Friedrich Gerstäcker
Der erkaufte Henker Erzählungen
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Friedrich Gerstäcker
Der erkaufte Henker Erzählungen
Inhalt Der erkaufte Henker 3 Der Fischfang am Mississipi 33 Der Freischütz 47 Die Osage 81 Der Schiffszimmermann 95 Der Walfischfänger 159 Die Ahnung 198
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Der erkaufte Henker Eben verkündete im fernen Osten ein blasser Streifen am bewölkten Firmamente den nahenden Tag, als ein einzelner Reiter auf schäumendem Rosse an der Gartenthür des Ferry-Hotels im Pointe-Coupé in Louisiana hielt und mit donnerndem Klopfen und lautem Ruf die schläfrigen Bewohner zu wecken versuchte. – Endlich öffnete sich die grüne, auf die Gallerie führende Thür des Hauses und der Wirt steckte den Kopf heraus. »Wer lärmt denn da vorn, als ob es heller Mittag wäre?« rief er; »glaubt Ihr, daß Leute, die um zwei Uhr zu Bett gehen, auch um vier Uhr gewöhnlich wieder aufstehen?« »Seid Ihr es, Röttken?« frug der Reiter, indem er sich aus dem Sattel schwang und den Zügel seines schnaubenden Thieres an einen durch die Latten ragenden kleinen Zweig befestigte. »Macht auf, schnell – ich habe Eile und muß gleich wieder fort.« »Wer zum Henker seid Ihr denn überhaupt?« frug Röttken wieder, ohne die Thür weiter aufzumachen, denn der Wind zog kalt und unfreundlich aus Nordwesten hernieder; »glaubt Ihr, ich kenne die ganze Ansiedelung an der Stimme?« »Nun,« lachte er draußen, »Ihr seid der Sache diesmal ziemlich nahe gekommen; zum Henker gehöre ich auch mit, und überhaupt geht den Henker mein Besuch heute Morgen besonders an, denn seinetwegen kam ich her – ich bin der Constabler.« »Oh, Bedford, Ihr seid's!« rief der Deutsche – »nun wartet, ich mache den Augenblick auf, will mir nur erst etwas überwerfen.«
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Damit zog er sich für kurze Zeit zurück, erschien aber gleich wieder an der Thür und öffnete die beiden inwendig vorgelegten Riegel. »Guten Morgen, Röttken!« sagte der Eintretende und schüttelte die dargebotene Hand, »guten Morgen! schließt mir aber vor allen Dingen erst einmal Euren Schenkstand auf. Der unfreundliche Morgenwind hat mich auf eine merkwürdige Art ausgetrocknet.« »Was führt Euch denn in aller Welt vor Tagesanbruch hierher?« frug Röttken erstaunt, indem er dem ihm Folgenden voran in's Haus schritt und dort ein Licht anzündete. »Das sollt Ihr bald erfahren,« entgegnete der Constabler; »vor allen Dingen erst etwas zu trinken, dann schickt augenblicklich Euren Hausknecht zur Wache an die Fähre und Kähne hinunter, und laßt ihn dieselben, außer er wird abgelöst, mit keinem Schritt verlassen.« »Hallo – hinter wem seid Ihr wieder her?« frug Röttken verwundert, indem er die in den Schenkstand führende Thür aufschloß und Flaschen und Gläser herausholte. »Ein fürchterlicher Mord ist gestern Abend geschehen,« fuhr Bedford fort – »Banizet, oben in PointeCoupé, gerade über Morgan's Plantage – Ihr kennt ja den Platz – hat seine junge hübsche Frau mit der Axt erschlagen und ist entflohen.« »Höll' und Teufel!« rief Röttken, überrascht zu ihm aufschauend. »Glücklicher Weise,« erzählte der Constabler weiter, »ritt einer der dort wohnenden Creolen noch spät am Abend vorbei, und das Schreien und Jammern der Kinder, das er an der Straße – obgleich die Wohnung wohl zweihundert Schritt abwärts liegt – hören konnte, machte ihn aufmerksam; er hing seines Pferdes Zügel über die Fenz, 4
ging durch das kleine Baumwollenfeld zwischen der niedern Hütte und dem Fahrweg, und öffnete die Thür. – Ihr kennt Luizot, er ist ein großer, starker Mann, aber er schwur mir's zu, daß er bei dem Anblick, der sich ihm dort bot, vor Entsetzen in die Kniee gesunken sei. Das Feuer im Kamin brannte hell, und neben ihm, von der rothen flackernden Glut beleuchtet, stand mit bleichem Antlitz der Mörder; das schwarze lockige Haar wild um seine Schläfe flatternd – in der Hand noch, wohl bewußt, die Axt, mit der er den tödtlichen Streich geführt. Zu seinen Füßen aber, das blasse, schöne Antlitz von Blutflecken entstellt, die langen, rabenschwarzen Locken mit dem rothen Lebensstrom getränkt und die Stirn weit klaffend gespalten, lag sein Weib, während sich die Kinder, von Todesfurcht und Angst getrieben, in einen Winkel geflüchtet hatten und den kleinen Raum mit ihrem Zetergeschrei erfüllten. »Banizet hörte das Eintreten des Freundes nicht, sah ihn selbst nicht; starr nur hafteten seine Augen an der leblosen Gestalt des gemordeten Weibes, und ein geisterhaftes Lächeln stahl sich über seine Züge. Da rief Luizot seinen Namen, und wie von einer Kugel getroffen sprang er empor; die Axt entfiel seiner Hand, seine Blicke richteten sich auf die offene Thür und die Gestalt des Mannes, und in dem Moment schien auch das ganze Schreckliche seiner That wie seiner Lage auf einmal vor ihm aufzusteigen. »Mord! Mord!« schrie er, daß selbst die Kinder einen Augenblick, von den nicht mehr irdisch klingenden Tönen erschreckt, still schwiegen, und floh mit einem Satz in die benachbarte Kammer und von da in's Freie. Luizot versuchte ihm zu folgen, vielleicht mehr in der Absicht, ihn zu trösten, als zu fangen, aber es war nutzlos; in den 5
Baumwollenfeldern vermochte er ihn nur eine kurze Strecke im Auge zu behalten, bis er die Fenz erreichte, welche Morgan's Zuckerplantage umschließt und wo er in dem dichten Rohr augenblicklich verschwand. Luizot ging jetzt zu dem Hause zurück und nahm die Kinder von dem Schreckensorte mit sich fort zu seiner eigenen Wohnung, weckte aber unterwegs an mehreren Orten die Nachbarn, erzählte das Vorgefallene und forderte sie auf, Hülfe zu leisten. – Hülfe? Die arme Frau bedurfte keiner Hülfe mehr, aber Rache wollten die Männer, und der größte Theil von ihnen durchstreift jetzt in allen Richtungen die Felder und den Sumpf, während Einer zum Richter herunter sprengte und unterwegs alle die Pflanzer, welche Kähne am Ufer haben, aufforderte, dieselben zu bewachen. Zu gleichem Zweck ist ein Bote bis hinauf nach Fischer's Laden gesandt, und ich will hinunter bis Waterlow; also, habt Acht auf Eure Kähne hier, denn es ist sogar wahrscheinlich, daß der Bursche bis hierher durch die Felder geflüchtet ist, und hier unten entweder Eures oder eins von Taylor's Booten zu benutzen gedenkt.« »Nun, tragt keine Sorge,« versicherte Röttken – »mein Hausknecht soll mit der Doppelflinte am Ufer Wache halten, sich aber wohl in Acht nehmen, dem Hund den Hals nicht zu beschädigen, damit Ihr ihn noch bequem hängen könnt.« »Das wäre also abgemacht,« entgegnete der Constabler und leerte sein zweites Glas Brandy – »jetzt muß ich aber fort; übrigens mag sich Einer von Euren Männern immer ein wenig rüsten, denn wir brauchen viel Leute, um ihn aufzustöbern, da er die Sümpfe oder Felder noch nicht verlassen haben kann. Wie ich höre, wollen Morgan und Beauvais ihre sämmtlichen Sclaven aufbie6
ten, und vielleicht beweg' ich Taylor hier unten auch noch dazu, wenn sich der verdammt geizige Bursche überhaupt bewegen läßt; dann können wir eine richtige Jagd anstellen. Also ade, macht Eure Sachen gut und paßt gehörig auf.« Damit trat er wieder vor die Thür, schwang sich in den Sattel und galoppirte auf seinem kleinen Mustang den breiten Fahrweg entlang, welcher sich zwischen den eingefenzten Feldern und dem Mississippi am Fluß hinunterzog, der etwa eine Meile tiefer liegenden Plantage des alten Taylor zu. Röttken folgte indessen den gegebenen Anweisungen und der Hausknecht, ein geborener Elsässer, der nun freilich noch keine Flinte in der Hand gehabt hatte, hier aber als Wachtposten für tüchtig genug befunden wurde, trat eben in die Thür, um nach den Booten hinabzugehen, als einer der Neger, die im Hause mit arbeiteten, an den Wirth heranglitt und ihm zuflüsterte: »Massa – Massa – da – über Straße weg – Mann schleichen – weiße Hosen!« »Der Teufel auch!« rief Röttken; »weißt Du das gewiß, Scipio?« »Ich sicher!« sagte dieser – »gerade dort an Ecke.« »An Deinen Posten, Gottlieb, schnell!« rief Röttken, indem er seine Büchsflinte ergriff. »Ist's der Schurke, so soll er nicht lebendig fort; aber dort kommen wahrhaftig auch schon die Creolen – gut, jetzt haben wir ihn sicher! – Du, Scipio, schleichst Dich an der Levée Der aufgeworfene Damm am Mississippi. hin. Hier, nimm den alten Säbel und hau' den Kerl in die Beine, wenn Du nahe genug kommst und Du, Gottlieb, bleibst hier hinter dem kleinen Busch liegen oder hinter dem alten Stamm dort, wo Du die Boote beschießen kannst – Du hast doch schon geschossen?« 7
Gottlieb grunzte: »Ich werde doch schießen können!« »Gut, kommt er zum Boot, so rufst Du ihm zu, sich zu stellen, und thut er's nicht – Feuer! aber auch in die Beine – schont des Schurken Hals. Ich will indessen ganz offen auf der Straße hinuntergehen und pfeifen, als wenn ich von gar nichts wüßte, bis ich ihm den Weg abgeschnitten habe – also an's Werk!« Scipio war schon katzenartig, mit einem gewaltigen alten Cavalleriesäbel in der Hand, fortgekrochen und auch Gottlieb hatte seinen Platz eingenommen; die Creolen aber hielten einen Augenblick neben der Kirche bei einem ihrer Bekannten, um diesen wahrscheinlich zur Theilnahme aufzufordern. Banizet – die Gestalt, welche das scharfe Auge des Negers über die Straße hatte gleiten sehen – schlich indeß dicht am Wasserrand, unter dem Schutz einiger dort angeschwemmten Stämme, den Booten zu, die, wie er wußte, nie angeschlossen lagen, um womöglich das andere Ufer zu erreichen und wenigstens der augenblicklichen Gefahr des Gefangenwerdens zu entgehen. Daß der Eigentümer der Boote gewarnt war, wußte er, denn er hatte das Pferd des Constablers auf der Straße hinabgaloppiren sehen; er hoffte aber, ihn noch nicht vorbereitet zu finden und näherte sich schnell den an der großen Fähre angehangenen Kähnen, dabei gleichwohl das Ufer und den über ihn hinausragenden Damm scharf im Auge behaltend. Da sah er, wie sich etwas hinter einem der Stämme bewegte – es war Gottlieb, der, um bequemer zu sitzen, in seinem Versteck herumrutschte und dabei die Flinte hoch emporhielt, damit sie nicht etwa von selber losgehen möchte. – Zu gleicher Zeit vernahm er das Pfeifen des Deutschen auf der Straße und wußte sich augenblicklich entdeckt. Nur ein rascher Entschluß 8
konnte ihn retten, und seine Verfolger nicht mit Unrecht alle unterhalb der Boote vermuthend, schlich er schnell und geräuschlos auf seiner Bahn fort, ließ sich, von einer alten Baumwurzel bedeckt, leise in das Wasser und bewegte sich langsam bis an die Boote hinan. Wohl sah er ein, daß es nicht möglich gewesen wäre, unter diesen Verhältnissen eins zu entführen, watete daher hinter ihnen hinauf bis zur Fähre, passirte sie ebenfalls und kroch nun gerade über derselben an's Land. Seine einzige Rettung lag jetzt darin, die ihn verbergenden Felder und den Sumpf dahinter wieder zu erreichen, denn die Flucht über den Strom war ihm für den Augenblick abgeschnitten; er kauerte sich also hinter eine dort am Ufer aufgesetzte halbe Klafter Holz nieder, strich mit den Händen das Wasser aus den Haaren und Kleidern, zog sogar seine Stiefeln aus, um auch diese von dem Wasser zu befreien, welches, darin gesammelt, ihn auf der Flucht zu sehr gehindert haben würde und war eben mit allen Vorrichtungen fertig, als er die Hufschläge der herangaloppirenden Creolen vernahm. Daß es seine Verfolger waren, wußte er, und es galt nun, das Aeußerste zu wagen oder gefangen zu werden. Mit gewaltigem Sprung setzte er gleich beim Anlauf über einen dort liegenden Stamm hinweg und rannte die steile Uferbank hinauf. Gottlieb, mit der Flinte in der Hand, hatte nun zwar aufgepaßt, aber keineswegs auf dieser Seite den Verfolgten vermuthet und erschrak so über das plötzliche Auftauchen des Flüchtigen, daß sein Finger unwillkürlich den Drücker berührte und der Schuß in die Luft ging. In demselben Augenblick erreichte Banizet den Kamm des niedern Dammes und sah sieben oder acht Reiter in gestreckter Carrière, durch den Schuß zur wildesten Eile angespornt, kaum hundert Schritt von sich 9
entfernt heransprengen; aber nicht minder nahe war ihm Gottlieb, der jetzt, seinen Fehler wieder gut zu machen und gar nicht an das zweite, noch geladene Rohr denkend, mit gehobenem Flintenkolben herbeieilte. Von beiden Seiten bedrängt, blieb ihm keine Wahl, als die zehn Fuß hohe Fenz, welche den Weg entlang lief, zu überklettern und ohne sich zu besinnen, durchmaß er mit wenigen Sätzen den Fahrweg und klomm an den übereinander gelegten Stangen katzenschnell empor. Aber auch die Creolen sprengten heran und Scipio mit seinem Säbel war kaum noch zwei Schritt von ihm, als er sich auf den obersten Riegel schwang. Unter ihm brach das morsche Holz zusammen, doch stürzte er in das Innere der Einfriedigung und floh im nächsten Augenblick durch eine etwa hundert Schritt breite Wiese, die am andern Ende ein eben solcher Zaun von den dahinter liegenden Feldern trennte. Zwar wurden, als er den offenen Raum durchlief, mehrere Pistolen nach ihm abgefeuert, glücklich erreichte er aber die zweite Fenz und hatte auch diese schon erstiegen, als wieder ein Schuß fiel und der Flüchtling einen wilden Schmerzensschrei ausstieß. Es war Röttken's Büchse gewesen. Dieser, der eben auf dem Kampfplatz anlangte, als Banizet über den eingefenzten Raum sprang, hatte nicht eher zum Schuß kommen können, bis Jener sich, an der steilen Fenz emporkletternd, einen Augenblick stille halten mußte. Seine Kugel saß. Der Verwundete entkam aber doch in das dahinter liegende Feld und war in wenig Augenblicken zwischen den Baumwollenstauden verschwunden. Der Tag begann indeß zu dämmern und ein feuchter, dünner Nebel legte sich auf das niedere Land der Ansiedelung, bis er, sich immer mehr verdichtend, bald in schweren, undurchsichtigen Massen auf der Oberfläche 10
des Stromes ruhte und, von den einzelnen Windstößen nicht getrennt, fast wie ein ganzer, in sich selbst zusammenhängender Körper fortgeschoben zu werden schien. Die Creolen waren sämmtlich von den Pferden gesprungen, befestigten diese an der Fenz und wollten eben dem Flüchtigen folgen, als ein großer gelber Hund, von der Brakenart, heulend auf einer Fährte unterhalb des Hauses über die Fenz sprang, zum Rand des Wassers lief, diesem aufwärts bis da, wo Banizet wieder an's Ufer gekrochen war, folgte, hier an dem aufgeschichteten Holz einen Augenblick stehen blieb, dann die Spur seines Herrn, denn Alle erkannten ihn für Banizet's Hund, annahm und im Begriff war, sich durch die Fenz, die er nicht überspringen konnte, zu pressen, als sich Scipio in demselben Augenblick, da er mit halbem Leibe hindurch war, auf Ihn warf. Es gelang ihm auch, das aus allen Kräften dagegen ankämpfende und wild um sich beißende Thier, mit Hülfe einiger Anderen, die schnell seine Absicht erriethen, zu halten und eine Leine, die Röttken aus dem Hause holte, um seinen Hals zu befestigen. »Yah – yah – yah –« lachte der Neger still in sich hinein, als der Hund endlich ein wenig ruhiger wurde. »Jetzt keine Noth mehr – eigene Hund findet am besten eigenen Herrn – Massa, Hund halten – Scipio legt Fenz nieder;« und damit beeilte er sich, als er mehrere der Creolen um den Hund beschäftigt sah, der noch immer sein Bestes versuchte, ihren Händen zu entgehen und der Spur des Herrn zu folgen, die einzelnen Fenzstangen auseinander zu legen, um einen Durchgang zu bilden. Bald war das geschehen, schnell die innere Einfriedigung durchschritten, wo das treue Thier den es an der Leine Führenden fast im Lauf hinter sich her zog und an der zweiten Fenz wieder von Zweien gehalten werden mußte; jetzt aber 11
witterte es den Fleck, auf den sein Herr niedergesprungen und der mit dessen Blut benetzt war. Es blieb stehen – beroch die Fenz und dann die Erde – nachher die mit Blut benetzten Gräser und Blätter – hob den Kopf in die Höhe und stieß dann ein solch' klagendes, wildes Geheul aus, daß selbst die Creolen sich schaudernd ansahen und Keiner ein Wort zu sprechen wagte. Nicht lange aber dauerte bei dem treuen Thier dieser Ausbruch des Schmerzes; in rastloser Eile folgte es jetzt, so schnell es ihm die Leine verstattete, der Fährte des Entflohenen durch das lange Baumwollenfeld bis zu der Stelle, wo es vom Sumpf begrenzt wurde; auch hier noch watete der Hund, hier und da die im Wasser sich verlierende Spur an heruntergebrochenen Aesten und im Sumpfe umhergestreuten Stämmen wieder erkennend, weiter vorwärts, bis er endlich zu tieferen Stellen (einer der unzähligen natürlichen Lagunen, aus dem der größte Theil jenes Landstrichs besteht und die sich oft zu kleinen Seen ausdehnen) kam und diese nicht durchschwimmen wollte. Vergebens suchte er mit regem Eifer am Ufer hin und her, oft einhaltend und durch kurzes Geheul und Gebell seinen Herrn scheinbar zur Antwort auffordernd, immer kehrte er aber wieder zur Stelle zurück, wo dieser das tiefere Wasser betreten und sich einen Durchweg gebahnt hatte. Vergebens blieben alle Versuche, den Hund zum Durchschwimmen dieser Wasserfläche zu bewegen; er witterte seinen grimmen Feind, den Alligator, und der Instinct sagte ihm, daß er rettungslos verloren sei, sobald er sich diesem preisgebe. »Diable!« fluchte einer der Creolen (es war der Bruder der gemordeten Frau), »sollen wir hier durch solch' schmalen Wasserstreifen aufgehalten werden und uns die sichere Beute entgehen lassen? Höll' und Teufel, nein, 12
den Schurken muß ich hängen sehen, und wenn ich ein ganzes Jahr lang zwischen allen Alligatoren Louisianas umherwaten müßte; ich trage den Hund hindurch, wer folgt mir?« Alle Creolen, selbst Röttken, zeigten sich bereitwillig, Gottlieb aber und Scipio zogen vor, am Ufer zu bleiben, und der Letztere meinte sehr ruhig: »Alligator – gescheidtes Vieh – mag nicht weißen Mann – Nigger und junge Ferkel sein Leibessen!« Gottlieb war dabei sehr zufrieden, in dem Schwarzen einige Gesellschaft zu finden, denn es würde ihm, wie er diesem offen gestand, höchst unbehaglich zu Muthe gewesen sein, zwischen all' den langen schwarzen umherschwimmenden »Beestern« allein zu bleiben, jener Creole aber nahm den Hund, der ihn kannte, auf die Arme und durchschritt, von den Anderen gefolgt, die etwa gürteltiefe Fluth. Wohl schwammen Massen gieriger Alligatoren in dem warmen stehenden Wasser des Sumpfes herum, scheu wichen sie aber vor den sich ihnen nähernden Weißen zurück. Nur einmal, als der Hund, durch den ihn Tragenden etwas gedrückt, winselte, wandten sich mehrere der kühnsten und größten und folgten den Männern, die jedoch bald das Ufer erreichten. Dort ließen sie den Hund wieder auf die Erde, und in wenigen Secunden hatte dieser auch die Fährte seines Herrn auf's Neue gefunden, der er winselnd und an der Leine zerrend folgte. Sie brauchten nicht weit mehr zu suchen, kaum zweihundert Schritt vom Rand des Wassers, auf einem umgestürzten Stamm, den Rücken an eine Cypresse gelehnt, halb in dem grauen wehenden Moos, das von den benachbarten Bäumen herabhing, verborgen, saß der Unglückliche und erwartete ruhig seine Verfolger. 13
Kaum erblickten ihn diese, als sie den Hund frei gaben, der jauchzend auf seinen Herrn zu und an ihm hinaufsprang; der Arme konnte ja nicht ahnen, daß er gerade durch seine Treue zum Verräther geworden. Schlechter Dank und Gruß aber erwartete ihn hier; mit dem linken Arm umfaßte Banizet, der schnell ersah, auf welche Art seine Feinde ihn überholt hatten, das ihn liebkosende Thier und stieß ihm mit der rechten Hand dreimal sein kurzes Messer in's Herz. Zusammenzuckend winselte der arme Pluto in seines Herrn Arm, leckte noch einmal die Hand, die ihm den Todesstoß gegeben, und fiel, als jener ihn freiließ, leblos und schwer zur Erde nieder. Das Messer blinkte jetzt auf's Neue in des Creolen Hand, und schon hob er es, sein eigenes Herz damit zu treffen – feige Todesfurcht aber senkte die Waffe und widerstandslos ließ er sich von den früheren Freunden, seinen grimmigsten Feinden jetzt, ergreifen und binden. Röttken's Kugel war ihm durch den linken Oberschenkel gegangen, und vom Blutverlust erschöpft, hatte er nicht weiter gekonnt, doch die Hoffnung gehegt, seine Verfolger durch den sumpfigen, mit Wasser gefüllten Boden, der nur hier und da kennbare Spuren zurückließ, zu täuschen. Gottes Hand lag aber auf ihm, und sein treuester Freund mußte das Mittel werden, das ihn den Händen der Gerechtigkeit überlieferte. Der Bruder der Ermordeten stimmte nun zwar dafür, Ihn, um weiter keine Umstände mit ihm zu haben, augenblicklich an Ort und Stelle zu hängen; das wollten aber die Anderen nicht zugeben, Röttken besonders schien jetzt Mitleiden mit dem Armen zu fühlen, verband seine Wunden und sprach ihm Muth ein. Widerstandslos ließ dieser Alles mit sich geschehen; nur als sie ihn aufgehoben hatten und forttragen wollten, bat er die Männer, 14
einen Augenblick einzuhalten und ihn seinen Hund noch einmal sehen zu lassen. – Es waren die ersten Worte, die er sprach; selbst bei dem Vorschlag, ihn an derselben Stelle aufzuhängen, hatte er keine Silbe erwidert, sondern nur starr vor sich niedergesehen. So etwas Ernstes und fast Unheimliches lag aber in dieser Bitte, daß Alle schweigend und augenblicklich gehorchten und ihn auf den Stamm, auf dem er eben gesessen hatte, zurückgleiten ließen. Starr und sprachlos betrachtete er jetzt einige Minuten lang das schöne Thier, das ausgestreckt und mit Blut bedeckt zu seinen Füßen lag, dann bog er sich hinunter – ganz hinunter zu ihm, bis sein Mund die Schulter desselben berührte, drückte einen langen Kuß auf den erkalteten Leichnam und flüsterte leise: »Du warst mein letzter Freund!« Zwei Thränen glänzten in seinen großen schwarzen Augen, er schien sich aber plötzlich der Schwäche zu schämen, richtete sich an dem Stamm in die Höhe, sah Alle im Kreise an und sagte: »Messieurs, ich bin bereit!« Abwechselnd trugen ihn jetzt die Männer, erst durch die Lagune und später, von Scipio und Gottlieb unterstützt, über das trockene Land, dem Mississippi zu und lieferten ihn endlich ohnmächtig, denn die übergroße Aufregung und Anstrengung, wie die schmerzende Wunde hatten ihn betäubt, den Händen des Gefangenwärters und Vice-Sheriffs, eines Deutschen Namens Fritz Haydt, mit dem Bedeuten ein, diesen besser zu bewahren als die früheren Gefangenen, die er fast regelmäßig hatte entwischen lassen. Flucht war jedoch von Banizet nicht zu befürchten, seine Wunde würde ihn allein schon daran verhindert haben, darum schloß ihn sein Kerkermeister auch nicht weiter an, sondern verwahrte nur sorgfältig die 15
schwere eichene Thür, die zu seiner vergitterten Zelle führte. Erst zwei Monate später fiel der Gerichtstag und der Gefangene mußte indessen geduldig seinem Schicksal entgegensehen; Weniges aber sprach, als endlich der entscheidende Tag heranrückte, im Verhör zu seinen Gunsten. Eifersucht war es, die ihn, seiner Aussage nach, zu dem fürchterlichen Verbrechen antrieb, ungegründete Eifersucht, aber in blinder Leidenschaft wollte er sie schuldig wissen und hatte an jenem unseligen Abend, spät aus der nur wenige Meilen entfernten Schenkwirthschaft heimkehrend, geglaubt, eine dunkle Gestalt über die Fenz klettern zu sehen. Vom Wein erhitzt, stürmte er in das Hans, fand in dem Erschrecken, das sein tobender Eintritt der armen Frau verursachte, das Bekenntniß ihrer Schuld und schlug sie mit der unglücklicher Weise in der Stube lehnenden Axt zu Boden. Das Gericht der Geschworenen fand ihn einstimmig für »schuldig« und verurtheilte ihn, »am Halse aufgehangen zu werden, bis er todt, todt, todt sei!« Durch die ganzen Vereinigten Staaten von Nordamerika ist es das ausschließliche Amt des Sheriffs, den Urtheilsspruch des Gesetzes zu vollziehen, ausgenommen, er hat einen Vice- oder Deputy-Sheriff, wie es hier der Fall war, dem dann das Geschäft des Aufhängens übertragen wird. Fritz Haydt aber, noch in dem alten europäischen Glauben erzogen, daß ein Menschenleben, auf gewaltsame Weise und obrigkeitlichen Befehl genommen, die Hände des den Befehl Ausführenden unehrlich mache, sah mit Entsetzen dem dritten Tag entgegen und Manche wollten behaupten, daß er schon Pläne gemacht, den Gefangenen, dessen Wunde jetzt vollkommen geheilt 16
war, entwischen zu lassen, einzig und allein, um das Urtheil nicht selbst an ihm vollstrecken zu dürfen. Da kam aus den Atchafalaya-Ansiedelungen herunter ein Krämer oder Pedlar mit seinem grünlackirten zweispännigen Wagen angefahren und hielt vor dem Ferry-Hotel, um dort sowohl zu übernachten, als auch an die vielen Gäste, die sich der am nächsten Tage stattfindenden Hinrichtung wegen versammelt hatten, seine Waaren abzusetzen. Sein Name war Wolf. Da er Fritz Haydt seit langen Jahren kannte, ging er noch vor dem Abendessen zu diesem in seine kaum dreihundert Schritt vom Hotel gelegene Wohnung, das Gerichtshaus, hinüber, um ihn zu besuchen und ein wenig mit ihm zu plaudern, fand ihn aber sehr niederschlagen und erfuhr bald die Ursache seiner Betrübniß. »Fünfzig Piaster gäb' ich drum,« sagte der DeputySheriff und schlug mit der Faust auf den Tisch, »fünfzig harte Piaster, wenn ich Jemanden fände, der mir den Dienst abnähme.« »Vorausbezahlt?« frug Wolf und sah ihn mit zweifelndem Blick an. »Vorausbezahlt! – hier auf der Stelle,« rief Haydt, dem bei diesen Worten neue Hoffnung zu dämmern schien. »Wolf – Gold-Wölfchen, wollt Ihr mit einem einzigen Knoten fünfzig harte Piaster verdienen?« »Werden sie mich aber lassen?« frug Wolf zweifelnd, »da könnte ja doch jeder kommen.« »Jeder kann kommen!« unterbrach ihn mit ungeduldiger Hast der kleine Vice-Sheriff, »Jeder kann kommen, und wenn der Gottseibeiuns käme und wollte es sich zum besondern Vergnügen machen, den Mann zu hängen, so hätte das Gericht nichts dawider – Wölfchen! er soll ja
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nur gehangen werden, – wer ihn hängt, ist ganz gleichgültig.« »Ich weiß aber nicht,« fuhr Wolf überlegend fort, »es ist Einem doch ein ganz eigenes Gefühl, wenn man einen Menschen umbringen soll!« »Aber Ihr bringt ihn ja gar nicht um, Wölfchen!« bat Fritz Haydt weiter, »das Gericht bringt ihn um, das Gericht hat ihn schon umgebracht, nur mit dem Urtheilsspruch – Ihr steht blos auf der Leiter und macht eine Schleife; wenn nun die heilige Justiz in diese Schleife eines Menschen Kopf hineinsteckt, da könnt Ihr doch nichts dafür!« »Ja, das möchte noch gehen,« sagte Wolf, »aber nachher die Stütze unten wegzuziehen – daß die Klappe niederfällt – ich weiß nicht, das ist mir gar zu schauerlich.« »Ihr braucht Eure Hand nicht dran zu legen,« redete ihm Haydt zu, »das könnt Ihr mit dem Fuß thun, und – es ist gerade wie beim Strick, bester Wolf; Ihr habt ja den Verbrecher nicht da oben hingestellt, das fällt doch immer wieder auf die Richter zurück!« »Nun meinetwegen,« rief Wolf endlich, »wenn man sich nachher wieder wäscht, wird's eben so gut sein.« »Ihr willigt also ein?« frug Haydt. »Hier ist meine Hand,« sagte Wolf. »Topp!« schrie der Kleine und lief augenblicklich zu seinem Koffer, aus dem er die fünfzig Dollars herausnahm und dem Krämer einhändigte. »Aber mein längerer Aufenthalt hier in Pointe-Coupé« wandte dieser ein – »die lange Wirthsrechnung –« »Bezahle ich,« unterbrach ihn Haydt, »das soll weiter kein Hinderniß sein. Ihr könnt auch vielleicht noch in dieser Zeit gute Geschäfte mit Eurem Handel machen. Alle Einwohner von Bayou Sarah und St.-Francisville 18
drüben, alle Pflanzer vom Fausserivière und Waterlow, wie aus der Pointe-Coupé-Ansiedelung und den Atchafalaya-Niederlassungen werden sich morgen hier einfinden.« »Gut, unser Handel ist geschlossen,« erwiderte Wolf, schlug noch einmal ein und half Haydt nachher ein paar Flaschen Rothwein leeren, die dieser aus einem Kistchen unter seinem Bette vorholte. Nach dem Abendessen setzten sie ihr Gelage fort; der Deputy-Sheriff mußte dem Krämer aber sein Wort geben, keine Silbe ihres Vertrags gegen irgend Jemand, den Ober-Sheriff ausgenommen, zu erwähnen. Hell und klar brach der andere Morgen an; eine ungeheure Menschenmasse hatte sich, um der Execution mit beizuwohnen, in dem und um das Hotel aus der ganzen Nachbarschaft versammelt und betrachtete sich indessen den Galgen, der etwa fünfzig Schritt vom Gerichtshaus, unfern eines kleinen massiven Gebäudes stand, das in früheren Zeiten, als die Spanier noch jenen Landstrich bewohnten, zu einem Pulverhaus benutzt worden war. Endlich schlug die bestimmte Stunde – es war elf Uhr – und aus dem Gefängniß herab führten zwei Sclaven den Verurtheilten dem Schaffot zu. Dicht hinter diesem gingen der Ober- und Deputy-Sheriff, vom Constabler und mehreren anderen Gerichtspersonen gefolgt, und ein Gemurmel der Verwunderung durchlief die Menge, als sich auch der Krämer zwischen ihnen sehen ließ; noch ahnte aber Niemand den geschlossenen Handel. Der Zug erreichte indessen den Fuß des Galgens, und der Verurtheilte, von dem zu ihm getretenen katholischen Geistlichen unterstützt, hatte sein letztes Gebet gehalten, als er, indem er die Leiter betreten wollte, den Krämer dicht hinter sich sah und erstaunt stehen blieb. 19
»Was wollt ihr?« frug er diesen leise, aber mit deutlicher, fester Stimme. Wolf zögerte verlegen einige Secunden, das Blut schoß ihm in Strömen nach dem Gesicht, und er stotterte einige unzusammenhängende Worte. Fritz Haydt trat aber in diesem Augenblick vor und erklärte, daß »Monsieur Wolf befugt sei, sein (des Sheriffs) Amt für heute zu versehen, und daß der Ober-Sheriff seine Einwilligung dazu gegeben habe«. Wolf zog dann, während Banizet's Gesicht leichenblaß wurde, den verhängnißvollen, schon zurechtgemachten Strick aus der Tasche und folgte dem langsam Voransteigenden, um die Execution zu vollziehen. Doch weshalb länger bei diesem schauerlichen Bilde verweilen? Der Urtheilsspruch wurde vollstreckt und der Leichnam nach einer Stunde wieder abgenommen und beerdigt. Wolf aber ging mit dem Deputy-Sheriff in dessen Zimmer, um dort nach glücklich vollbrachter Arbeit alle unangenehmen Gefühle, die sich seiner etwa bemeistern mochten, zu vertrinken. Nicht so ruhig nahmen übrigens die Zuschauer – größtentheils Creolen oder Amerikaner und Franzosen aus dem gegenüberliegenden kleinen Städtchen Bayou Sarah – die Sache auf. Alle waren empört, daß sich ein Mensch für Geld – für erbärmliche fünfzig Dollars – (denn durch den Ober-Sheriff sowohl, als durch Fritz Haydt selber war die Thatsache bekannt geworden) dazu hergeben könne, einen Andern, und wenn er vom Gesetz verurtheilt sei, umzubringen. Zuerst traten sie zusammen und schimpften und fluchten über den feilen Schuft, und debattirten sich so nach und nach in immer größere Aufregung hinein, bis endlich Einer den Vorschlag machte, den käuflichen Henker zu züchtigen. 20
»Verdamm' ihn!« rief ein Creole in seinem gebrochenen Englisch – »wenn ein Mann sein Geschäft hat – wenn ein Mann vom Gericht dazu befugt ist, anderem Menschen Strick um den Hals zu legen, so laß ich gelten – aber damn him – Schurke nimmt Geld – verdient tüchtige Schläge!« »Schläge?« unterbrach ihn Einer der Bayou Saraher, »Schläge? wenn das auf unserer Seite vorgefallen wäre, so hinge der Schurke jetzt schon, wenn auch nicht an demselben Galgen – denn ein Verbrechen hat er nicht begangen – aber an dem nächsten Ast, den man finden könnte, und ich denke, der eine große Nußbaum dort wäre stark genug, ein Dutzend solcher vermaledeiten Krämerseelen zu tragen. Macht's mit ihm, wo wir ihn fingen, wurde er in die Höhe gezogen – damn him – er hängt noch, und so lange sich der Wind nicht dreht, mag er auch hängen bleiben.« »Wir wollen abstimmen!« rief ein langer Doctor aus Pointe-Coupé. »Wozu das?« schrie es von allen Seiten; »ist ein Einziger hier, der dagegen stimmt, den käuflichen Schurken zu hängen?« Alles schwieg. »Gut denn – fort mit ihm!« tobte die Menge – »wir haben der betrügerischen Krämer genug hier in Louisiana, fort an den Baum mit dem Schurken – laßt ihn erst ein Weilchen zappeln, und dann mag er sich zu Dem legen, mit dem er sein Sündengeld verdient hat!« »An den Galgen mit ihm!« überschrie jetzt wieder ein anderer Theil die Früheren – »Banizet war ein braver, tüchtiger Kerl, ehe er den schändlichen Mord verübte – das Querholz ist nicht schlechter durch ihn geworden!« »Nein, an den Baum!« riefen die Anderen. 21
Den Krämer zu hängen, waren Alle einig; das Wohin war noch der einzige streitige Punkt. Und wo hielt sich indessen die Hauptperson aller dieser Verhandlungen auf? wo war der gute »Monsieur Wolf«, wie ihn Fritz Haydt genannt hatte? Nicht ahnend, welches Gewitter sich über seinem unglücklichen Haupte zusammenziehe, hatte er eben mit dem kleinen DeputySheriff die zweite Flasche beendet und tanzte seelenvergnügt durch den sogenannten »Weidegrund« dem Hotel zu, vor dessen Thür, dicht am Ufer des Mississippi, sein Todesurtheil von mehr als zweihundert Menschen so gut als unterzeichnet wurde. Röttken begegnete ihm an der Hinterthür und zog ihn, da gerade jede Seele vor das Haus geströmt war, um dort der Versammlung beizuwohnen, in das Zimmer seiner Frau, das er augenblicklich hinter sich schloß. »Aber, Mr. Röttken – um Gottes willen, was machen Sie denn mit mir? warum schließen Sie mich ein?« lallte der Krämer mit schon ziemlich schwerer Zunge; »geben Sie mir lieber etwas zu trinken, ich bin merkwürdig durstig.« »Und wißt Ihr, was Euch droht?« frug Röttken, sich dicht zu ihm hinüber beugend – »wißt Ihr, was jene Menschenmenge über Euch beschlossen hat?« »Nun?« frug Wolf und seine Kinnlade senkte sich bedeutend. »Euch am Halse aufzuhängen, bis Ihr todt, todt, todt seid – sie sind nur noch nicht recht einig darüber, ob an den Galgen oder an den Nußbaum! Was würdet Ihr vorziehen?« »Mr. Röttken,« stammelte der zum Tod Erschreckte, dem die Ausführung einer solchen That keineswegs unwahrscheinlich erschien, indem derartige Gewaltstreiche, 22
besonders in der letzten Zeit, ziemlich häufig vorgefallen waren – »Sie scherzen wohl? Oh, sehen Sie nicht so ernsthaft dabei aus – Madame Röttken – Gott – wär' es denn wirklich wahr! Aber – Sie werden – Sie werden mich doch nicht ausliefern? Ach, um Gottes willen, kann man denn nicht nach dem Constabler schicken?« »Wenn ich mich nicht ganz in den Gerichten irre,« meinte Röttken kopfschüttelnd – »so sind Richter sowohl als Constabler schon um diese Zeit eine bedeutende Strecke von hier entfernt und übernachten heut Abend Gott weiß wo, nur um von einer Sache nichts zu hören, der sie doch nicht so leicht Einhalt thun können, vielleicht nicht einmal gern wollen – denn, hol's der Teufel, Wolf, es war ein erbärmlicher Streich von Euch, da für die paar lumpigen Dollars den Henker zu machen; ich hätte wahrhaftig selbst nicht übel Lust –« »Ach, bester Mr. Röttken,« bat der jetzt ganz nüchtern gewordene Krämer in Todesangst – »sie kommen – retten Sie mich – machen Sie mich dann schlecht, schlagen Sie mich, treten Sie mich – ich hab' es verdient – aber – liefern Sie mich den Menschen nicht aus« – und damit warf er sich auf die Kniee und verbarg sein Gesicht in den von dem breiten Bett herniederhängenden Decken. Er hatte recht gehört; die Berathung war beendigt und die Menge wälzte sich in das Haus und um die Gebäude herum, und schreiend und tobend riefen sie nach Röttken und dem Krämer. »Retten Sie mich um Jesu Christi willen,« flehte der Israelit in Todesnoth auf seinen Knieen und versuchte Röttken's Hand zu ergreifen. – »Retten Sie mich, wenn Ihnen Ihr eigenes Seelenheil am Herzen liegt – ach, Madame Röttken, Sie wollen mich doch nicht hier mit kaltem Blute morden sehen?« 23
»Wo ist der Krämer? Heraus mit dem Krämer!« tobte der Haufen. »Retten Sie mich,« flüsterte der Unglückliche mit verhaltener, zitternder Stimme; »verlassen Sie mich nicht, wenn Sie nicht Gott in Ihrer letzten Stunde verlassen soll.« »Röttken – Vater – rette den Mann!« bat die Frau; »Du wirst doch nicht zugeben, daß sie ihn aus Deiner Stube schleppen?« »Wo ist der Krämer? Heraus mit dem Hund!« schrie jetzt dicht unter den Fenstern die Menge. »Pack' ihn in das Bett, Emilie,« flüsterte der Deutsche schnell seiner Frau jetzt zu – »pack' ihn gut weg – nimm aus dem einschläfrigen Bett dort noch die schmale Matratze und lege sie auf die unsrige, hinter die kann er sich legen und sich an sie andrücken – dort werden sie ihn auch nicht vermuthen; ich will indessen suchen, die Bluthunde auf eine falsche Fährte zu bringen.« »Engel – Retter!« lallte der Krämer und wollte seine Hand ergreifen – dieser aber stieß ihn von sich. – »Fort!« rief er mit unterdrückter Stimme. »Spart Euren Dank – ich thu's nicht gern, denn – Gott verzeih' mir die Sünde – aber – ich glaube, ich möchte Euch selber hängen sehen!« Damit trat er hinaus vor die Thür, um weiter keinen Verdacht zu erregen und die tobenden Männer zu beruhigen, die jetzt wie eine wogende Fluth das Haus umrasten und den Israeliten verlangten. »Wo ist er? – Röttken – gebt ihn heraus – damn it, es kann Euch sonst selber schlecht gehen, wenn Ihr gemeinschaftliche Sache mit ihm macht – liefert ihn aus, oder wir durchsuchen Euer ganzes Haus und stecken es an, wenn wir den Schurken finden.« 24
»Zum Henker noch einmal,« rief Röttken, der seine Leute kannte – »steckt es doch an, wenn Ihr's wagt; dem Ersten aber, der sich mit einem Brande naht, schieß' ich eine Kugel vor den Kopf – was zum Teufel weiß ich von dem Krämer? Ihr habt doch Alle gesehen, daß er gleich nach der Execution zu dem Deputy-Sheriff gegangen ist – da werdet Ihr ihn wahrscheinlich finden. Fritz hat guten Wein und es sollte mich gar nicht wundern, wenn –« »Hinüber in's Courthouse,« tobte die Menge – »hinüber zu Fritz – hurrah – hurrah!« Und hinüber strömten sie in unaufhaltsamer Fluth, einen Act der Gerechtigkeit, wie sie es nannten, auszuüben und den in ihrer Meinung Schuldigen für seinen Frevel büßen zu lassen. Röttken eilte jetzt schnell an's Wasser, um zu sehen, ob die Boote frei wären, vorsichtig genug aber waren an diesen Wachen ausgestellt, um dem dem Tode Geweihten jeden Versuch zur Flucht abzuschneiden; ja es verteilten sich sogar schon einige Posten um sämmtliche Fenzen, die das Hotel und das daran grenzende Gerichtshaus umgaben und umzingelten dadurch förmlich den Platz. Jede Aussicht auf Flucht war abgeschnitten, denn daß die einmal Gereizten selbst nicht Röttken's Zimmer verschonen würden, wenn sie den Krämer nirgends anders fanden, war vorauszusehen. Röttken kehrte daher ziemlich niedergeschlagen zu seiner Frau zurück und theilte ihr seine Befürchtungen mit. »Hier könnt Ihr nicht bleiben,« wandte er sich zuletzt an den Krämer, der leichenbleich und mit stieren Augen dem Bett entstieg; »es hülfe Euch auch nichts. Ich glaubte im Anfang, es sei mehr ihr Plan gewesen, Euch zu erschrecken, als wirklich zu hängen; wie aber jetzt die ganzen Maßregeln getroffen sind, so unterliegt es keinem Zweifel mehr, daß sie es auf Euer Leben abgesehen ha25
ben. Ein Fuchs könnte nicht mehr hindurchschlüpfen – und ich fürchte, es bleibt uns kein Ausweg, als an die Gnade des Haufens zu appelliren.« »Gnade?« schrie entsetzt der Krämer – »Gnade? Hätten Sie die Wollust gesehen, mit der sie den Neger drüben aufhingen, wie sie dabei jubelten und tanzten; hätten Sie wie ich gesehen, wie dasselbe amerikanische Volk vor etwa einem Jahr einen Mulatten in St.-Louis verbrannte; wären Sie dabei gewesen, wie ich es war, als sie einen Pferdedieb in Tennessee an einen Baum banden und zum Ziel für ihre Büchsenkugeln machten: Sie würden nicht von Gnade reden, nicht an Gnade denken. – Der Panther übt eher Gnade, wenn er vierzehn Tage gefastet hat und ein Lamm säugt, der Wolf eher, der halb verhungert in eine Heerde einbricht. – Herr Röttken – retten Sie mich – Sie wissen noch einen Ausweg! Sie müssen noch einen wissen – es ist ja nicht möglich, daß ich auf solch' elende, schreckliche Art sterben soll!« – Er hielt die Hände vor das Gesicht und schluchzte laut. »Röttken,« bat dessen Frau – »kannst Du ihn nicht in der Cisterne verbergen?« Der Krämer horchte hoch auf. »Ja, bei Gott,« rief der Wirth – »an die hab' ich nicht gedacht – dort drinnen suchen sie Euch schwerlich; aber sie ist halb voll Wasser. – Wolf, könnt Ihr schwimmen?« »In meinem Leben hab' ich's nicht versucht,« antwortete dieser zitternd. »Nun, es lehnt eine Stange drin, an die könnt Ihr Euch halten,« sagte Röttken – »das Wasser ist acht Fuß tief, ich habe es erst heute Morgen gemessen; wir wollen nach einer Weile die Pferde tränken und ich denke, ich kann ohne Verdacht zu erregen drei Fuß herauslassen. Aber 26
schnell, das Hurrahgeschrei drüben kündet ihr Wiederkommen an, schnell ehe es zu spät wird und klammert Euch nur an die Stange an, die wird Euch über Wasser halten; wenn es dunkelt, erlös' ich Euch wieder.« »Wie soll ich Euch je danken!« schluchzte der Krämer. »Fort, fort, keine Redensarten mehr, hinein in's Wasser, und laßt die Stange nicht los.« »Aber wenn es zu tief ist?« frug Wolf ängstlich. »Ihr kennt das alte Sprichwort,« entgegnete Röttken – »was hängen soll, ersäuft nicht; das mag Euch trösten.« Damit trat er zuerst vor die Thür, um sich zu versichern, daß kein unberufener Zeuge den Verfolgten gewahren möchte; Niemanden aber als die um das Hotel herumpostirten Wachen konnte er sehen, und diesen verbarg eine junge Pfirsichbaum-Anpflanzung den Ort, wo die Cisterne stand. Die Cisterne war ein großes, rundes und hohes Gefäß, nach Art der Feuerfässer gearbeitet, von etwa acht Fuß oben wie unten im Durchmesser, circa sechzehn Fuß Höhe, und zur Hälfte mit Wasser gefüllt, stand aber nicht eingemauert in der Erde, sondern frei dicht neben dem Haus im Garten, durch starke eiserne Reifen umschlossen, mit einem Hahn unten daran, um das Wasser leicht herauslassen zu können, und war nur mit einzelnen, lose darüber hingelegten Brettern bedeckt, um dem Wasser die Luft nicht zu entziehen und dieses zu verderben. Eines dieser Bretter hob Röttken jetzt, da das Haus höher als die Cisterne stand, und er den obern Rand derselben, wenn er sich über die Gallerie bog, gerade mit der Hand erreichen konnte, in die Höhe, Wolf schlüpfte darunter durch, und die Stange, von der sein Retter gesprochen hatte, mit den Händen ergreifend und daran 27
niederrutschend, ließ er sich bis an den Hals in das keineswegs kalte Wasser hinab. Es war auch die höchste Zeit gewesen, denn kaum hatte Röttken wieder die Thür seiner Stube hinter sich in's Schloß gedrückt, als die Menge heranstürmte und, ohne erst um Erlaubniß zu fragen, das ganze Haus von oben bis unten hin durchschwärmte, um den Entflohenen oder Versteckten zu finden. Kein Kamin, kein Schornstein wurde vergessen; unter das auf vier Fuß hohen Backsteinsäulen gebaute Haus krochen sie nach allen Richtungen, die Ställe, die Küche, die Vorratskammer, die Negerwohnungen, Alles, Alles ward auf das Genaueste untersucht, selbst die Betten in Röttken's Stube entgingen nicht, wie dieser richtig vorhergesehen hatte, der allgemeinen Visitation. Es war aber umsonst, der Krämer blieb verschwunden, denn an die mit Wasser gefüllte Cisterne dachte Niemand. »Hol's der Henker, Röttken,« meinte endlich ein Sattler von St.-Francisville, den die Anderen »Capitain« nannten, »Ihr müßt den Burschen gut versteckt haben, oder er kann sich unsichtbar machen. Verdammt will ich sein, wenn ich weiß, auf welche Art er fort ist; bei Fritz steckt er auch nicht, da leg' ich einen Eid drauf ab, jeden Winkel haben wir durchsucht, selbst die Gefängnisse hat er aufschließen müssen. Aber das ist gewiß, zum Vorschein soll er wieder kommen, denn wir gehen nicht vom Platz weg, bis er da ist!« »Nun,« sagte Röttken, »dann richten Sie sich nur auf eine lange Zeit ein; ich glaube nicht, daß Der Louisiana, oder wenigstens den Feliciana und Pointe-Coupé-Parish je wieder mit seiner Gegenwart beehrt, er hat ein Haar darin gefunden – aber –«
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»Holla – was ist das?« rief der Capitain, aufmerksam werdend, »plätscherte nicht etwas in der Cisterne? Der Hund wird doch nicht –« »Ich habe einen jungen Alligator darin,« entgegnete Röttken rasch gefaßt. »Einen Alligator?« sagte der Capitain und sah den Deutschen forschend an. »Röttken, Röttken, wenn der Schuft in der Cisterne stäke –« »Seid Ihr unklug,« zürnte, sich ärgerlich stellend, der Wirth, »es sind acht Fuß Wasser darin!!« »Gebt mir eine Stange,« rief der Sattler, »irgend ein Stück Schilf oder Latte!« »Ja, eine Latte, eine Stange, dort eine von den Fenzstangen,« schrieen Mehrere aus dem Haufen, die sich um die Sprechenden gedrängt hatten – »wir wollen in die Cisterne gucken.« »Nun, Ihr glaubt doch wahrhaftig nicht, daß ein Mensch unter Wasser leben kann!« rief der Deutsche, jetzt ernstlich besorgt, daß sie den Schlupfwinkel des Unglücklichen entdecken möchten. »Gebt mir die Stange, Ihr sollt Euch überzeugen, wie tief das Wasser ist« – und damit stieg er auf die Brüstung, welche die Anderen umstanden. »Klettert nicht herauf, Kapitain, es ist Alles morsch und verfault hier oben,« rief er dabei diesem zu, der im Begriff war, ihm zum Rand des Wasserbehältnisses zu folgen, »Ihr könnt Hals und Beine brechen!« »Kümmert Euch nicht um meinen Hals,« lachte der Sattler, »erst will ich sehen, ob nicht dort etwa ein Hals drin steckt, den wir hier draußen brauchen.« »Nun denn, so kommt und seid verdammt!« fluchte Röttken und hob das Brett in die Höhe, unter welchem hindurch der Krämer in die Cisterne gestiegen war. Mit ihm erreichte der »Capitain« zu gleicher Zeit den Rand, 29
und sie schauten hinab – aber unten herrschte Todtenstille, nicht das Mindeste war auf der glatten Wasserfläche zu sehen, und nur die Stange lehnte noch wie früher in dem Behältnisse; Röttken sah den Amerikaner voll stummen Entsetzens an. »Euer Alligator scheint auf dem Boden zu sitzen,« sagte der Capitain, indem er auf die trübe Fluth niederschaute. »Ja!« hauchte Röttken und behielt kaum Stärke genug, sich oben an der Cisterne festzuklammern, als der Capitain, ihn anblickend, sein plötzliches Erbleichen bemerkte und gerade noch zur rechten Zeit hinuntersprang, um den Sinkenden aufzufangen. »Was zum Teufel,« rief er diesem zu, »was fehlt Euch denn, Ihr werdet ja so blaß wie eine Leiche, he, Wilkins – Long – George – helft mir doch – bei Allem, was heilig ist, Röttken wird ohnmächtig.« »Laßt's nur gut sein!« bat dieser, »mir ist schon besser, ich bin den ganzen Tag nicht recht wohl gewesen, es war nur ein Augenblick; – aber kommt – kommt, wir wollen einmal trinken – mich dürstet – kommt nur mit mir!« Die Männer begleiteten ihn an den Schenkstand und tranken mit ihm, wollten dann aber unbedingt auf ihre Posten zurückkehren, doch hatte sich jetzt das Blut der meisten schon abgekühlt, sie fluchten und schimpften nur noch gehörig auf den Krämer, dessen Verschwinden ihnen unbegreiflich blieb, brachen seinen Wagen auf und zerstreuten und zerstörten den größten Theil seiner Waaren, traten aber dann doch, freilich erst spät, theils auf der Fähre ihren Rückweg nach Bayou Sarah, theils auf ihren kleinen Mustangs, den Fluß hinab oder hinauf, den Heimweg an. 30
Lange schon war der letzte Hufschlag verklungen und das Plätschern der sich weiter und weiter entfernenden Ruder verhallt, Todtenstille lagerte auf der stillen Ansiedelung und nur der eintönige Ruf des Loon schallte von der gegenüber am Flusse liegenden Insel wie leise Todtenklage herüber, aber immer noch saß Röttken vor seinem Hause, auf der Gallerie, die den Strom überschaute, und starrte mit leichenähnlichem Antlitz und glanzlosen Augen auf die breite, trübe Wasserfläche des Mississippi. Anderthalb Stunden vergingen so, sein Weib bat ihn mehrere Male, in das Haus zu kommen – er rührte sich nicht, antwortete auf keine ihrer Bitten. Endlich scholl der hohle Laut in das Boot geworfener Ruder zu ihm herauf, die Fährleute waren zurückgekehrt und kamen jetzt, Segelstange und Ruder tragend, in die Gartenthür. Wie Röttken diese erblickte, stand er auf, winkte ihnen und sagte düster: »Kommt, wir wollen einen Leichnam begraben!« Mit wenigen Worten machte er nun die Männer mit dem fürchterlichen Schicksal des Unglücklichen bekannt und zog mit ihrer Hülfe den leblosen Körper des Armen aus der Cisterne. Seine Hände waren fest geballt, ein Krampf mußte ihn unfehlbar ergriffen oder der Schlag ihn gerührt haben; leise aber und jedes Aufsehen vermeidend, trugen sie ihn durch das Baumwollenfeld in den Sumpf und verscharrten ihn in einem schnell aufgeworfenen Grabe. »Fünfzig Dollars mit hinein?« frug Scipio, als sie den Leichnam ausgestreckt hatten. »Willst Du das Sündengeld?« wandte sich Röttken gegen ihn. »Ich – Massa – nein by golly,« rief der Schwarze, »ich nicht anrühren, und wenn's fünftausend wären.« 31
Das Grab war schnell vollendet, schwere Stämme und Aeste wurden nachher oben drauf gewälzt, und bald kreiste nur die Eule einsam und allein über dem öden, verlassenen Platz. Oft frugen nach dieser Zeit dort einkehrende Gäste Röttken, ob er den Krämer nicht wieder gesehen habe; er antwortete aber nie auf diese Frage und war lange nach jenem Vorfall still und in sich gekehrt. Am nächsten Tag sprang der Kessel eines nach NewOrleans gehenden Dampfbootes, und da sich der Verschwundene später nie wieder sehen ließ, ja nicht einmal durch Andere seinen Wagen und seine Pferde zurückverlangte, hieß es bald allgemein, er sei auf das Boot geflüchtet und dort von seinem Schicksal ereilt worden. Der Wagen blieb unbenutzt stehen und die Pferde liefen frei auf den dortigen Weiden herum, bis im nächsten Jahr ein anderer Krämer, der ebenfalls Wolf hieß, oder wenigstens vorgab so zu heißen, sich als Erbe meldete und Beides, da ihm Niemand widersprach oder sich überhaupt um die Sache kümmerte, in Beschlag nahm.
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Der Fischfang am Mississippi Am Ufer des Mississippi, im westlichen Tennessee, stand am Rande einer kleinen, kaum begonnenen Lichtung eins der unscheinbaren, niederen Blockhäuser, die überall, roh aus unbehauenen Stämmen aufgeführt, im westlichen, noch nicht stark bewohnten Theile von Nordamerika gefunden werden. Der Ansiedler, ein junger Mann Namens Dehart, hatte sich wenige Wochen nach seiner Verheiratung aus Kentucky, wo ihm die Bevölkerung zu dicht wurde, an das Ufer des Mississippi nach Tennessee zurückgezogen und nur darum das gesündere Klima des älteren, bergigen Staates gegen den ungesunden Boden des neu angebauten, sumpfigen Landstriches vertauscht, um, wie tausend Andere an demselben Strome, Klafterholz aus den gewaltigen Stämmen, welche die Thäler füllten, zu hauen und es dann an die vorbeifahrenden Dampfboote zu verkaufen. Auf das Holz selber hatte er freilich das nämliche Recht, welches etwa der Kaiser von China oder irgend eine andere, unbekannte Herrlichkeit beanspruchen konnte. Mit den Gesetzen seines Vaterlandes übrigens genau bekannt, errichtete er dort eine kleine Hütte oder »ein Haus«, wie er's nannte, und fällte munter darauf los, was ihm, unter dem Rechte der Ansiedelung – preemption right – auch Niemand verwehren konnte. In der That war es aber keineswegs seine Absicht, den Fieber erzeugenden Landstrich längere Zeit zu bewohnen, als er gebrauchen würde, eine hinlängliche Summe mit dem darauf wachsenden Holze zu verdienen und sich dann nach einer besseren, gesünderen Gegend zurückzuziehen und Ackerbau zu treiben. 33
Das niedere Blockhaus umgab ein Streifen urbar gemachten Landes, mit Mais bepflanzt, und am Ufer lagen lange Reihen hochaufgestapelten Klafterholzes. Herrschte aber auch in der kleinen Rodung eine tiefe Stille, die nur durch die fernen, regelmäßigen Axtschläge der im Holze arbeitenden Sclaven (Dehart besaß deren sechs) unterbrochen wurde, so war ein desto regeres Leben in dem kleinen Hause selbst, durch dessen aus Lehm aufgeführten Kamin ein dünner, blauer Rauch emporwirbelte. Dort saßen in höchst gemüthlich heiterer Stimmung drei Männer um den Kamin herum, in welchem ein kleines Feuer knisterte, das übrigens keineswegs der Kälte wegen angezündet sein mochte, denn es war im April und sehr warm. Mitten aber in der züngelnden Flamme stand ein runder eiserner Kessel, von dem ein untersetzter, wohlbeleibter Mann, dessen hochrothes, durch vieles Lachen noch mehr erhitztes Gesicht ihn kaum als einen Insassen dieser Gegend erkennen ließ, gar oft den Deckel abhob, um sich von den Fortschritten des Inhalts zu überzeugen. Ihm gegenüber saß auf einem abgesägten Holzklotze die lange, dürre Gestalt eines Mannes, der, in eine weiße dünne Jacke und in Nanking-»Unaussprechliche« gekleidet, furchtbar von den ihn umschwärmenden Mosquitos geplagt schien, so daß ihm nicht ein Augenblick der Ruhe blieb und er, seine langen Arme fortwährend umherwerfend, unermüdet versuchte, die lästigen Peiniger von sich abzuwehren und zu verscheuchen. Zwischen diesen Beiden ruhte auf einem bequemen, wenn auch roh gearbeiteten Lehnstuhl ein alter, silberhaariger Mann, der Vater des jungen Dehart, und schaute wohlgefällig, scheinbar in tiefster Seele recht mit sich
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selbst zufrieden, in die züngelnde Flamme, die den Kessel umspielte. »Vater Dehart!« rief jetzt der kleine Dicke, dessen Name Magnus war, »das Wasser beginnt zu kochen und wir können mit dem besten Willen nicht länger auf Euern Sohn warten. Ich für meinen Theil habe einen Durst, der nicht mehr zu bändigen ist, und ich sehe überhaupt gar nicht ein, warum John nicht schon lange hier sein könnte; es ist kaum drei Meilen bis zum andern Haus, und seit zehn Uhr Morgens ist er fort.« »Mir auch recht,« entgegnete der Alte, »laßt uns unsern stewStew, ein ächt arkansisches Getränk, aus heißem Wasser, Whisky, Nelkenpfeffer, Zucker und Butter bereitet. Ein gewöhnlicher Ausdruck der westlichen Amerikaner für einen Behälter oder ein Gefäß, aus einem hohlen Baumstamm verfertigt, da sich vorzüglich die sogenannten gum-Bäume dazu eignen. zurecht machen, und wenn er unter der Zeit nicht kommt, gut! mag er sehen, wo er 'was findet! Aber, Mettel, Ihr kratzt Euch ja die Seele aus dem Leibe!« wandte er sich jetzt lachend an den Langen, dessen Kampf mit den ihn in Schaaren umschwärmenden Mosquitos seinen höchsten Punkt erreicht zu haben schien; »Euch muß so süßes Blut durch die Adern fließen, daß es ein wahres Fest für die armen, ausgehungerten Thierchen ist, davon zu kosten!« »Hol' der Böse das süße Blut!« rief Mettel ärgerlich, indem er sich derb an die Waden schlug, um einige der lästigen Insecten, die ihn dort mit besonderer Wuth angegriffen hatten, zu erlegen; »die verwünschten Dinger haben so verdammt spitze Gesichter, daß sie Einem gleich den ganzen Kopf in das Fleisch schieben. Ich weiß 35
übrigens gar nicht, wie es zugeht, daß sie es alle auf mich abgesehen haben; Euch Beide rührt fast keins an!« »Wir sind alt und zäh!« schmunzelte der Greis – »da nehmen sie mit Euch fürlieb.« »Wo habt Ihr denn das Material zum stew?« fragte Magnus, »der Whisky und Zucker ist hier, wo aber finde ich das Andere?« »Butter müßt Ihr aus dem Butterfaß nehmen, und laßt die Milch ein wenig ablaufen,« sagte der Alte; – »meine Schwiegertochter ist nun schon acht Tage bei ihrer Schwester unten, und da geht Alles ein wenig junggesellenhaft hier oben zu – so – das wird etwa genug sein; – der Nelkenpfeffer steckt da oben über dem Kamin in einer Spalte – dort in dem abgeschnittenen Schilfe, wo der Stöpsel darauf ist – nehmt aber nur eine Hand voll, das Zeug bleibt Einem sonst immer in der Kehle stecken.« Magnus that wie ihm gerathen, goß die gehörige Quantität Whisky in das kochende Wasser, warf eine kleine Hand voll Nelkenpfeffer, ein paar Hände voll Zucker und etwas Butter, um dem Ganzen einen milden Beigeschmack zu geben, hinzu, rührte Alles wohl durcheinander, und dann einen Blechbecher von einem schmalen Brett über dem Kamin herunternehmend, schenkte er denselben mit der dunkeln Masse voll bis zum Rand. »Prosit!« sagte Mettel, als Jener rasch das zu schnell heißgewordene Blech von den Lippen nahm und, vom Stuhl aufspringend, die Luft einsog. »Prosit! das dacht' ich mir – ist mir bis jetzt noch jedesmal so gegangen; aber durch Schaden wird man klug – ich lasse meins erst kalt werden.« Und damit begann er auf's Neue seinen Kampf mit den ihn umsummenden Mosquitos. »Durch Schaden wird man klug, so?« sagte, durch den Spott geärgert, Magnus, seinen Becher stark blasend und 36
nach Mettel hinüberschielend; »nun, dann will ich Euch einen guten Rath geben: dann sucht Euch für heut Abend eine andere Schlafstelle, als unter meinem Mosquitonetz, denn verdammt will ich sein, wenn ich mit Euch eine zweite Nacht darunter zubringe.« »Nun,« frug Mettel verwundert, »lieg' ich nicht die ganze Nacht still wie ein Stück Holz? rühr' ich mich auch nur ein einziges Mal? lass' ich mich nicht auf eine wahrhaft grausenerregende Weise von den kleinen Bestien aussaugen, ohne mich zu bewegen, ja, zucke ich nur unter den schmerzhafteren Bissen derselben? Ich liege ruhig wie ein Todter – ich bin ein Märtyrer! Und mit wessen Blut sind die Mosquitos, die Morgens im Innern des Netzes sitzen, gefüllt, als mit dem meinigen? was habt Ihr sonst an mir auszusetzen?« »An Euch nichts, aber an Euren Beinen!« rief Magnus; »wo steht es denn auch geschrieben, daß überhaupt Morgens Mosquitos im Innern des Netzes sitzen müssen? Hat aber schon Jemand so ein Paar Beine, wie Ihr an Eurem Cadaver habt, gesehen? – Mein Mosquitonetz ist für vernünftige, gesetzlich lange Gliedmaßen eingerichtet und nicht für einen Menschen berechnet, dessen Füße so weit von seinem Leichnam entfernt sind, daß er es nicht einmal an demselben Tage erfährt, wenn sie ihm kalt werden. – Glaubt Ihr denn, die Mosquitos können den Eingang nicht finden, wenn Ihr Eure beiden langen Spazierhölzer unter dem Netz vorstreckt, daß es wohl sechs Zoll vom Boden aus in die Höhe steht?« Mettel wollte eben darauf antworten, als die Hunde draußen anschlugen und der junge Dehart in die Thür trat. »Hallo!« rief dieser, als er die drei Männer so emsig beschäftigt, den Kessel zwischen sich und die Blechbe37
cher in der Hand, dasitzen sah, » hallo! da bin ich wohl schon zu spät gekommen? Ihr scheint mir ja sehr fleißig zu sein!« »Eben noch zur rechten Zeit, Johny,« meinte der Alte; »komm, nimm Dir einen Becher und rücke einen Stuhl her.« »Stuhl?« fragte John, sich überall im Hause umsehend, »wo habt Ihr denn noch einen Stuhl?« »Ah so, es sind nur zwei da; nun, schadet nichts, da steht der Salz- gumStew, ein ächt arkansisches Getränk, aus heißem Wasser, Whisky, Nelkenpfeffer, Zucker und Butter bereitet. Ein gewöhnlicher Ausdruck der westlichen Amerikaner für einen Behälter oder ein Gefäß, aus einem hohlen Baumstamm verfertigt, da sich vorzüglich die sogenannten gum-Bäume dazu eignen. , setz' Dich darauf und hilf uns den Kessel leer trinken.« »Danke, Vater,« sagte der junge Dehart, indem er seine an einer langen Stange befestigte Harpune von der Wand nahm, »ich will gleich wieder fort; gebt mir nur einen Becher voll von Eurem Getränk, es riecht gar zu gut!« »Wo wollt Ihr denn fischen gehen?« fragte Magnus begierig, indem er von seinem Sitz aufsprang. »Der Fluß ist seit gestern Abend fünfzehn Zoll gestiegen,« erwiderte der junge Debart; »das Wasser hat nun eben angefangen, durch den kleinen Kanal, der eine halbe Meile von hier das Ufer durchschneidet, in den Sumpf zurückzulaufen, da kommen stets Unmassen von Buffalo-Fischen herein und strömen in Schaaren in's niedere Land. Ihr sollt sehen, in dem schmalen Kanal, durch den sie müssen, vergeht kaum eine Minute, in der nicht die 38
rothe Flosse eines der fetten Burschen aus dem schmutzig gelben Wasser des Flusses emportaucht. Wollt Ihr mit, so macht Euch ein paar scharfe Ruder, dann können wir's zusammen versuchen.« »Hol' mich Dieser und Jener, wenn ich nicht mitgehe!« rief Magnus, seinen Becher, der sich unterdessen abgekühlt hatte, mit einem Zuge leerend; »ich habe zwar die Jagd auf buffalos (Büffel) verschworen, aber nicht auf Fische. Wo sind die Ruder? laßt uns lieber gleich aufbrechen.« »Oho, Ihr seid ja plötzlich in gewaltiger Eile,« lachte John; »jetzt will ich aber auch erst meinen Trank in aller Gemüthsruhe leeren. – Tom mag indessen die nöthigen Ruder machen, dann wollen wir augenblicklich an die Arbeit gehen. Und sich zur Thür wendend, rief er einem der Neger, der eben mit einem holzbeladenen Karren zum Hause kam, zu, zwei Ruder zum Fischschlagen zu machen, was aus eben so vielen roh gespaltenen Brettern in wenigen Minuten geschehen war. Mettel hatte sich unterdeß mit regem Fleiß an das dampfende Getränk gehalten und stand jetzt ebenfalls auf, um mit den Männern die Jagd zu versuchen, während der alte Dehart ruhig sitzen blieb und den Fischern versicherte, daß er einen andern Kessel voll, wenn sie zurückkämen, bereit halten wolle. »Gut gesagt, Alter!« rief Magnus, indem er sein Ruder schwang – »gut gesagt; haltet 'was Nasses bereit, denn wenn wir die Fische bringen, dürfen sie nicht auf dem Trocknen liegen bleiben. Aber nun kommt, und wer die meisten schlägt, soll den ersten Zug thun dürfen.« »Und sich wieder das Maul verbrennen,« wandte Mettel ein, als er den anderen Beiden aus der Thür folgte.
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Das Wasser des Mississippi strömte in den Sumpf zurück, da seine Ufer höher als das wenige hundert Schritt zurückliegende Land sind; steigt daher der Fluß so, daß er fast die Höhe derselben erreicht, so macht er sich erst durch einige kleine sogenannte Slews – die eigentlich weiter nichts, als durch den Fluß selbst ausgewaschene Kanäle sind – Bahn und füllt die unermeßlichen Sümpfe des niedern Thals, nur einen einzigen schmalen Streifen trockenen Landes, dicht an seinen Ufern hin, lassend, bis er auch diesen oftmals übersteigt und die Ansiedler nöthigt, in ihren Häusern, die meistenteils drei bis vier Fuß hoch von der Erde errichtet sind, manchmal für mehrere Wochen Zuflucht zu suchen; ja, oft sogar den Schutz ihrer Boote und kleineren Fahrzeuge in Anspruch zu nehmen, um sich in diesen mit ihrem wenigen Hausgeräth, Meilen weit mit dem Strom hinuntertreibend, auf die ersten Hügel, die sie erreichen können, zu retten. Zahlloses Vieh geht bei diesen Ueberschwemmungen zu Grunde, und von seinem Platz weggeschwemmtes Klafterholz bedeckt den Fluß, während nicht selten selbst ein seinen Stützen entrissenes Blockhaus zwischen den Stämmen und Trümmern auf der Oberfläche des angeschwollenen Riesenstromes dahintreibt. Die Männer erreichten endlich, dicht am Ufer hingehend, den nicht sehr entfernten Platz und kamen, nachdem sie noch etwa zweihundert Schritt in's Innere, an der Slew hingekrochen waren (denn an Gehen war dort zwischen den dichten Schlingpflanzen gar nicht zu denken), zu dem flachsten Platz des Kanales, wo sie ihre Beobachtungen begannen. Hatte sich aber Mettel schon im Hause über Mosquitos beklagt, so lernte er hier erst einsehen, daß die frühere Plage gegen die jetzige nur Spielerei gewesen sei, denn 40
wie. rasend umschwärmten sie die Fischer, die ruhig und bewegungslos dastehen mußten; zu Hunderten flogen sie auf einmal in die Gesichter der Gepeinigten. »Magnus!« flüsterte Mettel leise, als er mit ausgespreizter Hand durch die Luft griff, dieselbe dann schnell schloß und zusammenpreßte, während er dem selbst auf das Fürchterlichste Gemarterten die wieder geöffnete hinhielt, in der etwa zehn der kleinen Peiniger zerdrückt lagen, – »Magnus, ist das hier eine Gegend für einen vernünftigen, lebenden, Athem holenden Menschen? Glaubt Ihr nicht, daß, wenn sich Jemand hier eine Viertelstunde lang, nein, nur zwei Minuten unbeweglich herstellen würde, seine Haut wie ein Haarsieb aussehen müßtet – Oh, Magnus! ich bin in schlimmen Plätzen gewesen, – in den Sümpfen von Kentucky sind auch Mosquitos, aber – Du großer Gott! – das sind ja nur Kinder gegen –« »Ein Fisch!« rief Magnus, der trotz Mettel's Jeremiade und den ihn selbst umschwärmenden Insecten aufmerksam die Oberfläche des Wassers, auf der für jetzt einen Augenblick eine rothe Flosse emportauchte und sogleich wieder verschwand, beobachtet hatte; der Augenblick hatte aber genügt und die Harpune, von John's kräftiger Hand geschleudert, durchbohrte den Fisch, der umsonst sich von dem mit Widerhaken versehenen Eisen los zu arbeiten versuchte. Mit dem Seile, das von der Harpune aus an der Stange hinauflief und um des Werfenden Handgelenk befestigt war, zog er ihn an's Ufer, schnitt seine Waffe mit dem Messer wieder frei und erwartete einen zweiten, der, kaum erschienen, auf ähnliche Weise in Sicherheit gebracht wurde.
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»Die Fische bleiben aber alle in der Mitte,« klagte Magnus, »und von hier aus kann man sie doch unmöglich mit dem kurzen Ruder erreichen.« »Ja, Ihr müßt in's Wasser, da ist weiter kein Rath,« lachte John; »es ist auch für Euch das Beste, denn da lassen die Mosquitos doch wenigstens Eure Füße in Ruhe.« Mit größtmöglicher Schnelle befolgte Mettel diesen guten Rath und schien nicht übel Lust zu haben, ganz unterzutauchen, um seinen Peinigern zu entgehen, eine so tiefe Stelle suchte er sich aus; Magnus hingegen trat blos bis über die Kniee in die Fluth und erwartete, wie sein Kamerad und Leidensgefährte, mit erhobenem Ruder das nächste unglückliche Schlachtopfer. Da schwankte dicht neben ihnen ein junger, aus dem Wasser hervorragender Baumwollenholzschößling, von dem Anstoßen eines schweren Fisches an die Wurzel desselben erschüttert – mit gespannter Erwartung standen die Männer für einen Augenblick fast athemlos, als plötzlich die rothe Flosse sichtbar wurde und beide Ruder mit aller nur möglichen Gewalt auf den sorglos Umherschwimmenden niederschmetterten. Nun that allerdings Mettel's Schlag dem Armen wohl sehr wenig, denn nicht recht wissend, wie er das Ruder eigentlich halten müsse, schlug er mit der flachen Seite auf das Wasser herunter, daß es weit umherspritzte; Magnus jedoch traf mit der ganzen Schärfe das Rückgrat des Fisches, und den Schlag schnell wiederholend, ehe jener, durch den Streich betäubt, Zeit gewann, wieder zu sich zu kommen, brachte er ihn auf den Rücken und warf ihn triumphirend an's Ufer. Mettel, durch Erfahrung belehrt, zielte das nächste Mal auch besser, und dreizehn Fische hatten die drei 42
Männer schon in Zeit von einer Stunde mit Rudern und Harpunen erlegt, als auf einmal der Zug derselben aufzuhören schien, denn in einem sehr langen Zwischenraum ließ sich auch nicht ein einziger blicken. Die Mosquitos wurden dagegen immer ärger, und ein dünner, feiner Regen, der zu fallen anfing, schien ihre Wuth noch zu vermehren, so daß Magnus selbst zu klagen begann und versicherte, in seinem Leben noch nie ärger von den verwünschten Blutsaugern geplagt worden zu sein. Da regten sich plötzlich die jungen, aus dem Wasser hervorragenden Schößlinge von allen Seiten, und »Aufgepaßt!« rief John, als er mit der Harpune zum Wurf ausholte. – In demselben Augenblick plätscherte auch das Wasser an fünf verschiedenen Stellen und überall tauchten die rothen Flossen empor. Auf Magnus kam nur einer zu, und weit ausholend schlug er, sich vorbiegend, nach dem gerade au seiner rechten Seite vorbeidefilirenden Fisch hinüber, während zu derselben Zeit zwei andere an Mettel's beiden Seiten hin wollten, die dieser nun mit einem Doppelhieb zu erlegen gedachte. Schnell und gewandt schlug er links auf den unschuldigen Buffalo, und zwar mit solcher Kraft hinab, daß dieser augenblicklich mit dem weißen Bauch an die Oberfläche kam; ohne seine Beute aber auch nur eines Blickes zu würdigen, behielt er das andere Opfer im Auge, das sich jetzt gegen Magnus hin wandte, und sein zweiter, eben so kräftiger Streich, bedrohte dessen Haupt. Man sagt, wenn der Pfeil vom Bogen, wenn die Kugel aus dem Rohr ist, dann lenken oft böse Geister die Vernichtungsboten, welche menschliche Kräfte nicht mehr zurückhalten können – so war es mit dem Ruder. – Die zu große Schnelle, mit der Mettel seinen zweiten Schlag 43
zu führen gedachte, hatte ihm nicht Zeit gelassen, die Haltung seines Ruders zu beobachten, das sich in seiner Hand, als er den Fisch traf, etwas drehte; beim zweiten Niederhauen faßte die Luft in die mit aller Kraft schräg herabkommende beutegierige Waffe, und ihr eine ganz andere Richtung als die beabsichtigte gebend, landete die scharf zugehauene Kante auf dem breiten, mit Nanking bekleideten Rücktheil des armen Magnus, der, unähnlich den Fischen, welche nach dem Schlag an die Oberfläche kamen, mit einem gewaltigen Schrei und Sprung in dem gelben, undurchsichtigen Wasser spurlos verschwand. Aber gedankenschnell tauchte er wieder empor, und Ruder und Fisch im Stich lassend, mit beiden Händen den schwer getroffenen Theil haltend, floh er an's Ufer und nahm sich erst hier Zeit, nach Mettel, der, ein Bild des Schreckens und der Verwunderung, mit wieder emporgehobener Waffe und geöffnetem Munde im Wasser stand, zurückzuschauen. Nur John behielt seinen Gleichmuth bei, warf den Fisch, den er gefangen hatte, an's Ufer und schleuderte dann das Eisen in den von Mettel's erstem Schlag getroffenen, dessen weißer Bauch, mit dem Strom weiter treibend, eben noch sichtbar war, um auch diesen in Sicherheit zu bringen. Dann wandte er sich ruhig an Mettel, dem er zurief: »So ist's recht, trefft Alles, was lebt!« »Verdammt will ich sein,« brummte Magnus, »wenn ich mich dann wieder neben ihn stelle; denn daß ich leichter als ein Fisch zu treffen bin, kann ein Kind einsehen.« »Magnus,« sagte Mettel, noch ganz erstaunt und verwirrt, » da wollte ich ja gar nicht hinschlagen, aber es war wahrhaftig, als ob das Ruder eine ganz besondere
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Malice auf Euer Rücktheil gehabt hätte, denn es zog sich ordentlich mit aller Gewalt dort hin.« Magnus schien übrigens keineswegs durch Mettel's Entschuldigungen zufrieden gestellt, doch Dehart beruhigte ihn und schlug vor, zum Hause zurückzukehren und ihre Beute in Sicherheit zu bringen, da sie ja auch überdies genug Fische hätten und die Mosquitos wahrhaft unerträglich würden. – Seine beiden Gefährten waren vollkommen damit einverstanden. »Wir sind aber doch nun einmal naß,« fuhr John weiter fort, »und da wollen wir denn im Wasser bis an den Mississippi hingehen, wo wir noch vielen Fischen begegnen und großen Spaß haben werden.« Mit diesen Worten trat er selbst in die Slew, und zwar zwischen Mettel und Magnus, da der Letztere dem Ruder des Andern unter keiner Bedingung wieder zu nahe kommen wollte. Langsam, mit gehobenen Waffen, wateten sie nun in der trüben, undurchsichtigen Fluth dahin, bekamen aber keinen Fisch zu sehen, bis Magnus nahe am Einfluß in den Strom an einen derselben stieß, der sich augenblicklich wandte und zum Fluß zurück wollte. Da – mit wüthenden Streichen, plätschernd und Wellen werfend, stürzten die beiden mit Rudern Bewaffneten über ihn her, immer entging er jedoch ihren Schlägen, und näherte sich schon ganz den kleinen Büschen, die dicht am Ufer des Mississippi wuchsen und den Eingang der Slew überhingen, als Mettel in ein dort, wo der Kanal so flach war, am allerwenigsten vermuthetes Loch gerieth und plötzlich untertauchte. Zu gleicher Zeit aber sauste auch Dehart's Harpune über ihn hinweg, der bis jetzt der beiden Männer wegen keinen sichern Wurf wagen konnte, und sie durchbohrte den Fisch in demselben Augenblick, als dieser im Begriff war, den tiefen Strom, 45
der ihn vor allen weiteren Nachstellungen gesichert haben würde, zu erreichen. Als Mettel wieder an's Tageslicht kam, zappelte und schlug der gefangene Fisch an der Leine und war bald an's Ufer gezogen; Magnus aber, durch Mettel's unfreiwilliges Bad ganz zufrieden gestellt, hatte seine gute Stimmung wieder gewonnen, und Alle kehrten, zwar naß wie die Katzen, aber doch heiter und guter Dinge, nach Dehart's Haus zurück, um dort dem versprochenen Trunk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Am nächsten Tage wollten die drei Männer nun zwar ihren Fischfang wiederholen, der Strom war aber in derselben Nacht wohl um zehn Zoll gestiegen und fuhr auch fort zu wachsen, bis der Mississippi endlich die Ufer überschwemmte und das Wasser nur noch durch die vier Fuß hohen Blöcke, auf denen das Gebäude ruhte, abgehalten wurde, in die Stube zu laufen. Deharts konnten elf Tage lang ihr Haus nicht verlassen. Hiermit war denn auch, wenigstens für dieses Frühjahr, der Fischfang beendet, denn sobald der Fluß wieder anfängt zu fallen, und sei es nur um einen halben Zoll, so kehren alle Fische, die in die Sümpfe gezogen sind, um dort ihrer Nahrung nachzugehen, in dessen Ufer zurück; ihr Instinct sagt ihnen, daß sie, wenn sie länger zögern, leicht auf dem trockenen Lande zurückgelassen werden könnten, und nur wenige von ihnen halten sich dann noch in dem niedern Land eine kurze Zeit auf, ehe sie den dem Flußbett wieder zuströmenden Wassern folgen.
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Der Freischütz. Szene aus dem Dresdner Leben (Vgl. Der Freischütz von Friedrich Kind, Musik von Carl Maria von Weber) » Heute, Montag den 26. Februar, in Kurfürstens Hof: »Der Freischütz«. Schauspiel mit Chören, in vier Aufzügen. Um gütigen Besuch bittet Johann Magnus.« »Wo ist denn Kurfürstens Hof?« frug ein junger Mann in schwarzer Sammtmütze und blauer Pikesche den vorbeistürmenden Kellner, als er eben den oben angeführten Satz seinem mit ihm an ein und demselben Tisch sitzenden Freund vorgelesen hatte. »Elbberg,« rief der Schooßlose und drängte sich, die ganze Hand voll Bierkrüge, wobei er an jedem Finger wenigstens drei zu tragen schien, durch ein eben eintretendes Rudel neuer Gäste, um früher erhaltene Aufträge zu erfüllen. Weitere Aufklärung war augenscheinlich von diesem hochfrisirten Ganymed nicht mehr zu erlangen; vom nächsten Tisch aber bog sich sehr artig ein alter Herr in schneeweißen Haaren und grüner Brille herüber, und erwiderte auf die wenn auch nicht an ihn gerichtete Frage: »Unten, nicht weit von der Elbe, auf dem sogenannten Elbberg, dort kann Ihnen jedes Kind das verlangte Haus zeigen.«
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Der junge Mann dankte und wandte sich wieder an seinen Gefährten, der indessen ebenfalls das Blatt genommen und die kurze Anzeige gelesen hatte. »Da müssen wir auf jeden Fall hin, Osfeld; es wird auch die höchste Zeit sein, denn es hat schon Acht geschlagen.« »Wir kommen noch früh genug,« meinte Osfeld, »ich bin schon mehrere Male bei Magnus gewesen; er beginnt selten vor halb neun Uhr.« »Und wie ist's mit der Toilette? Wird da nicht ein alter Rock und eine etwas vom Wetter mitgenommene Mütze nothwendig sein? – Ich bekomme nicht gern Schläge.« »Unsinn,« lachte Osfeld – »so schlimm ist's nicht, wir finden dort ganz nette Leute; höchstens werden die, welche bei ernsthaften Scenen zu viel lachen, oder sich sonst unnütz machen, hinausbefördert.« »Also ein einfaches Ausweisungsprincip für mißliebige Personen,« sagte der Erste, den wir Wehrig nennen wollen – »dagegen läßt sich nichts thun, denn das ist ein Erbfehler, dem wir armen Menschenkinder nun einmal unterworfen sind; schon Adam mußte sich das gefallen lassen.« »Das soll aber auch mit Adam noch eine ganz andere Bewandtnis gehabt haben,« meinte Osfeld, während er seinen Hut vom Nagel nahm und den Rock zuknöpfte. »Adam hat, wie sich jetzt ziemlich deutlich herausstellt, auch wissen wollen, weshalb er nicht von dem Baum der Erkenntnis essen solle, und eine solche Neugierde läßt sich ja bei uns nicht einmal ein Bürgermeister gefallen. Hier ist übrigens keine Gefahr – ich kenne die Leute recht gut.« »Dann weißt Du also auch, wo Kurfürstens Hof ist?«
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»Nein, das nicht; Magnus spielt jeden Abend der Woche in einem andern Wirthshaus, und Garderobe wie Scenerie wird auf einem kleinen Handkarren von Ort zu Ort mitgeführt. Er bekommt dadurch stets ein frisches Publikum, und kann nun ein und dasselbe Stück sechs und siebenmal hintereinander aufführen; die Schauspieler lernen denn auch gegen Ende der Woche ihre Rollen ausgezeichnet.« »Wie aber macht er es mit der Maschinerie, den Versenkungen &c.?« »Oh, die letzteren besonders sind sehr einfach. Steht der Geist oder Zauberer, der versinken soll, aufrecht auf der Bühne, so wird die Täuschung dadurch erweckt, daß er sich schnell duckt und man ihm zu gleicher Zeit aus der nächsten Coulisse heraus ein dunkles Tuch überwirft – stürzt er aber vorher, und soll er als Leiche verschwinden, so muß er nur mit den Füßen dicht an oder hinter eine Coulisse zu liegen kommen, dann entzieht ihn ein kräftiger Ruck dem Gesichtskreis der Zuschauer, was auch, da die Garderobe für jeden Abend geborgt wird, mit keinem Nachtheil für den Director selbst verbunden ist.« »Also gar keine Maschinerie – oh weh, Wolfsschlucht; doch was thut's, auf jeden Fall sehen wir's an.« Und die Freunde traten hinaus in die kalte Nachtluft, die ihnen den gefrorenen Thau in seinen scharfen Flocken entgegenschleuderte. Die Promenade war menschenleer, und keine Seele begegnete ihnen durch die ganze kegelbahnartig angelegte Allee bis zur Amalienstraße und von da hinab bis zum nahen Ufer der Elbe, so daß die späten Wanderer (es hatte eben halb Neun geschlagen) schon in eine noch erleuchtete Materialhandlung eintreten wollten, um sich dort nach dem Ziel ihres Marsches, dem Schau49
platz der heutigen Ausführung, zu erkundigen, als ein altes Mütterchen, mit einer grünen Glasflasche in der einen und einem eingewickelten Häring in der andern Hand, aus derselben Thür kam und, an ihnen vorbei, die Straße hinaufgehen wollte. »Möchten Sie wohl die Güte haben, uns zu sagen, wo hier Kurfürstens Hof ist?« redete sie jetzt Osfeld ganz artig an. Die Alte blieb stehen, sah sich den Fragenden von oben bis unten sehr genau an, warf dann den Kopf zurück und rief mit scharfen, gellenden Tönen: »Na ja – Ihr wärd't wohl Kurfirschtens nicht wissen« – und setzte murrend ihren Weg fort. Osfeld und Wehrig lachten laut auf, jene aber, dadurch noch mehr in dem Wahn bestärkt, daß man sie hatte wollen zum Besten haben, wandte sich um, schimpfte und – sie war ja eine Deutsche – drohte mit der Polizei. Mehrere Fischerleute kamen jetzt die Straße herauf und verschwanden in einer nicht mehr weit entfernten Thür, aus welcher, als sie geöffnet wurde, ein heller Strahl auf das Pflaster fiel. Nicht mit Unrecht schlossen die beiden Freunde, daß dies vielleicht der berühmte Platz wäre, den nicht zu kennen hier für unmöglich, oder doch wenigstens unwahrscheinlich gehalten wurde, und siehe da, sie hatten sich nicht getäuscht. Eine schmale Treppe führte zu dem Saal hinauf, an dessen Thür, mit etwas Mehlkleister befestigt, ein Theaterzettel im Manuscripte hing. Daneben saß eine kurzgebaute, etwas breithüftige Frau, die sich vor einem kleinen Tischchen, das außer dem dünnen Talglicht und der kleinen blechernen Büchse auch noch zwei Packete sehr abgegriffener Billete trug, als »der Kassirer« auswies. War es nun eine in dem bewegten Theaterleben erlangte Menschenkenntniß, oder 50
blos das Auftreten zweier anständigen Tuchröcke, kurz die Frau griff fast instinctartig nach den Billeten für den » ersten Blatz,« und um 2½ Neugroschen à Person traten sie schweigend ein in Thalia's Tempel. Ein großer Saal, von dem die Bühne etwa ein Drittheil einnehmen mochte, enthielt das Theater, und ein ziemlich viereckiger Vorhang mit gar wundersamer Malerei verhüllte die Mitte, während zwei schmale Streifen Wald (die Bäume horizontal ausgespannt, um den leeren Zwischenraum vollkommen zu verdecken) die Zuschauer von einem Versuch zurückschrecken sollten, das Innere des Heiligthums zu erforschen. Nichtsdestoweniger hatte sich ein »Stück jungen Deutschlands« an die dortige Wand gedrängt, und dem kühnen Forschergeist der hoffnungsvollen Jugend gelang es auch wirklich, dann und wann einen flüchtigen Blick auf ein geschminktes Antlitz oder einen gewaltigen Federbusch werfen zu können, was dann augenblicklich durch ein freundliches, telegraphenartiges Grinsen den Kameraden mitgetheilt wurde. Vor dem Vorhang staken, auf schwarzen Blechprofitchen, fünf schwindsüchtige Talglichter, und zwischen diesen und den in doppelter Reihe aufgestellten Rohrstühlen des »ersten Blatzes«, lagerte in malerischer Unordnung die frohe, jubelnde Schaar der Schulkinder beiderlei Geschlechts, die hier – für einen Sechser Entrée und die übernommene Pflicht, das Ausblasen und Wiederanstecken der Lichter zu besorgen, je nachdem es dunkel oder hell werden mußte – theils lachend und schreiend, theils sehnsüchtig und mit einem gewissen ehrfurchtsvollen Schauer den Anfang des Stückes erwarteten. Die Zuschauer hatten sich ungewöhnlich zahlreich versammelt, und selbst die Gallerie – ein mit Brettern 51
überlegtes Gestell von mehreren nebeneinander gesetzten sogenannten Böcken – war so besetzt, daß Einzelne, die durch beharrliches Ausdauern die erste Reihe gewonnen hatten, von ihrem etwa zwei Fuß hohen und etwas gefährlichen Stand heruntergedrängt wurden, und nun, unter dem Hohnlachen der jedes Mitgefühls unfähigen Menge, ein anderweitiges Unterkommen suchen mußten, um auf den Zehen und mit vergebens ausgestreckten Hälsen die Aufführung zu genießen. Nur mit großer Mühe und zu noch größerer Unbequemlichkeit der schon Sitzenden wurde durch Zusammenrücken den Letztgekommenen Platz gemacht. Diese dann, der vordersten Stuhlreihe einverleibt, sahen sich plötzlich inmitten der festzusammengekeilten Menge, wobei ihnen jedoch, während ihre Kniee der vor ihnen lagernden »lieben Jugend« zu eben so vielen Rückenkissen dienten, vollkommene Zeit blieb, die verschiedenen Gruppen der übrigen Zuschauer genau zu betrachten. Die arbeitende Klasse war am stärksten vertreten, und hübsche Dienstmädchen, wie kräftige Handwerker und Fischer füllten fast den ganzen Raum aus; auf den »Sperrsitzen« saßen aber auch eine ziemliche Anzahl »nobel gekleideter« Gäste, und unter den letzteren fielen besonders zwei wohlfrisirte und beglacéhandschuhte Jünglinge – augenscheinlich aus einer der ersten Materialwaarenhandlungen der Residenz – in die Augen, wenigstens hafteten die Blicke der Jugend, so lange noch deren Aufmerksamkeit nicht der Bühne zugelenkt wurde, fast ausschließlich auf ihnen, wie sie, nachlässig auf ihren Stühlen zurückgelehnt, mit sehr schwarzen Hüten, peinlich blauen Halstüchern, großen Ringen an den rothen Fingern und mächtigen goldenen Halsketten, allerdings etwas auffallend gegen ihre einfache Umgebung 52
abstachen. Neben diese, nur eine Reihe weiter vor, kamen die beiden Freunde zu sitzen, und hörten, wie der ihnen Nächste zum Andern sagte, während er das kleine, schwanke spanische Rohr mit dem maigrünen Glacéhandschuh an die Lippen hob: »Eugene – die Sache fängt an unangenehm zu werden; es ist hier eine abominable Atmosphäre.« »Auf Ehre,« erwiderte ihm, als wirkliches Spiegelbild, Eugene – »ich wollte, wir wären in's Café gegangen; es sind doch hier gar zu viele –« Er beendete die Rede flüsternd, da er wahrscheinlich von den hinter ihm Befindlichen mißverstanden zu werden fürchtete. Das übrige größere Publikum theilte übrigens, wenngleich aus einem andern Grunde, ihre Ungeduld; es ging nämlich stark auf Neun, und trotzdem wurden immer noch keine Anstalten sichtbar, daß die Vorstellung wirklich beginnen sollte. Man trommelte, tobte und schrie also so lange, bis sich Herr Magnus endlich genöthigt sah, vorzutreten, um den Lärmenden anzuzeigen, daß »die – Garderobe noch fehle, in wenigen Minuten aber auf jeden Fall erscheinen müsse.« »Ich habe keenen Hausschlüssel mit!« schrie eine sehr feine Stimme aus der Mitte des Publikums heraus. »Ich ooch niche!« erwiderte eine andere vom entgegengesetzten Ende des Saales – »und bei mir machen se punkt Zehne die Bude zu!« »Sie können ja immer anfangen,« schlug ein Bäckergesell vor – »wenn de Garderobe nachen kimmt, werfen Sie die paar Lumpen schnell iber.« Noch mehrere solche gutgemeinte Rathschläge wurden laut, und der Director war eben wieder achselzuckend und seitwärts in den linken Baumwipfel verschwunden, als der rettende Engel, in Gestalt eines 53
vierschrötigen Hausknechts, erschien, der in einem mächtigen Tragkorb die so heiß ersehnten Costüme herbeischaffte. Mit der Garderobe kam denn auch ein regeres Leben in die Garderobe, und kaum eine Viertelstunde später tönte die helle Klingel – Alles schwieg und – auf rollte der Vorhang. Krach! »Ach, Herr Jeses!« schrieen eine Menge Frauenstimmen, als der Schuß – so fast mitten unter ihnen – fiel; bald war aber jeder etwa empfundene Schreck über das imposante Schauspiel vergessen, das sich jetzt im eng zusammengedrängten Raum ihren Blicken bot. Rechts am Tische saß Max in grüner Jagdkleidung, der Scheibenkönig, dem zwei Auf Magnus' Theater durften, wie bei jener Kaffeegesellschaft, nur immer vier auf einmal reden – d. h. es war ihm untersagt, mehr als vier Personen zu gleicher Zeit auf die Bühne zu bringen, weil – unglaublich aber wahr – das Königl. Hoftheater sonst es als eine Concurrenz ansah. Bauern in langer Reihe folgten, trat auf und verhöhnte den unglücklich gewesenen Jäger. Die Scenerie war Wald – und zwar der Hintergrund aus hellbraunen, in ungeheurer Perspective immer kürzer und kürzer werdenden Stämmen bestehend, die jedoch, wunderbarer Weise, die natürliche Dicke beizubehalten schienen. Rechts befanden sich ebenfalls zwei Waldcoulissen, links aber, und ganz vorn, stand ein vierstöckiges, wunderbar gelbes Haus, an welchem wiederum ein in der dritten Etage ausgeschobenes – zwei Etagen langes Schild mit einem halbgefüllten Bierglas darauf verkündete, daß diese Waldwohnung ein Wirthshaus sei. Die nächsten Scenen gingen ziemlich ruhig und ohne irgend etwas Auffallendes vorüber – Max schlug sich mit 54
den zwei Bauern herum, der Erbförster kam dazu, erzählte seine alte Geschichte und wurde, als auch er die Scene verließ, von Caspar ersetzt, der jetzt, ohne die mindeste vorherige Warnung, sein Trinklied. »Hier im ird'schen Jammerthal« allerdings mit dem Originaltext, aber auch wirklich nach Originalmelodie anstimmte. Dann schüttelte er dem Max ein Viertelpfund gestoßenen Zucker in den Wein, während dieser, seiner Rolle getreu, da er das nicht sehen durfte, den Kopf wegwandte, und nun kam die Scene, wo der junge Schütze den Adler »aus hoher Luft« schießen sollte. Eine wunderbare Veränderung war aber indessen, und zwar mit Zauberschnelle, im Gemüth des Max vorgegangen. Das Textbuch sagt nämlich: »Man merkt ihm von jetzt eine gewisse Heftigkeit an, einem leichten, aber bösen Rausche gleich.« Nachdem er also, auf Caspar's Veranlassung, den Fürst hatte leben lassen, fing er plötzlich an zu taumeln, und zwar so stark, daß er sich fortwährend an der einen Tischecke festhalten mußte. Jetzt reichte ihm Caspar die Büchse, und Max frug mit schwerer, lallender Zunge und halbgeschlossenen Augen: »Was soll ich denn damit machen?« Auf Caspar's in die Höhedeuten entdeckte er nun wirklich, wie er sagte, den Adler, hob – fortwährend dabei beschäftigt, sich im Gleichgewicht zu halten – die Büchse an die Backe und – drückte ab. »Klapp!« – das Zündhütchen versagte – das Gewehr ging nicht los. »Probir' es noch einmal!« sagte Caspar mit merkwürdiger Geistesgegenwart. Max setzte auch ein neues Zündhütchen auf, leider aber mit nicht besserem Erfolg. Das Publikum war dabei so indiscret und lachte, als ob 55
einem Jäger das Gewehr nicht manchmal versagte. Caspar jedoch, im Charakter seiner Rolle überhaupt ärgerlich, setzte ein drittes mit eigener Hand auf, und rief nun, als auch dieses kraft- und erfolglos blieb, mit unterdrückter, aber trotzdem sehr deutlicher Stimme in die Coulissen hinein: »Werft ihn hinaus!« Niemand folgte dem Befehl. »Werft ihn hinaus!« schrie er jetzt lauter und vernehmlicher. »Wen?« frug die dünne Stimme aus dem Publikum. Das Räthsel wurde jedoch gleich darauf gelöst, denn aus der Coulisse stieg, sich etwas über den quer vorgespannten Leinwandstreifen erhebend, ein dunkler Gegenstand empor – klappte oben an die Decke und schlug dann, mit schwerem Fall, vor dem entsetzten Max nieder. Leider war aber der Adler den vorn brennenden Lichtern ein klein wenig zu nahe gekommen, denn die Kinder vorn jubelten jetzt, halb in Freude, halb in Überraschung: »Herr Jeses – eene dote Hinne – eene dote Hinne!« (Huhn). »Hören Sie einmal – wenn Sie nichts dagegen haben, so wär' es mir lieb, Sie nähmen Ihren Hut ein wenig ab,« sagte in diesem Augenblick ein breitschulteriger, rothbäckiger Fischer, der dicht hinter einem der vorerwähnten Jünglinge stand; »ich habe bis jetzt nur den Vogel und Ihren Deckel gesehen.« Seine Anrede wurde übrigens nicht gehört, oder nicht beachtet, denn mit einem verächtlichen Emporwerfen der Oberlippe sog Der, dem die freundliche Ermahnung galt, nur um so eifriger an dem elfenbeinernen Stockknopf, und der Fischer, der wahrscheinlich nicht beabsichtigte, sich den angenehmen Abend durch Zank und Aerger zu 56
verderben, arbeitete vor allen Dingen seine beiden breiten Hände aus den Taschen der weiten Beinkleider heraus, und begann nun, wobei er jedoch ziemlich hoch hinaufreichen mußte, mit den Fingern eine noch nicht componirte Melodie auf dem Deckel des ihm die Aussicht versperrenden schwarzen Seidenhutes zu trommeln. Die Trommel wandte sich sogleich sehr indignirt um, und ein Paar Tod und Verderben sprühende Augen blitzten darunter hervor; der Fischer aber blieb, die Hände wie zu einer Pause erhoben, ruhig stehen, nickte nur freundlich grinsend dem Entrüsteten zu und fuhr, als jener sein zorngeröthetes Antlitz wieder der Bühne zukehrte, höchst gemüthlich in dem kurz abgebrochenen zweiten Theil des Liedes fort, so daß sich der junge Dresdner endlich genöthigt sah, den Hut auf's Knie zu nehmen. Der erste Act nahte so, ohne weitere Unterbrechung, seinem Ende, nur flogen, als Caspar dem Max das Huhn unter die Augen hielt und ihn frug, ob er glaube, »daß ihm dieser Adler geschenkt sei?« – einige halbe Brezeln auf die Bühne, was einige der vorn gelagerten Knaben zu einem tollkühnen Einfall in das Herz des Heiligthums bewog. Aennchen aber, die mit einer Klemmbrille auf der Nase und dem Soufflirbuch in der Hand hinter der Coulisse stand, trieb die Eindringlinge mit drohender Geberde schnell zurück, konnte jedoch nicht verhindern, daß diese ihre Beute erst in Sicherheit brachten und auch noch, bei dem etwas übereilten Rückzug, ein Talglicht mitnahmen, was indessen keine störenden Folgen weiter hatte, da andere Knaben theils das umgestoßene Licht schnell wieder befestigten, theils den sitzengebliebenen Talg von den »Unaussprechlichen« des Frevlers abkratzten. 57
Max aber lehnte – alles Andere nicht beachtend – in tiefen Trübsinn versenkt, mit der Schulter an der vierten Etage des Wirtshauses und schaute sinnend vor sich nieder bis er endlich mit dem Stichwort zu Caspar's großer Arie – die dieser freilich, als zur Oper nicht unumgänglich nöthig, wegließ – abtaumelte und der Vorhang fiel. Rauschender Applaus folgte dem Actschluß; dann aber, nachdem der Höflichkeit Genüge geleistet, wurden einige sehr unzufriedene Stimmen laut und verlangten Chor – es stünde Chor auf dem Zettel, und sie wünschten deshalb auch Chor. Durch sich selbst genährt, wuchs der Tumult, und der Director, der erst mit der Klingel den Lärm beschworen hatte, trat, diese noch immer in der Hand, vor und erklärte nun feierlichst, daß der Chor allerdings gesungen würde, nur müßten sie ein klein wenig Geduld haben, da jetzt erst die Wolfsschlucht käme, und diese allerdings keinen Chor vertrüge. Stürmischer Applaus zeigte, wie einverstanden das Publikum mit der Direction sei, und die Menge drängte sich jetzt dem »Büffet« zu, wo verschiedenfarbige Liqueure, Lagerbier, Kaffee, Grog, Kuchen und Würste nebst diesen verbrüderten Semmeln in reicher Auswahl zu haben waren. Unsere beiden Freunde hatten, dem Beispiel der Uebrigen folgend, ihre Sitze ebenfalls verlassen, als auf einmal ein ganz eigentümliches Gedränge, ein förmliches Wogen der Menge entstand, ohne daß irgend ein bestimmter Zweck dieser plötzlichen, nach einem Punkt hin gerichteten Bewegung deutlich wurde; nur zur Thür strömte die Menge. Da erkannten sie plötzlich in deren Mitte – unglückliche Leidensgefährten! – die beiden blaubehalstuchten Jünglinge, die heftig gegen den sie weiter und weiter vorwärts drängenden Volksknäuel anzuprotestiren schienen. Wohin sie jedoch auch zornig 58
und wüthend blickten, begegneten ihnen nur freundlich zunickende Gesichter, ein ungeheurer Humor hatte die Menschenwoge erfaßt, und die zwei »Mißbeliebten« – mit denen nur die sich dicht um sie her Befindenden vollkommen einverstanden schienen – wurden trotz alles Sträubens und Fluchens, fortwährend aber in der herzlichsten Art von der Welt, ja von einem Theil des weiblichen Publikums sogar mit zugeworfenen Kußhänden – förmlich hinausgefluthet. Osfeld, seiner Versicherung nach mit dem Director bekannt, versprach jetzt dem Freund, ihn bei jenem einzuführen, und zog ihn, nachdem er ohne weitere Umstände den einen quer gezogenen Waldvorhang bei Seite geschoben hatte, in das Innere des Heiligthums. Dort sah es bunt aus; das Theater nahm fast die ganze Breite des Raumes ein, und nur ganz schmale, an den Seiten hinlaufende Gänge ließen ebenfalls kaum so viel Zwischenplatz übrig, daß die Abgehenden vollkommen verschwinden konnten; nichtsdestoweniger hatten die Schauspieler durch Jahre lange Uebung eine gewisse Fertigkeit erlangt, um durch rasche Seitenbewegungen bei jedem Abgang schnell die Coulisse zwischen sich und das Publikum zu bringen, das dann seine Vorstellung von dem hinter und neben der Bühne befindlichen Raum in's Unendliche ausdehnen konnte. Die jungen Leute schritten jetzt quer über die »Bretter, die die Welt bedeuten«, hin, und zwar zu dem mit einer grünen Decke verhangenen Garderobezimmer. Dort traten sie ein und befanden sich hier plötzlich in der wunderlichsten, buntesten Gesellschaft, die sich nur möglicher Weise und mit der wirklich regsamsten Einbildungskraft denken ließ. Rings an den Wänden standen kleine Tischchen mit traurig flackernden Talglichtern, die 59
dem ganzen Raum nur eben genug Helle gaben, um sein düsteres Aussehen recht deutlich hervorzuheben. Kleine Kästen mit zerbrochenen Stücken Spiegelglas, Schminktöpfe, Schminkpapier und Baumwolle, angebrannte Korkstöpsel, Flitterband, zerdrückte Blumenbouquets und farbige Glasperlenschnüre lagen überall umher, und Agathe und Aennchen waren eben noch beschäftigt, ihren Wangen die zu Braut und Brautjungfer nöthige Frische zu verleihen. Osfeld wurde von Allen als Bekannter begrüßt und hatte keine Schwierigkeit, seinen Freund ebenfalls da einzuführen; gerade jetzt drängte jedoch die Zeit zu sehr, als daß sich einer der Beschäftigten hätte mehr als in kurzer Anrede mit ihnen einlassen können. Sie bekamen deshalb auch um so ungestörtere Gelegenheit, sich in dem kleinen Raum vollkommen gut orientieren zu können. Eine besonders interessante Gruppe bildeten hier der Erbförster Kuno und Samiel, von denen der Erstere dem letzteren eben mittels eines angebrannten Korkstöpsels die Nase schwarz färbte, damit diese, wie er auf Osfeld's Frage erklärte, dem Gesicht das Aussehen eines Totenkopfes gäbe. »Denn sehn Sie,« nahm hier Samiel, sie als ein höchst artiger Teufel begrüßend, das Wort, »wenn de Nase schwarz is, so sieht man se nich vom Bublikum aus, und dann kriegt das Gesicht 'was Schreckliches!« In dem Augenblick klingelte es, und der Vorhang ging wieder auf; die beiden Freunde blieben daher, um während der Aufführung keine Störung zu verursachen, hinter der Scene und unterhielten sich indessen mit Herrn Magnus, der eben beschäftigt war, ein ziemlich umfangreiches, wahrscheinlich eben gestimmtes Hackebrett wieder in seinen Kasten hineinzulegen, da sie ihm, wie er 60
äußerte, während der Wolfsschlucht »hineindämmern« könnten. Agathe sowohl wie Aennchen schienen aber ungemein wenig von ihren Rollen zu können, und der Director glaubte den Gästen darüber eine Erklärung schuldig zu sein. »Sehen Sie,« sagte er, »die neuen Stücke, die geben wir gewöhnlich hier immer erst einmal am Montag bei Kurfirschtens, und die betrachten wir gewissermaßen als Generalprobe; kommen wir nachher am Mittwoch in's Weinlaub oder gar am Sonnabend in die schwarze Gasse – dann geht's auch dafür »wie geschmiert«.« »Aber sagen Sie einmal, Herr Magnus,« frug jetzt der zu ihm tretende Max – »hier im Buch – oh, Sie entschuldigen,« wandte er sich gleich darauf mit einer Verbeugung an die Fremden, »hier im Buch steht, Max soll sich den Hut in's Gesicht drücken und zu »verschiedenen Thüren abgehen« – er darf doch nicht wieder kommen?« »Au!« sagte Osfeld, den Wehrig in diesem Augenblick rücksichtslos auf den Fuß getreten hatte. »Ne, ich bitte Sie um Gottes Willen!« rief zur gleichen Zeit der Direktor – »so seien Sie doch nicht so – Herr Gott, da draußen sehen Sie sich schon nach Ihnen um – Sie kommen ja.« Und Max kam wirklich, denn mit flüchtigem Blick hatte er sich von der Wahrheit des Gesagten überzeugt – sein Stichwort war gefallen, und wie ein junger Sturmwind, nur freilich von der ganz entgegengesetzten Seite, als von welcher ihn Agathe erwartet hatte, stob er auf die Bühne und spielte in lobenswerter Leidenschaft die Scene durch. Da aber nun, wie Herr Magnus jetzt äußerte, die Vorbereitungen zur Wolfsschlucht zu viel Raum wegnahmen, als um blos zwischen dem Hintergrund und 61
der Rückwand abgemacht zu werden, so mußte nach dieser Scene der Vorhang wiederum fallen, und der wichtigste Moment des Stücks nahte sich seinem Beginnen. Kaum war die Leinwand herunter, als Magnus mit einem Satz auf die Bühne sprang und eine ungeheure Eule an die Kulisse schrauben wollte. »So halten Sie doch nur uff!« meinte aber Samiel sehr ernsthaft – »es muß doch erscht verwandelt werden.« »Ja so!« sagte der Director und nahm den Vogel der Nacht wieder an sich, einige von den Schauspielern dagegen stiegen schnell auf hinzugerückte Stühle und knüpften die Bindfaden am obern Theil der Coulissen auf, welche diese im Mittelpunkt festhielten. »Die Stube« fiel denn auch im nächsten Augenblick zu den Füßen der Bäume nieder, wo sie an der Wurzel der »Riesenstämme« auf einem Häufchen liegen blieb; die Hinterdekoration glitt auf gleiche Art über sich selbst zusammen und – »furchtbar gähnte der düstere Abgrund«. Nun wurden ebenfalls die nöthigen Vorrichtungen für das wilde Heer getroffen. Die Figuren nämlich, als: Drachen, Molche, Schlangen, Eulen und Gerippe, alle von Magnus selbst, in der Größe eines mäßigen Haushahns, auf Pappe gemalt, kamen an ein dünnes, von der rechten zur linken Hintercoulisse gespanntes Seil, damit der Spuk quer über die Bühne gezogen werden konnte. Zu den ferneren Schrecknissen der Höllenschlucht gehörte auch noch ein Haufen Pflastersteine, die, als Entschuldigung für Todtenköpfe, zu dem Zauberkreis verwandt werden sollten, und neben diesen lag ein Haufen dünn gezupften Werges (Hede), dessen Nutzen aber erst später klar werden sollte. Auch die Eule saß jetzt, fest angeschraubt, auf ihrem Zweig (oder vielmehr auf freier Luft neben der Coulisse), während hinter ihren 62
äußerst rund ausgeschnittenen Augenhöhlen ein matt und schläfrig loderndes Dreierlicht brannte. Draußen aber vor der Bühne jubelte und tobte die Menge. »Anfangen – anfangen!« schrie das Publikum – »das währt ja eine Ewigkeit!« fiepte eine einzelne Stimme – »wir wollen mit helfen,« antworteten andere. – »Anfangen – Vorhang auf!« tobte der Chor wieder, und Magnus, schnell gefaßt, ergriff die Klingel und bearbeitete sie nach Leibeskräften. »Herr Jeses – ich habe den Drehschwärmer noch nicht fest!« rief Samiel erschrocken. »Thut nichts,« beruhigte ihn der Director – »ich klingelte nur, damit die Flegel da vorne glauben sollten, es ginge an, und Ruhe halten.« Das Mittel erwies sich auch als probat, denn der Sturm war beschwichtigt, und Alles harrte in gespannter Erwartung der Dinge, die da kommen sollten. »Wär' es nicht besser, wir sähen uns die Wolfsschlucht von draußen mit an?« frug Osfeld den Freund – »der Eindruck ist auf jeden Fall stärker.« »Gern!« erwiderte jener, »aber was zum Henker macht denn der dort mit dem Werg?« Sein Ausruf bezog sich auf einen kleinen dünnen Mann, der hinter der ersten Coulisse niedergekauert saß und mit der ernsthaftesten Miene von der Welt das Werg in kleine Kügelchen zusammendrehte und neben sich legte. Eben, als sie ihn über dessen beabsichtigte Nutzbarkeit fragen wollten, hatte der auf's Neue erwachte Unmuth des kaum noch zu bezähmenden Publikums seinen Höhepunkt erreicht, und die Klingel tönte nun in gutem Ernst, so daß die Beiden kaum noch Zeit behielten, vorzuspringen und ihre Plätze wieder einzunehmen.
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Da rollte der Vorhang auf, und zugleich tönte des Directors Stimme von innen hervor: »Lichter aus!« Das ließ sich denn auch die liebe Jugend nicht zweimal sagen – unter lautem Jubelruf fielen sie mit Mützen und Händen über die unglücklichen Talglichter her – denn Jeder wollte des Ruhmes theilhaftig sein, bei dem »Theater« mitgewirkt zu haben – und in wenigen Secunden herrschte finstere, grausige Nacht in der »Schreckensschlucht«. Caspar stand in der Mitte und legte den Zauberkreis von Dresdner Straßenpflaster, während dicht neben ihm ein mit Augen und Nasenhöhlen versehener Kürbis Gastrollen als Todtenkopf gab. »Chorsingen!« schrie da eine Stimme aus dem Publikum – aber »Ruhe – Ruhe!« gebot es von allen Seiten, und der gottlose Jäger begann, gerade als hinten aus einer großen blechernen Kanne Zwölfe geschlagen wurde, seine Beschwörung. Kein Laut regte sich weiter – kaum athmen hörte man die fest zusammengedrängte Menschenmasse – auf den Zehen, mit vorgestreckten Hälsen und zum Aeußersten aufgerissenen Augen starrten sie hin auf das, was sich jetzt vor ihnen entwickeln sollte – aber nichts – gar nichts konnten sie sehen, Samiel erschien – wenigstens vernahmen sie seine Stimme – doch tiefe Nacht deckte, höchst allegorisch, den Fürsten der Finsterniß – Max trat auf, und die Gestalt wurde, als sie in den Vordergrund schritt, allerdings sichtbar, wie er aber rief: »er sähe seiner Mutter Geist – so lag sie im Grabe –« und von Agathe erzählte, die in den Fluß springen wollte, da brummte der kleine dicke Fischer, der jetzt ganz behaglich einen der leergewordenen Stühle eingenommen hatte, leise vor sich hin. 64
»Der muß drämen – ich sehe weeß Gott nischt.« Der Kugelsegen kam jetzt, und mit ihm das ganze Schauerliche der Schlucht; Magnus postirte sich dabei hinter die Eule und zog ruckweise an einem dort befestigten Bindfaden, um dieser die Flügel zu lösen. In der Maschinerie selbst mußte aber wohl etwas versehen sein, denn der einzige Erfolg des Ziehens war das Herunterfallen des Lichts, wobei die Eule natürlich die Augen schloß als ob ihr die ganze Schlucht zuwider gewesen wäre. »Zwei!« sagte Caspar, und aus der linken Coulisse flog ein Irrlicht in Gestalt einer brennenden Flocke Werg, und zwar gerade auf des Kugelgießenden Leib geschleudert – der sich dessen jedoch noch entledigte. »Drei!« und mehrere Irrwische zuckten in schneller Reihenfolge auf den trotzigen Jägerburschen ein. »Werfen Sie doch nicht so hierher,« flüsterte dieser schnell und heftig in die Coulisse hinein – »Sie brennen Einem ja die Lumpen an – Vier!« Immer dichter flogen die leuchtenden Flocken, und aus der gegenüberstehenden Baumgruppe kam ein einsamer Schwärmer herausgezischt. »Fünf!« sagte Caspar – zwei Schwärmer prasselten dabei von der linken, ein dritter von der rechten Seite los, und hinten wälzte sich etwas Schwarzes über die Bühne; was? konnte natürlich nicht ergründet werden, und nur eine Frauenstimme hielt es – jedoch auch nur vermuthend – für »Magnussens Jungen«. Das Schreckliche schien jetzt seinen höchsten Grad erreicht zu haben – die vorn gelagerte Jugend hatte sich dicht zusammengedrängt und schaute mit heimlichem Grausen auf das teuflische Treiben hin, was sich vielleicht zum ersten Mal dort ihren Blicken erschloß.
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»Sechse!« brüllte Caspar, und jetzt flog auf einmal ein ganzer Klumpen flammenden Werges schnurgerade auf ihn zu, so daß er, ohne dadurch im Mindesten aus der Rolle zu fallen, aufsprang, gotteslästerlich und recht für den Platz passend zu fluchen anfing und in die Coulisse hinein drohte. Derselbe dunkle, schon früher erwähnte Gegenstand kam dabei zurück, wieder brannten mehrere Schwärmer ab, im Hintergrund, doch unsichtbar, ahmten verschiedene hohe und tiefe Stimmen eine Anzahl von Haus- und wilden Thieren nach, und Caspar stöhnte: »Wehe, das wilde Heer!« Diese Ankündigung und der Lärm war jedoch Alles, was man von der Existenz desselben erfuhr, denn nach dem Verplatzen der Schwärmer hatte sich eine solche egyptische Finsterniß auf die Bühne gelagert, daß man von den kleinen Pappfiguren, die in diesem Augenblick aller Wahrscheinlichkeit nach über die Scene gezogen wurden, auch nicht die Spur erkennen konnte. »Sieben!« rief Caspar – in der Dunkelheit umhertappend – und jetzt kam der Schlußeffect des Ganzen. Der unbekannte Feuerwerker, der auf diesen Moment sicherlich schon sehnsüchtig gewartet hatte, schüttelte plötzlich in boshafter Schadenfreude einen förmlichen Sprühregen lodernder Wergkugeln über den unglücklichen Jägerburschen aus – Max fiel auf die Pflastersteine – Agathe hob das heruntergefallene Licht wieder auf und steckte es hinter die Eule, Samiel trat mit einem großen Schritt auf die Mitte der Bühne und entzündete hier mit gewandter Hand den Drehschwärmer, der sein Feuer rücksichtslos umhersprühte, die unbekannten Thierstimmen und Peitschenknall darstellendes in die Händeschlagen wurden wieder hörbar, und unter dem donnernden Jubelruf der Menge fiel der Vorhang. 66
Auf der Bühne schienen aber trotzdem die Spielenden ihre Rollen noch nicht beendet zu haben; denn kaum war mit dem Fallen der bunten Leinwand dem Publikum der Anblick sämmtlicher Schrecknisse entzogen, als auf der rechten Seite die Waldvorhänge zurückgerissen wurden und mit Blitzesschnelle das kleine dürre Männchen hervorglitt, das Wehrig früher schon als Feuerwerker aufgefallen war. Seine Eile erschien übrigens vollkommen gerechtfertigt, denn dicht hinter ihm, und als er eben mit unbeschreiblicher Gewandtheit zwischen den Füßen der noch immer der Bühne Zugedrängten verschwunden war, fuhr ein fürchterlich bemaltes, roth erhitztes Gesicht, zum Entsetzen einiger friedlichen postirten Dienstmädchen, aus der Walddecoration hervor, und die funkelnden, rachesprühenden Augen sprachen ganze Bände. Caspar durfte sich aber jetzt unmöglich schon wieder unter dem Publikum zeigen, es hätte die schöne Illusion zu sehr gestört – einen bittern Fluch also nur Dem nachschickend, der ihn – überdies schon von dem Höllenfürst bedrängt – so schwer geärgert hatte, zog er den Kopf wieder zurück, und das »Blättermeer« schloß sich über ihm. So schnell die Erscheinung jedoch auch wieder verschwunden sein mochte, so war sie doch nicht unbeachtet vorübergegangen, und von Mund zu Mund lief der Ruf: »Du – hast 'en gesehen? das war der Caspar!« »Herrliches Jagdwetter heute!« Wer kennt nicht den Anfang des legten Actes – die Jäger traten auf. Waren aber die Spielenden schon im ersten Act über das confus gewesen, was ein jeder zu sagen hatte, so nahm dies jetzt wirklich auf eine an das Wunderbare grenzende Weise überhand, und keiner wußte mehr, mit welchem von ihnen der Souffleur sprach. 67
So hatte zum Beispiel in der Scene zwischen Max und Caspar Jener Diesen um seine letzte Freikugel gebeten, Agathe soufflirte aber nun schon zum fünften Mal, und zwar mit lauter Stimme: »Schuft!« aus der ersten Coulisse heraus, und Max that noch immer nicht, als ob ihn die Rede überhaupt etwas anginge, so daß dadurch Caspar verleitet wurde, den Kameraden gröblich zu beleidigen, und dieser nun zornig abging. »Chor singen – Chor singen!« schallte es wieder, und zwar ziemlich durchdringend, aus dem Publikum heraus – »Chor singen!« tönte es von allen Seiten wieder, »Jungfernkranz singen – Jägervergnügen singen! – auf dem Zettel steht Chor – Chor!« rief und schrie es durcheinander. »Bin doch neugierig,« sagte Osfeld, »wie sie da drinnen den Chor zu Stande bringen werden – komm, wir wollen einmal zusehen, vielleicht können wir helfen!« »Mir recht,« lachte Wehrig, »es ist überdies nicht gut, daß der Baß sonst gewöhnlich beim Jungfernkranz fehlt.« Sie standen auf und erreichten nach unzähligen »bitte um Entschuldigung und haben Sie die Güte« den Eingang zur Bühne, auf der aber indessen eine wesentliche Veränderung vorgegangen und alles Teuflische – nur Samiel ausgenommen – verschwunden war. Selbst die Eule lehnte, mit dem Kopf nach unten, in der Ecke, und das Hackebrett paradirte jetzt frei und offen auf einem schmalen Tisch, vor welchem Magnus im Anzug des Fürsten Ottokar, mit wehenden Barettfedern, stand und in jeder Hand einen der Klöppel schwang, mit welchen das Instrument gespielt werden sollte. Der Vorhang war indessen wieder aufgezogen und der Tumult hatte sich beruhigt – Aennchen erzählte ihre Kettenhundgeschichte, und nun traten die Brautjungfern her68
ein. Da aber – ehe noch ein frevelnder Mund das Wort »Chor« auf's Neue aussprechen konnte, quollen die sanften Töne, von wirklich geübter Hand hervorgelockt, aus den langgespannten Stahlsaiten, und Magnus präludirte den »Jungfernkranz« (der soll nie sagen, daß er ein Deutscher sei, der das Lied nicht kennt), während die hinter den Coulissen Stehenden als Caspar, Samiel, Max, der »Eramit« (wie er genannt wurde), und selbst Osfeld und Wehrig in Baß und Tenor mit einfielen zu dem, was Agathe und Aennchen vorn auf und etwa ein halbes Dutzend Freiwilliger indessen vor der Bühne sang. Zur Unterstützung piepten noch, aber nur leise und schüchtern, einige dünne Kinderstimmen mit ein in den feierlichen Chor, und Fürst Ottokar fuhr jetzt, mit kühner Hand in die Variationen des Liedes eingehend, schnell und sicher über die Saiten hin. Da schwieg der Chor plötzlich – die Todtenkrone hatte sich gefunden – die Brautjungfern standen entsetzt – aber das Hackebrett schwieg nicht – wild rauschten die Töne – »veilchenblaue Seide« – die droschkenfahnfarbenen Barettfedern schwankten über dem Instrumente, die immer größere Aufregung des Spielenden bekundend. Vergebens that der»Eramit« Einspruch – vergebens nahm sich selbst Samiel der Sache an – Ottokar's Seele lag in den Saiten, und erst als schon Alle abgegangen waren, als die Stube wieder heruntergefallen, als Caspar, Max und Kuno aufgetreten, ja erst dann, als man nach dem Fürsten rief – verstummte der »Jungfernkranz«. Ottokar sprang empor und war in dem einen Moment wieder ganz der Fürst. Mit stolzen Schritten trat er vor, sah sich im Kreise um – hob die Hand, und stimmte im nächsten Augenblick mit starker, wenn auch etwas heiserer Stimme das »Jägerlied« an. 69
Hierin aber war das Publikum zu Hause – von allen Seiten her fielen sie, freilich in gar sehr verschiedenen Tonarten ein, und ein solcher Sturm bewegte plötzlich den kleinen Raum, daß ein friedlicher Polizeidiener, der bis dahin – incognito – in dem benachbarten Schenkzimmer neben einem Glas Bier geschlafen hatte, plötzlich, völlig munter geworden, aufsprang und dem Schauplatz zueilte, da er – wie er später äußerte – geglaubt hatte, »es keilten sich welche«. Bis zu diesem Lied nun war noch Alles so ziemlich in seinem ruhigen Gleis fortgegangen; bis hierher schien doch Jeder wenigstens eine Ahnung von dem gehabt zu haben, was in seiner Rolle stehe; von nun aber entstand eine Verwirrung, wie sie wohl noch selten dagewesen. Kein Mensch wußte mehr, was er zu sagen hatte und welches sein Stichwort sei. – Jeder sprach die verkehrten Sätze, und Agathe, die hinter der Coulisse vor soufflirte, mußte sich, nach einem Ausdruck des »Eramiten«, die Seele aus dem Halse schreien. Zu diesem kam noch, daß der Director selbst die ganz besondere Eigenheit hatte, nie dieselben Worte, sondern immer nur den Sinn dessen wiederzugeben, was ihm soufflirt wurde! Geschah das nun aus Stolz oder aus dem Bewußtsein innerer Ueberlegenheit – wer konnte es ergründen? nur würde es Jeden zur Verzweiflung gebracht haben, der auf ein richtiges Stichwort von seiner Seite gewartet hätte. »Wo ist die Braut? ich habe so viel zu ihrem Lobe gehört, daß ich auf ihre Bekanntschaft recht neugierig bin!« flüsterte die Souffleuse nun zum dritten Mal. »Wo steckt aber denn nur die Braut?« sagte Fürst Ottokar, sich überall umsehend – »ich bin recht neugierig geworden, ihre werthe Bekanntschaft zu machen.« 70
»Ich habe so viel zu ihrem Lobe gehört!« keuchte die Souffleuse. »Soll ein recht gutes Mädchen sein,« sagte der Fürst. »Nach dem Beispiel Eurer erlauchten Ahnen war't Ihr immer sehr huldreich gegen mich und mein Haus!« rief die Souffleuse wieder; Kuno aber, der wohl fühlte, daß er in diesem Augenblick etwas zu sagen hatte, obgleich er kein Wort von dem verstand, was Agathe – die bis dahin ebenfalls ziemlich heiser geworden war – auf der andern Seite ablas, faßte sich ein Herz, trat einen Schritt vor und begann: » Dorchlauchigster!« »Nach dem Beispiel Eurer erlauchten Ahnen war't Ihr immer sehr huldreich gegen mich und mein Haus!« »Dorchlauchigster!« wiederholte Kuno, der die letzten Worte verstanden hatte – »was mich und mein Haus betrifft« – er stak fest – keine zehn Pferdekräfte hätten ihn wieder losgerissen. Da nahm Caspar das Gespräch auf und dankte dem Fürsten für die Huld, die er »seinem Haus und ihm« stets bewiesen habe. Max mußte nun laden, und Agathe flüsterte, über das Buch hinwegsehend: »Caspar hat vielleicht noch seine letzte Freikugel – er könnte wohl gar – noch einmal und nimmer wieder –« Alles schwieg. »Caspar hat vielleicht noch seine letzte Freikugel – er könnte wohl gar – noch einmal und nimmer wieder –« sagte die Souffleuse, dringender als vorher. Niemand regte sich – da trat Fürst Ottokar, der doch wohl nicht so ganz sicher war, ob das vielleicht in seiner eigenen Rolle stehe, vor, streckte die rechte Hand aus und sprach:
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»Nun, so schieß – dies eene Mal noch, aber nie wieder!« Max schoß wirklich – die Büchse ging glücklich los, und Caspar, der sich indessen schnell hinter einen im Hintergrund vorgehaltenes Stück Wald gestellt hatte, stürzte von seiner Höhe herunter und wand sich auf der Erde. Nun aber nahm es die Geschicklichkeit und Aufmerksamkeit der Schauspieler im höchsten Grade in Anspruch, die folgende Scene zu spielen und doch in gleicher Zeit zu nicht mehr als der gesetzlichen Zahl, zu Vieren, zusammen auf der Bühne zu stehen. Agathe übergab also schnell dem Aennchen ihr Soufflirbuch, rief: »Schieß nicht, Max – ich bin die Taube!« und fiel in Ohnmacht; Kuno aber und der Fürst traten in die Coulisse, und während Max neben Agathen kniete, erschien Samiel hinter seinem Opfer. Unsichtbarer Weise rief dabei Kuno: »Schaut, oh schaut, Er traf die Braut, Der Jäger stürzte vom Baum, Wir wagen's kaum, Nur hinzuschaun, Oh furchtbares Schicksal; oh Graun!« Caspar wand sich indeß in fürchterlichen Zuckungen auf der Erde und stieß seine gotteslästerlichen Reden aus, während Samiel einige mit diesen harmonirende Bewegungen machte, als ob er im Begriff sei, Jenem die Seele, wie einen Bandwurm, aus dem Leibe zu ziehen. »Dem Himmel Fluch – Fluch Dir!« schrie der zum Tode verwundete Jäger. »Das war sein Gebet im Sterben!« flüsterte die Souffleuse. 72
Keiner achtete darauf; Max beschäftigte sich mit Agathen – die Uebrigen waren nicht da. So erbarmte sich denn Samiel – that einen letzten Ruck, als ob ihm die Seele abgerissen wäre, und sprach mit dumpfer Stimme: »Das war sein Gebet im Sterben!« – Dann erfaßte er den Körper des Caspar, schleppte ihn der Coulisse zu und wollte ihn eben hineinschleudern; der war ihm aber entweder zu schwer geworden, oder er hatte vielleicht aus Versehen auf den Jagdrock getreten, kurz, er kam in's Stolpern, ließ Jenen, noch halb auf der Bühne, fallen und schoß über sein Opfer hinweg in die Coulisse und – wahrscheinlich in den Abgrund der Hölle hinein, wobei er sich aber das übrig Gebliebene augenblicklich nachkommen ließ. Nach Abgang der Beiden trat auch der Fürst mit Aennchen wieder heraus – Agathe erholte sich und Max gestand nun sein Verbrechen. Hierauf folgte die Ausweisung, und in diesem Augenblick, während Aennchen wieder in die Coulisse verschwand, erschien der »Eramit«. Sein Auftreten war feierlich – der Fürst, Max und Agathe knieten vor ihm nieder – segnend breitete er seine Hände über sie aus – tiefes Schweigen herrschte im Saal – die vorn gelagerte Jugend lauschte in der gespanntesten Erwartung. Da drohte plötzlich eine aus dem Nebenzimmer kommende, höchst profane Stimme den ganzen schönen Zauber zu zerstören. »Glöckner!« rief es. »Ja.« antwortete ein tiefer Baß aus der Mitte des Publikums. »Spielst' 'en Schafskopp mit?« »Ne – jetzt noch niche – aber gleich,« entgegnete Glöckner. Doch Niemand lachte. »Ruhe!« rief der kleine 73
dicke Fischer und sah sich ärgerlich um, und »Ruhe!« »Bst! bst!« tönte es von allen Seiten. Die Ruhe war augenblicklich wieder hergestellt – und der Fürst wurde nun versöhnt – Max bekam ein Jahr Urlaub, und jetzt plötzlich fuhr eine lange Hand links aus der Coulisse heraus und schüttete etwas auf die Erde – in der nächsten Secunde folgte dem Vorangegangenen ein brennendes Schwefelholz, und mit den Schlußworten: – »darf kindlich der Milde des Vaters vertrauen!« stieg eine bläulichrothe bengalische Flamme auf, die das ganze Theater in ihren magischrosigen Schein hüllte. »A–h!« tönte es aus jedem Munde – der Eremit hob wie betend seine Hände empor und – der Vorhang fiel schnell. Da erst gewann das Publikum Athem und Besinnung wieder. »Caspar 'raus!« tobte jetzt die Menge – »'raus! 'raus! Caspar 'raus!« »Samiel ooch!« piepte die ganz feine Stimme. »Caspar 'raus! – 'raus mit 'em Caspar!« Osfeld und Wehrig suchten Caspar zu überreden, daß er sich doch »dem Volk zeigen möchte«; dieser aber, der sich schon eines höchst nöthigen Kleidungsstückes entledigt hatte, rief ihnen entgegen: »Ich kann ja nicht – ich bin ja schon ausgezogen.« Doch was halfen solche Entschuldigungen – »es tobt der See und will sein Opfer haben«. »Caspar 'raus!« donnerte die Menge, und er mußte, wohl oder übel, in das Kleidungsstück zurückfahren. Schnell zog er sich noch den alten Oberrock über, frug den Director, als er sich die Haare aus dem Gesicht strich und die zwei untersten Knöpfe einhakte: »Was zeig' ich denn an?« und trat auf die schnell gegebene Antwort hinaus. 74
»Bravo!« schrie die Menge – »noch emal so en Feier!« eine einzelne Stimme, und Caspar sprach, die rechte Hand auf dem Herzen und mit tiefer Verneigung: »Ich hoffe – diesen Beifall – nicht verdient zu haben; heut über acht Tage,« fuhr er dann aber mit etwas erhöhter Stimme fort –»werden wir die Ehre haben wieder aufzuführen: »Kunibert von Eulenhorst, oder der geschundene Raubritter – Ritterschauspiel in fünf Aufzügen«.« »Magnus soll leben – hoch!« jubelten ein paar Tenorstimmen – »hoch! und abermals hoch!« fiel der Chor ein, und hinaus strömte das Publikum in's Freie. Zur Thür drängte sich die muntere Schaar – die jungen Leute, die Mädchen und das Militär, die Fischer und Handwerker – scherzend und lachend, ein Theil noch in dem Wirthshaus selber den Abend zu verbringen und auf dem schmutzigen Billard die Kugeln hinüber und herüber zu stoßen, oder sich auch in kleinen Gruppen durch die Stadt zu zerstreuen, den eigenen ärmlichen Wohnungen zu, und von Samiel und Wolfsschlucht zu träumen. Osfeld und Wehrig aber blieben noch zurück und waren schweigende Zeugen, wie die Herrlichkeit verging, wie die Lichter erloschen – die Künstler wieder Menschen wurden. Das Komische war entschwunden, und der Ernst des Lebens schaute höhnisch, wie aus einem nackten Todtenschädel hervor. »Was macht das Kind?« frug Max, der die Jagdkleider abgelegt und nur die Reiterstiefeln noch anbehalten hatte, eine junge Frau – seine Frau, die eben zur Thür hereintrat. »Es lebt noch,« erwiderte diese mit verweinten Augen – »wenn Du's aber noch einmal sehen willst, so mach', daß Du nach Hause kommst.« 75
»Ist Ihr Kind so krank?« frug Osfeld teilnehmend. »Ja – ich glaubte nicht, daß ich es nach dem Theater noch am Leben finden würde,« seufzte Max aus tiefer Brust. »Wie konnten Sie aber spielen, wenn Sie Ihr Kind zu Hause so leidend wußten?« »Der Winter ist hart,« seufzte die Frau – »und die paar Groschen thun noth.« Damit verschwanden die Beiden in der Thür. Magnus sah ihnen, das Kinn in die Hand gestützt, nach; dann wandte er sich seufzend ab und murmelte, mehr mit sich selbst als zu den Anderen redend. »Ja, ja – es thut weh – recht weh – dagegen kommt's aber doch nicht auf, wenn man draußen stehen und den Hanswurst machen, tanzen, springen und tolle Spaße reißen muß – und daheim dann indessen die Frau auf dem Stroh liegt.« »Und das haben Sie gethan?« »Der Mensch kann viel ertragen,« fuhr der Director fort, indem er das Hackebrett wieder in den Kasten legte – »leben, mein Gott, leben wollen wir ja Alle – ich habe sieben Kinder.« »Bringt Ihnen denn das Theaterspielen auch so viel ein, daß Sie davon leben können?« frug Wehrig. »Im Winter, ja – wenn nur die langen Sommerabende nicht wären – da aber einen ganzen Abend Komödie zu spielen und nachher – es ist schon dagewesen – vier Pfennige auf den Antheil heraus zu bekommen, da reicht's denn freilich nicht einmal für trocken Brod aus.« »Warum ergreifen Sie aber nicht etwas Anderes; verstehen Sie keine Profession?«
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»Ja – aber das ist zu spät,« seufzte jener – »ich bin alt und schwächlich – würde auch keine Kundschaft mehr bekommen.« »Dann sollten Sie sich aber wenigstens bemühen, Ihr Theater so viel als möglich zu verbessern. Eine erhöhte Bühne würde Ihnen zum Beispiel einen viel größeren Zuhörerkreis sichern, weil denn auch die weiter Zurückstehenden im Stande wären, von den Schauspielern mehr zu sehen als eben die Köpfe.« »Ja, wenn ich das dürfte!« erwiderte der Director – »das ist mir aber polizeilich verboten – warum? weiß der liebe Gott; sie können doch unmöglich befürchten, daß ich dem Hoftheater Schaden thue. Auch darf ich nie mehr wie vier Personen auf einmal draußen stehen lassen – da kriecht immer so ein oder der andere Polizeidiener hier herum, und neulich, wo einmal aus Versehen fünf geblieben waren, zeigte mich der an, und ich mußte einen Thaler und fünfzehn Neugroschen Strafe bezahlen – das schmerzt. Einundzwanzig Groschen hatten wir im Ganzen eingenommen, und nun noch der Saal und die Lichter! Ja, wenn die großen Herren da oben nur manchmal wüßten, wie ungerecht solche Strafen vertheilt sind – sie änderten es gewiß ab – denn so bös sind sie nicht, sie wissen's nur nicht. Ein Thaler fünfzehn Neugroschen! – das klingt ihnen so unbedeutend – so wie gar nichts – und dafür mußten neun Menschen zwei Tage lang hungern!« »Läßt sich denn aber dagegen gar nichts thun?« frug Osfeld. »Gegen die Polizei?« meinte achselzuckend Magnus und lächelte mitleidig über die Frage. »Doch, meine Herren, ich muß nach Hause – die Frauen sind schon alle fort – beehren Sie uns doch recht bald wieder.« Damit folgte er, den jungen Leuten erst noch freundlich die Hände 77
drückend, den Vorausgegangenen. Osfeld und Wehrig wollten sich jetzt ebenfalls entfernen, als ihnen der noch bis zuletzt gebliebene »Intriguant« entgegentrat. »Komischer Mann das,« sagte er, dabei mit dem Finger hinter dem Director drein deutend – »lamentirt in einem fort und ist eigentlich selber schuld daran.« »Aber wie so?« frug Osfeld – »er thut doch wohl Alles, was in seinen Kräften steht?« »Zugegeben,« lächelte jener, indem er dabei ein Töpfchen Schminke, ein wenig Baumwolle, ein »Endchen« Talglicht und einen am untern Ende schwarz gebrannten Korkstöpsel zusammen in ein Papier wickelte und dies in die hintere Rocktasche schob – »zugegeben, daß er wirklich Alles thut, was in seinen Kräften steht – das ist aber nicht genug – er muß mehr thun, er muß speculiren. Sehen Sie, zum Beispiel mit der Garderobe –« »Die borgen Sie für jeden Abend – nicht wahr?« »Ganz recht – teilweise wenigstens; denn ein paar Schwerter und andere Geschichten haben wir schon – aber was kostet das? Dafür bekommt der Jude die Woche zwei harte Thaler – ich habe meinen Aerger schon genug darüber gehabt. Wenn man einmal Abends in Gedanken bei feuchtem Wetter mit den hirschledernen Stiefeln nach Hause geht, oder sich aus Versehen mit so einem erbärmlichen sammtmanchesternen Wamms zu Bett gelegt hat, daß vielleicht Morgens noch ein paar Federn dran hängen, dann ist immer gleich der Teufel los – wozu das? Warum schaffen wir uns nicht Garderobe an? Warum kaufen wir uns keine?« »Kaufen?« entgegnete ihm Wehrig – »wovon denn? Der Director klagt ja doch, daß er kein Geld habe; wovon soll er also Garderobe kaufen? Etwa auf Credit nehmen?« 78
»Oh ja – das wäre eine sehr gute Idee, der Credit,« rief der Schauspieler, indem er sich noch einmal im Zimmer umsah, ob er nichts vergessen habe, und dabei sämmtliche Taschen befühlte – »sehr gute Idee das, aber – es borgt uns Niemand; der Versuch ist schon mehrere Male gemacht. Nein, Umsicht gehört dazu, und mit Umsicht wollte ich ihm in vier Wochen Garderobe herstellen.« »Doch auf welche Art?« frugen die jungen Leute, jetzt selbst neugierig gemacht, zu gleicher Zeit. »Auf sehr einfache,« sagte der Intriguant, und fing an, seinen schon etwas mitgenommenen Rock bis oben hinaus zuzuknöpfen. »Sehen Sie, bei Konversationsstücken, da muß sich Jeder seine eigenen Lumpen halten, und da wir die Woche hindurch immer nur ein Stück, wenn auch an fünf oder sechs verschiedenen Orten geben, so sparen wir also in jeder solchen Woche zwei Thaler. Nun lassen Sie uns einmal vier Wochen hintereinander Conversationsstücke geben – und da kommen immer nur erst vier auf jedes Wirthshaus – dann haben wir acht harte Thaler gespart, und damit kauf' ich dem Teufel seine Garderobe ab!« »Mit acht Thalern!« rief Osfeld erstaunt aus. »Mit acht Thalern!« betheuerte der Intriguant, während er sich den Hut in die Stirn drückte und ein kleines Bündel, das er in der Hand trug, und was einem reinen, wahrscheinlich noch zu schonenden Hemd sehr ähnlich sah, fester zusammenrollte und unter den linken Arm schob – »mit acht Thalern kaufe ich den ganzen Bettel; doch es wird spät, der Wirth will zuschließen. Also – 'pfehle mich ergebenst, meine Herren!« Und damit, weil er wahrscheinlich glaubte, die Laien tief genug in die Geheimnisse seiner Berechnungen eingeweiht zu haben, stieg er die steile Treppe hinab. 79
Die jungen Leute sahen ihm mit einem Gemisch von Staunen und Mitleid nach, und einen eigenen unheimlichen Zauber übte dabei ihre ganze trostlose Umgebung; der Wirth aber, der schon seit einigen Minuten, mit einem dünnen, flackernden Talglicht in der Hand, das Fortgehen der so lange Säumenden erwartet hatte, schien nicht Lust zu haben, noch länger seine eigene Bequemlichkeit wie das Talglicht der Zugluft preis zu geben. Sie folgten seiner ungeduldig werdenden Bewegung, er schloß dicht hinter ihnen die Thür zu, riß den Zettel ab und überließ es jenen, ihren Weg in's Freie zu finden, was jedoch mit Hülfe einer noch im Voraus brennenden Laterne gelang. Bald standen sie wieder am Ufer der Elbe, und der heitere, blauklare Nachthimmel lachte hell und freundlich auf die stille Erde, auf Glückliche und Unglückliche hernieder.
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Der Osage Weit, weit im fernen Westen von Missouri, an der Grenze des Osagen-Gebiets, wo nur erst wenige der kühnen Pionniere, die den zurückweichenden oder vielmehr zurückgetriebenen Indianern auf dem Fuße folgen, ihre Blockhütten aufgeschlagen hatten, wo sie jagten und fischten und sich dabei ein klein wenig Mais zogen – gerade so viel, als sie unumgänglich haben mußten, um nicht ohne Brod zu sein; da, wo sogar jetzt noch der Elk oder Riesenhirsch seine Fährten dem fetten Boden der Flußthäler eindrückt oder die weite, endlose Prairie durchstreift, zog eines Morgens ein weißer Jäger, die Büchse auf der Schulter, das Messer an der Seite, in der gewöhnlichen Tracht der »Hinterwäldler«, nur mit Schuhen anstatt Moccasins an den Füßen, und mit einer grauen, runden Filzmütze auf dem Kopf, leise und vorsichtig durch den dichten Wald, der sich hier und da in kleinen offenen Stellen lichtete und die Aussicht auf schmale, mit hohem Gras bewachsene Prairien oder Steppen gewährte. Es war ein wunderlieblicher Maimorgen, wohl noch etwas frisch, die Sonne aber, die schon über die Baumwipfel hinüberschaute, meinte es gut, sandte ihre warmen Strahlen durch das dichte Laubwerk der Bäume und trocknete den Thau, der in schweren, großen Tropfen an den Grashalmen hing. Der Jäger war schon den ganzen Morgen umhergestrichen; aber obgleich er mehrere Hirsche in dem thauigen Gras gespürt und ihren Fährten eine Zeit lang gefolgt war, obgleich er selbst ein paar prächtige Böcke Die amerikanischen Hirsche, die mehr zum Dam- als Rothwild gehören, werden Böcke und Doen genannt. mit schon recht stattlichen Ansätzen von Geweihen gesehen hatte, 81
war ihm doch noch keiner zum Schuß gekommen. Vergebens strengte er seine Augen an, vergebens schaute er forschend umher, ja kroch er selbst, mehr als er ging, über das feuchte Land hinweg, es wollte nichts seinen Pfad kreuzen, und unmuthig ließ er sich endlich auf einem umgefallenen Baumstamm nieder, um auszuruhen und seine Jagd dann, in der Richtung nach Hause zu, fortzusetzen; da hörte er in weiter Entfernung einen Schuß. Er lauschte lange und aufmerksam, konnte aber nichts weiter wahrnehmen und lehnte sich nachlässig an einen Ast des Stammes, auf dem er saß, hinausschauend auf einen langen, schmalen Steppenstreifen, der sich weit hinein in die dunkle Waldung dehnte und von weißblumigen Dogwoodbäumen und schlanken, hoch über dieselben hinausragenden Eichen eingefaßt war. Kaum aber zehn Minuten mochte er so gelegen und die liebliche Landschaft betrachtet haben, als da, wo sich der Wald zu vereinigen schien und die Prairie umschloß, ein Hirsch aus dem Dickicht brach und vollen Laufes gerade auf ihn zu kam. Schnell sprang er empor und machte sich fertig, um seine Beute in Empfang zu nehmen, die, wie es schien, sorglos angesetzt kam; als sich aber der Bock, denn ein solcher war es, näherte, erkannte das geübte Auge des Jägers bald, daß er nicht mehr ganz gesund, sondern angeschossen sei, und das Langsame seiner Bewegung nicht von einem Gefühl der Sicherheit, sondern von Schwäche und Mattigkeit herrühre. Nichtsdestoweniger blieb er im Anschlag liegen, und als sich ihm das verwundete Thier auf etwa sechzig Schritt genähert hatte, pfiff er es an.
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Er stutzte – hielt – und brach im nächsten Augenblick, von der sicheren Kugel getroffen, zusammen. Ruhig blieb er auf seinem Standpunkt stehen, lud wieder und trat dann zu dem gefallenen Thier, um es abzustreifen, als er durch die Prairie einen Indianer, mit einem andern geschossenen jungen Hirsch auf den Schultern, in vollem Laufe der Fährte des verwundeten Thieres folgend, ankommen sah. In einem kurzen Trab, kaum, wie es schien, der Last achtend, die er trug, näherte er sich, warf, als er den Erlegten erblickte, schnell seine Beute von den Schultern und begann, ohne auch nur im Geringsten den weißen Jäger zu beachten, den Hirsch von seiner Haut zu befreien. »Aber, lieber Freund,« sagte der Abkömmling der Europäer, »es scheint Euch sehr gleichgültig zu sein, wer den Hirsch geschossen hat, so ihr nur die Haut bekommt, nicht so? Ich sollte doch denken, daß ich auch einiges Recht dazu hätte, denn ohne mein Stück Blei möchten Eure Finger wohl schwerlich von seinem Blute roth geworden sein!« »Hierher gucken!« sagte der rothe Sohn der Wälder, auf die Keule zeigend, in der vier kleine Wunden, von Rehposten herrührend, sichtbar waren. – »Mir!« fuhr er dann in seinem gebrochenem Englisch fort, indem er sich mit dem Stiel seines Scalpirmessers auf die Brust klopfte – »mir erst geschossen, nachher weißes Gesicht – mir Haut – weißes Gesicht Fleisch;« und mit bewunderungswürdiger Schnelle beendete er sein Geschäft des Abstreifens, während der Weiße dabei stand und nicht übel Lust zu haben schien, dem wilden Gesellen mit Büchsenkolben oder Messer bessere Sitte zu lehren. Dieser jedoch behielt ihn von der Seite immer scharf im Auge und beobachtete, wohl solchen Vorsatz vermuthend, jede seiner 83
Bewegungen. Er war kräftig und stark gebaut, und die Farben, mit denen er bemalt, der Schmuck, mit dem er behangen war, kündeten den Krieger an, den manche ehrenvolle Narbe über Brust und Schultern, als ihm die wollene Decke bei der Arbeit herunterrutschte, gerade als keinen Feigling bezeichnete. Endlich war er fertig, zog seine Decke wieder über die Achseln, hing das eben abgestreifte Fell um, hob sich auf dasselbe noch den erstgeschossenen Hirsch, ergriff dann sein Schrotgewehr, und dem Weißen ein flüchtiges » Good bye« zurufend, schritt er schnell und, wie es schien, nicht im Mindesten durch seine Bürde belästigt, dem Dickicht zu, in dem er wenige Minuten darauf verschwand. Halb lachend, halb ärgerlich sah ihm der Weiße noch eine Zeit lang nach, dann aber war es, als ob der Zorn für einen Augenblick die Oberhand gewinnen wollte; er stampfte heftig mit dem Fuß auf den Boden und machte eine Bewegung, dem Indianer in vielleicht keiner ganz freundlichen Absicht zu folgen, doch mochte er sich wohl eines Bessern besinnen, blieb stehen, sah eine kurze Zeit vor sich nieder auf den abgestreiften Hirsch und brach dann in ein helles Gelächter aus. »Hol' ihn der Böse,« rief er endlich, als er sein Messer aus dem Gürtel nahm und neben dem Wildpret niederkniete – »größere Unverschämtheit ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen – kühles Blut – ächt Indianisch. Aber laß ihn zum Henker gehen, er hat mir doch das Wildpret gelassen; ist übrigens sehr ungewiß, ob ich selbst das hier hätte, wenn ihm das andere nicht schon Mühe genug machte.« Während er die letzten Worte so vor sich hin in den Bart murmelte, trennte er die Keulen und den Rücken 84
vom Vordertheil, stand dann auf und ging zu einem jungen Hickory, von dem er einen Streifen Rinde abschälte, sich das Fleisch damit umzuhängen. »So,« fuhr er dann in seinem Selbstgespräch fort, als er die Büchse schulterte und dieselbe Richtung einschlug, die der Indianer genommen hatte – »so, da habe ich doch wenigstens ein Stück Fleisch und komme nicht leer nach Hause; der Onkel wird aber schön lachen, wenn ich die Haut nicht mitbringe. – Verdamm' den Burschen! Ich wollte doch, ich hätte ihn nicht so bereitwillig fortgelassen! – Nun, läuft er mir wieder einmal über den Weg, dann soll er mir für die Haut nachzahlen müssen;« und noch lange vor sich hinbrummend, zog er dem Hause seines Onkels zu. Dieser, ein alter freundlicher Yankee, der vor etwa fünf Jahren von Connecticut nach St.-Louis gekommen war und sich erst seit etwa zehn Monaten so weit im fernen Westen niedergelassen, hatte dies natürlich aus keiner andern Ursache gethan, als um mit den Indianern Handel zu treiben und ihnen ihre Felle so billig wie möglich abzunehmen, hingegen seine Waaren, die sie von ihm, aus Mangel eines andern Händlers in der Nähe, kaufen mußten, so hoch als möglich anzuschlagen. Dennoch hatte er, trotzdem daß er bei dem Handel schon viel Geld verdient und die armen, unwissenden Indianer oft, ja fast bei jedem Geschäft übervortheilte, diese durch sein immer freundliches, gemüthliches Wesen (er war, ganz unähnlich den Yankees, ein kleiner, dicker Mann und alle kleinen, dicken Männer sind gemüthlich) so für sich eingenommen, daß sie gern und willig mit ihm verkehrten und sich nie, selbst nicht bei ihren heftigsten Streitigkeiten, die keineswegs selten vorfielen, feindlich gegen ihn benahmen. 85
Er trieb, wie alle diese Kaufleute (oder besser Krämer) an den indianischen Grenzen, ja selbst in den westlichen Ansiedelungen, fast nur Tauschhandel und gab für Felle und geräuchertes, oft auch frisches Fleisch, für Pelze und gegerbte Häute, für Bärenöl und Honig wieder solche Waaren, deren die Indianer bedurften, als: Pulver und Blei, Decken, Eisenwaaren (wie Tomahawks und Messer), Büchsen, Zinnober, Glaskorallen &c. &c.; sein Haupthandel bestand aber in dem verbotenen Whisky, den er um so theurer an die Indianer abließ, da diese wußten, daß es ihm durch das Gesetz von seinem großen Häuptling verboten war, ihnen das »fließende Feuer« weder zu schenken noch zu verkaufen. Er hielt auch aus dem Grund die Fässer unter dem Hause vergraben, obgleich er in diesem abgelegenen Theil des Staates wenig Nachsuchung zu fürchten hatte. Der Alte saß vor der Thür seines kleinen Waarenlagers und schaute, behaglich rauchend, einem Volk großer schwarzer Truthühner (aus Eiern der wilden aufgezogen) zu, die um ihn herum die zerstreuten Körner und Samen aufpickten, als den kleinen Fußpfad entlang, der aus dem Walde gerade auf sein Haus zuführte, unser schon vorher eingeführter Indianer schnellen Schrittes daher kam und, tief Athem holend, seine Last zu den Füßen des Yankee abwarf. »Hallo, Tom,« rief dieser, dem Wilden die Hand entgegenstreckend, »hast wacker getragen! Nun was bringst Du? zwei Felle und ein Stück roh Fleisch? – bah! ist das die ganze Jagd?« »Gut – setze den Fall, Ihr geht – nehmt Flinte – kriecht durch Büsche – kriecht durch die Prairien auf Bauch – weit – weit – schleicht an Hirsch – setze den Fall, Ihr schießt nichts!« erwiderte Tom. 86
»Wohl möglich!« lachte der Alte, »ich müßte mich auch gut ausnehmen, wenn ich im nassen Grase auf dem Bauch herumkriechen wollte – nein –; ich bin übrigens nie ein Jäger gewesen und das einzige Große, was ich je geschossen habe, war bei St.-Louis eine von meines Schwagers Kühen, als wir einmal Nachts mit der Fackel eine Feuerjagd machen wollten.« Der Indianer verzog den Mund zu einem breiten Lachen. »Euer Schwager wird recht' Freude gehabt haben,« fuhr er nach einer kleinen Pause wieder ganz ernsthaft fort. »Ja! Er schwur, ich dürfe nie wieder eine Büchse anrühren, so lange ich mich in der Nähe seiner Kühe und Schweine befände – nun, ich war damit zufrieden – aber, Tom, was führt Dich zu mir? was willst Du für Deine Felle haben? soll ich denn das Fleisch auch behalten?« »Guter, fetter Bock,« sagte Tom, den Hirsch herumdrehend, daß der Alte den breiten Rücken sehen konnte, – »nicht so breit wie Ihr!« fuhr er grinsend fort, »aber viel breit, sehr viel breit.« »Nun gut, komm! trag es hier in den Laden, da kann ich Dir gleich, was Du dafür haben willst, geben,« erwiderte Jener und schritt ihm voran in das kleine Gebäude, während der Indianer seine Schrotflinte auswendig daran lehnte und ihm mit seiner Beute folgte. Drinnen angelangt, legte er Alles auf den Ladentisch und begann dann zwischen den Waaren, die überall zur Schau aushingen, umherzublicken, als ob er sich etwas aussuchen wollte. »Nun, Tom, was willst Du heute Morgen haben?« fragte ihn endlich der Alte; »heraus mit der Sprache.«
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»Wenig Pulver, wenig Blei, wenig Messer, wenig Tabak und viel Whisky!« sagte Tom. »Whisky? pfui, Tom,« verwies ihn Jener, »Du weißt, ich darf keinen Whisky verkaufen und möchte nicht um alle rothen Felle, die in Missouri herumlaufen, Unannehmlichkeiten solch' verbotenen Handels wegen haben. Tom, Du willst mich nur auf die Probe stellen!« »Ich guter Indianer!« betheuerte Tom, die Hand auf die Brust legend, »ich ein sehr guter Indianer – habe weißen Mann lieb, thue Alles für weißen Mann, gehe in die Kirche; ich ein ganz guter Indianer!« »Aber weißt Du wohl,« widerlegte ihn der Händler, »daß kein guter Indianer Whisky anrührt? daß die guten Indianer ihn alle verschmähen, und daß nur die Bösen, Nichtsnutzigen das Feuerwasser trinken?« »Ich kein guter Indianer – ich ein verdammter Schurke!« entgegnete Tom höchst ernsthaft. »Ja, wenn das ist,« lachte der Alte laut auf, »da muß ich wohl herausrücken,« und schmunzelnd schenkte er dem Indianer ein volles Glas ein, das dieser mit freundlicher Miene leerte. Kaum war Tom mit seinem erlegten Wild in das Haus getreten, als der Neffe des Yankee, eben derselbe Jäger, dem Tom an diesem Morgen so ohne Weiteres den Hirsch abstreifte, am Hause erschien. Er hatte den Indianer erkannt und warf fluchend sein Hirschfleisch von der Schulter, als er dessen Flinte am Hause lehnen sah. »Warte, Schurke,« murmelte er vor sich hin, »Du sollst doch wenigstens Deinen nächsten Schuß fehlen, dafür will ich sorgen, und wenn ich kein Fell habe, magst Du, auf diese Ladung Pulver wenigstens, auch keins mit heimbringen.«
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Damit schlich er sich leise an die Flinte heran, zog mit seinem Kretzer schnell den obersten Pfropfen heraus und ließ sich die Schrote in die Hand laufen; damit aber noch nicht zufrieden, nahm er den andern Pfropfen ebenfalls und setzte einen neuen auf, daß sich ja kein Schrot in jenem hätte verhalten und doch vielleicht noch tödten können, lehnte dann die Flinte wieder an ihre alte Stelle und trat, als ob er eben käme, zu den Männern in den Laden. Tom hatte seine Einkäufe besorgt, steckte, was er für seine Jagdbeute erhalten, in die Kugeltasche, die an seiner rechten Seite hing, setzte nochmals das Glas an, das er schon zum zweiten Mal leer getrunken, und sog die letzten Tropfen heraus, trat dann vor die Thür, ergriff seine Flinte und war im Begriff, nach kurzem Gruß den Weg nach seinem Dorfe einzuschlagen, als die Truthühner seine Aufmerksamkeit erregten, die eben, durch einige ihnen vorgeworfene Maiskörner herbeigelockt, die Köpfe alle zusammen auf einen Punkt hielten und dadurch ein herrliches Ziel boten. Tom bemerkte es und lächelnd auf sie anschlagend, rief er zum alten Kaufmann zurück. »Ich sehr froh – solchen Schuß draußen im Wald!« »Und ich wette einen Dollar, Du triffst keinen!« rief der junge Mann, der die Gelegenheit schnell ergriff, sich an dem Indianer zu rächen. »Ich keinen Dollar haben,« antwortete Tom ganz ruhig; »alte Mann aber hat Otterfell von mir – groß Otterfell – werth ein Dollar und ein halb Dollar – Ihr wettet ein Dollar und ein halb Dollar dagegen – ich treffen viel – viel von denen da!« »Topp!« rief Jener, »hier sind meine anderthalb Dollar – und verlierst Du, so zahlt mir Onkel das Otterfell.« 89
»Gut,« sagte der Indianer und zog den Hahn seiner Flinte auf, um nach dem Pulver zu sehen. Der Alte wollte Einwendungen dagegen machen, denn er hielt es garnicht für möglich, daß der Indianer fehlen könne, und fürchtete, sein Neffe werde das Geld wirklich bezahlen müssen; doch gab ihm dieser schnell einen Wink und leicht beruhigte er sich, als er den wahren Stand der Sache ahnte. – Den Indianer anzuführen, hielt er für nicht mehr als Recht. Tom hatte sich unterdessen überzeugt, daß das Pulver in der Pfanne trocken und in gutem Zustande sei, legte also an, zielte und – drückte ab. Bei dem so nahen Schuß (kaum dreißig Schritt von ihnen entfernt) flatterten die Truthühner erschreckt empor und zerstreuten sich; keins von allen aber fiel oder gab nur das mindeste Zeichen, daß es verwundet sei. Tom stand wie versteinert und schaute bald seine Flinte, bald die Hühner, bald die beiden Männer an; der Jüngere aber sprang und jubelte und lachte und geberdete sich wie toll. Endlich, als er wieder zu Worte kommen konnte, rief er, immer noch mit vor Lachen halb erstickter Stimme. »Guter Tom, guter Tom, wo ist Dein ein Dollar und ein halber Dollar für das Otterfell? oh, guter Tom!« und wieder begann er zu tanzen und zu springen. Tom aber war sehr kleinmüthig und meinte, seine Decke fest um sich herumziehend: »Tom zu viel Whisky – nicht gut! macht Kopf schwer und Hand zittern – Tom keinen Whisky mehr trinken!« und damit trollte er in seinem schwebenden Gang dem Walde zu, in dem er bald darauf verschwand. Vierzehn Tage mochten nach diesem Vorfall etwa vergangen sein, als eines Nachmittags, wo die beiden Wei90
ßen, Onkel und Neffe, gerade wieder zusammen vor der Thür des Waarenhauses saßen, Tom denselben Weg daher geschlendert kam; er trug diesmal einen ganzen Pack zusammengebundener getrockneter Felle, sowohl von Hirschen als Ottern, und sah ordentlich und ehrbar aus; doch verfinsterte sich sein Gesicht ein wenig, als er den jungen Mann erblickte – er mochte wohl an den Schuß denken. Die beiden Weißen begrüßten ihn aber herzlich; er lehnte, wie das vorige Mal, seine Flinte auswendig an's Haus und ging nach kurzem Gespräch mit dem Alten in den Laden, um dort den neuen Handel abzuschließen. Er schien die Truthühner, die ebenfalls wieder auf dem Platz umherliefen, gar nicht zu bemerken; kaum aber waren die Beiden durch die Ladenthür verschwunden, als der Zurückgebliebene von seinem Sitz aufsprang und in wenigen Secunden mit dem Kretzer aus dem dicht daneben stehenden Wohnhaus zurückkam. Leise schlich er wie damals an die Flinte, zog schnell die Ladung Schrot heraus, verbarg den Kretzer und setzte sich dann wieder ruhig auf seinen Stuhl, um das Ende des Handels und das Erscheinen des Indianers zu erwarten. Dieser ließ auch nicht lange auf sich warten, er hatte heute wenig Waaren gebraucht und fast Alles in baarem Geld bezahlt genommen; schien übrigens wenig Lust zu haben, ein Gespräch mit den Beiden anzuknüpfen, sondern ergriff seine Flinte und sagte ihnen ein kurzes Lebewohl. »Holla, Tom!« rief ihm aber der junge Mann nach, »willst Du denn heute Dein Glück nicht wieder mit einem Schuß versuchen?« »Tom hat nicht so viele Dollars!« entgegnete kopfschüttelnd der Wilde, indem er stehen blieb und nach Jenem zurücksah; »die weißen Männer versprechen Feu91
erwasser,« fuhr er ernsthaft fort, »da schießt Indianer Alles, was vorkommt – Großes und kleines, Männchen und Weibchen; – Indianer liebt Feuerwasser. Vor fünf Schneen waren Ottern viel da – sehr viel – große Ottern und fett – jetzt rothe Mann kann fünf Fallen stellen und fängt eine. – Ottern gehen, wo weiße Gesicht kommt – Indianer auch. – Indianer ist arm!« »Bah, bah!« rief der Jüngere lachend – »Du hast wohl selbst heute Morgen wieder einen tüchtigen Schluck Whisky genommen und fürchtest zu fehlen.« »Nein,« sagte Tom, die Hand auf die Brust legend, »nicht angerührt – nicht mit Fuß!« »Du schwankst aber doch so,« fuhr Jener, um ihn zu reizen, lachend fort. »Ich schwanken?« sagte Tom entrüstet – »gut, ich will schießen, will weißem Gesicht zeigen, ich nicht schwanken.« »Gut, hier ist mein Dollar,« sagte der Weiße, das Geld auf einen umgehauenen Baumstamm legend. »Und hier ist meiner,« sagte Dom, »nicht viel Geld ein Dollar – mir gleichgültig.« »Oho, wenn Du so mit Geld prahlst, hier sind fünf Dollars, anstatt des einen; setzest Du dagegen?« »Daß ich kein Truthahn treffe?« frug vorsichtig der Indianer. »Gewiß,« war die Antwort; »triffst Du einen oder mehrere, so habe ich verloren.« »Gut!« entgegnete Tom und langte, ohne weiter ein Wort zu verlieren, noch vier andere Dollars, die er eben für seine Felle erhalten hatte, aus der Kugeltasche und legte sie zu den anderen, nahm dann eine Hand voll Mais aus einem dicht dabei stehenden Futtertrog und warf ihn den Truthühnern hin, trat etwa zwanzig Schritt zurück, 92
zog den Hahn auf, zielte, und beim Schuß – flatterten vier zum Tode getroffene am Boden, und lagen nach wenigen Secunden still und leblos da. Mit weit geöffnetem Munde starrten die beiden Weißen auf das Verderben hin, das Tom's Flinte nicht allein an ihren Truthühnern, sondern auch in ihrer Börse angerichtet hatte. – Der Alte erholte sich aber zuerst wieder und fing an, in allem Ernst gegen den Erfolg des Schusses zu protestiren. »Wenn irgend eine Rothhaut,« wie er sich in vollen Zorn hineinarbeitend, rief – »über seine Truthühner oder sein sonstiges Eigenthum wetten wollte, so konnte sie das in Gottes Namen thun; wer ihm aber sein Geflügel auf dem eigenen Hofe und gewissermaßen unter der eigenen Nase fortschoß, der mußte auch für die Folgen stehen und den Schaden, den er angerichtet hatte, mit baarem Gelde ersetzen.« Er schien dabei nicht übel Lust zu haben, dem Indianer den eben gewonnenen Satz wirklich streitig machen zu wollen; der aber, der indessen und ohne weiter auf den Zorn des kleinen Mannes zu achten, seine Flinte nur ruhig wieder geladen hatte, schritt langsam auf den alten Baumstamm zu, und erst als der Kleine in der That Miene machte, ihm den Weg zu vertreten, wandte er den Kopf nach ihm um. Aber in dem einen Blick, der ernst auf den Weißen fiel, lag, ganz dem bisher gezeigten Charakter des Wilden entgegen, ein solcher Lavastrom voll Zorn, Haß und Rache, daß der Händler erschreckt einen Schritt zurücktrat und den Osagen ruhig gewähren ließ. Im nächsten Moment leuchtete wieder das alte gemüthliche Lächeln aus den Augen des Wilden – ohne weiter eine Miene zu verziehen, ging er zum Baumstamm, schob leise zählend die zehn Dollars, einen nach 93
dem andern, in seine Kugeltasche und warf dann seine Flinte wieder über die Schulter. Als er sich aber zum Fortgehen rüstete, wandte er sich noch einmal zu den Männern und sagte freundlich: »Setze den Fall, Ihr wolltet schießen noch einmal – heut in acht Tagen ich wieder hier – aber,« fuhr er vertraulich fort, als er sich dem jungen Mann etwas mehr näherte, »wenn ich komme zu weiß Gesicht, ich immer zwei Schuß Schrot in der Flinte – setze den Fall, weißer Mann zieht einen heraus – gut – noch genug drin vor andern Schuß. – Good bye!«
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Der Schiffszimmermann Leise wogte die See und warf nur wie spielend ihre durchsichtigen tief blauen, silber beschäumten Wogen gegen die Korallenriffe von Tubuai, der Hauptinsel einer kleinen Gruppe von Eilanden im Stillen Meere, deren Palmen die milde Luft durchrauschten und über deren bis zur höchsten Kuppe bewaldeten Bergen der Himmel sich rein und sonnig spannte. Am sandigen Korallenstrand spielten, als die Schatten länger wurden und das heiße Taggestirn sich mehr und mehr dem Horizont zuneigte, eine ganze Schar bronzefarbiger munterer Kinder, haschten sich, indem sie über die scharfen Korallenstücke mit den nackten Sohlen hinliefen, als ob ihre Füße mit Leder und Eisen gegen jede Verletzung geschützt wären, oder schaukelten sich an langen, aus Kokosfaser gedrehten und in den Kronen der Palmen befestigten Seilen herüber und hinüber – jetzt weit über das blaugrüne Binnenwasser hinaus, über das die mächtigen Bäume ihre Wipfel neigten, jetzt hinein in das Guiaven- und Orangendickicht, mit keckem Fuß die Gefahr abwehrend, gegen irgendeinen der nahen Stämme geschleudert zu werden. Die erwachsenen Männer lagen behaglich ausgestreckt im Schatten eines kleinen Orangen- und Bananenhains, dessen Ausläufer wunderlich starrästige Pandanusbäume bildeten, und schauten teils den Spielen der Kinder zu, teils ziemlich gleichgültig nach einem in der Ferne sichtbar gewordenen Segel, das mit der leichten Brise langsam näher kam. – Geschäftiger dagegen waren die Frauen, die hier und da in der durchsichtigen Flut Kokosschalen zu Bechern abschliffen, Kränze und Haarschmuck aus den weißen zarten Fasern der Pfeilwurz 95
wanden, oder auch mit der Angel, bis zum Gürtel im Wasser, zwischen den Korallen standen, ein leckeres Abendmahl von kleinen Fischen zu fangen. Diese wurden dann roh, nur in Kokosmilch und Salzwasser getaucht, und mit der gerösteten oder gedämpften Brotfrucht gegessen. Früher schallte hier freilich auch das muntere Getön der Tapa-Klöppel durch das schattige Dunkel der Waldung. Die Frauen und Mädchen verfertigten sich damals aus der gegorenen Rinde des Brotfrucht- und Bananenbaumes ihre eigenen Stoffe zu Pareu und Schultertuch; und während ihnen lachend und singend die Arbeit zum Spiel wurde, sammelten sich die jungen Leute um sie her, halfen ihnen den Teig einkneten und ausbreiten, und schnitzten ihnen aus dem harten Holz der Casuarine die Klöppel. Jetzt ist das freilich vorbei. Zuerst brachten ihnen die Missionare, dann andere anlegende Schiffe, besonders Walfischfänger, buntfarbige Kattune und andere billige Stoffe, die ihnen besser gefielen als die einfache, selbst gefertigte Tapa. Die einzige wirkliche Arbeit, die sie bis dahin gekannt, wurde also beiseite geworfen, und der edle Müßiggang, dem die Natur hier mehr als an irgendeinem andern Ort der Welt Vorschub leistet, ward ihnen halb lieber als alles andere. Manchen schlimmen Einfluss hatte das allerdings auf sie, aber das Gutmütige, Einfache, Herzliche in ihrem ganzen Wesen konnte es ihnen doch nicht rauben. Froh und fröhlich lebten sie in den sonnigen Tag hinein, und der Gott da oben, der über ihre Heimat das ganze Füllhorn seiner reichen Schätze ausgeschüttet, musste ihnen ja wohl ein lieber Vater sein. Wenig waren sie dabei mit den Weißen, die sich schon auf den benachbarten Inselgruppen festgesetzt, ja einen 96
Teil derselben sogar gewaltsam in Besitz genommen, in Berührung gekommen. Zwei Missionare siedelten sich allerdings an der Nordseite der Insel an, deren gutmütige Bewohner sie bald ihrem Glauben gewonnen hatten. In wirklich innigem Verkehr mit ihnen lebte aber nur ein einziger Weißer, ein junger, blauäugiger, frohsinniger Schotte, der vor fünf oder sechs Jahren auf einer der Tonga-Inseln einem Walfischfahrer, auf dem er als Zimmermann gefahren, entlaufen war und seinen Weg hierher gefunden hatte. Hier aber fesselte ihn sein Herz. Er verliebte sich in eins von den lieben Gesichtern der jungen Tubuai-Mädchen, die dort zu Dutzenden umherliefen, und da ihm das stille gemütliche Leben dieses, wenn auch von der Welt abgeschiedenen, doch reizenden Platzes ebenfalls gefiel, und die Eltern nicht die geringsten Schwierigkeiten machten, sondern nur eine rechtsgültige Trauung von dem Missionar verlangten, gab er sein unstetes Umhertreiben auf und wurde erstlich ein verheirateter Mann, und dann später ein Familienvater auf Tubuai. Er selber war zwar nur mit der Schulbildung aufgewachsen, die Knaben in seinen Verhältnissen daheim gewöhnlich erhalten; aber sein Handwerk hatte er tüchtig und brav gelernt, und machte weiter an ein gesellschaftliches Leben keine größeren Ansprüche, als ihm die Insel eben bieten konnte. Unter dem blauen Himmel und den wehenden Palmen dieses kleinen Paradieses und zwischen den guten und einfachen Menschen verlangte er nichts weiter: denn das häusliche Glück, das er dort gesucht, hatte er ja gefunden. Überdies fesselten ihn an die verlassene Welt keine anderen Familienbande mehr. Seine Eltern daheim waren tot, Geschwister hatte er nie ge-
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habt, und Intaha, sein liebenswürdiges Weib, das ihm zwei Kinder geboren, war ihm alles. Ehrlich und offen in seinem ganzen Wesen und bei weitem nicht so rau und dem Trunk ergeben, wie es die englischen Seeleute sonst nur zu häufig sind, waren ihm auch die Eingeborenen bald alle freundlich geneigt, und durch seine Geschicklichkeit in manchen für sie höchst wertvollen Kenntnissen wurde er ihnen bald zu einem so nützlichen als gern gesehenen Gefährten. Tomo, in welchen Namen die Eingeborenen sein Tom Burton bald umgetauft, lag auch heute wieder mit ihnen am Strand und schaute halb träumend, halb sinnend zu dem fernen Segel hinüber, das nur langsam und schwerfällig mit der leichten Brise näher kam. Wohl gingen ihm dabei die früheren Szenen wieder durch den Sinn, die er selber damals an Bord eines Schiffes durchlebt: die schwere böse Arbeit, der ewige Unfrieden mit dem Kapitän, dann seine glückliche Flucht, wo er, fünf Tage an wilden Bananen, so genannten Feis zehrend, auf den Höhen von Hapai zugebracht; dann seine späteren Kreuzfahrten zwischen den schönen Inseln, und nun sein jetziges friedliches Stillleben auf der kleinen Scholle mitten im Weltmeer drin. »Und wenn du jetzt mit dem Schiffe dort in die Heimat zurückkehren könntest« – gingen seine Gedanken dabei – »möchtest du fort? Möchtest du Intaha und die Kleinen verlassen, um da draußen wieder unter den kalten, herzlosen Menschen das alte Leben zu beginnen? Nein, bei Gott nicht. Es gibt nichts dort, was mich zurück zu ihnen locken könnte, und es kommt mir manchmal wirklich so vor, als ob ich nur eigentlich aus Versehen im alten Europa geboren wäre, so ganz und völlig gehör ich hierher, wohin mich mein gutes Glück zur rechten Zeit 98
geführt. Da draußen mögen sie sich indessen drängen und treiben, um Geld, nur immer mehr Geld zu verdienen, und das Verdiente dann im wüsten Schlemmen zu verprassen, wie ich es selber früher manchmal getan. Ich will jetzt hier genießen und mich meines Glückes freuen; die Welt – bah – soviel für den ganzen unnützen Lärm, den sie darum machen!« – Die Sonne war indessen, ein roter Glutenball, im Meer versunken, und seine Frau, ein blühendes, blumengeschmücktes, junges, lächelndes Weib, kam, das jüngste Kind ihr auf der linken Hüfte reitend – wie die Frauen dort ihren jungen Nachwuchs tragen –, das älteste, einen kleinen, muntern, dreijährigen Burschen, an der Hand, um ihn abzuholen. Der Tau fing schon an nass niederzufallen. Das Schiff war noch eine ganze Zeit in dem hellen Streifen sichtbar, der im Nordwesten auf dem Horizont lag, und zeichnete jetzt sogar deutlich seine Rahen und Segel ab. Bald jedoch verschwanden die Umrisse desselben in dem Bleigrau des sinkenden Abends, und als der Mond im Osten über die Berge stieg, war es ganz verschwunden. Die Indianer interessierten sich aber in der Tat nur für die Schiffe, die wirklich bei ihnen anlegten, was indessen sehr selten geschah. An diese konnten sie dann Früchte, Gemüse, die sie ihr weißer Freund bauen gelehrt, und auch wohl geschlagenes Holz gegen Beile, Tabak, Kattun, Schmuck, Nägel, Spiegel und andere Kleinigkeiten eintauschen. Dass sie dabei nicht zu sehr übervorteilt wurden, überwachte Tomo ebenfalls, und wie er ihnen bei solchen Gelegenheiten als Dolmetscher wertvolle Dienste leistete, war er ihnen auch in dieser Hinsicht unendlich nützlich. 99
Mühe genug hatte es ihn aber gekostet, die Eingeborenen zu einer wirklich schweren Arbeit zu bringen, wie das Holzhauen in diesem Klima ist, und wenig nützte es dabei, dass er ihnen selber mit gutem Beispiel voranging. Sie setzten sich um ihn her, sahen ihm zu und wollten sich totlachen, wenn ihm der Schweiß in großen Tropfen von der Stirn lief, wurden aber stets sehr ernsthaft, sobald er ihnen selber die Axt in die Hand drückte, und warfen sie auch bald wieder fort. Nur als sie später in die Hände derer, die am fleißigsten gewesen waren, ziemlich reichlichen Gewinn fließen sahen, ließen sie sich eher dazu bewegen mit zuzugreifen. Zureden kostete es indes noch immer. Solch Holzschlagen war aber trotzdem ein Fest für die fröhlichen Kinder dieser Palmenwelt, die das Freundliche einer Sache stets am leichtesten und schnellsten herausfanden. Dann sammelten sich die Mädchen und Frauen um die Arbeiter, pflückten Blumen und banden Kränze, mit denen sie die Geschicktesten und Fleißigsten krönten, oder lachten auch wohl über die Unbehülflichkeit des einen oder des andern. Das geschah aber auf so gutmütige, herzliche Weise, dass er nie hätte darüber böse werden können und jetzt schon durch eine Art von Ehrgeiz angetrieben wurde, seine Sache besser zu machen und ebenfalls einen Kranz zu verdienen. Der nächste Morgen dämmerte eben im Osten, und ein paar der jungen Leute waren früh aufgestanden, um auf den Fischfang hinauszufahren. Deren Ruf weckte aber bald noch mehrere Kameraden, die, als sie erstaunt aus ihren Hütten schauten, das gestern Abend erspähte Schiff klar und deutlich und schon ziemlich nah herankommen sahen. Hätte es nicht die Absicht gehabt bei ihnen anzulaufen, so würde es die Nähe der Korallenriffe, die sich 100
um alle diese Inseln bilden und sie oft auf viele Meilen im Umkreis umschließen, gewiss gemieden haben. Der Seemann hat von diesen Plätzen noch keine guten Karten, und in der Tat wechseln auch die verborgenen Klippen zu oft, um all die gefährlichen Stellen mit Gewissheit anzugeben, und wenn sie angegeben wären, sich auf sie verlassen zu können. Wenn deshalb Schiffe an einer solchen Insel anlegen wollen, halten die Fahrzeuge darauf zu und kreuzen entweder über Nacht in sicherer Entfernung, das Tageslicht abzuwarten, oder werfen auch wohl Anker, wenn sie sichern Grund erreichen können. Das Letztere geschieht freilich nur selten, da die Koralle – jener geheimnisvolle Baum der Südsee, von dem man noch nicht weiß, ob er sein Wachstum sich selbst oder einem darin hausenden Wurm verdankt – fast immer von bedeutender Tiefe jäh und schroff bis an die Oberfläche emporsteigt. Während hier die Woge über das bis zum Wasserrand gehobene Riff hinüberschäumt, findet dicht daneben das Senkblei oft auf fünf- und sechshundert Fuß keinen Grund. An ein Ankern ist natürlich in solcher Tiefe nicht zu denken. Das fremde Schiff – darüber war kein Zweifel mehr – hatte jedenfalls die Absicht, mit dem Lande in Verbindung zu treten, und eine rege fröhliche Geschäftigkeit kam bald über die eben noch schlaftrunkenen Bewohner des Strandes. Vor allen Dingen weckten sie Tomo, um ihn von dem erfreulichen Ereignis in Kenntnis zu setzen, und gingen dann eifrig daran, teils Kokosnüsse und Bananen, Orangen, Guiaven, Papayas, und wie die hundert Früchte alle heißen, zu pflücken, teils Brotfrüchte abzunehmen und süße Kartoffeln, Yams und Wassermelonen aus den Feldern zu holen. Die Frauen waren ebenso fleißig, mit rasch niedergeworfenen Blättern der Kokospal101
me auf eine eigene geschickte, aber unendlich einfache Weise Körbe zu flechten. in diesen konnten sie die Früchte weit besser verpacken und an Bord liefern, und hatten dadurch auch eher einen Maßstab für die Masse und den Wert derselben. Intaha, die Geschickteste und Fleißigste der Insulanerinnen, hatte aus Bambusstreifen und zierlich gefärbten Pfeilwurzfasern allerliebste kleine Körbchen und Taschen gefertigt, um dieselben bei nächster Gelegenheit gegen manche kleine Bequemlichkeit von landenden Weißen einzutauschen. Von Tomo selber standen sechs Klafter Holz aufgestellt, und er hoffte mit seinen Gemüsen, die er gebaut, seinen Früchten, die ihm Gottes Güte wachsen ließ, und seinen Hühnern und Schweinen, die er gezogen, diesmal ein ordentliches kleines Kapital anlegen zu können. Das Schiff kam indessen immer näher, und als es fast bis dicht an die Riffe aufgekreuzt war, wurde ein Boot ausgesetzt. Dieses, von vier tüchtigen Riemen getrieben, hatte schon die schmale Einfahrt in die Riffe bemerkt und kam jetzt durch das glatte Binnenwasser, das stets zwischen den Riffen und dem festen Lande liegt, rasch herbeigerudert. Und wie drehten die Matrosen, die nun so lange da draußen an Bord Salzfleisch und harten Schiffszwieback gekaut, und nichts gesehen hatten als das weite, weite Meer, beim Anrudern den Kopf so sehnsüchtig bald rechts, bald links über die Schultern, um das Auge einmal wieder an dem saftigen frischen Grün der Bäume zu laben – wieder einmal Frauen und Kinder zu schauen und das Rauschen und Flüstern des Windes im Laub zu hören! Oh ihr, die ihr auf festem Lande lebt und noch nie aus Sicht des heimischen Bodens gekommen seid, ihr wisst 102
gar nicht, welcher unendliche Zauber für den seemüden Wanderer allein nur in dem kleinen Wörtchen Land verschlossen liegt. Wie leicht sich das unter der Sohle fühlt, wenn es der springende Fuß zum ersten Mal wieder berührt; wie süß die Blumen duften; wie melodisch die Vögel singen; wie wunderbar gefärbt das alles erscheint! Ein eigener Zauber liegt auf solchem fremden Boden. Wenn aber schon der Seemann selbst der unwirtbarsten, rauesten Küste ihre freundliche Seite abzugewinnen weiß, über das kleine dürftige Heideblümchen jubelt, das er zwischen nacktem Felsgestein gefunden, und bunte Muscheln und Kiesel am Strande sucht, um sie zur Erinnerung mit aufs Schiff zu nehmen – wie ist ihm da zu Mute, wenn sein Fuß ein fertig Paradies betritt, wo die Natur das Schönste, was sie irgend bietet, in dem so kleinen engen Raum mit vollen Händen aufgehäuft. Dass die Leute dann oft wie im Taumel umhergehen und, wie die Kinder, gar nicht wissen, nach welchem Genuss sie zuerst langen, welche Frucht sie zuerst pflücken sollen, kann man ihnen wahrlich nicht verdenken. Wie der Gefangene, der nach langen Jahren schwüler Kerkerhaft zum ersten Mal wieder die freie, von Mauern nicht umschlossene Luft einatmet, den blauen Himmel nicht durch ein Eisenfenster gegittert sieht, so verlassen sie das Schiff auf kurze Zeit, sich das Firmament einmal wieder durch einen Baumwipfel anzusehen und gleich nachher – die lange, mühselige Fahrt auf's Neue zu beginnen. Dass die Leute dann beim Anblick der wehenden Palmen, süßen Früchte und lieben, freundlichen Gesichter manchmal eine Art von Heimweh bekommen und dem Schiff zu entlaufen suchen, ist allerdings unrecht, denn sie brechen einen eingegangenen Kontrakt – aber erklärlich und menschlich bleibt es immer. 103
Die Kapitäne wissen das auch, und obgleich schwere Strafen darauf gesetzt sind und die Leute oft den seit Jahren mühsam verdienten Lohn, den der Kapitän für sie in Händen hat, im Stich zu lassen genötigt sind, um nicht wieder mit hinaus auf das öde Meer, um nicht wieder diese Küsten verlassen zu müssen, so trauen sie ihrer Mannschaft doch nimmermehr. Wo sie einmal an solcher Insel anlegen, brauchen sie jede nur mögliche Vorsicht, und diejenigen von den Matrosen, welche nicht das Boot mit rudern, dürfen das Land gar nicht betreten. Auf solche Art sehen dann die armen Teufel von Matrosen von dem wunderschönen Land, das sie nach langer Fahrt zu betreten hoffen, gewöhnlich unendlich wenig. Vor ihnen rauschen die Palmen und fließt der murmelnde Quell unter fruchtschweren schattigen Zweigen hin – aber nicht für sie. Was hilft es ihnen, dass sie dem Namen nach fremde Länder besuchen? Wie der Gefangene aus dem Fenster seiner Zelle die grünen Felder und die darauf schaffenden freien Menschen erkennen kann, ohne hinaus zu ihnen zu dürfen, so lehnt der Matrose an seinem Bord und schaut sehnsüchtig nach dem wundervollen Schauspiel hinüber, das sich seinen Augen bietet. Er misst vielleicht mit einem verzweifelten Blick die Entfernung zwischen Schiff und Land, das möglicherweise mit Schwimmen zu erreichen, bevor er von dem nachgeschickten Boot wieder eingeholt und zurückgebracht würde, und wendet sich dann seufzend ab, seinen allerdings freiwillig übernommenen Geschäften, die ihn jetzt rettungslos binden, in alter Weise nachzugehen. Nur wenig mehr Freiheit haben die Ruderer. Allerdings betreten sie den Boden und dürfen sich selber, wenn sie Lust haben, die am Strand wachsenden Früchte pflücken, aus der Quelle trinken und mit den Eingebore104
nen verkehren, ihnen die Hand drücken und ihren herzlichen Gruß erwidern. Aber ehe sie nur eigentlich recht zur Besinnung kommen können, ist auch die kurze Zeit schon wieder vergangen, der Befehl zum Einschiffen erfolgt, und hinter ihnen liegt wieder auf lange, lange Monde – vielleicht auf Jahre – der schöne Traum von Früchten, Land und Bäumen und den freundlichen lieben Gesichtern guter, harmloser Menschen. Ihre Heimat ist von da aufs Neue das Meer, ihr Geschäft: den schmutzigen, übel riechenden Tran auszukochen und den Elementen ihre Existenz, ihr Leben abzuringen. Doch daran dachten sie jetzt nicht. Kaum berührte der scharfe Kiel des leichten, die Wogen rasch durchschneidenden Walfischbootes den rauen Korallensand, als sie auch, wie mit einem Schlag, ihre Ruder hineinwarfen und nach allen Seiten hin über Bord sprangen, um das Boot höher hinauf an Land zu ziehen. Fröhlich und geschäftig umringte sie dabei das neugierige, lachende, jubelnde Volk der Eingeborenen, die recht gut wussten, dass sie von solchen anlandenden Booten nichts zu fürchten hatten, wie diese Mannschaft ja auch ebenso sicher in ihrer Mitte war. Der Harpunier nun, der jetzt ebenfalls langsam das Boot verließ, überschaute erst forschend und langsam die fremden ihn umgebenden Menschen, um irgendeinen darunter herauszufinden, der vielleicht eine Autorität unter den Übrigen sein könnte, und dann mit diesem seinen beabsichtigten Handel abzuschließen. Da fiel sein Blick auf die Gestalt des weißen Mannes, der eben noch ganz in seiner europäischen, nur aus leichten Stoffen gefertigten Tracht unter dem kühlen Schatten der den Strand umschließenden Bäume sichtbar ward und langsam zum Boot herunterkam. 105
Auf diesen schritt er, nicht wenig erfreut, jetzt einen sichern Dolmetscher zu haben, zu, streckte ihm die Hand entgegen, die Tom nahm, und sagte auf Englisch: »Ein Landsmann etwa? Sollte mich verdammt freuen, den hier zwischen dem Kauderwelsch der Burschen zu finden.« »Ein halber wenigstens – ein Schotte!«, lachte Tom. »Wie geht's Euch? Freue mich, Euch hier auf Tubuai begrüßen zu können.« Der Seemann drückte die ihm gebotene und noch nicht wieder losgelassene Hand aus Leibeskräften und sprach freundlich: »Vortrefflich. Und nun können wir auch unsere Geschäfte gleich und rasch miteinander abmachen, denn der Kapitän brennt vor Ungeduld, wieder in See zu gehen. Wir wollen, wie Ihr Euch wohl denken könnt, ein bisschen von allem, und bringen Euch hier dasselbe – könnt Euch dann aussuchen, was Euch am besten behagt. Holz habt Ihr doch wohl keins gehauen?« »Wie viel braucht Ihr?« »Ach, wir brauchten schon viel, denn das letzte ist fast verbrannt. Aber der Alte will nicht bleiben, bis welches geschlagen werden kann.« »Es stehen sechs Klafter gleich dort hinter der Casuarine aufgeschichtet«, sagte Tom. »Wie heißt Euer Schiff?« »Sechs Klaftern – das ist famos, da werden wir bald handelseinig darüber werden. – Die Lucy Evans heißt das Fahrzeug.« »Scheint nicht besonders schnell zu sein«, meinte Tom, der sich noch aus früherer Zeit her genug für die Seefahrt interessierte, um an den Schiffen teilzunehmen, mit denen er in Berührung kam. »Es dauerte gestern lange, bis Ihr heraufkamt.« 106
»Ein Schnellläufer ist's nicht«, lachte der Harpunier. »Aber 's ist auch kein Wunder, denn wir sind schon halb drei Jahre aus, und das Kupfer hängt uns in Lappen und Fetzen vom Rumpf herunter. Übrigens fängt sie ziemlich glücklich. – Apropos«, unterbrach er sich aber. »Ihr seid selber Seemann gewesen und wisst, dass ich die Verantwortung für meine Leute habe. Es ist hier doch keine Gefahr, dass sie davonlaufen können?« »Wenn sie Bescheid am Strand wüssten, wär's schon möglich«, sagte Tom mit ebenso leiser Stimme, wie die Frage an ihn gestellt war. »Aber so nicht, denn eine Lagune schneidet hier hinten ein, die sie nicht kreuzen würden; und wenn vermisst, wären sie leicht wieder aufzufangen. Habt keine Angst.« »Desto besser – aus den Augen werd ich sie nicht lassen. Es ist doch eine verwünschte Geschichte mit dem Auskneifen der Halunken. Seit wir ausgefahren, sind uns schon dreizehn Mann davongelaufen.« » Dreizehn Mann, das ist viel, da werdet Ihr knapp an Mannschaft sein.« »Verdammt knapp, obgleich wir ein paar neue von den Sandwich-Inseln dazu genommen haben. Wie wär's hier? Sollten sich nicht ein paar von den Insulanern bewegen lassen, einmal einen Kreuzzug auf Walfische zu versuchen?« Tom schüttelte lachend den Kopf und sagte: »Du lieber Gott, das sollte den leichtherzigen und an diesen sonnigen Himmel gewöhnten Burschen wunderlich vorkommen, wenn sie plötzlich zwischen die nordischen Eisberge hinaufgeführt und dort gezwungen würden, Tag und Nacht Tran auszukochen. Sie sind beinahe zu bequem, sich hier im Warmen ihre eigene Brotfrucht zu backen.« 107
»Oh, das wollten wir ihnen schon angewöhnen!«, erwiderte der Seemann. »Ja, das glaub ich«, nickte Tom ernst. »Ich möchte ihnen jedoch nicht dazu raten. Aber«, setzte er freundlich hinzu, »macht Euch darüber keine Sorge, Ihr hättet auch schlechte Matrosen an ihnen. Wenn Ihr von hier Tahiti anlauft, glaub ich ziemlich sicher, dass Ihr dort wenigstens Eure Mannschaft vervollständigen könntet. Die Franzosen sollen, wie ich früher einmal gehört habe, ziemlich regelmäßig eine Partie von aufgefangenen armen Teufeln in ihrer Calebouse sitzen haben.« »Ich glaube, der Alte hat nicht übel Lust dazu«, sagte der Harpunier. »Jetzt aber, vor allen Dingen, zeigt mir erst einmal Euer Holz, und dann seid so gut und lasst von Brotfrüchten, Orangen und Gemüsen, von denen Ihr, wie ich da sehe, einen Vorrat habt, alles zum Verkauf Angebotene dicht zum Boot hinunterschaffen. Ich werde nachher auslegen, was ich an Tauschwaren mitgebracht. In solcher Art kommen wir am schnellsten zu einem Resultat.« Sich dann an seinen Bootsteuerer wendend, dem er heimlich die Warnung zuflüsterte, während er in das Holz ging, auf die Leute ordentlich Acht zu geben, schritt er mit Tom, der seinen Indianern ebenfalls die gewünschte Anordnung in ihrer Sprache zurief, nach dem gar nicht weit entfernten Holzplatz. Obgleich hier das geschlagene Holz dem Harpunier sehr behagte, konnte er doch keinen festen Handel mit dem Eigentümer abschließen, da er hierzu nicht einmal genug Waren oder Geld mitgebracht, auch keinen fest bestimmten Auftrag vom Kapitän erhalten hatte. »Wisst Ihr was, Freund«, wandte er sich da an den Schotten. »Fahrt in meinem Boot mit an Bord. Ein paar 108
von Euren Indianern können uns ja in einem ihrer Kanus begleiten, um Euch, falls Ihr nicht handelseinig würdet, wieder mit zurückzunehmen. Ich zweifle aber nicht im mindesten daran, dass der Alte das Holz nimmt und noch außerdem übermäßig froh ist, es nur zu bekommen. Unter uns gesagt, muss er es entweder hier nehmen oder in nächster Zeit noch eine andere Insel anlaufen, wo es ihm dann kaum so leicht gemacht werden würde, es fertig gespalten und nah am Strand zu finden. Wem gehört es – Euch?« »Nur zum Teil – etwas gehört den Eingeborenen.« »Gut, für die schließt Ihr ja doch den Handel ab, und nun kommt mit mir zum Strand zurück, dass ich meine Leute wieder unter den Augen habe.« »Wollt Ihr nicht erst einmal in meine Hütte treten und Euch dort etwas erfrischen?«, fragte ihn Tom. »Sie ist kaum zweihundert Schritt von hier entfernt. Dort liegt schon die Fenz, die sie und meinen Garten umschließt.« »Dank Euch, dank Euch«, erwiderte der Seemann. »Guckte gern einmal hinein, aber es geht nicht. Der Boden brennt mir hier, wo ich meine Bootsmannschaft nicht übersehen kann, unter den Füßen. Überhaupt müsst Ihr mir versprechen, das Holz, wenn wir es übernehmen, bis zum offenen Strand zu schaffen, wo es die Eingeborenen meinetwegen abwerfen können. Hier in den Wald darf ich meine Leute nicht lassen, die Verführung wäre zu groß, und sie brennten mir, Gott straf mich! durch.« »Ihr scheint schlechtes Vertrauen zu ihnen zu haben«, lachte Tom. »Ist denn Euer Kapitän solch ein Seeteufel, oder das Leben an Bord so schlecht?« »Ih nun, der Alte hat wohl ein bisschen von dem, was Ihr Seeteufel nennt, im Leibe, Ihr werdet das wohl schon kennen. Die Kost an Bord ist übrigens vortrefflich, und 109
überarbeitet werden die Leute ebenfalls nicht. Um fünf Uhr ist alle Abend Feierzeit – ausgenommen natürlich, wir haben einen Fisch langseit oder Speck an Bord.« »Nun, das versteht sich von selbst«, sagte Tom. »Aber da sind wir wieder am Strand und dort auch Eure Leute, Ihr könnt Euch also beruhigen.« »Gott sei Dank«, murmelte der Seemann, als ob er ganz andere Vermutung gehabt hätte, leise vor sich hin. Der Handel mit den Früchten begann jetzt, der auch schon von den Matrosen durch einzelne Gebärden und Vorzeigen von Stücken Tabak, Messern, Hemden und anderen Dingen, die sie notdürftiger Weise glaubten entbehren zu können, geführt war. Frisches Gemüse und vielleicht etwas Limonensaft bekamen sie schon vom Schiff, um den Skorbut von ihnen fern zu halten, aber Orangen, Ananas und andere saftreiche Früchte mussten sie sich, wenn sie deren unterwegs haben wollten, selber einlegen. Tom hatte indessen mit dem Häuptling dieses Distrikts, dem der Harpunier vorher auf sein Anraten einige kleine Geschenke gemacht, den Handel über eine gewisse Quantität von jungen Kokosnüssen, Brotfrüchten und Gemüsen etc. abgeschlossen. Die Eingeborenen waren emsig damit beschäftigt, alles zum Strand hinunterzuschaffen, wo es die Matrosen sogleich in Empfang nahmen und in ihr Boot packten. Intaha war ebenfalls zum Strand gekommen, um dem Gatten, was sie an zum Verkauf gefertigten Arbeiten bereit hatte, hineinzubringen, und der Bootsteuerer, ein junger Amerikaner, handelte ihr hier schon einen kleinen Teil der Sachen ab. Das Übrige ließ Tom in das Schiff legen, um es dem Kapitän wie den übrigen Offizieren anzubieten. 110
»Ich will mit dem Vater hinausfahren«, sagte sein kleiner Knabe, als er ihn aufhob und küsste und dann seinem Weib die Hand reichte. »Ich will auch das große Kanu da drüben sehen.« »Das geht nicht, mein Herz«, beruhigte ihn der Vater. »Da drüben bist du nur im Weg und die Mutter ängstigte sich indes um dich.« »Lass ihn hier«, bat auch die Frau. »Ich wollte, du gingst ebenfalls nicht mit, Tom. Wenn ich dich mit den fremden Männern in solch einem Boot wegfahren sehe, ist mir's doch immer, als ob du nicht wiederkämst und in deine eigene Heimat zurückgingst – und was sollte Intaha dann mit sich und den Kindern beginnen!« »Fürchte dich nicht«, lachte der Mann. »Wie viele Schiffe hab ich schon besucht und kenne auch das Leben da draußen viel zu genau, um durch irgendeine Vorspiegelung verlockt zu werden. Ich weiß, was die mir bieten können – was ich hier besitze, und werde kein Tor sein, dich und die kleinen Schelme da im Stich zu lassen. Übrigens fährt dein Bruder Alohi mit uns hinüber, und ich hoffe diesmal Geld genug mitzubringen, um den ganzen Kokosgarten, der hinter unserem Grundstück liegt, vom Häuptling anzukaufen. Nachher werden wir von dem Kokosnussöl reich, was ich jährlich ausschmelzen kann.« »Kommt an Bord!«, rief die Stimme des Harpuniers, der seinen Platz im Boot schon eingenommen hatte. Tom sprang hinein, Alohi und ein anderer Indianer stiegen in ihr Kanu, das Boot, wie es verabredet worden, zum Schiff hinauszubegleiten, und bald schäumten die kleinen Fahrzeuge durch das Wasser hin, der Einfahrt in den Riffen zu. Die beiden Indianer taten allerdings ihr möglichstes, mit dem europäischen Boote gleiche Fahrt zu halten, und 111
arbeiteten, dass ihnen die schweren Tropfen von der Stirn liefen. Die langen Riemen der Matrosen waren aber doch kräftiger als die leichten, nur durch den Druck der freigehaltenen Hand geführten Ruder, und noch ehe sie die Riffe erreichten, hatte das Walfischboot schon wenigstens dreihundert Schritt Vorsprung gewonnen. Wie die Indianer endlich einsahen, dass sie mit den Bleichgesichtern nicht Schritt halten konnten, legten sie ganz gelassen ihre Ruder ein, um sich erst einmal ein wenig auszuruhen, drehten sich dann eine Zigarre aus dem frisch eingehandelten Tabak, den sie in den Streifen eines trockenen Bananenblatts geschickt einwickelten, und rieben hierauf mit zwei dazu mitgenommenen Stücken trockenen Guiavenholzes Feuer. Das Walfischboot hatte schon seine Fracht an Bord gelöscht und wurde eben unter seinen Kränen hinaufgeholt, ehe sie die Ruder wieder ergriffen und ihm langsam nachfuhren. Sie kamen zeitig genug dorthin. Tom war, als das Boot die Lucy Evans erreichte, hinter dem Harpunier her rasch an Bord geklettert. Noch wie sie anruderten, hörten sie die kleine Kompassglocke acht Glasen – zwölf Uhr – schlagen, und als sie an Deck sprangen, stieg der Kapitän gerade nach genommener Observation in die Kajüte hinunter, um seine heute Morgen erhaltene Beobachtung mit der jetzigen zu berechnen und dadurch seinen Chronometer zu kontrollieren. Die Lucy Evans war ein trefflich eingerichtetes, aber durch die lange Fahrt und kürzlich genommene Beute, von der die Spuren noch an Deck zu sehen waren, ziemlich arg zugerichtetes Schiff. Auch die Mannschaft, die herbeisprang, um die lang ersehnten Früchte und frischen Gemüse in Empfang zu nehmen und zum großen Teil in die Vorratskammern hinunterzuschaffen, Ananas und Bana112
nen aber an Deck aufzuhängen, hatte ein verwildertes, liederliches Aussehen. Die Leute, die jahraus und -ein mit schmutzigem Speck und Tran umgehen, sind nur zu leicht geneigt, auf ihren Körper nicht die da gerade doppelt nötige Sorgfalt zu verwenden, und auch hier hatte der Kapitän soviel Ärger mit dem Volk gehabt, dass er es endlich aufgab, sie zu dem zu machen, zu dem er sie im Anfang heranzuziehen gehofft – zu ordentlichen Matrosen. Nur wenn ihm einmal einer gerade zur unrechten Zeit unter den Wind lief, kanzelte er ihn tüchtig ab und machte seinem Herzen für kurze Zeit in einer gerade nicht gewählten Zahl von Flüchen und Verwünschungen Luft. »Ihr scheint wirklich ziemlich knapp an Mannschaft zu sein«, sagte Tom endlich, der sich das Deck eine Zeit lang schweigend betrachtet hatte, zum Harpunier. »Wenn sie das nämlich alle sind, die ich hier an Deck sehe, und ich glaube doch kaum, dass sich bei der Ankunft von solch frischem Gut viel unten gehalten.« »Ihr habt Recht«, sagte der Harpunier mürrisch. »Das ist die ganze Bande, und ein nichtswürdigeres Gemengsel von Schneidern, Schustern und verlaufenen Handwerksburschen ist wohl noch nie an Bord eines ordentlichen Seeschiffes zusammen gefunden worden. Mit Müh und Not haben wir ihnen in den letzten zwei Jahren wenigstens das Rudern beigebracht; ein volles Jahr hat es aber gedauert, ehe sie nur zusammen anzogen. Es war ein ordentlicher Skandal, und wenn wir oben in der Beringstraße in der Nähe eines andern Schiffes lagen, schämten wir uns wahrhaftig ein Boot auszuschicken, und haben dadurch mehrere Fische verloren. Was das Takelwerk betrifft, können die Kerle noch jetzt kaum einen Reefknoten schlagen.« 113
»Zum Auskochen sind sie gut«, lachte Tom. »Wenn nur die Offiziere ihre Sache verstehen.« »Offiziere? Ja, Harpuniere und Bootsteuerer haben wir vollzählig – einen Bootsteuerer noch ausgenommen, der unten krank liegt – aber keinen einzigen Zimmermann und keinen Schmied, und der erste Böttcher ist uns ebenfalls auf Hawaii davongelaufen. Es ruht ein wahrer Fluch auf dem alten Kasten, und wenn uns noch ein paar Boote ernstlich beschädigt werden, müssen wir wahrhaftig irgendeine amerikanische Küste anlaufen. Aber da kommt auch Euer Kanu heran – die Burschen nehmen sich Zeit. – Ist doch ein faules Volk, diese Indianer!« »Lieber Gott, wer kann's ihnen verdenken?«, lachte Tom. »Die Natur gibt ihnen alles, was sie brauchen, mit vollen Händen, ohne dass sie nötig hätten, sich dabei zu rühren. Übrigens sind sie lebendig genug, wo sie wirklich etwas interessiert, und ich glaube auch größerer Leidenschaft und Regsamkeit fähig, wenn sich ihnen irgendeine notwendige Gelegenheit dazu bieten sollte. Solange die ausbleibt, lassen sie sich eben gehen. – Aber kommt da nicht Euer Kapitän? Wie heißt er?« »Rogers. – Ihr werdet Euer Kanu wohl nicht brauchen, denn ich bin überzeugt, er schickt die Boote gleich wieder hinüber, um das Holz abzuholen.« »Rogers?«, rief Tom. »Ich glaube wahrhaftig, das ist ein alter Bekannter. Welches Schiff hatte er früher?«, setzte er rasch hinzu, ohne den Blick von dem jetzt eben an Deck kommenden Kapitän zu wenden. »Den Bonnie Scotchman, wenn ich nicht irre«, lautete die Antwort. »Alle Teufel!«, murmelte Tom halblaut vor sich hin und warf wie unwillkürlich den Blick nach dem eben anlegenden Kanu hinunter. Der Harpunier war indessen 114
auf den Kapitän zugegangen, um ihm sowohl Bericht von dem abgeschlossenen Handel mit Früchten und Gemüsen abzustatten, als auch von dem Holz zu sagen, das fertig geschlagen und ausgetrocknet drüben am Strande liege und eben nur an Bord geholt zu werden brauche. »Das ist vortrefflich, Mr. Hobart«, sagte der Kapitän rasch. »Besser können wir es uns gar nicht wünschen – und der Preis?« »Ist auch mäßig – es wohnt ein Weißer drüben zwischen den Rothäuten, der die ganze Sache zu leiten scheint, und den ich deshalb gleich mit herübergebracht habe, damit Sie den Kauf selber mit ihm abschließen können. Da drüben steht der Mann.« »Desto besser, desto besser! Spricht er Englisch?« »Es ist ein Schotte.« »Oh, vortrefflich! Ah, guten Tag, Mister – Pest noch einmal – das Gesicht kommt mir verdammt bekannt vor!« »Wie geht's, Kapitän Rogers?«, fragte Tom, der rasch gefasst, aber doch leicht errötend und etwas verlegen lächelnd auf ihn zuging. Er reichte ihm dabei die Hand, die jener langsam nahm, ihm jedoch immer aufmerksamer ins Auge sah. »Sie kennen mich wohl kaum noch, wie? – Ja, ich bin braun geworden in den langen Jahren und unter der heißen Sonne hier.« »Waret Ihr nicht auf dem Bonnie Scotchman?« »Allerdings.« »Zimmermann?« Tom nickte. »Und lieft mir auf Hapai davon?« Tom wurde blutrot im Gesicht, aber ein gutmütiges und doch halb verschmitztes Lächeln durchzuckte dabei seine Züge, als er erwiderte:
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»Und Sie hätten mich beinah wieder erwischt, denn die nach mir ausgeschickten Eingeborenen waren mir ein paar Mal dicht auf den Fersen. Fünfzehn Stunden habe ich einmal bei einem furchtbaren Regenguss in dem Wipfel einer Palme zugebracht.« »Vier Tage bin ich Euch zur Liebe damals an der verdammten Insel liegen geblieben und habe indessen nicht allein den Fang versäumt, sondern mich auch nachher die ganze übrige Reise mit dem Esel an zweitem Zimmermann behelfen müssen.« »Es war vielleicht nicht recht damals, Kapitän Rogers«, gestand Tom ehrlich ein. »Aber das Land lachte gar zu verlockend herüber, und Sie wissen selbst, was für ein grober, ungerechter Mensch Ihr damaliger erster Harpunier war. Er brachte uns fast alle zur Verzweiflung und trieb die meisten vom Schiff, wo sich ihnen nur die geringste Gelegenheit dazu bot.« »Das ist keine Entschuldigung, Mr. – wie war doch Euer Name gleich?« »Tom Burton.« »Ach ja – Mr. Burton, das ist gar keine Entschuldigung. Ihr hattet Euch mir und dem Reeder für die ganze Fahrt verpflichtet und waret nicht allein uns, sondern auch Euren Kameraden schuldig, dass Ihr bliebt. Ihr wisst recht gut, dass auf einem Walfischfänger die ganze Mannschaft gemeinsamen Anteil an dem Fang hat, den Fang aber nicht betreiben kann, wenn ihr die wichtigsten Handwerker dazu, Zimmermann und Böttcher, an Bord fehlen. Da wir alle an Bord umsonst herumfahren würden, wenn die Boote nicht hinausgingen und an Fische festkämen, so ist das Instandhalten eben dieser Boote auch eine der wichtigsten Sachen an Bord eines Walfischfängers, und deshalb gerade werden die Zimmerleu116
te engagiert und verpflichtet. Sobald sie ihren Kontrakt brechen, gefährden sie den Fang des ganzen Schiffs und ziehen nicht allein dem Reeder, der das Schiff ausgerüstet hat, ungeheure Verluste zu, sondern schneiden auch der ganzen übrigen Mannschaft, vom Kapitän hinunter bis zum Schiffsjungen, die Möglichkeit eines Verdienstes ab. Und zum Spaß treiben wir uns doch wahrhaftig auch nicht drei und vier Jahre halb zwischen Eisschollen, bald unter einer solchen Sonne umher, und lassen Weib und Kind indes zu Hause.« »Sie haben vollkommen Recht, Kapitän«, sagte Tom, der jetzt ganz ernst und eher etwas blass geworden war. »Hier und da liegt aber auch der Fehler wohl mit an den Offizieren, die ihre Macht zu sehr missbrauchen. Ich weiß allerdings, dass an Bord eines solchen Fahrzeugs ebenso gut wie an Bord eines Kriegsschiffes unbedingte Subordination herrschen muss, wenn nicht Schiff und Mannschaft darüber zu Grunde gehen sollen. Aber die Herren – und Ihr früherer erster Harpunier war ein solcher, Kapitän Rogers – glauben manchmal, dass sie mit ihren Untergebenen eben nach Willkür machen können, was sie wollen – widersetzen darf sich ihnen ja doch niemand –, und missbrauchen dann die ihnen erteilte Würde ebenso zum Schaden des Schiffs, wie es der Untergebene tut, der sich solcher ihm lästig oder unerträglich werdenden Herrschaft durch die Flucht entzieht.« »Mr. Williams war einer der tüchtigsten Offiziere, die es geben kann, und ein ausgezeichneter Walfischfänger.« »Ich will ihn nicht anklagen, um mich zu verteidigen, Kapitän Rogers«, entgegnete Tom freundlich. »Junge Leute, wie Sie recht gut wissen, sind oft leichtsinnig, und ich war damals noch ein ganz junger, unerfahrener
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Mensch. Jetzt bin ich vernünftiger und denke anders, vernünftiger darüber.« »Es ist mir lieb, das zu hören«, erwiderte der Kapitän. »Noch dazu, da es selbst jetzt nicht zu spät ist, um das Geschehene wieder gutzumachen.« »Durch Holz wenigstens«, lächelte Tom. »Um Ihnen das Auskochen an Bord zu erleichtern. Sie scheinen schon eine hübsche Ladung Tran genommen zu haben?« »Es geht an«, sagte der Kapitän, immer noch zurückhaltend, und fuhr dann in dem früheren Thema fort: »So ist es auch diesmal mit den Leuten, und trotzdem dass wir ganz vorzügliche und ruhige Offiziere an Bord haben – welchem Umstand Ihr großen Einfluss auf die Mannschaft zuschreibt – haben eine große Anzahl, und unter ihnen sogar beide Zimmerleute und der erste Böttcher, heimlich und widerrechtlich das Schiff verlassen und uns in die peinlichste Verlegenheit gebracht.« »Hm, das ist allerdings fatal.« »Desto mehr«, sprach der Kapitän ruhig, »freue ich mich, dass uns der Zufall zu so günstiger Zeit wieder zusammengeführt hat. Ihr hättet zu keiner gelegeneren Stunde an Bord zurückkommen können.« »Nur mit dem Unterschied«, lächelte Tom, der aber doch fühlte, dass ihm das Herz dabei stockte, denn er ahnte, was der Kapitän mit den Worten meinte, »dass ich nicht an Bord gekommen bin, um wieder zu fahren, sondern Ihnen nur mein Holz am Strand zu verkaufen.« »In welcher Absicht bleibt sich ziemlich gleich«, erwiderte der Kapitän mit einem leichten, aber nichts Gutes weissagenden Lächeln um die zusammengepressten Lippen. »Ich will übrigens das Geschehene vergessen sein lassen und Euch die damals versäumten Tage bei dem, was wir künftig fangen, nicht in Anrechnung bringen. 118
Euer früherer Anteil hat auch schon zum Teil dafür bezahlt.« »Künftig fangen, Kapitän?«, sagte Tom, der sich gewaltsam zwang, ruhig zu bleiben. »Ich glaube nicht, dass ich je wieder auf den Walfischfang ausgehe. Ich bin älter seit der Zeit geworden und ruhiger, und habe mir außerdem auch noch eine der Töchter dieses Landes zur Frau genommen. Dort unter den Palmen steht meine eigene Heimat, lebt meine Familie, und die darf ich schon nicht mehr verlassen, wenn ich selber wollte.« »Familie? Bah!«, meinte der Kapitän. »Hab ich etwa keine Familie zu Hause? Das ist das Schicksal der Seeleute, dass sie die jahrelang entbehren müssen. Desto besser gefällt es ihnen aber auch dafür, wenn sie wieder nach Hause kommen.« »Mag sein – die Ansichten sind verschieden«, brach Tom das Gespräch, das ihm peinlich zu werden begann, kurz ab. »Jetzt, Kapitän, möcht ich Sie bitten zu bestimmen, was und wie viel Sie von dem Holze brauchen – und hier«, setzte er lächelnd hinzu, »hab ich auch noch einige Kleinigkeiten mitgebracht, die meine Frau gearbeitet, und von denen sich die Offiziere vielleicht einiges mit nach Hause nehmen. Das Körbchen hier, Kapitän Rogers, möchte ich Sie bitten, zum Andenken an mich zu behalten.« Der Kapitän zögerte, es zu nehmen, stellte es aber dann neben sich auf das Gangspill und sagte: »Wir wollen das nachher zusammen abmachen. – Wie viel Holz habt Ihr drüben?« »Sechs Klafter.« »Und der Preis?« »Ich bin beauftragt, Handelsartikel dafür einzutauschen.« 119
»Gut. Mr. Hobart«, sagte der Kapitän zu dem jetzt näher tretenden Offizier, »das Holz wäre mir allerdings erwünscht, wenn ich es an Bord hätte, aber – wir wollen uns nicht so lange damit aufhalten. Nehmen Sie Ihr Boot und das des zweiten Harpuniers und fahren Sie damit an Land. Die Leute mögen da einladen, was sie herüberschaffen können. Wir sehen dann, wie viel es beträgt, und können Mr. Burton den gewünschten Preis dafür auszahlen.« »Es ist mir dann lieber, dass ich mit hinüberfahre«, sprach Tom ruhig. »Denn wenn Sie so wenig nehmen, wünschte ich gern, dass Sie das Trockenste bekämen.« »Das wird sich Mr. Hobart schon aussuchen.« Die Boote waren im Augenblick niedergelassen, die dazu bestimmte Mannschaft sprang hinein, und nur der erste Harpunier zögerte noch. Er war zum Kapitän hingegangen und sagte leise: »Lieber wär es mir, der Schotte führ mit hinüber – ich verstehe die Sprache der Leute nicht.« »Sie müssen schon sehen, wie Sie durchkommen«, entgegnete ihm ebenso leise der Kapitän. »Der Schotte bleibt an Bord – setzen Sie den dritten Harpunier, Mr. Elgers, davon in Kenntnis.« Der Harpunier erwiderte nichts darauf, aber der überraschte Blick desselben, der fast unwillkürlich nach dem Schotten hinüberflog, wurde von diesem ebenso schnell aufgefasst und verstanden, und wie mit einem Messer stach dem armen Teufel das Bewusstsein der Gefahr ins Herz, der er sich hier plötzlich ganz freiwillig preisgegeben. – Aber der Kapitän durfte doch auch nicht wagen, jetzt noch, nach so langen Jahren Gewalt gegen ihn zu brauchen. – Und wenn er es doch tat? Wer hier auf der
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weiten See sollte ihn daran verhindern oder sich des Schutzlosen annehmen? Misstrauisch überlief sein Blick das Deck, aber er hütete sich wohl, die mindeste Furcht zu zeigen. Dabei konnte es ihm jedoch nicht entgehen, dass der erste Harpunier, ehe er in das Boot stieg, rasch ein paar Worte mit dem dritten Harpunier wechselte, und dieser warf ebenfalls einen überraschten, flüchtigen Blick nach ihm hinüber. Er wusste jetzt, er war ein Gefangener – aber was jetzt tun? An Flucht mit dem Kanu war nicht zu denken – er hatte vorher schon gesehen, wie viel rascher die Seeleute mit dem schwer mit Früchten beladenen Walfischboot gefahren waren; das leichte leere Boot hätte sie eingeholt, ehe sie zwei Schiffslängen entfernt gewesen wären. Gewaltsame Befreiung? An dieser Seite der Insel lagen nur drei Kanus, und was hätten die unbewaffneten Indianer, selbst wenn sie sich seinethalben hätten schlagen wollen, gegen die Mannschaft eines Walfischfängers ausrichten können? – Die einzige Möglichkeit blieb, die Eingeborenen zu veranlassen, die Mannschaft der beiden Boote, oder wenigstens nur die Offiziere, gewissermaßen als Geiseln zurückzuhalten, bis er selber ausgeliefert wäre; aber dann musste er das Kanu jetzt fort und ans Land schicken. Der Kapitän hatte ebenfalls hinten am Steuer mit dem dritten Harpunier gesprochen und stieg jetzt in seine Kajüte nieder, den früheren Ausreißer scheinbar sich selbst überlassend und vollkommen frei. Tom kannte aber viel zu gut die strenge Subordination eines Walfischfängers, wo besonders der Ruf zu den Booten im Nu ausgeführt wurde. Die einzige Möglichkeit einer Rettung blieb in der Tat noch das Festnehmen der Offiziere am Ufer, und
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als Tom das erst einmal erkannt, beschloss er auch, es so rasch wie möglich auszuführen. Alohi lehnte, seine Zigarre rauchend und mit keiner Ahnung der Gefahr, die dem Gatten seiner Schwester drohte, an Bord und betrachtete sich mit besonderer Aufmerksamkeit das künstliche, durcheinander schießende Tauwerk des Schiffes, welches ihm jedenfalls das größte Interesse bot. Tom näherte sich ihm und sagte mit gedämpfter, aber nichtsdestoweniger ängstlich gepresster Stimme. »Alohi – die weißen Männer wollen Tomo an Bord behalten.« »Ati!«, rief Alohi erstaunt. »Ruhig! Lass niemand merken, dass ich dir ein Wort davon gesagt, aber wenn du von mir den Befehl erhältst an Land zu rudern, so tue das, so rasch ihr das Kanu vorwärts treiben könnt. Versichert euch dort augenblicklich des Mannes, der heute Morgen die Matrosen hinüberbrachte, schafft ihn ins Innere und gebt ihn nicht heraus, bis ich wieder an Land und in eurer Mitte bin.« »Matoi!«, sagte der junge Bursche, dessen Augen in dem willkommenen Auftrag leuchteten. »soll ich jetzt gehen?« Tom warf einen Blick nach der Schanze zurück. Der dritte Harpunier lehnte über Bord und schien gar nicht auf ihn zu achten – wenn nun sein Verdacht ungegründet war? – Aber er gab sich dieser Täuschung nicht lange hin, denn er kannte seine Leute. »Ich werde zu dem Mann dort hinten gehen und mit ihm sprechen«, sagte er jetzt wieder. »Sobald er nicht mehr über Bord sieht, stößt du ab und ruderst langsam hinüber. Erst wenn ihr den Eingang der Riffe erreicht habt – denn mit dem Vorsprung können sie euch nicht 122
wieder einholen –, mache dein Kanu über das Wasser fliegen.« »Aber warum fährst du nicht lieber gleich mit?«, fragte der Indianer erstaunt. »Es hält dich niemand.« »Jetzt nicht – aber der Befehl ist schon gegeben, mich nicht von Bord zu lassen. Dass ihr glücklich an Land kommt, ist die einzige Möglichkeit, mich noch zu retten.« Der Indianer erwiderte weiter kein Wort, und Tom wandte sich ebenfalls langsam von ihm ab und schritt dem hintern Deck zu, auf dem der Harpunier noch immer über Bord lehnte. »Seid Ihr recht glücklich gewesen, Sir, auf Eurer letzten Fahrt?«, knüpfte hier Tom ein Gespräch mit ihm an. »Das Schiff muss schon eine hübsche Ladung einhaben, es liegt ziemlich tief im Wasser.« »Es geht an«, antwortete ihm der Harpunier, indem er sich zu dem Frager umdrehte. »Wir haben schon etwas über 3000 Tonnen Tran ein, und etwa 50 000 Pfund Barten. Wenn sich's nur halbwegs macht, können wir in der nächsten Jahreszeit voll werden. – Es ist auch Zeit«, setzte er dann mürrisch hinzu. »Wir treiben uns nun schon fast drei Jahre hier draußen herum.« »Das ist recht lange«, sagte Tom, mit dem Kopf nickend. »Da wird mancher an Bord das Heimweh bekommen haben. Ich weiß nicht – wenn man erst einmal eine Zeit lang an Land ist –« »Sagt einmal den Leuten dort in dem Kanu, dass sie nicht abstoßen«, unterbrach ihn da der Harpunier, indem er den Blick wieder über Bord warf. »Der Kapitän hat befohlen, dass sie warten, bis die Holzboote zurück sind.«
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»Das Kanu? Der Kapitän hat, soviel ich weiß, dem wohl nichts zu befehlen«, erwiderte Tom, dem das Blut ins Gesicht schoss. »An Bord, wisst Ihr, Kamerad, hat ein Kapitän wohl so ziemlich über alles zu befehlen«, erwiderte der Harpunier ruhig. »Bitte, ruft die Leute zurück – Ihr wisst recht gut, dass sie das Walfischboot in ein paar Minuten wieder einholen würde. Was sollen sie an Land?« »Sie wollen, soviel ich weiß, noch mehr Früchte holen.« »Das ist unnütz, die Boote bringen schon alles mit, was wir noch etwa brauchen könnten. Seid vernünftig, Freund, und ruft sie zurück! – Dritte Bootsmannschaft, steht bei eurem Boot!«, rief er zugleich mit lauter, aber vollkommen ruhiger Stimme über Deck, und die Leute, mit dem Bootsteuerer an der Spitze, standen wenige Minuten später an den Fallen, an denen das kleine Fahrzeug unter seinen Kränen hing. – Es bedurfte nur noch eines Wortes oder Zeichens, und es glitt auf das Wasser nieder. Tom sah ein, dass ihm dieser Ausweg abgeschnitten sei, aber er wollte es noch nicht zum Äußersten kommen lassen. »Alohi!«, rief er mit einem eigentümlichen schrillen Ruf über das Wasser hinüber, dem kaum hundert Schritt entfernten Kanu nach. Die Indianer, die darin ruderten, drehten den Kopf nach ihm um. – »Kommt an Bord zurück!« Die Eingeborenen ließen die Ruder im Wasser, zögerten aber noch, dem Befehl Folge zu leisten. »Kommt zurück!«, rief Tom noch einmal. »Aber legt nicht an Bord an, sondern haltet euch nur dicht neben dem Schiff.« Er hatte einen neuen Plan gefasst, so verzweifelt dessen Ausführung ihm auch selber schien. Die Indianer 124
gehorchten jetzt, und der Harpunier, die Bootsmannschaft wieder an ihre Arbeit schickend, lehnte sich wie vorher nachlässig an die Schanzkleidung des Schiffs. »Ihr werdet begreiflich finden, Sir«, sagte der Schotte endlich, der entschlossen war zu wissen, wie er mit dem Schiffe stand, »dass ich nicht recht einsehe, weshalb Ihr das Kanu verhindern wollt, zu gehen wohin es ihm beliebt.« »Und wollt Ihr denn nicht wieder mit dem Kanu zurückfahren?«, lächelte der Seemann. »Allerdings will ich das.« »Nun gut, dann dürfen wir es doch nicht von Bord lassen. Glaubt Ihr, dass Euch der Kapitän in einem seiner Boote an Land fahren ließe?« »Ihr weicht mir nicht aus, Sir – welcher Befehl ist Euch über mich gegeben?« »Welcher Befehl? – Keiner als der, Euch und die Indianer nicht vom Bord zu lassen, bis Ihr das Geld für das Holz in Empfang genommen habt.« Tom fühlte den Hohn in den Worten, wusste, dass es Lügen waren, und der kalte Angstschweiß trat ihm bei dem Bewusstsein der Gefahr, in der er sich jetzt befand, auf die Stirn. Er biss die Unterlippe zwischen die Zähne und wandte sich, die Arme fest verschränkend, von dem Harpunier ab, dass dieser seine aufsteigende Bewegung nicht bemerken sollte. Nur eine Hoffnung, nur eine Aussicht zur Flucht blieb ihm noch. Wenn es ihm gelang, das eine noch unter den Kränen hängende Walfischboot leck zu machen, dass sie ihm nicht mit dem folgen konnten, durfte er hoffen, mit dem Kanu zu entkommen. Die anderen beiden Boote hatten das Land schon erreicht, und kurze Zeit reichte hin, sie mit Holz zu füllen. Dann waren sie aber auch zu schwerfällig, um eine Jagd unternehmen 125
zu können, und außerdem wusste er eine andere Einfahrt in die Riffe, die, in sich selbst geschlossen, aus dem dortigen Binnenwasser nicht einmal erreicht werden konnte. Hier galt es jetzt das Äußerste zu wagen; der Feind durfte aber auch keinen Verdacht fassen, sein Plan wäre ihm sonst gleich von vornherein vereitelt worden. Langsam ging er deshalb wieder mehr nach vorn, von wo er seinem Schwager die nächsten Verhaltensregeln zurufen und ihn von dem, was er beabsichtigte, in Kenntnis setzen konnte. Die Einfahrt in die Riffe, aus der sie herausgekommen, war etwa der halbe Weg zwischen dem Land und dem Schiff, und allerdings musste er dort ziemlich nahe vorbei. In den Booten konnten sich aber die Leute, wenn sie Holz geladen hatten, nicht so gut bewegen; nur deshalb die Einfahrt passiert, und er brauchte kaum zu fürchten, dass er noch eingeholt werde. Außerdem lag noch ein Ruder im Kanu, und drei, wenn es galt, konnten das leichte kleine Fahrzeug auch wohl rascher vorwärts treiben, als es vorhin geschehen war. Das Herz schlug ihm, als ob es die Brust zerschmettern wolle, aber er biss die Zähne fest zusammen, und wieder zum Schanzdeck zurückschreitend, ging er dort, als ob er jetzt gesonnen wäre, die Rückkunft der Boote ruhig abzuwarten, langsam auf und ab. Der Harpunier hatte sich indessen ebenfalls aus seiner lehnenden Stellung aufgerichtet und war zu Backbord, wo das Boot unter den Kränen hing, auf und ab gegangen. Ein Blick, den er über Bord warf, überzeugte ihn, dass die Indianer ruhig in ihrem Kanu saßen und nur langsam mit der Strömung zurücktrieben. Das Schiff hatte seine großen Segel auf, die Brise war aber so schwach, dass sie eben die Strömung der Flut stemmten und sich etwa auf einer Stelle hielten. 126
Der Wind hatte ein klein wenig aufgeräumt, und es war nötig geworden die Brassen zu Starbord etwas anzuziehen – der Harpunier ging dort hinüber und rief die Mannschaften. – Das war der entscheidende Moment. – Tom stand dicht neben dem Walfischboot – mit einem Satz war er auf der Schanzkleidung, hatte das in jedem unter den Kränen hängenden Boot vorn befestigte Handbeil ergriffen und herausgerissen, und ein einziger Schlag an das scharf angespannte Tau oder Fall, das es auf dieser Seite hielt, machte, dass es, während es hinten noch gehalten wurde, vorn herunter und gegen den Schiffsbord anschlug. »Hierher – Alle! – Hilfe! Hierher!«, schrie der Harpunier und sprang selber, eine Handspeiche aufgreifend, auf den kecken Schotten zu – aber er kam zu spät. Mit einem Satz die Schanzkleidung entlang war Tom am andern Kran, ein Schlag seines haarscharfen Tomahawks traf in die dünnen Planken des so schon durch den Sturz arg beschädigten Bootes, und das Beil war so tief hineingefahren, dass er es nicht einmal mit demselben Ruck wieder herausbekommen konnte. Daran lag ihm aber auch nichts; in der Verteidigung suchte er seine Rettung nicht, nur in der Flucht. Mit weitem Sprung deshalb von der Schanzkleidung nieder über Bord, sank er im nächsten Moment schon in die blaue, über ihm zusammenschlagende Flut, kaum zwanzig Schritt von dem Kanu hinein, das jetzt mit Blitzesschnelle nach ihm hinüberhielt. Wilde Flüche und Verwünschungen schallten hinter ihm drein von Bord. Während der Kapitän aber an Deck sprang und die Bootsmannschaft nach dem zertrümmerten Boote flog, um es so rasch wie möglich wieder aufzuholen und in Stand zu setzen, zog der dritte Harpunier – der recht gut einsah, wie klug der Flüchtling seine Lage 127
überschaut und seine Aussicht berechnet hatte – die unter die Gaffel niedergeholte Flagge auf. Dadurch gab er ein Zeichen, und der erste Harpunier wusste, was das bedeutete. Tom war indessen rasch wieder nach oben gekommen, und ehe nur die Mannschaft an Bord einen Entschluss fassen oder etwas mit dem misshandelten Boot anfangen konnte, erreichte er die Spitze des Kanus und schwang sich mit Alohis Hilfe hinein. Sein erster Blick aber war nach dem Schiff zurück, an dessen Gaffel eben die englische Flagge emporstieg – sein erster Griff nach dem neben ihm liegenden Ruder, das er rasch erfasste und brauchte, und die drei Männer wussten jetzt, dass ihre glückliche Flucht allein in der Kraft ihrer Arme lag. »Halt dort!«, schrie der Kapitän, der sich das schon sicher geglaubte Opfer in so kecker Weise unter den Händen fort wieder entzogen sah. »Halt, oder ich schieße euch über den Haufen!« Seine Drohung war aber machtlos. Er hatte nicht einmal ein Gewehr zur Hand, und nur eine von dem Bootsteuerer mit nach hinten gebrachte Harpune aufgreifend, schleuderte er sie in blinder Wut hinter dem schon wenigstens hundert Schritt entfernten Kanu her. Sie durchflog nicht die halbe Entfernung und verschwand zischend unter der Oberfläche. Vorn am Bug des Kanus aber schäumte die klare Flut, und das schlanke leichte Fahrzeug hätte, von den kräftigen Rudern getrieben, wie ein Pfeil über die See dahinfliegen müssen, wäre ihnen bei der raschen Fahrt der so genannte Luvbaum nicht im Weg gewesen. Die Kanus der Eingeborenen, die aus einem ausgehauenen Baumstamm bestehen, würden nämlich auf offener See und bei dem geringsten Wellenschlag, der sie seitwärts träfe, dem Umschlagen leicht ausgesetzt sein. 128
Das zu verhindern, befestigen sie auf einer Seite, mit über dem Kanu angeschnürten Querhölzern, ein Stück sehr leichtes Holz, etwa acht bis zehn Fuß lang, das, vielleicht vier Fuß vom Kanu entfernt, neben ihm auf dem Wasser schwimmt. Dieses hält dasselbe allerdings so vortrefflich im Gleichgewicht, dass es selbst ziemlich schweren Wogen Trotz bieten kann, hemmt es aber auch natürlich in seinem Lauf. Auf übergroße Schnelle kommt es freilich den Indianern selten an, sie wollen nur sicher und bequem fahren, und diesen Zweck erreichen sie dadurch vollkommen. Toms kühner Angriff auf seinen gefährlichsten Feind an Bord – das Walfischboot – war übrigens so vollkommen geglückt, dass er von dort aus nicht das mindeste zu fürchten hatte – das Zeichen ausgenommen. Das Boot war für die nächste Zeit vollkommen unbrauchbar, denn es hatte sich, außer dem Schlag, den er mit dem Tomahawk hineingeführt, durch den Sturz auch noch eine der Planken losgerissen. Aber die Flagge! Er wusste recht gut, dass die Leute an Land stets ein aufmerksames Auge auf das Schiff leisteten – – Doch hoffentlich hatten sie sich schon mit ihrer Holzladung beeilt und mochten auch gewiss nicht ganz leer zurückkehren. Keineswegs konnten sie wissen, was hier vorgegangen, und die aufgezogene Flagge war ihnen höchstens nur ein Zeichen zu rascher Rückkehr. Das Innere der Bai ließ sich vom Kanu aus allerdings nicht eher übersehen, bis sie die Einfahrt passierten, da die Brandungswellen der Riffe wie eine Mauer dazwischen lagen. Hatten sie die aber erst einmal erreicht, dann wurde ihnen auch die jetzt entgegenkommende Strömung günstig. Kein Wort wechselten indessen die drei Männer miteinander, und selbst die sonst lässigen Indianer legten 129
sich mit aller Kraft ihrer Sehnen in die Ruder. Jetzt waren sie in einer Höhe mit der Einfahrt – noch eine Bootslänge, und sie mussten den Landungsplatz ihrer Hütten erkennen können – lagen die Boote noch dort, so waren sie gerettet. »Da kommen sie!«, rief Alohi und deutete mit dem Ruder hinüber. – »Vorwärts!«, lautete der zwischen den zusammengebissenen Zähnen durchgegebene Befehl des Schotten, und in demselben Augenblick verhüllte auch die nächste Brandungswelle der Einfahrt wieder die weitere Aussicht. Die beiden Walfischboote hatten während der zuletzt beschriebenen Vorgänge das Land erreicht, und der Harpunier, den der Kapitän mit wenigen Worten davon in Kenntnis gesetzt, dass er nicht gesonnen sei seinen ihm früher entlaufenen Zimmermann wieder freizulassen, war beauftragt worden, nur wenigstens etwas des sehr notwendig gebrauchten Holzes an Bord zu nehmen und so rasch wie irgend möglich zurückzukommen. Natürlich durften die Eingeborenen nicht erfahren, was sie beabsichtigten. Denn so gern sie sonst entlaufene Matrosen auslieferten, hätten sie die Wegführung eines jetzt vollkommen zu ihnen gehörenden Weißen doch am Ende nicht gutwillig zugegeben. Der Kapitän hatte dabei geglaubt, den Schotten ohne die geringste Schwierigkeit an Bord halten zu können; im Guten natürlich so lange wie möglich, sobald das aber nicht mehr anging, mit Gewalt. Einem voll bemannten Walfischboot hätte er sich ja doch nicht, selbst wenn er die Flucht im Kanu wagte, widersetzen können. Dabei war es ihm fatal, dem solcherart überlisteten Opfer lange Rede und Antwort zu stehen – er wusste, er hatte gesetz130
lich kein Recht, ihn zu halten, denn auf dies Schiff hatte er sich nie verdungen, und er schämte sich vielleicht der Gewalt dem Schwächeren gegenüber. Der wachthabende Harpunier bekam jedoch strenge Order, ihn gleich durch Aufstampfen an Deck heraufzurufen, sobald der Schotte sich ernstlich widersetzen sollte. In der Ausübung seiner Gewalt an Bord konnte er dann auch jedes unangenehmen Gefühls leichter Herr werden. Dass der Zimmermann auf solche Art seine Flucht versuchen könne, war ihm nicht eingefallen. Mr. Hobart stand indes am Strand und trieb die Eingeborenen zur Eile an, das Holz herbeizuschaffen. Das ging nur nicht so rasch, denn erstlich war er ihrer Sprache nicht mächtig, und dann haben diese Leute auch wirklich gar keinen Begriff von Zeit, und kennen deshalb auch keine Eile. Was bei ihnen heut nicht fertig wird, bleibt eben auf morgen liegen, das ist der ganze Unterschied, und der morgende ein ebenso guter Tag dafür. Dass die fremden Boote übrigens anders dachten, war ihnen schon von früher her bekannt – die machten immer, dass sie nur so rasch wie möglich wieder fortkamen. Daher, und weil Tomo sich ja auch noch draußen an Bord befand und alles Übrige schon abmachen würde, verstanden sie sich endlich dazu, das Holz aus dem Schatten der Waldung heraus bis auf den Sand zu werfen. Während einige dreißig Mann, von allen Frauen und Mädchen begleitet, die sich um sie her lagerten und ihnen zuschauten, lachend und miteinander schwatzend an die Arbeit gingen, bildete der Harpunier aus seinen Leuten, mit einem andern Teil der Eingeborenen, zwei Ketten, um sich die Scheite einander bis an die Boote zuzuwerfen. Die Bootssteuerer legten es dort so ein, dass es später den Rudernden nicht im Weg sein sollte. 131
Scheit nach Scheit folgte solcher Art ziemlich rasch einander und wurde in beiden Booten zugleich untergebracht. Noch waren dieselben aber nicht zur Hälfte gefüllt, als der zweite Harpunier, der die eine Kette unter seiner Aufsicht hatte, die wehende Flagge an Bord bemerkte und seinen Vorgesetzten darauf aufmerksam machte. » Alle Teufel!«, rief dieser. »Da ist etwas vorgefallen! In eure Boote, Leute – rasch – wir müssen erst sehen, was es ist – in eure Boote sag ich!« »Und das Holz?«, fragte der zweite Harpunier. »Mögen die Faulenzer indessen zum Strand schaffen«, rief der erste. »Das bisschen Bewegung wird ihnen überhaupt ganz heilsam sein.« Während die Leute, dem Befehl gehorsam, auf ihre Plätze sprangen, sahen die Eingeborenen ganz erstaunt die so plötzlich aufgegebene Arbeit an. Dass ihnen der Harpunier dabei mit Zeichen bedeutete, nur ungehindert fortzutragen bis er zurückkomme, machte auch keinen weiteren Eindruck auf sie. Wenn er zurückkam, war es eben noch Zeit genug, und sie sammelten sich jetzt am Strand, um den rasch abstoßenden Booten nachzuschauen. Im Ganzen war es ihnen übrigens recht; brauchten sie doch jetzt vor der Hand nicht länger Holz zu schleppen, und wenn die Weißen das andere haben wollten, würden sie schon wiederkommen. Kamen sie aber nicht, nun so brachte Tomo die Waren für das mitgenommene Holz zurück. »Wetter noch einmal!«, sagte der Harpunier, der vorn auf der Bank seines kleineren Bootes stand und nach dem Schiff hinüberzusehen versuchte. »Ich möchte nur wissen, was der Alte hat. Wenn er uns noch eine Viertelstunde drüben ließ, waren wir mit allem fertig, und 132
nachher haben wir das verdammte Anlaufen gleich an der nächsten Insel wieder. Da soll immer Zeit gespart werden, und wird nur mehr verwüstet.« »Am Ende ist irgendetwas mit dem ›frischen Matrosen‹ vorgefallen«, lachte der Bootssteuerer. »Nun, mit dem einen Mann und den paar roten Jungen werden doch die zwölf oder dreizehn Menschen, die noch an Bord sind, wohl fertig werden«, brummte der Seemann mit einem halbverbissenen Fluch durch die Zähne. »Das ist überhaupt fauler Kram, und ich wollte – aber was geht's mich an – was er tut, mag er auch verantworten.« Die Boote hatten indessen keinen besonders schnellen Fortgang gemacht, da das Holz den Rudernden im Wege war. Nur die ausgehende Ebbe begünstigte sie, und sie näherten sich eben der Ausfahrt, als der alte Harpunier die Flüchtigen erblickte, die eben in wilder Eile an der Einfahrt vorbeiruderten. »Verdamm mich –«, rief er. »Da geht das Kanu! – Legt euch in die Riemen, Jungen, dass wir nachkommen! Weshalb, zum Teufel, setzen sie denn da nicht mit ihrem Boote nach?« »Vielleicht sind sie hinterher – wir können sie nur von hier aus noch nicht sehen«, warf der Bootssteuerer ein. »Hol der Henker das verdammte Holz!«, fluchte der Harpunier wieder. »Die Leute können sich nicht rühren – werft den Bettel über Bord – doch nein – lasst uns erst draußen sein, dass wir den Platz übersehen können.« Das wäre auch leichter gesagt als ausgeführt gewesen, denn wenn sie das Holz über Bord werfen sollten, mussten sie indessen die Ruder ruhen lassen. Schärfer griffen sie aus, und es dauerte nicht lange, so erreichten sie die Einfahrt in die Riffe, an denen hin sie jetzt das Kanu 133
flüchtig hinabgehen sahen. Der Harpunier, der sein kleines Fernrohr bei sich hatte, erkannte aber damit den Schotten, und wenn er auch noch nicht begriff, wie das alles gekommen sein konnte, so wusste er doch, was der Kapitän von ihm wollte, und folgte seiner Pflicht. Der in der Richtung nach dem Kanu hin ausgestreckten Hand, dem Zeichen für den Steuernden, gehorchte dieser augenblicklich, der Bug des Bootes flog herum, und während die Leute ihr Möglichstes taten, rascher vorwärts zu kommen, sprang der Harpunier mitten ins Boot hinein und schleuderte selber alle Stücke Holz, die nur irgend den Ruderern im Wege lagen, über Bord. Ein Blick auf das Schiff zeigte dabei, dass er die Absicht des Kapitäns erfüllte, denn die Flagge war wieder eingezogen worden, und die Lucy Evans wendete sich sogar und setzte die oberen Segel, um der Jagd so nahe wie möglich zu bleiben. Je mehr Holz der Seemann hinauswarf, desto leichter wurde das Boot, desto rascher schoss es vorwärts, und es war schon augenscheinlich, dass sie sich dem verfolgten Kanu näherten. Eine andere Einfahrt in die Riffe, der dasselbe jedenfalls zustrebte, war auch noch nicht zu sehen, oder lag wenigstens von der Brandung verdeckt, und Tom erkannte bald zu seinem Entsetzen, dass die Gefahr, wieder genommen zu werden, mit Riesenschritten über ihn hereinbreche. – Aber die Einfahrt lag gar nicht mehr so fern, und so schmal war diese, dass ihm das Boot kaum wagen durfte, dahinein zu folgen, noch dazu, da es an dieser selben Stelle nie hätte wieder ausfahren können. Die offene See wieder zu erreichen, musste es einen weiten Umweg machen, und zwar im Binnenwasser hin, an der volkreichsten Stelle der Insel vorbei, von wo aus ihm Toms jetzige Landleute doch 134
vielleicht Hindernisse in den Weg legen könnten. Nur jene Einfahrt vor dem Boot zu erreichen, war jetzt die Aufgabe, und das schien nur möglich, wenn sie den hindernden Luvbaum abwarfen. Ein paar rasch mit Alohi gewechselte Worte erhielten dessen Zustimmung, und Tom riss das Messer, das er noch vom früheren Seeleben an der Seite trug, heraus, um den Bast zu durchschneiden, mit dem die Querstücke daran befestigt waren. Das war im Nu, wenigstens dort, wo er saß, geschehen, der Luvbaum war indes hinten sowohl als vorn befestigt. Während er aber das Querstück mit der Hand hielt, um sein Messer Alohi zurückzureichen, fuhr ihm das glatte Holz, gegen das die Flut jetzt presste, unter der Hand weg. Das Kanu, noch von den beiden anderen Ruderern fast mit derselben Schnelle vorwärts getrieben, bekam durch das gegen das Wasser stemmende Querholz eine andere Richtung und schoss, aus seinem Kurs abdrehend, gerade gegen die Brandungswellen zu. Alohi beseitigte allerdings mit zwei kräftig geführten Schnitten das Hindernis, aber das schmale Fahrzeug kam dadurch ins Schwanken, und die Indianer sowohl wie besonders Tom, die das Balancieren in so leicht beweglichem Kahn nicht gewohnt waren, brauchten mehrere Minuten, ehe sie nur wieder fest genug saßen, um den Bug desselben der vorigen Richtung zuzudrehen und von den drohenden Brandungswellen abzuwenden. Das Walfischboot war in dieser versäumten Zeit auf kaum zweihundert Schritt herangekommen, und so nah klang das regelmäßige Ruderausheben in den Dollen desselben, dass Tom wieder und wieder scheu den Kopf danach zurückwarf. Einen Augenblick, als sich das Kanu so plötzlich wandte, hatte der Harpunier allerdings schon 135
geglaubt, das verfolgte Boot hätte irgendeine Einfahrt zwischen den Brandungswellen erreicht und wolle dieselbe benutzen, bald erkannte er aber die wahre Ursache, und ein triumphierendes Lächeln zuckte über seine Züge. Ihn selber dauerte der arme Teufel, den er hier wie einen Verbrecher wieder einfangen musste, und er würde an des Kapitäns Stelle vielleicht anders gehandelt haben, aber der Reiz der Jagd riss ihn auch wieder so weit mit fort, dass er jetzt sein eigenes Leben mit Freuden in die Schanze geschlagen haben würde, nur um den Flüchtigen wieder in seine Gewalt zu bringen. Es ist das oft ein wunderlicher Zwiespalt in unserem Herzen, von dem wir uns nur selten Rechenschaft zu geben wissen, und manchmal ist's, als ob irgendein Dämon mit unserem besseren Selbst ringe und kämpfe – und leider trägt der Teufel fast stets den Sieg davon. Außerdem wäre es ja aber auch eine Schande gewesen, wenn ein Kanu, von drei Rudern getrieben, seinem Boot, dem schnellsten an Bord, in dem vier Riemen mit äußerster Anstrengung geführt wurden, entkommen sollte. Er hätte sich ja geschämt, wieder an Bord zurückzukehren. Unterdessen warf er, mit diesen Gedanken beschäftigt, Scheit nach Scheit über Bord, dass ihm der Schweiß in großen hellen Tropfen von der Stirn lief. »Das Kanu hat den Luvbaum abgeworfen, um schneller vorwärts zu kommen!«, rief jetzt der Bootsteuerer, der es ebenfalls bemerkt hatte, triumphierend aus. »Seht nur, wie sie hin und her schwanken. Wir gewinnen mit jedem Ruderschlag!« »Hurra meine Jungen!«, schrie der Harpunier. »Doppelten Grog heut Abend für euch, wenn ihr die Burschen einholt. Nur zehn Minuten, und sie sind unser!«
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»Wir kommen nicht von der Stelle, Tom!«, rief Indessen Alohi mit Todesangst dem Weißen zu. »Wenn wir uns viel regen, schlagen wir um!« »So steuere gerade in die Brandung hinein! », antwortete der Schotte in Verzweiflung. »Dorthin wagen sie nicht zu folgen, und – besser tot als gefangen.« »Hier nicht!«, rief aber Alohi ängstlich zurück. »Um unser aller Willen hier nicht. Die Riffe liegen scharf und ausgedehnt dahinter, und unsere Leiber würden zerschmettert und zerrissen werden, ehe sie das Binnenwasser erreichten.« »Dann sind wir verloren«, murmelte Tom dumpf vor sich hin, während durch eine unvorsichtige Bewegung das Kanu wieder ins Schwanken kam. Die drei Ruder mussten aufhören zu arbeiten, und in derselben Minute schoss der Bug des Walfischbootes an sie heran. »Komm herüber, mein Bursche, und mache keine unnützen Schwierigkeiten mehr«, sagte der Harpunier, fast eher in einem freundlichen als barschen Ton. »Du siehst, du kommst nicht fort – spring ins Boot und lass die roten Jungen ihr Kanu in Gottes Namen weiter rudern.« »Mit welchem Recht fallt Ihr mich hier auf offenem Meere an?«, rief aber der Schotte entrüstet. »Seid ihr Freibeuter, dass ihr presst, was ihr zu eurem Dienste braucht?« »Das macht mit dem Alten aus«, erwiderte ruhig der Harpunier. »Ich habe nur den Auftrag, Euch einzubringen.« Die Matrosen hatten indessen das Kanu gefasst, und der Harpunier streckte den Arm nach dem Unglücklichen aus. »Es tut mir bei Gott selber Leid«, setzte er dann leise hinzu. »Aber – zum Teufel, wer hieß Euch auch wieder 137
in des Löwen Rachen hineinsteigen; macht aber jetzt gute Miene zum bösen Spiel, denn das Schlimmste ist doch nur eine Trennung von zehn oder zwölf Monaten von Eurer Insel. Bis dahin haben wir unser Schiff voll, und dass Euch der Kapitän dann hier wieder abliefert, versteht sich wohl von selbst.« Tom Burton stand einen Augenblick zaudernd in seinem schwanken Kahn. Noch konnte er sich losreißen und über die Brandungswellen hin Tod oder Freiheit suchen – aber die Lust zum Leben siegte doch in ihm. Vom Bord des Schiffes aus war vielleicht noch Rettung möglich – die Wellen hier hätten ihn dem sichern Tod entgegengeschleudert. »Leb wohl, Alohi«, sprach er, dem Schwager die Hand reichend. »Grüß deine Schwester von mir und sag ihr, was du gesehen hast. Wenn die Brotfrucht zum zweiten Male reift, bin ich hoffentlich wieder bei euch – vielleicht auch früher«, setzte er mit fest zusammengebissenen Zähnen hinzu. »Alohi geht nicht nach Tubuai zurück«, sagte aber der Indianer ruhig, indem er sein Ruder in das Kanu warf und von seinem Sitz aufstand. »Anahona mag das Fahrzeug zurücknehmen. Ich bleibe bei dir.« »Du willst mit uns gehen?« Alohi nickte nur als Antwort mit dem Kopf. »Was sagt er?«, rief der Harpunier. »Er will mich nicht verlassen – darf er uns begleiten?« »Versteht sich, mein Junge«, lachte der Seemann, froh einen Mann mehr an Bord hinüberzubringen. »Und wir wollen sehen, dass wir einen tüchtigen Matrosen aus ihm machen. Aber nun rasch – wir treiben hier mit der Strömung gegen die Brandung zu – kommt über, Tom – dass
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Euch der Alte nicht schlecht behandeln soll, dafür lasst mich sorgen.« Alohi wechselte nur einige Worte mit seinem Landsmann und stieg dann zuerst in das Walfischboot hinein – Tom folgte ihm langsam. Die Ruder wurden wieder eingeworfen, der Bug des Bootes flog herum, und während das Kanu, von dem einen Indianer geführt, nach der alten Einfahrt in den Riffen zusteuerte, den Eingeborenen die traurige Kunde zu bringen, ruderten die Weißen guter Dinge der Lucy Evans entgegen. Den Leuten mochte die Gefangennahme des armen Teufels vielleicht Leid tun, und viele sahen darin ihr eigenes Schicksal, wenn sie selber eine oft und oft überdachte Flucht versuchen sollten; aber im Ganzen war es ihnen doch recht. Einmal an Bord eines Walfischfängers, wäre ihnen der Mangel eines Zimmermanns bald fühlbar geworden, er musste sogar zuletzt ihren Fang beeinträchtigen. Dadurch aber wurde ihr Verdienst geschmälert, und der Eigennutz regiert ja nun doch einmal die Welt. Es war ein furchtbares Gefühl, mit dem Tom das Schiff wieder betrat, wo er auch eben auf nicht freundliche Weise mit Fluchen und Verwünschungen von dem vorhin überlisteten dritten Harpunier empfangen wurde. Vollkommen ruhig benahm sich dagegen der Kapitän, der trotz des ausgeführten Gewaltstreiches dem Mann seine jetzt versuchte und allerdings gerechtfertigte Flucht nicht noch durch harte Reden oder gar irgendeine Strafe wollte entgelten lassen. Tom selber war dagegen nicht willens, sich so ganz geduldig in sein hartes und, wie er glaubte, ungerechtes Los zu finden. Der Kapitän sollte sich wenigstens später nie entschuldigen können, nicht gewusst zu haben, was er begehe, indem er ihn seiner Familie, seiner jetzigen Hei139
mat entreiße. Ohne deshalb einen weiteren Befehl von dessen Seite abzuwarten, schritt er, sobald er die Schanzkleidung überstiegen hatte und ohne auf die bitteren Reden des gereizten dritten Harpuniers auch nur mit einem Blick zu antworten, auf den Kapitän zu. Dieser stand neben dem Steuernden, das Auge auf die Segel geheftet und der Mannschaft die Befehle zum Umbrassen zurufend. »Kapitän Rogers!« »Ah Mr. Burton – wieder an Bord! Ihr werdet vor allen Dingen daran gehen müssen, das Boot auszubessern, das ihr vorhin, in der Eile an Land zu kommen, zerschlagen habt. Wir brauchen es notwendig.« »Kapitän Rogers«, wiederholte Tom und musste sich Gewalt antun, um die nötige Ruhe zu behaupten. »Sie wissen, dass Sie eine ungesetzliche – unmenschliche Tat begehen, indem Sie mich gewaltsam von hier fortführen.« »Ungesetzlich? – Begingt Ihr etwa eine gesetzliche Tat, als Ihr von dem Bonnie Scotchman flüchtig wurdet?« »Das war der Bonnie Scotchman«, sagte Tom ruhig, »und hätten Sie mich damals wieder eingefangen, wären Sie in Ihrem vollen Recht gewesen, mich zu strafen, wie Sie es für gut fanden. Gegen dieses Schiff aber habe ich keine Verbindlichkeiten gebrochen.« »Gegen dieses Schiff allerdings nicht, aber gegen mich«, sprach der Kapitän gleichfalls ruhig. »Unsere Ansichten mögen darüber verschieden sein, und glaubt Ihr Recht zu behalten, gut, so könnt Ihr mich im nächsten englischen Hafen, den wir erreichen, verklagen. Für jetzt bitte ich Euch aber, Eure Pflicht ruhig und ordentlich zu erfüllen und mir die unangenehme Notwendigkeit zu ersparen, Euch – doch wozu harte Worte?«, unterbrach er 140
sich rasch. »Ihr kennt die Verhältnisse an Bord eines Walfischfängers so gut wie ich sie Euch schildern kann, und seid vernünftig genug, das Beste zu wählen. Unsere Reise wird überdies hoffentlich nicht so lange mehr dauern.« Er wandte sich ab von Tom, als sein Auge auf den Indianer fiel, und sagte lächelnd: »Habt Ihr da noch einen Matrosen für mich geworben?« »Er ist der Bruder meines Weibes, der mich nicht verlassen will«, versetzte Tom finster. »Ah, Euer Schwager, desto besser! Ich hoffe, es soll ihm bei uns gefallen, und nun – seid so gut und geht an Eure Arbeit.« Tom war entlassen und sein Schicksal entschieden. Er wusste, dass er nichts weiter von Bitten noch Drohungen zu hoffen hatte, ja die Letzteren seine Lage nur verschlimmern konnten, und war vernünftig genug, sich dem zu fügen. Unbelästigt von irgendjemand – denn der dritte Harpunier hatte strengen Befehl bekommen, dem neuen Zimmermann des letzten Fluchtversuchs wegen keine weiteren Vorwürfe zu machen – verrichtete er jetzt seine Arbeit, und wenn ihm auch das Herz hätte brechen mögen, als das Schiff seinen Kurs in die See hinaus nahm und Tubuai mehr und mehr am Horizont verschwand, verbiss er doch seinen Schmerz. Es sollte niemand ahnen, was in ihm vorging – seine Zeit kam doch vielleicht. Nicht so ruhig aber nahm Alohi den Abschied von seinem Vaterland. Im Anfang zwar hatte er sich mit ziemlicher Gleichgültigkeit dem Entschluss hingegeben, sein Schicksal an das seines Schwagers zu knüpfen – eine gewisse Furcht mochte ihn ebenfalls dazu getrieben haben, den Klagen der Schwester auszuweichen. Jetzt aber, als die palmenreiche Küste, als die grünen Gipfel seiner Berge niedriger und niedriger wurden, und endlich auch 141
der letzte in die See versank und die weite Öde furchtbar überwältigend vor ihm lag, da wurde ihm doch recht weh und ängstlich zu Mute, und er kauerte still und traurig an Deck nieder, senkte den Kopf und verhüllte sich das Gesicht mit seinem Schultertuch. Niemand belästigte ihn an dem Tag; die Seeleute wussten schon aus früherer Zeit, dass sie den Eingeborenen, wenn sie deren einmal als Arbeiter auf ihre Schiffe bekommen, Raum zu ihrem Heimweh geben mussten. Nachher fanden sie sich schon besser hinein. Ihr leichter Sinn hob sie bald über den wirklichen Verlust hinweg und ließ sie in dem Neuen und Wunderbaren, das sie umgab, sogar das Vaterland vergessen – freilich nur bis irgendeine neue Hügelspitze am Horizont auftauchte und die Sehnsucht dann wohl so stark zurückkehrte als je. Tom war indes fest entschlossen, jede nur mögliche Gelegenheit zu neuer Flucht zu benutzen, und mit Alohis Hilfe, den die Indianer einer fremden Insel gewiss eher unterstützt als ausgeliefert hätten, hoffte er auch auf gutes Gelingen. So nachsichtig ihn aber auch der Kapitän in See behandelte, so streng wurde er überwacht, so lange sie nur in Sicht einer der zahlreichen in den dortigen Meeren zerstreut liegenden Inseln kamen, und als sie später in Hilo auf Hawaii anlegten, durfte der arme Teufel nicht einmal das Zwischendeck, ausgenommen mit Bewachung, verlassen. An Flucht war da gar nicht zu denken. Alohi dagegen konnte frei umhergehen, wohin es ihm beliebte. Kapitän Rogers wusste recht gut, dass ihm der nicht davonlaufen würde, so lange er nur den Schotten hielt. Der einzige Feind, den Tom an Bord hatte, war der dritte Harpunier, Mr. Elgers, der ihm die damalige Flucht nicht vergessen konnte, und peinlich wurde dies Verhält142
nis sogar, als er und Alohi gerade seinem Boote zugeteilt wurden. So knapp war die Lucy Evans nämlich an Mannschaft, dass nicht einmal der Zimmermann, wenn nicht besonders nötige Arbeit an Bord seine Anwesenheit erforderte, beim Fang der Fische entbehrt werden konnte. Alohi besonders hatte dort eine schwere Zeit, denn an das eisige Klima nicht gewöhnt, konnte er sich, trotz der erhaltenen warmen Kleidung, gar nicht mehr erwärmen. Die schwere Arbeit dazu, das Rudern am Tag, das Auskochen bei Nacht – oder in der Dämmerung wenigstens, da es dort oben in den Sommermonaten nicht Nacht wurde – rieb seinen Körper fast auf. Aber keine Klage kam über seine Lippen, und nur manchmal, wenn er oben im Top der Masten den Ausguck nach Walfischen hatte, drangen die leisen wehmütigen Töne eines kleinen heimischen Liedes, das Tom nur zu gut kannte, auf das Deck nieder und verrieten ihm wenigstens, wie weh es dem armen Indianer im Herzen sei. Ihre Jagd war ziemlich glücklich. Sie nahmen so viel Fische, dass der Kapitän beschloss, wenn auch sein Schiff noch nicht ganz gefüllt war, keine weitere Jahreszeit hier oben abzuwarten, sondern nach Hause zurückzukehren. Auf der Heimfahrt konnte er dann das Fehlende vielleicht noch nachholen. – Auf Oahu wurde das Schiff wieder mit frischen Provisionen und Wasser versehen, und der zweite Harpunier wie zwei Bootssteuerer, die auf den Sandwichinseln zu bleiben wünschten, ausgezahlt. Es geschieht dies sehr häufig, wenn ein Schiff seine Heimfahrt antritt, und ist stets ein Nutzen für die an Bord Zurückbleibenden. Die Abgehenden brauchen nämlich nicht allein nicht mehr beköstigt zu werden, sondern sie sind auch genötigt, ihren Anteil am Tran
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hier billiger anzunehmen, als es in England der Fall gewesen wäre. Nur den Zimmermann und Böttcher brauchte das Schiff noch notwendig für die weitere Fahrt, und trotz des ersten Harpuniers Bitte für Tom Burton, ihn in der Nähe seiner Heimat abzusetzen, wenn sie diese erreichen würden, erklärte der Kapitän, ihn notgedrungen mit nach Hause nehmen zu müssen, da er das Schiff nicht der Gefahr aussetzen durfte, unterwegs bei schwerem Wetter und so tief geladen zu Schaden zu kommen. Was konnten sie dann ohne Zimmermann anfangen? Der Harpunier schwieg. Der Kapitän hatte Recht – und auch nicht. Er selber mochte mit der Sache nichts weiter zu tun haben. Sobald sie den Äquator wieder passiert hatten, bat übrigens Tom ebenfalls den Kapitän darum, bei Tubuai anzulaufen und sie beide ihren Familien zurückzugeben; der Kapitän gab ihm aber ganz aufrichtig dieselbe Antwort wie seinem Harpunier, und Tom war zu viel Zimmermann und Seemann, um nicht selber einzusehen, dass jener von seinem Standpunkt aus vollkommen Recht hatte. Aber zur Verzweiflung trieb es ihn bald, wenn er daran dachte, wie er jetzt vielleicht in einer Tagereise Entfernung an dem kleinen Inselland vorbeischwamm, das seine Heimat geworden und alle die Menschen in sich fasste, die ihm lieb und teuer waren, und dass trotzdem doch vielleicht noch Jahre vergehen müssten, ehe er den Boden wieder betreten konnte. Und doch sah er keine Möglichkeit zur Flucht. Weiter und weiter verfolgte indessen das Schiff seine Bahn. Die Breite von Tubuai mussten sie jedenfalls schon passiert haben, und die Ungewissheit darüber fraß ihm nur noch mehr am Herzen. Der Kapitän nämlich, der die Beobachtungen der Sonne selber nahm und berechne144
te, vermied stets, irgendjemand anderem ihre Bahn mitzuteilen. Die Leute durften auch gar nicht danach fragen, und die Harpuniere bekümmerten sich nicht darum. Das war eine Sache, die sie nichts anging. Sie hatten nur mit dem Fang der Fische zu tun; das Schiff in den richtigen Hafen zu bringen, war des Kapitäns Sache. Mehrfach tauchten jetzt wieder einzelne Inselgruppen am Horizont auf und Alohi hatte diese stets mit peinlichster Spannung beobachtet. Ihm allerdings hatte der Kapitän freigestellt, das Schiff zu verlassen oder zu bleiben, der treue Bursche aber wollte nicht von Tom weichen. Wohin der ginge, ginge er mit, und wenn die Weißen schlecht genug wären, den noch einmal mit fortzuschleppen, sollten sie ihn auch mitnehmen. So standen die Sachen, als Tom Burton eines Morgens vorn an der Galerie beschäftigt war, die Stevenpumpe in Ordnung zu bringen. Aber die Arbeit ging ihm heute nicht vonstatten. Da drüben, leewärts, lag wieder Land, lagen die Spitzen zweier, wie es schien, ziemlich hoher Inseln, und er konnte die Augen nicht abwenden von dem teuern Boden – vielleicht dem letzten Palmengrund, den sie zu sehen bekamen, ehe sie die schwere, kalte Fahrt um Kap Horn antraten. Was es für Inseln seien, konnte er freilich nicht erraten. Er hatte den ersten Harpunier, der immer noch am freundlichsten mit ihm gewesen, darum gefragt, aber dieser wusste es selber nicht oder wollte es nicht wissen. »Tomo«, sagte da plötzlich eine leise scheue Stimme an seiner Seite. »Weißt du, was das da drüben für Land ist?« Tom fuhr von einem plötzlichen Gedanken durchzuckt nach ihm herum. »Tubuai?«, rief er mit angstgepresster und doch wild herausgestoßener Stimme. »Aber nein – 145
nein«, setzte er dann leise und kopfschüttelnd hinzu. Das sind die heimischen Berge nicht, an deren Fuß wohnt nicht –« »Halte dich ruhig«, flüsterte Alohi. »Die anderen brauchen nicht zu wissen, dass wir über das Land sprechen.« »Und was hülfe es uns? Haben wir ein Boot, dass wir es erreichen könnten?« »Dorthin liegt nicht Tubuai«, sprach Alohi vorsichtig. »Das ist Tahiti – die große Insel, auf der die Feranis wohnen. Die andere links davon ist Morea.« »Aber woher kennst du die Inseln?« »Als Knabe war ich mit dem Missionskutter einst auf Tahiti. Ich habe den spitzen Gipfel nicht vergessen.« »Und Tubuai? Wo hinaus liegt das?« »Gerade dorthin, wo die Sterne abends stehen, die ihr das Kreuz nennt – nur ein wenig mehr nach leewärts zu«, flüsterte der Eingeborene, ohne den Kopf nach der bezeichneten Richtung zu wenden. »Wir sind noch lange nicht an Tubuai vorbei. Wenn wir ein Boot frei machen könnten – ich fände jetzt leicht die Richtung dorthin.« »Es geht nicht – es geht nicht«, seufzte Tom. »Die Boote hängen zu nah am Steuerruder, und wenn ich selbst die Wache dort hätte – einer der Harpuniere ist stets an Deck.« »Und zwischen den Wachen, nachts, wenn sie unten im Buch schreiben?« Tom schüttelte traurig den Kopf. »Das erste Reiben des Taus in den Blöcken müssten sie hören, und ehe wir nur das Boot auf dem Wasser hätten, wären wir verraten. Nein, armer Bursche, es bleibt uns jetzt schon keine andere Wahl, als geduldig auszuharren die schwere Zeit – noch viele lange, lange Monde.« 146
Alohi gab seinen Plan noch nicht auf. Das Land in Sicht, das ihm plötzlich die Richtung der eigenen Heimat zeigte, hatte die Sehnsucht stärker als je in ihm erweckt. Aber selbst die Elemente schienen ihm entgegen, denn der Wind legte sich fast ganz und es wurde so still, dass eine Flucht im Boot, selbst wenn sie glücklich das Schiff damit verlassen hätten, unmöglich geworden wäre. Nur bei kräftiger Brise hätten sie hoffen können, mit Segeln zu entkommen. Die Nacht brach ein, und am nächsten Morgen, als die Sonne wieder im Osten emporstieg und das spiegelglatte Meer beschien, war das Land verschwunden. Bald nach Sonnenaufgang erhob sich aber der Wind auch wieder und die Lucy Evans lief jetzt mit ziemlich kleinen Segeln etwa vier Knoten die Stunde nach Süden nieder. In den letzten acht Tagen hatte sie keinen Fisch gefangen, und das Deck lag rein und sauber gescheuert. Zu arbeiten war ebenfalls wenig und der Böttcher, so ziemlich die einzige ununterbrochen tätige Person, da die mit dem heißen Tran gefüllten Fässer scharfes Aufpassen und mehrmaliges Nachtreiben der Reifen verlangen, wenn sie nicht leck werden sollen. Die Ausgucks wurden jedoch regelmäßig in den Tops der Masten gehalten, denn sie befanden sich hier noch im besten Spermfischrevier und hätten noch ein halbes Dutzend der fetten Burschen brauchen können, um ihr Schiff bis zum Deck zu füllen. Vier volle Tage, nachts dabei nur wenig Fortgang machend, lagen sie so dicht am Wind, um so viel wie möglich nach Osten anzuhalten. Dass sie Tubuai jetzt passiert hatten, war gar keine Frage mehr, und die weite öde See lag vor ihnen, ein traurig wildes Ziel. Am vierten Nachmittag war Tom oben in den Top des Vormasts zum Ausguck gesandt und konnte die Blicke nicht abwenden 147
von der Richtung, in der er die Heimat wusste. Er schaute so lange nach Westen, in die untergehende Sonne, bis ihn die Augen schmerzten, und wandte sich endlich in Pein und Unmut ab, damit seine Gedanken nicht über ihn Herr werden möchten. Eine Zeit lang flimmerte es ihm vor den Augen, so hatten ihn die Strahlen der Sonne geblendet, und doch kam es ihm vor, als ob er dort drüben zu windwärts einen dunkeln Punkt erkennen könne. War das ein Fisch? – Er wäre der Letzte gewesen, ihn anzurufen, denn jetzt, nachdem sie seine Insel im Rücken hatten, lag seine einzige Hoffnung auf einer schnellen Fahrt, der alten Heimat zu, um von dort dann mit dem ersten Schiff den Rückweg hierher zu finden. Das Einschneiden eines Fisches hätte dies nur verzögert. – Aber nein, das war kein Fisch. Ein dunkler Gegenstand lag gar nicht so sehr weit entfernt, ziemlich hoch aus dem Wasser. Was es sei, konnte er nicht erkennen, rief aber das Schiff unten an und meldete mit dorthin ausgestreckter Hand, was er bemerkt. Er war selber neugierig geworden. Einer der Harpuniere stieg rasch mit dem Fernglas nach oben und erkannte bald in dem dunkeln Gegenstand einen kleinen entmasteten Kutter, der dort, anscheinend herrenlos, auf dem Wasser trieb. Niemand auf der Welt hat aber besser Zeit, etwas derartiges zu untersuchen, als gerade ein Walfischfänger, da er nicht das mindeste dabei versäumt. Die Ausgucks bleiben natürlich fortwährend in den Masten, und während er beilegt oder gegen den Wind aufkreuzt, können ihm ebenso gut Fische in den Wurf laufen, als wenn er mit voll geblähten Segeln vor dem Wind fortginge. Außerdem war hier eine Aussicht auf Gewinn – es konnte ein mit Perlmutterschalen oder Kokosöl beladener Kutter sein, der aus irgendeinem 148
Grund von seiner Mannschaft verlassen worden. Jedenfalls lohnte es der Mühe, die Stunde daran zu wenden, um ihn zu untersuchen, und die Sonne war eben noch hoch genug, um ihn wenigstens vor ihrem Untergang zu erreichen. »Mr. Hobart!«, rief der Kapitän. »Nehmen Sie Ihr Boot und zugleich – oder lassen Sie lieber Mr. Elgers gehen«, unterbrach er sich. »Der hat den Zimmermann in seinem Boot. Tom mag sein Handwerkszeug mitnehmen, Meißel, Säge, Hammer und Beil; man weiß nicht, was da aufzuschlagen ist. Lohnt es der Mühe, so bleiben Sie dort liegen, bis wir dazu aufkreuzen können – Sie mögen sich auch eine Laterne mitnehmen, falls es zu dunkel werden sollte.« Der Befehl wurde rasch ausgeführt und Tom vom Mast heruntergerufen. Hier blieb ihm auch wirklich kaum Zeit, sein notwendigstes Geschirr zusammenzuraffen und in das Boot zu springen. Das hatte die übrige Mannschaft indes mit allem Nötigen versorgt, und sie stießen gleich darauf von Bord ab, um das Wrack zu untersuchen. Unten auf dem Wasser konnten sie es aber noch nicht erkennen, und von der großen Rahe aus gab ihnen ein dort hinaufgeschickter Matrose die Richtung an, in der sie steuern mussten, bis sie selber nahe genug kamen, es von der blitzenden Flut, die ihren Horizont begrenzte, zu unterscheiden. »Legt euch in die Riemen, meine Burschen«, ermunterte der Harpunier die Leute. »Es wird sonst dunkel, eh wir hinkommen; die Sonne geht ja schon unter. Regt ein bisschen die faulen Knochen – wer weiß, ob nicht in dem Kasten da drüben mehr steckt, als zwei Walfische wert sind.«
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Das Letztere war jedenfalls die beste Anregung für die Leute. Mit aller Macht legten sie sich in die Ruder, und das schlanke treffliche Boot sprang leicht über die kaum bewegten, aber von einer frischen Brise dunkel gekräuselten Wellen der blauen See, sodass sie bald das ersehnte Ziel erreichten. Es war in der Tat ein kleiner inländischer Kutter, wie ihn die Weißen hier und da für die Eingeborenen auf den Inseln bauen, und womit auch oft Europäer, besonders Franzosen, zwischen den verschiedenen Inselgruppen herumfahren und Perlmutterschalen, Kokosöl, Limonensaft oder andere Produkte gegen europäische Waren, seltener gegen Geld eintauschen. Jedenfalls hatte ein Sturm das kleine Fahrzeug erfasst, und die Mannschaft, wenn sie nicht verunglückt war, sich in ihrem Kanu zu retten gesucht. An Deck lagen nur einige Kokosnüsse, die Alohi, ohne weiter einen Befehl deshalb abzuwarten, in das Boot warf. Außerdem war aber von dem Takelwerk noch manches zu gebrauchen, der Anker z. B. allein schon etwas wert, und der Harpunier ließ sich jetzt die Laterne anzünden, um in den innern Raum, der nur teilweise mit Wasser gefüllt schien, hineinzusteigen und nach Papieren oder sonst wertvollen Sachen zu suchen. Die Mannschaft sprang indes sämtlich an Deck des kleinen Fahrzeugs, um so viel wie möglich wenigstens von dem Tauwerk zu bergen, falls sich die Ladung als wertlos erweisen sollte. Die Sonne war allerdings schon unter, und die Nacht fing an, sich von Osten her langsam über die weite, leise wogende See auszubreiten. Die Dämmerung ist in jenen Meeren ungemein kurz, und dem Tag folgt fast unmittelbar die Nacht. »Hierher, Zimmermann; gebt einmal ein Beil herunter«, rief der Harpunier, der mit dem Bootsteuerer nach 150
unten geklettert war, an Deck hinauf. »Und bringt einen Meißel mit. Tom stieg in das Boot, das in See vom Kutter angebunden hing, um das kleine Kästchen mit Handwerksgerät heraufzuholen, als plötzlich jemand zu ihm in das Boot sprang und dieses ein Stück vom Kutter abschoss. Er richtete sich überrascht empor und erkannte Alohi, der mit einem trotzigen Lächeln über den dunkeln Zügen, ein Messer in der Hand, mit dem er eben das Tau durchschnitten hatte, einen Augenblick stolz und hoch aufgerichtet vorn im Boot stand. Es war aber auch wirklich nur ein Augenblick, denn im nächsten Moment schon warf er das Messer von sich und griff einen Riemen auf. »Hallo – das Boot ist flott!«, rief einer der zurückgebliebenen Leute. »Auf der andern Seite, Kanaka Der Name bedeutet eigentlich einen Sandwich-Insulaner, aber die Seeleute geben ihn gewöhnlich allen Eingeborenen der Südsee. , musst du den Riemen einsetzen – du schiebst es ja noch immer weiter ab.« »Was tust du, Alohi?«, rief Tom erschreckt. »Was ich tue, Tomo? Ich will nach Tubuai fahren – und nun Segel auf und fort, denn es dauert noch wenigstens eine Viertelstunde, ehe es vollkommen Nacht ist. Die anderen Boote werden bald hinter uns her sein.« »Aber Alohi!«, rief Tom, »mit diesem Boote sollen wir die Entfernung -« »Und wenn's ein Kanu wäre«, lachte der Indianer wild vor sich hin. »Besser hier zugrunde gehen als länger bei jenen weißen Teufeln ausharren. Alohi bleibt nicht mehr bei ihnen.« »Nun denn mit Gott!«, rief Tom laut aufjubelnd, indem er mit raschen Griff den kleinen Mast in den dazu
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bestimmten Platz setzte. »Land werden wir schon irgendwo treffen, und nun hinaus in die See!« »Oh Tom – O Kanaka!«, riefen indessen die beiden zurückgelassenen Matrosen erschreckt durcheinander. »Hallo, Mr. Elgers, das Boot ist fort!« »Den Teufel auch!«, schrie dieser, indem er rasch nach oben sprang. Aber in die gotteslästerlichsten Verwünschungen brach er aus, als die beiden Flüchtlinge seinen Anrufen nicht gehorchten, sondern mit geblähtem Segel, scharf am Winde hin, das Weite suchten. In wilder Hast und Wut schwang er dabei die Laterne hin und her, als einzig mögliches Zeichen für das Schiff, von dort so rasch als möglich Hilfe herbeizuholen. An Bord hatten sie indessen von oben aus ebenfalls, wenn auch nicht das Abstoßen des Bootes, denn dazu war es nach Osten hin zu dunkel geworden, aber doch das gesetzte Segel entdeckt. Der Mann, der als Ausguck oben saß, rief es an Deck hinunter. Nichtsdestoweniger zerbrach er sich den Kopf, weshalb das Segel nicht gerade auf das Schiff zuhielte und auf dem Wrack noch immer jemand die Laterne schwenkte. Seiner Pflicht nach rapportierte er das endlich ebenfalls, und der erste Harpunier lief rasch an der Want hinauf, um sich von dem Tatbestand zu überzeugen. Mr. Hobart brauchte indessen keine lange Zeit, den wahren Verlauf zu durchschauen. »Mein Boot aufs Wasser!«, schrie er in dem nämlichen Augenblick an Deck hinab und glitt dann selber an einer von den Pardunen nieder. »Was ist vorgefallen, Mr. Hobart?«, rief der Kapitän, der unten neben dem Steuerrad stand. »Ist das Boot verunglückt?« »Halb und halb«, lachte der Harpunier mit einem derben Fluch zur Bekräftigung. »Für uns wenigstens hier. Es 152
geht mit voll geblähtem Segel nach Lee zu, und ich müsste mich sehr irren, wenn Tom und der Kanaka nicht eine Vergnügungstour darin vorhätten.« »Verdammnis!«, schrie der Kapitän, das Deck stampfend. »Sie hätten ihn sollen laufen lassen, als es noch Zeit war«, sagte der Harpunier, seinen dicken Rock, der schon für die Nachtwache bestimmt auf dem Gangspill lag, aufnehmend und anziehend. »Jetzt werden uns die Burschen wieder zu einer verteufelten Hetze zwingen und – verdenken kann ich's ihnen auch nicht – ich täte dasselbe an ihrer Stelle.« Er war dabei auf die Bulwarks gesprungen und glitt an dem Tau draußen nieder, in das hinuntergelassene Boot. »Sehen Sie sich vor, Mr. Hobart, dass Sie das Schiff im Auge behalten«, ermahnte ihn der Kapitän. »Ich werde Laternen an den Tops aufhängen lassen.« »Ay, ay, Sir«, rief der Harpunier zurück, murmelte aber in den Bart: »Werde den Teufel tun und in Nacht und Nebel dem Schiff aus Sicht laufen – keine Furcht, Alter. Nur zu, Jungen, greift aus!«, rief er den Leuten zu, und die vier Riemen tauchten zu gleicher Zeit in die Flut und machten das Boot rasch davonschießen. – Aber die beiden Flüchtlinge hatten, obgleich es rascheren Fortgang machte als sie, nicht viel von ihm zu fürchten. Es war nämlich unter der Zeit so dunkel geworden, dass der Mann im Ausguck dem verfolgenden Boote nur noch die ungefähre Richtung des flüchtigen Segels angeben konnte, und der musste es folgen, so gut es eben ging. Zugleich mit ihm hatte Kapitän Rogers auch das zweite Boot – und zwar in Ermangelung eines zweiten Harpuniers unter dem Befehl des Böttchers – nach dem Wrack abgeschickt, die noch dort befindlichen Leute 153
abzuholen. Von oben war das Licht zu erkennen, und einen darüber befindlichen Stern annehmend, konnten sie dadurch leicht ihren Kurs halten. Die Lucy Evans setzte jetzt alle Segel, brasste auf und lief eine Strecke hinter den Flüchtlingen her. Als jedoch der Schein der Laterne auf dem Wrack immer schwächer wurde und endlich ganz verschwand, blieb ihr nichts anderes übrig, als beizudrehen und auf ihre beiden Boote zu warten, die der Lucy Lichter besser erkennen konnten. Im Westen zeigte sich außerdem eine aufsteigende Wolkenschicht, und der Kapitän durfte seine Mannschaft in den Booten draußen, die nicht einmal mit Provisionen versehen waren, nicht der Gefahr aussetzen, verloren zu gehen. In zwei Stunden etwa kehrte der Böttcher mit den Leuten vom Wrack zurück, und eine halbe Stunde später auch Mr. Hobart mit seinem Boot. Von den Flüchtlingen hatte er aber nichts mehr finden können, und als am nächsten Morgen die Sonne, mit einer scharfen Brise, die ihre weißen Schaumwellen über die weite blaue, aufgewühlte Fläche warf, dem Horizont entstieg, war nichts mehr von ihnen zu entdecken. Sie mussten die Verfolgung aufgeben – die Segel wurden wieder umgebrasst, und der Walfischfänger wandte seinen Bug aufs Neue der Heimat zu. Eine Nacht voll Todesangst verbrachten indessen die beiden Flüchtlinge, denn wohl wussten sie, dass das Schiff ihrer Bahn folgen würde, und zufällig konnte es ja doch immer dieselbe Richtung beibehalten, wie sie. Befanden sie sich aber bei Tagesanbruch noch in Sicht und wurden sie entdeckt, so waren sie jedenfalls verloren.
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Eine volle Stunde behielten sie nichtsdestoweniger ihren Kurs bei, um nur erst den Blicken der Nachsetzenden entzogen zu werden, dann aber kreuzten sie auf Toms Rat, so wenig Fortgang sie auch dabei machten, gerade in den Wind auf. Dadurch behielten sie die Wahrscheinlichkeit für sich, dass sie das Schiff im Dunkeln passieren würde, und an ein Wiederfinden war dann nicht leicht zu denken. Mit der Morgendämmerung, um keine Vorsicht außer Acht zu lassen, nahmen sie das weiße Segel ein, das sie vielleicht hätte verraten können, und suchten sorgfältig den ganzen Horizont nach irgendeinem Schiff ab. – Es war nichts zu sehen. Da, voll guten Mutes, setzten sie bei der frischen Brise das Segel wieder, das sie jetzt in vollem Flug nach Westen der Heimat entgegentrug. Noch waren sie keineswegs außer Gefahr, denn wenn sie auch das Schiff nicht mehr zu fürchten hatten, befanden sie sich doch in einem dünnen, leicht zerbrechlichen Boot, ohne Provisionen, nur mit dem kleinen Fässchen voll Wasser, das in allen Walfischbooten liegt, mitten auf dem weiten Ozean, und sollten ihr Ziel ohne Instrumente fast auf gut Glück nur finden. Aber ihr Mut verließ sie nicht, und wie sie, von der kräftigen Brise getragen, lustig über die tanzenden Wogen glitten, jubelten sie ihre Lust und Seligkeit laut und jauchzend hinein in die wiedergewonnene freie, herrliche Welt. So ganz ohne alle Hilfsmittel waren sie aber auch nicht. Da die Boote eines Walfischfängers oft in der Verfolgung eines Fisches weit abgezogen werden, oder auch halbe und ganze Tage lang draußen bei einem gefangenen Fisch liegen müssen, bis das Schiff bei ihnen aufkreuzen kann, so befindet sich hinten im Spiegel bei allen ein kleiner Verschlag, zu dem der Harpunier den Schlüs155
sel hat und in dem meist immer ein kleiner Taschenkompass, ein Feuerzeug, Fischangeln und Leinen, ein paar Dutzend Schiffszwieback und nicht selten auch einige Bücher weggestaut sind. Diesen Verschlag brach jetzt Tom, während Alohi steuerte, mit seinem Handbeil auf und fand sich hier reichlicher versorgt, als er geglaubt hatte. Der Kompass besonders konnte ihm die besten Dienste leisten. Das Wichtigste aber, was er neben dem Schiffszwieback in dem Verschlag fand, war ein kleines, von dem Rev. Russell über die Südsee-Inseln herausgegebenes Buch, an dem sich eine allerdings sehr unvollkommene, aber doch eine Karte der Inseln befand. Wenn auch nur die Lage der einzelnen Gruppen darauf angegeben war, sah er doch, dass sie sich, seit sie Tahiti verlassen, gerade etwa westlich von ihren Inseln befinden müssten, und dadurch Alohis Meinung, der diesen Kurs genommen haben wollte, vollkommen bestätigt. Drei Tage und Nächte fuhren sie so ihre lange, einsame Bahn und lebten von Kokosnüssen, die Alohi von dem Kutter ins Boot geworfen, den paar Zwiebacken und einigen Bonitos, die sie unterwegs fingen. In Toms Seele begannen dabei schon Zweifel aufzusteigen, ob sie nicht am Ende gar südlich unter allen Gruppen wegsteuerten und nicht besser täten, mehr nördlich aufzuhalten. Alohi wollte aber davon nichts wissen – wenigstens noch nicht für diesen Tag. So brach der Abend herein, und als die Sonne im Westen sank und den Horizont dort mit durchsichtigem Licht erfüllte, hatte des Indianers scharfes Auge einen Punkt südwestlich von ihnen entdeckt, der vielleicht ein Segel, möglicherweise aber auch eine Landspitze sein konnte. Ihr Plan war bald gefasst. Da die Dunkelheit ihnen nur zu bald den Gegenstand entzog, 156
hielten sie einige Stunden lang der Richtung zu und nahmen hierauf das Segel ein, um ihr Boot bis zum nächsten Morgen treiben zu lassen. Fanden sie mit Tageslicht den dunkeln Punkt nicht mehr, so war es ein Segel gewesen, und sie beschlossen dann weiter nach Norden aufzuhalten. Wie aber die Sonne im Osten ihr erstes Licht sandte, schrie Tom mit freudigem Entzücken: »Land – Land, Alohi! Dort drüben liegt Land!«, und Freudentränen liefen dem starken Mann die sonnverbrannten Wangen nieder. Noch war freilich nichts weiter zu erkennen als ein stumpfer, aus dem Wasser vorragender Bergkegel. Wie sie aber rasch das Segel wieder gesetzt hatten und jetzt mit der frischen Brise darauf zuhielten, tauchte er auch schnell höher und höher empor, und »Bavilu!« rief da plötzlich Alohi, sein Steuerruder loslassend und von seinem Sitz emporspringend. »Bavilu!« Es war die Nachbarinsel von Tubuai, nur etwa noch zwanzig Seemeilen von ihr entfernt, und ihre Richtung lag von hier fast ganz West. Nichtsdestoweniger hielten sie auf die Insel zu, wenn das auch ihre Rückkunft verzögerte, um sich dort erst wieder zu erholen und besonders Früchte und Kokosnüsse an Bord zu nehmen. Noch an demselben Morgen gewannen sie das Land – für sie der Freiheit Boden, aber nicht eine Nacht litt es sie unter den Palmen, ihre Rast war erst in der Heimat. Sowie die Sonne deshalb sank und die Luft kühler wurde, schifften sie sich, mit allem reichlich versehen, was sie jetzt brauchten, wieder ein, und mit der Morgendämmerung konnten sie auch in der Ferne das hohe breite Land von Tubuai erkennen, das sie an demselben Nachmittag erreichten.
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Das war ein Jubel, das ein Jauchzen auf der kleinen Insel, als die für immer verloren Geglaubten mit voll geblähtem Segel in die Einfahrt der Riffe liefen und von weitem schon die Tücher schwenkten. Intaha jauchzte, wie das Boot nur den Sand berührte, an des Gatten Brust, und die Kleinen – nicht die Seinigen allein, sondern fast die ganze kleine Bevölkerung der Insel drängte herbei, umfasste seine Knie und suchte ihn zu sich niederzuziehen. Tom Burton war wieder in seiner Heimat, und nie im Leben schien es ihm, als ob die Palmen so traulich gerauscht, die Blüten so süß geduftet, der Himmel so blau und wonnig ausgesehen hätte, wie an dem Tag. Aber er blieb auch dort und betrat nie wieder, bis zu jener Zeit, als ich ihn kennen lernte, ein europäisches Schiff. Manche legten dort wieder an – eins sogar einmal mit seinem alten Freund Mr. Hobart an Bord, der ihn zum ersten Mal gefangen nahm. Die beiden Männer schüttelten auch einander die Hände und lachten über jene Zeit, aber an Bord ging Tom doch nicht, so freundlich ihn Mr. Hobart, der jetzt selber Kapitän geworden, auch einlud, und so heilig er ihm das Versprechen gab, ihn nicht einmal mit einem Gedanken zurückzuhalten. »Das ist alles recht schön und gut«, sagte Tom. »So lange wir das hier auf festem Grund und Boden abmachen. Da seid ihr Seeleute auch ganz andere Menschen; auf dem Wasser aber, auf eurem eigenen Schiff – der Teufel trau euch, und ich für mein Teil hab an der Spazierfahrt damals gerade genug gehabt.«
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Der Walfischfänger In der Nähe der Westküste Amerikas, aber noch weit aus Sicht von Land, kreuzte ein Walfischfänger, um dort nach Fischen auszusehen. Es war ein Nordamerikaner, die Martha's Vineyard – ein Schiff, das nach der Insel gleichen Namens getauft worden und von dort aus auch seine Bemannung hatte. So seetüchtig und gut gebaut die amerikanischen Schiffe aber auch sonst gewöhnlich sind, die Martha's Vineyard machte davon eine Ausnahme, und der Reeder, der sie in New York von einem Holländer alt gekauft und wohl frisch angemalt, aber sonst in einem desolaten Zustand gelassen hatte, hoffte das wenige dafür ausgelegte Geld gleich mit der ersten Walfischfahrt herauszuschlagen, wenn es dann auch keine zweite machte. Die Hauptsache blieb nur, tüchtige Leute dafür zu gewinnen, und deshalb taufte er auch das alte Gretje von Rotterdam, welchen Namen die Bark vielleicht schon dreißig Jahre geführt, nach der Insel Martha's Vineyard, die ihrer Seeleute wegen berühmt ist, und erreichte dadurch seinen Zweck vollkommen. Die Zeiten waren in Amerika nicht besonders. Der Krieg hatte gerade begonnen, und er fand Leute genug für die Bemannung, die denn auch mit dem alten Kasten getrost in See gingen und erst draußen, als es zu spät war, merkten, welchem Fahrzeug sie sich eigentlich anvertraut, um darauf eine mehrjährige Reise zu machen. Walfischfänger müssen sich nämlich stets darauf gefasst machen, drei Jahre auszubleiben, ehe sie ihr Schiff füllen können, und das ist eigentlich eine lange Zeit, wenn man noch dazu bedenkt, dass derartige Schiffe nur sehr selten
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einen Hafen anlaufen und fast immer draußen auf offener See herumkreuzen, um nach Fischen auszuschauen. Anfangs wurde die Mannschaft auch noch eigentlich nicht so recht inne, wie es mit ihrem Fahrzeug stand, denn mit günstigem Wind liefen sie an der Ostküste Amerikas immer nach Süden hinab, und so vor dem Wind segelte es leidlich. Schwer enttäuscht sahen sie sich aber, als nach einer kurzen Windstille eine konträre Brise eintrat. Der Kapitän wollte allerdings lavieren, aber du lieber Gott, das alte Schiff brauchte sieben Strich, um gegen den Wind aufzukreuzen, und machte dabei noch anderthalb Strich Abdrift, sodass sie nicht allein nicht von der Stelle kamen, sondern sogar noch zurückgetrieben wurden. Den Harpunieren war das auch gar nicht recht, sie wären am liebsten wieder umgekehrt, um ihren Kontrakt aufzukündigen, der Kapitän wollte jedoch nichts davon wissen und redete ihnen so lange zu, bis sie sich endlich zufrieden gaben. Was lag auch daran, ob ein Walfischfänger schnell segelt oder nicht – die Reise an Ort und Stelle dauerte etwas länger, ja; aber erst einmal auf ihrem Fischgrund angelangt, und sie durften mit demselben Recht erwarten, dass Fische an sie anlaufen würden, als dass sie dieselben durch rasches Fahren erreicht hätten – ja manchmal machte so ein Schiff an guten Stellen viel bessere Geschäfte, wenn es ruhig beilag, als ziellos auf dem Meer umherkreuzte. Nur die Reise um Kap Horn war eine entsetzlich lange, jedoch konnten sie auch schon bei den Falklandinseln auf Walfische rechnen, und kurz und gut, sie behielten ihren Kurs bei, der sie auch mit jetzt wieder günstigerem Wind rascher gen Süden brachte, als sie selber anfangs geglaubt. 160
Bei den Falklandinseln war aber nichts zu machen. Sie trieben sich wohl vier Wochen in der Nähe herum, ohne einen einzigen Wal anzutreffen, und da gerade ein scharfer Ostwind einsetzte, hielt der Kapitän die Gelegenheit für günstig, das Kap zu dublieren und nach der Westküste Amerikas hinüber zu steuern. Dort lagen auch die besten Jagdgründe für Walfische: in der heißen Zone für Cajelots und weiter nach Norden hinauf für den richtigen Wal, und da sie der Wind nicht im Stich ließ – denn mit Kreuzen wären sie nie um das Kap gekommen – erreichten sie nach ziemlich kurzer Fahrt das Stille Meer. Aber auch hier zeigte sich der Fang nicht so ergiebig. Sie bekamen allerdings in der Höhe der Maghellanstraße einen tüchtigen Fisch, mussten ihn aber, wie sie nun eben begonnen hatten einzuschneiden, wieder loswerfen, denn ein heftiger Wind setzte ein, dem sie kaum frei und allein die Stirn bieten konnten. Es war das ein schwerer Schlag für die Mannschaft, die – wie Kapitän und Harpuniere – nur auf den Anteil am Fange geworben werden, ließ sich aber nicht ändern, und der Kapitän vertröstete die Leute auf die nächste Zeit. Sie hatten ja nun einmal einen Beginn gemacht und die Boote erprobt, die sich als ganz vortrefflich bewährten. Die blieben ja doch immer die Hauptsache, und wenn sie nur Fische fanden, konnten sie auch reiche Beute machen. Sie fanden aber keine. Langsam, entsetzlich langsam rückten sie weiter und weiter nach Norden hinauf, an Chile vorüber und an der chilenischen Küste hin, bis ziemlich zu vier Grad Süderbreite hin, wo sie die erste school oder den ersten Trupp Spermacetifische antrafen und augenblicklich Jagd darauf machten. Der erste Harpunier kam auch an einen tüchtigen Fisch fest, der alte 161
Bursche verstand aber die Sache unrecht, drehte sich um, wandte sich gegen das Boot selber und gab ihm mit seinem breiten Kopf einen solchen Stoß, dass es in Stücken auseinander ging und die Mannschaft desselben nur mit Mühe von den anderen herbeieilenden Booten gerettet werden konnte. Die übrigen Fische gingen gegen den Wind auf, und die Martha's Vineyard, die zu erbärmlich am Wind lag, um ihnen dahin folgen zu können, musste sie eben laufen lassen. Übrigens hielt der Kapitän diesen Platz für gut und beschloss deshalb, eine Weile dort beizulegen. Es war einesteils möglich, dass die Fische dorthin zurückkehrten, wo sie Nahrung gefunden hatten, und dann konnten sie hier auch ebenso gut als irgendwo anders weiteren begegnen. Drei Wochen kreuzten sie deshalb auf der nämlichen Stelle, das heißt die Strömung setzte dabei allmählich immer weiter nach Norden hinauf, bis sie unmittelbar unter der Linie von Windstille befallen wurden. Das Meer lag jetzt spiegelblank, wenn auch leise wogend da, und der Ausguck oben im Top konnte selbst den geringsten Gegenstand, der sich auf der blitzenden Fläche zeigte, mit leichter Mühe erkennen. Aber nichts ließ sich sehen, als dann und wann einmal die spitze Flosse eines Hai, der faul und träge durch die Flut schnitt und, wenn er zum Schiff kam, von einem der Bootssteuerer mit ausgeworfenem Speck an einem starken Haken gefangen wurde – es war doch wenigstens eine Unterhaltung, welche die entsetzliche Monotonie ihrer Tage unterbrach. Endlich, am vierten Tage der Windstille, gerade wie sich im Süden die ersten Wolken wieder zeigten und das sich in jener Richtung dunkel färbende Meer die von dort 162
heraufkommende Brise ankündigte, ertönte der so lang ersehnte Ruf des Mannes im Top oben: »There she blows!« (Dort bläst einer), und selbst von Deck aus konnten sie bald darauf den ausgeworfenen einzelnen Wasserstrahl eines Spermfisches oder Cajelot, dem bald ein zweiter folgte, erkennen. Jetzt kam Leben an Bord, und so faul und schläfrig die Offiziere den ganzen Tag herumgelegen, im Nu sprangen sie nun auf ihre Füße, um jeder nach seinem Boot zu sehen und so rasch als möglich damit ab- und hinauszukommen. Jedes Boot hat seine bestimmte Mannschaft: seinen Harpunier, seinen Bootssteuerer und vier Mann zum Rudern, und hängt, zum augenblicklichen Gebrauch stets bereit, unter seinen Kranen. Dicht daneben ist der schwere Bottich mit dem aufgekoilten Harpunentau befestigt, um rasch hereingehoben zu werden. Die verschiedenen Leute haben dabei ihre verschiedenen Pflichten bei der Ausrüstung, damit im Moment des Einschiffens keine Verwirrung oder Zögerung entsteht. Der Bootssteuerer muss die Waffen, Lanzen, Harpunen, Beile und Messer, stets blank und haarscharf halten. Einer der Leute hat für Wasser zu sorgen, dass augenblicklich ein Fässchen gefüllt und ins Boot geschafft wird, ein anderer sorgt für Lebensmittel, da man nie wissen kann, wie lange die Boote gezwungen sind, auszubleiben. In einem kleinen verschlossenen Verschlag im Boot selber befindet sich ein Kompass, womöglich eine Karte, und ist das Fahrzeug gut ausgestattet, auch einige konservierte Lebensmittel mit einer Flasche Rum; und von dem Moment an, wo der Befehl zum Niederlassen des Bootes gegeben wird, dauert es gewöhnlich nur wenige Minuten, bis es von Bord abschießt und nun, mit Rudern oder Se163
geln, je nachdem sich die letzten führen lassen, seinem Ziel entgegenstrebt. Dabei wird fast kein Wort gesprochen, denn jede Bootsmannschaft hat natürlich ihren Ehrgeiz darin, die Erste zu sein, die zur Verfolgung der auftauchenden Walfische fertig ist, und vom Mast aus gibt dann der Mann im Top mit einem an der Stange befestigten und schwarz bemalten großen Leinwandball – der weithin leicht erkenntlich ist – die Richtung an, welche die Fische nehmen, damit ihnen die Boote folgen oder den Weg abschneiden können. Die Martha's Vineyard führte vier Boote, denn das zerstörte des ersten Harpuniers war schon wieder durch ein Reserveboot ersetzt worden, und noch hatte die aufkommende Brise das Schiff nicht erreicht, als sie schon hinaus ruderten in das Weite und der Richtung zu, in welcher sich die Spermfische kurz vorher gezeigt. Es war das genau gen Osten, und die Leute legten sich wahrlich mit gutem Willen in die Ruder, dass sich die elastischen Eschenhölzer oder Riemen, wie man sie nennt, vor der Kraft der Arme bogen. Aber das dauerte nicht lange, denn jetzt kräuselte sich das Meer, ein frischer Südwind setzte ein, und im Nu wurde die kurze Segelstange aufgerichtet und die Leinwand blähte aus, um den ersten Windzug zu fangen. Der brachte sie nicht allein leichter, nein auch rascher vorwärts, und die Hauptsache: sie konnten sich den Fischen viel geräuschloser nähern, als das mit Rudern möglich ist. Der Wind zeigte sich ihnen auch vollkommen günstig, denn er kam gerade von der Steuerbordseite, und schnell und lautlos schossen sie dahin. Die Fische waren, wie sie das oft tun, eine ganze Weile nicht nach oben gekommen, und der Mann im Mast 164
konnte den Leuten deshalb auch kein Zeichen geben, welcher besondern Richtung sie zusteuern sollten; sie behielten deshalb die bei, die sie bis dahin eingehalten, in der Voraussetzung, dass sich die Cajelots unter Wasser nicht so weit entfernen und vielleicht an der nämlichen Stelle noch einmal nach oben kommen würden – und das geschah denn auch wirklich. Kaum eine Viertelstunde mochten sie gesegelt sein, als der Matrose, der damit beauftragt war, den Mann im Top der Barke im Auge zu behalten, plötzlich des Harpuniers Auge durch seinen Ausruf dorthin lenkte. Jener Ausguck hob seinen schwarzen Ballon, der selbst von hier aus noch deutlich erkennbar war, hoch in die Höhe und ließ ihn dann wieder gerade nach vorn herunterfallen – ein sicheres Zeichen, dass der Kurs der richtige sei, und es dauerte denn auch nur wenige Sekunden, bis sie selber die schon lang ersehnten Strahlen gerade voraus erkannten und sich jetzt zum Gefecht fertig machten. Nun ist die Einteilung an Bord eines Walfischbootes auf der Verfolgung die nachstehende: der Bootsteuerer wird, sobald ein Wal in Sicht kommt, vorn in den Bug des Bootes mit der Harpune postiert, denn sein Amt ist es, an den Fisch festzukommen, während nachher der Harpunier oder erste Offizier mit der Lanze, an der sich keine Widerhaken befinden, dem Tier den Todesstoß gibt. Der Harpunier hat indessen hinten im Stern des Bootes den langen Steuerriemen (das Ruder, das zum Steuern benutzt wird und in einem eisernen Ring liegt) in der Hand und führt dasselbe so an den Fisch heran, dass der Bootsteuerer zum Wurf kommen kann. Wo dieser den Fisch dabei trifft, ist ziemlich gleichgültig, irgendwo auf dem Rücken, in der Seite, im Schwanz, nur so, dass die Harpune tief genug eindringt, um ordentlich festzu165
kommen. Sobald er dies erreicht hat und das im Bottich aufgekoilte Tau abläuft – wobei er jedoch aufpassen muss, nicht in dieses verwickelt zu werden –, springt er zurück, um jetzt das Steuer des Bootes zu übernehmen, während der Harpunier nach vorn steigt und seine lange, scharfe Lanze aufgreift, mit der er nun, des tödlichen Wurfs gewärtig, aufgerichtet vorn im Boot stehen bleibt und nur darauf achtet, dass die rasend schnell ablaufende Leine, an welcher der Fisch hängt, nicht unklar wird. Der geworfene Fisch schießt indessen mit ungeheurer Schnelle vorwärts, taucht auch wohl einmal unter und kommt wieder nach oben, und hat dabei das Boot fortwährend im Schlepptau. Sobald nämlich die Leine abgelaufen ist, hält sie, mit ihrem untern Ende um einen festen Kran befestigt, straff an, und der vorgespannte Fisch macht das Boot nur so durch das Wasser fliegen. Ginge er aber zu tief nach unten, so würde er es auch rettungslos in die Tiefe reißen, und für einen solchen Fall steckt ein scharf geschliffenes Beil dicht daneben, mit dem die Leine im Nu gekappt oder abgehauen werden kann. Es versteht sich aber von selbst, dass man nur im äußersten Notfall zu diesem verzweifelten Mittel greift, denn damit ist wohl das Boot befreit, aber zu derselben Zeit Fisch, Harpune und Leine ebenfalls verloren. Jetzt noch stand der Bootssteuerer vorn im Bug, die Harpune, in welche nur leicht ein kurzer, fester Eichenpaken gesteckt ist, in beiden Händen, und in der Linken noch ein langes Ende leicht aufgekoilter Leine haltend, um mit dem Wurf gleich nachgeben zu können, damit die Harpune keine falsche Richtung bekommt. – Die Fische sind in Sicht – da und dort steigt der schräge, nicht eben hohe Strahl über die Oberfläche der nur leicht gekräuselten See – es müssen zehn oder zwölf verschiedene Caje166
lots sein, die sich hier spielend in der warmen Flut herumtreiben –, vielleicht sogar noch mehr, und dann und wann kam wohl auch einmal der halbe Kopf eines der mächtigen Burschen zum Vorschein, wie er sich ein Stück aus der Flut heraushob, das Wasser schnaubend ausblies und dann langsam wieder zurück in sein Element tauchte. Der erste Harpunier, ein alter Walfischfänger, der sich seit seiner frühesten Jugend in diesen Meeren herumgetrieben, hatte sein Boot mit dem größten Segel versehen und war den anderen auch wohl um mehrere hundert Schritte voraus. Jetzt flog die Harpune von dessen Bootssteuerer aus, und mit der gespanntesten Aufmerksamkeit beobachteten die anderen Boote den Erfolg. Zog er die Leine wieder ein? War der Wurf misslungen? Nein, er sprang in den hintern Teil des Boots zurück, er musste festgekommen sein, und vor Erwartung zitternd standen die Übrigen, ob ihnen nicht auch das Glück einen Fang beschere. Die Leute im ersten Boot hatten mit Rudern aufgehört und rasch das Segel niedergeworfen, damit es sie nicht, wenn der Fisch in den Wind hineinlief, gefährde – die übrigen Boote näherten sich rasch, denn noch lief die Leine ab und das kleine Fahrzeug lag verhältnismäßig still – da kam links ein neuer Fisch auf, dem der zweite und dritte Harpunier folgten, und der vierte, ein noch junger Bursch, wollte sich eben mit zu diesen halten, als plötzlich, unmittelbar vor seinem Boot, ein Wal mit solcher Gewalt an die Oberfläche schoss, dass er mit fast der Hälfte des riesigen Körpers aus dem Wasser herausschnellte, und wieder zurückschlagend die See wogengleich beiseite drängte.
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Aber ein tüchtiger Bootssteuerer stand vorn, mit der Harpune bereit, der sich durch die plötzliche Erscheinung des Ungetüms nicht einschüchtern ließ und auch mit keiner Faser seines Herzens der Gefahr gedachte, der sie eben entgangen; denn hätte der Fisch mit dieser Gewalt das kaum verfehlte Boot getroffen, so wäre es in Splittern auseinander gebrochen. Während die Matrosen erschreckt nach ihren Rudern griffen, um das Boot zurück und aus dem Bereich der Gefahr zu werfen, hob sich seine Harpune, und noch war der Leviathan der Tiefe nicht wieder verschwunden, als auch schon das Eisen ausflog und sich tief in dessen Weichen bohrte. »Ruder ein! Segel nieder!« Wie eine Schlange glitt er zurück, während der junge Harpunier, der seine erste Reise in dieser Eigenschaft machte, vor Eifer zitternd nach vorn sprang und die schon bereit liegende Lanze aufgriff. Vor ihnen her flog jetzt der erste Harpunier mit seinem Boot, denn der Fisch hatte die Leine und zog an, und ihr Gefangener schien die nämliche Richtung nehmen zu wollen – die Leine glitt mit Blitzesschnelle aus. Die Leute mussten die Ruder wieder aufnehmen, um ihm ein wenig zu folgen und das Boot in der Richtung zu halten – jetzt plötzlich tat es einen Ruck – die Harpune hielt, und fort ging es, dass die Gischt hoch am Bug emporschäumte, hinter dem gefangenen Ungeheuer her, gerade dem andern Boot nach. – Liefen sie aber schneller als dieses? – rasch näherten sie sich ihm, und als sie vorüberflogen, wie von einer Dampfmaschine getrieben, hörten sie nur noch, dass der alte Harpunier darin fluchte und wetterte und seinen Leuten befahl, die Leine einzuholen – die
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Harpune musste aus dem Speck gerissen sein und der Fisch war jedenfalls freigekommen. Sie aber hatten natürlich keine Zeit, sich damit aufzuhalten. Im Schlepptau des Wals flogen sie nur so über die wenig bewegte See, immer genau ein und dieselbe Richtung einhaltend, gen Osten zu. Übrigens sahen sie, dass eins der Boote – es war das des zweiten Harpuniers – sich gewendet hatte und mit vollem Segel hinter ihnen drein kam, um ihnen vielleicht den Fisch sichern zu helfen, denn der erste Harpunier hatte noch eine ganze Weile damit zu tun, um seine Harpune wieder an Bord zu holen. Und wie der Fisch lief! Ein so genannter Finnbackwalfisch hat es allerdings in der Gewohnheit, mit der Harpune in solcher Art fortzulaufen, und deshalb ist sein Fang so schwer und undankbar, und die Walfischfänger wollen auch nichts von ihm wissen; gibt er doch auch viel zu wenig Tran für die Mühe, die er kostet, sodass der Gewinn in keinem Verhältnis zu der Gefahr steht. Der Spermwal dagegen läuft gewöhnlich erst eine Strecke geradeaus, hält dann ein und taucht in nicht zu große Tiefe unter, weil er bald zum Atemholen wieder an die Oberfläche zurückkehrt. Dadurch nun gibt er dem an ihm festgekommenen Boot Gelegenheit, ihm den Todeswurf mit der Lanze hinter eine der beiden Seitenflossen zu versetzen – der einzige Platz, und der nicht einmal sehr große, wo er tödlich getroffen werden kann. Die Matrosen des vierten Bootes kümmerten sich aber wenig um das Laufen, denn sie wussten, dass ihr Vorspann damit bald aufhören würde. Sie lachten und jubelten, und besonders war der junge Harpunier ganz außer sich vor Vergnügen, dass er einen Fisch bekommen hatte, während der erste Harpunier, der ihn bis jetzt immer über 169
die Achsel angesehen, mit leerem Boot zum Schiff zurückkehren musste. Er konnte auch die Zeit nicht erwarten, bis ihnen der Wal in Wurfnähe kommen würde. – Dass er ihn sicher und gut traf, sollte seine Sorge sein. »Es ist übrigens Zeit«, sagte der eine der Matrosen, dass wir einmal richtig an einen Fisch festkommen, denn zehn Monate sind wir jetzt aus, mit noch nicht einer einzigen Tonne Tran an Bord – die Butter ausgenommen, die der Holzkopf von Koch für uns eingelegt hat. Das Schiff war bis jetzt wie verbrannt, ordentlich als ob wir verhext gewesen wären. Wenn wir den nur erst wenigstens sicher langseit und eingeschnitten hätten.« »Keine Not, mein Bursche«, lachte der Harpunier, »der lockert die Leine schon. Er wird müde – holt ein – je eher wir heimkommen, desto besser.« Zwei der Matrosen sprangen nach vorn und nahmen Hand über Hand die Leine ein; der Fisch schien in der Tat müde geworden zu sein, denn er lag entweder ganz still oder schwamm auch vielleicht, wie sie das tun, in anderer Richtung langsam weiter. »There she blows«, rief der eine Matrose plötzlich mit unterdrückter Stimme, als er dicht voraus den Strahl erkannte. Der Fisch war an die Oberfläche gekommen, um Atem zu holen, und sie konnten jetzt deutlich erkennen, dass er noch von ihnen abgewendet lag, also nur einfach im Laufen inne gehalten hatte. Jedenfalls mussten sie so viel wie möglich von der Leine bergen, um ihm das nächste Mal, wenn er wieder einhalten sollte, näher zu sein. Beide Matrosen zogen so rasch ein, als sie konnten, vermochten aber dadurch nicht, das eingenommene Tau auch ebenso schnell und ordentlich wieder aufzukoilen.
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»Habt Acht da vorn«, sagte der Bootssteuerer, der das bemerkte. »Verwickelt die Leine nicht – wenn er plötzlich wieder anreißt –« »Da kommt er wieder nach oben!«, rief der Harpunier und sprang vorn auf die kleine Bank des Bugs, um besser von da ab ausschauen zu können, aber unvorsichtig genug trat er dabei in ein paar Schlingen des eingeholten Taues, und in dem Moment fast schoss der Fisch nach vorn und in die Tiefe, wobei er die Leine hinter sich her riss. »Habt Acht da vorn!«, rief noch einmal der Bootssteuerer, aber seine Warnung kam für den Harpunier zu spät. Während er mit dem rechten Fuß hinaustreten wollte, schlang sich die auslaufende Leine um diesen, und wie ein Blitz warf es ihn hinaus über Bord. Zu gleicher Zeit hatte sich eine Schlinge um den in der Mitte befestigten Kran oder Nagelbalken geschlagen, an dem die Leine überhaupt befestigt wird, wenn sie halten soll, und pfeilschnell riss der Wal das Boot hinter sich her. »Kappt das Tau!« war der erste, unwillkürliche Ruf des Bootssteuerers, der in diesem Augenblick seinen Platz nicht verlassen konnte, wenn er nicht das Boot gefährden wollte, das natürlich umgeschlagen wäre oder sich gefüllt hätte, sobald es die furchtbare Kraft des Wals auf die Seite riss. Ehe aber nur einer der Leute dem Befehl Folge leisten konnte, schrie er auch schon wieder »Halt! Lasst sein!« – denn wie er den Blick zurückwarf, sah er, dass das Boot des zweiten Harpuniers, von der frischen Brise begünstigt, kaum fünfhundert Schritt entfernt hinter ihm dreinkam. Außerdem wusste er, dass der Harpunier ein ausgezeichneter Schwimmer war. Jenes Boot mochte ihn deshalb aufnehmen, und wenn der Wal wieder hielt, konnte es herankommen und den verlorenen 171
Offizier seinem eigenen Boot zurückbringen. Sie durften den gefangenen Fisch nicht so leichtsinnig aufgeben – weshalb hatte auch der Harpunier nicht besser aufgepasst? Jetzt ging die Reise wieder fort, rascher als vorher und immer nach Osten zu, und die Matrosen waren dabei eifrig beschäftigt, die fast in Verwirrung geratene Leine wieder zu ordnen, dass sie das Boot nicht in Gefahr bringe. Das gelang ihnen endlich, und sie sahen zu ihrer Beruhigung, dass das zweite Boot ihren Harpunier gefunden hatte und an Bord nahm. Dadurch wurde jenes freilich in seinem Fortgang sehr aufgehalten, und sie ließen es jetzt weit zurück. »Die holen uns im Leben nicht wieder ein, Sir«, sagte der eine Matrose, indem er den Kopf zurückwandte. »Wär auch kein Unglück, Bob«, lachte dieser trotzig. »Weshalb hält der junge Herr seine Finnen nicht aus der Leine – aber im schlimmsten Fall kannst du das Boot doch eben so gut an einen Wal hinansteuern als ich, Bob, wie?« »Sollte denken, Sir«, schmunzelte dieser. »Bin wenigstens lange genug dabei und einmal selber eine Jahreszeit Bootssteuerer gewesen, als wir eins unserer Boote mit der Mannschaft verloren.« »Nun gut«, nickte der Offizier, »sobald der Fisch wieder aufkommt, Bob, nimmst du das Steuer, und ich denke, ich kann ihm die Lanze ebenso gut an der richtigen Stelle beibringen, wie Mister Broom – und vielleicht noch ein verdammt Teil besser«, brummte er leise vor sich in den Bart. Es wurde jetzt kein Wort weiter gesprochen, und die Bootsmannschaft war dabei so mit ihrem Wal beschäftigt, dass sie gar nicht auf die Tageszeit achtete und dass 172
die Brise anfing einzuschlafen. Weiter und weiter flogen sie, von dem verwundeten Tier in wilder Hast vorwärts geschleppt, und doch jeden Augenblick erwartend, dass es wieder halten und sie hinanlassen sollte. »Hol mich dieser und jener«, brummte da einer der Matrosen plötzlich – »da hinten geht die Sonne unter, und wo ist denn eigentlich unsere Martha's Vineyard?« Der Bootssteuerer warf den Blick zurück, aber er konnte ebenfalls nichts mehr von dem Schiff erkennen, da sich noch dazu ein leichter Dunst auf den westlichen Horizont gelegt hatte. »Alle Wetter!«, rief er aus. »Kapitän Burker wird doch wahrlich nicht verlangen, dass wir den ganzen Weg mit dem Fisch zurückrudern sollen? Der kann uns gar nicht gefolgt sein.« »Vielleicht ist noch eins der anderen Boote festgekommen, Sir«, sagte Bob, »und er hat sich mit dem aufgehalten.« »Und was machen wir jetzt?«, rief der Bootssteuerer. »Wir können doch wahrhaftig jetzt, im letzten entscheidenden Augenblick, den Fisch nicht aufgeben?« Die Leute schwiegen. Sie wollten den Fisch natürlich auch nicht gern einbüßen, denn es war das Erste, was sie auf ihrer langen Fahrt verdient hatten; dann aber auch kannten sie recht gut selber das Gefährliche ihrer Lage, wenn sie auf offener See ihr Schiff verloren. »Es ist eine ganz verfluchte Geschichte«, brummte Bob, »und wo steckt denn nur das zweite Boot? Vorhin war es doch noch hinter uns!« »Eben hab ich es da drüben noch gesehen«, sagte Dick, ein anderer der Leute. »Jetzt müssen sie aber ihr Segel eingenommen haben, ich kann nichts mehr erkennen.« 173
»Die Brise ist ganz eingeschlafen«, sagte der Bootssteuerer, indem er sein Gesicht nach Süden wandte, »die See fängt an wieder glatt zu werden.« »Wenn der verdammte alte Trankasten nur von der Stelle käme!«, knurrte da Bob, »so hätten sie uns gar nicht im Stich lassen können, und jetzt dürfen wir nur ruhig die Leine kappen und uns selbst das Brot vom Munde wegschneiden.« »Hol's der Teufel, Leute!«, rief der Bootssteuerer, »wenn ihr denkt wie ich, so lassen wir unsern Vorspann noch eine Weile ziehen. Lange kann er es nicht mehr aushalten – er hat schon eine etwas andere Richtung genommen und sich ein wenig mehr nach Süden gewandt. Das ist immer ein sicheres Zeichen, dass sie müde werden. Kommen wir dann, bis völlig Nacht, nicht fest – nun denn in Gottes Namen, dann haben wir wenigstens unsere Schuldigkeit getan und sind dann auch nicht viel weiter vom Schiff als jetzt.« Die Leute erwiderten nichts, und in unverminderter Schnelle flog indessen der Wal mit ihnen durch die Flut – aber er hielt nicht an. Die Sonne war im Meer verschwunden, und bleiern lagerte sich die Nacht auf den Ozean. Der Bootssteuerer hatte Bob das Ruder gegeben und stand vorn an der Leine – plötzlich fühlte er, dass diese schlaffte. »Beim Himmel, er hält«, rief er vergnügt aus. »So ist's vielleicht doch noch nicht zu spät.« »There she blows!«, rief der eine Matrose. Der Wal war nach oben gekommen, verschwand aber im nächsten Augenblick wieder, und schon hatten die Leute ein tüchtiges Stück von der Leine eingeholt, als sie
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ihnen der Wal wieder aus der Hand riss, ohne dass sich ihr Boot aber von der Stelle bewegt hätte. »Los mit eurer Leine!«, rief Bob, der Erfahrung genug mit diesen Burschen hatte. »Nehmen Sie das Beil zur Hand, Mr. Sikes!« Der Bootssteuerer folgte fast unwillkürlich der Warnung, und der alte Bob hatte nicht Unrecht gehabt – der Wal tauchte mit rasender Schnelle. Die letzten Teile des losgeworfenen Taues flogen zischend über Bord, gerade nach unten zu, und mit der letzten Elle hatte der Bootssteuerer kaum noch Zeit, das haarscharfe Beil auf den Bootsrand niederzuhauen. Das Tau schlug ihm ordentlich das Beil fort, als auch im nächsten Moment der Bug ihres Bootes bis auf den Wasserrand niedergetaucht wurde und die salzige Flut ihre Woge hineinwarf. Glücklicherweise aber war das Tau schon so weit durchgehauen, um sie nicht ganz hinabzerren zu können – die letzten Fasern rissen, und während das von seiner ungeheuren Last befreite kleine Fahrzeug auf- und niedertanzte, war allerdings die unmittelbare Gefahr beseitigt, aber der Wal auch mit ihrer ganzen Leine verloren. »Hell!«, sagte Bob lakonisch, indem er sich auf die Bank niedersetzte und einen noch viel wilderen Fluch in seinen Tabak hineinkaute. »Ob der alte verbrannte Kasten denn nicht Unglück mit allem hat, was er anfängt. Da sitzen wir jetzt, den Harpunier nach der einen und den Wal nach der andern Seite, und außerdem noch das ganze Schiff und Leine und Harpune verloren, und keine Tonne Tran für irgendetwas bekommen. Es ist zum Halsabschneiden!« »Das nächste Mal mehr Glück, Bob«, sagte der Bootssteuerer, indem er aber selber in nicht viel besserer 175
Laune der Richtung nachsah, in welcher der Spermfisch verschwunden war. »Es ist eine verfluchte Geschichte, ja, lässt sich aber nun doch einmal nicht mehr ändern, und wir haben wenigstens unsere Schuldigkeit getan. Und nun an eure Ruder, meine Burschen, dass wir wenigstens das Schiff wieder finden, denn in der Windstille wird es uns wohl nicht weggelaufen sein.« »Weggelaufen, nein«, brummte Bob. »Der alte Kasten läuft schon nicht fort, aber weggetrieben. Und wenn wir's nun nicht finden?« »Ach was«, sagte der Bootssteuerer, »nicht finden. Der Kapitän hat jedenfalls seine bunten Signallaternen aushängen, die man Meilen weit leuchten sieht. Vorwärts, ihr Leute, lasst uns keine Zeit mehr versäumen.« »Und sollten wir nicht erst ein wenig essen, Sir?«, fragte der alte Matrose. »Wir haben eine lange Arbeit vor uns. »Ich traue dem Wetter gar nicht«, meinte der Offizier. »Da drüben im Osten lag es schon vor Sonnenuntergang wie eine feste Wolke auf dem Wasser.« »Das war das Land, Sir«, sagte Bob. Ich kenne die Küste, da drüben regnet's immer.« »Na meinetwegen, dann können wir auch ebenso gut erst unsere Mahlzeit halten – nachher aber scharf wieder an die Arbeit. Was kann's helfen, es ist ja doch einmal unser Geschäft.« Die Leute erwiderten nichts. Sie waren ordentlich hungrig geworden, und der Schiffszwieback mit dem Salzfleisch mundete ihnen vortrefflich. Sehr mäßig tranken sie aber dazu von dem mitgenommenen Wasser, denn in einem Boot auf offener See kann man nie wissen, wie lange man gezwungen ist, auszuliegen, und je vor-
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sichtiger man dabei mit dem Wasser umgeht, desto besser. Der Bootssteuerer versuchte indessen das kleine Spintje zu öffnen, das sich im Boot befand, aber der Schlüssel stak nicht – den hatte der Harpunier in der Tasche. Eine Weile überlegte er es sich – den darin befindlichen Kompass brauchten sie eigentlich noch nicht – aber die Flasche Rum – ein Schluck davon würde ihnen allen wohl getan haben. Es war außerdem besser, wenn sie den Kompass heraus hatten – und zu der Überzeugung gekommen, nahm er ohne weiteres das kleine Handbeil, schlug mit dem dicken Ende desselben auf das Schloss und sprengte es. Dadurch brachte er auch die Leute in etwas bessere Laune. Denn man glaubt nicht, welch wohltätige Wirkung, mäßig genossen natürlich, ein Schluck Grog oder auch reiner Rum auf See und in der feuchten Luft ausübt. Wie aber jeder sein Glas ausgetrunken hatte, mahnte der Bootssteuerer wieder zur Heimkehr an Bord, und die Leute griffen jetzt ihre Ruder auf. »Merkwürdig, Mr. Sikes«, sagte da Bob, indem er seinen Riemen in die Dolle warf, »was für ein sonderbarer Schein auf dem Wasser liegt. Es sieht ordentlich aus, als ob es rauchte – wenn wir nur keinen Nebel bekommen, das wäre ein schöner Spaß.« »Hm«, sagte der Angeredete, indem er den Blick nach rechts und links hinüberwarf, »'s ist mir auch schon so vorgekommen – wär bös, Bob, aber wollen's nicht hoffen. Vorwärts, ihr Leute, wir dürfen keinesfalls mehr Zeit versäumen.« Die Leute hatten die Ruder eingelegt und fingen an zu arbeiten – aber nicht willig. Die Vordersten flüsterten leise miteinander und ruderten dann wieder schweigend 177
weiter. Was der alte Matrose gefürchtet, sollte sich aber nur zu rasch bewahrheiten, denn trotz der Dunkelheit wurde der über dem Meer lagernde Dunst immer bemerkbarer und hob sich dabei höher und höher, sodass sie jetzt schon gar nicht mehr voraus, sondern nur noch einzelne Sterne sehen konnten. »Mr. Sikes«, sagte Bob, die Geschichte wird faul. Die Lichter an Bord sind wir nicht mehr imstande zu erkennen, und wenn wir vorbeifahren, haben wir das blaue Weltmeer vor uns.« »Aber Bob, wir sind noch lange nicht weit genug gefahren, um das zu ermöglichen«, sagte der Bootssteuerer. »Ein paar Stunden dürfen wir noch immer so fortrudern.« Bob warf – während die Leute sämtlich mit Rudern aufgehört hatten – den Blick nach oben. Der Nebel war indessen so hochgestiegen, dass er schon wie ein Schleier über ihnen lag und nicht einmal die Sterne mehr deutlich erkennen ließ. »Das tut's nicht, Sir«, sagte er. »Wenn wir jetzt irre fahren, reiben wir unsere Kräfte auf und wissen nachher nicht einmal, nach welcher Richtung wir das Schiff suchen sollen.« »Wenn man nur den Kompass erkennen könnte«, sagte der Bootssteuerer, jetzt selber unsicher gemacht. »Aber es ist ja stockdunkel und nicht einmal eine Laterne in der Spintje – die gehörte eigentlich hinein.« Die Leute hatten, ohne einen weiteren Befehl abzuwarten, ihre Ruder aufgenommen und in das Boot gelegt. Der Bootssteuerer schaute eine Weile schweigend und unschlüssig vor sich nieder, aber er sah in der Tat selber keine Möglichkeit, mitten in Nacht und Nebel einen bestimmten Kurs zu halten. Ja, wenn sie noch Wind gehabt hätten, so konnten sie eher auf- und absegeln, ohne die 178
Leute zu erschöpfen, und wer wusste denn, ob sie nicht am nächsten Morgen ihre Kräfte notwendig brauchen würden. »Es wird nicht anders«, seufzte er endlich leise. »Wir müssen jedenfalls den Nebel abwarten. So legt euch denn schlafen, Leute, und ruht euch aus – aber eine Wache müssen wir halten. Wir können ja einander ablösen, denn es wäre doch möglich, dass das Schiff in unsere Nähe käme, oder einen Schuss abfeuerte, nach dem wir im Stande sind, die Richtung zu bestimmen.« »Gut, Sir, dann will ich die erste Wache nehmen«, sagte Bob. »Ich bin doch noch nicht müde, und wenn wir alle zwei Stunden abwechseln, wird ja der Morgen auch da sein. »Aber sowie der Nebel sinkt und die Sterne wieder sichtbar werden«, sagte Mr. Sikes, »weckt ihr augenblicklich.« »Gewiss, Sir«, nickte der Alte und zog die neben ihm liegende dicke Jacke an, die er sich aus Vorsorge mitgenommen hatte und um die ihn die Übrigen jetzt nicht wenig beneideten. Der Nebel fiel recht kalt und nass, und es war eben kein angenehmer Aufenthalt in dem offenen Boot. Mr. Sikes suchte sich jetzt ebenfalls so gut als möglich wegzustauen, um der Nacht ein paar Stunden Schlaf abzuringen; es war das aber nicht so leicht, und bequem konnte er es sich auch nicht machen. Von der Anstrengung und Aufregung der letzten Stunden erschöpft, schlief er aber doch endlich wirklich ein, und Grabesstille herrschte in dem kleinen Fahrzeug. Und weshalb schliefen die Leute nicht? Müde hätten sie wohl auch sein können, aber andere Dinge gingen ihnen im Kopf herum, und als sie erst sicher wussten, 179
dass der Bootssteuerer sie nicht mehr hörte, saßen sie vorn im Bug des Bootes gedrängt zusammen und flüsterten leise miteinander. Bob schien anfangs nicht ganz ihrer Meinung zu sein, denn er schüttelte ein paar Mal entschieden mit dem Kopf; endlich hörte er still und schweigend zu, und als sich die anderen zuletzt zum Schlafen niederlegten, saß er noch lange regungslos auf seinem Brett und starrte in tiefen Gedanken in den Nebel hinaus. Wie er zwei Stunden gesessen hatte – er konnte auf seiner alten silbernen Uhr den Zeiger fühlen – weckte er die nächste Wache. Am Wetter hatte sich indessen noch nichts geändert, als dass der Nebel dichter zu werden schien. Nicht der Schimmer eines Sternes ließ sich mehr erkennen, und ebenso wenig regte sich ein Luftzug. »Phh! – Phh!«, hörte die Wache da dicht neben dem Boot das Schnaufen von zwei Walfischen, die langsam und behaglich ihre Bahn verfolgten, und so willkommen ihnen allen gewiss der Ton an Bord ihres Schiffes oder mit ihren Waffen in Ordnung gewesen wäre, so ängstlich horchte der Mann jetzt dem zischenden Laut. Sie hatten nicht einmal mehr eine Leine an Bord, wenn sie wirklich daran denken konnten, einen der Fische zu harpunieren, und rannten die riesigen Tiere jetzt zufällig gegen ihr Boot an, so war es verloren. »Hallo! Hallo!«, rief auch der Matrose, als das Schnaufen sich wiederholte, und jetzt zwar in kaum zwanzig Schritt vom Boot selber. »Walfische! Habt Acht! Bootssteuerer, Bob, Bill – auf mit euch!« Die Leute sprangen erschreckt empor, und in demselben Moment fast gingen die beiden schwerfälligen Geschöpfe, ohne das Boot zu sehen oder zu beachten, unmittelbar daran vorüber, und zwar das eine rechts, das 180
andere links, dass man sie hätte mit einem Bootshaken erreichen können. Die Mannschaft griff auch in der Tat erschreckt nach ihren Rudern, obgleich ihnen die nichts mehr hätten nützen können – aber die Gefahr war schon vorüber und das Boot schaukelte nur etwas stärker in dem aufgeregten Element. »Das hätte noch gefehlt«, brummte der Bootssteuerer, als er bestürzt und noch halb im Schlaf hinter ihnen dreinsah. »Und den Nebel dazu! – Wie viel Uhr ist's, Bob?« »Geht auf elf, Sir«, erwiderte dieser, nachdem er seine Uhr wieder befühlt. »Elf erst – das wird eine lange Nacht!«, seufzte der Seemann und rückte sich wieder auf seine Bank zurecht. Die Wachen wechselten, aber an der Witterung änderte sich nichts. Der Nebel lag zäh und milchweiß auf dem spiegelglatten Meer, und als der Tag anbrach, war die Sonne nicht einmal imstande durchzudringen. Der Bootssteuerer aber, mit der Verantwortlichkeit, die er für das Boot trug, schien auch nicht gesonnen, längere Zeit zu versäumen, und kaum war es hell genug geworden, um den Kompass zu erkennen, als er sich in der See Gesicht und Hände badete, und dann von den Lebensmitteln unter die Leute verteilte. »So, meine Burschen«, sagte er dabei, »jetzt esst, und dann an die Arbeit. Ihr habt nun ordentlich ausgeschlafen und wir müssen sehen, dass wir die Martha's Vineyard wieder finden, Nebel oder keiner. Jedenfalls läuten sie doch die Glocke an Bord und blasen oder schießen wohl auch ein paar Mal, und wenn wir nur halbwegs in die Nähe kommen, müssen wir es ja hören.« Die Leute verzehrten schweigend ihr frugales Frühstück, ohne ein Wort auf die Anrede zu erwidern. Sie be181
eilten sich aber auch nicht damit und nahmen dann, als sie fertig waren und keine Entschuldigung mehr hatten, ihre Ruder langsam auf und legten sie in die Dollen. Der Bootssteuerer hatte indessen mit dem Steuerriemen, den kleinen Kompass neben sich stehend, den Bug nach Westen herumgeworfen. »Ein mit euren Riemen, ihr Leute«, rief er dabei. »Zögern hilft uns nicht. Je länger wir hier warten, desto später kommen wir an Bord.« Keiner der Matrosen rührte sich, um dem Befehl zu gehorchen. Sie starrten schweigend und finster vor sich nieder, und augenscheinlich mochte keiner von ihnen zuerst das Wort ergreifen. »Nun? Wird's bald?«, sagte der Bootssteuerer, die Stirn runzelnd. »Ich will Ihnen etwas sagen, Mr. Sikes«, übernahm der alte Bob die erste Eröffnung. »Die Leute denken, dass wir in dem Nebel das Schiff verfehlen werden und nachher ohne Wasser und Lebensmittel da draußen verschmachten müssen!« »Und wollt ihr hier liegen bleiben?« »Nein – aber das feste Land ist nicht so schrecklich weit. Wir haben gestern Abend schon die Wolken gesehen, die darüber liegen, wenn man auch die Berge noch nicht erkennen konnte; und je weiter wir wieder nach Westen fahren, desto weiter kommen wir vom Land ab, und sind vielleicht nie mehr imstande es zu erreichen.« »Das feste Land?«, rief der Bootssteuerer erstaunt aus. »Wisst ihr nicht, dass ihr zur Martha's Vineyard gehört?« »Das Schlimmste, was uns passieren konnte«, brummte der eine der anderen Leute, Bill, der Segelmacher. »Verdamm den alten blutigen Kasten. Ich wollte, ich 182
hätte ihn mein Lebtag nicht gesehen, denn alles, was er ergreift, hat Unglück.« »Auf dem Schiff liegt ein Fluch«, sagte jetzt auch Tom. »An vier, fünf Fischen sind wir schon festgewesen, aber den ersten Tropfen Tran sollen wir noch zu sehen kriegen. Zehn Monate sind wir jetzt aus und haben nicht einmal genug eingebracht, um uns die Stiefel damit zu schmieren.« »Ja, und sitzen dabei in Schulden bis über die Ohren«, fiel Dick, der Vierte, ein. »Keinen Cent verdient und dann auch noch vierzig oder fünfzig Dollars der Mann für warme Kleider zu bezahlen, dass uns am Kap die Seele nicht aus dem Leib fror. Ich will von Heuschrecken zu Tode getreten werden, wenn ich wieder einen Fuß auf den verdammten Blubberkasten setze.« »Also Meuterei?«, rief der Bootssteuerer, sich emporrichtend und die vier mürrischen Burschen mit seinem Blick überfliegend. »Wisst ihr, welche Strafe darauf steht?« »Ach was, Sir«, sagte aber auch Bob jetzt. »Das ist keine Meuterei, wo wir mit dem Boot, im Nebel verloren und Gott nur weiß wie weit vom Schiff entfernt, auf offener See sind. Nur unser Leben wollen wir retten, dass es uns nicht am Ende geht wie den Booten von ›Esser‹, auf denen die Mannschaft zuletzt darum losen musste, welchen von ihnen sie fressen wollten, um nur nicht zu verhungern. Jetzt können wir noch an Land kommen, die See ist ruhig und die Küste nicht so weit – morgen vielleicht schon nicht mehr.« »Aber heute auch nicht, meine Burschen«, schrie da der Bootssteuerer, den der Zorn übermannte, indem er das neben ihm liegende Beil aufgriff. »Verdamm meine Seele, wenn ich nicht dem Ersten, der jetzt noch zu mur183
ren wagt, den Schädel einschlage wie einer faulen Robbe! Ein mit euren Rudern, sag ich – ihr wisst –« »Damn your eyes«, fuhr aber Bill empor, »werft oder schlagt und seid verdammt, aber einen könnt Ihr nur treffen, und dass die anderen dann die Haifische mit Euch füttern, darauf dürft Ihr Euch verlassen.« »Wenn's darauf ausgeht«, rief da Tom, der Dritte, indem er sein Ruder einzog und eine der vorliegenden Lanzen aufgriff und wandte, »so spielen wir auch noch mit. Legen Sie Ihr Beil hin, Mr. Sikes, Sie sehen, dass Sie gegen vier Mann nichts machen können. Wir wollen Ihnen auch kein Leides tun und haben nie daran gedacht, aber verdammt will ich werden, wenn ich Ihnen nicht das alte Eisen mitten in den Leib hineinwerfe, sowie Sie nur den Arm heben.« Der Bootssteuerer hatte das scharfe Beil krampfhaft festgepackt, und es zuckte ihm im Arm, seine Drohung wahr zu machen – aber er sah die Unmöglichkeit ein, die vier kräftigen Seeleute zu ihrer Pflicht zu zwingen, wenn er sich nicht selber sicherem Verderben aussetzen wollte. »Meuterei! Bei Gott! Helle, blanke Meuterei«, knirschte er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Und wisst ihr denn, was ihr an der fremden Küste findet, und ob ihr da nicht erst recht von wilden Menschenfressern angefallen und totgeschlagen werdet?« »Hat keine Not, Sir«, lachte aber der alte Bob. »An der Küste fressen sie keinen, und verwünscht wenig Indianer, die wir da antreffen werden. Bill hat aber Recht. Ich bin selber schon auf manchem Whaler mein Lebstag gewesen, so erbärmlich ist's mir aber noch auf keinem gegangen, und wenn wir nichts fangen, wird uns nicht einmal für unsere ganze Arbeit etwas zugute getan, und wir müssen die paar Lumpen etwa zu dem vierfachen 184
Preis von dem, was sie in Edgarton gekostet hätten, aus unserer eigenen Tasche bezahlen.« »Und habt Ihr das nicht etwa vorher gewusst, Sirrah?« »Allerdings, Mr. Sikes«, erwiderte Bob ruhig. »Aber was wir vorher nicht wussten, war, dass wir in einem solchen alten nichtsnutzigen Wrack auf eine solche Reise geschickt werden sollten. Angemalt hatten sie das alte Ding wieder hübsch genug, aber die Farbe hielt das Seewasser nur nicht heraus, und jeden Tag ein paar Jahre lang zwei oder drei Stunden an den verdammten Pumpen zu hängen, ist auch eben kein Vergnügen.« »Und trägt euer Kapitän daran die Schuld?« »Das weiß ich nicht«, sagte Bob vorsichtig. »Wir haben es hier aber gar nicht mit dem Kapitän zu tun, wir wissen nicht einmal, wo er mit dem Schiffe steckt, und können ihn nicht suchen, ohne uns der größten Lebensgefahr auszusetzen. Den Nebel hat der liebe Gott geschickt – es ist ein Naturereignis, gegen das wir nicht im Stande sind anzukämpfen, und wenn wir uns jetzt weigern, auf's Geratewohl mitten in den Ozean hinauszufahren, um dort vielleicht elend zu Grunde zu gehen, so ist das keine Meuterei, sondern nur einfache Selbsterhaltung. Wüssten wir gewiss, nach welcher Richtung wir die Martha's Vineyard suchen sollten, und läge der Nebel nicht so dick, es würde keinem von uns einfallen, seiner Pflicht zuwider zu handeln.« »Dann macht, was ihr wollt«, rief der Bootssteuerer, das Beil, das er noch immer in den Händen hielt, ingrimmig auf den Boden des Bootes schleudernd. »Ich habe dann aber mit der Führung des Fahrzeugs nichts mehr zu tun und betrachte mich als Gefangenen.« »Das können Sie nun machen, wie Sie wollen«, lachte Bill. Bob aber schüttelte den Kopf und rief: »Nein, 185
Mr. Sikes, Sie sind so wenig ein Gefangener als ich oder einer der anderen, aber dass Sie nicht mehr steuern wollen, kann ich Ihnen nicht verdenken. Als Offizier des Bootes ist es vielleicht Ihre Pflicht, bis zum letzten Moment auszuhalten, und wenn es später einmal nötig werden sollte, wollen wir Ihnen gern bezeugen, dass Sie Ihre Schuldigkeit getan und sich nur gezwungen der Mehrzahl fügten. Wollen Sie mir das Steuer erlauben – wir wechseln nachher ab, Jungens, bringen uns ziemlich ebenso rasch von der Stelle als vier – also vorwärts, meine Burschen. Bis nicht die Sonne so hoch kommt, dass wir sie sehen können, müssen wir uns nach dem Kompass richten, und wo wir jetzt die Küste zuerst treffen, bleibt sich gleich. Wir rudern nachher so lange daran hinauf, bis wir am Ufer irgendwo eine Landung oder einen bewohnten Platz finden können.« Das Boot hatte sich indessen, und während der Verhandlung, langsam wieder gedreht und lag jetzt mit seinem Bug Südosten an. Bob brachte es mit einer einzigen Bewegung seines langen Ruders in den richtigen Kurs, und die Matrosen legten sich aus Leibeskräften in die Riemen, um die Entfernung zwischen sich und dem Schiff nur so viel als möglich zu vergrößern, ehe der Nebel wich, und jeder Gefahr enthoben zu sein, wieder an Bord zurückkehren zu müssen. – An Land! Es liegt für den Matrosen, wenn er sich lange Monate auf See herumgetrieben hat, ein eigener Zauber in dem Wort, und dass keiner von ihnen auch nur einen Cent Geld bei sich trug, was kümmerte es sie, leichtsinniges Volk, das ja doch nur immer in den Tag hinein lebt und jeden Einzelnen für sich selber sorgen lässt. Jeder Seemann – überhaupt jeder Mensch, der viel in der freien Natur lebt, wie am Lande der Jäger, der Schä186
fer, der Hirt, ist abergläubisch. Er verkehrt zu unmittelbar mit den Elementen und ihren gewaltigen Wirkungen und Erscheinungen, und während er die Größe Gottes anstaunt, schleicht sich auch noch ein anderes Gefühl in sein Herz – das Gefühl seiner eigenen Machtlosigkeit und Kleinheit, die ihn verhindert, gegen die ihn überall umgebenden geheimen Kräfte anzukämpfen. Er glaubt dabei an Vorbedeutungen und alle nur erdenkbaren Einflüsse feindlicher Mächte. Und das ist schon so weit gegangen, dass in früheren Zeiten Matrosen ein unglückliches und vollkommen unschuldiges Menschenkind von ihrem Schiffe ausgestoßen und einem offenen Boot übergeben haben, weil sie den wahnsinnigen Gedanken gefasst, dass dessen Anwesenheit an Bord allein verschiedene Unglücksfälle über sie heraufbeschworen habe und dem Schiff zuletzt verderblich werden müsste. So hatte sich auch, schon vor Wochen, auf der Martha's Vineyard der Glaube unter den Matrosen festgesetzt, dass ihr Schiff dem Unglück verfallen wäre und keinen einzigen Fisch langseit bekommen würde; geschähe das aber wirklich, dann käme auch – wie schon damals – augenblicklich ein Sturm und zwänge sie, die schwer erkämpfte Beute wieder loszuwerfen und preiszugeben. Der gestrige Tag mit seinen Widerwärtigkeiten musste sie denn noch mehr und fester in diesem Aberglauben bestärken, und tausendmal lieber wollten sie sich allen Gefahren aussetzen, die ihnen ein vollständig unbekanntes Land oder eine fremde Küste boten, als dass sie versucht hätten, ihr eigenes Schiff wieder zu finden. Übrigens rechtfertigte der nicht weichende Nebel wenigstens zum Teil ihre Flucht, denn so lange dieser anhielt, hätte sie in der Tat nur ein Zufall ihr Schiff treffen lassen, während sie, in der Irre umherfahrend, ohne Pro187
visionen und Wasser, einer weit größeren Gefahr ausgesetzt waren, als ihnen das fremde Ufer bieten konnte. Jetzt ruderten sie dem entgegen, und mürrisch, im Bug des Bootes, die Arme ineinander geschlagen und finster in den Nebel hinausstarrend, saß der Bootssteuerer, ärgerlich mit sich und der ganzen Welt, und doch auch wieder vielleicht halb und halb zufrieden, dass er eben gezwungen wurde wegzulaufen, da er selber gut genug wusste, was sie erwartete, wenn sie ihr Fahrzeug wirklich in dem Nebel verfehlt hätten. Er konnte aber auch nichts an der Sache ändern, denn gegen die vier kräftigen Seeleute vermochte er als Einzelner nichts auszurichten. Er musste sie eben gewähren lassen, und alles kam jetzt darauf an, welchen Punkt der Küste sie gerade erreichten. Dass sie sich jetzt unter der Linie, oder wohl auch ein paar Grad nördlich davon befanden, wusste Mr. Sikes, weiter aber hatte er sich auch um die Beobachtung, die ihn an Bord des Walfischfängers gar nichts anging, nicht bekümmert, das war Sache des Kapitäns und des für diesen Zweck angestellten Steuermanns gewesen, und wäre die Sonne wirklich herausgekommen, so führten sie nicht einmal einen Sextanten bei sich, um ihre Berechnung danach zu machen. Das kam auch darauf an! Die Küste lag jedenfalls im Osten, weit gestreckt von Süd nach Norden, und irgendwo mussten sie dieselbe treffen, wenn sie die eingeschlagene Richtung beibehielten. Übrigens war auch noch eine Möglichkeit, dass sie unterwegs irgendein anderes Schiff trafen, denn sie kreuzten ja hier eine der belebtesten Fahrstraßen des Ozeans, und das nahm sie entweder auf, oder sie erfuhren doch genau, wo sie sich befanden, und konnten wieder frisches Wasser und Provisionen von ihm bekommen – der Nebel blieb ja auch nicht ewig liegen. 188
Die Matrosen ruderten indessen ruhig und unverdrossen fort und wechselten nur dann und wann mit Steuern ab. Keiner von ihnen aber sprach ein Wort mit ihrem bisherigen Offizier, und nur, als sie die letzten Provisionen und die letzten Becher Wasser mit ihm teilten, taten sie, als ob er noch bei ihnen an Bord wäre. Aber der Nebel wich und wankte nicht, und während sie unausgesetzt fort an den Riemen lagen, hatten sie nicht einmal das Gefühl des Fortbewegens, denn es sah genauso aus, als ob sie in einem eng begrenzten Raum ruhig auf ein und derselben Stelle liegen blieben und keinen Fußbreit weiter rückten. Die Sonne stand, Bobs Uhr nach, im Mittag und über Kopf, aber selbst da konnten sie keinen Schimmer derselben erkennen, und ebenso wenig erhob sich ein Luftzug von irgendeiner Seite. Die See sah aus wie geschmolzenes Blei, und schwül und drückend lag die Luft auf ihnen. Und wie trocken ihnen die Zungen wurden! »Ist kein Tropfen Wasser mehr im Fass, Bill?«, fragte Tom den Segelmacher, der gerade am Steuer saß. Bill schüttelte mit dem Kopf. »Kein Tropfen mehr, Mate. Aber das Land kann ja auch nicht mehr so weit sein, und dort gibt's Wasser genug.« »Ich glaube wahrhaftig, wir sitzen irgendwo fest«, brummte Tom leise vor sich hin. »Unser Boot muss rein verhext sein, denn es regt sich nicht vom Platz.« Der Bootssteuerer, der sich fest vorgenommen hatte, mit der Führung des Bootes selber nichts mehr zu tun zu haben, stand von seinem Sitz am Bug auf, stieg über die erste Ruderbank hin und ergriff den vierten Riemen, den er in die Dolle brachte und im Takt mit den Übrigen einfiel. 189
Die Seeleute hatten es alle bemerkt, aber keiner von ihnen sprach ein Wort, nur schärfer legten sie sich in die Ruder, denn jede Bootslänge, die sie hinter sich ließen, musste doch auch die Strecke vermindern, die sie noch vom Ufer trennte. Und die Sonne sank – zu sehen war sie nicht, aber der Nebel nahm eine immer grauere und dunklere Färbung an, bis der am Steuer sitzende Bob nicht einmal mehr den Kompass erkennen konnte. Was nun? Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als ihr Boot ruhig treiben zu lassen. Die Strömung setzte sie hier, wie sie recht gut wussten, keinenfalls vom Land ab, sondern viel eher nach Norden zu, und das war weiter kein Schade oder Verlust. Und dabei befand sich kein Tropfen Wasser mehr im Boot – keine Krume Schiffszwieback. Aber die Töpfe mit den Konserven – von den Matrosen hatte noch keiner daran gedacht, ja vielleicht gewusst, dass sie sich dort befanden. Der Bootssteuerer legte sein Ruder ein, ging zurück zum Spintje, holte die zwei ziemlich großen Blechbüchsen heraus, stellte sie neben das Steuerruder und nahm dann, ohne ein Wort zu sprechen, seinen Sitz wieder ein. »God bless you Mate«, sagte der alte Bob, als er die neue, unerwartete Hilfe sah. »Das kam zur rechten Zeit, um unser Volk bei Kräften zu erhalten. So ein Spintje ist Gold wert – wenn wir nur auch eine Flasche Wasser darin gefunden hätten.« »Es steht noch eine halbe Flasche Rum drinnen«, sagte der Bootssteuerer. »Beim Himmel, an den Rum hatte ich gar nicht mehr gedacht«, rief Bob. »Nun kommt, Jungens – morgen früh speisen wir vielleicht Bananen und Kokosnüsse. – Wetter noch einmal, das Wasser läuft mir im Mund zusammen, wenn ich an so eine frisch gepflückte Kokosnuss denke!« 190
Die eine Blechbüchse war bald geöffnet. Sie enthielt eingekochten frischen Hammelbraten, der sich noch ausgezeichnet erhalten hatte, und wenn er auch für die fünf Männer keine volle Mahlzeit gab, so genügte der Inhalt doch wenigstens, ihren Hunger zu stillen. Ein Schluck Rum, dessen sparsame Verteilung der alte Bob übernehmen musste, half den Durst etwas löschen, und die vom langen Rudern ermatteten Seeleute streckten sich dann wieder, so gut es gehen wollte, im Boot aus, um ihre müden Glieder auszuruhen. Wache wurde indessen nicht gehalten, denn bei toter Windstille konnte auch kein größeres Schiff segeln, und es war deshalb unmöglich, dass sie mit einem solchen zusammentrafen. Sie brauchten keine Störung zu fürchten. Es mochte etwas nach Mitternacht sein, als der Bootssteuerer erwachte. Der Durst peinigte ihn, und er bog sich über den Rand des Bootes und goss sich Wasser mit der Hand über den Kopf, um sich dadurch zu erfrischen und abzukühlen. Wie er noch so dalag und es wieder abtropfen ließ, kam es ihm vor, als ob er in der Ferne ein dumpfes Brausen höre. Was konnte das sein? Er hob den Kopf und horchte – ein Dampfboot vielleicht, das seine Fahrt die Küste entlang hatte? – Doch blieb das Geräusch an der nämlichen Stelle. Aber er fühlte jetzt auch, dass sich der Wind erhoben hatte – leise zwar noch und kaum bemerkbar, aber es wehte doch ein schwacher Luftzug, dem jetzt auch sicher der Nebel weichen musste. »Bob! », rief er leise und schüttelte den neben ihm liegenden alten Mann. »Jawohl, Sir«, sagte dieser, noch voll im Schlaf. »Halben Strich am Leebug.«
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»Bob«, flüsterte der Bootssteuerer aber wieder, denn er wollte nicht gleich die ganze Mannschaft stören. »Der Wind erhebt sich – wir kriegen Brise...« »Das wär recht!«, rief der Seemann, jetzt völlig munter, vergnügt aus. »Bei George, da ist schon eine Mütze voll, aber die Luft kann noch nicht durch den Nebel durch; sie streift nur darüber hin und drückt ihn immer fester auf die See nieder. Sehen Sie da oben, Mr. Sikes? – Da zuckt richtig schon ein Stern heraus.« »Hört Ihr das Brausen, Bob?« »Wo, Sir?« »Gleich dort drüben hinter unserem Boot, aber ich weiß nicht in welcher Richtung, denn wir haben uns, wer kann sagen wie oft, herumgedreht.« Bob horchte eine Weile, ohne ein Wort zu erwidern, dann griff er in die Tasche und nahm eine alte Blechbüchse heraus, in der er sein Feuerzeug verwahrte. Den Kompass trug er ebenfalls bei sich, und nachdem er diesen auf die Bank gestellt, schlug er mit Stahl und Schwamm Feuer und brannte dann eins der mitgenommenen Schwefelhölzer an. Im nächsten Moment aber auch, wie nur die Flamme so weit aufflackerte, dass er die Stellung der Nadel erkennen konnte, rief er jubelnd aus: »Die Brandung! Hurra, Jungens! Auf mit euch, das Wetter klärt auf und Brandung voraus! Hurra!« Die Leute taumelten in die Höhe und hörten auch wohl, wie sie nur erst munter geworden, das dumpfe rollende Geräusch, aber es war doch noch zu unbestimmt, um es deutlich unterscheiden zu können. Es klang wie aus weiter Ferne, und doch wussten sie auch recht gut, wie leicht gerade dieser Laut, besonders bei schwerer, nebliger Luft, täuschen kann, und wie manches Schiff schon dadurch verloren gegangen ist, dass es die War192
nung nicht früh genug beachtete. Mit einem leichten Walfischboot aber, das ja danach gebaut ist, um ebenso rasch zurück wie vorwärts getrieben zu werden, hatten sie nichts zu befürchten, und es wurde jetzt beschlossen, ohne weiteres jener Richtung zuzufahren, damit man sich, wenn der Nebel endlich wich, doch auch sicher in unmittelbarer Nähe des Landes wusste. Im Nebel durften sie natürlich nicht anlaufen. Die Leute griffen nach den Rudern, und Bob bat den Bootssteuerer, seinen alten Platz wieder einzunehmen – aber er weigerte sich. Er wollte nicht selber die Richtung von ihrem Schiff ab angeben; wenn es die Matrosen taten, konnte er es nicht ändern. Aber er half rudern. Und die Brise wuchs – je weiter es gegen Morgen vorrückte, desto lebendiger wurde es auf dem Wasser. Deutlich schon kam ein großes Stück blauen Himmels zum Vorschein, und sie konnten sehen, wie die Nebelmassen anfingen nach links hinaufzurücken. Jetzt endlich tauchte die Sonne aus dem Meer empor – die leichten Wolken, die sich hoch über ihnen erkennen ließen, waren von dem rosigen Licht übergossen, und nun plötzlich fingen die Wellen an sich zu kräuseln, und im Nu warfen die Matrosen mit einem Jubelruf ihre Ruder ins Boot und setzten die Segelstange ein. Wer hätte noch einen Arm rühren mögen, wo ihnen der Wind jetzt selber vorwärts half! Aber die Brandung? – Deutlicher und deutlicher unterschieden sie den dumpfen Laut – und wie das um sie her wogte und drängte. Manchmal war es, als ob die Bahn vor ihnen frei würde, und offene Gänge und Wölbungen bildeten sich in den dichten weißen Schwaden – dann plötzlich hüllte es sie wieder in die dunkle Nacht, dass der am Steuer Sitzende nicht einmal den vordern Teil des Bootes erkennen konnte. Die erwachende Brise 193
hatte den Nebel zerrissen und schob ihn in aufgerollten Massen vor sich her, und jetzt plötzlich brach die Sonne hindurch – wie ein Schleier riss es voneinander – und vor ihnen, dicht und unmittelbar vor ihnen, dass es aussah, als ob man mit einer Büchsenkugel hinüberschießen könnte, lag das grüne, bewaldete Land, während darunter die Brandung, aber nur über niedere Sandbänke, schäumte und zischte. Unwillkürlich lenkte der am Steuer sitzende Bob den Bug des Bootes etwas vom Land ab, wobei der Wind das Segel besser fassen konnte, und aller Blicke hafteten in gespannter Erwartung an dem Ufer – aber ein Landungsplatz ließ sich dort nicht erkennen, denn so weit das Auge reichte, schäumten die Brandungswellen über den Sand. »Ja, Boys«, sagte da Bob, »in Amerika wären wir – oder wenigstens dicht dabei, aber hier lässt sich auch nichts machen, so viel ist sicher, und da bleibt uns denn keine andere Wahl, als nach Norden aufzulaufen, bis wir die Möglichkeit sehen, irgendwo einzufahren. Nach Süden müssten wir dem Wind gerade in die Zähne laufen.« »Wenn wir nur Wasser hätten!«, stöhnte Bill. »Da drüben ist genug«, brummte der alte Matrose. »Wir können nur noch nicht dazu. Aber da – teilt euch unter den letzten Schluck Rum, ich brauche nichts – ich halt's schon noch aus, und weit werden wir auch nicht mehr zu fahren haben.« Die Leute fielen gierig über den Rum her, und das Boot verfolgte indessen, während auch die letzte Blechbüchse zum Frühstück geöffnet wurde, seine Bahn an der Küste hinauf. Aber das Ufer blieb sich gleich – Wald, undurchdringlicher, unnahbarer Wald, so weit sie vorausschauen konnten. Doch sie brauchten wenigstens nicht mehr zu rudern. Der Wind wehte scharf und frisch vom 194
Süden herüber, und mit geblähtem Segel konnten sie rasch und ohne Arbeit ihre Bahn an der Küste hinaufverfolgen. Ein paar von den Matrosen machten allerdings den Vorschlag, an einer Stelle, wo sich wenigstens keine Brandungswellen erkennen ließen, zu landen und in dem Wald nach Wasser zu suchen – nachher hielten sie es schon wieder eine Weile aus; Bob aber, der das Ufer besser kannte, schüttelte dazu den Kopf, denn er wusste, dass es aus nichts als Manglaren- oder Mangrovesümpfen bestand, in deren Schlammboden sie nie einen Tropfen trinkbaren Wassers gefunden hätten. Es half nichts; sie mussten eben aushalten, aber irgendwo im Laufe des Tages mussten sie ja doch eine Stelle höher gelegenen Landes, oder wenigstens eine kleine Flussmündung entdecken, in die sie dann einlaufen konnten. Solange das nicht geschah, waren sie genötigt, die offene See zu halten. Und in der Zeit litten sie Tantalusqualen, denn zu verlockend lag das grüne, schattige Ufer an ihrer Seite, und es schien ihnen kaum denkbar, dass dort, wo Bäume wuchsen, nicht auch Quellen sprudeln müssten und der Fuß einen festen, trockenen Boden fände. Die meisten von ihnen kannten freilich noch nicht die trügerischen Ufer tropischer Küsten, und erst als ihnen der Bootssteuerer Bobs Versicherung bestätigte, fügten sie sich seufzend in das Unvermeidliche. Immer mehr senkte sich die Sonne dabei dem Horizont wieder zu, und noch nicht einmal ein Flussbett hatten sie in der weiten Baumöde entdeckt, das ihnen doch wenigstens verstattet hätte, die offene See zu verlassen, während es stromauf die Gewissheit menschlicher Wohnungen oder doch wenigstens hohen Landes bot. Da fuhr 195
Bob plötzlich von seinem Sitz empor: »Was ist das da vorn?«, rief er aus, mit dem Arm der Richtung zudeutend. »Dort ist höherer Boden und dort läuft auch eine Bucht in das Land hinein.« Die Blicke aller hafteten an der bezeichneten Stelle, aber es ließ sich noch nichts darüber entscheiden, bis sie näher kamen, und das dauerte noch eine gute Weile. Jetzt endlich öffneten sich die dicht mit Waldung bedeckten Arme der Bucht und ließen eine Einfahrt wie eine Flussmündung erkennen, und lauter Jubel brach von den Lippen der Leute, als sie plötzlich in gelblich gefärbtes Wasser kamen. Jetzt durften sie nicht mehr daran zweifeln, dass sie sich nahe der Mündung eines Flusses befanden, und mit der günstigen Brise hielten sie rasch rechts hinein. Über eine Stunde fuhren sie aber noch, und wurden schon wieder zweifelhaft, ob es nicht doch nur ein Seearm sei, der dort hineinführte. »Was ist das da? Jener helle Punkt?«, rief plötzlich der Bootssteuerer aus, von seinem Sitz emporspringend und mit dem Arm nach vorn deutend. »Ein Haus – ein Haus!«, jubelten da die Leute, die jetzt ihre Leiden geendet sahen und sich wenig darum kümmerten, wer jenen Platz bewohnte; Wasser musste er ihnen geben. Fast unwillkürlich griffen sie auch nach ihren Rudern, als ob sie mit diesen rascher ihr Ziel erreichen könnten, aber der Wind trieb sie schon schnell genug vorwärts, das Wasser kräuselte unter ihrem Bug. »Da ist noch ein Haus, da noch eins – das ist eine Stadt!«, tönte es von aller Lippen, als sie weiter nach Norden glitten und dadurch den Platz, den die am Ufer südwärts daran stehenden Manglaren bis jetzt verdeckt hatten, mehr in Sicht bekamen. 196
Jetzt war ihre Not allerdings mit ihrer Seefahrt beendet, und als »schiffbrüchige Matrosen«, als welche sie sich betrachteten, da sie doch ihr Schiff im Nebel verloren, durften sie auch auf eine freundliche Aufnahme bei der Bevölkerung
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Die Ahnung Nach einer wahren Begebenheit Draußen über die Haide tobte und wetterte der Sturm, heulte durch die blattlosen Baumwipfel der Eichen und zischte und flüsterte in den dichten Nadeln des benachbarten Schwarzholzes. Der Mond war hinter schweren Wolken verschwunden, trüb' und düster lag die Nacht auf der Erde, und der Orkan, der sich von den Geistern der Luft die tollen Weisen aufspielen ließ, ras'te mit der Windsbraut über den weiten Plan, durch Bergesschlucht und einsames Thal, und über die starren, drohenden Felsenkämme der trotzig ihm die Stirn bietenden Gebirgsrücken hin. So draußen im Freien. Aber fast noch tolleres Spiel trieb er um die Wohnungen der schüchtern zusammengedrängten Menschen. Hui! – wie das um die Giebel pfiff und splitterte, wie die Windfahne auf dem alten Pastorhause kreischte und knarrte, daß selbst der hoch und altersgrau daneben aufstarrende Schornstein den Lärm endlich satt bekam und bald links in den dunkeln Hof, bald rechts in den feuchten Garten hinuntersah, als ob er nur noch nicht recht wisse, in welchen von beiden er zuerst kopfüber hineinspringen solle. Wie's an den alten, morschen Fensterrahmen riß und klapperte, und seine Kraft an den breitästigen Birn- und Apfelbäumen versuchte, die schon so lange Jahre dem Sturm getrotzt, und sich jetzt, bei den erneuten Angriffen, nur noch immer fester und hartnäckiger mit den weitgespreizten Wurzeln in die Erde hineinklammerten. Viele, viele Stunden lang trieb er's so, und vergebens hatten die wetterschwangeren Wolken schon oft versucht, sich in einzelnen Fluthengüssen zu erleichtern, wie es 198
wohl ein bedrängtes Schiff thut, das seinen Ballast über Bord wirft, um die leewärts drohende Küste zu verlassen; der wachsende Orkan schleuderte ihnen stets neue wasserschwere Nebelberge entgegen und jagte die zürnenden wild und toll durcheinander in entsetzlicher Fröhlichkeit. Bei solchem Wetter, wo die Natur in ihrer ganzen großartigen Furchtbarkeit ersteht, drängen sich die armen, schwachen Menschenkinder am liebsten in freundlicher Traulichkeit zusammen, und von sicheren Wänden geschützt, unter Dach und Fach, dem brausenden Nord wie dem kalten Regen entzogen, lauschen sie nur manchmal in ängstlicher Stille zum Fenster hinüber, wenn der Sturm einen neuen Accord in seine dröhnende Aeolsharfe greift und das feste Gebäude vielleicht vor dem markdurchschauernden Ton bis in seine innerste Tiefe hinein erbeben macht. So still und traulich war's auch im kleinen behaglichen Studirzimmerchen des wackern Pastors Barenkamp, der mit seiner Frau, dem Schulmeister, einem Universitätsfreund des Pastors, und dem Rittergutsverwalter, einem alten, wettergebräunten Oekonomen, um den schweren eichenen Tisch saß und bei einer guten Tasse Warmbier das Unwetter draußen so wenig als möglich zu beachten schien. Nur manchmal, wenn der Wind die Backen ein bischen gar zu voll genommen und irgend ein krachender Stamm des dicht an den Garten grenzenden Waldes seine gewaltige Kraft verrieth, stand Barenkamp wohl auf, ging an's Fenster, schob den Vorhang zurück, nahm die Pfeife einen Augenblick aus dem Munde und schaute, das schwarze Sammetkäppchen fest an die kalte, behauchte Scheibe gedrückt, in die rabenfinstere Nacht hinaus. Es war während einer solchen Pause, denn das Gespräch stockte in dem Fall gewöhnlich auf einige Minu199
ten und die kleine Gesellschaft horchte ebenfalls nach dem Kampf der aufgeregten Elemente hinüber, als der Verwalter langsam seine ausgetrunkene Tasse niedersetzte und mit leiser, fast ängstlicher Stimme sagte: »Sie haben ganz recht gethan, Frau Pastorin, daß Sie sich heute einmal ausnahmsweise in des Herrn Pastors warm gelegenes Studirstübchen geflüchtet; da drüben in der großen Eckstube muß bei solchem Sturm ein keineswegs freundlicher Aufenthalt sein – draußen freilich ist's noch schlimmer; der Wind pfeift sich ordentlich sein Stückchen, und es kommt Einem wahrhaftig manchmal sogar vor, als ob man einzelne Worte und Redensarten verstände – möchte heute nicht über den Kirchhof gehen.« »Nicht über den Kirchhof?« wiederholte, sich lächelnd nach ihm umwendend, der Pastor, »Sie fürchten sich doch nicht etwa, Verwalterchen? Ei, ei, ein Mann in Ihren Jahren –« »Mein bester Herr Pastor,« meinte der Verwalter, und rückte auf seinem Stuhl hin und her, »von Fürchten kann bei mir wohl keine Rede sein, ich bin kein böser Mensch und – glaube nicht an Gespenster, wovor sollte ich mich also fürchten? aber –« » Aber?« lachte die Hausfrau und schaute mit einem schelmischen Blick zu ihm auf – »aber? – der Herr Verwalter lassen sich noch eine Hinterthür offen.« »Ei, ich meinte nur, was das Kirchhofgehen betraf,« erwiderte gutmüthig der alte Mann – »ich weiß eben so wohl wie jeder Andere, daß die Todten sanft da unten unter ihrer warmen Decke ruhen und Nachts nicht wieder heraufkommen werden, um sich auf die kalten Hügel zu setzen und hinter den weißen Steinen Versteckens zu spielen, aber ich vermeide auch gern jede unnütze Aufre200
gung, die mir nachher immer nur Kopfschmerz verursacht. – Es hat etwas Unbehagliches für mich, mir in dem schwachen Dämmerlicht aus wehenden Trauerweiden und Büschen, die bleiche Steine halb überdecken, Gestalten mit weißen Gewändern und ringenden Händen herauszufinden, und ich mag mich nicht in einem fort umsehen, weil ich jeden Augenblick darauf schwören wollte, es käme Jemand hinter mir drein. Eben so ungern und aus eben dem Grunde sitze ich Abends allein in einem Zimmer und mit dem Rücken einer Thür zugedreht, die halb offen oder angelehnt ist. Ich weiß dabei recht gut, daß sich Niemand im andern Zimmer befindet, also auch Niemand von da zu mir herein kann, und dennoch läßt es mir wunderlicher Weise keine Ruhe; ich muß mich entweder herumsetzen, oder die Thür schließen.« »Sie haben eine lebhafte Einbildungskraft, und die gaukelt Ihnen da allerlei seltsame Dinge vor,« fiel hier die Pastorin ein, »Sie denken sich in dem Augenblick vielleicht etwas recht Entsetzliches oder grausliches, und das stört, wenn es auch nicht wirklich eintreffen kann, doch für kurze Zeit Ihre sonstige Ruhe.« »Ih nun, mit der Einbildungskraft dürfen wir am Ende so etwas nicht einmal allein entschuldigen,« meinte kopfschüttelnd der Schulmeister; »Einbildungskraft schreiben wir doch sonst schon einem ausgebildeten Geist zu, und dasselbe Gefühl, das Ihnen der Herr Verwalter vorhin geschildert, finden Sie nicht selten bei dem geringsten Drescher, der sein Hirn den ganzen Tag über mit nichts weniger martert, als mit Gedanken und Ideen. Ich habe mir nach meiner schlichten Weise die Sache immer so auszulegen versucht: etwas Uebernatürliches giebt's doch, das können und dürfen wir nicht leugnen; wo das nun – versteht sich, uns unbewußt, weil unsere Sinne zu 201
grob und rauh sind, um es zu verstehen und zu erkennen – in unsere Nähe kommt, da läuft uns, wir wissen selbst nicht weshalb, eine sogenannte Gänsehaut über den ganzen Leib. Daher kommt auch wahrscheinlich die Sage von den Ahnungen, denn was ich meine, ist eben nichts weiter als eine Ahnung überirdischer Kräfte.« »Die wir auch um Gottes willen nicht ableugnen wollen,« sagte die Pastorin und wurde auf einmal ganz still und ernst, »ich dächte, wir hätten davon ein Beispiel in unserer eigenen Familie.« »In Ihrer eigenen Familie?« frug der Verwalter rasch. »Meine Frau bildet sich's wenigstens ein,« meinte der Pastor kopfschüttelnd; »die Sache klingt freilich ganz abenteuerlich, hat aber sicher eine sehr natürliche Lösung.« »Die aber bis jetzt noch kein Mensch gefunden hat,« flüsterte die Frau;»es ist meiner eigenen Mutter widerfahren, und ich habe es nicht allein aus ihrem Munde, sondern auch die Bestätigung, wenn es deren überhaupt bedurft hätte, oft von meiner Tante gehört, die als Kind dabei gewesen war und sich der einzelnen Umstände noch recht gut erinnerte.« »Und wären Sie wohl so freundlich, uns die Geschichte mitzutheilen?« frug der Verwalter und rückte seinen Stuhl etwas näher zum Tisch; »es wäre möglich, daß ich durch etwas Aehnliches die Existenz solcher Ahnungen ebenfalls zu bekräftigen vermöchte.« »Die Sache ist einfach genug,« erzählte die Pastorin; »wir waren unser drei Geschwister, ich, ein älterer Bruder und noch eine jüngere Schwester, und die Großmutter vor etwa acht Wochen gestorben, als meine Mutter, die sich allerdings damals noch in einem sehr aufgeregten Zustande befand, träumte, sie schaue am hellen Nachmit202
tag aus dem Fenster. Da ging die Hofthür auf und herein kam, in demselben Kleide wie sie im Sarg gelegen, ihre Mutter, schritt langsam durch den ganzen Hof und stieg dann die Leiter hinauf, die zu dem Heuboden führte. Wie man nun so im Traum ist, so scheint auch meine Mutter gar nichts Außerordentliches in dem Wiederkommen der Todten gesehen zu haben, nur daß diese, was sie im Leben nie gethan, auf den Heuboden stieg, fiel ihr auf. Trotzdem sprach sie kein Wort, und die Mutter kam denn auch bald wieder zurück und hatte ein Heubündel unter dem Arm. Damit stieg sie die halbe Leiter hinunter, blieb plötzlich stehen, drehte dann wieder um und holte sich noch ein zweites. Ei, um Gott, Mutter, rief die Träumende da und streckte die Arme nach ihr aus, ist denn das eine nicht genug? »Ja,« sagte die Todte und stieg langsam nieder, »ich bringe Dir das andere wieder zurück« – und aus der Hofthür verschwand sie, wie sie gekommen. »Mein damals etwa vierzehnjähriger Bruder war ein ausgezeichneter Harfenspieler, und übte sich besonders in jener Zeit Tag und Nacht; um es zu noch immer größerer Fertigkeit zu bringen, hatte er sich wohl darin übernommen, oder lag der Keim der Krankheit schon in ihm, kurz, wenige Tage nach diesem Traum wurde er, sonst ein kräftiger, gesunder Knabe, krank und sah sich bald durch das hitzigste Nervenfieber auf sein Lager geworfen. Fünf Tage später legte ich mich ebenfalls mit demselben Uebel, mein Bruder aber starb am neunten Tage, und in dem Augenblick, wo er im Todeszucken lag, rissen plötzlich alle Saiten seiner Harfe. – Mich brachte die Großmutter wieder – ich genas nach kurzer Zeit.« »Die Harfe hat hinter dem Ofen gestanden,« brach der Pastor rasch eine feierliche Pause; »das Gestell kann sich 203
gezogen haben, und da mußten wohl die Saiten mit einem Mal springen.« »Die Erklärung mag wohl ganz gut und natürlich klingen,« sagte der Schulmeister endlich, »ich sehe aber wirklich nicht ein, weshalb wir uns Alles natürlich erklären müssen – Du lieber Gott, unser Aller Leben ist so arm, so entsetzlich arm an jeder Poesie, daß ich denken sollte, es hätte sogar etwas Wohlthuendes, einmal einen Gegenstand zu finden, den man nicht recht begreifen kann. Ich weiß mich noch recht gut daran zu erinnern, wie ich als Kind fest und heilig glaubte, der Storch bringe die Kleinen und das Christkindchen die schönen Sachen zu Weihnachten, – wie ich mich vor dem Knecht Ruprecht fürchtete und die heiligen drei Könige ehrfurchtsvoll anstaunte – und einmal im Theater – der Abend wird mir unvergeßlich bleiben, da sah ich ein Stück, das hieß die Kreuzfahrer, und etwas Derartiges war mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Ich weinte und lachte den ganzen Abend, und träumte ein volles Jahr von weiter nichts, als tapfern edlen Rittern, braven Türken, unglücklichen Türkenmädchen und bösen Aebtissinnen. Das Stück übte auch merkwürdiger Weise einen ganz eigentümlichen Einfluß auf mein künftiges Leben aus; ich schwärmte für die altadeligen Geschlechter der tapferen Ritter und bekam einen ordentlichen Haß auf die katholische Religion, die den Mißbrauch der Klöster dulden konnte. »Jetzt ist das ganz, ganz anders geworden – ich halte die Störche für sehr gewöhnliche Zugvögel, die von Fröschen und anderem Zeug leben und sich keineswegs mit Kindertransport beschäftigen – den sogenannten heiligen Christ habe ich diverse Male selbst machen müssen und deshalb gegründete Ursache, an seiner Heiligkeit zu 204
zweifeln; ebenso den Knecht Ruprecht, wobei ich gleichzeitig und höchst trauriger Weise allen Respect selbst vor den heiligen drei Königen verloren; und was das Theater anbetrifft, so gaben sie, als ich im vorigen Jahr zum letzten Mal in Hamburg war, dort zufällig ein Stück, das ich in meiner Kindheit sah, und die Erinnerung trieb mich hinein. – Ich wollte, ich wäre nicht gegangen, denn als ich wieder herauskam – und ich sollte mich eigentlich schämen, es zu gestehen –, habe ich großer, erwachsener Kerl geweint, bittere Thränen geweint, und weshalb? weil ich durch meine Neugierde ein kleines Heiligthum muthwillig zerstört hatte, das mein Herz seit seiner Jugendzeit in seiner innersten Zelle still und heilig genährt – weil ich das muthwillig und mit roher Hand jetzt von mir gerissen sah, was mich so viele Jahre mit froher, geheimnißvoller Lust erfüllt. Die hohen, schattigen Palmen, die mir bis dahin noch immer vorgeschwebt, schrumpften zu Pappdeckeln mit hölzernen Stützen zusammen – jener Zweikampf, an den ich oft mit stillem Schauder zurückgedacht, wurde zu einem gewöhnlichen Hämmern auf Blechschilde – der alte, ehrwürdige Emir – in der einen Scene fiel ihm der Bart ab, und das ganze Publikum lachte, während mir die Thränen in die Augen traten – die fürchterliche Aebtissin – war die Frau meines freundlichen Wirths, eine treffliche, brave Seele, die sich noch an demselben Nachmittag erst so theilnehmend erkundigt hatte, wie es all' den Meinigen zu Hause ging – die Frau konnte unmöglich ein Bösewicht sein; und nun erst die Knappen und Ritter, die früher einen solchen Eindruck auf mich gemacht – wie hölzern sie dastanden und wie ungelenk – ach, mein schöner Jugendtraum, wie bös, wie häßlich war der zerstört worden, und wie viel besser wäre
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es gewesen, wenn ich keine natürliche Erklärung für all' den süßen Zauber gefunden hätte!« »Es läßt sich auch nicht Alles natürlich erklären,« sagte der Verwalter ernst und stopfte sich dabei langsam den hohen Maserkopf mit dem vor ihm liegenden Tabak – »und wenn man's noch so gern erklären möchte und wollte. Ich selbst habe zum Beispiel etwas erlebt, was so wunderbar und märchenhaft klingt, daß ich es selten erzähle – es glaubt mir's Niemand, und es thut mir nachher weh, wenn es bespöttelt wird, das – heiliger Gott, wie das wieder ras't und tobt, man sollte glauben, es schüttelte die alte Erde aus den Achsen! – das mir selbst so allgewaltig in's Leben gegriffen hat.« »Sie scheinen mich für einen total Ungläubigen zu halten, lieber Verwalter,« sagte der Pastor freundlich; »darin thun Sie mir aber unrecht – das vertrüge sich auch nicht einmal mit meiner Stellung, mit meiner Religion. Auch von Gott ward uns ja weiter nichts, als in sinnbildlichen Uebertragungen eine Ahnung seines Wesens, und was Anderes als Ahnung einer höhern Welt ist es, wenn uns bei frommem, erhebendem Choralgesang die Seele in süßer unbegriffner Lust zusammenschauert. Ich glaube an Ahnungen, möchte sie aber nur von den gewöhnlichen Vorbedeutungen geschieden sehen.« »Vorbedeutungen – Ahnungen!« sagte der Verwalter kopfschüttelnd und hielt dabei den brennenden Fidibus auf die Pfeife, ohne jedoch den Blick zu erheben, der sich von da an fest und unbeweglich in die eine Zimmerecke heftete, »das sind am Ende nur immer verschiedene Worte für ein und dieselbe Bedeutung. – Doch zu meiner Erzählung, aus der sich Jeder seinen Schluß selber ziehen mag, denn ich selbst kann nichts weiter als die Thatsachen geben. Es war nach dem letzten Kriege – mein Bru206
der Karl, ein tüchtiger, stattlicher Bursche, hatte sich auch anwerben und später nie wieder etwas von sich hören lassen. Bei Leipzig wollten sie ihn zuletzt gesehen haben; bis dahin dienten wenigstens Landleute aus demselben Ort in dem nämlichen Regiment mit ihm, und er ließ mich auch einmal in einem von den Briefen grüßen. Nachher blieb er verschollen, und zehn Jahre, die ebenfalls verflossen, ohne daß ich die mindeste Nachricht erhielt, nahmen mir endlich den letzten Zweifel, daß er in jener blutigen Schlacht gefallen. »Nach dieser Zeit, und als der Friede schon lange wieder seine segensreichen Früchte getragen, verwaltete ich in der Nähe von Grimma, eine kurze Strecke von Leipzig entfernt, ein Gut, schaffte im Juni meine Wolle in die Stadt zum dort gehaltenen Markt, verkaufte sie und schickte, weil ich noch bei Thräna einen Freund besuchen wollte, den Wagen von dort aus allein voraus. Dort kam das Gespräch, ich weiß jetzt selbst eigentlich nicht mehr recht wie, auf die frühere Kriegszeit und auf unsere gefallenen Freunde und Brüder, wobei ich äußerte, wie schmerzlich es doch für die Hinterbliebenen sein müsse, nicht einmal zu wissen, wo die geliebten Todten begraben lägen, und ob sie überhaupt ein ehrliches Soldatengrab bekommen hätten. »Du lieber Gott,« meinte hierauf mein Freund, der dortige Förster, »da ist wohl Mancher Wochen lang im lieben Walde liegen geblieben oder, was noch schlimmer ist, mit der ganzen Masse in eine große Grube geworfen, und wie Viele wurden noch vorher von den Kosaken und – anderem Volk geplündert und mißhandelt. – Ich sage Dir, Bernhardt, ich habe da schauerliche Dinge mit angesehen. – Ich erinnere mich noch an einen armen Teufel, dem hatten sie drei Kugeln in die Brust geschossen, und 207
er lebte immer noch. Von den Unsern waren dabei Leute hinausgeschickt, um die Gebliebenen aus dem Weg zu schaffen und in ein Loch zu werfen; die aber natürlich, bei denen sie noch Leben fanden, die legten sie bei Seite, bis sie fertig waren, und dann konnten sie gewöhnlich wieder von vorn anfangen. Der Verwundete nun, der unter einer Eiche lag, streckte die Hand nach mir aus und bat mich, ihm zu helfen – lieber Gott, was konnte ich für ihn thun – die Zunge klebte ihm schon am Gaumen und er brachte kein Wort mehr über die Lippen; selbst einen Trunk Wasser, den ich ihm reichte, vermochte er nicht mehr hinunterzuschlucken. Während ich ihn noch im Arm hielt, that er seinen letzten Athemzug, und als ich ihm die Uniform aufriß, um nach der Wunde zu sehen, fiel er, eine Leiche, zurück. Auf der bloßen Brust fand ich aber einen Ring, den ich zum Andenken mitnahm und den armen Teufel dafür draußen am Waldesrand, etwa eine Stunde von hier und nicht weit von dort, wo jetzt der Fußpfad in die große Straße einläuft, warm und weich in die Erde bettete.« »So lautete seine Erzählung, und er wollte mir den Ring, noch ehe ich fortging, zeigen, bald nachher kamen wir aber auf ein anderes Gespräch und vergaßen ihn. Gegen Abend endlich – denn ich hatte nun noch volle drei Stunden zu marschiren, und der Mond ging etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang auf – nahm ich Abschied von meinem Freunde und machte mich, nachdem er mir einen nähern Pfad durch's Holz gezeigt, auf den Heimweg. »Die Sonne sank eben hinter den Wipfeln nieder, als ich ausmarschirte, und im Walde dämmerte es schon; meinen Pfad konnte ich aber nichtsdestoweniger deutlich genug erkennen und schritt rüstig darauf vorwärts,. bis 208
ich von fern das hellere Licht des offenen Feldes durch die Bäume schimmern sah; – bald darauf erreichte ich die äußerste Grenze des Waldes, und vor mir, vielleicht noch eine Viertelstunde entfernt, lief die Chaussee, die sich ganz genau an den Pappeln unterscheiden ließ. Ich überflog die ausgedehnte Fläche mit meinem Blick, um nach den nächsten Thürmen genau die Stelle bestimmen zu können, wo ich mich eigentlich befand, als ich in gar nicht großer Entfernung und mitten auf einer kleinen feuchten Wiese einen einzelnen Menschen und, als ich näher hinsah, einen Soldaten erkannte, der hier allem Anschein nach und mit dem Gewehr im Arm Schildwache stand. »Was um des Himmels willen, dachte ich so bei mir selber, macht nur der einzelne Posten hier mitten auf dem Felde – die Früchte sind doch noch nicht reif, und der Klee – hm, das muß ein Forstschutz sein, – hat sich aber einen sonderbaren Platz dazu gewählt. »Der Mann stand still und regungslos, und ich blieb ebenfalls einen Augenblick stehen und schaute nach ihm hinüber – er rührte sich nicht, und die Uniform fiel mir jetzt auf, die er trug. So viel ich in der immer zunehmenden Dämmerung erkennen konnte, gehörte sie keineswegs nach Sachsen, war auf jeden Fall von der sehr verschieden, die ich sonst zum Forstschutz verwendet gesehen, und der Czako – ein Schauer lief mir unwillkürlich über den Leib, als ich zu dem Gesicht des Postens aufschaute – der Czako saß in der richtigen Entfernung zu dem Kopf; aber der Kopf? – Das matte Licht mußte mich jedenfalls täuschen, denn gerade wo ich stand, konnte ich deutlich durch die Stelle durch, wo doch sein Gesicht hätte sein müssen, das dahinter durchschimmernde Grün der Wiese erkennen. 209
»Lächerlich, murmelte ich aber leise vor mich hin, daher entstehen so viele Geister- und Gespenstergeschichten, daß uns irgend ein ungewisser Lichtschein oder eine Brechung der Strahlen, ja vielleicht der aufsteigende feuchte Dunst der Erde wunderliche Geschichten vorspiegelt, die sich nachher, wenn man näher hinzugeht, auf die natürlichste Art von der Welt erklären. Wäre jetzt an meiner Stelle irgend ein furchtsamer Bauernjunge den Weg gekommen und sein Blick dorthin gefallen, wer weiß, ob er nicht in voller Angst und vor lauter Entsetzen die Flucht ergriffen und daheim dann erzählt und beschworen hätte, er habe auf dem früheren Schlachtfelde einen fremden Soldaten ohne Kopf Schildwache stehen sehen – ich muß nur näher hingehen und mich selber davon überzeugen. »Gerade dort, wo ich mich befand, lief ein nicht tiefer Graben am Rande der Holzung hin, den ich vorher überspringen mußte; er war übrigens schmal, und auf der anderen Seite desselben führte ein grüner Rain in ziemlich genauer Richtung der Stelle zu, wo die wunderliche Wache stand. Ohne weiteres Ueberlegen – denn ich ging nicht einmal viel um, da ich von dort aus die Chaussee eben so rasch erreichen konnte – schritt ich jetzt auf den Mann zu und hielt dabei, des Weges nicht weiter achtend, den Blick fest und unverwandt auf seine dunkel gegen das lichter dahinterliegende Grün abstechende Gestalt geheftet. Das Bandelier zog sich ihm, wie ich deutlich erkennen konnte, weiß und hell über die Brust, und jetzt kam es mir auch vor, als ob die Umrisse seines Kopfs, ja seine Gesichtszüge klarer und deutlicher hervorträten. »Guten Abend, Kamerad! sagte ich endlich, als ich schon in mehr als Rufes Nähe von ihm war – ist ein kühler Posten hier, und abgelegen vom Wald. Weshalb so 210
spät noch draußen? – wird der Holzdiebstahl hier so arg getrieben? »Der Soldat antwortete nicht, und ich hätte darauf schwören wollen, er sei noch vor wenigen Secunden mitten in der kleinen Wiese gewesen, auf der ich mich jetzt befand, und nun stand er doch, wie sich gar nicht verkennen ließ, in dem benachbarten Sturze, und ein gutes Stück weiter von mir entfernt. Wieder überkam mich jenes eigentümliche fröstelnde Gefühl, über das ich mir keine Rechenschaft zu geben wußte, doch war ich entschlossen, den widerlichen Soldaten zum Antworten zu bringen, und ging jetzt mit noch schnelleren Schritten als vorher auf ihn zu. »Sie glauben mir vielleicht nicht, wenn ich es Ihnen sage, aber dennoch kann ich Ihnen heilig versichern, daß ich nicht im Stande war, den Schattenmann zu erreichen – deutlich genug sah ich ihn vor mir, und wenn er auch kein Glied regte, weder Fuß noch Arm, dennoch rückte er aus einem Feld in's andere, und es blieb mir zuletzt gar kein Zweifel mehr, daß ich es mit einem keineswegs körperlichen Wesen zu thun hatte. »Und konnte das ein Gebilde meiner erregten Phantasie sein? – war es möglich, daß ich die Contouren der jetzt, trotz der Dämmerung, immer noch genau erkennbaren Gestalt nur träume oder denke? Ich blieb plötzlich stehen und hielt den Blick fest und unverwandt auf die Figur geheftet; da verschwammen die Umrisse mehr und mehr mit dem jetzt dunkel dahinter lagernden Feld – zuerst verschwand der Czako – die Uniform – ich sah nur noch das blitzende Gewehr, das Bandelier, die helleren Beinkleider – auch diese wurden immer undeutlicher – das Alles zog sich wie ein leichter, wehender Nebel in den feuchten Grund. Der Körper – wenn es überhaupt ein 211
Körper gewesen – lief flüssig, in luftigen Hauchen auseinander, und zuletzt war gar nichts mehr zu erkennen. Doch nein, das weiße Bandelier stach noch immer scharf und klar gegen den düstern Hintergrund ab – ich konnte deutlich die Kappe sehen, in der das Seitengewehr hing. War denn auch das Täuschung? – Wenigstens davon wollte ich mich noch überzeugen; denn wenn ich auch unbeweglich wohl zehn Minuten auf meiner Stelle stehen blieb, der Schein des Bandeliers regte sich eben so wenig und hing, wie es fast aussah, von einer unsichtbaren Gewalt getragen, in der Luft. »Je näher ich kam, desto deutlicher ließ es sich unterscheiden, und schon stand ich kaum noch fünf Schritt davon entfernt, als ich –« »Herrgott – was war das?« rief die Frau plötzlich und fuhr erschreckt auf; der Verwalter schwieg, und selbst der Pastor warf flüchtig einen scheuen Blick im Zimmer umher. »Was hast Du denn?« sagte er dann und versuchte zu lächeln – »Du jagst Einem ja ordentlich Schreck ein.« »Hörtest Du nichts?« sagte die Frau und sah leichenblaß aus – »mir war es, als ob Jemand um Hülfe schrie.« »Die erregte Einbildungskraft,« beruhigte sie der Schulmeister; »wir haben Alle ein gutes Gehör, Frau Pastorin, verlassen Sie sich darauf, hätte wirklich Jemand gerufen, es wäre uns nicht entgangen. Die Erzählung hat Ihre Nerven aufgereizt, das unbedeutendste Geräusch erschreckt uns dann. Bitte, Herr Verwalter, fahren Sie fort.« Der Pastor war aufgestanden und wischte mit seinem Taschentuch den Hauch von dem Fenster, um hinaussehen zu können; bei dem augenblicklichen Schweigen 212
hörten sie, wie der Regen polternd gegen die Scheiben und draußen auf den gepflasterten Hof laut und klatschend aufschlug. Der Verwalter, welcher während der ganzen Unterbrechung – die übrigens nicht so lange gedauert, als ich hier gebraucht, sie zu beschreiben – seine Stellung kaum so weit verändert, daß er bei dem ersten Ruf den Kopf etwas erhob, jetzt aber wieder eben so still und in seinen Gedanken verloren in dieselbe Ecke starrte wie vorhin, fuhr, augenscheinlich mehr mit sich selbst sprechend, wie zu den Anderen gewandt, mit leiserer Stimme als vorher also fort: »Fünf Schritt mochte ich noch davon entfernt sein, als ich erst in diesem hellen Bandelier weiter nichts wie – einen einfachen Streifen weißen Sandes erkannte, der sich hier, von dunkler Erde und hohem Grase umgeben, vielleicht zwei Schritt lang auf dem Boden hinzog. Aber – ich berührte ihn mit dem Fuße – die Stelle war erhöht, selbst das immer mehr schwindende Licht warf noch seinen letzten düstern Schein über den kleinen flachen Hügel. Es war ein Grab, und hier unten – wie mit einem elektrischen Schlage durchzuckte es meinen ganzen Körper – viele Minuten stand ich, meiner selbst kaum mächtig, auf der einsamen Stelle. Plötzlich – ich konnte mir im Anfang nicht einmal Rechenschaft darüber geben – raffte ich mich empor und floh, so schnell mich meine Füße trugen, zu meinem Freund, dem Förster, zurück. »Den Ring – den Ring. Das war der einzige Gedanke, den ich mit Bewußtsein festhalten konnte – den Ring des todten Soldaten her, und bleich und athemlos erreichte ich bald darauf sein Haus wieder. Er erschrak, als er mich in diesem Zustand sah, – er wollte –« Der Verwalter schwieg plötzlich, stand auf, ging zum Fenster und trat von diesem wieder zum Tisch zurück. 213
»Und der Ring?« frugen der Pastor und Schulmeister gespannt. »Weshalb soll ich Sie noch länger mit der genaueren Mittheilung quälen?« erwiderte der Verwalter mit augenscheinlich erzwungener Ruhe –»der Ring war wirklich der meines Bruders – und jenes Grab – sein Grab. Was jene Erscheinung betrifft, so weiß nur Gott, ob sie ein Spiel meiner Phantasie gewesen; doch einerlei. Sie werden begreifen, daß ich seit jener Zeit alle Ursache hatte, wenigstens an Ahnungen zu glauben, wenn ich das überhaupt mit diesem Namen belegen darf. – Aber es wird spät, Herr Pastor – Sie wollen wohl auch zu Bett gehen; es ist lange Schlafenszeit, und ich habe noch eine kleine Strecke zu marschiren.« »Sie können doch wahrlich bei dem Wetter nicht fort?« sagte der Pastor rasch – »es pfeift und heult ja noch draußen um die Kirche herum, als wenn es das alte Gebäude mit der Wurzel aus dem Erdboden zu reißen gedächte. Bleiben Sie die Nacht bei uns, das Fremdenstübchen steht bereit, und Sie wissen, es macht auch nicht die mindesten Umstände.« »Danke – danke herzlich,« sagte der Verwalter und verbeugte sich leicht – »es geht aber doch nicht; erstlich ist es kaum einen Büchsenschuß weit bis an's Gut, und dann muß ich auch morgen früh schon wieder bei der Hand sein, und möchte überdies nicht gern gerade in solcher Nacht das Gut ohne Aufsicht lassen – es ist besser, ich bin bei der Hand, wenn etwas vorfällt. Gehen Sie mit, Schulmeister?« »Nicht Ihren Weg, ich gehe durch's Hinterpförtchen und habe dann nur einen Sprung bis in mein Haus.« Der Verwalter knöpfte sich seine grüne Pikesche bis oben hin zu, klappte den Kragen auf, band sich noch zur 214
Vorsicht sein Taschentuch über diesen um den Hals, griff nach Mütze und Stock, schüttelte Allen herzlich die Hand und verließ, ohne zu gestatten, daß ihm jemand hinunterleuchte, rasch das Zimmer. Die drei Leute blieben, als sein Schritt schon lange auf der Treppe verklungen war, noch mehrere Minuten beisammen stehen, und es sah fast so aus, als ob Keiner gern das Schweigen zuerst brechen wollte. Endlich sagte des Pastors Frau mit einem recht aus tiefster Brust heraufgeholten Seufzer: »Ich wollte, der Verwalter hätte die häßliche Geschichte nicht erzählt – ich weiß nicht – mir wurde so unheimlich dabei – und er blieb auch so still und ernsthaft, als ob das Alles wirklich geschehen und der Geist seines Bruders ihm leibhaft erschienen wäre. So deutlich und sichtbar steht doch die Geisterwelt auf keinen Fall mit der unsern in Verbindung, und man sollte daher auch so etwas nicht so lebendig und ernsthaft den Leuten ausmalen.« »Auch das läßt sich vielleicht natürlich erklären,« sagte der Pastor, – »die Erzählung jenes Försters hatte ihn sehr wahrscheinlich aufgeregt, und er dachte an den Bruder – dachte wohl gar, wenn der jener fremde Mann gewesen, dessen Grab da so ganz in der Nähe sein sollte. Dämmerung war es ebenfalls; die dunkeln Abendschatten geben oft einem Strauch, einem Rain, ja einem vor uns hinlaufenden Wagengleis die wunderlichste Gestalt. Läßt es sich da nicht denken, daß er, besonders noch von dem weißen, schimmernden Sand angelockt, zufällig den kleinen Hügel fand und später die Bestätigung dessen erhielt, was er geahnt?« »Geahnt? – und da wären wir wieder auf dem alten Punkt,« fiel hier kopfschüttelnd der Schulmeister ein; 215
»die Ahnung macht uns zuerst unbehaglich, und die Imagination muß nachher dem Ganzen die Krone aufsetzen – 's ist ein wunderliches Ding um den menschlichen Geist. Aus heiler Haut, mit all' seiner gerühmten Festigkeit und Konsequenz läßt er sich herauslügen und außer Fassung bringen und das ganze Nervensystem erbebt nachher, wenn draußen nur etwa ein Besen in der Ecke umfällt, oder die Katze von einem Stuhl herunterspringt. Ganze Bücher ließen sich über den Unsinn schreiben.« »Unsinn, Schulmeister?« wiederholte die Frau und sah ihn verwundert an. »Sie sagten doch selbst erst, daß Sie an Ahnungen glaubten. Doch, wie dem auch sei, ich halte es für Unrecht, und noch dazu in solch wilder Nacht, die Einbildungskraft förmlich muthwillig aufzuregen. Ich glaube, ich könnte mich jetzt vor meinem eigenen Schatten fürchten, und mag mich gar nicht einmal danach umsehen – Frauen sind doch recht ängstliche, nervenschwache Wesen.« »Ach, nicht Frauen allein,« meinte der Schulmeister lächelnd, während er ebenfalls nach seinem Käpsel griff und den schon vor Anfang des Regens zur Vorsorge mitgenommenen dicken, rothbaumwollenen Regenschirm aus der Ecke holte – »Zeit und Umstände müssen das Ihrige dazu beitragen, und der stärkste Mann ist vor demselben Gefühl – und dann noch dazu in weit erhöhtem Maße – nicht sicher.« »Wenn er überhaupt ängstlichen Gemüthes ist,« sagte der Pastor. »Aengstlichen Gemüthes oder nicht – seine schwache Stelle, seine Achillesferse hat ein Jeder, und wird die getroffen, so greift es nachher gerade den stärksten Mann auch am stärksten und gewaltigsten an. Sie kennen doch gewiß die Geschichte mit dem Spiegel?« 216
Die beiden Gatten verneinten es. »Hm,« sagte der Schulmeister, »dann weiß ich auch nicht, ob ich's heut Abend nicht lieber lasse. Sie sind gerade erregt genug.« »Ach, heraus damit – in solcher Stimmung ist man am empfindlichsten dafür, und schlimmer kann's bei meiner Alten doch nicht werden,« meinte der Pastor. »Ach Gott, ja – erzählen Sie nur,« bestätigte dies mit einem tiefen Seufzer die Frau – »es kommt jetzt auf das Eine mehr oder weniger nicht mehr an; ich fürchte mich doch heut Abend. Sie sprachen von einem Spiegel?« »Nun, ich meine das Hineinsehen in einen Spiegel Abends, wenn man ganz allein ist,« begann der Schulmeister und stützte sich auf die Lehne des ihm nächsten Stuhles. »Es wird nämlich, wie Sie gewiß auch schon gehört haben, behauptet, man könne, oder dürfe vielmehr in stiller Nacht und in einem einsamen Zimmer mit einem Licht in jeder Hand nicht langsam und dicht vor den Spiegel treten, dort dreimal mit lauter Stimme seinen eigenen Namen rufen, und dann laut und schallend auflachen. Thäte man das und riefe sich besonders nachher noch einmal, so passire irgend etwas Entsetzliches, ich glaube, die eigene Gestalt soll mit schauerlich verzerrtem Gesicht aus dem Spiegel heraussteigen.« Die Frau warf einen scheuen Blick nach dem Spiegel und strich sich rasch mit der Hand über die eigene Stirn. »Die Geschichte nun, die mir darüber erzählt wurde,« fuhr der Schulmeister fort, »ist sehr kurz und betrifft einen Husarenlieutenant, also doch allem Vermuthen nach einen kräftigen, keineswegs nervenschwachen Menschen. Die jungen Leute waren in einer fröhlichen Gesellschaft von Herren und Damen gewesen und dort, ebenso wie wir heute, auf Geister- und Gespenstergeschichten ge217
kommen. Ein Wort gab das andere, und allerlei tolle Vorschläge wurden endlich, wahrscheinlich mehr um die Damen zu ängstigen, als sie wirklich auszuführen, gemacht; die Einen wollten um zwölf Uhr auf den Kirchhof gehen und dort um ein frisches Grab tanzen – die anderen in der Kirche selber eine Nacht allein bleiben, bis endlich irgend Jemand von der Gesellschaft das Experiment mit dem Spiegel in Anregung brachte. »Der junge Lieutenant erbot sich augenblicklich dazu, und die junge Dame vom Hause, die wahrscheinlich glaubte, der junge Herr bramarbasire blos, sagte scherzend, damit ließe sich der Versuch ganz vortrefflich in ihrer eigenen Wohnung machen. Im Gartenhause sei ein ganz einsam gelegener großer Saal mit zwei mächtigen Spiegeln, der seit längerer Zeit unbenutzt stehe – sie habe den Schlüssel dazu, und wenn der Herr Lieutenant Lust hätte, könne er seine Wanderung gleich antreten. Ein allgemeiner Jubel unterbrach sie hier, und der Husar durfte schon nicht mehr zurück, wenn er es wirklich gewünscht hätte. Allerdings erschrak die Dame, als sie sah, daß es plötzlich Ernst wurde, und machte nun allerlei Ausflüchte; der Lieutenant bestand aber jetzt selbst darauf, gab sein Ehrenwort, daß er die vorgeschriebenen Bedingungen genau erfüllen wolle, und verließ mit einem Bedienten, der ihm Lichter und Feuerzeug nachtragen mußte, das Zimmer. Den Bedienten wollte er, an Ort und Stelle angelangt, zurückschicken. »Die Gäste wären allerdings gar zu gern mitgegangen, Einsamkeit war ja aber die Hauptbedingniß des ganzen Versuchs, und mit der gespanntesten Aufmerksamkeit erwarteten sie die Rückkehr des Officiers. – Jedes Gespräch schien abgeschnitten – jede Unterhaltung stockte, und eine halbe Stunde mochte so in peinlichster Weise 218
verflossen sein, als der mitgegebene Diener plötzlich todtenbleich in's Zimmer stürzte und die jetzt kaum minder entsetzten Gäste zu Hülfe rief. Ein paar Damen wurden richtig ohnmächtig, die Herren aber, die sich ja auch in ihrer Masse gesichert fühlten, stürmten, da ihnen der Bediente weiter keine Rede stehen wollte, von diesem geführt durch den Garten, in dessen Saal sie den unglücklichen jungen Menschen bleich und besinnungslos zwischen den beiden sich gegenüber befindlichen Spiegeln am Boden liegend fanden » Was er gesehen – was ihm begegnet, hat man nie genau erfahren können, der Bediente hatte allerdings draußen an der Thür des Gartensaales gehorcht und wollte den jungen Mann, als er sich eine kurze Weile dort befunden, laut haben lachen hören, dann aber – und der Mann glich selber mehr einem Todten als einem Lebenden – schwur er Stein und Bein, es sei ihm so vorgekommen, als ob es von allen Seiten, von oben und unten geantwortet hätte, gleich darauf gellte ein fürchterlicher Schrei heraus, und als dann Alles todtenstill geworden war, und er selbst in Furcht und Entsetzen viele Minuten lang athemlos gelauscht, da hielt er es nicht länger aus, riß die Thür auf und sah den Lieutenant ausgestreckt auf der Erde liegen. Weiter wußte er selber nichts, denn hierauf stürzte er spornstreichs in die Gesellschaft zurück, um Hülfe herbeizuholen.« »Und der Lieutenant war todt?« frug der Pastor gespannt. »Nein – nur wahnsinnig,« sagte der Schulmeister – »aber es ist wahrhaftig schon zehn Uhr vorbei – wünsche beiderseits eine gute Nacht – bitte, Barenkamp – ich dächte, ich sollte die Treppen hier kennen – das Mädchen kommt auch gerade unten mit ihrem Licht aus der Küche, 219
die kann das Haus hinter mir wieder zuschließen.« Und der Schulmeister verschwand, während die Eheleute allein in dem nur matt erhellten Gemach zurückblieben. »Nun, die Geschichte hat mir heute noch gefehlt,« sagte die Pastorin und räumte, wie nur um sich eine Beschäftigung zu machen, das auf dem Tisch stehende Geschirr zusammen – » nur wahnsinnig – das ist ja fürchterlich! Die Leute hatten aber auch gefrevelt, so etwas darf man sich nicht zu Schulden kommen lassen – Herr Du mein Gott!« rief sie plötzlich, und als sie die Tassen, die sie in der Hand hielt, wieder auf den Tisch setzen wollte, fiel ihr eine herunter und zerbrach klirrend am Boden. »Was hast Du denn?« fragte der Pastor und drehte sich rasch und erschrocken nach ihr um – sie sah todtenbleich aus und horchte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit nach dem Fenster hinüber. Nichts aber als das Unwetter draußen ließ sich vernehmen, der Regen schien etwas nachgelassen zu haben, und die Wolken schüttelten sich nur noch nach dem langen, verzweifelten Kampf ungeduldig und unwirsch das Wasser aus den nassen Jacken. »Das war wieder derselbe Hülferuf,« flüsterte die Frau – »derselbe Ton, und – Heinrich – soll mir der Herr in meiner letzten Noth beistehen! – er klang gerade wie meines Vaters Stimme.« Sie barg das Gesicht in den Händen und schauderte am ganzen Körper zusammen. »Unsinn!« sagte der Mann und rückte sich ärgerlich die schwarze Kappe auf das linke Ohr – »Unsinn – die dummen Erzählungen haben Dich aufgeregt, und Du fängst mir am Ende auch noch heut Abend an, Gespenster zu sehen und zu hören. Wir wollen zu Bett gehen – es ist Schlafenszeit, und morgen mit dem hellen Tageslicht 220
werden Dir schon alle die trüben und ängstlichen Gedanken vergehen. Habe ich nicht Recht, Elise? – aber was fehlt Dir auf einmal, was hast Du?« Die Frau blieb, als ob sie die Worte gar nicht gehört, in ihrer Stellung, nur die zitternde Gestalt verrieth ihre Aufregung, und ihr leises Schluchzen, wie die einzelnen, zwischen den fest zusammengepreßten Fingern vorquellenden Thränen kündeten, daß etwas ganz Absonderliches in ihrem Herzen vorgehen müsse. »Elise,« sagte der Mann nach kurzer Pause, während er leise der Gattin Hand ergriff und diese von ihren Augen wegzuziehen suchte –»bist Du nicht wie ein närrisches Kind, das sich von ein paar thörichten Geistergeschichten in Furcht und Schrecken setzen läßt, und nachher nicht mehr allein über den dunkeln Vorsaal gehen, oder leiden will, daß die Magd das Zimmer verläßt? – Du kennst doch den alten Verwalter, weißt doch, was er fortwährend für abenteuerliche Märchen erlebt haben will. Wie haben wir nicht erst noch neulich über ihn gelacht, als er uns die Geschichte von den zwei feindlichen Irrlichtern erzählte, und wie böse wurde er darüber; und was das andere betrifft, wo –« »Das meine ich nicht,« sagte die Frau leise und fast mehr mit sich selbst, als mit ihrem Mann redend – »der Verwalter kann sich geirrt haben, und die Spiegelgeschichte ist wohl fürchterlich genug, läßt sich aber vielleicht natürlich er klären; nein, mir bewegt Anderes die Brust. – Der Schulmeister hat ganz Recht – es giebt übernatürliche Kräfte – es muß sie geben, denn wo wir wissen, daß der kleinste Wassertropfen von unzähligen Geschöpfen belebt und bewohnt wird, wie dürfen wir da annehmen, die ungeheuren Luft- und Aetherräume umschlössen frei und leer das ganze Weltall! – Nein, das ist 221
nicht möglich; um uns her, über uns, neben uns regt es sich und treibt und wirkt – die uns fern stehenden Gebilde berühren uns aber nicht; unsere Nerven sind nicht fein genug, um ihre Nähe zu empfinden, oder ihre Kräfte – mir fehlt der Ausdruck, Dir genau zu beschreiben, wie ich es mir denke – ihre Kräfte üben nicht einen solchen harmonischen – vielleicht magnetischen Einfluß auf die unseren aus, um uns zum Bewußtsein ihrer Annäherung zu bringen. – Das dauert aber nur so lange, bis wirklich einmal ein uns verwandter Geist unsern eigenen Luftkreis berührt, oder durch die Stärke seines Willens, seiner Seele zu uns hingetrieben wird – dann ergreift er aber auch all' die feinsten Fasern unseres innersten Systems, und die Ahnung desselben, vielleicht auch nur das Bewußtsein dieses Gefühls entsteht und macht sich geltend.« »Aber ich begreife Dich nicht –« »Es ist heute der dritte Abend,« fuhr seine Frau, den Einwurf nicht weiter beachtend, fort –»daß ich dieselbe ängstliche Unruhe fühle wie heute – nur nicht so stark. Am ersten Abend erhielt ich, wie Du weißt, gerade vor Schlafengehen den Brief von zu Hause – worin mir Mutter von des Vaters Krankheit schrieb.« »Ein etwas hartnäckiger Katarrh, wie sie selbst sagte, der sich bis jetzt schon wahrscheinlich wieder vollkommen gehoben hat.« »Kein Katarrh, Heinrich – die Sache ist schlimmer, als sie es mir sogleich schreiben mochte – weshalb den Brief eilig gemacht – weshalb nun das Schweigen? – Mit dem jetzigen Lauf der Eisenbahn könnte Nachricht in neun Stunde hier sein.« »Komm, Kind,« erwiderte ihr lächelnd der Mann – »geh jetzt zu Bett, und morgen früh wollen wir ruhig über die Sachen reden; Du phantasirst heut Abend, und 222
da ist's besser, Du überschläfst erst einmal die Gedanken, die das Sonnenlicht ohnedies nicht gut vertragen können. Doch sieh, der Wind hat den Himmel endlich rein gefegt und der Mond scheint ordentlich freundlich in's Fenster herein; wenn sich der Sturm erst ein bischen legt, bekommen wir vielleicht das schönste Wetter – komm, Kleine – heb das Köpfchen wieder und sei mein braves Weib – Du wirst Dich doch wahrlich nicht vor Spukgeschichten fürchten?« »Nein, nicht vor Spukgeschichten, Heinrich,« flüsterte die Frau, und starrte dabei mit festem, glanzlosem Blick in die Ecke des Gemachs, das von der immer düsterer brennenden Lampe kaum noch hinlänglich beleuchtet wurde –»gewiß nicht vor denen, ich habe schon fast wieder vergessen, was der Verwalter und Schulmeister erzählten, aber – in mir selbst fühle ich, daß – und zwar in diesem Augenblick – irgend etwas bei den Meinigen vorgeht. Ich kann, so viel ich auch dagegen ankämpfe, das Bild meines Vaters nicht aus dem Sinn verlieren. – Fortwährend sehe ich ihn, bleichen, gramvollen Angesichts, in dem grünen Schlafrock mit dem dunkeln Käppchen vor mir auf- und abgehen und mit dem stählernen Uhrbehänge spielen – was er nur that, wenn er krank oder leidend war –, so deutlich höre ich dabei das leise klimpernde Geräusch, daß ich mich heute schon mehrmals im Zimmer umgeschaut habe, ob nicht irgend etwas die Ursache desselben wäre, aber es liegt mir allein im Ohr – Du – Ihr Anderen habt nie etwas davon vernommen.« »Du bist heute aufgeregt, Kind, das ist die ganze Sache,« beruhigte sie der Mann, »komm, laß uns zu Bett gehen, es wird spät und ich bin müde – die Lampe scheint überdies kein Oel mehr zu haben, sie will ausgehen.« 223
Ein leiser, winselnder Ton, der fast wie ein ferner Hülferuf klang, wurde in diesem Augenblick laut – man konnte nicht recht unterscheiden, ob er vom Hof oder aus dem Hause selbst herauf erschalle – der Wind brauste und rauschte auch noch zu sehr in der dicht neben dem Gebäude stehenden Linde, und heulte im Schornstein auf und nieder. Die Lampe verlöschte in diesem Augenblick, und der Pastor, der jetzt selbst, durch die Furcht der Frau vielleicht angesteckt, ein gewisses unheimliches Gefühl nicht ganz unterdrücken konnte, war eben im Begriff, in die daran stoßende Schlafstube zu treten, um von dort her einen kleinen, neben dem Feuerzeug stehenden Wachsstock zu holen, als die Gattin hastig und krampfhaft seinen Arm ergriff und mit vor innerer Angst fast erstickter Stimme, während sie die rechte zitternde Hand nach der andern Thür ausstreckte, flüsterte: »Sieh – sieh dort!« Der Pastor stand mit seiner Frau nahe der Schlafkammerthür und noch im Schatten der Wand in dem jetzt dunkeln Zimmer, während ein einziger Mondenstrahl in das obere Fenster und auf die gegenüberliegende Treppenthür fiel, aber auch durch eine dünne Gardine so weit gemäßigt wurde, um die Gegenstände, die er beleuchtete, nur undeutlich und unbestimmt erkennen zu lassen. Nichtsdestoweniger sahen die Gatten ganz genau, wenn sie auch nicht das mindeste Geräusch der Thür hörten, wie sich die blanke Klinke langsam bewegte und anscheinend von selber aufdrückte – gleich daraus öffnete sie sich eben so feierlich, und herein trat mit geräuschlosem Tritt eine Gestalt, die das Blut in Beider Adern stocken machte – der grüne Schlafrock, das schwarze Käppchen – die hohe, bleiche Figur – die Pastorin stand mit fast aus ihren Höhlen starrenden Augen, mit halbge224
öffneten Lippen – mit noch immer zeigend und zugleich abwehrend ausgestrecktem Arm da, und selbst der Mann blieb überrascht – bestürzt vor dem, was seine Augen sahen und nicht ableugnen konnten – in der einmal genommenen Stellung. Im nächsten Moment glitt die Erscheinung, sonst regungslos, langsam in den dunkeln Theil des Zimmers, und ein klimperndes Geräusch wurde laut, wie von Stahl an Stahl. Der Pastor fühlte, wie sich sein Weib an seinen Arm klammerte, und selbst von einem ihm unerklärlichen Entsetzen gefaßt, wußte er kaum, ob er stehen bleiben, ob vorspringen sollte. Da ließ der Druck an seinem Arm nach, und die Frau wäre zu Boden gestürzt, hätte er sie nicht rasch umfaßt und gehalten. Als er sich wieder nach der Erscheinung umdrehte, war diese verschwunden, und der Mond schien freundlich in das stille – leere Gemach. Der Pastor trug die ohnmächtig gewordene Frau auf ihr Bett und sprang dann mit dem rasch entzündeten Licht durch sein Zimmer – riß die Thür auf, eilte die Treppe hinunter, durch alle Gänge, faßte an allen Klinken, fand selbst das Hausthor verschlossen und pochte vergebens an des Küsters Stube an; der alte Mann lag schon lange in tiefem Schlaf und hörte ihn nicht. – Es war Alles so still, so unheimlich; auf den Gängen rauschte und flüsterte es, wie mit schleppenden Gewändern zog's treppauf treppab – den sonst unerschrockenen Mann faßte ein Schauder an, und mit Gewalt mußte er das Gefühl, das ihm die Brust zusammen zu schnüren drohte, von sich werfen. »Der Wind – der Wind!« murmelte er, wie um sich selbst zu beruhigen, leise vor sich hin und flog mehr als er ging die Treppe wieder hinauf. Dort aber raffte er sich 225
gewaltsam zusammen, betrat zuerst das Zimmer seiner Frau, um dieser beizustehen, stieg dann hinauf, wo ihre Magd schlief, weckte sie und gab ihr die nöthigen Aufträge, was sie zu besorgen habe. Dann untersuchte er noch einmal alle Laden und Thüren, ging sogar über den Hof, um zu sehen, ob das Hofthor verschlossen wäre, und that überhaupt Alles, was er nur mit ruhigster, kältester Besonnenheit hätte thun können; aber es geschah eben nicht mit kalter Besonnenheit – wie ein Nachtwandler, mit bleichem Gesicht und glanzlosem Auge schritt er von Ort zu Ort, und die Bewegungen seines Körpers glichen eher denen eines künstlichen Automaten als denen eines wirklichen, selbstbewußten Menschen. Sobald der Morgen dämmerte und seine Frau in einen ruhigen, stärkenden Schlaf verfallen war, schloß er sich in sein Zimmer ein, schrieb dort den ganzen Vormittag und siegelte mehrere Packete und Schriften ein. Selbst zum Mittagessen blieb er nicht vorn und sah nur einmal nach der Kranken, ob sich diese von den Vorfällen der letzten Nacht in etwas erholt habe. Nachmittags klopfte es an sein Zimmer, und als er den Riegel zurückschob, reichte ihm der draußen stehende Postbote einen Brief. – Er riß ihn auf, sah nach der Unterschrift – er war von seiner Schwägerin Regine – und las mit flimmernden Augen, während das Schreiben in seiner Hand zitterte und er die Züge kaum erkennen konnte, folgende in flüchtiger Eile hingeworfene Zeilen: Lieber Schwager! Gott hat uns gestern Abend auf schwere, entsetzliche Weise heimgesucht. Zwischen zehn und halb elf Uhr starb, wahrscheinlich an einem Blutschlage, mein armer Vater. Theilen Sie Elisen die Schreckenskunde vorsichtig 226
mit – ach, sein letzter, sehnsüchtiger Wunsch war ja, sie noch einmal vor seinem Ende zu sehen. Wenn es möglich ist, kommen Sie her; Elise wird aber Ihre Gegenwart gerade jetzt wohl schwerlich entbehren können. Ich schreibe in der Nacht und will den Brief noch vor dem Abgang eines Bahnzugs an einen Conducteur zur Beförderung schicken, daß er Sie wo möglich heute noch erreicht. Trösten Sie meine arme Schwester. Ihre Regine.« Acht Wochen waren verflossen – draußen auf Feldern und Wiesen keimte und grünte es, das Frühjahr hatte mit seinem warmen Hauch den starren Boden geküßt, und froh trieb dieser in immer neu auferstehender Kraft und Jugend saftreiche Gräser und Halme, und bunte, glänzende Blumen und Blüthen. – Zwischen neckend nach ihm hinunter schwankenden Zweigen rieselte freudig murmelnd der klare Waldbach hin, und aus südlicheren Zonen waren die munteren Sänger des Waldes wiedergekehrt und zwitscherten freudig an den alten lieb gewonnenen Plätzen, wo sie schon im vorigen Jahr so still und friedlich mitsammen gehaust. Die Luft war rein und lau, und auch vor der Pastorwohnung, unter dem blühenden Apfelbaum, von duftigen Holunderbüschen umgeben, saß, an der Seite ihres wackern Mannes, die erst von schwerer Krankheit erstandene Frau und schaute mit mattem Blick auf das fröhliche Wirken und Schaffen der herrlichen Welt. Ihre kräftige Natur hatte endlich das heiße Fieber besiegt, der Körper erholte sich wieder, wenn auch langsam, von dem erlittenen Anfall, und die Kräfte kehrten nach und nach zurück. Der nicht zu verscheuchende Trübsinn der Reconvales227
centin aber, ihr dumpfes, Stunden langes Träumen und Brüten – die Angst, die sie ergriff, wenn sie Abends, selbst auf Augenblicke, allein im Zimmer bleiben mußte, das Alles verrieth nur zu deutlich, wie sie jene Schreckensstunde nicht allein nicht vergessen habe, sondern die peinliche Erinnerung derselben auch noch im krankhaft erregten Gemüth hege und sich heimlich abzehre und gräme. Solche Furcht und Besorgniß mochte wohl das Herz des Gatten erfüllen, denn er hielt die Hand der Geliebten fest und innig in der seinen und schaute ihr wehmüthigfreundlich in das bleiche, leidende Gesicht, wagte aber doch nicht, den wunden Fleck zu berühren, der vielleicht geheilt werden konnte, vielleicht aber auch nur eines Anlasses, nur eines Wortes bedurfte, um mit neuer zündender Gewalt aufzubrechen und um sich zu greifen. Ueber die Vorgänge jener Nacht hatte er selbst mit Niemand gesprochen; nur seinem alten Freund, dem Schulmeister, vertraute er die Ursache der Krankheit seiner Frau, und theilte ihm dabei die näheren Umstände der Erscheinung und so bis zu den kleinsten Einzelheiten mit, daß der Schulmeister doch endlich zugestehn mußte, es sei ein höchst merkwürdiger Fall und bestärke ihn, wenn beide Gatten wirklich recht gesehen, nur immer noch mehr in dem, was er schon früher über Ahnungen gedacht und gesprochen. »Vor der Hand übrigens,« meinte er, »müsse er noch immer an der wirklichen Erscheinung zweifeln. Ja, wären die beiden Leute vorher nicht durch Geistergeschichten aufgeregt und gespannt gehalten worden, wäre irgend ein dritter, ruhiger Zuschauer dabei gewesen, dem dasselbe widerfahren, aber so –« Er schüttelte dann immer mit dem Kopf und wollte das Erlebte nicht zugeben.
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So saßen die beiden Gatten heute allein in der mit jungen Blättern schon bedeckten Laube, und die Frau, die sich merklich erholt, sog mit vollen Zügen die balsamische Luft ein. Die untere Gartenthür ging auf, der alte Küster kam mit dem Schulmeister den breiten Mittelgang herauf, und herzlich begrüßten die beiden Männer zu ihrem ersten Ausgange in Gottes schöner Luft die Kranke, während der Küster dem Pastor ein Schreiben überreichte, das, irgend ein Geschäft betreffend, augenblickliche Erledigung verlangte. Barenkamp erbrach und durchflog es rasch, und sagte dann, während er aufstand und sich dem Hause zuwandte: »Ich werde in wenigen Minuten damit fertig sein, und Ihr könnt es gleich wieder mit zurücknehmen, Münzer. Bleibt Ihr Beiden indeß bei meiner Frau und vertreibt ihr die Zeit ein bischen; sie wird gern einmal wieder auf die Plaudereien aus dem Dorfe horchen.« – Der Pastor ging schnell in's Haus. »Was macht Ihr, Münzer?« sagte die Frau und streckte dem alten Mann die weiße, abgezehrte Hand entgegen. »Ihr schaut jetzt recht gut und wohl aus – die Frühlingsluft scheint Euch zu bekommen. Setzt Euch zu mir – bitte, Schulmeister, nehmen Sie Platz; was macht Euer Gärtchen – Eure Kuh – Euer kleines Stück Feld? – Wir haben uns recht lange nicht gesehen.« »Ach, beste Frau Pastorin,« erwiderte der Greis und faßte und streichelte die ihm gebotene Rechte – »seit acht vollen Wochen, seit dem Abend nicht, wo der Sturm die alte Linde an der Kirchhofsmauer umriß und Hammers unten im Dorf den Schornstein mitten in die Stube warf, der beinahe das jüngste Kind erschlagen hätte. Das war in jeder Beziehung eine böse Nacht, und ich meinestheils 229
werde sie im Leben nie vergessen. Sie, Frau Pastorin, sind ja auch damals krank geworden und haben sich gelegt. Ich weiß noch recht gut, am nächsten Mor – aber, lieber Gott, fehlt Ihnen etwas?« »Es ist doch am Ende zu kalt hier draußen, Frau Pastorin,« unterbrach ihn hier rasch der Schulmeister, der ein dorthin führendes Gespräch sobald als möglich abzuschneiden wünschte. »Sie möchten lieber hineingehen in's warme Zimmer – soll ich Sie vielleicht geleiten?« »Ich danke, ich danke, Herr Wendler,« sagte die Frau und hielt sich nur wenige Secunden lang das Tuch gegen die Augen gepreßt. Zum ersten Mal wurde hier in ihrer Gegenwart, seit sie ihres Vaters Tod erfahren, jener Abend erwähnt, und sie mochte jetzt die Männer nicht merken lassen, wie sie der Gedanke daran erregte. »Es war nur ein leichter Uebergang,« fuhr sie dann, mit einem halblächelnden Zug um den Mund, fort – »ein leichter Uebergang sich oft einstellender Schwäche – ich habe meine alten Kräfte noch nicht wieder – es wird gleich vorbei sein. Doch – laßt Euch nicht irre machen, Münzer – Ihr nanntet jene Nacht eine böse; ist auch Euch – ist Euch etwas darin geschehen, daß Ihr sie nie wieder vergessen könntet?« »Lassen Sie jene Nacht, beste Frau Pastorin,« bat sie der Schulmeister, »die ist lange vorüber; weshalb immer wieder auf sie zurückkommen? Münzer kann Ihnen eine andere treffliche Neuigkeit berichten; der Gutsherr hat ihm das kleine Stückchen Feld, das er bis dahin bewirtschaftete, verdoppelt und hinlänglichen guten Samen zu Kartoffeln versprochen.« Die Frau hielt indessen ihr Auge fest und forschend auf den alten Mann geheftet; es war unverkennbar, daß irgend ein Gegenstand alle seine Gedanken gefesselt 230
hielt, denn er beachtete nicht einmal das, was ja bisher, wie die Pastorin recht gut wußte, sein höchster Wunsch gewesen. Etwas Anderes ging ihm im Kopf herum, und jene Nacht mußte damit in Verbindung stehen. Der leicht erregbare Zustand der Kranken faßte denn auch, besonders nach diesem Punkt hin, den geringsten Faden mit zitternder Schnelle auf. »Was ist Euch geschehen, Münzer?« flüsterte sie und griff, die Hand des Schulmeisters zurückdrängend, nach seinem Arm – »was ist – sagt mir – was ist mit jener Nacht?« »Geschehen gerade nichts, Frau Pastorin,« erwiderte der Greis und schnitt verlegen mit dem Rand seiner Sohle in den gelben Kies ein – »geschehen gar nichts, aber – wenn Sie es denn wissen und – mich nicht auslachen wollen – ich hatte eine Erscheinung.« »Münzer!« rief der Schulmeister vorwurfsvoll, und der alte Mann sah erst jetzt, als er die Augen vom Boden hob, zu seinem Schreck, welchen Eindruck die wenigen Worte auf die Frau gemacht hatten. »Ihr saht – Ihr saht meinen Vater!« rief diese mit heiserer, kaum vernehmlicher Stimme – »gesteht es nur – gesteht – Ihr saht an jenem Abend meinen Vater – Münzer!« Die Kranke war in fürchterlicher Aufregung, und der Küster hätte Gott weiß was darum gegeben, kein Wort von der ganzen Geschichte gesagt zu haben; doch zu spät. Auch der Pastor, der gerade jetzt wieder aus dem Hause trat und bestürzt erkannte, welcher Fehlgriff gemacht sei, war nicht mehr im Stande, seiner Frau das einmal fest und krampfhaft erfaßte Ziel zu entrücken. Hören wollte sie, hören von des Küsters eigenen Lippen, was er gesehen, die Gewißheit wollte sie haben, daß ihr 231
Vater selber sie gerufen, »und dann, dann« – meinte sie und strich sich die Haare aus der feuchten, weißen Stirn – »werde sie ruhiger – werde ihr besser werden.« Es blieb keine andere Wahl, als ihr zu willfahren, und der Pastor forderte zuletzt selbst den alten Mann auf, was er wisse, bei seiner Seele Heil aber kein falsches, übertriebenes Wort zu sagen. »Ach, lieber Herr Pastor,« erwiderte der Greis, »wollte doch Gott, ich hätte ganz geschwiegen, noch dazu, da ich nicht einmal etwas Bestimmtes über die Gestalt sagen kann.« »Die Gestalt?« wiederholte, kaum bewußt, die Kranke – »wo war sie – wie sah sie aus?« Der Schulmeister stand bestürzt und ängstlich daneben – jetzt schien sein letzter Einwurf gehoben – und welchen Eindruck mußte eine solche Bestätigung auf die reizbare Kranke machen? »Genau weiß ich's nicht,« flüsterte der alte Mann und sah sich selbst hier im hellen Sonnenlicht scheu um, als ob ihm der Gedanke an das Geschehene noch Schauder erwecke; »doch es wird vielleicht besser sein, Ihnen das Ganze nur in wenigen Worten mitzutheilen. Ich hatte mich nämlich an dem Abend schon früh, weit früher als gewöhnlich, in's Bett gelegt; das Wetter war stürmisch, und mein altes Reißen plagte mich wieder einmal ganz absonderlich. Sobald ich aber einzuschlafen versuchte, störte mich ein häßlich ächzendes Geräusch, das, wie ich gar bald fand, von dem offen gelassenen Fensterladen der Sakristei herrührte. Nun hätte ich allerdings leicht hinübergehen und den Laden schließen können, noch dazu, da ich fürchten mußte, der Wind bräche ihn vielleicht die Nacht aus den Angeln, und von der kleinen Hinterthür, die aus meinem Zimmerchen hinüberführt, sind's ja, wie 232
Sie wissen, nur wenige Schritte – ich hatte aber die Schlüssel in des Herrn Pastors Studirstube liegen lassen« (der Schulmeister hob schnell den Kopf und sah den Küster forschend an) »und scheute mich hinaufzugehen und zu stören. So lag ich bis nach zehn Uhr; da jetzt das Geräusch aber immer ärger wurde und ich nun auch ziemlich gewiß wußte, Sie wären oben Alle zu Bett – denn an der Linde, die vor meinem Fenster steht, kann ich es deutlich sehen, wenn oben in der großen Eckstube noch Licht ist – zog ich meine Filzschuhe und meinen alten Schlafrock an und schlich leise die Treppe hinauf.« »Ihr waret an jenem Abend in meinem Zimmer?« rief der Pastor, und die Lippen der Frau theilten sich in Staunen und Ueberraschung. »Auf der Treppe schon klang mir's unheimlich und laut,« frug der Greis, die Frage nicht beachtend, fort »das stürmische Brausen um das Haus wurde hier, in dem umschlossenen Raum, zum leisen Flüstern und Zischeln, und ich öffnete rasch die Thür und schritt dem wohlbekannten Platz zu, wo der Herr Pastor immer Abends die Schlüssel hinlegt, damit ich sie früh finden kann. Schon hatte ich sie gefühlt und in die Hand gefaßt, denn ein schwacher Mondstrahl fiel in dem Augenblick durch's Zimmer, als ich – das Blut stockt mir noch jetzt in den Adern, wenn ich daran denke – ein leises Stöhnen vernahm und, den Kopf rasch danach umwendend, eine helle Gestalt erkannte, die im Begriff schien, die Arme nach mir auszustrecken. Im nächsten Augenblick stand ich vor Entsetzen stumm und regungslos; als ich jetzt aber wirklich sah, daß sich die Erscheinung regte, als ich das weiße Grabtuch rauschen hörte, da kann ich nachher nicht einmal mehr sagen, wie ich aus dem Zimmer kam, nur so viel erinnere ich mich noch, ich glitt die Treppe hinunter, 233
sprang in meine Kammer, die ich hinter mir verschloß – in's Bett, hüllte mich in die Decke ein und betete heiß und brünstig zum lieben Herrgott, daß er alles Unglück von mir und diesem Hause abwenden wolle.« »Und der Fensterladen?« frug der Schulmeister und ergriff lächelnd des Pastors Hand. »Der Wind legte sich bald nachher,« meinte der alte Mann, »und das Aechzen hörte auf; wär's aber auch noch so stürmisch gewesen, an dem Abend hätten mich nicht zehn Pferde mehr in die Sakristei gebracht.« »Elise!« sagte der Pastor und zog das bleiche, zitternde Weib leise an sich – sie zögerte einen Augenblick, schaute noch zweifelnd – zaudernd vor sich nieder, und barg dann mit lautem Schluchzen den Kopf an ihres Gatten Brust. »Meine gute Frau Pastorin!« bat der alte Mann bestürzt. »Alterchen,« rief jetzt der Schulmeister und zog den Arm des erstaunten Küsters in den seinen, »Ihr habt heute Morgen den gescheitesten Streich gemacht, der sich nur denken läßt; nun kommt aber, meine prächtige Geistererscheinung, hier ist Euer Document, heute Mittag müßt Ihr bei mir essen.« »Aber, Herr Schulmeister – ich begreife nicht –« »Ist auch gar nicht nöthig, Schätzchen – ist auch gar nicht nöthig; nur jetzt ein bischen die alten Knochen gerührt. Hurrah, Küster, ich bin so fidel, ich könnte, glaub' ich, eine Menuet tanzen und mir die Melodie selber dazu pfeifen!« Und ohne dem alten Mann auch nur Zeit zu lassen, noch ein einziges Wort an die weinende Frau zu richten, zog er ihn rasch den Gartenweg hinunter und verschwand mit ihm durch die hintere Thür. Und die Kranke? 234
Nur wenige Wochen sind seit jenem Morgen verstrichen, in der Pfarre giebt's aber keine Kranke mehr – des Pastors wackere Hausfrau wirthschaftet wieder, wenn auch noch etwas bleich und angegriffen, doch mit vollen, rüstigen Kräften im Haus herum; auch der Schulmeister und Verwalter kommen, wie früher, manchmal Abends herüber und verplaudern ein Stündchen – nur Geistergeschichten werden nicht mehr erzählt – und der Küster nimmt jetzt den Schlüssel zur Sakristei gleich Abends mit in seine Stube, damit der alte Mann nicht mehr Morgens die Treppen zu steigen braucht, um sie herunter zu holen.
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