Giganto meldet: Erdschiff verloren 01. Das Gespenst im Feuer In den Orten an der schönen und wilden französischen Atlant...
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Giganto meldet: Erdschiff verloren 01. Das Gespenst im Feuer In den Orten an der schönen und wilden französischen Atlantikküste waren die Feuersirenen verstummt. Dafür hörte man von früh bis spät die klagenden Laute der Signalhörner vieler Feuerwehrfahrzeuge. Wie enorme, sonderbare Insekten aus einer anderen Welt, blindlings und kopflos, hasteten sie über Land. Von Monton bis zum berühmten Campingplatz über den Dünen von Nort brannten seit Tagen die Wälder. Superhirn und seine Freunde, die im Schlößchen von Monton ihre Ferien verbrachten, hatten so etwas noch nicht erlebt. Gérard und Prosper, aber auch Henri und seine Schwester Tati halfen den Aufgeboten beim Schippen. Natürlich schloß sich Henris und Tatis kleiner Bruder Micha nicht aus. Und auch der schwarze Zwergpudel Loulou war immer dabei, obwohl er nichts Rauch. „Warum das Feuer gerade hier ausbrechen mußte wo immer Wind weht“, keuchte Tatjana. „Landeinwärts regt sich kein Grashalm.“ Gérard grinste. (Die anderen neckten ihn damit, daß er einen „Fußballkopf“ habe. Er war nicht nur ein Fußballfan, sondern selber ein begeisterter Kicker.) In seinem Rundgesicht erkannte man die weißen Zähne. „Unser Gärtner läuft seit Tagen mit einem Heiligenschein rum. Weshalb7 Er hat eine ringförmige Tabakwolke geblasen. Die löst sich nicht auf!“ Ach falle gleich um - vor Lachen!“ sagte Prosper humorlos. Superhirn, der spindeldürre Junge mit den enormen, kreisrunden Brillengläsern, der eigentlich Marcel heißt, verdankte seinen Spitznamen seiner Blitzgescheitheit. Er blickte zwischen Baumstämmen und Büschen hindurch auf das abendliche Meer. Er hatte eine Beobachtung gemacht, die ihm nicht gefiel. „Hier weht immer 'ne leichte Brise“, sagte er. „Die treibt das Feuer natürlich weiter.“ Feuerwehrleute, Polizisten, Soldaten, Bauern, Bürger aus verschiedenen Ortschaften und Feriengäste aus allen Teilen der Welt hackten und schaufelten Gräben von der Straße her durch den Pinienwald bis zu den Sanddünen, um den Flammen den Weg abzuschneiden. Superhirn, Gérard, Prosper und die Geschwister Henri, Tati und Micha hatten den Rand des Waldes erreicht. „Was soll man hier schippen?“ schnaufte Micha. „Das ist ja Sand für 'ne Sanduhr. Das Zeug rieselt immer zurück!“ „Pause!“ schlug Henri vor. Die Gefährten setzten sich auf einen Dünenbuckel. Aus ihren Feldflaschen tranken sie Zitronensaft, den ihnen ihre „Ferienmutter“ mitgegeben hatte. begann Prosper, „haben wir viel erlebt. Ich wollte, Professor Charivari käme mit seinem Erdschiff Giganto. Da drin braucht man sich nicht so abzuplacken. Außerdem kann der Giganto durch flüssige Lava fahren. Sogar durch die glühendste Hölle - haha - ohne, daß man's merkt!“ „Du sollst den Professor nicht erwähnen“, mahnte Tati. „Seine Erd- und Raumschiffe erst recht nicht. Die sind sein Geheimnis.“ „Und zu-zu-zufällig auch unseres!“ rief Prosper. mit seinem Halstuch versuchte er vergeblich, sich den Ruß aus dem Gesicht zu wischen. „Für Professor Charivari wär's 'ne Kleinigkeit, so einen Waldbrand zu löschen. Der hat doch die tollsten Geräte!“ „Und er hat auch die gefährlichsten Feinde“, warnte jetzt auch Superhirn. „Feinde, die uns überall nachstellen, weil wir Charivaris Mitwisser sind. Ich hab die ganze Zeit gefürchtet, im Durcheinander der Brandbekämpfung könnte sich einer an uns ranmachen.“ Superhirn reinigte seine Brillengläser. Die Gefährten sprachen wieder über das Feuer. Keiner merkte, daß Micha vor Schreck verstummt war. Der blitzgescheite Freund hatte den Nagel auf
den Kopf getroffen: Micha erinnerte sich an einen Mann, der sich in den Rauchschwaden an ihn „rangemacht“ hatte. Der Kerl erschien ihm immer unheimlicher, immer entsetzlicher, je mehr er an ihn dachte. Trotz der sengenden Hitze saß der Junge wie zu Eis erstarrt. Er brachte kein Wort heraus. Ahnungslos redeten die Freunde weiter. „Wenn der Rauch sich mit Schweiß vermischt“, grinste Henri, „wirkt er wie Schmiere. Da kannst du lange wischen, Prosper. Sei wenigstens froh, daß du keinen Teergestank in der Nase hast, sondern Weihrauch!“ „Weihrauch? Klar! „ meinte Tati. „Hier sind ja Pinienwälder. Und wenn ich mich nicht irre, ist im Weihrauch auch Pinienöl. Sicher. Wie in den Shampoos und Cremes und Seifen und Badezusätzen. So wie Fichtennadeln. Nur sind Pinien was Feineres.“ „Seht mal an!“ staunte Gérard. Es war schon beinahe Mitternacht und nahezu dunkel. Nahezu, denn im Sommer war der Himmel bei gutem Wetter nie ganz schwarz. Die großen, fast birnenförmigen Pinienzapfen glühten schaurig-schön auf, als wollten die vom Brand betroffenen Bäume ihr Ende signalisieren. Die Rauchschwaden verwehten unter dem gewaltigen, freundlichen Nachthimmel. Und der endlose atlantische Ozean lag völlig gleichgültig da. Superhirn lachte leise. „Ein oller Lehrer an der Schule hat mal gesagt. Die Elemente kümmern sich nicht umeinander!' Wenn ich das so sehe, meine ich, der alte Herr hatte recht.“ Die Freunde hatten in Monton schon Unglaubliches mitgemacht. So leicht imponierte ihnen nichts. Aber dieser Küstenwaldbrand, der sich vom sogenannten „Weißen Horn“ bis zum „Kleinen Kap“ mit dem Leuchtturm „Napoleon“ erstreckte, war eine unvergleichliche, in doppeltem Sinne atemberaubende Schau. So fiel es selbst Superhirn nicht auf, daß Micha noch immer wie vor den Kopf geschlagen dahockte. Er meinte, der Jüngste sei am meisten von dem Naturschauspiel beeindruckt. Daß Micha bereits vom neuen Giganto-Abenteuer „berührt“ worden war, wußte er ebensowenig wie Gérard, Prosper und die Geschwister Henri und Tati. „Überall an den Küstenstraßen sind Schilder mit einer durchgekreuzten Zigarette“, sagte Tati. „Der Dümmste sieht, daß er nicht rauchen soll. Und das da ist nun der Erfolg!“ „Quatsch!“ murmelte Henri. „Ich meine mit 'ner durchgekreuzten Zigarette ist es nicht getan! Da müßtest du vieles durchkreuzen!“ „So ziemlich alles, was Ausflügler mitschleppen, ist feuergefährlich“, sagte Superhirn. „Besonders bei dieser Wüstenhitze. Nicht nur Spraydosen. Ganz einfache Glasflaschen, sogar Folien, können die Brennglas-Wirkung einer Lupe haben. Ein Campinglager mit allem Drum und Dran - in so einem Wald - ist Gefahrenzone Nummer eins.“ Irgendwo, von der Straße her, „ackerten“ Bulldozer Schneisen durchs Gehölz. Der klagende Schrei der Signalhörner kam und ging. Die Kesselwagen der Feuerwehrfahrzeuge mußten fortwährend in die Ortschaften zurück, um neues Wasser zu holen. „Versteh ich nicht“, meinte Tati mit einem Blick auf das dunkle Meer. „Da ist Wasser genug, um ganze Landschaften zu überschwemmen. Und die Feuerwehrleute verfahren Zeit und Benzin, um das Wasser fingerhutweise - und von weit her - zu holen.“ „Mit Seewasser kann man zwar das Feuer löschen“, erklärte Superhirn, „aber da es stark salzhaltig ist, würde man damit nicht nur die Natur zerstören, man könnte auch alle Feuerwehrgeräte nach wenigen Salzwasser-Einsätzen wegschmeißen.“ Er blickte jetzt auch aufs Meer. „Was guckst du so?“ fragte Prosper beunruhigt. „Du tust ja, als könnte das auch brennen7“ „Ich achte nur auf den Flugzeugträger“, erwiderte Superhirn. Der Flugzeugträger war in allen Küstenorten angekündigt worden. Er sollte an einer „Flottenschau“ für die Feriengäste mitwirken. Jetzt schickte er Hubschrauber mit Wassersäcken über das Brandgebiet. Wenn so ein „Vogel“ mit seiner Last am Seil in den Rauch flog, sah das nicht gerade wirksam aus. Man dachte, der Abwurf einer solchen „Wasserbombe“ könne nur einen Tropfen auf einen heißen Stein bedeuten. Wenn aber die Reißleine den Sack geöffnet hatte, kam das Wasser wie
ein Teppich mit mörderischer Gewalt auf die Brandstellen herab. Nur mußte die Aktion über Funk exakt abgestimmt sein. Die „Ladung“ durfte die Brandbekämpfer am Boden nicht treffen. „Seit einer Stunde haben wir ablandigen Wind“, sagte Superhirn. „Der Rauch zieht übers Meer davon.“ „Na und? Das ist doch gut!“ rief Gérard. „Nicht für das Fischernest Lyon“, brummte Superhirn. „Das liegt wie 'ne Suppenterrine in der Waldküste. Da!“ Er sprang auf. Wie eine illuminierte Wasserprozession bewegte sich eine Reihe von Fischerbooten auf die offene See hinaus. Wäre der Küstenbrand nicht gewesen, hätten alle an eines der üblichen Volksfeste gedacht. „Die - die brennen!“ schrie Prosper. „Worauf Superhirn gewartet hat“, staunte Henri. „Mensch, du solltest dich als Hafenbrandmeister anstellen lassen!“ „Da ist auch das Schaumlöschboot“, sagte Gérard. „Und sogar das größte Europas. Das Ding mit den Schwenkarmen schwimmt schon seit Tagen draußen rum“, erinnerte Superhirn. In diesem Moment erlangte Micha seine Sprache wieder. Er stieß einen gellenden Schrei aus. Er schrie so laut und schrill, daß sogar der Pudel verstummte. Und das wollte etwas heißen. „Da ... „ schrie Micha. „ Da ... !“ Aber Micha zeigte nicht aufs Meer hinaus, sondern über den Sandstreifen hinweg auf den Wald, den die Freunde vorhin verlassen hatten. „Der Mann! Da ist er wieder ...“ „Welcher Mann7“ Tati riß geistesgegenwärtig den Pudel an sich. Alle hatten die Köpfe gewandt. Vor dem teils tiefschwarzen, teils glühenden, von Schwaden durchzogenen Hintergrund stand eine hochgewachsene, hagere Gestalt. Sie trug den Helm der hiesigen Feuerwehren, wodurch der Schattenriß grotesk an einen spätmittelalterlichen Ritter erinnerte. „Geht weiter runter zum Wasser!“ rief das Gespenst. „Der Baum neben euch ist gefährlich! Beeilt euch!“ Die unheimliche Gestalt fügte noch etwas hinzu. Doch darüber nachzudenken, blieb keine Zeit. Erst mußten sie weg! „Lauft!“ schrie Superhirn. „Rennt auf die Brandung zu! Schnell! Es geht um unser Leben!“
2. Ein Baum mit Zeitzünder Tati und die Freunde ließen ihre Spaten liegen. Sie trudelten die steile Düne hinab und liefen zum Wasser. Wo der Boden feucht und von Muschelschalen durchsetzt war, warfen sie sich hin. Das Mädchen hielt den hustenden, zappelnden Pudel umklammert. Sie lagen kaum auf dem Sand, da geschah etwas Unheimliches mit der riesigen, schiefen, knorrigen alten Pinie, in deren Nähe sie sich ausgeruht hatten. Der eigenartige, verwachsene alte Baum stand weit außerhalb des Brandgebietes. Zwischen ihm und dem Wald walzten Bulldozer breite Schneisen. Unzählige Leute schippten Gräben. Die Gefahr des Funkenflugs war seit einer Stunde gebannt, nachdem ein leichter, ablandiger Wind aufs Meer hinaus blies. Und dennoch barst der Baum. Er war explodiert wie eine Bombe! Es gab ein schmetterndes Geräusch, das die Trommelfelle zu zerreißen drohte, ihm folgte ein ohrenbetäubendes „Wumm“. Hinter der Düne sahen die Freunde eine riesige Stichflamme aufschießen. Eine ganze Weile prasselte es Holzstücke und Pinienzapfen. Glühende Piniennadeln tanzten hoch über ihren Köpfen seewärts. „Der - der Ma-ma-mann hat den Ge-ge-geisterbaum hochgehen lassen“, stammelte Micha. Superhirn stand auf. Er grinste: „Nee, Micha. Bestimmt nicht. Der Mann war so nett, mich auf was hinzuweisen, das ich selber hätte wissen müssen. Kommt! Wir sehen uns das mal an.“ Die Gefährten umstanden die glimmende Trümmerstätte. „Ja“, murmelte Superhirn. „Der alte Baum
ist regelrecht explodiert!“ „Also wollte man uns etwas anhaben!“ hauchte Tati. „jemand hat 'ne Bombe im Geäst verborgen und 'ne Zündschnur gelegt! Man hat gemeint, bei dem Brand würde das nicht auffallen.“ Jetzt lachte Superhirn. „Das wäre ein bißchen umständlich gewesen, findest du nicht7 Aber mit der Zündschnur hast du recht. Nur war's eine natürliche und keine künstliche.“ „Du sprichst wieder mal in Rätseln“, brummte Gérard. Prosper rieb sich die spitze Nase. Er war genauso aufgeregt wie der Pudel. „Nun red doch schon!“ krächzte er. „Moment, Moment!“ Superhirn äugte angespannt umher. Schließlich richtete er sich auf. „Klar! Der Baum war sehr alt. Aber daneben gab es weit ältere, die im Laufe der Zeit verschwunden sind, weil sie morsch waren oder gefällt wurden. Teile der ineinandergewachsenen Wurzeln sind aber geblieben, und diese Wurzeln haben wie Zündschnüre gewirkt. Vom Wald her hat sich die Glut seit Tagen immer weiter gefressen - bis ins Innere dieses einsam stehenden Baumes. Der stand scheinbar so schön geschützt und unberührt. In Wahrheit war er schon eine scharfgemachte' Sprengbombe, als wir in der Nähe saßen.“ „Aber ich hab nichts gesehen! „, rief Micha. „Keinen Funken, nicht mal einen, der so klein war wie 'n Glühwürmchen!“ „Nein! Die Rinde mußte erst platzen, und es mußte Luft hinzukommen“, sagte sein älterer Bruder Henri ruhig. „Das alles ist kein Teufelswerk, auch wenn wir fast so verdonnert sind wie der Pudel. Unterirdische Schwelbrände, die plötzlich - und nach Tagen - an 'ner ganz unvermuteten Stelle ausbrechen, gibt's häufig in Heidegebieten, in Moorlandschaften. Und da, wo verborgene Öladern sind.“ Vom Wald her schwankten Lichtkegel von Stablampen auf die Freunde zu. Sie erkannten eine Gruppe von Feuerwehrmännern. „He, ist euch was passiert?“ fragte der eine mürrisch. „Nein“, sagte Superhirn. „Wir haben unsere Schippen hingeworfen und uns über die Düne gerollt.“ „Also geholfen habt ihr!“ sagte ein anderer anerkennend. „Immer noch besser, als in der Menge von Neugierigen die Zufahrtswege zu verstopfen. Die Leute kommen über Hunderte von Kilometern her, um sich den Waldbrand anzusehen. Und bringen auch noch ihre Omas und Babys mit.“ Ein dritter Feuerwehrmann meinte: „Wir sind für jede Hilfe dankbar, Kinder. Es wäre nur besser, unkundige Brandbekämpfer würden sich bei einem von uns Rat holen. Trockene Nadelwälder sind verdammt gefährlich. Schätze, ihr habt einen schönen Schreck gekriegt. Fahrt mal jetzt nach Hause und ruht euch aus. Habt´s verdient!“ Superhirn, Prosper, Gérard und die drei Geschwister stapften auf die Straße zu. Henri trug den hechelnden und hustenden Zwergpudel Loulou. „Der gespenstische Feuerwehrmann, der uns vorhin gewarnt hat, war eben nicht dabei?“ vergewisserte sich Tati. „Nein“, sagten Superhirn und Micha zugleich. Micha berichtete aufgeregt: „Dem bin ich ja schon viel früher begegnet. Aber in dem Trubel hab ich mich nicht lange gewundert. Es ging ja alles durcheinander.“ „Und?“ drängte Prosper ungeduldig. „Erst, als Superhirn sagte, einer von unseren Feinden, diesen - diesen Untermenschen, könnte sich jetzt unauffällig an uns ranschleichen...“ „Ich sprach von Professor Charivaris Gegnern, die natürlich auch uns nachstellen, weil wir Charivaris Geheimnisse kennen“, stellte Superhirn richtig. „Ja“, sagte Micha. „Da fiel mir ein, es hatte sich längst einer an mich rangemacht!“ Die anderen blieben stehen. „W-was???“ Es schien, als hätte Prosper die Maulsperre. „Willst du etwa behaupten, du hast erst viel später begriffen, daß dir so 'n unheimlicher Bursche nachgetappt ist?“ grollte Gérard. „Genau!“ rief Micha kläglich. „Aber warum hast du kein Sterbenswörtchen gesagt?“ fragte Henri.
„Ihr wart mit euren Spaten schon voraus“, verteidigte sich der Jüngste. „Ich mußte stehenbleiben, weil die Feuerwehr einen Baum kappte. Da bellte Loulou schrecklich. Ein großer Mann zog mich am Arm. Er sagte: ´Vorsicht! Die Zweige!' Und weil er einen Feuerwehrhelm trug, hielt ich ihn für so 'ne Art Befehlshaber.“ „Weiter!“ rief Tati. „Kinder, ich ahne was!“ „Der Mann mit dem Helm sagte: Übrigens verlierst du deine Armbanduhr“, fuhr Micha fort. „Er war nämlich irgendwie an mein Handgelenk gekommen.“ „Irgendwie!“ stotterte Prosper höhnisch. „Ruhe!“ gebot Superhirn. Er wirkte sehr gespannt. „Und dann, Micha?“ „Er befestigte meine Uhr. Dabei trällerte er vor sich hin, so wie jemand, der einen Kiesweg harkt.“ Nun erhob sich ein Sturm der Entrüstung. „Willst du uns auf den Arm nehmen?“ rief Gérard. „Dir sind wohl die Flammen ins Gehirn geschlagen! „ ärgerte sich Tati. „Dein Dunkelmann singt im brennenden Wald alberne Lieder! Hihi! Wir hätten dich zu Hause lassen und mit einem Schnuller ins Bett schicken sollen!“ Prosper geriet außer Atem. „Trä-trä-trällert“, begann er immer wieder. „Ein Lie-lie-liedchen...“ „So 'n Quatsch! So 'n Quatsch“, murmelte Henri. „Freunde, mir scheint, ihr habt einiges vergessen“, unterbrach Superhirn. „Ich glaube Micha jedes Wort! Ich sage: jedes!“ Er wandte sich ernst an den Jüngsten. „Sing mal so ungefähr, was der Mann geträllert hat! Nur so ungefähr. Auch, wenn kein Text dabei war.“ Micha überwand seine Verlegenheit. „Es war was ganz Bekanntes. Man hört´s jeden Tag im Radio: Tatata - tatata - tatatatata!“ „Esperance - Hoffnung!“ rief Tati erstaunt. „Das ist jetzt der Hit! Und der Text lautet: Warte nur, hab Geduld! Bald hol ich dich ab!“ Die Freunde schwiegen. Sie standen reglos, als gehörten sie zu den unverbrannten Pinien des Waldes. Der Pudel auf Gérards Arm winselte leise. „Erst dachte ich mir nichts dabei“, sagte Micha. „Nachher kam mir der Mann immer schrecklicher vor. Es war mir, als hätte ich ihn schon oft gesehen - oder als hätte ich schon von ihm geträumt. Es ging was ganz Entsetzliches von ihm aus!“ „Der Ragamuffin!“ hauchte Tati. „Der unbekannte Gangsterchef aus dem Erdinnern!“ Der Ragamuffin war nicht etwa ein „Teufel“ oder eine dem Aberglauben entstammende Fabelgestalt, sondern ein Mensch oder doch ein menschenähnliches Wesen mit zerstörerischen Fähigkeiten. Er und seine Untertanen, die Vavas, hausten in einer nicht ortbaren Machtzentrale irgendwo im Innern der Erde. Kein Wissenschaftler der Welt wußte etwas von seiner Existenz, geschweige denn von seinen Absichten. Keiner - außer Professor Charivari, der väterliche Freund der jungen Gefährten. Doch selbst Professor Charivari hatte lediglich die in jeder Beziehung „unfaßbarenen“ Kräfte des Ragamuffins zu spüren bekommen - gesehen hatte er den Erd-Boß noch nicht. Obgleich er mit seinem geheimen Erdschiff Giganto mehrfach ins Innere der Erde vorgestoßen war, um die Zentrale des weltgefährdenden Gegners zu vernichten. Superhirn und seine Freunde waren zufällig Mitwisser des Professors geworden. Auch hatten sie einige Verstöße in der Erdrakete mitgemacht. Darum stellte ihnen der Ragamuffin nach. „Und d-d-das“, stotterte Prosper, „sagst du uns jetzt erst! He! Das mit dem e-e-explodierenden Baum war d-d-doch kein Zufall! Der Ragamuffin hat ihn hochgehen lassen. Er - er wollte uns vern-nnichten!“ „Es ist ihm nicht gelungen! Deshalb wird er´s auf andere Weise versuchen“, prophezeite Gérard düster. „Mahlzeit, Freunde! Jetzt können wir uns auf was gefaßt machen! Dagegen dürfte dieser Waldbrand ein kleines Freudenfeuerchen gewesen sein!“ Der Pudel zappelte wild auf Henris Arm. „Nun hört mal auf zu spinnen!“ sagte Superhirn scharf. „Der unheimliche Riese, den ihr für den Ragamuffin haltet, hat uns doch gewarnt - oder nicht?“ „Ja!“ erwiderten die anderen wie aus einem Munde. Sie waren sehr verblüfft.
„Also fällt ein Attentat erst mal flach. Wenn der freundliche Warner derselbe war, der sich an Micha ranmachte, kann er auch vorher nur gute Absichten gehabt haben“, fuhr Superhirn fort. „Ich erinnere mich, daß er uns noch etwas zugerufen hat, nachdem er uns auf den Baum aufmerksam machte. Nämlich: Achtet auf die Uhr! Jetzt ist mir klar - er hat Michas Uhr gemeint! Zeig deine Armbanduhr mal her, Micha!“ Der Jüngste gehorchte. Schwupp - hatte Superhirn sie in der Hand. „Hier, nimm meine dafür“, sagte er schnell. „Was ist mit dem Ding?“ fragte Henri. „Die Uhr ist ausgewechselt worden! Diese - hier - ist nicht nur eine Digital-Uhr mit schwarzem Zifferblatt und abrufbaren Wechselziffern“, murmelte Superhirn. „Das ist ein elektronischer Fernschreiber, der in winzigen Lichtpunkt-Buchstaben Nachrichten übermittelt.“ Henri setzte den Pudel ab. Die Jungen und das Mädchen steckten ihre Köpfe über der geheimnisvollen Uhr zusammen. Statt der Zeit las man auf dem Zifferblatt das Wort: Alarm! „Mensch!“ Henri schlug sich vor den Kopf. „Der unheimliche Mann ist niemand anders als Professor Charivari gewesen!“ „Ihr merkt auch alles, und mögen Jahre darüber vergehen“, grinste Superhirn. „Und mit dem Summen des bekannten Schlagers wollte der Professor sagen, daß wir auf ihn warten sollen. Sicher holt er uns mit dem Giganto ab.“ Die Freunde schwatzten aufgeregt durcheinander. Waff, waff - wuff, wuff, bellte Loulou. Er war froh, seine geliebten Zweibeiner wieder so lebhaft zu sehen. „Ich verstehe aber manches nicht“, überlegte das Mädchen. „Warum hat Professor Charivari uns nicht gleich mitgenommen? Alarm - das bedeutet doch nichts anderes, als daß die Ragamuffin-Spione wieder in der Gegend sind! Und weshalb hat er nicht Superhirn, sondern Micha die Signaluhr gegeben?“ „Nimm an, Charivari fürchtet oder weiß, daß Vava-Kundschafter hier herumwimmeln“ sagte Tatis Bruder Henri. „Dann wird er sich absichtlich nicht mit Superhirn besprechen. Das fällt doch viel eher auf. Er hat damit gerechnet, Micha teilt Superhirn das Auswechseln der Armbanduhr mit - und Superhirn begreift. Tja, und warum er uns nicht gleich in seine Erdrakete gesteckt hat?“ „Vielleicht ist der Giganto nicht einsatzbereit“, mutmaßte Gérard. „Professor Charivari hat doch 'ne ganze Flotte von Raumgleitern und Erdschiffen“, sagte Prosper, „aber vielleicht muß er seine geheimen Stationen am Nordpol, in der Antarktis, im Weltraum, auf dem Mars - und sonstwo - versorgen. Er ist ja schließlich nicht unser Privat-Chauffeur.“ „Richtig“, bestätigte Superhirn. „Trotzdem läßt er uns überwachen. Denn wir sind als seine Mitwisser besonders gefährdet.“ Die Gruppe setzte sich zur Straße hin in Bewegung. „Seit der Wald brennt und hier so ein Riesenrummel herrscht - mit Feuerwehren, Militär- und Polizeifahrzeugen, mit Hubschraubern und Schiffen, auch für die alberne Flottenschau -, habe ich kein gutes Gefühl“, erklärte Superhirn weiter. „Wir wissen längst, daß unser unbekannter Feind in der Erde einen von Charivaris Stützpunkten in dieser Gegend vermutet: Weil der Professor hier mal eine unterirdische Geheimstation und 'ne unterseeische Abschußrampe gehabt hat.“ „Ach, und der Erd-Boß meint, der Flugzeugträger, die Hubschrauber, die Bulldozer - und das alles gehören Charivari?“ lachte Micha. „Oder der Brand hängt mit ihm zusammen!“ „So ähnlich“, sagte Superhirn ernst. „Der innerirdische Machthaber und sein Vava-Volk sind zwar hochintelligente Leute; trotzdem begreifen sie die Zusammenhänge hier oben nicht. Gerade das ist für Charivari und für uns so gefährlich geworden.“ „Was machen wir?“ fragte Tati bange. „Nichts“, meinte Henri ruhig. „Ich schätze, der Professor erwartet von uns erhöhte Vorsicht, bis er mit dem Erdschiff Giganto wiederkommt.“ „Genau!“ sagte Superhirn. „Zu dieser Vorsicht gehört, daß wir uns nichts anmerken lassen. Unser Ferienprogramm wird nicht geändert!“ Auf der Straße hinter dem Wald stauten sich die verschiedensten Einsatzfahrzeuge - aber auch die
Autos der sogenannten „Schaulustigen“. Im Licht der Scheinwerfer suchten die Freunde einen Wagen, der die freiwilligen Helfer zurückbefördern würde. Bald hatten sie einen gefunden. Sie gaben ihren Spaten ab und kletterten auf das Fahrzeug. Während sie im offenen Laderaum tüchtig durchgerüttelt wurden, schrie Tati Superhirn ins Ohr: „Kannst du mir sagen, warum die Männer alle so lustig sind? Sogar die Feuerwehrleute lachen, quatschen vom Fußball und vom Rugby, schwenken ihre Bierdosen und stoßen auf den nächsten Waldbrand an.“ „Galgenhumor“, feixte Superhirn. „Die Männer würden sonst verrückt werden. Übrigens sind sie Waldbrände gewohnt. Sie könnten gar nicht exakt arbeiten, wenn sie sich dauernd aufregen oder ärgern würden. Da könntest du ebensogut Hühner ins Feuer schicken!“ Tati lachte. „Ja. Da hast du allerdings recht.“ An der Gabelung vor dem Hafen von Monton sprangen die Gefährten mit dem Pudel von dem haltenden Wagen. Den Weg zur Schloßhöhe, ihrem Ferienquartier, gingen sie zu Fuß. Micha mußte noch einmal erklärt werden, daß in dieser Nacht nur eines wirklich „unheimlich“ gewesen war: das überraschende Auftauchen Professor Charivaris, das Auswechseln der Armbanduhren und die Warnung vor der Explosion des Baumes. Alles andere, der Brand - und selbst die Explosion der Pinie - konnte nur natürliche Ursachen haben. Das heißt, nichts war auf den schrecklichen Ragamuffin und seine Vavas zurückzuführen. „Noch nichts“, schränkte Prosper ein. Das rätselhafte innerirdische Volk des Ragamuffins - das wußten die Gefährten - verfügte über besondere autobiologische Fähigkeiten. Durch unvorstellbare Willensenergien konnten diese „Erdmenschen“ ihre Gestalt schlagartig bis auf Schachfiguren-Größe schrumpfen lassen. Um zurück in die Erde zu schießen, brauchten sie keine Hilfsmittel. Sie verkapselten sich in fühllose, diamantene Härte. Und ihr „Kraftwerk“, das sie Wasser, Feuer, Holz, Beton, Stahl, ja sämtliche Erdschichten mühelos durchdringen ließ, war ihr Gehirn. Doch diese variablen Vasallen, die Vavas, schienen sich an der Erdoberfläche nicht auszukennen; das heißt, sie begriffen die politischen Machtverhältnisse auf dem Globus nicht. Und weil Professor Charivari die perfektesten Raumschiffe, aber auch Erderforschungsraketen besaß, hielten sie ihn - und seine jungen Freunde - für die entscheidende technische Kapazität. Das war zum Lachen - wenn man an Micha (und den Zwergpudel Loulou) dachte. Zum Lachen, ja. Der Ragamuffin-Staat im Erdinnern besaß außerdem eine furchtbare Waffe: die Unguts- oder Unmutsstrahlen - Gedankenströme, die sie in verschiedener Stärke und Mischung aus ihrem unbekannten Hauptquartier heraufsenden konnten. Damit hatten sie Charivaris Ingenieure bereits bis an den Rand des Wahnsinns getrieben. Daß der Ragamuffin noch keine Panik unter ganzen Nationen verursacht hatte, führte Professor Charivari einfach darauf zurück, daß die zerstörerische Gedankenkraft des Erd-Bosses und seiner Vasallen „sparsam“ und gezielt eingesetzt wurde. Wenigstens vorläufig. Bisher hatte er sich ja immer nur Personen und Personenkreise vorgenommen, die er für wichtig hielt. Leider hielt er auch die jugendlichen Freunde des Professors für wichtig. Übrigens nicht ganz zu Unrecht, was Superhirn betraf . 3. Mitwisser leben gefährlich Die Wirtschafterin im Schloß von Monton, Madame Claire, war noch auf. „Ach, es ist scheußlich!“ rief sie ihren Feriengästen entgegen. „Das ganze Haus stinkt nach Schwefel! Riecht ihr nichts7“ Wie vom Donner gerührt, blieb Micha stehen. Er schnupperte. Prosper ächzte: „D-d-die Vavas! Die E-e-erdspione!“ Daß er sie hier vermutete, war nicht unsinnig - nach allem, was die Freunde in den letzten Wochen erlebt hatten. Das Mädchen, die Jungen und der Pudel sausten durch Halle, Kaminsaal und Billardzimmer der Villa Monton. Dieses Ferienquartier, vom Ragamuffin fälschlich für eine Befehlsstation Professor
Charivaris gehalten, gehörte Superhirns abwesendem Onkel. Sie verschwand, und die Jungen steckten hastig die Köpfe zusammen, um die neue, so geheimnisvolle Armbanduhr zu betrachten. Wenn man sie oberflächlich ansah, wirkte sie wie eine teure, aber normale, moderne Industrie-Uhr. Diese besondere „Uhr“ allerdings, die Professor Charivari an Michas Handgelenk „geschmuggelt“ hatte, signalisierte mehr als nur die Zeit. „Das ist ein winziger Lichtbuchstaben-Fernschreiber“, wiederholte Superhirn. „Was is´n das?“ fragte nun Micha. „In diese Uhr werden Fernschreibsignale über Funk reingestrahlt“, erwiderte Superhirn. „Die Signale werden von den Leuchtdioden in Buchstabenform wiedergegeben.“ Er stutzte. „Komisch! Ich spüre einen leichten Stromstoß im Handgelenk!“ „D-d-der Professor w-w-will dir was mitteilen“, stotterte Prosper aufgeregt. Superhirn drückte den Knopf. Nacheinander leuchteten Worte auf: „Warten - Ruhe bewahren - weiter Ferien machen - nichts anmerken lassen - unauffällig aufpassen - Ende.“ Micha schnaufte erleichtert: „Wenigstens bewacht uns Charivari ständig. Aber wie erfährt er, wenn uns plötzlich so 'n Ragamuffel übern Weg läuft?“ Wieder spürte Superhirn einen Stromstoß. „Dieses Gerät ist Sender und Empfänger“, verkündete nun die Leuchtschrift. „Knopf nach links drehen!“ Und plötzlich ertönte leise - doch sehr deutlich - die bekannte, sanfte, geschmeidige Stimme Professor Charivaris: „Tut mir leid, daß ich euch so einen Schreck einjagen mußte. Das mit dem explodierenden Baum war ein dummer Zufall. Ein Glück aber, daß ich die Hitze im Boden richtig gedeutet habe. Übrigens, wenn du antworten willst, Superhirn, sprich nur mit Hauchkontakt auf das Uhrglas. Das Gerät steht immer auf Sendung.“ „Danke“, sagte der spindeldürre Junge. „Wir haben uns schon alles zusammengereimt. Aber woraus schließen Sie, daß die Erd-Spione wieder tätig sind? Und daß sie hier herumschnüffeln?“ „Meine Gedankenempfangsgeräte zeichnen seit acht Stunden die typischen Ragamuffin-Strahlungen auf“, tönte die Stimme des Professors leise aus der „Armbanduhr“. „Wir können uns den Sinn nicht erklären. Aber durch komplizierte Kreuzpeilungen wissen wir wenigstens, daß sie diesmal von der Erdoberfläche - und zwar aus eurer Küstengegend - kommen.“ „Meinen Sie, der Ragamuffin ist selber hier?“ fragte Superhirn. Die Freunde sahen, daß er blaß wurde. „Nein“, beruhigte Charivaris Stimme. „Der wird sich hüten! Aber der Gedanken-Funkverkehr zeigt uns Fachleuten ziemlich deutlich, daß es zwischen den Vava-Spionen einen Informationsaustausch geben muß. Und daß sie irgendwelche Beobachtungen in die für uns nicht ortbare, innerirdische Machtzentrale melden.“ „Warum ist denn diese Machtzentrale immer noch nicht ortbar?“ fragte Superhirn ungeduldig. „Beinahe von Tag zu Tag verbessern sich Ihre Mittel; aber was den Ragamuffin und sein Hauptquartier angeht - da tappen Sie wie 'n Blinder im dunkeln.“ Man hörte Professor Charivari leise lachen. „Der Erd-Boß sendet über wechselnde Relais“, sagte er. „Wenigstens das haben wir längst raus. An der Besonderheit der Gedankenströmungen, die unsere Geräte registriert haben, ersehen wir auch, ob und wann er es ist, der funkt.“ „Wenn ich Sie richtig verstanden habe“, faßte Superhirn zusammen, „sitzt dieser mörderische Knilch tief in der Erde und dirigiert seine Spione per Gedanken-Funk hier in der Gegend rum.“ „Genau!“ „Und warum haben Sie uns nicht gleich mit Ihrem Erderkundungsschiff Giganto abgeholt?“ wollte Superhirn wissen. „Weil er in der Geheimwerft ist“, kam die sanfte Stimme Charivaris. „Ich habe eine Einmann-MiniRakete benutzt, um euch zu warnen. Der Giganto wird mit ein paar nötigen Neuerungen ausgestattet. Beim nächsten Vorstoß in die Erde muß ich die Ragamuffin-Zentrale finden!“
Superhirn schaltete das Armbanduhrgerät rasch aus, denn Madame Claire kam mit einem großen Tablett. Auch Tati erschien, in Pyjama, Bademantel und Hausschuhen. Ihr Gesicht glänzte blitzblank. „Erst essen, dann waschen?“ lachte sie, als sie die rauchgeschwärzten Jungen und die riesige Käseplatte sah. „Das haben sie verdient“, verteidigte Madame Claire die beiden Brüder und die Freunde. „So, jetzt hol ich noch den Saft und die Gläser. Geht ihr morgen auch zur Flottenschau nach Monton? Es sollen drei U-Boote kommen!“ „Natürlich, natürlich!“ sagte Henri. „Wir unterhalten uns gerade darüber. Das darf man doch nicht versäumen!“ Henri ahnte nicht, daß dieses Publikumsereignis ungeahnte Folgen haben sollte. 4. Gelbe Rosen für Tati Am Morgen hatten Superhirn, Prosper, Gérard und die Geschwister Henri, Tatjana und Micha schrecklichen Muskelkater. Der Zwergpudel Loulou lag schlapp in seinem Körbchen. Dazu kam die anhaltende Hitze. Der Himmel war wie Quecksilber; man konnte den Sonnenball nicht sehen. Und wieder wehte kein Lufthauch. Die Zeitung meldete die Folgen der Hitzewelle: ein Zugunglück in Belgien wegen von der Hitze verzogener Schienen. In den Autos, die längere Zeit in einem Stau festsaßen, herrschten Temperaturen von über 60 Grad. In einigen Landstrichen verdurstete das Vieh auf den Weiden, und die Ernteaussichten in diesen Regionen waren mehr als düster. Die Gärtner durften Rasen, Pflanzen und Büsche nicht sprengen. Ab sofort war es auch verboten, Autos zu waschen und das Wasser in den Swimming-pools zu erneuern. Tati war wütend. Erstens verhinderten Muskelkater und Hitze ihre gewohnten tänzerischen Übungen, zweitens wollte sie nicht in die „laue Pampe“ des Schwimmbeckens springen. Und wenn ein Schatten über dem Schloß und dem Park von Monton lag, so war es kein behaglich kühlender, sondern der drohende Schatten des Ragamuffins und seiner Vavas. Diese rätselhaften Wesen aus dem Erdinnern hatten das letzte Mal bei einem irrtümlichen Angriff sämtliche Uhren im Hause zerstört - und alle Geräte, die eine Skala besaßen: also auch Barometer, Thermometer, Radios, Herd und Waschmaschine. Sie mußten gemeint haben, das alles seien „Befehls- und Schaltgeräte, mit denen Professor Charivari den Kontakt zu seinen geheimen Stationen und seinen geheimen Raum- und Erdschiffen unterhielt. Ein getarnter Assistent Charivaris hatte den Schaden in Madame Claires Abwesenheit repariert; zum Glück war das gesamte Ausmaß der Zerstörung nicht aufgefallen. Das Haus war ja groß. Doch ausgerechnet an diesem „verkaterten“ Morgen kam Tati auf die Idee, sämtliche Geräte im Schloß zu prüfen. Auch die Fernseher. Und da kriegte sie fast einen Tobsuchtsanfall. Die Jungen und der Pudel saßen schon auf der Terrasse. Superhirn schien als einziger besser gelaunt zu sein als sonst. Er schlürfte den süßen Kakao und biß mit Behagen in das knusprige Brot. Tatjana kam aus dem Haus gesaust. „Ich werde auf der Stelle verrückt!“ schrie sie. „Mir scheint, das bist du schon“, grinste ihr Bruder Henri. „Sind denn die Uhren wieder kaputt? Oder ist irgend 'ne Skala wieder von Vava-Blicken durchbohrt?“ „Nein!“ rief das Mädchen wütend. „Aber die Leute vom Fernsehen und vom Rundfunk leiden wohl an Gehirnerweichung. Wegen der Hitze. Mit meinem Transistor in der Hand steh ich vorm Fernseher. Eben gongt es aus dem Kasten acht Uhr, da setzt im Radio erst das Zeitzeichen für 8 Uhr ein. Der zweite Fernseher bringt auf dem anderen Sender den Gongschlag noch später als der erste. Und als ich zum Telefon rase, um nun mal wirklich die genaue Zeit zu erfahren, ist es 8 Uhr und eine Minute, dabei müßte es mindestens schon 8 Uhr und drei Minuten gewesen sein!“ Superhirn grinste breit: „Seid mal alle still!“ sagte er. „Hör mal, Tati!“ Ping - ping - ping, hallten da die letzten Turmuhrschläge der Kirche herauf. Tati setzte sich fassungslos hin. „Die alte Tante auf dem Kirchturm ist bald um fünf Minuten zurück“, japste sie. „Also, ich verlaß
mich nie wieder auf eine Uhr! Da kann man ja die Dinger, die man im Haus herumstehen hat, allesamt wegschmeißen!“ Die Freunde machten große Augen. „Daß die alte Uhr der Hafenkirche nachhinkt, will ich glauben“, sagte Gérard. „Na, und die verschiedenen Uhren im Haus zeigen natürlich nicht alle auf die Sekunde genau die Zeit. Aber mit dem Radio und den beiden Fernsehsendern mußt du dich geirrt haben, Tati!“ Superhirn setzte die Tasse ab. Er grinste noch immer. „Ich würd´s so machen wie der gute alte Kaiser Karl. Ich meine Karl den Fünften, einst Herrscher des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Der hat von früh bis spät versucht, seine hundert Uhren alle ganz genau und gleich gehen zu lassen. Als ihm das nicht gelang, hielt er sie an und stellte sämtliche Zeiger auf die Zwölf. Nun endlich stimmt´s, meinte er dann.“ „Willst du mich verflachsen?“ fragte Tati kriegerisch. „Ganz im Gegenteil“, sagte der spindeldürre Junge ernst. „Du hast nämlich ganz richtig beobachtet und gehört.“ „Wa-was? Etwa auch mit der verschiedenen Radio- und Fernseh- und Te-te-telefonzeit?“ rief Prosper. „Es gibt auf der ganzen Welt keine einzige Uhr - allenfalls eine Atom-Uhr -, die ohne dauerndes Regulieren auf den Bruchteil einer Sekunde genau geht“, erklärte Superhirn. „Wohlgemerkt: auf den Bruchteil.“ „Aber die Zeitmesser beim Sport, bei Rekorden, bei Olympischen Spielen“, warf Gérard ein. „Das sind auf kurzlebig getrimmte Zeitabschnitts-Meßinstrumente“, sagte Henri. „Die müssen fortwährend gewartet oder ausgetauscht werden. Wir sprechen hier aber von Gebrauchsuhren.“ Superhirn nickte. „Die Menschen haben sich fürs allgemeine, praktische Leben stillschweigend auf Minuten-Genauigkeit geeinigt. Die Sekunde ist ein zu kurzer Zeitraum, der im gewöhnlichen Alltag selbst im Schiffs-, Bahn- und Flugverkehr - kaum eine Rolle spielt. Ich sage: im gewöhnlichen. Ob die Werksirene den Arbeitsschluß um Punkt 17 Uhr verkündet oder um eine Viertelsekunde früher oder später, ist für den Menschen gleichgültig. Die Wissenschaft jedoch ist auf ganz exakte BruchZeitmessungen angewiesen - klar? Aber solche Messungen führt man nicht mit - noch so präzisen Quarz-Armbanduhren oder mit Fernseh-, Radio- und Telefonzeitansagen durch.“ „Dann kloppen die da je nach Laune auf den Gong?“ fragte Micha erstaunt. Superhirn lachte. „Die kloppen gar nicht. Die drücken auf Knöpfe. Und beim Telefon läuft die aufgenommene Zeitansage automatisch durch. Selbstverständlich steht jedes Institut mit einer Sternwarte in Verbindung und bemüht sich um sekundengenaue Zeit. Aber bei den Auslöseautomatiken kann es mal ganz geringe Verschiebungen geben. Tati hat Pech gehabt. Sie hat ausgerechnet drei Zeitansagen gehört, die wahrscheinlich nur um Dreiviertelsekunden differierten. Bei der Telefonansage konnte sie's schließlich gar nicht mehr kontrollieren. Und was die Turmuhr der Hafenkirche betrifft ...“ „Na ja. So 'ne olle Mühle ist ja keine Stoppuhr“, lachte Gérard. „Was sagt denn dein Signalschreiber?“ erinnerte sich Prosper plötzlich. „Nichts. Die Gefahr hat sich wohl verzogen“, meinte Superhirn. „Wir können also runter in den Hafen, zur Flottenschau.“ Micha knabberte an seinem Marmeladenbrot. „Ich denk immer noch an die Uhren“, maulte er. „So was hat mir nicht mal mein Lehrer erzählt. Gegen Superhirn komme ich mir direkt doof vor. Du könntest im Zirkus auftreten - als klügster Junge der Welt.“ Alle lachten. Die schlechte Laune der Freunde war verflogen. „Ich kombiniere nur“, grinste Superhirn. „Und ich erklär nur das, was gerade eben wichtig ist. Dazu gehört 'ne Menge Wissen, aber keine Zauberei.“ Das brachte ihn auf die eine Idee: „Kinder, wir gehen gleich nach Monton ! Bevor die Flottenschau beginnt, zeig ich Micha einen Mann, den er bestimmt viel klüger finden wird als mich.“ Während sie über den steilen Fußpfad hinab in den Ort kraxelten, hörten sie aus Tatis Mini-Radio die
neuesten Nachrichten. „Das klingt wie 'n Märchen“, murmelte Henri. Von den 80 Campingplätzen in den vom Waldbrand betroffenen Gebieten waren fast alle unter geringen Sachschäden geräumt worden. Es war durchweg immer nur von „leichten Brandverletzungen“ die Rede. Die vorsorglich in Sicherheit gebrachten Tiere des großen Freiland-Zoos von La Palmyre hatte man am frühen Morgen wieder in ihre Gehege zurücktransportieren können. „Trotzdem - ich danke!“ sagte Superhirn. „Wer kann sich vorstellen, was hinter so 'ner nüchternen Meldung steckt? Der La-Palmyre-Zoo ist einer der größten in Frankreich, und die verschiedenen Viecher reagieren sehr unterschiedlich auf Feuer oder selbst auf Brandgeruch. Wer möchte schon gern ein paar Tritte von einem Vogel Strauß kriegen? Auch Hirsche sind gefährlich. Die forkeln jeden, der ihnen zu nahe kommt, mit ihrem Geweih, sogar ihren Wärter. Dagegen verkriechen sich Löwen und Tiger still und heimlich. Die braucht man bei einem Brand am wenigsten zu fürchten, weniger als durchgehende Pferde oder Rinder.“ „Hör doch mal, Superhirn!“ unterbrach Prosper. „He, da hast du mal nicht recht gehabt! Es ist doch mit Salzwasser gelöscht worden!“ Die Gruppe blieb auf dem Fußpfad stehen. Tati stellte das winzige Gerät so laut wie möglich. Den Nachrichten folgte eine Reportage über den Brand. Einsatzleiter und amtliche Beobachter tauschten ihre Erfahrungen aus. „Die drei Canadair-Spezialflugzeuge haben sich bewährt“, sagte der Reporter. „In ununterbrochenen Anflügen warfen sie einige hundert Tonnen Seewasser über dem Katastrophengebiet ab. Als die siebzig Meter hohe Flammenwand an zwei Stellen die Küstenstraße übersprungen hatte, retteten sie die Ortschaft Bellatrix mit Löschflügen von jeweils sechs Tonnen Wasserladung pro Anflug und Maschine.“ „Toll!“ sagte Superhirn. „Aber das ist natürlich klar: Wenn man Menschen retten muß - noch dazu einen ganzen Ort -, kann man sich nicht darum kümmern, ob´s, dadurch Salzwasserschäden gibt.“ Micha war außer sich, weil er diese Canadair-Spezialflugzeuge noch nicht gesehen hatte. „Mensch! Drei Maschinen! Und in der Nacht, noch dazu auf so 'ner weiten Strecke!“ lachte Henri. „Wir hatten Feuer und Rauch vor und über uns. Da konnten wir nicht darauf achten, was gerade über uns oder in der Ferne heranbrummte!“ „Canadair-Flugzeuge“, überlegte Superhirn, „natürlich kenn ich die Dinger. Das sind keine Hubschrauber, sondern Tragflächen- und Propellermaschinen. Die können auf dem Meer wassern, Wasser laden, durchstarten und gleich wieder aufsteigen. Aber an der Abwurfstelle sind sie gefährlich, sie stehen ja nicht wie Hubschrauber. Junge, Junge, wenn die mal ihre Last in die Reihen der Brandbekämpfer schmeißen!“ Die Freunde hörten, daß an vielen Stellen des Strandes Feriengäste und Einheimische vom Feuer regelrecht abgeriegelt worden waren. Man hatte sie von der See her mit Flachschiffen gerettet. „So was von Zusammenarbeit.“ staunte Gérard beeindruckt. „Wenn man das hört - denkt man, das wär alles zehnmal geprobt gewesen!“ Aber dann kam eine Bemerkung aus dem Radio, die sie alle beinahe umwarf - „Der Brand hätte sich nicht so ausgebreitet, wenn nicht viele Kaninchen mit brennenden Fellen das Feuer in verschiedene Richtungen weitergetragen hätten.“ „Wildkaninchen“, murmelte Superhirn wie vor den Kopf geschlagen. „Wer denkt denn an so was? Darauf wäre ich nie gekommen!“ „Die armen Tierchen!“ rief Tati, Micha war am Heulen. „Ich hab kein einziges gesehen!“ rief er. „Hätte ich das gewußt, ich hätte nur Kaninchen gelöscht!“ „So schnell, wie 'n Tier rennt, dessen Fell brennt, kannst du nicht laufen“, meinte Gérard. „Sei froh, daß im Kinderzeltlager nichts passiert ist. Der Ponyhof ist übrigens auch nicht abgebrannt, hat der Reporter gesagt.“ Das tröstete Micha. Und jetzt drängte er darauf, nach Monton, zum Marktplatz zu kommen, denn er wollte endlich den Mann sehen, der klüger war als Superhirn.
Vor dem Rathaus standen viele Buden. Dazwischen, an einem wackligen, vor der Sonne völlig ungeschützten Tisch, stand ein großer, dünner junger Mann mit langen Armen und Beinen und einem auffallend kleinen Kopf. Er verkaufte Blumen und Erdnüsse. „Ach so, du meinst Monsieur Bric“, meinte Tati lachend zu Superhirn. „Den! Der redet so viel, wie der Tag lang ist!“ „Paßt nur auf, was er redet“, grinste Superhirn. „Na, ihr?“ rief Herr Bric munter. „Auch Freiwillige Feuerwehr gespielt? Dann wißt ihr jetzt auch, was das wichtigste bei der Brandbekämpfung ist!“ „Was denn?“ fragte Micha neugierig. „Den Fluchtweg sichern“, erklärte Herr Bric. „Manch einer ist schon von den Flammen eingeschlossen worden, weil er sich nicht umgeguckt hat.“ „Stimmt genau“, nickte Superhirn. Herr Bric fing an, sich über die Folgeschäden Gedanken zu machen. Er tat das so laut und eingehend, daß sich bald viele Leute um seinen Stand versammelten. Er konnte auch die durch Sachverluste und Bekämpfungsmittel entstandenen Kosten abschätzen, als käme er gerade aus der Sitzung des Krisenstabes. Zwischendurch blickte er in die Luft und rief: „Ach! Der Hubschrauber vorn Zivilschutz! Der sucht das Gelände nach verbliebenen Brandstellen ab!“ Ständig ließ er seine Blicke schweifen und sah etwas, womit er auftrumpfen konnte. „He! Da parkt ein Auto mit dem National-Kennzeichen CH! Was ist das?“ rief er plötzlich. „Das Zeichen für die Schweiz!“ rief Prosper eifrig. „Jaaa ...“, lachte Herr Bric. „Aber was bedeutet es? Siehst du, das weißt du nicht. Das ist der lateinische Name für den Schweizer Staatenbund: Confoederatio Helvetica - helvetische Konföderation. Die Helvetier, ein keltischer Volksstamm, hatten sich vor der großen Völkerwanderung dort angesiedelt. Das muß man wissen. Haha! Aber 'n Auto mit dem Kennzeichen V parkt hier nicht. Das hätte schon in der Zeitung gestanden, denn da säße der Papst drin, zumindest ein Kardinal oder ein Monsignore aus Rom, denn V bedeutet Vatikanstadt, und der Vatikan ist der päpstliche Sitz in Rom.“ Micha war sehr beeindruckt. „Monsieur Bric weiß wirklich alles“, hauchte er ehrfürchtig. Henri grinste breit. „Aber Superhirn ist ein viel gerissenerer Schurke“, sagte er scherzhaft. „Der arme Bric! Der würde uns was über die Gebührentabelle der Gerichtsvollzieher erzählen, wenn wir ihn danach fragen würden. Oder alles über die Chinesische Mauer. Sicher kann er die längsten Brücken der Welt, die höchsten Gebäude, die Meerestiefen und die Höhe der Berge wie am Schnürchen aufzählen.“ „Und inzwischen verwelken seine Blumen. Außerdem hat er die ganze Zeit keine einzige Tüte mit Erdnüssen verkauft“, bemerkte Gérard. „Zwanzig Leute stehen um ihn rum und lauschen - und vor lauter Staunen vergessen sie seine Ware!“ „Das schlimmste ist, daß er selber sie vergißt. Regelmäßig zieht er nachmittags mit dem Großteil seiner Ware wieder ab“, sagte Superhirn ernst. „Ist es klug, sein Wissen so zu verschleudern? Noch dazu meist ungebeten und ungefragt. Er besitzt keinen Sonnenschirm, und sein Stand ist die reinste Bratküche für seine Blumen. Er interessiert sich für alles, lernt jeden Kalender auswendig. Er würde gern mal verreisen, er kennt ja die Philippinen oder Australien oder Ozeanien wie seine Hosentasche - von Karten und Beschreibungen her -, aber wenn er alle Leute von früh bis spät belehren muß, langt´s nie auch nur für 'ne Busfahrt nach Paris!“ „Du bist gemein, Superhirn“, rief Tati. „Um dir mit Micha einen Witz zu machen, hast du den armen Bric vom Verkaufen abgehalten. Wenigstens hast du dazu beigetragen. Das war nicht fair.“ Der spindeldürre Junge warf dem Mädchen einen raschen Blick zu. „Nein“, gab er sofort zu. „Das war nicht fair!“ Er kehrte um und kaufte Herrn Bric neun gelbe Rosen ab. Die überreichte er Tati - sehr zum Vergnügen der anderen. Doch Tati freute sich, obwohl die Blumen tatsächlich schon ziemlich welk waren. Henri kam nicht dazu, noch eine freche Bemerkung zu machen, denn Superhirn sagte in sonderbarem Ton - leise und
scharf: „Seht mal! Was hat denn der Pudel?“ Der Hund sprang winselnd in die Höhe. Dann wieder stupste er seine Schnauze auf den Boden, als wollte er ins Pflaster beißen. „Schnell! Nimm ihn hoch!“ rief Henri der Schwester zu. Das Tier blickte aus großen Augen qualvoll umher, als wolle es den Geschwistern und ihren Freunden etwas Schreckliches mitteilen. 5. Die Gefahr aus der Tiefe Die Armbanduhr - das Signalgerät - an Superhirns Handgelenk vibrierte. Der Junge blickte aufs Zifferblatt. „Erhöhte Aktivität“, las er. Dann schaltete er den Empfänger ein und hielt die „Uhr“ ans Ohr. „Mitteilung von Professor Charivari“, murmelte er. Die Gruppe stand jetzt neben dem Karussell, das noch nicht in Betrieb war. Superhirn nahm die Uhr vom Ohr und drehte ein wenig am Knopf. Nun konnten die anderen Charivaris Stimme ebenfalls hören. „Wir verzeichnen unerhörte Gedankenströme aus der Erde“, sagte der Professor. „Das Zentrum dieser Gehirnwellen-Ausstrahlung liegt direkt unter dem Hafen von Monton.“ „Ein Irrtum ist ausgeschlossen?“ fragte Superhirn zurück. „Könnten Ihre Geräte vielleicht durch die vielen Feuerwehren, die Flugzeuge, die Schiffe - und das ganze Durcheinander in dieser Gegend falsch anzeigen?“ Er wußte selber, daß die Frage töricht war. Charivaris Hirnwellen-Analysatoren waren hochspezielle Apparaturen, die nichts anderes vermerkten als Gedankenströme - in diesem Fall ganz bestimmte: nämlich die des innerirdischen Machthabers, des Ragamuffins, und seiner Mini-Spione, der Vavas, „Habt ihr irgendwelche Beobachtungen gemacht?“ ertönte nun wieder Charivaris Stimme. „Der Pudel benimmt sich so komisch“, meldete Superhirn rasch. Er äugte durch seine runden Brillengläser. „Übrigens - andere Hunde spielen auch verrückt.“ „Sag ihm, die Vögel flattern auf“, fuhr Henri hastig dazwischen. „Es ist wie vor einem Erdbeben. Das merken die Tiere immer vorher, wenn die Menschen überhaupt noch nichts ahnen.“ Superhirn gab die Nachricht weiter. Charivari war einen Moment still. Dann sagte er: „Ja. Ein schlimmes Zeichen. Haltet die Augen auf und achtet auf meine Signale! Ich hole euch noch heute mit dem Giganto!“ „Noch heute?“ rief Tati. „Ich wünschte, wir säßen längst im Erdschiff in Sicherheit!“ „Ziemlich ungemütlicher Gedanke, daß die Vavas da unter uns rumoren“, brummte Gérard. Prosper reckte sich seinen langen Hals nach Möwen aus. „Die dummen Biester wissen mehr als wir“, ärgerte er sich. „Das verstehe ich nicht!“ „Es ist ganz einfach“, sagte Henri. „Wir haben ja mal ein kleines, ziemlich harmloses Erdbeben mitgemacht. Ehe wir's begriffen, sprang die Katze wie elektrisiert auf, Loulou winselte und hopste von einem Sessel auf den anderen - und draußen flatterten die Vögel aufgeschreckt umher. Die Tiere haben sich zwar daran gewöhnt, daß der Boden bebt, wenn ein Schnellzug vorbeidonnert. Auch Erschütterungen durch enorme Baufahrzeuge kümmern sie nicht. Aber natürliche Erdstöße müssen auf Tiere besonders bedrohlich wirken. Unser Lehrer sagte: Wie feine elektrische Ströme, die sie von den Pfoten oder Krallen bis ins Gehirn spüren. Wenn ein Vogel auf einem schwankenden Baum sitzt, macht ihm das nichts. Rieselt aber so 'ne Erdstoß-Vibration bis in den letzten Zweig, so steht er wie unter Strom. Er fliegt weg - und erlebt auf dem nächsten Baum dasselbe. Jetzt fliegt er piepsend und krächzend hin und her und weiß nicht, wohin er sich setzen soll.“ „Also, da hab ich wohl 'n dickeres Fell als´n Panzernashorn“, meinte Gérard. „Ich spüre nichts unter den Füßen. Trotzdem zweifle ich nicht daran, daß die Vavas noch da sind. Die suchen uns! Und ich seh uns schon versteinert auf dem Marktplatz stehen. Ein Anblick für Götter!“ „Wir sollten uns ve-ve-verkriechen“, stotterte Prosper. „Vie-vie-vielleicht auf dem Schiffsfriedhof.
Da finden sie uns nicht!“ „Sie finden uns überall“, sagte Henri ruhig. „Am besten, wir bleiben hier in der Menge. Da sind wir am sichersten.“ Superhirn nickte. „Jetzt beginnt die Flottenschau, und die sehen wir uns an, als ob nichts wäre. Wir stehen ja mit Charivari in Verbindung.“ Trotz des Brandes lief das Ferienprogramm für die Gäste weiter. Die Fremdenverkehrsämter hatten ja alles Interesse daran, daß die Leute nicht abreisten. Am Hafenbecken, das wegen der Schleuse von Ebbe und Flut unabhängig war, spielte eine Musikkapelle. Bürgermeister und Gemeinderäte standen empfangsbereit, und ein Zeitungsreporter sprach über mehrere Lautsprecher zum Publikum. „Viele Schiffe, die an der Flottenschau teilnehmen sollten“, sagte er, „liegen noch vor der vom Waldbrand betroffenen Küste. Monton aber erhält, wie vorgesehen, den Besuch von drei U-Booten. Karten zur Besichtigung werden nachher hier am Kai ausgelost. Und da - blicken Sie seewärts, meine Herrschaften - sind die U-Boote schon! Sie rauschen eben in die Bucht von Monton!“ Die Freunde ergatterten einen guten Platz auf der Fährbrücke. Sie konnten verfolgen, wie die UBoote bis auf Sehrohrtiefe tauchten. „Langweilig gegen Professor Charivaris Giganto“, maulte Micha. „Immerhin ganz schön schneidig, hier zu tauchen“, meinte Henri. „Die Bucht ist weder groß noch tief!“ „Na ja, sie gleiten auch nur ganz langsam und ganz dicht unter der Oberfläche“, stellte Gérard fest. „'ne Segelregatta ist mir lieber“, sagte Tati. „Und was machen die U-Boote jetzt?“ „Sie werden wieder auftauchen“, erklärte Prosper eifrig. „Dann fahren sie ins Hafenbecken und legen da an, wo die Musikkapelle steht. Logisch, nicht7“ Doch die U-Boote tauchten nicht auf. Im Gegenteil, die Sehrohre verschwanden ganz von der Wasseroberfläche. Die Zuschauer warteten eine Weile äußerst gespannt, wo sie wieder zum Vorschein kommen würden. Der Reporter sprach von einer gelungenen Überraschung. Dann meldete sich der Bürgermeister und gab bekannt, er habe die Kommandanten bereits über Funk begrüßt. Man würde sie und die Besatzung gleich am Kai empfangen können. Aber die U-Boote tauchten noch immer nicht auf. Nach einer weiteren Viertelstunde war jedermann klar, daß da etwas passiert sein mußte. Von den Ufern lösten sich Fischerboote, Sportboote und Kähne aller Art. Sie fuhren auf die Stelle zu, an der man die Sehrohre zuletzt beobachtet hatte. Der Hafenkapitän sprach zu den erregten Zuschauern. Es kam das in solchen Fällen in aller Welt Übliche: „Bitte Ruhe bewahren! Nicht drängeln, keine Panik durch falsche Mutmaßungen verursachen! Es kann sich nur um eine Verständigungspanne handeln: Die Besatzungen haben Sauerstoffreserven für Tage. Trotzdem werde ich sofort Taucher hinunterschicken!“ Superhirn blickte auf den Pudel. Der war seltsamerweise wieder still. Er hockte behaglich neben Tati. „Was haltet ihr von der angeblichen Verständigungspanne?“ fragte Henri leise. „Sollten sich alle drei U-Boote gleichzeitig den Bauch aufgerissen haben7“ zweifelte Gérard. „Die Sehrohre waren allerdings schlagartig verschwunden“, erinnerte sich Prosper. „Als hätte jemand die Boote mit 'ner Riesenfaust unter Wasser gedrückt.“ „Oder - gezogen“, murmelte Superhirn. Über seinen Armband-Signalschreiber und -Sender versuchte er den Professor zu erreichen. Doch Charivari meldete sich weder mit Leuchtschrift noch mit seiner Stimme. Micha schluckte. „Das war der Ragamuffin“ Oder 'n Trupp von seinen Vavas!“ „So? Dann ist es wohl besser, wir verdrücken uns schnellstens!“ drängte Tati. „Das wäre falsch“, sagte Henri. „Wir sind die einzigen, die dem Professor etwas mitteilen können, wenn er sich meldet. Und Charivari ist der einzige, der gegen den Ragamuffin etwas ausrichten kann.“ „Falls er die U-Boote geschnappt hat“, fügte Gérard hinzu.
Über der Stelle, an der die U-Boote verschwunden waren, stand jetzt ein Bergungsfahrzeug. Taucher ließen sich von Bord auf den Grund hinab. „Wir stehen hier wie die Blöden“, ereiferte sich Prosper. „Woher sollen wir wissen, was die Taucher da feststellen?“ „Warte eine Weile, und du wirst mehr wissen als der klügste und fähigste Taucher“, sagte Superhirn. „Denn wenn der Erd-Boß einen Anschlag auf die U-Boote verursacht hat, stehen die Taucher da wie die Blöden. Wir aber merken sofort, was los ist.“ „Wann? Wie?“ fragte Tati. „Wenn Ebbe ist“, erwiderte Superhirn. „Und an der Art der Beschädigungen.“ „Also, an die Ebbe hätte ich nicht gedacht“, gab Prosper zu. „Stimmt! Die U-Boote waren ja noch nicht durch die Schleuse. Sie liegen nicht im Hafenbecken. Sie müssen an einer Stelle sein, die bei Ebbe so trocken fällt, daß man jede Muschel sieht.“ Die Gefährten gingen einstweilen in eine Eisdiele, dann kauften sie sich Erdnüsse bei Herrn Bric und ließen eine halbe Stunde lang seine Vermutungen über Magnetismus über sich ergehen. „So´n Quatsch“, brummte Gérard. „Moderne U-Boote sind antimagnetisch. Was stellt sich der Mann denn vor?“ „'ne Erzader soll die U-Boote auf den Grund gezogen haben. Es ist doch wohl schon öfter mal 'n Tauchboot in der Bucht gewesen. Und dem ist nichts passiert!“ „Trotzdem. Ich glaube, Monsieur Bric kommt der Wahrheit ziemlich nahe“, meinte Superhirn. Bevor das Wasser ganz aus der Bucht gelaufen war, wateten die Freunde bereits durch den Schlick. Längst sah man die Rümpfe der drei Boote. Männer vom Küstenschutz und alle möglichen Leute kletterten darauf herum. „Komisch“, wunderte sich Henri, der den Pudel trug. „Die U-Boote liegen alle drei vornüber, das Heck gehoben, als hätten sie nicht nur ins Wasser, sondern in den weichen Meeresboden tauchen wollen.“ „Ein Turmluk ist offen!“ rief Prosper. „Der Kommandant guckt heraus!“ „Auch aus den beiden anderen steigen jetzt Männer“, sagte Gérard. „Mal hören, was die Leute über den Vorfall sagen.“ Er verschwand in einer Gruppe von Helfern und Neugierigen. „Ich geh nicht weiter!“ protestierte Tati. „Micha steht bis zu den Knien im Schlamm. Und dahinten sind immer noch Wasserlöcher, so groß, daß man darin schwimmen kann.“ Tati hatte recht. So eine Wanderung war kein Vergnügen. Turnschuhe, Strümpfe und Jeans konnte der Schlamm zwar nicht verderben. Wenn man aber steckenblieb und vornüberfiel, konnte man sich ohne fremde Hilfe nicht mehr aufrichten. Und stand man dann wieder auf den Beinen, sah man wie eine Dreckpastete aus. Aber es war gar nicht nötig, sich bis zu den U-Booten vorzuarbeiten. Was die Kommandanten berichteten, ging von Mund zu Mund. Die Besatzungen seien vorübergehend bewußtlos gewesen, erfuhren die Freunde. Wahrscheinlich sei draußen vor der Küste als Folge des Brandes eine unsichtbare Giftgas-Wolke über die Boote hingezogen. Davon müsse etwas ins Innere des kleinen Flottenverbandes gedrungen sein. Das gleichzeitige Eintreten der Wirkung müsse zu gleichzeitigen Fehlreaktionen geführt haben. „Danke“, grinste Superhirn. „Ich habe genug gehört. Wer das glaubt, ist selber schuld!“ Die Gefährten stapften zum Ufer zurück. Tati und die Jungen bestürmten den spindeldürren Freund mit Fragen. „Es versteht sich, daß man für das Publikum 'ne Erklärung finden muß, auch wenn sie noch so blödsinnig ist“, sagte Superhirn. „ Daß sich die Boote aber fast parademäßig in den Schlamm gebohrt haben, wird man für Zufall halten.“ „Also hat der Ragamuffin etwas damit zu tun?“ forschte Micha. „Selbstverständlich“, erwiderte Superhirn. Der Erd-Boß und seine Leute arbeiten, wie ihr wißt, mit Gedankenkraft. Sie haben bisher giftige, durchbohrende und sogar eisige Gedanken eingesetzt. Die UBoote sind - da bin ich sicher - gewissermaßen in einen Gedankensog geraten. Ich nehme an, in einen gezielten, der als Strahlung auch ins Innere der Schiffe gelangt ist und der die Gehirntätigkeit der
Besatzung vorübergehend gelähmt oder sogar zugunsten des Ragamuffins gesteuert hat.“ „Der Ragamuffin wollte also die U-Boote haben“, überlegte Tati. „Weil er alles, was in der Bucht von Monton aufkreuzt, für Professor Charivaris Erfindungen hält.“ „Bist ein schlaues Mädchen.“, sagte der Bruder. „Es stimmt. Wir wissen das längst. Und Superhirn hat schon gestern, beim Anblick des Flugzeugträgers, gefürchtet, daß der Wirbel hier in der Gegend die Vavas anlocken könnte.“ Als die Freunde auf der Fährbrücke waren, vibrierte wieder mal Superhirns Armbanduhr. Schnell sonderten sie sich von der Menge der Schaulustigen ab. Der Professor meldete sich über den Radioempfänger des winzigen Geräts. „Ich habe gehört, was ihr erlebt und besprochen habt“, sagte er. „Eure Überlegungen sind richtig. Die Hirnwellentätigkeit der Vavas galt den U-Booten. Ich habe verhindert, daß die Schiffe geknackt und in Einzelteilen in die Erde gezogen wurden. Mein Giganto hat mehrere Salven Abwehrstrahlen losgelassen. Daraufhin haben sich die Vavas in ihren Verkapselungen zurück in den Globus geschossen. Ich schätze, sie werden so schnell nicht wieder auftauchen. Trotzdem will ich euch in Sicherheit wissen. Seid um 23 Uhr bei der Trockenen Kuh.“ Die Trockene Kuh war eine gewaltige Sanddüne nördlich von Monton. Dort war das Baden und Zelten verboten, auch verhinderte die Geländebeschaffenheit die Zufahrt von Fahrzeugen aller Art. Ein idealer Parkplatz also für den Giganto. 6. Start gegen den Ragamuffin Madame Claire gegenüber fand Superhirn eine gute Ausrede. Er sagte, sie hätten Freunde auf einem Campingplatz bei Nort. Sie müßten nachsehen, ob denen nichts passiert sei. Es waren unruhige, ereignisreiche Tage, und die Wirtschafterin hielt die Sorge um die angeblichen Freunde nur für natürlich. Am Spätnachmittag fuhren die fünf Jungen und das Mädchen im Bus von Monton nach Gréves. Sie hatten praktische Kleidung an, Jeans und Blusen oder Trainingsanzüge. Regendichte Kapuzenjacken trugen sie über dem Arm, Beutel mit frischer Wäsche und Waschzeug über der Schulter. Und selbstverständlich war Loulou auch mit, in nichts als in sein angewachsenes Fell gehüllt. Zwei Stunden lang wanderten sie durch Sand, Sand und noch einmal Sand. Gegen neun Uhr abends erreichten sie endlich die Düne Trockene Kuh. Kurz vor 23 Uhr signalisierte Superhirns Leuchtzifferblatt: Ich komme!“ Und pünktlich zur vollen Stunde lag neben der Riesendüne eine scheinbar zweite Geländeerhebung. Professor Charivaris gewaltiges Erderkundungsschiff Giganto. Der Professor führte dieses Kraftwerk, das eine Stadt wie New York mit Energie hätte versorgen können, allein. Eine Fülle von Hilfsaggregaten und Apparaturen ersetzten ihm das Personal eines Flugzeugträgers. Die Erdrakete hatte die Form eines regelmäßigen Spitzkegels - also einer Tüte - und sie war ein Allesfresser: Das heißt, sie verarbeitete jeden Stoff, auf den sie stieß, zu Treibstoff. Vor den sternförmigen Saugdüsen wurde selbst härtestes Gestein jäh geschmolzen. Pumpen jagten es heckwärts - und hinter dem Giganto erstarrte es wieder. Durch das Zurückpumpen der verarbeiteten Materie gewann man (wie beim Düsenmotor eines Jets) den Rückstoß, der das Erdschiff vorwärtstrieb. Vom Beschleunigen oder Bremsen spürten Passagiere wegen des innen eingerichteten Verzögerungseffekts nichts. Nicht das geringste Beben unter den Füßen verriet einem Mitfahrer, daß das Schiff - langsam oder im „Affentempo“ - durch den dicksten Dreck in die dunkle Tiefe fuhr. Das gewaltige Fahrzeug war so gebaut, daß es unmerklich - und ohne die Insassen ins leiseste Schwanken zu bringen - jeden Stoff und jede Schicht in der Erde durchdringen konnte. Die GigantoHülle bestand aus einem Material, das Charivaris Labor-Spezialisten entwickelt hatten. Dabei war die Bindung zwischen den Atomen so verstärkt worden, daß sie erst bei hundert Millionen Grad Hitze oder Kälte aufbrechen konnte. Eine derartige Hitze herrscht aber nur auf einigen außergewöhnlichen Sternen. (Selbst die Sonne hat nur ungefähr vierzehn Millionen Grad!) Die feste Bindung zwischen den Atomen machte die Hülle
praktisch unempfindlich bis zu einigen Milliarden Atmosphären Überdruck. Das wußten die Freunde schon. Selbst der Pudel hopste freudig auf die offene Luke zu. Dieses merkwürdige „Hotel“ war auch ihm vertraut. „Endlich!“ japste Micha begeistert. „Diesmal haben Sie uns aber lange zappeln lassen, Herr Professor!“ Die Jungen und das Mädchen sahen sich aufatmend in der raffiniert ausgestatteten Kommandozentrale um. Professor Charivari trat an den bogenförmigen Befehlstisch. „So“, lächelte er. „Wir fahren bereits! Ich bin froh, daß ich euch endlich unter Kontrolle habe. Der Ragamuffin und seine Vavas sind offenbar mehr denn je der Meinung, mein Hauptquartier befinde sich in Monton und alles, was da an - für sie unerklärlichen - Fahrzeugen aufkreuzt, sei meinen Monitor-Weltraumgleitern oder den Erdraketen zuzuordnen. Das wird immer gefährlicher! Auch für völlig Unbeteiligte. Jetzt müssen wir endlich die Ragamuffin-Zentrale finden!“ Professor Charivari war eine seltsame Erscheinung. Groß, hager, kahlschädelig ... Der Kopf erinnerte in seiner Form an eine Salatgurke; der lackschwarze, dünne Fadenbart hing wie angeklebt vom Kinn herab. Seine dunklen, schmalen, etwas schrägen Augen unter den gleichfalls schwarzen Brauen glänzten ausdrucksvoll. Er wirkte wie der Trainer eines Sportklubs. Sah man allerdings genauer hin, bemerkte man, daß der scheinbar einfache Arbeitsoverall eine perfekte technische Kombination mit vielen schräg und waagerecht angebrachten Taschen, Leisten, Knöpfen und reißverschlußähnlichen „Zügen“ war. Auch die Ringe an seinen schmalen Händen dienten nicht als Schmuck, sondern zur Ausstrahlung oder zum Empfang verschiedener Signale. Professor Charivari war seine eigene, wandelnde Befehlszentrale. Superhirn trat neben ihn und blickte auf den bogenförmigen Kontrolltisch. Dort „tanzten“ Lichter, sausten farbige Ziffern in der Plattenfläche, die seltsame Reflexe auf Charivaris hohlwangigem Gesicht hervorriefen. „Wollen Sie nun doch den Ragamuffin und seinen innerirdischen Staat vernichten?“ fragte Tati. „Der Ragamuffin scheint noch immer die Menschheit vernichten zu wollen“, korrigierte Charivari. „Auf der Erdoberfläche haben die Staaten ja schon genügend Probleme. Und nun taucht auch noch diese innerirdische Macht auf, von der keiner, außer mir und meinen Leuten, etwas ahnt. Man stelle sich die Panik vor, wenn die Strahlenaktivität dieses unheimlichen Dunkelmannes bekannt werden würde!“ Der Professor war ein Friedenstechnologe, dem es bisher gelungen war, mit einem verschworenen Gelehrten- und Techniker-Team seine Labors am Grunde der Meere, die Werkstätten im Eis der Antarktis und am Mondpol - den die Raumfahrer nicht überfliegen konnten - geheimzuhalten und technisch „unortbar“ zu machen. „Hoch oben“, im All, schwebte, einer unendlich riesigen Luftblase vergleichbar, die für irdische Peilgeräte völlig abgeschirmte geheime Raumstation Monitor. Charivari war bestrebt, seine „Errungenschaften der Zukunft“ nicht in die Hände von Gewaltpolitikern fallen zu lassen, die sein Werk etwa mißbrauchen konnten. Aber ausgerechnet ihn hatte sich der unbekannte innerirdische Staat zum Hauptfeind gewählt. „Der Ragamuffin verwendet doch ein Strahlengemisch aus reiner Willensenergie und formulierten Gedanken“, sagte Henri. „So war's bisher jedenfalls. Haben Sie diesmal wieder irgendeine Botschaft von ihm entschlüsseln können?“ „Daß wir technisch dazu in der Lage sind, selbst Gedankenfetzen des Ragamuffin zu entschlüsseln, wißt ihr ja bereits“, erwiderte Charivari. „Nur nützt uns das zur Zeit wenig. Neuerdings verzeichnen nämlich die Geräte in der Weltraumstation wieder ein Durcheinander von Signalen, das keinen logischen Sinn ergibt. Wir haben als Quelle dieser Aktivitäten unterirdische Stellen bei Monton orten können. Aber es ist klar, daß dort der Ragamuffin nicht sitzt. Sein innerirdischer Staat befindet sich ganz woanders. Bei Monton war nur ein Störtrupp seiner Vavas am Werk.“ „Wo haben Sie zuletzt den Ragamuffin-Staat geortet?“ fragte Gérard. „Also die eigentliche Machtzentrale?“ Professor Charivari blickte ärgerlich auf. „Als Machtzentrale des Ragamuffins vermerken unsere Ortungen noch immer den Erdmittelpunkt.
Aber damit werden wir auf die dümmste Weise getäuscht. Im Stahlnickelkern der Erde kann bekanntlich kein Lebewesen existieren. Der Ragamuffin benutzt diesen Stahlnickelkern nur als Reflektor.“ Tati, Micha, Prosper, Gérard und Henri setzten sich auf Sessel und Sofabänke, die wie in einer modernen Hotelhalle um die Tische angeordnet waren. Der Giganto war ja nicht nur als Kriegsschiff zur Bekämpfung eines innerirdischen Staates gebaut worden, sondern als Rakete zur friedlichen Erforschung des Erdinnern. Dutzende von Wissenschaftlern hätten in aller Bequemlichkeit die Leuchtsignale in den Wänden registrieren und diskutieren können: Der Kommandoraum dieses neuesten Giganto glich einem riesigen Konferenzsaal für verschiedene Arbeitsteams. Auch gab es Gästeschlafzimmer an Bord, Waschräume, Kleiderkammern, eine Reihe von Labors, automatische Küchen, Imbiß-Kantinen, Restaurant- und Freizeiträume - und sogar einen großen Wintergarten, ähnlich einer Halle auf einer Gartenmusterschau. Vieles diente dazu, die Mitreisenden vergessen zu lassen, daß sie sich in der grauenhaften, tödlichen Dichte und Dunkelheit des Erdinnern befanden. „Ich schalte jetzt auf Schleichfahrt und nehme Funkverbindung mit meinen Stationen an der Oberfläche und im Weltraum auf“, sagte der Professor. Inzwischen steigt ihr in den Lift zum B-Deck. Richtet euch in aller Ruhe in den Gästekammern ein!“ Superhirn zog mit Henri zusammen in eine dieser Gästekammern, die den Eindruck von komfortablen kleinen Hotelzimmern machten. Henri war der besonnenste und vernünftigste seiner Freunde. Er brauchte ihm auch nicht erst zu sagen, daß ihn etwas bedrückte. „Dein Gesicht ist ein einziges Fragezeichen“, versuchte Henri zu spotten. „Wirklich: Und du guckst so bedenklich, daß man meint, im nächsten Moment müßten deine Brillengläser beschlagen.“ Superhirn grinste verzerrt. „Ist das Erdschiff nicht sicher?“ forschte Henri. „Wir wissen doch vom letztenmal, daß uns der Ragamuffin nichts anhaben kann, wenn wir im Giganto sind. Keine Kraft und keine Macht kann die Rakete knacken. Wenn du das nicht glauben würdest, wärst du doch gar nicht erst mit uns in diesen Erdbohrer eingestiegen!“ „Da hast du recht“, murmelte Superhirn. „Der Giganto ist kein simples U-Boot. Aber ich wollte wahrhaftig, wir waren diesmal nicht mitgefahren!“ Henri setzte sich aufs Bett. Fassungslos starrte er Superhirn an. „Wie kommst du denn darauf?“ fragte er nach einer ganzen Weile. „Hast du irgendeinen Defekt bemerkt? Ich meine, was Kaputtes? Oder glaubst du, daß der Professor nervös war?“ „Nein“, erwiderte der Freund entschieden. „Weder das eine noch das andere.“ „Sondern?“ „Charivari will diesmal aufs Ganze gehen“, antwortete Superhirn. „Das heißt, er will den geheimnisvollen innerirdischen Staat wirklich vernichten. Gut - ich weiß, was du sagen willst. Der Professor ist ein friedliebender Mensch. Es würde ihm genügen, das Ragamuffin-Volk für immer und ewig einzuschüchtern, so daß es niemals mehr wagen würde, aus seinem Globus-Hohlraum herauszukommen. Weder mit verkapselten Vava-Spionen noch mit Gedankenstrahlen.“ „Eben, das meine ich!“ rief Henri. „ Ich denke da gar nicht etwa an einen schauderhaften Kampf Charivari ist ja nicht wahnsinnig! Mit Micha, Tati und dem Pudel in eine innerirdische Schlacht zu ziehen – ha!“ Superhirn äugte ernst über die Brille, die ihm tief auf die Nase gerutscht war. „Überleg mal, was du da eben gesagt hast“, forderte er Henri auf. „Du denkst gar nicht an einen schauderhaften Kampf? Das ist ja gerade der wunde Punkt, um mich mal milde auszudrücken. Auch Professor Charivari denkt nicht daran.“ „Was soll das heißen?“ Mit Nachdruck erklärte Superhirn: „Aber der Ragamuffin könnte an einen schaurigen Kampf denken. Und das - scheint mir - hat sich Charivari nicht richtig klargemacht.“ Wieder schwieg Henri eine Weile. Er saß wie vor den Kopf geschlagen. Endlich sagte er: „Mensch,
du hast recht! Der Erd-Boß hatte ja schon mal Frieden geschlossen und seine Fühler eingezogen, weil er sah, daß er den kürzeren ziehen würde. Auf einmal fängt er wieder an, Unruhe zu stiften. Womöglich nicht aus Dämlichkeit. Er könnte inzwischen all seine Kräfte zusammengezogen haben und - und den Giganto in eine fürchterliche Falle locken.“ „Genau das meine ich!“ nickte Superhirn. Und er betonte jedes Wort. 7. Ein Schatten in der Schleuse Nach vier Stunden Schlaf, den sie dringend nötig gehabt hatten, trafen die Gefährten im Kommandoraum wieder zusammen. Professor Charivari stand an der bogenförmigen Befehlsplatte. Auf einem Bildschirm meldete sich Captain Biggs, Sicherheitschef der geheimen Weltraumstation. Er überwachte das Giganto-Unternehmen in der Erde. „Keine Vava-Strahlen mehr im Gebiet von Monton“, teilte er mit. „Alle unsere geheimen Unterseeund Raumstationen berichten übereinstimmend: Schwindende Aktivität. Anscheinend haben Sie die Störtrupps' in ihre unbekannten, innerirdischen Quartiere zurückgejagt. Der Ragamuffin wagt sich nicht zu rühren, da der Giganto auf Suchfahrt ist.“ „Gut“, sagte Professor Charivari befriedigt. „Das dachte ich mir schon. Wir ziehen ein paar Parkschleifen unter dem Atlantik und lassen uns Zeit zum Essen. Dann melden wir uns wieder. Ende.“ Superhirn warf Henri einen Blick zu, der etwa ausdrückte: Na? Was sagst du? Das haut dich um, wie? Als ob wir auf 'ner Vergnügungsfahrt wären.“ Die beiden Jungen ließen sich ihre Bedenken nicht anmerken. Besonders, weil der Professor seiner Sache so sicher und deshalb außerordentlich gut gelaunt war. Außerdem wollten sie die anderen nicht ängstlich machen. Da kein Alarmzustand herrschte, konnte sich jeder in aller Ruhe eine Speisefolge nach seinem Geschmack im Chefrestaurant zusammenstellen. Für Tati und Micha war das ein besonderes Ereignis: Es gab nämlich unter anderem alle möglichen Sorten Eis, dazu die köstlichsten Früchte nach Wahl. „Ich. bin dem Ragamuffin und seinen Vavas direkt dankbar!“ rief Micha übermütig. „Denn wenn sich diese verkapselten Muffels nicht bei Monton rumgetrieben hätten, säßen wir jetzt nicht im Giganto.“ „Ja“, grinste Gérard. „Dieses Jahr hatte der Ragamuffin ein großartiges Ferienprogramm für uns. Der Bursche ist der beste Reiseleiter, den es gibt.“ Prosper lachte: „,Reiseleiter? Das ist prima! Wir können ihn immer so nennen, wenn fremde Leute dabei sind. Das fällt dann wenigstens nicht auf.“ Selbst Tati amüsierte sich. Doch sie meinte: „Ich würde eher unseren Professor einen guten Reiseleiter nennen. Der Ragamuffin hat bisher nur Aufregungen geboten, gesträubte Haare und Gänsehaut. Von einem Reiseleiter verlange ich erstens Sehenswürdigkeiten, zweitens hervorragende Unterbringung, drittens leckere und reichhaltige Verpflegung. Das alles bietet Professor Charivari konkurrenzlos. Denn, daß der Giganto 'ne einzigartige Sehenswürdigkeit ist, wird wohl jeder zugeben.“ „Ohne Diskussion!“ bekräftigte Henri. „Ihr seid ja auch 'ne Reisegruppe, wie man sie sich besser nicht wünschen kann“, lächelte der Professor. Superhirn räusperte sich. Er war die ganze Zeit ernst geblieben. Jetzt fragte er Charivari: „Sie und Ihre Leute haben noch immer keinen Schimmer davon, wo der innerirdische Ragamuffin-Staat liegen könnte?“ „Wir sprachen ja schon davon: Nein!“ erwiderte der Professor. „Eine Gruppe meiner Wissenschaftler wertet jede literarische Quelle aus, die von versunkenen Erdteilen, Inseln, Städten und Kulturkreisen spricht. Auch entsprechende Sagen der verschiedenen Völker werden nach ihrem möglichen Wahrheitsgehalt abgeklopft. Ebenso beobachten wir alle Forscher, die etwa in Südamerika nach Überresten uralter Städte graben. Oder solche, die anhand von Schallmessungen und Spezialfotos Straßen und Mauern Vinetas und sogar ähnliche Rückbleibsel von Atlantis auf dem
Meeresgrund entdeckt haben wollen.“ „Sie meinen also“, fragte Superhirn, „der Ragamuffin-Staat besteht aus Nachkommen eines untergegangenen Volkes, das möglicherweise bei einer Erdfaltung oder Erdspaltung ins Innere abgerutscht ist und dort in einer Art Luftblasen-Enklave weiterlebt?“ „So ähnlich“, nickte Charivari. „Diese Leute sind auf jeden Fall Menschen. Ich nehme sogar an, sehr hochgeartete. Sie haben nur ihre Fähigkeiten ganz anders weiterentwickelt als wir.“ Er unterbrach sich, denn Superhirn putzte plötzlich wie ein Verrückter seine Brille. Auch die Freunde blickten erstaunt auf. „Was hast du denn?“ fragte Charivari. Superhirn setzte seine Gläser wieder auf die Nase und äugte wie eine Eule durch die Tür der Kantine zum Kommandoraum. An der Schleuse hab ich den Schatten eines Mannes gesehen“, stieß er hervor. Im Nu waren alle auf den Beinen. „Das ist nicht möglich!“ rief Charivari. „Die automatische Personenkontrolle kann nicht versagt haben! Wenn sich hier einer einschleicht, dessen Körper- und Gehirnmeßwerte nicht gespeichert sind, so wie eure, gibt´s sofort Großalarm!“ Die Freunde wußten, was das bedeutete. Bei Großalarm zuckten grelle Warnzeichen über die Wände, Sirenen heulten auf, Klingeln schrillten, ja, das indirekte Licht ganzer Giganto-Wohnteile wechselte die Farbe, und die Sessel, Sofabänke und Betten kippten um, um Schläfrige munter zu machen. Gefolgt von Henri, Prosper, Gérard, Tati, Micha und dem bellenden Pudel rannte der Professor in die Befehlszentrale. „Alles völlig normal!“ rief er. Am bogenförmigen Kommandotisch prüfte er hastig die Signalkontakte. „In Ordnung! Nichts, gar nichts, zeigt den Ausfall der Alarmanlage an!“ Tati nahm den verwirrten Pudel auf den Arm. Die Jungen studierten die Skalen an den Wänden: Erdtiefe, Außentemperatur, Fahrtgeschwindigkeit. Auf einmal sah sich Henri nach Superhirn um. Der spindeldürre Junge war im Chefrestaurant geblieben und löffelte in aller Seelenruhe sein Eis. „Sag mal!“ rief Henri verblüfft. „Hier bist du noch? Erst siehst du einen gespenstischen Schatten, die ganze Besatzung überschlägt sich vor Aufregung, der Professor spielt auf dem Kommandotisch Klavier - und du sitzt da und schleckst Eis!“ „Pst!“ mahnte Superhirn. „Nicht so laut.“ Sein Blick hinter den kreisrunden Augengläsern bekam etwas Pfiffiges. „Es gibt gar keinen Fremden an Bord. Jedenfalls hab ich keinen gesehen. Auch diesen angeblichen Schatten nicht.“ „Bist - bist du wahnsinnig?“ stammelte der Freund. „Im Gegenteil!“ das Gesicht des spindeldürren Jungen straffte sich. Er war todernst. „Ich wollte dem Professor und euch nur etwas Dampf machen.“ „Waaas?“ Superhirn blieb ruhig. „Ich sagte dir schon, ich halte diese Fahrt für gefährlich. Für gefährlicher als alles, was wir je erlebt haben. Charivari mußte aus seiner falschen Sicherheit aufgeschreckt werden!“ Er ging mit dem kopfschüttelnden Henri in den Kommandoraum. Der Professor sah von dem bogenförmigen Befehlstisch auf. „Ich habe sämtliche KontrollApparaturen still abgefragt. Es kann sich kein Eindringling an Bord befinden!“ Über Bildfunk rief er den überwachenden Sicherheitschef auf der Raumstation Monitor im All. Das nette, jugendlich unbekümmerte Gesicht von Captain Biggs erschien auf der Mattscheibe. „Hallo, Professor, hallo, Superhirn, hallo, Tati - und ihr anderen rühmlichen Erdforscher! Letzte Nachricht vom Ragamuffin. Wollte sie gerade durchgeben. Haltet euch fest!“ „Zur Sache!“ befahl Charivari. „Was ist los, Biggs?“ „Wir empfingen soeben unverschlüsselte Gedanken des Ragamuffin“, rief Captain Biggs. „Sie sollten sich mit dem Giganto aus dem Erdinnern zurückziehen. Er hat alle Vavas zurückgerufen und will uns nicht mehr stören.“ Schnell sagte Superhirn: „Das klingt zwar allzu schön, aber es könnte tatsächlich die Wahrheit sein.
Am besten, wir fahren sofort hoch - und kehren heim nach Monton.“ „Trotzdem“, teilte Charivari Captain Biggs mit, „ob wir heimkehren oder nicht - ich habe alle Geräte und Apparaturen auf erhöhte Wachsamkeit gestellt, weil Superhirn einen Schatten gesehen haben will. Vielleicht - nein, sicher - war's aber auch nur eine Schmutzstelle auf seinem Brillenglas. Sonst noch eine Nachricht?“ „Auf der Antillen-Insel Guadeloupe ist der Vulkan La Souffriére ausgebrochen. Und zwar, wie die Rundfunk-Stationen auf der Erde melden, mit der Gewalt mehrerer Atombomben“, erwiderte Biggs. „Anscheinend haben Sie die Giganto-Spürstrahlen eingezogen, sonst hätten Ihre Geräte das anzeigen müssen!“ „Ich fahre die Spürstrahlen aus“, sagte Professor Charivari nach kurzem Zögern. „Beraten Sie sofort mit unseren Ragamuffin-Experten: Besteht auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit, daß der Vulkanausbruch auf ein Störmanöver innerirdischer Lebewesen zurückzuführen ist? Wir warten auf Parkbahn - gleichbleibende Positionen!“ Die Mattscheibe mit Biggs Gesicht erlosch. „Zunächst noch mal zu dem Schatten, Superhirn“, wandte sich Professor Charivari an den Jungen. „Könnte meine Annahme stimmen, daß dich - ich will nicht sagen, ein Fleck auf der Brille - aber eine Einbildung getäuscht hat?“ „Selbstverständlich“, gab Superhirn gelassen zu. „Aber es ist jedenfalls besser, in Alarmbereitschaft zu sein. Finden Sie nicht, Herr Professor?“ Charivari musterte den spindeldürren Jungen scharf. Er lächelte. „Du trägst deinen Namen zu Recht, Superhirn. Wie sollte gerade ich dies auch nur eine Sekunde lang vergessen dürfen?“ Henri warf dem Freund einen schnellen, bewundernden Blick zu. Doch Prosper rief: „Was? Soll das heißen, der komische Schatten in der Schleuse war 'ne Fehlanzeige? Superhirn hat Tomaten auf den Augen gehabt7“ „Hast wohl 'nen Knall, uns alle so durcheinanderzubringen7“ ärgerte sich Gérard. „Deinetwegen kriegt der Pudel noch graue Haare.“ „Und ich auch“, behauptete Micha wütend. Jetzt wollte Tati etwas sagen, doch sie kam kaum dazu, den Mund zu öffnen. Ein furchtbarer Schlag traf den Giganto. Er traf die gegen jede denkbare Gewalt gesicherte Schiffshülle der riesigen Erdrakete wie mit einer diamantenen Titanenfaust. Der Professor sauste zwei Meter hoch und krachte mit voller Wucht zurück auf die Befehlsplatte. In den seltsamsten Verrenkungen flog die übrige Besatzung durch den Kommandoraum. Der Pudel landete auf Michas Kopf. Stumm vor Schreck rappelten sich alle hoch. Alle - außer Superhirn. „Er - er ist bewußtlos“, stammelte Tati. „Er ist mit dem Hinterkopf gegen die Schleusentür geknallt.“ Sie beugte sich über ihn. „Eine Verletzung kann ich nicht erkennen.“ Mit drei, vier Sprüngen war Charivari bei ihm. „Helft mir, ihn in die Lazarettkammer zu schaffen“, befahl er. „Ich denke, er wird bald wieder zu sich kommen.“ Henri nahm sicherheitshalber Superhirns Brille an sich. Als sie den Jungen in die Kammer neben der Schleuse geschafft hatten, liefen sie in den Kommandoraum zurück. Micha beruhigte den Pudel. Charivari tippte eilig auf der bogenförmigen Platte umher. Im Raum stand jetzt der matte Lichtball des Hologramms, das die Erde darstellte. Auf diesem Gebilde erschienen die Kontinente schwach grünlich. Ein rötlicher Punkt stellte den Giganto dar und zeigte dem Betrachter dessen jeweilige Position. Das Erdschiff befand sich auf seiner Warteschleife etwa 10000 Meter unter dem westlichen Atlantik. Charivari schaltete in den Erdsimulator und Hologramm-Fahrtenschreiber noch einiges hinein: nämlich, was die Mini-Spähkameras in der Außenhaut und die verschiedenartigen Spürstrahlen „mitzuteilen“ hatten. „Der Vulkan auf Guadeloupe ist in voller Tätigkeit“, murmelte er, auf den Lichtball starrend. Man sah den schwachen, winzigen Abglanz gewaltiger Eruptionen. „Sind wir von dem Ausbruch betroffen?“ fragte Gérard. „Unmöglich“, sagte der Professor. „Sieh selbst, wie weit nordöstlich wir von Guadeloupe stehen!
Und wie tief unter der Vulkan-Ebene. Ich kann mir den Schlag überhaupt nicht erklären. Der Giganto ist so konstruiert, daß ihm selbst eine starke Erdbewegung so wenig anhaben kann wie aufgepeitschtes Wasser einer stählernen Murmel.“ „Aber der Vulkanausbruch soll die Kraft von Atombomben gehabt haben“, erinnerte Prosper. „Die Kraft“, betonte Charivari. „Die Kraft, aber nicht die Wirkung. Dies ist ein großer Unterschied.“ In diesem Augenblick traf den Giganto ein neuer Schlag, so wuchtig, daß der Befehlstisch an zwei Stellen aus den Fugen geriet. Alle Kontrollplättchen erloschen. Auch der Lichtballon verschwand. Wieder rappelte sich die Besatzung auf. Der Pudel verdrückte sich in die Hauptschleuse. Superhirn lag noch immer bewußtlos in der Lazarettkammer. Tati, Micha, Henri, Gérard und Prosper blickten mit geweiteten Augen auf den Professor. Charivaris Gesicht war noch gelber als sonst. Fast verzweifelt strich er sich dein dünnen Fadenbart. „Keine Verbindung mit Captain Biggs“, murmelte er. „Einige Aggregate sind zerstört. Ich wundere mich, daß kein einziges Mal das automatische Warnsystem ausgelöst worden ist.“ Wumm - krachte es auf den Giganto nieder. Wumm - wumm. Die Besatzung klammerte sich an Tische und Bänke. Unsere Erde, zwar nur ein Pünktchen im Weltall, ist im Inneren stärker als jede menschliche Technik. Menschen hatten auf dem Mond landen können, Menschen streckten die Hand nach dem Mars aus, doch das waren machbare Dinge. Im Weltall gibt es ja nicht den Druck, der im Globus herrscht. Würde der Giganto aufbrechen, so würde er im gleichen Moment zu einer unkenntlichen Masse mit der Erdmaterie verschmelzen. Henri erinnerte sich an Superhirns düstere Ahnungen. „Kann das der Ragamuffin sein?“ fragte er. „Ich meine: die rätselhafte Kraft, die uns da bombardiert?“ „Ich wüßte nichts anderes“, gab Charivari offen zu. „Ich hätte das voraussehen müssen. Niemals hätte ich die Spürstrahlen...“ Ein neuer Schlag, bisher der schlimmste, unterbrach ihn. Der Giganto rüttelte jetzt wie ein entgleisender Eisenbahnwaggon. Alle hielten sich fest, wo sie nur konnten. Charivari hing über der nutzlos gewordenen Bogenplatte und drehte und zerrte an den Knöpfen und Zügen seiner Jacke. Im äußersten Notfall war er ja seine eigene wandelnde Befehlszentrale. „Ich gebe der Gleichgewichtsanlage des Giganto Funkimpulse“, ächzte er. Wumm - wumm – wumm. Eine Serie schwerster Schläge traf den Giganto von allen Seiten. Im schlingernden Kommandoraum erschien plötzlich Superhirn. Er kroch auf allen vieren. „Wo ist meine Brille?“ stöhnte er benommen. Krack - huiii – peng. Die mörderischen Hiebe aus der Erde folgten in immer dichteren Abständen. Superhirn war auf einmal wacher als alle anderen. „Das hat mit dem blöden Vulkan überhaupt nichts zu tun!“ brüllte er. „Überhaupt nichts!“ Er wußte nicht, daß Charivari inzwischen zu dem gleichen Ergebnis gelangt war. „Gehen Sie auf Hochfahrt, Professor! Programmieren Sie das Schiff auf Guadeloupe! Ich schätze, unter dem Vulkan sind wir am sichersten.“ Charivari rief die Maschinenelektronik über Mikrofon an: Sie war genau auf seine Stimmfrequenz und auf bestimmte „Reizworte“ eingestellt. In der Backbordwand leuchteten Welt- und Erdabschnittskarte mit Sektorenmarkierungen und Ziffern auf. Das Schiff schien der Not-Programmierung zu gehorchen. Es glitt nun auch wieder so unmerklich dahin wie vorher. Henri reichte Superhirn die Brille. „Ich hätte es Ihnen gleich sagen sollen, was ich fürchtete“, sagte Superhirn in ruhigem Ton zu Charivari. „Über das Ausmaß der Fähigkeiten des Ragamuffins waren wir uns nie ganz klar. Manchmal haben wir sogar geglaubt, er blufft nur.“ „Ja. Jedenfalls saß er bisher immer auf dem falschen Dampfer“, unterbrach Prosper. „Einmal zerstört er Uhren und Waschmaschinen, ein andermal zieht er U-Boote in den Schlick. Er weiß bei uns nicht Bescheid.“ „Und wir bei ihm nicht“, konterte Superhirn. „Ich hatte mir das genau überlegt, gleich als wir an
Bord kamen. Mit einem mußten wir unbedingt rechnen.“ „Womit?“, drängte Henri gespannt. „Daß wir längst nicht alle seine Fähigkeiten kennen. Seine Vasallen haben einerseits festes Material und technische Geräte mit Blicken durchbohrt wie mit Geschossen. Folglich muß dieses RagamuffinVolk seine Willensenergie materialisieren oder verdichten können. Andererseits hat es die U-Boote in einen Sog gebracht und die Besatzungen vorübergehend gelähmt. Also können unsere Gegner ihre Willensenergie auch als magische Waffe einsetzen.“ „Das wissen wir doch!“ rief Tati. „Aber du hast vergessen, daß der Ragamuffin schon einmal gedroht hat, die Erde platzen zu lassen“, fuhr Superhirn fort, „Wenn das nun kein Bluff war? Womit sollte er unseren Globus auseinandersprengen, he? Wo er doch mit keiner anderen Kraft arbeitet als mit einer für uns unfaßbaren Gedanken- und Willensenergie?“ „Mit Gedanken-Kanonen und Gedanken-Raketen“ rief Prosper. „Na, klar! Vielleicht sogar mit 'ner Gedanken-Atombombe!“ „Das hat der guten Mutter Erde gerade noch gefehlt“, murmelte Gérard. „Als ob wir da oben nicht schon genügend Auswahl hätten.“ Der Professor war der Diskussion seiner jungen Gefährten bisher schweigend gefolgt. „Du meinst...“ schaltete er sich nun, zu Superhirn gewandt, ein, „wir sind möglicherweise vorhin in eine Art Minenfeld aus gespeicherten Vava-Gedanken geraten?“ „Genau das meine ich!“ erklärte Superhirn. „Und deshalb glaube ich, unter dem ausgebrochenen Vulkan sind wir sicher. Denn in solchen Gegenden ist bestimmt kein Gedanken-Munitionsdepot.“ „Du müßtest den großen Giganto-Orden mit Schulterband und Stern kriegen“, sagte Charivari. Er lächelte anerkennend. „Wie du auf der Leuchttafel siehst: die Not-Programmierung hat geklappt! Ich werde versuchen, über meinen Armbandsender mit Biggs Kontakt zu bekommen.“ Er drehte an dem winzigen Gerät an seinem Handgelenk. Das war ein Bildempfänger in der Größe eines Zifferblattes. Doch auf der kleinen Fläche schimmerte das Gesicht des Sicherheitschefs in der überwachenden Raumstation nicht auf. Dafür stand der Lichtballon, der die Position des Giganto in der Erde anzeigte, wieder im Raum. „Es ist wie verhext“, brummte Charivari. „Nach dieser Erschütterung funktionieren die Geräte nur noch nach Lust und Laune.“ „Meine Urgroßmutter hat schon gesagt: Hau nie dem Computer eins auf den Hut“, versuchte Prosper zu scherzen. „Sie sprechen von funktionieren“, griff Superhirn die Worte des Professors auf. „Funktioniert der Fahrtenschreiber denn oder stimmt die Kursprogrammierung nicht? Das rote Pünktchen, das unseren Giganto darstellt, gleitet nämlich ins Erdinnere zurück.“ Der Professor fragte die Elektronik der Maschinenräume ab. Ohne Ergebnis. Die künstliche „Stimme“ der Ingenieurs-Automatik meldete sich nicht. Ebenso signalisierte kein entsprechendes Sichtzeichen in der Wand einen Schaden oder einen Fehler. Nach einer Weile war Charivari klar, daß er das Schiff nicht mehr unter Kontrolle hatte. „Es steuert, wohin es will“, sagte Gérard. Mit Glotzaugen starrte er in den FahrtenschreiberLichtball. Inzwischen hatte sich Superhirn wieder etwas überlegt. „Sind die Suchstrahlen noch ausgefahren?“ forschte er. Sein Gesicht war bleich und spitz. „Befinden sich unter diesen Spürstrahlen neue, etwa solche, die wir nicht kennen?“ „Ja. Und einer, den ich vor dem Geräteausfall nicht mehr rechtzeitig einziehen konnte, macht mir die meiste Sorge. Es ist ein stark verbesserter Hohlraumsucher“, erwiderte Charivari. „Er ist dazu da, Höhlen oder Blasen im Erdinnern aufzuspüren, und zwar von Lebewesen bewohnte oder geschaffene.“ „Mit welcher - welcher Genauigkeit kann dieser Spürstrahl das ertasten?“ fragte Superhirn gespannt. „Mit derselben Genauigkeit, wie ein geschultes Auge auf einem Luftfoto natürliche Bodenerhebungen von künstlichen unterscheidet“, erwiderte Charivari prompt. „Etwa von überwachsenen, uralten
Festungswällen. Oder wie das Auge eines Höhlenforschers auf einem Bild erkennt, ob die betreffende Höhle Merkmale von menschlicher Bearbeitung aufweist.“ „Dann sind wir verloren!“ entfuhr es Superhirn. 8. Rettung in letzter Sekunde Im Kommandoraum herrschte gespenstisches Schweigen. Bis Prospers Stimme die lähmende Stille durchbrach. „Wa-wa-was redest du denn, Superhirn?“ rief er schrill. Er hampelte herum, als sei er am Durchdrehen. „Du machst ja alle ganz verrückt mit deinem dauernden Gequassel!“ „Reiß dich zusammen!“ herrschte Tati ihn an. „Wenn einer die anderen verrückt macht, dann bist du's! Nimm dir ein Beispiel an Micha!“ Prosper schwieg. „Der Hohlraum-Spürstrahl könnte uns also automatisch in 'ne Art Gedanken-Munitionsfabrik des Ragamuffins führen“, begriff Henri entsetzt. „Ja! Und dann kriegen wir die geballten Ladungen in die Saugdüsen - und in die Maschinen“, sagte Superhirn heiser. Über Mikrofon und mit Hilfe seiner Mini-Geräte, die er am Leibe trug, versuchte der Professor auf den Kurs einzuwirken und den Sicherheitschef in der außerirdischen Überwachungsstation zu erreichen. Vergeblich! Das Fahrtenschreiber-Pünktchen im Lichtballon sank immer tiefer. Hustend und bellend kam der Pudel aus der Hauptschleuse gesprungen. Er gebärdete sich wie toll. Diesmal begriff der Professor als erster, was los war. „Es riecht nach Schwefel und Maschinenöl!“ schrie Micha. Mit verzerrtem Gesicht drückte Charivari auf einen roten Gefahrenknopf in der Wand. „Der funktioniert“, keuchte er erleichtert. Jetzt stieß auch Tati einen Schrei aus. In der Hauptschleuse standen - fünf Gestalten. Sie trugen Werkanzüge und silbrige Schutzhelme. Jeder hatte ein Gerät in der Hand: eine Art Stemmeisen, eine Zange, eine Axt, einen Spezialbohrer und einen enormen Schraubenschlüssel. Das war ein Teil des „Maschinenpersonals“. Es handelte sich aber nicht um Menschen, denn ein Lebewesen konnte das höllische Gebrodel nicht betreten. Es waren Roboter, hitzebeständige, programmierte Automaten in Menschengestalt. Hilfsaggregate, denen der Professor ihr schauriges Aussehen nicht zuletzt deshalb gegeben hatte, um unerwünschte Eindringlinge abzuschrecken. Sie mußten ein Signal falsch verstanden haben, oder die defekte Übermittlung hatte ihnen falsche Impulse eingegeben. Jedenfalls waren sie durch mehrere Hinterschleusen über die Kühlschleuse in die Hauptschleuse gekommen. Normalerweise reagierten sie auf eingespeicherte Reizsignale oder sogar -worte. Doch diesmal sah man sofort, daß ihre Steuerungen kaputt waren. Sinnlos tappten sie durcheinander. „Warum schieben Sie die Tür nicht vor die Schleuse?“ brüllte Gérard. „Die sollen mit mir nicht Fußball spielen!“ „Der Kommandoraum ist abgeblockt“, sagte Charivari beruhigend. „Und zwar mit einem Luftpanzer! Den durchdringen sie nicht!“ „Ha-ha-hat man so was schon erlebt?“ stammelte Prosper. „Die Kerle bringen sich gegenseitig um. Sie dreschen aufeinander ein und reißen sich die Köpfe ab!“ Tatsächlich wurden sie Zeugen der gegenseitigen Zerstörung des Maschinen-Teams. Ein schauderhafter Anblick. Offenbar gaben die Roboter wegen des Durcheinanders von Fehlimpulsen einander sogar noch die „Befehle“ dazu! Die Schutzhelme flogen durch die Schleuse, Arme, Beine, eine Flut von elektronischen Kleinstteilchen. Der Automatenmann mit der Axt warf sich wie ein Wilder gegen die durchsichtige Absperrung. „Wenn der reinkommt, sind wir geliefert“, meinte Henri schluckend. „Der haut hier alles zusammen!“ Plötzlich glühten die Augen des Roboters auf. Er riß sich selber den Kopf ab und brach zusammen. Der Gespenstertanz war zu Ende. Dafür begann ein neuer, weit schrecklicherer. Wie zum Hohn erschien Captain Biggs auf dem Bildschirm. „Was ist los?“ rief er. „Warum halten
Sie keinen Kontakt? Unsere Gehirnwellen-Geräte hat's mal wieder durchgehauen. Wie sieht´s bei Ihnen aus?“ „Giganto meldet: Erdschiff verloren!“ teilte Professor Charivari hastig mit. Er warf einen Blick auf den Fahrtenschreiber und gab die Position durch. Seine weiteren Anweisungen konnte kaum einer verstehen, denn das Schiff begann wieder mörderisch zu rütteln. Gleichzeitig schepperte es in den Wänden, als sei der Giganto eine ungeheure, mit Steinchen gefüllte Konservendose. „Wir sind auf ein Gedanken-Depot des Ragamuffins gestoßen“, schrie Superhirn Henri ins Ohr. „Die Saugdüsen nehmen alles auf, also auch das verdichtete Energie-Material. Und das reißt uns jetzt die Maschine auseinander.“ „Kommt!“ rief Professor Charivari. Er gab den unter diesen Umständen höchst merkwürdigen Befehl: „Aussteigen!“ In der Erde kann man natürlich nicht einfach aussteigen. Doch wenn Charivari auf der Fahrt einiges nicht bedacht hatte, so glaubte er doch, noch nicht am Ende zu sein. An Bord des Giganto gab es eine sonderbare Telefonzelle. Darin erblickte er jetzt die Rettung. Im Kommandantenbüro, stand diese seltsame Zelle, und sie beherbergte alles andere als einen gewöhnlichen Postapparat, vielmehr ein Molekular-Telefon. Damit konnte man nicht nur seine Stimme, sondern seinen ganzen Körper durchtelefonieren! Professor Charivaris Erfindung beruhte auf einer längst von Weltgelehrten - sogar von einem Nobelpreisträger für Chemie - gehegten Idee. Charivari hatte sie in die Tat umgesetzt. Wählte man am Molekular-Telefon eine bestimmte Nummer, so löste man sich in Kleinstteilchen auf und setzte sich unmittelbar darauf, am Sitz des gewählten Anschlusses, wieder zusammen. Bei diesen Anschlüssen handelte es sich aber nur um Charivaris Geheimstationen, die Raumschiffe und die übrigen Erdraketen. Die unsichtbare Abschirmung zur Schleuse ließ sich beseitigen. Alle stolperten über die zerstörten Roboter hinweg in das Chefbüro. „Einer nach dein anderen in die Zelle! M1 wählen. Dann seid ihr sofort im Weltraumschiff Monitor, das in der schottischen Hochebene steht“, rief Charivari. „Los, los! Tati, nimm den Pudel auf den Arm! Superhirn und ich folgen als letzte.“ Der Reihe nach wählten die Gefährten M1 - und verschwanden blitzartig. Doch als Superhirn an das Molekular-Telefon trat, funktionierte es nicht mehr. Kreidebleich blickte der Junge den Professor an. „Schätze, da stecken auch schon fremde Energien drin!“ Plötzlich zerbröselte der Apparat vor ihren Augen zu Pulver. „Zurück in den Kommandoraum!“ rief Charivari. Er griff nach dem Mikrofon und nestelte an seinem Befehlsanzug herum. Superhirn wußte, der Professor versuchte alle Reserven des rüttelnden, schwer angeschlagenen Giganto zu mobilisieren, um einen Hochstart zur Erdoberfläche zu erreichen. Das Scheppern und Prasseln in den Wänden wurde lauter und lauter. „Wenn überhaupt irgendwo, so werden wir im Hauptquartier des Ragamuffins landen“, prophezeite der junge düster. „Na, hoffentlich sind wenigstens die anderen in Sicherheit.“ Donnergetöse setzte ein. Alles Licht fiel aus. „Die Maschine explodiert“, brüllte Superhirn. Er meinte, sie „implodierte“, das heißt, sie fiel in sich zusammen. Tatsächlich hatte sich der Maschinenteil gelöst, wie ein Triebwerk von einer Kapsel. Aber die Kapsel, die Gigantospitze, stand jetzt still. Es herrschte eine unheimliche, beängstigende Ruhe. „Wohn- und Befehlsteil der Rakete sind abgeschirmt“, murmelte Professor Charivari. „Nur - wir sitzen fest. Und wie lange die Hülle das jetzt aushält...“ „Haben Sie nicht eine Rettungsrakete im Lastenraum?“ fragte Superhirn. „Nein, die war defekt. Und ich verließ mich auf das Molekular-Telefon“, erwiderte der Professor und wirkte mutlos wie nie. Plötzlich knisterte es in der Backbordwand. Unwillkürlich zogen sich die beiden letzten Giganto-Fahrer auf die andere Seite zurück. Sie starrten
auf die knisternde Wand. Der Professor ließ seinen Fingerring-Scheinwerfer aufleuchten. Eine Art Naht, kreisrund, etwa von einem Meter Durchmesser, zeichnete sich jetzt auf der Backbordseite ab. „Der Ragamuffin durchbricht die Hülle“, sagte Superhirn dumpf. „Im Gegenteil!“ Charivari atmete auf. „Ein Atomkern-Schweißgerät schafft eine Öffnung. Das kann nur jemand von meinen Leuten sein! Raus, in die Hauptschleuse, damit uns der Strahl nicht trifft!“ Nach kurzer Zeit ertönte es hohl über einen Lautsprecher durch den dunklen Kommandoraum: „Hallo? Ist da noch jemand drin? Schnell! Hier Hilfs-Giganto 3!“ Der Mann sprach englisch, und Professor Charivari erkannte seine Stimme sofort. „Ingenieur Tedder!“ Gefolgt von Superhirn, lief er in den Kommandoraum. Durch das metergroße runde Loch in der Hülle drang schwacher Lichtschein. Wieder ertönte die Stimme: „Sie können durchkriechen. Die Strahlung ist abgestellt. Der Kanal ist klimatisiert.“ Ein Kanal war das Loch in der Hülle des Giganto-Wracks wahrhaftig. Superhirn rutschte als erster hindurch. Er kroch durch die geöffnete Luke des kleinen Erdschiffs, das sich an die Hülle des verlorenen Riesen gepreßt hatte. Als auch Charivari an Bord des Kleinen war, schloß Ingenieur Tedder sofort die Luke und startete. „Das“, sagte der Professor schwer atmend, „war buchstäblich Rettung in letzter Sekunde.“ Sie saßen in der Hilfsrakete wie in einem Auto. „Ich lag im Weltraumschiff Monitor auf der schottischen Hochebene in Reserve“, berichtete Tedder. „Plötzlich erschienen die heraufgeschossenen Jungen und das Mädchen samt dem Pudel. Da Sie und der fünfte Junge aber nicht folgten. befahl mir Kommandant Lang diesen Rettungsversuch. Sie hatten ja Biggs Ihre Position durchgegeben, und Biggs hatte uns darüber informiert. Nun, ich fand das Wrack mit Hilfe des Spürstrahlers.“ „Ziehen Sie bloß Ihre Sucher ein!“ rief Superhirn. „Die könnten vorn Ragamuffin und seinen Vavas erfaßt werden!“ Als Tedder Näheres erfuhr, meinte er: „Komisch. Da hab ich wohl Glück gehabt. Ich bin nicht auf so eine Gedanken-Mine gelaufen.“ Er fügte hinzu: „Das Depot, auf das Sie gestoßen sind, muß vollständig mit Ihnen hochgegangen sein. In meinem Mini-Schiff war überhaupt nichts zu merken!“ „Möglicherweise hat der neue Spürstrahler den Giganto ausgerechnet zu dem rätselhaften EnergieSpeicher geführt“, sagte Professor Charivari. „Jedenfalls werde ich im neuen Giganto einiges verbessern müssen.“ „Das meine ich auch!“ sagte Superhirn mit Nachdruck, Der Junge war erst erleichtert, als sie in den Lastenteil des Raumfahrzeugs glitten: Das Raumschiff Monitor lag wie ein Fels in der schottischen Einsamkeit - im Zwielicht eines anbrechenden Morgens. Tedder brachte die beiden Geretteten in die Befehlszentrale des Raumgleiters. Freudig hopste ihnen der Pudel entgegen. Henri, Tati, Micha, Gérard und Prosper sahen schon wieder recht vergnügt aus. „Mensch, Superhirn!“ rief Henri. „Also, wie wir da durch das Molekular-Telefon geflutscht sind.“ „Toll!“ schrie Micha. „Aber bei euch hat wohl der Anschluß nicht geklappt?“ „Nee“, grinste Superhirn, „wir sind per Rohrpost gekommen.“ Kommandant Lang begrüßte den Professor sehr herzlich. „Captain Biggs von der überwachenden Raumstation will Sie sprechen“, sagte er dann. Biggs meldete sich sogleich auf seinem Bildschirm. „Der Bericht unserer Ragamuffin-Experten liegt jetzt vor“, sagte er. „Der Vulkanausbruch auf Guadeloupe scheint den Ragamuffin irritiert zu haben. Vielleicht hat er gemeint, die Naturkatastrophe sei technisch bedingt und durch den Vorstoß eines Erdschiffs auf sein Hauptquartier hervorgerufen worden.“ „Und wir glaubten beinahe das Umgekehrte“, rief Prosper. „Der Ragamuffin wäre am Vulkanausbruch schuld.“ „Jedenfalls setzte sofort nach dieser Katastrophe fieberhafte, unerhört starke Gehirnwellentätigkeit kreuz und quer durch den Erdball ein“, berichtete Biggs weiter. „Ob der Ragamuffin durch Gedankenzündung verschiedene Gedankenspeicher gewissermaßen ferngezündet' hat - oder ob Sie in
einen Minengürtel geraten sind, ist von unseren Geheimstationen aus nicht feststellbar. Er könnte auch selbstlenkende Gedanken-Torpedos abgeschossen haben, die sich den Weg über den GigantoSpürstrahler suchten.“ „Hm“, überlegte Charivari. „Unser Giganto ist zwar verloren, und wir waren in höchster Gefahr, trotzdem hat mir das Abenteuer wesentliche Aufschlüsse gegeben. Für den nächsten Vorstoß zum Ragamuffin-Hauptquartier werden wir uns mit einer Menge zusätzlicher Sicherheiten wappnen müssen. Ein Trost ist nur, daß der Erd-Boß erst einmal gewaltige Kräfte verloren hat. So dürfte er ein Weilchen Ruhe geben. Hauptsache, wir haben alles heil überstanden.“ „Finde ich auch!“ rief Tati. „Nur werden wir mit diesem Raumschiff zur Geheimstation im Weltall starten“, fuhr Charivari lächelnd fort. „Die Rettung muß gefeiert werden! Und ihr habt eine Erholungspause nötig!“ Waff! bekräftigte der Pudel. Er war als Bordhund sehr nützlich gewesen, hatte er doch die Maschinenmenschen in der Schleuse als erster entdeckt.
Ende