Europas Finanzzentren
Christoph Maria Merki ist Forschungsprofessor am Liechtenstein-Institut in Bendern. Bei Campus ...
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Europas Finanzzentren
Christoph Maria Merki ist Forschungsprofessor am Liechtenstein-Institut in Bendern. Bei Campus gab er 1999 gemeinsam mit Thomas Hengartner den Band Genussmittel – Ein kulturgeschichtliches Handbuch heraus.
Christoph Maria Merki (Hg.)
Europas Finanzzentren Geschichte und Bedeutung im 20. Jahrhundert
Campus Verlag Frankfurt/New York
Dieser Band geht auf eine Tagung zurück, die gefördert wurde von der: – Verwaltungs- und Privat-Bank AG (Vaduz), – Anwaltskanzlei Marxer & Partner (Vaduz), – Liechtensteinischen Treuhändervereinigung. Auslieferung für das Fürstentum Liechtenstein: Verlag der Liechtensteinischen Akademischen Gesellschaft, Bahnhofstrasse 15a, FL-9494 Schaan.
Bibliographische Informationen der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-37743-8
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2005 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlagmotiv: Frankfurter Skyline © ullstein bild. Satz: Marion Jordan, Frankfurt am Main Druck und Bindung: KM-Druck, Groß-Umstadt Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany
Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
Inhalt
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung: Wo das Herz des Kapitalismus schlägt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
I. TEIL: Vier alte Finanzzentren Europas Der Aufstieg der City of London als Finanzplatz: Vom Inlandsgeschäft zum Offshore-Zentrum? Ranald C. Michie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Frankfurts Weg zu einem europäischen Finanzzentrum Carl-Ludwig Holtfrerich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Auf, Ab, Auf: Der Finanzplatz Paris im 20. Jahrhundert André Straus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Zwischen London und Deutschland: Das Finanzzentrum Amsterdam im 20. Jahrhundert Jaap Barendregt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
II. TEIL: Die Aufsteiger des 20. Jahrhunderts Der diskrete Charme der Gnomen: Entwicklung und Perspektiven des Finanzplatzes Schweiz Jakob Tanner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Der Finanzplatz Luxemburg als Ergebnis wirtschaftlichen Bedarfs, politischen Willens und europäischer Integration Norbert Franz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Der Finanzplatz Liechtenstein: Zürichs attraktive Außenstelle Christoph Maria Merki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
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Die Kanalinseln Jersey und Guernsey: Im Windschatten der City of London Stefan Altorfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
III. TEIL: Vergleichende Fragestellungen Die Entwicklung der europäischen Wertpapierbörsen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert: Einige vergleichende Betrachtungen Richard Tilly . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Finanzplatz und Pfadabhängigkeit: Die Bundesrepublik, die Schweiz und die Vertreibung der Euromärkte (1955 – 1980) Tobias Straumann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Vom Boten zum Bit: Zur Geschichte der Technologien an den Wertpapierbörsen Richard T. Meier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Der Wettbewerb zwischen den Finanzzentren Europas und denen der USA Harold James. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Verzeichnis der Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Vorwort
Ein Historiker, der im Fürstentum Liechtenstein zu Hause ist, muss früher oder später auf das Thema kommen, das in diesem Buch abgehandelt wird: die Geschichte europäischer Finanzzentren. Liechtenstein ist zwar, international gesehen, nur ein kleiner »Finanzplatz« und ob es diese Bezeichnung überhaupt verdient, darüber lässt sich trefflich streiten. Doch in dem kleinen Fürstentum zeigen sich wie in einem Brennglas viele der Probleme, die auch die Entwicklung anderer Finanzzentren bestimmen: die Mobilität des Kapitals, die Kooperation und/oder Konkurrenz mit anderen Finanzplätzen, die Spezialisierung auf bestimmte Finanzdienstleistungen, die Bedeutung von steuerlichen Anreizen und regulatorischen Bestimmungen, das Gewicht der Währung. Was lag da näher, als Kollegen aus verschiedenen Ländern einzuladen, um über die Entwicklung der Finanzzentren Europas im 20. Jahrhundert zu diskutieren? Dieses Treffen fand am 26. und 27. August 2004 in Bendern (Fürstentum Liechtenstein) statt und der vorliegende Sammelband ist das Resultat der Tagung. Gerne danke ich hier dem Liechtenstein-Institut für die Förderung des Projekts, namentlich seinem Präsidenten Dr. Guido Meier und dem Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Rats Dr. Rupert Quaderer. Das Institut wird zwar in erster Linie vom Land Liechtenstein getragen; gleichwohl unterstützten einige Sponsoren das Zustandekommen der Tagung. Auch ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt: Verwaltungs- und Privat-Bank AG (Vaduz), Anwaltskanzlei Marxer & Partner (Vaduz), Liechtensteinische Treuhändervereinigung. Vaduz, im Dezember 2004
C. M. Merki
Einleitung: Wo das Herz des Kapitalismus schlägt1 Christoph Maria Merki
Finanzzentren: Begriff und Bedeutung Finanzzentren sind die Knotenpunkte des internationalen Geld- und Kapitalverkehrs. An diesen Orten ballen sich die Institutionen, welche die Geldwirtschaft in Gang halten: Banken, Börsen, Versicherungen, Treuhandfirmen, Nachrichtenagenturen, Softwareschmieden, Beratungsunternehmen und Anwaltskanzleien. Finanzplätze sammeln Gelder, legen sie an und leihen sie aus. Sie erfüllen damit eine wichtige volkswirtschaftliche Aufgabe. Hunderttausende von Menschen finden in diesen Finanzzentren Arbeit. In der Schweiz beispielsweise betrug im Jahr 2004 der Anteil des Finanzsektors am Bruttoinlandsprodukt 13 Prozent. Die beiden wichtigsten Finanzplätze der Welt sind die Städte New York und London oder genauer: zwei Quartiere in diesen Städten, in New York die auf Manhattan gelegene »Wall Street«, in London die »City«. Dort schlägt das Herz des globalen Kapitalismus. Die Terroranschläge des 11. September 2001 galten nicht zufällig dem Wahrzeichen Manhattans: den Zwillingstürmen des World Trade Centers. Neben den Weltzentren New York und London, zu denen man je nach Definition auch noch Tokio zählen kann, gibt es verschiedene Finanzzentren, die – eine Liga darunter – kontinentale Bedeutung besitzen. In Asien wären dies etwa Sydney und Singapur, in Europa Frankfurt und Paris, in Nordamerika Toronto und Chicago. Weitere Finanzzentren haben sich auf bestimmte Finanzdienstleistungen spezialisiert, so auf die Verwaltung ausländischer Anleihen und ausländischen Vermögens (Luxemburg) oder auf das Versicherungswesen (Bermuda). Alle Finanzzentren der Welt sind mittlerweile auf das Engste miteinander verknüpft, sei es über die Errichtung von Bankfilialen oder über den Handel mit ausländischen Wertpapieren. Bisweilen stehen die Zentren in Konkurrenz zueinander, manchmal ergänzen sie sich, hie und da kooperieren sie miteinander.2 Finanzplätze erleben im Laufe der Zeit jene Auf- und Abstiege, die allen menschlichen Institutionen eigen sind. Frühere Weltstädte des Geldes wie Augsburg, Brügge und Florenz haben heute nur noch lokale Bedeutung. Das Finanzzentrum Wien kann nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Osterweiterung der EU möglicherweise wieder an die glanzvolle Zeit vor 1914 anknüpfen. Die Stadt Genua
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nahm ín dem internationalen Geschäftsleben des 16. Jahrhunderts eine Spitzenposition ein, ja übte eine »unauffällige Herrschaft«3 (Braudel) über ganz Europa aus – von den Gegnern der als neu empfundenen Globalisierung, die im Juli 2001 am G8Gipfel in Genua demonstrierten, wussten dies wohl die wenigsten. Die Vormachtstellung von Frankfurt am Main als deutsches Finanzzentrum ist eine junge Erscheinung: In den Jahren zwischen 1866 und 1945 stand »Mainhattan« im Schatten der Reichshauptstadt Berlin. Im vorliegenden Buch geht es um dieses ständige Auf und Ab, genauer: um die Entwicklung der Finanzzentren Europas im soeben zu Ende gegangenen 20. Jahrhundert. Der Begriff des »Finanzzentrums« (englisch: financial centre) ist nicht klar definiert. Auf Deutsch spricht man stattdessen auch von »Finanzplatz«. Mit der Entwicklung von Finanzzentren und der Veränderung von Kapitalströmen beschäftigt sich am ehesten die Wirtschaftsgeografie. Die Ökonomie ist an diesem Thema, zumindest im deutschsprachigen Raum, etwas weniger interessiert. In Vahlens Großem Wirtschaftslexikon beispielsweise kommt weder der Begriff des »Finanzplatzes« noch der des »Finanzzentrums« vor.4 Der Geograf David Porteous definiert ein Finanzzentrum als »ein Gebiet, in dem hochkarätige Finanzfunktionen und -dienstleistungen konzentriert sind«5. Allerdings führt Porteous nicht näher aus, welche Dienstleistungen in welchem Umfang an diesem Ort abgewickelt werden müssen, damit man überhaupt von einem »Zentrum« sprechen kann. Tatsächlich ist die Unterscheidung zwischen »Zentrum« und »Peripherie« alles andere als einfach, und Typologien, welche die Finanzzentren zu kategorisieren versuchen, haben mitunter etwas Zufälliges.6 Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um Finanzzentren miteinander zu vergleichen und ihre Bedeutung gegeneinander abzuwägen. Eine beliebte Methode ist die Befragung der Akteure. So ergab eine Umfrage unter 350 Finanzinstituten, dass New York im Jahr 2003 ein bisschen konkurrenzfähiger war als London. Die Finanzinstitute waren nach dem Arbeitsmarkt, dem aufsichtsrechtlichen Umfeld, der Besteuerung und dem Lebensstandard verschiedener Finanzzentren gefragt worden.7 Eine andere Methode ist die Messung sektorrelevanter Parameter. Zu ihnen gehören etwa die Anzahl der Beschäftigten, die Präsenz ausländischer Banken, der Umfang der verwalteten Vermögen oder das Börsenvolumen.8 So überzeugend diese Methode auf den ersten Blick scheint, so problematisch ist sie bei genauerer Betrachtung. Nicht jeder Arbeitsplatz ist gleich produktiv und nicht jede Bankfiliale gleich bedeutend. Exakte Zahlen zu den an einem Ort verwalteten Vermögen fehlen meistens. Außerdem wird es angesichts weltweit vernetzter Finanzmärkte immer schwieriger festzustellen, wo das Geld eigentlich herkommt und wo es letztlich liegen bleibt. Die scheinbar »harten« Zahlen sind in Tat und Wahrheit also eher »weich«. Besonders misslich ist die Lage für einen Historiker, der zur Faktensicherung lange Reihen über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte erstellen will. Sehr weit
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zurück reichen unter anderem Angaben zur Beschäftigung sowie Börsendaten. Im Jahr 1910 kontrollierten britische Investoren 24 Prozent des Wertes aller weltweit ausstehenden Wertpapiere (Aktien und Anleihen), französische 18 Prozent, deutsche 16 Prozent. Einzig US-amerikanische Investoren konnten mit 21 Prozent den Westeuropäern Paroli bieten (wobei allerdings viele der in den USA kotierten Papiere ihrerseits durch Westeuropäer gehalten wurden).9 Ein Jahrhundert später ist die Reihenfolge unter den europäischen Börsenplätzen gleich: Die Londoner Börse lag Ende 2003 mit einer Kapitalisierung von 2.426 Milliarden Euro an der Spitze, deutlich vor Paris mit 1.358 Milliarden Euro und Frankfurt mit 1.079 Milliarden Euro.10 Allerdings darf man Finanzzentren nicht nur nach der Größe ihrer Börsen beurteilen – solche Zahlen lassen nämlich Städte in einem börsenorientierten Finanzsystem (wie dem britischen) besser aussehen als solche in einem bankenorientierten System (wie dem deutschen). Verschiedenste Faktoren entscheiden über den Standort und die Bedeutung von Finanzzentren. Meistens handelt es sich um verkehrstechnisch günstig gelegene Städte, welche über ein dichtes Netz von spezialisierten Unternehmen, über gut ausgebildete Fachkräfte und weit gespannte Beziehungen verfügen. Historisch gesehen bildeten sich Finanzplätze immer dort, wo sich ein Bedürfnis nach den entsprechenden Dienstleistungen geltend machte, wo also Anlagemöglichkeiten gesucht und Kredite nachgefragt wurden. Deshalb entstanden Finanzzentren meistens an Handelsrouten (Flussübergängen und Häfen), in Städten mit wohlhabendem Bürgertum und an Orten mit einem wirtschaftlich prosperierenden Hinterland.11 Spätestens seit dem 14. Jahrhundert befriedigten Finanzzentren auch die Kreditbedürfnisse der sich formierenden Territorialstaaten. Die Anwesenheit von Finanzministerien und – in späteren Jahrhunderten – Zentralbanken begünstigte den Aufstieg einzelner Städte. Noch heute befinden sich Finanzplätze oft am Sitz nationaler Regierungen (London, Paris, Tokio, Luxemburg, Vaduz). Dies ist allerdings nicht zwingend, wie etwa die Beispiele New York, Amsterdam, Mailand, Sydney und Zürich zeigen. Ein Punkt ist auch stets die territorial-politische Organisation eines Landes. Paris und London hatten als Hauptstädte zentralistischer Staaten sicher ein leichteres Spiel als das im föderalistischen Deutschland gelegene Frankfurt. Es sah und sieht sich mit nationalen Rivalen (Düsseldorf, Hamburg, München, Stuttgart) konfrontiert. In der föderalistischen Schweiz besteht bis heute eine gewisse Rivalität unter den verschiedenen Finanzplätzen (Zürich, Genf, Basel, Lugano). Zürich hat als Verkehrsknotenpunkt, Hauptsitz der Großbanken sowie als Standort der 1995 gegründeten Schweizer Börse SWX die anderen Städte inzwischen allerdings deutlich hinter sich gelassen. Wichtig ist schließlich – wie erwähnt – das regionale oder nationale Hinterland, von dem eine Stadt zehrt und von dem sie getragen wird. Die unersättlichen Kreditbedürfnisse der US-amerikanischen Wirtschaft erklären einen großen Teil der heutigen Bedeutung New Yorks. Umgekehrt
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ist es erstaunlich, dass London nach wie vor mit New York konkurrieren kann, obwohl die britische Wirtschaft ihre Rolle als Werkstätte der Welt längst verloren hat und die landeseigene Industrie für die City nur noch nebensächlich ist. Im Falle von London ist der Zusammenhang zwischen Finanzplatz und einheimischer Wirtschaft heutzutage also nur noch lose, bei den so genannten Offshore-Zentren ist er gar nicht erst vorhanden. Diese Finanzplätze verwalten Gelder ausländischer Herkunft und sind weitgehend getrennt von dem Finanzsystem des Landes, in dem sie ihren Sitz haben. Hat sich ein internationales Finanzzentrum erst einmal gebildet, braucht es ganz bestimmte Rahmenbedingungen, die seinem Gedeihen förderlich sind. Zu erwähnen wären etwa:12 – ein prosperierendes wirtschaftliches Hinterland; – eine effiziente Infrastruktur (Verkehr und Kommunikation); – soziopolitische und rechtliche Stabilität, weil Finanzmärkte bekanntlich nichts so sehr scheuen wie Unsicherheit; – niedrige Steuern auf Finanzgeschäfte; – eine Regulierungspolitik, welche dem Finanzplatz nicht zu starke Fesseln anlegt, andererseits die Sicherheit und Lauterkeit seiner Transaktionen gewährleistet; – eine stabile Währung (die allerdings nicht immer die nationale zu sein braucht); – eine gewisse Offenheit gegenüber innovativen Finanzinstrumenten und gegenüber den Personen, die sie propagieren; – vertrauenswürdige Unternehmen mit lernwilligen Spezialisten und sprachkundigen Kreditfachleuten. Wer die langfristige Entwicklung von Finanzzentren untersuchen will, tut gut daran, in erster Linie die Veränderungen dieser Rahmenbedingungen anzuschauen. Eine wichtige Frage ist, warum sich Finanzdienstleistungen in bestimmten Städten oder sogar in einzelnen Stadtteilen ballen, warum also der Finanzsektor sowohl national wie international eine so starke räumliche Konzentration aufweist. Um diese Frage zu beantworten, empfiehlt sich ein Rückgriff auf die Neue Ökonomische Geografie, wie sie etwa von dem Ökonomen Paul Krugman propagiert wird.13 Dieses rasch wachsende Fachgebiet untersucht die räumliche Verteilung der Wirtschaft und verbindet dabei die Standort- mit der Außenhandelstheorie. Schon 1940 hat August Lösch die »räumliche Ordnung der Wirtschaft« beschrieben und dabei auch den US-amerikanischen Finanzsektor untersucht. Lösch fand unter anderem heraus, dass die Zinsen in den Finanzzentren am niedrigsten sind. Wenn man sich von ihnen entfernt, steigen sie.14 Es gibt verschiedene Kräfte, die im Finanzsektor auf die Entstehung von Clustern oder Ballungsräumen hinwirken.15 In erster Linie sind diese Cluster das Resultat so genannter externalities, was man auf Deutsch als »externe Ersparnisse«
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übersetzen könnte. Dabei handelt es sich um Kostenvorteile, die ein Unternehmen nicht durch interne Rationalisierung erzielt, sondern dadurch, dass sie ihm aus seiner Umgebung zuwachsen: – Externe Ersparnisse entstehen beispielsweise durch den breiten und schnellen Informationsfluss, den die Finanzplätze generieren. Finanzinstitute benötigen preiswerte und schnelle Informationen, wenn sie ihre Profite steigern und das Risiko ihrer Geschäfte verringern wollen. Nicht zufällig finden sich in der Nachbarschaft von Banken und Börsen oft große Medienunternehmen und Nachrichtenagenturen. Allerdings hat die moderne Kommunikationstechnologie den persönlichen, vor Ort vorgenommenen Austausch von Informationen unter den Geschäftspartnern inzwischen teilweise überflüssig gemacht. – Externe Ersparnisse ermöglicht auch der örtliche Arbeitsmarkt. Er offeriert den Finanzinstituten ein Reservoir an bereits hoch spezialisierten und gut ausgebildeten Arbeitskräften. – Banken und Versicherungen sind für ihre Geschäfte auf die Dienstleistungen anderer Branchen angewiesen, von der Werbeagentur über den Wirtschaftsverlag, das Tagungshotel, den PC-Support und das Architekturbüro bis hin zur Anwaltskanzlei. Dieses lokal große Angebot an Dienstleistungen sorgt für einen umfassenden Service und niedrige Preise. Finanzinstitute treten einzelne Geschäfte mitunter an gemeinsame Einrichtungen ab, wie sie zum Beispiel Börsen und Clearingunternehmen darstellen. – Auch vorteilhafte politische Regelungen, die einen Finanzplatz im internationalen Wettbewerb attraktiv machen können, kann man als eine Form externer Ersparnisse betrachten. – Zu erwähnen sind schließlich institutionelle und kulturelle Faktoren, die dem Finanzsektor den Boden bereiten können.16 Bestimmte Orte sind dadurch für Finanzgeschäfte prädestiniert, dass dort ähnlich gelagerte Mentalitäten, kulturelle Vorlieben und von allen Akteuren hochgehaltene Werte wie »Leistungswille« und »Risikobereitschaft« vorkommen, kurz: dass es dort eine gemeinsame Sprache gibt, und zwar sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Gerade weil externe Ersparnisse bei der Bildung und Etablierung von Finanzzentren eine wichtige Rolle spielen, kann es zu einem sich selbst verstärkenden Prozess kommen. Die Entwicklung von Finanzplätzen ist entsprechend stark pfadabhängig. Eine einzelne Krise wird die ortsansässigen Finanzinstitute kaum dazu bringen, ihre Zelte abzubrechen und anderswo neu aufzuschlagen. Insofern ist das Gewicht der Tradition in diesem Sektor auffällig stark. Finanzplätze entstehen und verschwinden nicht über Nacht. So gesehen, müsste die Kompetenz der Historiographie besonders groß sein, wenn es darum geht, die längerfristige Entwicklung von Finanzzentren zu verstehen.
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Plädoyer für eine Geschichte der Finanzzentren Die neueste Entwicklung der europäischen Finanzplätze war für die Geschichtswissenschaft bislang ein ziemlich randständiges Thema. Die Finanzgeschichte befasste sich eher mit den Institutionen der Kreditwirtschaft, mit den Währungen,17 (Zentral-)Banken,18 Versicherungen19 und Börsen20 als mit deren räumlicher Verteilung. Immerhin hat die Geschichte einzelner Finanzplätze erste Bearbeiter gefunden. So gibt es unter anderem historische Studien zu den Finanzzentren London, Frankfurt und Berlin.21 An und für sich hat das Interesse an der Finanzgeschichte in den letzten Jahren zugenommen. Dies ist nicht zuletzt den Bemühungen von Organisationen wie der European Association for Banking & Financial History e.V. zu verdanken. Diese seit 1990 bestehende Vereinigung führt immer wieder Tagungen durch und veröffentlicht auch eine Zeitschrift, die Fincancial History Review.22 Die Historiker, die in ihrem Umfeld tätig sind, treten regelmäßig mit Sammelbänden in Erscheinung.23 Gleichwohl ist die Finanzgeschichte nach wie vor unterbelichtet. Dies gilt insbesondere für den deutschsprachigen Raum, wo sie an den Universitäten nur mangelhaft verankert ist und stark unter dem insgesamt eher betrüblichen Zustand der Wirtschaftsgeschichte zu leiden hat. Außerdem absorbiert die Epoche zwischen 1933 und 1945 in den deutschsprachigen Ländern so viel Aufmerksamkeit, dass kaum Kapazitäten für die anderen 87 Jahre des 20. Jahrhunderts vorhanden sind. Eine Geschichte der Finanzzentren scheint aus mehreren Gründen sinnvoll. Eine gewisse Relevanz für die Gegenwart ist ihr kaum abzusprechen, vor allem dann, wenn sie nach längerfristigen, stark pfadabhängigen oder häufig wiederkehrenden Strukturen fragt. Selbstverständlich müsste sie sich bei ihren Forschungen um fächerübergreifende Zusammenarbeit bemühen – die möglichen Referenzdisziplinen wurden im ersten Abschnitt dieser Einleitung genannt. Dann könnte sie die Fragen beantworten helfen, die auch die Wirtschaftsgeografie oder die Ökonomie interessieren: Konkurrieren die verschiedenen Finanzzentren miteinander oder ergänzen sie sich eher? Welche Standortbedingungen sind wie stark für ihr ständiges Auf und Ab verantwortlich? Besonders erhellend scheinen in dieser Beziehung länderübgreifende oder vergleichende Studien, wie sie allerdings noch kaum unternommen worden sind.24 Eine so verstandene Geschichte der Finanzzentren hätte auch innerhalb der Geschichtswissenschaft zahlreiche Anschlussmöglichkeiten. Die Berührungspunkte mit der Stadt- und Regionalgeschichte, mit der Wirtschafts-, Handels-, Verkehrs-, Kommunikations- und politischen Geschichte liegen auf der Hand. Die erste große Studie zur Geschichte der Finanzzentren erschien vor drei Jahrzehnten. Charles P. Kindleberger untersuchte damals die Entstehungsbedingungen von Finanzplätzen und schlug unter anderem eine Stufentheorie für deren Ent-
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wicklung vor.25 Die Finanzzentren hätten zuerst den Bedürfnissen von Handel, Fürsten und Adel gedient, um sich später an der Finanzierung von Regierungen und noch später am Aufbau von Infrastrukturen (Eisenbahnen) und Industrien emporzuranken. Kindlebergers anregende Arbeit hat bis heute leider nur wenige Nachfolger gefunden.
Zwölf Beiträge zu einer historischen Finanzmarktarchitektur Europas Der vorliegende Band fasst den aktuellen Wissensstand zur Geschichte der europäischen Finanzplätze seit dem späten 19. Jahrhundert zusammen. Teilweise geht er darüber hinaus und präsentiert neue Ergebnisse. Das Buch will weitere Forschungen auf diesem Gebiet anregen, die mit der Zeit so etwas wie eine historische Finanzmarktarchitektur Europas entstehen lassen könnten. Weil die finanzgeschichtliche Forschung vor allem im deutschsprachigen Raum einen Anstoß nötig hat, wird das Buch bewusst auf Deutsch herausgegeben – selbst wenn (oder gerade weil) deutsch- und französischsprachige Finanzhistoriker, die international Gehör finden wollen, mittlerweile besser gleich auf Englisch publizieren. In einem ersten Teil des Buches werden vier alte Finanzzentren Europas vorgestellt: London, Frankfurt, Paris und Amsterdam. London, Frankfurt und Paris, die drei heutigen Spitzenreiter Europas, waren schon im Mittelalter wichtige Handelszentren und besaßen große politische Bedeutung: London als Sitz der englischen Könige, Frankfurt als Wahlort der deutschen Kaiser, Paris als Residenz der Kapetinger. Verglichen damit ist die Gründung Amsterdams im 13. Jahrhundert neueren Datums. Das ursprünglich kleine Fischerdorf stieg jedoch relativ schnell zu einem Knotenpunkt des internationalen Handels auf und wurde schließlich im 17. Jahrhundert zu der Schaltstelle der damaligen Weltwirtschaft. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte es seinen lange andauernden Niedergang stoppen. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich Amsterdam zu einem mittelgroßen Banken- und Finanzzentrum. In der Zwischenkriegszeit profitierte es von der vorübergehenden Schwäche Londons und fand eine neue Rolle als Vermittler zwischen Deutschland und Großbritannien. Um eine vordere Position unter den Finanzmärkten Europas behalten zu können, legte die Amsterdamer Börse ihre Aktivitäten kürzlich mit denen der belgischen, französischen und portugiesischen Konkurrenz zusammen (Gründung von Euronext). Das Finanzzentrum Paris verlor seine internationale Position durch die beiden Weltkriege und die damit verbundenen Wirtschaftsprob-
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leme. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts konnte es seine alte Stärke wieder zurückgewinnen. Besonders bemerkenswert ist die heutige Stellung der City of London. Sie ist nicht nur unbestritten die Nummer eins in Europa, sie kann sogar auf globaler Ebene mithalten. Dies ist deshalb erstaunlich, weil Großbritannien im Laufe des 20. Jahrhunderts von einer Weltmacht zu einer bloßen Mittelmacht abgesunken ist: Seine Wirtschaft ist nur noch zweitrangig, das Pfund Sterling nicht mehr die Weltwährung, das Empire verschwunden. Ranald C. Michie, der die Geschichte der City kennt wie kein anderer, legt in seinem Aufsatz die Gründe dafür dar, weshalb es London trotz des Bedeutungsverlusts seiner Heimbasis gelungen ist, für die Finanzmärkte attraktiv zu bleiben. Der (Wieder-)Aufstieg der City of London fällt in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie die Rückkehr Frankfurts, das sich 1945 wie ein Phönix aus der Asche erhob. Der Finanzplatz Frankfurt profitierte von der Entthronung seines Konkurrenten Berlin, vom (west-)deutschen Wirtschaftswunder, von der Stabilität der D-Mark, der Integration Europas und der Liberalisierung des Welthandels. London, Frankfurt und Paris konnten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (annähernd) wieder jene Position erringen, die sie einst besessen hatten. Die anderen Aufsteiger des 20. Jahrhunderts waren hingegen mehr oder weniger Newcomer: die Schweiz, Luxemburg, Liechtenstein und die Kanalinseln. Sie sollen in einem zweiten Teil des Buches vorgestellt werden. Zwar standen Genfer und Basler Bankiers schon in der Frühen Neuzeit im Mittelpunkt der internationalen Finanzszene, doch begann die Bildung eines integrierten »Finanzplatzes Schweiz« und dessen Aufstieg an die Spitze der europäischen Finanzzentren erst im späten 19. Jahrhundert. Er beschleunigte sich während und nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, als die zentral gelegene Schweiz dank ihrer innenpolitischen Stabilität, ihrer wirtschaftlichen Prosperität und ihrer starken Währung für ausländische Kapitalien interessant wurde. Mittlerweile beherbergt die Schweiz ungefähr ein Drittel der gesamten transnationalen Privatguthaben der Welt. Weil der Finanzplatz Schweiz vor allem ausländische Vermögen verwaltet und weil seine Position (auch) auf das Bankgeheimnis und auf die attraktive (Steuer-)Gesetzgebung zurückzuführen ist, wird er bisweilen als Offshore-Zentrum26 bezeichnet. Das Financial Stability Forum der G-7, der sieben führenden Industriestaaten, setzte die Schweiz im April 2000 mit 36 anderen Ländern auf die Liste der Offshore-Zentren. Die Schweizerische Nationalbank (die Zentralbank) und die Eidgenössische Bankenkommission (die Aufsichtsbehörde des Finanzplatzes) reagierten pikiert und wehrten sich in einer gemeinsamen Stellungnahme gegen diese »ungerechtfertigte Qualifizierung«27 – man wollte nicht mit Bahrain, Monaco und den Jungferninseln in einen Topf geworfen werden. Auch Luxemburg lehnt diese Bezeichnung für sich ab. Die Anfänge des Finanzplatzes Luxemburg fallen in die 1920er Jahre, als
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man eine Börse gründete und mit speziellen Gesetzen ausländische Holdinggesellschaften anlockte. Der richtige Aufschwung begann jedoch erst in den 1950er Jahren. Luxemburg konnte von der Zollunion mit Belgien, von der europäischen Integration, von finanzplatzfreundlichen Gesetzen, vom Aufkommen der EurobondMärkte und vom Kapitalzufluss aus Deutschland profitieren und in wenigen Jahrzehnten zu einem der weltweit größten Fondsplätze heranwachsen. Während Luxemburg und die Schweiz kaum als Offshore-Zentren charakterisiert werden können, fallen das Fürstentum Liechtenstein und die beiden britischen Selbstverwaltungsgebiete Jersey und Guernsey mit Sicherheit in diese Kategorie. Die Dienstleistungen dieser Finanzplätze richten sich in erster Linie an Nicht-Einheimische, die vom milden Steuerklima und anderen dort vorhandenen Vorteilen angelockt werden. Die Anfänge des Finanzplatzes Liechtenstein reichen in die 1920er Jahre zurück, als Kapitalien aus den kriegsversehrten Ländern Mitteleuropas, die durch Enteignungen, Währungsverluste und exzessive Steuern gefährdet waren, in der kleinen Monarchie einen sicheren und billigen (Steuer-)Hafen fanden. Ähnlich wie Liechtenstein vom nahen Zürich abhängig war und mit dessen Banken zusammenarbeitete, so entwickelten sich die Finanzplätze Jersey und Guernsey seit den 1950er Jahren als eine Art Außenstelle der City of London, die deren Aufschwung wohlwollend duldete. Es ist ein gemeinsames Merkmal von Offshore-Zentren, dass sie aus ihrer Souveränität Kapital zu schlagen wissen. Gestützt auf ihre souveräne bzw. (wie im Falle der Kanalinseln Jersey und Guernsey) semi-souveräne Stellung können sie spezielle Steuer- und Handelsgesetze erlassen, die sie für ausländische Kapitaleigener attraktiv machen. In einem dritten und letzten Teil des Buches geht es dann um Themen, die jeweils mehrere Finanzzentren betreffen. So untersucht Tobias Straumann, warum Luxemburg und London seit den 1950er Jahren von dem Aufkommen der Euromärkte profitieren konnten, während Deutschland und die Schweiz den Zufluss dieser internationalen Gelder (namentlich aus dem Dollarraum) behinderten und damit Wachstumsmöglichkeiten verschenkten. Richard Tilly geht der Frage nach, wie und warum sich das Volumen und die Aufgaben der wichtigsten Finanzplätze Europas im Laufe des 20. Jahrhunderts veränderten. Richard T. Meier analysiert die gewaltigen Fortschritte in der Börsentechnik der beiden letzten Jahrhunderte. Diese Fortschritte beschleunigten die Globalisierung der Finanzmärkte, ja ermöglichten sie zum Teil überhaupt erst. Meier bezweifelt jedoch, dass jene Börsen besonders erfolgreich waren, die bei der Automatisierung der Handelssysteme die Führung übernahmen. Harold James schließlich vergleicht in einer globalen Sicht die europäische mit der US-amerikanischen Entwicklung. Seiner Ansicht nach sind es die regulatorischen Rahmenbedingungen, welche in erster Linie über das langfristige Schicksal von Finanzzentren bestimmen.
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Anmerkungen 1 Für Kommentare und Ergänzungen danke ich Tanja Hommen (Campus), Tobias Straumann (Zürich) und Anke Willoughby (Stuttgart). 2 Über das Verhältnis von London und Frankfurt und die Frage, ob zwischen den beiden Städten überhaupt eine direkte Konkurrenz besteht: Beaverstock, Jonathan V./Hoyler, Michael/Pain, Kathryn/Taylor, Peter J., Comparing London and Frankfurt as world cities: A relational study of contemporary urban change, London 2001. 3 Zum »Zeitalter der Genuesen«: Braudel, Fernand, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, München 1990, S. 167–185. 4 Dichtl, Erwin/Issing, Otmar (Hg.), Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, München 1993 (2. Auflage). 5 Porteous, David, »The Development of Financial Centres: Location, Information Externalities and Path Dependence«, in: Martin, Ron (Hg.), Money and the Space Economy, Chichester 1998, S. 95 –137, hier S. 96. 6 Solche Typologien und Rangierungen bieten: Abrahm, Jean-Paul/Bervaes, N./Guinotte, A./Lacroix, Y., The Competitiveness of European Financial Centres, Bangor 1993; Davis, Philip, »Concepts and Typologies«, in: Roberts, Richard (Hg.), International Financial Centres. Concepts, Development and Dynamics, Aldershot 1994, S. 1–27; Poon, Jessie P. H./Eldredge, Bradly/Yeung, David, »Rank Size Distribution of International Financial Centers«, International Regional Science Review, Bd. 27/2004, S. 411–430. Poon, Eldredge und Bradly zeigen, dass der Globalisierungsschub der 1980er und 1990er Jahre nicht etwa zu einer Konzentration der Finanzmärkte in wenigen Städten führte, sondern dass die Ungleichgewichte zwischen den 45 untersuchten Zentren in dieser Zeit im Gegenteil eher abgenommen haben. 7 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 23. Juni 2003 (»Als Finanzzentrum hat New York die Nase vorn«). 8 Porteous, Development [wie Anm. 5], S. 96 –101. 9 Michie, Ranald C., The London Stock Exchange: A History, Oxford 1999, S. 4. 10 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 2. Oktober 2004 (»Gute Aussichten für den Finanzplatz Paris«). 11 Zur Ausbildung des Geldwesens und zum Aufstieg der europäischen Finanzplätze noch immer am besten: Braudel, Fernand, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, München 1990 (verschiedene Kapitel und Abschnitte in dem dreibändigen, 1979 erstmals auf französisch publizierten Buch). Vgl. auch: Townsend, Robert M., Financial Structure and Economic Organization: Key Elements and Patterns in Theory and History, Oxford 1990. Townsend untersucht in seiner Studie u.a. die Bildung von Finanzzentren im mittelalterlichen Europa. Nach seinen Untersuchungen entstehen sie dort, wo finanziell relevante Informationen über Handelsströme und produktive Aktivitäten zusammenkommen. 12 Vgl. Holtfrerich, Carl-Ludwig, Finanzplatz Frankfurt. Von der mittelalterlichen Messestadt zum europäischen Bankenzentrum, München 1999, S. 22; Thierstein, Alain/Schamp, Eike W., Innovation, Finance and Space, Frankfurt a.M. 2003. 13 Vgl. Krugman, Paul, Geography and Trade, Leuven/Cambridge (Mass.) 1991; Fujita, Masahisa/ Krugman, Paul/Venables, Anthony J., The Spatial Economy. Cities, Regions, and International Trade, Cambridge (Mass.) 1999. 14 Lösch, August, Die räumliche Ordnung der Wirtschaft, Stuttgart 1962, 3. Auflage, S. 329 –336.
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15 Dazu: Holtfrerich, Finanzplatz [wie Anm. 12], S. 24 –27 (Holtfrerich stützt sich dabei v.a. auf: Robbins, Sidney M./Terleckyi, Nestor E., Money Metropolis. A Locational Study of Financial Activities in New York, Cambridge [Mass.] 1960); sowie: Porteous, Development [wie Anm. 5], S. 101–105. Selbstverständlich gibt es nicht nur zentripetale, sondern auch zentrifugale Kräfte. So können die hohen Grundstückpreise die Banken dazu zwingen, ihre Aktivitäten aus den Zentren auszulagern. 16 Dazu: Thrift, Nigel, »On the Social and Cultural Determinants of International Financial Centres. The Case of the City of London«, in: Corbridge, Stuart/Martin, Ron/Thrift, Nigel (Hg.), Money, Power and Space, Oxford 1994, S. 327–355; Reszat, Beate, »Centres of Finance, Centres of Imagination: On Collective Memory and Cultural Identity in European Financial Market Places«, in: Globalization and World Cities Study Group and Network (Hg.), Research Bulletin, Nr. 92 vom 20. August 2002. 17 Vgl. etwa die Publikationen von Barry Eichengreen und Harold James. Einen guten Einstieg in die Geld- und Kreditgeschichte der USA, Großbritanniens und Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert bietet: Tilly, Richard, Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 2003. 18 Grundlegend: Pohl, Hans (Hg.), Europäische Bankengeschichte, Frankfurt a.M. 1993; Pohl, Manfred (Hg.), Handbook on the History of European Banks, Cheltenham 1994; für die Zentralbanken: Holtfrerich, Carl-Ludwig/Reis, Jaime/Toniolo, Gianni (Hg.), The Emergence of Modern Central Banking from 1918 to the Present, Aldershot 1999. Hinzuweisen ist an dieser Stelle auch auf die zahlreichen Unternehmensgeschichten, zum Beispiel auf die von der Historischen Gesellschaft der Deutschen Bank e.V. herausgegebenen Bücher (u.a. James, Harold, Die Deutsche Bank im Dritten Reich, München 2003). 19 Z.B. Borscheid, Peter, 100 Jahre Allianz, 1890 – 1990, München 1990; Jung, Joseph, Die Winterthur. Eine Versicherungsgeschichte, Zürich 2000. 20 Z.B. Michie, Stock Exchange [wie Anm. 9]; Pohl, Hans (Hg.), Deutsche Börsengeschichte, Frankfurt a.M. 1992. 21 Zu London, Paris, Frankfurt, Berlin und der Schweiz: Michie, Ranald C., The City of London: Continuity and Change since 1850, London 1992; Michie, Ranald C. (Hg.), The Development of London as a Financial Centre, London 2000; Cassis, Youssef/Bussière, Eric (Hg.), London and Paris as International Centres in the Twentieth Century (im Erscheinen); Holtfrerich, Finanzplatz [wie Anm. 12]; Grote, Michael, Die Entwicklung des Finanzplatzes Frankfurt. Eine evolutionsökonomische Untersuchung, Berlin 2004; Pohl, Hans (Hg.), Geschichte des Finanzplatzes Berlin, Frankfurt a.M. 2002; Guex, Sébastien/Mazbouri, Malik (Hg.), La place financière suisse en comparaison internationale 1890 – 1970 (im Erscheinen). Zur Geschichte außereuropäischer Zentren: Wilkins, Mira, »Cosmopolitan finance in the 1920s: New York’s emergence as an international financial centre«, in: Sylla, Richard/Tilly, Richard/Tortella, Gabriel (Hg.), The State, the Financial System and Economic Modernization, Cambridge 1999, S. 271– 291; Jones, Geoffrey, »International Financial Centres in Asia, the Middle East and Australia: A Historical Perspective«, in: Cassis, Youssef (Hg.), Finance and Financiers in European History, 1880 – 1960, Cambridge 1992, S. 405 – 428. 22 Bis Mai 2004 hieß die Organisation European Association for Banking History e.V. (www.banking history.de, 4. November 2004). In der Schweiz gibt es den Verein für Finanzgeschichte (Schweiz und Fürstentum Liechtenstein), in Deutschland das Institut für bankhistorische Forschung e.V. (vgl. http://www.ibf-frankfurt.de, 4. November 2004). Seit 1975 gibt das Frankfurter Institut zweimal pro Jahr eine Zeitschrift heraus: Bankhistorisches Archiv. Zeitschrift zur Bankengeschichte.
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23 Zuletzt erschienen: Battilossi, Stefano/Cassis, Youssef (Hg.), European Banks and the American Challenge. Competition and Cooperation in International Banking under Bretton Woods, Oxford 2002; Flandreau, Marc/Holtfrerich, Carl-Ludwig/James, Harold (Hg.), International Financial History in the Twentieth Century. System and Anarchy, Cambridge 2003. 24 Eine der wenigen Ausnahmen ist etwa: Schenk, Catherine R., »International Financial Centres, 1958 – 1971: Competitiveness and Complementarity«, in: Battilossi, Stefano/Cassis, Youssef (Hg.), European Banks and the American Challenge. Competition and Cooperation in International Banking under Bretton Woods, Oxford 2002, S. 74 – 102. 25 Charles P. Kindleberger, The Formation of Financial Centers. A Study in Comparative Economic History, Princeton 1974, S. 9. 26 Zur Offshore-Problematik: Bowe, Michael/Briguglio, Lino/Dean, James W., Banking and Finance in Islands and Small States, London/Washington 1998; Hampton, Mark, The Offshore Interface. Tax Havens in the Global Economy, Basingstoke/London/New York 1996; Hampton, Mark/Abbott, Jason P. (Hg.), Offshore Finance Centres and Tax Havens. The Rise of Global Capital, Basingstoke/London 1999; Palan, Ronen, The Offshore World. Sovereign Markets, Virtual Places, and Nomad Millionaires, Ithaca/London 2003. 27 Vgl. http://www.ebk.admin.ch/d/archiv/2001/archiv2001.htm (29. Oktober 2004).
I. TEIL: Vier alte Finanzzentren Europas
Der Aufstieg der City of London als Finanzplatz: Vom Inlandsgeschäft zum Offshore-Zentrum? Ranald C. Michie Einführung Aus der Sicht einflussreicher Beobachter ist die City of London1 am Ende des 20. Jahrhunderts zum größten Auslandsfinanzzentrum der Welt aufgestiegen. Andere globale Finanzzentren wie New York oder Tokio werden in erster Linie von innenpolitischen Überlegungen angetrieben, weil sie der größten bzw. zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt dienen. In London ist dies nicht der Fall. 1985 stellte das Wörterbuch für das internationale Finanzwesen fest, dass »London wegen des Euro-Marktes in absoluten Zahlen der größte Auslandsfinanzplatz ist«2. Im Jahre 2002 soll jeder dritte Beschäftigte in der City of London für eine ausländische Firma tätig gewesen sein. Darüber hinaus war die Beschäftigung vieler, die für britische Firmen arbeiteten, vom Auslandsgeschäft abhängig.3 Geographisch befindet sich die City of London in Großbritannien. Trotzdem meinen viele, ihre Aktivitäten seien durch den Fluss ausländischer Kredite und ausländischen Kapitals bestimmt. Ein mit der City eng Vertrauter wie Philip Augar, der dort seit den 1970er Jahren gearbeitet hatte, erklärte in den späten 1990er Jahren: »Die City ist eine Zweigstelle New Yorks ohne Kontrolle über ihr eigenes Schicksal.«4 Unter dem Personal, das man heute in der City antrifft, stammen viele aus dem Ausland. Die dominierenden Finanzinstitutionen stehen unter ausländischer Eignerschaft, wobei amerikanische und europäische Banken die wichtigsten Eigentümer sind. Einige Beobachter meinen, die City habe im Rahmen eines schleichenden Prozesses aufgehört, ein britisches Finanzzentrum zu sein, und sei stattdessen zu einem Teil des globalen Marktes geworden. Umgekehrt seien sowohl die City als auch Großbritannien insgesamt auf Gedeih und Verderb dem globalen Markt und den Entscheidungen weit entfernter Vorstandsetagen ausgesetzt.5 Den Begriff offshore centre wenden vor allem jene auf die City an, welche behaupten, ihre Existenz untergrabe die wirtschaftliche Prosperität Großbritanniens, ja die Souveränität des britischen Volkes. Wörtlich genommen, ist die City of London tatsächlich ein Offshore-Zentrum. Sie liegt auf einer Insel vor der Küste Kontinentaleuropas (wörtlich: off shore), einer Insel, die alle Invasionsversuche seit 1066 zurückgewiesen hat. Allerdings kann ein Offshore-Zentrum nicht bloß räumlich gefasst werden; es kann vielmehr überall
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stehen, wenn es über bestimmte Charakteristika verfügt. 1985 definierte das Wörterbuch für das internationale Finanzwesen offshore als einen »Begriff, der die Operationen einer Finanzinstitution beschreibt, die wenige Beziehungen mit dem Finanzsystem des Landes aufweist, in dem sie angesiedelt ist«6. Dies war eine ziemlich weite Definition. Sie ließ sich auf viele Aktivitäten der City anwenden, die aus den Beziehungen der britischen Wirtschaft mit anderen Wirtschaften resultierten, namentlich auf den Handel mit Währungen, das Aus- und Verleihen von Kapital oder das Gewähren von Krediten. Zwangsläufig weist in einer Zeit globaler Märkte jedes nationale Finanzzentrum Züge auf, die in die Kategorie offshore fallen. Insofern benötigt man eine spezifischere Definition, um das Einmalige eines Offshore-Zentrums zu begreifen. Für ein Offshore-Zentrum ist es nicht nur typisch, dass es kaum Beziehungen mit dem Finanzsystem des Landes hat, in dem es zuhause ist. Noch wichtiger sind die relative Abwesenheit von Regulierungen und Kontrollen und das relativ niedrige Niveau der Besteuerung. Diese Umstände machen ein Offshore-Zentrum attraktiv für auswärtige Finanzinstitutionen und für wohlhabende Individuen aus dem Ausland. Insofern ist der Begriff offshore eng verknüpft mit der Vermeidung regierungsseitiger Restriktionen und Kosten.7 Das Handbuch der internationalen Finanzbegriffe definierte offshore 1997 als »einen Platz, der zur Vermeidung von steuerlichen und regulatorischen Restriktionen errichtet worden ist und wo man finanzielle Transaktionen unter vorteilhaften Regulierungsbedingungen abwickeln kann«8. In der Zusammenschau könnte man ein Offshore-Zentrum als einen Finanzplatz definieren, der den Großteil seiner Geschäfte auf fremde Rechnung ausführt und der weitgehend von dem Finanzsystem des Landes getrennt ist, in dem er seinen Sitz hat. Ein Offshore-Zentrum weist zudem nur minimale Aufsichtskontrollen auf und sein Besteuerungsniveau ist niedrig. Erfüllte die City of London diese Rahmenbedingungen und wann tat sie dies?
Die Ära vor 1914 Die City of London entstand im Mittelalter, weil sie den Bedürfnissen der damaligen Wirtschaft entgegenkam. London war die bevölkerungsreichste Stadt Großbritanniens und ihre Einwohner gehörten zu den wohlhabendsten des Landes. Dies allein generierte eine wachsende Nachfrage nach Finanzdienstleistungen. Zusätzlich war London der Sitz der Regierung und der wichtigste Hafen, was den Finanzbedarf in der Form von Staatsanleihen und Handelskrediten weiter steigerte. Schon um 1500 monopolisierten Bankiers und Händler der City die Regierungsanleihen und die Finanzierung des britischen Fernhandels. Im 16. und 17. Jahrhundert vergrößerten
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die Londoner Bankiers und Händler ihren Tätigkeitskreis: Sie finanzierten nun auch den landeseignen Handel und stellten jene Kredite zur Verfügung, welche die britische Wirtschaft für ihr Wachstum benötigte. Obwohl die industrielle Revolution zwischen 1750 und 1850 eher im Norden Großbritanniens, in Schottland und Wales stattfand, dominierte London den einheimischen Kreditmarkt und den interregionalen Zahlungsverkehr über ein dichtes Netzwerk von Bankverbindungen. Diese verbanden zahlreiche Einzelbanken über den Londoner Geldmarkt, der als Clearing-Zentrum für das ganze System funktionierte und Angebot und Nachfrage landesweit ausglich. Die City of London dominierte in ähnlicher Weise bald auch den Kapitalmarkt: Sie finanzierte sowohl den Staat als auch die Industrie und beteiligte sich namentlich am Aufbau der britischen Eisenbahnen. Bessere Kommunikationsund Transportmöglichkeiten verstärkten den Bedeutungszuwachs der City. Infolgedessen beruhte die starke Stellung der City of London als Finanzzentrum in der Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend auf den Dienstleistungen, die sie für die britische Wirtschaft erbrachte. Der Handel an der Londoner Börse wurde durch Transaktionen britischer Regierungsanleihen dominiert, während sich der Londoner Geldmarkt hauptsächlich mit der Mobilisation von Ersparnissen und der Gewährung von Krediten innerhalb Großbritanniens beschäftigte. Die meisten internationalen Finanztransaktionen, die in London stattfanden, wurden durch den Kreditbedarf für britische Ein- und Ausfuhren generiert, ferner durch die Bereitstellung der für den Erwerb ausländischer Wertpapiere notwendigen Infrastruktur. Seit den 1870er Jahren begann die City of London zunehmend Finanzdienstleistungen anzubieten, die nicht direkt an die britische Wirtschaft gekoppelt waren. Das Volumenwachstum einheimischer Wechsel hörte nach 1880 auf – damals wurden einheimische Kredite vermehrt durch Filialen von Banken zur Verfügung gestellt, die ihren Sitz in der City hatten. Durch einen Expansions- und Verschmelzungsprozess wurde die City bis zum Ersten Weltkrieg zur dominierenden Kraft im englischen Bankwesen. Der Londoner Geldmarkt konzentrierte sich fortan darauf, Geld aus der ganzen Welt anzuziehen, um damit den internationalen Handel zu finanzieren. Der Londoner Wechsel wurde zu dem universellen Werkzeug des Handels, was immer auch die Quelle oder das Ziel von Transitgütern war. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren in London Handelswechsel in der Höhe von 518 Millionen Pfund ausstehend; zwei Drittel von ihnen waren ausländischen Ursprungs. Gleichzeitig stammten zwei Drittel der kurzfristigen Gelder, mit denen auf dem Londoner Markt gearbeitet wurde, aus dem Ausland. Die City of London war zum internationalen Bankzentrum der Weltwirtschaft aufgestiegen. Londoner Banken betreuten nicht nur die Emission von Wertpapieren ausländischer Regierungen und Unternehmen, sie verkauften diese auch an Investoren aus ganz Europa. Viele der Firmen kamen ihrerseits aus dem Ausland und beschäftigten internationales Personal. Demzufolge kotierte die Londoner Börse zunehmend Wertpapiere aus allen
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Himmelsrichtungen und wurde zum Treffpunkt von Investoren aus der ganzen Welt. Die Aktivitäten der Londoner City wurden zunehmend durch Kräfte außerhalb der britischen Wirtschaft bestimmt. Die Kommunikationsrevolution, die in den 1850er Jahren mit dem Telegrafen begonnen und sich dann auf das Telefon ausgeweitet hatte, erlaubte eine wachsende räumliche Trennung zwischen Transport, Handel und Finanzierung, so dass sich die City als Bindeglied für alle Arten von internationalen Geschäften etablieren konnte.9 Lloyds beispielsweise versicherte Schiffe und Güter unabhängig von den Besitzverhältnissen und Routen, während sich die Firma früher auf britische Schiffe und Lieferungen beschränkt hatte. Zwei Drittel aller Seefahrtsversicherungen wurden vor dem Ersten Weltkrieg in London abgeschlossen. Britische Feuerversicherungen engagierten sich stark in den USA.10 Als Resultat schien damals das offshore-Element in der City zuzunehmen. Es kam zu einer funktionalen Trennung zwischen jenen, die sich – wie die britischen Geschäftsbanken – auf den Heimmarkt beschränkten, und jenen, die ein auswärtiges Interesse hatten, wie die britischen Übersee- und Handelsbanken. Zwischen 1860 und 1913 stieg die Zahl der ausländischen Banken mit einer Niederlassung in London von 3 auf 71. Darüber hinaus hatten im Jahre 1913 25 britische Überseebanken, die auf dem ganzen Globus vertreten waren, ihr Hauptquartier in London. Allerdings resultierten diese Entwicklungen aus Großbritanniens eigenen Handelsund Finanzaktivitäten. Die City war am Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur das Finanzzentrum der britischen Volkswirtschaft, sondern das der Weltwirtschaft, so dass ausländische Banken gezwungen waren, dort präsent zu sein. Im Jahre 1912 beispielsweise waren 1.132 Banken aus der ganzen Welt in der City anwesend, sei es direkt oder über eine Verbindung mit einer in London vertretenen Bank. Eine der führenden britischen Banken, die Midland Bank, spezialisierte sich beispielsweise darauf, als Londoner Vertreter ausländischer Banken aufzutreten. Auch konnte nur ein Finanzzentrum, das so groß und vernetzt war wie dasjenige von London, mit der jeweils notwendigen Spezialisierung aufwarten. Zahlreiche kleine Londoner Banken in Privatbesitz überlebten nur deshalb, weil sie sich auf in- und ausländische Nischengeschäfte beschränkten, beispielsweise auf Handelskredite oder Wertpapieremissionen.11 Die Tatsache, dass London das Zahlungszentrum der internationalen Ökonomie war, hatte auch große Auswirkungen auf seinen Geldmarkt. Weil Zahlungen immer in der City geleistet bzw. entgegengenommen wurden, beherbergte London Geld aus der ganzen Welt, das dort auf eine lukrative Zwischen- oder Weiterverwendung wartete. Londons Geldmarkt war deshalb sowohl groß als auch international bedeutend. Auch die Gelder, welche die Banken liquide halten mussten, wollten beschäftigt sein, und weil Gelder aus der ganzen Welt nach London transferiert wurden, konnte der Londoner Markt sehr große Summen leicht, schnell und kurzfristig zur Verfügung stellen. Mehr als die Hälfte der Gelder, die auf den Londoner
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Markt kamen, stammten aus dem Ausland, und dies, obwohl nur ein Drittel des internationalen Handels aus britischen Gütern bestand. Die Banken, die in diesem Geschäft tätig waren, unterschieden dabei nicht zwischen einheimischem und internationalem Geldmarkt.12 Die wachsende internationale Orientierung des Londoner Geldmarktes beeinflusste auch den Kapitalmarkt. So bestand eine Möglichkeit des Einsatzes von kurzfristigem Geld darin, es gegen Wertpapiere auszuleihen. Musste das Darlehen zurückbezahlt werden, konnten die entsprechenden Wertpapiere zur Not an der Börse veräußert werden. Infolgedessen wurde das nach London fließende Geld nicht nur für die Finanzierung des internationalen Handels eingesetzt, sondern zunehmend für internationale Investments genutzt. Auf diese Art und Weise entwickelte sich London allmählich zu einem idealen Ort für Regierungen und Unternehmen aus aller Welt, um sich langfristig zu finanzieren, denn Anleihen waren dort einfacher und zu niedrigeren Zinsen zu bekommen als anderswo.13 Darüber hinaus gab es in London viele erfahrene, kosmopolitische Investmentbanker, sei es für Staatsanleihen, bei denen die Rothschilds eine führende Rolle spielten, sei es für die Finanzierung neuer, risikoreicher Branchen wie dem südafrikanischen Minengeschäft. Das Personal dieser Banken stammte oft aus dem Ausland und verfügte über Beziehungen sowie über Hintergrund- und Sprachkenntnisse.14 Zwischen 1865 und 1914 kamen in London 4,1 Milliarden Pfund für Auslandsanlagen zusammen, ausländische Investoren gehörten zu den wichtigsten Kapitalgebern.15 Umgekehrt waren deren Anteilsscheine an der Londoner Börse, der größten der damaligen Zeit, willkommen.16 Im Jahre 1913 waren die Hälfte aller an der Londoner Börse kotierten Wertpapiere ausländisch, und dies sogar ohne jene Papiere, deren Dividenden nicht in London bezahlt wurden, sondern im Ausland.17 Nichtsdestotrotz stammte das meiste Geld von britischen Anlegern. Der Löwenanteil des Handels resultierte aus ihren Käufen und Verkäufen. So waren im Jahre 1913 40 Prozent der Vermögenswerte britischer Lebensversicherungen im Ausland investiert, meistens in Wertpapieren.18 Trotz der wachsenden internationalen Orientierung der City waren die meisten ihrer Aktivitäten am Vorabend des Ersten Weltkrieges nach wie vor ein Produkt der britischen Wirtschaft. Großbritannien war die größte Handels- und Schifffahrtsnation der Welt und die dominierenden Investoren waren Briten. Dies führte zu einer umfangreichen Nachfrage nach Handelskrediten, Seefahrtsversicherungen und ausländischen Wertpapieren. Alle diese Geschäfte wurden damals in der Währung Großbritanniens abgewickelt, dem Pfund Sterling.19 Generell gab es wenige Regierungskontrollen oder -regulierungen, weder in Großbritannien noch anderswo, so dass auch kein Bedürfnis nach Offshore-Zentren entstand. Die City of London florierte damals unter einem Regime segensreicher Vernachlässigung: Käufer und Verkäufer, Kreditgeber und Kreditnehmer mussten die Konsequenzen ihrer Aktivitäten selbst
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tragen; Märkte regulierten sich selbst, genauso wie die Preise für Kredit und Kapital. Das wichtigste Gebiet der Intervention war der Goldstandard, mit dem die Regierungen festlegten, zu welchem Preis ihre Währungen gegen Gold eingetauscht werden konnten. Allerdings wurden die Währungen anschließend in Ruhe gelassen. Es gab keine Währungskontrollen, so dass sich das Kapital frei nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage bewegen konnte.20 Das Wertpapier- und Warentermingeschäft war eines der wenigen Beispiele, wo London von auswärtigen Regulierungen profitieren konnte. Da die deutsche Gesetzgebung 1896 und 1908 Warentermingeschäfte verbot, um die Spekulation in den Griff zu bekommen, verlagerte sich der entsprechende Handel nach London. Etliche Deutsche siedelten nach London über, um ihren internationalen Handel von dort aus organisieren zu können.21 Ebenso brachten französische Restriktionen für die Emission ausländischer Wertpapiere einigen Handel nach London.22 Alles in allem waren diese Geschäftsfelder aber nicht so wichtig. Es drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die City of London vor dem Ersten Weltkrieg ein britisches Finanzzentrum war – trotz ihrer zunehmenden internationalen Orientierung. Die Abwesenheit von Regierungskontrollen machte OffshoreZentren überflüssig, und London war mit Sicherheit kein solches Zentrum.
Die Jahre zwischen 1914 und 1939 Der Erste Weltkrieg führte die City of London in eine neue Ära, weil er die offene, liberale und relativ stabile Weltwirtschaft, innerhalb der sie operierte, veränderte. Die Weltwirtschaft wurde nun vermehrt durch politische Regulierungen und Kontrollen beeinflusst. Politische, ökonomische, finanzielle und monetäre Unsicherheiten waren an der Tagesordnung. Unter diesen Umständen könnte man erwarten, dass Offshore-Aktivitäten aufblühten. Eine Folge des Krieges war jedoch, dass die City ihr internationales Geschäft verminderte und statt dessen wieder vermehrt zu einem britischen Finanzplatz wurde, eine Rolle, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts etwas in den Hintergrund getreten war. Um den Krieg zu finanzieren, monopolisierte die britische Regierung die Londoner Geld- und Kapitalmärkte mit Hilfe einer Kombination von patriotischen Appellen und staatlichen Kontrollen. Die Verschuldung Großbritanniens beispielsweise wuchs von 0,7 Milliarden Pfund im Jahre 1914 auf 7,5 Milliarden Pfund im Jahre 1919, die Höhe der ausstehenden Schatzwechsel von 16 Millionen Pfund im Juli 1914 auf 1.098 Millionen Pfund im Januar 1919.23 Umgekehrt verkauften britische Investoren nun US-amerikanische Wertapiere, die sie früher gehalten hatten.24 Trotz dieser Rückschläge blieb die City ein international orientiertes Finanzzentrum.25 In den 1920er Jahren war der Londo-
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ner Geldmarkt noch immer größer als der von New York, sein Kapitalmarkt war allerdings mittlerweile kleiner. Ausländische Finanzinstitutionen fuhren fort, in London präsent zu sein, denn kein anderer Finanzplatz verfügte über ein so weit reichendes, dicht geknüpftes und umfassendes Beziehungsnetz.26 Londons Attraktivität wuchs in den 1920er Jahren zudem durch die Entstehung des größten Devisenmarktes der Welt: 1924 gab es in der City 40 Unternehmungen, die mit Währungen handelten.27 Dieser Devisenmarkt war aber nicht etwa Ausdruck eines wachsenden Offshore-Geschäfts, sondern eine Folge der nach wie vor starken Stellung Großbritanniens in der Weltwirtschaft.28 Es gibt nur wenige Beispiele aus den 1920er Jahren, in denen die City of London als Offshore-Zentrum gebraucht wurde. Eines war der vorübergehende Zufluss von Geld aus dem inflationsgeschüttelten Kontinentaleuropa. London wurde – zusammen mit New York – vorübergehend zu einem sicheren Hafen für kontinentaleuropäische Gelder. Diese Geldströme kehrten sich allerdings in dem Augenblick um, in dem die Geldwertstabilität wieder hergestellt war.29 Bedeutender war die (Wieder-)Ausrichtung der City of London auf den britischen Heimmarkt. Regierungsanleihen dominierten den Londoner Geldmarkt, Handelsbanken konzentrierten sich auf die Kreditbedürfnisse der britischen Wirtschaft.30 Die Inlandsorientierung wurde durch die Finanzkrise des Jahres 1931 verstärkt. In jenem Jahr musste Großbritannien den Goldstandard aufgeben, was den Wert des Pfundes unsicher machte und damit die Rolle Londons als internationales Finanzzentrum in Frage stellte.31 Das internationale Geschäft schrumpfte in allen Bereichen (Geld, Kapital, Versicherungen), und zwar infolge des kollabierenden Welthandels und der staatlichen Kontrollen grenzüberschreitender Transaktionen.32 So ging die Ausgabe von Wertpapieren überseeischer Kreditnehmer massiv zurück. Noch 1927/28 hatten sich diese Emissionen auf 150 Millionen Pfund pro Jahr belaufen, 1931 waren es noch 50, 1935 noch 21 Millionen Pfund. Demgegenüber hielten sich einheimische Wertpapiere wesentlich besser. Im Jahre 1939 betrug der Anteil ausländischer Wertpapiere am gesamten Marktwert der Londoner Börse noch etwa 12 Prozent. Dies war deutlich weniger als die 20 Prozent, die durch die einheimischen Unternehmen repräsentiert wurden, und noch viel weniger als die 40 Prozent, die auf die britische Regierung bzw. auf andere einheimische Körperschaften öffentlichen Rechts lauteten.33 Allerdings war die Londoner City nicht allein in dieser Lage. Alle großen Finanzplätze hatten unter den Maßnahmen zu leiden, mit denen die Regierungen auf finanzielle und monetäre Krisen wie den Wall Street-Crash des Jahres 1929 reagierten. Fast überall wurden Devisenkontrollen eingeführt, und die Regierungen versuchten aktiv, Zinsen und Währungen zu stabilisieren.34 Nationale Finanzsysteme wurden an die Kandare genommen. So schränkte die US-Gesetzgebung der Jahre 1931 und 1934 die Freiheit der New Yorker Banken und Finanzmärkte massiv ein.
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Das deutsche Moratorium für die Rückzahlung ausländischer Darlehen im Sommer 1931 sowie die wachsende Kontrolle des einheimischen Finanzsystems unterminierten Berlins Bedeutung als Finanzzentrum. Der Versuch Frankreichs in der Mitte der 1930er Jahre, den Franc weiterhin an den Goldstandard zu koppeln, schadete dem Finanzplatz Paris. Dank der nach wie vor intakten Beziehungsgeflechte blieb die City of London attraktiv für internationale Geschäfte. Nach einer Schätzung für das Jahr 1932 besaßen mehr als zwei Drittel aller Banken auf der Welt eine Zweigstelle oder einen Korrespondenten in London. 1938 hatten 24 britische Überseebanken ihre Zentrale in der City. Gleichzeitig waren 85 ausländische Banken in London präsent, und dies trotz der Schließung aller deutschen Filialen im Ersten Weltkrieg.35 Es war aber nicht so, dass die City of London die Bedürfnisse der britischen Wirtschaft vernachlässigt hätte (wie Zeitgenossen vermuteten). Im Gegenteil. Handelsbanken, die ihre internationalen Geschäfte verloren, engagierten sich statt dessen in der Finanzierung der britischen Industrie.36 Umgekehrt expandierten britische Geschäftsbanken ins Ausland und erwarben Anteile von britischen Überseebanken. Lloyds Bank engagierte sich in Südamerika, Neuseeland, Indien und Westafrika, Barclays konzentrierte sich bei seiner Expansionsstrategie auf Westindien und Afrika. Es gab in der City keine strikte Trennung zwischen einheimischen und ausländischen Unternehmungen. Die City blieb also vor dem Zweiten Weltkrieg sowohl ein britisches als auch ein internationales Finanzzentrum, wobei die britischen Bedürfnisse – sei es zu Hause oder in Übersee – an erster Stelle standen.37 Dies alles geschah sogar in den 1930er Jahren unter einem vergleichsweise zurückhaltenden regulatorischen Regime, das nach wie vor durch die Bank of England moderiert wurde, also durch eine Institution, die aus jahrhundertealter Erfahrung wusste, was Banken und Finanzmärkte benötigten. Aufgrund der schwierigen Bedingungen in allen Teilen der Welt gab es damals wenig Anlass, finanzielle Aktivitäten an andere Orte zu verlegen. Im Gegenteil: In den 1930er Jahren zog London wegen der Sicherheit, die es bot, Fluchtgelder aus anderen Ländern an, namentlich aus Zentraleuropa. Als in der Mitte der 1930er Jahre der Wert des französischen Franc zur Debatte stand, gab es auch Zuflüsse aus Frankreich. Der Londoner Devisenmarkt operierte als größter derartiger Markt nach wie vor auf der Basis des Pfunds, der weltweit wichtigsten Währung für geschäftliche und finanzielle Transaktionen. Insofern war die City of London am Vorabend des Zweiten Weltkrieges kein Offshore-Zentrum geworden, ja sie hatte noch nicht einmal ein wichtiges Offshore-Element. Statt dessen operierte sie zunehmend als das finanzielle Zentrum des Sterling-Blocks, der in etwa dem britischen Empire entsprach. Diese Rolle Londons hatte sich aus den weit gespannten und seit langem bestehenden Geschäfts- und Anlagebeziehungen Großbritanniens heraus entwickelt.
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Die Jahre zwischen 1939 und 1958 Während des Zweiten Weltkrieges gerieten alle Banken, Makler und Märkte der City unter staatliche Aufsicht oder stellten ihre Aktivitäten ganz ein, weil diese nun durch die Regierung ausgeübt wurden. Die Regierung monopolisierte darüber hinaus alles erhältliche Kapital und allen Kredit. Die nationale Schuldenbelastung stieg von 7,9 Milliarden Pfund im Jahre 1939 auf 21,4 Milliarden Pfund im Jahre 1945. Die noch verbliebenen ausländischen Wertpapiere wurden während oder kurz nach dem Krieg verkauft. Als Resultat konzentrierte sich London auf britische Bedürfnisse, während die internationalen Geschäfte zunehmend in New York und Zürich abgewickelt wurden. Die Wechselmakler stiegen aus der Finanzierung des Fernhandels aus und stellten der britischen Regierung statt dessen kurzfristiges Geld zur Verfügung.38 Als der Krieg vorüber war, gab es keine schnelle Rückkehr zum internationalen Geschäft und keine Abschwächung der Kontrollen. Im Gegenteil: Die britische Nachkriegsregierung übernahm sogar die direkte Kontrolle über die Bank of England.39 Überall auf der Welt schränkten Kontrollen, die im nationalen Interesse eingeführt worden waren, die Freiheit der Finanzmärkte ein.40 Obwohl die City of London in den 1950er Jahren noch immer ein weitläufiges Beziehungsnetz besaß, konnte sie dieses wegen der externen und internen Kontrollen nicht wirklich ausnützen. Nur langsam gewährte die Regierung den Märkten jene Freiheit, die sie für ihr erfolgreiches Funktionieren benötigten. Die damals hohen Steuern hielten den Zufluss von ausländischem Geld ab, ja sie ermutigten wohlhabende Briten sogar, ihre Ersparnisse außer Landes zu bringen.41 Die Liberalisierung schritt in den 1950er Jahren nur langsam voran.42 Planwirtschaft und hohe Steuern waren an der Tagesordnung und es bedurfte staatlicher Kontrollen, um beides aufrecht zu erhalten.43 So führte die fortdauernde Schwäche des Pfunds zu Restriktionen durch die Regierung: Der Gebrauch des Pfunds für die Finanzierung des Welthandels wurde eingeschränkt, die Platzierung ausländischer Anleihen in London ebenfalls. Diese wichtigen und traditionellen Geschäftsfelder der City wanderten in der Folge ins Ausland ab, in erster Linie nach New York. Die Wall Street wurde in den 1950er Jahren zu einem Zentrum für internationale Kredite, und dies, obwohl es auch dort komplizierte Regulierungen gab.44 Gleichzeitig verlor die City of London gegenüber den sich nunmehr formierenden Offshore-Zentren. Dazu ein Beispiel. Um den Wert des Pfundes Sterling gegenüber dem Dollar zu schützen, erließ die britische Regierung strenge Umtauschbestimmungen. Wer im Sterling-Block zu Hause war, konnte zwar mit Wertpapieren handeln, die in Dollar ausgestellt waren, er durfte dies aber nur innerhalb des SterlingBlocks tun. Dadurch wurde es den Investoren, die im Sterling-Block zu Hause waren, verunmöglicht, ihre Vermögen via London in Wertschriften anzulegen, die
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auf die US-amerikanische Währung lauteten. Von den sich unweigerlich entwickelnden Umgehungsstrategien profitierten in erster Linie Kuwait und Hongkong. In beiden Ländern, die dem Sterling-Block angehörten, waren Pfund und Dollar frei konvertierbar. Kuwait war eines der größten erdölexportierenden Länder, Hongkong Chinas Tor zur Weltwirtschaft. Erst im Juli 1957 wurden diese Schlupflöcher geschlossen.45 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Hongkong auf Kosten Londons bereits zu einem großen Offshore-Zentrum entwickelt, das auch nach 1957 weiter florierte. Als britische Kolonie konnte Hongkong nicht aus dem Sterling-Block ausgeschlossen werden, gleichzeitig konnte man den Dollarmarkt wegen seiner Beziehung mit China nicht einfach aufgeben. Dieses sowohl-als-auch zog Kunden aus der ganzen Welt an. Auch in Hongkong gab es – wie in London – Kontrollen und Steuern, doch waren diese nicht so drückend. Zwischen 1955 und 1965 verdoppelte sich die Anzahl ausländischer Banken mit einer Niederlassung in Hongkong von 19 auf 43, was mehr war als in Paris, Frankfurt, Zürich, Amsterdam und Tokio; einzig London und New York zählten mehr ausländische Bankfilialen.46 Nichtsdestotrotz blieb London auch in den 1950er Jahren ein dem Sterling-Block dienendes, internationales Finanzzentrum. Die ausländischen Banken, die es noch gab, wurden von der Bank of England in Ruhe gelassen, solange ihre Geschäfte nicht britische Interessen, Einwohner oder das Pfund betrafen.47 Kontrollen und Regulierungen stellten damals ein globales Phänomen dar. Nationale Regierungen wandten Währungskontrollen und interne Regulierungen an, um getrennte Kapital- und Finanzmärkte zu bilden, die sie dann besser kontrollieren und besteuern konnten. Der Aufstieg konkurrierender Finanzzentren wie Frankfurt oder Paris wurde dadurch behindert.48 In der Folge verloren alle größeren Finanzplätze nach und nach Geschäfte an jene Zentren, die weniger unter beschwerlichen Kontrollen und hohen Steuern litten. Innerhalb Europas gewann der Finanzplatz Zürich wegen seiner vorteilhaften Bankgesetze auf Kosten Londons. Das weiter entfernte Bermuda trat dank seiner niedrigen Steuern als attraktiver Ort für Versicherungsgesellschaften in Erscheinung. Innerhalb Großbritanniens entwickelten sich die Kanalinseln und die Isle of Man dank ihrer unabhängigen Steuersysteme zu Schlupflöchern. Gewisse Finanzdienstleistungen verlagerten sich aus der City dorthin, namentlich die Verwaltung von Fonds.49 So geriet die City of London in den 1950er Jahren ins Hintertreffen. Sie verlor ihren Spitzenplatz als wichtigstes Finanzzentrum der Welt an New York und einen Teil ihrer Geschäfte an die neu entstehenden (Offshore-)Zentren. Statt dessen konzentrierte sie sich immer stärker auf den eigenen Markt: Die Versicherungsgesellschaften zogen sich aus Übersee zurück, der Londoner Geldmarkt befriedigte vorwiegend die Kreditbedürfnisse der britischen Regierung, während die Handelsbanken in erster Linie einheimische Unternehmen finanzierten. An der Londoner Börse
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wurden vor allem britische Aktien und staatlichen Schuldverschreibungen gehandelt.
Die Jahre zwischen 1958 und 1979 Seit den späten 1950er Jahren begann sich die internationale Position der Londoner City wegen auswärtiger Entwicklungen zu verändern. Die Einschränkungen im Banken- und Finanzsektor, welche die Regierung der Vereinigten Staaten erließ, untergruben die Stellung von New York als Finanzzentrum, trotz des Aufstiegs des Dollars zur Weltwährung und trotz des Wohlstandes der USA. Die US-Regierung versuchte, den äußeren Wert des Dollars zu schützen, der immer stärker unter Druck geriet. Wegen der Schranken, die sie deswegen Ende der 1950er Jahre auf den Geld- und Kapitalmärkten aufrichtete, waren insbesondere die ausländischen Banken gezwungen, außerhalb New Yorks nach Alternativen zu suchen. Zu den wichtigsten Restriktionen gehörten etwa: eine Steuer auf Depotzinsen, die Kürzung von kurzfristigen Krediten an Ausländer oder der Zwang für multinationale Unternehmen US-amerikanischer Provenienz, neue Kredite im Ausland aufzunehmen. US-amerikanische Banken und Makler suchten nach einem alternativen Standort, als sie erkannten, dass diese Maßnahmen nicht nur das internationale Geschäft vertrieben, sondern auch einheimische Kunden mit internationalen Verbindungen. Die Geschäfte litten außerdem unter fortdauernden gesetzgeberischen Maßnahmen, die zum Teil bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichten. Der Errichtung von Bankfilialen waren zum Beispiel Grenzen gesetzt, weshalb die großen New Yorker Banken sich nicht landesweit ausdehnen konnten. Nach dem Wall Street-Crash erlassene Gesetze verboten die Kombination von Investment- und Handelsgeschäften, ja sie erzwangen ihre Trennung sogar dort, wo sie sich bereits etabliert hatte. Zinskontrollen, die man in den 1930er Jahren eingeführt hatte, wurden zwei Jahrzehnte später zu einem echten Problem, als die Zinsen wegen der Inflation zu steigen begannen. Die Konsequenz all dieser Einschränkungen war, dass die New Yorker Banken ein Offshore-Zentrum finden mussten, von dem aus sie operieren konnten.50 Gleichzeitig erkannten rivalisierende Finanzzentren die Chance, das internationale Geschäft, das nach dem Zweiten Weltkrieg nach New York abgewandert war, zurückzugewinnen. Von beidem profitierte die City of London. Nach New York war sie das zweitwichtigste Finanzzentrum der Welt und verfügte nach wie vor über ein für OffshoreGeschäfte nützliches, weit gespanntes Beziehungsnetz. 1955 beherbergte London die Büros und Filialen von 123 ausländischen Banken, was noch immer mehr war als New York mit seinen 50. 1960 gab es in London 139 Auslandsbanken, in New
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York 77. Während britische Banken nach wie vor in Übersee tätig waren, hatten sich die größeren US-Banken nach den Turbulenzen der 1930er und 1940er Jahre von der internationalen Szene zurückgezogen. Die Finanzkontrollen, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg durch Regierungen und Zentralbanken eingeführt worden waren, hatten das Entstehen einer Alternative zu London als internationalem Finanzzentrum verhindert. Sogar diejenigen, welche – wie Paris oder Zürich – eine solche Alternative hätten bieten können, litten unter den Einschränkungen ihrer jeweiligen Regierungen. Die französische Staatsführung unterband praktisch die Emission ausländischer Aktien in Paris, während sich die drei größten Banken Frankreichs nach ihrer Verstaatlichung im Jahre 1945 auf den einheimischen Markt zurückzogen. Zürich entwickelte sich in den 1950er Jahren zu einem internationalen Finanzzentrum, doch wurden 1961 Einschränkungen für ausländische Kreditnehmer erlassen, weil sich die Schweizer Regierung um die destabilisierenden Effekte der Finanzflüsse für die einheimische Wirtschaft sorgte.51 Nur London, bis in die 1930er Jahre führend gewesen, hatte schließlich die Kapazitäten, um die aus New York abwandernden Finanzdienstleistungen zu übernehmen. Die Ökonomie spricht in diesem Zusammenhang von Cluster-Bildung: Finanzdienstleistungen klumpen sich an bestimmten Orten zusammen und ziehen – sobald der Prozess einmal in Gang gekommen ist – weitere, bislang fern gebliebene Firmen an, die ebenfalls von den dort vorhandenen gut ausgebildeten Leuten, von Märkten und Beziehungsnetzen profitieren wollen.52 Trotz der Kriegsschäden und trotz der staatlichen Kontrollen war die City of London auch in den 1950er Jahren ein solches Cluster (wörtlich: Bündel) geblieben, das nun den nötigen Sachverstand und die erforderliche Infrastruktur zur Verfügung stellen konnte. London bot sich auch deshalb an, weil es in Kultur, Sprache und Recht von den Amerikanern verstanden werden konnte. Außerdem war es kommunikations- und verkehrstechnisch gut erreichbar. Das Resultat war eine Invasion der City durch US-amerikanische Banken und Maklerfirmen in den 1960er Jahren. Die Zahl der Filialen von US-Banken in der City stieg von 10 im Jahre 1958 auf 29 im Jahre 1969, kein anderes Land hatte ein so großes Kontingent (siehe Tabelle 1). Den Banken folgten die Finanzmakler. 1961 eröffnete Merrill Lynch sein Londoner Büro. 1968 gab es in London 19 solcher Firmen. Weder die Bank of England noch die Londoner Börse hatten irgendeine Kontrolle über die US-amerikanischen Unternehmen, solange sie ihre Geschäfte in Dollars und im Namen nicht-britischer Kunden abwickelten. Die Bank of England intervenierte erst 1965, als diese Banken begannen, britischen Bürgern Darlehen zu geben. Die Börse konnte nichts unternehmen, weil sie damals ausländische Unternehmen von ihrer Mitgliedschaft ausschloss.53 Insofern entwickelte sich der Eurodollar-Markt »aus einem regulatorischen Vakuum in der City«54. Die britische Regie-
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rung sah vor allem die Vorteile dieser Entwicklung: neue Arbeitsplätze und ein höheres Steueraufkommen. Tab. 1: Ausländische Banken mit Filialen oder Büros in London (1969) Region
Anzahl
Anteil
Europa (ohne Großbritannien)
24
22%
Afrika und Mittlerer Osten
10
9%
Pazifik (inklusive Japan)
14
13%
Asien (ohne Japan und Mittlerer Osten)
17
15%
Lateinamerika/Karibik/Kanada
16
15%
USA
29
26%
Total:
110
100%
Quelle: The Banker vom Oktober 1969 (ohne Banken mit indirekter Vertretung)
Trotz der Feindschaft der Londoner Börse wurden die US-amerikanischen Banken und Makler in London wohlwollend aufgenommen. Ähnlich wie die US-amerikanische Regierung versuchte auch die britische, den Gebrauch ihrer Währung international einzuschränken. Der Anteil des internationalen Handels, der in Pfund abgewickelt wurde, fiel ständig: von 50 Prozent in den späten 1940er Jahren auf 20 Prozent im Jahre 1970. Insbesondere nach der Sterling-Krise von 1957, welcher im Jahr darauf die volle Sterling-Konvertibilität folgte, begannen die Banken der City für ihre internationalen Operationen vom Pfund auf den Dollar umzustellen. Als Ergebnis davon wurde die City in den 1960er Jahren mehr und mehr zu einem Dollar-basierten Finanzzentrum. Der internationale Devisenmarkt, der in den 1950er Jahren in New York, Zürich und Paris angesiedelt gewesen war, zog im Gefolge dieser Liberalisierung wieder nach London zurück. Was in der City geschah, war also zweierlei: ein Wiederaufleben des traditionellen internationalen Geschäfts und das Entstehen eines Offshore-Elements, das mit dem Wunsch USamerikanischer Banken zusammenhing, heimischen Zwängen und Einschränkungen zu entkommen. Diese beiden Tendenzen erklären die Bildung eines EurodollarMarktes seit den späten 1950er Jahren. Er brachte Kreditnehmer und Kreditgeber aus der ganzen Welt zusammen, die den jeweiligen Restriktionen zu Hause entfliehen wollten und nach billigen und flexiblen Finanzierungsmöglichkeiten suchten.55 Der Erfolg ausländischer, vor allem US-amerikanischer Banken führte in den 1960er Jahren zu einem Ansturm von weiteren Banken und Finanzfirmen. Die Zahl ausländischer Bankfilialen verdoppelte sich in den 1960er Jahren auf 159. Noch eindrücklicher ist die Zunahme der Vermögen der Londoner Fonds, die durch ausländische Banken verwaltet wurden und die 40 Prozent aller Einlagen ausmach-
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ten: Sie vervielfachten sich von 263 Millionen Pfund im Jahre 1957 auf 12,5 Milliarden Pfund im Jahre 1969.56 Dementsprechend gab es in den 1960er Jahren in der City of London zwei fast unabhängig voneinander existierende Geschäftsfelder: ein internationales und ein einheimisches. Der eine Teil der City belebte sich als Antwort auf die schnell wachsenden Eurodollar- und Eurobond-Märkte und wurde durch ausländische Banken dominiert, namentlich durch solche aus den USA, Japan und Kontinentaleuropa. Britische Firmen wie die Midland Bank und Warburgs waren zwar mit einbezogen, das Geschäft kam aber wesentlich aus dem Ausland.57 Voraussetzung für die Blüte dieses Sektors waren minimale Kontrollen und Regulierungen. Dazu entwickelte sich in den 1960er Jahren der Offshore-Sektor. Dieser ließ sich jedoch kaum von der traditionellen Rolle der City als internationales Finanzzentrum unterscheiden. Der andere Teil der City befasste sich mit dem heimischen Finanzgeschäft. Er wurde stark durch staatliche Kontrollen bestimmt, versorgte die britische Regierung mit Krediten und dominierte den Pfund- und Diskontmarkt. Zu diesem Sektor gehörten auch die britischen Geschäfts- und Investment-Banken. Sie brachten einheimische Unternehmen an die Börse, organisierten Firmenzusammenschlüsse oder verwalteten Rentenfonds. Damit trat die City in den 1960er Jahren immer stärker an die Stelle regionaler britischer Finanzzentren, die früher einen großen Teil dieser Finanzdienstleistungen abgewickelt hatten.58 Zwischen dem einheimischen und dem internationalen bzw. Offshore-Sektor gab es zwar einige Überschneidungen, doch waren die beiden Sektoren in den 1960er Jahren weitgehend getrennt. Die Aufrechterhaltung der Währungskontrollen führte zu einer künstlichen Trennung zwischen den Geschäften, die in Pfund abgewickelt wurden, und jenen, die in anderen Währungen vorgenommen wurden, namentlich in US-Dollar. Transfers zwischen diesen beiden Währungen benötigten die Zustimmung der Bank of England. Die Pfund-Geschäfte betrafen in erster Linie einheimische Geschäfte, während der internationale bzw. Offshore-Teil der City auf dem Dollar beruhte. Das Dollargeschäft wurde durch US-amerikanische Banken und Makler bestimmt, das Pfundgeschäft durch britische. Dementsprechend war die Londoner Börse in den 1960er Jahren eine britische Institution mit ausschließlich britischen Mitgliedern und vorwiegend einheimischen Geschäften. Für 1969 wird geschätzt, dass weniger als fünf Prozent aller Börsengeschäfte durch ausländische Käufer getätigt wurden oder ausländische Wertpapiere betrafen. Im Gegensatz dazu wurde der Eurobond-Markt vor allem durch ausländische Banken und Makler dominiert. 1968 fanden schätzungsweise 60 Prozent aller weltweiten Eurobond-Geschäfte, die sich auf täglich 15 Millionen Dollar beliefen, in London statt, aber nur ein Prozent dieser Geschäfte wurden über die Londoner Börse abgewickelt.59 Demnach existierten in London damals zwei parallele, aber separate Wertpapiermärkte. Die Mitglieder der Londoner Börse monopolisierten das einheimische Geschäft. Wegen
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der Devisenkontrollen und der Unterstützung durch die Bank of England hatten sie auf diesem Gebiet keine Konkurrenz. Andererseits waren sie beim Geschäft mit ausländischen Wertpapieren wegen ihrer hohen Gebühren und der strengen Regularien der City of London nicht konkurrenzfähig. Da Großbritannien aber noch immer eine große Binnenwirtschaft hatte, konnte die City damit fortfahren, das internationale bzw. Offshore-Geschäft zu ignorieren.60 Es war diese internationale bzw. Offshore-Komponente der City, die in den 1970er Jahren vom Verlust der Stabilität auf den internationalen Finanzmärkten profitieren sollte. Im März 1973 ging die Epoche fixer Wechselkurse nach turbulenten Jahren und immer wirkungsloseren Eingriffen der Zentralbanken zu Ende.61 Für die Marktlösungen, die nun im Währungssektor gefragt waren, hatte London die besten Voraussetzungen. Nur ein Finanzzentrum mit einem weit gespannten Beziehungsnetz konnte auf die neuen, globalen Herausforderungen antworten, zum Beispiel auf die Notwendigkeit, die finanziellen Überschüsse ölreicher Länder mit denen defizitärer Länder auszugleichen. 1975 gab es in London 243 ausländische Banken. Davon waren 58 in US-amerikanischen Händen, und diese kontrollierten fast die Hälfte aller Anlagen ausländischer Banken in London, denn der Druck, den Restriktionen in den USA zu entfliehen, hielt damals – wenn auch etwas abgeschwächt – an.62 Nun wurde sich auch die Bank of England der zunehmenden Bedeutung dieses Teils der City bewusst. Nachdem sie in der Finanzkrise von 1974/75 1,2 Milliarden Pfund für die Rettung angeschlagener Banken hatte bereit stellen müssen, nahm sie bei der Bankenaufsicht fortan eine interventionistischere Haltung ein. Das Bankengesetz von 1979 verschärfte die Bankenkontrolle und unterstellte auch die in London tätigen ausländischen Banken einer formellen Aufsicht.63 Der internationale bzw. Offshore-Teil der City war zu groß geworden, als dass man ihn weiter hätte ignorieren können. Als Resultat dieser Entwicklungen entstand in den 1970er Jahren eine neue City of London. Das extern orientierte, ausländisch beherrschte Element war fest installiert und florierte – dank einer von Restriktionen und Kontrollen relativ freien Umgebung.64 Das Überwachungssystem für die Banken, das 1946 anlässlich der Verstaatlichung der Bank of England eingeführt worden war, erwies sich in den 1970er Jahren als großer Vorteil. Banken und Makler aus der ganzen Welt versuchten damals, einerseits den Klauen ihrer nationalen Behörden zu entkommen, gleichzeitig aber waren sie auf der Suche nach internationalen Finanzmärkten, auf denen die Regeln ordentlichen Geschäftsgebarens respektiert und auch durchgesetzt wurden. Diese Kombination gab es nur in London. Aber nicht nur das Bankwesen öffnete sich damals den neuen, internationalen Möglichkeiten. Auch die Terminbörsen der City, so die London Metal Exchange (die Metallbörse) und die London Commodity Exchange (die Rohstoffbörse), tätigten immer mehr Geschäfte für nicht-britische Kunden und ließen schließlich auch ausländische Mitglieder zu. An der Metallbörse
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machten in der Mitte der 1970er Jahre Aufträge aus dem Ausland bereits 70 Prozent des gesamten Umsatzes aus.65 Auf der anderen Seite waren jene Bereiche der City, die sich diesen internationalen Möglichkeiten nicht öffneten, mit steigendem Wettbewerbsdruck konfrontiert. Die Londoner Börse fuhr fort, ausländischen Firmen die Mitgliedschaft zu verweigern, und erhob hohe Gebühren. Damit war sie international nicht mehr wettbewerbsfähig. Schon 1972 handelten 34 US-amerikanische und 13 kanadische Makler in London, dazu kam eine wachsende Anzahl von australischen und japanischen Firmen. Über sie lief ein großer Teil des Handels mit ausländischen Wertpapieren, und zwar auch dann, wenn er auf Rechnung britischer Investoren geschah.66 Hier zeigt sich, dass sich in den 1970er Jahren die Trennung zwischen der einheimischen City und der internationalen bzw. Offshore-City aufzulösen begann. Die ausländischen Banken und Broker waren zwar ursprünglich nach London gekommen, um den internationalen Markt zu erobern und um den Restriktionen zu Hause zu entfliehen. Einmal in London, erkannten sie aber, dass auch britische Geschäftsleute und institutionelle Investoren ihre Dienstleistungen nachfragten. Amerikanische Makler organisierten nicht nur Eurobond-Emissionen für britische Unternehmen, sie finanzierten die britische Industrie auch direkt. In der Mitte der 1970er Jahre stammten schätzungsweise 20 Prozent aller Kredite an die britische Industrie von US-amerikanischen Banken.67 Großbritannien war einfach eine zu große und zu international ausgerichtete Volkswirtschaft, als dass sie nicht das Interesse der ausländischen Finanzdienstleister in der City auf sich gezogen hätte. Die britische Regierung konnte die Trennung zwischen einheimischer und internationaler City nicht mehr aufrecht erhalten. Britische Banken engagierten sich immer stärker in internationalen Geschäften, während sie zu Hause durch ausländische Banken herausgefordert wurden. Gleichzeitig verlor die City weiter Geschäfte an andere Finanzzentren, namentlich bei den Versicherungen. Britische Versicherungen zogen sich angesichts harter Konkurrenz seit der Mitte der 1960er Jahre aus Nordamerika und Australien zurück, nur in einigen Nischen behielt das britische Versicherungsgeschäft internationale Bedeutung, so bei den Schifffahrt- und Luftfahrtversicherungen.68 Alles in allem war die City of London Ende der 1970er Jahre weit davon entfernt, ein reines Offshore-Zentrum zu sein. Regierungskontrollen und hohe Steuern im Inund Ausland brachten einige Finanzdienstleistungen in die City – und vertrieben andere. Gleichzeitig begannen ausländische Finanzdienstleister, die eigentlich wegen der Offshore-Vorteile nach London gekommen waren, in erheblichem Ausmaß auch für britische Kunden zu arbeiten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die City of London in den Jahren 1958 bis 1979 zu einem Offshore-Zentrum entwickelte, aber diese Ausrichtung Hand in Hand ging mit einem Wiederaufleben des traditio-
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nellen internationalen Geschäfts und mit einem sehr großen einheimischen Geschäft.
Die Zeit nach 1979 Als erheblicher Haken, der verhinderte, dass sich die City of London endgültig zu einem Offshore-Zentrum entwickelte, erwiesen sich die Devisenkontrollen, an denen die britische Regierung festhielt und die durch die Bank of England durchgeführt wurden. Sie behinderten den freien Geldfluss und damit die Funktion der City als internationales Finanzzentrum. Im Jahre 1979 sollen 75 Prozent der Gelder, die im britischen Bankensystem zirkulierten, von auswärts gekommen und auch wieder dorthin geflossen sein, wobei US-amerikanische Banken eine Schlüsselrolle spielten.69 1979, mit der Aufhebung der Devisenkontrollen, verschwand dieses Hindernis. Die Folge davon war, dass die externe Dimension der City ein rasches Wachstum erlebte. 1988 stammten 83 Prozent der Fonds, über die das britische Bankensystem verfügte, von ausländischen Banken. 1989 zählte die City 521 ausländische Banken bzw. Bankfilialen. Die Abschaffung der Devisenkontrollen machte die City aber nicht nur attraktiver für internationale oder Offshore-Geschäfte; sie ermöglichte es den ausländischen Banken und Maklern darüber hinaus, sich nun aktiv und gleichberechtigt im britischen Geschäft zu betätigen. Damit wurde die Trennung zwischen einheimischem und internationalem Geschäft endgültig hinfällig. 1987 stammte jedes vierte Darlehen in Pfund, das in Großbritannien gewährt wurde, von einer ausländischen Bank, die in London eine Niederlassung hatte.70 Auch regulatorische Veränderungen trugen dazu bei, dass die Trennung zwischen der einheimischen und der internationalen City erodierte. Der Banking Act von 1979 ermächtigte die Bank of England, welche schon länger zur Auffassung neigte, für alle in der City operierenden Banken zuständig zu sein, dazu, nicht nur inländische Banken zu beaufsichtigen, sondern auch ausländische, die in London eine Filiale eröffnen wollten. Ab 1981 konnten sich die ausländischen Banken bei der Bank of England auf die gleiche Art und Weise rediskontieren wie die britischen.71 Der Zusammenbruch der Trennung zwischen einheimischem und internationalem Geschäft erstreckte sich in den 1980er Jahren auch auf andere Aktivitäten der City. Der mit Abstand dramatischste Wandel war die Deregulierung der Londoner Börse im Jahre 1986. Damals wurden auf einen Schlag (dem so genannten Big Bang) die fixen Gebühren und die Zulassungsbeschränkungen aufgehoben. Die Londoner Börse schloss sich sogar mit jener Organisation zusammen, die sich auf internationale Wertpapiere spezialisiert hatte, und nannte sich, wenn auch nur vorübergehend, International Stock Exchange (Internationale Wertpapierbörse). Schon 1989
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wurden an der Londoner Börse ausländische Wertpapiere für 40 Milliarden Pfund gehandelt. Dies entsprach einem Drittel des Handelsvolumens einheimischer Wertpapiere, ein Anteil, der sehr viel höher war als an anderen großen Börsen. Was schon früher bei den Anleihen (Eurobonds) geschehen war, fand nun auch bei den Aktien statt: London wurde zu dem zentralen Marktplatz für den grenzüberschreitenden Aktienhandel. Die meisten dieser Finanzoperationen wurden durch ausländische Firmen ausgeführt, die im Namen ausländischer Kunden handelten. Von den 408 Mitgliedern der Londoner Börse des Jahres 1990 befanden sich 154 in ausländischem Besitz, darunter viele Marktführer.72 Gleichzeitig mit dem Zusammenwachsen von einheimischem und internationalem Sektor wanderten in den 1980er Jahren Geschäfte aus der City of London ab – eine Folge der Kontrollen, Regulierungen und Steuern der britischen Regierung. Während der Zeit der Devisenkontrollen war die City für bestimmte Geschäfte auf die Kanalinseln Jersey und Guernsey sowie auf die Isle of Man ausgewichen. Diese Inseln waren zwar Teil des britischen Staates, verfügten aber über eigene Steuersysteme. Durch die Errichtung von Büros auf den drei Inseln konnten die Unternehmen der City of London die Steuern umgehen, welche sie für die gleichen Geschäfte in London hätten zahlen müssen. Es entwickelte sich ein Offshore- und Anlagegeschäft, das britischen Kunden diente, beispielsweise Auslandsbriten, die ihr Geld in Großbritannien behalten wollten, ohne hohe Steuern zahlen zu müssen oder rigorosen Währungskontrollen unterworfen zu sein. Auch nach der Abschaffung der Devisenkontrollen und der Reduktion der Steuerlast in Großbritannien konnten die drei Inseln weitere Kunden anlocken, in erster Linie wohlhabende Briten. So wuchsen die Depots in den Banken der Isle of Man von 0,4 Milliarden Pfund im Jahre 1978 auf 4,6 Milliarden Pfund im Jahre 1988.73 Die Anziehungskraft der City auf bestimmte Branchen war abhängig vom Grad ihrer Regulierung und Besteuerung. Ein Beispiel dafür ist das Versicherungswesen, wo die Bermuda-Inseln zu einem Offshore-Zentrum aufstiegen. Der Steuerhafen Bermuda lag geographisch günstig zwischen Nordamerika und Westeuropa; sein Status als britische Kolonie sorgte für die nötige Sicherheit und Stabilität. Im Jahr 1989 zählte man auf Bermuda rund 1.300 Versicherungsunternehmen, darunter Dependencen von Lloyds und anderen britischen Versicherungen. Auch nach der Abschaffung der Devisenkontrollen behielt Bermuda seine Bedeutung als internationales Versicherungszentrum, weil die dortigen Unternehmen ohne jene Einschränkungen operieren konnten, die sie anderswo behinderten.74 Mit der Abschaffung der Devisenkontrollen im Jahre 1979 und der weltweiten Liberalisierung der Finanzmärkte in den 1980er Jahren wurde die City of London endgültig wieder zu jenem bedeutenden internationalen Finanzzentrum, das sie einst gewesen war. 1988 wurden 97 Prozent der Geschäfte an der Londoner Metallbörse im Namen nicht-britischer Kunden abgewickelt. London war das mit Ab-
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stand wichtigste Zentrum für den Handel mit Eurobonds. 1989 hatten 70 Prozent der Firmen, die sich hauptsächlich auf diesem Markt betätigten, ihren Sitz in London. Im gleichen Jahr wurden in London Eurobonds für 1.200 Milliarden Dollar abgesetzt. Noch spektakulärer war die Rolle Londons auf dem internationalen Devisenmarkt. Der tägliche Umsatz des weltweiten Devisenhandels stieg von 75 Milliarden Dollar im Jahre 1979 auf 600 Milliarden Dollar im Jahre 1989. 30 Prozent davon wurden in London getätigt, und dies, obwohl die am häufigsten gehandelten Währungen der Dollar, der Yen und die Mark waren – und nicht etwa das Pfund.75 In den 1990er Jahren verstärkte sich die Integration von einheimischem und internationalem Teil der City of London weiter. Zugleich konsolidierte sie ihre Position auf dem globalen Finanzmarkt. Die Zahl der ausländischen Banken in London erhöhte sich fortlaufend. 1997 waren es 550 Banken, die rund 72.000 Personen beschäftigten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war London der mit Abstand wichtigste Finanzplatz Europas, und es gehörte zusammen mit Tokio und New York zu den größten Finanzzentren der Welt. Einen Spitzenplatz hatte London bei allen grenzüberschreitenden Aktivitäten, speziell im Bankengeschäft und im Wertschriftenhandel. So wurden beispielsweise 70 Prozent aller international angebotenen festverzinslichen Papiere in London gehandelt, obwohl nur drei Prozent von ihnen britischen Ursprungs waren. Eine ähnlich dominante Position hatte London im Devisenhandel. Von den 504 Milliarden Dollar Devisen, die dort im April 2001 täglich umgesetzt wurden, betrafen 92 Prozent den Dollar selbst – der Marktanteil des Pfundes war nur noch klein. Zweifellos überstieg das Finanzgeschäft, das nun in London stattfand, bei weitem die Bedürfnisse der britischen Volkswirtschaft. Besonders deutlich wurde dieser Wandel an der London Stock Exchange. Dort belief sich der Umsatz an internationalen Aktien im Jahre 2002 auf 4.170 Milliarden Dollar; der Umsatz an britischen Papieren erreichte dagegen nur 1.815 Milliarden Dollar.76 Der Investmentbanker Geoffrey Bell meinte 2003: »Es ist bemerkenswert, dass die City of London nur das zweitgrößte Finanzzentrum der Welt sein soll – nicht weiter hinter New York. Dieser Rang spiegelt die fundamentalen […] Verhältnisse nicht wieder, nämlich dass die US-Wirtschaft siebenmal größer ist als die Großbritanniens und dass der Dollar alle Devisen der Welt dominiert.«77 Londons Position als internationales Finanzzentrum war jetzt ein Resultat der Rolle, die es auf den globalen Finanzmärkten spielte, sowie eine Folge der Präsenz ausländischer Finanzunternehmen, namentlich der US-amerikanischen. In den 1990er Jahren wurde London, das in dieser Beziehung von einem globalen Konzentrationsprozess profitieren konnte, zum führenden Zentrum für das grenzüberschreitende Kreditgeschäft sowie für den Handel mit Devisen und Wertpapieren. Verglichen damit, war seine Position im Fonds- und Privatkundengeschäft lediglich zweitrangig (siehe Tabelle 2).
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Tab. 2: Anteile an den internationalen Finanzmärkten (1999 –2002) Art des Marktes
London
New York
Tokio
Frankfurt
Paris
Grenzüberschreitendes Kreditgeschäft
19%
9%
9%
10%
6%
Umsatz an ausländischen Wertpapieren
56%
25%
k.A.
5%
3%
Emissionen internationaler Anleihen
60%
k.A.
k.A.
k.A.
k.A.
Umsatz an internationalen Anleihen
70%
k.A.
k.A.
k.A.
k.A.
Devisenhandel
31%
16%
9%
5%
3%
Umsatz an Derivaten (börsengehandelt)
6%
30%
3%
13%
6%
Umsatz an Derivaten (außerbörslich)
36%
18%
3%
13%
9%
Schifffahrtsversicherungen (Nettoprämieneinkommen)
19%
13%
14%
12%
5%
Flugversicherungen (Nettoprämieneinkommen)
39%
23%
4%
3%
13%
Quelle: Centre for the Study of Financial Innovation, Sizing up the City, London 2003, S. 41; Anmerkung: Nationale Summen wurden den einzelnen Finanzzentren zugeschlagen
Die Geschäfte der City hatten in den 1990er Jahren einen internationalen Charakter. Das heißt aber nicht, dass die City nun zum führenden Offshore-Zentrum der Welt geworden wäre. Die US-Banken, die früher einen großen Teil der Londoner Offshore-Aktivitäten verursacht hatten, erlebten einen Abstieg. Schon 1988 ersetzten japanische Banken ihre US-amerikanischen Konkurrenten als die wichtigsten Lieferanten von Fonds für den Geldmarkt. In den 1960er und 1970er Jahren war die City stark abhängig gewesen vom Geschäft US-amerikanischer Banken und Broker, die – wie erwähnt – den Regulierungen zu Hause entkommen wollten, was in den 1980er und 1990er Jahren immer weniger der Fall war. Die US-Regierung baute schrittweise interne und externe Einschränkungen ab, so dass der Bedarf entfiel, heimisches Geschäft durch Offshore-Zentren ausführen zu lassen. Im Jahr 1999 waren nur noch fünf Prozent der ausländischen Banken in der City in US-amerikanischer Hand. 45 Prozent stammten aus Kontinentaleuropa (siehe Tabelle 3). Etwa 73.000 Beschäftigte in der City – dies war jeder vierte – lebte von Geschäften, die aus dem nicht-britischen EU-Raum kamen. Dies betraf namentlich das Bankgeschäft und den Handel mit Anleihen und Aktien.78
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Tab. 3: Ausländische Banken mit Filialen oder Büros in London (1999) Region Europa (ohne Großbritannien)
Anzahl
Anteil
129
45%
Afrika und Mittlerer Osten
43
15%
Pazifik (inklusive Japan)
32
11%
Asien (ohne Japan und Mittlerer Osten)
51
18%
Lateinamerika/Karibik/Kanada
18
6%
USA
15
5%
Total:
288
100%
Quelle: The Banker vom November 1999
Die Stärke, welche die City auf verschiedenen Geschäftsfeldern auszeichnete, wurde zu einem Magneten für die noch abwesenden. Die City verfügte über alle rückwärtigen Dienste, die für das erfolgreiche Funktionieren von Finanzgeschäften notwendig waren: Buchhalter, Wirtschaftsanwälte und Computeringenieure arbeiteten dort, ebenso wie andere, hoch qualifizierte Spezialisten. Die City war in den 1990er Jahren besonders erfolgreich, wenn es um internationale Geschäfte ging, namentlich: um die Anwesenheit von ausländischen Banken, den Devisenhandel, das grenzüberschreitende Kreditgeschäft, den Aktienhandel, die Emission von Eurobonds oder das weltweite Vermögensmanagement.79 Als eines der führenden Finanzzentren der Welt war die City nicht nur konkurrenzfähig, sie lockte auch jene an, die noch nicht dort waren, die aber wettbewerbsfähig bleiben und sich auf den dort vorhandenen Märkten betätigen wollten.80 Zusammenfassend lässt sich also sagen: Wegen der Märkte, die sie beherbergte, und wegen der Dienstleistungen, die sie anbieten konnte, zog die City of London weitere Geschäfte an – und nicht weil sie, wie ein Offshore-Zentrum, von einer tiefen Besteuerung oder der Abwesenheit restriktiver Regeln profitiert hätte. Seit der Schaffung der Financial Services Authority im Dezember 2001 werden die in der City anwesenden Firmen, egal ob in- oder ausländisch, durch eine einzelne, unabhängige Körperschaft kontrolliert. Diese Kontrolle mag teuer und aufdringlich sein (wie einzelne Betroffene beklagen),81 hingegen schätzt man die damit verbundene, für Finanzgeschäfte erforderliche ordentliche und stabile Umgebung. Am wichtigsten blieb jedoch für alle Marktteilnehmer die Freiheit, sich in jeder Währung und auf jedem Markt betätigen zu können, und diese Freiheit war trotz Regeln und Steuern gewährleistet; wo die Regeln und Steuern besonders drückend blieben, fuhr die City dagegen fort, Geschäfte an Offshore-Zentren zu verlieren.82 Gleichzeitig kam die City ihrer Aufgabe nach, die britische Volkswirtschaft mit den nötigen Finanzdienstleistungen zu versorgen. Allerdings wurden immer weniger
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dieser Dienstleistungen in der City selbst angeboten. Wegen hoher Miet- und Arbeitskosten zogen sich die Anbieter seit dem Zweiten Weltkrieg ein Stück weit aus der City zurück. Abgezogen wurden in erster Linie Dienstleistungen, die nicht unbedingt unmittelbar an die Geld-, Aktien- und Devisenmärkte gekoppelt sein mussten. Zu den ersten, die ihre Hauptquartiere seit den 1950er Jahren aus der City hinaus verlegten, gehörten deshalb die Versicherungsgesellschaften. Die rückwärtigen Dienste und Abwicklungszentren von Banken, Brokern und Fondsmanagern folgten ihnen nach. Im nahe der City gelegenen ehemaligen Hafengebiet von Canary Wharf entstand seit den 1980er Jahren viel neuer Büroraum. In der City selbst blieben geballt jene Dienstleistungen zurück, die besonders profitabel waren.83 Von den 500.000 britischen Bankangestellten des Jahres 2002 arbeiteten 32 Prozent in London, von 50.000 Maklern und Fondsmanagern waren es hingegen 62 Prozent, die meisten von ihnen in der City selbst.84 In der City hatte es also seit den 1950er Jahren nicht nur ein starkes Wachstum, sondern auch eine Spezialisierung gegeben: Hoch spezialisierte Dienstleistungen konzentrierten sich auf ihrem Gebiet, während weniger spezialisierte Dienste wegen hoher Kosten ins übrige London oder an einen anderen Standort in Großbritannien auswichen. Das Wachstum des internationalen Geschäfts war nicht nur eine Folge der vielfältigen Standort-Stärken der City, es war auch Resultat der fortschreitenden Globalisierung der Finanzdienstleistungsindustrie. Im Bankwesen beispielsweise entstanden in den 1990er Jahren einige große global player, und von diesen wiederum hatten mehrere ihr Hauptquartier in London.85 Im Jahr 2003 zählte die in London beheimatete Hong Kong and Shanghai Bank (HSBC) fast 100 Millionen Kunden und sie war besonders stark im britischen, US-amerikanischen und asiatischen Privatkundengeschäft. Seit die HSBC 1992 die Midland Bank, einst Großbritanniens größte Bank, übernommen hatte, konnte sie ihr traditionelles Übersee-Geschäft mit einer großen Heimbasis kombinieren.86 Im Gegensatz dazu expandierte eine andere Londoner Bank, Barclays, von einer sicheren Heimbasis aus ins Ausland. Eine ihrer Tochtergesellschaften, Barclays Global Investors, gehörte im Jahre 2004 zu den weltweit größten Fondsmanagern. Diese Tochter hatte ihr Hauptquartier in San Francisco und verwaltete hauptsächlich Dollar-Guthaben. Die Financial Times fragte zurecht, ob sie nun ein britisches oder ein amerikanisches Unternehmen sei?87 Ähnliches geschah im Versicherungssektor. Dort wurden mehrere britische Gesellschaften durch ausländische Konkurrenten übernommen.88 Während die City of London in gewissen Bereichen von der Globalisierung profitieren konnte, so bei den Banken HSBC, Standard Chartered und Barclays, schien sie anderswo eher ihr Opfer zu sein, namentlich im Versicherungswesen und im Investment-Geschäft. Im Investment Banking wurden die meisten größeren Londoner Unternehmen zwischen 1989 und 2000 durch US-Broker oder kontinentaleuropäische Banken aufgekauft.89 In der neuen Finanzwelt, die in den 1990er Jahren entstand, war die Nationalität der Bank, des
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Brokers oder der Versicherungsgesellschaft für den Kunden nicht mehr wichtig. In Großbritannien gab es nicht mehr länger eine Teilung zwischen einem einheimischen und einem ausländischen Sektor. Ob es sich nun um die Regierung handelte oder um ein britisches Industrieunternehmen – das Geschäft wurde mit der Firma in der City abgeschlossen, welche die besten Bedingungen bot, egal ob sie nun britisch war oder ausländisch.90 Unter dem Strich hörte die City of London in den 1990er Jahren auf, ein OffshoreZentrum zu sein. Als wichtigstes Finanzzentrum Europas zog sie nicht deswegen Finanzgeschäfte an, weil sie von relativ vorteilhaften Steuern und Regulierungen profitieren konnte. Sie akquirierte solche Geschäfte vielmehr wegen der Größe und Tiefe ihrer Märkte und der Anziehungskraft ihres Arbeitskräfte-Reservoirs. Die Trennung zwischen einheimischem und internationalem Geschäft verschwand. Trennlinien gab es statt dessen zwischen großen und kleinen Unternehmen oder zwischen solchen, die sich auf bestimmte Geschäfte konzentrierten. Einige britische Firmen operierten weltweit, andere hatten einen einheimischen Fokus – doch dies wurde durch die Strategien der Unternehmen bestimmt, nicht durch staatliche Regeln und Regulierungen. Das Gleiche galt für ausländische Firmen: Einige waren mit der britischen Wirtschaft verbunden, andere nicht. Innerhalb veränderter Rahmenbedingungen nahm die City nun, am Ende des 20. Jahrhunderts, eine ähnliche Stellung ein, wie sie sie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts besessen hatte. In der Zwischenzeit, namentlich in den Jahren 1958 bis 1979, hatte sie auch die Funktion eines Offshore-Zentrums gehabt.91
Zusammenfassung Ein Offshore-Zentrum ist ein Finanzzentrum, das in erster Linie – wenn nicht sogar ausschließlich – Finanzdienstleistungen für Nicht-Einheimische anbietet. Ein solches Zentrum bekommt Geld, legt es an und unternimmt Transaktionen, die nichts mit den Bedürfnissen der Volkswirtschaft, in der es angesiedelt ist, zu tun haben. Der Grund für seine Existenz ist der Wunsch wohlhabender Individuen und Unternehmen, den Regulierungen und Steuern in jenen Ländern zu entkommen, in denen ihre Geschäfte stattfinden. Ein Offshore-Zentrum lockt Geschäfte also nicht deshalb an, weil es fundamentale Vorteile besäße wie zum Beispiel: einen guten Ruf, ein großes Arbeitskräfte-Reservoir, viele Büros, gute Kommunikationsmittel, attraktive Märkte oder ein innovationsfreundliches Klima. Statt dessen macht es sich selbst durch bewusste oder unbewusste Maßnahmen seiner Regierung als Zufluchtsort vor Steuern und Regulierungen, die es anderswo gibt, attraktiv – wobei es eine relativ sichere und stabile Umgebung bieten sollte, in der rechtsstaatliche Re-
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geln eingehalten werden. Erfüllte die City of London diese Bedingungen irgendwann seit dem Ende des 19. Jahrhunderts? Vor dem Ersten Weltkrieg war die City of London sicher kein Offshore-Zentrum, trotz der internationalen Geschäfte, die dort stattfanden. Damals war die City ein britisches Finanzzentrum, das auch viele internationale Geschäfte abwickelte; diese Geschäfte wurden jedoch weitgehend durch die Bedürfnisse der britischen Wirtschaft hervorgerufen. Der Anteil von Geschäften, die nach London verlagert wurden, um Restriktionen im Ausland zu entfliehen, war klein. Die bis in die 1950er Jahre anhaltende Trennung zwischen einheimischen und auswärtigen Geschäften war eine Folge der Spezialisierung und nicht Ausdruck eines Offshore-Geschäfts. Die beiden Weltkriege verminderten die internationale Bedeutung der City, während die einheimische Komponente gleichzeitig expandierte, namentlich durch die Kreditnachfrage der britischen Regierung. Die früher offensichtliche Trennung zwischen internen und externen Geschäften verschwand, weil sich die Handelsbanken dem einheimischen Markt zuwandten, während sich die Geschäftsbanken umgekehrt nach Übersee begaben. Das einzige Offshore-Element waren die Fluchtgelder aus Kontinentaleuropa, die wegen der dort herrschenden Unsicherheiten nach London flossen, allerdings in einem eher unbedeutenden Umfang. Bis zum Ende der 1940er Jahre hatte sich die City of London deutlich verändert: Sie konzentrierte sich nun auf einheimische Geschäfte und wurde stark durch Regierungskontrollen eingeengt. Trotz dieser ungünstigen Rahmenbedingungen begann sich in der City seit den späten 1950er Jahren ein Offshore-Element auszubilden. Finanzielle Aktivitäten waren anderswo, namentlich in New York, noch stärker eingeschränkt als in London, und es gab kaum andere Finanzzentren, die davon hätten profitieren können. Ursprünglich wurde dieses Offshore-Element vor allem von US-amerikanischen Banken getragen, die den Einschränkungen zu Hause entgehen wollten, doch in ihrem Gefolge kamen auch Andere. Verglichen mit den Finanzaktivitäten, die der einheimischen Wirtschaft dienten, war dieses OffshoreElement allerdings unbedeutend, denn Großbritannien war damals noch immer eine der großen Volkswirtschaften der Welt, und diese benötigte verschiedenste Dienste: Verwaltung von Rentenfonds, Unternehmensfinanzierung, Handelsgeschäfte im Sterling-Block. In den 1970er Jahren kollabierte das internationale, von den Regierungen gesteuerte Währungssystem. Es wurde durch expandierende Märkte für Kapital, Devisen und Kredite ersetzt. Weil die City bereits über solche Märkte verfügte, wuchsen diese in den 1970er Jahren rasch. Derweil litt das einheimische Element unter der Krise der britischen Wirtschaft. Die City konsolidierte damals ihre Rolle als wichtiges Offshore-Zentrum. Zwar blieb der einheimische Sektor wichtiger als der OffshoreSektor, doch für beide galt, dass die Flucht von Banken vor Regulierungen und Steuern erheblich zum Geschäft beitrug. Gleichzeitig sorgten die nach wie vor
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bestehenden Devisenkontrollen dafür, dass der einheimische und der Offshore-Sektor getrennt blieben. Der Offshore-Sektor handelte in Dollar, wurde durch ausländische Firmen beherrscht und reagierte auf globale Geldflüsse. Der einheimische Sektor handelte in Pfund Sterling, wurde durch britische Firmen dominiert und antwortete auf britische Bedürfnisse. Diese Trennung hörte 1979 auf, als die britische Regierung die Devisenkontrollen aufhob. Gleichzeitig begann eine Deregulierung des Finanzsektors, die im Laufe der Zeit für alle Teilnehmer, ausländische wie britische, Chancengleichheit schuf. In den 1980er Jahren war ein Finanzzentrum entstanden, in dem britische und ausländische Firmen stark waren und das von London aus sowohl einheimische wie auswärtige Geschäfte abschloss. Die Stärke der City waren ihre tiefen und breiten Märkte, auf denen die verschiedensten Finanzdienstleistungen angeboten wurden: Kredite, Devisen, Anleihen, Aktien, Derivate. Diese Geschäfte kamen nicht nach London, weil es besonders steuer- und regulierungsfreundlich gewesen wäre; sie kamen in die City, weil diese schnell und billig handeln konnte, in jeder Größenordnung und zum besten Preis. Da, wo es eher auf ein günstiges Umfeld ankam, namentlich im Versicherungswesen, im Privatkundengeschäft und im Fondsmanagement, war die City weniger wichtig. Solche Aktivitäten blieben in den Ländern, in denen die Kunden zu Hause waren, oder wanderten wegen exzessiver Kontrollen und Steuern in wirkliche Offshore-Zentren ab. Aus dem Englischen von Christoph Maria Merki
Anmerkungen 1 Für einen breiten Überblick über die Entwicklung der City of London in den letzten drei Jahrhunderten: die jeweiligen Einführungskapitel der verschiedenen Bände von: R. C. Michie (Hg.), The Development of London as a Financial Centre, London 2000; für die Entwicklung im 20. Jahrhundert: Ders., »A financial Phoenix: The City of London in the twentieth century«, in: Y. Cassis/E. Bussière (Hg.), London and Paris as International Centres in the Twentieth Century, Cambridge 2005. 2 J. Walmsley in: Macmillan Dictionary of International Finance, London 1985, S. 149. 3 N. Buck et al. (Hg.), Working Capital: Life and Labour in Contemporary London, London 2002, S. 112; Centre for Economics and Business Research (Hg.), The City’s Importance to the EU Economy, London 2004, S. 45. 4 P. Augar, The Death of Gentlemanly Capitalism: The rise and fall of London’s investment banks, London 2000, S. 329. 5 W. Keegan/R. Pennant-Rea, Who Runs the Economy, London 1979, S. 131. 6 J. Walmsley, Dictionary [wie Anm. 2], S. 149.
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7 P. Newman/M. Milgate/J. Eatwell (Hg.), The New Palgrave Dictionary of Money and Finance, London 1992, S. 63 – 67. 8 P. Moles/N. Terry, The Handbook of International Financial Terms, Oxford 1997, S. 384. 9 Vgl. R. C. Michie, »Friend or Foe: Information Technology and the London Stock Exchange since 1700«, Journal of Historical Geography, Bd. 23/1997, S. 304 – 326; Ders., »The Invisible Stabiliser: Asset Arbitrage and the International Monetary System since 1700«, Financial History Review, Bd. 15/1998, S. 5 – 26. 10 R.C. Michie, The City of London: Continuity and Change since 1850, London 1992, S. 72 – 75; et passim. 11 Dazu u.a.: The Banking Almanac, London 1913, S. 38 – 57; A. Teichova/G. Kurgan-van Hentenryk/D. Ziegler (Hg.), Banking, Trade and Industry. Europe, America and Asia from the 13th to the 20th century, Cambridge 1997; S. Kinsey/L. Newton (Hg.), International Banking in an Age of Transition: Globalisation, automation, banks and their archives, Aldershot 1998. 12 Vgl. R. C. Michie, »The City of London and British Banking, 1900 – 1939«, in: C. Wrigley (Hg.), A Companion to Early Twentieth Century Britain, Oxford 2003, S. 249 – 269. Beispiele u.a. in: L. Gall/G. D. Feldman/H. James/C.-L. Holtfrerich/H. E. Büschgen, The Deutsche Bank, 1870 – 1995, London 1995, S. 17 und S. 131, und: H. Bauer, Swiss Bank Corporation, 1872–1972, Basel 1972, S. 135 – 136. 13 R. C. Michie, »Stock Exchanges and Economic Growth, 1830 – 1939«, in: P. Cottrell/G. Feldman/J. Reis (Hg.), Finance and the making of Modern Capitalism, 1830 – 1939 (erscheint demnächst bei Ashgate). 14 Ders., »Insiders, Outsiders and the Dynamics of Change in the City of London since 1900«, Journal of Contemporary History, Bd. 33/1998, S. 547–572. 15 H. Bonin, Société Générale in the United Kingdom, Paris 1996, S. 28. 16 R. C. Michie, The London Stock Exchange: A History, Oxford 1999, Kapitel 3. 17 Ebd., S. 88; Michie, City [wie Anm. 10], S. 72 und S. 74. 18 I. Stone, The Global Export of Capital from Great Britain, 1865 – 1914, London 1999, S. 6 und S. 28 (Tabellen 56 und 61); D. C. M. Platt, Britain’s Investment Overseas on the Eve of the First World War: The use and abuse of number, London 1986, S. 45 – 47; Michie, City [wie Anm. 10], S. 159. 19 G. Clare, A Money-Market Primer and Key to the Exchanges, London 1893, S. 79–80; Ders., The ABC of the Foreign Exchanges: A Practical Guide, London 1895, S. 14 – 15; et passim. 20 A. Howe, Free Trade and Liberal England, 1846–1946, Oxford 1997, S. 13–16. 21 Michie, City [wie Anm. 10], S. 62. 22 Michie, London [wie Anm. 16], S. 142. 23 Michie, City [wie Anm. 10], S. 78/79; E. V. Morgan, Studies in British Financial Policy 1914 – 1925, London 1952. 24 Vgl. Y. Cassis (Hg.), Finance and Financiers in European History, 1880 –1960, Cambridge 1991; C. R. Geisst, Wall Street: A History, Oxford 1997, S. 152. 25 H. van Cleveland/T. Huertas, Citibank 1812–1970, Cambridge/Mass. 1985, S. 114ff.; Y. Cassis, »Financial Elites in Three European Centres: London, Paris, Berlin, 1880s-1930s«, Business History, Bd. 33/1991, S. 53–71; J. M. Atkin, British Overseas Investment, 1918–1931, New York 1977. 26 Vgl. Sir Paul Newall, Japan and the City of London, London 1996; Bonin, Société [wie Anm. 15], S. 34; B. Attard, »The Bank of England and the origins of the Niemeyer mission, 1921–1930«, Australian Economic History Review, Bd. 32/1992, S. 67–68.
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27 Post Office Directory, London 1924 und 1928. 28 International Banking in London: FBSA 50th Anniversary, Sonderbeilage der Financial Times (London) vom 27. April 1997, S. 30 und S. 39. 29 H. W. Greengrass, The Discount Market in London: Its Organisation and Recent Development, London 1930, S. 4; Bonin, Société [wie Anm. 15], S. 34; D. H. Aldcroft/M. J. Oliver, Exchange Rate Regimes in the Twentieth Century, Cheltenham 1998, S. 3; et passim. 30 Michie, London [wie Anm. 16]. 31 Vgl. D. Williams, »London and the 1931 Financial Crisis«, Economic History Review, Bd. 15/1962, S. 513–528. 32 R. Roberts, »The City of London as a financial centre in the era of Depression, the Second World War and post-war official controls«, in: A. Gorst/L. Johnman/W. S. Lucas (Hg.), Contemporary British History, 1931–1961, London 1991, S. 68; Michie, City [wie Anm. 10], S. 83 und S. 161. 33 Michie, City [wie Anm. 10], S. 113; Ders., London [wie Anm. 16], S. 279; allgemein zu dieser Zeit: R. C. Michie, »The London Stock Exchange and the British Economy, 1870 –1939«, in: Y. Cassis (Hg.), Capitalism in a Mature Economy, London 1989, S. 95 – 114. 34 Aldcroft/Oliver, Exchange [wie Anm. 29], S. 65 – 70, 78 und 91. 35 P. Einzig, »London as the world’s banking centre«, The Banker, Bd. 28/1933, S. 182–184; R. J. Truptil, British Banks and the Money Market, London 1936, S. 274; Geisst, Wall Street [wie Anm. 24], S. 230 – 233; M. G. Myers, Paris as a Financial Centre, London 1936, S. 170 –177; F. Capie, Capital controls: A cure worse than the problem, London 2002, S. 44/45. 36 Vgl. F. Capie/M. Collins, Have the banks failed British industry? An historical survey of bank/industry relations in Britain, 1870 –1990, London 1992. 37 Kinsey/Newton, International Banking [wie Anm. 11], S. 26 – 28. 38 Michie, City [wie Anm. 10], S. 87. 39 J. Fforde, The Bank of England and Public Policy, 1941–1958, Cambridge 1992, S. 695 – 697. 40 Für die City kurz nach dem Krieg: D. Sachs, »Survey of the Financial Institutions of the City of London«, in: Institute of Bankers (Hg.), Current Financial Problems of the City of London, London 1949. 41 Dazu: J. H. Dunning/E. V. Morgan, An Economic study of the City of London, London 1971. 42 P. Einzig, A Textbook on Foreign Exchange, London 1966, S. 17; Bonin, Société [wie Anm. 15], S. 29/30. 43 Cassis, Finance [wie Anm. 24], S. 364/365; Cleveland/Huertas [wie Anm. 25], S. 224/225; Geisst, Wall Street [wie Anm. 24], S. 276. 44 D. Dosoo, The Eurobond Market, London 1992, S. 9; S. Pollard, The Wasting of the British Economy, London 1982, S. 35, 71–73, 85/86 und 185. 45 C. R. Schenk, Britain and the Sterling Area: From devaluation to convertibility in the 1950s, London 1994, S. 10/11. 46 C. R. Schenk, Hong Kong as an International Financial Centre: Emergence and development 1945 – 1965, London 2001, S. 82. 47 Gleeson, London Enriched, S. 29; et passim. 48 M. Feldstein (Hg.), International Capital Flows, Chicago 1999. 49 Michie, City [wie Anm. 10], S. 166 – 169; H. Cockerell, Lloyds of London: A portrait, London 1984; R. L. Carter/P. Falush, The London Insurance Market, London 1996.
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50 Vgl. R. C. Michie, »Anglo-American Financial Systems c. 1800 –1939«, in: P. Cottrell/J. Reis (Hg.), Finance and the Making of the Modern Capitalist World, 1750 – 1931, Madrid 1998, S. 33 – 40. 51 Zu der Entwicklung in dieser Zeit die Aufsätze in dem wegweisenden Band: S. Battilossi/Y. Cassis (Hg.), European Banks and the American Challenge: European banking under Bretton Woods, Oxford 2002. 52 Für die Untersuchung solcher Cluster (Bündel) am Beispiel von London: Corporation of London (Hg.), Financial Services Clustering and its significance for London, London 2003. 53 Michie, London [wie Anm. 16], S. 467– 4 69. 54 G. Burn, »The State, the City and the Euromarkets«, Review of International political Economy, Bd. 6/1999, S. 236. 55 Aldcroft/Oliver, Exchange [wie Anm. 29], S. 103; Dosoo, Eurobond [wie Anm. 44], S. 10/11. 56 S. Bell/B. Kettell, Foreign Exchange Handbook, London 1983, S. 75/76; P. Einzig, The Euro-bond Market, London 1969; Geisst, Wall Street [wie Anm. 24]; Michie, City [wie Anm. 10], S. 90 – 94. Allgemein zu den 1960er Jahren u.a.: C. R. Schenk, »The Origins of the Eurodollar Market in London, 1955 – 1963«, Explorations in Economic History, Bd. 35/1998, S. 221–238; W. M. Clarke, The City and the World Economy, London 1965; R. Fry (Hg.), A Banker’s World: The revival of the City, 1957–1970, London 1970. 57 Ebd., bes. Schenk, The Origins, und Fry, A Banker’s World. 58 Michie, City [wie Anm. 10], S. 126/127. 59 Michie, London [wie Anm. 16], S. 464 – 467; Ders., City [wie Anm. 10], S. 138/139. 60 R. Stones, »Government-finance relations in Britain, 1964 – 1970: A tale of three cities«, Economy and Society, Bd. 19/1990, S. 50. 61 Vgl. Aldcroft/Oliver, Exchange [wie Anm. 29], S. 103–115. 62 S. F. Frowen (Hg.), A Framework of International Banking, London 1979. 63 Dazu: M. Moran, The Politics of Banking: The strange case of competition and credit control, London 1984. 64 D. Kynaston, City of London, Bd. 4: A Club No More, 1945 – 2000, London 2001, S. 361 und 395/396. 65 Michie, City [wie Anm. 10], S. 59/60. 66 Michie, London [wie Anm. 16], S. 496/497 und 520/521. 67 Battilossi/Cassis, European Banks [wie Anm. 51], S. 68/69 und S. 123 – 126. 68 Michie, City [wie Anm. 10], S. 166 – 169. 69 Ebd., S. 93. 70 Ebd., S. 89. Für die City der 1980er Jahre: Bank of England (Hg.), »London as an International Financial Centre«, Bank of England Quarterly Review, Bd. 6/1989. 71 Gleeson, [wie Anm. 47], S. 37– 39, 88–91, 116 und 122. 72 R. O. Brien, Global Financial Integration: The end of geography, London 1992, S. 19/20, 33 und 74; P. Thompson, »The Pyrrhic Victory of Gentlemanly Capitalism: The financial elite of the City of London, 1945 – 1990«, Journal of Contemporary History, Bd. 32/1997, S. 295/296 und 437; Michie, City [wie Anm. 10], S. 140 – 144; Michie, London [wie Anm. 16], S. 587/588. 73 Michie, City [wie Anm. 10], 97 und 187. 74 Ebd., S. 170 – 173. 75 Ebd., S. 60, 94 und 138/139. 76 Centre for Economics and Business Research (Hg.), The City’s Importance to the EU Economy, London 2004, S. 2, 4, 9/10, 16 – 19, 21, 24/25 und 46/47.
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77 In: Centre for the Study of Financial Innovation (Hg.), Sizing up the City: London’s ranking as a Financial Centre, London 2003, S. 11. 78 N. Buck et al., Working Capital : Life and Labour in Contemporary London, London 2002, S. 12; Centre, The City’s Importance [wie Anm. 76], S. 45. 79 Vgl. dazu u.a.: P. Bancroft et al., London’s Size and Diversity: The advantages in a competitive world, London 1996; A. D. Smith, International Financial Markets: The performance of Britain and its rivals, Cambridge 1992; City Research Project, The Competitive Position of London’s Financial Services: Final Report, London 1995; Bank of England (Hg.), Practical Issues arising from the Euro, London 1999/2000. 80 Dazu: Corporation, Clustering [wie Anm. 52], S. 7, 11, 17, 69 und 95. 81 Vgl. Financial Times vom 30. November 2001. 82 Vgl. Financial Times vom 3. Mai 2003, 10. Juni 2003 und 25. Juni 2003. 83 J. Simmie, The Changing City: Population, employment and land use change since the 1943 County of London Plan, London 2002. 84 London School of Economics (Hg.), London’s Place in the UK Economy 2003, London 2003. 85 G. Jones, »Concentration and Internationalisation in Banks after the Second World War«, in: Kinsey/Newton, International Banking [wie Anm. 11], S. 141–149. 86 HSBC (Hg.), The HSBC Group: A Brief History, London 2003, S. 34/35. 87 Financial Times vom 12. Juli 2004. 88 Dazu: Michie, City [wie Anm. 10], S. 170 – 173. 89 Augar, Death [wie Anm. 4], S. 371–373. 90 Dazu u.a.: N. Dimsdale/M. Prevezer (Hg.), Capital Markets and Corporate Governance, Oxford 1994; Capie/Collins, Failed [wie Anm. 36]. 91 Einen kürzen Überblick über die Entwicklung der City seit dem 18. Jahrhundert bietet: H.M. Treasury (Hg.), The Location of Financial Activity and the Euro, London 2003.
Frankfurts Weg zu einem europäischen Finanzzentrum1 Carl-Ludwig Holtfrerich
Einleitung Als Finanzplatz erfuhr Frankfurt in seiner Geschichte drei große Aufschwünge und einen dramatischen Abstieg. Der erste Aufschwung führte zu einer Hochblüte am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Der zweite fand gegen Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt. Der dritte große Aufschwung fiel in die Zeit der Existenz der Bundesrepublik. Einen dramatischen relativen Niedergang machte der Finanzplatz Frankfurt in der Periode von 1866 bis 1945 durch, als sich Berlin zum Finanzplatz Nummer eins in Deutschland, auch für das Netz der internationalen Finanzbeziehungen, entwickelte. Im Aufschwung wuchs jedes Mal die relative Bedeutung des Finanzplatzes nicht nur im regionalen bzw. nationalen, sondern vor allem im internationalen Rahmen. Mit Zahlen kann dies nur für die jüngere Vergangenheit demonstriert werden. So stellte die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich für April 1998 fest, dass Frankfurt mit 5 Prozent des Weltumsatzes an Devisen den fünften Rang aller großen Devisenhandelsplätze einnahm, und zwar hinter London (32 Prozent), New York (18 Prozent), Tokio (8 Prozent) und Singapur (7 Prozent). Seit der vorigen Erhebung im Jahr 1995 hatte Frankfurt sowohl Hongkong als auch Zürich überholt. Auch im Volumen des Wertpapierhandels lag die Deutsche Börse AG, Frankfurt, sowohl mit ihrem Kassamarkt, der Frankfurter Wertpapierbörse, als auch mit ihrem Terminmarkt DTB 1997 an fünfter Stelle aller Börsen der Welt, in Europa auf beiden Märkten nur hinter London. Ansonsten rangierten nur amerikanische Börsen vor Frankfurt und bei Aktienumsätzen die Tokioter.2 Im Verlauf der Jahrhunderte waren die Faktoren, die Frankfurt als Finanzplatz groß werden ließen, von unterschiedlichem Gewicht. Was sich allerdings wie ein roter Faden durch die ganze Erfolgsgeschichte zieht, das sind der hohe Stand des Know-how, mit anderen Worten: die hohe Qualität des Humankapitals der von Frankfurt aus in Geld- und Kreditgeschäften erfolgreich tätigen Personen, sowie deren Innovationsfähigkeit und -bereitschaft. Zu den Erfolgsbedingungen gehörte ein gesellschaftliches und politisches Umfeld, das zur Stabilität nicht nur der Währung, sondern auch der Rechtsordnung und der Institutionen beitrug und gleichzei-
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tig offen war für Wettbewerb, für Innovationen und für die Zuwanderung hochqualifizierter Experten, d.h. für den Import von Humankapital. Zu den entscheidenden Voraussetzungen des Erfolgs in allen Jahrhunderten zählte auch das internationale Netzwerk, durch das die Sorten- bzw. Devisen- sowie die Geld- und Kapitalmärkte in Frankfurt mit den anderen großen Finanzplätzen Europas und der Welt verbunden waren und sind.
Vorgeschichte Aus dem Messewesen seit dem Mittelalter entwickelte Frankfurt in der frühen Neuzeit seine Stellung als bedeutendster Finanzplatz Deutschlands. Die Stadt mit der Furt lag am Schnittpunkt mehrerer der damals bedeutendsten Handelswege, und zwar zu Wasser und zu Lande. Schon Karl der Große hatte die Furt als Sammelpunkt seines Heeres für seine Feldzüge gegen die Sachsen benötigt. Er baute das Gebiet zu einer »Pfalz« aus. Reichstage wurden dort einberufen. Nachdem das Römische Reich Karls des Großen und seines Sohns und Nachfolgers Ludwigs des Frommen im Jahre 843 in drei Teile aufgeteilt worden war, bestimmte Ludwig der Deutsche Frankfurt zum Hauptsitz des Ostfränkischen Reiches, also des deutschen Gebiets, und zur vornehmsten königlichen Pfalz. Die deutschen Könige hielten sich gern und häufig dort auf. Zwischen 1140 und 1250 wurde insgesamt sechsmal der deutsche König in Frankfurt gewählt, während im gleichen Zeitraum acht weitere Wahlen an acht anderen verschiedenen Orten des Reiches bezeugt sind. In der Goldenen Bulle von 1356 wurde Frankfurt schließlich reichsgesetzlich zum Wahlort der deutschen Könige bestimmt. Als die Krönungen der Könige und Kaiser regelmäßig in Frankfurt stattfanden (seit 1562), wurde Frankfurt endgültig zum zentralen politischen Ort im Reich. Das unterstreicht auch die frühe Bestimmung Frankfurts als Sitz des Reichsgerichts für das Ostfränkische Reich. Auf diese politisch herausgehobene Stellung Frankfurts lassen sich auch die Messeprivilegien zurückführen, die Frankfurt im 12. Jahrhundert verliehen wurden. Die Ansiedlung einer wirtschaftlich aktiven Schicht mit hohem Vermögen war ein primäres Ziel der Privilegienpolitik der Könige, nicht zuletzt um durch Steuern und Abgaben Geld in die königliche Kasse fließen zu lassen. Seinen größten Aufschwung als Handelsplatz verdankte Frankfurt allerdings den Kreuzzügen, die Ende des 11. Jahrhunderts begannen. Durch sie kam die europäische Staatenwelt in Berührung mit Produkten der orientalischen Welt, für die in Europa eine große Nachfrage bestand. Frankfurt wurde zu einer mitteleuropäischen Drehscheibe des Orienthandels, dessen südliche Drehscheibe Venedig war. 1219 wurden Zoll- und Münzangelegenheiten auf einem 14-tägigen Reichstag in Frank-
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furt verhandelt. Die Stadt Frankfurt erhielt umfangreiche Zollprivilegien. Diese und ähnliche Maßnahmen (z.B. garantierte der König Geleitschutz für Besucher der Frankfurter Messe) belegen, dass die Frankfurter Messe, zunächst jährlich und seit 1330 zweimal jährlich, ein Ereignis von weit überregionaler Bedeutung war. Hatten zunächst vor allem deutsche Kaufleute den Fernhandel mit Venedig und den Donauländern einerseits sowie mit den Niederlanden und den Ostseeländern andererseits entwickelt, so traten später auch Kaufleute ausländischer Herkunft prominent hervor und ergänzten von dieser Seite, was schon der Warenverkehr an Internationalisierung gebracht hatte. Nachdem das Laterankonzil von 1179 den Angehörigen der katholischen Kirche das Zinsnehmen verboten hatte, eröffnete sich für Juden ein fruchtbares Geschäftsfeld. Für das Jahr 1241 wurde berichtet, dass etwa zweihundert Juden als königliche Kammerknechte in Frankfurt lebten. Der König hatte ihnen das Monopol des Geldverleihens übertragen. Sie mussten ihm im Gegenzug dafür Abgaben leisten. Durch den Handel mit dem kaufmännisch viel weiter entwickelten Oberitalien kamen auch Frankfurts Kaufleute in Kontakt mit den dort entwickelten modernsten Techniken des Handels und seiner Finanzierung. Nicht nur Wechselbriefe, Girokonten und Transportversicherungen waren in Italien entstanden, sondern auch die doppelte Buchführung, die von den Kaufleuten in Frankfurt rezipiert wurde. Schon im 14. Jahrhundert waren auch italienische Geschäftsleute aus der Lombardei neben den Juden im Frankfurter Geldhandel tätig. Aus der Schicht der verwaltungstechnisch erfahrenen Ministerialen, die in Frankfurt zunächst die Herrschaft für den König ausgeübt hatten, sowie reichen Kaufleuten und wohlhabenden Handwerkern hatten sich die ortsansässigen Patrizierfamilien entwickelt. Durch Verhandlungen und Kauf von Rechten des Königs erreichten sie im 14. Jahrhundert die politische Selbstverwaltung der Stadt mit einer Bürgervertretung und zwei gewählten Bürgermeistern. Sie schufen Rechtssicherheit, auch im Bereich des Eigentums-, Handels- und Wechselrechts. Seit dem späten 14. Jahrhundert wurde die politische Rolle des kleinen Feudaladels zurückgedrängt zugunsten einer Zentralisierung der Macht in den Händen von Königen und anderen Fürsten. Diese Entwicklung mündete schließlich in die Bildung absolutistischer Territorialstaaten ein. Der dadurch entstehende Finanzbedarf der Herrscher, nicht nur für ihre Hofhaltung, sondern auch für ihre militärischen Unternehmungen, die wie von Unternehmern an der Spitze von Söldnerheeren als kapitalistisches Gewerbe betrieben wurden, ließ eine natürliche Interessenkongruenz zwischen den Fürsten und dem reichen Patriziat und den kapitalkräftigen Kaufleuten und Bankiers der Handelsstädte entstehen. Frankfurt als freie Reichsstadt war ein solcher zentraler Ort. In Pogromfällen hielt der Herrscher des Reiches seine schützende Hand über die dortige jüdische Bevölkerung, weil sie zentrale Finanzfunktionen im damaligen Handels- oder Kaufmannskapitalismus wahrnahm.
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Im Gegensatz zu anderen Handelszentren, wie etwa Augsburg, hatten sich die Frankfurter Kaufleute zunächst an der Anleihefinanzierung der Höfe und deren Kriege wenig beteiligt. So blieben sie lange Zeit auch von der häufigen Repudiation königlicher Schulden verschont. Ihr Kreditengagement blieb fast ausschließlich dem Warenhandel verbunden. Sie blieben länger als Kaufleute anderer Finanzplätze merchant bankers. Das war ein Grund für die erste Hochblüte der Frankfurter Messe mit ihren Finanzgeschäften seit Ende des 16. Jahrhunderts, verstärkt durch Verbesserungen der postalischen Kommunikation, verbunden mit dem Namen Thurn und Taxis, zwischen den großen Haupt- und Handelsstädten Europas. Seit 1610 spielte Frankfurt in diesem Netz, besonders für die Strecke von den Niederlanden nach Wien, eine zentrale Rolle. Die erste Hochblüte Frankfurts als Finanzplatz resultierte aber auch aus einem weltgeschichtlichen Vorgang größter Tragweite, dem Freiheitskampf der Niederländer gegen die spanische Herrschaft einerseits und der Gegenreformation in Frankreich andererseits. Aus dem im nördlichen Europa damals führenden Finanzplatz Antwerpen, das der spanischen Gegenreformation zum Opfer fiel, flohen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die meisten Kaufleute nach Amsterdam, zahlreiche aber auch nach Frankfurt, das im Unterschied zu den katholischen Handelsstädten Köln und Augsburg für seine relativ tolerante und weltoffene Einstellung bekannt war. Amsterdam wurde dadurch zum führenden Handels- und Finanzplatz Europas im 17. Jahrhundert, aber auch Frankfurt profitierte von diesem Import an kaufmännischem human capital sehr. Dazu kamen Ende des 17. Jahrhunderts von der französischen Gegenreformation verfolgte Hugenotten nach Frankfurt. Sie waren wie die Antwerpener versierte Kaufleute. In Frankfurt waren die Zugewanderten, besonders die aus Antwerpen, maßgeblich an der Ausweitung und Modernisierung der Handels- und Finanzgeschäfte beteiligt, z.B. an der Gründung der Frankfurter Börse 1585,3 zwar nach der von Antwerpen (1531), Köln (1553), Hamburg (1558), aber vor der von Amsterdam (1586), Nürnberg und Lübeck (1605) sowie Königsberg und Leipzig (1635). Ohne die zugewanderten Glaubensflüchtlinge, die 1595, d.h. zehn Jahre nach der Eroberung Antwerpens durch spanische Truppen, schon etwa 4.000 Personen ausmachten, wäre der Ausbau Frankfurts zum zentralen Finanzplatz in Deutschland und einem der wichtigsten in Europa damals wohl nicht gelungen. Die damalige Stärke Frankfurts in Handels- und Finanzgeschäften lässt sich besser einordnen, wenn man die Entwicklung der Bevölkerungszahl im Verhältnis zu anderen bedeutenden Städten sieht. Im 15. Jahrhundert schwankte die Einwohnerzahl Frankfurts zwischen 9.000 und 10.000, während um 1500 die größeren Handelsstädte Europas bereits über 50.000 Einwohner, die norditalienischen Handelsstädte sogar 80.000 bis 100.000 Einwohner hatten. Selbst Köln war mit seinen 40.000 Einwohnern im 15. Jahrhundert bedeutend bevölkerungsreicher als Frank-
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furt. Frankfurt wuchs aber von 1555 auf 1618 von etwa 12.000 auf über 20.000 Einwohner an, nicht zuletzt durch die Zuwanderung der Glaubensflüchtlinge aus den spanisch besetzten Teilen der Niederlande. Aus ihren ursprünglichen familiären Beziehungen entstand für sie und damit auch für Frankfurt ein weit verzweigtes Netz von Handelsverbindungen in Europa. Zwischen 1554 und 1612 stieg auch die Zahl der Juden in Frankfurt von 550 auf 2.700 Personen an. Für die Entwicklung Frankfurts als Finanzplatz war die kleine Schicht der finanzkräftigen Juden von großer Bedeutung. Der Bildung großer jüdischer Vermögen stellte der Frankfurter Rat kaum etwas in den Weg, zumal die Juden für den »Schutz«, den ihnen der Kaiser und die Stadt gewährte, höhere Steuern zu zahlen hatten als nicht-jüdische Bewohner Frankfurts. Viele Hoffaktoren deutscher Fürsten kamen aus der Frankfurter Judengasse oder siedelten sich später in Frankfurt an, um ihre Geschäfte von hier aus besser abwickeln und neue Kontakte knüpfen zu können. Ihr Ghetto, die Judengasse, stellte innerhalb Frankfurts einen eigenen Rechtsbezirk dar, in dem die jüdische Gemeinde im Finanz-, Steuer- und Bildungswesen ihre Autonomie behielt. In Frankfurt löste sich das Geldgeschäft nur allmählich vom Handel, bevor es zum eigenständigen und markantesten Geschäftszweig Frankfurts wurde. Erst im 18. und 19. Jahrhundert stieg Frankfurt groß in das Geschäft mit dem steigenden Finanzbedarf der deutschen und europäischen Fürsten ein. Als aus der »Handwerkermesse« immer mehr eine »Großhändlermesse auf kapitalistischer Grundlage« (typisch dafür auch der in Frankfurt stark vertretene »Speditions- und Kommissionshandel«) geworden war, hatte sich zuvor nicht nur der Handel mit den zahlreichen Geldsorten, sondern überhaupt ein reges Währungsgeschäft im Sinne von »Wechselkursen« innerhalb und außerhalb der Frankfurter Börse entwickelt: die bargeldlose Zahlung mit Wechseln. Der Wechselkredit war vom Zinsverbot der katholischen Kirche ausgenommen, indem das darauf entfallende Agio oder die Wechselhandelsprovisionen als Dienstleistung des Kaufmanns und nicht als reines Zinsgeschäft angesehen wurde. Bezeichnenderweise bediente sich selbst die katholische Kirche des Wechsels als Zahlungsmittel. 1748 wurden die Wechselkurse der Frankfurter Börse erstmals regelmäßig in einer Zeitung veröffentlicht. Frankfurt war so etwas wie ein »Euromarkt« für den Sortenhandel, aus dem besonders die jüdischen Kaufleute der Stadt jahrhundertelang große Gewinne erzielten. Es störte die Frankfurter wenig, dass in ihrer Stadt auch viele unterwertige Münzen, damals fast mehr die Regel als die Ausnahme, umliefen, während sie in vielen anderen Teilen des Reiches verboten waren. Das Greshamsche Gesetz wurde hier wirksam. Es belebte die Geschäfte. Die so genannte Messzahlwoche, die zweite Woche der Frankfurter Messe, hatte sich zu gängigen Zahlungsterminen für das ganze Deutsche Reich entwickelt. Kaufmannskredite, Handwerkerrechnungen und Schuldzinsen auf Anleihen wurden
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auf die Messtermine als fällig datiert, auch wenn weder Gläubiger noch Schuldner Frankfurter waren. Fürsten setzten öffentliche Abgaben zu den Messzahlwochen in Frankfurt fällig. Nach Beendigung von Kriegen wurden hier Forderungen aus Verträgen über Militärlieferungen oder offene Rechnungen der Soldtruppen bezahlt.4 Hier liefen also die Zahlungsströme zwischen den verschiedenen Regionen und Territorien des Deutschen Reiches zusammen. Frankfurt leistete einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs mit dem dort eingeführten Verfahren der »Skontration«. In der Messzahlwoche versammelten sich die Kaufleute, rechneten die gegenseitigen Forderungen und Schulden gegeneinander auf und beglichen nur die Salden durch ein komplexes System gegenseitiger Überweisungen. Als Clearing-System machte es die Gründung einer städtischen Bank als Girobank, wie es sie zum Beispiel in Amsterdam seit 1609 und in Hamburg seit 1619 gab, bis in das 19. Jahrhundert überflüssig. Als langfristige Kapitalanlage bevorzugten die Vermögenden in Frankfurt »sichere« Geldanlagen, wie den Kauf von Leibrenten oder Hypotheken. Als vergleichsweise sichere Geldanlage galt auch die Vergabe von Darlehen an andere Städte, da für die Rückzahlung der einzelne Bürger der Stadt haftbar gemacht werden konnte. Als eine Sonderform des Kredits entwickelte sich das so genannte Deposito oder Messdarlehen. Es handelte sich dabei um Kredite über runde Geldbeträge, zunächst einige hundert, später ein- bis zweitausend Gulden zu festen Zinsen. Diese Kredite wurden von einer Messe bis zur nächsten vergeben, häufig verlängert, auch mehrfach, sofern der Schuldner den Ruf hatte kreditwürdig zu sein. Heute würde man von einer Termineinlage sprechen. Noch im 18. Jahrhundert verschafften sich kreditwürdige Handelshäuser, wie Metzler und Bethmann, die sich so zu Bankhäusern entwickelten, auf diese Weise große Geldsummen zu mäßigen Zinsen, um diese in höher verzinsliche Anleihen zu investieren oder Arbitragegeschäfte mit Zins- und Währungskursdifferenzen zwischen den verschiedenen Finanzplätzen zu betreiben. Während des Dreißigjährigen Krieges wurden Frankfurts Geschäfte besonders während der Übernahme der Stadt durch den Schwedenkönig Gustav Adolf von 1631 bis 1635 schwer beeinträchtigt, aber nur unterbrochen, bis in den 1650er Jahren der Aufschwung weiterging. Das so genannte Indossament und damit die leichte Handelbarkeit des Wechsels wurde in Frankfurt erst 1666, also nach dem Dreißigjährigen Krieg, zugelassen. Durch das Indossieren verwandelte sich die ursprünglich an ein konkretes Handelsgeschäft gebundene Kreditschöpfung in einen Akt der Geldschöpfung. Händler konnten sich nun auf das Diskontieren von Wechseln spezialisieren und zu reinen Bankiers werden. Es hatte sich schon im 16. Jahrhundert in Spanien, Italien und den Niederlanden durchgesetzt. Besonders Amsterdam hatte einen Großteil der Verrechnung solcher Wechsel zum Nachteil
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der Frankfurter Wechselhändler an sich gezogen. Dem in dieser Frage zögerlichen Finanzplatz Frankfurt waren Nachteile im internationalen Wettbewerb entstanden, die nach 1666 schnell aufgeholt werden konnten, zumal Frankfurt diese Innovation früher als alle anderen Finanzplätze im Deutschen Reich einführte. Im 18. Jahrhundert bauten Frankfurter Bankiers auch das Kontokorrentgeschäft weiter aus. Das Bankhaus Bethmann zum Beispiel agierte als Clearingstelle im regionalen Zahlungsverkehr, aber auch im internationalen. Zu seinen Kontoinhabern gehörten renommierte internationale Banken wie Baring (London) und Hope (Amsterdam). Frankfurt war also in die Abwicklung des internationalen Zahlungsverkehrs integriert. Der Ruf Frankfurts als Handelsstadt und Finanzplatz wurde für viele Kaufmannsfamilien Europas verlockend. Sie schickten ihre zweiten und dritten Söhne während des 17. und 18. Jahrhunderts nach Frankfurt, wo sie zur Weiterentwicklung der Geschäfte beitrugen. Gegenstand des Börsenhandels in Frankfurt war bis ins 18. Jahrhundert allein der Wechsel geblieben. An der Börse in Amsterdam hingegen waren bereits Aktien notiert worden, zunächst die der 1602 gegründeten Ostindischen Kompanie. Seit dem 17. Jahrhundert hatte man hier auch schon mit Staatsanleihen modernen Typs gehandelt. Die Amsterdamer Praxis diente Frankfurter Bankhäusern mit engen Beziehungen nach Amsterdam als Vorbild für die Einführung der modernen Emissionsanleihe an der Frankfurter Börse im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Damals machte der Finanzplatz Frankfurt einen gewaltigen Sprung nach vorn, besonders, nachdem zu Beginn der 1790er Jahre die in Westeuropa zuvor dominierende Amsterdamer Effektenbörse durch die französische Besatzung ausgeschaltet worden war. Das Geld- und Kreditgeschäft hatte sich jetzt vom Warengeschäft weitgehend gelöst. Vermögende Kaufleute und darunter die, die zu Bankiers mutiert waren,5 suchten nach neuen Anlagemöglichkeiten und fanden sie auf Grund einer Innovation im Anleihegeschäft: der Einführung der Partialobligation (Teilschuldverschreibung). Diese Teilstücke einer Anleihe waren handelbar und erschlossen der Börse einen neues Geschäftsfeld. Zuvor waren Staatsanleihen von bestimmten sehr vermögenden Kreditgebern gezeichnet worden, die sie meist bis zum Ende der Laufzeit hielten. Sie allein konnten aber die nun gewaltig angeschwollene Kreditnachfrage nicht mehr befriedigen und erkannten, dass im Vermitteln und Bündeln kleinerer Summen anlagebereiten Kapitals neue Gewinnmöglichkeiten lagen. Die Nachfrage nach Kredit war von Seiten der öffentlichen Hände im 18. Jahrhundert geradezu explodiert. Die damals besonders prunkvolle Hofhaltung und die Schaffung eines starken Militär- und Verwaltungswesens der absolutistischen Fürsten hatten deren Finanzbedarf in die Höhe getrieben. 1778 setzte in Frankfurt das Geschäft mit dem neuen Anleihetyp ein. Die Unabhängigkeit Frankfurts als freie
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Reichsstadt in einer von merkantilistischen Dirigismen geprägten Umgebung förderte diese Entwicklung.6 Im Anleihegeschäft spielte das Frankfurter Bankhaus Bethmann eine Pionierrolle, indem es Österreich zwischen 1778 und 1796 Anleihen im Wert von 30 Millionen Gulden vermittelte. Zur gleichen Zeit brachte das Bankhaus Metzler erhebliche Anleihesummen für Preußen auf. Im 19. Jahrhundert dominierte das jüdische Bankhaus Mayer Amschel Rothschild mit seinen internationalen Verbindungen7 das Anleihegeschäft in Frankfurt. Das meiste in Frankfurt verfügbare Kapital floss seit dieser Zeit in das Staatsanleihegeschäft, das Frankfurts Stellung als Finanzplatz Nummer Eins in Deutschland bis etwa 1866 (Besetzung durch Preußen) bzw. zur Reichsgründung 1871 sicherte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden erstmals auch Kursblätter für die Notierungen von Staatsanleihen in Frankfurt herausgegeben. Auf dem Kurszettel der Berliner Börse, die Frankfurt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Rang ablaufen sollte, fanden sich damals noch keine Anleihen. Auch dies unterstreicht die Vorrangstellung Frankfurts auf dem deutschen Anleihemarkt. Während der Napoleonischen Kriege wurde vor der Jahrhundertwende Frankfurt zweimal von den Franzosen besetzt und hatte erhebliche Kontributionen zu zahlen, um seine städtische Freiheit zu erhalten. Auch für Napoleons Russlandfeldzug musste Frankfurt eine hohe Kriegskontribution leisten. Von 1806 bis 1813 regierte sogar ein Statthalter Napoleons in Frankfurt. Trotz des Verlusts der politischen Selbstständigkeit hatte dies nicht nur negative Seiten für die Stadt. Liberale Reformen führten auch zu einer Stärkung des Wirtschaftsbürgertums und damit der Bankiers der Stadt. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde erhielten 1811 das Bürgerrecht und damit den Einstieg in den Zugang zu politischen Ämtern. Allerdings erreichten sie erst 1824 die privatrechtliche und 1854 die volle politische Gleichberechtigung. Alle zugewanderten Kaufmanns- und Bankiersfamilien wurden nun auch politisch gleichgestellt. Vor den konfessionellen dominierten jetzt die gemeinsamen wirtschaftlichen und politischen Interessen. Dies wurde bei der Gründung der Frankfurter Handelskammer 1808 deutlich, die auf eine Initiative Frankfurter Kaufleute und Bankiers verschiedenster Konfessionen zurückging. Freiherr vom Stein, Generalkommissar für die ehemals von Frankreich besetzten Gebiete, setzte sich sehr dafür ein, dass Frankfurt als freie Stadt mit bürgerlich geprägten Strukturen in die Zukunft gehen sollte. Auch, dass nach dem Wiener Kongress von 1815 der dort entstandene Deutsche Bund seinen Sitz in Frankfurt nahm, war ein Zeichen dafür, dass man auf eine neutrale, unabhängige und selbstverwaltete Stadt setzte. Die revolutionären Ereignisse der 1830er Jahre und von 1848 ließen die politischen Verhältnisse in Frankfurt relativ unberührt, obwohl die Stadt neben dem Paulskirchenparlament zum Zentrum von Demokraten, Gesellen und Arbeiterkongressen wurde, die auch die Privilegien des Wirtschaftsbürgertums in Frage stellten.
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Das Frankfurter Wirtschaftsbürgertum mit seiner langen Kaufmanns- und Bankierstradition zeigte sich im 19. Jahrhundert an der einsetzenden Industrialisierung auf ihrem städtischen Gebiet nicht interessiert. Trotzdem erhöhte sich die Zahl der Einwohner Frankfurts von rund 40.000 (1805) auf 49.000 (1830) und 103.000 (1875). Speditions- und Handelsgeschäfte blühten, gerade auch wegen der Frankfurter Messe, und die Privatbankiers, allen voran Mayer Amschel Rothschild, machten die Stadt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Zentrum des europäischen Staatsanleihegeschäfts. Das Wechselgeschäft wurde durch das Staatsanleihegeschäft weitgehend verdrängt. Die Anzahl der Bankhäuser in Frankfurt stieg von 118 (1837) auf über 190 (1868), was vor allem den massiv gestiegenen Finanzbedarf der zahlreich gegründeten Eisenbahngesellschaften und der Territorialstaaten widerspiegelte. Erst der Anschluss Frankfurts an Preußen 1866 (nach dem Krieg mit Österreich) führte zu einer relativen Verlagerung der Wirtschaftsaktivität in der Stadt zu Gunsten des Gewerbes und der Industrie. Im 19. Jahrhundert wurde Frankfurt nicht mehr primär als Clearing-Ort für finanzielle Forderungen und Schulden genutzt, sondern als Zwischenhandelsplatz des Zollvereins, dem es 1836 beigetreten war. Durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes in dieser Zeit wurde Frankfurt zu einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt. Eisenbahnlinien aus allen vier Himmelsrichtungen machten Frankfurt zu einem zentralen Umschlagplatz. Das kam auch darin zum Ausdruck, dass 1862 eine Getreide- und Produktionsbörse in Frankfurt gegründet wurde. Trotz aller Sicherheitsbedenken der Frankfurter Bankiers gab es auch spekulative Geschäfte. Denn seit den 1820er Jahren wurden auch Termingeschäfte getätigt, die in Amsterdam und London zuvor längst üblich gewesen waren. Die industriefeindlichen Zünfte konnten bis 1864 die Einführung der Gewerbefreiheit und damit Industrieansiedlungen, ja sogar für die Zeit danach, verhindern. Die Nachbarstädte Offenbach und Hoechst dagegen nutzten den Trend der Zeit und wurden zu den charakteristischen Industriestädten des Rhein-Main-Gebietes. Die Währungsvereinheitlichung in Deutschland, mit der schon 1838, vier Jahre nach der Gründung des Zollvereins, begonnen worden war und im Jahr der Reichsgründung 1871 mit der Einführung der Markwährung auf dem für internationale Geschäfte bedeutsamen Goldstandard dem Ende entgegengeführt wurde, verbesserte einerseits die Voraussetzungen für Finanzgeschäfte in Frankfurt. Andererseits wirkte sich die Standardisierung der Münzverhältnisse zu Lasten des traditionell starken Geld- und Devisenwechselgeschäfts in Frankfurt aus und führte zu einer Dominanz des preußischen Währungsstandards in ganz Deutschland. Damit rückte die Preußische Bank in Berlin allmählich in die Funktion einer Zentralbank für ganz Deutschland ein, während eine ähnliche Funktion der 1854 gegründeten Frankfurter Bank für den süddeutschen Raum schon in den 1860er Jahren an relativer Bedeutung verlor.
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Die Umwandlung der Preußischen Bank in die Reichsbank zum 1. Januar 1876 versetzte dem Finanzplatz Frankfurt den letzten großen Schlag. Schon durch die Gründung des Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung 1867, ein Jahr nach der Annexion Frankfurts durch Preußen, war Frankfurt, gleichsam abgeschnitten von seinem süddeutschen Einzugsgebiet, in eine Randlage und Berlin weiter ins Zentrum auch der Finanzaktivitäten gerückt. Als Folge davon wurde zum Beispiel die Deutsche Bank 1870 nicht in Frankfurt, sondern in Berlin gegründet. Die Reichsgründung 1871 und der anschließende industrielle Gründerboom mit seiner gewaltigen Expansion des Aktienhandels an der Berliner Börse zogen verstärkt auch Teile von Frankfurts Hauptgeschäft nach Berlin, nämlich den Handel in Staats- und Auslandsanleihen. Obwohl Frankfurter Banken und Bankiers wichtige Teilnehmer blieben, fanden nach 1870 die ganz großen Emissionen ausländischer Werte in Deutschland nur noch unter Führung der großen Berliner Aktienbanken statt. Frankfurt rangierte nur noch auf Platz Zwei. Wichtiger für Frankfurts relativen Niedergang im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war aber gerade die vorher so erfolgreiche Spezialisierung auf das weltweite Anleihegeschäft. Besonders das Bankhaus Rothschild hatte seinen großen Einfluss in Frankfurt gegen die Gründung von Aktienbanken, den Handel mit Aktien überhaupt und damit gegen die Art von Industriefinanzierung geltend gemacht, die dem Finanzplatz Berlin zu seinem großen Bedeutungsgewinn verhalf. In Frankfurt hatten diese Geschäfte als zu spekulativ gegolten. Tatsächlich hatte die Wertpapierbörse in Berlin in Krisenzeiten schärfere Einbrüche erlebt als die auf Anleihen fixierte Frankfurter Börse, zum Beispiel 1848, obwohl auch dort der Ausfall von Anleihen, wie der amerikanischer Eisenbahngesellschaften, erhebliche Verluste verursacht hatte. Aber mit zunehmender Breite der Industrialisierung war die Dynamik der Entwicklung von dem in Frankfurt dominierenden Staatsanleihegeschäft auf die Industriefinanzierung durch Aktienemissionen übergegangen. Als Frankfurt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts endlich dem Aktiengeschäft und der Industrialisierung, auch durch Eingemeindung bereits industrialisierten Umlandes (zum Beispiel Bockenheims 1895), vollständig öffnete, hatte ihm Berlin den Rang als führendes Finanzzentrum Deutschlands längst abgelaufen. Ähnlich wie die Innovationsfreude der Frankfurter Bankiers bei der Einführung der Partialobligation die zweite Hochblüte des Finanzplatzes Frankfurt seit Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein herbeigeführt hatte, trug Frankfurts Zurückhaltung gegenüber der Innovation Aktie im 19. Jahrhundert zu dem relativen Niedergang des Finanzplatzes Frankfurt gegenüber Berlin bei.
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Das 20. Jahrhundert bis 1948 Auf die Privatbankiers, die Frankfurt zum Finanzplatz ersten Ranges gemacht hatten, wirkte sich der mit der Reichsgründung forcierte Industrialisierungs- und Konzentrationsprozess langfristig besonders nachteilig aus. Viele Frankfurter Privatbankhäuser mussten im Kaiserreich ihr Geschäft liquidieren bzw. mit den neuen Großbanken fusionieren, so auch das Bankhaus Rothschild im Jahre 1901, das von einer der großen Aktienbanken, der Disconto-Gesellschaft, Berlin, übernommen wurde. Zwar war in Frankfurt der Anteil der im Bank-, Börsen- und Versicherungswesen Beschäftigten an allen Beschäftigten zwischen 1882 und 1933 im nationalen Vergleich am höchsten (vgl. Tabelle 1). Aber die absoluten Zahlen weisen aus, wie stark Berlin, ja auch einige andere deutsche Finanzplätze, wie Hamburg und München, diese besonders im Versicherungsgewerbe, an Frankfurt vorbeigezogen waren. Tab. 1: Beschäftigte im Finanzsektor an verschiedenen deutschen Finanzplätzen (1882–1933) Frankfurt am Main
Berlin
Hamburg
Düsseldorf
Köln
München
Stuttgart
1882 Beschäftigte insgesamt
53.088
517.150
128.089
k.A.
61.522
117.538
50.325
In Kredit instituten u.Ä.
1.837
5.589
1.154
k.A.
418
843
483
Im Versiche rungsgewerbe
285
1.410
532
k.A.
321
332
231
Beschäftigte insgesamt
93.620
765.348
271.369
70.030
135.423
211.927
75.913
In Kreditinsti tuten u.Ä.
1.917
6.663
2.101
170
613
1.381
631
Im Versiche rungsgewerbe
749
2.706
1.991
185
880
958
690
1895
1907 Beschäftigte insgesamt
144.932
1.061.088
397.914
117.161
198.127
278.142
128.432
In Kredit instituten u.Ä.
2.655
9.168
3.281
559
964
2.255
961
Im Versiche rungsgewerbe
1.327
6.374
3.540
557
1.685
2.141
2.221
1925
64 Beschäftigte insgesamt
CARL-LUDWIG HOLTFRERICH
239.491
2.183.947
550.192
208.148
334.132
358.180
186.129
In Kredit instituten u.Ä.
6.991
55.221
9.117
2.654
5.004
7.213
3.139
Im Versiche rungsgewerbe
2.680
18.745
6.128
2.060
3.248
4.140
3.148
201.821
2.266.821
560.874
236.643
356.399
379.032
255.467
8.726
79.078
14.416
5.892
9.443
12.142
7.683
1933 Beschäftigte insgesamt In Kreditinsti tuten und im Versiche rungsgewerbe
Quelle: Holtfrerich 1999 [wie Anm. 1], S. 176; Anmerkung: Beschäftigte sind Arbeitnehmer plus Selbständige plus mithelfende Familienangehörige
Das industrielle Profil Frankfurts im 20. Jahrhundert war von der Rohstoffarmut der Region und der verkehrsgünstigen Lage Frankfurts geprägt. Die Stadt wurde zum Sitz vieler weiterverarbeitender Industriezweige (Veredelung). Chemie, Maschinenbau und Elektroindustrie entwickelten sich zu den führenden Branchen in Frankfurt. Auch für den heute so wichtigen Luftverkehr sollte hier frühzeitig die Keimzelle gelegt werden. 1924 bildeten Frankfurter Kaufleute ein Konsortium, das zusammen mit der Stadt Frankfurt und der Junkers Luftverkehr AG die Südwestdeutsche Luftverkehrs AG aus der Taufe hob, die ein Jahr darauf an der Gründung der Deutschen Lufthansa AG beteiligt war. Bereits 1925 war Frankfurt Mittelpunkt eines Luftverkehrsnetzes. In der Periode, die geprägt war durch den Ersten Weltkrieg, die große Nachkriegsinflation bis November 1923 und die Stabilisierung von Währung und Wirtschaft im Jahr 1924 sowie zahlreiche weitere Eingemeindungen, war Frankfurts Beschäftigtenzahl weiter gestiegen, von 144.932 im Jahr 1907 auf 239.491 im Jahr 1925. Damit war Frankfurt die sechstgrößte Stadt der Weimarer Republik. Das Kreditwesen zählte nun 6.991 (2,9 Prozent aller) Beschäftigte(n), das Versicherungswesen 2.680 (1,1 Prozent aller), was gegenüber der Vorkriegszeit einen deutlichen Anstieg bedeutete. Aber der Handel blieb, wie in allen früheren Jahren der Tabelle 1, auch 1925 mit 22,6 Prozent der Beschäftigten die führende Branche. Auch die modernen Industriezweige Maschinenbau (6,6 Prozent) und Elektrotechnik (4,7 Prozent) rangierten in den 1920er Jahren bereits weit vor dem Kreditsektor. Im Jahr 1933, als die Beschäftigtenzahl Frankfurts wegen der Weltwirtschaftskrise auf 201.821 gesunken war – auch der Finanzsektor verzeichnete einen Rückgang –,
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FINANZZENTRUM
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rangierte weiterhin das Handelsgewerbe an der Spitze, jetzt aber bereits dicht gefolgt von der metallverarbeitenden Industrie. Wie in allen vorherigen Jahren nahm der Dienstleistungssektor den ersten Platz ein. Dies galt nicht nur in der Stadt selbst (im Vergleich der Wirtschaftssektoren), sondern auch im nationalen Vergleich. Frankfurt blieb auch während des Intermezzos Berlins als des führenden Finanzplatzes in Deutschland eine vom Bank- und Versicherungswesen relativ stark geprägte Stadt. Aber gemessen an den absoluten Zahlen der Beschäftigten im Finanzsektor war Frankfurt 1933 sogar noch hinter Köln zurückgefallen. Noch um 1870 hatte Frankfurt nicht nur als deutsche, sondern als europäische Finanzmetropole gegolten, vor allem wegen der Aktivitäten der Rothschilds, der Bethmanns und der Metzlers. In den Jahren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg war es – wie die anderen deutschen Finanzplätze außer Berlin – nur noch ein Bankenzentrum von regionaler Bedeutung. Während der Zeit des Dritten Reiches profitierte Frankfurt einerseits von der Arbeitsbeschaffungs- und Rüstungspolitik der Nationalsozialisten. Andererseits verursachten die Arisierung der besonders in Frankfurt zahlreichen jüdischen Privatbankhäuser und die Autarkiepolitik des Dritten Reiches, die auch internationale Finanztransaktionen, wie sie von Frankfurt aus getätigt wurden, beeinträchtigte, erheblichen Schaden für den Finanzplatz Frankfurt. Die Devisenbewirtschaftung, die in der Bankenkrise vom Juli 1931 eingeführt wurde, bedeutete, dass Kreditinstitute ihre Devisenbestände an die Reichsbank abzuliefern hatten. Da Privatbankiers mit ihrem meist aus familiären Beziehungen entstandenen Netz weltweiter Kontakte in der Vermittlung von Auslandskrediten an die deutsche Wirtschaft in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ein besonderes Betätigungsfeld für sich erschlossen hatten, war auch ihr Engagement in Devisen und am Devisenmarkt besonders hoch, was übrigens ihrer traditionell starken Stellung im Geschäft mit internationalen Kapitalbewegungen entsprach. Das Ende des deutschen Kapitalimports und die Einführung der Devisenbewirtschaftung bedeuteten für die Privatbankhäuser schwere geschäftliche Einbußen, die in vielen Fällen ihre Zukunft in den dreißiger Jahren auch dann gefährdet hätten, wenn es die Arisierungskampagne der Nationalsozialisten nicht gegeben hätte. Das Sterben der Privatbankhäuser lag aber auch im Trend des damaligen Konzentrationsprozesses. Der Anteil der Privatbankhäuser an den Aktiva aller Kreditinstitute in Deutschland, der 1860 noch bei 35 Prozent gelegen hatte, schrumpfte fortlaufend: 1880 18,5 Prozent, 1900 8,6 Prozent, 1913 4,4 Prozent. Der Prozess setzte sich in der Zwischenkriegszeit fort. Diese relative Schrumpfung war teils freiwillig, teils unfreiwillig zustande gekommen. Einerseits hatten Privatbankiers mit zunehmender Industrialisierung in Deutschland erkannt, dass die ihnen einzeln verfügbaren Finanzmittel für die Finanzierung des riesigen Finanzbedarfs großer Industrieunternehmen nicht aus-
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CARL-LUDWIG HOLTFRERICH
reichten. Sie selbst waren deshalb die Initiatoren zur Gründung großer Aktienbanken gewesen, um ihre jeweils beschränkten Finanzmittel im Hinblick auf die Industrie- und Außenhandelsfinanzierung im Industriezeitalter zu bündeln.8 Andererseits hatte der Gesetzgeber zum Schrumpfungsprozess beigetragen. 1896 war auf Reichsebene das Börsengesetz verabschiedet worden, das zum einen auf eine Harmonisierung und gesetzliche Regelung der Usancen an allen Börsen im Deutschen Reich, zum anderen auf eine Einschränkung und Beaufsichtigung bestimmter Geschäfte, die der Gesetzgeber für spekulativ und potentiell unseriös hielt, abzielte. Letzteres galt für Termingeschäfte. Der Terminhandel in Aktien von Bergwerks- und Fabrikunternehmen und von allen anderen Erwerbsgesellschaften mit einem Kapital von weniger als 20 Millionen Mark sowie Termingeschäfte in Getreide- und Mühlenfabrikaten wurden ganz verboten. Im übrigen sollten Termingeschäfte nur dann rechtsverbindlich sein, wenn die Vertragspartner in ein Börsenregister eingetragen waren, das beim Handelsregister zu führen war. Für die Beteiligten war dies mit Kosten verbunden, ganz abgesehen von dem Gefühl der Entmündigung, das auch der seitdem eingesetzte Staatskommissar als Börsenaufsichtsorgan der Landesregierungen den Bankiers vermittelte. Verluste entstanden nicht nur dem Finanzplatz Frankfurt, sondern auch Berlin und allen anderen Finanzplätzen in Deutschland zum einen deshalb, weil Termingeschäfte ins Ausland verlagert wurden. Zum anderen wurden Geschäfte vom Terminmarkt auf den Kassamarkt verlegt, wo sie nur mit Einsatz wesentlich größerer barer Geldmittel durchgeführt werden konnten. Dies zu vermeiden gehört ja gerade zum Sinn des Terminhandels. Kleine Bankiers, die die zum Kassageschäft erforderlichen großen Barmittel ihren Kunden nicht vorschießen konnten, gerieten dadurch gegenüber den großen Instituten in einen oft über ihre Existenz entscheidenden Wettbewerbsnachteil. Dazu kam die Vorschrift des Börsengesetzes, dass Aktien eines zur Aktiengesellschaft umgewandelten Unternehmens erst ein Jahr nach der Eintragung der Aktiengesellschaft in das Handelsregister zum Börsenhandel zugelassen werden durften. Zwischenzeitlich mussten also Banken, meist die, die am Gründungsgeschäft beteiligt waren, die Aktien ein Jahr lang in ihr Portefeuille nehmen und dafür die entsprechenden Barmittel binden, und das bei den hohen Risiken im Gründungsgeschäft. Dazu waren nur die großen Aktienbanken mit ihren umfangreichen Depositen in der Lage. Die Absicht dieser Vorschrift war der Schutz der Kapitalanleger, die unbeabsichtigte Wirkung hingegen die Verdrängung der Privatbankiers und der kleineren Aktienbanken aus der Industriefinanzierung. Dies förderte den Konzentrationsprozess und benachteiligte Frankfurt mit seinen vielen Privatbankhäusern gegenüber Berlin mit den Zentralen der großen deutschen Aktienbanken. Die Große Inflation brachte das vorläufige Ende des traditionellen Übergewichts der festverzinslichen Wertpapiere an der Frankfurter Börse. 1913 waren nur 13 Prozent der Wertpapierzulassungen an der Frankfurter Börse auf Aktien entfal-
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len. 1921 war dieser Prozentsatz auf 68 gestiegen. Nach der Stabilisierung der deutschen Währung setzte das Anleihegeschäft, auch mit den großen Auslandsanleihen, wieder verstärkt ein, aber auch für Anleihen spielte die Musik seitdem in Berlin und nur noch leise in Frankfurt. Einen schweren Schlag erlitt der Finanzplatz Frankfurt während der 1920er Jahre im Versicherungsbereich. Die Frankfurter Allgemeine Versicherungs-AG (FAVAG) war der zweitgrößte deutsche Versicherungskonzern, in dessen Aufsichtsrat Berliner Großbanken, wie die Deutsche Bank, die Disconto-Gesellschaft und die DANAT-Bank, vertreten waren. Das Unternehmen hatte nicht nur inländische, sondern auch ausländische Kredite in den 1920er Jahren in großem Umfang beschaffen können. Die Gesellschaft hatte jedoch schon seit 1922 ihre Mittel in fragwürdige Geschäfte investiert, die nichts mit dem Versicherungsgeschäft zu tun hatten. Als die Erwartungen sich nicht erfüllten, wurden Bilanzen gefälscht. Deswegen wanderten im August 1929 drei Vorstandsmitglieder der FAVAG ins Gefängnis. In den folgenden Monaten, fast zeitgleich mit dem New Yorker Börsenkrach vom Oktober 1929, dem Beginn der Großen Weltwirtschaftskrise, stellte sich der Konkurs des Unternehmens heraus. Insgesamt umfasste der FAVAG-Konzern 64 Beteiligungsgesellschaften. Die Gesellschaft wurde aufgelöst. Die eigentlichen Versicherungsverpflichtungen der FAVAG wurden von der Allianz übernommen.9 Frankfurt blieb deshalb ein Versicherungsstandort unter »ferner liefen«, weit hinter Berlin, Hamburg, München und Köln.
Das 20. Jahrhundert seit 1948 Schon vor dem Einrücken der westlichen Alliierten in die in vier Sektoren aufgeteilte Hauptstadt Anfang Juli 1945 hatte Berlin die Aussicht auf eine Bewahrung seiner Rolle als des zentralen Finanzplatzes in einem wie auch immer gearteten Nachkriegs-Deutschland verloren. Die zwischen Mai und Juli 1945 in Berlin allein regierende sowjetische Besatzungsmacht sah besonders in den großen Aktienbanken mit ihren Zentralen in Berlin sowie in der Reichsbank Einrichtungen, ohne die die Kriegsmaschinerie des Dritten Reiches nicht so lange hätte laufen können. Die deutsche Seite sah voraus, dass sie diese Banken schließen würde. Deshalb verlegten die Reichsbank und die Großbanken noch vor der Eroberung Berlins Führungspersonal und Geldmittel nach Westen, besonders nach Hamburg. Da auch der Wertpapierhandel an der Börse in Hamburg im Gegensatz zu anderen Finanzplätzen in Westdeutschland, zum Beispiel Frankfurt und Düsseldorf, schon kurz nach Kriegsende wieder angelaufen war, schien Hamburg prädestiniert, Berlin als zentralen Finanzplatz in Deutschland zu beerben für den Fall, dass es mit der sowjetischen
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CARL-LUDWIG HOLTFRERICH
Besatzungsmacht im Alliierten Kontrollrat nicht zu einer gesamtdeutschen Bankund Währungspolitik von Berlin aus kommen sollte. Die Aussichten für eine Viermächte-Vereinbarung waren aber von Anfang an schlecht. Die angloamerikanischen Alliierten hatten bereits in ihren Plänen für die Besatzungszeit ein schnelles Wiederingangsetzen des Bankbetriebs in ihren Zonen als notwendige Voraussetzung der Produktion und des Handels von Gütern und Diensten vorgesehen. Als die Westalliierten im Juli 1945 ihre Westsektoren Berlins übernahmen, akzeptierten sie die Schließung der Banken durch die Sowjets zunächst als fait accompli. In den westlichen Zonen demgegenüber waren die Kreditinstitute jeweils spätestens zehn bis vierzehn Tage nach dem Einrücken der Alliierten wieder geöffnet worden.10 Im Potsdamer Abkommen von Anfang August 1945 hatten die Alliierten für das Nachkriegs-Deutschland zwar die Föderalisierung der politischen Strukturen und die Dekonzentration der Wirtschaft vereinbart. Aber sie hatten ausdrücklich auch festgelegt: »Während der Besatzungszeit soll Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit behandelt werden.« Zwar war auch in den amerikanischen Plänen für die Gestaltung Nachkriegsdeutschlands vorgesehen, dass die Reichsbank und Großbanken auf Länderebene dezentralisiert werden sollten. Die Amerikaner lagen in diesem Punkt nahe bei den Vorstellungen der Sowjets. Aber der entscheidende Unterschied war, dass die Westalliierten die privaten Eigentumsverhältnisse bestehen lassen, die Sowjets dagegen eine Bankenlandschaft in staatlicher Hand verwirklichen wollten. Nur im Falle einer Einigung im Alliierten Kontrollrat über eine gemeinsame Bankenpolitik hätte Berlin auch im Nachkriegsdeutschland ein führender Finanzplatz sein können. Diese war aber schon im Oktober 1946, also vor Beginn des Kalten Krieges 1947, endgültig gescheitert. Der Versuch einer gemeinsamen Währungsreform scheiterte im Jahre 1948 ebenfalls. In den westlichen Zonen trieben nun die drei Westalliierten auf Drängen der Amerikaner und zunächst gegen den Willen der Briten die Dezentralisierungspolitik voran. Aus der alten Großbankenstruktur wurden dezentrale Teilbanken mit neuen und unterschiedlichen Namen auf Länderebene gebildet. In den Ländern wurden in Vorbereitung der Währungsreform Landeszentralbanken eingerichtet. Als Sitz der Landeszentralbank für Hessen wurde Frankfurt bestimmt, wo die Amerikaner im ehemaligen IG-Farben-Haus ihre Militärregierung untergebracht hatten. Frankfurt war als Hauptstadt des die drei Westzonen umfassenden Deutschlands vorgesehen. Dort wurden in Vorbereitung der Währungsreform am 1. März 1948 die Bank deutscher Länder als Zentralbank für die spätere Bundesrepublik und im November 1948 auf Drängen der Briten die Kreditanstalt für Wiederaufbau zur Verwaltung und Verteilung der Marshallplan-Hilfe gegründet. Dass sich die Briten, finanziell auf die USA angewiesen, dem amerikanischen Druck beugten, diese beiden Banken nicht im faktisch führenden Finanzzentrum Hamburg, für das sich auch die deutsche Seite
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FINANZZENTRUM
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mit starken Argumenten ausgesprochen hatte, sondern in Frankfurt anzusiedeln, war der Grundstein für den Wiederaufstieg Frankfurts zum führenden Finanzplatz in Deutschland bis heute. Nur die zentrale verkehrsgünstige Lage der Stadt in Westdeutschland wurde als Argument für die Sitzwahl Frankfurts von allen Seiten anerkannt. Wie gewichtig dieses verkehrstechnische Argument geblieben ist, zeigt sich auch daran, dass fast fünfzig Jahre später bei der Wahl Frankfurts als Sitz der Europäischen Zentralbank die zentrale Lage des Frankfurter Flughafens als Drehkreuz für den europäischen und internationalen Luftverkehr eine entscheidende Rolle spielen sollte. Ein wichtiges Argument der britischen und deutschen Seite für Hamburg, nämlich dass die Zentralbank vom Sitz der Regierung räumlich zu trennen sei, um die Gefahr politischer Einflussnahme auf die Geldpolitik zu verringern, hat bei der Sitzfrage der EZB ebenfalls eine Rolle gespielt. Zum Gründungszeitpunkt der Bundesrepublik 1949 wurde diesem Argument – rein zufällig – Genüge getan, indem entsprechend den Wünschen des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer Bonn statt Frankfurt zu der »provisorischen« Hauptstadt der Bundesrepublik gemacht wurde. In späteren Jahren war allerdings auch Adenauer die Unabhängigkeit der westdeutschen Zentralbank und ihre räumliche Entfernung von Bonn ein Dorn im Auge. 1956 äußerte er: »Bei der Wahl des Sitzes [der Bundesbank, in der 1957 die Bank deutscher Länder aufgehen sollte] sei zu beachten, dass die Tätigkeit der Bank vom richtigen Geist getragen sein müsse. Der jetzige Standort der Bank habe zu einem Sonderdasein der Bank deutscher Länder geführt. Die Bundesnotenbank müsse die politische Atmosphäre mitempfinden, da gerade auch die Bank darauf Rücksicht nehmen müsse.«11 Doch konnte sich Adenauer gegen den Widerstand der Bank deutscher Länder und anderer Mitglieder des Kabinetts, darunter vor allem Wirtschaftsminister Erhard, mit seiner Forderung, die Bundesbank in Köln anzusiedeln, nicht durchsetzen. Wahrscheinlich wäre Frankfurts Entwicklung zu einem der heute führenden Finanzzentren Europas zugunsten Kölns und des nahe gelegenen Düsseldorf gebremst worden, wenn sich Adenauer durchgesetzt hätte. Die Rezentralisierung der Großbanken fand 1957 statt.12 Die Deutsche Bank und die Dresdener Bank platzierten ihre Zentralen nun in Frankfurt, während die Commerzbank sich zunächst für Düsseldorf entschied und erst 1970 ihre Aktivitäten in Frankfurt zentralisierte, den juristischen Sitz sogar erst 1990 dorthin verlegte. Die Berliner Handels-Gesellschaft hatte schon 1948 Frankfurt als Standort für ihren Neuanfang gewählt. Sie alle suchten die Nähe zur Zentralbank. Das ist für die Banken, die mit ihren kurzfristigen Geschäften auf den von der Zentralbank gesteuerten Geldmarkt angewiesen sind, wichtiger als für Versicherungen, die langfristige Kapitalanlagen bevorzugen. Deswegen blieben besonders die Finanzplätze Köln, Hamburg und München attraktive Zentren für die Versicherungswirtschaft. Aus ähnlichen Gründen wie die Großbanken haben sich auch viele Spezial- und Spitzeninstitute der Kreditwirtschaft seit 1948 in Frankfurt niedergelassen, zum Beispiel die Deutsche
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CARL-LUDWIG HOLTFRERICH
Genossenschaftsbank (DG Bank)13 1949, die Deutsche Bau- und Bodenbank AG 1949, die Ausfuhrkredit AG 1952 und die Privatdiskont-AG 1959. Die zentrale Verkehrslage in Europa entwickelte sich zu einem großen Wettbewerbsvorteil für Frankfurts Wirtschaft. Im Gegensatz zur Entwicklung zwischen den beiden Weltkriegen wurden in der Nachkriegszeit der Welthandel liberalisiert und die Märkte integriert, und zwar global im Rahmen des GATT und innereuropäisch zunächst seit 1948 im Rahmen der OEEC/EZU, dann zusätzlich seit 1952 in der Montanunion für Kohle und Stahl und schließlich seit 1958 im Rahmen der EWG mit all den weitergehenden Integrationsschritten, die bis heute damit verbunden waren. Dadurch hatten Plätze wie Frankfurt in großem Umfang internationale Handelsströme zu finanzieren und wurden mit den Finanzplätzen anderer Länder in stärkerem Maße verflochten als in den Zwischenkriegsjahren. Das galt erst recht, nachdem die westeuropäischen Staaten Ende 1958 zumindest zur Ausländerkonvertibilität ihrer Währungen zurückgekehrt waren. Das war der Auftakt zur Liberalisierung der internationalen Kapitalmärkte, einer Entwicklung, die besonders seit dem endgültigen Ende des Bretton Woods-System fester Wechselkurse seit 1973 bis zur Gegenwart soweit fortgeschritten ist, dass es nationale Kapitalmärkte praktisch nicht mehr gibt. Auch Frankfurt entwickelte sich seit den 1970er Jahren, wie es ein Beobachter schon 1987 für Finanzmärkte beschrieben hat, »von nationalen Märkten mit internationalen Ablegern hin zu Teilmärkten eines weltweit integrierten Finanzsystems«14. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch die Politik der Deregulierung, die sich seit den 1970er Jahren weltweit durchsetzte und gerade auch für den Finanzsektor neue Freiheiten, mehr internationalen Wettbewerb, eine Vielzahl von Innovationen und Leistungssteigerungen hervorbrachte. In der Weltwirtschaft auf dem Weg zum heutigen Stand der Globalisierung gab es für führende Finanzzentren wie Frankfurt natürlich besonders günstige Entwicklungsmöglichkeiten. Dies fing damit an, dass das Ende des festen Wechselkurssystems zu Beginn der 1970er Jahre auch im Bereich der Exportwirtschaft die internationale Diversifizierung von Währungsportfolios erforderlich machte, um Wechselkursrisiken aufzufangen. Dann stand die Aufgabe des Recycling der Petrodollars nach dem ersten Ölpreisschock von 1973 an, als ganze Aktienpakete an Ölförderländer verkauft wurden. Die Globalisierungstendenz setzte sich fort mit einer massiven Kreditgewährung aus Industriestaaten an die Dritte Welt und an Schwellenländer in Ost und West im weiteren Verlauf der 1970er Jahre. In den 1980er Jahren boomten Kapitalexporte und Direktinvestitionen, besonders in die USA. Der Kapitaltransfer nach Ostasien blühte bis weit in die 1990er Jahre, bis es 1997 zu den bekannten herben Rückschlägen kam. Für ein Finanzzentrum wie Frankfurt war natürlich dieses Wachstum des internationalen Kapitalverkehrs, das weit über die auch ansehnliche Expansion des Welthandels hinausging, ein Nährboden für die Expansion der Geschäfte nicht nur nach dem Volumen mit der Folge von Kosten-
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FINANZZENTRUM
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degression, sondern auch nach Arten und Qualität, d.h. für eine Expansion auf der Basis von Innovationen. Freilich war dies auch die Folge eines Konzentrationsprozesses, der gleichzeitig vom technischen Fortschritt, besonders den Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung und Online-Vernetzung, und von dem erhöhten Wettbewerbsdruck in einem zunehmend globalisierten Finanzmarkt ausging. Finanzgeschäfte konzentrierten sich auf immer weniger Plätze. Von allen deutschen Finanzplätzen hatte Frankfurt schon zu Beginn dieses Prozesses vor etwa drei Jahrzehnten mit Abstand die besten Startbedingungen, vergrößerte seitdem seinen Vorsprung gegenüber anderen westdeutschen Finanzplätzen, wie Hamburg, Düsseldorf, Köln und München, und schloss in die vorderste Reihe der großen Finanzplätze Europas, wie London, Paris und Zürich, auf. Der Finanzplatz Frankfurt gewann in der gesamten Nachkriegszeit aber auch deshalb an internationaler Bedeutung, weil die D-Mark schon in der Periode der festen Wechselkurse und erst recht in den 25 Jahren danach einen relativen Stabilitätsvorsprung gegenüber anderen wichtigen Währungen genoss. Das war zum einen Teil ein Verdienst der Geldpolitik der Bundesbank, zum anderen der Unternehmer, die mit ihren Investitionsaktivitäten für vergleichsweise hohe Produktivitätsfortschritte sorgten, und zum dritten der Tarifpartner, denen es hierzulande besser gelang als im Ausland, die Lohnerhöhungen nicht zu stark über die Produktivitätsfortschritte ansteigen zu lassen. Dadurch wurde die D-Mark nicht nur zu einer häufig aufwertungsverdächtigen Spekulationswährung, sondern auch zu einer begehrten Anlagewährung für privates Geld und Kapital und zunehmend seit den 1970er Jahren zu einer Reservewährung, in der die Notenbanken ihre Aktiva hielten. Vor allem in mittel- und osteuropäischen Ländern war sie neben den inkonvertiblen bzw. wenig stabilen einheimischen Währungen sowohl vor als auch nach der Auflösung des sozialistischen Lagers ein sehr geschätztes Zahlungsmittel und als inoffizielle Parallelwährung im Umlauf. Ein Teil der D-Mark-Anlagen von Ausländern floss zwar in die unregulierten Euromärkte, namentlich nach London und Luxemburg. Aber ein großer Teil ging direkt in den deutschen Geld- und Kapitalmarkt, wovon Frankfurter Banken besonders profitierten. Zum einen war die dortige Devisenbörse die Leitbörse für die anderen deutschen Devisenplätze; denn nur in Frankfurt griff die Bundesbank regulierend in den Devisenmarkt ein. Zum anderen brachte die Gründung des Europäischen Währungssystems (EWS) 1979 die D-Mark wegen ihrer Stabilitätstradition in eine Schlüsselrolle. Sie wurde zur Leitwährung Europas, und in ihren Bewegungen gegenüber dem amerikanischen Dollar und dem japanischen Yen zog sie die anderen, praktisch an die D-Mark gebundenen Währungen mit. Faktisch war die Bundesbank durch das EWS zu einer europäischen Zentralbank geworden. Bedauerlich ist nur, dass sie in ihrer Geldpolitik ausschließlich nationalen Zielsetzungen verhaftet blieb und so ihrer internationalen Verantwortung nicht gerecht wurde.
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CARL-LUDWIG HOLTFRERICH
Für Ausländer machte sich Frankfurt auch als Anlaufstelle für den deutschen Geldmarkt durch eine besondere Markttransparenz attraktiv. Seit dem 11. August 1985 wurde in Frankfurt täglich ein Referenzzinssatz für inländische floating rate notes veröffentlicht, d.h. der durchschnittliche Angebotszinssatz ausgewählter deutscher Banken für Ausleihungen von 3- und 6- Monats-Termingeldern (seit 1990: 1- bis 12-Monatsgelder) an erste Adressen im Interbankenhandel, genannt FIBOR (Frankfurt Interbank Offered Rate).15 Dadurch zog Frankfurt mit einer schon lange bestehenden Praxis in London (LIBOR) gleich. Die Attraktivität des Finanzplatzes Frankfurt für Auslandskapital geht auch daraus hervor, dass schon Mitte der 1980er Jahre von den 50 größten Banken der Welt 40 in Frankfurt vertreten waren. An der Frankfurter Wertpapierbörse wurden zu dieser Zeit 44 Prozent des Umsatzes ausländischer Aktien, die in der Bundesrepublik gehandelt wurden, und sogar 94 Prozent der festverzinslichen Wertpapiere ausländischer Emittenten getätigt.16 Eine Übersicht über die relative Bedeutung des Finanzplatzes Frankfurt im Vergleich zu anderen Finanzplätzen in Deutschland zeigt Tabelle 2. Während 1950 nach der Zahl der Beschäftigten in Kreditinstituten Hamburg und sogar München noch vor Frankfurt lagen, befand sich Frankfurt 1961 schon auf dem Spitzenplatz, der bis 2003 ständig ausgebaut werden konnte. Tab. 2: Beschäftigte im Finanzsektor an verschiedenen deutschen Finanzplätzen (1950 –2003) Frankfurt am Main
Hamburg
Düsseldorf
Köln
München Stuttgart
1950 Beschäftigte insgesamt
296.403
606.106
248.005
277.474
423.221
278.799
In Kredit instituten u.Ä.
6.931
8.213
4.197
3.331
8.469
3.821
Im Versiche rungsgewerbe
1.291
4.484
3.068
5.142
6.712
4.194
1961 Beschäftigte insgesamt
486.496
1.005.530
415.927
460.627
656.483
444.153
In Kredit instituten u.Ä.
18.134
17.595
12.086
8.948
15.328
9.122
Im Versiche rungsgewerbe
8.059
16.985
7.404
12.095
14.560
10.550
FRANKFURTS WEG
ZU EINEM EUROPÄISCHEN
FINANZZENTRUM
73
1970 Beschäftigte insgesamt
538.473
970.721
432.324
483.230
729.979
446.766
In Kredit instituten u.Ä.
28.037
24.972
16.073
11.001
21.672
11.395
Im Versiche rungsgewerbe
12.224
21.481
8.161
18.866
20.147
11.965
Arbeitnehmer insgesamt
529.271
871.613
385.256
457.680
789.159
416.790
In Kredit instituten u.Ä.
40.671
25.686
18.450
13.404
27.249
13.147
Im Versiche rungsgewerbe
8.872
21.295
8.480
19.611
21.610
12.635
1987
1999 Beschäftigte insgesamt
472.718
758.567
346.943
455.192
669.157
348.706
In Kredit instituten u.Ä.
58.317
27.674
18.044
15.396
34.675
17.645
Im Versiche rungsgewerbe
7.748
21.226
10.798
22.456
23.883
14.257
2003 Beschäftigte insgesamt
473.227
748.719
338.795
449.258
668.438
350.837
In Kredit instituten u.Ä.
58.368
25.462
17.915
13.952
30.675
17.588
Im Versiche rungsgewerbe
7.587
21.389
10.260
26.295
25.663
14.787
Quellen: Holtfrerich 1999 [wie Anm. 1], S. 262; Bundesagentur für Arbeit, Auswertung nach der WZ93/BA (für Ende 1999) und Auswertung nach der WZ2003 (vorläufige Ergebnisse für 2003); Anmerkungen: Beschäftigte sind Arbeitnehmer plus tätige Inhaber plus unbezahlt mithelfende Familienangehörige; 1987 wurden auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte nicht die Beschäftigten, sondern nur die Arbeitnehmer angegeben
Man sieht allerdings auch deutlich, dass im Versicherungsgewerbe alle anderen Finanzplätze (mit Ausnahme von Düsseldorf 1961 bis 1987) in allen Jahren vor Frankfurt rangierten. In diesem Punkt unterscheidet sich Frankfurt von den Konkurrenten London und Paris. Dort ist nämlich neben der Kreditwirtschaft auch die Versicherungswirtschaft der beiden Länder konzentriert. Das lässt sich auf den
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CARL-LUDWIG HOLTFRERICH
zentralistischen Staatsaufbau mit dem allgemeinen Ergebnis einer starken Konzentration des Wirtschaftslebens in den jeweiligen Hauptstädten zurückführen. In Deutschland mit seiner stärker föderalen Tradition, wovon ja auch Frankfurts Geschichte selbst Zeugnis ablegt, hat sich die Versicherungswirtschaft in ihrer Standortwahl viel freier entwickeln können. Einige Fachleute ziehen es vor, vom »Finanzplatz Deutschland« statt von seinem führenden »Finanzplatz Frankfurt« zu sprechen.17 Die relative Stabilität der DMark und die Dynamik der westdeutschen Wirtschaft in der »Wirtschaftswunderzeit« bis zum Ende des Bretton Woods-Systems 1973 machte D-Mark-Anlagen für internationales Kapital attraktiv. 1972 erwähnte der Jahresbericht des Internationalen Währungsfonds die D-Mark erstmals als Reservewährung. 1995 lag der D-MarkAnteil an den offiziellen Weltwährungsreserven nach einer Schätzung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bei rund 16 Prozent. Das war der zweite Platz hinter dem US-Dollar-Anteil von 61 Prozent. Beim Bargeldumlauf im Ausland hat die DMark gegenüber dem Dollar noch stärker aufgeholt. Für die D-Mark ist der Anteil des im Ausland zirkulierenden Bargeldes 1995 auf 30 Prozent bis 40 Prozent geschätzt worden im Vergleich zu 50 Prozent bis 70 Prozent für den US-Dollar. Auch bei den internationalen Finanzanlagen, d.h. bei der Währungszusammensetzung der Euromarkt-Währungseinlagen, der Auslandsanleihen, der Auslandsbankkredite und der langfristigen Verschuldung von Entwicklungsländern, lag die D-Mark 1995 mit 15,5 Prozent hinter dem US-Dollar mit 37,9 Prozent an zweiter Stelle. Diese Rangfolge bei etwa gleichen Proportionen gilt auch für die weltweiten Bruttoumsätze an den Devisenmärkten 1995. Auch unter den Währungen, in denen der Welthandel fakturiert wird, belegte die D-Mark 1992 den zweiten Platz mit rund 15 Prozent, hinter dem US-Dollar mit rund 48 Prozent.18 Im deutschen Außenhandel konnte die D-Mark-Fakturierung bei den Exporten 1997 zu etwa 75 Prozent, bei den Importen zu gut 50 Prozent durchgesetzt werden.19 In diesen Zahlen schlägt sich das nieder, was für die Entwicklung Frankfurts zu einem führenden Finanzplatz in Europa und der Welt von essentieller Bedeutung war, nämlich das Vertrauen des Auslands in die Stabilität und damit die Fähigkeit der D-Mark, die Funktionen des Geldes als Transaktions- und Wertaufbewahrungsmittel sowie als Recheneinheit auch international übernehmen zu können, und zwar mit Ausnahme des US-Dollar besser als irgendeine andere Währung der Welt. Die Deregulierungspolitik der Bundesregierung, die natürlich allen Finanzplätzen in Deutschland zugute kam, hat sich wegen der durch die Anwesenheit der Bundesbank besonders günstigen Standortbedingung für Frankfurt mehr als für die anderen deutschen Finanzplätze ausgewirkt. Erst nachdem sich seit 1955 der Bund mit dem Auslaufen des zweiten Kapitalmarktförderungsgesetzes aus der dirigistischen Lenkung von Kapitalmarktmitteln und Kapitalzinssätzen zurückgezogen hatte und die Konvertibilität der D-Mark seit 1955 de facto und seit Ende 1958 auch
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de jure wiederhergestellt war, bestand überhaupt die Möglichkeit, Frankfurt zu einem Finanzplatz nicht nur von nationaler, sondern auch von internationaler Bedeutung auszubauen. Im Mai 1956 wurde der Ankauf ausländischer Wertpapiere erlaubt. Ende September 1956 wurden die ersten ausländischen Wertpapiere in Frankfurt gehandelt. Im Mai 1958 wurde die erste ausländische Aktie im amtlichen Handel der Frankfurter Börse notiert, und zwar die Philips-Aktie. 1968 wurde nach der Spaltung des Goldmarktes der Handel mit Gold an der Frankfurter Börse aufgenommen. In den 1970er Jahren wuchs der Markt für D-Mark-Auslandsanleihen, die einen bedeutenden Teil der Euro-Anleihen ausmachten, ernorm. Für die Frankfurter Börse war dies eine Quelle kräftiger Umsatzsteigerungen.20 Was Frankfurt bis ungefähr Mitte der 1950er Jahre als Finanzplatz wachsen ließ, waren vor allem der Wiederaufbau der traditionellen Bank- und Börsengeschäfte und die Übernahme eines überproportionalen Teils der vor dem Krieg in Berlin getätigten Finanzgeschäfte. Das Hauptgeschäft der in Frankfurt sich konzentrierenden Kreditinstitute bestand in den 1950er Jahren vor allem in der Routine des Einlagen- und Kreditgeschäfts. Damit waren die kleineren Institute des Sparkassenund Genossenschaftssektors und – soweit es Firmenkunden betraf – die Großbanken traditionell besser vertraut als die Privatbankhäuser. Hier liegt ein Grund dafür, dass die in Frankfurt noch ansässigen Privatbankhäuser in ihrer Geschäftsentwicklung in den 1950er Jahren bis zur Einführung der Konvertibilität der D-Mark und damit bis zum Wiederaufbau des deutschen Kapitalexportgeschäfts relativ weniger wuchsen als die anderen genannten Sektoren des Bankgeschäfts. Das Geschäftsvolumen der Privatbankiers insgesamt, das allerdings deren überproportional hohen Anteil bilanzunwirksamer Geschäfte (zum Beispiel Vermögensverwaltung, Wertpapier- und Devisenhandel, Depotverwahrung) nicht erfasst, wuchs von 1950 bis 1958 (jeweils Jahresende) nur auf das 2,6-fache. Demgegenüber steigerten die Sparkassen ihr Geschäftsvolumen auf das Fünffache, die Kreditgenossenschaften auf knapp das Vierfache und die Großbanken auf das Dreifache. Von allen Bankengruppen verzeichneten allerdings die Realkredit- und die Teilzahlungskreditinstitute die größten Zuwächse im Geschäftsvolumen, nämlich um jeweils rund das Neunfache.21 Die Erklärung liegt im ersten Fall im Bauboom der 1950er Jahre, im zweiten Fall im Konsumboom der Wirtschaftswunderzeit. Der Konsumentenkredit war in den 1950er Jahren eine wichtige Innovation auf dem deutschen Bankenmarkt, an der der Finanzplatz Frankfurt als Standort für solche Institute nicht nur direkten Anteil hatte, sondern auch indirekten insofern, als die typische Refinanzierungsquelle der Teilzahlungsbanken der Markt für Interbankeinlagen und damit auch der Geldmarkt war, dessen Zentrum sich in Frankfurt befand und befindet. Ende der 1950er Jahre öffneten sich die drei Großbanken, die zuvor nur das Firmenkundengeschäft und Geschäfte mit vermögender Privatkundschaft gepflegt hatten, dem Mengenkundengeschäft mit privaten Haushalten. Die Großbanken mit
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ihren Zentralen in Frankfurt und ihren Filialnetzen über das ganze Land brachen daraufhin in die typischen Geschäftsfelder der jeweils unabhängigen, regional begrenzt tätigen Kreditinstitute des Sparkassen- und Genossenschaftsbankensektors ein. Ende des 20. Jahrhunderts machte das Privatkundengeschäft zum Beispiel bei der Deutschen Bank mit 60 Prozent aller Nicht-Banken-Geschäfte einen größeren Anteil aus als das traditionelle Firmenkundengeschäft. Eine weitere wichtige Innovation zur Stärkung des Finanzplatzes Frankfurt waren die Investmentfonds. Der Bund setzte im April 1957 das »Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften« in Kraft. Schon 1956 war die Deutsche Gesellschaft für Wertpapiersparen m.b.H. (DWS) gegründet worden und nahm ihren Sitz in Frankfurt. Seitdem hat sich Frankfurt als ein Zentrum von Investmentfonds etabliert, die seit den 1960er Jahren einen rasanten Zuwachs an Mittelzuflüssen aufweisen. Mit der großen Aktienrechtsreform von 1965 wurde vor allem das Konzernrecht zum Schutz der Minderheitsaktionäre weiterentwickelt und die Informationspflicht der Gesellschaften gegenüber den Aktionären ausgeweitet. Dies kam der schon damals wichtigsten Wertpapierbörse in Frankfurt stärker zugute als anderen deutschen Börsenplätzen. Denn es stärkte auch das Vertrauen von Ausländern in deutsche Aktien, die ihre Wertpapiergeschäfte vorwiegend in Frankfurt abwickelten. Dazu kam im April 1967 der Übergang von der Prozent- zu der auch im Ausland üblichen Stücknotierung. Am 1. Juli 1970 wurde das seit 1931 bestehende Verbot des Terminhandels in Aktien gelockert, indem Optionsgeschäfte nach amerikanischem Vorbild, die das jeweilige Risiko auf den Optionspreis begrenzen, zunächst für 38 Aktien zugelassen wurden. Aber erst als ein Sekundärmarkt für Optionsscheine 1983 geschaffen wurde, begann das Optionsgeschäft, das sich auf Frankfurt konzentrierte, zu blühen. Allerdings belastete die 1965 eingeführte 25-prozentige Kuponsteuer auf Zinsen festverzinslicher Wertpapiere im Besitz von Gebietsfremden den deutschen Rentenmarkt schwer. Sie war zur Abwehr von Devisenzuflüssen aus dem Ausland und des daraus entstehenden Drucks in Richtung einer Aufwertung der D-Mark eingeführt worden. Bis sie Mitte der 1980er Jahre abgeschafft wurde, trieb sie Kapitalmarktaktivitäten, auch der deutschen Kreditinstitute selbst, auf die Euromärkte im Ausland, vor allem nach Luxemburg und London. Entsprechend wirkten die relativ hohen Mindestreservesätze, die die Bundesbank den Kreditinstituten auferlegte, während Geldanlagen auf den Euromärkten mindestreservefrei waren. Erst seit den 1980er Jahren trug die Bundesbank dem Rechnung. Sie hat die Mindestreservesätze im wesentlichen nur noch gesenkt, bis auf 2 Prozent und weniger für Sichteinlagen seit 1995, während dieser Reservesatz 1977 in der Spitze noch bei knapp 15 Prozent gelegen hatte.22 Die Bundesbank gab ihren Widerstand gegen die Liberalisierung und Modernisierung der Finanzmärkte in Deutschland erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre
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auf, machte sich dann allerdings auch zum Motor dieser Entwicklung. Der damalige Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl stellte am 19. Juni 1989 fest: »Der Handel in deutschen Aktien- und Rentenwerten findet zu einem erheblichen Teil in London statt. Diese Situation ist aus meiner Sicht unbefriedigend.« Er mahnte Reformen an, »damit der deutsche Finanzmarkt nicht weiter zurückfällt«. Er bedauerte das Besitzstandsdenken der Regionalbörsen in der Bundesrepublik: »Was nicht in Frankfurt umgesetzt wird, wandert nach London oder Paris, nicht an andere deutsche Börsenplätze. Frankfurt ist der einzige Platz, der überhaupt eine Chance hat, ernsthaft als internationaler Platz in Frage zu kommen. Hier sind die nötigen Rahmenbedingungen zu setzen, und zwar rasch.«23 Auf Initiative der Frankfurter Banken wurde 1991 die Fachhochschule für Bankwirtschaft unter der Trägerschaft der Bankakademie in Frankfurt gegründet. Mit dieser Innovation investierten die öffentliche Hand und die Banken gemeinsam in die Zukunft des Finanzplatzes Frankfurt, um die Voraussetzungen dafür zu verbessern, den hohen Anforderungen an die Qualität des Humankapitals im internationalen Wettbewerb der Finanzplätze gerecht werden zu können. In Frankfurt waren 1995 ausländische Kreditinstitute nicht nur mit 122 Repräsentanzen, sondern auch mit 137 Auslandsbanken vertreten. Das waren etwa 75 Prozent aller in der Bundesrepublik vorhandenen Auslandsbanken. Anfang der 1970er Jahre hatte der Anteil Frankfurts nur bei rund 50 Prozent gelegen, 1986 bei 66 Prozent.24 Zusammen mit den Repräsentanzen lag 1995 die Zahl der in Frankfurt vertretenen ausländischen Banken weit höher als die der deutschen Institute. In jenem Jahr stellten die Auslandsbanken ungefähr die Hälfte der Mitglieder des Bundesanleihekonsortiums. An der Frankfurter Wertpapierbörse machten sie etwa 50 Prozent der Teilnehmer aus und tätigten rund ein Drittel des gesamten Umsatzes, an der deutschen Terminbörse sogar gut 50 Prozent.25 Auch bei Fusionen und Aufkäufen (Mergers & Acquisitions) von Unternehmen, speziell bei den zunehmenden grenzüberschreitenden Transaktionen, haben die Auslandsbanken eine besondere Stärke entwickelt.26 Bei Privatisierungen sind ihre Verbindungen zu den großen internationalen Kapitalmärkten gefragt. Der deutsche Gesetzgeber hat sich aktiv an der Förderung des »Finanzplatzes Deutschland«, d.h. besonders des Finanzplatzes Frankfurt, beteiligt. In Kooperation mit der Kreditwirtschaft trugen die Bundesbank, die Bundesregierung und der Gesetzgeber schon in den 1980er Jahren und seit 1990 mit vier Finanzmarktförderungsgesetzen dazu bei, den Finanzplatz Deutschland im zunehmenden europäischen und internationalen Wettbewerb zu stärken und Frankfurts »Start aus der zweiten Reihe« und die bereits in Gang befindliche Aufholjagd gegenüber den vorgepreschten Modernisierern London und Paris zu ermöglichen. Ich will an dieser Stelle darauf verzichten, die darin enthaltenen zahlreichen Maßnahmen zur Liberalisierung der Finanzgeschäfte in Deutschland darzustellen. Nur soviel: Die Neurege-
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lungen der Finanzmarktförderungsgesetze bauten einerseits störende Regulierungsvorschriften ab, andererseits passten sie die Regeln den auf EU-Ebene vereinbarten Standards an und führten darüber hinaus international übliche Vorschriften, zum Beispiel für Verstöße gegen das Verbot des Insider-Handels, ein. Der Schutz der Anlegerinteressen wurde verbessert. Auch dies erhöhte bei In- und Ausländern das Vertrauen und damit die Attraktivität des Finanzplatzes. Die Schaffung des europäischen Binnenmarktes, unter anderem mit dem Ziel, die nationalen kapitalmarktrechtlichen Bestimmungen zu harmonisieren und einen einheitlichen europäischen Kapitalmarkt zu schaffen, trugen zu vielen Deregulierungsschritten bei. Ende November 1997 wurde an der Frankfurter Wertpapierbörse das vollelektronische Handelssystem XETRA (Exchange Electronic Trading) eingeführt. Schon 1991 war die Trägerschaft für die Frankfurter Wertpapierbörse von der Industrie- und Handelskammer auf die Frankfurter Wertpapierbörse AG übergegangen, um durch die Platzierung von Aktien die Mittel aufzubringen, die für die dringend notwendige Erweiterung und Modernisierung des Dienstleistungsangebots an der Börse erforderlich waren. So ließ sich durch die private Trägerschaft die Flexibilität gewinnen, die für einen erfolgreichen Wettbewerb mit anderen europäischen Börsenplätzen für notwendig gehalten wurde. Schließlich wurde zum Jahresbeginn 1993 die Deutsche Börse AG gegründet. Sie übernahm jetzt die Trägerschaft der Frankfurter Wertpapierbörse und erwarb gleichzeitig sämtliche Anteile an der Deutschen Terminbörse GmbH und an der Deutschen Kassenverein AG, die 1997 ihren Firmennamen in Deutsche Börse Clearing AG umwandelte. Durch diese Bündelung der Kräfte konnte Frankfurt im Wettbewerb mit den anderen europäischen Finanzplätzen erheblich an Boden gewinnen. So wurde ein Großteil des Terminhandels in Bundesanleihen (Bund-Future) von der Terminbörse in London LIFFE (London International Financial Futures and Options Exchange), die schon seit September 1982 bestanden hatte, an die deutsche Terminbörse nach Frankfurt zurückgeholt, allerdings erst, nachdem die Bundesbank mit Ablauf des Jahres 1996 die so genannten Repos (Repurchase Agreement) auf Bundesanleihen in Deutschland aus der Mindestreservepflicht entlassen hatte. Daraufhin hat in wenig mehr als einem Jahr die DTB ihren Anteil am gesamten Bund-Future-Handel von 30 Prozent auf 70 Prozent erhöht. Auch auf manche Auslandsaktivitäten deutscher Kreditinstitute wirkte der Abbau der Mindestreserven dahingehend, dass ins Ausland verlagerte Geschäfte nach Deutschland zurückgeholt wurden. So zeigte sich nach der drastischen Senkung der Mindestreservesätze in Deutschland auf nur noch 2 Prozent für Sichteinlagen zum 1. August 1995, dass Geschäfte von Luxemburg aus nicht mehr kostengünstiger abzuwickeln waren als in Frankfurt. Die Bundesbank räumte seit 1994 weitere Positionen, mit denen sie einer Modernisierung des Finanzplatzes Deutschland bzw. Frankfurt in der absehbaren Wäh-
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rungsunion im Wege stand. Sie emittierte seit jenem Jahr unterjährige Geldmarktpapiere, die 3-, 6- und 9-monatigen Bulis (Bundesbank-Liquiditäts-U-Schätze). Damit füllte sie die Laufzeitlücke zwischen den 8-wöchigen Wertpapierpensionsgeschäften und den kurzfristigen Schuldverschreibungen des Bundes. Sie wollte dadurch Frankfurt in allen Laufzeitsegmenten für internationale Geschäfte attraktiv machen, ohne dem Bund Gelegenheit zu geben, mit solchen kurzfristigen Emissionen die Geldmengensteuerung der Bundesbank zu stören. Ein ganz wichtiger Schritt für die Stärkung des Finanzplatzes Frankfurt war der Beschluss der Staats- und Regierungschefs der zwölf EU-Staaten auf ihrem Gipfeltreffen am 29. Oktober 1993, den Sitz der Europäischen Zentralbank nach Frankfurt zu legen. Allerdings ist nicht erkennbar, dass sich in den letzten Jahren Frankfurt als Finanzplatz dadurch besser hätte entwickeln können als zum Beispiel London und Paris. Das mag damit zusammenhängen, dass im heutigen Informationszeitalter die räumliche Nähe der Geschäfte zum Sitz der Notenbank nicht mehr so wichtig ist wie in früheren Zeiten. Das stärkt auf jeden Fall den Wettbewerb der Finanzplätze. Marktversagen aufgrund eines quasi »natürlichen Monopols« (sprich: Standort der Zentralbank), was Frankfurt bei seinem Wiederaufstieg seit 1948 zugute gekommen war, kann es deshalb in Zukunft in diesem Bereich wohl nicht mehr geben.
Fazit Aus dem Studium der Geschichte Frankfurts lassen sich besonders folgende Bedingungen für den Erfolg eines internationalen Finanzplatzes ableiten. Ein hochwertiges Humankapital, vor allem Unternehmerpersönlichkeiten, die die Geschäftsrisiken und -chancen richtig einschätzen können, sowie die Bereitschaft zu Innovationen ist von Seiten der Banker einzubringen. Die politischen Entscheidungsträger haben ihre Beiträge vor allem in folgenden Bereichen zu leisten: Sie müssen die Arbeits-, Waren- und Finanzmärkte für internationalen Wettbewerb offen halten und dürfen Regulierungsvorschriften nur insoweit erlassen, als sie zum Vertrauen in die Märkte und in die Finanzinstitutionen beitragen. Sie dürfen Innovationen keine Hindernisse in den Weg legen und müssen auf eine wettbewerbsschädigende Besteuerung verzichten. Und nicht zuletzt müssen sie für eine Institution mit Zentralbankfunktionen sorgen, die einerseits in Krisenzeiten als lender of last resort die Liquidität der Banken sichert und andererseits die Währung stabil hält.
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Anmerkungen 1 Soweit in diesem Aufsatz Belegangaben fehlen, sind sie in meinem Buch Finanzplatz Frankfurt. Von der mittelalterlichen Messestadt zum europäischen Bankenzentrum, München 1999, enthalten. 2 Deutsche Börse AG (Hg.), Geschäftsbericht 1997, S. 6. Deutsche Börse (Hg.), Fact Book 1997, S. 127, 129. 3 Zu diesem Vorgang und zur weiteren Entwicklung der Frankfurter Börse: Baehring, Bernd, Börsen-Zeiten. Frankfurt in vier Jahrhunderten zwischen Antwerpen, Wien, New York und Berlin, hg. vom Vorstand der Frankfurter Wertpapierbörse aus Anlass des 400-jährigen Jubiläums am 9. Sept. 1985, Frankfurt a.M. 1985. 4 Dietz, Alexander, Frankfurter Handelsgeschichte, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1921, S. 195 – 197; Institut für bankhistorische Forschung (Hg.), Deutsche Bankengeschichte, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des alten Reichs (1806), Frankfurt a.M. 1982, S. 76; Henning, Friedrich-Wilhelm, Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Bd. 1: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Mittelalter und der frühen Neuzeit, Paderborn 1991, S. 707. 5 Bereits 1773 bezeichneten sich 47 Bürger Frankfurts als »Bankiers«. 1817 sollten es bereits 112, 1834 178 und 1868 1.675 sein. 6 Die starke Konkurrenz, die Leipziger Messe, konnte sich wegen der merkantilistischen Wirtschaftspolitik des sächsischen Fürsten nicht zu einem bedeutenden Finanzplatz entwickeln. 7 Die fünf Söhne Rothschilds hatten sich an den wichtigsten Finanzplätzen des Auslands niedergelassen. 8 So kam auch die Gründung der Deutschen Bank auf Initiative von Privatbankiers zustande. Siehe Gall, Lothar, »Die Deutsche Bank von ihrer Gründung bis zum Ersten Weltkrieg 1870 – 1914«, in: Gall, Lothar u.a. (Hg.), Die Deutsche Bank 1870 – 1995, München 1995, S. 3–7. 9 Zum FAVAG-Skandal auch: Feldman, Gerald D., »Die Deutsche Bank vom Ersten Weltkrieg bis zur Weltwirtschaftskrise 1914 – 1933«, in: Gall, Lothar u.a. (Hg.), Die Deutsche Bank 1870 – 1995, München 1995, S. 274 – 276. 10 Holtfrerich, Carl-Ludwig, »Die Deutsche Bank vom Zweiten Weltkrieg über die Besatzungsherrschaft zur Rekonstruktion 1945 – 1957«, in: Gall, Lothar u.a. (Hg.), Die Deutsche Bank 1870 – 1995, München 1995, S. 453. Das Offenhalten bzw. die schnelle Wiedereröffnung der Banken hatte die SHAEF (Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force) schon Ende 1944 vorgeschrieben, und zwar in ihrem Handbook for Military Government in Germany Prior to Defeat or Surrender und in dem dazu gehörigen Financial and Property Control Technical Manual, eine Art »Gebrauchsanweisung« für die westalliierten Besatzungstruppen in Deutschland. 11 Bundesarchiv (Hg.), Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 9, Boppard am Rhein 1997, S. 19 (zitiert nach: Holtfrerich, Carl-Ludwig, »Geldpolitik bei festen Wechselkursen (1948 – 1970)«, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 395). 12 Zum Ablauf der Rezentralisierung und zur politischen Einflussnahme der Großbanken darauf siehe: Holtfrerich, Carl-Ludwig, »Die Deutsche Bank vom Zweiten Weltkrieg über die Besatzungsherrschaft zur Rekonstruktion 1945 – 1957«, in: Gall, Lothar u.a. (Hg.), Die Deutsche Bank 1870 – 1995, München 1995, S. 495 – 544. Zur zentralen Rolle des bedeutendsten deutschen Bankiers der Nachkriegszeit dabei neuerdings auch: Gall, Lothar, Der Bankier Hermann Josef Abs. Eine Biographie, München 2004, S. 207– 2 27. 13 Sie hieß zunächst Deutsche Genossenschaftskasse.
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14 Moog, Hans Jürgen, »Frankfurt am Main – Finanzplatz im Aufwind«, in: Baehring, Bernd u.a. (Hg.), Finanzzentrum Frankfurt, Düsseldorf 1987, S. 17. 15 Der FIBOR ist am 1. Januar 1999 durch den EURIBOR (Euro Interbank Offered Rate) ersetzt worden. 16 Moog, Frankfurt am Main [wie Anm. 14], S. 17. 17 Das gilt z.B. für den Aktionskreis Finanzplatz e.V., der im Hause der Frankfurter Börse tätig ist, mit Fotos der Frankfurter Innenstadt wirbt, aber seine Publikationen unter den Obertitel »Finanzplatz Deutschland« stellt. 18 Alle Daten nach Frenkel, Jacob A./Goldstein, Morris, »Die internationale Rolle der Deutschen Mark«, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 732–759. 19 Nach Angaben der Deutschen Bundesbank. 20 Achterberg, Erich, Fünf Jahrzehnte Frankfurter Wertpapierbörse, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1962, S. 44; Rudolph, Bernd, »Effekten- und Wertpapierbörsen, Finanztermin- und Devisenbörsen seit 1945«, in: Pohl, Hans (Hg.), Deutsche Börsengeschichte, Frankfurt a.M. 1992, S. 302; Pohl, Manfred, »Die Entwicklung des privaten Bankwesens nach 1945«, in: Institut für bankhistorische Forschung (Hg.), Deutsche Bankengeschichte, Bd. 3: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 1983, S. 258 – 259. 21 Deutsche Bundesbank (Hg.), Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876 – 1975, Frankfurt a.M. 1976, S. 166 – 188. 22 Franke, Günter, »Notenbank und Finanzmärkte«, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 289–293. 23 Vervielfältigtes Manuskript der Rede, S. 3, 7. 24 Vgl. Monatsberichte der Deutschen Bundesbank vom Januar 1987, S. 34. In den Jahren danach war die Zahl der Auslandsbanken und Repräsentanzen in Deutschland und in Frankfurt rückläufig. Dazu und zu den Ursachen, die wenig mit der Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes zu tun haben: Grote, Michael, Die Entwicklung des Finanzplatzes Frankfurt. Eine evolutionsökonomische Untersuchung, Berlin 2004, S. 164, 190 – 192, sowie Spahn, Peter/van den Busch, Uwe, Position und Entwicklungsperspektiven des Finanzplatzes Frankfurt, FEH-Report Nr. 645, Wiesbaden 2002, S. 26. 25 Landeszentralbank in Hessen (Hg.), Vierteljahreszahlen 1998. 26 In der ersten Jahreshälfte 1999 hatten Auslandsbanken einen Marktanteil von 78 Prozent am Volumen des M&A-Marktes mit deutscher Beteiligung (vgl. Grote, Entwicklung [wie Anm. 24], S. 187).
Auf, Ab, Auf: Der Finanzplatz Paris im 20. Jahrhundert André Straus
Der Ökonom Joan Robinson sagte über das Geld, es sei wie ein Elefant: schwierig zu beschreiben, aber einfach zu erkennen. Über die großen Finanzzentren könnte man dasselbe sagen. In dem folgenden Aufsatz geht es in einer vergleichenden Sicht vor allem um die internationale Rolle des Finanzplatzes Paris seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Es gibt verschiedene Einschätzungen des Finanzplatzes Paris im 20. Jahrhundert. Oft spiegelt sich in ihnen die tatsächliche Bedeutung, die dem Finanzplatz zu dem Zeitpunkt der Einschätzung zukam. Robert Nathan zum Beispiel meinte im Jahre 1938, dass Paris vor dem Ersten Weltkrieg unbestritten ein internationales Finanzzentrum gewesen sei und dass es diesen Rang auch noch Ende der 1920er Jahre besessen habe. Robert Dohm, der Generaldirektor der Commerzbank, erwähnte 1974 anlässlich eines Kolloquiums über internationale Finanzzentren Paris mit keinem Wort, und das Gleiche tat 1986 Charles Goldfinger in seinem Buch »Géofinance«. Ist oder war Paris und – wenn ja – in welcher Epoche ein internationales Finanzzentrum? Die Antwort auf diese Frage scheint einfach für die Zeit, die sich von dem Ende des Zweiten Kaiserreiches (1870) bis zum Ersten Weltkrieg erstreckt. Ganz so eindeutig ist die Antwort allerdings nicht: War Paris vor 1914 eher ein internationales oder eher ein europäisches Finanzzentrum? War die französische Hauptstadt mehr ein Finanzzentrum oder mehr ein Währungszentrum? Seit 1914 scheint Paris, abgesehen von zwei kurzen Zwischenspielen Ende der 1920er und Ende der 1950er Jahre, als internationales Finanzzentrum abgedankt zu haben. Schwierig zu beantworten ist die eingangs gestellte Frage auch für die letzten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, als es Paris gelang, wieder attraktiv zu werden. Meine Hypothese ist, dass Paris nur so lange eine Rolle als internationales Finanzzentrum spielen konnte, als es über einen starken Finanzmarkt verfügte. Diese Hypothese hat weder theoretische Qualität noch ist sie verallgemeinerbar. Andererseits scheint sie für einen langen Zeitraum der französischen Geschichte stichhaltig zu sein. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war Paris zunächst ein dynamischer Markt, was die Finanzierung der eigenen Wirtschaft anging. Unter den Trümpfen,
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die es besaß, muss man die Bedeutung der öffentlichen Verschuldung unterstreichen. Gerade in Frankreich, dessen Fiskalsystem sich jeweils nur schlecht an wechselnde wirtschaftliche Bedingungen anpassen ließ, spielte die Verschuldung des Staates eine wichtige Rolle. Die externe Finanzierung war nicht nur für den Staat überlebenswichtig. Mit der Industrialisierung und der Urbanisierung vervielfachte sich die Nachfrage auf den Finanzmärkten. In den 1840er, 1850er und 1860er Jahren gab es den Investitionsschub der Eisenbahnen sowie jenen der Rohstoff- und Metallunternehmen. Parallel zur Urbanisierung mussten auch kommunale Gas- und Strassenbahnunternehmen Kredite aufnehmen. Schließlich ließen sich auch die Banken, die Versicherungen und die Finanzunternehmen an der Pariser Börse kotieren. Andererseits waren um 1900 die neuen Sektoren der zweiten Industrialisierung, also die Elektrizitäts- und Autounternehmen, an der Börse nur schlecht vertreten. Der Finanzplatz Paris besaß neben seiner binnenwirtschaftlichen auch eine internationale Rolle. Er konnte dies dank verschiedener Eigenschaften der französischen Wirtschaft. Zunächst einmal war der Franc auf dem europäischen Kontinent eine wichtige Reservewährung. Die französische Handelsbilanz war gegenüber den kontinentaleuropäischen Ländern defizitär; gegenüber Großbritannien verzeichnete sie hingegen Überschüsse. Dann besaß Frankreich eine hervorragende Bedeutung als Platz für das Clearing. Die Zentralbank, die Banque de France, trachtete danach, mit ihren Diskontsätzen Kapital anzuziehen. Auch dadurch wurde Paris zu einem »europäischen Währungszentrum«1. Diese Spitzenposition, welche die internationale Bedeutung des Finanzplatzes Paris auf den Kapitalmärkten ermöglichte, war überdies das Resultat der Machtpolitik von Napoleon III., der sich aktiv für die Errichtung der lateinischen Münzunion einsetzte. Alles in allem war das Zweite Kaiserreich eine Epoche des Kapitalexports nach ganz Europa. Vor allem im Zusammenhang mit staatlichen Wertpapieren gewann der Pariser Finanzmarkt damals eine internationale Statur. Die Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 beendete die Expansionsphase des Finanzplatzes Paris. Dieser kam nicht mehr als Clearing-Platz in Frage, zumal auch der Handelsbilanzüberschuss mit Großbritannien kleiner wurde. Der Export französischer Kapitalien, der 1865 bei 1.351 Millionen Francs seinen Höhepunkt erreicht hatte, war nun sehr viel niedriger. Das internationale Einzugsgebiet der Pariser Börse, die durch heftige Unternehmenszusammenbrüche heimgesucht wurde, verringerte sich.
AUF, AB, AUF: DER FINANZPLATZ PARIS
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Auf: Der Finanzplatz Paris in der Belle Époque (1895–1914) In der Mitte der 1890er Jahre, am Ende einer langen Stagnationsphase, fand Paris zu seiner internationalen Rolle zurück. Gewiss, beim Handel konnte sich Frankreich nicht mit Großbritannien messen (dieses exportierte damals 30 Prozent aller industriellen Ausfuhrgüter der Welt, Frankreich lediglich 12 Prozent),2 und in Frankreich gab es nichts, was mit dem Hafen von London vergleichbar gewesen wäre. Aber Frankreich profitierte von einem regelmäßigen Zahlungsbilanzüberschuss, der nicht zuletzt auf den Erfolg unsichtbarer Güter (Tourismus, Frachtgelder, Versicherungen, Kapitaleinkommen) zurückzuführen war. Dieser Überschuss erlaubte es dem Land, große Mengen an Gold einzuführen und einen ständigen Strom an Auslandsinvestitionen aufrecht zu erhalten. Seit 1895 vervielfachten sich die Käufe ausländischer Wertpapiere. Dieser Strom, der durch das Sparen und durch die Verminderung staatlicher Bedürfnisse verstärkt wurde, hatte auch mit einem Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zu tun: Die französischen Unternehmen verbreiterten ihre Kapitalbasis traditionellerweise nur zögerlich, und die großen Banken dirigierten die Spareinlagen meistens in Richtung festverzinslicher Papiere, die als sicherer galten. Der Finanzmarkt Paris entwickelte sich als eine Art Gegenstück zu London, dessen Position auf gewissen Märkten als unangreifbar betrachtet wurde. Seit den 1840er Jahren interessierte sich der Finanzplatz Paris für Italien, Spanien und Belgien. Unter dem Zweiten Kaiserreich traten mitteleuropäische, ägyptische und ottomanische Wertpapiere in den Vordergrund. In den 1890er Jahren entstanden neue Ambitionen: die Kolonien und Russland (die russischen Anleihen beliefen sich auf über zehn Milliarden Francs, rund ein Drittel aller exportierten Kapitalien). Dann wandte sich Paris dem amerikanischen Kontinent zu, der früher für London reserviert gewesen war. Seit den 1890er Jahren wurden an der Pariser Börse amerikanische Banken kotiert, ferner Eisenbahnunternehmen sowie Fonds lateinamerikanischer Staaten und Provinzen. Unter den Eisenbahnaktien befanden sich solche prestigereicher Linien wie der Central Pacific oder New York–New Haven. 21 Prozent der ausländischen Titel der Jahre 1881 bis 1913 waren Titel aus der Neuen Welt.3 Im Jahre 1913 war Paris nach der City of London der zweitwichtigste Kapitalmarkt der Welt, allerdings weniger international als jene und mehr nach Europa hin ausgerichtet. Frankreich war Gläubiger für einen Betrag von schätzungsweise 38,5 Milliarden Francs, während Großbritannien Auslandsaktiven von 100 Milliarden Francs aufwies.4 Die Organisation des Finanzplatzes Paris war um die Jahrhundertwende gut eingeschliffen. Sie stützte sich auf die Institutionen des Marktes und auf die großen Banken. Die Pariser Börse wurde durch zwei Arten von Maklern dominiert: die agents de change und die coulisse. Bei den agents de change handelte es sich um 60 ministe-
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rielle Beamte, die ein Wertpapierhandelsmonopol inne hatten. Allerdings konnten sie, da sie keine gewöhnlichen Kaufleute waren, nicht zu stark auf die Preisbildung Einfluss nehmen. Bei den etwa 200 coulissiers, die man auch Wertpapier-Bankiers nannte, war dies anders. Sie schlossen sich 1898 in Syndikaten zusammen und spielten eine zentrale Rolle für das Funktionieren des Marktes. Sie handelten mit zahlreichen Wertpapieren, die nicht offiziell kotiert waren. Außerdem konnten sie als gewöhnliche Kaufleute Gegenangebote aussprechen und neue Titel auf den Markt bringen. Zahlreiche coulissiers waren ausländischer Herkunft, namentlich deutscher oder österreichischer, und sie besaßen weit reichende Geschäftsverbindungen – etwas, was den agents de change durch ihr Statut verboten war. Um dem Wertpapierbesitz Auftrieb zu verleihen, waren die Makler auf die Unterstützung der Banken angewiesen. Die großen Depotbanken entstanden unter dem Zweiten Kaiserreich (Comptoir d’escompte de Paris 1848/1852, Crédit lyonnais 1863, Société générale 1864) und bauten in kurzer Zeit ein weitläufiges Schalternetz auf. Auch wenn sie sich vor allem auf kurzfristige Handelskredite konzentrierten, spielten sie seit den 1870er Jahren eine zunehmend bedeutende Rolle bei der Verbreitung von Wertpapieren. Daneben belebten auch die alten Häuser der haute banque sowie die großen Kreditbanken das Wertpapiergeschäft. Oft schlossen sich diese verschiedenen Banken zusammen, um Anleihen des Staates zu begeben. Die Kreditbanken trugen Ende des 19. Jahrhunderts dazu bei, die internationale Bedeutung des französischen Finanzmarktes zu verstärken. Sie hatten sich von Anfang an für internationale Finanztransaktionen interessiert und unterhielten zahlreiche Filialen im Ausland, sei es in der City, auf dem europäischen Kontinent oder in Asien. Die Häuser der haute banque hatten sich schon immer in ausländischen Finanzgeschäften engagiert und die neuen Banken schlossen sich ihnen in dieser Beziehung an. Die Depotbanken verliehen in großem Umfang kurzfristige Kredite an ausländische Staaten und wirkten bei der Emission ausländischer Titel in Frankreich mit. Für diese Emissionen schlossen sie sich oft mit Handelsbanken wie der Paribas und mit ausländischen Korrespondenzbanken zusammen. Um die Jahrhundertwende wurden die Depotbanken in einer öffentlichen Debatte angeklagt, der einheimischen Industrie das Geld zu entziehen und es um des Profites willen in ausländische Investments zu stecken. Die internationale Bedeutung der französischen Banken5 darf jedoch nicht überschätzt werden: Sie zählten 1913 500 ausländische Zweigstellen – die britischen Banken verzeichneten im gleichen Jahr mindestens deren 1.300.
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Ab: Der Bruch des Ersten Weltkrieges Durch den Ersten Weltkrieg änderte sich die Situation grundlegend. Die Rahmenbedingungen der Zwischenkriegszeit waren völlig anders als jene der Zeit vor 1914. Dies gilt namentlich für die Währungsschwankungen und die Inflationsraten, die man so vor 1914 nicht gekannt hatte. Der französische Finanzmarkt der 1920er und 1930er Jahre stand deshalb ganz im Banne der Devisenmärkte und der Inflationsentwicklung.6 Vor dem Krieg war ein großer Teil der Welt bei Frankreich verschuldet gewesen, nun war es umgekehrt. Um seine Auslandseinkäufe finanzieren zu können und den Abfluss von Gold einzudämmen, mobilisierte die Regierung einen Teil der privaten Auslandsguthaben; die Zahlungsunfähigkeit der ausländischen Schuldner, namentlich die russische, verminderte den Wert der französischen Auslandsguthaben. Gegen Ende des Krieges erhöhten sich die finanziellen Belastungen eher noch. Die Entschädigungen an die Opfer, der Wiederaufbau verwüsteter Regionen und der dringende Umbau der Volkswirtschaft beanspruchten die Kräfte und führten gar zum Ruf nach ausländischer Finanzhilfe. Die Emission ausländischer Titel in Frankreich wurde entsprechend ungern gesehen. Ein Gesetz von 1916 verlangte für jede dieser Emissionen eine ministerielle Bewilligung. Abgesehen von einigen Ausnahmen (wie einer Anleihe, welche die belgische Regierung 1923 auflegte) gab es an der Pariser Börse keine Emissionen ausländischer Wertpapiere mehr. Die ausländischen Wertpapiere, die an der Börse kotiert blieben, machten zwar noch immer ein Viertel des Wertes der einheimischen Wertpapiere aus – doch war dieser Anteil nur deshalb so hoch, weil der Franc so viel an Wert eingebüßt hatte. Seit 1921 kauften Franzosen vermehrt ausländische Wertpapiere, sei es in Paris selbst oder auf anderen Finanzplätzen, um sich gegen einen weiteren Wertverlust des Franc abzusichern. Diese Kapitalflucht ließ den Wert der französischen Auslandsguthaben zwischen 1921 und 1926 um 25 Milliarden Francs Poincaré oder 5 Milliarden Gold-Francs ansteigen. 1926 betrugen die französischen Guthaben im Ausland rund 100 Milliarden Francs Poincaré oder 20 Milliarden Gold-Francs, also etwa die Hälfte des Betrages von 1913.7 In den 1920er Jahren blieb das gesamte Emissionsvolumen – verglichen mit dem der Vorkriegszeit – beachtlich. Staatliche Titel, die durch das Schatzamt oder mit staatlicher Garantie begeben wurden, standen im Vordergrund. Auch die Unternehmen, die der deutschen Invasion zum Opfer gefallen waren, sowie speziell Unternehmen des Bergbaus und der Metallindustrie gingen an die Börse. Mit dem Wirtschaftsaufschwung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gab es einige Innovationen. Am wichtigsten waren wohl die Elektrifizierung auf breiter Basis und die Übernahme US-amerikanischer Management- und Produktionsmethoden. Dabei
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spielte der Finanzmarkt eine wichtige Rolle, was zum Beispiel die Kotierung zahlreicher Elektrizitätsunternehmen an der Börse zeigt. Die Inflation führte zu starken Vermögensverschiebungen und beeinflusste die Wahl der Anlagen. Die rentiers (Vermögensbesitzer) sahen ihr Kapital und ihr Einkommen schwinden. Um trotz der Inflation Investoren gewinnen zu können, war das Schatzamt gezwungen, neue Titel zu indexieren. Von der Inflation profitierten namentlich die Schuldner. Wer sein Geld in spekulative Anlagen steckte, konnte dank haussierender Kurse in kurzer Zeit ein Vermögen machen. Ein spekulativer Geist und wagemutige, wenn nicht waghalsige Unternehmen waren typisch für diese Jahre. Zusammenbrüche wie die der Bank Oustric konnten nicht ausbleiben. In der gleichen Zeit verminderte sich die internationale Bedeutung des Finanzplatzes Paris. Bis 1926 war der Franc eine schwache Währung. Wenn er – wie 1923 und 1926 – stark an Wert verlor, setzte jeweils eine spekulative Kapitalflucht ein. Unter der Inflation litten auch die Banken, namentlich die großen Depotbanken. Ihr Börsenwert und die von ihnen verwalteten Vermögen wurden kleiner. Um einer Übernahme aus dem Ausland zu entgehen, sah sich der Crédit lyonnais 1926 gezwungen, neue Aktien mit speziellen Stimmrechten auszugeben. Trotz ihrer Schwäche bemühten sich die französischen Banken darum, im Ausland Flagge zu zeigen. So eröffnete der Comptoir national d’escompte de Paris 1919 in New York eine Filiale für die USA. Das Vertrauen in die nationale Währung kehrte zurück, als Poincaré den Franc stabilisierte (de facto 1926, de recto 1928). Die Kapitalflucht hörte auf und ab 1929 gab es verstärkt Zuflüsse aus fremden Währungen. Die Banque de France wandelte einen Teil dieser Zuflüsse in Gold um. Einzig die USA besaßen zu Beginn der 1930er Jahre größere Edelmetallreserven als Frankreich. Diese neue Franc-Stärke stimulierte die internationale Bedeutung des Finanzplatzes Paris, die zwischen 1914 bis 1926 praktisch nicht mehr vorhanden gewesen war. Dank solider Zahlungsbilanzüberschüsse (die nicht zuletzt auf die deutschen Reparationen zurückzuführen waren) nahmen die Emissionen ausländischer Titel an der Börse seit 1927 wieder zu. 1930 machten sie 12 Prozent aller Pariser Emissionen aus, 1931 17 Prozent. Sie blieben damit allerdings deutlich unter den Höchstständen der Vorkriegszeit. Auch bei den Banken begannen die Depots wieder zu wachsen. Damals entstand das Projekt, London beim Handel mit internationalen Wechseln das Wasser abzugraben. 1913 hatte der Londoner Wechselhandel, der durch die mächtigen merchant bankers dominiert wurde, einen Umfang von 8 Milliarden GoldFrancs; jener von Paris belief sich auf 1,2 Milliarden Gold-Francs. In der Kriegsund Nachkriegszeit verminderte sich dieser Handel bis zur Belanglosigkeit. 1927 hatte er noch einen Umfang von 500 Millionen Francs Poincaré oder 100 Millionen Gold-Francs. Um diesen Handel wieder in Schwung zu bringen, wurde 1929 die Banque française d’acceptation, die französische Wechselbank, gegründet; gleichzeitig
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schuf die Banque de France attraktive Rediskontierungsmöglichkeiten. Das Wechselvolumen der neuen Bank belief sich schon im ersten Jahr auf 563 Millionen Francs Poincaré. Doch das ambitionierte Projekt scheiterte schnell. 1935 betrug das Volumen der Wechselbank nur noch 88 Millionen Francs Poincaré. Das Scheitern hatte sicher mit der Weltwirtschaftskrise und mit dem Stocken der Handels- und Kapitalströme zu tun. Es gab jedoch auch andere Gründe für diesen Misserfolg: Die direkte Unterstützung durch die Zentralbank war eher kontraproduktiv; Paris konnte, was Handelsbeziehungen anging, einfach nicht mit London konkurrieren; es fehlten das nötige Know-how und die Tradition.
Das Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit: Die Jahre 1931 bis 1958 Vor der eigentlich Wirtschaftskrise gab es eine Börsenkrise. Zwischen 1929 und 1932 glitten die Kurse der an der Pariser Börse kotierten Aktien im Durchschnitt um 60 Prozent zurück, während sich der Wert der Obligationen um 15 Prozent verminderte. Andererseits blieb die französische Währung stabil und die Anleihen des Staates und der großen Unternehmen waren nicht gefährdet. Mit dem Einsetzen der hartnäckigen Wirtschaftskrise änderte sich die Physiognomie des Finanzmarktes. Der Staat, der den Privatunternehmen Ende der 1920er Jahre den Finanzmarkt mehr oder weniger überlassen hatte, kam nun zurück: Die Budgetdefizite infolge der Wirtschaftskrise, sinkende Steuereinnahmen und die sich allmählich auswirkende Aufrüstung machten ihn erneut zum zentralen Akteur auf dem Pariser Finanzmarkt. Wie stark seine Präsenz dazu beitrug, die Unternehmen und ihre Anleihen vom Markt zu verdrängen, ist von der Forschung kontrovers beurteilt worden. Die Unternehmen zogen sich wohl nicht deswegen zurück, weil das Kreditangebot durch die Bedürfnisse des Staates absorbiert worden wäre, sondern deshalb, weil sie die trüben Zukunftsaussichten vom Investieren abhielten. So oder so: Mit der großen Wirtschaftskrise hörte der Finanzmarkt auf, einen nennenswerten Beitrag zur Finanzierung der Wirtschaft zu leisten, und erst ein halbes Jahrhundert später gewann die Börse wieder eine bedeutende Rolle in der französischen Wirtschaft. Zwischen 1936 und 1938 musste der Franc dreimal abgewertet werden. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden Währungskontrollen eingeführt (diese hielten sich bis 1967). Schon bald kamen die Kontrollen der deutschen Besatzungsmacht dazu. Die großen Banken Frankreichs sahen sich von ihren ausländischen Filialen abgeschnitten. Größere finanzielle Operationen waren nur noch mit Deutschland oder mit dessen Zustimmung möglich. Der Dirigismus des Vichy-
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Regimes machte sich auch im Finanzsektor bemerkbar, mit einem Bankengesetz im Jahre 1941 und der Schaffung einer chambre des courtiers (einer Kammer der Makler), welche 1942 an der Börse die coulisse ersetzte. Nach dem Ende des Krieges und bis in die späten 1950er Jahre hinein hatte Frankreich eine stark negative Handelsbilanz und der Franc war schwach. Das Finanzzentrum Paris besaß fast keine internationale Bedeutung mehr. Der Wiederaufbau und die Modernisierung der französischen Wirtschaft absorbierten alle Kräfte. Die finanziellen Bedürfnisse waren beachtlich. Die französischen Unternehmen sahen sich mit einem steigenden Investitionsbedarf konfrontiert; gleichzeitig verminderte die galoppierende Inflation ihre Kaufkraft. Der Rückgriff auf den Finanzmarkt war kaum möglich – feste Kredite verloren rasch an Wert, die nationalisierten Unternehmen waren nicht mehr an der Börse präsent, die privaten Haushalte sparten nur noch wenig, zumal der Staat mittlerweile ein umfassendes Sozialversicherungssystem eingeführt hatte. Investitionskredite gab es weniger von den Banken als von staatlichen Institutionen (die auch für die Verteilung der Marshallplan-Gelder zuständig waren). Diese öffentlichen Kredite führten zu wachsenden Budgetdefiziten. Der Staat bediente sich entsprechend ausgiebig auf dem Finanzmarkt: Staatsanleihen und Anleihen öffentlicher Institutionen machten noch 1963 60 Prozent aller Anleihen aus. In den 1950er Jahren stiegen die Aktienkurse in Erwartung künftiger Unternehmensgewinne, wegen sinkender Zinsen und des sich beschleunigenden Wirtschaftswachstums. Als Beispiel für die Hausse seien etwa die boomenden Öltitel erwähnt. So verzwölffachte sich der Preis der Esso-Standard-Aktie in den 15 Monaten nach der Entdeckung des großen Ölfeldes Parentis im Südwesten Frankreichs. Diese Hausse machte den Aktienmarkt wieder attraktiv. Die Emission neuer Titel wurde durch günstige gesetzliche Auflagen befördert. Allerdings relativiert sich die Bedeutung dieses Booms, wenn man sich vor Augen führt, dass die Emissionen des Jahres 1956 – inflationsbereinigt – fünfmal weniger umfangreich waren als die des Jahres 1928. Die internationalen Finanzflüsse litten unter strengen Auflagen und Währungskontrollen. Bis 1964 gab es an der Pariser Börse fast keine Emissionen ausländischer Titel mehr. Trotzdem hatte auch in dieser Zeit das Auslandssegment eine gewisse Bedeutung und die Banken versuchten, internationale Geschäfte abzuschließen. Dies gilt namentlich für die Häuser der haute banque, die nicht verstaatlicht worden waren (beispielsweise Rothschild und Lazard), sowie für die großen Handelsbanken (zum Beispiel Paribas), teilweise auch für die Depotbanken wie den Crédit lyonnais oder die Société générale. Auch wenn Paris in dieser Zeit kaum mehr als internationaler Finanzplatz angesehen werden kann (außer vielleicht in dem beschränkten Rahmen der Franc-Zone), so bemühten sich die Akteure doch darum, mit dem Ausland Kontakt zu halten, namentlich mit London und New York. Diese Bezie-
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hungen halfen Paris später, als die Umstände wieder günstiger waren, dabei, erneut internationales Format zu entwickeln.
Der Finanzplatz Paris während der Schuldenwirtschaft Die Marginalisierung der Börse für die Finanzierung der Wirtschaft, die schon in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre begonnen und sich nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigt hatte, ging in den 1960er und 1970er Jahren weiter – und dies, obwohl die französische Volkswirtschaft bis 1974 rekordverdächtige Wachstumsraten aufwies. Doch dieses Wachstum wurde durch andere Quellen finanziert: durch den Staat und die Kredite der Banken. Die Sparer vernachlässigten Aktien und bevorzugten Immobilien oder das Sparbüchlein, die beide von Steuervorteilen profitierten. Ausdruck für die wichtiger werdende Rolle der Banken waren die Debré-Gesetze der Jahre 1966 und 1967, welche die Bankaktivitäten liberalisierten und den Geldhäusern erlaubten, mittelfristige Kredite durch Kredite anderer Laufzeiten zu ersetzen. Bankkredite wurden auch von den Unternehmen bevorzugt, weil die realen Zinsen, die sie entrichten mussten, in Zeiten der Inflation niedrig, ja zum Teil negativ waren. Da die Zinsen von den Steuern abgezogen werden konnten, wuchs der Anreiz, sich zu verschulden – und tatsächlich wurde die französische Ökonomie damals zu einer Schuldenwirtschaft. Trotz der Marginalisierung der Börse kam es seit 1959, also mit dem Inkrafttreten der Römer Verträge, zu einer Belebung der internationalen Finanzströme.8 Nach einer neuerlichen Krise des Franc im Zusammenhang mit dem Ende der IV. Republik gelang es, das staatliche Budget wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ende 1958 wurde die Konvertibilität des Franc wieder hergestellt, 1967 der freie Austausch der Währungen von der Ausnahme zur Regel. Der Handelsaustausch erlebte einen Aufschwung, Fluchtgelder kamen zurück, ausländische Investoren engagierten sich in Frankreich. Die französischen Banken, namentlich Paribas und der Crédit lyonnais, nutzten diese Entwicklung und engagierten sich wieder – wie früher – in der Emission großer internationaler Anleihen.9 Paribas etablierte sich 1960 in New York, vereinbarte eine Zusammenarbeit mit Lehman Brothers und gründete 1964 eine Filiale in London; gleichzeitig besaß die Bank eine Filiale in Genf und eröffnete 1964 eine weitere in Luxemburg. Im Jahre 1967 war Paribas (Mit-) Konsortialführerin bei der Platzierung von 21 internationalen Anleihen. Der Crédit lyonnais war nicht ganz so offensiv wie Paribas und arbeitete eher mit europäischen Banken zusammen, namentlich mit der Deutschen Bank.
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Darüber hinaus konnte Paris – ähnlich wie London – die wichtigsten Banken der Welt anziehen. Viele US-amerikanische Banken wie die Chase Manhattan Bank, die »Großen Vier« Großbritanniens (Westminster, Lloyds, Barclays, Midland), die Bank of Tokyo und der Banco di Roma gründeten in Paris eine Filiale. Die Paris Börse versuchte zwischen 1959 und 1967, für ausländische Anleger attraktiver zu werden, indem sie ihnen den Zugang möglich machte und umgekehrt den Franzosen den Erwerb ausländischer Papiere erleichterte. 1968 erreichte der Anteil ausländischer Papiere 16 Prozent des Pariser Wertpapierhandels. Die grundsätzliche Beibehaltung der Währungskontrollen, der Ausschluss der Ausländer vom französischen Anleihenmarkt und die Krise von 1968, die eine vorübergehende Schließung der Börse nach sich zog, setzten diesem Trend ein Ende.10 1970 war der Anteil ausländischer Wertpapiere wieder auf 12 Prozent gefallen. Die Ölpreisschocks der 1970er Jahre und der Beginn einer lange andauernden Krise der Weltwirtschaft führten dann zu einem Ende der Schuldenwirtschaft. Die Zunahme der finanziellen Lasten, die Gefahr von Zahlungsschwierigkeiten und die Verringerung der Profitabilität der Investitionen veranlassten die Unternehmen dazu, das Gewicht ihrer Schulden zu reduzieren.11 Gleichzeitig hatte die Krise gravierende Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen. Sinkende Steuereinnahmen und wachsende Ausgaben ließen die Defizite ansteigen.
Auf: Hin zu einer Finanzmarktwirtschaft? Die Bedürfnisse der Unternehmen und der staatlichen Behörden erklären, warum der Pariser Finanzmarkt seit den späten 1970er Jahren einen schnellen Aufstieg erlebte. Zwischen 1979 und 1984 vervierfachte sich die Anzahl der Aktienemissionen. Noch spektakulärer war das Wachstum des Anleihenmarktes, auf dem sich vor allem der Staat und die Banken tummelten. Sein Emissionsvolumen wuchs von 65,5 Milliarden Francs (1979) auf 235 Milliarden Francs (1984). Die Angebote des Finanzmarktes wurden von den Sparern gut aufgenommen: Die Kurse der Titel schnellten in die Höhe (Vervierfachung in den Jahren 1981 bis 1986); dank der Deflation gab es nun wieder reale Zinsen; darüber hinaus förderten die Behörden das Wiederaufblühen des Finanzmarktes. Die Versuche, den Finanzmarkt zu beleben, reichten in die 1950er Jahre zurück, angefangen von einem Gesetz, das 1957 die Gründung einer Société d’investissement à capital variable (SICAV) ermöglichte, über die Einführung der Offre publique d’achat (OPA) 1966 bis hin zur Gründung der Commission des Opérations de Bourse 1967. Aber erst in den 1980er Jahren nahmen diese Bemühungen zu und führten schließlich zu einem neuen, attraktiven Finanzmarkt. Gleichzeitig gerieten andere Sparmöglich-
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keiten ins Hintertreffen. Der Steuersatz für Festgelder wurde angehoben, die Bevorzugung des Immobiliensparens abgeschafft. Darüber hinaus versuchte die Politik, das Anleihe- und Aktiensparen zu fördern. Es entstanden zahlreiche neue Investitionsinstrumente, die den Bedürfnissen der Kreditnehmer und den Wünschen der Kreditgeber entgegenkamen: Gewinnschuldverschreibungen, Optionsanleihen, Investitionszertifikate. Die Eröffnung eines zweiten Marktes erlaubte es seit 1982 auch den kleineren Unternehmen, Geld auf dem Finanzmarkt aufzunehmen. 1986 wurde der MATIF eröffnet (marché à terme des instruments financiers), 1987 der MONEP (marché des options négociables de Paris). Hand in Hand mit der Einführung neuer Finanzinstrumente und -techniken ging die Erneuerung der Marktorganisation. Schon 1962 war die coulisse endgültig verschwunden, nun ging es um das Monopol der agents de change. Sie verwandelten sich allmählich in Börsengesellschaften, an denen sich französische, ja sogar ausländische Banken beteiligen konnten. Das Monopol der agents de change wurde 1993 aufgehoben – zwei Jahre, nachdem sich die sechs regionalen Börsen Frankreichs mit der Pariser Börse zusammengeschlossen hatten. Diese Maßnahmen erlaubten es dem Finanzplatz Paris, den technischen Rückstand, den er im Vergleich mit seinen angelsächsischen Konkurrenten besessen hatten, aufzuholen. Die Finanzrevolution war allerdings zu weiten Teilen Folge eines internationalen Prozesses, und dieser wiederum wurde durch die Ungleichgewichte der weltwirtschaftlichen Entwicklung seit den 1960er Jahren ausgelöst: durch die Suche nach neuen Finanzierungsquellen, durch die Nachfrage nach besseren Anlagemöglichkeiten, durch das Schutzbedürfnis der Akteure, die sich besser gegen Finanzkrisen absichern wollten.
Die Grenzen der Vitalität des Marktes Paris: Die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts Hat die Finanzrevolution der 1980er und 1990er Jahre der Pariser Börse jene Rolle zurückgegeben, die sie vor dem Ersten Weltkrieg besaß? Noch in den 1970er Jahren war der Anteil der Börsenkapitalisierung am französischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) einer der niedrigsten in ganz Westeuropa. Ende der 1980er Jahre belegte die Pariser Börse trotz ihrer bemerkenswerten Entwicklung noch immer einen sehr bescheidenen Rang, nämlich den sechsten hinter Tokio, New York, London, den deutschen Börsen und Toronto. Die Pariser Börsenkapitalisierung war 1986 14mal niedriger als die der Wall Street und dreimal schwächer als die der City. Seither hat es gewaltige Forschritte gegeben. In den 1990er Jahren wuchs die Börsenkapitalisie-
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rung um den Faktor vier. Sie betrug Ende 1999 2.200 Milliarden Euro oder rund 14.370 Milliarden Francs: 9.385 Milliarden Francs für die Aktien und 4.985 Milliarden Francs für die Anleihen. Die Aktienkapitalisierung erreichte 106 Prozent des BIP – gegenüber lediglich 35 Prozent zehn Jahre zuvor.12 Um die Jahrtausendwende belegte Paris den ersten Platz auf dem europäischen Kontinent. Es war damit aber noch weit entfernt vom brillanten zweiten Rang weltweit, den es 1914 eingenommen hatte. Diese lange Schwächephase erklärt sich zu einem großen Teil durch die Entwicklung des französischen Finanzsystems und durch die Bedeutung, welche den Banken in den 1960er und 1970er Jahren zukam. Der Aufschwung des Pariser Finanzmarktes seit den 1980er Jahren ermöglichte auch die Belebung internationaler Aktivitäten. Diese blieben jedoch bescheiden. So betrug der Anteil der Transaktionen ausländischer Wertpapiere seit der Mitte der 1980er Jahre unter zwei Prozent aller Transaktionen – also sehr wenig, verglichen mit den 58 Prozent, die 1997 in London erzielt wurden, oder mit den 13,4 Prozent, welche die Börse von Brüssel in eben diesem Jahr aufwies. Das Wachstum des Pariser Finanzmarktes wurde demnach hauptsächlich durch inländische Werte getragen. Was seine internationale Dimension angeht, leidet der Finanzplatz Paris sicher unter gewissen Handicaps, er besitzt aber auch einige Trümpfe. Diese Trümpfe beruhen zunächst auf der Kraft der französischen Volkswirtschaft und auf der Modernisierung des Finanzzentrums Paris. Trotz einer hohen Arbeitslosigkeit sind die Leistungen der französischen Wirtschaft beachtlich. Der Franc war in den letzten 15 Jahren seines Bestehens eine stabile Währung, so wie es nun der Euro ist. Die Sparquote der französischen Wirtschaft ist hoch, auch wenn diese Kapitalien noch zuwenig den Finanzmärkten zugute kommen. Die Lebensumstände sind günstig, sei es im Hinblick auf die sozialen Infrastrukturen, sei es in bezug auf das allgemeine Wohlstandsniveau. Mehr noch als London oder Frankfurt zieht Paris zahlreiche nationale und internationale Gesellschaften an, die es zu ihrem Geschäftssitz machen, was den Aktienmarkt ohne Zweifel befruchtet. Zu den Vorteilen von Paris gehört auch die Internationalität der französischen Wirtschaft. Diese hat sich seit den 1980er Jahren gegenüber ausländischen Investoren geöffnet, wie sie sich auch umgekehrt selbst immer mehr im Ausland engagiert. Bei den ausländischen Direktinvestitionen lag Frankreich im Jahr 2001 auf dem weltweit zweiten Platz hinter den USA. Die Internationalisierung gilt auch für die Finanzmarktaktivitäten. 1990 wurden die Währungskontrollen in Frankreich definitiv aufgehoben. Ende 1992 waren zwei Drittel der französischen Anleihen und ein Fünftel der in Paris kotierten Aktien in ausländischem Besitz. Auch die Anzahl der Filialen ausländischer Bankhäuser erhöhte sich ständig: von 200 (1984) auf 400 (1993) und 473 (1999). Damit lag Paris 1999 in Europa auf dem zweiten Platz, hinter London mit 550, aber vor Frankfurt mit 280 ausländischen Bankfilialen.
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Gleichzeitig verfügten die französischen Banken 1999 über das dichteste Zweigstellennetz in Europa. Auch andere Vorteile trugen dazu bei, dass sich Paris wieder unter die wichtigsten Finanzzentren Europas einreihen konnte, beispielsweise die Qualität seiner Dienstleistungen oder die Finanzkraft seiner Investmenthäuser. Auch auf technischem Gebiet kann sich der Finanzplatz Paris vorne behaupten, so bei der Automatisierung des Handels. Schließlich gehört Paris bei den Anlagefonds mit zu den Marktführern. Ferner hat sich unter den Auspizien der Commission des opérations de Bourse die Transparenz der Börse deutlich verbessert. Alles in allem verhalfen diese Vorzüge dem Finanzzentrum Paris zu einer starken Stellung auf verschiedenen Märkten. Vor allem bei den Obligationen ist Paris führend. Auffällig sind in erster Linie die Volumen, welche die Staatsanleihen zu generieren vermögen; wichtig sind aber auch die Unternehmensanleihen. Bei den Finanzderivaten schließlich belegte Paris Ende der 1990er Jahre den weltweit dritten Platz, im Euroland war es sogar der Spitzenreiter. Andererseits kennt Paris auch einige Nachteile, die seine Rolle als internationales Finanzzentrum gefährden. So wird zum Beispiel die Internationalisierung der französischen Wirtschaft noch immer als ungenügend erachtet. Nur wenige Unternehmen Frankreichs engagieren sich auf ausländischen Finanzmärkten. Umgekehrt sind nur wenige ausländische Unternehmen davon überzeugt, dass sich eine Kotierung auf dem Paris Markt lohnen könnte. Der Anteil der in Paris kotierten ausländischen Unternehmen ist niedriger als derjenige in Frankfurt, Amsterdam oder London. Allgemein leidet das Image Frankreichs unter den Erinnerungen an seine turbulente Währungsgeschichte, an seinen Finanzprotektionismus und an seinen traditionellen Staatsinterventionismus. In Frankreich selbst wird die Nützlichkeit der Finanzindustrie von weiten Teilen der Bevölkerung in Abrede gestellt. Die Akteure, namentlich die Banken und die Versicherungen, haben Schwierigkeiten, für den Finanzplatz Paris zu lobbyieren – verglichen mit den Erfolgen, die in dieser Beziehung ihre Konkurrenten in Frankfurt vorweisen können.13 Schließlich wird der Finanzmarkt von den Sparern noch zuwenig geschätzt. Lange Zeit hat man sie ermutigt, sich an der Finanzierung der öffentlichen Defizite zu beteiligen. Bis heute vernachlässigen sie Aktien und ziehen ihnen statt dessen Schuldtitel oder Lebensversicherungen vor. Die Aktienkultur ist in Frankreich sehr viel weniger entwickelt als in den angelsächsischen Ländern. Schließlich trägt auch das in Frankreich schwach ausgebildete Rentensparen dazu bei, dass nur wenig in Aktien investiert wird. Trotz dieser Hindernisse scheint eines der wichtigsten Handicaps, die Enge des französischen Finanzmarktes, die noch Mitte der 1990er Jahre spürbar gewesen ist, mittlerweile überwunden. Wie erwähnt, wuchs die Kapitalisierung der Pariser Börse in den 1990er Jahren um den Faktor vier. Gleichwohl kann Europa kaum mehr die
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Rolle spielen, die ihm vor dem Ersten Weltkrieg zufiel, dafür hat sich das internationale Gewicht seiner Wirtschaft zu sehr vermindert. Einzig London scheint es vorbehalten, auf Weltniveau mitzuspielen. Paris kann allenfalls auf (kontinental-) europäischer Ebene an die Bedeutung anknüpfen, die es vor dem Ersten Weltkrieg besaß, aber es kann dies nur im Verbund mit anderen Zentren Europas – diese haben sich mit ihm im September 2000 zur europäischen Börsenplattform Euronext zusammengeschlossen. Aus dem Französischen von Christoph Maria Merki
Anmerkungen 1 Plessis, Alain, »Quand la place financière de Paris rêve de rivaliser avec la City…«, in: Cassis, Youssef/Bussière, Eric (Hg.), London and Paris as financial centers (im Erscheinen). 2 Bairoch, Paul, »La place de la France sur les marchés internationaux«, in: Lévy-Leboyer, Maurice (Hg.), La position internationale de la France. Aspects économiques et financiers, XIXe-Xxe siècles, Paris 1977, S. 47. 3 Dazu: Kenwood, A.G./Loughead, A.L., The Growth of the International Economy 1820 – 1990, London/New York 1992. 4 Lévy-Leboyer, La position internationale [wie Anm. 2], S. 15 und 121. 5 Dazu: Plessis, Quand la place [wie Anm. 1]. 6 Vgl. Colling, Alfred, La Prodigieuse histoire de la bourse, Paris 1949. 7 Sauvy, Alfred, Histoire économique de la France entre les deux guerres, Paris 1984, Bd. 2, S. 173. 8 Schlogel, Maurice, Les Relations économiques et financières internationales, Paris 1972, S. 201. 9 Bussière, Eric, »French Banks and the Euro-issue market during the nineteen-sixties«, in: Cassis, Youssef/Bussière, Eric (Hg.), London and Paris as international financial centers (im Erscheinen). 10 Schlogel, Les Relations [wie Anm. 8], S. 202. 11 Straus, André, »The future of the Paris market as an international financial centre from the point of view of European integration«, in: Cassis, Youssef/Bussière, Eric (Hg.), London and Paris as financial centers (im Erscheinen). 12 Vgl. die Debatte im Conseil économique et social der französischen Nationalversammlung, Sitzung vom 24. Mai 2000 (Journal officiel de la République française). 13 Dazu: Holtfrerich, Carl-Ludwig, Frankfurt as a Financial Centre, München 1999.
Zwischen London und Deutschland: Das Finanzzentrum Amsterdam im 20. Jahrhundert Jaap Barendregt
Einleitung Auf dem Fußboden des großen Saales des königlichen Schlosses in Amsterdam ist eine Weltkarte abgebildet. In der Mitte dieser Karte befindet sich – als wichtige Handelsstadt und Finanzzentrum der Welt – Amsterdam. Im 17. Jahrhundert, als man das Schloss als Rathaus errichtete, mochte dies zutreffend gewesen sein, doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Zeiten der Blüte längst vorüber. Die Position als wichtigstes Finanzzentrum der Welt war verloren gegangen, die Konkurrenz mit England entschieden. Die allgemeine ökonomische Situation in den Niederlanden während des 18. und 19. Jahrhunderts lässt sich am besten als die eines zurückbleibenden Wachstums beschreiben. Amsterdam behielt zwar dank des Kolonialhandels seine Funktion als Stapel- und Umschlagplatz. Der Mangel an Rohstoffen verzögerte jedoch die Industrialisierung der Niederlande, etwa im Vergleich mit Deutschland, Belgien oder England. Ende des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich die ökonomische Entwicklung in den Niederlanden. Dabei spielten unter anderem die Kolonie Niederländisch-Indien (heute: Indonesien) und die günstige geographische Lage zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich eine wichtige Rolle. Der Handel mit der niederländischindischen Kolonie ließ die Finanzmärkte wachsen. Amsterdam konnte damals seine Position als Finanzzentrum der Niederlande verstärken. Der folgende Aufsatz erläutert, wie sich dieses Zentrum in dem darauf folgenden Jahrhundert veränderte. Maßstab für die Beurteilung der Entwicklung Amsterdams ist folgende Definition eines internationalen Finanzzentrums: Es ist jener Ort, wo sowohl einheimische als auch ausländische Geldinstitute das gesamte Spektrum von Finanzgeschäften abwickeln, d.h. Kreditgewährung, Kapitalanlage, Emission, Vermittlung, Beratung, Finanzierung, Versicherung und Zahlung durchführen. Die Finanzen sollten in erheblichem Umfang aus dem Ausland stammen bzw. dorthin gehen. Ein Zentrum verfügt über modernste finanzielle Vermittlungstechniken und es beherbergt zahlreiche ausländische Institute. Der größte Teil der Vermögenstitel, Kapitalien und Ausgaben wird auf dem eigenen, dem nationalen Markt verwaltet.1 Als Gegenstände der Untersuchung sind damit bestimmt: die Anwesenheit einheimischer und
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ausländischer Geldinstitute, Art und Ausmaß der Finanzmärkte, internationale Finanzierung und internationaler Zahlungsverkehr, Bedeutung der Währung, Regulierung der Finanzmärkte durch die Behörden und der Einfluss (inter-)nationaler Ereignisse auf das Funktionieren Amsterdams als Finanzzentrum, auch im Verhältnis zu ausländischen Zentren.
Amsterdams Ausgangsposition Aus der Kaufmannsklasse des 17. Jahrhunderts hatte sich in den Niederlanden eine Bankiersklasse entwickelt. Als Folge der früheren Handelseinkünfte war Kapital für Investitionszwecke vorhanden. Hinzu kamen im 19. Jahrhundert die Einkünfte aus den Kolonien. Aus diesem Kapitalreichtum ergab sich ein niedriger Zinsfuß. Er bot Gelegenheit für Emissionsgeschäfte mit ausländischen (häufig mittel- und osteuropäischen) Staatsanleihen und für die Beteiligung an ausländischen Unternehmen (individuell oder in Konsortien). An der Amsterdamer Börse waren noch 1880 dreimal soviel ausländische (222) wie niederländische oder niederländisch-indische (77) Wertpapierfonds notiert. Um 1900 war dieses Verhältnis mit 531 zu 479 nahezu ausgeglichen.2 Betrachtet man die Bedingungen, die ein internationales Finanzzentrum erfüllen sollte, so entsprach Amsterdam zu Beginn des 20. Jahrhunderts lange nicht allen diesen Voraussetzungen. Zwar gab es einen internationalen Emissionshandel, eine stabile Währung, eine günstige geographische Lage und ein ruhiges finanzielles, ökonomisches und politisches Klima. Es fehlten aber wesentliche Faktoren, namentlich ein international orientiertes Bankwesen, ein flüssiger Geldmarkt, eine international akzeptierte Währung und ein liquider Valuta(termin)markt.3 Um 1900 war Amsterdam zwar immer noch ein internationales Zentrum für den Handel mit ausländischen Anleihen, aber kein internationales Bankenzentrum. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten verschiedene internationale Bankhäuser in der Stadt gearbeitet, ihre Amsterdamer Niederlassungen nach der Einführung des Telegraphen aber wieder geschlossen.4 Neue niederländische Banken versuchten nach der Mitte des 19. Jahrhunderts die Gründung internationaler Niederlassungen; außer in den Kolonien wurden diese Versuche zum Großteil bald als wenig erfolgreich aufgegeben.5 Als institutionelle Anleger traten nur die Lebensversicherungsgesellschaften auf, aber ebenso wie das Bank- kam auch das Versicherungswesen erst im späten 19. Jahrhundert richtig in Gang. Um 1900 operierten nur einige niederländische Schadensversicherungsfirmen weltweit, die Lebensversicherer waren überwiegend im nationalen Rahmen tätig.
DAS FINANZZENTRUM AMSTERDAM
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Auch der Geldmarkt war alles andere als international. Mit der Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung in den Niederlanden und der Zunahme ihres internationalen Handels stieg jedoch die Nachfrage nach Handelsfinanzierungen, unter anderem durch Rembourskredite (internationale Handelswechsel). Niederländische Banken garantierten den Handelspartnern die Bezahlung der Transaktionen durch Bankakzept. Im Vergleich mit den Londoner Finanzhäusern spielten diese Banken im internationalen Zahlungsverkehr allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Das britische Pfund war die internationale Standardwährung, gegen die der niederländische Gulden etwas blass wirkte, was die Entstehung eines Valuta(termin)marktes in Amsterdam bremste. Dagegen gab es regen Wechselverkehr mit der Kolonie Niederländisch-Indien, meist mittels Konsignation (Verkaufskommissionsgeschäft).6 Die Amsterdamer Effektenbörse verdiente das Prädikat »international« eher: Sie hatte eine relativ große Aufnahmekapazität für Wertpapiere, darunter viele ausländische Effekten.7 Die bereits existierende Börse in Rotterdam und die damals neu gegründete in Den Haag blieben erheblich kleiner. Um 1900 war Amsterdam unumstritten das nationale Finanzzentrum der Niederlande. Sowohl die Zentralbank (De Nederlandsche Bank) als auch die wichtigste Effektenbörse hatten ihren Sitz in der Stadt. Dies war der Grund dafür, dass sich damals das recht provinzielle Finanzwesen der Niederlande auf die »Hauptstadt« Amsterdam ausrichtete (Den Haag war und ist nur der Regierungssitz). Die Zentralbank fungierte mittels ihrer Filialen in der Provinz als banker’s bank, während die Effektenbörse Investitionsgelder aus der Provinz anzog. Immerhin gab es eine gewisse Konkurrenz mit Rotterdam, da diese Stadt wegen ihres großen Hafens ebenfalls eine wachsende Anzahl kapitalkräftiger Bürger beherbergte.
Die ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts In den Niederlanden entstand erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein modernes Bankwesen. Verschiedene Umstände behinderten sein Wachstum: Der nationale Markt war klein, die Niederlande hatten damals zum Beispiel wesentlich weniger Einwohner als Belgien. Die erwähnte ökonomische Situation war keine ideale Voraussetzung für das Bankwesen. Die Differenz zwischen dem Durchschnittszins auf kurz- und langfristige Kredite war leicht negativ, infolgedessen waren die Aussichten auf Zinsgewinn außerordentlich gering.8 Zudem konkurrierte die Effektenbörse mit den Banken. Privatleute liehen erhebliche Teile ihres Vermögens als »kurzes Geld« an Anleger, prolongierten diese Kredite mit den Wertpapieren ihrer Schuldner als Sicherheit und gaben damit faktisch langfristigen Kredit. Die Folge davon war eine geringe Nachfrage nach langfristigen und ein großer Bedarf
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an (prolongierten) kurzfristigen Krediten, was die inverse Zinsstruktur der Zeit erklärt. Überdies waren es viele wohlhabende Niederländer gewohnt, ihre Ersparnisse durch Vermittlung von Effektenfirmen in- und ausländischen Kreditnehmern direkt zur Verfügung zu stellen.9 Und schließlich dominierte bei den Banken noch die traditionelle Solidität: Die Banken deckten die ihnen anvertrauten Mittel vollständig durch liquide Aktiva ab statt bei der Deckung ausstehende Kredite zu berücksichtigen. Man sicherte sich durch diese extreme Solvenz besonders gründlich gegen einen möglichen Bankenkrach ab, begrenzte aber gleichzeitig die eigenen Möglichkeiten der Kreditvergabe. Bankenkräche gab es in den Niederlanden aber kaum, und als sich herausstellte, dass die Zentralbank bei einer Liquiditätsklemme einspringen würde, wurden die alten Regeln allmählich großzügiger gehandhabt. In den jetzt rasch aufblühenden Niederlanden wuchs die Kreditnachfrage dermaßen stark, dass die Banken sie nicht mehr aus eigener Kraft befriedigen konnten. Diese Entwicklung stimulierte das aktive Einwerben von Depositen.10 Die Kreditgelder versetzten die Banken in die Lage, die Kontokorrentkredite auszubauen. Einzig in Amsterdam, in der Textilregion Twente und in der Hafenstadt Rotterdam war ein gewisser Nährboden für groß angelegte Bankunternehmen vorhanden. In Amsterdam konzentrierte sich der Kolonialhandel, und viele wohlhabende Bürger hatten dort ihren Wohnsitz. Eines der großen Institute in der Provinz, das Bankhaus B.W. Blijdenstein jr in Enschede, das sich vor allem den (Export-)Interessen der lokalen Textilproduzenten widmete, eröffnete 1861 als Twentsche Bankvereeniging eine Hauptgeschäftsstelle in Amsterdam.11 Die Rotterdamsche Bankvereeniging (Robaver), eine andere »Provinzbank«, wählte einen anderen Weg: Sie kaufte 1911 und 1913 zwei Amsterdamer Banken auf. Über ihre neuen Tochterunternehmen erhielt die Robaver Zugang zum Emissionsmarkt für Aktien und zur Amsterdamer Effektenbörse. Die alten Amsterdamer Banken reagierten mit dem Aufbau eines nationalen Bankennetzwerks. Die Expansion entsprach auch der wachsenden Kreditnachfrage seitens der Kunden kleinerer Provinzbanken. Verschiedene dieser Provinzbanken waren nicht in der Lage, die Nachfrage ihrer Kunden zu befriedigen, und wurden deshalb anfällig für eine Übernahme durch eine Amsterdamer Bank.12 Nicht nur die Zahl der Handelsbanken bildete sich zurück, im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts schrumpfte auch die Zahl der Hypothekbanken. Die Sparkassen, die von dem allgemein wachsenden Wohlstand profitierten, konnten sich als örtliche Institute länger halten. Ihre Anzahl sank erst mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren (siehe Tabelle 1).
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Tab. 1: Anzahl der selbständigen niederländischen Banken (1900 – 1950) Jahr
Handelsbanken (außerhalb Amsterdam und Rotterdam)
Hypothekenbanken
Sparkassen
1900
169
33
252
1910
215
44
267
1920
164
39
284
1930
170
35
295
1940
145
29
267
1950
108
16
266 (in 1945)
Quellen: De Nederlandsche Bank, Balansreeksen [wie Anm. 27], S. 33 und 46/47; Werf, D.C.J. van der, De Bond, de banken en de beurzen, Amsterdam 1988, S. 304 – 307
Als die Banken ihre Kreditvergabe an die gewerbliche Wirtschaft erweiterten, wurden Fehler gemacht. Da eine Bankenaufsicht noch nicht existierte, gab es kein Korrektiv. Als nach der Hausse der Jahre 1914 bis 1920 die Geschäfte zurückgingen, stellte sich heraus, dass ein Teil der Banken schlechte Kredite ausstehen hatte. Es kam zu Konkursen, Geschäftsliquidationen und Übernahmen. Dies stärkte die Position der großen Banken und der lokalen Sparkassen.13 Auch die expansive Robaver geriet in Schwierigkeiten. Als sie 1924 bei der Zentralbank einen Kredit aufnehmen wollte, musste der Staat einspringen und sich für seine überforderte Zentralbank verbürgen. Immerhin konnte dadurch ein allgemeiner bankrun verhindert werden. Diese Krise machte die Banken vorsichtiger. Vielleicht wurden sie deshalb von der europäischen Banken- und Finanzkrise der 1930er Jahre nicht so stark getroffen.14 Auf jeden Fall zeigten sie in der Folge wenig Bereitschaft, die gewerbliche Wirtschaft mit Risikokapital auszustatten. Die Tatsache, dass der Prolongationskredit – wie oben angesprochen – in den Niederlanden die bei weitem beliebteste Anlageform für Geldersparnisse war, destabilisierte das finanzielle System. Das eigentliche Risiko bildeten dabei stark sinkende Wertpapierkurse. In diesem Fall war der Anleger als Kreditschuldner gezwungen, das als Sicherheit gegebene Wertpapierpaket aufzustocken. Andernfalls konnte ihn der Kreditgeber verpflichten, die Wertpapiere zu Geld zu machen und den Kredit abzulösen. Bei einem allgemeinen Kursverfall entstand dann fast zwangsläufig ein zusätzliches Wertpapierangebot, das den Kursverfall weiter beschleunigte; gleichzeitig konnten potenzielle Kreditnehmer bei einem Kursverfall sehr viel schwerer an Geld herankommen.15 Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Juli 1914 wurde der Handel an der Amsterdamer Effektenbörse ausgesetzt. Unter Führung der Zentralbank sprangen die Banken ein und verschafften den Finanzmärkten die notwendige Liquidität.
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Prolongationskredite wurden zeitweilig verboten, was den Banken den Zugang zu den Spargeldern der Niederländer erleichterte. Mit der durch den Krieg erzwungenen Schließung der Börse gewöhnten sich die Niederländer stärker an die Banken. Als die Prolongationskredite später wieder zugelassen wurden, waren sie nur noch eine von mehreren Anlageformen. Mit dem Niedergang der Aktienkurse in den 1930er Jahren ging der Gebrauch von Prolongationskrediten weiter zurück. Insgesamt wuchs das Bank- und Versicherungsgeschäft noch schneller als die niederländische Gesamtwirtschaft. Dies zeigt die Entwicklung der Beschäftigungszahlen (siehe Tabelle 2). Tab. 2: Personal im niederländischen Bank- und Versicherungswesen (1899 – 1947) Bank und Versicherungswesen
Berufsbevölkerung insgesamt
Jahr
Absolut
Index
Absolut
Index
1899
10.000
100
2.033.000
100
1909
18.100
181
2.326.000
114
1920
46.300
463
2.721.000
134
1930
48.200
482
3.171.000
156
1947
67.600
676
3.866.000
190
Quellen: Centraal Bureau voor de Statistiek, Negentig jaren statistiek, Den Haag 1989, S. 76 (für Banken und Versicherer); Centraal Bureau voor de Statistiek, Tweehonderd jaar statistiek, Amsterdam 2001, S. 20 (für Berufsbevölkerung)
Im internationalen Kreditgeschäft spielten die niederländischen Banken eine bescheidene Rolle. Sie waren zwar in vielen Ländern aktiv, hatten aber nur in den eigenen Kolonien eine Spitzenposition inne. Niederlassungen niederländischer Banken gab es auch in Südafrika, das eine Art Ex-Kolonie war, und in Südamerika. Dort gelang es übrigens, in Konkurrenz zu London den niederländischen Gulden im Wechsel- und Akzeptgeschäft als international gängige Währung durchzusetzen.16 Die Neutralität der Niederlande im Ersten Weltkrieg erwies sich als erheblicher Vorteil. Die ausländische Konkurrenz auf dem Inlandsmarkt fiel weg, und im Ausland stieg die Nachfrage nach niederländischen Produkten. Die Niederlande waren in den Jahren 1914 bis 1923 eines der wenigen Länder, die ihren Wohlstand steigern konnten. Im Akzeptgeschäft gewann der niederländische Gulden an Bedeutung. Im internationalen Tabak- und teilweise im Teehandel war der Gulden schon früher das traditionelle Zahlungsmittel gewesen; nun erhielt er auch im Wollhandel, bei Getreide-, Kohlen- und Erzgeschäften diese Funktion. Die positive Handelsbilanz sorgte für einen umfangreichen Geldstrom. Dies hatte einen niedrigen Zinssatz zur
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Folge, was wiederum den Wechselverkehr interessanter machte. Im Gegensatz zu anderen Währungen blieb der Gulden stabil. Die Voraussetzungen dafür, dass Amsterdam die Rolle eines Vermittlers zwischen kriegführenden Nachbarländern übernehmen konnte, waren gut.17 Die Neutralität der Niederlande begünstigte die Aktivitäten auf dem internationalen Geldmarkt. Nach 1918 konnte Amsterdam seine neu gewonnene Position konsolidieren. Wegen der Währungsunsicherheiten im übrigen Europa zog der relativ stabile Gulden kurzfristiges Fluchtkapital an. Dazu trug auch die Tatsache bei, dass die Niederlande bis 1945 das Bankgeheimnis gegenüber den Steuerbehörden anerkannten. Das Fluchtkapital erhöhte die Liquidität des Geldmarktes. Außerdem konnte die Zentralbank dank der andauernd positiven Zahlungsbilanz ihren Diskontsatz niedrig halten, was wiederum niedrige Diskonttarife für Wechsel zur Folge hatte. Der Amsterdamer Geldmarkt (Wechsel und Guldenakzepte) konnte nun sogar mit London konkurrieren, wo man damals mit Problemen kämpfte und seine Stellung als führendes Finanzzentrum der Welt an New York verlor.18 Die niederländische Zentralbank nutzte die Schwächung Londons und lockerte ihre Diskontvorschriften,19 wie überhaupt die Schwäche Londons das aufstrebende Amsterdam begünstigte. Nach 1914 ließen sich – erstmals seit vielen Jahren – wieder ausländische Banken in Amsterdam nieder, vor allem deutsche. Sie folgten teilweise dem Fluchtkapital, wollten ins Ausland expandieren und wählten als ersten Standort die im Krieg neutralen Niederlande. Von Amsterdam aus war es leichter, mit dem (ehemaligen) Kriegsgegner Großbritannien ins Geschäft zu kommen. Die Tatsache, dass Amsterdam auf dem Gebiet der Staatsanleihen für Mittel- und Osteuropa schon immer wichtig gewesen war, spielte dabei sicher mit. Die deutschen Banken betrieben in Amsterdam vor allem Valutahandel, Valutaarbitrage und Valutaterminhandel. Dies stärkte den Guldenakzept. Die Handelskredite der deutschen Banken wurden jedoch hauptsächlich in London und New York untergebracht, da ihre Akzepte von der niederländischen Zentralbank zunächst nicht in Diskont genommen wurden. Erst 1926 wurden die Akzepte deutscher Banken von der Zentralbank für diskontabel erklärt, im Jahr darauf dann gänzlich gleichgestellt. Außerdem traf die Zentralbank im Jahr 1926 Maßnahmen, um die Volatilität der Diskonttarife zu verringern und damit den Amsterdamer Geldmarkt noch attraktiver zu machen. Tatsächlich entwickelte sich Amsterdam zu einem wichtigen Geldmarkt, der viele internationale Gütertransaktionen absicherte.20 In den Bilanzen der Banken wird dies sichtbar (siehe Tabelle 3).
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Tab. 3: Zusammensetzung der Bilanzsummen der Banken in Mio. Gulden (1900 – 1938) Aktiva
Passiva
Jahr
Kasse
Prolongationen Handelswechsel, Debitoren und Akzepte und Beleihungen Kredite
Depositen
1900
16
49
68
129
58
144
1908
31
110
159
210
120
219
1913
37
183
193
367
175
291
1918
159
344
455
1.127
504
549
1923
151
246
446
1.303
431
816
1928
174
389
606
1.906
703
877
1933
310
95
263
1.040
348
781
1938
530
180
122
838
265
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Kapital und Reserven
Quelle: De Nederlandsche Bank, Balansreeksen [wie Anm. 27], S. 18/19
Amsterdam wurde in den 1920er Jahren zu einem internationalen Finanzzentrum. Die früheren Schwachstellen waren beseitigt: Amsterdam besaß nun einen vollwertigen internationalen Geldmarkt, einen gut funktionierenden Valuta(termin)markt, und der Gulden war – vor allem in Mitteleuropa – als internationale Recheneinheit akzeptiert. Außerdem war die Orientierung des Bankwesens internationaler geworden. Die Niederlande hatten zusätzlich den Vorteil eines nationalen Sparüberschusses, was das Land zum Kapitalexporteur machte und seine Position auf dem internationalen Kapitalmarkt stärkte. Das niederländische Bankwesen war seit jeher an Emissionen ausländischer Staaten und Unternehmen beteiligt gewesen. Deren Umfang war allerdings bis in die 1920er Jahre begrenzt. Mit der Erholung der internationalen Wirtschaft und der Stabilisierung der (mitteleuropäischen) Währungen nahmen die Volumen zu. Wegen des Kapitalüberschusses – der Staat tilgte Schulden, während ausländisches Kapital einströmte – waren Anleihen in den Niederlanden relativ billig. Dieses machte den niederländischen Emissionsmarkt vor allem für deutsche Unternehmen attraktiv. In den Jahren 1926 und 1927 kamen ausländische Emissionen sogar häufiger vor als einheimische.21 Dabei spielten – ähnlich wie in London – Anleihen zugunsten kolonialer Aktivitäten eine wichtige Rolle. Weil die Besteuerung der Kapitalerträge (die Couponsteuer) niedrig war, zog Amsterdam auch ausländische Kapitalien an.22 Die Amsterdamer Effektenbörse erfüllte damals sogar eine Clearing-Funktion, was nur bedeutenden Finanzmärkten überhaupt möglich ist. In absoluten Zahlen war die Rolle Amsterdams allerdings nicht so wichtig, als dass aus ihr handelspolitische Vorteile resultiert hätten. Auch waren die Emissio-
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nen, die in Amsterdam stattfanden, längst nicht alle von hoher Qualität: 1937 blieben etwa 50 Prozent aller ausländischen Emittenten mit ihren Verpflichtungen in Verzug.23 Das Emissionsgeschäft fluktuierte überdies so stark, dass es sich für die Finanzunternehmen kaum lohnte, sich darauf zu spezialisieren.24 Tab. 4: Notierungen von Fonds an der Amsterdamer Börse in Mio. Gulden (1900 – 1940) Jahr
Niederländische bzw. niederländischindische Fonds
Ausländische Fonds
Total
1900
479
531
1.010
1914
1.025
893
1.918
1918
1.265
746
2.011
1925
1.834
934
2.768
1930
1.798
1.334
3.132
1935
1.648
1.553
3.201
1940
1.079
436
1.515
Quelle: Vries, Effecten [wie Anm. 2], S. 87 und 126
Die zunehmende Instabilität der Wechselkurse, die steigenden Kreditrisiken und der Rückgang des Handels führten in den 1930er Jahren zu einer Abnahme des internationalen Charakters der Amsterdamer Finanzmärkte. Weil Staatspapiere infolge der zunehmenden Staatsverschuldung zu der wichtigsten Anlageform auf dem niederländischen Geldmarkt wurden, verwandelte sich dieser wieder in einen lokalen Markt. Die abnehmende internationale Bedeutung von Amsterdam zeigte sich unter anderem darin, dass die meisten der elf ausländischen, zumeist deutschen Banken in den 1930er und 1940er Jahren wieder aus den Niederlanden abwanderten. Als erste ausländische Bank hatte sich die American Express Bank Corporation 1904 in Amsterdam niedergelassen. Sie blieb als letzte und war nach dem Zweiten Weltkrieg für längere Zeit die einzige ausländische Bank. Der internationale Geldverkehr sollte noch für lange Zeit durch Restriktionen behindert werden. Finanzielle Probleme in Deutschland und anderswo, die mit Devisenbewirtschaftung, Abwertung und Einstellung des Schuldendienstes verbunden waren, brachten die niederländische Emissionstätigkeit für ausländische Einrichtungen zum Erliegen. Von staatlicher Seite gab es kaum Beschränkungen ausländischer Emissionen, und zwar sowohl während des Ersten Weltkrieges als auch während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Die Kapitalflucht aus den Niederlanden, die aus einem periodisch auftretenden Misstrauen gegen den nicht abgewerteten Gulden resultierte, wurde fast ausschließlich mit dem Mittel der Diskontpolitik bekämpft. Auf ein Devisenembargo verzichtete man.25 Die (potenziellen) Finanzkrisen der
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Jahre 1914 bis 1924 konnten durch die Zentralbank gemeistert werden. Seit den Bankenproblemen der 1920er Jahre war es für die gewerbliche Wirtschaft schwierig, Kredite zu bekommen. Mit der Gründung der Nederlandsche Middenstandsbank (1927) und einer Gesellschaft für Industriefinanzierung (Mavif, 1935) versuchte der Staat, die Lücke zu schließen. Erstere entsprach dem Kapitalbedürfnis von Klein- und Mittelbetrieben und war erfolgreich; letztere sollte Risikokapital bereitstellen, funktionierte aber kaum.26 Im Gegensatz zum Bankwesen gab es im 19. Jahrhundert im Versicherungswesen eine wichtige und für die Niederlande umfangreiche Schadens- und Lebensversicherungstätigkeit in den Provinzen. Große Unternehmen hatten ihren Sitz noch 1940 in Rotterdam (Nationale Levensverzekering-Maatschappij), Den Haag (De Nederlanden van 1845) und Utrecht (Levenverzekering Maatschappij Utrecht). Anders als für die Banken bestand für die Versicherungen keine Notwendigkeit, ihren Sitz nach Amsterdam zu verlegen. Die in Amsterdam ansässigen Gesellschaften waren lange Zeit die größten des Landes. Die internationalen Geschäfte, die sie ausführten, brachten sie jedoch von Zeit zu Zeit in Schwierigkeiten. De Algemene, die stark in Deutschland engagiert war, ging 1920 an der dortigen Hyperinflation zugrunde. Dies war der Anlass für die Neuregelung der Aufsicht und für die Einführung einer Versicherungskammer. Bis heute haben die größten niederländischen Versicherungsgesellschaften ihren Hauptsitz außerhalb von Amsterdam. Die Bedeutung der Versicherungsgesellschaften nahm zwischen 1900 und 1940 zu (siehe Tabelle 5). Bei den privaten Sparkassen stiegen die Saldi der Einlagen von 80 Millionen Gulden auf 515 Millionen, bei der staatlichen Postsparkasse (Rijkspostspaarbank) von 85 Millionen auf 670 Millionen Gulden. Großmächte unter den institutionellen Anlegern waren jedoch die Lebensversicherer und die Pensionsfonds, unter diesen als größte die Beamtenpensionskasse, der Algemeen Burgerlijk Pensioenfonds (ABP). Das Vermögen der Lebensversicherer stieg von 80 Millionen (1900) auf 1.100 Millionen Gulden (1940). Die Bilanzsumme der Pensionsfonds erhöhte sich in dem gleichen Zeitraum von 100 Millionen auf mehr als 1.500 Millionen Gulden.27 Die Lebensversicherungsgesellschaften legten bis 1940 überwiegend in Hypotheken an. Es folgten Anlagen in Immobilien und ausländischen Wertpapieren. Seit 1930 erfolgte auch freihändige Kreditvergabe an nachgeordnete öffentliche Körperschaften (Kommunen, Provinzen). Die Pensionskassen verliehen vorwiegend an den Staat sowie an nachgeordnete öffentliche Körperschaften. Dabei spielte der ABP eine wichtige Rolle, doch schränkte sein Reglement die Anlagemöglichkeiten ein.28
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Tab. 5: Bilanztotal der Versicherer im Vergleich mit dem Volkseinkommen (1900 – 1950) Versicherungs gesellschaften Jahr
Absolut (Mio. Gulden)
Index
Pensionskassen Absolut (Mio. Gulden)
Index
Volkseinkommen Absolut (Mio. Gulden)
Index
1900
84
100
12
100
1.361
100
1910
180
216
26
215
1.877
138
1919
319
382
73
608
5.453
401
1930
628
751
819
6.825
5.985
440
1940
1.076
1.289
1.545
12.872
5.264
387
1950
2.552
3.056
3.015
25.122
14.760
1.084
Quellen: De Nederlandsche Bank, Balansreeksen [wie Anm. 27], S. 50 – 53 (»Versicherungsgesellschaften«: Lebensversicherer inkl. Sparkassen, 1919: Schätzung); Centraal Bureau voor de Statistiek, Tweehonderd [wie Tab. 2], S. 80 (für Volkseinkommen, i.e. Nettosozialprodukt zu Faktorkosten)
Noch ein Wort zur Amsterdamer Börse. Die freien Makler, die so genannten Hoekmannen, hatten im Börsensaal ihren festen Platz, ihre Ecke (Hoek). Sie waren auf den Handel mit einem oder mehreren Börsenfonds spezialisiert. Üblich waren Mittelkurse: Die vor Beginn der Börsensitzung erteilten unlimitierten Aufträge (bestens order) wurden nach dem rechnerischen Mittel der während der Sitzung erzielten Kurse abgerechnet. Sowohl die Hoekmannen als auch die Anleger sahen in diesem Handelssystem Vorteile. Andererseits war es für Missbräuche anfällig.29 Die Börsenleitung (Vereeniging voor den Effectenhandel) versuchte wiederholt, das System zu ändern. Dies konnte von den Hoekmannen verhindert werden. Einen Terminhandel mit Wertpapieren gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht, das Clearing befand sich in den Kinderschuhen. Immerhin war die technische Ausstattung, unter anderem dank eines neuen Gebäudes, auf der Höhe der Zeit.30 Alles in allem fanden in den vier Jahrzehnten zwischen 1900 und 1940 zwei wichtige Entwicklungen statt. Erstens erhielt das niederländische Bankwesen nach einem langsamen Start im 19. Jahrhundert eine zeitgemäße Form. Weil auch die größeren »Provinzbanken« nach Amsterdam zogen, war diese Stadt schließlich nicht nur das nationale Börsen-, sondern auch das unbestrittene Bankenzentrum. Zweitens profitierte Amsterdam als Finanzzentrum von den finanziellen Krisen in Deutschland und in Mitteleuropa. Im Vergleich zu diesen Regionen waren die Niederlande eine Oase der Ruhe – ohne Krieg, ohne Hyperinflation, mit starker Währung und niedrigem Zinssatz. Deutsche Banken führten ihre Valuta- und Geldmarktoperationen von Amsterdam aus. Die Zentralbank förderte dessen Rolle auf dem internationalen Geldmarkt, indem sie die Liquidität und die Stabilität des nationalen Geld-
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marktes stärkte. Fluchtkapital fand seinen Weg in die Niederlande und es entstand eine ausländische, vorab deutsche Nachfrage nach langfristigem Leihkapital. Dank dieser Entwicklungen nahm das Ansehen Amsterdams als internationales Finanzzentrum zu, wobei es gleichzeitig von der Schwächung Londons profitieren konnte. Daran änderte sich selbst in den 1930er Jahren wenig, weil nicht nur Amsterdam, sondern auch alle anderen Finanzzentren unter den schlechten Bedingungen der damaligen Zeit litten. In der Liste der wichtigsten Bankzentren machte Amsterdam mehrere Ränge gut: 1915 befand es sich auf dem zehnten, 1920 auf dem neunten und 1940 schließlich auf dem fünften Platz – unmittelbar nach London, New York, Paris und Berlin.31 Das Bankwesen und die Finanzmärkte von Paris und Berlin hatten sicherlich ein größeres Volumen. Aber Amsterdam hatte Paris und Berlin bei der funktionellen Diversität wahrscheinlich hinter sich gelassen. So viel Fortüne beim Zusammentreffen verschiedener Umstände war einzigartig.
Die 1940er und 1950er Jahre: Eine Übergangszeit Der Zweite Weltkrieg isolierte Amsterdam als Finanzzentrum, sogar von seinem Nachbarn Deutschland. Die Regierung des Deutschen Reichs führte mit der Besetzung im Mai 1940 einen Wust von Reglementierungen ein. Sie verursachte Geldüberschuss und Gütermangel, so dass es auf allen Märkten zu starken inflationären Tendenzen kam. Die Kurse der Aktienbörse erreichten Höchststände. Bevor die deutsche Besatzungsmacht die Juden in die Vernichtungslager abtransportierte, nahm sie ihnen ihr Geld und ihre Ersparnisse ab. Die Bank Lippmann, Rosenthal & Co., welche die beschlagnahmten Wertpapiere übernommen hatte, verkaufte diese an der Börse. Nach dem Krieg wurde dieser Handel von den Repräsentanten der Amsterdamer Börse gutgeheißen, ja die Rückgabe der Erträge jüdischer Wertpapiere lange Zeit behindert.32 Der Wertpapierhandel kam nach dem Krieg nur langsam in Gang. Der Grund dafür war unter anderem die antiinflationäre Währungspolitik der Niederlande. Die Regierung wollte die Geldmenge nicht zu schnell anwachsen lassen und blockierte deshalb einen großen Teil der während des Krieges angesammelten Barguthaben. Dasselbe geschah mit den im Krieg angelegten Wertpapieren, was natürlich den Effektenhandel stark einschränkte. Außerdem wurde der Prolongationskredit endgültig verboten. Schon 1940 war der Börsenhandel zeitweilig ausgesetzt worden, seit dem 4. September 1944 war die Amsterdamer Börse erneut geschlossen. Am 7. Januar 1946 wurde der Börsenhandel für eine begrenzte Anzahl von Titeln wieder aufgenommen. Erst seit dem 1. April 1947 konnte wieder von einem einigermaßen freien Aktienhandel die Rede sein. Die Niederlande waren verarmt, hatten große Kriegsschäden erlitten und sahen sich in
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Niederländisch-Indien mit einer Unabhängigkeitsbewegung konfrontiert, deren Bekämpfung den Staat Devisen kostete. Im Gegensatz zur Vorkriegszeit waren Devisen knapp und ein Engpass für den Wiederaufbau. Erst die US-amerikanische Marshallplan-Hilfe sorgte hier für die nötige Erleichterung.33 Um 1950 normalisierte sich das ökonomische Klima und der Staat zog sich langsam aus der Binnenwirtschaft zurück. In der Außenwirtschaft, im internationalen Güter- und Kapitalverkehr blieb der Einfluss des Staates stark: Die Hürden, die dem freien Verkehr im Wege standen, sollten erst im Zuge der europäischen Integration beseitigt werden. Im Vertrag von Rom (1958) verpflichteten sich Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande, in den Bereichen Ökonomie und Währung Einheitlichkeit anzustreben. Der erste Schritt war eine Zollunion zwischen den sechs Staaten. Auch die Beziehungen zum Rest der Welt normalisierten sich allmählich wieder. Angesichts der Einschränkungen der Nachkriegszeit konnte Amsterdam seine Position als internationales Finanzzentrum nicht behaupten. Allerdings hatten auch die anderen Zentren mit diesen Einschränkungen zu kämpfen. Die Verhältnisse zwischen den verschiedenen europäischen Zentren waren sozusagen eingefroren. Immerhin besaßen die anderen Städte im Unterschied zu Amsterdam den Vorteil eines größeren Heimmarktes.
Die letzten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts Die Finanzmärkte erlebten in den letzten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts viele einschneidende Veränderungen: den Zusammenbruch des Bretton-WoodsSystems (1971), die Multinationalisierung zahlreicher Unternehmen und Banken, revolutionäre Innovationen bei den Finanzprodukten und der Informationstechnologie, das Aufkommen der Euromärkte oder die Verbreitung anti-keynesianischer Wirtschaftstheorien im Gefolge der Ölkrise von 1973. Am wichtigsten war wohl die schrittweise Liberalisierung des internationalen Handels- und Kapitalverkehrs, der seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre unter zahlreichen Vorschriften gelitten hatte. Auf dem europäischen Kontinent beschleunigte der Integrationsprozess die Deregulierung der Finanzmärkte.34 Das nächste Kapitel behandelt die Frage, wie sich der Finanzplatz Amsterdam in dem sich rasch wandelnden internationalen Umfeld behauptete. Zuerst geht es um die Entwicklung des Bankwesens, dann um die (internationalen) Geld- und Kapitalmärkte sowie um die Rolle der Finanzbehörden. Der Schlussteil ist dann den institutionellen Anlegern sowie der Börse gewidmet.
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Im niederländischen Bankwesen kam es seit den 1960er Jahren zu einem starken Konzentrations- und Fusionsprozess. 1964 fusionierten die Amsterdamsche Bank und die Rotterdamsche Bank (früher Robaver) zur AMRO Bank; gleichzeitig taten sich die Nederlandsche Handel-Maatschappij und die Twentsche Bank unter dem Namen ABN zusammen. 1972 schlossen sich die großen Agrargenossenschaftsbanken zur Rabobank zusammen. Bis in die 1950er Jahre besaß jeder Bankentypus seinen eigenen Teilmarkt: Die (Handels-)Banken gaben den Unternehmen Kredite und erledigten für die Oberschicht die Vermögensverwaltung; die Postgiro-Einrichtungen besorgten den Zahlungsverkehr; die Sparkassen sammelten die Spargelder der einfachen Bürger; die Versicherungen versorgten die gewerbliche Wirtschaft mit mittelfristigen Krediten.35 Seit den 1950er Jahren machten die expandierenden Handelsbanken den anderen Finanzinstituten zunehmend Konkurrenz: Wie die Versicherungen erteilten sie nun auch mittelfristige Kredite; sie erweiterten ihr Filialnetz, um wie die Sparkassen an langfristige Spargelder heranzukommen; und sie boten nun auch Konsumkredite und Hypotheken an. Die ursprünglich selbständigen Hypothekenbanken wurden nach und nach durch Handelsbanken und Versicherungen übernommen.36 Die kleineren Handelsbanken fanden bei den großen Amsterdamer Instituten Unterschlupf, bei ABN, der AMRO Bank und bei der Nederlandsche Middenstandsbank. Im Jahr 2000 waren nur noch vier selbständige Sparkassenbanken übrig geblieben (siehe Tabelle 6).37 Tab. 6: Anzahl der selbständigen Banken im niederländischen Finanzwesen (1940 – 2000) Jahr
Handelsbanken (außerhalb Amsterdam und Rotterdam)
Hypothekenbanken
Sparkassen
1940
145
29
267
1960
60
7
248
1980
20
3
59
2000
4
0
4
Quellen: Werf, De Bond [wie Tab. 1], S. 304 – 307 (für 1940 – 1980); NIBESVV, Bankenboekje 2000 – 2001, Amsterdam 2000; De Nederlandsche Bank [wie Anm. 37], S. 166 (für 2000)
Um 1990 kam es zu einer neuen Fusionswelle. 1991 schloss sich der größte Versicherer, Nationale-Nederlanden, mit der viertgrößten Bank, NMB Postbank, zur ING (später ING Bank) zusammen. Die Postbank war selbst ein Fusionsprodukt gewesen und 1989 aus der Vereinigung von Nederlandsche Middenstandsbank und Rijksgiro- en Spaardiensten entstanden. Die Fusion zur ING wurde dadurch ermöglicht, dass die Zentralbank angesichts der europäischen Entwicklungen das Verbot der Bildung oligopolistischer Konglomerate milderte. Auch ABN und AMRO Bank taten sich
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1991 zusammen, während Rabobank im gleichen Jahr zwei Versicherungsgesellschaften übernahm. Eine Stufe tiefer verband sich eine der übriggebliebenen Sparkassen mit dem Versicherer AMEV. Damit war das Konzept des Bankversicherers geboren: Er vertrieb über die Bank auch Versicherungen und kam umgekehrt über die Versicherung billig an neue Kapitalien heran. Seit der Fusionswelle der Jahre 1989 bis 1991 gibt es in den Niederlanden nur noch Nischenanbieter sowie vier große Finanzinstitute: ABN AMRO, ING, AMEV (später Fortis) und Rabobank. Von den großen Banken haben ABN AMRO und ING ihren Sitz in Amsterdam.38 Auch in den letzten 40 Jahren des 20. Jahrhunderts zählte das Bank- und Versicherungswesen zu den Wachstumsbranchen der niederländischen Ökonomie. Die Zahl der in diesem Sektor Beschäftigten stieg überproportional stark an (siehe Tabelle 7). Tab. 7: Personal im niederländischen Bank- und Versicherungswesen (1947– 2000) Bank und Versicherungswesen Jahr
Absolut
Index
Berufsbevölkerung insgesamt Absolut
Index
1947
67.600
68
3.866.000
92
1960
100.100
100
4.220.000
100
1971
145.000
145
4.835.000
115
1981
181.600
181
3.552.000
84
2000
208.500
208
6.900.000
164
Quellen: Centraal Bureau voor de Statistiek, Negentig [wie Tab. 2], S. 76 (für Banken und Versicherer); Verbond van Verzekeraars, Verzekerd van cijfers 2003, Den Haag 2003, S. 37 (Versicherungen 2000); Nederlandse Vereniging van Banken, Jaarverslag 2001, Amsterdam 2002, S. 14 (Banken 2000); Centraal Bureau voor de Statistiek, Tweehonderd [wie Tab. 2], S. 20 (für Berufsbevölkerung); Centraal Bureau voor de Statistiek, 2001, het jaar in cijfers, Den Haag 2002, S. 21 (Berufsbevölkerung 2000)
Die Konzentration der Kräfte, die durch die Fusionen möglich wurde, war nötig, um trotz eines relativ kleinen Heimmarktes im europäischen und globalen Wettbewerb bestehen zu können. Parallel dazu kam es in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einer Internationalisierung des niederländischen Bankwesens. Diese Internationalisierung ging teilweise von den Auslandsaktivitäten aus, die schon früher einen großen Teil des niederländischen Bankwesens geprägt hatten. So waren die Vorgängerfirmen der ABN AMRO schon immer stark in der Finanzierung des Fernhandels tätig gewesen, namentlich in der Finanzierung des Handels zwischen Lateinamerika, Europa und Asien.39 In den 1960er und 1970er Jahren wuchs der internationale Handelsverkehr mächtig an, nicht zuletzt im Gefolge der europäi-
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schen Integration. Auch hier mischten die Amsterdamer Banken mit, unter anderem dadurch, dass sie Kredite an skandinavische und deutsche Unternehmen vergaben. Im übrigen fand die Internationalisierung damals in erster Linie über internationale Konsortien und Syndikate statt. So vergaben Banken verschiedener Länder (darunter auch solche aus den Niederlanden) gemeinsame Kredite an große Unternehmen und Entwicklungsländer. Seit den 1980er Jahren beschleunigte sich die Internationalisierung des niederländischen Bank- und Versicherungswesens, nun aber in erster Linie durch die Eröffnung ausländischer Filialen und die Übernahme ausländischer Unternehmen. So expandierte die ABN AMRO in die US-amerikanischen Gliedstaaten Illinois und Michigan; in Brasilien baute sie einen Markt für das Retailbanking auf. ING war nicht minder expansiv: Finanzierung von ausländischen Unternehmen und Entwicklungsländern, Übernahme der britischen Barings-Bank sowie der belgischen Brussel Lambert en Postcheque, Kauf von US-amerikanischen Versicherern. ING gehört mittlerweile zu den weltweit größten Versicherern überhaupt und spielt in der gleichen Liga wie AEGON aus Den Haag. Das AMEV-Konglomerat schloss sich vor einigen Jahren mit verschiedenen belgischen Finanzinstituten zusammen. Es firmiert heute unter dem Namen Fortis und ist überwiegend belgisch.40 Alles in allem brillierte der niederländische Banken- und Versicherungssektor in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einem überproportional starken Wachstum (siehe Tabelle 8). Tab. 8: Bilanztotal des Bankensektors im Vergleich mit dem Volkseinkommen (1946 – 2000) Jahr
1946
Banken
Volkseinkommen
Absolut (Mio. Gulden)
Index
Absolut (Mio. Gulden)
Index
5.098
100
9.326
100
1960
11.684
229
34.721
372
1975
116.472
2.285
181.500
1.946
1980
387.492
100
273.200
100
1990
969.867
250
407.930
149
2000
2.531.933
653
605.033
221
Quellen: De Nederlandsche Bank, Balansreeksen (für 1946) bzw. Jaarverslagen (für die weiteren Jahre) bzw. Statistisch Bulletin, Dezember 2003 (für 2000) (»Banken«: ohne Landwirtschaftskredit-, Sparund Hypothekenbanken); Centraal Bureau voor de Statistiek, Tweehonderd [wie Tab. 2], S. 80/81 (für Volkseinkommen); De Nederlandsche Bank, Jaarverslag 1993 und 2001 (Volkseinkommen 2000); ab 1980: neue Reihe inklusive anderen geldschöpfenden Institutionen
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Die Öffnung der Grenzen und der Abbau der Währungskontrollen machten auch den niederländischen Markt für ausländische Banken zugänglicher. Die ersten, die kamen, waren US-amerikanische Handelsbanken, die sozusagen ihren Kunden, den US-amerikanischen Multis, folgten. 1960 gab es in den Niederlanden drei Filialen von ausländischen Banken. 1970 waren es 23, 1990 insgesamt 47, im Jahr 2000 schon 64.41 Nach den US-amerikanischen Banken kamen die europäischen, seit den 1980er Jahren auch die japanischen. In den 1990er Jahren ließen sich auch einige ausländische Banken nieder, die auf Retail-Märkte wie Sparen und Hypotheken spezialisiert waren, so zum Beispiel türkische Banken, die ihren emigrierten Landsleuten nachreisten. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte der niederländische Staat den internationalen Geld- und Kapitalmarktverkehr nicht behindert. Nach dem Krieg änderte sich diese Haltung. Währungstransaktionen waren fortan genehmigungspflichtig. Immerhin wurden diese Genehmigungen in den 1950er Jahren relativ großzügig gehandhabt, insbesondere im Falle des internationalen Wertpapierhandels. Bei den Verhandlungen zum Vertrag von Rom waren die Finanzbehörden der Niederlande skeptisch, was die Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs anging. Im Vordergrund stand für sie der Schutz des niederländischen Kapitalmarktes. Mit der Kontrolle des Kapital- und Devisenverkehrs verfolgten die niederländische Regierung und die Zentralbank verschiedene Ziele: die Zähmung der Inflation, die Stabilisierung des Guldens und die Verteidigung des niedrigen niederländischen Zinssatzes. Man wollte außerdem nicht in die Rolle eines Kapitallieferanten für die anderen Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft (EG) gedrängt werden.42 Im Jahre 1977 legten die niederländischen Finanzbehörden ihre negative Einstellung gegenüber dem Devisenhandel ab. Dieser Wandel wurde unter anderem durch die immer effektiveren Umgehungsstrategien erzwungen, die sich inzwischen entwickelt hatten. Auch Finanzinnovationen wie Optionen oder Darlehen mit variablen Zinsen legten eine Änderung der Kapitalmarktpolitik nahe. Die Wirkung nationaler Vorschriften war mittlerweile wegen des technischen Fortschritts und wegen der Internationalisierung der Finanzmärkte sowieso nur noch eine sehr beschränkte. Dem Staat ging es auch darum, mit der Beseitigung der einengenden Vorschriften die Position Amsterdams als Finanzzentrum zu stärken.43 Als erster EG-Staat liberalisierten die Niederlande den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr völlig. Im Jahre 1986 wurden die letzten Restriktionen beseitigt. So dürfen seither auch die niederländischen Filialen ausländischer Banken bei Emissionen auf dem Kapitalmarkt als Konsortialführer auftreten. Im Gefolge der (externen) Liberalisierung und der (internen) Deregulierung gewann der Amsterdamer Markt an Breite: Neue Finanzinstrumente wurden eingeführt. 1986, also im gleichen Jahr, in dem die letzten Restriktionen aufgehoben wurden, überstieg der internationale Kapitalver-
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kehr in den Niederlanden zum erstenmal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder den internationalen Güterverkehr.44 Bei den direkten Investitionen im Ausland lagen die Niederlande bis in die Mitte der 1980er Jahre auf dem weltweit dritten Platz. Bis 2000 waren sie auf den noch immer hervorragenden fünften Platz abgerutscht. Diese Spitzenposition verdankten sie den großen multinationalen Unternehmen (Royal Dutch, Unilever, Philips), später auch den Finanzinstituten. Umgekehrt befanden sich die Niederlande als Zielland ausländischer Investitionen an sechster Stelle. Nach der Liberalisierung der Finanzmärkte wuchs der internationale Aktienverkehr stark an. Der niederländische Besitz ausländischer Aktien erhöhte sich von 40 Milliarden Gulden im Jahr 1986 auf 600 Milliarden Gulden oder 273 Milliarden Euro im Jahr 2000. Dabei spielten die institutionellen Anleger eine wichtige Rolle. Der niederländische Besitz ausländischer Anleihen erlebte in der gleichen Periode einen ähnlichen Zuwachs: von 35 Milliarden Gulden oder 16 Milliarden Euro auf 232 Milliarden Euro. Umgekehrt besaßen Ausländer im Jahr 2000 397 Milliarden Euro niederländischer Aktien und 199 Milliarden Euro niederländischer Anleihen.45 Diese großen Summen deuten auf eine gewisse Anziehungskraft der Niederlande hin, insbesondere von Amsterdam als Kapitalmarkt für Ausländer. Tatsächlich gehörte Amsterdam bei der Marktkapitalisierung zu den zehn größten Finanzzentren der Welt, vor allem Dank der multinationalen Unternehmen, die dort ihr Domizil hatten.46 Allerdings muss die Bedeutung von Amsterdam als Finanzzentrum relativiert werden. Ein Manager einer US-amerikanischen Bank bezeichnete den Amsterdamer Kapitalmarkt im Jahre 1986 – verglichen mit dem schweizerischen und dem deutschen – als »klein«; zudem sei er bedeutend weniger liquide. Es wurde damals, dem Redner zufolge, auch wenig in Gulden angelegt und emittiert, gerade der Unbekanntheit der Währung und des Marktes wegen.47 Ein Jahrzehnt später hatte sich die Situation kaum verbessert. Auf den Euromärkten dominierten 1997 als Anlagewährungen der amerikanische Dollar, die deutsche Mark und der japanische Yen. Der niederländische Gulden lag hinter dem britischen Pfund, dem französischen Franc, der italienischen Lira und dem Schweizer Franken auf Platz acht. Die prozentuale Bedeutung der Auslandsforderungen der niederländischen Banken in Gulden hatte sich zwischen 1986 und 1997 sogar noch verringert.48 Dies ist auch ein Hinweis dafür, dass die internationale Position der niederländischen Banken insgesamt eher bescheiden war. Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn man den Umfang der internationalen Bankaktiva in den 1990er Jahren betrachtet. Auffällig ist der Vormarsch Großbritanniens, Deutschlands und der Cayman Islands (siehe Tabelle 9).
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Tab. 9: Internationale Bankaktiva in allen Währungen (in Prozent) Mutterland der Banken
Ende 1991
Ende 2000
Großbritannien
15,8
19,5
Japan
15,1
11,1
6,2
9,1
Deutschland Vereinigte Staaten
9,4
8,8
Cayman Islands
k.A.
7,3
Schweiz
6,4
6,9
Frankreich
6,6
5,9
Luxemburg
5,0
4,7
Hongkong
k.A.
4,2
Singapur
k.A.
3,9
Niederlande
2,9
2,7
Übrige Total der Aktiva (Milliarden USDollar)
32,6 6.221
15,9 10.764
Quellen: Bank for International Settlements (BIS), International banking and financial market developments vom Mai 1994, Basel (für 1991) und BIS, Quarterly Review vom Juni 2001 (für 2000)
Der Eindruck der bescheidenen internationalen Rolle des niederländischen Guldens auf den internationalen Finanzmärkten erhärtet sich, wenn man die ausstehenden Schulden auf den internationalen Rentenmärkten betrachtet. Nur wenige dieser Schulden waren in Gulden denominiert (siehe Tabelle 10). Der niederländische Anleihenmarkt kannte während der 1980er Jahre große Beschränkungen. So gab es weniger Vermögenstitel und eine geringere Liquidität als etwa in Deutschland oder in der Schweiz, geschweige denn als in London. Die Beschränkungen wurden später im Gefolge von Liberalisierung und Deregulierung zwar aufgehoben, trotzdem blieb der Rückstand zu anderen Finanzmärkten bestehen.
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Tab. 10: Ausstehende Schulden auf dem internationalen Rentenmarkt nach Währungen Währung (umgerechnet in Milliarden USDollar)
1982
1990
US Dollar
144
608
1.852
Japanischer Yen
17
168
478
Deutsche Mark
31
147
424
Schweizer Franken
43
175
155
Britisches Pfund
4
116
327
ECU
2
75
153
24 (1992)
131
Italienische Lira
k.A.
1998
Kanadischer Dollar
k.A.
47
55
Französischer Franc
k.A.
27
218
Niederländischer Gulden
k.A.
25
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Quellen: Roij, G.P.L. van, »Banken, euromarkten en financiële innovaties«, Bank- en Efectenbedrijf, Nr. 32/1995, 2. Auflage, Amsterdam, S. 77 (für 1982 und 1990); Bank for International Settlements, International [wie Tab. 9] vom November 1999 (für 1998)
Die niederländischen Finanzbehörden waren nach dem Zweiten Weltkrieg – wie oben erläutert – eher protektionistisch eingestellt. Ihre Maßnahmen limitierten die Marktbreite des Finanzplatzes Amsterdam und schwächten damit seine Position. Die Zulassungspolitik und das finanzielle Klima in den Niederlanden waren nicht so günstig, als dass es – ähnlich wie in den 1920er Jahren – gelungen wäre, deutsches Kapital anzuziehen. Es war Luxemburg, das in dieser Zeit zu einem attraktiven Finanzzentrum aufsteigen und sich auf den Euromärkten breit machen konnte. Immerhin gehörten die Niederlande zu den Spitzenreitern, als es seit den späten 1970er Jahren darum ging, die Beschränkungen im internationalen Zahlungsverkehr aufzuheben. Gute Arbeit leisteten die niederländischen Behörden bei der Aufsichtspolitik: Wenn größere Finanzinstitute in Schwierigkeiten gerieten, fand man hinter den Kulissen immer eine Lösung, meistens in der Form einer Übernahme des kränkelnden Instituts. Die Zentralbank sperrte sich auch nicht gegen die Konsolidierung des Bankenmarktes. Sie genehmigte frühzeitig die Entstehung von großen Finanzinstituten, die auch auf globalisierten Märkten bestehen konnten. Auch die Aktienbörse ließ man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der langen Leine. Die Vereeniging voor de Effectenhandel regulierte das Börsengeschäft ohne Einmischung der Behörden. Nun noch kurz einige Worte zu den institutionellen Anlegern, bevor dann im Schlussteil dieses Kapitels die Entwicklung der Börse behandelt wird. Seit den 1950er Jahren floss den institutionellen Anlegern viel Kapital zu. Der Bevölkerung
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wurde im Zuge der damals einsetzenden Sozialgesetzgebung das Problem der Alterssicherung bewusst und sie hatte wegen des steigenden Wohlstandes zunehmend auch die Mittel für diesen Sparzweck. Neben den Pensionsfonds profitierten auch die Lebensversicherer. Die Bilanzen beider Branchen wuchsen um vieles schneller als das Einkommen der niederländischen Bevölkerung (siehe Tabelle 11). Tab. 11: Bilanztotal der Versicherer im Vergleich mit dem Volkseinkommen (1950 – 2000) Jahr
Absolut (Mio. Gulden) 1945
Pensionskassen
Versicherungs gesellschaften Index
2.572
43
1956
5.965
1970
19.100
1985 2000
Absolut (Mio. Gulden)
Volkseinkommen
Index
2.113
36
100
5.803
320
35.374
105.506
1.769
550.925
9.235
Absolut (Mio. Gulden)
Index
4.170
16
100
26.192
100
610
101.050
386
283.083
4.878
340.600
1.300
980.534
16.897
605.033
2.310
Quellen: De Nederlandsche Bank, Balansreeksen [wie Anm. 27], S. 50 – 53 (1945 [Schätzung] bis 1970) bzw. Jaarverslagen, statistische bijlage (für 1970/1985) bzw. Statistisch Bulletin, Dezember 2003, Tab. 3.1 (Versicherungsgesellschaften und Pensionskassen); Centraal Bureau voor de Statistiek, Tweehonderd [wie Tab. 2], S. 80/81 (für Volkseinkommen 1945 bis 1985); De Nederlandsche Bank, Jaarverslagen (Volkseinkommen 2000)
Die traditionellen Unterschiede zwischen der Investitionspolitik der Lebensversicherer und jener der Pensionsfonds blieben auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestehen. Die Lebensversicherer interessierten sich mehr für Hypotheken und Immobilien, die Pensionsfonds konzentrierten sich eher auf Staatsanleihen. Für den größten unter ihnen, den Algemeen Burgerlijk Pensioenfonds (ABP), bestanden in dieser Beziehung lange Zeit restriktive staatliche Auflagen. Erst seit 1988 konnte der ABP seine Gelder in ausländischen Aktien anlegen. Anlagen in ausländischen Aktien und Anleihen wurden in den 1990er Jahren sowohl für die Pensionsfonds als auch für die Lebensversicherungen ebenso wichtig oder sogar noch wichtiger als Anlagen in inländischen Wertpapieren.49 Nach den Turbulenzen der Kriegszeit erlebte der Amsterdamer Aktienhandel in der Mitte der 1950er Jahre eine erste Blüte.50 Damals erfolgten auch die ersten Liberalisierungen im internationalen Kapitalverkehr, die den Zugang ausländischer Anleger zum niederländischen Kapitalmarkt erleichterten. Für eine gewisse Attraktivität der Amsterdamer Börse sorgten vor allem die multinationalen Unternehmen, die dort kotiert waren. In den 1980er und 1990er Jahren waren es dann die großen
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Finanzinstitute ABN AMRO, ING und AEGON, welche an der Börse die Rolle von neuen Zugpferden spielten. Emissionen der gewerblichen Wirtschaft blieben hingegen bis in die 1980er Jahre hinein für den Kapitalmarkt unbedeutend.51 Die Amsterdamer Börse funktionierte lange Zeit nach dem oben beschriebenen Mittelkurssystem. Als sie es um 1970 abschaffte, hatten die beiden kleinen Börsen Rotterdam und Den Haag ausgespielt – ihr Handel hatte sich ganz nach den Amsterdamer Mittelkursen gerichtet.52 Dazu kam, dass seit 1972 auch Nicht-Amsterdamer der Vereniging voor de Effectenhandel beitreten und damit direkten Zugang zu der Amsterdamer Börse bekommen konnten. Umgekehrt stärkte die Beseitigung des Mittelkurssystems die Position der freien Makler, der Hoekmannen, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Modernisierung des Amsterdamer Aktienhandels erschwerten und ihr Monopol erst im Jahr 2002, mit der Einführung des elektronischen Handels verloren.53 1978 startete die Europese Optiebeurs. Ursprünglich hätte sie Optionen auf Aktien ausländischer Börsen anbieten wollen, was dann aber aufgrund internationaler Vorschriften nicht gelang. Der Handel mit Optionen niederländischer Aktien hatte 1978 einen mühsamen Start, wurde in den 1980er Jahren aber zu einem großen Erfolg. Amsterdam besaß mit der Optiebeurs die größte Optionenbörse Europas, was den Handel von Privatanlegern anging. Dies ist ein Indiz dafür, dass damals Private zusehends leichter den Weg an den Aktienmarkt fanden.54 Im Gefolge der fortschreitenden Liberalisierung des Kapitalverkehrs nahm in den 1980er Jahren auch die Internationalisierung der Wertpapiermärkte zu. Wichtig war auch der Aufstieg der institutionellen Anleger, die großes Interesse an den ausländischen Wertpapiermärkten bekundeten. Der Druck, international konkurrieren zu können, wuchs. Neue Kommunikationstechniken machten die Geschwindigkeit, mit der die Geschäfte abgewickelt werden konnten, zu einem Standortvorteil. 1986 errang London einen Vorsprung mit der Einführung des elektronischen Handels (Big Bang). Er zog vor allem professionelle und institutionelle Anleger an. Die Amsterdamer Börse geriet unter Zugzwang: Sie musste ihr altes, durch feste und hohe Tarife bestimmtes System modernisieren. Um zu verhindern, dass Wertpapiergeschäfte nach London abwanderten, wurden die Transaktionstarife sukzessive gesenkt und 1990 schließlich freigegeben. 1987 führte man in Amsterdam das Interprofessioneel Marktsysteem ein, das es den professionellen und institutionellen Anlegern ermöglichte, große Aktienpakete zu tauschen, ohne eine Provision zahlen zu müssen. 1990 schaffte die niederländische Regierung die Börsensteuer ab. Auch die Zunahme des Giroverkehrs, die Verbesserung der Abwicklung (Clearing und Settlement) sowie die Automatisierung des Börsenverkehrs hatten eine kostensenkende Wirkung. Die Amsterdamer Börse war 1999 – gemessen an der Marktkapitalisierung – die neuntgrößte der Welt. Gleichwohl drohte ihr beständig die Marginalisierung. Das
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Kostenniveau war zu hoch, unter anderem wegen des relativ geringen Umfanges der Aktivitäten, wegen der Tarifberechnung und wegen der geschützten Position des Hoekmans. Andere Börsen kannten ein schnelleres Wachstum. Viele der erwähnten multinationalen Unternehmen waren auch anderswo kotiert, so dass ein Teil des entsprechenden Handels auch im Ausland stattfinden konnte. Die Aussichten, dass neue, große Unternehmen an die Amsterdamer Börse gehen würden, waren eher schlecht. Außerdem zwang der beschränkte Umfang der Amsterdamer Börse die institutionellen Anleger dazu, ihre Gelder im Ausland unterzubringen. Trotzdem behielt die Amsterdamer Börse eine gewisse Anziehungskraft. Dies zeigte sich unter anderem daran, dass es ihr in den 1990er Jahren gelang, so genannte remote members (Fernmitglieder) zu gewinnen. Diese durften direkt vom Ausland aus Transaktionen in den Niederlanden durchführen. Ende 2000 handelten in Amsterdam bereits 79 ausländische Parteien auf diese Art und Weise.55 Allerdings hat die Baisse der letzten Jahre viele dieser remote members dazu bewogen, sich wieder aus Amsterdam zurückzuziehen. Um bei den Transaktionskosten mit London mithalten und die Liquidität ihres Marktes erhöhen zu können, sah sich die Amsterdamer Börse im Jahr 2000 gezwungen, mit den belgischen und französischen Börsen zu fusionieren. Die Zusammenarbeit mit London oder Frankfurt wäre weniger attraktiv gewesen, da diese großen Börsen Amsterdam zu stark minorisiert hätten. Mit einem Anteil von 32 Prozent an dem gemeinsamen belgisch-französisch-niederländischen Unternehmen konnte Amsterdam verhältnismäßig viel Einfluss bewahren. Die Amsterdamer Börse wurde in Euronext Amsterdam umbenannt. Später stieß auch die portugiesische Börse zur Euronext. Außerdem erwarb Euronext die in London ansässige Derivatebörse LIFFE. Im Zuge dieser Veränderungen wurde endlich auch das HoekmannenSystem obsolet. Ob die Fusionen die Wettbewerbsfähigkeit der Amsterdamer Börse tatsächlich und auf Dauer erhöht haben, ist vorderhand noch nicht klar. So beschweren sich einzelne Banken über nach wie vor zu hohe Tarife und entziehen der Börse Geschäfte, indem sie diese unter Umgehung der Börse mit Hilfe einer eigenen Handelsplattform selbst tätigen (inhouse matching). Außerdem wollen London und Frankfurt den Handel mit Aktien niederländischer Unternehmen verstärkt zu sich holen. Der Wettbewerb unter den Finanzplätzen geht weiter.
Ergebnisse Das Finanzzentrum Amsterdam wuchs im 20. Jahrhundert stark. Einige niederländische Banken entwickelten sich zu Großbanken mit stark diversifizierten Aktivitä-
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ten. Im Zuge ihrer Expansion brachten sie die vielen unterschiedlichen Banktypen, die es früher lange Zeit gegeben hatte, zum Verschwinden. Parallel zur Konsolidierung des einheimischen Marktes expandierten die neuen, großen Finanzinstitute ins Ausland. Vor allem der belgische Markt wurde eng mit dem niederländischen Nachbarmarkt verknüpft. Nicht nur die expansiven niederländischen Finanzinstitute investierten im Ausland, auch viele Spargelder fanden ihren Weg ins Ausland, seien es Gelder privater Sparer oder solche institutioneller Anleger (Lebensversicherungen und Pensionsfonds). Amsterdam hatte nur in der Zwischenkriegszeit das Potenzial für ein international bedeutendes Finanzzentrum. Damals verfügte es unter anderem dank der Hilfe der Finanzbehörden über einen großen Geldmarkt, über eine stabile und zudem auch international genutzte Währung sowie über einen wichtigen Valuta(termin)markt. Zwar kannten die Niederlande auch nach dem Zweiten Weltkrieg finanzielle und politische Stabilität, eine zuverlässig Währung sowie Kapitalreichtum. Der einzigartige Vorteil, den sie noch in der Zwischenkriegszeit besessen hatten, war jedoch verschwunden: Sie waren nun nicht mehr eine Basis für die Geschäfte deutscher Banken und Unternehmen, und die Funktion eines sicheren Hafens für Fluchtkapital hatte sich in Amsterdam überlebt. Den Finanzbehörden ging es um eine niedrige Inflation und einen stabilen Wechselkurs, das Interesse an Amsterdam als einem internationalen Finanzzentrum hielt sich hingegen in Grenzen. Die internationale Anziehungskraft der Amsterdamer Börse war nur noch relativ klein, umso mehr, als die internationalen Finanzmärkte noch Jahrzehnte nach dem Kriegsende unter ausgedehnten staatlichen Kontrollen zu leiden hatten. Als die Beschränkungen aufgehoben wurden, sah die Welt ganz anders aus als in der Zwischenkriegszeit. Der Euromarkt, der sich inzwischen entwickelt hatte, wurde durch andere Finanzzentren (London und Luxemburg) dominiert. Die Pensionsgelder, welche die institutionellen Anleger verwalteten, waren so umfangreich, dass sich der Amsterdamer Markt als zu klein erwies, um auch nur die Hälfte von ihnen aufnehmen zu können. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Niederlande wieder zu dem Kapitalexporteur, der sie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen waren. Allerdings gab es mittlerweile eine international orientierte Retail-Bank und einen starken Lebensversicherungssektor. Um eine vordere Position unter den europäischen Börsen behalten zu können, sah sich die Amsterdamer Börse zu Beginn des 21. Jahrhunderts gezwungen, ihre Aktivitäten mit den belgischen und französischen Konkurrenten zusammenzulegen. Ob das genügen wird, um im härter werdenden Wettbewerb bestehen zu können, wird sich zeigen.
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Anmerkungen 1 Nach: Scholtens, L.J.R., Het geld en de stad. Over de ontwikkeling van internationale financiële centra, Amsterdam 1993, S. 8. 2 Vries, Joh. De, Een eeuw vol effecten. Historische schets van de Vereniging voor de Effectenhandel en de Amsterdamse Effectenbeurs 1876 – 1976, Amsterdam 1976, S. 33 und 87. 3 Hartmann jr, W.J., Amsterdam als financieel centrum. Een beschrijvende, critische en vergelijkende studie, Gent 1937, S. 10; Hellauer, E., Internationale Finanzplätze. Ihr Wesen und ihre Entstehung unter besonderer Berücksichtigung Amsterdams, Berlin 1936; Reed, H.C., The preeminence of international financial centers, New York 1981, S. 5 – 8. 4 Vgl. Jonker, J., Merchants, bankers, middlemen. The Amsterdam money market during the first half of the 19th century, Amsterdam 1996, S. 337. 5 Barendregt, J., »Towards National Status 1870 – 1914«, in: Vries, Joh./Vroom, W./Graaf, T. De (Hg.), Worldwide Banking. ABN AMRO 1824 – 1999, Amsterdam 1999, S. 127–184, hier S. 135 und 141. 6 Roos, F. de, De algemene banken in Nederland, Utrecht 1951, 2. Auflage, S. 92; Vries, Joh. De, Visserings tijdvak 1914 – 1931, vijfde deel uit de Geschiedenis van de Nederlandsche Bank, Amsterdam 1989, S. 86 – 87. 7 Renooij, De Nederlandse emissiemarkt van 1904 tot 1939, Amsterdam 1951, S. 60. 8 Jonker, J., »Geld- en bankwezen, 1815 – 1990«, in: Bie, R. van der/Dehing, P. (Redaktion), Nationaal goed. Feiten en cijfers over onze samenleving (ca.) 1800 – 1999, Amsterdam 1999, S. 61–72, hier S. 65. 9 Jonker, Merchants [wie Anm. 4], S. 334. 10 Barendregt, Towards National [wie Anm. 5], S.179–182. 11 Wijtvliet, C.A.M., Expansie en dynamiek. De ontwikkeling van het Nederlandse handelsbankwezen 1860 – 1914, Amsterdam 1993, S. 153/154. 12 Barendregt, Towards National [wie Anm. 5], S. 143 – 144. 13 Zanden, J.L. van, »Old rules, new conditions, 1914 – 1940«, in: Hart, M./Jonker, J./Zanden, J.L. van (Hg.), A financial history of the Netherlands, Cambridge (GB) 1997, S. 124 – 151, hier S. 143. 14 Zanden, Old rules [wie Anm. 13], S. 134. 15 Vries, Effecten [wie Anm. 2], S. 136. 16 Hartmann, Amsterdam [wie Anm. 3], S. 83; Jongman, De Nederlandse geldmarkt, Leiden 1950, S. 196. 17 Jongman, Geldmarkt [wie Anm. 16], S. 187, 191, 195 und 225. 18 Kindleberger, Ch.P., The formation of financial centers, Princeton 1974, S. 61. 19 Vries, Visserings [wie Anm. 6], S. 213–221; Roos, De algemene banken [wie Anm. 6], S. 94. 20 Vries, Visserings [wie Anm. 6], S. 215 – 216; Jongman, Geldmarkt [wie Anm. 16], S. 198; Roos, De algemene banken [wie Anm. 6], S. 94 – 96. 21 Renooij, Emissiemarkt [wie Anm. 7], S. 100 – 104. 22 Hartmann, Amsterdam [wie Anm. 3], S. 46. 23 Hartmann, Amsterdam [wie Anm. 3], S. 87. 24 Renooij, Emissiemarkt [wie Anm. 7], S. 211. 25 Renooij, Emissiemarkt [wie Anm. 7], S. 59, 104 – 106, 145 und 174.
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JAAP BARENDREGT
26 Zanden, Old rules [wie Anm. 13], S. 135. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus der Mavif die Herstelbank, die sich auf dem Markt für Kredite mittellanger Laufzeit gut behaupten konnte. Seit 1962 hieß sie NIB. Ende des 20. Jahrhunderts verkaufte der Staat sowohl seinen Anteil an der NIB wie auch die 1927 gegründete Nederlandsche Middenstandsbank (Mittelstandsbank) an zwei große Versicherungsgesellschaften. 27 De Nederlandsche Bank, Balansreeksen 1900 – 1975 van financiële instellingen in Nederland, Amsterdam 1980, S. 56/57. 28 De Nederlandsche Bank, Balansreeksen [wie Anm. 27], S. 50 – 57; Niemeijer, M., »Tien jaar financiële vraagstukken voor de institutionele belegger«, in: Tien jaar economisch leven in Nederland. Herstelbank 1945 – 1955, Den Haag 1955, S. 269–301, hier S. 276/277. 29 Vries, Effecten [wie Anm. 2], S. 107, 111–114 und 152–160. 30 Vries, Effecten [wie Anm. 2], S. 116/117, 153, 160 und 168. 31 Reed, Preeminence [wie Anm. 3], S. 131–135. 32 Dazu: Barendregt, J., Securities at Risk. The restitution of Jewish securities stolen in the Netherlands during World War II, Amsterdam 2004. 33 Vgl. Barendregt, J., The Dutch money purge. The monetary consequences of German occupation and their redress after liberation, 1940 – 1952, Amsterdam 1993, Kapitel 9. 34 Dazu: Bakker, A.F.P., The liberalization of capital movements in Europe. The Monetary Committee and financial integration, 1958–1994, Dordrecht/Boston/London 1996, S. 189. 35 Barendregt, J./Langenhuyzen, T., Ondernemend in risico, bedrijfsgeschiedenis van Nationale-Nederlanden 1845 – 1995, Amsterdam 1995, S. 271–272. 36 Vgl. Barendregt, J./Visser, H., »Towards a new maturity, 1940 – 1990«, in: Hart, M./Jonker, J./Zanden, J.L. van (Hg.), A financial history of the Netherlands, Cambridge (GB) 1997, S. 152– 195, hier S. 171–182. 37 De Nederlandsche Bank, Jaarverslag 2000, S. 166. 38 Barendregt/Visser, Towards maturity [wie Anm. 36], S. 175 – 177. 39 Zanden, J.L. van/Uittenbogaard, R., »Expansion, Internationalisation and Concentration«, in: Vries, Joh./Vroom, W./Graaf, T. De (Hg.), Worldwide Banking. ABN AMRO 1824 – 1999, Amsterdam 1999, S. 335 – 392, hier S. 373, 380/381. 40 Zur Geschichte der Rabobank, die sich mittlerweile stark in den USA betätigt: Sluyterman, K. et al., Het coöperatieve alternatief. Honderd jaar Rabobank 1898–1998, Den Haag 1998. 41 Vgl. Piersma, J., »Fysieke aanwezigheid in financiële markten. Een onderzoek onder buitenlandse banken«, NIBE katern, Heft 15/1991; Scholtens, Het geld [wie Anm. 1], S. 61; Berechnungen nach: NIBESVV, Bankenboekje 2001–2002, Amsterdam 2001. 42 Bakker, Liberalization [wie Anm. 34], S. 36 – 38. 43 Bakker, Liberalization [wie Anm. 34], S. 130 – 132, 173–174. 44 Custers, J., »De Nederlandse kapitaalmarkt«, Bank- en Effectenbedrijf, Nr. 36/1993, S. 27/28. 45 De Nederlandsche Bank, Statistisch Bulletin, Februar 2002, S. 7. 46 Berechnung der Amsterdamer Börse (z.B. Jaarverslag 1998, S. 21). 47 Piersma, Fysieke [wie Anm. 41], S. 46. 48 Statistiken der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (Basel). 49 Zahlen dazu in den Jahrbüchern von De Nederlandsche Bank, zum Beispiel 1989, Statistische bijlage, S. 12/13, und 2001, S. 10/11. 50 Vries, Effecten [wie Anm. 2], S. 219 und 247. 51 Barendregt/Visser, Towards maturity [wie Anm. 36], S. 169.
DAS FINANZZENTRUM AMSTERDAM
IM
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52 Dazu: Geljon, P.A., Een zeer persoonlijk effectenhuis. Het Haagse Lissa & Kann 1800 – 1966, Amsterdam 1998. 53 Vries, Effecten [wie Anm. 2], S. 244, 251 und 262. 54 Vgl. Damen, E./Kamp, K., Een eeuw vol effecten. Samenvatting en aanvulling over 1976 – 1990, Amsterdam 1990, S. 25 – 27. 55 Amsterdam Exchanges, Jaarverslag 1998, S. 21. Für 2000: Daten von Euronext zur Verfügung gestellt.
II. TEIL: Die Aufsteiger des 20. Jahrhunderts
Der diskrete Charme der Gnomen: Entwicklung und Perspektiven des Finanzplatzes Schweiz Jakob Tanner
Die Geschichte der schweizerischen Vermögensverwaltung: zwei Interpretationsperspektiven Der schweizerische Finanzplatz und das diesen dominierende Zentrum Zürich haben sich mit einem doppelten Bewertungsproblem auseinanderzusetzen, von denen sich das eine auf die Zukunftsprognosen und das andere auf die Interpretation der Vergangenheit bezieht. Mit Blick nach vorn ist umstritten, welche Aussichten die Schweiz in der zunehmenden Standortkonkurrenz um das weltweite Vermögensverwaltungsgeschäft hat. Hier geht es nicht nur um ökonomische Parameter, sondern um ein ganzes Bündel von politischen, kulturellen und auch psychologischen Faktoren, die mit den beiden Begriffen »Attraktivität« und »Vertrauen« benannt werden können. Eine im Herbst 2004 von der Zürcher Kantonalbank und einer Gruppe von Basler Ökonomen veröffentlichte Studie weist nach, dass Zürich im Metropolenvergleich bezüglich wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit »nur einen Platz im Mittelfeld« einnimmt.1 Die ausgeprägten Produktivitätsprobleme werden auf die Branchenstruktur und die Abschirmung großer Teile der Wirtschaft vor dem Wettbewerb zurückgeführt. Die Finanzbranche hingegen scheint nach wie vor effizient und attraktiv. In der Gesamtbeurteilung »schneidet Zürich mit einem zweiten Platz sehr gut ab« – einzig New York erzielt eine bessere Positionierung. Dasselbe gilt insbesondere für die Standortattraktivität. Diese Konstellation – mittelmäßige Wertschöpfungskapazität und herausragende Qualität der Finanzdienstleistungen – führte im Verlaufe der 1990er Jahre zu einer steigenden Abhängigkeit der Stadt vom Finanzplatz, was »auf längere Sicht erhebliche Risiken birgt«. Wie robust die Wachstumsgrundlagen des Zürcher Finanzplatzes sind, lässt sich aufgrund dieser und weiterer empirischer Untersuchungen nicht beurteilen. Der Schweizer Finanzminister Hans-Rudolf Merz bezeichnete die Aussagen der zitierten Studie salomonisch »als Warnung vor einem Bedeutungsverlust«2. Was den Blick in die Vergangenheit betrifft, so weist der schweizerische Finanzplatz ein ambivalentes Image auf, in dem sich gegenläufige Momente verschränken. Zum einen gibt es die Geschichte einer prosperierenden Bankier-commu-
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JAKOB TANNER
nity, die sich aus bescheidenen Anfängen heraus in kurzer Zeit in Weltformat hinein gesteigert und Unternehmen aufgebaut hat, die sich sehr stark internationalisiert haben und heute auf allen wichtigen Finanzplätzen präsent sind. Hier wird meistens betont, dass die Schweiz, die kaum über industrielle Rohstoffe verfügt, auf Produkte mit hoher Wertschöpfung, auf Qualitätsarbeit in der Industrie und vertrauensbasierte Dienstleistungen im Finanzsektor setzen musste und sich in diesen Bereichen sehr erfolgreich profilieren konnte. Dieser positiven Wertung steht die Sichtweise gegenüber, die Schweiz diene mit ihrer leistungsfähigen Finanzstruktur als Drehscheibe für Fluchtgelder, als Operationsbasis für das organisierte Verbrechen und vor allem als Waschanlage von kriminellen Geldern. Dieses Negativbild wurde in den 1960er Jahren konturiert, und seine schnelle Ausbreitung war auch Ausdruck einer erfolgreichen Wettbewerbsstrategie der Schweizer Banken. »It took only a few months for the soubriquet ›Gnomes of Zurich‹ to sweep the world after it had first been employed by British journalists and politicians during sterling’s agonies in the mid-1960s«, schreibt Nicholas Faith in »Safety in Numbers« aus britischer Sicht.3 Gleichzeitig, im Jahre 1965, konstatierte der Historiker Jean Rodolphe von Salis: »Es ist bemerkenswert, dass ausnahmslos in den Äußerungen des Auslandes das Interesse des Schweizers am Geld in vorderster Linie steht. […] Gewiss, es ist Neid im Spiel, aber doch nicht beim Amerikaner, wenn er (in einer Publikation der Columbia-Universität in New York) feststellt, ›es wäre keine Übertreibung, die Schweiz als einen großen Geschäftskonzern aufzufassen‹. Der Franzose glaubt, wir hätten ›auf die Katastrophen Europas eine Bank gegründet‹, und der Belgier meint, auch er liebe das Geld, aber er sei nicht so geizig und so engherzig wie der Schweizer. In allen Variationen kehrt dieser Vorwurf der Habgier und des Geizes wieder.«4 Auch in einer neuen Studie zum Image der Schweizer Wirtschaft in Japan wird festgestellt, dass Mitte der 1960er Jahre eine starke Veränderung stattfand: »The longlived favourable image of the Swiss economy was drastically revised, as the image of Swiss banks became widespread, bringing the paradoxical image of an idyllic but dubious country.«5 Diese negativen Elemente und kritischen Stimmen verschwanden in der Folge nicht mehr – 1995/96 wurden sie im Zusammenhang mit der internationalen Diskussion um »Nazi-Gold« und »nachrichtenlose Vermögen« nochmals zugespitzt. Zeigt sich beim ersten, zukunftsgerichteten Bewertungsproblem die grundsätzliche Schwierigkeit, die verschiedenen Standortfaktoren angemessen zu evaluieren, zu gewichten und in ihrem komplexen Zusammenspiel zu analysieren, so kommt in den beiden sich häufig auch vermischenden wertenden historischen Erzählmustern der Sachverhalt zum Ausdruck, dass die Geschichte eines Finanzplatzes eben im Wortsinne eine »Geschichte« ist, d.h. eine narrative Konstruktion. Diese unterliegt zwar vielerlei Restriktionen, insbesondere solchen der statistischen und faktenchronologischen Korrektheit. Eine historische Interpretation lässt sich jedoch nicht auf
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DES
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eine Ordnung von Tatsachen reduzieren, sondern impliziert immer wertende Darstellungsformen, normativ aufgeladene plots, welche zu einem ganz unterschiedlichen Bild führen können.
Zeitreihenanalyse oder Ereignisgeschichte? Im folgenden sollen zwei unterschiedliche und in vielem entgegengesetzte Ansätze einer Analyse des schweizerischen Finanzplatzes exemplarisch skizziert werden. Erstens kann man den Aufstieg des schweizerischen Finanzplatzes in der Nachkriegszeit anhand von quantitativen Angaben präsentieren (siehe Tabelle 1). Diese Angaben zeigen zwei Dinge. Zum einen wird deutlich, wie bescheiden die Anfänge zu Beginn der 1950er Jahre waren. Die Bilanzsumme aller Banken in der Schweiz betrug damals 26 Milliarden, im Jahr 2000 waren es 2.124 Milliarden Schweizer Franken. Der Reingewinn stieg in derselben Periode von 0,125 auf 18,6 Milliarden Schweizer Franken. Zum andern kann man beobachten, dass die Banken eine weit bessere Performance hinlegten als die Volkswirtschaft insgesamt. In den 1960er Jahren fand sogar eine eigentliche Entkoppelung statt. Der Anteil der Bilanzsumme am Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg im genannten Jahrzehnt von 138 auf 216 Prozent; derjenige des Reingewinns von 0,7 auf 1,0 Prozent. Aufgrund dieser frühen Abkoppelung von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung reagierten die Bilanzsumme und der Reingewinn auch nicht auf die Wachstumsschwäche der Schweizer Wirtschaft in den 1990er Jahren. Tab. 1: Die Entwicklung der Schweizer Banken und der Schweizer Wirtschaft (1950 – 2000) 1950
1960
1970
1980
1990
2000
Bruttoinlandsprodukt der Schweiz (nominal in Mrd. SFr.)
20
37
91
170
314
416
Bilanzsumme der Banken (in Mrd. SFr.)
26
51
197
466
1.032
2.124
Reingewinne der Banken (in Mrd. SFr.)
0,125
0,273
0,887
2,09
4,047
18,602
Bilanzsumme in Prozent des BIP
130
138
216
274
329
511
Reingewinne in Prozent des BIP
0,6
0,7
1,0
1,2
1,3
4,5
Quellen: Ritzmann-Blickenstorfer, Heiner (Hg.), Historische Statistik der Schweiz, Zürich 1996, S. 819, 823, 874 (für 1950 bis 1990); Schweizerische Nationalbank (Hg.), Die Banken in der Schweiz, diverse Jahrgänge
130
JAKOB TANNER
Eine solche auf Zeitreihen abgestützte Geschichte des Finanzplatzes ließe sich für die letzten Jahrzehnte vertiefen, denn inzwischen gibt es eine große Anzahl von Statistiken, die uns über Wachstumsdynamik, Wertschöpfung, Beschäftigungsstruktur und Risikoanfälligkeit des Finanzsektors unterrichten können. Wenn wir jedoch weiter zurückblenden, so wird die statistische Analyse aufwändiger, wenn nicht unmöglich. Dies hängt damit zusammen, dass die Banken der statistischen Erhellung ihrer Geschäftstätigkeit eine ausgeprägte Obstruktion entgegensetzen, was es noch bis weit in die Nachkriegszeit hinein verunmöglichte, eine einigermaßen zuverlässige Zahlungsbilanz der Schweizerischen Volkswirtschaft zu erstellen.6 Zweitens könnte man – als Alternative zu einer Zeitreihenanalyse bzw. einer hauptsächlich quantitativen Untersuchung – zur Schilderung der Finanzplatzentwicklung auf paradigmatische Ereignisse Bezug nehmen wie beispielsweise die inflagranti-Verhaftung des Direktors der Basler Handelsbank – damals eine der schweizerischen Großbanken – in Paris am 26. Oktober 1932. M. Berthoud war, zusammen mit Vizedirektor Renaud und dem Leiter der Pariser Niederlassung der Bank, M. Joly, in einem exquisiten Hotel in der Nähe der Champs-Elysées dabei, Mitgliedern der haute volée bei der Steuerhinterziehung behilflich zu sein. Die Polizei konfiszierte im Zuge ihrer Verhaftungsaktion auch ein Verzeichnis mit 2.000 französischen Kunden der Bank. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, gab Anlass zu einer großen und ebenso gehässigen wie instruktiven Debatte in der französischen Assemblée nationale und provozierte ein weiteres innenpolitisches Erdbeben in der krisenanfälligen Dritten Republik.7 Die Zürcher Konkurrenz konnte sich allerdings über dieses malheur der Basler deswegen nicht freuen, weil die gegen die helvetischen Bankiers gerichteten Vorwürfe auch sie trafen. Die in der Schweiz generell herrschende Verunsicherung gab nun zu einer politischen Rhetorik Anlass, welche die Banken in die öffentliche Pflicht zu nehmen versprach, gleichzeitig aber ihre privatwirtschaftliche Position festigte. So ist es interessant, in der Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend den Entwurf eines Bundesgesetzes über die Banken und Sparkassen von 1934 folgendes zu lesen: »Das hervorstechendste Merkmal der modernen Wirtschaft liegt vielleicht weniger in der Konzentration des Reichtums als in der Häufung einer großen wirtschaftlichen Macht in den Händen einer kleinen Zahl von Personen, die nicht Eigentümer, sondern lediglich Verwahrer der Kapitalien sind, die sie anzulegen und zu verwalten haben. Der unbeschränkte Einfluss derer, die den Geldmarkt beherrschen und den Kredit verteilen, ist unbestreitbar einer der großen Machtfaktoren der Gegenwart. Bei diesen Verhältnissen ist die Banktätigkeit eine Art öffentlicher Dienst geworden. Es ist daher durchaus natürlich, dass eine Reihe von Ländern bereits Maßnahmen zur Überwachung der Finanzinstitute ergriffen haben.«8
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DES
FINANZPLATZES SCHWEIZ
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Es war – man könnte sagen – typisch für die schweizerische Vorgehensweise, dass in dieser Krisensituation eine effiziente staatliche Überwachung der als Banken definierten Finanzinstitute gar nicht erst versucht wurde. Im Gegenteil wurde 1934 mit diesem Gesetz das Bankgeheimnis eingeführt, welches das längst bestehende Berufsgeheimnis mit einem massiven strafrechtlichen Schutz ausstattete und dessen Verletzung zum Offizialdelikt aufwertete. Damit wurden Nachforschungen im fiskalischen Bereich stark erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht.9 Übereifrige Steuerbeamte, die einen Blick in Bankkonten zu werfen trachteten, standen gewissermaßen bereits mit einem Bein im Gefängnis, weil sie sich damit des Versuchs einer Verletzung des Bankgeheimnisses schuldig machten. Die rechtlichen Schutzmaßnahmen zugunsten der Banken gingen einher mit dem Verzicht auf eine direkte öffentliche Supervision; es wurde vielmehr eine Bankenkommission gegründet, welche dem Modell einer Selbstorganisation und -verantwortlichkeit des Finanzsektors verpflichtet war. Statt Gesetze setzten denn die Banken auch sehr häufig so genannte gentlemen’s agreements ins Werk, die auf einer »freiwilligen« Mitarbeit beruhten und die seit der Zwischenkriegszeit zum Markenzeichen der schweizerischen Bankenpolitik wurden.10 Ob statistische Analyse oder ereignisgeschichtliche Schilderung: Diese beiden – beispielhaft angedeuteten und zunächst weit entfernten – Möglichkeiten, sich der Entwicklung des schweizerischen Finanzplatzes historisch zu nähern, können durchaus kombiniert werden. So lässt sich sagen, dass die Stärke des schweizerischen Finanzplatzes in seiner Funktion als internationales Vermögensverwaltungszentrum besteht und dass dieses private banking immer auch eine Geschichte grenzüberschreitender Steuerevasion war und ist, so dass sich in der Figur des unglücklichen Bankdirektors von 1932 sowohl die statistisch objektivierbare Erfolgsgeschichte wie auch die Problematik des schweizerischen Finanzplatzes verdichten. Der Ansatz, der den folgenden Ausführungen zugrunde liegt, beruht nun weder auf der trockenen Präsentation statistischer Indikatoren noch auf dem Verfahren ereignisgeschichtlicher Dramatisierung. Es geht vielmehr darum, die Dynamik des schweizerischen Finanzplatzes als Zusammenspiel einer longue durée, d.h. eines sets von vergleichsweise stabilen und robusten Merkmalen, und einer Reihe von Veränderungsfaktoren nachzuzeichnen.
Der Finanzplatz heute: Fünf Merkmale Eine Möglichkeit, die angesprochene Interaktion von Kontinuität und Wandel zu erfassen, besteht darin, von der Gegenwart auszugehen und erst dann auf die historischen Entwicklungsschübe zurückzublicken. Wenn wir die aktuelle wirtschaftliche
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JAKOB TANNER
Bedeutung der Banken – als Kerninstitutionen des Finanzplatzes – evaluieren, so zeigen sich fünf ausgeprägte Merkmale. Erstens handelt es sich um eine Branche, die einen beträchtlichen und im historischen Trend steigenden Teil zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung beiträgt. Ein rund elfprozentiger Beitrag zur gesamten Wirtschaftsleistung der Schweiz liegt weit über dem Durchschnitt. Eine vergleichbar hohe Quote weist nur noch Luxemburg auf. In Großbritannien betrugen die entsprechenden Zahlen 7,2 Prozent, in den USA 4,6 Prozent und in Deutschland lediglich 4,1 Prozent – immer für das Jahr 2001. Besonders hoch ist der Wertschöpfungsanteil in den Regionen Zürich (15 Prozent), im Bassin Lémanique (13,3 Prozent) und im Tessin (13,9 Prozent).11 Die in der Finanzbranche vorhandene Leistungsfähigkeit manifestiert sich auch im Steuersubstrat und in den daraus resultierenden fiskalischen Einnahmen: 1999 steuerten die Banken rund 12 Prozent an die gesamten Fiskaleinnahmen von Bund, Kantonen und Gemeinden bei. Werden dazu – im Sinne einer breiten Definition des Finanzplatzes – die Versicherungen und Intermediäre, d.h. die Vermögensverwalter, Notare, Treuhänder, etc., berücksichtigt, ergibt sich ein Beitrag von rund 20 Prozent. Diese fiskalische Abhängigkeit kann regional sehr einseitig werden. So stammen in der Stadt Zürich rund die Hälfte aller Steuereinnahmen von Finanzdienstleistern. Setzt man diese Daten in Relation zu der Zahl der Arbeitsplätze, sieht man, wie wertschöpfungsintensiv der Finanzplatz ist. Nur 3 Prozent der Beschäftigten finden in diesem Sektor ihr Auskommen. Man könnte deshalb von den Banken durchaus als Wohlstandsgeneratoren sprechen. Dieser Sachverhalt zeigt sich auch darin, dass die Schweizer Banken im internationalen Vergleich die Schweizer Banken gemäß Angaben von Eurostat (statistisches Amt der EU) mit einem Verhältnis der Bilanzaktiven zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 430 Prozent einen Spitzenplatz einnehmen – die Vergleichsdaten betragen für GB 270 Prozent und für die USA 70 Prozent. Zweitens ist das schweizerische Bankengeschäft sehr stark internationalisiert (siehe Tabelle 2). Die Guthaben aller Schweizer Banken gegenüber dem Ausland betrugen 2003 über 1.300 Milliarden Franken (59 Prozent der Bilanzsumme). Dem standen Verpflichtungen von knapp 1.200 Milliarden Franken (53 Prozent der Bilanzsumme) gegenüber. Die Nettoposition belief sich in diesem Jahr auf 140 Milliarden Franken.12
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FINANZPLATZES SCHWEIZ
Tab. 2: Das Auslandsgeschäft der Banken in der Schweiz (Ende 2003) Mrd. SFr.
% der Bilanzsumme
Bilanzsumme, davon:
2.237
Guthaben gegenüber dem Ausland
1.316
59
Verpflichtungen gegenüber dem Ausland
1.176
53
Nettoposition
140
6
Treuhandgeschäfte, davon:
309
Guthaben gegenüber dem Ausland
307
99
Verpflichtungen gegenüber dem Ausland
261
84
46
15
Nettoposition
Quelle: Schweizerische Nationalbank (Hg.), Die Banken in der Schweiz 2003, Zürich 2004, S. A102/103, A143
Um die Dimensionen der Internationalisierung der Bankaktivitäten angemessen zu beurteilen, ist es allerdings auch nötig, die bilanzindifferenten Treuhandgeschäfte mit einzubeziehen, die ebenfalls zur Ertragskraft der Banken beitragen. 2003 betrugen die Guthaben gegenüber dem Ausland gut 300 Milliarden Franken (99 Prozent der gesamten Treuhandgeschäfte), die Verpflichtungen 260 Milliarden Franken (84 Prozent der Treuhandgeschäfte). Dies ergab eine Nettoposition von 46 Milliarden Franken. Das Auslandgeschäft wird von den beiden Großbanken Credit Suisse Group (CSG) und United Bank of Switzerland (UBS) dominiert, die in den letzen fünfzehn Jahren als Sieger aus dem Konzentrationsprozess im schweizerischen Bankenwesen hervorgegangen sind. In den frühen 1990er Jahren übernahm die CSG die Bank Leu (1990) und die Schweizerische Volksbank (1993), die Schweizerische Bankgesellschaft fusionierte 1998 mit dem Schweizerischen Bankverein zur UBS.13 Die Dominanz der beiden Großbanken war noch nie so groß wie heute. Gemessen an der Bilanzsumme, ist die UBS dreizehnmal und die CSG fünfeinhalbmal größer als die drittgrößte Bank, die Zürcher Kantonalbank.14 Drittens zeigt sich, wenn wir nach der Struktur der Banken in der Schweiz fragen, eine große Zahl selbstän Konzentratindiger Kreditinstitute. Zwar machte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eionsprozess bemerkbar, doch gab es danach auch wieder Phasen, in denen zahlreiche Neugründungen erfolgten. 1989 schrieb W. Blackman in einer Studie: »The Swiss must be one of the most heavily ›banked‹ peoples of the world.«15 Diese Dichte hat ihren Grund zum einen in dem förderalistischen Aufbau der Schweiz, zum anderen in der hohen Sparquote der Schweizer Bevölkerung und deren Bereitschaft, das Ersparte der Bank anzuvertrauen.
134
JAKOB TANNER
Diese Tendenz zeichnete die Schweiz bereits vor hundert Jahren aus. Franz Ritzmann schreibt in seinem Standardwerk über die Schweizer Banken, dass die Schweiz diesbezüglich »schon 1908 weitaus an der Spitze aller Staaten« stand.16 Die Vielfalt des schweizerischen Bankensektors hat entscheidend zu dessen Stabilität beigetragen. Das Geflecht von Großbanken, Privatbanken, Kantonalbanken, Regionalbanken und Raiffeisenkassen hat verhindert, dass die Bankenkrisen in der Schweiz je systembedrohende Ausmaße annahmen. Auch in der jüngste Krise zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich diese Vielfalt bewährt: Die Großbanken litten unter dem Einbruch der Aktienbörsen, was sich in einer Reduktion der Bilanzsumme um elf Prozent im Jahr 2000 äußerte; die Kantonalbanken, Regionalbanken und Sparkassen hingegen konnten ihre Bilanzsumme stabilisieren, die Raiffeisenkassen gar eine kräftige Expansion verzeichnen.17 Viertens gilt die Schweiz als »Zinsinsel«, weil die realen langfristigen Zinsen seit Jahrzehnten tiefer sind als in den europäischen Nachbarländern. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass eine Kombination von folgenden Faktoren ausschlaggebend gewesen ist: die reale Aufwertung des Schweizer Frankens in der Vergangenheit, die Solidität des schweizerischen Bankenwesens, das Bankgeheimnis, die tiefe Steuerbelastung, die hohe Sparquote und der große Ertragsbilanzüberschuss.18 Es ist aber bisher unmöglich gewesen, diese Faktoren wissenschaftlich zu verifizieren. In einem neuen Aufsatz schlagen Peter Kugler und Beatrice Weder vor, die Zinsdifferenz zum Ausland als »reverse peso problem« zu verstehen. So wie die Inhaber von mexikanischen Anleihen einen höheren Zins verlangen, als die wirtschaftlichen Fundamentaldaten es rechtfertigen , weil sie der mexikanischen Politik nicht trauen, so haben die Inhaber von schweizerischen Anleihen ein überdurchschnittliches Vertrauen in den Standort Schweiz und seine Währung: »Investors are willing to pay a premium for holding Swiss Frank assets expecting that in a severe crisis situation the Swiss Frank would appreciate.«19 Aber auch diese Erklärung hat spekulativen Charakter, da seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs keine schwere Krise mehr eingetreten ist, und folglich diese Erwartung an Bedeutung verlieren sollte. Wie auch immer begründet, der relativ tiefe Zinsfuß in der Schweiz ermöglicht eine kostengünstige Kapitalversorgung der Wirtschaft. Zwar sind, was den Zugang zu Bankkrediten betrifft, die Abstufungen evident. Die permanenten Klagen der kleinen und mittelgroßen Unternehmen über eine mangelnde Kreditversorgung zu günstigen Konditionen sind beredter Ausdruck dafür. Doch ist es unbestritten, dass verschiedenste Bevölkerungsschichten – vor allem über den Hypothekarmarkt – von dem tiefen Zinsfuß profitieren. Die Zinsfrage ist auch bei der Entscheidung, ob die Schweiz der Europäischen Union beitreten oder den Euro übernehmen soll, von großer politischer Relevanz.
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Fünftens stellt die Vermögensverwaltung, das private banking bzw. wealth management, die eigentliche Schlüsselkompetenz und das Kerngeschäft der Schweizer Banken dar. Die Nationalbank, die Zentralbank der Schweiz, schätzte die Höhe der auf dem Finanzplatz Schweiz in Kundendepots verwalteten Vermögen für 2003 auf 3.300 Milliarden Franken.20 Insgesamt werden in der Schweiz rund ein Drittel aller grenzüberschreitenden Privatvermögen verwaltet. Die Schweiz ist damit das mit Abstand größte Zentrum der Welt: Die nächsten Wettbewerber sind Großbritannien (15 Prozent), die USA (12 Prozent) und die karibischen Inseln (12 Prozent).21 Diese herausragende Position verdankt der Finanzplatz Schweiz der auch in der Nachkriegszeit praktizierten Strategie, die Finanzbestimmungen von Nachbarländern und außereuropäischer Staaten zu unterlaufen. Während gegen den ungehinderten Zufluss von Fluchtgeldern und Potentatenvermögen aus der Dritten Welt im Verlaufe der 1990er Jahre ein Abwehrdispositiv aufgebaut wurde, wurde gegenüber den EWG (heute: den EU-Staaten) auf der Geltung des Bankgeheimnisses mit Erfolg insistiert. Die Aushandlung der neuen bilateralen Abkommen mit der Europäischen Union (Bilaterale II) nötigte jedoch auch der Schweiz Konzessionen ab. Damit das Bankgeheimnis nicht angefochten wird und langfristig gesichert werden kann, verpflichten sich die Schweizer Banken im Rahmen dieser Abkommen für EU-Steuerpflichtige auf Zinseinkünften einen Steuerrückbehalt zu erheben, der bis 2011 stufenweise auf 35 Prozent angehoben werden soll. »Das ist etwas Einmaliges«, bemerkte der Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung dazu, denn »noch nie hat ein Staat für einen andern Staat Steuern eingetrieben.«22 Nicht alle Schweizer Bankiers sind allerdings der Meinung, dass es sich dabei um eine ideale Lösung handelt. Jüngst ist ein Sankt Galler Privatbankier aus dem Verwaltungsrat der Bankiervereinigung ausgetreten, weil seiner Meinung nach nie eine kritische Prüfung der Bilateralen II stattgefunden habe.23 Dank der führenden Stellung in der Vermögensverwaltung verfügen die Schweizer Banken auch über eine enorme Platzierungskraft auf dem inländischen und den ausländischen Finanzmärkten.24 Ende 2003 betrugen die ausstehenden internationalen Obligationen und Notes, die in Schweizer Franken denominiert waren und mehrheitlich von Schweizer Banken gezeichnet wurden, 200 Milliarden Dollar. Dies entsprach dem fünften Rang – zwar deutlich hinter den führenden Währungen Euro (4.836 Mrd. Dollar) und Dollar (4.491 Mrd. Dollar), aber in Reichweite des Pfunds (782 Mrd. Dollar) und des Yens (489 Mrd. Dollar).25 Die großen Volumen in der Vermögensverwaltung haben es den beiden Großbanken zudem ermöglicht, in den letzten 20 Jahren auch in die Liga der global player aufzusteigen und vor allem im angelsächsischen Bereich stark zu expandieren. Sie haben damit längst aufgehört, auf Gedeih und Verderb auf ihre einstige Heimbasis angewiesen zu sein.
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Die historische Genese und die Entwicklungsdynamik Wie lassen sich nun aktuelle Strukturen mit der historischen Veränderungsdynamik in Verbindung bringen?26 Es fällt auf, dass sich bereits seit den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts eine rasche Anhäufung von Privatkapital in den Händen städtischer Eliten beobachten lässt – vor allem in Genf und Basel, aber auch in Zürich und weiteren Städten. Die Schweiz wurde deshalb immer wieder als ältestes Kapitalexportland nördlich der Alpen charakterisiert.27 Zudem spielte sich in derselben Epoche ein Entwicklungsmuster ein, das man später »die Schweiz als Antithese« (Herbert Lüthy) nannte: Wenn andere Territorialstaaten sich durch Kriege gegenseitig ruinierten, brachen für die Schweizerische Eidgenossenschaft eher gute Zeiten an und die hier domizilierten Finanzintermediäre zogen aus der Situation Gewinn.28 Im Dreißigjährigen Krieg (1618 – 48) zeigte sich dies ein erstes Mal deutlich.29 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts lässt sich dann eine Spezialisierung auf das Bankgeschäft und damit ein Aufstieg professioneller Bankiers beobachten, und zwar im Bereich der Privatbanken. Diese waren aber international orientiert und beschränkten sich auf einen kleinen, hochkarätigen Kundenkreis.30 Von daher lässt sich durchaus sagen, die Schweiz weise heute eine dreihundertjährige Tradition in der Vermögensverwaltung auf. Im 18. Jahrhundert herrschte eine starke Liquidität auf den Kapitalmärkten – die Investoren in den Städten suchten deshalb nach Anlagemöglichkeiten in der Landwirtschaft, aber auch im Ausland. So wurde 1755 in Zürich ein öffentliches Institut gegründet, das den überreichlichen Staatsschatz und auch das Kapitel privater Anleger in internationalen Umlauf bringen sollte – nach Johann Jacob Leu, dem Säckelmeister und Präsidenten der Zinskommission, welche diese Bank beaufsichtigte, wurde sie Bank Leu genannt.31 Mit der Helvetik (1798 – 1803) war es mit dem Geldsegen zu Ende. Die Bank wurde privatisiert. Sie stieg dann im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer der wichtigen schweizerischen Großbanken auf – bevor sie, wie erwähnt, 1990 von der Credit Suisse geschluckt wurde. Die Geschichte des modernen Bankenwesens in der Schweiz beginnt jedoch erst im 19. Jahrhundert. Denn was bis dahin gefehlt hatte, waren Bankinstitute, die kurzfristige Kredite erteilten und kleine Geldanlagen entgegennahmen. Die neu entstehenden Industrien wiesen einen hohen Selbstfinanzierungsgrad auf und waren zunächst kaum auf Bankkredite angewiesen, eher war es so, dass die Fabrikherren ihre Gewinne zinstragend anzulegen versuchten. Um 1820 herum nahm die Fabrikindustrie jedoch größere Dimensionen an, und nun begann sich diese Situation zu ändern. Es tauchten zwei neue, komplementäre Bedürfnisse auf: Auf der einen Seite gab es Unternehmer, die Geld brauchten, um mit der Modernisierung der industriellen Fabrikationsanlagen Schritt zu halten; auf der andern Seite gab es mehr Leute, die über Geldeinkommen verfügten und die nach Möglichkeiten suchten, um
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ihre kleinen Ersparnisse zinstragend anzulegen. So wurden nun verstärkt Sparkassen gegründet, die sich vor allem an Bauern, Handwerker und kleine Gewerbetreibende richteten und deren Geschäftsrayon lokal blieb. Diese Sparkassen wurden bald um eine weitere Bankkategorie ergänzt: die Kantonalbanken. Die erste wurde 1834 in Bern gegründet. Danach eröffneten eine ganze Reihe von Kantonen eigene Staatsbanken, die sich ganz unterschiedlichen Geschäftssparten, insbesondere aber auch dem kleinen Kredit und den Kleinersparnissen widmeten. Die Zürcher Kantonalbank wurde – als Resultat der »Demokratischen Bewegung«, die neben einer direktdemokratischen Verfassung auch ein solches Institut für die bedrängten Bauern und Handwerker forderte – 1870 gegründet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügten schließlich alle Kantone über »ihre« Kantonalbank. Bei der Bundesstaatsgründung von 1848 gab es in der Schweiz ein doppeltes Bankensystem. Einerseits die Gruppe der Privatbanken, die im diskreten Hintergrund operierten, eine europaweite Reputation genossen und deren Geschäfte mit der schweizerischen Wirtschaft kaum verzahnt waren, andererseits die Gruppe der lokalen oder kantonalen Spar- und Kreditinstitute, deren Geschäftsvolumen und deren Möglichkeiten sehr beschränkt waren. »Dazwischen« – zwischen der regional-kantonalen und der internationalen Ausrichtung – gab es nichts, und dies wurde nun angesichts zunehmender Kapitalknappheit zum Problem. Um die riesigen Summen aufzubringen, die für den damals forcierten Eisenbahnbau benötigt wurden, setzten auch in der Schweiz Unternehmerpersönlichkeiten wie Alfred Escher auf den neuen Typus der Crédit-Mobilier-Banken. In Zürich, später auch in anderen Wachstumspolen der wirtschaftlich aufstrebenden Schweiz traten diese Banken als »Dampfmaschinen des Kredits« in Aktion und brachten die für damalige Verhältnisse gigantischen Investitionsprojekte auf der Schiene des industriellen Fortschritts voran. Die erste und wichtigste dieser Banken, aus denen später die schweizerischen Großbanken hervorgingen, war die 1856 gegründete Schweizerische Kreditanstalt, die modellbildend wurde. Die entscheidenden Vorgänge für den Aufstieg der Schweiz zum internationalen Finanzplatz spielten sich dann aber zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ab. Vier Faktoren sind hier zu erwähnen. Erstens entstand nun eine ganze Reihe weiterer Großbanken, die den Horizont der Kantonsgrenzen überschritten und zuerst nationales, später dann internationales Format entwickelten. Diese gingen seit den 1880er Jahren meist aus Umgruppierungen und Umwandlungen von zunächst regionalen Kreditinstituten hervor. So nannte sich die 1869 entstandene Berner Volksbank ab 1880 Schweizerische Volksbank und wuchs in neue Dimensionen hinein. Die 1862 gegründete Bank in Winterthur fusionierte 1912 mit der Toggenburger Bank zur Schweizerischen Bankgesellschaft. Der Schweizerische Bankverein entstand 1895/96 aus der Vereinigung mehrerer älterer
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Basler und Zürcher Banken sowie der Übernahme der Deutsch-Schweizerischen Kreditbank. Hatte es 1880 fünf Institute gegeben, die man als »Großbank« bezeichnen konnte (SKA, Bank in Winterthur, Basler Bankverein, Eidgenössische Bank und Basler Handelsbank), so waren es 1913 deren acht, von denen heute – wie bereits erwähnt – noch zwei übrig geblieben sind. Zweitens erfolgte eine gegenüber andern Ländern verspätete Integration der einzelnen städtischen Finanzplätze in das internationale Zahlungsverkehrssystem. Was den Verflechtungsgrad untereinander betrifft, so wiesen die Zentren der umliegenden Länder (Frankreich, Oberitalien, Süddeutschland) gegenüber der Schweiz einen beträchtlichen Vorsprung auf. 32 Markus A. Denzel datiert einen die Kapitel-, Wechsel- und Aktienmärkte umfassenden Integrationsschub auf die 1870er Jahre und bringt ihn mit »der bedeutenden Ausdehnung des zunehmend exportorientierten schweizerischen Maschinenbaus und der zweiten Gründungswelle im Eisenbahnwesen« in Zusammenhang.33 Franz Ritzmann hat betont, erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts habe sich eine überregionale Nivellierung der Zinssätze abgezeichnet. Dies wertet er als Indiz dafür, dass damals die Transaktionen zwischen den traditionellen städtischen Finanzzentren eine Intensität und Flexibilität erreicht hätten, die es rechtfertige, zum ersten Mal von einem »schweizerischen Finanzplatz« zu sprechen.34 Drittens geriet nun die traditionelle Anlage von Vermögenswerten im Ausland in den Bann der großen Universalbanken, die in enger Kooperation mit den wichtigsten industriellen Exportunternehmen agierten. Schon in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg tätigten schweizerische Großunternehmen Direktinvestitionen im benachbarten Ausland oder in Ländern, die einen expandierenden Markt für Produkte boten. Daraus resultierte auch eine indirekte Verwicklung der Schweiz in den Kolonialismus und Imperialismus. Der Historiker Roland Ruffieux spricht von einem »verdeckten Kolonialismus«, den die schweizerische »Beteiligung an Unternehmen des internationalen Kapitalismus« angenommen habe, und schreibt weiter: »Auch die Schweiz als fortgeschrittene Industrienation konnte sich an den wirtschaftlichen Abenteuern der eigentlichen Kolonialmächte beteiligen und eigene Initiativen ergreifen durch einen Bank- und Börsenimperialismus, der sich nicht immer mit den wichtigen Märkten des Außenhandels deckte.«35 Insgesamt verstärkte sich die Bildung dessen, was Lorenz Stucki in einer 1968 erschienenen Studie das »heimliche Imperium« der Schweiz nennen sollte. Viertens intensivierten sich seit den 1890er Jahren auch die Auseinandersetzungen um eine Zentralbank, die dann 1907 unter der Bezeichnung Schweizerische Nationalbank (SNB) gegründet wurde. Das Problem bestand in den Jahrzehnten zuvor darin, dass der Banknotenumlauf durch drei Dutzend so genannter »Zeddelbanken« bestritten wurde, die nie ein den wirtschaftlichen Anforderungen voll entsprechendes funktionstüchtiges Geldsystem zustande brachten. In der Volksabstimmung
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vom 18. Oktober 1891 hatten zwar die Anhänger eines Notenmonopols obsiegt. Doch mit dem neuen Verfassungsartikel wurde der Streit zunächst nur intensiviert. Eine von der Regierung ausgearbeitete reine Staatsbanklösung scheiterte im Plebiszit von 1897. Gründe waren der Widerstand gegen das so genannte »Überhandnehmen des Staatssocialismus« und das Widerstreben gegen eine anwachsende Zentralgewalt des Bundes. Nun, angesichts des politischen Scherbenhaufens, begann sich aber das bundesstaatliche Interessenausgleichskarussell zu drehen. Die Staatsbank war vom Tisch und so suchte man nun nach einer gemischtwirtschaftlich-föderalistischen Lösung. Zunächst war der Weg zur Nationalbank durch die Frage des Sitzes der neuen Bank blockiert. Die Romands und die Basler fürchteten eine Prädominanz Zürichs. Die Bundesversammlung war gespalten. Der Nationalrat entschied für Zürich, der Ständerat für Bern. Nachgeben wollte keine der beiden Parlamentskammern. Im Jahre 1905 kam schließlich ein helvetischer Flickwerk-Kompromiss zustande, der jedoch sich jedoch als erstaunlich tragfähig erweisen sollte. Den Kantonen wurde Recht getan, indem sie zwei Drittel des Gewinns unter sich verteilen konnten. Die Anhänger der Privatwirtschaft wurden gewonnen, indem die SNB, obwohl ein Institut von öffentlichrechtlichem Charakter, nun als private Aktiengesellschaft gegründet wurde, was es dem privaten Kapital ermöglichte, sich am Grundkapital zu beteiligen. Die Lokalinteressen der verschiedenen Landesteile wurden versöhnt, indem der Sitz der SNB nach Bern, ihr Direktorium jedoch nach Zürich zu liegen kam. 1906 konnte die SNB gegründet werden, ein Jahr später, 1907, nahm sie ihren Betrieb auf. Dies bedeutete das Aus für die damals 36 Emissionsinstitute, welche die Geldversorgung des Landes bis zu diesem Zeitpunkt mehr schlecht als recht geregelt hatten.36 Eine Gruppe leistungsfähiger Großbanken, ein einheitlicher nationaler Kapitalmarkt, eine rege Kapitalexporttätigkeit, die durch die Kapitalerträge wiederum einen wesentlichen Beitrag zum Zahlungsbilanzausgleich beisteuerte, und die Gründung einer Notenbank, welche die »Härtung« des Schweizerfrankens als dem monetären Substrat für Geschäft im In- und Ausland vornehmen konnte: mit diesen vier Elementen waren die Grundlagen für den schweizerischen Finanzplatz gelegt, der sich im Ersten Weltkrieg erneut bewährte. Nun zeigten sich vor allem die Vorteile, welche ein Bankensystem aus der neutralen Haltung eines Staatswesens ziehen konnte. Man hat – mit guten Gründen – davon gesprochen, dass schweizerische Unternehmen, und insbesondere die Banken, im Krieg eine »Neutralitätsdividende« realisieren konnten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde vor allem die Steuerpolitik entscheidend. Die zunehmende fiskalische Abschöpfungskapazität der Staaten brachte Ländern, die wie die Schweiz die Philosophie des Staates als eines »sparsamen Hausvaters« mit diskretem Geschäftsgebaren und dem »Schutz der Privatsphäre« verbanden, einen kompetitiven Vorteil. Dieser wurde noch verstärkt durch eine – vor allem im Ver-
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gleich zum krisengeschüttelten Ausland – politisch-kulturelle stability culture.37 In verschiedenen Bereichen spielten sich in der Schweiz damals sozialfriedliche bargaining-Verfahren ein. Die staats- und nationsbildenden Mythen der Schweiz konnten ausgezeichnet mit dem Bild der »starken Währung« parallelisiert werden. Der Franken etwa wurde als »geprägte Freiheit« dargestellt und er schien ebenso abnutzungsresistent und gesund wie das Staatswesen, das er weltweit repräsentierte. Die enorme Bedeutung der Steuergesetzgebung – um die Jahrhundertwende und in den 1920er Jahren führten einzelne Schweizer Kantone und Kleinstaaten wie Liechtenstein und Luxemburg Holding- und Domizilprivilegien ein38 – sowie die Fähigkeit, den politischen Einfluss der Arbeiterbewegung zurückzubinden und diese schließlich im Zeichen der so genannten »Geistigen Landesverteidigung« in das politische und schließlich das Regierungssystem zu kooptieren, wird etwas verstellt durch die Fixierung auf das Bankgeheimnis, dessen geradezu legendäre Stellung sich eben nur vor dem Hintergrund dieser beiden andern Faktoren verstehen lässt. Ausgehend von diesen Voraussetzungen lässt sich nun an die Geschichte des Finanzplatzes in der Nachkriegszeit und die heutige Situation anknüpfen, die bereits skizziert worden ist. Wie schon in der Phase vor 1914 herrschten nach 1945 wiederum langfristige Kapitalbewegungen vor, wobei sich der Schwerpunkt auf die Direktinvestitionen verlagerte. Unterstützt von den Institutionen von Bretton Woods (Internationaler Währungsfonds und Weltbank) gingen die europäischen Währungen Ende 1958 zur vollen Konvertibilität über, was in den 1960er Jahren die Herausbildung neuer internationaler Finanzmärkte – insbesondere des Eurodollarmarktes – ermöglichte.39 In diese Prozesse vermochten sich die auf dem Finanzplatz Schweiz groß gewordenen Banken auf gewinnbringende Weise einzuschalten; einige dieser Nachkriegsentwicklungen wurden auch maßgeblich durch sie geprägt. Der Motor, der die internationale Expansion der schweizerischen Großbanken seit den 1960er Jahren ermöglichte, war die Vermögensverwaltung. Die Tabelle der Vermögensentwicklung bei der Schweizerischen Kreditanstalt zeigt klar, wie das Geschäft bereits in den 1920er Jahren blühte, der eigentliche take off aber erst in den 1950er Jahren stattfand (siehe Tabelle 3).
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Tab. 3: Vermögen bei der Schweizerischen Kreditanstalt (1920 – 1962) Jahr
Anzahl der Depots
Wert der Depots am Hauptsitz in Zürich (in Mrd. SFr.)
1920
24.284
1,27
1927
32.110
2,75
1934
42.617
2,45
1941
43.764
1,77
1948
46.856
1,75
1955
55.183
3,60
1962
97.305
9,29
Quelle: Perrenoud, Marc et al., La place financière et les banques suisses à l’époque du nationalsocialisme. Les relations des grandes banques avec l’Allemagne (1931– 1946), Zürich 2000, S. 622/623
Schluss: Das Ende des »kurzen 20. Jahrhunderts« Die vergangenen Trends suggerieren, dass ein weiterer Aufstieg der schweizerischen Vermögensverwaltung unaufhaltsam ist. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass das Ende des »kurzen 20. Jahrhunderts« (Eric Hobsbawm) auch in diesem Bereich die Koordinaten verschoben hat. Ohne Zweifel sind die Wettbewerbsvorteile der Schweiz nicht mehr so erdrückend groß wie in der goldenen Nachkriegszeit. Der Zwang zur internationalen Kooperation ist gestiegen, der Stabilitätsbonus hat sich relativiert, tiefe Inflationsraten und starke Währungen sind zur Norm geworden, und andere Länder wie zum Beispiel Irland oder die neuen EU-Mitglieder in Ostmitteleuropa bilden heute die Avantgarde im europäischen Steuerwettbewerb. Die Brüchigkeit der Tradition lässt sich auch an zwei heutigen Debatten in der schweizerischen Innenpolitik ersehen. Zum einen sind die Parteien entzweit über den Versuch, das Bankgeheimnis, das nun, mit subtiler semantischer Umakzentuierung, neu als »Bankkundengeheimnis« apostrophiert wird, in der schweizerischen Bundesverfassung zu verankern. Dieselben Kreise, die 1999 vehement gegen die neue schweizerische Bundeserfassung ins Feld gezogen sind, weil ihnen die Verankerung von Menschen- und Bürgerrechten zu stark auf Kosten nationaler Werthaltungen zu gehen schien, fordern nun, dass Artikel 13 der damals knapp angenommenen neuen Verfassung einen neuen Absatz erhalte, der lautet: »Das Bankkundengeheimnis ist gewährleistet.«40 Immerhin hat die Zürcher Regierung mit Bericht vom 2. Juli 2003 diesen Vorschlag mit frappanter
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Selbstverständlichkeit unterstützt. Im Regierungsbericht wird ausgeführt: »Die Schweiz hat sich bis anhin erfolgreich gegen den internationalen Druck zur Wehr gesetzt und das Bankkundengeheimnis für nicht verhandelbar erklärt. Gleichzeitig passt sie die Rahmenbedingungen des Finanzplatzes jedoch laufend den aktuellen Gegebenheiten an. Die Schweiz beteiligt sich aktiv an den internationalen Bemühungen zur Bekämpfung der Geldwäscherei, des Steuerbetrugs und anderer Finanzdelikte.«41 Man kann dieser Stellungnahme entnehmen, dass die Schweiz offenbar wegen des in seiner rechtlich rigorosen Ausgestaltung von außen als anomal empfundenen Bankgeheimnisses zunehmend unter Druck gerät und dass sie angesichts dieser unkomfortablen Situation auf die bewährte Strategie eines »autonomen Nachvollzugs« europäischer und internationaler Normen setzt. Aus historischer Perspektive gelangt man zum Schluss, dass es um diese Haltung, in der sich auch die strukturell beschränkte Souveränität eines kleinen Staatswesens ausdrückt, tatsächlich schlecht bestellt sein muss, wenn nun mit dem Ruf nach einem neuen Verfassungsartikel versucht wird, ein Geschäftsprinzip mit höheren konstitutionellen Weihen auszustatten. Solche symbolischen Fluchtbewegungen sind meistens Indizien des bevorstehenden Endes einer Institution. Zum andern ist der anhaltende Zank um den Goldschatz der Schweizerischen Nationalbank zu erwähnen. Diese hatte in der Phase, als man eine »starke Währung« noch nach der Dicke ihrer »Goldpanzerung« beurteilte, geradezu exorbitante Edelmetallreserven mit einem Gewicht von 1.300 Tonnen akkumuliert. Es handelt sich hier um ein schönes Beispiel für die faktische Kraft des Normativen. Die 20 Milliarden Schweizerfranken, die man inzwischen aus dem Verkauf der Goldbarren gelöst hat, waren gewissermaßen die metallene Materialisierung eines monetären Phantasma: Man glaubt, die Währung könne nur auf diesem Goldfundament Bestand haben, weswegen die Schweizerische Nationalbank in den kritischen Jahren des Zweiten Weltkriegs auch auf die Übernahme von Raubgold aus dem »Dritten Reich« nicht glaubte verzichten zu können – irgendwann lernte man dann, dass das auch ganz gut ohne diese eingebildete Notwendigkeit geht. Um nun aber Vermögen zu verwalten, die erklärtermaßen nicht mehr für die Geld- und Währungspolitik benötigt werden, fehlen dem Noteninstitut die Rechtsgrundlagen. So ist seit fast einem Jahrzehnt ein Streit entbrannt, was mit dem Goldschatz zu machen sei. Inzwischen passiert eine weitere Vorlage die Mühlen der parlamentarischen Diskussion und droht, darin zerrieben zu werden – dies im Anschluss an das doppelte Volksnein vom September 2002, als eine politisch rechtslastige »SVP-Goldinitiative« ebenso scheiterte wie der von der Linken unterstützte Gegenvorschlag zur Errichtung einer schweizerischen Solidaritätsstiftung. So, wie die Debatte heute läuft, würde sich nicht einmal John Maynard Keynes, der Gold schon in der Zwischenkriegszeit als ein »barbarisches Relikt« des internationalen Währungssystems bezeichnet hatte, das die Notenbank daran hindere, einen flexibleren geldpolitischen approach zu wählen,
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darüber freuen wollen. Die Goldquerelen machen deutlich, dass die Koppelung von starker Golddeckung, harter Währung und solidem Bankensystem, welche den Vorstellungshorizont und zum großen Teil auch den Funktionsmodus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachte, endgültig verblasst und ausgehebelt ist. Auch in diesem Sinne ist das »kurze 20. Jahrhundert« in dem Sinne historisch geworden, dass die Probleme, die man damals hatte (oder glaubte haben zu müssen) heute nur noch als vergangene Kontrasterfahrung nachvollzogen werden können. Vergegenwärtigt man sich zudem, dass diese beiden Debatten in einer Welt stattfinden, in der sich die Finanzmärkte zunehmend verflechten und informatisieren, wird ihr rückwärtsgewandter Charakter erst recht deutlich. Der Erfolg eines Finanzplatzes dürfte in der Zukunft weniger von einzelnen Regulierungen abhängen als von der Fähigkeit der ansässigen Unternehmen, an der Dynamik der Informations- und Kommunikationstechnologien zu partizipieren und sich neue Formen der Datenverarbeitung und des Wissensmanagements anzueignen.42 Die Tatsache, dass die wirtschaftliche Tätigkeit von Banken einen hohen Wertschöpfungsanteil aufweist, kontrastiert ja mit Theorien, die davon ausgehen, der dritte Sektor lasse sich schlechter rationalisieren als der erste und zweite, weswegen es im historischen Prozess zu einer Umlagerung aus dem Agrarsektor und der Industrie zu den Dienstleistungen komme. Diese von Fourrastié in den 1950er Jahren entwickelte These hat sich als nicht triftig erwiesen und für die Vermögensverwaltung lässt sie sich leicht empirisch falsifizieren. Das hängt mit dem »Stoff«, aus dem diese Geschäfte bestehen, zusammen. Verwaltet wird ja nicht »Geld« an sich, sondern dieses besteht für ein Bankunternehmen aus Information und vertrauens- sowie vertragsgestützten Beziehungsnetzen. Wenn Geld durch das Bankensystem »fließt« (wie man in einem analogen Beschreibungsmodus sagen könnte), dann wechseln faktisch Zahlen in der Buchführung (so der digitale Beschreibungsmodus). Die Digitalisierung, die mit der Computerisierung vorankam, baut deshalb auf Operationen auf, die schon immer digital waren, die jedoch bis heute in analogen Metaphern beschrieben wurden und werden. »Geldwäsche« ist ein solches Bild. Es handelt sich um ein Problem, das sich technisch gesehen nicht auf das »Geld« bezieht (das bekanntlich auch nach mehrmaligem Waschen nicht weißer wird), sondern das sich auf die Topographie des Wissens bzw. den Zugang zur Information stützt. Man muss wissen, wem man vertrauen kann – und das hängt einerseits mit dem kontinuierlichen Sammeln und Auswerten von Informationen auf allen Ebenen und andererseits mit Diskretion, d.h. mit einem sehr zurückhaltenden und ganz gezielten Umgang mit diesen Informationen zusammen. Nur so kommen Banken in den Genuss jenes Kredits, der sie befähigt, das Kredit- und Vermögensverwaltungsgeschäft in großem Umfang zu betreiben und sich als der compliance verpflichtete Partner zu profilieren.
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Von daher wäre eine Geschichte der informations- und kommunikationstechnologischen Innovationen und Diffusionsprozesse im Bankensektor und auf dem Finanzplatz insgesamt zu schreiben, die dann auch zeigen könnte, ab welchem Moment es möglich wurde, sich von der traditionellen Vorstellung des Kredit- und Zahlungsgeschäfts zu lösen und zu einer »Berechnung« neuer »Produkte« und »Dienstleistungen« – vor allem der Währungsfutures und anderer Finanzderivate – überzugehen. Dabei würde es um die Analyse der mit der Dekonstruktion traditioneller »Bankenprodukte« und der damit einherlaufenden so genannten »disintermediation« als eines Haupttrends der Gegenwart gehen.43 Ausgehend von solchen Fragestellungen, die sich auf dem Hintergrund der fortschreitenden Computerisierung und Automatisierung der Finanzmärkte formulieren lassen, könnte nochmals ein ganz anderes Erzählmuster für die Geschichte auch des schweizerischen Finanzplatzes entworfen werden, das sich auf interessante Weise auf interdisziplinäre Forschungsansätze beziehen ließe.
Anmerkungen 1 Metropole Zürich – Der Wirtschaftsstandort im internationalen Vergleich: Kurzfassung einer Studie der BAK Konjukturforschung Basel AG und der Zürcher Kantonalbank, November 2004, S. 1. Vgl. auch eine frühere Studie, die eine Erosion der Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes Schweiz konstatiert: Braillard, Philippe/Betcher, Oleg Guy/Lusenti, Graziano, Der Finanzplatz Schweiz. Regierungspolitik und internationale Konkurrenzfähigkeit, Genf 1987. 2 Tagblatt der Stadt Zürich vom 5.11.2004, S. 1: »Die Studie ist nur eine Warnung« (Interview). 3 Faith, Nicholas, Safety in Numbers. The mysterious world of Swiss banking, London 1982, S. 6. 4 Salis, Jean Rodolphe von, Schwierige Schweiz, Einsiedeln 1968, S. 263f. 5 Kurosawa, Takafumi, »Das Image der Schweizer Wirtschaft in Japan. Wirtschaftspolitische Selbstbildnisse im Zuge eines Modernisierungsprozesses«, Asiatische Studien/Études Asiatiques, Heft 2/2004, S. 365 – 387, hier S. 365. 6 Zum Widerstand der Banken gegen die Versuche der Schweizerischen Nationalbank, eine Zahlungsbilanzstatistik zu erstellen: Frech, Stefan, Clearing. Der Zahlungsverkehr der Schweiz mit den Achsenmächten, Zürich 2001, S. 39ff. 7 Hug, Peter, »Steuerflucht und die Legende vom antinazistischen Ursprung des Bankgeheimnisses. Funktion und Risiko der moralischen Überhöhung des Finanzplatzes Schweiz«, in: Tanner, Jakob/Weigel, Sigrid (Hg.), Gedächtnis, Geld und Gesetz. Vom Umgang mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, Zürich 2002, S. 269–319, hier S. 289f. 8 »Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betr. den Entwurf eines Bundesgesetzes über die Banken und Sparkassen«, Bundesblatt, 1934/I, S. 171–224, hier S. 171. 9 Zur Verankerung des Bankgeheimnisses und der Entstehung des Bankengesetzes von 1934: Bänziger, Hugo, »Vom Sparerschutz zum Gläubigerschutz. Die Entstehung des Bankengesetzes im Jahre 1934«, in: Eidgenössische Bankenkommission (Hg.), Jubiläumsschrift 50 Jahre
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eidgenössische Bankenaufsicht, Zürich 1985, S. 3 – 81; Halbeisen, Patrick, »Bankenkrise und Bankengesetzgebung in den 30er Jahren«, in: Guex, Sébastien u.a. (Hg.), Krisen und Stabilisierung. Die Schweiz in der Zwischenkriegszeit, Zürich 1998, S. 61–79; Guex, Sébastien, »The Origins of the Swiss Banking secrecy Law and Its Repercussions for Swiss Federal Policy«, Harvard Business History Review, Jg. 74/2000, S. 237–266; Vogler, Robert Urs, »Das Bankgeheimnis. Seine Genese im politisch-wirtschaftlichen Umfeld«, Schweizerische Monatshefte, Jg. 80/2000, S. 37– 43; Hug, Steuerflucht [wie Anm. 7]. Diese Praxis bildete sich in den 1920er Jahren heraus. Im 20. Jahrhundert sind zwischen der Nationalbank und den Geschäftsbanken etwa 30 Vereinbarungen und gentlemen’s agreements abgeschlossen worden, siehe: Schweizerische Nationalbank (Hg.), 75 Jahre Schweizerische Nationalbank. Die Zeit von 1957 bis 1982, Zürich 1982, S. 127ff. Metropole Zürich [wie Anm. 1], S. 1. Schweizerische Nationalbank (Hg.), Die Banken in der Schweiz 2003, Zürich 2004, S. A82. Die Credit Suisse Group besteht juristisch vorderhand noch aus zwei Großbanken, weswegen die Nationalbank-Statistik die aktuelle Zahl der Großbanken mit drei beziffert. Die CSG hat ihren Hauptsitz in Zürich, die UBS einen doppelten Hauptsitz in Basel und Zürich. Schweizerische Nationalbank, Banken [wie Anm. 12], S. B3/B4. Blackman, Warren J., Swiss Banking in an International Context, Basingstoke 1989, S. 22. Ritzmann, Franz, Die Schweizer Banken. Geschichte – Theorie – Statistik, Bern/Stuttgart 1973, S. 32 (siehe den internationalen Vergleich auf S. 36). Schweizerische Nationalbank, Banken [wie Anm. 12], S. A2. Vgl. die Aufzählung durch Eidgenössisches Finanzdepartement (EFD) und Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Finanzplatz Schweiz. Übersicht über wichtige Themenbereiche und Entwicklungen im Finanzbereich, Bern 2003, S. 14. Kugler, Peter/Weder, Beatrice, »The Puzzle of the Swiss Interest Rate Island. Stylized Facts and a New Interpretation«, Außenwirtschaft, Heft 1/2002, S. 49–63, hier S. 61. Schweizerische Nationalbank, Banken [wie Anm. 12], S. A152/153. International Financial Services London (Hg.), International Private Wealth Management, London 2002, S. 7. Pierre Mirabaud, Schweizer Banken stehen zu Bilateralen II, in: Neue Zürcher Zeitung vom 26.11.2004, S. 25. Neue Zürcher Zeitung vom 19.11.2004, S. 15. Kleinewefers, Henner, Die schweizerische Volkswirtschaft. Eine problemorientierte Einführung in die Volkswirtschaftslehre, Frauenfeld 1993, S. 284. Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (Hg.), BIZ-Quartalsbericht vom März 2004, S. A87. Zur schweizerischen Bankengeschichte vgl. die Literaturübersicht von Cassis, Youssef, »L’histoire des banques suisses, aux XIXe et XXe siècles«, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Jg. 41/1991, S. 512–520. Besonders zu erwähnen sind: Iklé, Max, Die Schweiz als internationaler Bank- und Finanzplatz, Zürich 1970; Ritzmann, Schweizer Banken [wie Anm. 16]; Mottet, Louis H. (Hg.), Geschichte der Schweizer Banken. Bankier-Persönlichkeiten aus fünf Jahrhunderten, Zürich 1987; Blackman, Swiss Banking [wie Anm. 15]; Körner, Martin: »Schweiz«, in: Hans Pohl (Hg.), Europäische Bankengeschichte, Frankfurt a.M. 1993, S. 279–285, 415 – 418, 551– 560; Cassis, Youssef/Tanner, Jakob, »Finance and Financiers in Switzerland, 1880 – 1960«, in: Cassis, Youssef (Hg.), Finance and Financiers in European History, Cambridge 1992, S. 293 – 316; Cassis, Youssef/Tanner, Jakob (Hg.), Banken und Kredit in der Schweiz (1850 – 1930), Zürich
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1993; Cassis, Youssef, »Switzerland/Liechtenstein«, in: Pohl, Hans/Freitag, Sabine (Hg.), Handbook on the History of European Banks, Aldershot 1994, S. 1015 – 1133; Tanner, Jakob, »Die internationalen Finanzbeziehungen der Schweiz zwischen 1931 und 1950«, Schweizerische Zeitschrift für Geschicht, Jg. 47/1997, S. 492–519; Cassis, Youssef, »Commercial Banks in 20th Century Switzerland«, in: Cassis, Youssef (Hg.), The Evolution of Financial Institutions and Markets in Twentieth Century Europe, Aldershot 1995, S. 64 – 77; Bauer, Hans/Blackman, Warren J., Swiss Banking. An Analytical History, Basingstoke/London 1998. Landmann, Julius, »Der schweizerische Kapitalexport«, Zeitschrift für Schweizerische Statistik und Volkswirtschaft, Bd. 52/1916, S. 389–415. Lüthy, Herbert, Die Schweiz als Antithese, Zürich 1969. Jean-François Bergier spricht in seiner »Wirtschaftsgeschichte der Schweiz« von den »merklichen Verarmungen«, welche der Dreißigjährige Krieg, der von 1618–48 dauerte, in vielen Ländern mit sich brachte. Er fügt dann mit dem ihm eigenen Hang zum reservierten Urteil an (S. 330): »Die Kriege dieses Jahrhunderts kamen teuer zu stehen; doch gewisse Schweizer Unternehmer zogen daraus Gewinn […].« Landmann, Kapitalexport [wie Anm. 27], S. 394. Lüthy, Herbert, La Banque Protestante en France. De la Révocation de l’Edit de Nantes à la Révolution, 2 Bde., Paris 1959/1961. Landmann, Julius, Leu & Co. Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen und privaten Kreditorganisation, 1755 – 1905, Zürich 1905. Denzel, Markus A.: »Die Integration der Schweizer Finanzplätze in das internationale Zahlungssystem vom 17. Jahrhundert bis 1914«, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Heft 2/1998, S. 177–235. Denzel, Integration [wie Anm. 32], S. 235. Ritzmann, Schweizer Banken [wie Anm. 16], S. 243 – 248. Ruffieux, Roland, »Die Schweiz des Freisinns (1848 – 1914)«, in: Im Hof, Ulrich u.a. (Hg.), Die Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Bd. 3, Basel 1983, S. 82. Jöhr, Walter, Die schweizerischen Notenbanken 1826 – 1913, 2 Bde., Zürich 1915; Schneebeli, Hermann, Die Schweizerische Nationalbank 1907–1932, Zürich 1932. Dazu: Eichengreen, Barry, Vom Goldstandard zum EURO. Die Geschichte des internationalen Währungssystems, Berlin 2000, S. 12; Tanner, Jakob, »Goldparität im Gotthardstaat. Nationale Mythen und die Stabilität des Schweizer Frankens in den 1930er und 1940er Jahren«, Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchivs: Die Finanzen des Bundes im 20. Jahrhundert, Bern 2000, S. 45 – 81; Müller, Philipp/Paccaud, Isabelle/Schaufelbuehl, Janick Marina, Franc suisse, finance et commerce. Politique monétaire helvétique 1931–1936, les relations de la Suisse avec l'Angleterre (1940 – 1944) et la France (1944 – 1949), Lausanne 2003. Orsouw, Michael van, Das vermeintliche Paradies. Eine historische Analyse der Anziehungskraft der Zuger Steuergesetze, Zürich 1995, S. 41–42, gibt eine Übersicht über die kantonalen Entwicklungen seit 1900; Bauler, André, Les fruits de la souveraineté nationale. Essai sur le développement de l’économie luxembourgeoise de 1815 à 1999: une vue institutionelle, Luxemburg 2001; Merki, Christoph Maria, Von der liechtensteinischen Landkanzlei zur internationalen Finanzberatung. Die Anwaltskanzlei Marxer & Partner und der Finanzplatz Vaduz, Baden 2003. Einen Überblick über die Geschichte des internationalen Finanzsystems geben: James, Harold, Rambouillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft, München 1997; Eichengreen, Goldstandard [wie Anm. 37].
ENTWICKLUNG
UND
PERSPEKTIVEN
DES
FINANZPLATZES SCHWEIZ
147
40 4087, Bericht und Antrag des Regierungsrates an den Kantonsrat a) zum dringlichen Postulat KR-Nr. 148/2002 betreffend Festhalten am Bankkundengeheimnis als maßgeblicher Standortvorteil Zürichs b) zur Einzelinitiative KR-Nr. 137/2002 betreffend Einreichung einer Standesinitiative zur Verankerung des Bankkundengeheimnisses in der Bundesverfassung (vom 2. Juli 2003), KR-Nr. 148/2002/ KR-Nr. 137/2002 41 Bericht und Antrag [wie Anm. 40]. 42 Dazu Mikdashi, Zuhayr (Hg.), Financial intermediation in the 21st century, New York 2001. 43 Mikdashi, Financial intermediation [wie Anm. 42]; vgl. auch den Beitrag von Richard T. Meier in diesem Band.
Der Finanzplatz Luxemburg als Ergebnis wirtschaftlichen Bedarfs, politischen Willens und europäischer Integration Norbert Franz
Einleitung Im Zentrum jener Staatengruppe gelegen, die den europäischen Einigungsprozess in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann, stieg Luxemburg seit den 1970er Jahren zu einem der weltweit bedeutendsten internationalen Finanzplätze auf. Im Zuge dieses Aufstiegs löste der Dienstleistungssektor die Schwerindustrie als dominierende wirtschaftliche Kraft ab, und die luxemburgische Gesellschaft erfuhr, ein Jahrhundert nach der ersten industriellen Revolution, ihre zweite grundlegende Umgestaltung. Der expandierende Finanzsektor belebte die luxemburgische Volkswirtschaft insgesamt, deren stetiges Wachstum zahlreiche Arbeitsmigranten in das Land zog. Der luxemburgische Wirtschaftsboom strahlte auf die angrenzenden Regionen der Nachbarstaaten aus und verbesserte deren wirtschaftliche Lage erheblich. Andererseits zeigten sich Vertreter gerade dieser Länder besorgt über die massiven Kapitalabflüsse nach Luxemburg.1 Die Entwicklung des Finanzplatzes Luxemburg wurde von einer Fülle unterschiedlichster Veröffentlichungen begleitet, die in der Regel von Politikern und Finanzfachleuten stammten. Bedeutende Vertreter der luxemburgischen Politik nahmen sich dieser Thematik an,2 ferner einflussreiche Finanzfachleute, die in der Regel aus der Praxis des Bankgeschäfts schöpften.3 Vereinzelt wählten sie bereits eine weit ausgreifende historische Perspektive.4 Alle diese Publikationen dienten in der Regel der Öffentlichkeitsarbeit oder der Politik- und Wirtschaftsberatung.5 Die Geschichtswissenschaft behandelte die Geschichte Luxemburgs als Finanzstandort vor allem im Rahmen von Firmenfestschriften.6 Eine institutionengeschichtlich orientierte Studie gab der Geschichte des Finanzplatzes breiten Raum,7 und für die Argumentation einer international vergleichend angelegten politikwissenschaftlichen Untersuchung war Luxemburg als Medienstandort und Finanzplatz von großer Bedeutung.8 Andere Autoren analysierten die Situation des Finanzplatzes oder einzelner Teilaspekte in einem bestimmten Zeithorizont, wobei sie auch historische Kontexte einbezogen.9 Darüber hinaus griffen einige rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Qualifikationsarbeiten diesen Gegenstand auf.10 Eine umfassende Darstellung der Geschichte des Finanzplatzes Luxemburg, die weltwirtschaftliche, eu-
150
NORBERT FRANZ
ropäische und nationale Entwicklungsfaktoren diskutiert und in langfristige historische Zusammenhänge stellt, steht dagegen noch aus. In bewusster Distanz zu aktuellen Debatten soll die folgende historische Skizze zu solch einer Untersuchung anregen, indem sie die wesentlichen Gründe für die Entstehung des Finanzplatzes Luxemburg herausarbeitet, seine Funktionen und die Veränderungen, die er im Laufe seiner Entwicklung erfuhr. Sie skizziert in einem ersten Schritt die Stellung des Finanzplatzes in Europa und der Welt und in einem zweiten Luxemburg selbst als Standort des Finanzplatzes. Der letzte Abschnitt dieses Beitrags analysiert die Entwicklung des Finanzplatzes seit dem 19. Jahrhundert. Er schließt mit einem kurzen Fazit und einer Kritik an der Verwendung des Terminus »Offshore-Finanzplatz« für das Finanzzentrum Luxemburg.
Profil des Finanzplatzes Luxemburg Im weltweiten Bankgeschäft nimmt der Finanzplatz Luxemburg eine beachtliche Stellung ein. Ende 2002 lag er mit einem Anteil von knapp fünf Prozent am Gesamtvolumen der Bilanzsummen der Banken auf dem achten Rang (siehe Tab. 1). Tab. 1: Die Stellung Luxemburgs im globalen Bankgeschäft (2002) Land
Prozent des Gesamtvolumens
Vereinigtes Königreich
18,7
Deutschland
10,3
Japan
9,2
USA
8,6
CaymanInseln
7,6
Frankreich
6,1
Schweiz
6,0
Luxemburg
4,8
Sonstige Gesamtvolumen der Aktiva (31. Dezember 2002)
28,7 13.452 Milliarden USDollar
Quelle: Luxemburger Bankenvereinigung (www.abbl.lu, 10. November 2004)
Noch herausragender ist die Bedeutung Luxemburgs im weltweiten Investmentfondsgeschäft, wo es Ende 2002 mit einem Anteil von gut sieben Prozent den dritten Rang belegte (siehe Tabelle 2). Ende April 2004 existierten über 1.900 Investmentfonds mit 7.600 verschiedenen Portefeuilles, die einen Gesamtwert von rund
151
DER FINANZPLATZ LUXEMBURG
1.037 Milliarden Euro repräsentierten. Die Anbieter dieser Fonds stammten aus 40 Ländern. Sie verkauften Anteile und Aktien, die aus 140 Ländern stammten. Bei den grenzüberschreitenden Investmentfonds war Luxemburg sogar der weltweit wichtigste Finanzplatz.11 Tab. 2: Die Stellung Luxemburgs im globalen Investmentfondsgeschäft (2002) Land
Prozent des Gesamtvolumens
USA
57,0
Frankreich
7,5
Luxemburg
7,2
Deutschland
6,8
Italien
3,4
Vereinigtes Königreich
3,2
Sonstige
14,9
Gesamtvolumen (31. Dezember 2002)
10.698 Milliarden USDollar
Quellen: Luxemburger Bankenvereinigung (www.abbl.lu, 10.11.2004); Association Luxembourgeoise des Fonds d’Investissement (www.alfi.lu, 10.11.2004)
Im europäischen Vergleich, ohne die im Investmentfondsgeschäft dominierenden USA, wird die herausragende Stellung Luxemburgs besonders deutlich. In diesem Sektor nimmt Luxemburg hinter Frankreich und vor Deutschland den zweiten Rang ein (siehe Tabelle 3). Tab. 3: Die Stellung Luxemburgs im europäischen Investmentfondsgeschäft (2003) Land Frankreich
Milliarden Euro
Prozent
982
21,3
Luxemburg
916
19,9
Deutschland
812
17,6
Italien
395
8,6
Vereinigtes Königreich
393
8,5
Irland
337
7,3
Spanien
200
4,3
Niederlande Sonstige Gesamtvolumen (30. September 2003)
93
2,0
481
10,4
4.609
± 100
Quelle: www.alfi.lu (10.11.2004); Anmerkung: Länder: EU der Fünfzehn, EFTA-Mitglieder sowie Polen, Ungarn und Tschechien
152
NORBERT FRANZ
Zu den wichtigsten wirtschaftlichen Akteuren des Luxemburger Finanzplatzes zählen viele der bedeutendsten Bankinstitute der Welt.12 Die meisten der in Luxemburg tätigen Banken haben sich in der Association des Banques et Banquiers Luxembourg (ABBL) zusammengeschlossen.13 Die Gesamtzahl der in Luxemburg niedergelassenen Banken erreichte um die Jahrtausendwende ihren Höchstwert von 210 Instituten. Im Zuge der Fusions- und Schließungswelle seit 2001 sank die Gesamtzahl der Bankinstitute erheblich. Im Juni 2004 waren in Luxemburg insgesamt 167 Banken tätig. Dabei stellten die Tochterinstitute deutscher Banken die größte Einzelgruppe (siehe Tabelle 4).14 Die Bilanzsummen der Banken erreichten 2002 einen Gesamtwert von 660 Milliarden Euro. Etwa die Hälfte davon war an Banken verliehen, ein Viertel setzte sich aus Wechseln und Wertpapieren zusammen und etwa ein Fünftel bestand aus Forderungen an Privatkunden.15 Tab. 4: Herkunft der in Luxemburg niedergelassenen Banken (Juni 2004) Herkunftsland der Banken Deutschland
Anzahl 48
Belgien und Luxemburg
19
Frankreich
17
Italien
16
Schweiz
13
Schweden
7
USA
6
Japan
5
Vereinigtes Königreich
5
Sonstige Total der in Luxemburg niedergelassenen Banken
31 167
Quelle: www.abbl.lu (10.11.2004)
Die in Luxemburg tätigen Investmentfondsgesellschaften bilden seit November 1988 eine eigene Vereinigung, die Association Luxembourgeoise des Fonds d’Investissement (ALFI). Das erklärte Hauptziel dieser Organisation ist es, Luxemburg zum attraktivsten internationalen Zentrum für Investmentfonds zu machen.16 Tabelle 5 zeigt die Entwicklung der luxemburgischen Investmentfonds seit 1990.
153
DER FINANZPLATZ LUXEMBURG
Tab. 5: Luxemburgische Investmentfonds (1990 bis 2004) Jahr
Aktiva (in Milliarden Euro)
1990
72
805
1993
247
1.175
1996
309
1.384
2000 2004 (30.4.)
Anzahl der Fonds
875
1.785
1.033
1.898
Quelle: www.alfli.lu (13.10.2004)
Bei der Summe der Aktiva der verwalteten Sondervermögen ist ein ähnlicher Entwicklungsverlauf zu verzeichnen. Der bisher einmalige Einbruch, der bei der Anzahl der Fonds erst 2003 wirksam wurde, ist hier allerdings bereits für 2002 zu beobachten. Seither wächst der Gesamtwert der Luxemburger Investmentfonds wieder in jenem rasanten Tempo, das um die Jahrtausendwende zu verzeichnen gewesen war. Die nach den neuesten Angaben (erstes Trimester 2004) über 7.500 Fondseinheiten haben einen Gesamtwert von über 1.000 Milliarden Euro. Davon entfällt mehr als die Hälfte auf Obligationen, ein Drittel auf Aktien, und jeweils rund sieben Prozent auf Mischeinheiten sowie auf Fonds von Fonds.17 Eine – gemessen am Finanzvolumen – weitaus geringere wirtschaftliche Bedeutung als die Banken und die Investmentfondsgesellschaften haben die in Luxemburg niedergelassenen Versicherungen und Holdinggesellschaften. Auch hier ist der Einbruch des Jahres 2002 zu erkennen, während die jüngsten Zahlen einen erneuten Aufschwung zeigen. Die Zahl der Versicherungs- und Rückversicherungsgesellschaften, die in Luxemburg niedergelassen waren, hatte sich in dem Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende verdoppelt und 2001 mit 351 Gesellschaften ihren Höchststand erreicht.18 Ganz ähnlich zeigte sich die Entwicklung der Holdings: Auch ihre Anzahl verdoppelte sich in dem Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende und erreichte 2001 mit 14.569 Gesellschaften ihren vorläufigen Höhepunkt.19 Für den Finanzplatz von höchster Bedeutung sind darüber hinaus die Luxemburger Börse und Clearstream. An der Luxemburger Börse werden derzeit rund 26.500 Wertpapiere gehandelt, vor allem Euro-Anleihen. Diese stammen von mehr als 4.000 Emittenten aus hundert verschiedenen Ländern. 20 Mit der Durchführung der an internationalen Börsen ausgehandelten Transaktionen befasst sich die in Luxemburg ansässige Clearing- und Settlementorganisation Clearstream, die heute zur Deutsche-Börse-Group gehört. Clearstream wickelt mehr als eine halbe Million Finanztransaktionen täglich ab. Der Gesamtwert der verwahrten Wertpapiere erreichte im vergangenen Jahr rund sieben Trillionen Euro.21 Diese vielfältigen Dienstleistungen des luxemburgischen Finanzsektors im engeren Sinn werden
154
NORBERT FRANZ
durch Firmen und Einzelpersonen ergänzt, die beratend oder vermittelnd tätig sind, wie Vermögensverwalter, Wirtschaftsprüfer, Makler oder Anwälte.22 Der Schwerpunkt des Finanzplatzes Luxemburg liegt heute also beim Investmentfondsgeschäft, gefolgt von den Geschäften der Banken, die darüber hinaus bei der Abwicklung aller Finanzgeschäfte eine zentrale Rolle spielen. Für den EuroGeldmarkt ist die Luxemburger Börse von zentraler Bedeutung, und Clearstream ist einer der wichtigsten Knotenpunkte der internationalen Finanzströme.
Luxemburg als Standort des Finanzplatzes Das Großherzogtum Luxemburg wurde im Verlauf des Wiener Kongresses geschaffen und existiert seit 1839 in seinen heutigen Grenzen. Luxemburg ist Mitglied der NATO, der Europäischen Union und zahlreicher internationaler Organisationen, wie etwa des Internationalen Währungsfonds. In Luxemburg haben der Europäische Gerichtshof, die Europäische Investitionsbank und der Europäische Rechnungshof ihren Sitz. Auf seinem Staatsterritorium von 2.586 Quadratkilometern leben etwa 450.000 Einwohner, von denen jeder Dritte nicht aus Luxemburg stammt. Darüber hinaus arbeiten etwa 100.000 Bewohner der französischen, belgischen und deutschen Grenzregionen in Luxemburg, das mit seinem Angebot an gut bezahlten Arbeitsplätzen eine große Anziehungskraft ausübt. Das Bruttoinlandsprodukt des Landes beträgt zwar nur etwa ein Zehntel des Umfangs der Volkswirtschaft Österreichs (siehe Tabelle 6). Doch pro Einwohner gerechnet liegt es fast doppelt so hoch wie in Deutschland und hält die Spitzenposition in Europa. Tab. 6: Die luxemburgische Volkswirtschaft im internationalen Vergleich (2002) Land Luxemburg USA Irland
Bruttoinlandsprodukt in Milliarden Euro 22
BIP pro Einwohner 45.380
11.048
33.010
128
29.850
Schweiz
284
28.050
Österreich
217
26.450
2.108
24.630
Deutschland
Quelle: www.statec.lu (13.11.2004)
DER FINANZPLATZ LUXEMBURG
155
Die Förderung des Finanzplatzes ist unbestrittenes politisches Ziel jener drei großen Parteien, die seit dem Krieg in wechselnden Koalitionen die Regierungen Luxemburgs bilden. Die luxemburgischen Politiker nutzen diese politische Stabilität ebenso aktiv als Werbeargument für den Finanzplatz wie die Verbände der Banken und Investmentgesellschaften.23 Die einhellige Unterstützung des Finanzplatzes durch die maßgeblichen politischen Parteien ist auch fiskalpolitisch begründet. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Dynamik ist der Finanzsektor, trotz einer für die Unternehmen und Anleger attraktiven Steuergesetzgebung, eine tragende Säule des luxemburgischen Staatshaushalts: Allein das Ertragssteueraufkommen der Banken machte 2002 über zehn Prozent der luxemburgischen Staatseinnahmen aus. Im Jahr 2000 waren es sogar noch 16 Prozent gewesen. 1990 betrug die Steuer auf die Einkommen von Gesellschaften24 40 Prozent. Bis 1998 wurde sie allerdings auf 30 Prozent gesenkt. Ein Viertel des Mehrwertsteueraufkommens Luxemburgs stammt aus den Taxes d’abonnement der Holdings und Investmentfonds. Etwa ein Viertel des gesamten Lohnsteueraufkommens floss aus dem Finanzsektor. 1998 lag sein Anteil an den gesamten Staatseinnahmen bei etwa 30 Prozent.25 Früh hatte die luxemburgische Politik die Notwendigkeit einer Finanzaufsicht erkannt und bereits 1945 ein Kommissariat für die Kontrolle der Banken eingerichtet. Dessen erster Leiter, der spätere Finanz- und Premierminister Pierre Werner, war der entscheidende politisch-strategische Kopf, der bis in die 1970er Jahre hinein zielstrebig an der Verbesserung der politischen und rechtlichen Voraussetzungen für den Ausbau des Finanzplatzes arbeitete.26 Noch heute führt die Commission de Surveillance du Secteur Financier (CSSF) die Aufsicht über den Finanzsektor des Landes und überwacht die Berichterstattung der Firmen an die Zentralbank. Vorläufer der 1999 anlässlich der Einführung des Euro gegründeten Banque Centrale du Luxembourg (BCL) war das Institut Monétaire luxembourgeois (IML).27 Die professionelle Finanzaufsicht und die rasche und konzertierte Reaktion von Politik, Verwaltung und Wirtschaft auf veränderte wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen haben wesentlich zur Entwicklung des Finanzplatzes Luxemburg beigetragen. Der Finanzsektor hat für die luxemburgische Volkswirtschaft eine herausragende Bedeutung. Dies zeigt allein schon die Tatsache, dass in den letzten Jahren zwischen 11 und über 13 Prozent der abhängig Beschäftigten im Finanzsektor arbeiteten (siehe Tabelle 7).
156
NORBERT FRANZ
Tab. 7: Anteil des Finanzsektors an den abhängig Beschäftigten Luxemburgs Sektor
1995
2002
Finanzdienstleistungen
11,1%
12,3%
Immobiliendienstleistungen
9,6%
15,9%
Sonstige Dienstleistungen
23,0%
22,3%
Bauwirtschaft
11,6%
10,1%
Bergbau und Industrie
16,6%
12,6%
7,5%
8,6%
Transport und Kommunikation Land und Forstwirtschaft Rest Abhängige Beschäftigte
0,6%
0,4%
20,0%
17,8%
197.500
268.800
Quelle: www.statec.lu (13.11.2004)
Noch ausgeprägter ist die starke Stellung des Finanzsektors bei der Wertschöpfung der luxemburgischen Wirtschaft. Schon 1985 hatte er mit gut 19 Prozent den größten Anteil aller Wirtschaftssektoren. 2002 waren es bereits über 22 Prozent und die neuesten Zahlen zeigen, dass sich dieser Trend noch immer fortsetzt (siehe Tabelle 8). Der Finanzsektor ist für den hohen Dienstleistungsüberschuss des Landes verantwortlich. Er gleicht das Handelsbilanzdefizit Luxemburgs aus und sorgt für eine positive Leistungsbilanz.28 Tab. 8: Anteil des Finanzsektors an der Wertschöpfung der Wirtschaft Luxemburgs Sektor
1985
2002
Finanzdienstleistungen
19,1%
22,3%
Immobiliendienstleistungen
18,2%
17,0%
Sonstige Dienstleistungen
17,8%
15,2%
Bauwirtschaft
6,7%
6,1%
Bergbau und Industrie
16,0%
11,9%
Transport und Kommunikation
3,8%
11,9%
Land und Forstwirtschaft
1,4%
0,6%
Rest
17,0%
15,0%
Quelle: Rapport Annuel de la Banque Centrale du Luxembourg, 2003, S. 36
DER FINANZPLATZ LUXEMBURG
157
Historische Entwicklung des Finanzplatzes Luxemburg Wichtigste Voraussetzung für die Möglichkeit der luxemburgischen Politik, ausländische Banken und Investoren durch günstige rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen an den Finanzstandort Luxemburg zu binden, war und ist die nationale Unabhängigkeit des Großherzogtums. Die Souveränität des Landes wurde 1839 von den fünf Großmächten Europas offiziell anerkannt und garantiert. Nachdem sie in zwei Weltkriegen von einer dieser Garantiemächte – Deutschland – durch die Besetzung des Landes massiv verletzt worden war, ist sie seit 1945 durch die Einbindung Luxemburgs in NATO und europäische Gemeinschaften gesichert.29 Nun konnte Luxemburg die Vorteile eines Kleinstaates nutzen: kurze Wege und rasche Entscheidungen, die von den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft herbeigeführt wurden, sowie die Möglichkeit, auf das Arbeitskräfteangebot der europäischen Nachbarn und auf zahlreiche Arbeitsmigranten – zunächst aus Italien, später vor allem aus Portugal – zuzugreifen. Bereits im 18. Jahrhundert und früher, bis zum Beitritt Luxemburgs zum preußischen Zollverein im Jahre 1842, tätigten in der agrarisch geprägten Wirtschaft des Landes vor allem wohlhabende Geschäftsleute gleichsam nebenbei Bankgeschäfte. Seit 1835 bestand die Bank Joseph Tschiderer in Diekirch, 1843 wurde das Handlungshaus Wagner und Schoemann im Bankgeschäft aktiv, und als drittes frühes luxemburgisches Bankhaus bestand die Firma der Familie Pescatore. Weiter traten vor allem Notare und die Vermögensverwaltungen wohltätiger und religiöser Stiftungen als Kreditgeber auf. Im Jahre 1856 war eine wahre Bankengründungswelle zu verzeichnen, mit der Banque Internationale à Luxembourg, der Caisse d’Epargne, der Banque François Krewinckel, die die Geschäfte der Pescatore-Bank fortführte, und dem Bankhaus Werling. 1866 kamen die Caisse commerciale et industrielle François Berger und 1874 die Banque Antoine Fehlen hinzu.30 Im frühen 20. Jahrhundert wurden wichtige rechtliche Grundlagen des Finanzplatzes gelegt, gleichzeitig verschob sich die nationale Herkunft der Kapitalien. Nachdem 1915 ein Gesetz die Möglichkeit zur Ansiedlung von Finanzbeteiligungsgesellschaften eröffnet hatte, gewann nach dem Ersten Weltkrieg belgisches und französisches Kapital Einfluss in Luxemburg, während sich deutsche Anleger aus Industrie und Bankgewerbe zurückzogen. 1929 wurde die Finanzinfrastruktur des Landes durch die Gründung der Börse und die Verabschiedung des Holdinggesetzes ausgebaut.31 Die Entwicklung des Finanzsektors in Luxemburg nach dem Zweiten Weltkrieg ist eng verbunden mit der Karriere von Pierre Werner. Seit 1945 war er Commissaire au Contrôle des Banques (1945– 1953), seit 1954 Finanzminister und von 1959 bis 1974 Premierminister Luxemburgs. 1945 waren neun Banken in Luxemburg tätig. Nach 1949 ließen sich vor allem US-amerikanische Kreditinstitute im Großherzogtum
158
NORBERT FRANZ
nieder. Anfang der 1960er Jahre wurden die in Luxemburg niedergelassenen Banken zunehmend im Euromarkt aktiv. Bis 1967 wuchs ihre Zahl auf 26 Institute. Die Eröffnung eines Tochterinstituts der Dresdner Bank in diesem Jahr stand am Beginn einer Gründungswelle deutscher Banken im Großherzogtum. Ausschlaggebend für die Wahl Luxemburgs als Geschäftsstandort war die Möglichkeit, den damals in Deutschland sehr hohen Anforderungen hinsichtlich der Mindestrelation zwischen Eigenkapital und gewährten Darlehen sowie der Hinterlegung einer Mindestreserve bei der Deutschen Bundesbank zu entgehen.32 Bis 1974 stieg die Zahl der in Luxemburg niedergelassenen Banken auf 83. Ihr Geschäftsvolumen wuchs im Zuge der Expansion der Euromärkte rasch an, bis Mitte der 1970er Jahre Ölkrise und Herstatt-Affäre einen spürbaren Rückschlag für die Entwicklung brachten. Doch in den späten 1970er Jahren hatte der Luxemburger Finanzplatz erneut einen erheblichen Anteil an der anhaltend starken Expansion der Eurokreditmärkte. Sein Marktanteil lag hier Ende 1980 mit rund 13 Prozent nach London an zweiter Stelle in Europa. In dieser Zeit profitierten die Euromärkte von einer erheblichen Ausweitung des Welthandels, von Investitionsvorhaben in den Entwicklungs- und Schwellenländern sowie von den hohen US-amerikanischen Leistungsbilanzdefiziten.33 Vor dem Hintergrund dirigistischer Maßnahmen in einigen wichtigen Staaten, mit der Interest Equalization Tax in den USA, der Bardepotregelung in der Bundesrepublik Deutschland sowie den Strafzinsen auf Devisenzuflüsse in der Schweiz, übernahm der Euromarkt teilweise die Rolle der nationalen Finanzmärkte. Die Luxemburger Banken waren vor allem im Eurokredit- und Eurogeldgeschäft aktiv. Luxemburg diente als Umschlagplatz für den Handel mit allen konvertierbaren Währungen: Dabei wurden den Schuldnern kurzfristige, später immer häufiger auch Kredite mit mittleren und längeren Laufzeiten gewährt, die mit kurzfristigen Geldmarktmitteln refinanziert wurden.34 Beeinflusst wurden die Marktentwicklungen jedoch durch die verstärkten Bemühungen der Zentralbanken, die Märkte transparenter und kontrollierbarer zu machen. Forderungen der Deutschen Bundesbank an die Tochterinstitute deutscher Banken in Luxemburg, über ihre mehr als fünfzigprozentigen Beteiligungen im Ausland detailliert zu berichten, scheiterten allerdings am Widerstand der Banken und der luxemburgischen Regierung. Lediglich die Übermittlung von Informationen sehr allgemeiner Art wurde schließlich zugestanden.35 Bereits 1970 war mit der Gründung der Centrale de Livraison des Valeurs Mobilières (CEDEL), der Vorläuferorganisation von Clearstream, die Infrastruktur des Finanzplatzes weiter verbessert worden. CEDEL investierte massiv in seine informationstechnologische Ausstattung und verschaffte sich auf diese Weise eine führende Position in Europa.36
DER FINANZPLATZ LUXEMBURG
159
Nachdem sich der Aufschwung des Euro-Marktes bis 1983 fortgesetzt hatte, waren die Jahre 1983 bis 1988 von massiven Entschuldungsproblemen wichtiger Entwicklungsländer geprägt. Die luxemburgische Regierung bewältigte die Folgen der Schuldenkrise für den Finanzplatz, indem sie erhebliche Wertberichtigungen der Banken auf Länderrisiken akzeptierte. Die daraus folgenden Steuerausfälle führten zu einer Krise des luxemburgischen Staatshaushalts.37 Luxemburg suchte und fand neue Marktlücken im Privatkunden- und im Investmentfondsgeschäft. Dabei gab ein bereits 1981 verabschiedetes Gesetz, welches das traditionelle Berufsgeheimnis der Banken zu einem Bankgeheimnis nach schweizerischem Vorbild aufwertete, dem Finanzplatz neue Impulse.38 Im Jahre 1983 wurde die gesetzliche Grundlage der Investmentfonds, der Organismes de placement collectif (OPC), reformiert. Investmentfonds waren bereits seit 1959 im Großherzogtum aktiv. 1972 bestanden in Luxemburg 90 Fonds mit einem Volumen von umgerechnet rund sechs Milliarden DM.39 Die neu geschaffenen Möglichkeiten der Banken im internationalen Privatkunden- und Firmengeschäft veränderten den Charakter des Finanzplatzes erheblich: Hatte sich das Eurokreditgeschäft im Jahre 1982 noch zu 80 Prozent aus dem Geldhandel finanziert, war dieser Anteil zehn Jahre später auf etwa die Hälfte des Geschäftsvolumens der Banken gesunken. Der Anteil des Privatkunden- und Firmengeschäfts lag somit in Luxemburg mit 50 Prozent deutlich über dem internationalen Durchschnitt, den die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich damals mit 20 Prozent angab.40 Auch das zweite neu erschlossene Finanzmarktsegment – die Investmentfonds – entwickelte sich in Luxemburg zu dieser Zeit sehr dynamisch. Nachdem 1988 die Direktiven der Europäischen Gemeinschaft aus dem Jahre 1985 umgesetzt worden waren, die den Fondgesellschaften weitere flexible Anlagemöglichkeiten verschafften, belebte sich der Investmentfondsmarkt ganz erheblich. Die im Vergleich zu den europäischen Partnern sehr zügige Umsetzung der EG-Richtlinie verschaffte dem Finanzplatz Luxemburg einen überaus bedeutsamen Vorsprung vor seinen Wettbewerbern. Darüber hinaus bot dieser Standort die besten Möglichkeiten für das EG-weite Investmentfondsgeschäft.41 Anfang der 1990er Jahre hatte sich der Finanzplatz Luxemburg von einem einseitig ausgerichteten Euro-Zentrum zu dem nach London zweitwichtigsten internationalen Finanzplatz Europas entwickelt. Die entscheidenden Voraussetzungen hierfür waren die rechtlich-politischen Rahmenbedingungen, die sehr kurzfristig an wechselnde Bedingungen angepasst wurden, die Bankenaufsicht und die Infrastruktur. Die Wiedereinführung der Quellensteuer in Deutschland im Jahre 1992 führte zu einer weiteren Welle von Neuansiedelungen deutscher Banken in Luxemburg. In den folgenden Jahren wurde die luxemburgische Finanzgesetzgebung weiter ange-
160
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passt und es wurden neue Finanzprodukte eingeführt. Weitere Impulse gingen von dem Bankengesetz des Jahres 1993 aus, durch das die spezifische Schweigepflicht der Bankiers, das Bankgeheimnis nach Schweizer Vorbild, bestätigt wurde.42 Angesichts des fortschreitenden rechtlichen Nivellierungsprozesses innerhalb der Europäischen Union und darüber hinaus gehender internationaler Abmachungen, wie etwa den Richtlinien des Ausschusses für Finanzaufsicht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel (»Basel I und II«), sucht die nationale Gesetzgebung Luxemburgs nach neuen Möglichkeiten, die Attraktivität des Standorts zu verbessern. Die aktuellen Stärken des Finanzplatzes liegen in der erweiterten Produktpalette an Finanzdienstleistungen und im Beharren der luxemburgischen Regierung auf der Erhaltung des Bankgeheimnisses gegenüber ihren europäischen Partnern. 2003 wurde der Kreis jener im Finanzsektor tätigen Personen und Firmen, die von der luxemburgischen Finanzaufsicht überwacht werden, erheblich erweitert, um den Schutz vertraulicher Kundeninformationen zu gewährleisten.43 Überdies scheint der Rückschlag kurz nach der Jahrtausendwende überwunden: Geschäftsvolumen wie Ergebnisse verbessern sich wieder.44
Schluss Wie andere »Finanzdrehscheiben« entstand der Finanzplatz Luxemburg aus einer weltwirtschaftlichen Konstellation heraus, in der aus dem Ölgeschäft stammende Überschüsse in Form von Darlehen unterschiedlichster Art in Entwicklungs- und Schwellenländern oder für den Ausgleich der Haushaltsdefizite der wichtigsten Industriestaaten investiert wurden. Luxemburg bot sich Banken, die den Regulierungsversuchen dieser Staaten ausweichen wollten, als günstiger Standort zur Abwicklung dieser »Eurodollar«-Geschäfte an. Als dieses Geschäftsfeld sich krisenhaft entwickelte, eröffnete die luxemburgische Politik dem Finanzstandort neue Betätigungsfelder im Privatkundengeschäft. In seiner jüngsten Entwicklungsphase wurde der Luxemburger Finanzplatz zu einem der weltweit bedeutendsten Standorte für Investmentfonds und verbesserte gleichzeitig Qualität und Auswahl der angebotenen Finanzdienstleitungen. Die von vielfältigen kulturellen Einflüssen geprägte Gesellschaft des Großherzogtums bot Anbietern und Nachfragern dieser Dienstleistungen Gesprächspartner, mit denen sie sich in einer gemeinsamen Sprache – Französisch, Englisch oder Deutsch – verständigen konnten. Hinzu kamen günstige rechtliche Rahmenbedingungen für die Abwicklung ihrer Geschäfte, bei hoher Rechtssicherheit und verlässlichem sozialen Frieden in der luxemburgischen Gesellschaft. Die Finanzinstitute profitierten von einer vergleichsweise moderaten Unternehmensbesteuerung, von
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dem strikten Bankgeheimnis, den geringen Mindestreserveanforderungen und der Flexibilität bei der Abwicklung von Bankgeschäften, die den zurückhaltenden Regulierungsmaßnahmen des luxemburgischen Gesetzgebers zu verdanken war. Dieser rechtliche Rahmen wurde veränderten politischen und weltwirtschaftlichen Bedingungen immer wieder sehr kurzfristig angepasst. Grundlegende Voraussetzung für diese überaus flexible Zusammenarbeit von Gesetzgeber und Experten des Finanzsektors bei der Entwicklung eines vielfältigen Angebots von Finanzdienstleistungen war und ist die Souveränität des Landes. Erst seitdem die nationale Souveränität Luxemburgs dank seiner Mitgliedschaft in NATO und Europäischen Gemeinschaften unangefochten blieb, konnte sich der Finanzplatz erfolgreich entwickeln. Entscheidend war allerdings der politische Wille aller maßgeblichen politischen Kräfte des Landes, nationale Souveränität und Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften für den Aufbau und die Erhaltung des Finanzplatzes zu nutzen. Für die Entstehung, den Aufbau und die Weiterexistenz des Finanzplatzes Luxemburg waren also sehr verschiedenartige Einflussfaktoren verantwortlich: ökonomische Bedürfnisse von weltwirtschaftlicher Tragweite, der europäische Friedens- und Einigungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg und der nachhaltige politische Wille der maßgeblichen Kräfte im Lande selbst. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser historischen Skizze sind einige kritische Bemerkungen zu der Verwendung der Bezeichnung »Offshore-Finanzzentrum« für den Finanzplatz Luxemburg unvermeidlich. Die Verwendung dieses Begriffs ist problematisch, da er in der öffentlichen Diskussion anders gebraucht wird als in den Diskursen der Rechts-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften. So wandte sich jüngst der Generaldirektor der luxemburgischen Finanzaufsichtsbehörde, Jean-Nicolas Schaus, ausdrücklich gegen die Klassifizierung Luxemburgs als »Offshore-Finanzzentrum«: »Luxemburg ist also nie ein Offshore-Zentrum gewesen, weil es sich nie als Zufluchtsort vor fiskalischen und reglementarischen Zwängen entwickelt hat – genau so wie es nie ein Onshore-Zentrum sein wird wie die anderen Finanzzentren, weil es stets von fremden Kapitalien abhängen wird. Doch das Wettbewerbsumfeld des Finanzplatzes ändert sich. Auf dem globalen Markt, der sich herausbildet, werden die Unterschiede zwischen den Finanzplätzen immer weniger auf die reglementarischen Aspekte und immer stärker auf die Mannigfaltigkeit und Qualität der dort angebotenen Dienste zurückzuführen sein.«45 Schaus’ Beschreibung der Rolle des Finanzplatzes Luxemburg entspricht einerseits sehr genau jener weit gefassten und vor allem auf ökonomische Kriterien fokussierenden Definition der Offshore-Funktion eines Finanzzentrums, die von der jüngeren Forschung verwendet wird. Dieser Definition zufolge sind solche Finanzplätze offshore, deren eigene Volkswirtschaften von den bewegten Kapitalien kaum berührt werden. Sie üben im Wesentlichen eine Schalt- und Vermittlerrolle, eine »Drehscheiben«-Funktion auf den internationalen und globalen Kapitalmärkten aus,
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indem sie Geschäfte zwischen Einlegern, Kreditnehmern und Anlegern vermitteln, die nicht am Finanzplatz selbst ansässig sind.46 Andererseits beweist Schaus’ Stellungnahme, dass der Diskussionsstand der beteiligten Wissenschaftsdisziplinen, hier die werturteilsfrei gedachte Definition von Offshore-Finanzplatz, bei den maßgeblichen Akteuren in Verwaltung und Wirtschaft nicht ankommt. Dies ist nur scheinbar ein reines Kommunikationsproblem. Denn Schaus wendet sich so energisch gegen die Verwendung dieses Begriffs, weil die Bezeichnung Offshore-Finanzplatz in den öffentlichen Debatten mit Steuerflucht und Geldwäsche verknüpft wird. Dies ist nicht zuletzt auf den Internationalen Währungsfonds und die Bank für internationalen Zahlungsausgleich zurückzuführen, die unlängst Steueroasen als offshore financial centers bezeichneten.47 Dass Forscher diesen Terminus anders benutzen, ist ihr gutes Recht. Doch fließt dabei – wie gezeigt – die auch von offiziöser Seite gebrauchte umgangssprachliche Bedeutung »Steueroase« mit ein. Dies gilt nicht nur für die öffentliche Debatte über aktuelle Forschungsergebnisse, sondern auch für die innerwissenschaftlichen Diskurse. Der inzwischen allzu aufgeweichte Fachterminus wird auf diese Weise selbst zu einem Problem für die Forscher. Er stiftet Verwirrung, statt Klarheit. Daher sollte aus Gründen wissenschaftssprachlicher Präzision der Begriff Offshore-Finanzplatz für Luxemburg nicht verwendet werden. Luxemburg ist zweifellos eine »Finanzdrehscheibe« und ein »internationales Finanzdienstleistungszentrum«. Diese Begriffe beschreiben den derzeitigen Stand der Forschung präzise. Sie vermitteln ihn Laien wie Fachwissenschaftern unmittelbar und anschaulich. Sie werden bereits häufig benutzt. Und in das Englische übersetzt, die lingua franca des Globalisierungszeitalters, sind sie auch international verständlich.
Anmerkungen 1 Trausch, Gilbert/Vreese, Marianne De, Luxembourg et les banques. De la révolution industrielle au 7e centre financier mondial, Luxembourg 1997 (2. Auflage). An dieser Stelle sei Frau Violaine Ulveling von der Bibliothek der Luxemburgischen Zentralbank und dem Personal der Nationalbibliothek Luxemburg für ihre zuvorkommende Betreuung herzlich gedankt. 2 Santer, Jacques, »Vom Agrar- und Industriestaat zum Finanz- und Medienmekka. Das ›Luxemburger Modell‹ als Paradigma für Innovation durch Integration«, in: Kirt, Romain/ Meisch, Adrien (Hg.), Innovation – Integration. Festschrift für Pierre Werner. Mélanges pour Pierre Werner, Luxembourg 1993, S. 19–32, hier S. 20; Werner, Pierre, »Eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen«, in: Luxemburger Wort vom 26. April 1996, Sonderbeilage, S. 1; Juncker, JeanClaude, Interview, ebenda, S. 3 und 5.
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3 Storck, Ekkehard, Euromarkt: Finanz-Drehscheibe der Welt, Stuttgart 1995; Ders., »Banker in Luxemburg – Innenansichten eines ›Betroffenen‹«, in: Kirt/Meisch (Hg.), Innovation [wie Anm. 1], S. 83–90 (in dieser Festschrift finden sich zahlreiche weitere Beiträge zur Geschichte des Finanzplatzes); Wagner, Yves, »Le développement de la place financière luxembourgeoise depuis les années 60«, in: Trausch, Gilbert (Hg.), Belgique–Luxembourg 1919–1994. Veröffentlichung zum 75. Jubiläum der Banque Générale du Luxembourg, Luxembourg 1995, S. 249– 267 ; Meyers, Paul, La Place financière à l’aube du XXIème siècle, Luxembourg 1999. 4 So etwa Israel, Edmond, Luxembourg, un centre bancaire international. Historique et réalité d’aujourd’hui et de demain, Luxembourg 1982 ; Ders., Vivre une place financière, Luxembourg 1998. 5 Früh, Bernhard, »Strategische Positionierung des Finanzplatzes Luxemburg. Ansatz einer Bewertung für Kerngeschäftsfelder deutscher Finanzinstitute in Luxemburg«, in: Kötzle, Alfred (Hg.), Strategisches Management. Theoretische Ansätze, Instrumente und Anwendungskonzepte für Dienstleistungsunternehmen, Stuttgart 1997, S. 157–192; Bundrock, Jörg-Peter (PricewaterhouseCoopers), Auswertung der Jahresabschlüsse 2003 der deutschen Eurobanken in Luxemburg. Eine Mehrjahresauswertung, Luxemburg 2003. Exemplarisch für die Fachpublikationen der Anlageberatungsdienstleister: FERI Fund Market Information, european fund market, data digest 2004, London 2004. 6 Trausch/De Vreese, Banques [wie Anm. 1]. Zur frühen Banken- und Geldgeschichte Luxemburgs: Margue, Paul, »Crédit et monnaie en Luxembourg à l’époque du Zollverein (1842– 1918)«, in: Trausch, Gilbert (Hg.), Belgique-Luxembourg. Les relations belgo-luxembourgeoises et la Banque Générale du Luxembourg (1919–1994), Luxembourg 1995, S. 37–55. 7 Bauler, André, Les fruits de la souveraineté nationale. Essai sur le développement de l’économie luxembourgeoise de 1815 à 1999: une vue institutionelle, Luxembourg 2001. 8 Palan, Ronen, The Offshore World. Sovereign Markets, Virtual Places, and Nomad Millionaires, Ithaca/ London 2003. 9 Meier, Ulrich, Struktur ausländischer Bankensysteme, Frankfurt a.M. 1997; Kauffman, Jacques, Das Berufsgeheimnis des Bankiers im Luxemburger Recht, Luxemburg 1996. 10 Fandel, Jean-Marc, Les centres financiers internationaux, un nouveau cadre d´analyes: application au cas de la place financière du Luxembourg, Diss. Universität Lausanne 1993; Bodé, Martine, Ein Vergleich der Attraktivität Luxemburgs und der Schweiz für Banken, Diplomarbeit an der Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften St. Gallen 1994 (MS); Voß, Rüdiger, Die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Offshore-Finanzzentren. Ein Vergleich der rechtlichen Standortkonditionen von Guernsey und Luxemburg aus der Sicht der Finanzunternehmen, Berlin 2000. 11 Association Luxembourgeoise des Fonds d’Investissement (ALFI) (vgl. www.alfi.lu, 10. November 2004). 12 Association des Banques et Banquiers Luxembourg (ABBL), Jahresbericht 2003 vom 15. März 2004 (vgl. www.abbl.lu, 12. November 2004). 13 Ebenda. Sie wurde 1939 gegründet (Israel, Place financière [wie Anm. 4], S. 25). 14 Association des Banques et Banquiers Luxembourg (ABBL), nach Angaben der luxemburgischen Zentralbank (vgl. www.abbl.lu, 12. November 2004). 15 Association des Banques et Banquiers Luxembourg (ABBL), nach Angaben der luxemburgischen Zentralbank (vgl. www.abbl.lu, 12. November 2004); STATEC (vgl. www.statec.lu, 12. November 2004). Eigene Berechnungen aus diesen Daten. 16 Association Luxembourgeoise des Fonds d’Investissement (ALFI) (vgl. www.alfi.lu, 12. November 2004).
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17 Ebenda. 18 Luxemburgisches Amt für Statistik (STATEC) (vgl. www.statec.lu, 15. November 2004). 19 Ebenda. Zur luxemburgischen Holdinggesetzgebung: Meier, Bankensysteme [wie Anm. 9], S. 22–26. Die luxemburgischen Holdings sind von allen direkten Steuern befreit und zahlen lediglich eine Einlagegebühr von 1 Prozent des Wertes der Einlagen bei Gründung oder Kapitalerhöhung der Holding, eine jährliche Abonnementsgebühr von 0,2 Prozent auf den Wert der Aktien und Obligationen. Dividenden und Zinsen sind steuerfrei (ebd., S. 24). 20 Association des Banques et Banquiers Luxembourg (ABBL) (vgl. www.abbl.lu, 15. November 2004); Meier, Bankensysteme [wie Anm. 9], S. 133–140. 21 Association des Banques et Banquiers Luxembourg (ABBL) (vgl. www.abbl.lu, 15. November 2004). 22 Ebenda. 23 Association des Banques et Banquiers Luxembourg (ABBL) (dazu: www.abbl.lu, 15. November 2004). 24 Impôt sur le revenu des collectivités (IRC). 25 Bauler, Fruits [wie Anm. 7], S. 247 und 262; Luxemburgisches Amt für Statistik (www.statec. lu, 15. November 2004). Gewinn- und Verlustrechnung der in Luxemburg tätigen Banken (in Millionen Euro): Association des Banques et Banquiers Luxembourg (ABBL), nach Angaben der Luxemburgischen Zentralbank (vgl. www.abbl.lu, 15. November 2004). 26 Storck, Banker [wie Anm. 3], S. 84. 27 Loi du 22 avril 1998 portant modification des lois relatives à l’IML et au statut monétaire du grand-duché de Luxembourg ; Loi du 23 décembre 1998 relative au statut monétaire et à la Banque centrale du Luxembourg; Bauler, Fruits [wie Anm. 7], S. 299. 28 Association des Banques et Banquiers Luxembourg (ABBL) (vgl. www.abbl.lu, 16. November 2004). 29 Trausch/De Vreese, Banques [wie Anm. 1]. 30 Margue, Crédit et monnaie [wie Anm. 6], S. 37–40; Trausch/De Vreese, Banques [wie Anm. 1], S. 16, 20 – 23. Die rege Vergabe von Krediten durch die Vermögensverwaltungen der lokalen Kirchen sowie der Bureaux de Bienfaisance zeigt auch die laufende Arbeit des Autors zur Verwaltungstätigkeit ländlicher Gemeinden in Luxemburg und Frankreich. 31 Trausch/De Vreese, Banques [wie Anm. 1], S. 37–40; Israel, Centre bancaire [wie Anm. 4], S. 5f. 32 Ruppert, Charles, »La place financière de Luxembourg: rétrospectives et perspectives«, in: Kirt/Meisch (Hg.), Innovation [wie Anm. 2], S. 83–90, hier S. 114f. 33 Ebenda, S. 115; Storck, Banker [wie Anm. 3], S. 85f. 34 »Roll-over-Modell«. Dazu: Storck, Banker [wie Anm. 3], S. 84; Israel, Place financière [wie Anm. 4], S. 16. 35 Storck, Banker [wie Anm. 3], S. 85. 36 Meier, Bankensysteme [wie Anm. 9], S. 140 – 145; Israel, Edmond, »Die Infrastruktur des Eurobondmarktes in Luxemburg«, Luxemburger Wort, Jg. 130 (1977), Nr. 207, S. 19; Association des Banques et Banquiers Luxembourg (ABBL) (vgl. www.abbl.lu, 17. November 2004). 37 Storck, Banker [wie Anm. 3], S. 87. 38 Ruppert, Place financière [wie Anm. 32], S. 116; Storck, Banker [wie Anm. 3], S. 88. 39 Bauler, Fruits [wie Anm. 7], S. 268f., 298; Ruppert, Place financière [wie Anm. 32], S. 115; Früh, Strategische Positionierung [wie Anm. 5], S. 160; Storck, Banker [wie Anm. 3], S. 84, 88f.
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40 Storck, Banker [wie Anm. 3], S. 88f. 41 Früh, Strategische Positionierung [wie Anm. 5], S. 161; Israel, Place financière [wie Anm. 4], S. 21; Ruppert, Place financière [wie Anm. 32], S. 117; Storck, Banker [wie Anm. 3], S. 88f. 42 Loi du 5 avril 1993 relative au secteur financier, Mémorial du Grand-Duché de Luxembourg, 1993, S. 470, geändert in den Jahren 1994, 1996, 1997 und 1998; Loi du 21 novembre 1997 relative aux banques d’émissions de lettres de gage; Loi du 8 juin 1999 créant les fonds de pension sous forme de sociétés d’épargne-pension à capital variable (sepcav) et d’association d’épargne-pension (assep); Loi du 8 juin 1999 relative aux régimes complémentaires de pension; Bauler, Fruits [wie Anm. 7], S. 299; Früh, Strategische Positionierung [wie Anm. 5], S. 163. 43 Loi du 22 août 2003; Commission de Surveillance du Secteur Financier, Rapport d’Activités, 2003, S. 100 – 115. 44 Meyers, Place financière [wie Anm. 3], S. 13–15; AGEFI Luxembourg, Nr. 8/172 (September 2004), S. 1f.; vgl. auch die neuesten Zahlenangaben der ABBL (www.abbl.lu, 17. November 2004). 45 Schaus, Jean-Nicolas, Préface, in: Commission de Surveillance du Secteur Financier, Rapport d’Activités, 2003, S. 5. Zitat ebenda (aus dem Französischen übersetzt). 46 Voß, Wettbewerbsfähigkeit [wie Anm. 10], S. 29–35. 47 Hier sind Staaten und Gebiete mit besonderem Rechtsstatus gemeint, wie die Bahamas, die Cayman Islands, Guernsey, Hongkong, die niederländischen Antillen, Panama oder Singapur, die ausländische Kapitalien durch besonders geringe steuerliche Belastungen oder gar völlige Steuerfreiheit ins Land ziehen. Luxemburg wurde dagegen in diesem Zusammenhang ebenso wenig genannt wie das weltweit bedeutendste Offshore-Zentrum, die Londoner City (vgl. Palan, Offshore World [wie Anm. 8], S. 18f.).
Der Finanzplatz Liechtenstein: Zürichs attraktive Außenstelle Christoph Maria Merki
Einleitung: Wie aus einem armen Ländchen ein wohlhabender Mikrostaat wurde Die Wirtschaft des Fürstentums Liechtenstein modernisierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einem atemberaubenden Tempo. Aus dem armen Ländchen wurde in wenigen Jahrzehnten ein prosperierender Mikrostaat. Noch in den 1920er Jahren war die Wertschöpfung Liechtensteins pro Kopf der Bevölkerung rund 30 Prozent niedriger als im Nachbarland Schweiz. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre verwandelte sich dieser Rückstand in einen Vorsprung. Im Jahr 2000 war die liechtensteinische Arbeitsproduktivität 40 Prozent höher als die im internationalen Vergleich ebenfalls herausragende schweizerische. Bis in die Zwischenkriegszeit hinein mussten arme Liechtensteiner im Ausland Arbeit suchen. Mittlerweile ist die Situation umgekehrt. Als regionaler Wachstumspol zieht Liechtenstein viele Arbeitskräfte aus der näheren und weiteren Umgebung an. Das Land zählt heute 34.000 Einwohner, verfügt aber über rund 29.000 Arbeitsplätze. Bei der Arbeit sind die Einheimischen in der Minderheit. Zwei von drei Arbeitskräften besitzen einen ausländischen Pass. Die meisten dieser Ausländer pendeln Tag für Tag aus den Nachbarstaaten Schweiz und Österreich zu.1 Das phänomenale Wirtschaftswachstum ging Hand in Hand mit einem grundlegenden Umbau der Wirtschaftsstruktur. Die Landwirtschaft, welche die liechtensteinische Wirtschaft bis in die 1930er Jahre geprägt hatte, wurde zu einem Randphänomen. An ihre Stelle traten zwei andere Sektoren: die Industrie und der Finanzdienstleistungssektor. Auf die Industrie und das warenproduzierende Gewerbe entfallen heutzutage etwa 45 Prozent aller Arbeitsplätze.2 In dem weit bekannteren Finanzdienstleistungssektor (Banken, Treuhänder, Versicherungen) finden nur etwa 15 Prozent aller Erwerbstätigen Arbeit. Diese vergleichsweise wenigen Beschäftigten sind aber ungemein produktiv. Sie erwirtschaften rund ein Drittel der gesamten Wertschöpfung Liechtensteins. In dem folgenden Aufsatz geht es um die Entstehung, Entwicklung und Bedeutung dieses Finanzdienstleistungssektors, den man heute pauschal und nicht ganz korrekt3 als »Finanzplatz« bezeichnet. Die An-
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fänge des Finanzplatzes Liechtenstein fallen in die 1920er Jahre. Damals wandte sich das Fürstentum von seinem langjährigen Partner Österreich ab, schloss mit der benachbarten Schweiz einen Zollvertrag und übernahm den Schweizer Franken als neue Währung. Deswegen und weil die Treuhänder Liechtensteins eng mit den Zürcher Banken zusammenarbeiten, kann man den Finanzplatz Liechtenstein als eine Art Außenstelle Zürichs betrachten. Bevor wir uns seiner Geschichte zuwenden, scheinen einige theoretische Überlegungen zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von Mikrostaaten angebracht. Kleinst- oder Mikrostaaten wie Liechtenstein, Luxemburg und Island gehören heute zu den ökonomisch erfolgreichsten Staaten überhaupt. Dieser Erfolg kann in der Regel nicht mit einer besseren Ressourcenausstattung erklärt werden, er hat andere Gründe. Zwei sind meines Erachtens entscheidend: das Outsourcing öffentlicher Güter und die Kommerzialisierung der Souveränität. Erstens. Klein(st)staaten produzieren nicht alle öffentlichen Güter selbst, sondern kaufen diese – oft zu einem sehr günstigen Preis – bei ihren Nachbarn ein. Sie machen das, was man bei Unternehmen als Outsourcing bezeichnet. So unterhält das Fürstentum Liechtenstein seit 1868 keine eigene Armee mehr und einen großen Teil seiner außenpolitischen Interessen vertritt seit 1920 die Schweiz. Liechtenstein schickt seine Studenten ins Ausland, es verlässt sich auf eine »fremde« Währung und es profitiert von der auf schweizerischem Boden gelegenen Autobahn. Die Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten kann informell erfolgen oder über Verträge geregelt sein und sie begünstigt nicht nur den Klein(st)staat selbst, sondern – je nach Aufgabe – auch seine Partner.4 Allerdings setzt das Outsourcing öffentlicher Güter Rahmenbedingungen voraus, die in einer rein gegenwartsorientierten Perspektive mitunter vergessen werden. Zentral ist vor allem eine Bedingung: Das liberale Außenhandelssystem, in dessen Rahmen die Delegation staatlicher Aufgaben in der Regel erfolgt, sollte möglichst spannungsfrei sein. Zweitens. Neben dem Outsourcing gibt es noch eine andere Möglichkeit, wie ein kleiner Staat aus seiner Not (der Kleinheit) eine Tugend (wirtschaftlichen Erfolg) machen kann. Er kann seine Existenz als Staat dazu benutzen, ausländischen Interessenten Dinge anzubieten, die in anderen Staaten nicht vorhanden oder dort sehr viel teurer sind: schöne Briefmarken, klingende Adelstitel, eine Rundfunkkonzession, erträgliche Steuern, die Staatsbürgerschaft. Er kann mit anderen Worten seine Souveränität kommerzialisieren.5 Ein besonders schlagendes Beispiel dafür sind die so genannten Finanzeinbürgerungen, mit denen der liechtensteinische Staat in der Zwischenkriegszeit seine leeren Kassen füllte.6 Der Verkauf des Bürgerrechts an Ausländer, die in ihren Heimatstaaten oft an Leib und Leben bedroht waren, machte in den 1930er Jahren gegen zehn Prozent aller Staatseinnahmen aus. Die umstrittene Praxis musste in den 1950er Jahren unter internationalem Druck fallengelassen werden. Langfristig am ertragreichsten und für die Geschichte des Finanz-
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platzes Liechtenstein wichtiger war etwas anderes: die Schaffung eines speziellen Steuer- und Gesellschaftsrechts in den 1920er Jahren. Dieses verwandelte Liechtenstein in ein attraktives Domizil für ausländische Kapitaleigner. Reiche Ausländer brachten ihr Geld fortan nach Liechtenstein und legten es steuergünstig in so genannten Sitzgesellschaften an. Über solche Gesellschaften ließen sich auch Handelsgeschäfte abwickeln. In Liechtenstein spricht man von dem »Gesellschaftswesen«, wenn man die Gesamtheit aller Holding- und Sitzunternehmen meint bzw. die Branche, die sich mit deren Gründung und Verwaltung befasst. Zum Schluss dieser Einleitung noch einige Bemerkungen zu der Quellen- und Literaturlage. Als Quellen kommen in erster Linie Unterlagen in Frage, die das liechtensteinische Landesarchiv in Vaduz aufbewahrt.7 Die wirklich spannenden Quellen bleiben dem Historiker in der Regel vorenthalten: jene Akten, die in den Archiven der Banken und Treuhänder liegen und die zum Beispiel über die Beziehungen mit den ausländischen Anlegern Auskunft geben könnten. Solche Unterlagen fallen unter das Bank- und Geschäftsgeheimnis und sind allenfalls einem kleinen Kreis Eingeweihter zugänglich. Die Treuhandbranche ist an der Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit nicht gerade heftig interessiert. Im wissensdurstigen Historiker sieht man schnell einen Schnüffler, der nur kritisieren und den Finanzplatz im Ausland diskreditieren will. Auch die Literaturlage ist unbefriedigend. Zwar gibt es viele juristische Untersuchungen zum liechtensteinischen Handels- bzw. Gesellschaftsrecht. Über die sozioökonomischen Auswirkungen rechtlicher Veränderungen wird jedoch kaum nachgedacht. Die Regierung hält viele Informationen unter Verschluss. So wird zum Beispiel die Zahl der liechtensteinischen Sitzunternehmen wie ein Staatsgeheimnis gehütet, seit das Gesellschaftswesen zu Beginn der 1930er Jahre erstmals unter ausländischen Druck geraten ist. Das verbreitete NichtWissen hat im übrigen Methode, ist es doch Ausdruck jener Anonymität, mit der ausländische Geschäftsleute in Liechtenstein seit jeher rechnen dürfen. All diesen Schwierigkeiten zum Trotz soll nun versucht werden, Licht in die Geschichte des Gesellschaftswesens zu bringen.
Die Gründerjahre – oder: Das Kapital auf der Flucht vor der Weltrevolution Die Anfänge des Finanzplatzes Liechtenstein wurzeln in der turbulenten Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg.8 Sowohl dem Staat als auch den privaten Haushalten drohte damals der Kollaps. Die Habsburgermonarchie, mit der Liechtenstein seit 1852 in einem Zoll- und Währungsvertrag verbunden war, hatte den Ersten Welt-
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krieg verloren und löste sich in ihre einzelnen Bestandteile auf. In den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie wütete eine Hyperinflation, die alle in Kronen angelegten Vermögen entwertete. 1919 kündigte das Fürstentum Liechtenstein den Handels- und Zollvertrag mit Österreich auf und orientierte sich neu Richtung Schweiz. Der Schweizer Franken trat in Liechtenstein seit 1917 nach und nach an die Stelle der österreichischen Krone, mehrere Jahre bevor die Schweiz 1924 mit dem Zollvertrag das Plazet zu seiner Übernahme gab.9 In Liechtenstein suchte man zu Beginn der 1920er Jahre nach Auswegen aus der wirtschaftlich desolaten Situation, insbesondere nach Investoren aus dem Ausland. Im August 1920 wurde zusätzlich zu der staatlichen Spar- und Leihkasse, der heutigen Landesbank, ein zweites Geldinstitut zugelassen: die Bank in Liechtenstein (BiL). Für die österreichischen, englischen und holländischen Investoren, die hinter der Gründung der BiL standen,10 ging es um die Rettung gefährdeter Vermögen aus dem zusammenbrechenden Kronenraum. Der Schweizer Franken galt ihnen als sicherer Hafen, weil er nicht durch Kriegsausgaben zerrüttet war. Damals hielt das Gespenst der kommunistischen Weltrevolution ganz Europa in Atem – einzig in Liechtenstein wurde es gar nicht erst hereingelassen. In der letzten deutschsprachigen Monarchie, die nach dem Ersten Weltkrieg übrig geblieben war, musste man sich als Investor nicht vor Sozialisierungsmaßnahmen fürchten. Bei der Bank in Liechtenstein fanden neben den Vermögen selbst auch die ersten Holdinggesellschaften Unterschlupf. Es handelte sich dabei um Unternehmen, die durch den Zerfall der Habsburgermonarchie auf mehrere Staaten zersplittert worden waren und die nun wieder unter einem gemeinsamen, liechtensteinischen Dach zusammengefasst werden konnten.11 Auch Steuererleichterungen spielten bei der Ansiedlung ausländisch kontrollierter Sitzunternehmen von Anfang an eine wichtige Rolle. Schon 1920 wurde die Möglichkeit der so genannten Pauschalierung geschaffen.12 Ausländisch beherrschte Gesellschaften, die in Liechtenstein selbst geschäftlich nicht aktiv werden durften, kamen fortan in den Genuss einer Sonderbehandlung. Der Steuerbetrag, den sie jährlich zu entrichten hatten, wurde auf Jahre hinaus festgelegt oder eben: pauschaliert.13 Die damit verbundene Planungssicherheit war viel wert in einer Zeit, in der sich die Steuerverwaltungen verschiedener Länder darin überboten (bzw. überbieten mussten), neue Einnahmequellen zu erschließen. Seit April 1921 hatte die liechtensteinische Regierung das Recht, mit jedem Sitzunternehmen einen Steuervertrag abzuschließen, der für bis zu 30 Jahre einen festen Abgabesatz vorsah.14 Als Liechtenstein 1922/23 ein neues Steuersystem einführte, baute man die bereits vorhandene Privilegierung der Kapitalgesellschaften weiter aus. Der Basler Ökonom Julius Landmann, der das entsprechende Steuersystem entwarf, riet der Regierung zur »Schonung des Kapitals« und zur »Förderung der Kapitalbildung«15. Als Vorbild dienten ihm dabei die Steuergesetze verschiedener Schweizer Kantone,
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in denen die Domizilgesellschaften seit längerem privilegiert waren, in Glarus beispielsweise seit 1903.16 Holding- und Sitzunternehmen wurden in Liechtenstein von der Ertragssteuer befreit und mussten lediglich eine minimale Kapitalsteuer entrichten. Diese so genannte Gesellschaftssteuer betrug ein Promille des eingezahlten Kapitals sowie der offenen und stillen Reserven. Bei einem Betrag von beispielsweise einer Million Franken waren dies bloß tausend Franken. Die Gewinne, die bei den liechtensteinischen Sitzunternehmen zusammenkamen, blieben auf diese Art und Weise nahezu steuerfrei. Flankiert wurden diese Steuerprivilegien durch ein besonders flexibles und liberales Handelsrecht, das so genannte Personen- und Gesellschaftsrecht (PGR) der Jahre 1926 und 1928.17 Der Hauptredakteur des PGR, der Politiker Wilhelm Beck, saß im Verwaltungsrat der BiL, wo er häufig mit den Rechtsfragen ausländischer Unternehmen konfrontiert war. Vor dem Krieg hatte er in Zürich studiert und als Angestellter des St. Galler Wirtschaftsanwalts Emil Grünenfelder die schweizerische Steuergesetzgebung kennen gelernt. Wilhelm Beck gründete 1914 die erste Anwaltskanzlei in Liechtenstein. Nach dem Ersten Weltkrieg spezialisierte er sich auf die Verwaltung von Sitzunternehmen. Von den 329 Sitzunternehmen, die sich bis 1928 im liechtensteinischen Öffentlichkeitsregister eintragen ließen, vertrat er alleine 113 oder ein gutes Drittel, fast doppelt so viele wie die BiL.18 Wilhelm Beck war nicht nur Anwalt, sondern auch die zentrale Figur im politischen Leben des Fürstentums. Er gründete die Christlich-soziale Volkspartei (die heutige Vaterländische Union), forcierte die politische Loslösung Liechtensteins von Österreich und die Demokratisierung der Monarchie. Bei der Erarbeitung des PGR wurde Wilhelm Beck von seinem Namensvetter, dem Privatrechtler Emil Beck unterstützt.19 Der schweizerisch-liechtensteinische Doppelbürger Emil Beck war in den Jahren 1919 bis 1933 liechtensteinischer Gesandter in Bern. Er hatte sich 1918 bei Eugen Huber, dem Schöpfer des schweizerischen Obligationenrechts, habilitiert und hatte damit die besten Voraussetzungen, um bei der Erarbeitung des PGR mitzuwirken. Mit dem PGR stellten die beiden Becks den ausländischen Anlegern eine ganze Palette von juristischen Personen zur Verfügung, aus der diese die für ihre Zwecke geeignete Konstruktion heraussuchen konnten: die Anstalt oder die Aktiengesellschaft, die Stiftung oder den Verein, das Treuunternehmen oder die Genossenschaft. Der Schritt nach Liechtenstein wurde den ausländischen Kapitaleignern dadurch erleichtert, dass sie ihre liechtensteinischen Sitzunternehmen auf ähnliche Art und Weise einrichten durften, wie sie es sich von zu Hause her gewohnt waren.20 Besonders originell war das PGR da, wo es Gesellschaftsformen einführte, die man vorher auf dem europäischen Kontinent so nicht gekannt hatte. Die Treuhänderschaft beispielsweise war dem aus dem angelsächsischen Raum bekannten Trust
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nachempfunden.21 Nicht nur bei der rechtlichen Ausgestaltung der Gesellschaft, sondern auch beim Gründungsprozedere oder in administrativer Hinsicht kam man den ausländischen Interessenten entgegen. So konnte man ein liechtensteinisches Sitzunternehmen lange Zeit ausschließlich vom Ausland aus managen. In Liechtenstein wurde lediglich ein »Repräsentant« benötigt. Erst seit 1963 ist für ein liechtensteinisches Sitzunternehmen ein ortsansässiger Verwaltungsrat vorgeschrieben.22 Unmittelbarer Anlass für die Ausarbeitung des PGR war das Bestreben, Gesellschaftsformen einzuführen, die nicht den schweizerischen Stempelabgaben unterstanden.23 Mit Inkrafttreten des Zollvertrages am 1. Januar 1924 musste das Fürstentum Liechtenstein auch die schweizerische Stempelgesetzgebung übernehmen.24 Auf der Ausgabe und dem Gewinn von Wertpapieren lagen fortan Abgaben, die von der schweizerischen Steuerverwaltung erhoben und an Liechtenstein zurückerstattet wurden. Die Liechtensteiner Treuhänder fürchteten um die Konkurrenzfähigkeit ihrer Sitzunternehmen. Sie sträubten sich nicht nur gegen die neuen Steuern an und für sich, sondern auch gegen die damit verbundene Kontrolle durch den Schweizer Fiskus.25 Das PGR schuf hier die gewünschte Abhilfe: Es stellte mit der Stiftung, dem Trust und der Anstalt »ungewöhnliche«26 Gesellschaftsformen zur Verfügung, die nicht notwendigerweise unter die Schweizer Stempelgesetzgebung fielen. Mit dem anlegerfreundlichen PGR und der einladenden Steuergesetzgebung waren die Fundamente des Finanzplatzes Vaduz gelegt. Die Kapitalien, die nun hereinzuströmen begannen, wurden fast nie im Fürstentum Liechtenstein selbst angelegt. Sie wurden in Vaduz lediglich treuhänderisch und steuerbegünstigt verwaltet. Meistens brachte man das Geld, via BiL, bei befreundeten Schweizer Banken unter. Die wirtschaftlich Berechtigten, die hinter den Gründungen standen, stammten zu jener Zeit vor allem aus dem mitteleuropäischen Raum, namentlich aus den Ländern, die den Krieg verloren hatten. Die meisten Klienten kamen aus Deutschland, wo die Steuerlast in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wegen der Reparationszahlungen an die Alliierten unerträgliche Ausmaße annahm. So gesehen, profitierte Liechtenstein von den Verwerfungen des Krieges, ohne dass man es deswegen als einen direkten Kriegsgewinnler bezeichnen müsste. Wichtig war auch die Angst vor dem Kommunismus, welche weite Teile des Bürgertums dieser krisengeschüttelten Gesellschaften umtrieb und sie veranlasste, ihr Vermögen außer Landes zu bringen. Diese Angst ist selbst in den Statuten der Sitzunternehmen, die damals im Fürstentum Liechtenstein eingerichtet wurden, nachzulesen. So nannte eine im Jahre 1931 errichtete Familienstiftung ausdrücklich das folgende Ziel: »Zweck der Stiftung […] [ist] das Stiftungsvermögen […] zu erhalten und zu vermehren, so dass für alle Fälle ein Fonds […] geschaffen ist, dessen Erträge die Sicherstellung der Stiftungsberechtigten gewährleisten. Vor allem soll durch das Stiftungsvermögen für die Stiftungsberechtigten ein besonderer Fonds sichergestellt werden, der von den mitteleuropäischen Währungsverhältnissen
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unabhängig ist und der auch etwaigen Sozialisierungsmaßnahmen entzogen bleibt, falls sich zeitweise derartige oder gar kommunistische Bestrebungen im übrigen Mitteleuropa durchsetzen sollten. Hierbei ist insbesondere an das traurigen Los der russischen Emigranten gedacht und an die Möglichkeit, dass diese Zustände auch auf das Deutsche Reich übergreifen könnten. […] Sollte zu befürchten sein, dass durch irgendwelche Ereignisse, wie z.B. durch wirtschaftliche oder politische Maßnahmen […] oder durch sonstige außerordentliche Vorgänge – (insbesondere revolutionärer oder bolschewistischer Art) – das Vermögen der Stiftung wesentlich geschädigt oder teilweise oder gänzlich enteignet oder entzogen werden könnte, so ist bei drohender Gefahr der Vorstand berechtigt, ohne weiteres den Sitz der Stiftung an einen anderen Ort des Fürstentums Liechtenstein oder in das Ausland zu verlegen, oder – soweit tunlich – die Stiftung sogar aufzulösen und das Vermögen sofort satzungsgemäß zu verteilen oder […] den Stiftungsberechtigten zuzuführen.«27
Die Zahl der liechtensteinischen Sitzunternehmen erhöhte sich zuerst langsam von 10 im Jahre 1921 auf 68 im Jahre 1925. Nach der Einführung des PGR schnellte sie in wenigen Jahren auf etwa tausend hoch (siehe Tabelle 1). Der liechtensteinische Steuerverwalter Ludwig Hasler konnte 1928 zufrieden feststellen, dass Liechtenstein in der internationalen Finanzwelt Boden gefasst und bereits einen großen Namen habe.28 Allerdings sah sich Liechtenstein auch mit einer gewissen Konkurrenz konfrontiert, sei es von Seiten einiger Schweizer Kantone, sei es vom Großherzogtum Luxemburg. Große Finanzierungs- und Beteiligungsgesellschaften verirrten sich kaum nach Liechtenstein, weil dort die dafür nötige (Banken-)Infrastruktur fehlte. Andererseits hatte das Fürstentum verschiedene Trümpfe, die es ausspielen konnte. Ludwig Hasler nannte 1928: die »modernen Gesetze«, die »Einfachheit des Gründungsvorgangs«, die besonders niedrigen Steuern, die Möglichkeit der Pauschalierung, schließlich der Umstand, dass für ein liechtensteinisches Sitzunternehmen kein einheimischer Verwaltungsrat vorgeschrieben war (im Gegensatz zur Schweiz, wo der Verwaltungsrat mehrheitlich aus Schweizern bestehen musste).29 Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und die ihr folgenden Autarkiebestrebungen der europäischen Nationalstaaten ließen dann den Zustrom der ausländischen Gelder versiegen. Deutschland zum Beispiel führte 1931 Devisenkontrollen ein und erließ eine Verordnung »gegen die Kapital- und Steuerflucht«30. Nach dem Anschluss Österreichs an das »Dritte Reich« im März 1938 schien sogar die Eigenständigkeit Liechtensteins zur Disposition zu stehen. Damals verließen zahlreiche Sitzunternehmen den ihnen nun nicht mehr so sicher scheinenden Hafen.31 Die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg und die Kriegsjahre selbst hatten für das noch junge Gesellschaftswesen krisenhafte Züge. Insgesamt stagnierte zwischen 1931 und 1945 die Zahl der im Fürstentum Liechtenstein beheimateten Sitzunternehmen. Eine von der liechtensteinischen Regierung eingesetzte Historikerkommission untersucht derzeit die Frage, ob sich einzelne Anwälte und Treuhänder in dieser schwierigen Zeit auch auf moralisch fragwürdige Geschäfte einließen und zum Beispiel Gelder verwalteten, welche die Nazis den Juden geraubt hatten.
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Umfang und Bedeutung des Gesellschaftswesens seit dem Zweiten Weltkrieg Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das liechtensteinische Gesellschaftswesen ein phänomenales Wachstum, das kaum je durch konjunkturelle Einbrüche abgebremst wurde. In den 1990er Jahren gab es in Liechtenstein schließlich 70mal mehr Sitzunternehmen als in den 1930er Jahren (siehe Tabelle 1). Verschiedene Faktoren ließen den Strom der Neugründungen anschwellen. Die wichtigsten waren: die wirtschaftliche Erholung nach dem Krieg, der Abbau von Beschränkungen im internationalen Devisenverkehr, die Schaffung großer, international mobiler Vermögen, technische Neuerungen wie Fernschreiber und Telefax, die Anziehungskraft des starken Schweizer Frankens, die soziopolitische Stabilität Liechtensteins, die attraktiven Konditionen der lokalen Anbieter, ferner die Erhöhung des Steuerdruckes in den Ländern ringsum. Ein Beispiel aus den 1970er Jahren mag erhellen, wie die anderen europäischen Staaten mit dem Anziehen der Steuerschraube dazu beitrugen, dass sich das Kapital aus ihren Ländern absetzte. 1974 wurden in Italien die Grundstücksteuern angehoben. Darauf entstanden in Liechtenstein in kürzester Zeit Hunderte von Sitzunternehmen, die italienischen Liegenschaftsbesitz verwalteten.32 Tab. 1: Holding- und Sitzunternehmen in Liechtenstein (1921– 2002) Jahr
Anzahl der steuerbegünstigten Holding und Sitzunternehmen
1921
10
1925
68
1931
1.035
1939
~ 1.000
1958
5.671
Quelle der Zählung bzw. Schätzung
Geiger 2000, Bd. 1, S. 203f. (gestützt auf Rechenschaftsberichte der Regierung)
LA, RF 278/72/26
1963
~ 10.000
Der Spiegel vom 15. Mai 1963
1973
~ 33.000
LA, RF 323/19 (geschätzt)
1979
49.475
1983
52.778
1988
61.215
1995
73.700
2000
~ 84.000
2002
~ 80.000
LA, RF 341/19
Liechtensteiner Vaterland vom 9. Mai 1996 Merki 2003, S. 121
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In den letzten Jahren bildete sich die Zahl der Sitzunternehmen zum ersten Mal seit langem wieder zurück. Dieser Einbruch war eine Folge der allgemeinen Krise der internationalen Finanzmärkte, aber auch der (außen-)politischen Turbulenzen, in die der Finanzplatz um die Jahrtausendwende geriet. So wurde Liechtenstein von der Financial Action Task Force on Money Laundering (FATF), einem bei der OECD angesiedelten Gremium zur Bekämpfung der Geldwäscherei, vorübergehend auf die Liste der »nicht kooperativen« Staaten gesetzt. Gerne hätte man gewusst, in welchem Staat oder in welcher Stadt die Eigentümer der nach Vaduz gebrachten Vermögen zu Hause waren und welche Summen zwischen ihnen, ihren liechtensteinischen Sitzunternehmen und der Schweiz konkret hin und her geschoben wurden. Mangels aussagekräftiger Quellen kann man in dieser Hinsicht nicht viel mehr als einige Spekulationen anstellen. Sicher geht man nicht fehl, wenn man annimmt, dass die Mehrheit der Eigentümer der liechtensteinischen Sitzunternehmen im nahen europäischen Ausland zu Hause war (und ist). 1976 publizierte der österreichische Anwalt Theodor Veiter Zahlen über die Herkunft der Gründer. Nach seinen Schätzungen hatten 43 Prozent der Unternehmen einen deutschen Inhaber. Etwa 29 Prozent der Eigentümer kamen aus der Schweiz, 18 Prozent aus Österreich. Die restlichen Gesellschaften wurden nach Veiters Angaben durch Franzosen und Italiener kontrolliert.33 Grosso modo dürften diese Verhältnisse bis heute gleich geblieben sein. Interessieren würde auch die Höhe der in den Sitzunternehmen angelegten Kapitalien. Diese Zahl lässt sich aus verschiedenen Gründen nicht ermitteln. So waren die Bilanzierungsregeln bis vor kurzem äußerst lax. Das Kapital eines Sitzunternehmens, das im liechtensteinischen Handels- oder Öffentlichkeitsregister ausgewiesen ist, hatte (und hat) kaum etwas mit seinem tatsächlichen Kapital zu tun.34 Die meisten Sitzunternehmen zahlen zum Beispiel nur die vom Staat verlangten 1.000 Franken Mindeststeuer pro Jahr, auch wenn das in ihnen angelegte Kapital eigentlich eine höhere Steuer verlangen würde (der liechtensteinische Fiskus überprüft die gemachten Angaben nicht). Die Höhe der von den liechtensteinischen Banken verwalteten Vermögen ist zwar bekannt, doch liegt dort nur ein Teil des in den Sitzunternehmen angelegten Kapitals. Immerhin ist diese Zahl eindrücklich genug: Im Jahre 2003 verwalteten die liechtensteinischen Banken 104 Milliarden Franken.35 Dies ist etwa 25mal soviel wie das Bruttoinlandsprodukt Liechtensteins. Für das einzelne Sitzunternehmen waren die Gebühren und Steuern, die es in Liechtenstein zu entrichten hatte, niedrig. Für das Land, das diese Abgaben erhob, waren sie schon bald unverzichtbar. Bereits in den 1930er Jahren stammten 25 Prozent bis 30 Prozent aller Landeseinnahmen allein aus dieser Quelle.36 Im Zweiten Weltkrieg ging die fiskalische Bedeutung des Gesellschaftswesens vorübergehend zurück. In den Jahren 1941 bis 1949 erbrachte das Gesellschaftswesen nur
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noch 7 Prozent bis 12 Prozent aller Landeseinnahmen. In den 1950er Jahren waren es dann wieder 20 Prozent bis 25 Prozent.37 Vor dem Beitritt Liechtensteins zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) klärte die liechtensteinische Steuerverwaltung die fiskalische Bedeutung des Gesellschaftswesens ab. Nach ihren Berechnungen stammten im Jahre 1990 36 Prozent aller Landeseinnahmen direkt oder indirekt aus dem Gesellschaftswesen.38 Zu den direkten Einnahmen in der Höhe von 100 Millionen Franken zählte die Steuerverwaltung die »besondere Gesellschaftssteuer«, die Gründungsgebühren, die Eintragungs- und Beglaubigungsgebühren sowie Teile der Couponsteuer und der Emissionsabgaben. Weitere 30 Millionen Franken generierte der Finanzdienstleistungssektor auf indirekte Art und Weise, so über die Vermögens-, die Erwerbs-, die Kapital- und die Ertragssteuer, ferner über die Gebühren der Post- und Telekommunikationsbetriebe. Auch wenn sich der Anteil des Finanzplatzes am gesamten Steueraufkommen nicht genau beziffern lässt, so sollten doch die beiden folgenden Punkte unbestritten sein: – In den Jahren 1927 bis 1939 sowie seit den späten 1950er Jahren erbrachte der Finanzdienstleistungssektor alles in allem etwa ein Drittel bis die Hälfte der gesamten Steuereinnahmen Liechtensteins. – Diese Einnahmen gestatteten es, die anderen Steuerträger (Industrieunternehmen, natürliche Personen) zu entlasten. Heute zahlen jene, die das Glück haben, in Liechtenstein zu wohnen, drei bis höchstens siebzehn Prozent Einkommenssteuer. Das Gesellschaftswesen war schon in der Zwischenkriegszeit eine der tragenden Säulen des liechtensteinischen Staatshaushalts. Andererseits beschäftigte der Finanzplatz Vaduz bis in die 1950er Jahre hinein nur sehr wenige Arbeitskräfte. 1940 dürften es etwa zwei Dutzend Personen gewesen sein, die direkt und hauptsächlich von den internationalen Beziehungen des »Finanzplatzes« Liechtenstein lebten: drei, vier Anwälte, die zehn Angestellten der Bank in Liechtenstein sowie einige nicht akademisch gebildete Treuhänder (die so genannten Rechtsagenten). Dies entsprach einem Beschäftigtenanteil von 0,6 Prozent.39 Heute dürfte dieser Anteil auf rund 15 Prozent gestiegen sein, wobei es nicht immer klar ist, wer direkt und hauptsächlich für den Finanzplatz arbeitet: Bankangestellte, Anwälte, Unternehmensberater, Informatiker, Wirtschaftsprüfer, Hoteliers, aber auch und in zunehmendem Maße einzelne Teile der Landesverwaltung (Richter, Register- und Steuerbeamte, Aufsichtsbehörden, Imagepfleger). Die Zahl der Anwälte wuchs von 3 (in den 1930er Jahren) auf 9 (1951), 18 (1970) und 50 (1995).40 Seit dem Beitritt Liechtensteins zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR, der den Anwaltsmarkt 1997 auch für EUBürger öffnete, verdoppelte sich die Zahl der Liechtensteiner Anwälte auf über 100.
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Ähnliche Zuwachsraten verzeichneten auch die Treuhänder41 und die Bankangestellten. Die Zahl der letzteren wuchs von 24 (1950) auf 1.758 (2000). Hand in Hand mit der Zunahme der Finanzplatz-Beschäftigten ging deren Differenzierung. Ursprünglich war der einzelne Rechtsagent für seine Klienten Treuhänder, Rechtsbeistand, Wirtschaftsberater, Vermögensverwalter und Bilanzprüfer in einem. Mittlerweile gibt es für alle diese Funktionen spezielle Berufe oder spezialisierte Betriebe. Parallel dazu kam es auch zu einer Professionalisierung des Gesellschaftswesens. Früher war der Treuhänder oft ein selfmade man, der über keinen formellen Abschluss (zum Beispiel als Kaufmann) verfügte. Seit 1968 wurden die Standards sukzessive erhöht, der Zugang zum Beruf staatlich geregelt, die dafür nötige Ausbildung genau vorgeschrieben. Wer schon im Beruf war, genoss in aller Regel Bestandsschutz – er musste sich nicht im nachhinein irgendwelchen Prüfungen unterziehen. Den Markt für die Verwaltung der Liechtensteiner Sitzunternehmen dominieren heute einige große Vaduzer Anwaltskanzleien und Treuhandbüros wie das Allgemeine Treuunternehmen, die First Advisory Group, die Anwaltskanzlei Marxer & Partner und die Präsidial-Anstalt. Es kann dabei durchaus vorkommen, dass auf einen einzelnen Anwalt dieser Büros 1.000 Sitzunternehmen entfallen. Daneben gibt es mittlere und kleine Büros, die einige Hundert oder sogar bloß einige Dutzend Sitzunternehmen betreuen. Früher war es in Liechtenstein durchaus üblich, dass man neben seinem angestammten Beruf – zum Beispiel als Architekt oder Lehrer – noch einige Mandate laufen hatte. Im Jahre 1980 gab es 50.780 Sitzunternehmen. Jedes dieser Sitzunternehmen hatte einen Repräsentanten vor Ort. In diese Aufgabe teilten sich nicht nur die damals rund 200 professionellen Liechtensteiner Treuhänder, sondern insgesamt 1.492 Personen.42 Mit den steigenden Anforderungen an den Treuhänderberuf ist die Zahl dieser Feierabend-Mandatäre stark zurückgegangen. Auf ein ähnlich gelagertes Problem soll zum Schluss dieses Kapitels hingewiesen werden: auf das in Liechtenstein besonders heikle Verhältnis von Staat und Wirtschaft bzw. Politik und Beruf. Viele Liechtensteiner Politiker (Regierungschefs, Parteipräsidenten, Landtagsabgeordnete) stammten im 20. Jahrhundert beruflich aus dem Gesellschaftswesen oder stiegen nach ihrer politischen Karriere (wieder) in dieses ein. Grund für die Affinität des Gesellschaftswesens zur lokalen Politik ist der Umstand, dass der Finanzplatz seit jeher auf einem zutiefst politischen Fundament (Steuer, Währung, PGR) ruht. Besonders problematisch war das Verhältnis von Politik und Wirtschaft da, wo sich öffentliche und private Interessen überschnitten oder überschneiden konnten, namentlich bei öffentlichen Ämtern, die nebenher ausgeübt wurden. So hatten (und haben) viele Treuhänder nebenbei ein Landtags-, Richter- oder sogar Regierungsmandat,43 weil die beschränkten personellen Ressourcen des kleinen Landes keine andere Lösung zulassen. Diese Problematik galt und gilt im übrigen auch und gerade für das Fürstenhaus. So ist der
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studierte Betriebswirt Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein nicht nur Staatsoberhaupt, sondern als »Regierer« des Hauses Liechtenstein gleichzeitig Geschäftsmann und Manager des fürstlichen Vermögens.44 Öffentlich diskutiert wird dieses strukturelle Problem praktisch nie oder nur dann, wenn es zu einem »Skandal« kommt, das heißt: wenn die privaten Interessen (zu) offensichtlich mit den öffentlichen Interessen kollidieren. Dies war zum Beispiel 1935 der Fall, als der verbeamtete Steuerverwalter Ludwig Hasler seinen Posten räumen musste, weil er nebenbei einige Dutzend Sitzunternehmen betreut und dabei amtliche und private Geschäfte nicht sauber voneinander getrennt hatte.45
Anstalt, Stiftung, Trust: Wie ein Sitzunternehmen funktioniert Sitzunternehmen können juristisch die unterschiedlichsten Formen annehmen, weil das PGR in dieser Beziehung zahlreiche Möglichkeiten bietet. Allen diesen Sitzunternehmen waren und sind jedoch einige Charakteristika gemeinsam: – obwohl sie ihr Domizil in Liechtenstein haben, werden sie von Personen beherrscht, die nicht in Liechtenstein wohnen; – sie dürfen in Liechtenstein zwar ein Büro unterhalten, aber keine Inlandsgeschäfte tätigen, weil sie sonst ihre Steuerprivilegien einbüßen würden; – jedes Sitzunternehmen braucht seit 1963 jemanden, der zu seiner Vertretung abgestellt und ermächtigt ist. Dieser Vertreter benötigt heute eine liechtensteinische Zulassung als Treuhänder oder Anwalt.46 Noch heute heißen die Sitzunternehmen im Volksmund »Briefkastenfirmen«, weil sich ihre Vertreter bis 1963 mit dem Weiterleiten der Briefpost begnügen konnten. Für den Klienten, der in Liechtenstein eine Gesellschaft gründet, ist dies nicht gratis. Schon bei der Gründung als solcher fallen Kosten in der Höhe von 4.000 bis 5.000 Franken an: staatliche Gebühren, Abgaben für die Eintragung in das Öffentlichkeitsregister, das Honorar für den Treuhänder. Etwa gleich hoch sind die Kosten, die alljährlich dazu kommen: für die Verwaltung des Sitzunternehmens, für die gesetzliche Repräsentanz, für die besondere Gesellschaftssteuer. Angesichts dieser Kosten lohnt sich die Einrichtung eines Sitzunternehmens nur dann, wenn das Vermögen, das es verwaltet, oder die Transaktionen, die es durchführt, in die Hunderttausende, ja in die Millionen von Franken gehen. Die Proportionen waren früher ähnlich. So verlangte der Vaduzer Anwalt Ludwig Marxer 1945 für die Verwaltung einer Stiftung mit einem Dotationskapital von 100.000 Franken eine jährliche Gebühr von 200 Franken.47
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Unter den verschiedenen Gesellschaftsformen wählt der ausländische Gründer jenen Typ, der seinen Bedürfnissen am besten entspricht. Das wichtigste Unterscheidungskriterium ist dabei das zwischen kommerziell tätigen Gesellschaften einerseits und nicht kommerziell tätigen Gesellschaften andererseits. Kommerzielle Zwecke wären etwa: Handelsgeschäfte, die Verwertung immaterieller Rechte (Lizenzen, Patente, Marken), Kauf und Verkauf von Beteiligungen und Liegenschaften. Ein nicht kommerziell tätiges Sitzunternehmen ist hingegen eines, das lediglich das eigene Vermögen hält und verwaltet. Ursprünglich wurden in Liechtenstein vor allem Holdinggesellschaften errichtet, die man für die Abwicklung von Handelsgeschäften einsetzte. Im Jahre 1930 beispielsweise entstanden 145 neue Sitzunternehmen. 63 Prozent dieser Unternehmen hatten eine Form, die sich vor allem für kommerzielle Tätigkeiten eignete, sie waren also Aktiengesellschaft, GmbH oder Anstalt.48 Besonders beliebt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die privatrechtlich organisierte Anstalt, ein liechtensteinisches Unikum, das dem Gründer zahlreiche Freiheiten ließ.49 Im Jahre 1957 zum Beispiel hatten 68 Prozent der 948 neu gegründeten Sitzunternehmen die Form einer Anstalt.50 In den letzten Jahrzehnten traten die kommerziell tätigen Unternehmen in den Hintergrund. Während Zug, der nahe gelegene Schweizer Kanton, zu einem Zentrum für internationale Handelsgeschäfte wurde,51 emanzipierte sich Liechtenstein von diesem Business und spezialisierte sich auf eine andere Art des Offshore-Geschäfts: auf die Verwaltung ausländischen Finanzvermögens. Statt der Anstalt oder der Aktiengesellschaft wählte man dafür andere Gesellschaftsformen, namentlich den Trust oder die Stiftung.52 1977 waren erst 12 Prozent aller Sitzunternehmen Stiftungen. Zwei Jahrzehnte später war bereits jedes zweite liechtensteinische Sitzunternehmen eine Stiftung (siehe Tabelle 2). Seit der Jahrtausendwende beträgt der Anteil der Stiftungen über 60 Prozent.53 Tab. 2: Rechtsformen der Holding- und Sitzunternehmen (1977– 1995) Jahr
Gesamtzahl der Holding und Sitzunternehmen
Anstalten
Stiftungen
Andere (Trusts, Aktiengesellschaften etc.)
1977
49.391
63,2%
11,6%
25,2%
LA, RF 341/19
20,4%
Liechtensteiner Vaterland vom
1995
73.700
29,4%
50,2%
Quelle der Zählung
9. Mai 1996
Eine liechtensteinische Stiftung hat, anders als man aufgrund der Bezeichnung vermuten könnte, meistens keinen wohltätigen oder gemeinnützigen Zweck. Sie
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dient vielmehr dazu, Familienvermögen zu verwalten und die Erziehung sowie den finanziellen Unterhalt der Angehörigen sicherzustellen. Außerdem ist sie dafür prädestiniert, Vermögen trotz eines Generationenwechsels vor einem Erbgang im juristischen Sinne zu bewahren. Der wirtschaftliche Stifter tritt gegen außen hin in der Regel nicht in Erscheinung, dies tut nur sein in Liechtenstein ansässiger Anwalt oder Treuhänder beziehungsweise dessen Gesellschaft. Die Gründungsdokumente der Stiftung werden beim Öffentlichkeitsregister hinterlegt. Die entscheidenden Beistatuten, in denen steht, wer die Begünstigten sind und welche Zuwendungen sie erhalten, bleiben beim Anwalt oder Treuhänder unter Verschluss. Gegenwärtig sind 97 Prozent aller liechtensteinischen Stiftungen hinterlegte Stiftungen.54 Es gibt verschiedene Gründe dafür, warum die kommerziell tätigen Sitzunternehmen allmählich verschwanden und in den Schatten jener Gesellschaften gerieten, die lediglich Vermögen verwalteten. Ein Grund für diesen Wandel bestand darin, dass viele europäische Staaten zunehmend den Ort der Geschäftsleitung als Anknüpfungspunkt für Steuerforderungen definierten und nicht mehr – wie Liechtenstein – den Ort der Verwaltung.55 Außerdem war die für Handelsgeschäfte besonders geeignete Anstalt etwas so Ungewohntes, dass sie im Ausland hin und wieder keine Anerkennung fand.56 Dank ihrer Anonymität57 und ihren Gestaltungsmöglichkeiten war die Anstalt überdies anfällig für Missbräuche. So diente zum Beispiel eine liechtensteinische Anstalt namens Texon dazu, italienische Schwarzgelder anzulegen. Als sie 1977 zahlungsunfähig wurde, geriet die Schweizerische Kreditanstalt (SKA, heute: Credit Suisse) in den Strudel hinein und musste Abschreibungen in Milliardenhöhe vornehmen. Im Gefolge dieses Skandals wurde das PGR einer Revision unterzogen, die unter anderem eine Verschärfung der Publizitäts-, Buchführungs- und Verantwortlichkeitsbestimmungen mit sich brachte.58 Insbesondere die Gesellschaftsform der kommerziell tätigen Anstalt verlor durch diese Reform an Attraktivität. Ein weiterer Grund für den Niedergang der kommerziell tätigen Unternehmen war der zweifelhafte Ruf Liechtensteins als Steueroase. Sobald ausländische Zoll- und Finanzbehörden Lieferscheine von Firmen aus dem für sie suspekten Liechtenstein zu Gesicht bekamen, schauten sie besonders genau hin.59 Mit zeitraubenden Nachfragen machten sie jenen Sitzunternehmen das Leben schwer, die sich auf solche Handelsgeschäfte (zum Beispiel das so genannte mark-up60) spezialisiert hatten. Bleibt zum Schluss noch die Frage, auf welchen Wegen ausländische Anleger und Geschäftsleute überhaupt nach Liechtenstein fanden. Dass sich in Liechtenstein Handelsgeschäfte bequem und steuergünstig abwickeln und große Vermögen währungssicher anlegen ließen, sprach sich in den 1920er Jahren bei den europäischen Wirtschaftsanwälten und Steuerberatern rasch herum. In den einschlägigen Zeitschriften erschienen schon bald Artikel, welche die Vorzüge von liechtensteinischen Sitzunternehmen priesen.61 In diesem Zusammenhang ist auch auf die Ambi-
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valenz von Skandalen hinzuweisen: Einerseits beschädigten sie den Ruf des Finanzplatzes Vaduz, andererseits machten sie ihn im Ausland bekannt und lockten weiteres Geld an, namentlich dann, wenn sich die liechtensteinischen Behörden nicht auf ausländische Rechtshilfebegehren einließen und am Geheimnisschutz für Anleger festhielten. Ähnlich ambivalent wirkte (außen-)politischer Druck. 1931, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, versuchte die deutsche Regierung, die Kapitalflucht mit einer Notverordnung einzudämmen.62 Damals erschienen in der europäischen Presse Artikel über Liechtenstein, die seine neue Bedeutung als Finanzplatz auch dem gewöhnlichen Zeitungsleser vor Augen führten. Die Überschriften lauteten etwa: »Eine Insel im Krisenmeer«63, »Der ›Verschiebebahnhof‹ Europas«64 oder: »Im Land der geflüchteten Millionen«65. Für die liechtensteinischen Treuhänder war Werbung im engeren Sinne bis vor kurzem verboten. Sie fanden gleichwohl Mittel und Wege, um das Vertrauen wohlhabender Klienten zu gewinnen. Eine beliebte Möglichkeit bestand darin, mit Abhandlungen über Steuerprivilegien auf Liechtenstein aufmerksam zu machen. In keinem dieser Bücher, die an potenzielle Kunden abgegeben wurden, fehlte der Hinweis darauf, dass der Verfasser in Vaduz ein Beratungsbüro betreibe.66 Für den langfristigen Erfolg des Treuhänders entscheidend war jedoch etwas Anderes: seine Zuverlässigkeit sowie seine Fähigkeit, ein großes Netz von Korrespondenten zu unterhalten.67 Anwälte in Mailand, Hamburg oder Wien vermittelten die Kontakte zu den Investoren. Vermögensverwalter in Zürich, Genf oder Lugano empfahlen ihren Klienten, in Liechtenstein ein Sitzunternehmen zu gründen. Wichtig waren vor allem die Beziehungen zu den Schweizer (Groß-)Banken. Diese schickten den Vaduzer Treuhändern die ausländischen Kunden, für die dann die passenden Sitzunternehmen eingerichtet wurden; umgekehrt überließen die Liechtensteiner Treuhänder den Schweizer Banken die Vermehrung der in den Sitzunternehmen steckenden Gelder.
Über die Beziehungen zwischen dem Bank- und dem Gesellschaftswesen Gegenwärtig (2004) gibt es im Fürstentum Liechtenstein 16 Banken. Nur eine dieser 16 Banken ist eine Universalbank im umfassenden Sinne des Wortes: die 1861 gegründete Landesbank. Sie befriedigte die bescheidenen Kredit- und Hypothekarbedürfnisse der einheimischen Wirtschaft und trug deshalb lange Zeit den treffenden Namen Spar- und Leihkasse. Alle anderen Liechtensteiner Banken, die seit den 1920er Jahren im Gefolge des Gesellschaftswesens entstanden, konzentrierten sich
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auf ein einziges Geschäftsfeld: auf das private banking, die Betreuung (ausländischen) Kundenvermögens. Das älteste dieser Institute, die 1920 gegründete LGT Bank in Liechtenstein, entwickelte sich – wie in Kapitel zwei erläutert – Hand in Hand mit dem Gesellschaftswesen. Die Liechtensteiner Treuhänder, die ebenfalls Sitzunternehmen akquirierten, überließen die Verwaltung der darin angelegten Vermögen ursprünglich den Banken, namentlich jenen auf dem Platz Zürich. Mit der Zeit gingen sie dazu über, sich selbst um diese Vermögen zu kümmern, ja einige Treuhänder wollten ihre Kunden überhaupt nicht mehr einer fremden Bank überlassen, sondern ihnen eine eigene Bank zur Verfügung stellen. So entwickelte sich 1956 aus dem Allgemeinen Treuunternehmen die Verwaltungs- und Privatbank (VPB).68 Um eine Konkurrenz mit den beiden etablierten Instituten auszuschließen, musste die VPB aufgrund staatlicher Restriktionen bis 1975 mit einer beschränkten Konzession vorliebnehmen und durfte zunächst keinen Schalterdienst unterhalten. Die Liechtensteinische Landesbank, die LGT/BiL und die VPB blieben lange Zeit die einzigen Banken auf dem Platz Liechtenstein. Sie dominieren diesen bis heute. In den letzten Jahren wurden weitere Banken gegründet, so: – die Neue Bank, die 1992 von ehemaligen BiL-Managern ins Leben gerufen wurde; – die Centrum Bank, die sich 1993 aus der Anwaltssozietät Marxer & Partner (Vaduz) heraus entwickelte; – die Serica Bank, die 1999 aus der Präsidial-Anstalt (Vaduz) hervorging; – die NewCenturyBank, die 2001 von der Advocatur Seeger, Frick & Partner (Schaan) eingerichtet wurde. Zusätzlich zu diesen Banken, die sich mehrheitlich in liechtensteinischem Besitz befanden, eröffneten seit 1997 auch einige ausländische Geldinstitute einen liechtensteinischen Ableger. Die meisten dieser Filialen wurden von Österreich und von der Schweiz aus gegründet, so von der Vorarlberger Volksbank oder von der Bank Vontobel (Zürich).69 Auch die Unabhängigkeit der echten »Liechtensteiner« Banken hatte und hat ihre Grenzen. Das Kapital, das über das Gesellschaftswesen nach Liechtenstein strömte, konnte unmöglich im Lande selbst angelegt werden. Dafür war das Fürstentum schlicht zu klein. Für die Liechtensteiner Banken hieß dies, dass sie mit ausländischen, namentlich mit schweizerischen, Instituten kooperieren und das meiste Geld letztlich doch wieder dort platzieren mussten.70 In den vergangenen Jahrzehnten erhöhte sich nicht nur die Zahl der Banken, sondern auch deren Personalbestand sowie deren Bilanzsumme massiv (siehe Tabelle 3). Auch die Entwicklung der Gewinne ist erstaunlich. Diese explodierten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer halben Million Franken auf über 500 Millionen Franken. Im internationalen Vergleich muss die Bedeutung der
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liechtensteinischen Banken allerdings relativiert werden. Sie beschäftigen insgesamt etwa gleich viele Personen wie die Zürcher Privatbank Julius Bär oder die Berner Kantonalbank. Offensichtlich ist auch ihre Abhängigkeit von dem Gesellschaftswesen: das Wachstum der Kundenvermögen korreliert stark mit der Entwicklung der Sitzunternehmen. Der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (1995) eröffnete dem Finanzplatz Liechtenstein neue Möglichkeiten. Versicherungen konnten vom Fürstentum aus sowohl in der Schweiz wie in der EU direkt tätig werden. Das Prämienvolumen wuchs deshalb in kürzester Zeit deutlich an. Im Jahre 2002 beliefen sich die Kapitalanlagen der in Liechtenstein ansässigen Lebensversicherungen auf 1,4 Milliarden Franken. In den letzten Jahren siedelten sich in Liechtenstein auch vermehrt Investmentunternehmen an. Gegenwärtig bestehen etwa 100 inländische und 200 ausländische Fonds, die total 14 Milliarden Franken verwalten.71 Es wird sich weisen, ob der Finanzplatz Liechtenstein dank dieser Diversifizierungen seine Abhängigkeit vom traditionellen Gesellschaftswesen reduzieren kann. Tab. 3: Die Entwicklung des Bankenplatzes Liechtenstein (1921– 2000) Jahr
Anzahl Banken in Liechtenstein
Personalbestand
Bilanzsumme (in Mio. CHF)
Reingewinn (in Mio. CHF)
1921
2
13
6
0,002
1930
2
k.A.
21
0,15
1940
2
21
21
0,3
1950
2
24
68
0,4
1960
3
96
244
1,7
1970
3
272
1.479
9,8
1980
3
485
4.364
9,6
1990
3
1.144
17.348
59,4
2000
14
1.758
36.963
549,1
Quelle: Merki 2003, S. 71
Ein Thema soll zum Schluss dieses Kapitels wenigstens noch kurz angeschnitten werden: das der Zulassungspolitik. Das erste liechtensteinische Bankengesetz von 1960 enthielt eine Bedürfnisklausel, die es der Regierung erlaubte, bestehende Institute vor neuer Konkurrenz zu schützen und zu verhindern, dass sich in Vaduz ausländische Banken niederließen. Die Regierung hielt die Zahl der Banken in erster Linie deshalb niedrig, weil sie die Aufmerksamkeit der ausländischen Politik nicht
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auf die Steueroase Liechtenstein lenken wollte.72 Außerdem ging es der liechtensteinischen Regierung darum, die Schweizer Banken nicht vor den Kopf zu stoßen. Schließlich profitierten die Schweizer Banken, wie oben dargelegt, von der Zusammenarbeit mit den Liechtensteiner Treuhändern und hätten dem Fürstentum ihre so notwendige Unterstützung entziehen können, wenn man ihre Kunden zu stark an Vaduz gebunden hätte.73 Gegen die Zulassung weiterer Banken wehrten sich zudem die bestehenden Liechtensteiner Institute sowie die liechtensteinische Industrie- und Handelskammer. Der industrielle Sektor litt seit den 1960er Jahren unter den hohen Löhnen, die das Bankgewerbe vorgab, und warnte immer wieder vor der weiteren Austrocknung des Arbeitsmarktes.74 Die Situation änderte sich um 1990. Damals zeichnete sich eine Annäherung des Landes an die Europäische Gemeinschaft ab. Es wurde klar, dass die bestehenden Banken nicht ausländische Filialen (BiL 1982, VPB 1988) gründen konnten, ohne auf ihre privilegierte Stellung im eigenen Lande verzichten zu müssen. Außerdem setzte sich die Ansicht durch, dass es besser sei, auch offiziell weitere Banken entstehen zu lassen, statt auf die Kontrolle schon vorhandener bankenähnlicher Unternehmen zu verzichten. Die Unterscheidung zwischen einer Bank und einem Vermögensverwalter war seit jeher eine höchst prekäre,75 und die restriktive Zulassungspolitik hatte nicht verhindern können, dass einzelne Finanzgesellschaften betrügerische Bankgeschäfte tätigten und damit den Ruf des Finanzplatzes Vaduz gefährdeten.76
Der Finanzplatz unter außenpolitischem Druck Es gibt verschiedene Probleme, welche die Geschichte des Finanzplatzes Liechtenstein prägten, die in dem beschränkten Rahmen dieses Aufsatzes aber nicht behandelt werden können, beispielsweise die Entwicklung des Bankgeheimnisses77 oder die Entstehung der Sorgfaltspflicht78. Historisch interessant wäre vor allem ein Thema: die Beziehung Liechtensteins zur Schweiz, die bei weitem nicht so harmonisch war, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Umstritten waren beispielsweise: – die Stempelabgaben, welche die Schweiz bis 1967 für den ganzen Frankenraum einhob und damit die Selbständigkeit des Finanzplatzes Liechtenstein in Frage stellte;79 – die Sperrung deutscher Vermögenswerte während des Zweiten Weltkrieges, die für Liechtenstein von der Schweiz aus erledigt wurde;80
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– die schweizerischen Konjunkturdämpfungsmaßnahmen der 1960er und 1970er Jahren, welche Liechtenstein vorübergehend zum Währungsausland werden ließen.81 Verwandt mit diesen bilateralen Auseinandersetzungen ist der außenpolitische Kontext, in den der Finanzplatz Liechtenstein eingewoben war (und ist). Fast immer war es außenpolitischer Druck, der zu regulatorischen Veränderungen führte und damit der Entwicklung des Finanzplatzes eine neue Richtung gab. Dies soll auf den folgenden Seiten veranschaulicht werden, und zwar anhand einer kurzen Chronologie der wichtigsten Umgestaltungen des PGR: 1938. Eine erste Änderung erfuhr das Personen- und Gesellschaftsrecht 1938. Nach dem Einmarsch Deutschlands in Österreich zogen viele Sitzunternehmen aus dem nun unsicher erscheinenden Liechtenstein ab. Um sie zur Rückkehr zu bewegen, wurde der Geheimnisschutz für Sitzunternehmen verstärkt, namentlich der Schutz für Stiftungen und Anstalten. »Zur Beruhigung des Gründers«82 durfte dieser die Gründungsakten fortan selbst aufbewahren und musste sie nicht mehr beim Öffentlichkeitsregister hinterlegen. 1963. Zu Beginn der 1960er Jahre gewann die europäische Einigung an Fahrt und auch die Schweiz dachte über eine Annäherung an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) nach. Zugleich schnellte die Zahl der Gründungen in die Höhe, wobei die liberalen Bestimmungen des PGR auch einige Investoren anlockten, die man lieber nicht in Liechtenstein gehabt hätte.83 Was außenpolitischer Druck bewirken konnte, sah man in Monaco, wo Frankreich 1962/63 mit einem Federstrich jene Steuervorteile zum Verschwinden brachte, die seine Bürger im benachbarten Fürstentum genossen hatten. Prinz Heinrich, der Liechtensteiner Gesandte in Bern, meinte damals in einem »streng vertraulichen« Bericht: Falls Liechtenstein seine Karten auf den Tisch legen müsse, werde es sich zur Überraschung des Schweizer Partners, aber auch der EWG herausstellen, »dass die Monegassen im Vergleich zu uns arme Waisenknaben sind«84. Durch rechtzeitige Reformen könne man ein »Massensterben der Holdings« verhindern. Die Zahl der Neugründungen werde dadurch zwar abnehmen, deren Qualität dafür aber besser werden.85 Die 1963er Reformen brachten unter anderem eine Erhöhung der Mindestkapitalsätze, das Ende der Steuerpauschalierung und die Pflicht zur Einsetzung eines in Liechtenstein wohnhaften, verantwortlichen Vertreters (statt eines bloßen Repräsentanten). 1980. Nachdem sich die Treuhänder noch in den Jahren 1971 und 1975 erfolgreich gegen weitere Reformen gewehrt hatten,86 kam es um 1980 zu einem neuen Reformschub. Er war eine Reaktion auf die Texon-Affäre (siehe oben) und führte unter anderem zu strengeren Publizitäts-, Buchführungs- und Verantwortlichkeitsbestimmungen, zu einer Erhöhung der Qualifikation der Treuhänder sowie zu ers-
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ten Vorschriften über die Sorgfalt bei Finanzgeschäften. Diese Reformen waren auch die Voraussetzung für den Abschluss eines Währungsvertrages, der 1980 die Benutzung des Schweizer Frankens durch Liechtenstein regelte.87 Schon 1977 hatten die Schweizer Bundesräte Furgler und Chevallaz in einer Besprechung mit ihren liechtensteinischen Kollegen Klartext gesprochen. Finanzminister Georges-André Chevallaz meinte, dass Liechtenstein »selbstverständlich voll souverän« sei, dass es aber wegen der »engen Bindung« an die Schweiz auf deren Interessen Rücksicht nehmen müsse.88 1992/1997. Zu Beginn der 1990er Jahre kam ein Reformprozess in Gang, der den Finanzplatz Liechtenstein – von kurzen Unterbrechungen abgesehen – bis heute beschäftigt. Hintergrund der Änderungen war die Annäherung Liechtensteins an die EU, die 1995 im Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gipfelte. Dazu kam der Druck aus der Schweiz, die ihrerseits den Pressionen anderer Länder ausgesetzt war. Die Schweiz verstärkte in den 1980er Jahren den Kampf gegen die Geldwäscherei und akzeptierte nicht, dass sich zwischen ihr und Liechtenstein ein Regelungsgefälle auftat. Die Schweizer Regierung wollte nicht zulassen, dass »der Finanzplatz Liechtenstein zur Umgehung der schweizerischen Rechtsordnung missbraucht werden kann«89. Dieser Wink mit dem Zaunpfahl tat seine Wirkung. 1992/93 erhielten die Liechtensteiner Treuhänder und Rechtsanwälte Standesorganisationen öffentlichen Rechts, welche die Überwachung ihres Berufes verbesserten. 1993/94 trat ein neues Bankengesetz in Kraft, das insbesondere die Aufsicht über den liechtensteinischen Bankensektor verstärkte. 1996 wurde die Sorgfaltspflicht, auf welche sich die Banken 1977 »freiwillig« geeinigt hatten, in ein verbindliches Gesetz umgewandelt und auf alle Finanzintermediäre, also auch auf die Anwälte und Treuhänder, ausgedehnt. 1997 musste der vorher abgeschottete liechtensteinische Anwaltsmarkt für EU-Bürger geöffnet werden.90 Vor den Änderungen der 1990er Jahre waren die wenigen Liechtensteiner Stellen, denen die Abwehr krimineller Gelder oblag, auf verlorenem Posten gewesen. So stellte die Bankenkommission 1988 fest, dass eine »effiziente Überwachung« der Banken unmöglich sei,91 und der liechtensteinische Staatsanwalt Frommelt beschwerte sich 1986 bei der Regierung über zu wenig Personal und »gesellschaftliche Isolierung«92. Das Gesellschaftswesen bereite ihm »große Verantwortlichkeitsprobleme«. Die damit zusammenhängende Wirtschaftskriminalität sei ein Problem, das »im Inland weitgehend verschwiegen und unterdrückt« werde.93 Ab 2000. Offenbar gingen die Umgestaltungen der 1990er Jahre nicht weit genug. Im Sommer 2000 wurde Liechtenstein von der FATF, einem bei der OECD angesiedelten Gremium zur Bekämpfung der Geldwäscherei, auf die Liste der »nicht kooperativen« Staaten gesetzt. Erst nachdem Liechtenstein sein Sorgfaltspflichtgesetz verschärft und eine staatliche Stelle zur Bekämpfung der Geldwäscherei eingerichtet hatte,94 wurde es wieder von dieser Liste gestrichen. Mit den Geset-
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zen über die Sorgfaltspflicht bei Finanzgeschäften hat sich Liechtenstein auf eine heikle Gratwanderung begeben bzw. begeben müssen. Auf der einen Seite dieses Grates steht das Bestreben, kriminelle Gelder fern zu halten; auf der anderen Seite geht es um jene regulatorische Liberalität, welche den Finanzplatz auszeichnet und ihn so attraktiv macht. Der Druck aus dem Ausland wird anhalten und Liechtenstein wird weiterhin versuchen, die Nische, die es in dem vergessenen Winkel zwischen der EU und der Schweiz aufgebaut hat, zu bewahren. Gegenwärtig ist es vor allem ein Thema, das den Finanzplatz beschäftigt: der von den europäischen Hochsteuerländern eingeläutete Kampf gegen den »schädlichen Steuerwettbewerb«. Er richtet sich gegen die Fiskalpolitik der Steueroasen (zu denen Liechtenstein gerechnet wird) und möchte diese unter anderem dazu bringen, bei grenzüberschreitenden Steuerdelikten die für die Verfolgung nötigen Informationen zur Verfügung zu stellen. Hier hat Liechtenstein in der Schweiz einen wichtigen Verbündeten, denn das Wohlergehen des schweizerischen Finanzplatzes beruht ebenfalls zu einem großen Teil auf dem Bankgeheimnis. Ob sich dieses Bankgeheimnis längerfristig in der traditionellen Form beibehalten lässt, ist allerdings fraglich.
Zusammenfassung: Wie man seine Souveränität vergoldet Das Fürstentum Liechtenstein mag klein, machtlos und von der Natur nicht eben verwöhnt worden sein, aber es ist ein Staat und somit souverän. Aus dieser Souveränität Kapital zu schlagen – darin besteht der clevere Gedanke, der den größten Teil des liechtensteinischen Wohlstandes erklärt. Das zum Kern staatlicher Hoheit gehörende Steuer- und Gesellschaftsrecht wurde dafür benutzt, das vergessene Aschenputtel am Oberrhein in eine attraktive Prinzessin für ausländische Kapitaleigner umzuwandeln: – man schuf eine niedrige Gesellschaftssteuer, welche Liechtenstein als Domizil für ausländisch beherrschte Sitzunternehmen attraktiv machte; – und man entwarf ein spezielles Personen- und Gesellschaftsrecht (PGR), das jenen Eigentümern entgegenkam, die sich nach großen Gestaltungsmöglichkeiten, nach Anonymität und Sicherheit sehnten. Mit diesen beiden Neuerungen erhielt der Finanzplatz Liechtenstein seine bis heute bestehenden Grundlagen. Kapitalien aus den kriegsversehrten Ländern Mitteleuropas, die durch Enteignungen, Währungsverluste und exzessive Steuern gefährdet waren, fanden in Liechtenstein einen sicheren und inflationsfreien Hafen. Bis 1930 entstanden 1.000 Sitzunternehmen. Nach der Weltwirtschaftskrise und dem Zwei-
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ten Weltkrieg begann ein Boom, der die Zahl der Sitzunternehmen bis auf 84.000 hochtreiben sollte. Wirklich beschäftigungswirksam wurde der Finanzplatz mit seinen Bankangestellten, Treuhändern und Anwälten allerdings erst in den 1960er Jahren. Immerhin war er schon vorher für den Staat unentbehrlich: Die Gebühren und Steuern, welche die Sitzunternehmen entrichteten, trugen dazu bei, dass Industrieunternehmen und natürliche Personen in den Genuss fiskalischer Erleichterungen kamen. Das Fürstentum Liechtenstein hat sich mit seinem Finanzplatz in einer kleinen Nische zwischen Rhein und Alpen, Schweiz und EU behaglich eingerichtet. Diese Nische ist jedoch in ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht eingebunden, das ihre Prosperität überhaupt erst ermöglicht. Das Geflecht beruht auf einer heiklen Balance zwischen Kooperation und Abgrenzung, einer Balance, die immer wieder neu gefunden werden muss. Außenpolitik in einem sehr weiten Sinne, mithin: das Beziehungsmanagement mit der Umwelt, ist die raison d’être der liechtensteinischen Wirtschaft. Diese Wirtschaft ist im übrigen so klein, dass sie – vollständig isoliert – gar nicht existieren könnte. Auf Abgrenzung war Liechtenstein aus, als es sich nach dem Ersten Weltkrieg mit verschiedenen Kantonen der Schweiz auf einen Steuerwettbewerb einließ und mit ihnen um Sitzunternehmen zu konkurrieren begann. Abgrenzung war auch der Zweck des PGR. Dieses bot den ausländischen Investoren konkurrenzlos flexible Gesellschaftsformen an, die – wie die Stiftung, der Trust und die Anstalt – nicht den schweizerischen Stempelabgaben unterstanden. Gleichzeitig war Liechtenstein auf die Kooperation mit seinem westlichen Nachbarn angewiesen: Nur der Schweizer Franken bot jene Sicherheit, welche der österreichischen Krone abhanden gekommen war; nur die nahen Zürcher Banken konnten all das Kapital anlegen, das nach Liechtenstein strömte; und bloß auf dem Schweizer Arbeitsmarkt waren all die Spezialisten zu finden, die beim Aufbau der einheimischen Finanzindustrie helfen konnten. Zunehmend überlagert wurde dieses Beziehungsgeflecht seit den 1960er Jahren durch die europäische Integration. Wohl oder übel hat sich Liechtenstein auch mit der EWG, der OECD und später der EU auf das Spiel von Kooperation und Abgrenzung einlassen müssen.
Anmerkungen 1 Für die aktuellen Wirtschaftszahlen sei auf die Publikationen des Amtes für Volkswirtschaft (Vaduz), insbesondere auf die von ihm seit 1977 herausgegeben Statistischen Jahrbücher verwiesen. Die neuesten Wirtschaftsanalysen: Eisenhut, Peter, Entwicklung und Perspektiven der Volkswirtschaft des Fürstentums Liechtenstein, Vaduz 2004 (hg. vom Amt für Volkswirtschaft); Credit
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Suisse (Hg.), Fürstentum Liechtenstein. Struktur und Perspektiven, Zürich Mai 2004. Einen Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Liechtensteins im 20. Jahrhundert bietet: Merki, Christoph Maria, Von der liechtensteinischen Landkanzlei zur internationalen Finanzberatung. Die Anwaltskanzlei Marxer & Partner und der Finanzplatz Vaduz, Baden 2003, S. 57– 83. Der Verfasser dieses Aufsatzes arbeitet am Liechtenstein-Institut (Bendern) an einer Wirtschaftsgeschichte des Fürstentums. Eigentlich müsste man auch noch auf die Arbeitsplätze hinweisen, die durch liechtensteinische Unternehmen im Ausland geschaffen worden sind. Die Industrieunternehmen, die der Liechtensteinischen Industrie- und Handelskammer (LIHK) angehören, beschäftigen im Inland 7.700 Personen; in den Auslandsniederlassungen finden 23.600 Personen Arbeit (vgl. Jahresbericht der LIHK 2002, S. 11/12). Bekanntere Industrieunternehmen sind etwa der Heizungsbauer Hoval, der Zahnprothetik-Hersteller Ivoclar-Vivadent oder die in der Befestigungstechnik (Bohrmaschinen u.a.) tätige Hilti-Gruppe. Liechtenstein ist eher ein »Finanzdienstleistungsplatz« als ein »Finanzplatz«. Um als »Finanzplatz« (financial centre) gelten zu können, bräuchte es eine eigenständige Währung, eine voll ausgebaute Börse und viele bedeutende, in- und ausländische Banken (vgl. Meili, Alexander, Geschichte des Bankwesens in Liechtenstein [1945 – 1980], Frauenfeld usw. 2001, S. 172). Vgl. Gantner, Manfried/Eibl, Johann, Öffentliche Aufgabenerfüllung im Kleinstaat. Das Beispiel Fürstentum Liechtenstein, Vaduz 1999; Kocher, Martin Georg, Very Small Countries: Economic Success Against all Odds, Vaduz 2003. Merki, Landkanzlei [wie Anm. 1], S. 64 – 66. Allgemein zur Kommerzialisierung staatlicher Souveränität: Palan, Ronen, The Offshore World. Sovereign Markets, Virtual Places, and Nomad Millionaires, Ithaca/London 2003. Dazu: Geiger, Peter, Krisenzeit. Liechtenstein in den Dreißigerjahren, 1928–1939, 2 Bde., Zürich 2000 (2. Auflage), hier Bd. 1, S. 207/208. Die liechtensteinische Regierung hat dem Verfasser dankenswerterweise auch die Quellen zugänglich gemacht, die an und für sich noch der 30jährigen Sperrfrist unterliegen. Hingewiesen sei hier auf eine Studie, die am Liechtenstein-Institut vorbereitet wird: Quaderer, Rupert, Geschichte Liechtensteins vom Ersten Weltkrieg bis zur Krise von 1926 (Arbeitstitel). Die Schweiz duldete die Übernahme des Frankens nur. Geregelt wurde diese erst mit dem Währungsvertrag von 1980. Zum Zollvertrag aus schweizerischer Sicht: Schweizerisches Bundesarchiv, E 6531 (B) 1, Bd. 317. Hinter der Gründung der BiL stand die Anglo-Österreichische Bank in Wien. Auch die fürstliche Familie war in die Gründung der Bank involviert, und zwar über den liechtensteinischen Gesandten in Wien, Prinz Eduard von und zu Liechtenstein (vgl. Liechtensteinisches Landesarchiv [LA], RE 1920/505). Die von Liechtensteins litten besonders unter dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie: Ihre Besitzungen waren nun auf verschiedene Nationalstaaten aufgeteilt, es drohten Währungsverluste, Enteignungen und kommunistische Umstürze. Nachdem die Anglo-Österreichische Bank im Zuge der Weltwirtschaftskrise in Schwierigkeiten geraten war, erwarb das liechtensteinische Fürstenhaus die Aktienmehrheit der BiL. Seit 1996 heißt diese LGT Bank in Liechtenstein (LGT: Liechtenstein Global Trust). Schredt, Franz X., Das Fürstentum Liechtenstein. Wirtschaftliche Experimente eines Kleinststaates im beginnenden Zeitalter der Großraumwirtschaft, Diss. Innsbruck 1941 (Manuskript), S. 96/97. Auch die BiL selbst profitierte von der Pauschalierung. Sie wurde ihr von der Regierung im Herbst 1920 gewährt, noch bevor der Landtag diese Praxis am 30. Dezember 1920 auf eine
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gesetzliche Grundlage stellte. In der Regierungsvorlage hieß es, dass man mit der Pauschalierung den Kreditinstituten entgegenkomme, die »erfahrungsgemäß bei sonst gleichen Umständen die Wahl des Ortes ihrer Niederlassung von einer ihnen noch konvenierenden Lösung der Besteuerungsfrage abhängig machen« (vgl. LA, LTA 1920/S3). Zur Pauschalierung: Feger, Wolfgang F., Die Besteuerung der Kapitalgesellschaften im Fürstentum Liechtenstein, Vaduz 1970, S. 112–118. Pauschalierungsverträge wurden bis 1963 abgeschlossen. 1988 waren noch 3.339 Pauschalierungsverträge in Kraft. Die letzten dieser Verträge liefen 1993 ab (vgl. LA, RF 341/19). Das »zeitliche Höchstausmaß« der Steuerpauschalierungen betrug zunächst zehn Jahre, seit April 1921 dann die erwähnten 30 Jahre (vgl. Liechtensteinisches Landes-Gesetzblatt, Nr. 8 vom 28. April 1921). Landmann, Julius, Motivenbericht zum Neuen Steuergesetz des Fürstentum (sic) Liechtenstein, Mels 1922, S. 7. Julius Landmann (1877–1931) war bis 1927 Professor in Basel, dann in Kiel. Er redigierte die Schweizerische Zeitschrift für Statistik und Volkswirtschaft und beriet den Schweizer Bundesrat bei mehreren Gesetzesvorhaben. 1919 verfasste er im Auftrag der liechtensteinischen Regierung eine Studie zur Einführung der Frankenwährung, 1923 formulierte Landmann für die Spar- und Leihkasse Liechtenstein eine neue Gesetzesgrundlage. Van Orsouw, Michael, Das vermeintliche Paradies. Eine historische Analyse der Anziehungskraft der Zuger Steuergesetze, Zürich 1995, S. 41/42. Genau genommen waren es zwei Gesetze: das PGR (Liechtensteinisches Landesgesetzblatt, Nr. 4 vom 20. Januar 1926) und das Ergänzungsgesetz über das Treuunternehmen (Liechtensteinisches Landesgesetzblatt, Nr. 6 vom 10. April 1928). Angaben aus einem Verzeichnis über die Eintragungen im Öffentlichkeitsregister, das Dr. Rupert Quaderer zusammengestellt hat und für dessen Überlassung ich ihm hier herzlich danke. Vgl. Bösch, Harald, »Schweizerische Spuren im liechtensteinischen Treuhandrecht«, Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Neue Folge, Bd. 119/2000, S. 175 – 220, hier S. 179. Vgl. Beck, Wilhelm, Unternehmungen und selbständige Vermögensverwaltungen im Fürstentum Liechtenstein, Vaduz 1927 (2. Auflage), S. 4: »Besonders wichtig ist, dass außer den im liechtensteinischen Rechte geregelten Rechtsformen […] auch jede im Ausland in Gesetz oder Praxis anerkannte Rechtsform, ferner Treuhänderschaften auch nach dem neuen Gesetz in Liechtenstein errichtet werden dürfen. Damit wird demjenigen, der das liechtensteinische Recht weniger kennt, ermöglicht, dass er seine Unternehmungsform oder seine Vermögensverwaltung möglichst nach den in seinem Lebenskreise üblichen Rechtsformen errichten kann.« Bei den Passagen über die Treuhänderschaft stützte sich Wilhelm Beck auf einen Entwurf des Schweizer Anwalts Marcus Wyler, der sich – anders als er – im angelsächsischen Recht gut auskannte (vgl. Bösch, Spuren [wie Anm. 19], S. 180 – 186; allgemein zur liechtensteinischen Treuhänderschaft: Bösch, Harald, Die liechtensteinische Treuhänderschaft zwischen Trust und Treuhand, Mauren 1995). Hinter der Orientierung am US-amerikanischen Trust stand wirtschaftliches Kalkül. So kommentierte Steuerverwalter Hasler die Vorarbeiten für das Gesetz über das Treuunternehmen mit folgenden Worten (LA, RE 1926/9, Schreiben an Regierungschef Schädler vom 14. Oktober 1926): »Herr Dr. W. Beck ist bereits heute wieder daran, einzelne Gesellschaftsformen, die zu errichten nach dem heutigen PGR bereits möglich sei, besser auszubauen und er verspricht sich hiervon, da er die large Gesetzgebung der Vereinigten Staaten von Amerika als Basis auserwählt hat, großes Interesse durch die amerikanische Finanzwelt.«
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22 Dass man keinen Ortsansässigen in die Verwaltung aufnehmen musste, erhöhte die Attraktivität der Sitzunternehmen. So meinte Steuerverwalter Hasler am 22. Juli 1927 (LA, RE 1927/50, an den Regierungschef): Ein »Anziehungspunkt für fremdes Kapital« sei, »dass fremde Unternehmungen [d.h. ausländisch beherrschte Sitzunternehmen, ChM.] nicht verpflichtet sind, Liechtensteiner in ihre Verwaltung aufzunehmen«. Erleichterungen gab es für den Gründer des Sitzunternehmens außerdem in folgender Hinsicht: Die Rechnungslegungsvorschriften waren lax; die Gründung der Gesellschaft konnte durch einen Vertreter erfolgen; die Gesellschaft war in der Wahl der Währung, in der sie ihre Bücher führen wollte, frei; bei den Aktiengesellschaften kannte man bis 1954 kein Mindestkapital usw. 23 »Zweck« des PGR war es nach den Worten des Steuerverwalters Hasler (LA, RE 1926/9, 20. September 1926): »[…], in Liechtenstein Gesellschaftsformen, die die gleichen wirtschaftlichen Funktionen verrichten [wie normale Gesellschaften, ChM.], errichten zu können, ohne dass diese der eidg. Stempelgesetzgebung unterliegen.« 24 Sitzunternehmen, die vor 1924 errichtet worden waren und die mit der liechtensteinischen Steuerverwaltung einen Pauschalvertrag abgeschlossen hatten, blieben von den eidgenössischen Stempelabgaben verschont (vgl. LA, RE 1924/64, RE 1925/66, RE 1926/9). Das Thema Stempelabgaben belastete die Beziehungen zwischen Liechtenstein und der Schweiz während Jahrzehnten. Liechtenstein dachte wiederholt über eine Verselbständigung der Stempelgesetzgebung nach. Dies hätte jedoch den gemeinsamen, liechtensteinisch-schweizerischen Wirtschaftsraum gefährdet und wäre von der Schweiz kaum akzeptiert worden (vgl. LA, RE 1930/92). 25 LA, RE 1925/66 (Hasler an Schädler, 15. Oktober 1925). 26 Schweizerisches Bundesarchiv, E 6300 (B), 1974/21, Bd. 8: Liechtenstein habe »durch sein ungewöhnliches Gesellschaftsrecht die sachgemäße Anwendung des [schweizerischen, ChM.] Stempelgesetzes in Frage gestellt«. 27 Zit. in: Merki, Landkanzlei [wie Anm. 1], S. 69 (Stiftungsbrief der Arno-Unterstützungsstiftung vom 16. September 1931). 28 LA, RE 1928/36 (Schreiben an die Regierung vom 6. Oktober 1928). 29 Ebd.; zum Thema Konkurrenz auch einzelne Akten in: LA, RE 1929/48 und RE 1930/92. 30 Reichsgesetzblatt Nr. 35 vom 18. Juli 1931, S. 373–376. 31 Allein in den vier Monaten zwischen März und Juli 1938 verschwanden 149 Sitzunternehmen mit einem (deklarierten) Kapital von 186 Millionen Franken. Der Aderlass war am 19. Juli 1938 noch nicht abgeschlossen. Zu jenem Zeitpunkt befanden sich noch immer 30 Sitzunternehmen in Liquidation (vgl. LA, RF 182/91). 32 Veiter, Theodor, »Liechtenstein als Sitz von Holdings und Verbandspersonen«, Wirtschaftspolitische Blätter, Heft 6/1976, S. 134 – 143: »Dies geschah schlagartig und war von italienischen Anwälten in Rom gesteuert.« 33 Ebd. 34 Dies gilt insbesondere für die Rechtsformen der Stiftung, der Anstalt und des Treuunternehmens, weniger für die Aktiengesellschaften, bei denen es schon in der Zwischenkriegszeit bestimmte Kontroll- und Bilanzierungsvorschriften gab. Die liechtensteinische Steuerverwaltung ermittelte 1933 das in den Sitzunternehmen investierte Kapital und kam auf einen Betrag von 280 Millionen Franken (vgl. LA, RF 131/409). Der tatsächliche Betrag dürfte wesentlich höher gewesen sein, und zwar nur schon deshalb, weil die nicht ausgewiesenen Reserven das
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eingezahlte Kapital meistens überstiegen (RF 1929/48, Steuerverwaltung an Regierung, 20. September 1929). Die Summe ist in Tat und Wahrheit ein bisschen höher, weil einige kleinere Banken das von ihnen verwaltete Kundenvermögen nicht bekannt geben. Geiger, Krisenzeit [wie Anm. 6], Bd. 1, S. 200 – 203. LA, RF 278/72/26 (Memorandum vom Oktober 1958). LA, RF 349/18 (Steuerliche Anpassungsmöglichkeiten zur Erhaltung unseres Gesellschaftswesens im EWR, vertraulicher Bericht des Steuerverwalters Bruno Sprenger vom 25. Mai 1992). Merki, Landkanzlei [wie Anm. 1], S. 71. LA, RF 266/67 (Anwaltsliste 1951), LA, RF 301/43/I (Liste 1970). Die Liechtensteinische Bankenkommission (Jahresbericht 2001, S. 15) zählte Ende 2001 alles in allem 79 natürliche und 265 juristische Personen mit einer Treuhänderbewilligung, 97 Rechtsanwälte, 60 Konzipienten (juristische Mitarbeiter ohne liechtensteinisches Anwaltspatent), ferner 17 natürliche und 26 juristische Personen mit einer Wirtschaftsprüferbewilligung. LA, RF 329/19 (54seitige, vertrauliche Statistik der Gesellschaftsmandate). 1.492 »Personen«: 1.338 natürliche und 154 juristische Personen. Einzelne Repräsentanten hatten 2.000, ja sogar 4.000 Mandate. Selbstverständlich gibt eine Stiftung, bei der sich jahrzehntelang kaum etwas ändert, sehr viel weniger zu tun als eine Aktiengesellschaft, die kommerziell tätig ist. Bis 1933 hatte nur der Regierungschef ein Vollamt. Die vier anderen Regierungsmitglieder übten ihre Mandate im Nebenamt aus. Heute ist von den fünf Regierungsmitgliedern nur noch der Außenminister nebenamtlich tätig (derzeit der Anwalt Ernst Walch). Wie schwierig staatliche und private Interessen gerade auch auf der obersten Ebene der Politik zu trennen sind, mag folgendes Beispiel illustrieren. Hans-Adams Vater Franz-Josef II. (1906 – 1989) setzte sich in den 1950er Jahren dafür ein, dass Liechtensteiner Treuhänder auch ausländische Juristen anstellen durften (Merki, Landkanzlei [wie Anm. 1], S. 110). Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ihm dabei nicht nur um das Wohl des Finanzplatzes ging, sondern auch (vor allem?) um das der fürstlichen Bank in Liechtenstein. Dazu: LA, RF 159/105/4. Bis vor kurzem musste dieser Vertreter einen Liechtensteiner Pass besitzen oder dauerhaft im Fürstentum niedergelassen sein. Merki, Landkanzlei [wie Anm. 1], S. 90/91. Vgl. Rechenschafts-Bericht der fürstlichen Regierung an den hohen Landtag für das Jahr 1930, S. 114. Marok, Graziella, Die privatrechtliche liechtensteinische Anstalt unter besonderer Berücksichtigung der Gründerrechte, Zürich 1994. Die liechtensteinische Anstalt ist ein verselbstständigtes Vermögen mit eigener Rechtspersönlichkeit und insofern nicht zu vergleichen mit der öffentlich-rechtlichen Anstalt, wie man sie etwa aus Deutschland kennt. LA, RF 278/72/26. Vgl. van Orsouw, Paradies [wie Anm. 16]. Zu diesen beiden Gesellschaftsformen: Bösch, Treuhänderschaft [wie Anm. 21]; Ders., Grundlagen des liechtensteinischen Stiftungsrechts (im Erscheinen). Vortrag von Klaus Tschütscher, stellvertretender Leiter der liechtensteinischen Steuerverwaltung, am 25. November 2003 im Liechtenstein-Institut.
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54 Ebd. Im Gegensatz zu einer »eingetragenen« Stiftung werden die Gründungsdokumente einer »hinterlegten« Stiftung beim Registeramt lediglich hinterlegt und bleiben somit für die Öffentlichkeit unzugänglich. Die maßgeblichen Beistatuten mit den Namen der Begünstigten müssen noch nicht einmal hinterlegt werden. 55 Ritter, Peter, Dienstleistung im Wandel, Schaan 2000, S. 36. 56 Bächtold, Rudolf u.a., Eine Adresse in Liechtenstein. Finanzdrehscheibe und Steuerparadies, Wiesbaden 1979, S. 129. 57 Die Beistatuten, in denen die Begünstigten einer Anstalt aufgeführt sind, müssen – wie bei der Stiftung (siehe oben) – nicht hinterlegt werden. 58 Vgl. Beilagen zur öffentlichen Landtagssitzung vom 5. Juli 1979, in: Landtags-Protokolle 1979, Bd. 2. 59 Merki, Landkanzlei [wie Anm. 1], S. 45. 60 Bei mark-up-Geschäften verkauft eine ausländische Firma ihr Produkt an das von ihr gegründete Sitzunternehmen in Vaduz. Das Vaduzer Sitzunternehmen veräußert das gleiche Produkt zu einem weit höheren Preis an den eigentlichen Kunden, der sich in einem Drittland befindet. Der Preisaufschlag (das mark-up) bleibt steuerbegünstigt beim Sitzunternehmen in Vaduz. 61 Dazu zwei Beispiele. 1. Der Hamburger Wirtschaftsanwalt Albrecht Dieckhoff publizierte 1930 in der Deutschen Steuer-Zeitung mehrere Artikel über die »Holdinggesetzgebung in Europa«. Dieckhoff war Geschäftspartner des Vaduzer Anwalts Ludwig Marxer. 2. Im englischen Accountant erschienen 1931 zwei Aufsätze über »statue law« und »taxation« in Liechtenstein. Verfasst hatten sie R. E. S. Blank, ein in Bregenz ansässiger Counsellor, und der Vaduzer Treuhänder Guido Feger, der Gründer des Allgemeinen Treuunternehmens ATU. 62 Verordnung des Reichspräsidenten gegen die Kapital- und Steuerflucht vom 18. Juli 1931, in: Reichsgesetzblatt 1931, S. 373 – 376. Zu den Reaktionen in Liechtenstein und generell zum Versiegen des Investorenstroms zu Beginn der 1930er Jahre vgl. die Akten im Landesarchiv: LA, RF 120/24, RF 122/45, RF 122/91, RF 123/34, RF 129/91 (zum Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Schweiz und Deutschland und seinen Rückwirkungen auf Liechtenstein, 1932/1934), ferner RF 131/229. 63 Tiroler Anzeiger vom 28. November 1931. 64 Bamberger Volksblatt vom 17. Dezember 1932. 65 Leipziger Neueste Nachrichten vom 22. Dezember 1931. 66 Beispiele: Beck, Unternehmungen [wie Anm. 20]; Feger, Guido, Liechtenstein – das Fürstentum am Rhein, Vaduz 1929 (Feger war Gründer des Allgemeinen Treuunternehmens); Merlin, Helmuth M./Schafhauser, Eugen, Die Steuergesetzgebung des Fürstentums Liechtenstein nach dem Stand vom 1. Februar 1932, Zürich 1932 (Merlin war Gründer der Präsidial-Anstalt). 67 Angaben über das Vermittlernetz der Kanzlei Marxer in: Merki, Landkanzlei [wie Anm. 1], S. 89/90. 68 Dazu: LA, RF 276/58. Als Guido Feger im Januar 1956 um eine Bankkonzession nachsuchte, zählte das von ihm gegründete Allgemeine Treuunternehmen (ATU) 17 Angestellte. Das ATU betreute damals 900 Klienten. Deren treuhänderisch verwaltetes Vermögen umfasste: Liegenschaften in der Schweiz, Österreich, Deutschland und Kanada, Wertschriftendepots und Konten in Liechtenstein, der Schweiz und in den USA, Patentrechte, Darlehen und feste Anlagen (ebd., Feger an die Regierung, 16. Januar 1956). 69 Vgl. Jahresberichte des Liechtensteinischen Bankenverbandes.
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CHRISTOPH MARIA MERKI
70 Meili, Bankwesen [wie Anm. 3], S.170/171; Wagner, Jürgen, Bankenplatz Liechtenstein, Zürich 2000, S. 206/207. Dementsprechend wiesen und weisen die Liechtensteiner Banken auf der Aktivseite ihrer Bilanzen einen auffallend hohen Anteil von Bankendebitoren auf, also von Anlagen bei Korrespondenzbanken. Schon in der Zwischenkriegszeit wurden die Gelder nicht nur in Zürich, sondern auch an anderen Börsenplätzen, beispielsweise in London, platziert. Die LGT/BiL tätigte seit den 1970er Jahren große Investitionen in den USA. 71 Vgl. www.liechtenstein.li (7.6.2004; Versicherungsplatz); www.lafv.li (7.6.2004; Anlagefondsverband). 72 Merki, Landkanzlei [wie Anm. 1], S. 51. 73 Vgl. die »vertrauliche« Stellungnahme von Regierungschef Batliner vom 16. Mai 1969 zu drei Konzessionsgesuchen (LA, RF 303/16): »Es ist nicht unproblematisch, maßgeblichen schweizerischen Wirtschaftskreisen die Gleichgerichtetheit und Parallelität mit den liechtensteinischen Interessen am liechtensteinischen Geschäft zu nehmen. Damit verliert Liechtenstein Kreise, die es gesinnungs- und sympathiemäßig im schweizerischen Raume bisher unterstützt haben.« 74 LA, RF 347/46 (Stellungnahme vom 6. Juni 1991). 75 Über die Abgrenzung zwischen einer Bank und einer Finanzgesellschaft bzw. einem Vermögensverwalter machte sich die Liechtensteinische Bankenkommission schon 1963 ihre Gedanken: vgl. LA, RF 287/394. Als das Bankengesetz 1975 revidiert wurde, stand diese Frage im Zentrum der Diskussion (vgl. LA, RF 314/72/41). 76 Vgl. Memorandum der Bankenkommission zur Organisation der liechtensteinischen Bankenaufsicht vom 21. Februar 1991 (LA, RF 338/72). Der bekannteste Fall einer betrügerischen Finanzgesellschaft war wohl die Cash AG (Schaan). Sie gab sich als bloße Holding einer in St. Vincent gelegenen Bank aus, beschäftigte aber elf Personen und vergab, ohne Konzession, Zehntausende von Kleinkrediten (vgl. LA, RF 341/31). 1990 wurde sie auf Antrag der Bankenkommission von der Regierung liquidiert (LA, RF 343/31, RF 345/31, RF 347/31). 77 Dazu: Strub, Wolfgang, Der Geheimnisschutz im liechtensteinischen Treuhandwesen, Bern/Stuttgart 1988 (2. Auflage); Frommelt, Heinz J., Das liechtensteinische Bankgeheimnis, Zürich 1988. 78 Vgl. Breuer, Michael, Die Bekämpfung der Geldwäsche im Völkerrecht, in der Europäischen Union und im Fürstentum Liechtenstein, Vaduz 2003. 79 Siehe oben sowie: LA, RF 285/386 (Schweizer Steuerbeamte wollen 1960 in Liechtenstein ermitteln); LA, RF 296/72/31 (Einführung einer liechtensteinischen Couponsteuer 1966/67). 80 Die schweizerische Verrechnungsstelle, welche sich um die Aufhebung blockierter Vermögenswerte in den Ländern der ehemaligen Alliierten kümmerte, war auch für Liechtenstein zuständig (vgl. Köppel, Iwan, Die politischen Beziehungen zwischen dem Fürstentum Liechtenstein und der Schweiz von 1945 bis 1970, Lizentiatsarbeit an der Universität Freiburg 2000 [MS], S. 60 – 62). 81 Um den Zustrom von ausländischem Kapital abzuschwächen, beschloss der Schweizer Bundesrat 1972 unter anderem die Einführung von Negativzinsen auf Auslandsguthaben. Weil Liechtenstein als Ausland angesehen wurde, wären auch die Guthaben, welche die Liechtensteiner Treuhänder bei Schweizer Banken hatten, betroffen gewesen. Erst nachdem sich Liechtenstein den Maßnahmen der Schweiz angeschlossen hatte, wurde es wieder zum Deviseninland erklärt (vgl. Batliner, Heinz, »Reminiszenzen aus der Geschichte des Liechtensteinischen Bankenverbandes«, in: Liechtensteinischer Bankenverband (Hg.), 30 Jahre Liechtensteinischer Bankenverband 1969–1999, Vaduz 1999, S. 11–21, hier S. 15/16; sowie: Schweizerisches Bundesarchiv, E 2001 [E], 1982/59, Bd. 2).
DER FINANZPLATZ LIECHTENSTEIN
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82 Motivenbericht betr. Art. 554 PGR (LA, RF 179/358). Diese Bestimmung wurde 1963 wieder aufgehoben. 83 Schon 1959 wurde in das PGR eine Bestimmung aufgenommen, die es der Regierung erlaubte, ein Sitzunternehmen aufzulösen, wenn es die »Landesinteressen schädigt oder geeignet ist, den guten Ruf des Landes und seine Beziehungen zu anderen Staaten zu gefährden« (Liechtensteinisches Landes-Gesetzblatt vom 4. Mai 1959). 84 LA, RF 290/72/19 (vierseitiges Aide mémoire o.D.). 85 Ebd., S. 3. 86 Vgl. LA, RF 308/72. 87 Der Währungsvertrag wurde nötig, weil sich die Schweiz in den 1960er und 1970er Jahren durch den Zustrom ausländischer Gelder gezwungen sah, Maßnahmen zum Schutz des Frankens zu ergreifen, die – wenn sie denn sinnvoll sein sollten – auch für Liechtenstein Geltung haben mussten (vgl. Kleine-Hartlage, Michael, Der Währungsvertrag Schweiz-Liechtenstein, Bamberg 1988). 88 Bundespräsident Kurt Furgler ergänzte (LA, RF 319/155, Notiz über die Besprechung des Regierungschefs und des Regierungschef-Stellvertreters mit Bundespräsident Furgler und Bundesrat Chevallaz in Bern am 16. Juni 1977, S. 3): »Es stelle sich die Frage, ob Liechtenstein nicht doch einen gewissen Prozess der Rechtsangleichung [an das schweizerische und europäische Gesellschaftsrecht, ChM.] mitmachen müsse.« 89 In der Antwort auf eine Motion der Freisinnig-demokratischen Fraktion vom 14. Juni 1990 (LA, RF 343/31). Schon Ende 1988 hatte Nationalrat Moritz Leuenberger (der spätere Bundesrat) den Finanzplatz Liechtenstein zum Gegenstand einer parlamentarischen Anfrage gemacht. Der Bundesrat ließ darauf hin untersuchen, ob über Liechtenstein Umgehungsgeschäfte abgewickelt wurden, um der strengeren Kontrolle in der Schweiz auszuweichen (vgl. Eidgenössische Bankenkommission [Hg.], Bericht der Eidgenössischen Bankenkommission vom 24. April 1990 über die Finanzbeziehungen zwischen Liechtenstein und der Schweiz an den Vorsteher des Eidg. Finanzdepartementes, MS, Bern 1990). 90 Einen Überblick über die finanzplatzrelevanten Rechtsentwicklungen des letzten Jahrzehnts bietet: Marxer, Peter u.a. (Hg.), Gesellschaften und Steuern in Liechtenstein, Vaduz 2003 (11. Auflage). 91 Die Liechtensteiner Banken weigerten sich bis 1993 mit Erfolg, die Revisionsberichte ihrer Institute der mit der Aufsicht der Banken beauftragten Kommission vorzulegen (vgl. Jahresbericht 1993 der Bankenkommission, S. 3, in: LA, RF 352/32; vgl. auch LA, RF 331/80: die Bank in Liechtenstein will sich 1983 von der Bankenkommission nicht in ihre [Revisions-] Bücher schauen lassen). 92 Schreiben vom 7. März 1986 an die Regierung (LA, RF 336/3, hier S. 10): »Im Vergleich zur Tätigkeit im Gesellschaftswesen […] ist die Tätigkeit bei der Justiz im allgemeinen und bei den Strafverfolgungsbehörden im besonderen finanziell uninteressant, unangenehm und unbeliebt.« 93 Ebd. 94 Zum 1. Januar 2005 soll in Liechtenstein eine integrierte und unabhängige Finanzmarktaufsicht geschaffen werden.
Die Kanalinseln Jersey und Guernsey: Im Windschatten der City of London Stefan Altorfer
Einleitung Im Jahre 1950 gab es auf Jersey fünf Banken, die Vermögen in einem geschätzten Umfang von 21 Millionen Pfund verwalteten. Dies entsprach einer Bank pro 11.462 Einwohner, und die Kaufkraft der Bankeinlagen wäre im Jahre 2000 etwas mehr als 400 Millionen Pfund gewesen. Im Jahr 2000 war die Zahl der Banklizenzen auf 74 gestiegen, was 1.178 Einwohnern pro Bank gleichkam. Der Wert der Bankeinlagen lag inzwischen bei 117 Milliarden Pfund; dazu kamen weitere 91 Milliarden Pfund, die durch Fondsgesellschaften verwaltet wurden, sowie jene Vermögen, über welche Stiftungen und Treuhänder verfügten. Ihre Summe kann nicht genau beziffert werden, sie wird jedoch auf mindestens so hoch wie jene der Bankdepositen geschätzt.1 Finanzdienstleistungen hatten sich zum mit Abstand bedeutendsten Wirtschaftssektor der Insel entwickelt. Ihr geschätzter Beitrag zum Bruttosozialprodukt stieg von 15 Prozent (1971) auf 54 Prozent (1994), die Anzahl der im Finanzbereich beschäftigten Personen nahm von 1.340 (1969) auf 11.240 (2000) zu.2 Die Zahlen für die andere bedeutende Kanalinsel, Guernsey, zeigen ein ähnliches Bild, wobei dort zusätzlich ein größerer Versicherungsbereich besteht (siehe dazu Angaben in Tabelle 1). Diese Zahlen belegen eindrücklich, wie sich innerhalb eines halben Jahrhunderts auf den Kanalinseln im Windschatten der Londoner City ein umfangreicher Finanzsektor etabliert hat. Grundlage für die rasante Entwicklung war die verfassungsmäßige Sonderstellung von Jersey und Guernsey als Gebiete, die der englischen Krone direkt unterstellt sind. Dies erlaubte ihnen eine von Großbritannien unabhängige Festlegung von Steuern und Gesetzen. Ihr attraktiver Steuertarif übte eine große Attraktion auf Steueroptimierer vorwiegend britischer Herkunft aus. In den 1970er Jahren entwickelten sich die Kanalinseln von Steuerhäfen zu Offshore-Finanzzentren, zunächst innerhalb der Sterling-Zone, nach Aufhebung der Devisenkontrollen 1979 mit globalem Ausblick. Als offshore werden dabei jene Finanzplätze bezeichnet, die von den größeren (National-)Staaten durch ihre geographische und juristische Lage getrennt sind.3 Von Bedeutung ist in erster Linie, dass Offshore-Finanzplätze über eine autonome Gesetzgebungs- und Steuerpraxis verfügen sowie eine unabhängige
198
STEFAN ALTORFER
Regulierung und Aufsicht über ihren Finanzsektor ausüben. Dadurch können sie Nischenprodukte und Freiheiten anbieten, die Unternehmen auf anderen (onshore) Finanzplätzen verwehrt bleiben.4 Der folgende Artikel bietet einen Überblick über die Finanzgeschichte von Jersey und Guernsey im 20. Jahrhundert, wobei der Schwerpunkt auf jenen Faktoren liegt, die für die Kanalinseln wichtig sind. Entsprechend knapp werden Entwicklungen berücksichtigt, die auch andere Finanzzentren betreffen, wie etwa die Globalisierung von Wirtschaftsaktivitäten und Finanztransaktionen oder technologische Innovationen. Obwohl zwischen beiden Inseln viele Gemeinsamkeiten bestehen, kann nicht von einem einheitlichen »Finanzplatz Kanalinseln« gesprochen werden. Jersey und Guernsey teilen zwar viele Interessen und kooperieren miteinander, es besteht jedoch neben dem kommerziellen Wettbewerb auch eine lokale Rivalität. In einem ersten Abschnitt wird die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung der Offshore-Finanzplätze auf den Kanalinseln erläutert: ihre verfassungsmäßige Stellung, insbesondere die Beziehung zu Großbritannien und dessen Finanzsektor. Darauf folgt ein Überblick über die Historiographie zu dem Thema sowie über die Verlässlichkeit des verwendeten Zahlenmaterials. Die daran anschließenden drei Abschnitte behandeln in chronologischer Reihenfolge die wichtigsten Phasen des Aufstiegs zu globalen Offshore-Finanzzentren. Die erste Phase umfasst die bescheidenen Anfänge vor 1947. Zu dieser Zeit wurde ein Steuersystem etabliert, das bis zu den Steuerreformen in jüngster Zeit beinahe unverändert bestand. Es bildete den Grundstein für die nachfolgende Entwicklung. Die zweite Phase (1947 bis 1979) stand unter dem Zeichen der britischen Devisenkontrollen. Während sich zunächst vor allem Jersey von einer Steueroase zum Finanzzentrum für Sterling-Transaktionen entwickelte, folgte Guernsey ab 1972 nach. Die dritte Phase begann 1979 mit der vollständigen Aufhebung der Devisenkontrollen durch Großbritannien. Die Kanalinseln mussten sich nun als globale Finanzzentren behaupten. Sie taten dies seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre auch gegen zunehmenden internationalen Druck. Auf die beim Aufstieg zu globalen Offshore-Finanzzentren beobachteten Probleme und Erfolgsfaktoren wird danach in einem eigenen Abschnitt eingegangen. Dort werden Aspekte wie die wirtschaftliche Bedeutung des Finanzsektors, dessen Regulierung und die Rolle Großbritanniens diskutiert. Zum Schluss folgt eine Bilanz mit Ausblick.
Die Kanalinseln und ihr Verhältnis zu Großbritannien5 Die Kanalinseln Jersey und Guernsey befinden sich im Ärmelkanal vor der Küste Frankreichs. Sie sind insgesamt 195 km2 groß und zählten beim Zensus von 2001
DIE KANALINSELN JERSEY
UND
GUERNSEY
199
87.186 (Jersey) bzw. 59.807 (Guernsey) Einwohner. Politisch sind sie direkt der englischen Krone unterstellte Selbstverwaltungsgebiete (Bailliwicks).6 Sie sind zwar Teil der britischen Inseln, jedoch nicht Großbritanniens, wodurch die Beschlüsse des Parlaments in Westminster keine Gültigkeit haben. Insbesondere in ihrer Gerichtsbarkeit und in Steuerangelegenheiten sind die Kanalinseln unabhängig. Jersey und Guernsey verfügen über ihre eigenen gewählten Parlamente, die so genannten States, die Gesetze erlassen und Recht sprechen. Ihr politisches System gilt als stabil und grundsätzlich konservativ. Es bestehen keine politischen Parteien und somit auch kein Regierungs- und Oppositionssystem.7 Ähnlich wie in England herrscht ein enges Verhältnis zwischen Legislative und Judikative, allerdings mit einer weitaus größeren persönlichen Konzentration. Der Baillif ist zugleich oberster Richter, Parlamentspräsident und de facto Staatspräsident. Seitens der englischen Krone ist der Privy Council für die Inseln zuständig, die Beziehungen zur britischen Regierung laufen über deren Innenministerium. Die einzigartige konstitutionelle Stellung der Kanalinseln lässt sich nur historisch erklären. Seit dem 10. Jahrhundert waren sie Teil des Herzogtums der Normandie, dessen König Wilhelm der Eroberer nach der Schlacht von Hastings 1066 auch die englische Königskrone führte. Als 1204 König Johann ohne Land die Normandie verlor, blieben die Kanalinseln der englischen Krone treu. Unter ihr genossen sie ausgedehnte Privilegien, allen voran die Befreiung von englischen Steuern. Diese Sonderstellung wurde 1801 formell anerkannt und im British Nationality Act von 1948 bestätigt, nachdem Jersey und Guernsey zuvor vom nationalsozialistischen Deutschland besetzt gewesen waren.8 Die verfassungsmäßige Beziehung zu Großbritannien ist jedoch weitgehend ungeschrieben. Rutsel Martha beschreibt die Situation der Kanalinseln als ein Profitieren von »funktioneller Souveränität« in Steuerfragen unter der »personellen Souveränität« der englischen Krone.9 Andere Autoren sprechen von »kooperativer Unabhängigkeit«10 oder von »Pseudo-Nationalstaaten«11. Die Royal Commission on the Constitution beschrieb 1973 die Regierungen der Krondomänen als »unique and not capable of description by any of the usual categories of political science. […] [They are] full of anomalies, peculiarities and anachronisms, which even those who work the system find it hard to define precisely. We do not doubt that more logical and orderly races than the British would have swept all these away long ago and incorporated the Channel Islands and the Isle of man into the United Kingdom as full as the Orkney and Shetland Islands [§ 1459]. […] in some respects they are like miniature states with wide powers of self-government [§ 1360].«12 Seit Großbritanniens Beitritt zu den Römischen Verträgen im Jahre 1973 ist das Verhältnis der Kanalinseln zu den Europäischen Gemeinschaften, sowie inzwischen zur Europäischen Union, durch das Protokoll drei des Beitrittsvertrags geregelt.13 Dieses besagt, dass Jersey und Guernsey außer bei den landwirtschaftlichen Produk-
200
STEFAN ALTORFER
ten nicht Teil der Union sind. Anders verhält es sich mit der Zugehörigkeit zur OECD. Hier erklärte die britische Regierung 1991, dass ihre Unterschrift auch für die Kanalinseln und andere abhängige Territorien gelte.14 Jersey verfügt bereits seit 1834 über eine vollständige Währungsunion mit Großbritannien, Guernsey folgte 1921 nach.15 Von 1947 bis 1979 waren die Kanalinseln Teil der Sterling-Zone und damit entsprechenden Devisenkontrollen seitens der Bank of England unterstellt. Die von Jersey und Guernsey herausgegebenen Banknoten sind noch heute an das britische Pfund gebunden. Le Marchant bezeichnet sie entsprechend als »eigentlich eine in Sterling denominierte Schuldverschreibung [der] Regierung (des Parlaments)«16. Ihre vermeintlich rückständige politisch-konstitutionelle Stellung als Krondomänen teilen die Kanalinseln mit anderen Offshore-Finanzplätzen, die Staatsgebilde wie Herzogtümer, Fürstentümer oder Kronkolonien sind. Die Kanalinseln verfügen über eine lange Tradition in der Ausnützung ihrer verfassungsmäßigen Sonderstellung. Im 18. Jahrhundert entfaltete sich vor allem auf Jersey neben dem traditionellen Schmuggel ein blühendes Geschäft mit staatlich bewilligter Piraterie (privateering) gegen den französischen »Erbfeind«. In Kriegszeiten – und dies war damals häufig der Fall – war die Plünderung fremder Schiffe und der Verkauf ihrer Ware eine zwar riskante, aber auch profitable Tätigkeit. Anscheinend ließen sich einige französische Schiffe nach Absprache mit Inselbewohnern kapern, damit ihre Waren trotz Handelsblockaden in England verkauft werden konnten. Mark Hampton sieht in solchen Episoden gar einen Vorläufer zu dem, was er als die »neue Piraterie« des Offshore-Finanzzentrums bezeichnet. Sein Vergleich geschieht jedoch eher der Polemik als des Inhalts wegen.17 Die Geschichte des Finanzsektors auf den Kanalinseln ist aufs engste mit jener der Londoner City verknüpft. Es ist deshalb unerlässlich, stets den Seitenblick auf die Entwicklungen in Großbritannien zu werfen. Da dies hier nicht im Detail geschehen kann, seien bloß die wichtigsten Punkte kurz erwähnt.18 Trotz der Einführung von Devisenkontrollen und der Verstaatlichung der Bank of England 1947 herrschte seitens der Regierung meist eine wohlwollende Indifferenz gegenüber den Banken vor. Die Bank of England ihrerseits war finanziellen Innovationen gegenüber aufgeschlossen und stets darauf bedacht, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der City zu gewährleisten. Es war nicht zuletzt ihre permissive Haltung, die den Wiederaufstieg zum bedeutenden Finanzzentrum ermöglichte, als sich London in den späten 1960er Jahren als Zentrum für Anleihen in Drittwährung (Eurobonds) etablierte. Eine wichtige Rolle spielten auch die verschiedenen Stufen der Deregulierung in Großbritannien: die Aufhebung der Devisenkontrollen 1979, die Liberalisierung der Finanzmärkte durch den so genannten Big Bang von 1986 sowie die Gewährung der Unabhängigkeit für die Bank of England 1997.
DIE KANALINSELN JERSEY
UND
GUERNSEY
201
Historiographie und Zahlenmaterial Die historische Literatur zur Finanzgeschichte der Kanalinseln ist bescheiden. Den empirisch fundiertesten Überblick liefern die Werke von Richard A. Johns und Christopher Le Marchant.19 Daneben existiert eine umfangreiche Studie zu Jersey als Offshore-Finanzplatz von Hampton, die sich in ihrer Interpretation freilich stark von Johns/Le Marchant unterscheidet.20 Einen interessanten Vergleich zwischen den Standortfaktoren der Offshore-Zentren Guernsey und Luxemburg zieht Rüdiger Voss.21 Johns/Le Marchant sehen das Beherbergen eines Finanzzentrums als eine erfolgversprechende Möglichkeit für Kleinstaaten, ihre Vorteile im zwischenstaatlichen Wettbewerb auszunutzen. Durch ihre fiskalische und regulatorische Unabhängigkeit können diese Staaten Unternehmen vorteilhafte Konditionen anbieten, wie etwa tiefe Steuern oder eine flexible Regulierung. Entsprechend sehen Johns/Le Marchant die Berechtigung von Offshore-Zentren in erster Linie in der übermäßigen Regulierung, Einschränkung und Besteuerung des Finanzsektors in den Nationalstaaten: »Their raison d’être was the offering of offshore banking, with its associated customised niche products and operational freedoms, to emergent transationalising private and corporate sectors originating from largely protectionist, anti-competitive anti-trade ›overregulated‹ onshore nationalistic financial centres and markets.«22 Eine Herausforderung für die Wettbewerbsfähigkeit von Offshore-Finanzplätzen ist demnach vor allem die weitere Deregulierung onshore. Hampton kritisiert diese Position als »orthodox […] and somehow superficial«23. In einem nicht weniger orthodoxen Ansatz schlägt er vor, die Etablierung eines Offshore-Finanzplatzes in Jersey mit einem marxistischen Zugang zu erklären. Die »Hegemonie des Finanzkapitals« im Vereinigten Königreich habe dazu geführt, dass die Londoner Banker die kleine Insel übertölpelt hätten, um sich dort niederzulassen. Auf Jersey hätten sie sich in einem wenig regulierten Umfeld den Kontrollen des Festlands entziehen können, wobei das Wohlwollen der britischen Regierung wiederum dank der Hegemonie des Finanzkapitals gewährleistet gewesen sei. Zuzustimmen ist Hampton insofern, als die politische Ökonomie immer eine wichtige Rolle spielt bei der Entwicklung von Finanzplätzen. Dass eine Untersuchung der Kanalinseln die Situation in Großbritannien berücksichtigen muss, versteht sich von selbst, auch wenn die Zusammenhänge keineswegs so simpel sind, wie sie von Hampton dargestellt werden. In weiteren Artikeln untersucht Hampton zusammen mit John Christensen die Konsequenzen des Finanzsektors für die lokale Ökonomie und politische Kultur der Kanalinseln. Hampton/Christensen betonen dort die negativen Konsequenzen eines dominierenden Finanzsektors für die Entwicklung der Volkswirtschaft und beschreiben, wie sich das internationale Finanzkapital
202
STEFAN ALTORFER
gleich einem »Kuckuck im Nest« niedergelassen und andere Wirtschaftssektoren verdrängt habe.24 Tab. 1: Die Finanzplätze Jersey (J) und Guernsey (G) von 1951 bis 2001 Jahr
Anzahl Einwohner
Banklizenzen
J
Unternehmen
Bankeinlagen (Mio. Pfund)
G
J
G
G
J
1951
57.310
k.A.
8
k.A.
21
k.A.
k.A.
k.A.
1961
62.220
45.068
12
6
44
k.A.
k.A.
486
1971
72.303
51.458
30
21
470
162
4.746
2.004
1981
76.050
53.313
40
42
13.000
2.691
16.643
7.295
1991
84.082
58.867
64
72
43.344
16.250
28.535
13.814
2001
87.186
59.807
64
72
132.200
77.211
32.992
15.453
Jahr
BSP/Kopf (GB=100)
Bankeinlagen/ BSP
J
Offshore Fonds J
G
G
Mitarbeiter Finanzsektor (absolut und in Prozent)
J
G
J
G
1951
58
k.A.
1,7
k.A.
1
k.A.
J k.A.
G k.A.
1961
79
k.A.
1,4
k.A.
2
k.A.
k.A.
4.743 (16%) 5.928 (19%)
1971
k.A.
79
k.A.
k.A.
15
13
1.761 (5%)
1981
156
92
24,1
12,1
99
49
3.636 (9%)
1991
212
114
23,8
23,7
293
221
2001
200
125
45,1
61,4
327
527
7.399 (16%)
k.A. 4.743 (16%)
12.606 (27%) 7.300 (23%)
Quellen: Johns 1983; Johns/Le Marchant 1991; Hampton 1996; Jersey in Figures 2003; Jersey Statistical Review 2002; Guernsey Facts and Figures 2003; Guernsey Financial Services Commission; Jersey Financial Services Commission; Anmerkung: Einzelne Angaben sind für die dem Stichjahr am nächsten liegenden Jahre
Neben diesen Studien existiert ein empirisch reichhaltiger Überblick über Jerseys Volkswirtschaft im Jahre 1971 von G.C. Powell.25 Neuere Daten wurden von den Behörden der Kanalinseln erhoben und publiziert, wobei ihr statistisches Material nicht immer mit dem anderer Länder kompatibel ist und die verwendeten Methoden umstritten sind.26 Wichtiger als dieser Einwand ist jedoch, dass viele Daten gar nicht erhoben wurden (und werden). So sind zwar Angaben zum gut regulierten Bankensektor vorhanden, über die Vermögen in den Händen von Stiftungen (Trusts) und Treuhändern sind jedoch keine Zahlen zu ermitteln. Die Schätzungen hierzu gehen von sehr bedeutenden Beträgen aus, sind jedoch relativ ungenau.27 Ein quantitativer Überblick muss deshalb von vorne herein unausgewogen und lücken-
DIE KANALINSELN JERSEY
UND
GUERNSEY
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haft ausfallen. Dies darf jedoch keinesfalls als Vorwand dienen, auf jegliche Quantifizierung zu verzichten. Tabelle 1 gibt einen groben Überblick über die wichtigsten Kennzahlen, soweit diese bekannt sind. Im Folgenden wird die Entwicklung der Kanalinseln in drei chronologischen Abschnitten dargestellt. Auf die damit verbundenen Probleme und Erfolgsfaktoren wird danach separat eingegangen.
Die erste Phase: Zaghafte Anfänge und Etablierung des Steuersystems Für die Zeit vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es nur spärliche Angaben zum Finanzsektor auf den Kanalinseln. Die Wirtschaft wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Landwirtschaft dominiert, bevor der aufkommende Tourismus eine weitere Einnahmequelle bot. Ein Bankensektor hatte sich seit dem 19. Jahrhundert ähnlich der englischen Provinz entwickelt. Bis in die 1930er Jahre des 20. Jahrhundert eröffneten die Londoner Clearing-Banken alle ihre Filialen in Jersey, daneben existierte eine lokale Sparkasse. Die Bankeinlagen betrugen um die Jahrhundertwende rund eine Million Pfund und stiegen bis 1939 auf rund sechs Millionen Pfund an.28 Seit der Einführung von Einkommenssteuern in Großbritannien im frühen 19. Jahrhundert hatten die Inseln ausgemusterte Offiziere mit Staatsrenten angezogen.29 Diese Entwicklung lässt sich jedoch nicht quantifizieren, es kann aber davon ausgegangen werden, dass die Pensionäre das sonnige Klima der Kanalinseln mindestens so sehr schätzten wie die Abwesenheit eines Steuervogts. Guernsey besteuerte seit Anfang 1919 die Einkommen seiner Bürger, unter anderem um den freiwilligen Beitrag der Insel an den Kriegskosten des Empires zu finanzieren. Jersey führte 1928 die Einkommenssteuer ein.30 Zuvor war mit Großbritannien über eine Kooperation bei der Eindämmung von Steuerflucht verhandelt worden. Eine Konferenz mit dem britischen Finanzminister führte zwar zu keinem materiellen Resultat, doch kamen die Kanalinseln den britischen Forderungen informell nach. Fortan verlangten sie, dass bei allen Gründungsurkunden von Firmen eine Baillifs clause einzubauen sei, die besagte, dass das Unternehmen nicht zur Umgehung britischer Steuern verwendet werden durfte.31 Auswanderungswillige Steuerzahler sollten sich jedoch weiterhin auf den Inseln niederlassen können. Großbritannien versuchte seither, Steuerschlupflöcher in seinen jährlichen Finanzgesetzen zu schließen.32 Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hoben beide Kanalinseln ihren Steuersatz auf 20 Prozent an. Die Kosten der deutschen Okkupation wurden für Jersey allein auf
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über 7,5 Millionen Pfund geschätzt. Dies war eine enorme Summe, zieht man in Betracht, dass die Inselregierung vor dem Krieg über ein jährliches Budget von rund 50.000 Pfund verfügte. In dieser Situation gewährte Großbritannien einen Kredit von 4,2 Millionen Pfund.33 Während Jersey den Steuersatz von 20 Prozent beibehielt, erhob Guernsey nach dem Krieg zunächst 25 Prozent und mehr, kehrte aber 1960 zum früheren Satz von 20 Prozent zurück.34 Dieser Tarif wurde auf beiden Inseln bis Anfang des 21. Jahrhunderts beibehalten und galt für sämtliche steuerbaren Einkommen natürlicher und juristischer Personen. Das Steuersystem der Kanalinseln entsprach somit dem Ideal einer Flat Tax, wie es von vielen Ökonomen propagiert wird.35 Jersey und Guernsey verfügten zwar über kein formelles Bankkundengeheimnis, doch hat das Vertrauensverhältnis in der angelsächsischen Bankentradition einen hohen Stellenwert. Die juristische Unabhängigkeit erschwerte den Zugriff ausländischer Steuerbehörden. Obwohl der Steuersatz mit 20 Prozent höher lag als in anderen Offshore-Zentren, war er doch vor allem im Verhältnis zu Großbritannien und anderen Nationalstaaten vorteilhaft. Mit jeder Steuererhöhung onshore wurde der konstante Tarif der Kanalinseln attraktiver. Natürliche Personen profitierten in erster Linie davon, dass weder Kapitalgewinn- noch Grundstücks- oder Erbschaftssteuern erhoben wurden. Trotz – oder gerade wegen – der Doppelbesteuerungsabkommen mit Großbritannien ab 1952 spielten die Kanalinseln eine wichtige Rolle bei der Steueroptimierung wohlhabender Briten.36 In der Besteuerung von Unternehmen wurde der Satz von 20 Prozent nur bei jenen Firmen angewandt, die wirtschaftlich auf der Insel aktiv oder im Besitz von Inselbewohnern waren. Für jene Firmen, die keine Einkommensteuern bezahlen mussten, bestand in Guernsey seit 1935 eine vom Umsatz unabhängige Corporation Tax von jährlich 50 Pfund. Dieses Regime wurde 1950 bestätigt, 1969 wurde der Tarif auf 300 Pfund jährlich erhöht. In Jersey bestanden ab 1940 spezielle Steuern für Firmen in fremdem Besitz. 1956 wurde ein ähnliches Modell wie in Guernsey eingeführt, jedoch mit einem unterschiedlichen Tarif, bis 1974 ebenfalls 300 Pfund jährlich erhoben wurden.37 Weitere Offshore-Vehikel waren die 1989 eingeführte Exempt Company sowie ab 1993 die International Business Corporation. Die Bedeutung der geringen Unternehmenssteuern für die weitere Entwicklung der Kanalinseln kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
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UND
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Die zweite Phase: Unter den Fittichen der Bank of England (1947 bis 1979) Als die Labour-Regierung in Westminster 1947 den Exchange Control Act erließ, hatte dies auch für die Kanalinseln tiefgreifende Konsequenzen. Trotz ihrer unabhängigen Gesetzgebung befanden sich Jersey und Guernsey bis 1979 in einer von Johns als »Zwangsjacke« bezeichneten Währungskontrolle durch die Bank of England.38 Mit ihrer wohlwollenden Indifferenz ließ die Bank jedoch genügend Freiraum zum Entwickeln eigener Strategien, während sich ihre Aufsicht positiv auf das Vertrauen von Investoren auswirkte. Die Kontrolle des Finanzsektors fand auf informelle Art, durch regelmäßige Sitzungen mit Vertreter der Banken in der City, statt. Das Ehrenwort eines Gentleman galt mehr als formelle Regeln. Vorschriften existierten dennoch, galten aber in unterschiedlichem Ausmaß. Während für die Clearing-Banken (die Big Five) relativ strenge Vorschriften bezüglich Kapitaldeckung, Reserven oder Kreditgewährung herrschten, florierte daneben seit den 1960er Jahren eine wachsende Anzahl von Sekundärbanken, deren Spielraum weitaus größer war. Für die Kanalinseln bedeutete die Aufsicht der Bank of England, dass der Handel mit Pfund Sterling ihre Erlaubnis brauchte. Seitens der Inselbehörden bestanden kaum Regeln über den Eintritt neuer Banken. Jersey aktualisierte 1967 sein Bankengesetz, wobei jedoch keine Vorschriften über Mindestreserven gemacht wurden.39 Das Jersey Finance and Economics Committee, dem die Aufsicht des Bankensektors oblag, übte ein permissives Regime aus. Wenn eine Bank auf den Kanalinseln eine Filiale eröffnen wollte, benötigte sie bloß ein knappes Empfehlungsschreiben des Stammhauses, welches eine ausreichende Kapitaldeckung bestätigen sollte, freilich ohne quantitative Angaben.40 Auch auf den Kanalinseln wurde auf das Ehrenwort eines Gentleman – und die Kontrolle der Bank of England – vertraut. In den 1950er Jahren verdoppelten sich die Bankeinlagen in Jersey beinahe, von 21,3 Millionen Pfund (1950) auf 39,3 Millionen Pfund (1960).41 Dieser Kapitalzufluss fand weitgehend im Rahmen der bereits bestehenden Banken statt; die Anzahl der Banklizenzen stieg im gleichen Zeitabschnitt lediglich von fünf auf sieben (siehe Tabelle 2). Powell schätzt, dass in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren rund 70 Prozent der Bankeinlagen in Jersey Personen gehörten, die nicht auf der Insel wohnhaft waren.42 Zinsvorteile können dabei nicht ausschlaggebend gewesen sein, galt doch bis 1962 ein Wuchergesetz aus dem Jahr 1771, welches den maximalen Zinsfuß auf fünf Prozent festlegte. Als in England im September 1957 die Zinsen auf sieben Prozent stiegen, wäre somit ein Geldabfluss zu erwarten gewesen.43 Dass dies nicht geschah, lag in erster Linie daran, dass inzwischen viele wohlhabende Briten Jersey zur Umgehung von Steuerforderungen benutzten. Beispielsweise hatten Steuerberater in den späten 1950er Jahren ausgenutzt, dass die Kanalinseln in
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STEFAN ALTORFER
Bezug auf die Grundstücksteuer als Ausland galten. Dieses Schlupfloch wurde so beliebt, dass deswegen schätzungsweise zwölf Millionen Pfund nach Jersey flossen. Dies wiederum rief die britischen Steuerbehörden auf den Plan, die 1961 ihre Gesetze anpassten. 1965 wurde schließlich in Jersey die Baillifs clause aufgehoben, die Unternehmen eine Umgehung britischer Steuern verbot.44 Tab. 2: Banken auf den Kanalinseln (1960 –1979) Jahr
Anzahl der Banklizenzen
Bankeinlagen in Millionen Pfund
Jersey
Guernsey
1960
7
6
Jersey 39
1966
21
11
1972
30
34
1979
36
43
Guernsey
Bankeneinlagen in Millionen Pfund (zu Preisen von 1995) Jersey
Guernsey
k.A.
725
k.A.
113
k.A.
1.550
k.A.
590
162
4.049
1.199
6.300
1.070
16.999
2.820
Quellen: Johns 1983; Hampton 1996; Jersey Financial Services Commission
Die 1960er Jahre sahen eine starke Zunahme der Banklizenzen, was Johns von einer »Bankeninvasion« sprechen ließ.45 Auch in Guernsey stieg die Anzahl der Banken von sechs (1960) auf 21 (1971).46 Gleichzeitig erhöhten sich in Jersey die Bankdepositen innerhalb eines Jahrzehnts nominell um mehr als das Zehnfache. Selbst bei Berücksichtigung der Teuerung bleibt ihr Anstieg eindrücklich (siehe Tabelle 2). Wie in Großbritannien breiteten sich vor allem die Sekundärbanken aus. Während ihre Depositen in Jersey 1966 noch drei Viertel jener der Clearing-Banken ausmachten, waren sie zwei Jahre später bereits rund doppelt, 1970 etwa viermal so groß.47 Abgesehen von Steuervorteilen benutzten viele britische Finanzinstitute ihre Niederlassungen auf den Kanalinseln, um die Einlagen ans Festland auszuleihen und somit Kreditrestriktionen zu umgehen.48 Jersey führte 1967 ein neues Bankengesetz ein, welches die Kontrolle verstärkte. Anfang der 1970er Jahre änderten sich die Rahmenbedingungen für den Finanzsektor der Kanalinseln in verschiedener Hinsicht. Zunächst führte die Ölkrise zu einer bedeutenden Umschichtung finanzieller Guthaben. Für den neu akkumulierten Reichtum in Fernost mussten attraktive Investitionsmöglichkeiten gesucht werden, und Offshore-Banking sollte sich als dazu besonders geeignet erwiesen. London hatte sich seit den ausgehenden 1960er Jahren allmählich zu einem bedeutenden Handelsplatz für Eurobonds gewandelt, wurde 1973/74 jedoch von einer Sekundärbanken-Krise erschüttert, von der auch einige Stammhäuser mit Niederlassungen in Jersey betroffen waren. Von größerer Bedeutung war, dass 1973 die Grenze der
DIE KANALINSELN JERSEY
UND
GUERNSEY
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Sterling-Zone neu festgelegt wurde. Während zuvor die Kanalinseln ihre Position innerhalb der Zone mit den meisten Commonwealth-Staaten teilten, waren sie fortan zusammen mit Irland und Gibraltar die einzigen Handelsplätze für Sterling-Transaktionen. Vom Beitritt Großbritanniens zu den Römischen Verträgen im Jahre 1973 waren sie weitgehend entbunden. All diese Veränderungen steigerten Jerseys Attraktivität als Offshore-Finanzplatz, wodurch erwartet werden konnte, dass sich noch mehr Banken auf der Insel niederlassen würden. In dieser Situation entschieden sich die States of Jersey im Oktober 1972, ein Moratorium für die Ausgabe von Bankenlizenzen zu verhängen und die Einwanderung drastisch zu beschränken. Zu diesem Zweck wurde ein 25-Jahresplan zur wirtschaftlichen Entwicklung erstellt, der festlegte, wie das Wachstum konsolidiert werden sollte.49 Der Hauptgrund dafür war, dass das starke Wachstum des Finanzsektors vermehrt auch negative Auswirkungen zeigte. Nicht nur wurde das Bauland knapp, es wurde auch zunehmend unmöglich, genügend qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. In Zukunft sollte sich Jersey mehr um ein »qualitatives« Wachstum bemühen, indem nur erstklassigen Banken und außerordentlich gut betuchten Auswanderern erlaubt wurde, sich auf der Insel niederzulassen. Der Bankrott zweier Finanzinstitute 1970 hatte das Bedürfnis bestärkt, das Wachstum auf wenige gesunde und finanzkräftige Banken zu konzentrieren. Um die zunehmende Nachfrage von niederlassungswilligen Banken nach der Neuordnung der Sterling-Zone zu befriedigen, bot sich in erster Line Guernsey an. Sein Economic Development Plan von 1972 begrüßte ausdrücklich einen Ausbau des Finanzsektors.50 Der Grundstein hierzu war bereits 1963 mit der Einführung einer Finanzmarkt-Regelung gelegt worden. Als Folge dieser Bemühungen stieg zunächst die Anzahl der Banklizenzen stark an, bis sie 1976 für beinahe zehn Jahre eingefroren wurde. Die Summe der Bankeinlagen stieg danach weiterhin, wenn auch weniger stark (siehe Tabelle 2). Daneben wurde versucht, den Finanzplatz zu diversifizieren. Der Ausschluss der Bahamas aus der Sterling-Zone veranlasste viele Unternehmen, sich nach einem neuen Standort für ihre Offshore-Versicherungen umzusehen. Für Konzerne, die ihre Risiken in unternehmensinternen Versicherungseinheiten (captives) absicherten, bot Guernsey einen attraktiven Steuertarif an. Als Resultat davon lag die Anzahl der Captives um 1976 bei rund 50 und hatte sich bis 1979 mehr als verdoppelt.51 In den frühen 1970er Jahren führte eine Änderung des britischen Stiftungsrechts zu einer Verlagerung auf die Kanalinseln. Diese Entwicklung lässt sich nicht quantifizieren, da über diese Branche keine Daten erhoben wurden. Einziger Näherungswert hierfür ist die Anzahl der domizilierten Firmen. Ihre Anzahl nahm in Jersey von 4.746 (1971) auf 13.813 (1979) zu, in Guernsey von 1.952 (1970) auf 6.162 (1979). Gleichzeitig stieg die Anzahl Investment-Fonds in Jersey von 15 (1971) auf 99 (1979), in Guernsey von 13 (1972) auf 62 (1980).52
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Die dritte Phase: Globale Offshore-Zentren (ab 1979) Am 23. Oktober 1979 war wiederum eine Entscheidung in Großbritannien ausschlaggebend für die künftige Entwicklung der Kanalinseln, als die neu gewählte konservative Regierung unter Margaret Thatcher alle Währungskontrollen abschaffte. Diese unilaterale Deregulierung führte mit einem Mal dazu, dass in Jersey und Guernsey über Nacht die Aufsicht durch die Bank of England wegfiel. Auch wenn zunächst das »Gespenst« einer allfälligen Wiedereinführung der Währungskontrollen noch einige Zeit herumgeisterte, so mussten sich die Kanalinseln doch neu orientieren.53 Grundsätzlich nutzten sie den vorhandenen Spielraum, um die bereits zuvor begonnene Konsolidierung weiter zu führen. Trotz der Abschaffung der Devisenkontrollen blieb die Nähe zum Finanzplatz London bestehen. Seit den späten 1970er Jahren wurden auf Jersey wieder Banken zur Niederlassung zugelassen, in den 1980er und 1990er Jahren nahm ihre Anzahl stark zu. Auf dem Höhepunkt (1997) waren 82 Banken zugelassen. Danach machte sich auch auf der Insel der Konzentrationsprozess in dieser Branche spürbar: Bis Ende 2003 hatte sich die Anzahl Banklizenzen auf 55 verringert. Die Bankdepositen stiegen bis Mitte der 1990er Jahre stark an; danach verlangsamte sich zwar das Wachstum, war aber immer noch beträchtlich (siehe Tabelle 3). Dennoch mussten in den 1990er Jahren erstmals Banken geschlossen und Mitarbeiter entlassen werden. Das 1989 von den Inselbehörden postulierte Nullwachstum im Arbeitsmarkt war ohne ihr Zutun eingetroffen.54 In Guernsey sah die Entwicklung ähnlich aus, wobei dort die frühen 1990er Jahre als Wachstumsphase bei den Bankeinlagen noch stärker hervortraten. Waren die Aktivitäten der Banken in den 1960er und 1970er Jahren noch stark auf das internationale Anleihengeschäft ausgerichtet, so wurde seit den 1980er Jahren die Vermögensverwaltung zum wichtigsten Geschäftsbereich. Dieser Übergang lässt sich jedoch nicht quantitativ belegen, da entsprechende Daten nicht erhoben wurden. Im Geschäft mit Anlagefonds litten die Kanalinseln darunter, dass ihre Produkte international auf Grund fehlender Doppelbesteuerungsabkommen nicht anerkannt wurden. Dennoch wuchs diese Branche stark an: die Anzahl der Fonds in Jersey stieg von 99 (1980) auf 293 (1991) und schließlich auf 449 (2002), jene in Guernsey von 62 (1980) auf 221 (1991) und 478 (2000). Guernseys Offshore-Versicherungsbranche wuchs in den 1990er Jahren von 189 (1990) auf 358 (2000) Unternehmen.55
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GUERNSEY
Tab. 3: Banken auf den Kanalinseln (1980 – 2000) Jahr
Anzahl der Banklizenzen
Bankeinlagen in Millionen Pfund
Jersey
Guernsey
1980
39
42
Jersey 7.900
1985
49
47
1990
60
72
1995
77
2000
74
Guernsey
Bankeneinlagen in Millionen Pfund (zu Preisen von 1995) Jersey
Guernsey
1.800
18.479
4.160
24.000
7.209
39.449
11.970
44.414
15.476
56.323
18.123
73
88.398
46.855
88.398
46.855
77
117.300
68.474
99.244
57.934
Quellen: Johns/Le Marchant 1993; Hampton 1996; Jersey Financial Services Commission; Guernsey Financial Services Commission
Zum Zeitpunkt der Aufhebung der Devisenkontrollen war klar, dass die bestehende Gesetzgebung nicht solide genug war, um den Ansprüchen an ein globales Finanzzentrum zu genügen. In der Bankengesetzgebung bestanden Lücken, und die Regelung der Stiftungen, Fonds und Treuhandgeschäfte war ungenügend. Seit den frühen 1980er Jahren wurden deshalb Anpassungen gemacht und Kontrollen gestrafft. Guernseys Behörden versuchten, den Finanzplatz sowohl geographisch als auch in Bezug auf die angebotenen Dienste zu diversifizieren. Um die Reputation der Insel zu wahren und Engpässe bei den Ressourcen zu minimieren, wurde eine strenge Auswahl getroffen, wer zu Geschäften zugelassen wurde. Im Treuhandbereich wurde als einzige Kontrollmaßnahme 1984 ein Moratorium eingeführt und die Neugründung von Firmen in der Regel nur einheimischen Anwälten und Buchhaltern erlaubt.56 1988 wurde schließlich mit der Guernsey Financial Services Commission (GFSC) ein Instrument zur Selbstregulierung des Finanzplatzes geschaffen und die Kontrolle des Finanzsektors aus den Händen der lokalen Politiker entfernt. Potenzielle Interessenkonflikte bestanden in der Doppelrolle der GFSC als Kontrollorgan und ihrer Aufgabe, den Finanzplatz Guernsey zu vermarkten.57 Formell ist die GFSC kein Organ des Parlaments oder der Verwaltung. Ihre Mitglieder und Mitarbeiter sind somit keine Beamte, was die Kommission in ihrer Rekrutierung freier macht. Die ersten Mitglieder der GFSC waren ehemalige Mitarbeiter der Bank of England mit entsprechender Regulierungserfahrung. Finanziert wird die Finanzaufsicht durch Abgaben der regulierten Institutionen.58 Jersey gab mit seiner Konzentration auf die Vermögensverwaltung in den 1980er Jahren wenig Achtung auf eine Diversifizierung des Finanzsektors. Durch eine limitierte Zulassung sollte die Reputation der Insel als sicherer Bankenplatz bestätigt werden. Zudem wurde international kooperiert, etwa in der 1980 gegrün-
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deten Offshore Group of Banking Supervisors oder in der Umsetzung der Empfehlungen des Basler Komitees der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (Basel I und II). Erst 1995 wurde die Jersey Financial Services Commission als unabhängiges Aufsichtsorgan gegründet und ebenfalls mit ehemaligen Angestellten der Bank of England besetzt. Zuvor hatte eine relativ kleine Regierungsstelle, das Financial Services Department, die Aufsicht über den Finanzplatz Jersey ausgeübt.59 1996 geriet Jersey verschiedentlich in die Kritik internationaler Medien auf Grund eines Betrugsfalles und einer politischen Krise. Sie war dadurch ausgelöst worden, dass die international bedeutenden Buchprüfer sich ein Gesetz »erkauft« hatten, um auf diese Weise Druck auf Großbritanniens Parlament auszuüben.60 Zwei Jahre später ließ das britische Innenministerium in einer konstitutionell fragwürdigen Weise die Finanzplätze der Kanalinseln durch einen ehemaligen Mitarbeiter der Bank of England untersuchen. Das Resultat, der nach seinem Verfasser benannte Edwards-Report, stellte Jersey und Guernsey ein gutes Zeugnis aus und wurde auf den Inseln entsprechend positiv aufgenommen.61 Doch nicht nur die Regulierung des Finanzplatzes stand Ende der 1990er Jahre zur Diskussion. Auch ausländische Steuerbehörden – insbesondere aus Ländern mit hoher Steuerbelastung – hatten ein Interesse daran, gegen die ungeliebte Konkurrenz durch OffshoreFinanzplätze vorzugehen. Die Hochsteuerländer koordinierten ihr Vorgehen im Rahmen von Europäischer Union, OECD, G7 und Weltbank.62 Den Kanalinseln wurde vom Financial Stability Forum der G7 zwar eine gute Regulierung zugestanden, doch befanden sie sich zunächst auf der Schwarzen Liste der unkooperativen Steuerhäfen der OECD. 2002 erklärten sich beide Inseln kurz vor Ablauf eines Ultimatums einverstanden, den Forderungen der OECD zu genügen, sofern sich die Mitgliedsländer USA und Schweiz ebenfalls kooperativ verhielten. Nachdem die Kanalinseln zunächst einen »kriegerischen Standpunkt« eingenommen hatten, mussten sie zuletzt vor allem auf Druck des britischen Schatzkanzlers Gordon Brown einlenken, dessen zentrales Ziel die Verhinderung einer Belastung des Londoner Eurobondmarkts durch Quellensteuern war.63 Als unmittelbare Folge davon stellten beide Inseln ihr Steuersystem grundlegend um.
Probleme und Erfolgsfaktoren Dieser Abschnitt diskutiert die Probleme, die mit dem Aufstieg Jerseys und Guernseys zu globalen Offshore-Finanzzentren verbunden waren, sowie die Erfolgsfaktoren, die diesen Aufstieg überhaupt erst ermöglicht haben. Zunächst geht es dabei um die wirtschaftliche Bedeutung des Finanzsektors und dessen Auswirkungen auf
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UND
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die Entwicklung der Volkswirtschaft. Danach wird auf die Regulierung eingegangen sowie auf das Verhältnis zu Großbritannien. In Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung der Inseln bestand für Jersey und Guernsey das Dilemma, dass ein Wachstum des Finanzsektors zwar hoch erwünscht war, die vorhandenen Ressourcen dies aber nicht unbeschränkt zuließen. Probleme zeigten sich in erster Linie bei der Verteuerung des Lebens, vorab des Wohnraums. Durch die wohlhabenden Einwanderer waren die Grundstückspreise derart in die Höhe geschnellt, dass strenge Maßnahmen ergriffen wurden. Wie in Jerseys Entwicklungsplan von 1972 wurde drei Jahre später auch in Guernsey ein Großteil der Immobilien dem freien Markt entzogen und der einheimischen Bevölkerung Vorrechte eingeräumt.64 Die Einwanderung wurde stark beschränkt, obwohl ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften bestand. Guernsey förderte nicht zuletzt deshalb die Niederlassung von Offshore-Versicherungen, weil deren Verwaltung mit relativ geringem Aufwand für Personal und Raum möglich ist und somit den Entwicklungszielen der Insel entsprach. Die Vorteile, welche die Kanalinseln aus der Beherbergung ihrer Finanzplätze zogen, waren vielfältig. In dieser Beziehung ist ein Vergleich zur Isle of Wight aufschlussreich, einer anderen Kanalinsel, die jedoch Teil Großbritanniens ist. Da diese Insel die gleichen Gesetze und Steuern wie ihr Mutterland kennt, hat sich dort kein Offshore-Finanzplatz entwickelt. Wie in anderen Randregionen bestehen dort große volkswirtschaftliche Probleme, etwa die Abwanderung qualifizierter Arbeitsplätze oder die starke Abhängigkeit vom Tourismus.65 Im Gegensatz dazu wurde auf Jersey und Guernsey der lokalen Bevölkerung Quasi-Vollbeschäftigung gesichert, während gleichzeitig die Steuerbelastung gering gehalten wurde. Gemäß einer Schätzung des Finance and Economics Committees von Jersey mussten 1992 rund 43 Prozent der Steuerpflichtigen auf Grund der großzügigen Abzüge keine Steuern bezahlen.66 Ihre Versorgung mit öffentlichen Diensten war dennoch ausgezeichnet. Das Budget Jerseys wurde zum Großteil durch Einkommenssteuern finanziert, wovon wiederum über die Hälfte (2000: über 60 Prozent) von Unternehmen stammt.67 Doch nicht nur der Staat, auch die Volkswirtschaft der Kanalinseln profitierte vom Finanzsektor. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag Ende des 20. Jahrhunderts deutlich über jenem Großbritanniens, während es fünfzig Jahre früher noch tiefer war (siehe Tabelle 1). Der geschätzte Anteil von Jerseys Bankensektor zum Bruttoinlandsprodukt stieg im Verlaufe des 20. Jahrhunderts von 15 Prozent (1971) zunächst 1979 auf 25 Prozent, 1991 auf 47 Prozent und 2004 auf rund 60 Prozent. Die Zahlen für Guernsey sehen ähnlich aus.68 Werden die Bankdepositen als einzig zuverlässig bekannte Größe über das Volumen des Finanzplatzes in das Verhältnis zu dem Bruttoinlandsprodukt gesetzt, erhält man einen weiteren Indikator für das Gewicht des Finanzsektors. Bereits 1952 war dieser Wert in Jersey mit 1,67 größer
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als eins, die Bankeinlagen waren also größer als das jährliche Volkseinkommen. Die Quote stieg bis 1976 auf 7,52 an, bewegte sich in den 1980er Jahren um 25 und stand 2001 schließlich bei 45,1. In Guernseys Banken lag zu diesem Zeitpunkt über 60mal mehr Geld als die Insel jährlich erwirtschaftete (siehe Tabelle 1). Zum Vergleich: In Großbritannien stieg dieser Wert von 0,41 (1966) in den 1970er Jahren auf knapp über eins (1976: 1,29) und stand 1996 bei 2,26.69 Die hohe Abhängigkeit der Volkswirtschaft von einem einzigen Sektor bringt auch eine Reihe von Problemen mit sich. Die Inseln werden dadurch von Entwicklungen abhängig, auf die sie keinen Einfluss nehmen können. Ihre fehlende politische Macht bekamen sie wie die übrigen Offshore-Finanzzentren in den späten 1990er Jahren zu spüren. Auch wirtschaftlich schlagen negative Faktoren zu Buche. Die hohen Lohnkosten haben in Jersey und Guernsey die Leichtindustrie beinahe vollständig verdrängt und bereiten auch dem Tourismus Probleme. Für eine ausgewogene wirtschaftliche Entwicklung bieten sich dennoch kaum Alternativen. Die Landwirtschaft ist beschäftigungsmäßig relativ unbedeutend und hat außerdem ihrerseits mit vielen Marktbarrieren und Vorschriften zu kämpfen. Der Tourismus ist stark von der internationalen Konjunktur abhängig, zudem sorgten fallende Transportpreise dafür, dass viele englische Besucher inzwischen weiter entfernte Destinationen vorziehen. Hampton/Christensen sehen im Finanzplatz Jersey daneben auch eine Gefahr für die politische Kultur und die Zivilgesellschaft der Insel. Sie argumentieren, dass durch die Kleinheit und Insularität die Gesellschaft eine starke Kohäsion und »eine bestimmte Form von Sozialkapital« entwickelt wurde, die sich in sozialer Kohäsion, Werten, Normen oder Netzwerken manifestiert.70 Dieses Sozialkapital ermöglichte einerseits die Entstehung des OffshoreFinanzplatzes, sie schränkt aber auch die Kontrolle darüber ein. Dadurch, dass viele Leute vom Finanzsektor profitieren, werde die Kritikfähigkeit der Zivilgesellschaft eingeschränkt. Auf Grund der Kleinheit und der damit verbundenen Nähe von Regierung, Behörden und Banken sei auch die Regulierung des Finanzmarkts problematisch. Zum einen fehlten die nötigen Checks and Balances, zum anderen sei kein ausreichend großer Pool an unabhängigem Fachwissen vorhanden. Die Regulierung des Finanzmarkts ist in der Tat ein Balanceakt, bei dem es gilt, ein Gleichgewicht zu finden zwischen einer gewissen Flexibilität bei der Beurteilung finanzieller Innovationen und einer gleichzeitig angewandten Strenge, die dem Finanzplatz die nötige Stabilität gibt und die Sicherheit der Investitionen sichert. In den Anfangszeiten profitierten die Kanalinseln in dieser Beziehung von der Kontrolle und Glaubwürdigkeit der Bank of England. Auch wenn durch die Währungsunion mit Großbritannien eine Einflussnahme auf die Geldpolitik unmöglich war, so überwogen doch die Vorteile, Teil der Sterling-Zone zu sein. Die verfassungsmäßige Sonderposition Jerseys und Guernseys ermöglichte politische und fiskalische Stabilität, während sich die Gesetzgebung gleichzeitig als anpassungsfähig
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erwies. Le Marchant, der in leitender Stellung bei der Guernsey Financial Services Commission tätig ist, spricht in dieser Beziehung vom »Offshore-Labor für finanzielle Innovation«71. Auf Grund ihrer kurzen Entscheidungswege könnten die Behörden der Kanalinseln schneller auf Bedürfnisse des Finanzsektors reagieren und entsprechend Hand bieten zur Regulierung neuer Produkte. Aus Sicht des Praktikers weist Le Marchant auch auf das Problem der falschen und ungleichen Erwartungshaltung der Öffentlichkeit hin. Ziel einer Finanzaufsichtsbehörde könne es nicht sein, einen fehlerfreien Finanzsektor zu garantieren und Bankrotte zu verhindern, da sie keine Handhabe gegen Fehlentscheide und schlechtes Management seitens der Banken habe. Ein Finanzregulator solle lediglich den Rahmen für deren Geschäftstätigkeit aufstellen und dessen Einhaltung überwachen. In der Wahrnehmung von Finanzskandalen gälten oft unterschiedliche Maßstäbe. Während diese in großen, dicht regulierten Zentren wie London oder New York lediglich als »faule Äpfel im Korb« angesehen würden, leide bei kleineren Finanzplätzen die Reputation der Behörden mit.72 Bei den Erfolgsfaktoren, die zur erfolgreichen Etablierung eines Offshore-Finanzzentrums geführt haben, war für beide Inseln das Verhältnis zu Großbritannien zentral. Ohne die prosperierende Londoner City wäre wohl weder aus Jersey noch aus Guernsey ein bedeutender Finanzplatz geworden. Ein Großteil der niedergelassenen Banken ist mit Instituten verbunden, die an der Themse niedergelassen sind. Dass auch seitens der britischen Behörden, allen voran der Bank of England, in Bezug auf die Entwicklung der Finanzplätze Jersey und Guernsey eine permissive Haltung bestand, kann nicht von der Hand gewiesen werden – auch wenn dies von offizieller Seite bestritten wird.73 Als Gegenbeispiel kann hier Frankreichs Haltung gegenüber seinen Überseegebieten gelten, wo keine Offshore-Zentren entstanden sind. Die Vorteile, die Großbritannien aus der Existenz der Kanalinseln zog, waren zunächst, dass viele Backoffice-Dienstleistungen aus Kostengründen nach England ausgelagert wurden. Wichtiger war jedoch, dass die britischen Banken durch ihre Filialen auf den Kanalinseln jene Offshore-Produkte anbieten konnten, die in London nicht zur Verfügung standen. Unter dem Regime der Devisenkontrollen trugen Jersey und Guernsey zudem zur Zahlungsbilanz und den Währungsreserven der Sterling-Zone bei. Daneben spielte sicherlich auch mit, was Johns/Le Marchant als »Powell’s Doorstep Refuge Law of Offshore Development« bezeichnen.74 Dieses Prinzip bezieht sich auf Powell, der festgestellt hat, dass unter der Annahme, dass Steuerflucht unumgänglich ist, es für Großbritannien letztlich besser sei, die abfließenden Vermögen vor der eigenen Türschwelle und innerhalb der eigenen Währungszone zu haben. Eine solch pragmatische und tolerante Haltung gegenüber Offshore-Finanzzentren wurde jedoch nicht von allen geteilt. Das Finanzministerium versuchte stets, durch strengere Regulierung und verbesserte Kontrollen einen Abfluss von potentiell steuerbaren Einkommen zu verhindern. Seine Aktivitäten
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hatte für Jersey und Guernsey bedeutende Konsequenzen. 1979 gab es beispielsweise Gerüchte, wonach die britischen Steuerbehörden das Wachstum von Fremdwährungsfonds auf den Kanalinseln überwachten. Als im Oktober 1982 bekannt gegeben wurde, dass deswegen keine weiteren Schritte unternommen würden, stiegen die entsprechenden Anlagen innerhalb dreier Wochen um 40 Prozent. Diese Vehikel wurden schließlich derart erfolgreich zur Umgehung von Kapitalgewinnsteuern eingesetzt, dass das britische Finanzministerium 1984 solche Zinsen als Einkommen definierte und entsprechend steuerpflichtig machte.75 Die Rolle der Bank of England bei der finanziellen Entwicklung der Kanalinseln kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Da jedoch eine detaillierte Untersuchung bankinterner Unterlagen bisher nicht erfolgt ist, lässt sich über ihre Motive nur spekulieren. Ihre Zwischenstellung als Organ der Regierung (1947 bis 1997), als Aufsichtsbehörde sowie als informelle Vertreterin der Interessen der Londoner Banken müsste dabei genauer ausgeleuchtet werden als dies mit Hamptons marxistischem Ansatz geschieht. Die Bank folgte in ihrer Regulierung meist einer Politik der Nicht-Intervention und war offen für Innovationen der Finanzmärkte. Wie weit die politische Unabhängigkeit der Bank nach 1997 von Bedeutung war für die Rolle, die Großbritannien unter der Labour-Regierung Tony Blairs gegenüber den Kanalinseln einnahm, kann nur spekuliert werden. Mit Hampton könnte thesenhaft postuliert werden, dass das »Finanzkapital« nun nicht mehr über den nötigen politischen Einfluss verfügte, um die Offshore-Finanzzentren vor dem Zugriff des Finanzministeriums zu schützen. Weitere Standortfaktoren von Jersey und Guernsey waren in erster Linie von ihrer geographischen Lage abhängig. Durch ihre Lage in Europa hatten sie anderen Offshore-Finanzplätzen eine geopolitische Stabilität voraus, aber auch den Vorteil, mit London in der gleichen Zeitzone zu sein. Dazu kam eine gute Verkehrsinfrastruktur, insbesondere die zahlreichen Flugverbindungen, die dank der Tourismusindustrie bestanden. Nachdem sich die ersten Finanzinstitute auf den Kanalinseln niedergelassen hatten, bildete sich bald eine »Nadelstreifen-Infrastruktur« von verfügbaren Finanzdienstleistungsanbietern und verwandten Branchen aus, auf die sich Neuankömmlinge verlassen konnten.76 Die Verfügbarkeit relativ gut ausgebildeter und englischsprachiger Arbeitskräfte spielte eine größere Rolle als die auf der Insel verbreiteten Französischkenntnisse. Bis heute ist ein erstaunlich kleiner Anteil französischer Kapitalien auf den Kanalinseln investiert, was wohl in erster Linie mit der kompromisslosen Haltung der französischen Steuerbehörden zu erklären ist.
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Bilanz und Ausblick Vor 1950 waren weder Jersey noch Guernsey bedeutende Finanzzentren, trotz ihrer Attraktivität als steuergünstiges Domizil wohlhabender Briten. Dies sollte bis in die 1960er Jahre so bleiben, als sich eine Reihe von Sekundärbanken zunächst in Jersey niederließen. Den Übergang vom Steuerhafen zum Finanzzentrum – zunächst allein in Sterling-Währung – schaffte Jersey Ende der 1960er Jahre im Windschatten von Londons Eurobond-Markt. Guernseys Finanzplatz entwickelte sich etwas später, vorwiegend nachdem Jersey ab 1972 die Zulassung neuer Banken eingeschränkt hatte. Weiterhin wuchsen aber auch in Jersey die Bankeinlagen im Rahmen der bestehenden Finanzinstitute stark an. Die Geschäftstätigkeit der Banken verlagerte sich allmählich vom internationalen Anleihegeschäft zur Vermögensverwaltung. In dieser Branche war auch eine zunehmende Anzahl von Stiftungen und Treuhändern aktiv. Das Fondsgeschäft wuchs seit den 1970er Jahren ebenfalls stark an. Während Jersey seine Konzentration auf den Banken- und Fondsbereich behielt, etablierte sich in Guernsey daneben das Geschäft mit Offshore-Versicherungen. Schließlich spielten die Kanalinseln auch eine bedeutende Rolle bei der steuerlichen Beherbergung von Unternehmen, deren Anzahl relativ konstant anstieg. Grundlage dieser Entwicklungen war der attraktive Steuertarif, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (in Guernsey seit 1960) unverändert blieb. Hinzu kam, dass die Regulierung des Finanzbereichs auf beiden Kanalinseln zunächst sehr zurückhaltend war. Sie nahm seit den 1980er Jahren zwar zu, reagierte jedoch flexibel auf finanzielle Innovationen. Die Nähe zu Großbritannien und insbesondere zum Finanzplatz London hat den Aufstieg zu bedeutenden Offshore-Zentren überhaupt erst ermöglicht. Die Kanalinseln können somit durchaus als Aussenstelle der Londoner City bezeichnet werden. Die meisten Banken sind eng mit der Themsestadt verflochten, ebenso war die Aufsicht des Finanzmarkt stark von der Bank of England abhängig – auch nach der formellen Unabhängigkeit seit 1979. Daneben war die politische Nähe zur britischen Regierung von großer Bedeutung, was sich nicht zuletzt bei den diesbezüglichen Problemen Ende der 1990er Jahre gezeigt hat. Wirtschaftlich haben die Inseln von der Etablierung des Finanzzentrums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark profitiert. Die mit der Ausbreitung des Finanzsektors verbundenen Probleme sind weitgehend ein embarras de richesse: Ohne die zusätzlichen Steuereinnahmen und Beschäftigungsmöglichkeiten hätten Jersey und Guernsey auf Grund ihrer peripheren Lage vermutlich mit Problemen wie Arbeitslosigkeit und Abwanderung zu kämpfen. Problematisch ist die mangelnde Diversifizierung der Volkswirtschaft und ihre starke Abhängigkeit von einem einzigen Sektor. Weitere negative Konsequenzen sind die hohen Lohnkosten und Grundstückspreise sowie Probleme bei der Funktionsfähigkeit einer unabhängigen Zivilgesellschaft.
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Seit den 1990er Jahren sahen sich die Kanalinseln vermehrt internationalem Druck ausgesetzt, dem sie sich insofern beugten, als sie ihre Regulierung verbessern und ihr Steuersystem anpassen mussten. Sowohl die EU als auch Großbritannien kritisierten die Ungleichbehandlung von einheimischen und externen Steuersubjekten durch Offshore-Strukturen und erreichten 2002, dass diese Praxis aufgehoben wurde. Die Kanalinseln haben sich inzwischen dazu verpflichtet, auf den Zinserträgen von EU-Bürgern eine Quellensteuer zu erheben, die teilweise den Ursprungsländern zurückerstattet wird. Als unmittelbare Folge davon erklärte Guernsey seine Absicht, bis 2008 eine »zero-10« Unternehmensbesteuerung einzuführen. Dabei werden Unternehmen grundsätzlich zum Satz von null Prozent (nicht-)besteuert, während Finanzdienstleister eine Steuer von 10 Prozent zu bezahlen haben. Ein ähnliches Projekt wird auch in Jersey verwirklicht. Zur Kompensation von Steuerausfällen wird über die erstmalige Einführung einer Umsatzsteuer diskutiert.77 In dieser schwierigen Situation wagten die Kanalinseln mit der ersten Reform ihres Steuersystems seit dem Zweiten Weltkrieg einen Schritt nach vorn. Ob dies ausreicht, um im globalen Wettbewerb mit anderen Offshore-Finanzzentren bestehen zu können, wird sich zeigen müssen.
Anmerkungen 1 Hampton, Mark P., The Offshore Interface. Tax Havens in the Global Economy, London 1996, S. 236; States of Jersey (Hg.), Jersey in Figures, Jersey 2003: S. 9/10. Die Bevölkerungszahlen sind für 1951 und 2001 (ebd., S. 18). Ich danke Matthias Morys (London) für Korrekturen und Verbesserungsvorschläge. 2 Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 141 und 184; Jersey in Figures [wie Anm. 1], S. 11. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bedeutend höher als in Großbritannien (vgl. Tabelle 1). 3 Vgl. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 3. 4 Johns, Richard Anthony/Le Marchant, Christopher M., Finance Centres. British Isle Offshore Development Since 1979, London 1993, S. XI. 5 Korrekterweise müsste von ihrem Verhältnis zum Vereinigten Königreich (United Kingdom) und zu England gesprochen werden. Der besseren Übersicht wegen wird jedoch hier von Großbritannien gesprochen. 6 Der Ausdruck Bailliwick müsste eigentlich mit »Vogtei« übersetzt werden. Zum Bailliwick von Guernsey gehören auch die kleineren Inseln Alderney, Sark und Herm, die mit den States of Alderney und den Chief Pleas of Sark über eigene Parlamente verfügen. Die Steuerhoheit Guernseys gilt auf diesen Territorien nicht vollumfänglich. 7 Für eine kritische Position: Christensen, John E./Hampton, Mark P., »A Legislature for Hire: The Capture of the State of Jersey’s Offshore Finance Centre«, in: Hampton, Mark P./Abbott, Jason P. (Hg.), Offshore Finance Centres and Tax Havens. The Rise of the Global Economy, London
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1999, S. 166 – 191. Beide Inseln waren 2004/05 daran, eine Regierungsreform durchzuführen: vgl. Financial Times vom 6. Oktober 2004 (»Special Report Channel Islands«). Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 43 und 271. Für die deutsche Okkupation: Bunting, Madeleine, The Model Occupation. The Channel Islands under German Rule 1940 – 1945, London 1995; Cruishank, Charles, The German Occupation of the Channel Islands, Guernsey 1975. Marhta, Rutsel S.J., The Jurisdiction to Tax in International Law: Theory and Practice of Legislative Financial Jurisdiction, Deventer 1989, S. 46, zit. in: Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 271. Johns, Richard Anthony, Tax Havens and Offshore Finance. A Study of Transnational Economic Development, London 1983; Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 90. Der Begriff »co-operative independence« wird jeweils in Anführungszeichen verwendet. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 137. Er verweist dabei auf eine Vorlesung von Dr. Rhys Jenkins. Report of the Royal Commission on the Constitution, 1969–1973, zit. in: Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 76. Die Krondomänen umfassen neben den Kanalinseln auch die Isle of Man. Das Protokoll ist abgedruckt in: Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 281– 282. Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 153. Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 95/96. Siehe zur eigenständigen Währungspolitik Guernseys im späten 19. Jahrhundert auch: Holloway, Edward, How Guernsey Beat the Bankers, Guernsey 1981. Le Marchant, Christopher M., »Financial Regulation and Supervision Offshore: Guernsey, a Case Study«, in: Hampton/Abbott, Offshore Finance Centres [wie Anm. 7], S. 212–229, Zitat S. 225. Er spricht dabei von Guernseys Banknoten. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 3. Weder verwendet Hampton den korrekten Begriff Privateering, noch belegt er seinen Vergleich. Zum Privateering: Starkey, David J., British Privateering Entreprise in the Eighteenth Century, Exeter 1990. Vgl. ausführlicher dazu den Artikel von Ranald C. Michie in diesem Band. Johns, Tax Havens [wie Anm. 10] und Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4]. Hampton, Interface [wie Anm. 1]. Voss, Rüdiger, Die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Offshore-Finanzzentren. Ein Vergleich der rechtlichen Standortkonditionen von Guernsey und Luxemburg aus der Sicht der Finanzunternehmen, Berlin 2000. Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. XI (Zitat) und 236. Hampton, Mark P., »Sixties child? The emergence of Jersey as an offshore finance centre 1955 – 71«, in: Accounting, Business and Financial History, Bd. 6/1996, S. 51–77, Zitat S. 54. Hamptons Diskussion der Literatur zur »Dominanz des Finanzkapitals« ist jedoch ungenügend, da er sich weitgehend auf marxistische Autoren beschränkt. Christensen/Hampton, Legislature [wie Anm. 7]; Hampton, Mark P./Christensen, John, »Offshore Pariahs? Small Island Economies, Tax Havens, and the Re-configuration of Global Finance«, in: World Development, Bd. 30/2002, S. 1657–1673; Hampton, Mark P., »Small but Smart, or Small and Out-Smarted? Micro States, Offshore Finance and Economic Vulnerability«, in: Collins, Paul (Hg.), Applying Public Administration in Development: Guideposts to the Future, Chichester, 2000, S. 329–343; Hampton, Mark P./Christensen, John, »Treasure Island
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Revisited. Jersey’s Offshore Finance Centre Crisis: Implications of Other Small Island Economies«, in: Environment and Planning A, Bd. 31/1999, S. 1619–1637. Powell, G. C., Economic Survey of Jersey, Jersey 1971. Hampton bemängelt die Aggregierung der Sektoren und die verwendeten Multiplikatoren: Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 140/141. Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 192, schätzen den Treuhandbereich auf mindestens so bedeutend wie die Banken ein. Gemäß Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 143, verwalten Stiftungen zwei- bis dreimal so hohe Vermögen wie die Banken. Powell, Survey, [wie Anm. 25], S. 147. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 236, schätzt die Bankeinlagen für 1903 auf 1,89 Mio. Pfund. Für die frühe Bankengeschichte der Kanalinseln: Marshall Fraser, W., A History of Banking in the Channel Islands and a Record of Bank-Note Issues, Guernsey 1949. Christensen/Hampton, Legislature [wie Anm. 7], mit Verweis auf: Kelleher, John D., The Triumph of the Country. The Rural Community in Nineteenth-century Jersey, St Ouen 1995. Sie sprechen dort auch von der Bedeutung Jerseys als Zollfreihafen im 19. Jahrhundert, was jedoch angesichts von Großbritanniens Freihandelsdoktrin weitgehend unbedeutend gewesen sein dürfte. Bois, F. De L., A Constitutional History of Jersey, Jersey 1970, S. 111; Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 107. Zur Baillifs clause: Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 60. Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 76 – 93; Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 49; Powell, Survey [wie Anm. 25], S. 207. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 143. Er bezieht sich dabei auf Angaben von Cruishank, Occupation [wie Anm. 8]. Zudem wurde bis 1955 eine Surtax auf Einkommen von über 100.000 Pfund erhoben. Für den detaillierten Tarif: Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 128–130. Vgl. das Gutachten des Beirats beim Bundesministerium für Finanzen, Flat Tax oder Duale Einkommenssteuer? Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensbesteuerung vom Juli 2004, sowie grundlegend: Hall, Robert E./Rabushka, Avliv, The Flat Tax, Stanford 1995. Steueroptimierung ist legal und somit von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug zu unterscheiden, die beide illegal sind. Seit 1951/52 bestand auch ein Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Jersey und Guernsey: Powell, Survey [wie Anm. 25], S. 211; Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 129, sowie: Doggart, Caroline (Economist Intelligence Unit), Tax Havens and their Uses, London 2002. Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 110 und 128. Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 98. Johns spricht auch von der »guardianship« durch die Bank of England (S. 161). Beide Ausdrücke werden von ihm in Anführungszeichen verwendet. Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 111. Guernsey erließ 1963 eine neue Regelung. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 153/154. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 236/237. Powell, Survey [wie Anm. 25], S. 59. Hampton schlägt auf Grund der hohen Fehlerquote zu dieser Schätzung einfach 10 Prozent dazu und kommt somit auf eine Zahl von 80 Prozent: Hampton, Sixties child [wie Anm. 16], S. 60. Powell, Survey [wie Anm. 25], S. 156. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 60.
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GUERNSEY
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Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 116. Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 133–136. Powell, Survey [wie Anm. 25], S. 177; Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 62. Hampton sieht dies als »an example of how UK financial capital circumvented the actions of the state [regulation] that it found unhelpful to its pursuit of profit«. Aus: Hampton, Sixties child [wie Anm. 16], S. 63. Es ist jedoch etwas naiv anzunehmen, dass dies ohne Wissen der Bank of England geschehen sei. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 162. Das Originaldokument heißt The Island Plan. Die Übersetzung als »25-Jahresplan« sollte jedoch trotz des interventionistisch-dirigistischen Charakters des Dokuments mit einer gewissen Ironie verstanden werden. Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 139. Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 142/143. In Jersey galt bis 1983 ein Gesetz von 1861, welches die Gründung von Versicherungsgesellschaften verbot. Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 113, 122, 141/142 und 162, sowie Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 182–185; States of Jersey (Hg.), Economic & Statistics Review, 2001, S. 100. Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 160/161 ; Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 91. Die Aufhebung war vorerst nur provisorisch und wurde erst 1987 definitiv. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 185. Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 66, 153 und 262; Jersey in Figures [wie Anm. 1], S. 10, sowie: Guernsey Financial Services Commission (Hg.), Annual Report, o.O. 2000. Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 163–179. Inzwischen ist die Vermarktung des Finanzplatzes ausgelagert worden und wird von Guernsey Finance besorgt. Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 165 ; Le Marchant, Regulation [wie Anm. 16]. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 166/167; Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 156 und 166 (für Guernsey). Hampton/Christensen, Pariahs [wie Anm. 24]; Hampton/Christensen, Treasure Island Revisited [wie Anm. 24]. The Economist vom 26. November 1998 (»A storm passes«). Doggart, Tax Havens [wie Anm. 36]; Hampton/Christensen, Pariahs [wie Anm. 24]. Hampton/Christensen, Pariahs [wie Anm. 24], S. 1659–1661, Zitat S. 1660. Die Guernsey Housing Control Laws von 1969 wurden 1975 verschärft: Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], S. 130. Zu diesem Vergleich: Hampton, Interface [wie Anm. 1]. Er unterlässt es jedoch, auch in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung auf dieses Beispiel zu verweisen. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 185. States of Jersey (Hg.), Jersey Statistical Review, 2002, S. 66. Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 125 und 158; sowie: Financial Times vom 6. Oktober 2004 (»Special Report Channel Islands«). Die Schätzungen für Guernsey lauten 1980: 18 Prozent, 1991: 51 Prozent, 2004: 60 Prozent. Berechnet mit Angaben aus: Johns, Tax Havens [wie Anm. 10], Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], Jersey in Figures 2003 [wie Anm. 1], States of Guernsey (Hg.), Guernsey
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Facts and Figures 2003, Bank of England Quarterly Reports und UK National Statistics, Annual Abstract of Statistics, London 2004. Hampton/Christensen, Treasure Island Revisited [wie Anm. 24], S. 1664; siehe auch: Christensen/Hampton, Legislature [wie Anm. 7]. Le Marchant, Regulation [wie Anm. 16], S. 215. Le Marchant, Regulation [wie Anm. 16], S. 213/214. Colin Powell, der States of Jersey’s Chief Adviser, bestritt dies beispielsweise in einem Brief an Hampton: Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 154. Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 271. Sie beziehen sich dabei auf Powell, Survey [wie Anm. 25], S. 18. Es handelt sich dabei nicht um den Colin Powell aus Anm. 73. Johns/Le Marchant, Finance Centres [wie Anm. 4], S. 99/100 und 146 – 148. Hampton, Interface [wie Anm. 1], S. 67. Financial Times vom 6. Oktober 2004 (»Special Report Channel Islands«); Oxford Economic Research Associates (OXERA)/States of Jersey (Hg.), Fiscal Strategy: Background Paper, o.O. 2004.
III. TEIL: Vergleichende Fragestellungen
Die Entwicklung der europäischen Wertpapierbörsen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert: Einige vergleichende Betrachtungen Richard Tilly In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, also etwa zwischen 1900 und 1913, näherten sich die kapitalistischen Wirtschaften dem Ende einer historisch einmaligen Phase globaler Expansion. Eine wichtige Ursache und gleichzeitig ein Effekt dieser Expansion war das Auftauchen eines zunehmend gut integrierten Netzwerkes europäischer Finanzplätze. Am Ende des 20. Jahrhunderts erlebte die kapitalistische Welt erneut eine historisch unvergleichliche Ära globaler Expansion, und auch hier spielte das Netzwerk europäischer Finanzzentren eine wichtige Rolle. Es versteht sich von selbst, dass zwischen diesen beiden Sets historischer Erfahrung einige wichtige Unterschiede bestehen. Vor hundert Jahren dominierten die europäischen Finanzplätze die globale Finanzmarktstruktur, auch wenn die USA mit New York schon ein wichtiger Mitspieler geworden waren. Im Gegensatz dazu hat sich der weltweite Schwerpunkt des Finanzsystems bis zum Ende des 20. Jahrhunderts deutlich verändert, die europäischen Zentren haben an Bedeutung verloren, und zwar selbst dann, wenn wir sie als Ganzes betrachten, nämlich so, als ob sie ein integriertes System bilden würden.1 Weitere Differenzen zwischen den beiden Epochen drängen sich auf. Der folgende Beitrag diskutiert verschiedene dieser Unterschiede. Sein Schwerpunkt liegt jedoch auf der vergleichenden Geschichte der europäischen Finanzplätze. Das heißt, er betrachtet die Unterschiede zwischen seinen führenden Plätzen ebenso wie die Beziehungen und Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Die Herangehensweise ist im Großen und Ganzen chronologisch. Der erste Teil behandelt die letzten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, der zweite Teil das späte 20. Jahrhundert. Die Analyse der ersten Phase verlangt nach einer Klärung der Unterschiede zwischen den einzelnen Finanzplätzen. Bei der Betrachtung der zweiten Phase ist es wichtig zu fragen, in welchem Umfang und weshalb solche Differenzen nach wie vor bestehen oder – im Gegenteil – verschwunden sind. Das Papier versucht also mit andern Worten nicht nur die Beschreibung, sondern die Erklärung einer Dimension der vergleichenden Geschichte europäischer Finanzplätze.
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RICHARD TILLY
Die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts Am Vorabend des Ersten Weltkrieges hatte sich in Europa eine klare Hierarchie der Finanzplätze herausgebildet. London stand an der Spitze, gefolgt von Paris, Berlin, dann Wien, vielleicht auch Amsterdam, sowie – weit dahinter – von anderen Zentren wie Mailand, Zürich und St. Petersburg. Nimmt man den Umfang des Kapitals der gehandelten bzw. kotierten Wertpapiere, war London das mit Abstand größte Zentrum (vergleichende Daten über Handelsvolumina sind leider unvollständig). Der Wert der an der Londoner Börse gehandelten Wertpapiere betrug im Jahre 1913 laut Michie 9,6 Milliarden Pfund (nominal). Der entsprechende Wert für die Pariser Börse dürfte irgendwo zwischen 5 und 6 Milliarden gelegen haben, der für Berlin zwischen 3 und 3,3 Milliarden, der für Wien etwa bei 1,2 und der für Mailand bei 0,8 Milliarden Pfund.2 In dieser Reihenfolge spiegelte sich die Entwicklung der Finanzmärkte der Vorkriegszeit. Dank seiner zentralen Stellung in der weltweit dynamischsten und offensten Volkswirtschaft war London zum liquidesten Finanzmarkt der Welt aufgestiegen, zum wichtigsten Clearing-Zentrum, das viel kurzfristiges Kapital aus anderen wichtigen Ländern anzog. Ein fein abgestimmtes System verband die großen Depositenbanken, die ihre Aktivitäten in London zentralisiert hatten, mit den spezialisierten Diskonthäusern sowie mit den Brokern und Händlern am Sekundärmarkt der Londoner Börse. Auch Zweigniederlassungen ausländischer Banken operierten vor Ort. Es war dieses System, das die Liquidität des Londoner Marktes sicher stellte. Dadurch wurde London zu einem für die anderen Finanzplätze sehr viel wichtigeren Zentrum als umgekehrt. Die meisten international bekannten Wertpapiere wurden in London gehandelt, jene von südamerikanischen Regierungen genauso wie jene von nordamerikanischen Eisenbahnunternehmen, aber auch Wertschriften, die auf britisch-koloniale Körperschaften, europäische Regierungen oder sogar auf große europäische Privatunternehmen lauteten. Nur die Pariser Börse konnte mit London mithalten, was die internationale Ausrichtung anging, aber sie hatte eine kleinere inländische Nachfrage zu befriedigen und sie war, wie wir gesehen haben, an und für sich deutlich kleiner. In Berlin spielten einheimische Industrieunternehmen, die international allerdings wenig bekannt waren, eine vergleichsweise wichtigere Rolle als in London oder Paris; den Handel mit internationalen Wertschriften scheinen deutsche Banken und große deutsche Investoren aber meistens über London abgewickelt zu haben.3 Die Vorherrschaft von London in der Zeit zwischen 1900 und 1913 war so massiv, dass jede Erhöhung der Unsicherheit, die sich in einem generellen Anstieg der Zinsen ausdrückte, einen Zufluss von Geldern aus anderen Zentren Richtung London nach sich zog (dieser Zufluss ging jeweils Hand in Hand mit einer Stärkung des englischen Pfunds). Solche Bewegungen waren vermutlich eine Folge der größeren Liquidität des Londoner Marktes. Bis
DIE ENTWICKLUNG
DER EUROPÄISCHEN
WERTPAPIERBÖRSEN
225
zu einem gewissen Grad bestand eine ähnliche Beziehung zwischen Paris und Berlin und ihren jeweiligen Subzentren wie Wien und Mailand. Die Hierarchie der Liquidität – welche über die einzelnen Finanzplätze zustande kam und welche die sich verändernden Erwartungen der Akteure ausglich – mag erklären, weshalb die internationalen Kapitalmärkte vor 1914 relativ stabil gewesen sind. Aber was erklärt nun die Unterschiede zwischen den einzelnen Finanzzentren? Die Antwort, die am naheliegendsten ist, hebt auf historisch bedingte komparative Vorteile ab. Dank seiner frühen Entwicklung konnte Großbritannien ein ausgeklügeltes und in London konzentriertes Set von finanziellen Institutionen ausbilden. Dieses Set verlieh London einen komparativen Kostenvorteil beim Export von Finanzdienstleistungen. Die Londoner Börse spielte dabei, wie Michie gezeigt hat, eine zentrale Rolle. Die starke inländische Nachfrage, die mit den Anleihen der britischen Regierung zusammenhing, stimulierte das ursprüngliche Wachstum, das seit den 1830er Jahren durch die Eisenbahngesellschaften verstärkt wurde. Diese Stimuli, die durch eine relativ zurückhaltende staatliche Regulierung positiv verstärkt wurden, ermöglichten die Ausbildung eines hoch kompetitiven Sets von spezialisierten Akteuren. Dieses Set wiederum aktivierte die ausländische Nachfrage und zog die Investoren und finanziellen Institutionen anderer Länder an. Der private Charakter der Londoner Börse und ihr institutionelles Regelwerk hielten das Netzwerk der Akteure spezialisiert, klein und hoch kompetitiv, außerdem ständig offen für neue Talente von außen. Der britische Wohlstand, der attraktive Anlagemöglichkeiten suchte, zog ausländische Emittenten an, lateinamerikanische und asiatische Regierungen mit ihren Anleihen genauso wie US-amerikanische Eisenbahnunternehmen mit ihren Aktien und Anleihen. Die außerordentliche Position, die von Großbritannien in der Hierarchie der Finanzzentren eingenommen wurde wie auch die Struktur dieser Hierarchie selbst, kann mit einigen Zahlen aus den Schätzungen von Goldsmith illustriert werden (siehe Tabelle 1). Die erste Tabelle bestätigt im Großen und Ganzen jene Dichotomie, welche einige Finanzhistoriker auf die jüngere Finanzgeschichte anwenden. Man unterscheidet dabei zwischen bankenorientierten Finanzsystemen einerseits und marktorientierten Systemen andererseits, wobei Großbritannien und die Vereinigten Staaten zumeist als Musterbeispiele marktorientierter Finanzsysteme gelten. In beiden Ländern spielte der Einbezug von Privatunternehmen eine wichtige Rolle. Interessanterweise waren denn auch in beiden Ländern die großen Wertpapierbörsen in privatem Besitz und regulierten sich grosso modo selbst – ganz im Gegensatz zu den halböffentlichen, stark regulierten Börsen Kontinentaleuropas. Allerdings erreichte der Anteil einheimischer Wertpapiere sowohl in Frankreich als auch in Belgien beinahe US-amerikanische Ausmaße. Im Falle von Frankreich wird diese Tendenz durch eine Studie bestätigt.4 In Ländern, in denen das Universalbankensystem vorherrschte, namentlich in Deutschland, Österreich und Italien, waren Wertpa-
226
RICHARD TILLY
piere und Börsen weniger wichtig.5 Dies zeigt sich deutlich in Tabelle 1, wobei sich diese allerdings nur auf einheimische Wertpapiere bezieht. Tab. 1: Anteile inländischer Wertpapiere am Total aller Vermögenswerte (1913) Land
Anteile inländischer Wertpapiere am Total aller Vermögenswerte (in Prozent)
Belgien
0,174
Frankreich
0,184
Deutschland
0,08
Großbritannien
0,236
Italien
0,115
USA
0,192
Schweiz
0,131
Quelle: Goldsmith 1985, Anhang A [wie Anm. 2]
Ein anderes Bild erhalten wir, wenn wir zusätzlich zu den inländischen Wertpapieren auch ausländische Papiere berücksichtigen (siehe Tabelle 2). Die entsprechende Tabelle bestätigt einmal mehr die herausragende Stellung Großbritanniens. Klar wird allerdings auch, dass sowohl in Belgien wie in Frankreich und der Schweiz viele ausländische Wertpapiere gehalten wurden. In den Universalbankenländern Deutschland und Italien war der Wertpapierbesitz generell weniger wichtig. Tab. 2: Anteile in- und ausländischer Wertpapiere am Total aller Vermögenswerte (1913) Land
Anteile in und ausländischer Wertpapiere am Total aller Vermögenswerte (in Prozent)
Belgien
0,248
Frankreich
0,269
Deutschland
0,111
Großbritannien
0,414
Italien
0,115
USA
0,209
Schweiz
0,216
Quelle: Goldsmith 1985, Anhang A [wie Anm. 2]
DIE ENTWICKLUNG
DER EUROPÄISCHEN
WERTPAPIERBÖRSEN
227
Zum Schluss dieses Abschnitts folgt nun ein Blick auf die zwei anderen großen europäischen Börsen, die Pariser und die Berliner Börse, sowie ein kurzer Blick auf eine der kleineren Börsen, nämlich die Mailands. Ende des 19. Jahrhunderts dominierte die Pariser Börse den französischen Wertpapierhandel noch stärker als London jenen Großbritanniens. Im Gegensatz zur London Stock Exchange war die Pariser Börse allerdings nicht privat, sondern halböffentlich organisiert, und der staatliche Einfluss auf das Börsengeschehen war sehr viel deutlicher.6 Die offizielle Börse, das Parkett, wurde durch ein Monopol kontrolliert, durch die so genannten Agents de change, 60 an der Zahl (70 von 1898 an). Deren Rechte waren von der Regierung abgeleitet und konnten ge- und verkauft werden.7 Ursprünglich war diese Börse für den Handel von Staatspapieren (rentes) errichtet worden. In bezug auf die Zulassung neuer Papiere verfolgte sie eine restriktive Politik, was – Hand in Hand mit dem wachsenden Wohlstand und dem Drang nach neuen Anlagemöglichkeiten – zur Entstehung eines neuen, weniger formalisierten Wertpapiermarktes, der coulisse, führte. An ihr konnten sich nicht nur Makler beteiligen, sondern auch Bankiers und andere Finanzintermediäre. Die coulisse zog das ausländische Geschäft an und dieses verlieh dem französischen Markt Breite und Tiefe. Erst diese Anleger und Kapitalsuchenden ließen Paris zu einem wichtigen internationalen Finanzplatz aufsteigen. Allerdings hemmten regierungsamtliche Vorschriften über ausländische Wertpapiere und einige juristische Unklarheiten die Entwicklungsmöglichkeiten der coulisse, so dass der Finanzplatz Paris die Vorherrschaft Londons nie in Frage stellen konnte. Um 1890, wenn nicht sogar früher, war Berlin zu Deutschlands wichtigstem Finanzplatz aufgestiegen, deutlich vor Frankfurt am Main und Hamburg. Wichtig zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die Rolle komparativer Vorteile. Frankfurts Börse, hauptsächlich ein Zentrum für deutsche und europäische Staatspapiere, musste in dieser Beziehung mit Paris und London konkurrieren, während Preußen – der mit Abstand größte deutsche Staat – seine Papiere zu einem großen Teil in Berlin auflegte. Hamburg seinerseits orientierte sich eher in Richtung des bescheidenen skandinavischen Staatsanleihenhandels und hatte lange Zeit enge Bindungen mit London; die Hamburger Bankiers und Händler benutzten die Londoner Finanzinfrastruktur, konkurrierten aber nicht mit ihr. Berlin profitierte in den für die weitere Entwicklung entscheidenden 1850er und 1860er Jahren von zwei Weichenstellungen: – von der zunehmenden Akzeptanz der preußischen Währung, des Talers, in Deutschland und von den diesbezüglichen Aktivitäten der Preußischen Bank, die der preußischen Hauptstadt dabei half, sich als Deutschlands zentraler Geldmarkt zu etablieren;
228
RICHARD TILLY
– von den Wertpapieren, welche die preußischen Eisenbahnunternehmen herausgaben, dem mit Abstand größten Stock an Unternehmenskapital im damaligen Deutschland. Der preußische Wertpapierhandel stellte ein Marktsegment dar, in dem Berlin einen klaren Vorteil gegenüber den anderen deutschen Finanzplätzen besaß. Gleichwohl blieb die Bedeutung der Berliner Börse bis zum Ersten Weltkrieg deutlich hinter der von London oder Paris zurück. Zweifellos war dies zum Teil Ausdruck unterschiedlicher Entwicklungsniveaus, speziell des dynamischen Wachstums der einheimischen Nachfrage nach Finanzkapital. 1913 betrug das Verhältnis von realem Kapital zu den Vermögenswerten in Deutschland 1, in Frankreich 0,8 und in Großbritannien 0,5. Diese Unterschiede gingen Hand in Hand mit verschiedenen Zinsniveaus (siehe Tabelle 3). Tab. 3: Marktzinsen in Paris, London und Berlin in Prozent (1876 –1913) Jahr
Paris
London
Berlin
1876
0,021
0,019
0,03
1877
0,018
0,024
0,032
1878
0,02
0,033
0,031
1879
0,022
0,018
0,026
1880
0,024
0,023
0,03
1881
0,037
0,029
0,035
1882
0,035
0,035
0,039
1883
0,027
0,031
0,031
1884
0,025
0,024
0,029
1885
0,024
0,019
0,029
1886
0,022
0,02
0,022
1887
0,023
0,023
0,023
1888
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0,021
0,021
1889
0,025
0,025
0,026
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0,026
0,036
0,038
1891
0,025
0,024
0,03
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0,018
0,016
0,018
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0,021
0,01
0,032
1894
0,018
0,008
0,017
1895
0,014
0,013
0,02
1896
0,016
0,014
0,03
1897
0,017
0,016
0,031
DIE ENTWICKLUNG
DER EUROPÄISCHEN
229
WERTPAPIERBÖRSEN
1898
0,02
0,023
0,036
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0,028
0,03
0,045
1900
0,03
0,036
0,044
1901
0,024
0,034
0,031
1902
0,024
0,03
0,022
1903
0,027
0,033
0,03
1904
0,021
0,025
0,031
1905
0,02
0,024
0,029
1906
0,026
0,04
0,03
1907
0,032
0,044
0,051
1908
0,021
0,021
0,035
1909
0,017
0,021
0,029
1910
0,022
0,03
0,035
1911
0,025
0,027
0,035
1912
0,03
0,033
0,042
1913
0,037
0,041
0,05
Quelle: Deutsche Reichsbank 1915
Die Nachfrage nach Kapital führte zum Rückgriff auf ausländische Geld- und Kapitalmärkte.8 Die relative Knappheit von Finanzkapital war allerdings auch eine Folge staatlicher Politik und der damit verbundenen institutionellen Bedingungen. In einer späten Reaktion auf die Exzesse der »Gründerzeit« der 1870er Jahre wurden 1884 restriktive Bestimmungen erlassen, welche die Gründung und Verwendung von Aktiengesellschaften beschnitten; dazu kamen fiskalische und gesetzliche Beschränkungen der Börse seit den 1880er Jahren, die schließlich im »Reichsbörsengesetz« von 1896 kulminierten. Statt die Börse – diesen »potenziell wichtigen Pfeiler« der deutschen Wirtschaftsmacht (Max Weber) – zu unterstützen, trachtete das Gesetz von 1896 danach, die Börsenfreiheit einzuschränken, und zwar im Namen des Schutzes der Kleinanleger. Mit dem Reichsbörsengesetz von 1896 wurden die deutschen Börsen für die ökonomischen Akteure teurer, die Suche nach billigem Kapital schwieriger.9 Schließlich war die Schwäche der Berliner Börse auch die Kehrseite der Bedeutung der großen Banken. Indem diese Berliner Banken Handels- und Investmentfunktionen miteinander kombinierten, mobilisierten sie das Kapital außerhalb der Börsen (wobei sie selbst zu den wichtigeren Kunden der Börsenplätze London und Paris gehörten)10 – hier zeigte sich eine Konsequenz des bankenorientierten Finanzsystems in Deutschland. Wie Deutschland war auch Italien spät dran in der Entwicklung eines einzelnen, herausragenden Finanzplatzes. Sein wichtigster Finanzplatz, Mailand, errang diese
230
RICHARD TILLY
Position erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg – noch sehr viel später als dies Berlin in Deutschland gelungen war. Vielleicht hatte dies mit der unterschiedlichen politischen Geschichte der beiden Länder zu tun, vielleicht auch mit der Tatsache, dass Berlin im Gegensatz zu Mailand eine Hauptstadt war.11 Wie erwähnt, gab es in Italien als Ganzem einen sehr viel kleineren Wertpapiermarkt als in Berlin oder Paris, und Mailand mit seinem kleineren Stück am nationalen »Kuchen« lag noch weiter zurück. Im Jahre 1910 wurden in Mailand Aktien von rund 170 Unternehmen gehandelt, sehr viel weniger als die etwa 900 Unternehmensaktien, die damals in Berlin kotiert waren.12 Einige Ähnlichkeiten bestanden gleichwohl. Die Mailänder Börse war, wie ihr Berliner Pendant, eine halböffentliche Einrichtung, die von der lokalen Industrie- und Handelskammer getragen wurde; sie beschäftigte offizielle Makler, die mit besonderen Rechten ausgestattet waren. Anders als in Berlin waren die Mailänder Broker, die agenti di cambio, nicht für die Bestimmung der Wertpapierpreise verantwortlich. Sie besaßen aber ein Monopol für das Bieten auf dem Parkett, ähnlich jenem, das ihre Pariser Kollegen, die Agents de change, hatten.13 Es waren – wie in Berlin – die großen Universalbanken Italiens, die am Vorabend des Ersten Weltkrieges den Effektenhandel dominierten. Schon früher hatten sie die Kontrolle über die Emission neuer Papiere übernommen. Die Banken benutzten die Börse als Quelle von Preisinformationen sowie als Mittel, den Ausgleich zwischen Liquidität und Profitabilität zu steuern. Schließlich gab es in Mailand – ähnlich wie in Berlin – viel politische Skepsis gegenüber Termingeschäften und wiederholte Versuche, das Tätigkeitsfeld der Börse einzuschränken.14 Die kurze Skizze der wichtigsten europäischen Börsen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bestätigt die eingangs erwähnte Hierarchie: London war Europas – und der Welt – Spitzenreiter, sei es in bezug auf Größe, Liquidität oder kosmopolitischen Charakter. Paris folgte in der Alten Welt auf Platz zwei, Berlin auf Platz drei. Im Jahre 1914 zählte die London Stock Exchange rund 5.000 Mitglieder, die mit einer gleich großen Zahl von Wertpapieren handelten, wobei die meisten dieser Papiere nicht britisch waren. Für Paris fehlen die entsprechenden Zahlen. In Berlin waren etwa 3.000 Papiere kotiert, die meisten von ihnen deutscher Herkunft. Zum Schluss dieses Vergleichs nun noch ein Blick auf zwei wichtige Dimensionen des Börsengeschehens. Tabelle 4 zeigt die relative Bedeutung verschiedener Wertpapierarten (Aktien, Anleihen, einheimische und ausländische Papiere).15
DIE ENTWICKLUNG
DER EUROPÄISCHEN
231
WERTPAPIERBÖRSEN
Tab. 4: Anteile verschiedener Wertpapierarten (1910) Börse
Einheimisch
Ausländisch Aktien
Anleihen
Anzahl der berücksichtigten Wertpapiere
Aktien
Anleihen
Paris
31%
20%
9%
40%
970
Berlin
51%
24%
5%
20%
1.610
London
30%
19%
23%
28%
1.200
Quellen: Frankreich : Compagnie des Agents de change de Paris (Hg.), Bulletin de la cote (Décembre
1910); Deutschland: Courszettel der Berliner Börsen-Zeitung (1910): Großbritannien: The Economist, London Stock Markets Price Current (1910);16 Anmerkungen: unter den ausländischen Papieren sind auch einige aufgeführt, die von einheimischen Firmen an die Börse gebracht worden bzw. mit Garantien einheimischer Regierungen versehen waren; berücksichtigt wurden gelistete Wertpapiere, bei denen die Preise angegeben waren
Die Tabelle unterstreicht die internationale Ausrichtung von Paris und London sowie die größere Bedeutung einheimischer Papiere in Deutschland. Die Bedeutung ausländischer Papiere kommt im übrigen in der Tabelle nur ungenügend zum Ausdruck, weil nur die Anzahl solcher Papiere, nicht aber deren Handelswert angegeben ist. Eine andere wichtige Dimension des Börsengeschehens ist die Stückelung der Papiere. Diese Größe kann man als Indikator dafür ansehen, welche Art Investor die Börse anzuziehen versuchte. Je kleiner die Stückelung, um so breiter war das sozioökonomische Spektrum potenziell mobilisierbarer Investoren. Tabelle 5 enthält entsprechende Angaben für Paris, Berlin und London. Tab. 5: Gelistete Wertpapiere nach ihrer Stückelung (1910) Börse
Anteile der gelisteten Wertpapiere nach Stückelungen Weniger als 20 £
Etwa 20 £
20 £ bis 50 £
Mehr als 50 £
Paris (237)
40,9%
57,4%
1,3%
0,4%
Berlin (493)
8,3%
2,4%
14,6%
74,7%
London (281)
68,7%
13,5%
9,6%
8,2%
Quellen: die gleichen wie bei Tabelle 4; Anmerkungen: das Sample (Zahl der ausgezählten Papiere) in der ersten Spalte in Klammern; Umrechnungskurse für Franken und Reichsmark in Pfund: 1 zu 25 bzw. 1 zu 20,4.
Diese Tabelle zeigt, dass London am ehesten dazu bereit war, Wertpapiere mit geringem Nennwert aufzunehmen. Nimmt man aber alle Papiere mit 20 oder weniger Pfund Nennwert zusammen, war es die Pariser Börse, die noch weniger restrik-
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RICHARD TILLY
tiv war als ihr Londoner Pendant (98 Prozent aller gelisteten Papiere in dieser Kategorie).17 Auffällig ist jedoch vor allem der Unterschied zwischen Berlin und den beiden anderen Börsen. Wir sehen hier die Auswirkungen des »Gründerkrachs« und der daraufhin erlassenen, bereits erwähnten Reaktionen der Politik. Ziel dieser Politik war es, den »kleinen Investor« zu schützen – indem man ihn entmutigte, überhaupt an der Börse zu investieren…18 Schon vor 1914 spielten also staatliche Regulierungen des Börsengeschehens eine wichtige Rolle. Sowohl in Frankreich wie in Deutschland wirkten sich staatliche Interventionen bei der Emission und beim Handel mit ausländischen Wertpapieren aus. In verschiedenen Ländern warnten politische Eliten vor dem »Übel der Spekulation« und unterstützten Gesetze, welche Börsengeschäfte einschränkten. Im Falle von Deutschland und Italien machten solche Restriktionen den Börsenhandel unattraktiv und trugen damit indirekt zur Profitabilität und zum Wachstum der großen Universalbanken bei. Ein anderer, wahrscheinlich unbeabsichtigter Nebeneffekt dieser Politik bestand darin, dass mehr kontinentaleuropäischer Handel zu dem wohl am wenigsten regulierten Börsenplatz, nämlich London, abwanderte. Dies trug zweifellos zur finanziellen Vorherrschaft Londons in Europa bei.
Die Zeit am Ende des 20. Jahrhunderts Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1914 –1918) wurden staatliche Interventionen im Börsensektor zum Dauerzustand. Auch nach dem Ende des Krieges blieb die staatliche Regulierung für die meisten Länder charakteristisch. Allerdings geht die vorliegende Studie auf diese Phase der Börsengeschichte nicht näher ein. Denn sie überspringt sowohl die Zwischenkriegszeit als auch die Ära von Bretton Woods (für die weitreichende Kapitalkontrollen typisch waren), um sich gleich den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zuzuwenden. Zum Ende des 20. Jahrhunderts hatte sich, global betrachtet, eine klare Hierarchie von Finanzzentren herausgebildet. An der Spitze dieser Pyramide befanden sich New York und London, dann folgten Frankfurt und Tokio, die dritte Ebene bildeten weitere Zentren.19 Diese Rangordnung war und ist nach wie vor ständig in Bewegung. Noch 1980 waren New York und Tokio an der Spitze gewesen, gefolgt von vier weiteren Finanzplätzen (London, Zürich, Frankfurt, Toronto) und 27 weiteren Zentren. Um 1990 hatte London zu New York und Tokio aufgeschlossen, während sich Paris und Taipeh ins zweite Drittel vorgearbeitet hatten, Zürich hingegen ins dritte Drittel zurückgefallen war. Graphik 1 zeigt die Situation, wie sie sich nach den Untersuchungen des Geographen Poon im Jahre 1998 darstellte.
DIE ENTWICKLUNG
DER EUROPÄISCHEN
WERTPAPIERBÖRSEN
233
Graphik 1: Die wichtigsten Finanzplätze der Welt (1998)
Amsterdam Zürich
New York
London
Frankfurt
Tokio
Luxemburg Toronto
Mailand Sydney
Paris Taipeh
Quelle: Poon 2003, S. 144
Die europäischen Finanzplätze haben, als Ganzes betrachtet, ihre Position halten oder sogar zurückgewinnen können, trotz der Verschiebungen auf globaler Ebene. Innerhalb Europas haben jedoch deutliche Akzentverschiebungen stattgefunden. Wodurch wurden sie ausgelöst? Eine vollständige Antwort würde den Rahmen dieser Studie sprengen, aber eine plausible Erklärung könnte auf drei Faktoren hinweisen, welche zu diesen Veränderungen beitrugen: – Erstens führte das langfristig steigende Einkommens- und Wohlstandsniveau der reichen Länder zu einer erhöhten Nachfrage nach Anlagemöglichkeiten und zur Bildung großer institutioneller Anleger. – Zweitens entstand in einer Art dialektischem Prozess während der »Großen Inflation« der 1960er und 1970er Jahre als Reaktion auf die Regulierung der US-amerikanischen Finanzmärkte ein internationaler Wertpapiermarkt in Europa (Eurobond market); dieser stimulierte seinerseits die Deregulierung der US-amerikanischen Finanzmärkte, was – im Gegenzug – in den 1980er Jahren zu einer Deregulierung20 der europäischen Finanzinstitutionen, namentlich der Börsen, führte. – Drittens senkte der technologische Wandel mit seiner Verbreitung des PCs und der Internet-Kommunikation die Informationskosten der Wertpapiermärkte und verstärkte damit die beiden zuerst genannten Faktoren. Diese Veränderungen lieferten den europäischen Börsen so starke Anreize zur Veränderung ihrer Geschäftspraktiken, dass ihnen nachgegeben wurde. Der Blick soll sich im Folgenden auf die Entwicklung der drei Hauptakteure – London, Paris, Frankfurt – beschränken, wobei einige Bemerkungen zu New York unvermeidlich sein werden. Um 1970 erlebte die Königin der US-amerikanischen Börsen, die New York Stock Exchange (NYSE), eine Abwanderung von Geschäften, und zwar nicht nur
234
RICHARD TILLY
zum schon erwähnten Eurobond market, sondern auch zu ihrer neuen Rivalin, zur NASDAQ, der National Association of Securities Dealers Automated Quotations. Dieser Verlust von Geschäften hatte wesentlich damit zu tun, dass die NYSE die neue Elektronik zur Erleichterung des Handels vernachlässigte – ihr de facto-Monopol und der Schutz etablierter Interessen gingen vor. 1971 ordnete die US-amerikanische Börsenkommission, die Securities Exchange Commission (SEC), das Ende fester Gebühren an, und 1975 hörten diese dann tatsächlich auf. Gleichzeitig änderte die NYSE ihre Regeln; sie übernahm nun elektronische Handelshilfen und gewann ihre früher dominante Stellung sukzessive zurück.21 Diese Verschiebung machte aus der NYSE einen starken Konkurrenten der europäischen Börsen, und zwar speziell der Londoner Börse. Die britische Regierung hatte 1979, vielleicht unbewusst, die USamerikanische Konkurrenz mit der Aufhebung der Devisenkontrollen begünstigt, und nun drängte sie die Londoner Börse, ihrerseits die festen Gebührensätze abzuschaffen und ihre Regeln auch im übrigen zu liberalisieren. Dieser Schritt kam erst nach einer gewissen Zeit, nämlich 1986, zustande und er wurde Big Bang genannt. Gleichzeitig führte man den elektronischen Handel ein. Wie in New York senkten die englischen Reformen die Transaktionskosten, speziell für die umfangreichen Aufträge institutioneller Investoren, deren größte nun London zunehmend als Firmensitz wählten. Diese Veränderungen erhöhten den Druck auf die Wertpapiermärkte anderer europäischer Länder, ähnliche Reformen durchzuführen; schließlich wollte man verhindern, dass anlagesuchendes Kapital zunehmend nach New York und London abwanderte. Das gilt namentlich für Deutschland. Karl Otto Pöhl, der Präsident der Deutschen Bundesbank, meinte 1989: »Der Handel in deutschen Aktien und Rentenwerten findet zu einem erheblichen Teil in London statt. Diese Situation ist aus meiner Sicht unbefriedigend.«22 Die Reform der kontinentaleuropäischen Börsen war jedoch ein langsamer Prozess, unter anderem deshalb, weil die Veränderungen etablierte Interessen betrafen und die Börsen generell eine nicht so zentrale Rolle spielten wie in den USA oder in Großbritannien. Noch 1988 bestanden große Unterschiede zwischen den US-amerikanischen und englischen Börsen einerseits, und jenen auf dem europäischen Kontinent andererseits. Dies zeigt Tabelle 6: Tab. 6: Die Kapitalisierung nationaler Wertpapiermärkte (1988) Indikator der Kapitalisierung
USA
GB
Deutschland
Frankreich
Kapitalisierung (in Milliarden Dollar)
2.457
705
238
223
In Prozent der Weltkapitalisierung
28,5%
8,2%
2,8%
2,6%
1,6%
Nationales BIP in Prozent des WeltBIP
37,6%
6,4%
9,1%
7,2%
6,3%
Quelle: Daten von Morgan Stanley (1988), zit. in: Curioni, Regolazione [wie Anm. 11], S. 9
Italien 134
DIE ENTWICKLUNG
DER EUROPÄISCHEN
WERTPAPIERBÖRSEN
235
Großbritanniens Anteil an der weltweiten Kapitalisierung der Wertpapiermärkte betrug im Jahre 1988 129 Prozent seines Anteils am globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP). In Frankreich, Deutschland und Italien war dieses Verhältnis mit 36 Prozent, 30 Prozent und 24 Prozent sehr viel niedriger. Ich denke, dass dieser Unterschied auf die bereits erwähnte Dichotomie zwischen einem bankenbasierten und einem marktorientierten Finanzsystem zurückzuführen ist. Nehmen wir Deutschland als Beispiel. Die Entstehung großer Banken und die Omnipräsenz bankenbasierter Finanzen verhinderten die Entwicklung eines kräftigten Wertpapiermarktes und die Verbreitung von Aktienbesitz. Die großen Banken dominierten die deutschen Wertpapiermärkte. Noch in den 1980er Jahren hatten sie ein gewichtiges Wörtchen mitzureden, wenn es darum ging, neue Wertpapiere zuzulassen oder Handelsregeln zu formulieren. Darüber hinaus trugen sie viel Verantwortung für die Führung und Kontrolle der größeren Aktienunternehmen, sei es, weil sie deren Anteile als Anlage hielten, sei es, weil sie als Bevollmächtigte die Stimmrechte abwesender Aktionäre ausübten. Allerdings erklärt die Bankenmacht nicht das ganze Ausmaß betrieblicher Überkreuzbeteiligungen; diese dienten den Betriebsleitungen außerdem dazu, mit den Eigentümern gemeinsame Sache zu machen, stabile Beziehungen und Kontrolle aufrecht zu erhalten. Solche gegenseitigen Beteiligungen reduzierten das Volumen gehandelter Aktien und machten Übernahmeangebote im anglo-amerikanischen Stil schwierig. So waren zum Beispiel im Jahre 1989 60 Prozent aller ausstehenden USamerikanischen Aktien in individuellem, privatem Besitz, während dieser Anteil in Deutschland 1992 lediglich 13 Prozent betrug.23 Im Rückblick auf die entscheidenden 1980er Jahre sehen wir, dass der in den USA und Großbritannien weit gestreute Aktienbesitz Hand in Hand ging mit Unternehmenszusammenschlüssen und insbesondere feindlichen Übernahmen. In Kontinentaleuropa ließen solche Phänomene bis in die 1990er Jahre auf sich warten. Trotzdem: Es gab Reformen, angeregt durch die Konkurrenz der Londoner und New Yorker Börsen ebenso wie durch die Bemühungen der EU um die Standardisierung finanzieller Regeln und Praktiken in ihren Mitgliedsländern. In Paris und Frankfurt, den beiden wichtigsten Börsen Kontinentaleuropas, wurden die Regeln zur Börsenmitgliedschaft, Zulassung neuer Wertpapiere, Veröffentlichung von Finanzinformationen, Insiderhandel usw. in der Folge tatsächlich ähnlicher. Spezielle Steuern auf Wertpapiertransaktionen wurden abgeschafft, Zentralbankrestriktionen liberalisiert, die Ausbreitung des elektronischen Handels erleichtert – mit dem Resultat fallender Transaktionskosten und steigender Handelsvolumen. Verlierer in diesem Reformprozess waren die Makler, deren de facto-Monopol beim Parketthandel an den meisten europäischen Börsen verschwand und deren kommissionsgebundene Einnahmen entsprechend sanken. Auch die kleineren, zweitrangigen Börsen in den verschiedenen Ländern gehörten zu den Verlierern dieses Prozesses.24
236
RICHARD TILLY
Ein Faktor, der diesen Wandel sowohl in Paris als auch in Frankfurt beschleunigte, war die zunehmende Präsenz ausländischer Banken. Diese Banken setzten nicht nur die einheimischen Konkurrenten unter Druck, sie zogen auch neue Geschäfte an. Ein wichtiger Grund für den Drang ausländischer Banken nach Frankfurt war ein Wechsel in der Politik der Bundesbank: Sie gestattete es den früher davon ausgeschlossenen ausländischen Banken nunmehr, sich an Syndikaten für DM-Anleihen zu beteiligen. Ein anderer wichtiger Schritt war die Umwandlung der Frankfurter Börse in ein Unternehmen, die Deutsche Börse AG, welche sich fortan mehrheitlich im Besitz deutscher und ausländischer Banken befand. Sie wurde ihrerseits Mitbesitzerin der Kassenverein AG (der Frankfurter Clearing-Organisation) sowie der für Termingeschäfte zuständigen Termin Börse AG. Damit verlor die Frankfurter Börse ihren öffentlich-rechtlichen Charakter früh, nämlich schon 1993.25 Die Reformen waren – wenigstens im Falle von Frankfurt – so effektiv, dass ein Teil des nach London abgewanderten Geschäftes in den 1990er Jahren wieder zurückgewonnen werden konnte.26 Alle drei der oben erwähnten Faktoren stimulierten, Hand in Hand mit dem USamerikanischen Bullenmarkt der 1990er Jahre, die Entstehung einer Kultur des Aktienbesitzes, in Deutschland genauso wie in anderen europäischen Ländern. Die Zahlen in Tabelle 7 sind ein deutliches Indiz für diesen Wandel. Tab. 7: Die Kapitalisierung gelisteter Aktien in fünf Ländern (in Prozent des jeweiligen BIP) Land
1989
1999
Frankreich
25%
110%
Deutschland
20%
70%
Italien
15%
65%
Großbritannien
75%
205%
USA
64%
175%
Quellen: Artikel »Germany« und »London Stock Exchange« in: The New Palgrave Dictionary (1992); O. Issing, »Der Eurokapitalmarkt. Status quo und Perspektiven«, Bankhistorisches Archiv, Bd. 38/2000, S. 26 –43; Berechnungen des Autors
Dieser Wandel ist auch Ausdruck einer Art Konvergenz der Finanzsysteme – und damit wichtiger Bestandteil eines bekannten Themas: der Globalisierung. Allerdings blieben gewichtige Differenzen unter den europäischen Finanzplätzen bestehen. 1996 beispielsweise befanden sich in London fast die Hälfte aller Aktien im Besitz von Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften, während Private weitere 21 Prozent besaßen. In Frankfurt hielten die Pensionsfonds hingegen nur fünf Prozent und die Privaten 17 Prozent aller Aktien, Banken und Industrieunternehmen aber
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mehr als die Hälfte.27 Wenn – wie viele glauben – weit gestreuter Aktienbesitz direkt unter Privatleuten oder indirekt über Pensionsfonds die Voraussetzung für eine starke Börse ist, dann ist London offensichtlich dazu bestimmt, in Europa führend zu sein. Es ist auffällig, dass die Manager der größten Fonds der Welt ihren Sitz in London haben. Diese kontrollierten 1999 Aktienfonds im Umfang von 2,5 Billionen Dollar, während Paris, Amsterdam, Brüssel und Frankfurt zusammen lediglich Fonds im Umfang von 1,5 Billionen Dollar verwalteten.28 Der elektronische Handel hat bis jetzt die positiven externen Effekte von Finanzplätzen noch nicht erodieren können. Die wichtige Frage für die nähere Zukunft hat mit den Auswirkungen des erwarteten innereuropäischen Wettbewerbs zu tun: Können die anderen Finanzplätze zu London aufschließen? Wird Europa auf lange Sicht mehr als einen großen Finanzplatz tragen können? Oder wird die Kooperation unter den verschiedenen nationalen Zentren eine zufriedenstellende Koexistenz erlauben? Tatsächlich unternahmen in den 1990er Jahren verschiedene führende Börsen Europas Versuche in Richtung einer engeren Kooperation, sei es unter europäischen oder nicht-europäischen Börsen. Technische Verbesserungen bei der elektronischen Kommunikation ermöglichten die Errichtung internationaler Verbindungen, und dies schien zunächst den Boden für engere Zusammenschlüsse zu bereiten.29 Der bislang vielleicht erfolgreichste Zusammenschluss war Euronext, ein internationales Projekt, das einem vollständigen Zusammenschluss der Börsen von Brüssel, Amsterdam und Paris nahe kommt. Sein Erfolg geht im Wesentlichen auf die Bereitschaft der Niederländer und Belgier zurück, das Pariser Handelssystem und dessen Regeln zu übernehmen.30 In den späten 1990er Jahren gründete die Frankfurter Börse zusammen mit Zürich und der CboT (Chicago) das Handelssystem Eurex, eine Plattform für Warentermingeschäfte und derivative Finanzinstrumente, ohne dass es allerdings zu einem wirklichen Zusammenschluss gekommen wäre. Dieses Projekt rief die Konkurrenz auf den Markt: die Pariser Börse lancierte zusammen mit Mailand und Madrid den Warenterminmarkt Globex. Ein anderes Kooperationsprojekt war Euro NM, das von Frankfurt, Paris und Mailand lanciert wurde und sich auf so genannte Wachstumsaktien spezialisierte. Es ist bemerkenswert, dass sich fast alle diese joint ventures spezialisierten: Sie errichteten gemeinsame elektronische Plattformen und teilten sich – in der Hoffnung auf Einsparmöglichkeiten – die damit verbundene Software. Man kann deshalb allenfalls von einer teilweisen Integration sprechen. Fortdauernde nationale Unterschiede im Unternehmensrecht, in der Regulierung sowie bei den Handelsinteressen und -traditionen scheinen eine weitergehende Integration verhindert zu haben. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang vor allem das Scheitern einer deutschfranzösischen Kooperation, die doch auf anderen Gebieten der EU-Wirtschaftspolitik so ausgeprägt ist. Nationale Unterschiede bei der Kotierung der Papiere und generell bei der staatlichen Regulierung scheinen eine engere Zusammenarbeit bis-
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lang verhindert zu haben, so dass in der näheren Zukunft zwischen Frankfurt und Paris eher Wettbewerb als Kooperation angesagt sein dürfte.31 Dies gilt wohl auch für den ehrgeizigen Plan eines Zusammenschlusses zwischen der London Stock Exchange (LSE) und der Frankfurter Börse, der 1998 lanciert und im Jahr 2000 öffentlich diskutiert wurde. Der Plan wurde aufgegeben, weil sich Bankiers und Händler in beiden Ländern vor dem Verlust ihrer heimischen Handelsplätze und vor den Schwierigkeiten bei der Harmonisierung unterschiedlicher Handelspraktiken und Regulierungen fürchteten; diese Befürchtungen wurden durch Sorgen um mögliche Währungsrisiken verstärkt.32 Andererseits sind die möglichen Vorteile eines vollständigen Zusammenschlusses so groß, dass die Idee weiter lebt, kürzlich in der Form von Spekulationen über eine mögliche Übernahme der LSE durch Frankfurt.33 Ein solcher Zug würde selbstverständlich Europas dritten big player, die durch Paris dominierte Euronext auf den Plan rufen, der ebenfalls Interesse an der LSE nachgesagt wird. (Anmerkung des Herausgebers vom Januar 2005: Mittlerweile haben sich die Fusionsgerüchte konkretisiert. Die Deutsche Börse AG verhandelt mit der LSE über die Übernahme. Auch die Euronext will mit der LSE fusionieren.) Zum Schluss einige Vergleichsdaten zur Börsenentwicklung der beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Graphik 2 zeigt die Entwicklung in vier Ländern, und wir können annehmen, dass diese hauptsächlich das Geschehen auf den Hauptfinanzplätzen der vier Länder widerspiegelt. Die Graphik zeigt, wenig überraschend, den Bullenmarkt der 1990er Jahre. Auf den ersten Blick sieht man darüber hinaus ein Sinken der Volatilität zu Beginn der 1990er Jahre und einen erneuten Anstieg dieser Volatilität um die Jahrtausendwende. Hängt dies mit den soeben diskutierten Reformen zusammen? Oder mit dem Maastricht-Vertrag von 1991? Gibt es überhaupt einen Zusammenhang zwischen marktorientierten Reformen und der Performance der einzelnen Börsenindizes? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, weil härtere Indikatoren – wie zum Beispiel die Standardabweichungen verschiedener Perioden – ebenfalls nicht viel mehr hergeben. Es ist bemerkenswert, wie die Entwicklung in allen vier Ländern nach 1991 homogen verläuft, und zwar egal, ob es sich um Euro-Länder (Frankreich, Italien, Deutschland) oder Nicht-Euro-Länder (Großbritannien) handelt. Für eine wirklich umfassende Beantwortung der oben erwähnten Fragen wären weitere Untersuchungen nötig. Fassen wir diesen Abschnitt zusammen: Trotz einer gemeinsamen Währung in den meisten EU-Ländern und trotz langjähriger Bemühungen um eine Harmonisierung der Handelsbestimmungen blieben nationale Schranken, die eine Integration verhinderten, bestehen. Gemeinsame Clearing-Regeln scheinen noch in weiter Fer-
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DER EUROPÄISCHEN
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RICHARD TILLY
ne zu sein.34 Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte lässt sich schließen, dass weder das Schicksal der einzelnen Finanzzentren in den verschiedenen Ländern Europas noch die Versuche zu einer Kooperation zwischen den großen europäischen Börsen genügend Anlass geben, um Wetten auf eine wirkliche Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Finanzplätzen abzugeben – wenigstens nicht für die unmittelbare Zukunft. Der Wettbewerb zwischen ihnen dürfte im Gegenteil anhalten.
Schlussfolgerungen Die letzten 20 Jahre haben Veränderungen in der Form und der Rolle der europäischen Finanzplätze mit sich gebracht, die man zweifelsohne als dramatisch, einmalig und unumkehrbar beschreiben kann. Die führenden Börsen haben ihre Überwachungs- und Steuerungsfunktionen weitgehend an die Regierungen abgetreten und sich auf die Bereitstellung transparenter Preis-, Handels- und Abwicklungsleistungen konzentriert. Die drei erwähnten allgemeinen Faktoren haben den Zugang zu Europas Börsen verändert. Diese sind nicht länger die Spielwiese einer relativ kleinen Gruppe von hoch spezialisierten Experten und sehr wohlhabenden Leuten. Die Re-Regulierung hat die Zahl und die Art von Finanzintermediären, die mit den Börsen in ständigem Kontakt stehen, erhöht; wachsende Einkommen und die Verbreitung des PCs haben das sozioökonomische Spektrum der Finanzquellen, welche die Börsen speisen, ausgeweitet. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Artikels scheint sich das Interesse der Europäer an ihren Börsen abgekühlt und die politische Skepsis gegenüber ihren Transaktionen zugenommen zu haben. Möglicherweise liegt hier ein Grund für das verstärkte Interesse an der Konsolidierung und am Zusammenschluss unter den führenden Börsen Europas. Wird ein Finanzzentrum alle anderen hinter sich lassen? Es ist zu früh um sicher zu sein, aber die Finanzgeschichte kann uns bestimmt einige Hinweise geben. Dies war wenigstens ein Anlass für diese Studie. Sie begann mit einer vergleichenden Skizze der führenden europäischen Börsen am Ende des »langen 19. Jahrhunderts« – einer Zeit, die analog der Zeit am Ende des 20. Jahrhunderts durch steigende Einkommen und finanzielle Globalisierung gekennzeichnet war. Damals hatte sich in Europa eine klare Hierarchie von Börsen herausgebildet: London, der unzweifelhafte Spitzenreiter, gefolgt von den anderen Hauptzentren ausländischer Investitionstätigkeit, Paris und Berlin. Wirtschaftsgeschichtlich betrachtet, war Londons Spitzenplatz auf Netzwerkbeziehungen und schiere Größe zurückzuführen. Aber worauf gründeten diese wirtschaftlichen Rahmenbedingungen? War es Großbritanniens Anhäufung von finanziellem Wohlstand, Resultat seiner frühen Industrialisierung? Oder war es eher die marktorien-
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tierte institutionelle Struktur, sein Wettbewerbsklima und der Mangel an staatlicher Intervention, welche Investoren und Intermediäre anzogen? Es ist auffällig, dass die London Stock Exchange eher in der Lage war, ausländisches Kapital anzuziehen als die anderen europäischen Börsen – ein Umstand, der seinerseits die Nachfrage insbesondere nach Großkapital erhöhte. Auch hundert Jahre später scheint dies nach wie vor der Fall zu sein. In den Jahren vor 1914 war Großbritannien das mächtigste Land Europas, ja vielleicht der Welt, und dies könnte zusätzliches Kapital angezogen haben. Heute jedoch ist Großbritannien keine Großmacht mehr, London aber gleichwohl das führende Finanzzentrum Europas. Dies bringt uns zurück zur Rolle ökonomischer Institutionen, denn Großbritannien hatte damals wie heute ein mehr marktorientiertes Finanzsystem als seine kontinentaleuropäischen Rivalen; und in einem sich globalisierenden Umfeld gewann und gewinnt es dadurch an Attraktivität.35 Bevor man jedoch daraus den vorschnellen Schluss zieht, dass die Geschichte eine mehr marktgerechte Orientierung befürwortet, sollten wir uns zwei wichtige historische Umstände vor Augen führen: – Erstens enthielt das internationale Netzwerk der Finanzplätze vor 1914 starke komplementäre Elemente: Geschäfte, die in einem Zentrum entstanden, trugen zum Geschäftsvolumen anderer Zentren bei. Obwohl die Integration die Wahrscheinlichkeit von Krisen erhöhte, erlaubte dies geteilte Lasten bei Anpassungsschwierigkeiten – was heutzutage fehlen mag. – Zweitens generierten und generieren marktgetriebene Finanzsysteme stets periodische Unsicherheiten und populäre Begehrlichkeiten für mehr öffentliche Kontrolle ihrer Aktivitäten. Kontrollen, die als Antwort auf Krisen eingeführt werden, haben jedoch langdauernde Nebeneffekte und erweisen sich meistens als ungeeignet, wenn es darum geht, die nächste Krise zu bewältigen. Die Jahrzehnte vor 1914 sind voll von solchen Beispielen. Auf jeden Fall verdient der Zusammenhang zwischen deregulierten Märkten und politischen Antworten auf Krisen mehr Aufmerksamkeit. Aus dem Englischen von Christoph Maria Merki
Anmerkungen 1 EU-Reformen und die Entstehung des Euro lassen es als gerechtfertigt erscheinen, Europa als einen einzelnen Finanzmarkt zu betrachten. Dazu mehr weiter unten. 2 Diese Schätzungen sind nominale, in Pfund konvertierte Werte und basieren auf folgenden Quellen: Michie, Ranald C., The London Stock Exchange. A History, New York 1999; Goldsmith, Raymond, Comparative National Balance Sheets. A Study of Twenty Countries, 1688–1978, Chicago
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1985, Appendix A; Tilly, Richard, Vom Zollverein zum Industriestaat, München 1990; Rudolph, Richard, »Austria, 1800 – 1914«, in: Cameron, Rondo (Hg.), Banking and Economic Development. Some Lessons of History, New York 1972; Vidal, Emmanuel, The History and Methods of the Paris Bourse, Washington D.C. 1910 (Publications of the U.S. National Monetary Commission). Michies Angabe (1999, S. 88) ist ein bisschen höher, da sie auch die hier nicht berücksichtigten ausländischen und im Ausland zahlbaren Wertpapiere enthält. Deutscher Ökonomist, Jg. 1901, S. 388; Michie, Ranald C., »Different in Name Only? The London Stock Exchange and Foreign Bourses, c. 1850 – 1914«, Business History, Bd. 30, S. 46 – 68, hier S. 57. Freedman, Charles, The Triumph of Corporate Capitalism in France, 1867–1914, Rochester 1993. Freedman schreibt (1993, S. 20 – 22), dass Frankreich 1913 dreimal so viele Aktienunternehmen besessen habe wie Deutschland; vgl. auch Tilly, Richard, »International Aspects of the Development of German Banking«, in: Cameron, Rondo/Bovykin, V. I. (Hg.), International Banking, 1870 – 1914 New York 1991, S. 90 – 112. Vgl. Vidal, History [wie Anm. 2]; Colling, Alfred, La prodigieuse histoire de la bourse, Paris 1949 ; Feis, Herbert, Europe, the World’s Banker, New Haven 1931. Verschiedene französische Finanzminister sollen den oft geäußerten Wunsch nach Abschaffung des Monopols zurückgewiesen haben, weil die Entschädigung für die Agents de change zu hoch ausgefallen wäre. Max Weber schätzte die Rechte an diesem Monopol 1895 auf 135 Millionen Francs (Borchardt, Knut [zusammen mit Meyer-Stoll, C.] [Hg.], Max Weber Gesamtausgabe (MWG), Bd. 5: Börsenwesen. Schriften und Reden 1893 – 1898, Tübingen 2000, S. 226; vgl. auch Vidal, History [wie Anm. 2]), S. 10 und S. 270 – 276). Zwischen 1900 und 1913 war der Berliner Geldmarkt Europas größter Kreditnehmer für kurzfristiges Kapital, mit London und Paris als hauptsächlichen Gläubigern mit Forderungen in der Höhe von einer Milliarde Reichsmark. Dazu: Borchardt, Knut, »Währung und Wirtschaft«, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876 – 1975, Frankfurt am Main 1975, S. 3– 55; Bloomfield, Arthur, Short-term capital movements under the pre-1914 gold standard, Princeton 1963, S. 77/78; Tilly, International Aspects [wie Anm. 5]. Das Gesetz beschränkte Warentermingeschäfte und den Terminhandel mit Aktien, erhöhte die Frist zwischen der Firmengründung und der Kotierung an der Börse und setzte den minimalen Nennwert von Aktien auf 1.000 Mark fest; vgl. Wetzel, Christoph, Die Auswirkungen des Reichsbörsengesetzes von 1896 auf die Effektenbörsen im Deutschen Reich, insbesondere auf die Berliner Fondsbörse, Münster 1996; Tilly, Richard, »Max Weber und die Börse? (Diskussion)«, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Bd. 2002/2, S. 191– 208; Borchardt, MWG [wie Anm. 7], S. 588/589. Michie, London [wie Anm. 2]; Tilly, International Aspects [wie Anm. 5]. Im Gegensatz zu London waren Banken an der Berliner Börse nicht von der Mitgliedschaft ausgeschlossen, und tatsächlich gehörten die größeren Banken zu den wichtigsten Benutzern der Berliner Börse. Kindleberger, Charles, The Formation of Financial Centers: A Study in Comparative Economic History, Princeton 1974; Curioni, Stefano, Regolazione e competizione. Storia del mercato azionario in Italia (1808– 1938), Bologna 1995. Curioni, Regolazione [wie Anm. 11], S. 10, 221 und 239. Die Regelungen in Mailand waren weniger umfassend als jene in Paris. In Paris waren beispielsweise die Agents de change gemeinsam verantwortlich für die Schulden eines zahlungs-
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DER EUROPÄISCHEN
WERTPAPIERBÖRSEN
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unfähigen Mitgliedes. Eine ähnliche Regelung wurde 1908 für Italien vorgeschlagen, dann aber nicht eingeführt (vgl. Curioni, Regolazione [wie Anm. 11], S. 279; et passim). Curioni, Regolazione [wie Anm. 11], S. 296. Der Vergleich wird durch verschiedenste Zweideutigkeiten erschwert. In diesem Fall zum Beispiel durch Wertpapiere, die durch koloniale Regierungen begeben wurden, oder durch Unternehmen, die ausschließlich im Ausland arbeiteten, aber durch einheimische Unternehmen mitbegründet worden waren. Mein Dank geht an Eugene White von der Rutgers University (USA) für die Kopie des Bulletins sowie an Zoltan Osterbach von der Universität Münster für die Berliner Quelle. Fast 20% aller Wertpapiere in der London-Probe waren 1₤-Papiere. Ihre Bedeutung für das gesamte Börsengeschehen war natürlich nicht so groß, weil diese Papiere oft von schwach kapitalisierten Firmen herausgegeben worden waren. Nach einer zeitgenössischen Schätzung von 1911 besaßen zwei Millionen Franzosen Aktien von Eisenbahnunternehmen und mindestens ebenso viele Staatsanleihen (vgl. Neymark, Alfred, »French Savings and their Influence«, in: Publications of the U.S. National Monetary Commission, Washington D.C. 1911). Anzumerken bleibt, dass Handelsregeln (zum Beispiel über Minimalgebühren oder Minimaleinsätze) den Effekt von Stückelungsunterschieden wettmachen konnten. Dies dürfte allerdings den grundsätzlichen Unterschied zwischen Deutschland auf der einen, England und Frankreich auf der anderen Seite kaum beeinträchtigen. Mehr Untersuchungen in dieser Richtung wären nötig. Poon, Jessie P. H., »Hierarchical Tendencies of Capital Markets Among International Financial Centers«, Growth and Change, Bd. 34/2003, S. 135 – 156. Poon stützt sich für seine Pyramiden auf Daten über die Marktkapitalisierung, das Handelsvolumen, die Anzahl gehandelter Aktien und gelisteter Unternehmen. Dabei ist jede der drei Ebenen Ausdruck eines auf verschiedenen Variablen beruhenden Clusters und somit mehr als das Resultat einer bloß impressionistischen Einschätzung. Eigentlich wäre es besser, diese Veränderungen nicht als »Deregulierung« zu beschreiben, sondern als »Reregulierung« – sie ersetzten die Überwachung laufender Geschäfte durch eine bessere Kontrolle der Eintrittsschranken. Vgl. die Artikel »Development of Stock Markets« und »New York Stock Exchange« in: The New Palgrave Dictionary of Money and Finance, London 1992. Zit. in: Holtfrerich, Carl-Ludwig, Finanzplatz Frankfurt. Von der mittelalterlichen Messestadt zum europäischen Bankenzentrum, München 1999, S. 276. Dazu: Schulte, Arnd A., Die Regulierung der deutschen Effektenbörsen, Frankfurt a.M. 1995. Vgl. Schulte, Die Regulierung [wie Anm. 23], S. 227; Holtfrerich, Finanzplatz [wie Anm. 22], S. 276 – 290; die Artikel »Development of Stock Markets«, »London Stock Exchange« und »Paris Bourse« in: The New Palgrave Dictionary of Money and Finance, London 1992. Das jahrhundertealte Monopol der Pariser Zunft der Broker wurde 1988 abgeschafft. Dazu: Holtfrerich, Finanzplatz [wie Anm. 22], S. 284/285. London vollzog diesen Schritt erst im Jahr 2000. Holtfrerich, Finanzplatz [wie Anm. 22], S. 285; zu Paris: der Artikel »Paris Bourse« in: The New Palgrave Dictionary of Money and Finance, London 1992. Poon, Tendencies [wie Anm. 19], S. 150. Michie, London [wie Anm. 2], S. 649/650.
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RICHARD TILLY
29 Vgl. Dennig, Ulrike, »Europas Börsen im Umbruch«, Wirtschaftsdienst, Bd. 80/2000, S. 480 – 487. 30 Ebd., S. 482. 31 Ebd., S. 484/485. 32 Ebd., S. 480/481; Michie, London [wie Anm. 2], S. 647. 33 »Das ewige Fusionsgerücht«, in: Süddeutsche Zeitung vom 22. Juni 2004. 34 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Juli 2004. 35 Vielleicht sollte man hier betonen, dass die Frage lokaler Vorteile nicht mehr an den Eigentümer einer Börse gebunden ist. So gehört Londons Derivatemarkt LIFFE der Euronext, also jener Firma, die von der Pariser, der Brüsseler, der Amsterdamer und der Lissaboner Börse getragen wird.
Finanzplatz und Pfadabhängigkeit: Die Bundesrepublik, die Schweiz und die Vertreibung der Euromärkte (1955–1980)1 Tobias Straumann
Einleitung Die Entstehung der Eurodollarmärkte in den späten 1950er Jahren war eines der bedeutendsten Ereignisse in der Finanzgeschichte Europas. Ein Wirtschaftshistoriker hat sie sogar die »wichtigste Innovation seit der Banknote« genannt.2 Die große Neuerung bestand darin, dass international tätige Banken Geschäfte in Fremdwährungen außerhalb der nationalen Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte betrieben.3 Nicht alle europäischen Finanzplätze haben jedoch die Euromärkte willkommen geheißen. Insbesondere die deutschen und schweizerischen Behörden reagierten bis in die 1980er Jahre ablehnend und vertrieben diese neuen Geschäfte mit Steuern und Vorschriften. Die großen Nutznießer waren London und Luxemburg: Die Londoner City erlebte gar eine eigentliche »Wiedergeburt«4, und Luxemburg entwickelte sich von einem kleinen, provinziellen Finanzplatz zu einem führenden europäischen Finanzzentrum. Warum können wir solch unterschiedliche Reaktionen beobachten? Diese Frage ist noch nie in vergleichender Perspektive beantwortet worden. Die Literatur beschränkt sich im Wesentlichen auf die Beziehung zwischen London und New York, während die anderen Zentren summarisch abgehandelt werden.5 Unbeantwortet ist deshalb die Frage geblieben, warum gerade die Bundesrepublik und die Schweiz, zwei Länder mit aufstrebenden Finanzplätzen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Euromärkte vertrieben haben. Dieser Beitrag versucht eine erste, skizzenhafte Antwort auf diese Frage zu geben, indem er die deutschen und schweizerischen Regulierungsschritte mit der Politik Großbritanniens und Luxemburgs vergleicht. Die erste Erklärung lautet, dass die Bundesrepublik und die Schweiz aus währungstechnischen Gründen gezwungen waren, die Euromärkte einzuschränken. Die Deutsche Mark und der Schweizer Franken, die beiden stärksten Währungen Europas während der 1960er und 1970er Jahre, waren immer wieder Ziel von spekulativen Zuflüssen, was die Geldpolitik behinderte. Deshalb gab es für die Behörden keine andere Wahl als restriktive Maßnahmen gegen alle Formen von Kapitalzuflüssen zu ergreifen. Eine genaue Rekonstruktion der Abwehrmaßnahmen zeigt aller-
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TOBIAS STRAUMANN
dings, dass die Bundesrepublik und die Schweiz keineswegs gezwungen waren, die so genannten Ausland/Ausland-Geschäfte der Euromärkte zu behindern. Die zweite Erklärung betont die unterschiedlich starke liberale Tradition. Die Politiker in der Bundesrepublik und der Schweiz hatten zu wenig Vertrauen in die Selbstregulierung der Euromärkte und schränkten sie deshalb ein, während die britischen Politiker mit ihrem traditionell zurückhaltenden wirtschaftspolitischen Ansatz keinerlei Mühe damit hatten. Bei näherem Hinsehen erweist sich auch diese Erklärung als unhaltbar, denn die britische Wirtschaftspolitik war in der entscheidenden Phase von 1955 bis 1980 keineswegs liberaler als diejenige der Bundesrepublik und der Schweiz. Im Gegenteil: Großbritannien wandte die keynesianistische Lehre wie kein anderes Land an. Auch Luxemburg galt keineswegs als liberales Vorbild. Es waren eher die deutschen und schweizerischen Behörden, die auf eine zügige Senkung der Handelszölle und eine Liberalisierung des Kapitalverkehrs drängten. Die dritte Erklärung fokussiert auf die Pfadabhängigkeit der Finanzplatzentwicklung. Die Euromärkte waren in London und Luxemburg willkommen, weil sie sich fast nahtlos in die Vorgeschichte einfügten. London konnte auf eine lange Tradition als führender internationaler Finanzplatz zurückblicken, und Luxemburg hatte bereits bei der Modernisierung der Eisen- und Stahlindustrie im späten 19. Jahrhundert die Erfahrung gemacht, dass nur durch ausländische Investitionen und Humankapital wirtschaftliche Erfolge zu erzielen waren. In der Bundesrepublik und der Schweiz fehlten hingegen beide Erfahrungen. Weder waren ihre Finanzplätze im 19. Jahrhundert von hervorragender internationaler Bedeutung gewesen noch hatte der Kapitalimport eine wesentliche Rolle in der Industrialisierung gespielt.
Eine kurze Geschichte der Euromärkte Das Grundprinzip der Euromärkte lässt sich bis in die Zwischenkriegszeit zurückverfolgen.6 Die Bank of England schrieb 1964 rückblickend: »This is not an entirely new phenomenon. A good deal of such business was done in the late 1920s.«7 Mit der Pfundkrise und dem Stillhalteabkommen zwischen Deutschland und seinen Gläubigern schrumpfte dieses Geschäft 1931 jedoch wieder. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs flossen allerdings bald wieder Dollars auf die Konten von europäischen Banken, vor allem in London und Paris. Zum Kundenkreis gehörten die chinesische und die sowjetische Regierung, die befürchteten, dass die amerikanische Regierung ihre Dollarkonten wegen politischer Spannungen sperren könnte. In London war die Moscow Narodny Bank die wichtigste Empfängerbank, in Paris die Banque Commerciale pour l’Europe du Nord (BCEN), deren Telex-Adresse EURBANK
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lautete. Entsprechend bezeichnete man die eingegangenen Dollars als EurobankDollars und bald darauf als Eurodollars.8 Der größte Teil der Dollars, die eine Anlage außerhalb der USA suchten, stammte jedoch nicht aus kommunistischen Ländern, sondern von westlichen Regierungen, Zentralbanken, internationalen Organisationen, Geschäftsbanken und multinationalen Unternehmen.9 Zunächst tätigten diese Londoner und Pariser Banken keine Geschäfte mit ihren Dollareinlagen. Erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre erlebte der Eurodollarmarkt seinen Durchbruch. In der Forschung ist man sich nicht ganz einig, wann genau und durch welche Operation es dazu kam. Catherine R. Schenk glaubt, dass die entscheidende Innovation im Juni 1955 stattgefunden hat.10 Die Midland Bank zog Dollarkapital an, tauschte dieses am Devisenmarkt in Pfund um und gab es einheimischen Kunden als Kredit weiter. Die Operation war aus drei Gründen profitabel. Erstens waren die Zinsen auf Einlagen bei amerikanischen Banken aufgrund der Regulation Q besonders tief.11 Die Midland Bank konnte deshalb problemlos Dollarguthaben anziehen, indem sie einen Zins von 1 7⁄8 Prozent anbot. Zweitens waren die britischen Zinsen seit Januar 1955 besonders hoch, weil die Bank of England sich gezwungen sah, die Inflation zu bekämpfen. Dies erlaubte der Midland Bank entsprechend hohe Zinsen von ihren Kreditnehmern zu verlangen. Und drittens waren die Transaktionskosten am Devisenmarkt ziemlich gering, jedenfalls geringer als die Differenz zwischen den Zinsen, welche die Midland Bank auf Dollareinlagen zahlte, und den Zinsen, welche sie von ihren Kreditnehmern verlangte.12 Gary Burn datiert den Beginn des Eurodollarmarktes etwas später. Seiner Meinung nach bestand die große Innovation nicht darin, dass die Londoner Banken ihre Dollardepositen als Kredite an britische Schuldner weitergaben. Entscheidend sei vielmehr gewesen, dass sie diese Geschäfte außerhalb aller nationalen Geld- und Kreditmärkte abwickelten, und solche Geschäfte seien erst ab 1957 zu beobachten.13 Das Argument von Burn überzeugt. Die Transaktion der Midland Bank war nicht viel mehr als eine geschickte Erweiterung des Devisenhandels. Das Besondere an den Euromärkten war aber, dass die ganze Transaktion in einer einzigen Währung realisiert wurde und dass sie ohne staatliche Restriktionen und Reglementierungen von statten ging.14 Daraus resultierte der große Vorteil, dass beide Seiten, Gläubiger und Schuldner, einen Zinsvorteil genossen. Einen starken Schub erhielt der Eurodollarmarkt durch die Maßnahmen der britischen Regierung im Anschluss an die Pfundkrise vom September 1957: Sie erhöhte den Zinssatz von fünf auf sieben Prozent, verbot den Gebrauch des Pfunds für die Finanzierung des Handels außerhalb der Sterlingblocks und reduzierte die maximale Kreditperiode für andere Sterlingkredite. Denn diese restriktiven Maßnahmen schmälerten das Handelsgeschäft, in dem die Handels- und Überseebanken hauptsächlich tätig waren. Diese Banken sahen sich deshalb gezwungen, andere Finanzierungsquellen zu suchen und entdeckten den Dollar als neues Zahlungsmit-
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tel für ihre Geschäfte.15 Einen weiteren Wachstumsschub erhielt der Eurodollarmarkt ein Jahr später, als die europäischen Länder die Konvertibilität ihrer Währungen innerhalb der Leistungsbilanz zuließen, denn dadurch wurden grenzüberschreitende Geschäfte erleichtert. Und weil die amerikanische Leistungsbilanz mittlerweile negativ geworden war, die Regulation Q weiter in Kraft blieb und die amerikanischen Banken Mindestreserven anlegen mussten, erhöhte sich auch das Angebot an Dollars außerhalb der USA. In den frühen 1960er Jahren kamen amerikanische Banken in Scharen nach London, um die einheimischen Vorschriften zu umgehen.16 Die entscheidende Maßnahme, die zu diesem Exodus aus New York führte, war die 1963 erfolgte Einführung einer Zinsausgleichssteuer, der Interest Equalization Tax (IET). Die Kennedy-Administration wollte die Zahlungsbilanz verbessern, indem sie die Emission von internationalen Obligationen in New York mit der IET verteuerte. Zunächst galt die neue Steuer nur für Obligationen mit einer Laufzeit von mehr als drei Jahren, von 1965 auch für Obligationen mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr.17 Richard Sylla zitiert Henry Clay Alexander, den Chef von Morgan Guaranty, der am Tag, an dem Präsident John F. Kennedy die IET ankündigte, seinem Management erklärte: »This is a day that you will remember forever. It will change the face of American banking and force all the business off to London. It will take years to get rid of this legislation.«18 1965 trat eine weitere Maßnahme in Kraft, die den Kapitalexport einschränken sollte, damit sich die Zahlungsbilanz verbesserte. Es war das Foreign Direct Investment Program (FDIP), das vorsah, dass amerikanische Konzerne die Finanzierung ihrer ausländischen Tochtergesellschaften freiwillig auf eine gewisse Summe beschränkten. 1968 wurden diese Beschränkungen obligatorisch.19 Das FDIP gab einen weiteren Anreiz für amerikanische Banken und Konzerne, ihre Präsenz in London aufzubauen und zu verstärken. Bis Mitte der 1970er Jahre hatten acht amerikanische Großbanken 113 europäische Niederlassungen gegründet. In London allein waren im Jahr 1975 fast 60 Banken präsent.20 Trotz einiger Rückschläge, vor allem wegen des Übergang zu flexiblen Wechselkursen und der Rezession von 1974/75, expandierten die Euromärkte in den 1960er und 1970er Jahren.21 Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) berichtete in ihrem Jahresbericht 1963/64 erstmals darüber. Ihre Statistik war allerdings bis 1982 ungenau, da sie die Entwicklung der berichtenden europäischen Banken in Dollar und bestimmten anderen Fremdwährungen dokumentiert, ohne zu präzisieren, ob in dem entsprechenden Land ein Fremdwährungshandel stattfand oder nicht.22 Die Entwicklungstendenzen sind aber dennoch gut sichtbar, sowohl was das Gesamtvolumen (Tabelle 1) als auch die geographische Verteilung (Tabelle 2a und 2b) anbelangt.
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Tab. 1: Auslandspositionen der berichtenden europäischen Banken 1970 (31.12.)
1980 (31.12.)
58.700
518.730
In Millionen Dollar In anderen Fremdwährungen (in Mio. Dollar)
15.870
232.510
Total
74.570
751.240
Quelle: Jahresberichte der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Tab. 2a: Auslandsforderungen und -verbindlichkeiten der Banken in Mio. Dollar (1970) USDollar
Belgien Luxemburg
Andere Fremdwährungen
Verbindlich keiten
Forde rungen
Netto position
Verbind lichkeiten
Forde rungen
Netto position
3.730
3.330
400
3.020
2.900
120
BR Deutschland
2.690
2.050
640
180
190
10
Großbritannien
31.400
29.250
2.150
4.640
5.620
980
4.890
9.590
4.700
1.100
1.890
790
Schweiz
Quelle: Jahresberichte der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Tab. 2b: Auslandsforderungen und -verbindlichkeiten der Banken in Mio. Dollar (1980) USDollar
Andere Fremdwährungen
Verbindlich keiten
Forde rungen
Netto position
Verbind lichkeiten
Forde rungen
Netto position
BelgienLuxem burg
38.000
33.620
4.380
45.500
53.690
8.190
BR Deutschland
16.790
14.190
2.600
6.710
7.320
610
Großbritannien
276.990
262.790
14.200
69.730
70.850
1.120
23.890
21.570
2.320
7.900
8.500
600
Schweiz
Quelle: Jahresberichte der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich; Anmerkung: Fremdwährungen umfassen vor allem Deutsche Mark, Schweizer Franken und Gulden
Die Tabellen 2a und 2b zeigen klar auf, wie London seine Position als Zentrum des Eurodollarmarktes zügig ausbaute und Luxemburg dank dem Geschäft mit anderen Fremdwährungen, hauptsächlich der Deutschen Mark, groß wurde. Deutlich sichtbar ist auch, wie das Wachstum der Auslandspositionen der Banken in der Bundesrepublik und der Schweiz stagnierte. Vor allem bei der Schweiz ist das langsame Wachstum markant, denn in den 1960er Jahren galt Zürich noch als Nummer zwei
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nach London, und manche Kommentatoren gingen gar so weit zu prophezeien, dass Zürich am Ende des Jahrhunderts London überholt haben würde.23 Mit der Zunahme des Volumens nahm auch die Zahl der Finanzprodukte zu. Zunächst dominierten kurzfristige Transaktionen die Euromärkte. Doch bereits nach wenigen Jahren ermöglichte die Entwicklung des Roll-over-Kredites auch mittel- und langfristige Geschäfte. 1963 wurde die erste Euroanleihe für die italienische Autobahnbetreiber-Gesellschaft Austrostrade in London emittiert.24 Zehn Jahre später betrug das Volumen der neu aufgelegten Eurobonds bereits 10 Milliarden US-Dollar.25 1975 war das Volumen der ausstehenden internationalen Anleihen noch deutlich größer als dasjenige der ausstehenden Eurobonds. Fünf Jahre später hatte sich das Verhältnis bereits umgekehrt, wie Tabelle 3 zeigt. Tab. 3: Eurobonds und internationale Anleihen (1975–1985) 1975
1980
1985
USDollar
3.379
13.649
96.482
Deutsche Mark
2.918
3.457
9.491
Pfund Sterling
k.A.
975
5.766
10
301
6.539
k.A.
2.012
17.153
8.743
20.394
135.431
6.712
2.709
4.655
Deutsche Mark
353
4.951
1.741
Pfund Sterling
33
178
958
3.414
7.470
14.954 6.379
Eurobonds (in Mio. Dollar)
Yen Andere Währungen Total Eurobonds: Ausländische Anleihen (in Mio. Dollar) USDollar
Schweizer Franken Yen
67
1.543
638
1.073
2.338
Total Anleihen:
11.217
17.924
31.025
Gesamttotal (Eurobonds und Anleihen):
19.960
38.318
166.456
Andere Währungen
Quelle: OECD, Statistiques financières
Kurzum, die Expansion der Euromärkte revolutionierte die internationalen Finanzmärkte. Entsprechend waren diejenigen Finanzplätze im Aufwind, die von Anfang an die Euromärkte zuließen. Die größten Gewinner waren London und Luxemburg, in kleinerem Ausmaß auch Paris. Warum haben die deutschen und
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schweizerischen Behörden ablehnend reagiert und zugelassen, dass ihre Banken dieses lukrative Geschäft im Ausland abwickelten?
Starke Währung, schwacher Finanzplatz Die erste Erklärung betont die Unvereinbarkeit zwischen starker Währung und Euromarkt. Demnach hatten die deutschen und schweizerischen Behörden gar keine andere Wahl als die Euromärkte zu vertreiben. Der Grundgedanke ist folgender: Die starke Deutsche Mark und der starke Franken wurden immer wieder Ziel von spekulativen Zuflüssen, wenn der Dollar oder das Pfund einen Schwächeanfall erlitten, was die Behörden dazu zwang, ein Abwehrdispositiv gegen jede Form von Zuflüssen zu errichten. Das Zulassen eines Euromarktes hätte die Geld- und Währungspolitik stark erschwert. Die negative Korrelation zwischen Währung und Euromarkt ist in der Tat bemerkenswert. Die Deutsche Mark und der Schweizer Franken waren bei weitem die stärksten europäischen Währungen von 1955 bis 1980. Das britische Pfund hingegen wurde 1949 und 1967 abgewertet und verlor von 1972 bis 1979 rund einen Drittel seines Wertes, und der belgisch-luxemburgische Franc wurde in der Frühphase des Europäischen Währungssystems (EWS) um einen Drittel abgewertet. Mit Blick auf die deutschen Verhältnisse bemerkte deshalb unlängst Ulrich Ramm, Chefökonom der Commerzbank: «The somewhat paradoxical constellation of a strong currency and a weak financial centre implied that German banks switched sizeable segments of their business abroad.»26 Auch Paul Einzig sprach von einer paradoxen Situation: »Paradoxical as it may sound, while the development of the Euro-dollar market has greatly increased the international role of the dollar and has reduced relatively the role that sterling plays in international financing, it has strengthened London’s international financial role.«27 Wenn man jedoch die historischen Umstände genauer betrachtet, zeigt sich, dass währungstechnische Überlegungen sekundär waren. Auch Einzig und Ramm wollen mit ihren Beobachtungen nicht suggerieren, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Währung und Finanzplatz bestand. Die Verteidigung der Geld- und Währungsstabilität machte es keineswegs notwendig, dass die deutschen und schweizerischen Behörden nicht nur Ausland/Inland-Geschäfte, sondern auch Ausland/Ausland-Geschäfte mit Steuern und Vorschriften behinderten. Man hätte dasselbe tun können wie London und Luxemburg: Den einheimischen Geld- und Kapitalmarkt abschirmen und die ausländischen Deviseneinlagen von jeder Steuer und Vorschrift befreien. Im übrigen blieben die britischen und luxemburgischen
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TOBIAS STRAUMANN
Behörden bei ihrem Regime, als das britische Pfund und der belgisch-luxemburgische Franc in den 1980er Jahren wieder starke Währungen wurden. Der Vollständigkeit halber lohnt es sich, einen Blick auf die einzelnen Steuern und Vorschriften zu werfen. Es waren hauptsächlich fünf Maßnahmen, die prohibitiv wirkten (siehe Tabelle 4). Mindestreservevorschriften, Verzinsungsverbot, Bardepot und Quellensteuer behinderten die Entfaltung des Eurogeld- und Eurokreditmarktes, das heißt der kurzfristigen und mittelfristigen Geschäfte. Die Stempelsteuer erschwerte die Emission von und den Handel mit Eurobonds. Tab. 4: Euromarkt-relevante Steuern und Vorschriften in der Bundesrepublik und der Schweiz Eurogeld und Eurokreditmarkt Mindestreservevorschriften (Banken müssen einen Teil der Einlagen zurückbehalten)
X
Verzinsungsverbot (die Banken dürfen keine Zinsen auf ausländische Einlagen bezahlen)
X
Bardepot (Banken und Nichtbanken sind verpflichtet, einen Teil der im Ausland aufgenommenen Kredite als Bardepot bei der Zentralbank zinsfrei zu unterhalten) Quellensteuer (Steuer auf Zinsen aus Bankeinlagen und Obligationen) Stempelsteuer (Abgabe bei der Emission und dem Erwerb von Wertpapieren)
Eurobondmarkt
X
X X
Beide Länder, die Bundesrepublik und die Schweiz, verwendeten das ganze Arsenal an Steuern und Vorschriften, aber die Gewichtung war unterschiedlich. Was die kurz- und mittelfristigen Geschäfte anbelangte, so vertraute die Deutsche Bundesbank vor allem auf die Wirkung der Mindestreservevorschriften bei ausländischen Einlagen. Das Instrument der Mindestreserven wurde 1957 erstmals angewendet. Die Vorschriften galten gleichzeitig für ausländische Einlagen in Deutscher Mark und in Fremdwährungen.28 Der Anlass war die bereits erwähnte Pfundkrise, die zu großen spekulativen Zuflüssen führte. Von da an setzte die Bundesbank dieses Instrument immer ein, wenn Kapitalzuflüsse infolge einer Dollar- oder Pfundschwäche stattfanden. Gemäß Ekkehard Storck, der die Luxemburger Tochter der Deutschen Bank in den 1970er Jahren gründete und aufbaute, »hinderte wie entsprechend in anderen führenden Industrieländern die Mindestreserveregelung der Deutschen Bundesbank deutsche Banken am direkten Zugang zum Euromarkt. Es war somit die strikte Politik der Notenbank, die deutsche Banken veranlasste, außerhalb des deutschen Währungsgebietes am Eurogeschäft teilzunehmen.«29
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Die Schweiz kannte zwar auch seit den 1950er Jahren Mindestreservevorschriften für ausländische Gelder, aber zunächst nur bei Einlagen in Schweizer Franken.30 Erst ab 1971 galten sie auch für ausländische Gelder in Fremdwährungen, aber wurden bereits 1977 wieder aufgehoben.31 Die wichtigste permanente Regulierung in der Schweiz, die das Aufkommen der Euromärkte verhinderte, war die Quellensteuer. Die OECD schrieb 1981, diese Steuer sei wahrscheinlich »the most important disincentive«32. Die Quellensteuer wurde nicht eigens eingeführt, um Kapitalzuflüsse abzuwehren, sondern war eine ererbte Steuer aus dem Zweiten Weltkrieg. Diese so genannte Quellenwehrsteuer entstand im Rahmen der 1940 erlassenen Bundessteuern zur Finanzierung der Kriegslasten und erfasste Kapitalerträge zum Satz von fünf Prozent.33 1942 wurde die Quellensteuer auf Erträge aus mobilem Kapital ausgedehnt, und 1957 verankerte man sie in der Verfassung. Die Sätze stiegen 1944 auf 25 Prozent, 1948 auf 30 Prozent und 1975 auf 35 Prozent. Die Steuer bezog sich auf schweizerische Erträge (bestimmt nach Wohnort des Schuldners oder Anlageort), ungeachtet ob sie auf Schweizer Franken oder ausländische Währungen lauteten. Als schweizerische Erträge definierte man alle zinstragenden Anlagen, also Bankeinlagen wie auch Obligationen und Kassenobligationen. Ausländer erhielten zwar die Quellensteuer je nach Doppelbesteuerungsabkommen teilweise oder sogar ganz rückvergütet.34 Auch galt die Steuer nicht für Interbankenguthaben mit einer Laufzeit von unter 12 Monaten. Aber die Steuer schreckte dennoch die Euromärkte nachhaltig ab. Was die Eurobondmärkte anbelangte, so stellte die Stempelsteuer das größte Hindernis dar. 35 In Frankfurt und Zürich musste ein Kunde für den Erwerb einer Obligation eine Gebühr von 0,75 bis 1,5 Promille des Obligationenwertes bezahlen, in London und Luxemburg war der Erwerb gebührenfrei.36 Die Schweiz erhöhte gar diese Gebühren in den 1970er Jahren und dehnte sie 1972 auf den Handel mit ausländischen Titeln aus.37 Außerdem intervenierte die Schweizerische Nationalbank erfolgreich bei ausländischen Zentralbanken, um das Aufkommen eines Eurobondmarktes in Schweizer Franken auf ausländischen Finanzplätzen zu verhindern.38 Mit anderen Worten: Die Nationalbank wie auch die Deutsche Bundesbank unternahmen alles, um die internationale Verwendung ihrer Währungen so gut wie möglich unter Kontrolle zu halten.39
Liberale Tradition Die zweite Erklärung lautet, dass unterschiedlich starke liberale Traditionen den Ausschlag gegeben haben, warum die Euromärkte in London und Luxemburg
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blühten, in der Bundesrepublik und der Schweiz aber verwelkten. Großbritannien gilt zu Recht als Ursprungsort des Liberalismus, und bis in die Zwischenkriegszeit war das Land eine Hochburg des Freihandels und das Zentrum des internationalen Goldstandards. Umgekehrt scheint sich Deutschland schon früh durch einen besonders starken Etatismus ausgezeichnet zu haben, und bis 1945 hatten es die liberalen Kräfte bekanntermaßen äußerst schwer, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Diese Erklärung wird aber problematisch, sobald man die entscheidende Periode von 1945 bis 1980 etwas genauer betrachtet. Die deutsche Wirtschaftspolitik war in jener Zeit keineswegs dirigistischer als die britische. Im Gegenteil, die deutsche Wirtschaftspolitik ließ der privaten Initiative mehr Raum als die britische. Ebenso war die schweizerische Wirtschaftspolitik liberaler als die luxemburgische. Großbritannien hielt zum Beispiel bis 1979 ein umfangreiches System von Devisenkontrollen aufrecht, und die Banken und Unternehmen hatten sich daran gewöhnt.40 Selbst als das Pfund im Juni 1972 zu floaten begann, änderte man das Kontrollregime nicht. Nigel Lawson, Schatzkanzler von 1983 bis 1989, schrieb in seinen Memoiren: »People had lived with exchange control for so long that it was not in any real sense an issue: it was a fact of life.«41 Das Kontrollregime ging auf die Kriegszeit zurück, wurde im Juli 1947 aufgehoben, aber wegen des dramatischen Verlusts der Devisenreserven innerhalb von sechs Wochen wieder eingeführt.42 Das Ziel des Exchange Control Act von 1947 war es, den Kapitalexport streng zu überwachen und zu rationieren.43 Überhaupt war der Einfluss des Staates während des Zweiten Weltkriegs stark angestiegen, und die Labour Regierung, die 1945 an die Macht kam, dehnte ihn durch umfangreiche Verstaatlichungen weiter aus.44 Insbesondere wurde 1946 die Bank of England verstaatlicht.45 Ferner verfolgten alle britischen Regierungen, ob links oder rechts, bis Ende der 1970er Jahre eine keynesianistische Konjunkturpolitik – mit den berüchtigten »stop-and-go«-Effekten.46 Auch Luxemburgs Wirtschaftspolitik glänzte in den Nachkriegsjahrzehnten nicht durch einen besonders ausgeprägten Liberalismus. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis Ende der 1950er Jahre regierte fast ununterbrochen eine große Koalition von Christdemokraten und Sozialisten, die ein ungebrochenes Verhältnis zum Staatsinterventionismus hatte. Die Liberalen waren in der Opposition, die sie mit der kleinen, aber wirkungsvollen Gruppe der Kommunisten teilten. Wie in anderen europäischen Ländern verschärfte sich der Konflikt zwischen den drei großen Parteien in den 1960er und 1970er Jahren, was zu einem Wettlauf im Versprechen von neuen staatlich finanzierten Programmen führte.47 In der Ära des christdemokratischen Ministerpräsidenten Pierre Werner, der von 1959 bis 1974 zwei Mitte-RechtsKabinette (1959 bis 1964 und 1969 bis 1974) und ein Mitte-Links-Kabinett (1964 bis 1969) anführte, wurde der Sozialstaat zügig ausgebaut.48 Ein wichtiger Mitspieler in der luxemburgischen Politik war die Gewerkschaft der Eisen- und Stahlindustriearbeiter. Sie hatte zum Beispiel bereits 1951 erreicht,
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dass die Löhne indexiert wurden.49 1955 zwang sie die Arbeitgeber durch einen Streik, an dem sich 60 Prozent der Bergleute beteiligten, große Zugeständnisse zu machen: Lohnerhöhungen von fünfeinhalb bis zehn Prozent, Erhöhung der Leistungsprämie und die Aufnahme von Gesprächen über die Einführung der 44-Stunden-Woche. Gemäß einer Statistik waren die Lohnkosten (inklusive Abgaben für Sozialleistungen) in der luxemburgischen Eisen- und Stahlindustrie bereits vor dem großen Streik die höchsten in Europa gewesen.50 Mit der erfolgreichen Aktion von 1955 vergrößerte sich dieser Abstand noch. Ein weiterer Schritt, der den gewerkschaftlichen Einfluss stärkte, war das Gesetz vom 12. Juni 1965, das den großen Arbeitnehmerorganisationen eine Vertretung in den Verwaltungsräten der Betriebe mit mehr als 1.000 Beschäftigen garantierte und ihnen das Privileg gab, Kollektivverträge abzuschließen. 1966 wurde ein Wirtschafts- und Sozialrat ins Leben gerufen, in dem die Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisation paritätisch vertreten waren.51 Kurzum, Luxemburg war von 1955 bis 1980 ein Land mit starken Gewerkschaften und einem interventionsfreudigen Staat. Der Finanzplatz entstand nicht wegen einer starken liberalen Tradition, sondern trotz des Fehlens einer solchen Tradition. Umgekehrt waren die deutsche und die schweizerische Wirtschaftspolitik in manchen Bereichen liberaler als die britische oder luxemburgische. Die Bundesrepublik, die sich bekanntlich unter der Führung von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard an ordoliberalen Grundsätzen orientierte, forderte in den 1950er Jahren eine schnelle Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Alle anderen Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), darunter Belgien und Luxemburg, bremsten.52 Die Bundesrepublik war auch dasjenige EWG-Mitglied, das am stärksten auf eine schnelle Senkung der Handelszölle für Industrieprodukte drängte.53 Ferner gehörte die Deutsche Bundesbank zu den unabhängigsten Zentralbanken der Welt. 1956, als der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer versuchte, die Geldpolitik zu beeinflussen, erlitt er eine große Niederlage.54 Der Keynesianismus, der in Großbritannien dominierte, kam sehr spät nach Deutschland und setzte sich nie vollständig durch.55 In der Schweiz herrschten ähnliche Verhältnisse. Wie die Deutsche Bundesbank gehörte auch die Schweizerische Nationalbank zu den unabhängigsten Zentralbanken Europas. Der Keynesianismus wurde spät rezipiert und hatte kaum Einfluss auf die konkrete Wirtschaftspolitik.56 Noch mehr als die Bundesrepublik war die Schweiz ein Vorbild der europäischen Liberalen, denn der Sozialstaat blieb besonders klein, der Eingriff des Staates in die Wirtschaft außerordentlich minimal. Der Staat vertraute auf die Selbstregulierung durch die Wirtschaftsverbände, gerade im Finanzsektor. Der ordoliberale Wilhelm Röpke, der 1933 seinen Marburger Lehrstuhl verloren hatte und auf Umwegen 1937 an die Universität Genf gekommen war, schrieb 1961 voller Bewunderung: »Die Schweiz ist dasjenige Land in Europa, das
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niemals vom Kurse der Marktwirtschaft und der monetären Disziplin abgewichen ist, auch dann nicht, als ein anderes neutrales Land, nämlich Schweden, den Verlockungen des Kollektivismus und Inflationismus nach dem Kriege erlag. Insofern kommt der Schweiz der Ehrentitel des Landes zu, das inmitten der allgemeinen ideologischen Verwirrung das Modell einer gesunden Wirtschafts- und Währungspolitik sorgsam bewahrt hat, auch zu einer Zeit, als es damit allein in der Welt stand und als ein Art von Museumsstück verlacht wurde.«57 Mit anderen Worten: Nicht die Bundesrepublik und die Schweiz praktizierten von 1955 bis 1980 eine antiliberale Wirtschaftspolitik, sondern Großbritannien und Luxemburg. Gerade in Fragen des Kapitalverkehrs gehörten die deutschen und schweizerischen Behörden zum liberalen Lager, und sie ließen der Wirtschaft relativ viel Raum zur Entfaltung. Die Erklärung, dass unterschiedlich starke liberale Traditionen entscheidend waren, lässt sich deshalb kaum aufrecht erhalten.
Die Pfadabhängigkeit der Finanzplatzentwicklung Die dritte Erklärung ist verwandt mit der zweiten, denn auch sie betont die Macht der Tradition. Sie zielt aber weniger auf die allgemeine politische oder wirtschaftliche Kultur eines Landes, sondern auf eine sehr spezifische Tradition, nämlich auf die des Finanzplatzes. London und Luxemburg sind diesbezüglich Spezialfälle. Die City war seit dem frühen 19. Jahrhundert ein führendes internationales Finanzzentrum. Entsprechend setzen die Londoner Bankiers und Behörden alles daran, diese Position zu halten und auszubauen. Und Luxemburg hatte seit dem 19. Jahrhundert die Erfahrung gemacht, dass nur durch das Anlocken von ausländischem Kapital erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung möglich war. Zudem hatten sowohl Großbritannien und Luxemburg den Abstieg ihrer Hauptindustrien zu gewärtigen, was die Förderung des Finanzplatzes als besonders dringlich erscheinen ließ. In der Bundesrepublik und der Schweiz fehlten diese Erfahrungen. Der Finanzplatz war weder je wirklich international gewesen noch waren die entscheidenden Impulse während der Industrialisierung von außen gekommen. Zudem gehörten beide Volkswirtschaften zu den erfolgreichsten der Nachkriegszeit, was sich unter anderem in der Stärke der Währung niederschlug. Diese Erklärung scheint am plausibelsten zu sein. Im Fall von Großbritannien, dem Entstehungsort des Eurodollarmarkts, tritt die Bedeutung von Pfadabhängigkeit und damit verbundener Abstiegsangst besonders klar hervor.58 London war im 19. Jahrhundert das größte Finanzzentrum der Welt, das Pfund seit der Ausbreitung des Goldstandards im letzten Drittel des Jahrhunderts die international dominierende Leitwährung. Dank dieser Tradition gab es in London immer eine Reihe von
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erfahrenen Bankern, die die Offenheit hatten und fähig waren, neue internationale Geschäfte zu entwickeln, wenn sich eine Gelegenheit ergab. Die französische Zeitschrift Banque schrieb im April 1961, dass London es seiner ausgezeichneten technischen Organisation und dem Überfluss an spezialisiertem Personal verdanke, dass es das weitaus wichtigste Zentrum der Euromärkte geworden sei.59 Gleichzeitig gab es bereits um 1900 deutliche Anzeichen, dass die Wachstumsdynamik der britischen Volkswirtschaft am Erlahmen war.60 Die abnehmende Bedeutung des Pfunds als Welthandels- und Reservewährung war dabei der deutlichste Ausdruck dieses Abstiegs. Bereits die Abwertung von 1949 zeigte, wie anfällig die britische Währung geworden war. Im Sommer und Herbst 1957 kam es zu einer weiteren Pfundkrise. Die Abwertung wurde zwar verhindert dank einer Erhöhung des Zinssatzes von fünf auf sieben Prozent und einem Bündel von Maßnahmen, welche die Verwendung des Pfunds einschränkten, was – wie erwähnt – die Expansion der Euromärkte beschleunigte. Aber die Krise führte zu einem weiteren Vertrauensverlust. Otmar Emminger, damals im Direktorium der Deutschen Bundesbank, schrieb in seinen Erinnerungen: »Die Pfund-Krise vom Sommer und Herbst 1957 hatte – trotz ihrer relativ raschen und eleganten Lösung – eine weit über den Augenblick hinausreichende Bedeutung. Denn eine internationale Reservewährung kann sich derartige Vertrauensstörungen und Schwächeanfälle nicht allzu oft leisten, ohne dass sie ihr standing als Reservewährung einbüßt.«61 Mit der Abwertung des Pfunds 1967 und dem Verlassen der europäischen Währungsschlange 1972 war das Ende des Pfunds als internationale Leitwährung endgültig besiegelt. Ende 1976 wurden die noch im Sterling-Block verbliebenen Sterling-Reserven offiziell liquidiert. Die Tradition als internationaler Finanzplatz und die Abstiegsangst lassen sich direkt in den Quellen belegen. Im November 1960 wollte das Parlament in einer Anfrage wissen, ob die britische Regierung die Euromärkte zu beschränken gedenke, wie dies andere europäische Regierung tun würden. Die Antwort lautete, dass ein solcher Schritt die internationale Bedeutung der Londoner City beeinträchtigen würde und dass man die Dollarzuflüsse gut brauchen könne, um die Devisenreserven aufzustocken.62 Im Januar 1963 schrieb der Vizegouverneur der Bank of England: »It is natural enough that London banks – and merchant banks in particular – with their expertise and international connections, should […] have sought to participate in this [Eurodollar] business. It is par excellence an example of the kind of business which London ought to be able to do both well and profitably. That is why we at the Bank have never seen any reason to place any obstacles in the way of London taking its full and increasing share.«63 Ein britischer Beobachter fasste die Kombination von Tradition und Abstiegsangst wohl am treffendsten zusammen, als er 1970 schrieb: »As it happened, there were in the City, at the end of the war, a number of enterprising men with bold ideas and technical ingenuity – men who
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refused to accept the apparent verdict of history that England no longer had the resources to run an important centre of world finance.«64 Die wichtigste Behörde auf staatlicher Seite war die Bank of England. Sie war zwar 1946 verstaatlicht worden und musste sich in vielen wirtschaftspolitischen Fragen dem keynesianistischen Konsens in der Regierung und dem Schatzkanzleramt unterwerfen. Aber was die Bankenaufsicht anbelangte, so konnte die Bank of England die Interessen der City relativ gut vertreten, weil der Gouverneur und der Vizegouverneur sich von einem Court of Directors beraten ließen, in dem die Chefs von wichtigen Banken vertreten waren.65 Die Bank of England war also institutionell und personell eng mit den führenden Finanzinstituten verbunden und setzte sich für deren Interessen ein. Die Bedeutung der personellen Verflechtung zwischen City und Bank of England wird besonders klar, wenn man den Lebenslauf von Sir George Bolton, einem der wichtigsten Promotoren des Eurodollarmarktes, genauer verfolgt.66 Bolton begann seine Karriere 1920 als Devisenhändler bei der Handelsbank Helbert, Wagg & Co. Nach dem Zusammenbruch des Goldstandards im September 1931 wurde er von Montagu Norman, dem Gouverneur der Bank of England, angeworben, um in der Devisenabteilung zu arbeiten. Seine Aufgabe war es, die Fluktuationen des frei flottierenden Pfunds minim zu halten. 1948 avancierte er zum Exekutivdirektor und wurde zum einflussreichsten Berater des neuen Gouverneurs Cameron Cobbold, der 1949 sein Amt antrat. Boltons Ziel war, den Finanzplatz London möglichst schnell von seinen Kontrollen zu befreien. 1952 gehört er zur Gruppe von Beamten, die vorschlugen, das Pfund floaten zu lassen.67 Als dieser Plan am Widerstand der Regierung scheiterte und die Liberalisierung des Kapitalverkehrs nur schleppend voranging, entschied sich Bolton, zurück ins Geschäftsleben zu gehen. 1957 übernahm er den Vorsitz der Bank of London and South America (Bolsa), einer Überseebank, die hauptsächlich in der Handelsfinanzierung tätig war. In einem Memorandum an das Direktorium schrieb er kurz nach seinem Eintritt in die Dienste der Bolsa: »London […] has barely succeeded in maintaining its international banking system following the loss of political influence by the UK, the weakened position of sterling and the incapacity of the London Market to increase its foreign investment net. […] Whatever may be the future of banks engaged exclusively in domestic banking, those whose main business is to maintain and develop a position in the foreign field will have to adapt their structure to meet the needs of the time.«68 Bolton erkannte schnell, welches Potenzial das Geschäft mit den Eurodollars hatte, und er machte die Bolsa innerhalb von kurzer Zeit zu einer der führenden Banken im Eurodollarmarkt. Bolton war ferner wichtig bei der Gründung des Londoner Eurobondmarktes im Jahr 1963. Sein Beitrag lag vor allem darin, die entsprechenden Behörden zu überzeugen, keine Emissionsgebühr zu erheben, wie es bei
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Pfund-Anleihen gesetzlich vorgeschrieben war. Auch bei dieser Geschichte zeigt sich wiederum, wie stark der Wille war, Londons internationale Bedeutung wiederherzustellen. Der damalige Gouverneur der Bank of England erklärte 1963 öffentlich: «The barriers that remain here now impede the growth of important contributions to a stronger international economic standing for the country. […] The time has now come when the City once again might well provide an international capital market.«69 Luxemburg scheint auf den ersten Blick kaum Parallelen zu London aufzuweisen. Das Land ist mehr als zehn Mal kleiner als die britische Hauptstadt. Der Finanzplatz war bis zur Entstehung der Euromärkte von geringer Bedeutung. Entsprechend fehlte die kritische Masse von Bankiers und Beamten, die über die notwendige Erfahrung mit dem internationalen Bankgeschäft hatten und alles unternahmen, um eine bereits vorhandene Position zu verteidigen oder auszubauen, wie das in London der Fall war. Dennoch lässt sich auch am Beispiel Luxemburgs argumentieren, dass die Pfadabhängigkeit des Finanzplatzes die beste Erklärung ist, warum die Euromärkte zugelassen wurden. Nur handelte es sich um eine andere internationale Tradition als in London: Luxemburgs Leitsektor, die Eisen- und Stahlindustrie, verdankte seinen Aufstieg dem Zufluss von ausländischem Kapital, und die Behörden waren sich bewusst, dass der Aufbau von internationalen Finanzdienstleistungen ebenfalls nur durch eine aktive Standortpolitik, die ausländische Banken anziehen würde, gelingen konnte. Zudem verstärkte sich in den 1950er und 1960er Jahren die Einsicht, dass man die Wirtschaftsstruktur diversifizieren musste, weil die Eisen- und Stahlindustrie ihren Zenit erreicht hatte. Das ausländische Kapital, das der Luxemburger Eisen- und Stahlindustrie zum Durchbruch zwischen 1885 und 1914 verhalf, stammte zunächst aus Belgien und Frankreich, seit 1890 fast ausschließlich aus Deutschland. Der Einfluss des westlichen Nachbarn war so stark, dass vor dem Ersten Weltkrieg praktisch alle Unternehmen in der Eisen- und Stahlindustrie von deutschem Kapital kontrolliert wurden.70 Auch die Versorgung mit Kohle und der Absatz der Produkte waren eng auf den deutschen Markt abgestimmt. Die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte nahm im Zuge dieses Aufschwungs rapide zu: 1907 stammte ein Drittel der Industriearbeiter aus dem Ausland, hauptsächlich aus Deutschland und Italien.71 Mit dieser Erfolgsgeschichte im Rücken begannen die Luxemburger Behörden und Politiker in der Zwischenkriegszeit, den Finanzplatz zu entwickeln. Sie hatten erkannt, dass der Erste Weltkrieg eine Auslagerung von Finanzgeschäften in die neutralen Länder zur Folge hatte. Dieser Trend war unübersehbar, da ausländische Banken mit belgischen, deutschen, französischen und schweizerischen Wurzeln mehrere Finanzinstitute in Luxemburg gründeten.72 Als Reaktion gründete man 1928 eine Börse und verabschiedete 1929 ein Gesetz, das Holdinggesellschaften privilegierte. Außerdem ging das Land 1922 eine Wirtschaftsunion mit Belgien ein,
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1935 eine Währungsunion. Luxemburg war im übrigen nicht das einzige Land in Europa, das mit solchen Schritten auf die veränderten Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg reagierte. Auch das Fürstentum Liechtenstein, das 1923/24 eine Wirtschafts- und Währungsunion mit der Schweiz einging, verabschiedete 1926 ein Gesetz, das die so genannten Sitzgesellschaften steuerlich privilegierte. Auch einige Schweizer Kantone, insbesondere der Kanton Zug, führten in den 1920er Jahren das Holdingprivileg ein.73 Das luxemburgische Holdingprivileg hatte zunächst nur geringe Auswirkungen auf den Finanzplatz, aber die entscheidende Weichenstellung war damit vorgenommen. Das internationale Geschäft begann plötzlich zu expandieren, als sich 1960 einige amerikanische Banken in Luxemburg ansiedelten. Sie hatten entdeckt, dass Luxemburg ein guter Standort für ihre Euromarktgeschäfte bot.74 Es waren vor allem zwei Vorteile: Es existierten keine Mindestreservevorschriften, und Ausländer mussten keine Quellensteuer auf Zins- und Dividendeneinnahmen zahlen. Das Fehlen von Mindestreservevorschriften erklärt sich durch das Fehlen einer starken Bankenaufsicht und den kleinen Finanzmarkt. Und der Wegfall der Doppelbesteuerung war ein Vorteil, den das Holdinggesetz aus dem Jahr 1929 bot. Nach den amerikanischen Banken kamen ab 1967 die deutschen Banken nach Luxemburg, weil die hohen Mindestreservevorschriften ihr internationales Geschäft behinderten. Die Schweizer Banken folgten bald nach. Die Zahl der Banken in Luxemburg erhöhte sich von 1960 bis 1980 von rund 20 auf 110.75 Die Zahl der an der Börse notierten Eurobonds erhöhte sich schnell seit 1963, dem Jahr, als die ersten Eurobonds emittiert wurden. Die Behörden optimierten fortlaufend die Rahmenbedingungen. 1965 dehnte man das Holdingprivileg auf Finanzholdinggesellschaften aus.76 1970 wurde die CEDEL (Centrale de Livraison de Valeurs Mobilières), eine internationale Clearing-Gesellschaft, in Luxemburg gegründet. Ende der 1970er Jahre verabschiedete die Behörden ein ganzes Maßnahmenpaket, das neue Finanzgeschäfte anziehen sollte. 1979 wurde die Mehrwertsteuer auf Gold abgeschafft, 1981 begann der Goldhandel seinen Betrieb. In derselben Periode beseitigte man die Kuponsteuer auf Anleihezinsen sowie die Stempelsteuer auf Depositenzertifikate. Im Bankengesetz von 1981 wurde ein strenges Bankgeheimnis mit strafrechtlicher Ahndung bei Verstößen nach schweizerischem Vorbild verankert. Dies war die Geburtsstunde der grenzüberschreitenden Vermögensverwaltung.77 In den 1980er Jahren förderte man außerdem gezielt das Investmentfondsgeschäft und die Versicherungen.78 Wie im Fall Londons dürfte auch die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg eine gewisse Rolle gespielt haben. Die Behörden waren sich bewusst, dass die starke Abhängigkeit von der Eisen- und Stahlindustrie große Risiken barg. Im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte sie zwar noch einmal eine Blüte. Die Belegschaft des größten luxemburgischen Konzerns Arbed erhöhte sich
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von 1948 bis 1958 von 21.760 auf 25.710 Arbeiter, die Produktion stieg von 3.379.000 auf 5.521.000 Tonnen Stahl.79 1960 machte die Eisen- und Stahlindustrie die Hälfte der industriellen Produktion, zwei Drittel der Exporte und ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts aus.80 Aber in den 1960er Jahren, dem entscheidenden Jahrzehnt, als die Euromärkte in Luxemburg entstanden, begann die Zeit der Stagnation. 1960 produzierte die luxemburgische Eisen- und Stahlindustrie noch sechs Prozent der Gesamtproduktion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), 1968 waren es 5,6 Prozent. Der Einbruch kam schließlich im zweiten Semester 1974. Von ihm sollte sich die Stahlindustrie nie mehr erholen.81 Die Zahl der Beschäftigten sank von 25.000 im Jahre 1974 auf 14.000 im Jahre 1985.82 Der Staat versuchte bereits in den 1950er Jahren, ausländische Unternehmen in Luxemburg anzusiedeln, um die industrielle Monokultur aufzubrechen. Aber er ergriff erst in den 1960er Jahren offensive Maßnahmen. 1962 wurde ein Rahmengesetz verabschiedet, das es der Regierung erlaubte, mit Zinsvergütungen und Steuererleichterungen neue Industriebranchen anzulocken. Parallel dazu starteten die Behörden eine Werbeaktion in den Vereinigten Staaten. Die Anstrengungen waren erfolgreich: Von 1962 bis 1976 siedelten sich etwa 60 neue Unternehmen in Luxemburg an, darunter einige amerikanische Großunternehmen. 1974, auf dem Höhepunkt der Krise der Eisen- und Stahlindustrie, wurde ein neues Rahmengesetz verabschiedet.83 Es ist evident, dass ein Staat, der sich um die Ansiedlung von neuen Industriebranchen und ausländischen Unternehmen bemüht, auch die Internationalisierung des Finanzplatzes willkommen heißen musste. In Deutschland und der Schweiz lässt sich eine ganz andere Tradition beobachten. Ihre Finanzplätze waren weder unbedeutende regionale Zentren wie Luxemburg gewesen noch hatten sie je zur obersten europäischen Liga gehört. Berlins Aufstieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlief zwar beeindruckend schnell, aber der Abstand zu London und Paris blieb bis zum Ersten Weltkrieg beträchtlich.84 Ein Maß, um die internationale Verflechtung eines Finanzplatzes zu erfassen, sind die Kapitalanlagen im Ausland. 1914 führte Großbritannien die Liste an mit 19,5 Milliarden Dollar (43 Prozent aller Kapitalanlagen) vor Paris mit 9,05 Milliarden (20 Prozent) und Berlin mit 5,8 Milliarden (13 Prozent). Entsprechend verteilten sich auch die Einkünfte aus diesen Auslandsinvestitionen: In Großbritannien machten sie zehn Prozent des Volkseinkommens aus, in Frankreich etwa fünf Prozent und in Deutschland zwei Prozent.85 Der Aufstieg Berlins wurde jäh unterbrochen durch die beiden Weltkriege, die internationale Bedeutung der deutschen Finanzplätze ging fast vollständig verloren. Die von den Besatzungsmächten aufgeteilten Großbanken Deutsche Bank, Dresdner Bank und Commerzbank durften sich erst wieder 1957 zusammenschließen.86 Als die Euromärkte Ende der 1950er Jahre entstanden, bestand deshalb keineswegs der dringende Wunsch, eine alte internationale Position zu verteidigen oder auszubauen,
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wie dies in London der Fall war. Frankfurt begann sich eben erst als führender deutscher Finanzplatz zu etablieren, und die internationale Tradition existierte nur noch als schwache Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. Entsprechend hatten die deutschen Behörden und Bankiers andere Prioritäten als die Internationalisierung des Finanzplatzes zu fördern. Sie wollten im Gegenteil auf der Basis eines geschützten einheimischen Finanzmarktes, einer starken Exportindustrie und einer stabilen Währung ins Ausland expandieren, und das taten sie mit großem Erfolg. Die höchste Priorität hatte die Geldwertstabilität, wie Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer rückblickend erklärte. Die Bundesbank, so schrieb er, habe immer darauf geachtet, »dass Finanzmarktreformen nicht das Fundament der Geldpolitik erschüttern«87. Auch in dieser Hinsicht erwies sich die deutsche Strategie als äußerst erfolgreich: Die Deutsche Mark wurde Ende der 1960er Jahre die zweitwichtigste Reservewährung der Welt.88 So wie Sir George Bolton eine typische Figur für die Geschichte Londons in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren war, verkörperte Hermann Josef Abs wie kein anderer den deutschen Ansatz.89 Nach einer steilen Karriere bei der Privatbank Delbrück Schickler & Co. wurde Abs 1937 im Alter von 35 Jahren in den Vorstand und an die Spitze des Auslandressorts der Deutschen Bank berufen. Da er diese einflussreiche Funktion bis 1945 wahrnahm, erachteten ihn die Besatzungsbehörden zunächst als persona non grata. Da ihm aber gleichzeitig keine direkte Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen nachgewiesen werden konnte und er als Finanzexperte weiterhin hohes internationales Ansehen genoss, erhielt er 1948 eine zweite Chance, als er zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Frankfurt am Main gewählt wurde – ein Amt, das er bis 1974 ausübte. 1952 kehrte Abs wieder in die Deutsche Bank zurück, als er sich in den Vorstand der Süddeutschen Bank AG mit Sitz in München, einer der drei Nachfolgebanken der ehemaligen Deutschen Bank, wählen ließ. 1957 übernahm er schließlich den Vorstandsvorsitz der wieder vereinigten Deutschen Bank, den er bis 1967 innehatte. In dieser Funktion und auf der Basis seiner glänzenden internationalen Kontakte wurde er zum wichtigsten deutschen Bankier der Nachkriegszeit und zu einer Art Sprecher der »Deutschland AG«.90 Abs hatte klare wirtschaftspolitische Vorstellungen. Sein Ziel war die schnelle Wiederherstellung einer freien Weltwirtschaft und eines freien Kapitalmarkts, weil sich die deutsche Wirtschaft seiner Meinung nach in einem solchen Rahmen am besten entfalten konnte. Aber er war kein Anhänger einer grenzenlosen Globalisierung, dachte stets innerhalb des nationalen Rahmens und stand den Euromärkten von Beginn weg skeptisch gegenüber.91 Der Abs-Biograph Lothar Gall summiert diese Haltung folgendermaßen: »Mit einem Wort: Die Deutsche Bank präsentierte sich unter der Leitung von Abs trotz ihrer weitläufigen, von ihm zielbewusst vorangetriebenen internationalen Aktivitäten und Engagements sehr deutlich als nationale
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Bank im eigentlichen Wortsinn. Sie stellte sich dabei sehr bewusst in die Tradition ihrer Gründer: Die deutsche Wirtschaft zwar einzufügen in die internationale Finanzwelt, in den internationalen Zahlungsverkehr, hier zunächst den deutschen Kredit in vollem Umfang auszubauen, aber gleichzeitig doch nicht abhängig zu werden von ausländischen Zentren des internationalen Finanzmarkts, also von London und New York, vom Pfund und vom Dollar.«92 Abs opponierte auch gegen jede Aufwertung der Deutsche Mark, weil er der Überzeugung war, dass ein solcher Schritt das internationale Währungssystem destabilisieren würde.93 Auch die Schweizer Finanzplätze Basel, Genf und Zürich waren im 19. Jahrhundert keine Zentren von großer internationaler Bedeutung gewesen. Zürich erlebte zwar ähnlich wie Berlin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen steilen Aufstieg, und die Verwaltung von grenzüberschreitenden Vermögen wurde in der Zwischenkriegszeit zu einem äußerst lukrativen Geschäft. Aber diese Art von Internationalisierung vertrug sich sehr gut mit einer protektionistischen Haltung. Der bereits zitierte Paul Einzig beschrieb dies treffend zu Beginn der 1930er Jahre: »Curiously, it is a matter of common belief that the Swiss financial market is more international than any other. […] In spite of appearances, however, the Swiss financial market is essentially national in character.«94 Einzig zählt mehrere Belege auf, um diese Behauptung zu stützen. Die Schweiz habe zum Beispiel große Hürden gegen die Ansiedlung von ausländischen Banken errichtet. Auch sei der Kapitalexport ein umstrittenes Geschäft, was Schweizer Banken oft davon abhalte, eine internationale Obligation zu emittieren. Und schließlich sei der Gebrauch der schweizerischen Handelswechsel stark eingeschränkt, wenn es um die Finanzierung von Transaktionen zwischen zwei fremden Ländern gehe. Im Gegensatz zu London fehlte also in der Schweiz die Erfahrung, dass ein Finanzplatz nur dann internationale Bedeutung erlangen konnte, wenn er die Internationalisierung auf eigenem Boden zuließ und auf protektionistische Maßnahmen verzichtete. Die Schweiz unterschied sich aber auch markant von Luxemburg. Schon allein die unterschiedliche Größe macht den Vergleich schwierig. Aber noch wichtiger war, dass sich der protektionistische Weg als äußerst erfolgreich erwies und dass die Schweizer Wirtschaft über genügend einheimisches Kapital verfügte, um die Industrialisierung zu finanzieren. Es war nicht nötig, ausländische Investitionen durch steuerliche oder andere Anreize anzulocken. Die Vermögensverwaltung florierte vor allem deswegen, weil die Schweiz von beiden Weltkriegen verschont wurde, innenpolitisch stabil war, zu den reichsten Nationen Europas gehörte, tiefe Inflationsraten aufwies, eine starke Währung hatte, ein strenges Bankgeheimnis besaß, zentral gelegen war und attraktiven Tourismus bot.95 Diese protektionistische Haltung hielt bis in die 1980er Jahre an. Die Schweizer Behörden unterstützten zwar die Vermögensverwaltung und waren erfreut über die damit verbundene große Platzierungskraft der Schweizer Banken am einheimischen
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Kapitalmarkt, was sich auch in einer hohen Zahl von internationalen Emissionen in Schweizer Franken ausdrückte.96 Aber sie waren nicht interessiert an anderen internationalen Geschäften und suchten nicht die Konkurrenz auf dem internationalen Parkett. Die schweizerischen Finanzplätze galten deshalb bis vor 20 Jahren als langweilig und innovationsfeindlich.97 Die Behörden befürchteten, der Finanzplatz werde zu groß. Die Schweizerische Nationalbank schrieb 1982 in ihrem Buch zum 75jährigen Jubiläum: »Doch droht die Schweiz als internationaler Finanzplatz in Größenordnungen hineinzuwachsen, die mit dem wirtschaftlichen Potential des Landes kaum mehr in Einklang stehen.«98 Hans Bär, langjähriger Verwaltungsratspräsident der Zürcher Bank Julius Bär & Co. schrieb deshalb unlängst: »Dass der Euromarkt nicht an den Schweizer Banken, sondern an der Schweiz komplett vorbeiging, ist nur eine der vielen verpassten Chancen. Anders als in London oder Luxemburg hatte der Finanzplatz Schweiz nie weitsichtige Förderer in Politik und Verwaltung, von der Einführung des verschärften Bankgeheimnisses am 1. März 1935 einmal abgesehen.« Bär ist überzeugt, dass die Schweiz zu Beginn der 1970er Jahre ausgezeichnete Chancen als Euromarkt gehabt habe, da die Dollardepositen bei Schweizer Banken außerordentlich hoch gewesen seien.99 Mit anderen Worten: Die deutschen und schweizerischen Behörden und Politiker sahen keine Notwendigkeit, die Euromärkte zuzulassen und zu fördern, weil sie traditionellerweise in nationalen Kategorien dachten und damit große Erfolge erzielten. Sie befürworteten die Internationalisierung der Finanzmärkte und profitierten davon, aber wollten diesen Trend auf dem Heimmarkt nur beschränkt zulassen. Das oberste Ziel war die Sicherung der Geldwertstabilität, und die eigene stabil gehaltene Währung sollte das Rückgrat des Finanzplatzes sein. Das Zulassen von offshore-Geschäften wie den Euromärkten widersprach dieser Konzeption diametral.
Anmerkungen 1 Der Autor dankt allen Teilnehmern des Symposiums für ihre kritischen Kommentare, insbesondere Jaap Barendregt, Norbert Franz und Richard T. Meier. 2 Es handelt sich dabei um den belgischen Wirtschaftshistoriker Armand Van Dormael (1997). Er wird zitiert in: Burn, Gary, »The State, the City and the Euromarkets«, Review of International Political Economy, Jg. 6 (1999), H. 2, S. 227. 3 Enzyklopädisches Lexikon des Geld-, Bank- und Börsenwesens, 4., völlig neu bearbeitete Auflage, Frankfurt am Main, Bd. 1, S. 528. 4 Der Begriff stammt von Fry, R., »The Rebirth of the City«, in: Michie, Ranald C. (Hg.), The Development of London as a Financial Centre, Bd. 4, London 2000, S. 236 – 245. 5 Ein typisches Beispiel aus der jüngsten Zeit ist Schenk, Catherine R., »International Financial Centres, 1958 – 1971: Competitiveness and Complementarity«, in: Battilossi, Stefano/Cassis,
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Youssef (Hg.), European Banks and the American Challenge. Competition and Cooperation in International Banking under Bretton Woods, Oxford 2002, S. 36 – 52. Allgemein zur Geschichte der Euromärkte: Einzig, Paul, The Euro-Dollar System. Practice and Theory of International Interest Rates, 4. Auflage, London 1970; Bell, Geoffrey, The Euro-dollar Market and the International Financial System, London 1973; Johnston, R. B., The Economics of the Euro-market. History, Theory and Policy, London 1983; Kerr, Ian M., A History of the Eurobond Market. The First 21 Years, London 1984; Storck, Ekkehard, Euromarkt. Finanz-Drehscheibe der Welt, Stuttgart 1995; Schenk, Catherine R., »The Origins of the Eurodollar Market in London: 1955 – 1963«, Explorations in Economic History Jg. 35 (1998), S. 221– 238. Burn, State [wie Anm. 2]. Bank of England, »U.K. banks’ external liabilities and claims in foreign currencies«, Quarterly Bulletin, Bd. 4 (1964), H. 6, S. 101. Burn, State [wie Anm. 2], S. 229. Auch als sich der Euromarkt auf Nordamerika und Asien ausdehnte, behielt man das Präfix Euro bei. Heute deckt der europäische Markt gemäß der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) noch immer mehr als 50 Prozent des weltweiten Euromarkts ab. Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Vierunddreißigster Jahresbericht (1. April 1963– 31. März 1964), Basel 1964, S. 147. Schenk, Origins [wie Anm. 6], S. 224 – 226. Die Regulation Q wurde 1933 eingeführt. Von 1957 bis 1963 waren Bankeinlagen mit einer Laufzeit von 30 Tagen mit einer Zinsdecke von einem Prozent, und Bankeinlagen mit einer Laufzeit von 90 bis 179 Tagen mit einer Zinsdecke von 2,5 Prozent versehen. 1955 lag der tatsächliche Satz für kurzfristige Gelder gar nur bei 7⁄8 Prozent. Die Midland Bank bot einen Zins von 17⁄8 Prozent an und verlor durch den Devisenumtausch 21⁄8 Prozent, was zusammen 4 Prozent betrug. Die Zinssatz der Bank of England betrug damals 4,5 Prozent. Burn, State [wie Anm. 2], S. 229– 231. Büschgen, Hans E., Internationales Finanzmanagement, 2., überarbeitete Auflage, Frankfurt am Main 1993, S. 134. Storck, Euromarkt [wie Anm. 6], S. 8. Lexikon des Geld-, Bank- und Börsenwesens [wie Anm. 3], S. 531– 532. Sylla, Richard, »United States Banks and Europe. Strategy and Attitudes«, in: Battilossi, Stefano/Cassis, Youssef (Hg.), European Banks and the American Challenge. Competition and Cooperation in International Banking under Bretton Woods, Oxford 2002, S. 65. Die Reduktion wurde deshalb vorgenommen, weil die ausländischen Schuldner unter der alten Frist von drei Jahren ihr Geld nicht mehr am Kapitalmarkt, sondern bei den amerikanischen Banken als Kredit beschafften. Sylla, United States Banks [wie Anm. 17], S. 63. Sylla, United States Banks [wie Anm. 17], S. 65. Sylla, United States Banks [wie Anm. 17], S. 66 – 67. Für eine ausführlichere Darstellung der Krisen während der 1970er Jahre siehe Storck, Euromarkt [wie Anm. 6]. Büschgen, Internationales Finanzmanagement [wie Anm. 14], S. 135. Strange, Susan, Sterling and British Policy. A Political Study of an International Currency in Decline, London/New York/Toronto 1971, S. 11: «In the 1960s, it [Switzerland] was generally considered by bankers as second only to London, and some were inclined to believe that by the end
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of the century, if the flow of foreign funds to Switzerland went on, it would be the major financial centre of Europe.» Kerr, Eurobond Market [wie Anm. 6], S. 11– 15. Storck, Euromarkt [wie Anm. 6], S. 43. Ramm, Ulrich, »German Banks and the American Challenge«, in: Battilossi, Stefano/Cassis, Youssef (Hg.), European Banks and the American Challenge. Competition and Cooperation in International Banking under Bretton Woods, Oxford 2002, S. 187. Einzig, Euro-Dollar System [wie Anm. 6], S. 61. Holtfrerich, Carl-Ludwig, »Geldpolitik bei festen Wechselkursen«, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 399. Storck, Euromarkt [wie Anm. 6], S. 116. Siehe auch OECD (Hg.), Regulations Affecting International Banking Operations of Banks and Non-Banks, Bd. 1, Paris 1981, S. 47. Schweizerische Nationalbank (Hg.), 75 Jahre Schweizerische Nationalbank. Die Zeit von 1957 bis 1982, Zürich 1982, S. 34. OECD, Regulations [wie Anm. 29], S. 96; Nationalbank, 75 Jahre [wie Anm. 30], S. 138 – 143. OECD, Regulations [wie Anm. 29], S. 93, 96; Braillard, Philippe, Der Finanzplatz Schweiz. Regierungspolitik und internationale Konkurrenzfähigkeit, Genf 1987, S. 108, 115, 146 – 147. Interkantonale Kommission für Steueraufklärung (Hg.), Daten aus der Geschichte der Bundessteuern, Bern 2000, S. 7. Siehe die Liste der Doppelbesteuerungsabkommen bei Braillard, Finanzplatz Schweiz [wie Anm. 32], S. 147. Christensen, Benedicte Vibe, »Switzerland’s Role as an International Financial Center«, International Monetary Fund Occasional Paper 45 (1986), S. 14. Braillard, Finanzplatz Schweiz [wie Anm. 32], S. 125. Stockar, Conrad, »Geschichte der eidgenössischen Stempelabgaben», Archiv für Schweizerisches Abgaberecht, Jg. 56 (1988), H. 10, S. 540 – 543. Braillard, Finanzplatz Schweiz [wie Anm. 32], S. 159. Frenkel, Jacob A./Goldstein, Morris, »Die internationale Rolle der Deutschen Mark«, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 723– 771. Bank of England (Hg.), »The U.K. exchange control: a short history«, Quarterly Bulletin, Bd. 7 (1967), H. 3, S. 245 – 260. Zitiert in Bakker, Age F. P., The Liberalization of Capital Movements in Europe. The Monetary Committee and Financial Integration 1958– 1994, Dordrecht/Boston/London 1996, S. 138. Eichengreen, Barry, Globalizing Capital. A History of the International Moentary System, Princeton 1996, S. 102– 104; James, Harold, International Monetary Cooperation Since Bretton Woods, Washington D.C./New York/Oxford 1996, S. 90 – 91. Bakker, Liberalization [wie Anm. 41], S. 138. Die Labour Regierung verstaatlichte unter anderem die Kohle-, Gas- und Elektrizitätsindustrien, die Transportinfrastruktur, die Eisen- und Stahlindustrie. 1951 war etwa 20 Prozent der Volkswirtschaft vom Staat kontrolliert. Collins, Michael/Baker, Mae, »Bank of England Autonomy. A Retrospective«, in: Holtfrerich, Carl-L./Reis, Jaime/Toniolo, Gianni (Hg.), The Emergence of Modern Central Banking from 1918 to the Present, Aldershot 1999, S. 13– 33.
FINANZPLATZ
UND
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46 Hatton, Timothy J./Chrystal, K. Alec, »The budget and fiscal policy«, in: Crafts, N.F.R./ Woodward, N.W.C. (Hg.): The British Economy since 1945, Oxford 1991, S. 52– 88. 47 Thewes, Guy, Les gouvernements du Grand-Duché de Luxembourg depuis 1848, Luxembourg 2003, S. 152, 157, 160 – 161, 168, 172, 180, 182, 187, 192. 48 Calmes, Christian, Gründung und Werden eines Landes. 1815 bis heute, Luxemburg 1989, S. 550 – 554. 49 Thewes, Gouvernements [wie Anm. 47], S. 138. 50 Calmes, Gründung und Werden [wie Anm. 48], S. 518– 519. 51 Calmes, Gründung und Werden [wie Anm. 48], S. 552– 553. 52 Bakker, Liberalization [wie Anm. 41], S. 33– 36. 53 Moravcsic, Andrew, The Choice for Europe. Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht, Ithaca 1998, S. 86 – 103. 54 Neumann, Manfred J., »Geldwertstabilität. Bedrohung und Bewährung«, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 330 – 332. 55 Allen, Christopher S., »The Underdevelopment of Keynesianism in the Federal Republic of Germany«, in: Peter Hall, The Political Power of Economic Ideas. Keynesianism across Nations, Princeton 1989, S. 263– 289. 56 Armingeon, Klaus, »Wirtschafts- und Sozialpolitik der Schweiz«, in: Klöti, Ulrich u.a. (Hg.), Handbuch der Schweizer Politik, Zürich 1999, S. 736 – 739. 57 Röpke, Wilhelm, »Standortbestimmung der Marktwirtschaft», in: Röpke, Wilhelm/Wesemann, Hans Otto (Hg.), Fronten der Freiheit. Wirtschaft – Internationale Ordnung – Politik, Stuttgart 1965, S. 210. 58 Für eine Überblicksdarstellung siehe Michie, Ranald C., The City of London. Continuity and Change, 1850 – 1990, Basingstoke/London 1992, sowie seinen Beitrag in diesem Band. 59 Zitiert in Einzig, Euro-Dollar System [wie Anm. 6], S. 8. 60 Für eine Übersicht über den neusten Stand der Debatte siehe Broadberry, Stephen N., The Productivity Race. British Manufacturing in International Perspective, 1850 – 1990, Cambridge 1997. 61 Emminger, Otmar, D-Mark, Dollar, Währungskrisen. Erinnerungen eines ehemaligen Bundesbankpräsidenten, Stuttgart 1986, S. 89. Emminger wurde 1970 Vizepräsident und war von 1977 bis 1979 Präsident der Deutschen Bundesbank. 62 Schenk, Origins [wie Anm. 6], S. 234. 63 Zitiert in: Burn, State [wie Anm. 2], S. 242 64 Fry, Rebirth [wie Anm. 4], S. 240. 65 Collins/Baker, Bank of England Autonomy [wie Anm. 45], S. 16. 66 Burn, State [wie Anm. 2], S. 233– 234. 67 Dieses Vorhaben ging als Robot-Plan in die Geschichte ein, benannt nach den drei Urhebern Leslie Rowan, George Bolton und Otto Clarke. 68 Burn, State [wie Anm. 2], S. 234 – 235. 69 Die Rede wurde im Oktober 1962 gehalten, das heißt etwa neun Monate vor der ersten Eurobondemission im Juli 1963. Zitiert in Burn, State [wie Anm. 2], S. 236. 70 Bauler, André, Les fruits de la souveraineté nationale. Essai sur le développement de l’économie luxembourgeoise de 1815 à 1999: une vue institutionelle, Luxemburg 2001, S. 125 – 129. 71 Bauler, Fruits [wie Anm. 70], S. 131.
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72 Houtman-De Smedt, H./van der Wee, H., »Beneluxländer«, in: Pohl, Hans (Hg.), Europäische Bankengeschichte, Frankfurt am Main 1993, S. 424 – 425. Vier ausländische Banken gründeten ein Tochterinstitut in Luxemburg: Société Générale (Belgien), Crédit Industriel d’Alsace et de Lorraine (Frankreich), Crédit Lyonnais (Frankreich) und Crédit Anversois (Belgien). Neu gegründet mit ausländischer Beteiligung wurden die Banque Levy & Co. und die Banque Commerciale. 73 Van Orsouw, Michael, Das vermeintliche Paradies. Eine historische Analyse der Anziehungskraft der Zuger Steuergesetze, Zürich 1995. Für Liechtenstein: siehe den Beitrag von Merki in diesem Buch. 74 Trausch, Gilbert, »Comment faire d’un état de convention une nation?«, in: Trausch, Gilbert (Hg.), Histoire du Luxembourg. Le destin européen d’un »petit pays«, Toulouse 2003, S. 263. 75 Calmes, Gründung und Werden [wie Anm. 48], S. 546; Trausch, Comment faire [wie Anm. 74], S. 263. 76 Bauler, Fruits [wie Anm. 70], S. 191. 77 Bauler, Fruits [wie Anm. 70], S. 258– 262. 78 Bauler, Fruits [wie Anm. 70], S. 266 – 275. 79 Trausch, Comment faire [wie Anm. 74], S. 266. 80 Calmes, Gründung und Werden [wie Anm. 48], S. 543. 81 Trausch, Comment faire [wie Anm. 74], S. 264 – 265. 82 Calmes, Gründung und Werden [wie Anm. 48], S. 540. 83 Calmes, Gründung und Werden [wie Anm. 48], S. 543– 544. 84 Buchheim, Christoph, »Deutsche Finanzmetropole von internationalem Rang (1870 – 1914)«, in: Pohl, Hans (Hg.), Geschichte des Finanzplatzes Berlin, Frankfurt am Main 2002, S. 103– 156. 85 William Woodruff, »Die Enstehung einer Internationalen Wirtschaft«, in: Cipolla, Carlo M./Borchardt, Knut, Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 4, Stuttgart/New York 1985, S. 467– 469. 86 Holtfrerich, Carl-Ludwig, Finanzplatz Frankfurt. Von der mittelalterlichen Messestadt zum europäischen Bankenzentrum, München 1999, S. 251. 87 Zitiert in Frenkel/Goldstein, Internationale Rolle [wie Anm. 39], S. 746. 88 Siehe Tabelle in Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (Hg.), Einundvierzigster Jahresbericht (1. April 1970 – 31. März 1971), Basel 1971, S. 180. 89 Die folgenden Ausführungen beruhen auf Gall, Lothar, Der Bankier: Hermann Josef Abs. Eine Biographie, München 2004. 90 Gall, Abs [wie Anm. 89], S. 233. 91 Gall, Abs [wie Anm. 89], S. 12, 237, 249. 92 Gall, Abs [wie Anm. 89], S. 323. 93 Gall, Abs [wie Anm. 89], S. 319– 322. 94 Einzig, Paul, The Fight for Financial Supremacy, 3. Auflage, London 1932, S. 174. 95 Christensen, Switzerland [wie Anm. 35], S. 4 – 5. 96 Christensen, Switzerland [wie Anm. 35], S. 13– 17. 97 Braillard, Finanzplatz Schweiz [wie Anm. 32], S. 33. 98 Nationalbank, 75 Jahre [wie Anm. 30], S. 75. 99 Bär, Hans, Seid umschlungen, Millionen. Ein Leben zwischen Pearl Harbor und Ground Zero, Zürich 2004, S. 202– 203.
Vom Boten zum Bit: Zur Geschichte der Technologien an den Wertpapierbörsen1 Richard T. Meier
Die Börse als Treffpunkt, auch für Technologien Der Zweck einer Börse besteht darin, Angebot und Nachfrage so zusammenzuführen, dass aus der Interaktion von potenziellen Käufern und Verkäufern einerseits Transaktionen, andererseits Kurse (Preise) entstehen. Für Anleger und Händler geht es darum, spezifische Transaktionen auszuführen. Aus volkswirtschaftlicher Sicht stehen Preisbildung und gesamtwirtschaftliche Steuerungseffekte im Vordergrund. Wenn Marktteilnehmer Angebote abgeben, wenn sie zu Abschlüssen kommen und damit auch Kurse festlegen, sind das letztlich immer Kommunikationsvorgänge. Um zu ihren Entscheidungen zu kommen, benötigen die Anleger möglichst aktuelle Informationen, unter anderem auch über die Börsenentwicklung. Zudem wirken die Steuerungseffekte der Preise um so besser, je schneller und reibungsloser sie allen Interessenten zugeleitet werden. Abstrakt betrachtet, ist die Börse also das Zentrum eines außerordentlich komplexen Kommunikationssystems, das eine vielfältige und zahlreiche Teilnehmerschaft zu integrieren hat. Sie ist gleichzeitig Ausgangspunkt und Ziel von Informationen. Die Kommunikationstechnologie war und ist deshalb für die Börse von zentraler Bedeutung. Die Wurzeln der Börse gehen auf zünftische Vereinigungen von Kaufleuten zurück. Die ersten Börsen entstanden in der Frühen Neuzeit (siehe Tabelle 1). In historischer Perspektive stellt sich die Börsenentwicklung als ein Kaleidoskop verschiedener Teilaspekte dar. Häufig ist das Hauptinteresse auf die Institution selbst gerichtet, also auf die Organisation, welche die Börse betreibt. Wichtig sind sodann die Börsenlokalität mit ihren Einrichtungen, die Marktinfrastruktur, die Börsengesetzgebung und Reglementierung, die internen und externen Aufsichtsorgane, aber auch die Abwicklungsstellen für Clearing, Lieferung und Bezahlung. Zudem legten die Börsen früher einheitliche Courtagen fest, also Gebühren, welche die Kunden ihrer Bank oder ihrem Broker für die Abwicklung von Börsengeschäften bezahlten. Insofern hatten Börsen auch die Funktion eines Kartells. Börsen waren schließlich auch immer wieder Projektionsflächen für den gesellschaftspolitischen Diskurs.
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RICHARD T. MEIER
Tab. 1: Gründungsjahre von Wertpapierbörsen 1602
Amsterdam
1724
Paris
1771
Wien
1772
Berlin
1792
New York
1799
Dublin
1801
London und Brüssel
1808
Mailand
1831
Madrid
1845
Rio de Janeiro
1855
Genf
1861
Toronto
1863
Stockholm
1865
Melbourne
1873
Zürich
1874
Montreal
1878
Tokio
1903
Kairo
Anmerkung: Die Gründungsdaten basieren teils auf juristischen Tatbeständen (erster Erlass zum Börsengeschäft), teils auf realen Entwicklungen
Die folgende börsengeschichtliche Studie lenkt ihr Augenmerk auf die bedeutende Rolle der Technologie für diese Institution. Einerseits haben technische Erfindungen die Entwicklung der Börsen nachhaltig geprägt. Andererseits gehörten die Börsen selbst zu den wichtigsten Förderern neuer technologischer Entwicklungen. Börsen und Broker hatten nicht nur spezifische Bedürfnisse, sondern auch die notwendigen Mittel, um neue Technikentwicklungen anzustoßen und zu finanzieren.
Vor 1850: Botendienste und semaforische Telegrafie Die Strukturen des Botenwesens stammen aus dem Mittelalter. Im Jahre 1490 wurde Franz von Taxis vom deutschen Kaiser beauftragt, einen regelmäßigen Postkurs einzurichten.2 Man weiß aber auch von »Courieren« des Klerus, der jeweiligen
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DER
TECHNOLOGIEN
AN DEN
WERTPAPIERBÖRSEN
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Landesfürsten oder der Stände. Aus dem späteren 16. Jahrhundert sind Botendienste bekannt, die nach festen »Fahrplänen« durchgeführt wurden und beispielsweise Lyon mit St. Gallen, Augsburg und Nürnberg verbanden. In St. Gallen, der Stadt mit der ersten »Sensalenordnung«3 (1639) auf dem Gebiet der heutigen Schweiz, ist ein Reglement über die Rechte und Pflichten der Boten aus dem Jahre 1621 überliefert.4 Die Übermittlungsgeschwindigkeit war an die Reisegeschwindigkeit der Boten gebunden: Die Verbindung zwischen London und Amsterdam beanspruchte mit Kutsche und Segelschiff drei Tage, also sechs Tage hin und zurück. London–New York dauerte gut zwei Wochen, Europa–Südamerika sechs Wochen. Auch Informationen von oder über Emittenten von Wertpapieren kamen mit entsprechenden Verzögerungen auf den Markt. Um 1830 wurden zwar die ersten Eisenbahnlinien in Betrieb genommen. Doch verkürzten sie die Reisezeit vorerst insgesamt nur unwesentlich. Die Abhängigkeit von Boten bedeutete für die Börsen, dass aktuelle Informationen nur in der engsten geographischen Umgebung während des Handelstages ausgetauscht werden konnten. Sowohl der ein- wie der ausgehende Informationsfluss war also sehr beschränkt. Zudem war nicht nur die Übermittlungsgeschwindigkeit, sondern auch die Zuverlässigkeit noch sehr problematisch. Seit der Antike sind botenlose Kommunikationsmittel bekannt: Feuer-, Rauch-, Flaggen- und Trommelsignale. Die Entwicklung praktisch nutzbarer Fernrohre erlaubte einen weiteren Schritt zur Tele-Kommunikation. Um 1791/93 erfanden die Gebrüder Claude und Abraham Chappe den optischen »Telegrafen«, wörtlich: den »Fernschreiber«. Die Signale des »Telegrafen« ergaben sich aus der unterschiedlichen Positionierung beweglicher Balken. Bereits 1794 wurde gemäß Beschluss des französischen Nationalkonvents eine derartige Telegrafenverbindung zwischen Paris und Lille eingerichtet. In Übersee adaptierte eine Gruppe von Brokern das System und verband die neu gegründete New York Stock Exchange (NYSE) mit der älteren Philadelphia Stock Exchange. Die Anlage, die sich über die Hügelzüge von New Jersey hinwegzog, diente der Übermittlung von Kursen und Lotteriezahlen mittels Lichtsignalen.5 Für die etwa 160 km lange Strecke dauerte dies im besten Fall etwa dreißig Minuten. Bemerkenswert ist, dass die ersten Telegrafenverbindungen (1832) zwischen Berlin und verschiedenen deutschen Städten zumindest anfänglich ausschließlich für militärische und öffentliche Zwecke zur Verfügung standen. Die Übermittlung von Börsenkursen war ausdrücklich verboten. Paul J. Reuter richtete um 1850 zwischen Brüssel und Aachen (Anschluss an die Telegrafenverbindung nach Berlin) einen Brieftaubendienst für Nachrichten und Börsenkurse ein. Die Brieftauben schafften die Übermittlung in zwei Stunden, während man mit der Bahn acht Stunden benötigte. Von Brieftauben wird auch aus
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den USA berichtet. 1850 reiste ein erfinderischer Bostoner den aus Europa kommenden Schiffen nach Halifax in Neuschottland entgegen. Dort ging er an Bord und studierte sofort die europäischen Zeitungen. Er fertigte eine Zusammenfassung an und schickte seine Brieftauben damit auf den Weg nach Boston. Von Boston wurden die Nachrichten über Telegrafenverbindungen weiterverbreitet. Dieses Geschäft lief sehr gut, bis 1866 das erste transatlantische Telegrafenkabel verlegt wurde.6
Ab 1850: Die elektrische Telegrafie Die Erfindung des elektrischen Fernschreibers und des Morsealphabets darf aus Börsensicht als wichtigster Entwicklungsschritt der Kommunikationsgeschichte gelten. Am 24. Mai 1844 wurde das erste Telegramm mit dem Text »What hath God wrought«7 (Was hat Gott geschaffen) von Washington (D.C.) nach Baltimore (Md.) übermittelt. Im Jahr 1846 wurde zwischen New York und Philadelphia eine Morsetelegrafenlinie installiert. Etwa gleichzeitig entstanden erste Telegrafenlinien in England, gegen 1850 dann auch auf dem europäischen Kontinent. In der Schweiz wurde das erste Telegrafennetz 1852 in Betrieb genommen.8 Bereits 1868 erhielt die damalige Zürcher Börse, die erst in rudimentären Ansätzen bestand, ein eigenes Telegrafenbüro. Im Jahr 1872 war die Telegrafenverbindung von London nach Melbourne in Betrieb, und spätestens um 1880 waren die wichtigsten europäischen Börsenplätze (Amsterdam, Berlin, Brüssel, Frankfurt, London, Paris) telegrafisch miteinander verbunden.9 Der Telegraf erfreute sich eines raschen Aufschwungs. Die Nachfrage war riesig und sie wuchs mit der Entwicklung der Leistungsfähigkeit und dem drastischen Rückgang der Preise für den Telegrafendienst. Bei dieser rasanten Entwicklung spielte die Nachfrage der Börse und ihrer Teilnehmer nach Kommunikationsdienstleistungen eine große Rolle. Die ungeheure Dynamik zeigt sich auch darin, dass in den USA während des 19. Jahrhunderts zwischen zwei- und dreihundert Börsen entstanden – und zumeist wegen der Verbesserung der Kommunikationstechnologie auch im gleichen Jahrhundert wieder eingingen. Aus Aufzeichnungen einzelner Telegrafengesellschaften stammen die Zahlen der Tabelle 2, die eine Vorstellung über die Bedeutung verschiedener Finanzzentren in den Jahren 1908/09 vermitteln mögen.
ZUR GESCHICHTE
DER
TECHNOLOGIEN
AN DEN
WERTPAPIERBÖRSEN
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Tab. 2: Telegramme zwischen London und anderen (Finanz-)Zentren Zielort
Durchschnittliche Anzahl pro Tag (1908/09)
USA
2.039
Deutschland
1.247
Frankreich
547
Niederlande
515
Belgien
237
Übriges Europa
322
Quelle: Michie 1997, S. 312
Die Leistungsfähigkeit der Telegrafenverbindungen war schon im 19. Jahrhundert sehr beachtlich. Um 1890 war es innerhalb der USA möglich, die Ausführungsbestätigung für einen telegrafischen Auftrag innerhalb von neunzig Sekunden zu erhalten. Zwischen den USA und Europa genügten etwa vier Minuten.10 Die Geschwindigkeit der elektrischen Telegrafie war im übrigen nur der eine große Vorteil. Ebenso wichtig war, dass damit die Kommunikationsprozesse von einzelnen Boten (und damit einzelnen Personen) unabhängig wurden. Die Prozesse ließen sich sicherer organisieren und besser strukturieren. Gerade für Geldgeschäfte mit den ihnen inhärenten Sicherheitsrisiken war dies von eminenter Bedeutung. Mit dem Aufkommen der Telegrafie ergaben sich ganz neue Dimensionen sowohl bei der schnellen Verbreitung von Börseninformationen als auch bei der raschen Übermittlung von Börsenaufträgen. Es war nie umstritten, dass die verbesserte Kommunikation und Informationsverbreitung das Geschäft beleben würden. Andererseits tat sich hier auch ein Interessengegensatz auf, der seither immer wieder zu Spannungen führte. Für die einzelnen Händler und Börsenmitglieder stand dem allgemeinen Vorteil der verbesserten Kommunikation ein unmittelbarer Nachteil gegenüber: Außenstehende erhielten einen zunehmend besseren Informationsstand, und die Informationsvorteile der Börsianer wurden entsprechend kleiner. Michie weist anhand von Londoner Beispielen auf diese Interessengegensätze hin und zeigt auch die Konsequenzen auf: Regulierungen und Einschränkungen mochten sich kurzfristig positiv auf die Börse bzw. ihre Mitglieder auswirken, langfristig wirkten sie aber meistens negativ.11 Dieser Interessengegensatz hat die Einführung technologischer Neuerungen oft verzögert, wenn auch selten verhindert. In akzentuierter Form zeigte er sich bei der Einführung des Computerhandels.
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RICHARD T. MEIER
Effiziente Verbreitung von Börseninformationen: Ticker und Kursblatt Von besonderer Bedeutung erwies sich alsbald ein Gerät, welches eigens für die Börse entwickelt worden war und dazu diente, standardisierte Informationen von einer einzigen Sendestelle an viele Empfänger gleichzeitig zu übermitteln: der Ticker. Der Name des Geräts geht auf sein charakteristisches Arbeitsgeräusch zurück. Mit Beginn der Börsensitzung begann er zu ticken – und verstummte erst wieder, wenn auf dem Börsenparkett Ruhe einkehrte. Tickergesellschaften hatten an der Börse ihre »Reporter«, welche die Kurse notierten und zum Sendegerät brachten. Später kam für diese Übertragung die Telefonie zum Einsatz. Am Sendegerät wurden Titelsymbole und Kurse, allenfalls auch die Abschlussmengen auf einer Tastatur eingegeben und verzugslos über das Telegrafennetz verbreitet. Das Empfangsgerät druckte die Information auf einen Papierstreifen aus, das Titelsymbol (Buchstaben) oben, Kurs und Menge (Zahlen) unten. Der erste Ticker wurde an der NYSE im Jahre 1867 eingerichtet. Zwei Jahre später führte die NYSE ein neues Handelssystem ein. Sowohl die Anzahl der Mitglieder als auch die der gehandelten Wertpapiere war zu groß geworden für die traditionellen Auktionen, die jeweils am Morgen und am Nachmittag abgehalten worden waren. Statt dessen wurde der laufende Handel eingeführt. Dies bedingte einen kontinuierlichen Auftragsfluss. Dafür war die laufende Kursverbreitung durch den Ticker eine wichtige Voraussetzung. In den folgenden Jahren kamen weitere Tickergesellschaften hinzu, und angesichts ihres Erfolgs kaufte 1890 die NYSE eine private Tickergesellschaft auf. Bereits fünf Jahre nach der NYSE richtete 1872 auch die Londoner Börse einen Ticker ein, 1913 folgte der Ticker an der Börse von Toronto und 1923 ermöglichte Reuters die erste Tickerübermittlung per Funk. In Zürich und Amsterdam wurden 1930 und 1931 Ticker eingeführt. In New York wurde dann noch 1960 ein letztes, perfektioniertes Tickermodell installiert. Tatsächlich mauserte sich die tickende Gerätschaft in kürzester Zeit zu einem unverzichtbaren Arbeitsinstrument der Broker. Noch heute werden auf Informationsmedien Ticker Tapes nachgebildet, um dem Händler die gewohnte, Schnelligkeit und Professionalität suggerierende Darstellung bieten zu können. Von dem beinahe kultischen Status des Tickers zeugen die legendären ticker-tapeparades in Lower Manhattan. Die Geschichte der tape-parades begann im Oktober 1886 mit der Einweihungsparty für die Freiheitsstatue. Um ihrer Freude Ausdruck zu verleihen, warfen Angestellte alte ticker-tapes aus den Bürohochhäusern entlang des Broadway und gaben mit ihrer spontanen Aktion die Idee für eine neue New Yorker Tradition. Sie fand viele Wiederholungen bei Umzügen zur Ehrung von Kriegsveteranen, Staatsoberhäuptern, Sportlern und anderen »Helden«.
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Wenn Tickeranlagen an den europäischen Börsen weniger erfolgreich waren, so lag dies vorab daran, dass die meisten dieser Börsen erst ein gutes Jahrhundert nach der NYSE zum fortlaufenden Handel übergingen. Daneben spielte aber auch eine Rolle, dass Europa eine langjährige Tradition der »offiziellen Kursblätter« hatte. Am 3. September 1869 wurde beispielsweise in Zürich zum ersten Mal das »Öffentliche Wechsel- und Effektencursblatt«12 publiziert, welches fortan am Abend nach jedem Handelstag erschien. Kursblätter erlaubten zwar keine unmittelbare Informationsübermittlung wie der Ticker; sie enthielten aber neben einer Tagesübersicht auch weitere Angaben zu dem betreffenden Titel. Kursblätter galten zudem als »offiziell«, besonders verlässlich, weil sie oft Teil der Börsenreglementierung waren und staatlicher Aufsicht unterlagen. So waren Kursblätter lange Zeit die wichtigsten Informationsmittel vieler Börsen. Auch die elektronischen Informationssysteme der 1970er und 1980er Jahre konnten ihrer Bedeutung zunächst kaum schmälern. Erst die tiefgreifenden Umwälzungen im Gefolge des elektronischen Handels brachten sie zum Verschwinden. Die verlängerten Handelszeiten, die hohe Anzahl kotierter Titel (Derivate), die riesige Menge bezahlter Kurse und die rationellere Informationsverbreitung mittels der neuen Technologien sind die wichtigsten Gründe, welche zur Einstellung der Kursblattpublikationen führten.
Das Telefon – der »sprechende Telegraf« Das Jahr 1876 gilt als Geburtsstunde der Telefonie. Bereits zwei Jahre später erhielt die New Yorker Börse NYSE ihren ersten Telefonanschluss. Der Siegeszug des Telefons ging sehr rasch um die Welt. Das erste, zunächst noch private Telefonnetz entstand in Zürich um 1880. Bereits 1883 erhielt die Zürcher Börse ihren ersten Telefonanschluss – vorerst wirklich nur ein einziger Anschluss für alle Händler der ganzen Börse. An der Amsterdamer Börse wurde das erste Telefon 1884 eingerichtet. Die Erfindung der Telefonie machte einen Nachteil der Telegrafie deutlich. Die Bedienung der Telegrafengeräte war relativ schwierig und erforderte geschultes Personal. Telegramme mussten zu einem Telegrafenbüro gebracht und von dort verschickt werden. Die Telefonie dagegen eignete sich für die individuelle, spontane Zweiweg-Kommunikation; sie wurde damit zur perfekten Ergänzung der Telegrafie. Mit dem Telefon ließen sich einzelne Kurse und Nachrichten unmittelbar übermitteln und auch verifizieren. Ganz besonders für die Verbindung zwischen Kunde und Bank oder Broker war das handlichere Telefon von unschätzbarem Wert. Die Telefonverbindungen wurden immer besser und dichter und die Zahl der Anschlüsse an den Börsen nahm rasch zu. Schon in den 1890er Jahren bestanden
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ständige Telefonverbindungen zwischen London und Paris. Ab 1895 gab es Verbindungen von Amsterdam nach Rotterdam, Antwerpen und Brüssel, ab 1898 auch nach Berlin, Bremen und Hamburg. Mit solchen Verbindungen ließ sich die Arbitrage und damit die Abstimmung der Kursbildung zwischen den Börsen wesentlich verbessern. Man weiß, dass die NYSE um 1903 etwa 500 Telefonanschlüsse hatte. Die Ausweitung der Telefonie auf die ganze Welt nahm allerdings sehr viel mehr Zeit in Anspruch als bei der Telegrafie. Das erste Telefonkabel zwischen Europa und den USA beispielsweise wurde erst 1956 verlegt. An dieser Stelle ist auf eine interessante Parallele zwischen den Börsen und der Kommunikationstechnologie hinzuweisen: Beide weckten in vielen Ländern ein besonderes Interesse der Öffentlichkeit und der Regierungen. In Zürich wurde die Börse 1884 nach heftiger Gegenwehr, unter anderem mit einem Streik der Börsenmitglieder, einer besonderen kantonalen Aufsicht unterstellt (Wertpapiergesetz, Börsenkommissar). Ein Jahr später kaufte die Eidgenossenschaft die bisher einzige private Telefongesellschaft in Zürich auf und etablierte das staatliche Telefonie- und Telegrafiemonopol. In vielen Ländern wurde für die Börse wie für die Kommunikationstechnologie der staatliche Einfluss zu einem wesentlichen Bestimmungsfaktor. Telegraf, Ticker und Telefon waren in dieser Zeit die wichtigsten kommunikationstechnischen Errungenschaften für die Börse. Trotzdem verdienen noch einige andere Einrichtungen Erwähnung. Anzeigetafeln waren immer sehr wichtig für die Börsen. Announciator boards wurden schon 1881 in der NYSE eingerichtet. Sie dienten dazu, Händler im Saal zu finden und zum Telefon zu rufen. Erst in den 1970er Jahren wurde diese Technologie von den Pagern abgelöst.13 Die New Yorker Börse NYSE weihte 1903 an der Ecke Wall Street/Broad Street ihren neuen Börsenpalast ein.14 Die neue Börse galt als architektonisches und technologisches Wunderwerk mit einer der ersten Klimaanlagen der Welt, einer internen Rohrpost und mit unerhört großen Spannweiten zwischen den Säulen.
Nicht allzu viel Neues in politisch schwierigen Zeiten Nach dem »Sturm und Drang« des 19. Jahrhunderts folgten Jahrzehnte mit einer unerfreulichen politischen Großwetterlage. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges wurden praktisch alle Börsen der Welt für Jahre geschlossen. Darauf folgten die Golden Twenties, die aber mit dem Börsencrash von 1929 abrupt zu Ende gingen, die große Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und schließlich der Zweiten Weltkrieg. Nach dessen Ende herrschte als Folge von Krise und Kriegswirtschaft ein weitestgehend kontrolliertes und damit sehr rigides wirtschaftliches Regime. Erst im Laufe
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der 1950er Jahre lösten sich die Börsen von der Lähmung dieser schwierigen Zeit. An der Zürcher Börse wurde 1958 das nominelle Handelsvolumen von 1929 erstmals wieder erreicht. In diesen Jahrzehnten wurden vor allem die bestehenden Systeme verbessert, im Wesentlichen auf der Basis der Tickertechnologie. Beispielsweise entstand 1924 eine Apparatur zur Großprojektion des Tickerstreifens. In den zwanziger Jahren setzte Western Union in Amsterdam eine Art Telex ein. Auch ein Radiodienst für die Übertragung von Börsennachrichten wurde damals in Amsterdam aufgenommen.15 Eine besondere Bestimmung hatten die Anzeigetafeln, welche 1918 an der Stockholmer Börse eingeführt wurden. Hier hatte man sich vor allem zum Ziel gesetzt, den ungeordneten »Lärm« der Händler einzudämmen. So saßen die Händler zwar alle im gleichen Raum, riefen ihre Angebote jedoch nicht mehr laut in den Saal, sondern bekundeten ihre Kauf- und Verkaufsabsichten durch entsprechenden Knopfdruck. Diese Impulse wurden auf eine Kursanzeigetafel übertragen und machten die Kursbildung für die Händler sichtbar. Diese Art der Kursfestsetzung trug der Stockholmer Börse den Ruf der »leisesten Börse der Welt« ein.16 Im Palais de Brongniart der Pariser Börse wurde vermutlich schon vor 1960 eine elektrische Kursanzeigetafel installiert. Es ist die älteste dem Autor bekannte derartige Tafel. Eine grundlegend neue Kommunikationsmöglichkeit schuf das 1962 in Zürich in Betrieb genommene Börsenfernsehen.17 Bis dahin wurden die Börsenkurse nach ihrem zeitlichen Anfall verbreitet. Solange der Handel streng sequenziell, Titel um Titel, erfolgte, war dies kein Problem. Sobald aber der Handel in verschiedenen Titeln parallel ablief, entstand das Bedürfnis nach einer besser geordneten Übermittlung. Um eine gute Übersicht zu haben, notierten sich Händler und Anlageberater die Kurse ursprünglich häufig auf dem Kursblatt vom Vortag. Das Börsenfernsehen ermöglichte nun erstmals das Verbreiten aktueller Kurse in einer fixen Ordnung. Jedes Bild enthielt eine Anzahl Aktien und zu jeder Aktie den Schlusskurs des Vortages, die aktuellen Geld- und Briefkurse und alle bezahlten Kurse des laufenden Tages. Wie früher für den Ticker wurde in der Mitte des Börsenrings ein Reporter platziert, der alle bezahlten und die jeweils neu ausgerufenen Geld- und Briefkurse telefonisch zum »Schreiber« ins »Fernsehstudio« übermittelte. Dort wurden die Kurse auf ein Fernsehkursblatt geschrieben. Kameras nahmen je einen einzelnen Kursblatt-Abschnitt auf, während der Schreiber laufend neue Kurse eintrug. Diese Fernsehbilder wurden einerseits an die Börsenringe und anderseits über Koaxialkabel an Abonnenten in der Stadt Zürich verteilt. Mittels einer einfachen Tastatur konnten die Empfänger jedes der zehn Bilder nach Bedarf abrufen. Die Börsenfernsehanlage wurde später weiterentwickelt und mit einer zusätzlichen Kamera mit vorgeschaltetem, drehbarem Prismaspiegel versehen. Die Drehung dieses Spiegels ermöglichte eine permanente und vollständige »Abtastung«
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aller Abschnitte des Kursblattes. Daraus ergab sich ein »laufendes Bild«, wobei für den Betrachter der Eindruck entstand, dass die Abschnitte des Kursblattes gleich dem Abspann eines Films von unten nach oben über das Bild flössen. Ein Sender auf dem Börsengebäude strahlte dieses Bild aus. Und bald flimmerten in den Bankschaufenstern Fernsehapparate, welche die aktuellen Kurse übertrugen – auch dies eine Weltneuheit. Als das Börsenfernsehen 1962 in Betrieb genommen wurde, publizierte die Zürcher Börse eine Drucksache mit der stolzen Überschrift: »Zürich erhält die modernste Kursübermittlungsanlage der Welt«. Wegen des staatlichen Fernsehmonopols wurde aber nur eine sehr schwache Senderleistung gestattet, so dass das Börsenfernsehen bloß im engsten Umkreis der Stadt Zürich empfangen werden konnte. Im Jahr 1969 wurde deshalb nach ähnlichen Prinzipien ein »Börsentelex« eingerichtet, ein Kursinformationsdienst, der mit der Telex-Technologie Empfängern in der ganzen Schweiz laufend neue Kursblattseiten übermittelte. Im Jahr 1964 lancierte Reuters den »Stockmaster«. Er bedeutete für die Anlageprofis der Welt einen riesigen Fortschritt, erlaubte er doch, die Kurse der amerikanischen Börsen praktisch verzugslos abzufragen. Basis der Dienstleistung bildeten der Ticker als Datenlieferant und die Computeranlagen bei Reuters. Beim Benutzer stand eine spezielles Gerät. Es hatte vier alphabetische Tastaturen und drei runde »Bullaugen«. Auf jeder Tastaturreihe drückte man je eine Taste und gab so das Tickerzeichen einer Aktie ein, etwa IBM. Die drei Bullaugen waren je mit einem ganzen Satz verdrahteter Zahlen, 0 –9, ausgerüstet. In den ersten beiden »Bullaugen« erschienen die Zehner- und die Einerpositionen des Kurses (der IBM-Aktie), in dem letzten »Bullauge« die Anzahl Achtel. Kurse in Amerika waren damals noch nicht in Dezimalen, sondern in Achtel-Dollar abgestuft; zudem wurden Aktien immer wieder gesplittet, so dass Kurse ganz selten einen dreistelligen Wert, also 100 oder noch mehr Dollars, erreichten. 1965 schuf die NYSE eine Symbiose von Telefon, Ticker und Elektronik: den telefonischen Kursabfragedienst. Die Kursabfrage erfolgte am Telefon durch Eingabe des Tickersymbols, die Antwort kam von einem Sprachcomputer, der einen Wortschatz von 126 Wörtern hatte. Die Kursinformationen erhielt der Computer vom Ticker. Pro Tag konnte dieser Dienst bis zu 400.000 telefonische Kursanfragen bewältigen.18
Die Automatisierung des Handels seit den 1970er Jahren Im Laufe der Jahre wurde vieles als »Automatisierung des Handels« bezeichnet. Zuerst versuchte man, einzelne Teilbereiche der Wertschöpfungskette19 zu automatisieren, beispielsweise die Abwicklung. In den 1960er Jahren nahmen die Börsenum-
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sätze stark zu. Die wachsenden Volumina und das forcierte Tempo des Handels führten zu enormen Fehlerquoten. Dies überlastete das sowieso schon überforderte back office der Broker und Banken: Überstunden und Verspätungen bei diesen rückwärtigen Diensten waren an der Tagesordnung. In New York mussten als direkte oder indirekte Folge der so genannten paperwork crisis der Jahre 1968 bis 1970 etwa hundert NYSE-Mitglieder ihren Betrieb einstellen.20 Abhilfe versprach die noch junge Computertechnologie. Es begann die große Zeit der Lochkartenapplikationen in den back offices der Broker und Banken. In diesem Zusammenhang ist auch die Sammelverwahrung der Wertpapiere zu sehen. In der Schweiz wurde dazu im Jahre 1970 die SEGA, die Schweizerische Effekten Giro AG, gegründet. Die Sammelverwahrung wurde für die Börsenmitglieder obligatorisch erklärt und die physischen Titellieferungen entfielen. Auch die Zahlungssysteme wurden laufend verbessert. Allerdings entstand zum Beispiel in der Schweiz erst 1987 mit dem Swiss Interbank Clearing ein modernes, zentralisiertes Zahlungsverkehrssystem unter der Leitung der Nationalbank, der schweizerischen Zentralbank. Später wurde es auch mit ausländischen Systemen verknüpft.21 Die ständige Weiterentwicklung der Informationssysteme und der Automatisierungsschub im back office als Folge der paperwork crisis gaben den Anstoß zu vielfältigen Entwicklungen an den Börsen selbst. Zunächst kam es zur Automatisierung verschiedener Teilbereiche des Börsengeschäfts. Im Jahre 1971 nahm die US-amerikanische NASDAQ, die National Association of Securities Dealers Automatic Quotation, den Handel mit außerbörslichen Titeln auf. Dieses elektronische Informationssystem löste die früheren Kurszettel (pink sheets) ab und lieferte die Grundlage für einen sehr viel effizienteren telefonischen Handel. Der Pacific Coast Stock Exchange führte 1974 COMEX ein, ein System zur effizienten Abwicklung von Kleinstaufträgen, so genannten Fraktionen. Die New Yorker Börse lancierte 1976 DOT, ein System, mit dem Kleinaufträge elektronisch vom Broker zum Spezialisten an der Börse übermittelt und dort teilweise automatisiert abgewickelt werden konnten. Dank dieser verbesserten Auftragsübermittlung gelangten Aufträge schneller und direkter vom Kunden zur Börse, was wiederum die Fehlerquoten senken half. Mit der Verbesserung der Altersvorsorge wuchs in den frühen 1970er Jahren die Bedeutung von institutionellen Anlegern, insbesondere von Pensionskassen. Diese Anleger drängten darauf, dass der Markt besser an ihre spezifischen Bedürfnisse, insbesondere an den Handel mit großen »Wertpapierblöcken« angepasst werde. Mit den Blockhandelssystemen, die man darauf hin einführte, sollten Kosten auf zwei Ebenen eingespart werden. Einerseits waren Courtagen und Kommissionen noch weitgehend kartellistisch festgelegt. Selbst für Großaufträge waren die Kommissionen relativ hoch. Die institutionellen Anleger waren jedoch immer weniger bereit, diese hohen Kommissionen zu akzeptieren. Dazu kamen andererseits die so genannten market impact costs (Markteinflusskosten). Sie ergaben sich daraus, dass
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Großaufträge meistens den entsprechenden Kurs beeinflussen. Wer einen großen Posten kaufen oder abstoßen muss, sieht sich steigenden oder fallenden Kursen gegenüber, weil Märkte auf Kaufs- oder Verkaufssignale rasch reagieren. Dieser Effekt wird zudem dadurch verstärkt, dass andere Händler diese Signale erkennen und die Kursbewegung mitzumachen versuchen. Institutionelle Investoren waren bestrebt, solche Kosten zu vermeiden. Systeme wie Instinet in den USA oder Ariel in London wurden zu Beginn der 1970er Jahre konzipiert, und zwar mit dem Ziel, institutionelle Investoren mit ihren Handelswünschen direkt zusammenzuführen. Diese Systeme trugen dazu bei, dass im Jahre 1975 die fixen Börsenkommissionen in den USA ganz aufgehoben wurden. Mit einiger Verzögerung und oft unter dem Druck der Wettbewerbsbehörden vollzogen die meisten Länder früher oder später den gleichen Deregulierungsschritt. Als Folge dieser Deregulierung schwand dann wiederum das Interesse an den Blockhandelssystemen. Auch den Aufsichtsbehörden stachen die Möglichkeiten der Computertechnologie in die Augen. In der Mitte der 1970er Jahre war in den USA die Idee eines consolidated tape das große Thema der börsentechnischen Debatten. Das consolidated tape ist aus technischer Sicht als Zusammenführung der Tickerdatenströme der verschiedenen Börsen zu einem einzigen Datenstrom zu verstehen. Das Bedürfnis nach einer Konsolidierung der Börseninformationen ergab sich aus dem Umstand, dass die lokalen Börsen Teil eines nationalen Netzwerkes wurden. Dank des konsolidierten Datenstromes wurden die Kurse verschiedener Börsen für den Anleger vergleichbar. Damit sollte letztlich best execution, also Ausführung eines Auftrages zum besten verfügbaren Kurs, sichergestellt werden. Der konsolidierte Datenstrom enthielt Informationen über getätigte Abschlüsse und bezahlte Kurse, also über die »unmittelbare« Vergangenheit. Noch einen Schritt weiter ging das in den USA 1978 eingeführte Intermarket Trading System, durch das erstmals mehrere Börsen auf der Ebene der Auftragseingabe elektronisch miteinander verbunden wurden. Ähnlich wurde in der Schweiz 1987 zur Ablösung des Börsenfernsehens das elektronische Ringinformationssystem eingeführt. Damit wurden die Börsen von Basel, Genf und Zürich aufs Engste verbunden. Mit der Einführung elektronischer Systeme, die nicht nur über getätigte Abschlüsse, sondern auch über ausstehende Angebote (Geld- und Briefkurse) informierten, wurden die Preisdifferenzen zwischen den Börsen so klein, dass sich der Arbitragehandel kaum mehr lohnte. Es war also die Technik, die dem Arbitragehandel ein Ende bereitete. Ein weiterer Schritt in der Automatisierung waren die Small Order Execution Systems (SOES): 1984 erhielt die NASDAQ eines, 1986 die New Yorker Börse. SOES eröffnete in Kombination mit dem spezifischen Handelssystem der NASDAQ den dortigen Händlern ganz neue Möglichkeiten, Computerprogramme zum Handeln einzusetzen und auch kleinste Kursdifferenzen für Geschäfte auszunutzen. Solche Händler erhielten damals umgehend den Namen »SOES-Bandits«. Nicht zum ers-
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ten Mal wurden Händler, welche die neuen technischen Möglichkeiten ausnutzten, als »Banditen« gebrandmarkt und bekämpft. Sie selbst waren andererseits davon überzeugt, mit ihrer Tätigkeit den Markt zu verbessern. In den 1970er Jahren kam auch die eigentliche Automatisierung des Handels in Gang. Im Jahre 1977 entstand das erste elektronische Börsenhandelssystem CATS (Computer Assisted Trading System) am Toronto Stock Exchange. CATS machte zwar Furore bei den Börsenbetreibern und löste eine Art Tourismus zur Besichtigung der »neuen Börsenwelt« in Toronto aus. Doch die dortigen Händler verstanden es noch während gut zwanzig Jahren, einen größeren Einsatz von CATS an ihrer Börse zu verhindern. Hier ist ein kleiner Exkurs zu den »Glaubenskriegen« im Zusammenhang mit der Börsenautomatisierung am Platz. Oft wird gesagt, die Technologie sei die treibende Kraft des Strukturwandels. In der Praxis stimmt dies nur zum Teil. Erst wenn der business case stimmt, kann sich eine neue Technologie durchsetzen, insbesondere auch dank dem Triebsalz der Konkurrenz. Wenn ein Marktteilnehmer eine neue Technologie gewinnbringend einsetzt, erhöht sich dann der Druck für die Konkurrenten, diese ebenfalls anzuwenden. Zuerst aber stoßen neue Technologien oft auf Widerstand und Ablehnung. Das hängt damit zusammen, dass sie nicht einfach zu technischen oder organisatorischen Veränderungen führen. Vielmehr ergeben sich aus der Anwendung neuer Technologien meist neue Geschäftsabläufe, neue Firmenstrukturen, letztlich auch Veränderungen der Wertschöpfungskette und neue Berufsbilder. Gewisse Kenntnisse und Fähigkeiten, aber auch ganz Berufe und Netzwerke verlieren an Bedeutung, andere gewinnen. Die Verlierer sind meist schon zum voraus ersichtlich, während sich die Gewinner erst im Nachhinein herauskristallisieren. Direkt Betroffene laufen deshalb in den seltensten Fällen mit fliegenden Fahnen zu neuen Technologien über. Wie leicht oder wie schwer sich eine neue Technologie durchsetzt, hängt immer auch davon ab, wie einflussreich die betroffenen potenziellen Verlierer sind. Die Automatisierung des Börsenhandels zeigt dies besonders deutlich. Zu Beginn wurden vor allem die administrativen Abläufe nach dem eigentlichen Handelsprozess automatisiert. Dies war noch ohne viel Widerstand möglich, weil die zusätzlich geschaffenen Kapazitäten durch die rasch wachsenden Handelsvolumina fortlaufend absorbiert wurden. Als die Elektronik dann zum Herzstück der Börse, zum eigentlichen Handel, vordrang, wurden die Fronten härter. Es kam zu »Glaubenskriegen« mit den einflussreichen Börsenhändlern im Zentrum des Geschehens. Das Management konnte es sich nicht leisten, die zentralen Leistungsträger der Börsenfirmen zu brüskieren. Die Computerisierung wurde zu einer Leidensgeschichte. So ist es zu erklären, dass vom ersten Auftrag zur »Abklärung der Möglichkeiten des
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Computereinsatzes an der Börse« in Zürich bis zur Einführung des elektronischen Handels an der SWX über dreißig Jahre verstrichen. Außerhalb von Toronto konnte CATS bemerkenswerte Erfolge feiern. Das System wurde 1982 unter dem Namen CORES in Tokio eingeführt, vorerst allerdings nur für die so genannte zweite Sektion, also die weniger bedeutenden Titel. Zu seinem ersten großen Einsatz kam CATS 1988/89 in Paris. Die Automatisierung des Handels an der Pariser Börse gehört in den Kontext des damals einsetzenden, vollständigen Umbaus der weltweiten Börsenstrukturen. Die Initialzündung dafür war der so genannte Big Bang. Am 27. Oktober 1986 wurden in London auf einen Schlag zahlreiche Beschränkungen des Börsenhandels aufgehoben. Nicht mehr nur Privatpersonen, sondern auch Firmen, ja selbst Firmen ausländischer Herkunft durften fortan Mitglied der Londoner Börse sein. Auch die Vorschriften betreffend Minimalcourtagen wurden aufgehoben.22 Diese Liberalisierungs- und Deregularisierungsschritte gingen mit der Einführung eines neuen Handelssystems, SEAQ, einher. SEAQ war aber im wesentlichen ein Informationssystem. Der Handel fand noch immer über das Telefon statt. Ähnliches spielte sich nun also in Paris ab, wobei die Dynamik der Reformen gleich auch für eine vollständige Automatisierung des Handels genutzt wurde. Diese Reformen bedeuteten das Ende eines fast mittelalterlich anmutenden Börsenclubs im Palais de Brongniart, dem imposanten Pariser Börsenpalast mit dem darum herum angesiedelten Village de la Bourse.23 Viele Agents de change (Broker) wurden von den Banken übernommen und die Börse mauserte sich zu einer modernen Unternehmung. In den darauf folgenden Jahren stellten dann Dutzende von Börsen auf den elektronischen Handel um.24 Bemerkenswert ist, dass die neuen mittel- und osteuropäischen Börsen, die in den 1990er Jahren entstanden, meistens von Anfang an mit elektronischen Systemen arbeiteten. Um die Jahrtausendwende gab es im Wesentlichen nur noch in Nordamerika Präsenzbörsen und Parketthandel. Angesichts dieser Automatisierungswelle wurde die Entwicklung und Einführung von Börsenhandelssystemen zu einem eigentlichen Geschäft. Im Umfeld einiger Börsen (Paris, Calgary, Chicago) entstanden eigene Firmen, die Dutzende von Handelssystemen an andere Börsen verkauften. Beeindruckend ist die Odyssee eines Kernstückes des schweizerischen SOFFEX-Systems. Für die SOFFEX wurde ein System für die absolut zuverlässige Transaktionsübermittlung, der Reliable Transaction Router (RTR) entwickelt. Die Schweizer Börse verkaufte das SOFFEX-System der Deutschen Börse für ihre Terminbörse (DTB). Von Frankfurt kam der RTR nach Sydney, wo er für das neue Wertpapierhandelssystem eingesetzt wurde. Die Schweiz kaufte das erweiterte System später von Australien zurück und baute es in ihre neue SWX-Plattform ein. Beim Rückblick auf die Entwicklung der Automatisierung der Börsen fällt auf, dass kleinere Börsen generell schneller zum automatisierten Handel übergingen als
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die großen Institute. Nicht von ungefähr tut sich die NYSE damit besonders schwer. Dies lässt sich plausibel erklären, wenn man die Börse als Kommunikations- und Preisfindungszentrum versteht und den Wert von Informationen im allgemeinen und von Kursinformationen ganz speziell in Rechnung stellt: Je größer und bedeutender eine Börse, je wichtiger die hier gehandelten Titel, je wichtiger also die hier festgesetzten Preise, desto höher ist der Wert der Teilnahme am innern Kreis dieses Marktes. Den inneren Kreis einer Börse bilden die Börsenhändler, den äußeren Kreis die Marktteilnehmer und jene Interessenten, die an anderen Börsen tätig sind. Die Präsenzbörse erlaubt nun zweifellos eine optimale Kommunikation an der Börse selbst. Die Kommunikation nach außen dagegen ist aus praktischlogistischen Gründen weniger gut. Für die Kommunikation mit dem äußeren Kreis lassen sich in den Büroräumen der Broker und Banken bessere Voraussetzungen schaffen. Die konkreten Folgen dieser Bedingungen lassen sich anhand der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte aufs Beste schildern. Vor dreißig Jahren war für die Zürcher Börse die Kommunikation im inneren Kreis letztlich wichtiger als die Kommunikation mit der Außenwelt. Die Hauptakteure der Börse (die Bankiers und die Börsenchefs der Banken) waren regelmäßig an der Börse und fällten dort ihre Entscheide. Alle wichtigen Börsen der Welt konnten für sich in Anspruch nehmen, das Zentrum des Geschehens zu sein. Andererseits gab es damals schon viele kleine Börsen, wo man sich lediglich traf, um lokale Werte zu handeln und Aufträge in »großen Titeln« zwischen den lokalen Teilnehmern kostengünstig und zu den Kursen der Hauptbörse abzuwickeln. Da hier also wenig eigenständige Kursbildung stattfand, hatte die Kommunikation im inneren Kreis für die Teilnehmer begrenzte Bedeutung. Kleine Börsen hielten ihre Sitzungen deshalb oft zu Randzeiten ab, damit man sich zu den Haupthandelszeiten wieder in die Kommunikation mit der »großen Welt« einklinken konnte. Was vor dreißig Jahren für kleine Lokalbörsen zutraf, hat sich mit zunehmender Globalisierung und Derivatisierung verschoben und gilt nun auch für mittlere und selbst große Börsen. Die Entstehung der Derivatmärkte hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Entscheidungsprozesse nicht mehr klar konzentriert sind. Sie werden von verschiedenen Märkten beeinflusst, und der Entscheidungsprozess der einzelnen Marktteilnehmer muss durch ihre eigenen Computeranlagen unterstützt werden. Wenn eine Börse aber nicht mehr Entscheidungszentrum ist, verarmt der Kommunikationsfluss im inneren Kreis. Die Börse wird zu einem operativen Betrieb, der sich elektronisch sehr effizient organisieren lässt.
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Die Revolution der Finanzderivate Nun ist zeitlich nochmals zurückzublenden auf die Entwicklung der Finanzderivate. Sie sind die wichtigste Innovation auf den Finanzmärkten des 20. Jahrhunderts und entstanden an den Warenbörsen von Chicago.25 Finanzderivate sind vertraglich geregelte, also nicht verbriefte Terminkontrakte, insbesondere Futures und Optionen. Sie lauten auf finanzielle Basiswerte wie Währungen, Aktien, Zinsen und Indizes. Zwar gab es früher an den Wertpapierbörsen sowohl Termingeschäfte wie auch Optionen. Aber sie waren rechtlich ganz anders konstruiert. Die völlig neuen Techniken der Emission und des Handels dieser Futures- und Options-Kontrakte hatte sich an den Warenbörsen seit Jahrzehnten bewährt. Auf den ersten Blick haben Finanzderivate und Technologie gar nichts miteinander zu tun. Im Warenhandel hatten Futures- und Optionenkontrakte auch ohne Computertechnologie funktioniert. Allerdings ging die »Erfindung« der Finanzderivate einher mit dem Aufkommen des Computers. Die Finanzderivate wuchsen also sozusagen mit den Computern auf. Ihre Eigenheiten brachten es mit sich, dass sie ohne technologische Unterstützung gar nicht mehr denkbar waren. Insofern trug der Siegeszug der Finanzderivate zwangsläufig auch zum Siegeszug der Elektronik bei (und umgekehrt). Die Entwicklung der Finanzderivate begann 1971, als die USA die Konvertierbarkeit des Dollars in Gold aufhoben. Im Jahr 1972 wurde der Handel mit Währungsfutures an der Chicago Mercantile Exchange (CME) eröffnet. 1973 schuf die Chicago Board of Trade (CBOT) die Chicago Board Options Exchange (CBOE) als erste Optionenbörse der neuen Art. Bis Ende der 1990er Jahre blieb Chicago mit seinen drei großen Derivatbörsen das Maß aller Dinge. In Europa wurden derartige Börsen mit einigen Jahren Rückstand gegründet: 1978 die EOE in Amsterdam, 1982 LIFFE in London, 1985 OM in Stockholm, 1986 Matif in Paris, 1988 SOFFEX in der Schweiz, 1989 MEFF in Spanien und 1990 DTB, die Deutsche Termin Börse. In der Schweiz nahm 1988 mit der SOFFEX die erste vollständig automatisierte Version der neuartigen Options- und FuturesBörsen ihren Betrieb auf. Sie stellte eine wirklich vollautomatisierte und integrierte Lösung dar, von der Auftragserfassung bei den Banken über die Transaktion an der Börse bis hin zum integrierten Clearing House, einschließlich aller Aufsichtsfunktionen.26 Die Deutsche Börse und die Schweizer Börse SWX legten ihre Töchter DTB und SOFFEX 1998 zur Eurex zusammen. Noch im selben Jahr überholte Eurex in der Umsatzrangliste den Erzrivalen LIFFE. Vor allem aber gelang es der Eurex schon im Jahr darauf, auch ihre US-amerikanischen Rivalen zu überholen und zur größten Options- und Futures-Börse der Welt aufzusteigen. Der Motor hinter diesem beispiellosen Siegeslauf war die Automatisierung des Handels – und damit verbunden
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der einfache Zugang zur Börse, der zumindest aus technischer Sicht von beliebigen Standorten aus möglich war. Der Erfolg der Eurex verweist auf die unglaubliche Dynamik, die von den Derivatemärkten ausging. Als die Börsen automatisiert wurden, übertrug man zunächst einfach die bestehenden Handelsprozesse auf den Computer. Dass damit beispielsweise in der Schweiz die Kapazitäten für über zehn technische Transaktionen (Eingaben pro Händler) je Sekunde geschaffen wurden, erschien damals phänomenal. Heute sind Kapazitäten von mehreren Tausend Transaktionen pro Sekunde gefordert. Hinter dieser Entwicklung standen neue Handelsinstrumente, neue Handelskonzepte, neue IT-Architekturen und neue organisatorische Abläufe. Mit den Derivaten wurde die Kursentwicklung berechenbar (unter Annahmen, die ebenfalls quantifiziert werden konnten). Black und Scholes publizierten 1973 ihr Modell für die Berechnung des Wertes von Optionen. Damit hielten im ganzen Finanzgeschäft neue Methoden für die Berechnung und Absicherung von Risiken Einzug. Risiken von Anlagen konnten separat identifiziert und alloziert (gekauft/verkauft) werden. Diese neuen Methoden und Modelle hatten beachtlichen Einfluss auf Anlagen- und Kreditgeschäfte. Vieles, was vorher vorwiegend gefühlsmäßig entschieden worden war, wurde nun nach klaren Regeln analysiert und berechnet, gekauft und verkauft. Dabei profitierte die Derivateindustrie davon, dass sie keine alten Traditionen mit sich schleppen musste. Zudem war auch das regulatorische Korsett noch wesentlich weniger eng. Mit den neuen Finanzinstrumenten hielt ein neuer Händlertypus Einzug an der Börse: junge, oft akademisch ausgebildete Börsianer, die vorerst auf elektronischen Taschenrechnern, später auf PCs ihre Handelsstrategien mit quantitativen Modellen berechneten. Die Modelle wurden laufend mit Schlüsseldaten wie Kursen, Indizes, Zinssätzen oder Umsatzzahlen gefüttert. Auf der Basis der Modelle spürte der Computer nach Handelsmöglichkeiten an der Börse. Er gab bei erfolgreicher Suche automatisch quotes (Angebote/Nachfragen) ein und tätigte Abschlüsse. Der Händler hatte – um im Fliegerjargon zu sprechen – nicht mehr den Steuerknüppel in der Hand, sondern überwachte nur noch den Autopiloten und die allgemeine Fluglage; er beeinflusste gewisse Richtwerte und Verhaltensmuster. Auftrag und Abschluss wurden dem Computer überlassen. Die Börse basierte nun auf einem mechanischen, nachvollziehbaren Algorithmus.27 Mit der Einführung der Finanzderivate kam es in kürzester Zeit zu zahlreichen fundamentalen Veränderungen an den traditionellen Wertpapierbörsen, die andernfalls höchstens nach langwierigen Diskussionen möglich gewesen wären. Plötzlich war man bereit, Umsätze zu publizieren und Handelszeiten zu verlängern. Man gab an den Wertpapierbörsen den traditionell bedeutenden Terminhandel auf. Positionen wurden plötzlich sehr viel enger überwacht, Lieferungen und Zahlungen zu einem Barausgleich von Kaufs- und Verkaufsgeschäft reduziert.
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Im Nachhinein kann man feststellen, dass die traditionellen Wertpapiermärkte durch die ungeheure Dynamik der Finanzderivate einfach überrumpelt wurden. Für die Vertreter der traditionellen Märkte waren viele Techniken und Methoden fremd und kaum nachvollziehbar. Wegen des zeitlichen und sachlichen Zusammenfallens von Computerisierung und Derivatisierung wurde die Komplexität noch erhöht. Entsprechend potenzierten sich die Animositäten gegen die neuen Derivatehändler mit denjenigen gegen den Computerhandel. Die jungen Derivatehändler mit ihren PCs wurden als »Turnschuhtrader« bezeichnet. Ihr »Programmhandel« galt während einiger Jahre als das Grundübel der Börsen schlechthin. Als Kulminationspunkt derivativer Untaten galt die triple witching hour. Dieser »Hexensabbat« ereignete sich jeweils an den dritten Freitagen der Monate März, Juni, September und Dezember, wenn die Verfalltage von Aktienoptionen, Indexoptionen und Indexfutures zusammenfielen. An diesen Tagen wurden die Kurse der Basistitel besonders stark von den Bewegungen bei den Derivaten beeinflusst, was den Wertpapierhändlern des Öfteren den bildhaften englischen Ausdruck »the tail wags the dog« (»der Schwanz wedelt mit dem Hund«) in Erinnerung rief.
Gehört die Zukunft dem Börsen-Chatroom? Nachdem nun also die meisten Wertpapierbörsen der Welt vom Parketthandel auf den elektronischen Handel umgestellt haben, mag es scheinen, dass ein weiteres großes Kapitel zum Thema »Börsen und Technologie« abgehakt sei. Dies wäre eine übereilte Schlussfolgerung. In einem ersten Schritt wurden manuelle Abläufe in eine automatisierte Form umgegossen. Doch die Automatisierung und die Derivatisierung könnten sehr wohl zu einer noch weiter gehenden Umgestaltung der Prozesse und Geschäftsstrukturen, ja der gesamten Wertschöpfungskette führen. Die Zahl der Möglichkeiten und Kombinationen ist dabei sehr groß. Vieles ist nicht planbar und muss zuerst ausprobiert werden. Dieser Prozess benötigt mehr Zeit, als man gelegentlich meint. Einige Beispiele aus den letzten Jahren mögen dies illustrieren. Ein besonders gutes Beispiel ist die Börsenkonsolidierung in Europa. Zu Beginn der 1990er Jahre erwartete jedermann eine drastische Konsolidierung der europäischen Börsenlandschaft. Die typische Fragestellung in allen Strategiediskussionen von Börsen war, ob es in zehn Jahren in Europa noch zwei, drei oder vielleicht gar vier Börsen geben werde. Diese Perspektive bestimmte in der Folge das Denken und Handeln der Geschäftsleitungen der Börsen. Jede verhandelte mit jeder, immer auf der Suche nach zukunftsträchtigen und existenzsichernden Lösungen. Tatsache ist jedoch, dass es nach Ablauf dieser zehn Jahre in Europa noch immer etwa fünfzig nationale und lokale Börsenplätze gibt, selbst wenn sich einige davon unter
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Holding- und Managementdächern verbunden haben. Warum war die Entwicklung so völlig anders als allgemein erwartet? Vorab ist zu bedenken, dass die Börsen sich während Jahren vorwiegend mit ihrer Technologie befasst hatten. Die Technologie bestimmte ihr Denken. Andere Aspekte, insbesondere die Regulierung waren aus dem Fokus verschwunden. Und nun waren diese Börsen automatisiert – und damit ihrer geographischen Fesseln entledigt. Die Automatisierung ermöglichte den remote access, den Zugang aus der Ferne.28 In der EU wurde dieser remote access überdies regulatorisch gefördert und gefordert. So öffneten sich die Börsen für Teilnehmer aus andern Ländern und begannen, aktiv remote members anzuwerben. Doch war die Technologie dafür eigentlich noch nicht reif. Die meisten Börsen hatten nämlich ihre eigenen Terminals (proprietäre Systeme). Damit aber gesellten sich auf den Händlerarbeitsplätzen zu den bereits installierten workstations der eigenen Firma und der Heimatbörse nun Terminal um Terminal von andern Börsen. Eine offensichtlich unmögliche Situation, welche eine Konsolidierung der Börsen zu einem dringenden Anliegen werden ließ. Seither haben sich die Prioritäten aber aus verschiedenen Gründen deutlich verschoben. Erstens hatte der beispiellose Zerfall der Kommunikationskosten zur Folge, dass Sekundärkotierungen (Kotierungen von Titeln an anderen, ausländischen Börsen) viel von ihrer Bedeutung verloren. Für die Übermittlung eines Börsenauftrages ist es fast belanglos geworden, ob zwischen Auftraggeber und Empfänger eine Häuserzeile steht oder Weltmeere liegen. Dadurch setzte sich die Tendenz der Märkte zu einem natürlichen Monopol vermehrt durch. Die Liquidität pro Titel und die Preisfindung sind am besten bei vollständiger Konzentration des Handels pro Titel auf einer einzigen Plattform. Zweitens haben sich also die Märkte pro Titel (aber eben nicht die Börsen generell) dank Automatisierung und billiger Kommunikation stark konzentriert und konsolidiert. Drittens erfolgte diese Konsolidierung praktisch ausnahmslos auf dem Heimmarkt. Das für viele Beobachter überraschende Ergebnis hat damit zu tun, dass rechtliche Unterstellungen für die Unternehmen Kosten verursachen, so dass sie versuchen, Mehrfachunterstellungen zu vermeiden. Die Kotierung ist insofern dort am einfachsten, wo man sowieso gesellschaftsrechtlich verankert ist. Es kommt hinzu, dass für verschiedene Teile der Wertschöpfungskette Unternehmensnähe einige Bedeutung hat. Viertens fand das Grundproblem zahlreicher Börsenterminals auf einem einzigen Händlerpult eine technische Lösung. Verschiedene Firmen offerieren inzwischen Softwarepakete, welche es dem Händler erlauben, per Tastendruck von der einen zur andern Börse zu wechseln. Ein einziger Terminal gewährt also Zugriff auf eine Vielzahl von Börsen. Im übrigen hat sich schließlich auch gezeigt, dass die Vielfalt der Gesetzgebungen und Regulierungen sowie die Fragmentierung der Abwicklung wesentlich wich-
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tigere Hindernisse für einen einheitlichen europäischen Kapitalmarkt sind als die Aufteilung des Handels auf verschiedene Plattformen.29 Ein anderes Beispiel für die Weiterentwicklung der Technologie im Börsengeschäft sind die ECNs (Electronic Communication Networks), börsenähnliche Organisationen. Während in Europa von Konsolidierung die Rede war, spielte sich in den USA eher das Gegenteil ab. ECNs entstanden seit 1997 im Gefolge neuer Regeln der US-amerikanischen Aufsichtsbehörden.30 Sie boten genau das an, wogegen sich die traditionellen Börsen so vehement sträubten: effiziente elektronische Ausführung von Börsenaufträgen. ECNs entwickelten sich in kürzester Zeit zu einer bedrohlichen Konkurrenz für die etablierten Börsen, doch sorgte das Platzen der Technologieblase auch hier für einige Ernüchterung. Bei den bisherigen Beispielen ging es um die Börsen selbst, aber auch die Börsenteilnehmer befassten sich intensiv mit diesen Fragen. Für viel Aufregung sorgte das Thema der »Internalisierung« – gemeint ist damit die interne Zusammenführung von Anbietern und Nachfragern bei den großen Börsenfirmen. Zweifellos könnten die großen, global vernetzten Vermögensverwaltungsfirmen letztlich größere »Börsen« sein als viele der existierenden Börsen; sie müssten einfach ihren Auftragsfluss weltweit zusammenführen. Was hier unter einer neuen Bezeichnung zu intensiven Diskussionen führte, war jedoch keineswegs neu. Börsenteilnehmer verschiedenster Länder konnten schon immer Kundenaufträge nach bestimmten Vorgaben intern kompensieren. Auch in den neuen Regelungen der EU ist die »Internalisierung« unter Auflagen zulässig. Die Auflagen sollen dazu beitragen, dass die der Internalisierung inhärenten Interessenkonflikte in Grenzen gehalten werden und dass die volkswirtschaftlich so wichtige Preisbildungsfunktion der Börsen nicht beeinträchtigt wird. Ein letztes Beispiel betrifft das Verhältnis zwischen den Börsen und ihren Teilnehmern einerseits, zwischen letzteren und den Anlegern andererseits. Bis in die 1990er Jahre hinein besaßen die Börsen keine direkte Verbindung zu den Anlegern. Aufgrund der neuen technischen Möglichkeiten steckten Banken und Broker viel Energie und viele Mittel in die Entwicklung neuer Internetplattformen für das EBanking und E-Trading. Kunden können Börsenaufträge von ihrem PC aus eingeben. Solche Aufträge werden bei der Bank formal überprüft, doch fließen sie faktisch direkt an die Börse. Obwohl rechtlich die alten Verhältnisse beibehalten wurden und der Bankkunde formal keine Beziehung zur Börse hat, sieht sich ein privater Benutzer solcher Programme wie ein direkter Börsenteilnehmer. Zeitweise stammten über zehn Prozent der Aufträge der Schweizer Börse aus solchen Programmen. Diese Entwicklung geht weiter, auch wenn sie sich wegen des Platzens der Technologieblase ein wenig beruhigt hat.31 Alle diese Beispiele zeigen, dass man hier ein Kräftevieleck mit verschiedenen, interdependenten Kräften vor sich hat. Viele dieser Kräfte stehen in gegenseitiger
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TECHNOLOGIEN
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Konkurrenz: die Beteiligten der Wertschöpfungskette, Fortschritt und Beharrung, Technologie und Regulierung, Kassa- und Derivatemarkt, Hausse und Baisse. Die Komplexität der Verhältnisse spricht dafür, dass fundamentale Veränderungen am ehesten zu erwarten sind, wenn ganz neue Marktteilnehmer mit innovativen Geschäftsmodellen in die Wertschöpfungskette eindringen. Die Erfahrungen der letzten Jahre lassen dabei zuerst an das Internet denken. Angesichts der Leichtigkeit und Unbekümmertheit, mit der sich das Internet durchzusetzen vermochte, sich auch um regulatorische Hürden wenig scherte, wäre es wenig überraschend, wenn diese Technologie auch den Börsenhandel noch sehr viel stärker bewegen würde als heute schon. Gibt es bald einen weltweiten chatroom als Nachfolger der Börsensäle? Immerhin existiert mit eBay schon jetzt eine weltweit funktionierende, erfolgreiche Auktionsplattform mit einem eigenen Zahlungssystem. Damit soll allerdings nicht suggeriert werden, ein Umsturz stehe vor der Tür. Was vergleichsweise teure Börsensysteme auszeichnet, ist vor allem eines: Sicherheit. Wenn Millionen umgesetzt werden und wenn die beiden Geschäftspartner sich nicht mehr persönlich kennen, ist Vertrauen in die Sicherheit des Systems absolut essenziell.
Technologie und wirtschaftlicher Erfolg Zum Schluss dieses tour d’horizon durch zwei Jahrhunderte Börsen- und Technologieentwicklung drängt sich die Frage auf: Wie wichtig ist die Technologie für den Erfolg von Börsen? Zeigen Börsen mit besserer Technologie eine erfolgreichere Entwicklung? Intuitiv würde man auf diese Frage ein vorbehaltloses »Ja« erwarten. Tatsächlich aber ist es ein »Ja« mit diversen Einschränkungen. Ein erster Vorbehalt beruht darauf, dass es die »bessere« oder »beste« Technologie nicht gibt. Dazu müsste man einen absoluten Qualitätsmaßstab definieren können – ein Ding der Unmöglichkeit. Zudem hängt die Qualität einer Technologie wesentlich von den Umständen ihres konkreten Einsatzes ab. Es gibt also allenfalls eine »beste« Technologie für einen ganz bestimmten Einsatz. Dies erklärt, warum so viele Börsen ihre Technologie als »die beste« bezeichneten – »für sie die beste«, müsste man präziser sagen. Zweitens ist die Qualität der Technologie sehr zeitbezogen. Was heute das Beste ist, kann morgen veraltet sein, sowohl technisch wie bezüglich der funktionellen Anforderungen. Aber auch der »Erfolg von Börsen« ist nicht allgemein zu definieren. Einige Börsen haben sich zwar in den letzten Jahren in relativ normale Unternehmen verwandelt. Viele Börsen sind aber nach wie vor nicht oder nicht in erster Linie gewinnstrebig, sondern funktionieren als Selbsthilfeorganisationen. Die meisten stehen unter starkem politischem und regulatorischem Einfluss. Somit gibt es also weder für die Qualität der Technologie noch für den
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Erfolg von Börsen eindeutige Maßstäbe, welche für eine vergleichende Berechnung von Korrelationen zwischen diesen beiden Größen herbeigezogen werden könnten. Immerhin kann hier auf einige plausible Annahmen, die durch praktische Erfahrungen gestützt sind, verwiesen werden. Da ist vorab festzuhalten, dass es für Börsen wichtigere Erfolgsfaktoren zu geben scheint als die Technologie. Mit Sicherheit sind das wirtschaftliche Umfeld und die Wirtschaftskraft ihres Standortes viel wichtiger. Die New Yorker Börse NYSE ist unbestritten die führende Börse der Welt, obwohl man ihr bezüglich Handelstechnologie wahrlich keinen Spitzenplatz zugestehen kann. Auch das regulatorische Umfeld, welches unter anderem durch die Tradition und durch kulturelle Hintergründe geprägt ist, dürfte für eine Börse letztlich wichtiger sein als die Technologie. Wenn die Regulierung die Position einer Börse schützt, ist gegen diesen Schutz kein »technologisches Kraut« gewachsen. Gleichwohl spielt die eingesetzte Technologie eine gewisse Rolle. Das früher erwähnte Beispiel der Eurex spricht diesbezüglich Bände. Bereits erwähnt wurde die Entstehung zahlreicher ECNs in den USA. Umgekehrt verlief die Konsolidierung der europäischen Börsen auch deshalb so schleppend, weil die Technologie viel dazu beitrug, die Problematik der fragmentierten Börsenlandschaft zu entschärfen. Wenn Vermögensverwalter über einen einzigen Terminal auf alle wichtigen Börsen zugreifen können, wird internationales Handeln wie internationales Telefonieren – die technischen Lösungen interessieren den Benutzer gar nicht mehr, höchstens noch die Kosten.
Zusammenfassung: Vom Boten zum Bit Über die meisten Börsen finden sich geschichtliche Einzelpublikationen, die durchaus auch über technische Errungenschaften der Börsen berichten. In dieser Studie wurde der Blick ausgeweitet auf die Börsen im allgemeinen und die Entwicklung der Kommunikationstechnologie insgesamt. Tatsächlich stehen Kommunikationstechnologie und Börsen in einem Abhängigkeitsverhältnis und sie haben sich in ihren Entwicklungen gegenseitig jeweils stark beeinflusst. Diese Studie erläuterte die beiden entscheidenden Entwicklungsstufen der letzten 200 Jahre. Erstens. Der Beginn der elektrischen Telegrafie um 1850 war der wichtigste Entwicklungsschritt der Technologie für die Entstehung moderner Börsen und Finanzmärkte. Vor der elektrischen Telegrafie war »Tele-Kommunikation« weitestgehend auf Boten angewiesen und somit von deren Reisegeschwindigkeit und Zuverlässigkeit abhängig. Der Ticker wurde 1867 eigens für die Börsen entwickelt. Um 1880 folgte dann die Telefonie. Sie brachte erhebliche Vorteile für die spontane, individuelle Kommunikation. Mit Telegrafie und Telefonie hatten die Börsen im
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TECHNOLOGIEN
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wesentlichen das technologische Rüstzeug für die nächsten hundert Jahre. Allerdings waren die Entwicklungen in der Kommunikationstechnologie nur eine notwendige Begleiterscheinung für den Aufschwung der Börsen im 19. Jahrhundert. Wichtigste Vorbedingung dafür war der Bedarf nach Finanzdienstleistungen im Gefolge der Industrialisierung und des Baus der Eisenbahnen. Zweitens. Erst ein Jahrhundert später kam es zu einem vergleichbaren Entwicklungsschub. Die Kombination von Automatisierung und Derivatisierung schuf eine starke Dynamik. Automatisierung und Derivatisierung hätten auch für sich allein für einige Bewegung gesorgt – aber nur vereint erreichten sie jene Sprengkraft, die in den 1980er und 1990er Jahren an den Börsen kaum einen Stein auf dem andern ließ und die Finanzmärkte revolutionierte. Die Entwicklungen im Börsenwesen und in der Kommunikationstechnologie führten immer wieder zu großen Spannungen zwischen liberalen Neuerern und konservativen Bewahrern. Dahinter steckten gelegentlich persönlich-ideelle Motive, häufiger konkrete kommerzielle Interessen. Die Entwicklungen der Technologie ermöglichten laufende Verbesserungen der Transparenz. Dies ist dem Geschäft im allgemeinen zwar förderlich, muss aber keineswegs den Interessen des einzelnen, in dieser Hinsicht privilegierten Marktteilnehmers entsprechen. Auch hier haben technologische Neuerungen deshalb ebenso häufig trotzige Ablehnung wie freudige Zustimmung hervorgerufen. Während dieser Text geschrieben wird, sind die realen Entwicklungen sowohl im Börsenbereich als auch in der Kommunikationstechnologie in ständigem Fluss. Es wäre vermessen, die Entwicklungen auch nur für die nächsten Jahre prognostizieren zu wollen. Einerseits ist das Beharrungsvermögen der bestehenden komplexen Strukturen beträchtlich. Auch ist die Sicherheit im Finanzbereich von so hoher Bedeutung, dass die Benutzer nicht so leicht für »Experimente« zu gewinnen sind. Andererseits ist durchaus damit zu rechnen, dass neue Anbieter mit Innovationen auf den Markt kommen werden, welche Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten fundamental verändern werden. Wird aus dem Börsensaal von einst und dem Computer-Netzwerk von heute bald ein virtueller, globaler chatroom? Sicher ist nur der Wandel.
Anmerkungen 1 Für konstruktive Hinweise und Anregungen danke ich Reto Francioni, Christoph Maria Merki, Richard A. Müller, Otto E. Nägeli, Dieter Sigrist, Tobias Sigrist, Jürg Spillmann und Tobias Straumann.
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2 Die Post war ein kaiserliches Regal, d.h. das Recht, die Post zu betreiben, oblag alleine dem Staat. 3 »Sensalen« waren Handelsagenten. Die Sensalenordnungen waren die Vorläufer der Börsenordnungen. 4 Vgl. Leuenberger, Hans Rudolf, 500 Jahre Kaufmännische Corporation St. Gallen, 1466 – 1966, St. Gallen 1966, S. 24 ff. 5 Vgl. www.phlx.com (7. November 2004). 6 Buck, James E. (Hg.), The New York Stock Exchange. The first 200 Years, Essex (Conn.) 1992, S. 46 (dort auch weitere Angaben zur Geschichte der NYSE). 7 Bibel, 4. Moses 23, 23. 8 Diese Studie bezieht sich immer auf praktische Anwendungen der Technologie. Etwas gar häufig mögen die Beispiele sich auf die Zürcher Börse oder die Schweizer Börse (SWX Swiss Exchange) beziehen. Dies hängt mit der praktischen Erfahrung des Autors zusammen. Für vieles ließen sich auch andere Beispiele finden. 9 Hermans, Janneke/Wit, Onno De, Stock Exchanges as ICT Junctions, Zürich 2003, S. 19. 10 Fields, Alexander J., »The Role of the Telegraph in concentrating US Stock Markets«, ASX Perspective, Heft 1/2000, S. 9– 13, hier S. 12. 11 Michie, Ranald C., »Friend or foe? Information technology and the London Stock Exchange since 1700«, Journal of Historical Geography, Heft 3/1997, S. 304 – 326, hier S. 315. 12 Schmid, Hans Rudolf/Meier, Richard T., Die Geschichte der Zürcher Börse, Zürich 1977, S. 99. 13 Fields, The Role [wie Anm. 10], S. 11. 14 Schütze, Alfred, »Die Börse und die Börsengeschäfte«, in: Saling’s Börsen-Papiere. Ein Handbuch für Bankiers, Juristen und Kapitalisten, Leipzig 1903, S. 290. 15 Hermans/Wit de, Stock Exchanges [wie Anm. 9], S. 19. 16 Bley, Siegfried, Börsen der Welt. Handbuch des internationalen Wertpapierhandels, seine Bestimmungen und Usancen, Frankfurt a.M. 1977, S. 600. 17 Dazu: Meier, Richard T., »Von der Ticker AG zur Telekurs AG«, in: Telekurs AG 1930 – 1980, Zürich 1980, S. 35. 18 Buck, New York [wie Anm. 6], S. 197. 19 Unter Wertschöpfungskette versteht man im Wertpapierhandel die Gesamtheit der miteinander verbundenen Handelsprozesse von der Erfassung der Aufträge über die Zusammenführung bis hin zu den Transaktionen, der Kursbildung, der Abschlussbestätigung, der Lieferung und Bezahlung. In einem weiteren Sinne gehören auch die Finanzanalyse, die Verbreitung von Kursen und anderen Daten sowie weitere Aktivitäten zu dieser Wertschöpfungskette. 20 Buck, New York [wie Anm. 6], S. 202. 21 Klein, Fritz/Palazzo, Guido, Kulturgeschichte des Geldflusses, Zürich 2003, S. 51. 22 Kerr, Ian M., Big Bang, London 1986, S. 7ff. 23 Dazu: Bacot, François/Dubroeucq, Paul-François/Juvin, Hervé, Le nouvel age des marchés français. Nouvelles techniques, nouveaux métiers, Paris 1989, S. 172; vgl. auch: Braun, Michael, Computerisierung des Börsenhandels. Auflösung von Zeit und Ort, Frankfurt a.M. 1988. 24 Vgl. Demarchi, Marianne/Foucault, Thierry, Equity Trading Systems in Europe. A survey of recent changes, Paris 1998. 25 Grundlegend: Miller, Merton H., Financial Innovations and Market Volatility, Cambridge (Mass.)/Oxford (GB) 1991.
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26 Ein wichtiger Beweggrund, diese Börse gleich elektronisch aufzubauen, war der typisch schweizerische Föderalismus. Man hätte sich niemals auf einen einzigen Platz – Zürich, Genf oder Basel – für eine Präsenzbörse einigen können. Und drei solcher Börsen in der kleinen Schweiz machten nun wirklich keinen Sinn. 27 Schwartz, Robert A./Francioni, Reto, Equity Markets in Action. The Fundamentals of Liquidity, Market Structure and Trading, Hoboken (NJ) 2004, S. 156ff. 28 Remote access bedeutet die Möglichkeit, von außerhalb der Börse auf das Börsensystem zuzugreifen. Diese Möglichkeit ist grundsätzlich für jede elektronische Börse gegeben. Faktisch bezog sich der Begriff vor allem auf die Zugriffsmöglichkeit von Teilnehmern aus andern Ländern bzw. Jurisdiktionen. 29 Dazu: Steil, Benn (Hg.), The European Equity Markets, London 1996, S. 116ff.; The Giovannini Group (Hg.), Crossborder clearing and settlement arrangements in the European Union, Brussels 2001, S. 44ff. 30 Schwartz/Francioni, Equity [wie Anm. 27], S. 222. 31 Schwartz/Francioni, Equity [wie Anm. 27], S. 27.
Der Wettbewerb zwischen den Finanzzentren Europas und denen der USA Harold James
Es sind verschiedene Kriterien, welche die Kapazität von Finanzzentren bestimmen: – die Größe ihres Heimmarktes, – das regulatorische Umfeld, – das Währungsregime, – das Ausmaß ihrer politischen Stabilität und Sicherheit. Wie können wir nun erklären, weshalb Finanzmärkte, gemessen an ihrem Anteil am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt (BIP), so unterschiedlich groß sind? Wenn wir die heutige Situation betrachten, so sehen wir bei den wichtigsten Industrieländern auffällige Unterschiede zwischen der Börsenkapitalisierung und deren Anteil am BIP. Eine offensichtliche Erklärung wird durch die Tabelle 1 geliefert, nämlich: dass ein hoher Anteil von staatlichen Wertpapieren dazu tendiert, private Wertpapiere zu verdrängen, und damit möglicherweise negative Folgen für die Befriedigung der privatwirtschaftlichen Kapitalnachfrage mit sich bringt. Tab. 1: Relative Größe der Kapitalmärkte (2002)
USA
Börsen kapitalisierung (in Milliarden Dollar)
Börsen kapitalisierung in Prozent des BIP
Staatliche Wertpapiere in Prozent des BIP
Private Wertpapiere in Prozent des BIP
11.056
105,5
43,3
138,5
Großbritannien
1.801
115,0
30,3
92,3
Japan
2.096
133,8
121,9
52,2
Deutschland
686
34,4
43,2
117,9
Italien
477
40,1
101,7
69,3
5.734
66,2
57,0
81,2
22.810
70,8
51,4
83,8
EU Welt
Quelle: Berechnungen nach Daten des International Monetary Fund (Global Financial Stability Report, 2004)
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HAROLD JAMES
Die Idee eines Wettbewerbs unter den Finanzzentren ist dann relevant, wenn es eine große Menge mobilen Kapitals gibt, d.h. in Phasen der so genannten Globalisierung wie sie etwa das späte 19. und das späte 20. Jahrhundert darstellten. In solchen Zeiten können grundlegende Veränderungen in der Regulierung Entwicklungspfade für lange Zeit festlegen. In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass zwei solcher Perioden besonders wichtig gewesen sind: die 1890er Jahre und die 1960er Jahre. In der ersten Phase profitierten die US-amerikanischen Märkte von verschiedenen Vorteilen, welche die Tiefe der dortigen Kapitalmärkte verstärkten und damit die Attraktivität dieser Finanzzentren erhöhten. In der zweiten Periode führten US-amerikanische Normen wie die zinsbegrenzende Regulation Q der Federal Reserve (der US-amerikanischen Notenbank) zur Entwicklung neuer Finanzmärkte außerhalb der USA.
I. Der Aufstieg von New York zu einem wichtigen Finanzzentrum vollzog sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit. Er kann als eine besondere regulatorische Antwort auf finanzielle Krisen, ja Paniken gedeutet werden. Der rechtliche Begriff und Inhalt einer Aktiengesellschaft war mitnichten immer gleich. Aktienrechtliche Definitionen von Verantwortung und Struktur innerhalb ihrer juristischen Person machten dramatische Veränderungen durch. Zwar gab es schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts Aktiengesellschaften, aber diese bedurften fast immer einer staatlichen Genehmigung und die Aktienbesitzer waren nicht durch eine beschränkte Haftung geschützt. Solche Unternehmen benötigten deshalb ein großes Maß an Vertrauen und waren entsprechend selten. Die Geschichte des Aufstiegs der Aktiengesellschaft ist ein gutes Beispiel dafür, wie Institutionen Effekte zur Folge haben können, welche nationale Grenzen überwinden und daheim sowie anderswo rechtliche Veränderungen nach sich ziehen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erschien die Idee der Aktiengesellschaft der beste Weg zu sein um den allgemeinen Wohlstand zu organisieren, und sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Großbritannien schwächte 1844 die aktienrechtlichen Restriktionen ab, die es im frühen 18. Jahrhundert nach dem South Sea Bubble erlassen hatte. Es dauerte allerdings noch elf Jahre, bis es 1855 die beschränkte Haftpflicht einführte. Frankreich hatte eine lange Tradition von Anteilsgesellschaften (en commandite), die bis in das späte 17. Jahrhundert zurückreichte – hier genossen Anteilseigner zwar eine beschränkte Haftung, hatten umgekehrt aber fast keine Kontrolle über
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FINANZZENTREN
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das Unternehmen. In den 1830er Jahren verebbte nach zahlreichen Zusammenbrüchen eine Gründungswelle von Aktiengesellschaften; die Investoren begannen zu glauben, dass ein Engagement in benachbarten Ländern einen höheren Risikoschutz verspräche. Infolgedessen reglementierte Frankreich 1857 zuerst die Stellung belgischer, dann die anderer ausländischer Unternehmen. Zehn Jahre später verabschiedeten die Abgeordnetenkammer und der Senat ein Gesetz, das die bewilligungslose Bildung von Anteilsgesellschaften in Frankreich zuließ. Deren Gründung erforderte lediglich eine Generalversammlung der Aktienbesitzer und die Ernennung einer Geschäftsführung. Preußen genehmigte seit 1838 Eisenbahngesellschaften, andere Aktiengesellschaften seit 1843; diese benötigten allerdings eine staatliche Erlaubnis. Das deutsche Handelsgesetz von 1861 anerkannte nur offiziell zugelassene Gesellschaften. Erst im Juni 1870 wurde es möglich, Aktiengesellschaften ohne staatliche Genehmigung einzurichten, und es gab in diesem Bereich nun keine staatliche Beaufsichtigung oder Regulierung mehr. Das entsprechende Gesetz war eine deutliche Verschiebung vom Staat hin Richtung Markt. Es löste einen spekulativen Schub von Gesellschaftsgründungen aus. Im Nachhinein beklagten Kritiker die radikale Natur dieser Liberalisierung und das Fehlen von Prospekt-Erfordernissen bei der Gründung von neuen Gesellschaften. Nach heftigen Debatten wurde das Handelsrecht 1884 novelliert. Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Unternehmen und Geschäftsführungen wurden geklärt. Man führte Prospekt-Erfordernisse ein und tat einen kleinen Schritt zurück Richtung mehr Regulierung. Um der Spekulation durch Kleinanleger einen Riegel vorzuschieben, wurde der Mindestwert eines Anteilsscheins bei größeren Gesellschaften auf 1.000 Reichsmark festgelegt. Italienische Aktiengesellschaften wurden durch das neue, 1882 eingeführte Handelsgesetz möglich, das sich stark an die französische Regelung von 1867 anlehnte. Allerdings dauerte es noch zwei Jahrzehnte, bis eine wirkliche Gründungswelle einsetzte. Die Verwendung der Unternehmensstruktur »Aktiengesellschaft« brachte grundlegende Veränderungen in der Organisation, Führung und Finanzierung von Firmen mit sich. Das Ausmaß dieser Veränderungen war allerdings nicht sofort sichtbar und ihre Auswirkungen wurden erst nach und nach bemerkt. Die neuen Regeln stärkten theoretisch die Eigentümer, die sich in den Generalversammlungen repräsentieren ließen. In der Praxis allerdings wussten diese Eigentümer meistens nur wenig über das Unternehmen oder über einander und hatten Mühe, sich auf den Versammlungen effizient zu organisieren. Es waren daher eher Informationsmängel und nicht etwa die rechtlichen Rahmenbedingungen, welche die Machtverhältnisse zugunsten des Managements entschieden. Deswegen begann der Gesetzgeber nach Skandalen und Firmenzusammenbrüchen in Frankreich und Deutschland in den 1870er und 1880er Jahren Versuche, wieder mehr Regulierungen einzuführen. Das
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HAROLD JAMES
Pendel, das von starker Regulierung zu völliger Liberalisierung geschwungen hatte, bewegte sich wieder zurück Richtung vorsichtiger Regulierung. In Frankreich wurde die höchste Ebene des Managements einer Aktiengesellschaft, der conseil d’administration, nach Artikel 22 des Gesetzes von 1867 als Komitee von Anteilseignern konzipiert; diese Anteilseigener hatten das Recht, einen Außenstehenden als ihren Repräsentanten einzusetzen – »un mandataire étranger à la société«. Ein Generaldirektor konnte deshalb sowohl von der Generalversammlung als auch von der Geschäftsführung gewählt werden. Mit 500 Franken Nominalwert wurde ein relativ hoher Mindestpreis für Aktien großer Unternehmen gewählt, um jene Kleinanleger fernzuhalten, die durch spekulative Zusammenbrüche hätten gefährdet werden können. Ähnliche Vorstellungen wie in Frankreich fanden sich auch im italienischen Gesetz von 1882. Der Consiglio di adminstrazione konnte entweder einen Präsidenten haben oder einen Consigliere delegato, welcher die Gesellschaft als CEO nach außen vertrat. Das deutsche Gesetz von 1870 unterschied scharf zwischen der Geschäftsführung, dem Vorstand, einerseits und seinem Kontrollorgan, dem Aufsichtsrat, andererseits. Der Vorstand war mit dem täglichen Management des Unternehmens beschäftigt, während der Aufsichtsrat eine Verantwortung trug, die das Gesetz als Kontrollfunktion umschrieb. In der Praxis jedoch legte der Aufsichtsrat seine Rolle meistens weiter aus als es das Gesetz vorsah: Er übte die Kontrolle aus, gab direkte Anweisungen und wählte die Geschäftsführung sowie den Direktor.1 Seine tatsächliche Macht soll in erster Linie von den Bankenvertretern abhängig gewesen sein – auf diese Art und Weise konnten Bankiers überprüfen, was in einem Unternehmen vor sich ging, und dann die entsprechenden Kreditentscheidungen treffen. Ihre Macht, den Geldhahn auf- oder zuzudrehen, gab den Stimmen der Bankiers viel Gewicht. Bis in die 1990er Jahre hinein blieb der Bankkredit für die deutschen Unternehmen die wichtigste Quelle der Finanzierung (mit einem geschätzten Anteil von 80 Prozent in den 1990er Jahren). Auch Familieneigentümer waren wichtige Kreditgeber, vor allem in den frühen Jahren eines Unternehmens, ebenso die Anteilseigner (wie zum Beispiel im Falle der Gutehoffnungshütte AG oder der Franz Haniel & Cie. GmbH in den 1870er Jahren). Mitglieder des Vorstandes waren nicht verpflichtet, Anteilsscheine des eigenen Unternehmens zu besitzen, und oft taten sie es nicht. Aber die Abgabe von Aktien war eine Möglichkeit, die Manager an das Unternehmen zu binden und zu Leistungen anzuspornen; die Geschäftsführer der Gutehoffnungshütte, die Reuschs (Vater und Sohn), besaßen tatsächlich Aktien, ebenso wie Johannes Welker von der Handelsfirma Franz Haniel & Cie. GmbH. Die rechtliche Trennung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat machte die Spaltung zwischen Eigentümern und Management im deutschen Fall sehr viel klarer als in Frankreich oder Italien, aber auch als in Großbritannien, wo Familieneigentümer in Vorständen oder administrative councils Einsitz
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FINANZZENTREN
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nahmen. Manager waren bestrebt, eine Unternehmenskultur einzurichten, die sich vom »Eigentum« der Inhaber abhob: Das Unternehmen sollte auch das »Eigentum« der Nation sein, oder jenes der Arbeiter, und die Manager sollten jene Gruppe sein, welche diese kollektiven Interessen interpretierte. Während der Vorstand die Aufgabe hatte, die Unternehmensrechnung zu erstellen, traf die Generalversammlung formell die Entscheidung über Dividendenzahlungen. In der Praxis kam es höchst selten vor, dass Vorschläge des Managements nicht beachtet wurden, und die Anteilseigner konnten oft nicht mehr als das Paket akzeptieren, das der Vorstand geschnürt hatte. Schon in den 1890er Jahren betonte Max Weber, dass die fundamentalen Entscheidungen in Kapitalgesellschaften durch den Vorstand getroffen würden.2 Die Herausbildung eines Managements mit eigenen Zielen ließ Adolf Berle und Gardner Means für die USamerikanischen Unternehmen des Jahres 1932 davon sprechen, dass das »Atom des Eigentums« sich gespalten habe, dass Anteilseigner und Manager unterschiedliche Interessen entwickelt hätten.3 Das Management besaß nun eine eigene Art des »Eigentums« und ein separates Unternehmensziel. Manager wurden (nur) entlöhnt, auch wenn Vorstandsmitglieder und Aufsichtsräte Anrechte auf Tantiemen hatten, welche die Leistung des Unternehmens widerspiegelten. Der wichtigste Vorteil der Aktiengesellschaft ist weniger, dass sie Geld an der Börse mobilisiert, sondern eher der, dass sie den Gründern, die Kapital und Energie in ein illiquides Projekt investiert haben, erlaubt, ihr ursprüngliches Investment wieder zurück zu gewinnen und damit eine Belohnung für ihre unternehmerische Initiative zu erhalten. Eigentümer konnten nun auf einem Sekundärmarkt verkaufen. Dies bedeutete selbstverständlich eine erhebliche Bedrohung für die Kontrolle einer Familienfirma, und das Management einer solchen Firma war ohne Unterlass darum bemüht, elaborierte Vereinbarungen zu treffen, welche die Möglichkeit einschränkten, an jemanden anders zu verkaufen als an die Mitglieder des Familienkreises. Vor allem in turbulenten Zeiten, wie zum Beispiel im Anschluss an den Ersten Weltkrieg, spielten solche Regelwerke eine wichtige Rolle. Die Suche nach dem Erhalt der so bedrohten Eigentümerkontrolle über das Unternehmen schuf eine Nachfrage nach alternativen Formen von Unternehmensformen, namentlich für jene, die fürchteten, dass die Aktiengesellschaft dem anonymen Kapital zu viel Macht gäbe. Ein deutsches Gesetz von 1892 erlaubte die Errichtung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), die keinen Aufsichtsrat und keine Generalversammlung benötigte und die deshalb nur reduzierte Berichterstattungserfordernisse hatte. Ende des 19. Jahrhunderts gab es rund 2.000 solcher Gesellschaften. Während des Krieges und der daran anschließenden Inflation vermehrten sie sich besonders stark: 1924 existierten 79.257 GmbHs. Eine ähnliche Unternehmensform war in Frankreich überflüssig, weil die société en commandite bereits ähnliche Gestaltungsmöglichkeiten enthielt.
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Die Eigentümlichkeiten der Börse können zu erklären helfen, wie deutsche und US-amerikanische Unternehmenserfahrungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auseinander zu klaffen begannen. Für die meisten Volkswirtschaften des 19. Jahrhunderts galt, dass an den Börsen vor allem Regierungsanleihen, Eisenbahnaktien und anleihen sowie einige weitere Unternehmensanleihen gehandelt wurden. In den Vereinigten Staaten entwickelte sich der Markt für Wertpapiere der Industrie nicht vor der großen Fusionswelle nach 1898. In der Mitte der 1890er Jahre begann man damit, den Dow Jones-Index für industrielle Wertpapiere zu berechnen, und seit 1900 publizierte John Moody ein Handbuch über die Wertpapiere der Industrie.4 Im Gegensatz dazu besaß das Deutsche Reich schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen hoch entwickelten Markt für Wertpapiere der Industrie. In den 1890er Jahren glaubte Max Weber, dass 1,5 bis 2 Millionen Deutsche Aktien besaßen und dass eine Milliarde Reichsmark in Aktien investiert waren.5 Das Gesetz von 1884 hatte versucht, den Aktienbesitz durch ein relativ hohes Minimum (1.000 Mark pro Stück) einzuschränken und Kleinanleger damit auszuschließen – gleichwohl meinte Weber, dass man nicht den Schluss ziehen könne, dass es nur unter den Großkapitalisten Aktienbesitzer gäbe.6 Das deutsche Börsengesetz von 1896 war dann sehr restriktiv und gab den antikapitalistischen Ressentiments der agrarischen Rechten breiten Raum. Es limitierte den Wertpapierhandel genauso wie den Rohstoffhandel. Genau in dem Augenblick, in dem sich in den USA eine Aktienkultur entwickelte, wurde die Entwicklung in Deutschland abgebrochen. In der Folge entwickelte sich Deutschland eher zu einem bankenorientierten Wirtschaftssystem als zu einem marktorientierten. Frankreich erlebte ähnliche Gesetzesdebatten, aber die Versuche, ähnliche Restriktionen einzuführen wie in Deutschland, ließen sich nie realisieren, zum Teil auch deshalb, weil französische Unternehmen die Möglichkeit hatten, sich in Belgien als juristische Personen eintragen zu lassen und damit möglichen Kontrollen in ihrem Heimatland auszuweichen. Zwölf Jahre nach dem Erlass des deutschen Börsengesetzes wurde es einer Revision unterzogen. Reichskanzler Bernhard von Bülow hatte erklärt, dass das Börsengesetz von 1896 Deutschland im Wettbewerb mit ausländischen Märkten benachteilige – aber zu diesem Zeitpunkt war der Schaden bereits eingetreten. Institutionelle Übereinkommen, Syndikate und Kartelle waren bereits eingerichtet, um den deutschen Handel neu zu organisieren. Man hatte sich bereits für einen Entwicklungspfad entschieden, auf dem die Kapitalmärkte weniger wichtig waren. Statt dessen wurden die Banken zentral. Die Plötzlichkeit, mit der New York als Finanzzentrum aufstieg, war im übrigen auch eine Antwort auf das Überstehen der heftigen Krise von 1895/96, als die Märkte vorübergehend einen möglichen Abschied der USA vom Goldstandard in Erwägung gezogen hatten. Das zentrale politische Ereignis in dieser Krisenzeit war die Niederlage des Präsidentschaftskandidaten William Jennings Bryan, der ein
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Verfechter des Bimetallismus war. Nach der Wahl im Jahre 1896 und mit McKinley als Präsident waren die USA wieder fest an die Regeln des Goldstandards gebunden.
II. Die ausgedehnten Kapitalkontrollen nach dem Zweiten Weltkrieg hatten zur Folge, dass die Märkte weitgehend national organisiert waren und sich quasi selbst genügten. Allerdings waren Kapitalbewegungen gleichwohl möglich – so konnte man den internationalen Zahlungsverkehr für diesen Zweck benutzen. Erneut erwies sich eine weitere regulatorische Verschiebung als Auslöser, welcher zu großen Veränderungen in der Geographie der Weltfinanzmärkte führte. Diese Entwicklung wird üblicherweise als das Entstehen der »Euromärkte« beschrieben. Die Idee eines Eurodollars war nicht etwa ein Produkt der Nachkriegszeit: Schon in der Zwischenkriegszeit hatte es Dollaranleihen gegeben, die in Großbritannien, den Niederlanden oder der Schweiz aufgelegt worden waren. Der Eurodollar-Markt der Nachkriegszeit begann in den späten 1940er Jahren, als die neue kommunistische Regierung Chinas ihre Dollareinnahmen in einer sowjetischen Bank in Paris platzierte, in der Banque Commerciale pour l’Europe du Nord. Nachdem in den frühen 1950er Jahren die US-amerikanische Regierung jugoslawisches Gold sequestriert hatte, begannen sowohl die UdSSR als auch China damit, ihre Dollars, die sie aus den Exporteinnahmen erhielten, in Offshore-Märkten anzulegen. Aber diese politisch ausgelösten Geldflüsse genügten nicht, um einen wirklichen Euromarkt entstehen zu lassen. Die entscheidende Maßnahme war die Regulation Q der US-amerikanischen Zentralbank, welche die Zinszahlungen auf US-amerikanischen Depositen beschränkte und damit US-Unternehmen und -Bürger dazu brachte, Gelder in Offshore-Märkten anzulegen. Als die Währungskontrollen 1958 aufgehoben wurden und Europa zur Konvertibilität zurückkehrte, konnten schweizerische und britische Handelsbanken höhere Zinsen anbieten als der amerikanische Heimmarkt. 1966 versuchte die Federal Reserve, die Währungspolitik zu straffen, während die Regulation Q beibehalten wurde – mit dem Resultat, dass US-amerikanische Banken, die Gelder benötigten, diese auf den Euromärkten borgen mussten. Deshalb nahm das Volumen dieser Märkte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre deutlich zu (siehe Tabelle 2).
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Tab. 2: Das Wachstum der Eurodollar-Märkte (1964 – 1972) EurodollarMärkte (Total in Milliarden Dollar)
Nordamerikanische Anbieter (Mia. Dollar)
Nordamerikanische Nachfrager (Mia. Dollar)
1964
9,0
1,5
2,2
1965
11,5
1,3
2,7
1966
14,5
1,7
5,0
1967
17,5
2,6
5,8
1968
25,0
4,5
10,2
1969
37,5
6,7
17,8
1970
57,0
4,5
13,1
1971
71,0
6,1
8,3
1972
91,0
6,9
9,6
Quelle: Bell, Geoffrey, The Euro-Dollar Market and the International Financial System, New York 1973, S. 24/25
Während der 1960er Jahre waren die Zuflüsse, welche die Eurodollar-Märkte verzeichneten, in erster Linie das Resultat von Zinsüberlegungen. Ab einem gewissen Zeitpunkt wurden sie jedoch eher aus Sorge um die Stabilität des US-Dollars als der Leitwährung im Bretton-Woods-System getätigt. Als die USA Ende 1969 die Zinsbeschränkungen lockerten, war es zu spät: 1970 und 1971 kam es zu großen Absetzbewegungen aus dem Dollar und zu spekulativen Käufen von DM und Yen. Nachdem die Euromärkte eine gewisse Größe erreicht hatten, zogen sie auch Gelder aus anderen Ländern an. 1970 hatten die Euromärkte einen Umfang von schätzungsweise 57 Milliarden Dollar, 46 Milliarden davon waren in Dollar denominiert. Der Austausch zwischen den Euromärkten und den USA, welche den Eurodollarmarkt überhaupt erst in Gang gebracht hatten, war demnach das Produkt US-amerikanischer Kapitalkontrollen sowie das Resultat eines möglicherweise kontraproduktiven Versuchs, verschiedene Märkte von einander zu trennen. Dieses Motiv verschwand, als Finanzminister George Shultz 1973 die Kapitalkontrollen aufhob. Aber die Euromärkte waren zu diesem Zeitpunkt bereits fest etabliert und erwiesen sich als der richtige Platz für neue Formen von Kapitalflüssen, bezeichnenderweise erneut aus Ländern, die Kapitalkontrollen installierten. In den 1970er Jahren entwickelten sich die Euromärkte zu dem Ort, an dem Petro-Dollars aus der OPEC angelegt und in Richtung Entwicklungsländer – namentlich südamerikanische – gelenkt wurden.
DER WETTBEWERB
ZWISCHEN DEN
303
FINANZZENTREN
III. Die Größe ihres Heimmarktes verschaffte den Vereinigten Staaten einen natürlichen Vorteil, was die Fähigkeit anging, große finanzielle Ressourcen zu mobilisieren. Dieser Vorteil bestand mindestens bis zur Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen in der Europäischen Gemeinschaft in den 1980er Jahren, wahrscheinlich sogar bis zur Einführung des Euros als Buchwährung im Jahre 1999, mit der die europäischen Kapitalmärkte eine neue Tiefe erreichten. Tab. 3: Internationale Schuldverschreibungen (in der Ausgabewährung) 1995
2000
2002
USDollar
28,4
47,5
43,3
Japanischer Yen
32,4
2,1
1,8
Britisches Pfund
2,9
7,0
5,2
Schweizer Franken
0,1
0,4
0,8
Euro
31,3
46,1
49,0
Quelle: Berechnungen nach Daten des International Monetary Fund (Global Financial Stability Report, 2004)
Beschreibt man diese Veränderungen mit den Begriffen, die oben entwickelt worden sind, kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass die relative Verminderung der Attraktivität der US-Märkte seit dem Jahr 2000 (siehe Tabelle 3) einerseits ein Resultat der Furcht vor der regulatorischen Antwort auf die US-amerikanischen Unternehmensskandale (Sarbanes-Oxley-Gesetz) ist – andererseits aber auch eine Folge der Sorge um die Zukunftsfähigkeit des US-Dollars im internationalen Währungssystem, eine Zukunftsfähigkeit, die durch das ständige Zahlungsbilanzdefizit der USA gefährdet ist. Aus dem Englischen von Christoph Maria Merki
Anmerkungen 1 Vgl. Passow, R., »Aktiengesellschaften«, in: Elster, Ludwig/Weber, Adolf/Wieser, Friedrich (Hg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena 1923 (4. Auflage), Bd. 1, S. 136. 2 Weber, Max, Gesamtausgabe, hrsg. von Knut Borchardt und Cornelia Meyer-Stoll, Bd. 5 (Börsenwesen, Schriften und Reden, 1893– 1898), Tübingen 1999, S. 152. 3 Berle, Adolf A./Means, Gardiner C., The modern corporation and private property, New York 1932.
304
HAROLD JAMES
4 Vgl. Navin, Thomas R./Sears, Marian V., »The Rise of a Market for Industrial Securities, 1887– 1902«, The Business History Review, Heft 2/1955, S. 105 – 138, hier S. 106/107. 5 Weber, Gesamtausgabe [wie Anm. 2], S. 149 und 153. 6 Weber, Gesamtausgabe [wie Anm. 2], S. 153.
Verzeichnis der Autoren
Altorfer, Stefan, lic. phil., Assistent am Historischen Institut der Universität Bern und an der London School of Economics and Political Science Barendregt, Jaap, Dr. oec., spezialisiert auf Wirtschafts- und Finanzgeschichte, Finanzanalyst bei einer Amsterdamer Bank Franz, Norbert, Dr. phil., spezialisiert auf Wirtschafts-, Sozial- und Verwaltungsgeschichte, Habilitand an der Universität Trier Holtfrerich, Carl-Ludwig, Dr. rer. pol., Professor am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin James, Harold, Professor für Geschichte an der Universität Princeton (USA) Meier, Richard T., Dr. oec., Leiter des Bereichs International and Research bei der Swiss Exchange SWX Merki, Christoph Maria, Priv.-Doz., spezialisiert auf Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte, Forschungsprofessor am Liechtenstein-Institut Michie, Ranald C., Professor für Wirtschafts- und Finanzgeschichte an der Universität Durham (England) Straumann, Tobias, Dr. phil., spezialisiert auf Wirtschafts- und Finanzgeschichte, Habilitand an der Universität Zürich Straus, André, Dr. phil., spezialisiert auf Wirtschafts- und Finanzgeschichte, Forschungsbeauftragter am CNRS und Lehrbeauftragter an mehreren Pariser Universitäten Tanner, Jakob, Dr. phil., Professor an der Universität Zürich für allgemeine und schweizerische Geschichte Tilly, Richard, Dr. phil., emeritierter Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster