde aufgrund der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt ihrer Entscheidung. Änderungen sind daher bis zu diesem Zeitpunkt zu berücksichtigen, auch wenn sie für den Berufungswerber nachteilig sind. Im Berufungsverfahren nach dem AVG gilt kein Verschlechterungsverbot (im Gegensatz zum Berufungsverfahren nach dem VStG). Werden neue Tatsachen oder Beweise vorgebracht, kann die Berufungsbehörde die notwendigen Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens selbst durchführen oder eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde damit beauftragen. Die Berufungsbehörde hat folgende Möglichkeiten der Entscheidung: x
Einstellung: Das Berufungsverfahren ist mit Verfahrensanordnung einzustellen, wenn die Berufung zurückgezogen wird oder der Berufungswerber während des Verfahrens seine Rechtspersönlichkeit verliert (zB der Berufungswerber stirbt).
x Zurückweisung: Die Berufung ist zurückzuweisen, wenn sie verspätet eingebracht oder von einer nicht berufungslegitimierten Person erhoben wurde oder wenn in der Sache schon rechtskräftig entschieden wurde. Eine Mögliche Entscheidungen der Zurückweisung erfolgt außerdem, wenn die Berufung Berufungsbehörde: Einstellung Mängel aufweist (sie also nicht den Inhalts- und Zurückweisung Formerfordernissen entspricht)und diese trotz eines Aufhebung und Zurückverweisung Verbesserungsauftrages (vgl § 13 Abs 3 AVG) nicht beseiEntscheidung in der Sache selbst tigt wurden. Bsp: Die Berufung bezieht sich auf keinen konkreten Bescheid und der Berufungswerber kommt der Aufforderung der Berufungsbehörde, den betreffenden Bescheid zu bezeichnen, nicht nach.
272 x
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Entscheidung in der Sache selbst: Wird das Verfahren nicht eingestellt, die Berufung nicht zurückgewiesen und die Angelegenheit nicht unter Behebung des Bescheides zurückverwiesen, hat die Berufungsbehörde in dem von der Berufung umfassten Ausmaß eine Sachentscheidung zu treffen. Im Rahmen der Sachentscheidung kann der unterinstanzliche Bescheid abgeändert oder die Berufung zur Gänze abgewiesen und somit der angefochtene Bescheid vollinhaltlich bestätigt werden. Darüber hinaus kommt die ersatzlose Aufhebung des unterinstanzlichen Bescheides in Frage, wenn dieser bspw wegen Unzuständigkeit der Unterinstanz gar nicht hätte ergehen dürfen.
x
Nur dann, wenn das unterinstanzliche Ermittlungsverfahren derart mangelhaft geführt worden ist, dass eine Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, kann der angefochtene Bescheid zur Gänze aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an die im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverwiesen werden. Doch auch in diesem Fall kann die Berufungsbehörde die mündliche Verhandlung und die Beweisaufnahme selbst durchführen, sofern das mit einer Kosten- und Zeitersparnis verbunden ist. Bezüglich der Form und des Inhalts der Berufungsentscheidung sieht § 67 AVG vor, dass die allgemeinen Bestimmungen über die Erlassung von Bescheiden auch für Bescheide der Berufungsbehörde gelten, jedoch mit dem Zusatz, dass der Spruch auch dann zu begründen ist, wenn dem Berufungsantrag vollinhaltlich stattgegeben wird.
Der Bescheid kann auch zur Gänze aufgehoben und an eine Unterbehörde zurückverwiesen werden.
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IV. Rechtsschutzinstanzen UVS und VwGH A.
Das Verfahren vor dem UVS
1.
Organisation
Im Gegensatz zu sonstigen Verwaltungsbehörden (zB BVB) sind die Mitglieder der UVS bei der Besorgung ihrer Aufgaben an keinerlei Weisungen gebunden und für die Dauer ihrer Amtszeit unabsetzbar (Art 129b Abs 2 und 3 B-VG). Der UVS wird nach dem Grundsatz ei-
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ner festen Geschäftsverteilung tätig und entscheidet entweder durch Einzelmitglieder oder durch Kammern, die aus drei Mitgliedern bestehen. Organisatorisch als Landesbehörden eingerichtet, werden die UVS funktionell auch im Rahmen der Bundesverwaltung tätig. Grundsätzlich sind die UVS zur „Sicherung der Gesetzmäßigkeit der gesamten öffentlichen Verwaltung“ (Art 129 B-VG) Gerichtsähnlich organisierte berufen. Ihre Aufgabe liegt vor allem in einer gerichtsähnlich Vewaltungsbehörden organisierten Kontrolle der Verwaltung.
2.
Zuständigkeit
Die Zuständigkeit der UVS richtet sich nach Art 129a B-VG, der vorsieht, dass die UVS nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges in folgenden Fällen erkennen: x
In Verfahren wegen Verwaltungsübertretungen, ausgenommen Finanzstrafsachen des Bundes.
x
Über Beschwerden von Personen, die behaupten, durch AuvBZ in ihren Rechten verletzt zu sein (ausgenommen wiederum solche im Zusammenhang mit Finanzstrafsachen des Bundes) – sog „Maßnahmenbeschwerde“.
x
In sonstigen Angelegenheiten, soweit sie ihnen durch die Materiengesetze des Bundes oder der Länder zugewiesen sind. Bsp: Ob der LH als im Instanzenzug übergeordnete Behörde oder der UVS als Berufungsbehörde über Berufungen gegen Bescheide der BVB zu entscheiden hat, ergibt sich aus den einzelnen Materiengesetzen. Im Betriebsanlagenbewilligungsverfahren ist der UVS Berufungsbehörde (§ 359a GewO).
x
Über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht, wenn gegen einen (nicht erlassenen) Bescheid Berufung an den UVS erhoben werden könnte.
Angenommen, es findet aufgrund der Anzeige des Hotelbesitzers, dass von Ihrem Lokal Lärmbelästigungen ausgehen, kein behördliches Verfahren statt, sondern Sie erhalten in Ihrem Lokal „Besuch“ von behördlichen Organen, die unter Ihrem wütenden Protest die Stromversorgung der Musikanlage lahm legen und Ihre Gäste des Lokals verweisen. Mangels Verfahren haben Sie keinen Bescheid in der Hand, gegen den Sie eine Berufung einlegen könnten. Sie erwägen daher, eine Maßnahmenbeschwerde an den UVS zu erheben.
3.
Verfahrensrechtliche Besonderheiten
Die Verfahrensvorschriften des AVG sind auch auf das Verfahren vor den UVS anzuwenden (Art I Abs 2 lit A Z 2 EGVG). Im AVG sind – abweichend von Öffentliche mündliche Verhandlung den allgemeinen Regeln über Berufungsverfahren – einige Sonderbestimmungen vorgesehen: x
Parteistellung der Behörde, deren Bescheid, verfahrensfreier Akt oder Untätigkeit bekämpft wird.
x
Publikumsöffentlichkeit: Der UVS hat eine öffentliche, mündliche Verhandlung durchzuführen (Publikumsöffentlichkeit aufgrund Art 6 EMRK). Die mündliche Verhandlung
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kann aus bestimmten Gründen entfallen. Unter gewissen Umständen kann die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen werden. Aufgrund Ihrer Berufung beraumt der UVS Wien eine mündliche Verhandlung an, zu der Sie, Ihre Rechtsvertretung und der Magistrat Wien geladen werden. Im Zuge des Verfahrens beantragen Sie ein neuerliches Sachverständigengutachten (Messung der Lärmbeeinträchtigung), da Sie die Unabhängigkeit des vom Magistrat beauftragten Amtsachverständigen bezweifeln. Ohne jedoch auf Ihren Antrag näher einzugehen, wird die Verhandlung geschlossen und der UVS erlässt einen die vom Magistrat vorgeschriebenen Auflagen bestätigenden Bescheid, den Sie auch zugestellt bekommen. Da der UVS Wien nicht auf Ihren Antrag auf Bestellung eines weiteren Sachverständigen eingegangen ist, rät Ihnen Ihr Rechtsvertreter zu einer Beschwerde, da es eine Verletzung der Verfahrensvorschriften des AVG darstellt, Anträge einer Partei ohne Begründung nicht zu behandeln bzw die Verhandlung zu schließen, ohne die Partei zu hören. Da dem UVS im Instanzenzug keine Behörde übergeordnet ist, ist die Beschwerde an den VwGH zu richten.
B.
Der Verwaltungsgerichtshof
Der VwGH ist gem den Art 130 bis 136 B-VG eingerichtet und mit Kompetenzen ausgestattet, die näheren Bestimmungen finden sich im Verwaltungsgerichtshofgesetz (VwGG) bzw in der Geschäftsordnung des VwGH. Art 130 – 136 B-VG, VwGG
Der VwGH erkennt als Höchstgericht über die behauptete x
Rechtswidrigkeit von Bescheiden, wobei die Rechtswidrigkeit auf ein einfaches Gesetz oder eine Verordnung gestützt werden muss (Bescheidbeschwerde) und die
x
Verletzung der Entscheidungspflicht von Verwaltungsbehörden einschließlich der UVS (Säumnisbeschwerde).
Voraussetzung für die Bescheidbeschwerde, welche ein außerordentliches Rechtsmittel darstellt, ist die Erschöpfung des Instanzenzuges. Beschwerdelegitimiert ist jeder, der behauptet, durch einen Bescheid in seinen einfachgesetzlich Voraussetzung: Erschöpfung des gewährleisteten Rechten verletzt zu sein. Darüber hinaus wird Instanzenzuges in verschiedenen Materiengesetzen bestimmten Personen ein Recht auf Erhebung einer Beschwerde eingeräumt (sog Amtsbeschwerde). Wegen Verletzung der Entscheidungspflicht kann Säumnisbeschwerde erheben, wer im betreffenden Verfahren zur Geltendmachung der Entscheidungspflicht berechtigt war, wer also durch die Untätigkeit der Behörde in seinen Rechten beeinträchtigt ist.
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C.
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Vorabentscheidungsverfahren
Grundsätzlich haben sämtliche Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Unionsrecht vollständig anzuwenden. Dabei legen sie aber mitunter unterschiedliche Auslegungsmaßstäbe an. Um eine wirksame und einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu sichern, wurde nach Art 267 AEUV das sog Vorabentscheidungsverfahren beim Gerichtshof der Europäischen Union eingeführt. Das VorabentscheiDas Vorabentscheidungsverfahren dient der unterschiedslosen und wirksamen dungsverfahren ist die in der Praxis wichtigste Verfahrensart Anwendung des Unionsrechts (knapp die Hälfte aller Verfahren vor dem EuGH sind Vorabentscheidungsverfahren) und weist dem EuGH das Monopol zur Auslegung von Unionsrecht zu. Aufgrund der engen Kooperation nationaler Gerichte mit dem EuGH ist das Vorabentscheidungsverfahren ein wichtiges Instrument zur Wahrung der
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Rechtssicherheit und Verbesserung des Rechtsschutzes sowie zur einheitlichen Rechtsanwendung innerhalb der Europäischen Union. Hat ein nationales Gericht in einer Rechtssache, für deren Ausgang Unionsrecht relevant ist, Zweifel über dessen Auslegung (betrifft: Verträge, Sekundärrecht, Satzungen) oder Gültigkeit (betrifft: Sekundärrecht, gemessen am Primärrecht), so legt es dem EuGH die entsprechenden Fragen zur Vorabentscheidung vor (Vorabentscheidungs- Bei Zweifeln über Auslegung: oder Vorlageverfahren). Unter „Gericht“ versteht der EuGH jede - Nationale „Gerichte“ dürfen vorlegen Behörde, die bestimmte Kriterien erfüllt, insbesondere auf einer Nationale letztinstanzliche „Gerichgesetzlichen Grundlage beruht, eine ständige Einrichtung ist, te“ müssen vorlegen nach Rechtsnormen entscheidet, unabhängig ist, ein kontradiktorisches Verfahren durchführt und eine rechtsprechende Tätig- Bei Zweifeln über Gültigkeit keit ausübt. In Österreich fallen jedenfalls die ordentlichen Ge- - Nationale „Gerichte“ müssen vorlegen richte (Bezirksgerichte, Landesgerichte, Oberlandesgerichte, OGH) und die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (VwGH, VfGH), aber auch bestimmte weisungsfreie Verwaltungsbehörden (zB die UVS, das Bundesvergabeamt und die Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag nach Art 133 Z 4 B-VG, wie beispielsweise die Datenschutzkommission) unter diesen autonomen unionsrechtlichen Gerichtsbegriff, der nicht mit jenem des „Tribunals“ der EMRK (siehe LE 4) verwechselt werden darf. Bsp: Beim Bundesvergabeamt handelt es sich um eine Verwaltungsbehörde, die als staatlicher Spruchkörper auf gesetzlicher Grundlage ständig damit betraut ist, Rechtssachen unabhängig zu entscheiden, und daher um ein Gericht im Sinne des Art 267 AEUV. Bei Zweifeln betreffend die Gültigkeit von Unionsrecht muss jedes Gericht vorlegen. Bei Zweifeln über die Auslegung des Unionsrechts kann jedes „Gericht“ iSd Art 267 AEUV vorlegen, letztinstanzliche Gerichte müssen vorlegen. Als letztinstanzliches Gericht wird jedes „Gericht“ (in obigem Sinn) verstanden, dessen Entscheidung im jeweiligen Einzelfall nicht mehr durch ein Rechtsmittel bekämpfbar ist. In Österreich sind daher jedenfalls die Höchstgerichte (OGH, VfGH, VwGH) letztinstanzliche Gerichte. Da eine VfGH-Beschwerde kein Rechtsmittel iSd Art 267 Abs 3 AEUV ist, sind auch Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag als letztinstanzliche Gerichte zu betrachten, weil und wenn ihre Bescheide vor dem VwGH nicht mehr bekämpft werden können. Die UVS hingegen sind wegen der Anrufungsmöglichkeit des VwGH bloß vorlageberechtigt. Soll eine Vorabentscheidung eingeholt werden, so setzt das nationale Gericht das bei ihm anhängige Verfahren aus und unterbreitet dem EuGH jene Fragen zur Gültigkeit oder zur Auslegung des Unionsrechts, deren Beantwortung für die Entscheidung des nationalen Gerichts entscheidungserheblich ist. Bsp einer Vorlagefrage: „Ist Art … der Verordnung … gültig?“ Die Vorlagepflicht eines letztinstanzlichen Gerichts entfällt hingegen, wenn: x
die Beantwortung der unionsrechtlichen Frage nach Auffassung des Gerichts keinerlei Einfluss auf die Entscheidung des Rechtsstreits haben kann;
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x
die Frage bereits in einem gleich gelagerten Fall Gegenstand einer Vorlage gewesen ist;
x
eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage bereits gelöst ist;
x
bei korrekter Anwendung des Unionsrechts die Beantwortung der Frage keinen Raum für einen vernünftigen Zweifel lässt und kein Gericht an dieser Auslegung zweifeln würde (Doktrin des „acte clair“). Bsp: Weil es „gesicherte Judikatur des EuGH“ gibt, die es „offenkundig mache“, dass eine Sonderabgabe auf Erdöl nicht der 6. Mehrwertsteuer-Richtlinie widerspricht, leitet der VfGH kein Vorabentscheidungsverfahren ein.
Durch das Vorabentscheidungsverfahren entsteht oftmals erst Klarheit über vage oder mehrdeutige Vertragsbestimmungen und Sekundärrecht. Bei Auslegungsfragen ist das Urteil des EuGH nur für den konkreten Rechtsstreit (inter partes) bindend. Die Mitgliedstaaten sind darüber hinaus aber verpflichtet, das Unionsrecht einheitlich und gleichmäßig anzuwenden, wozu auch gehört, dass nationales Recht ganz allgemein in Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH gebracht wird. Bei Gültigkeitsfragen wird der Rechtsakt durch den EuGH gegebenenfalls mit umfassender Wirkung für ungültig erklärt. Bsp: Hat der UVS Tirol Bedenken, ob im Falle der Berufung gegen die Erklärung eines bestimmten Landstriches zu einem Umweltschutzgebiet unionsrechtliche Vorschriften anzuwenden oder auch nur bei der Auslegung der nationalen Rechtsnormen zu beachten sind, so kann er diese Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen. Die Vereinbarkeit innerstaatlichen Rechts mit Unionsrecht ist kein zulässiger Verfahrensgegenstand vor dem EuGH, ebenso wenig wie die Auslegung nationalen Rechts. Tatsächlich kann aber ein nationales Gericht die Vorlagefrage so geschickt formulieren, dass ihre Beantwortung darauf hinausläuft; manchmal formuliert der EuGH ungeschickt gestellte Fragen der Gerichte auch entsprechend um. Bsp einer Vorlagefrage: „Ist Art … AEUV dahingehend auszulegen, dass er der Anwendung der nationalen Regelung … entgegensteht, die vorsieht, dass …?“ Der Kanzler des EuGH stellt das Vorlageersuchen den an den nationalen Ausgangsverfahren beteiligten Parteien, allen Mitgliedstaaten, der Kommission sowie – sofern sie betroffen sind – dem Rat, dem Europäischen Parlament oder der Europäischen Zentralbank zu. Die Beteiligten können sich schriftlich äußern oder ihren Standpunkt in der mündlichen Verhandlung vortragen. Bei Vorabentscheidungsverfahren ist die Sprache des vorlegenden Gerichts Verfahrenssprache.
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Weiterführende Literatur
Hengstschläger, Verwaltungsverfahrensrecht4 (2009) Grabenwarter, Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit2 (2010) Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht (2009) Thienel/Schulev-Steindl, Verwaltungsverfahrensrecht5 (2009) Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht8 (2003)
VI. Wiederholungsfragen
Wie kann ein Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt werden? Wo erfahren Sie etwas über verwaltungsbehördliche Zuständigkeiten? Erläutern Sie die Unterscheidung zwischen Partei und Beteiligter im Verwaltungsrecht! Welche Rechte hat eine Partei im Verwaltungsverfahren? Was unterscheidet das normale Betriebsanlagenverfahren vom vereinfachten Bewilligungsverfahren für Bagatellanlagen? Nennen Sie die Grundsätze des Ermittlungsverfahrens! Welchen Mindesterfordernissen muss ein Bescheid entsprechen? Welche rechtliche Konsequenz hat es, wenn der Bescheid von einer unzuständigen Behörde erlassen wurde? Was ist der Spruch des Bescheides und welche rechtliche Konsequenz knüpft sich an dessen Fehlen? Was ist, wenn die Bezeichnung „Bescheid" fehlt? Wie wird ein Bescheid erlassen und wann ist er rechtskräftig? Was versteht man unter der Ausübung verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt? Was versteht man unter dem sog Fehlerkalkül der Rechtsordnung? Wonach bemisst sich der sog administrative Instanzenzug? Welche Rechtsmittel und Rechtsbehelfe gegen einen Bescheid gibt es? Innerhalb welcher Frist muss eine Berufung erhoben werden und ab wann läuft diese? Unter welchen Umständen kann die bescheiderlassende Behörde über die Berufung entscheiden und welches Rechtsmittel kann dagegen erhoben werden? In welchen Fällen ist der UVS zuständig? Welche Besonderheiten charakterisieren das Verfahren vor dem UVS? Was kann in einer Bescheidbeschwerde an den VwGH geltend gemacht werden
Abkürzungsverzeichnis ABGB ABl Abs AEUV AG AMS Art AuVBZ AVG BauO BGBl Bgm BH BM BMG BMWA BR Bsp bspw BVB B-VG bzw dB dgl dh EAG EFTA EG EGKS EGVG EMRK EP etc EU EuG EuGH EUV EWR EZB f ff FKVO GASP gem GewO Ggf GIS GmbH idF idgF
Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch Amtsblatt Absatz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Aktiengesellschaft Arbeitsmarktservice Artikel Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz Bauordnung Bundesgesetzblatt Bürgermeister Bezirkshauptmann/Bezirkshauptmannschaft Bundesminister/in, Bundesministerium Bundesministeriengesetz Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit Bundesrat Beispiel beispielsweise Bezirksverwaltungsbehörde Bundesverfassungsgesetz beziehungsweise Dezibel dergleichen das heißt Europäische Atomgemeinschaft European Free Trade Association Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen, Europäische Menschenrechtskonvention Europäisches Parlament et cetera Europäische Union Europäisches Gericht erster Instanz Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union Europäischer Wirtschaftsraum Europäische Zentralbank folgend folgende Fusionskontrollverordnung Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gemäß Gewerbeordnung gegebenenfalls Gebühren Info Service GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung in der Fassung in der geltenden Fassung
282 IPPC iSd iVm JN LGBl LH LReg MglW NR Nr ÖGB OGH ORF PJZS RL Rs RS SE Slg sog StGB StGG uä ua UFS UG UGB usw UUS uvm UVS va VfGG VfGH VfSlg vgl VO VStG VvA VVE VVG VvL VvM VvN VwGG VwGH WTO WWU Z zB ZPEMRK ZPO
Integrated Pollution Prevention and Control im Sinne des/der in Verbindung mit Jurisdiktionsnorm Landesgesetzblatt Landeshauptmann Landesregierung Maßnahmen gleicher Wirkung Nationalrat Nummer Österreichischer Gewerkschaftsbund Oberster Gerichtshof Österreichischer Rundfunk Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Richtlinie Rechtssache Rückschein Societas Europeae Sammlung sogenannte(r) Strafgesetzbuch Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger und ähnliches unter anderem Unabhängiger Finanzsenat Universitätsgesetz Unternehmensgesetzbuch und so weiter Unabhängiger Umweltsenat und viele/s mehr Unabhängiger Verwaltungssenat vor allem Verfassungsgerichtshofsgesetz Verfassungsgerichtshof Sammlung der Erkenntnisse des VfGH vergleiche Verordnung Verwaltungsstrafgesetz Vertrag von Amsterdam Vertrag über eine Verfassung für Europa Verwaltungsvollstreckungsgesetz Vertrag von Lissabon Vertrag von Maastricht Vertrag von Nizza Verwaltungsgerichtshofsgesetz Verwaltungsgerichtshof World Trade Organisation Wirtschafts- und Währungsunion Ziffer zum Beispiel Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention Zivilprozessordnung
Elektronische Rechtsdatenbanken Wo sind die Gesetze, Richtlinien, Urteile etc zu finden? Österreichische Rechtsakte des Bundes werden im Bundesgesetzblatt (BGBl) kundgemacht. Und zwar werden Bundesgesetze im Teil I, Verordnungen im Teil II und Staatsverträge im Teil III des BGBl kundgemacht. Die Rechtsakte der Länder werden in den Landesgesetzblättern (LGBl) publiziert. Die Unionsrechtsakte werden im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl) kundgemacht: Verordnungen, Richtlinien etc in der Reihe L („legislation“, Rechtsetzung), unverbindliche Rechtsakte (Empfehlungen, Stellungnahmen, Berichte, Entwürfe, etc) in der Reihe C („communications“, Mitteilungen) des ABl. In Zeiten der modernen Informationstechnologien finden Sie die betreffenden Rechtsakte natürlich auch im Internet. Die österreichischen
Rechtsakte
(Gesetze,
Verordnungen,
VfGH-,
VwGH-Erkenntnisse
etc)
sind
unter
http://www.ris.bka.gv.at, die EU-Rechtsakte (EGV, EUV, Verordnungen, Richtlinien, EuGH-Urteile etc) unter http://eurlex.europa.eu bzw unter http://curia.europa.eu abrufbar. Im Folgenden werden die relevanten Abfragemasken kurz erörtert:
Österreichisches Recht Urteile und Erkenntnisse der österreichischen Gerichte
Abfragemaske „Bundesrecht“: Hier kann Bundesrecht in der geltenden Fassung gesucht werden. Bsp: Suchworte: „Gewerbeordnung“ Kurztitel/Abkürzung: „GewO“ Paragraph: „74“ Sucherergebnis: § 74 GewO wird in der geltenden Fassung (= BGBl 194/1994 in der Fassung BGBl I 131/2004) wiedergegeben.
Ebenso in der Rubrik „Bundesrecht“ findet sich die Abfragemaske „Bundesgesetzblätter“ Hier können nur die einzelnen Bundesgesetzblätter gesucht werden. Es wird nicht das gesamte Gesetz in der geltenden Fassung abgebildet.
Bsp: Suchworte: „Gewerbeordnung“ Kurztitel/Abkürzung: „GewO“ Paragraph: „74“ Kundmachungsorgan: „194/1994“ (= BGBl Nr/Jahr) Suchergebnis: Im Unterschied zum obigen Beispiel wird hier § 74 GewO nicht in der geltenden Fassung, sondern nur in der Fassung BGBl 194/1994 abgebildet.
Abfragemaske „Verfassungsgerichtshof“: Hier kann nach Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofes gesucht werden. Es wird der Rechtssatz des Erkenntnisses abgebildet, durch den Link „Textdokument“ gelangt man zum vollständigen Erkenntnis. Bsp: Suchworte: „Verkauf unter dem Einstandspreis“ Sammlungsnummer: „12379“ Geschäftszahl: „G 56/89“ Suchergebnis: Erkenntnis des VfGH zur Verfassungswidrigkeit des Verbots des Verkaufs unter dem Einstandspreis (siehe LE 4). Die Abfragemasken für Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH), Urteile des Obersten Gerichtshofes (OGH) etc funktionieren ähnlich.
Elektronische Rechtsdatenbanken Wo sind die Gesetze, Richtlinien, Urteile etc zu finden? Österreichische Rechtsakte des Bundes werden im Bundesgesetzblatt (BGBl) kundgemacht. Und zwar werden Bundesgesetze im Teil I, Verordnungen im Teil II und Staatsverträge im Teil III des BGBl kundgemacht. Die Rechtsakte der Länder werden in den Landesgesetzblättern (LGBl) publiziert. Die Unionsrechtsakte werden im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl) kundgemacht: Verordnungen, Richtlinien etc in der Reihe L („legislation“, Rechtsetzung), unverbindliche Rechtsakte (Empfehlungen, Stellungnahmen, Berichte, Entwürfe, etc) in der Reihe C („communications“, Mitteilungen) des ABl. In Zeiten der modernen Informationstechnologien finden Sie die betreffenden Rechtsakte natürlich auch im Internet. Die österreichischen
Rechtsakte
(Gesetze,
Verordnungen,
VfGH-,
VwGH-Erkenntnisse
etc)
sind
unter
http://www.ris.bka.gv.at, die EU-Rechtsakte (EGV, EUV, Verordnungen, Richtlinien, EuGH-Urteile etc) unter http://eurlex.europa.eu bzw unter http://curia.europa.eu abrufbar. Im Folgenden werden die relevanten Abfragemasken kurz erörtert:
Österreichisches Recht Urteile und Erkenntnisse der österreichischen Gerichte
Abfragemaske „Bundesrecht“: Hier kann Bundesrecht in der geltenden Fassung gesucht werden. Bsp: Suchworte: „Gewerbeordnung“ Kurztitel/Abkürzung: „GewO“ Paragraph: „74“ Sucherergebnis: § 74 GewO wird in der geltenden Fassung (= BGBl 194/1994 in der Fassung BGBl I 131/2004) wiedergegeben.
der Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Union (Jahr der Veröffentlichung: „1976“; Monat: „2“; Tag: „14“; ABl-Reihe: „L“; ABl-Nummer: „39“) oder auch nach Begriffen (zB „Richtlinie + Gleichbehandlung von Männern und Frauen“; Datum des Dokuments: von „1/1/1976“ bis „1/1/2001“).
Abfragemaske „Urteile“: http://curia.europa.eu/ Auf dieser Seite können Urteile des EuGH und des Europäischen Gerichts gesucht werden. Bsp: Suche nach folgendem Urteil: Rechtssache C-350/96, Clean Car Autoservice GesmbH gegen Landeshauptmann von Wien (vgl LE 5). Man kann nach Aktenzeichen („C-350/96“), dem Datum („1998-05-07“), den Parteien („Clean Car“), dem Sachgebiet („Freizügigkeit“) oder nach Suchbegriffen („Clean Car“, „Gewerbeordnung“ oder „Gewerbeordnung + Geschäftsführer“) suchen.