BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 18
ENDSTATION DER TRÄUME von Manfred Weinland und Susan Schwartz
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 18
ENDSTATION DER TRÄUME von Manfred Weinland und Susan Schwartz
Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Im Zuge ihrer Abenteuer finden sie ein rochenförmiges Raumschiff, das auf die ominösen Sieben Hirten zurückgeht. Kurz darauf gehen die beiden GenTecs Jarvis und Resnick an Bord verloren, Cloud und Scobee an Bord des Rochenschiffes aber gelingt die Rückkehr ins heimatliche Sonnensystem. Aber als die RUBIKON II - wie das Schiff getauft wird - nach dramatischen Ereignissen in der Oortschen Wolke das heimatliche Sonnensystem erreicht, werden Cloud und Scobee kurz darauf von der RUBIKON II verwiesen. Mittels einer der Transportkapseln, die schon Resnick und Jarvis zum Verhängnis wurde, erreichen sie die Erde an einem fast unbewohnten Bereich des Planeten, wo sie Jelto, dem »Florenhüter«, begegnen. Und sofort wieder ums nackte Überleben kämpfen müssen. Nicht nur die Erinjij greifen an, sondern auch ein Wesen, das in Verbindung mit den ominösen Hirten zu stehen scheint. Im letzten Moment ziehen sie sich in den Keller von Jeltos Station zurück. Doch auch dort, das zeigt sich, sind sie nicht sicher...
1. Genau in dem Moment, da die Deckenluke zerbarst, regelrecht zerplatzte, sank Jelto in sich zusammen. Der Florenhüter verlor das Bewusstsein, und augenblicklich wurde auch seine strahlende Aura dunkler. »Verdammt!«, fluchte Cloud. Der Kellerraum, in den sie sich geflüchtet hatten, war winzig und mit Metallkisten voll gestellt. Cloud, Scobee und Jelto blieb nur wenig Platz. Und diese Enge würde ihnen nun zum Verhängnis werden, denn von oben regnete es ihnen entgegen - das Verderben! Die matt gewordene Aura des Florenhüters ließ die Schatten lebendig werden und hob gleichzeitig selbst winzigste Linien in den Gesichtern der Zusammengekauerten scharf hervor. Cloud war froh, sich in diesem Moment und in dieser Situation nicht selbst sehen zu können. Jelto hing schlaff zwischen ihm und Scobee, und unmittelbar vor ihnen tropfte, nein, prasselte das Ding zu ihnen herab, aufgespalten in unzählige, quecksilbrige Kügelchen, die sich zu einer Lache sammelten und... ... schon Sekunden später eine Gestalt formten. Grob humanoid, aber ohne Details auszuarbeiten. Diesem Ding hatten sie schon zweimal gegenübergestanden - einmal in der Tiefseestation der Hirten, und einmal am Strand -, und jedes Mal war es dabei um Leben und Tod gegangen. Es verfolgte sie und hatte aktuell wieder bewiesen, wozu es fähig war. Es schien unzerstörbar. Ihm war nicht einmal durch konzentrierten Laser-Beschuss beizukommen, wie die Erinjij feststellen mussten, deren Kampfgleiter Jagd auf Cloud und Scobee gemacht hatten. Zwei der gepanzerten Maschinen waren dabei zerstört worden.
»Wir müssen etwas tun«, raunte Scobee ihm zu. »Irgendetwas. Ich lass mich doch hier nicht einfach abschlachten!« Noch bevor Cloud etwas erwidern konnte, sprang sie auch schon auf, packte eine der Kisten mit unbekanntem Inhalt, holte aus und schleuderte sie dem Etwas entgegen, das gerade seinen Formungsprozess abschloss. Und das nicht auswich. Nicht einmal den Versuch unternahm. Wie weiches Wachs, wie nasser Ton, von unsichtbaren Händen modelliert, war es vor ihnen aufgewachsen, hatte mehr und mehr an Stabilität gewonnen... Und nun verdaute es die Attacke ohne den geringsten Schaden. Es schepperte lediglich metallisch, als die Kiste ungefähr das obere Drittel des Dings traf - und vor ihm zu Boden fiel, als wäre sie gegen etwas Weiches, Nachgiebiges geprallt. Trotz des scheinbar sanften Aufpralls hatte die Kiste jedoch eine Beule, noch bevor sie zu Boden krachte. Etwa 2 Meter 50 hoch ragte die Gestalt auf und hob sich kaum gegen den Hintergrund des Kellers ab. Cloud schauderte, als ihm die vage Ähnlichkeit zu einer anderen Erscheinung bewusst wurde, mit der sie an Bord der RUBIKON II konfrontiert worden waren, kurz bevor sie des Schiffes verwiesen wurde. Sobek, dachte er und versuchte, eine weitere Gänsehaut zu unterdrücken. Bemerkte auch Scobee die Ähnlichkeit? Finger, die an gekrümmte Klauen erinnerten. Ein Schädel, der wie ein Totenschädel aussah, dabei aber keine Augen-, Ohr- oder Nasenöffnungen besaß, sondern seltsam geschlossen wirkte. Etwa dort, wo sich bei einem Menschen der Mund befunden hätte, befand sich eine handtellergroße, kreisrunde, abgeplattete Fläche. Bei dem Sobek-Hologramm an Bord der RUBIKON
hatte sie an eine beim Sprechen vibrierende Membran erinnert. Hier wirkte alles noch unheimlicher. Unmenschlicher. Hirten sind auch keine Menschen, rief sich Cloud ins Bewusstsein. Waren es nie. Sie gehörten einer Spezies an, die irgendwo in den Tiefen der Milchstraße beheimatet war... Oder in der Magellanschen Wolke, fügte er in Gedenken an das hinzu, was sie in der Tiefseestation vorgefunden hatten. Es gab Anzeichen dafür, dass die von den Vaaren verehrten Sieben Hirten noch immer existierten. Oder waren Scobee und er doch nur den Launen eines hoch entwickelten Bordrechners auf den Leim gegangen? Hatte die Schiffs-KI des Rochens das Sobek-Hologramm projiziert - und auch den Hinauswurf inszeniert? Aber warum hatte sie sie dann erst über Tage hinweg in dem Artefakt geduldet? Cloud war überzeugt, es in den verbleibenden Sekunden seines hier endenden Lebens nicht mehr zu erfahren. Er bewunderte Scobees Mut zum Handeln, auch wenn es ihn mehr an eine letzte Verzweiflungstat erinnerte. Es unterstrich doch letztlich nur, wie machtlos sie waren. Sie besaßen keine einzige Waffe, nur ihre Kleidung war ihnen geblieben, und auch Jelto konnte ihnen nicht helfen. Nicht hier unten in dieser ausweglosen Lage, in die sie sich selbst gebracht hatten. Er hätte es nicht einmal vermocht, wenn er noch bei Bewusstsein gewesen wäre. Gegen dieses Ding, das ihnen mit einer zweiten Kapsel von der RUBIKON nachgereist war, hatten sie nicht den Hauch einer Überlebenschance. »Scob?« Sie schien ihn gar nicht zu hören - hören zu wollen, dachte Cloud -, sondern leitete bereits den nächsten aussichtslosen Angriff ein. Mit bloßen Händen. Sich nur auf die übermenschliche Kraft, Schnelligkeit und Behändigkeit einer genetisch optimierten GenTec verlassend.
Mit einem heiseren Schrei hechtete sie sich aus dem Stand heraus auf das Gebilde zu, das sich vollständig manifestiert hatte. Und während von oben unverändert der Lärm der Waffen drang, die die Station verwüsteten, schaltete Cloud seinen Verstand aus, wartete gar nicht erst ab, was aus Scobees tollkühner Aktion wurde, sondern schnellte sich ebenfalls nach vorn. Er erreichte das chamäleonartig an seine Umgebung angepasste Ding nur den Bruchteil einer Sekunde nach Scobee - die er schreien hörte. Benommen vom Schmerz des Zusammenpralls registrierte Cloud, wie das Ding nun reagierte, wie es mit seinen Klauenhänden ausholte und... Er spürte den Schmerz, der sengend quer über seine linke Wange fuhr, schloss die Augen, als könnte er sie dadurch vor der Verheerung retten. Zugleich wusste er aber, dass dies der Moment war, den er gefürchtet hatte, seit sie durch das JupiterWurmloch in eine völlig fremde Region der Milchstraße gefallen waren. Es grenzte an ein Wunder, dass sie es geschafft hatten, von dort wieder ins heimische Sonnensystem zu gelangen. Wenigstens sterbe ich auf der Erde. Ein Gedanke ohne einen Funken Trost. Weshalb John Cloud auch nicht im Mindesten überrascht war, dass er im Angesicht des unausweichlichen Todes etwas so Profanes wie Zorn auf das Schicksal schlechthin in sich toben fühlte. * Scobee sah das Unheil - das Ende! - noch klarer auf sich zukommen. Dazu trugen ihr ihre geschärften Sinne ebenso bei wie ihre kalte Entschlossenheit, nicht kampflos zu sterben. Realistin, die sie war, malte sie sich nicht den Hauch einer
Chance gegen das Konstrukt einer überlegenen Technik aus. Denn nichts anderes war das Ding - Hirten-Technik! Aber das hinderte sie nicht, dagegen anzugehen. Sich ihm entgegenzuwerfen. Aber der Zusammenprall mit dem so weich und formbar wirkenden Etwas ließ sie ihren Entschluss auch schon fast wieder bereuen. Hart und kalt wie Eisen war es! Wie konnte das sein? Draußen, an der Oberfläche, hatte es sich so geschmeidig, so katzenhaft elegant und sicher bewegt, dass diese unnachgiebige Härte in einem unbegreiflichen Gegensatz dazu zu stehen schien. Scobee fühlte sich wie eine Fliege, die gegen die Frontscheibe eines sich mit hoher Geschwindigkeit bewegenden Fahrzeugs geschmettert wurde und dann daran herabrutschte. Benommen fand sie sich am Boden zu Füßen des Ungetüms wieder. Aber nur für ein, zwei Sekunden. Dann fühlte sie sich... gepackt? Das war der falsche Ausdruck, aber etwas kam mit unglaublicher Geschwindigkeit auf sie zu, streifte ihre Schulter, zerfetzte die Kleidung wie hauchdünnes Papier... und zog eine blutige Linie über ihren Brustkorb. Die Situation glitt ins Irreale. Scobee erwartete, die Hand des künstlichen Humanoiden weitermachen zu sehen und zu spüren. Erwartete, dass sich die nächste Linie entlang ihres Halses ziehen und neben Haut und Gewebe auch die Schlagader durchtrennen würde. Aber dann rammte diese Hand ihr lediglich entgegen und stieß sie fast beiläufig zu Boden, wo sie neben Cloud landete, der sie verdutzt, ungläubig und völlig fassungslos anstarrte während das Ding sich an ihnen vorbei auf Jelto stürzte. Die Haut des Florenhüters produzierte kaum noch Licht. Er
war immer noch ohne Bewusstsein, lehnte zusammengesackt, mit geschlossenen Augen an der Kellerwand, das Gesicht aschfahl, irgendwie wächsern. Doch nicht einmal dieses Bild des Elends, nicht einmal der Anblick des schwer verletzten Ohnmächtigen hielt den Berserker davon ab, auch Jelto anzugreifen. Ihm eine Wunde zuzufügen, die sein Gesicht in Blut badete. Scobee schüttelte ihre Benommenheit ab und kam wieder auf die Beine. Letztlich war es gleichgültig, an wievielter Stelle sie bei diesem ungleichen Kampf dran glauben musste. Jedenfalls konnte sie nicht länger zusehen, wie Jelto misshandelt wurde. Sie stürmte auf das Ding zu, das jetzt die Sicht auf den Florenhüter verstellte. Sie riss und zerrte daran, ohne aber brauchbaren Halt zu finden. Sie rutschte immer wieder ab, als wäre die Oberfläche des Wesens eingeseift. Cloud kam ihr zu Hilfe. Trommelte mit den Fäusten auf das Ding ein, das auch tatsächlich von Jelto abließ, sich zu ihnen umdrehte und - sprach? »Jorv saronn!« Scharf und dunkel drang die Stimme nicht aus einer bestimmten Öffnung, sondern aus dem Körper insgesamt. Scobee erstarrte. Auch Cloud hielt inne, und in seinen Blick trat eine gewisse Faszination. Die GenTec begriff. Zumindest ahnte sie, dass es wie an Bord der RUBIKON II war. Wieder konnte ihr Gefährte aus irgendeinem Grund die fremde Sprache verstehen. »Was sagt er?«, fauchte sie in Clouds Richtung. »Er sagt, wir sollen aufhören...« »Ach ja?« Ihr Tonfall troff vor Sarkasmus. »Wer will denn hier wen killen? Sag deinem Kumpel bitte, dass...« Oben, außerhalb des Kellers, erklang eine Explosion, die mächtig genug war, den Boden unter ihren Füßen erzittern zu
lassen. Bevor Scobee ihren Satz zu Ende sprechen konnte, veränderte sich die künstliche Gestalt vor ihnen. Sie verlor jegliche Ähnlichkeit mit einem Menschen und blähte sich so stark auf, dass Scobee sicher war, binnen Sekunden in dem ohnehin engen Raum an der Wand zerquetscht zu werden. Sie schickte Cloud einen wütenden Blick, als sei er für all dies verantwortlich. Da hörte sie, wie sich Stimmen von außerhalb dem Kellerzugang näherten. Offenbar hatten die Besatzungen der Kampfgleiter damit begonnen, die Reste der zerstörten Station zu durchkämmen. Alles was Scobee in dieser Situation noch empfinden konnte, war Neugierde. Neugier, welche von beiden Parteien schneller sein und ihnen den endgültigen Todesstoß versetzen würde. Doch dann fesselte das Ding wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Es schien sich abermals zu verwandeln, noch mehr aufzublähen. Dann aber... * Das Ding spie etwas aus. Cloud konnte gerade noch zur Seite springen. Dann landete die feuchte Masse auch schon mit einem schmatzenden Geräusch auf dem Boden zwischen ihm und Scobee. Etwas absolut Unappetitliches, das an einen gehäuteten Menschen erinnerte... Schlimmer noch; an einen riesenhaften, von bläulichen Adern durchlaufenen Fötus. Unfertig sah das Geschöpf aus, das vor ihnen lag und dabei unzweifelhaft lebte. Es zuckte, es krümmte sich, war von Nässe überzogen wie von einem gleichmäßigen Film, und alles
geschah vollkommen lautlos. Der lippenlose Mund öffnete und schloss sich, als ringe es um Atem. Die nagellosen Finger der welken Hände spreizten sich, ballten sich zur Faust, spreizten sich... »Was... soll das?«, keuchte Scobee. »Hat er das auch verraten?« Cloud schüttelte den Kopf, ballte selbst die Fäuste. Das Ding war wieder kleiner geworden, spie im nächsten Augenblick aber wieder etwas zu Boden. Es entschlüpfte seiner quecksilbrigen Masse, die sich teilte und sofort wieder lückenlos schloss. Und ein zweiter Riesenfötus wand sich am Boden zwischen den Kistenstapeln, zwischen ihnen. Die Stimmen draußen wurden lauter. Jeden Augenblick musste ein Kopf in der Deckenöffnung auftauchen - oder ein Waffenlauf, der nach unten zielte. Patsch! Nummer drei. Es gab kaum noch eine freie Stelle am Boden - obwohl das Ding wieder seine Ursprungsgröße und humanoide Form angenommen hatte. »Sieh mich nicht so an«, keuchte Cloud an Scobee gewandt. »Meinst du, ich wüsste, was das soll?« »Wenn nicht du, wer dann? Bin ich es vielleicht, der die Sprache dieses Dings spricht?«, versetzte sie. Cloud wusste, wie verständlich ihre Wut war, die ihrer Hilflosigkeit entsprang. »Jedenfalls scheinen wir uns getäuscht zu haben...« Er senkte die Stimme, aus Angst, sie könnte nach oben dringen. »Wenn er uns umbringen wollte...« Mehr konnte er nicht mehr sagen. Erneut spaltete sich etwas von dem künstlichen Humanoiden ab - aber diesmal war es winzig klein, etwa faustgroß, und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit etwas Lebendigem.
Das Ding sagte wieder etwas. Cloud riss die Augen auf. »Eine Bombe!« Sein Schrei klang Scobee noch in den Ohren, als das aberwitzige Ding abermals mutierte, auseinander fächerte und die Menschen umschlang. Das Nächste, was Cloud hörte, war eine Explosion. Und diesmal gab er keinen mickrigen Cent mehr auf ihr Überleben. * Der Mantel teilte sich, fächerte zurück. Und formte erneut das Ding, das an einen Hirten erinnerte... oder an einen im Gesicht extrem deformierten Menschen. Unweit von ihnen stürzten Erd- und Gesteinsmassen herab, verschlossen den Tunnel. Was für einen Tunnel? Cloud hatte das vage Gefühl, von Hitze gestreift zu werden. Und sekundenlang gab er sich nur dem Gefühl hin, doch nicht tot, doch nicht von der Bombe des Irren zerlegt worden zu sein... Der Irre ragte neben ihnen auf wie ein Monument. Neben ihm und Scobee - und neben Jelto. Er hat ihn nicht vergessen, nicht im Stich gelassen. Nicht im Stich gelassen? Was, zur Hölle, dachte er da? Dieses aberwitzige Werkzeug der Schiffs-KI war der Feind mindestens ebenso klar wie die Menschen, die in ihren Kampfgleitern Jagd auf sie gemacht hatten! Scobee blinzelte, schlug die Augen auf und sagte, als müsse sie nicht erst Benommenheit abschütteln: »Wie sind wir hierher gekommen? Und vor allem: Wo sind wir?« Diese Frage hatte Cloud sich auch schon gestellt. Die Umgebung war unerwartet - ein Stollen, ein horizontaler Schacht, der nicht einfach ins Erdreich gegraben
wirkte, sondern vielmehr... gebrannt. Seine Wände, die Decke, der Boden erinnerten an eine grünliche Glasur und verströmten Eigenlicht. Es war ausreichend hell, um zu erkennen, dass sich der Tunnel in große Entfernung hin erstreckte - auf der nicht blockierten Seite. Nachdenklich bat Cloud Scobee: »Kannst du nach Jelto sehen?« Er zeigte hustend zu der am Boden liegenden Gestalt des Florenhüters. Überall wölkte Staub wie beißender, die Lungen reizender Nebel. Scobee setzte sich auf. Ihr Blick haftete sekundenlang an dem Humanoiden aus der Hirtenstation. Dann gab sie sich einen Ruck, stand auf und ging zu Jelto. »Er lebt«, sagte sie, nachdem sie ihm den Puls gefühlt hatte. Immerhin. Cloud trat zu dem künstlichen Humanoiden, der die Farbe des aufgewirbelten Staubes angenommen hatte, der nur zögerlich zu Boden sank. »Was hast du getan? Und... warum hast du es getan?« Er glaubte nicht mehr, dass das Wesen, das sich in unzählige Teile aufspalten konnte und noch über ganz andere Talente verfügte, es auf ihr Leben abgesehen hatte. Im Gegenteil. »In wessen Auftrag handelst du?« Er stellte sich vor, in der Sprache der Hirten zu sprechen - und dem kurzen Aufblicken Scobees - und dem noch kürzeren Aufblitzen in ihren Augen nach zu schließen, gelang es ihm problemlos, ein fremdes, ein außerirdisches Idiom zu verwenden. »Sag es!«, verlangte Cloud in schärferem Tonfall. »Wer hat dich beauftragt, uns zu helfen? Und was war das gerade für ein Akt? Diese Organismen... Was haben sie zu bedeuten?« Er wollte sich nicht eingestehen, dass er bei einem der nassklebrigen Bündel eine entfernte Ähnlichkeit mit sich selbst festgestellt hatte, und bei den beiden anderen... »Ich musste unsere Spuren verwischen. Hältst du meine Handlungsweise für ineffektiv?« Wieder dröhnte die Stimme
aus dem Gesamtwerk, zu dem sich die quecksilbrige Masse zusammengefügt hatte. »Von welcher Handlungsweise sprichst du?« Cloud lauschte und glaubte, über sich irgendwo näher an der Oberfläche oder auf der Oberfläche selbst, dumpfe Geräusche zu hören, die auf immer noch anhaltende Verwüstungen hindeuteten. Der Trupp der Jäger machte Jeltos Station dem Erdboden gleich. Der künstliche Humanoide erklärte Cloud, was er getan hatte - und mit welcher Absicht. Die Bilder, die seine Fantasie dazu entwickelte, brachten Clouds Herz dazu, bis zum Hals zu schlagen. Er kehrte dem staubgrauen Mimikry-Wesen den Rücken zu und rief Scobee zu: »Wir dürften sie abgehängt haben.« »Wie meinst du das?« Sie saß am Boden und hatte Jelto zu sich herangezogen, sodass sein Kopf in ihren Schoss gebettet lag. »Mir wurde gerade erklärt, dass sie die Suche nach uns aufgeben werden, wenn alles glatt geht - womit ich rechne.« »Und im Klartext heißt das...?« Cloud deutete mit dem Daumen hinter sich. »Er hat sie hinters Licht geführt. Sie werden denken, dass wir im Keller umgekommen sind.« Er sah, wie sich Jeltos Brustkorb regelmäßig hob und senkte, und es erleichterte ihn. Auch wenn sie dem Florenhüter nicht wirklich nahe gekommen waren - nicht auf einer tief persönlichen Ebene -, verdankten sie ihm unzweifelhaft ihr Leben. »Die Körper?« »Die Körper«, bestätigte Cloud. »Dreimal darfst du raten, worum es sich dabei handelte.« »Sag es mir. Mir ist irgendwie nicht nach Ratespielen zumute.« »Als er uns ›angriff‹«, sagte Cloud, »entnahm er uns lediglich Proben unserer Körperzellen.«
»Und?« »Und fertigte daraus in unglaublichem Tempo... Kopien.« Scobee reagierte gefasst. Obwohl gerade sie eine sehr eigene Meinung zum Thema Klonen hatte. Insbesondere zum Thema Klonen in Zeitraffertempo. Die verschwundenen GenTecs Resnick und Jarvis waren auf ähnliche Weise entstanden - mit Hilfe wachstumsfördernder Zusätze, aus dem Zellgut einer Matrix heraus gezüchtet. Nur war das dabei zur Anwendung gekommene Verfahren vergleichsweise primitiv gegenüber dem, das der künstliche Humanoide in seinem körpereigenen Labor praktiziert hatte. Innerhalb von Sekunden. Gut, die Körper waren alles andere als ausgereift oder gar perfekt gewesen. Über diese Schwächen jedoch hatte die Thermobombe hinweggeholfen, die das Hirten-Geschöpf gezündet hatte. Kurz nachdem es mit ihnen in diesen unterirdischen Stollen durchgebrochen war, der genau unter Jeltos Station verlief... Mit knappen Sätzen informierte er Scobee über das, was er erfahren hatte. »Und dieser Gang hier? Wer hat ihn erschaffen, und wohin führt er?«, wollte die GenTec wissen. »Vielleicht kann uns das Jelto beantworten«, sagte Cloud. »Meinst du, er kommt bald zu sich und kann sich selbst auf den Beinen halten?« Scobee zuckte die Achseln. Dann stand sie vorsichtig auf, zeigte auf den eingestürzten Bereich des Tunnels. »Frag deinen Kumpel, wie er sich die weiteren Schritte vorstellt. Ich habe den dumpfen Verdacht, dass er sich einbildet, hier das Sagen zu haben.« »Wie heißt du?«, wandte sich Cloud an den Humanoiden, der ihm mehr als nur Unbehagen bereitete. »Hast du einen Namen?« »Nein«, antwortete das Geschöpf.
»Na dann, Nein, kannst du... halt, ich korrigiere mich: willst du uns auch weiterhin helfen? Wenn ja, fang am besten mit unserem Verwundeten an. Er braucht am dringendsten Hilfe medizinische Versorgung. Das müsste doch ein Klacks für dich sein, nach allem, was du sonst an Kunststückchen auf Lager zu haben scheinst. Also...?« * Jelto erwachte. »Wo bin ich?«, flüsterte er. »Wir wissen es nicht«, sagte die Frau, Scobee, die er aus dem Kuana-Baum befreit und trotz eigener Verwundung mit letzter Kraft zur Station gebracht hatte - sie und den Mann, John Cloud. »Wir hatten gehofft, dass du es uns sagen könntest.« Er bewegte sich vorsichtig. Die Umgebung war in schwaches Licht getaucht. Und es war nicht mehr der kleine Keller, in den sie sich vor ihren Verfolgern geflüchtet hatten. Die Helligkeit im Stollen ging nicht von ihm - Jelto - aus, wie er zunächst geglaubt hatte, sondern vom Stollen selbst. Sein Blick fand eine unheimliche Gestalt. Sie war größer als er, größer als jeder Mensch, dem er je begegnet war, und besaß keine Physiognomie. Sie strahlte etwas Verdorbenes aus. Jelto krümmte sich innerlich. »Wo - sind - wir?«, wiederholte er seine Frage in leicht abgewandelter Form. »Unter der Erde«, ergriff Cloud das Wort. »Irgendwo unter der Erde. Ein Tunnel, ein Schacht, der unter deiner Station verläuft. Wohin führt er? Es gibt nur eine Richtung, in die wir uns wenden können, aber ich würde trotzdem gerne vorher wissen...« »Unter meiner Station?«, echote Jelto verständnislos. Seine linke Hand kroch unter das Hemd und berührte die
Kette mit dem Ersten Korn. Sofort durchflutete ihn neue Zuversicht, zumal... »Ich habe keine Schmerzen mehr!«, stellte er fest und richtete sich ruckartig auf. »Ja«, sagte Cloud, mit einem undeutbaren Seitenblick auf den Unheimlichen, der sich kaum gegen den Hintergrund des Stollens abhob. »Es scheint, als seist du geheilt.« Jelto rätselte über das, was Cloud damit zum Ausdruck bringen wollte. Geheilt? Der Splitter seines explodierenden Kriechers hatte ihn schwer verletzt. Er konnte nicht genesen sein - nicht so schnell. »Wir erklären es dir später«, mischte sich Scobee ein. »Zunächst nur eines: Du scheinst nicht zu wissen, wo wir uns hier befinden. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass du einen Stollen solcher Größe nicht kanntest. Aber da dem so ist, sollten wir erst recht die Beine in die Hand nehmen und mehr Distanz zwischen uns und die Reste der Station bringen.« »Die Reste der Station...« Nur allmählich kehrte die Erinnerung zurück - die volle Erinnerung. Sein Lebenswerk lag in Schutt und Asche, und in ihm hallte der Schrei der Sterbenden nach, all der Pflanzen, für deren Wohl er zeitlebens gesorgt hatte... »Ich verstehe nicht.« »Niemand versteht es!«, erwiderte Cloud fast barsch. »Aber die Chance, es irgendwann einmal zu kapieren, wird umso größer, je länger wir am Leben bleiben.« »Sie wollten euch umbringen!«, erinnerte sich Jelto. »Sie wollten uns umbringen«, präzisierte Scobee. »Auch dich, mein leuchtender Freund. Er hier«, sie wies auf den nur sehr entfernt - eigentlich gar nicht - menschlich wirkenden Riesen, »hat es verhindert. Er hat irgendwie ein Loch in den Boden des Kellers gewühlt oder gesprengt und ist mit uns hier herunter geschlüpft. Dann hat er oben eine Bombe gezündet, die alles in Trümmer legte und diesen Teil des Stollens«, sie
zeigte auf eine Barriere aus erdrutschartig verteiltem Sand und Geröll, »zum Einsturz brachte.« Sie schien noch mehr sagen zu wollen, doch dann kniff sie die Lippen fest aufeinander, als wäre sie zu dem Schluss gekommen, dass er ihr das, was sie noch hätte hinzufügen können, doch nicht geglaubt hätte. »Wer ist das?« Jelto streckte den Arm in Richtung des Humanoiden aus. »Jemand, den wir bis vor kurzem für unseren Feind hielten«, sagte Cloud. »Und den ich, obwohl er uns augenscheinlich geholfen hat, nicht wagen würde, einen Freund zu nennen.« * Er verstand es nicht. Er verstand nicht, was geschehen war, und er verstand nicht, was das Geschehene für ihn bedeutete. Für seine Zukunft. Er sehnte sich nach dem Wald zurück, nach dem Kontakt mit seinen Kindern, nach seiner Arbeit und Aufgabe... »Was hast du da?« Die Stimme der Frau, Scobee, traf ihn wie ein Hieb. Er schrak aus seinen Gedanken, fühlte sich ertappt, durchschaut in seinem Sehnen. Schamvoll schloss er die Augen. Meine Kinder... Rasch zog er die Hand unter dem Hemd hervor. Der Kontakt erlosch. Das Erste Korn konnte nicht ersetzen, was er verloren hatte. Im Gegenteil, es erinnerte ihn, welches Leid über seine Schöpfung gekommen war. Für einen Moment tauchten die von winzigen Schnäbeln zerhackten Gesichter der Zerstörer vor seinem geistigen Auge auf. Seine Aura entflammte unter der damit verbundenen Emotion.
Jelto hob die Lider und blickte in schreckgeweitete Augen und fragte sich, ob es wieder geschehen konnte. Ob er jemals wieder so außer Kontrolle geraten würde, dass Menschen dabei starben. Er fand keine Antwort. »Wer?«, fragte er. »Wer hat mich geheilt - und wie?« Die Frau, Scobee, zeigte an dem Mann, Cloud, vorbei auf jenes absonderliche Wesen, von dem so wenig Leben ausging, dass er es auf den ersten Augenblick als etwas Künstliches durchschaute. »Wie, wissen wir nicht«, sagte Scobee. »Aber er hat vorhin, als du noch besinnungslos warst, seine Hand auf deine Wunde gelegt - und als er sie wieder zurückzog, war von der Verletzung nichts mehr zu sehen. Es ist, als hätte sich das Gewebe völlig erneuert. Was möglicherweise sogar stimmt. Etwas... jemand, der Attrappen von uns erschaffen kann, dem dürfte es noch leichter fallen, Schäden an unseren Körpern einfach zu reparieren.« Fast widerwillig gestand sich Jelto ein, dass das künstliche Wesen ihn faszinierte. Und interessierte. »Woher stammt er? Und... wer seid ihr? Wir hatten noch keine Gelegenheit zu reden...« »Die haben wir auch jetzt nicht«, erklärte der Mann, Cloud, kategorisch. »Ich werde erst wieder durchatmen, wenn wir mehr Abstand zwischen uns und unsere Jäger gebracht haben. Ich traue dem Braten nicht. Wenn er«, sein Nicken galt dem Amorphen, »diesen versteckten Tunnel aufspüren konnte, wird dies über kurz oder lang auch unseren Verfolgern gelingen.«
2. »Wohin fliegen wir?«, fragte Aylea, als sie auf den Gleiter
zugingen. Neben ihr schwebte ein kleiner Koffer. Das Mädchen drehte nervös die Fernsteuerung für das Antigravmodul am Koffer zwischen den Fingern. »Das werden wir dir unterwegs verraten«, antwortete die Frau, die das Mädchen begleitete, und legte einen Finger an den Mund. Aylea verstand. Es ging um die Geheimhaltung. Deshalb hatte sie bisher auch noch nicht die Namen von dem Mann und der Frau erfahren, in deren Begleitung sie zu einem unbekannten Ort fliegen sollte. Aylea nickte der Frau zu und ging weiter, wobei sie hoffte, dass sie möglichst unbefangen wirkte. Es war ein schöner Tag, warm und sonnig. Spatzen balgten sich laut tschilpend in den Büschen im Gartenteil der Plattform, die zu dem großzügigen Apartment in luftiger Höhe gehörte. Für die Vögel gab es keine Sorgen. Sie fanden immer genug Futter und hatten daher Zeit zu streiten. Aber sie sind auch dumm, dachte das Mädchen. Dumm und naiv, so wie ich es einmal war. In den vergangenen Tagen hatte ein einschneidendes Ereignis Ayleas ganzes Leben verändert. Früher so heiter und unbeschwert, war das Mädchen jetzt grüblerisch und zurückgezogen. Ayleas Vertrauen in die Menschen war schwer erschüttert worden, und sie hatte das bedrohliche Empfinden, dass hinter der paradiesischen Fassade Ungeheuerliches vor sich ging. War vielleicht ihr ganzes Leben eine Lüge gewesen? Aylea war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob nicht auch sie Teil eines Spiels war und wie eine Marionette an den Fäden hing. Wenn sie Recht hatte - und das verschwörerische Verhalten der Frau bestärkte sie nur -, wurden sie möglicherweise beobachtet. Von einer Macht im Hintergrund, die keine
negativen Äußerungen in der Öffentlichkeit dulden wollte. Von denjenigen, die verhindern wollten, dass die Wahrheit bekannt wurde. Denn Aylea hatte etwas Schreckliches herausgefunden: Das VR-Spiel im globalen Netz, das von Millionen Erwachsenen und Kindern täglich voller Vergnügen gespielt wurde, war echt! Nicht einfach ein virtuelles Spiel mit computergenerierten Figuren, deren Steuerung man übernahm. In Wirklichkeit loggten die Menschen sich in Chips ein, die fremden Lebewesen auf einer Welt außerhalb des irdischen Sonnensystems gleich nach der Geburt implantiert worden waren. Das hundeähnliche, intelligente Volk der Packa lebte auf einem Planeten, der einst von den Menschen erobert und »befriedet« worden war. Befriedet in dem Sinne, dass sie durch den implantierten Chip ihren eigenen Willen verloren hatten und nur noch als Spielzeug für die Menschen agierten. Sie waren sich dessen normalerweise nicht bewusst und merkten den Übergang nicht, wenn sich ein fremdes Bewusstsein in sie einloggte. Doch durch das Leid eines Packa-Mädchens namens Mashanabá, dessen Chip nicht mehr richtig funktionierte, hatte Aylea die Wahrheit herausgefunden. Der Schock war so groß gewesen, dass sie beinahe den Verstand verloren hatte. Für Mashanabá war es noch schlimmer ausgegangen. Sie hatte das Wissen um ihr Sklavendasein nicht ertragen können und Selbstmord begangen. Aylea war fast bis zum tragischen Schluss dabei gewesen, bis es ihr endlich gelang, sich aus der Verbindung zu lösen. Aber Mashanabá hatte sie nicht mehr retten können. Danach betrachtete Aylea die Welt mit neuen Augen. Sie zwang sich, nicht zu sehr über das Erlebte nachzudenken, das sie vor allem nachts in den Träumen heimsuchte. Nachdem Aylea den Schock etwas überwunden und sich
einigermaßen gefasst hatte, war ihr klar geworden, dass sie etwas gegen diese Grausamkeit unternehmen musste. Sie war sicher, dass kein »Normalsterblicher« die Wahrheit kannte. Sie hatte es nur durch Zufall herausbekommen. Um Mashanabás Tod wenigstens einen Sinn zu geben, war Aylea zu dem Entschluss gekommen, die Wahrheit bekannt zu machen. So schnell wie möglich, um die Packa von ihrem Leid zu erlösen. Keine leichte Aufgabe für ein zehnjähriges Mädchen, dessen Weltbild durcheinander geraten war und in dem der Schock eines furchtbaren Erlebnisses noch nachwirkte. Ihre Eltern hatten versucht, Aylea zu beruhigen und ihr das Vorhaben auszureden. Sie hatte keine Beweise für ihre Behauptung. Das Erlebte konnte auch das Resultat einer zu heftigen Fantasie sein. Das VR-Spiel war sehr realistisch gestaltet. Ihr Vater Stephen hatte Aylea erklärt, dass sie noch nicht genug Erfahrung im Umgang damit hatte und ihre Gefühle sie daher zu einer falschen Illusion geleitet hätten. »Normalerweise gibt es eine Schaltung, die verhindert, dass das Spiel außer Kontrolle gerät«, hatte er gesagt. »Aber bei dir hat es nicht schnell genug funktioniert, leider. Du solltest deshalb eine Weile mit dem Spiel aussetzen...« »Ich werde es nie mehr anfassen«, hatte Aylea entschlossen erwidert und wandte sich an ihre Mutter. »Wolltest du deswegen nicht, dass ich im Netz spiele, Mama? Hast du es gewusst?« »Wie kannst du so etwas nur annehmen!« Die Angesprochene war in höchstem Maße schockiert. »Denkst du, ich würde so etwas gutheißen? Aber ich habe befürchtet, dass du dich mit deiner übersprudelnden Fantasie zu sehr verlieren und hineinsteigern könntest. Wie oft habe ich dich gewarnt! Und wieder einmal habe ich Recht behalten!« »Aber es war nicht meine Fantasie, es ist tatsächlich so
geschehen!«, versuchte sich Aylea zum wiederholten Mal zu verteidigen - doch niemand wollte auf sie hören. Im Gegenteil, nach ein paar Tagen wurde sie wegen ihres Verhaltens sogar von der Schule suspendiert. Sie sollte erst zurückkehren, wenn sie sich erholt hatte. Niemand wollte die Wahrheit hören! Voller Verzweiflung hatte das Mädchen sich zurückgezogen und tagelang auf dem Zimmer vor sich hingebrütet, um sich eine Strategie zu überlegen, bis schließlich der Mann und die Frau von »der Behörde« erschienen. Sie waren die Ersten, die nicht nur sehr genau zuhörten, sondern auch Verständnis zeigten. Ja, ihr glaubten, mit Aylea dieselbe Ansicht teilten, dass gegen diesen Missstand etwas unternommen werden musste. Sie hatten Aylea um Unterstützung gebeten, und das Mädchen hatte ohne zu zögern zugestimmt. Deshalb gingen sie jetzt auf den wartenden Gleiter zu, und Aylea brannte vor Neugier, wohin sie fliegen würden. Sie hatte nur das eingepackt, was ihr besonders am Herzen lag. Normalerweise konnte man sich überall auf der Erde jederzeit mit dem versorgen, was man brauchte. Die Frau hatte extra darauf hingewiesen, dass ein kleiner Koffer reichen würde, es sollte Aylea an nichts mangeln. »Wenn wir schon deine Hilfe in Anspruch nehmen und du deswegen die Schule verpasst, müssen wir dir etwas bieten«, hatte sie gesagt... »Bist du bereit?« Aylea schreckte aus den Gedanken hoch. Sie hatten den Gleiter fast erreicht, und Aylea wurde nun doch ein wenig mulmig im Magen. Immerhin vertraute sie sich zwei Fremden an, deren Namen und Herkunft sie nicht kannte. Aber die Eltern hätten sie bestimmt nicht ziehen lassen, wenn es schlecht für Aylea wäre, oder? Lynn und Stephen waren immer für Aylea da gewesen, sie hatte mit ihnen über alles reden können. Aylea konnte sich
nicht daran erinnern, dass ihre Eltern je schlecht gelaunt oder ungerecht gewesen wären. Sie hatten immer viel Spaß miteinander gehabt... »Aylea!«, erklang es hinter ihr. Das Mädchen drehte sich um. Ihre Eltern standen da, Arm in Arm, als wollten sie sich gegenseitig stützen. Ihre Gesichter waren voller Kummer. »Es wird alles gut, Aylea«, sagte Lynn leise. »Ganz sicher«, fügte Stephen hinzu. Aylea nickte. »Bestimmt. Ich glaube fest daran.« Auf einmal hatte sie einen dicken Kloß im Hals, den sie mühsam hinunterschluckte. Sie hörte ihren Puls in den Ohren hämmern. Am liebsten wäre sie umgedreht und zu den Eltern gelaufen, um sie zu bitten, ihre einzige Tochter nicht gehen zu lassen. Aber ihre Füße gehorchten ihr nicht, und die Frau berührte sanft ihren Arm, als wollte sie Aylea weiterführen. Wie ein kleiner Anstoß, jetzt nicht auf einmal in der Entscheidung schwankend zu werden. Plötzlich löste sich Lynn von ihrem Mann und stürzte zu ihrer Tochter. Sie umarmte sie heftig, Tränen liefen über ihre Wangen, als sie Aylea auf die Wangen küsste. »Pass gut auf dich auf, Schätzchen«, flüsterte sie. »Bitte verliere deinen Glauben an uns nicht, oder dein Vertrauen. Du weißt, dass wir dich lieb haben und nur das Beste für dich wollen. Wenn es so bestimmt ist, dann müssen wir uns alle fügen.« Aylea war nun gar nicht mehr gespannt auf das Abenteuer, sondern zutiefst aufgewühlt, als sie ihre Mutter zum ersten Mal so traurig und verzweifelt erlebte. »Stimmt etwas nicht, Mama?«, fragte sie. Lynn versuchte zu lächeln, während sie Ayleas Haar ordnete. »Es ist alles in Ordnung, Aylea, es ist nur... Wir trennen uns zum ersten Mal. Es fällt mir sehr schwer, mir vorzustellen, dass du bald auf eigenen Füßen stehen wirst. Ich
sehe dich immer noch als kleines Mädchen... Aber das bist du nicht mehr.« Auch ihr Vater trat an ihre Seite. »Es tut mir Leid, was du durchmachst, Aylea«, sagte er niedergeschlagen. »Das hätte niemals so kommen dürfen. Aber es wird sich noch alles zum Guten wenden, daran musst du glauben. Hör auf deine Mutter, sie hat Recht.« Aylea war nun selbst den Tränen sehr nah, aber sie nahm sich tapfer zusammen. Sie wollte ihren Eltern zeigen, dass sie kein kleines Kind mehr war. Eine wichtige Aufgabe wartete auf sie. Und schließlich war es ja keine Trennung für immer. »Ich bin bald wieder da«, versprach sie. »Ihr werdet gar nicht merken, dass ich weg war.« * Der Gleiter hob ab, und Aylea winkte zum Abschied ihren Eltern, bis sie nur noch winzige Punkte waren. Dann blickte sie nach vorn. Sie war fest entschlossen, sich durch nichts mehr ablenken zu lassen. »Darf ich jetzt erfahren, wohin wir fliegen?«, fragte Aylea nach einer Weile, als sie die Metrop hinter sich gelassen hatten und ausgedehnte Felder unter ihnen vorbeizogen. »An einen Ort, von dem heute so gut wie niemand mehr Kenntnis hat«, antwortete die Frau. »Du wirst staunen, wenn du ihn siehst. Dort ist alles ganz anders.« Das war keine sehr erschöpfende Auskunft. Aylea fühlte sich zusehends eingeschüchtert. Anscheinend hatte man noch nicht genug Vertrauen zu ihr, um sie aufzuklären. »Und... wie soll ich Sie anreden?«, fügte sie zaghaft hinzu. »Sicher dürfen Sie nicht preisgeben, wer Sie sind, aber bestimmt haben Sie einen Namen, der nicht geheim ist?« Die Frau lächelte. »Aber natürlich, Aylea, wie nachlässig von uns. Verzeih, dass wir so unhöflich waren. Ich bin Jane,
und mein Begleiter ist Joe.« Sie streckte Aylea die Hand hin. »Freut mich, dich kennen zu lernen, Aylea. Wir werden sicher gut zusammenarbeiten.« »Ich habe mir deine Schulakte angesehen«, meldete sich Joe von seinem Sitz hinter ihnen. »Du zeigst beachtliche Leistungen, Aylea. Das allgemeine Intelligenzniveau ist in den vergangenen Jahrhunderten bekanntlich stark gestiegen - vor allem dank der Master -, aber du zeigst hervorragende Anlagen in fast allen Wissensgebieten, und dein Intelligenzquotient liegt selbst für unsere Verhältnisse hoch.« Aylea fühlte, wie sich ihr zusammengekrampfter Magen entspannte. Sie fühlte sich nicht mehr als Fremdling, sondern schon fast akzeptiert. Wenn sie gelobt wurde, konnte man nichts Schlimmes mit ihr vorhaben. »Vielen Dank«, sagte sie und errötete leicht. »Ganz im Ernst«, fuhr Jane fort. »Durch unsere Zusammenarbeit wirst du Einblicke in viele Dinge bekommen, Aylea. Vielleicht werden wir eines Tages sogar Kolleginnen, wer weiß? Die Behörde ist immer auf der Suche nach hervorragenden Talenten.« Aylea hob die Schultern. »Ja sicher, warum nicht? Ich werde mir alles anschauen. Momentan habe ich keine feste Vorstellung, was ich mal werden will. Es gibt so vieles, das mir gefällt. Deswegen bin ich schon sehr gespannt auf die Behörde. Denken Sie wirklich, dass wir etwas gegen das Spiel unternehmen können? Ich meine, nach so vielen Jahren... Da hätten doch eigentlich schon mehr Leute draufkommen müssen, nicht nur ich.« »Darum werden wir uns als Erstes kümmern«, antwortete Jane. »Das Problem ist, wir müssen gegen einen sehr starken Gegner ankämpfen, dem es bisher erfolgreich gelungen ist, alle Kampagnen zu verhindern. Manchmal dauert es lange, bis die Wahrheit ans Licht kommt. Aber mit dir könnten wir es vielleicht schaffen.«
»Hoffentlich enttäusche ich Sie nicht.« Aylea fühlte plötzlich den Druck der Verantwortung. Was, wenn sie versagte? Wenn sie die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnte? Man schien eine Menge vorauszusetzen, aber als so etwas Besonderes empfand Aylea sich gar nicht. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Jane lächelnd. Joe klappte eine Konsole zu sich und berührte ein paar Felder. Bald darauf surrte eine kleine robotische Einheit heran und reichte Getränke. Jane griff nach zwei Bechern und reichte einen Aylea. »Wir haben einen längeren Flug vor uns«, sagte sie. »Trink etwas, und dann entspann dich. Es werden anstrengende Zeiten auf dich zukommen, vermutlich ist das die letzte Gelegenheit, richtig Kräfte zu sammeln.« Aylea war viel zu aufgeregt, um sich entspannen zu können. Außerdem wollte sie die Aussicht genießen. So weit von der Metrop entfernt war sie bisher noch nie geflogen. Wohin die Reise wohl ging? In eine andere Metrop? Ein geheimes Labor, verborgen in einem Berg? Eine der breiten Öffentlichkeit unbekannte Station in einem unzugänglichen Tal? Das Mädchen nippte an dem prickelnden Getränk und stellte erstaunt fest, dass es besser schmeckte als alles, was sie bisher getrunken hatte. Sie konnte den Geschmack nicht zuordnen, es war etwas ganz Neues. Aus dem Augenwinkel beobachtete Aylea Joe und Jane, die ihre Becher bereits geleert hatten, sich zurücklehnten und die Augen schlossen. Anscheinend hatten sie schon so viele Reisen unternommen, dass der Ausblick sie nur noch langweilte. Aylea hätte gern gefragt, was das für ein Getränk war, aber sie wollte die beiden nicht stören. Womöglich hätten sie sich noch über ihre Unwissenheit lustig gemacht. Also trank sie stillschweigend und schaute weiter durchs Fenster. Irgendwann merkte Aylea, dass sie müde wurde. Als es immer mühsamer wurde, die Augen offen zu halten, gab sie
auf, kuschelte sich in die Polster und war schon wenige Sekunden später eingeschlafen...
3. Sie folgten dem etwa drei Meter breiten und ebenso hohen Gang seit Stunden. Er verlief schnurgerade. Die Wände, die Decke, der Boden sahen aus wie von extremer Hitze gebacken, glasiert. Eigenlicht strömte davon aus, schwach, aber wenn sich die Augen erst einmal daran gewöhnt hatten... Der Amorphe folgte ihnen in fast respektvollem Abstand, immer gut zwanzig Schritte hinter ihnen zurückbleibend. Er hatte kein Wort mehr gesprochen. Cloud warf immer wieder Blicke über die Schulter, während er mit Scobee und Jelto marschierte. Er fürchtete den Moment, in dem das unberechenbare Kunstwesen erneut wieder etwas völlig Unerwartetes tun würde. Es hatte nicht mehr gesprochen, auf keine Ansprache reagiert, sich ihnen nur angeschlossen, als sie nach einer kurzen Diskussion zu der Erkenntnis gekommen waren, dass ihnen ein Verweilen an dem Ort, wohin der Amorphe sie gebracht hatte, auf Dauer nicht weiterhalf. Es bot sich an, dem Stollen zu folgen. Der Versuch, in Stationsnähe zur Oberfläche zurückzukehren, barg demgegenüber Risiken, die nicht einmal der dort beheimatete Jelto eingehen wollte. Er wirkte am verlorensten bei der ganzen Sache - entwurzelt. Cloud hatte einige Male versucht, sich tiefer in die Psyche des Florenhüters hineinzuversetzen und das nachzuvollziehen, worunter er sichtlich litt... Aber es blieb bei dem Versuch. Jelto war offenbar ein speziell auf eine bestimmte Aufgabe gezüchteter Klon, der einzig dafür entworfen worden war, um seinen Wald in
Ordnung zu halten - eine Parzelle, deren genaue Größe nicht bekannt war. Es gab Jeltos Äußerungen zufolge noch viele andere Florenhüter, die angrenzende Gebiete betreuten. Standen sie miteinander in Verbindung? Tauschten sie sich aus? Bestanden Freundschaften zwischen ihnen? So wie Cloud Jelto kennen gelernt hatte, fiel es ihm schwer, von ihm lediglich wie von einer organischen Maschine zu denken - einem Geschöpf ohne eigene Bedürfnisse, das sich völlig in den Dienst der Sache stellte. Andererseits offenbarte jede bisherige Äußerung des Florenhüters, dass er ein völlig isoliertes Dasein geführt hatte. Freunde? Fehlanzeige. Er schien ein isoliertes Leben in völliger Einsamkeit geführt zu haben, konnte die banalsten Fragen - etwa, wo dieser Ort lag, an den es sie verschlagen hatte - nicht beantworten. »Wie viele Kilometer mögen wir schon gegangen sein?«, fragte Cloud irgendwann. Der Marsch erschöpfte ihn. Die Luft, die sie atmeten, kam ihm von Minute zu Minute Sauerstoffärmer und abgestandener vor. »Es ist immer noch kein Ende in Sicht. Wie lange haben wir nichts mehr getrunken oder gegessen? Scob?« Sie blieben stehen. Sofort hielt auch der Amorphe inne. »Rede mit ihm!«, verlangte Scobee. »Was soll ich ihm sagen?« »Meinetwegen, dass wir Bedürfnisse haben. Und dass wir draufgehen, wenn sie nicht bald gestillt werden. Notfalls soll er uns einen Ausstieg nach oben bohren... oder uns gleich packen und nach oben verfrachten. So sind wir ja offenbar hier herunter gelangt. Etwas muss passieren. Ich sehe auch keinen Sinn mehr darin, ewig diesem Tunnel zu folgen. Er führt ins Nirgendwo. Er läuft schnurgerade und muss viele, viele Kilometer lang sein. Anfangs hatte ich noch die Hoffnung, zu einem Raum, einer Höhle oder auch nur einer Kreuzung zu
gelangen, aber allmählich...« »Jelto?« Der Klon zuckte mit den Schultern. Er wirkte weniger erschöpft als sie, dafür aber insgesamt hoffnungsloser. Er war völlig deprimiert, als würde ihm mehr und mehr bewusst, dass sein Leben nie wieder sein würde, wie es einmal war. Diese Erkenntnis haben wir ihm um Wochen voraus, dachte Cloud düster. Wenigstens konnte er mit dem Florenhüter fühlen. Er wusste, was es hieß, den Boden unter den Füßen weggezogen zu bekommen. »Okay«, sagte Cloud. »Wartet hier. Ich werde mit ihm sprechen.« Langsam ging er die wenigen Meter zurück, die ihn von dem Amorphen trennten, der regungslos auf ihn wartete. »Du hast gehört, worüber wir gesprochen haben?« Keine Reaktion. Der Kopf - eine grobe Nachbildung des knöchernen Schädels, den das Hologramm des Hirten besessen hatte - drückte nicht die geringste Regung aus. Insgesamt wirkte das Ding sehr viel toter als auf dem Höhepunkt seiner zurückliegenden Aktivitäten. Als wäre es da noch beseelt gewesen und als wäre... ... die Seele, die es belebte, inzwischen entwichen, dachte Cloud. Die Vorstellung war so absurd wie das Ding, das sich aus aufspaltbarer Masse zusammensetzte und offenbar beliebig formen konnte. »Du hast offenbar ein Interesse daran, dass wir nicht sterben«, fuhr Cloud fort, »sonst hättest du uns nicht gegen die Angreifer geholfen oder diesen Aufwand betrieben, sie zu täuschen... Das ist dir offenbar gelungen. Aber das alles war sinnlos, wenn wir dafür verdursten und verhungern und nie wieder Tageslicht zu sehen bekommen.« Keine Reaktion. »Verstehst du, was ich sage?«
Der Humanoide, der Cloud um mehr als einen halben Meter überragte, gab weder eine Erwiderung von sich, noch reagierte er in anderer Weise. Cloud spürte Wut in sich aufsteigen. »Verdammtes Ding!«, presste er hervor. Da geschah es. Scobee, die das Unheil noch vor ihm kommen sah, schrie eine Warnung. Doch es war ihm unmöglich zu entfliehen... * Der Humanoide zerfiel vor Clouds Augen. Er sank, wie eines Korsetts beraubt, zu Boden, wo er sich in eine breiige Lache verwandelte, eine gewaltige Pfütze, die sofort über Clouds Füße hinwegschwappte. Im einen Augenblick hatte sich der Humanoide noch vor ihm erhoben - und im nächsten stand er knöcheltief in dessen quecksilbriger Masse, die sich um ihn herum ausbreitete! »Raus! Du musst da raus!« Er hörte Scobee, war aber außerstande zu reagieren. Es war, als zöge der Kontakt mit der Substanz - die er durch seine Kleidung hindurch spürte - jegliche Kraft aus seinem Körper. Er war wie gelähmt. Auf die bloße Zuschauerrolle reduziert. Im nächsten Augenblick kroch das amöbenharte Etwas auch schon an ihm empor. Es geschah rasend schnell. Einen Atemzug später umschloss es ihn bis zum Hals. Wie ein maßgeschneiderter, hauteng anliegender Panzer. Wie eine dicke - zentimeterdicke! - und dennoch geschmeidige, fast gewichtlose Schale. Die Lache auf dem Boden war verschwunden, alle Substanz lag jetzt um Clouds Körper. Nur sein Kopf war noch frei. Schaudernd fragte er sich, was geschehen wäre, wenn es ihn vollständig umhüllt hätte. Im Kuana-Baum war er - selbst für
Jelto überraschenderweise - nicht erstickt. Aber irgendwie ahnte Cloud, dass ihn vor dieser »Umarmung« nichts gerettet hätte, wäre sie vollständig erfolgt. Was beabsichtigte der Amorphe? Warum kommunizierte es nicht mit ihm, wie es das schon einmal getan hatte? Warum reagierte es auf diese geradezu widersinnige Weise? Er erhielt die Antwort schneller, als er erwartete. Indem er sich - wider Willen - in Bewegung setzte. Genauer gesagt: Die Panzerung, die ihn umgab, setzte sich in Bewegung... und zwang dabei Clouds Beine, sich deren Willen zu unterwerfen. Er versuchte, sich gegen den Druck aufzulehnen, den das Exoskelett ausübte. Aber dieser Widerstand wurde mühelos gebrochen. Er musste gehen. Den unterbrochenen Weg fortsetzen. Er lief an Scobee und Jelto vorbei. Sie starrten ihn entsetzt an. Sie begriffen ohne Erklärung, was da gerade mit ihm vorging. Und während er mit ausgreifenden, anstrengenden Schritten losmarschierte, dämmerte es ihm, warum der Amorphe so und nicht anders gehandelt hatte. Er schien nicht gewillt zu sein, über irgendetwas zu diskutieren. Er wollte nicht mit Cloud verhandeln, er wollte ihm zeigen, was - zumindest seiner Ansicht zufolge - getan werden sollte. Und während Jelto Mühe hatte, ihm überhaupt zu folgen, aber von Scobee unterstützt wurde, drangen sie weiter in den Tunnel vor, fast doppelt so schnell wie zuvor, und es schien nichts zu geben, was den Amorphen stoppen konnte. Cloud fürchtete, dass das Ding, das ihn umhüllte immer weiter marschieren würde, selbst wenn der Tunnel auch in Tagen nicht durchquert war. Es würde zulassen, dass Scobee und Jelto hinter ihnen zurück - auf der Strecke - blieben, und
vielleicht würde es sogar in Kauf nehmen, dass es irgendwann nur noch einen Toten voranschob.
4. »Wach auf, Aylea, wir sind fast da.« Jane rüttelte sie an der Schulter. Aylea kam unwillig brummelnd zu sich. Dann erinnerte sie sich, dass sie nicht zu Hause in ihrem Bett lag, und fuhr hoch. Sie rieb sich die Augen und starrte nach draußen. Inzwischen war es fast dunkel geworden, und Aylea sah die schattenhaften Umrisse von Gebäuden vor sich. »Das ist eine Stadt, oder?«, fragte sie aufgeregt und deutete durch das Fenster. »Aber warum ist es so dunkel? Das sieht überhaupt nicht wie eine Metrop aus...« »In gewissem Sinne ist es aber eine«, behauptete Jane. Aylea ärgerte sich, dass sie den ganzen Flug verpasst hatte. Sie war nicht ein einziges Mal aufgewacht! Dabei wurde sie sonst tagsüber nie müde, schon gar nicht in so einem Moment. Sie trat die erste große Reise ihres Lebens an - ohne Eltern, ohne Schule - und schlief ein! »Das Getränk habe ich wohl nicht so gut vertragen«, äußerte sie laut eine Vermutung. »Es hat mich ganz schön müde gemacht, und jetzt ist schon alles vorbei.« »Das war bestimmt die Aufregung«, erwiderte Jane lächelnd. »Du kannst alles das nächste Mal nachholen, das verspreche ich dir. Jetzt bereite dich erst mal auf die Landung vor.« Der Gleiter ging auf Sinkflug. Aylea betrachtete staunend die fremde Stadt. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn Jane ihr erzählt hätte, dass sie auf einem fremden Planeten gelandet wären. Denn nichts erinnerte an die hellen, prächtigen Metrops.
Die Häuser waren ohne Schmuck und kerzengerade nach oben gebaut, und sie sahen sehr... antiquiert aus. Ein Baustil, den Aylea aus dem Geschichtsunterricht aus früheren Epochen kannte. Solche Häuser hatte man zuletzt vor mindestens hundertfünfzig Jahren gebaut! Und genauso alt wirkten auch die Fassaden, bröckelig und halb verfallen. Manche Dächer waren mit Stacheldraht abgesichert, auch ein Relikt aus vergangener Zeit. Zwischen den Häusern hindurch führten enge, nur von wenigen Laternen erleuchtete Straßenschluchten, von denen sich eine Vielzahl schmaler Durchgänge und Gassen abzweigte. Aylea konnte nur hier und da einen undeutlichen Schemen ausmachen, der an einen Menschen erinnerte. Diese Schemen huschten stets nur kurz durch einen Lichtkegel und verschwanden gleich wieder in der Dunkelheit. Bald darauf setzten sie am Stadtrand auf, und Ayleas Begleiter schickten sich an, den Gleiter zu verlassen. »Das sieht nicht sehr vertrauenserweckend aus«, sagte Aylea leise. »Schade, dass es schon dunkel ist...« »Das stimmt, bei Tage ist alles viel freundlicher«, stimmte Jane zu. »Aber mach dir keine Gedanken, du wirst dich schnell daran gewöhnen. Komm, gehen wir in die Stadt. Es ist besser, wenn wir zu Fuß eintreffen, da erregen wir weniger Aufsehen. Wundere dich nicht, wenn wir bald eine Kontrolle passieren, das ist hier ganz normal. Nicht jeder darf hier hinein. Aber wir haben natürlich Papiere und werden die Anmeldung für dich mit übernehmen.« Aylea blickte sich um. Der Landeplatz des Gleiters war nicht erleuchtet, er war einfach auf freiem Feld gelandet. Außer dunklen Schatten konnte das Mädchen nicht erkennen, was sich um sie herum befand. Es musste ein sehr abgeschiedener, stiller Ort sein. In einiger Entfernung glaubte Aylea, seltsame Geräusche zu hören wie Rufe unbekannter wilder Tiere. Aber das konnte natürlich
auch Einbildung sein. Vielleicht war es auch ein Widerhall der Stadtgeräusche, wenngleich es ganz anders klang als in der lebhaften Metrop, die Aylea kannte. »Komm, es wird Zeit.« Jane nahm Ayleas Hand und führte sie in die Stadt hinein. Von hier unten wirkte alles noch viel düsterer und verfallener. Die Luft hatte einen unangenehm metallischen, muffig-feuchten Geschmack und reizte Ayleas Schleimhäute. Sie musste mehrmals hintereinander niesen. Erschrocken sah sie zu Jane hoch. »Werde ich krank?« Das war normalerweise so gut wie ausgeschlossen. Die heutigen Menschen waren gesund und kraftstrotzend, sie kannten keine Erkältungen oder Kinderkrankheiten. Erbkrankheiten waren durch Genmanipulationen ausgemerzt worden, gesunde Ernährung und eine schadstoffarme Umwelt sorgten für ein langes Leben. Das wusste schon jedes kleine Kind. Das unerwartete Erlebnis des Niesanfalls verwirrte das Mädchen noch mehr. Hoffentlich ging hier wirklich alles mit rechten Dingen zu! Da war Aylea nämlich auf einmal gar nicht mehr so sicher. »Kein Grund zur Sorge, das ist eine ganz normale Anpassung«, beruhigte Jane sie. »Hier ist vieles anders, Aylea. Aber wie ich dir schon sagte, du wirst dich dran gewöhnen.« »Darf ich meine Eltern anrufen?« »Nachher, wenn wir die Anmeldeprozedur hinter uns haben und auf unseren Quartieren sind. Da werden wir dann auch das weitere Vorgehen besprechen.« Aylea fühlte sich immer unwohler... * Die Straße führte schnurgerade durch die Stadt, bis sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. Für Ayleas gewohnte
Verhältnisse war sie schmal, aber hier war eben alles anders. Sie war breiter als alle Nebenstraßen und Gassen, die nach fast jedem Häuserblock abzweigten. Aus halb offenen Kanaldeckeln strömte hin und wieder ein gelblich-grünes, unangenehm riechendes Gas, das Aylea halb den Magen umdrehte. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und schluckte heftig, um das Würgen im Hals zu unterdrücken. Ihre Augen tränten von den Reizstoffen. »Wie kann man es hier nur aushalten?«, sagte sie verstört, aber sie erhielt keine Antwort. Joe und Jane gingen hinter ihr, in eine murmelnde Unterhaltung versunken. Aus einigen Gassen sickerten klamme Nebelschwaden auf die Straße, wo sie bald vom kühlen Wind vertrieben wurden. Aylea zog fröstelnd ihre Jacke enger um sich. Sie hätte niemals geglaubt, dass es auf der Erde einen so schrecklichen Ort gab. Hier konnte man gewiss in aller Ruhe Geheimoperationen planen, denn kein normaler Mensch käme auf die Idee, freiwillig hierher zu fliegen. »Die Tarnung ist perfekt, nicht wahr?«, sagte Joe gutgelaunt hinter Aylea. »Niemand käme darauf, dass hier einige der wichtigsten Behörden ihren Sitz haben. Du kannst stolz darauf sein, dass du das erleben darfst, Aylea, vor allem in deinem jungen Alter. Normalerweise muss man viele Hürden durchlaufen, bevor man hierher darf.« Die Worte klangen gut. Aber warum beruhigten sie Aylea nicht? Weshalb hatte sie das Gefühl, als ob sie trügerisch klangen, viel zu gut, um wahr zu sein? »Aber warum ist es hier so scheußlich?«, fragte sie nachdenklich. »Hätte man nicht eine andere Tarnung wählen können?« »Aber natürlich«, antwortete Jane liebenswürdig. »Doch das ist zugleich eine Erinnerung und Mahnung an uns, wie es früher einst war. Damals haben wir unsere Erde beinahe
zerstört und uns gegenseitig ausgelöscht. Das dürfen wir nie vergessen. So etwas darf nie wieder passieren. Deshalb ist diese Stadt hier zugleich ein Mahnmal, die uns ständig vor Augen halten soll, was unsere wichtigste Aufgabe ist.« »Wichtigste Aufgabe?« »Nun, die Gesellschaft zu schützen, natürlich. Vor allen schlechten Einflüssen, auch vor sich selbst, wenn es notwendig sein sollte. Wir haben uns zwar weiterentwickelt, aber tief in uns schlummert noch immer der Barbar, der manchmal an die Oberfläche drängt. Um zu zeigen, was werden kann, wenn man dem Barbar freie Bahn lässt, haben wir als plastisches Beispiel die Stadt gebaut.« »Und was habe ich damit zu tun?« Aylea war schwindelig. Joe grinste. »Du verstehst viel von Quantenphysik, Kind, aber gemäß deinem Alter hast du noch soziale Defizite. Dein Verständnis reicht noch nicht weit genug - wenn auch weiter als bei vielen anderen, hervorgerufen durch den Schock, den du im Netz erlitten hast. Dennoch haben wir uns entschieden, dich gleich hier einzusetzen, damit du erkennst, wie ernst die Lage ist. Wie wichtig es ist, dass du dich engagierst und bei der Stange bleibst. Verstehst du?« Aylea schüttelte den Kopf. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Was hatte dies alles mit der Versklavung der Packa zu tun? Wofür der weite Flug? Bevor sie jedoch eine Frage stellen konnte, wurde sie abgelenkt. Denn zum ersten Mal sah sie hier andere Menschen, die sich vor einem Gebäude drängten. »Was sind das für Leute?« Aylea hatte noch nie so abgerissene und... hässliche Menschen gesehen. Viele trugen schmuddelige, zerrissene Kleidung und hatten sich anscheinend seit längerer Zeit nicht mehr gewaschen. Die Haare waren ungepflegt und nicht selten verfilzt. Die Männer trugen Bärte, die Frauen bedeckten ihren Kopf oft mit merkwürdigen Hüten. »Pssst, nicht so auffällig«, ermahnte Jane sie. »Ab hier gilt
höchste Sicherheitsstufe. Das ist die Anmeldung, wo wir alle begutachtet und vorbereitet werden.« Zwischen den abgerissenen Menschen liefen Uniformierte mit Notizpads herum, vielleicht für eine Bestandsaufnahme. Nacheinander wurden die bemitleidenswert aussehenden Geschöpfe in das Haus eingelassen. Einige setzten sich allerdings zur Wehr und wollten umkehren, doch sie wurden von den Uniformierten schnell zur Räson gebracht. »Aber da gehöre ich doch nicht dazu«, wisperte Aylea, immer mutloser werdend. Die Gewissheit, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte, wurde immer deutlicher. Aber sie wollte noch nicht wirklich daran glauben. Denn das würde ja bedeuten, dass ihre Eltern sie... Nein, das würden sie niemals tun! Wie Joe bereits gesagt hatte, hatte Aylea noch soziale Defizite. Sie kannte sich zwar mit fraktaler Geometrie aus, aber sie war immer noch ein Kind, das vieles aus dem Leben der Menschen noch nicht begriff. Psychologie, Philosophie, Zwischenmenschliches - das konnte sie nur durch die Erfahrung des Älterwerdens lernen. Ein hochintelligenter Verstand besaß die Fähigkeit zur Analyse, konnte schnell komplizierte Berechnungen anstellen und wissenschaftliche Zusammenhänge erkennen. Aber er musste lernen, mit Gefühlen umzugehen, die Stimmung eines Menschen an seiner Haltung, seiner Miene zu erkennen und vieles mehr. Aylea war in einer überaus behüteten Welt aufgewachsen, sie war in jeder Hinsicht arglos und voller Vertrauen - bis jetzt. »Natürlich hast du mit denen nichts zu tun«, behauptete Jane. »Was ist denn los mit dir, Aylea, wieso bist du auf einmal so verunsichert?« »Wer sind diese Leute denn? Ich habe noch nie so... heruntergekommene Menschen gesehen. Ich dachte, das gibt es nicht bei uns...« »Du wirst Antworten auf deine vielen Fragen bekommen,
doch jetzt wirst du erst einmal registriert. Es muss alles seine Ordnung haben und seinen bürokratischen Gang gehen. Hab einfach ein wenig Geduld, Kind.« Aylea schluckte ihre Angst hinunter und ließ sich weiterführen. Tröstlich war der kleine Koffer, der neben ihr herschwebte. Er war eine Erinnerung an ihr Leben, das sie bis vor wenigen Tagen glücklich zusammen mit den Eltern geführt hatte. Sie kramte in der Jackentasche nach der Fernbedienung und holte sie hervor. Vielleicht sollte sie den Antigrav besser abschalten und den Koffer tragen, um nicht zu sehr aufzufallen. Obwohl sie trotzdem noch sofort als »Neue« erkannt wurde, mit ihrer ordentlichen, modischen Kleidung und den gepflegten blonden Haaren. Allerdings beachteten die abgerissenen Menschen sie nicht im Geringsten. Einer der Uniformierten entdeckte sie jedoch und steuerte auf sie zu. »Du wirst natürlich bevorzugt behandelt«, sagte Jane und lächelte aufmunternd. »Diese Prozedur wird nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, und dann können wir loslegen!« Der Uniformierte war inzwischen bei ihnen angekommen und nickte Joe und Jane zu. »Ist sie das?« »Ja, das ist Aylea«, antwortete Jane, legte die Hände auf Ayleas schmächtige Schultern und schob sie ein Stück nach vorn. »Sie ist eine wichtige Geheimnisträgerin und sollte unbedingt vorgezogen werden. Sie ist in bester Verfassung, ihre Intelligenz überragend. Sie wird von Nutzen sein.« Der Uniformierte nickte und blickte auf Aylea herab. »Dann komm mal mit, dann hast du es umso schneller hinter dir.« Aylea folgte ihm ein paar Schritte, dann blieb sie stehen und drehte sich um. »Kommen Sie denn nicht mit?« Joe und Jane schüttelten gleichzeitig den Kopf. Jane sagte lächelnd: »Wir haben das alles schon hinter uns, Aylea. Geh nur mit, es ist alles in Ordnung. Wir sehen uns
nachher, wenn du das Gebäude auf der anderen Seite verlässt. Dann beginnt dein neues Leben!« »Bis gleich, Aylea«, sagte Joe und winkte. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«, mahnte der Uniformierte. Schweren Herzens gehorchte Aylea und folgte dem Mann. Sie hatte auf einmal das Furcht einflößende Gefühl, als wäre jetzt endgültig die Verbindung zu den Eltern und ihrem früheren Leben gekappt.
5. »Ich wünschte, ich könnte dir helfen.« »Das wünschte ich auch«, gab Cloud in einer Mischung aus Sarkasmus und mühsam gebändigter Verzweiflung zurück. »Wie... fühlt es sich an?« »Ich merke es kaum. Es ist zwar anstrengend. Doch das Einzige, was ich davon mitkriege, ist die Bewegung, die es mir aufzwingt. Es wird nicht eher Ruhe geben, bis...« Er verstummte. Vor ihnen, noch ein gutes Stück entfernt, kam zum ersten Mal eine Veränderung in der Monotonie des Tunnels in Sicht. Irgendwo unterschwellig beunruhigte auch diese Entdeckung Cloud mehr als dass sie ihn erleichtert hätte - immerhin besaß Scobee von ihnen beiden die fraglos besseren Augen. Den schärferen Blick. Sie hätte es eigentlich vor ihm bemerken müssen. »Da«, sagte er. »Da vorn. Siehst du es?« Sie nickte nur. Und kurz darauf langten sie bei der Stelle an, die sich als Kreuzung entpuppte. Statt weiter nur geradeaus, gab es nun auch noch die Wahl, sich nach rechts oder links zu wenden. Zu beiden Seiten lief ein völlig identisch beschaffener Tunnel ebenfalls in schier endlose Ferne.
Cloud blieb stehen. Er wollte es zunächst gar nicht glauben. Seine Beine waren wie taub. Sein Puls lag permanent bei mindestens 150 Schlägen pro Minute, eher noch höher, mit anderen Worten: hinter ihm und seinen Begleitern lag ein regelrechter Marathon. Sie gingen nicht einfach nur; der Amorphe zwang ihn zu einem zügigen Dauerlauf - und damit auch Scobee und Jelto. Cloud bewunderte und beneidete die beiden um ihre Kondition. Der Amorphe hatte an dem Florenhüter ein wahres Wunder gewirkt, er schien wieder im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein. Und er war ähnlich fit wie Scobee, bei der dies vorausgesetzt werden durfte. Immerhin war sie als eine Art Soldat 0 geschaffen worden. Als genetisch optimierte Vorlage für ein ganzes Heer von Kopien, das zum Mars aufgebrochen war, um dem Roten Planeten sein todbringendes Geheimnis zu entlocken... Wie lange war das her...? Wie lange habe ich nicht mehr an dich gedacht - Dad? Der Mars, das mysteriöse Verschwinden Nathan Clouds und dreier weiterer Astronauten... All das entrückte mehr und mehr seinem Empfinden. Der elektrisierende Drang, das ungeklärte Schicksal der Verschollenen zu ergründen... Der Drang, der ihn überhaupt erst in die Lage versetzt hatte, all die Prüfungen zu ertragen und zu bestehen, die er absolvieren musste, um immer enger in den Kreis der potenziellen Mitglieder von Mission II vorzustoßen, war verschüttet von anderen, dringlicheren Zwängen. Aber ich habe dich nie vergessen. Ich werde dich nie vergessen! Nach allem, was hinter ihnen lag - Kalser, der Aqua-Kubus waren sie wieder in beinahe greifbare Nähe des Ortes gerückt, der seinem Vater zum Verhängnis geworden war. Das Grab Mars umlief dieselbe Sonne wie die Erde. Und die Menschheit, die Erinjij, betrieben eine fortschrittliche - Cloud
vermied das Wort kriegstreiberische - Raumfahrt, mit der es möglich sein sollte, ähnlich selbstverständlich zum Mars zu reisen, wie man früher von einer Stadt zur anderen gefahren oder geflogen war. Vielleicht - der Gedanke faszinierte und erschreckte Cloud gleichermaßen - war das Marsrätsel inzwischen längst gelöst! Vielleicht hatte es sogar etwas mit der Entwicklung des Menschen zum Erinjij zutun! Cloud schüttelte den Kopf. Sinnlose Spekulation. Nichts, was sie hier und jetzt weiterbrachte. »Was ist?«, fragte Scobee. »Warum hält es an?« »Keine Ahnung.« »Vielleicht kommt es zur Vernunft«, sagte sie. Jelto war auch stehen geblieben. Aber so wenig er sich an den vorangegangenen Unterhaltungen beteiligt hatte, griff er auch jetzt nicht ins Gespräch ein. Er wirkte zunehmend apathischer, schien nicht mehr körperlich, dafür umso heftiger seelisch unter den Umständen zu leiden. Vielleicht trauerte er auch immer noch um die Pflanzen, die er seine Kinder nannte und die von den Kampfgleitern vernichtet worden waren. »Da wäre ich mir nicht so sicher.« Cloud war nicht einmal in der Lage, eigenständig den Arm zu heben, ihn zu biegen und mit der Faust gegen die Schale zu schlagen, die ihn umgab. Scobees Blick verriet, dass sie sein Dilemma mehr als nur erkannte. Ihre Anteilnahme wirkte echt. Ehrlich. Aber sooft Cloud Vertrauen zu ihr gefasst hatte, sooft war er auch wieder brutal auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden. Sie machte es schwer, ihr wirklich zu vertrauen. Ihr ganzer Background war ein Geflecht von Intrigen. Sie behauptete, sich daraus gelöst zu haben, und es gab viele Momente, in denen er ihr das glaubte, glauben wollte. Dann aber... »Ich glaube nicht«, wiederholte Cloud und schüttelte die
aufwallenden Gefühle ab, »dass er zur Vernunft gekommen ist. Ich würde eher sagen, er orientiert sich.« »Wie?« »Woher soll ich das wissen? Das Ding hier verfügt über Möglichkeiten...« »Ich weiß. Es ist eine unkalkulierbare Bedrohung, selbst wenn es auf unserer Seite steht - und eine Bedrohung für alle anderen. Ich könnte nicht mitansehen, wie es Menschen angreift, die uns nichts Böses wollen, und sie vielleicht sogar tötet.« Der Gedanke war Cloud auch schon gekommen. »Was würdest du dagegen tun? Du kannst es nicht stoppen. Du hast gesehen, sogar gespürt, wozu es fähig ist.« »Und du bekommst es pausenlos zu spüren...« »Es wird mich auch wieder verlassen.« »Hoffst du«, unkte Scobee. »Was wäre das Leben ohne ein bisschen Hoffnung?« Er grinste. Er spürte, wie sich ihre Anspannung löste - wenigstens um eine winzige Nuance. Im nächsten Moment schien der Amorphe die Orientierungsphase beendet zu haben. Wieder fühlte sich Cloud wider Willen bewegt. Angetrieben. Aber er ging an der staunenden Scobee vorbei auf der Kreuzung weder nach links, noch nach rechts. Stattdessen marschierte er geradewegs auf die Wand zu und drosselte auch nicht sein Tempo, als er sie fast erreicht hatte. Cloud sah das Hindernis - grün schillerndes, verdichtetes Erdreich - auf sich zukommen und konnte nichts tun. Nicht ausweichen. Nicht den Kopf einziehen, das Gesicht schützen. Nur die Augen schließen. Und auf den unvermeidlichen Aufprall warten... *
Scobee sah Cloud verschwinden. Sah ihn nicht anstoßen, sich nicht alle Knochen bei dem ungebremsten Aufprall gegen die glasierte Wand brechen, sondern einfach... verschwinden. Jelto stieß neben ihr einen überraschten Laut aus. »Ich habe es gesehen - ganz ruhig.« Scobee ließ den Florenhüter stehen und eilte zu der Stelle, hinter der Cloud, umpanzert von dem Amorphen, weggetaucht war. Weggetaucht, genau das war der passende Ausdruck - Cloud war in die Wand getreten, als wäre sie Wasser. Scobees Hoffnung, ihm folgen zu können, erfüllte sich nicht. Als sie die Hände ausstreckte und vorsichtig tastete, traf sie auf Widerstand. Widerstand, der zu erwarten war, wenn man eine undurchdringliche Barriere berührte. Sie winkte Jelto zu sich. »Kannst du mir das erklären?« Er streckte ebenfalls die Hand aus, ließ sie über glattes, hartes Material gleiten und schüttelte den Kopf. Dann fragte er: »Ist deinem Freund zu trauen?« Sie starrte ihn entgeistert an. »Wie meinst du das?« »Ich meine: Würde er uns hier zurücklassen, wenn er einen Weg hinaus gefunden hätte?« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nicht John. Ganz bestimmt nicht John. Wenn, wurde er gezwungen, sich nicht um uns zu scheren. Du hast es doch erlebt, was dieses Ding mit ihm anstellt. Außerdem glaube ich nicht, dass dahinter«, sie nickte zu der Stelle, durch die Cloud gegangen war, »die Außenwelt liegt. Wir befinden uns irgendwo unter der Erde. Wie tief, weiß ich nicht. Aber die Vorstellung, dass unmittelbar hinter einer Wand dieses endlosen Tunnels die Freiheit liegt... Nein, das halte ich für abwegig. Dahinter steckt etwas anderes. Der Amorphe und John haben bei ihrer Passage nicht einmal eine Spur hinterlassen. Sie sind nicht gewaltsam durch die Wand gebrochen. Das ist ja das Verrückte. Die Wand ist noch genauso heil, wie sie es vorher war.«
»Nur dass John jetzt verschwunden ist«, sagte Jelto. »Nur dass er verschwunden ist, genau«, bestätigte Scobee und prallte zurück, als ihr etwas entgegenkam. Ihr und Jelto. Es handelte sich nicht um Cloud, der zurückkehrte, sondern um etwas weit Größeres, Massiveres... Scobee konnte gerade noch Jelto am Arm fassen und mit sich zur Seite zerren, dann schlüpfte es auch schon vollständig aus der Wand. »Grundgütiger Himmel, was ist das?« Jelto rappelte sich neben ihr auf, streifte ihre Hand ab, die ihn immer noch festhielt, und richtete sich auf. Während er sich imaginären Staub von der Kleidung klopfte, sagte er verblüffend unaufgeregt: »Das ist ein Kriecher. Zumindest etwas Ähnliches wie ein Kriecher.« Und mit diesen Worten ging er darauf zu. Es war ungefähr der Moment, in dem sich die seitliche Luke des Fahrzeugs öffnete, Cloud den Kopf herausstreckte und rief: »Worauf wartet ihr noch? Steigt ein! Ich schätze, das Bürschchen auf meiner Haut ist doch kein solches mitleidloses Aas, wie ich geglaubt habe. Ohne ihn hätten wir das Ding hier nie gefunden. Jemand anderer Meinung...?« Das Innere des Kriechers - so hatte Jelto das Fahrzeug genannt - überraschte Scobee mit unerwarteter Vertrautheit. Sie fand sich auf Anhieb, gleichsam intuitiv, darin zurecht. Wundert dich das? Es ist irdische Technik. Auch wenn es fortschrittliche irdische Technik sein mag, so ist und bleibt es doch etwas, was dir nicht völlig fremd und teilweise sogar absurd vorkommen kann wie etwa die Dinge, die du im Äskulap, in Darnoks Karnut oder im Rochen gesehen hast. Sehen musstest. Cloud - noch immer von dem Amorphen umhüllt - setzte sich nicht wieder hinter das Steuer, was er getan haben musste, um den Kriecher aus seinem Versteck zu lenken. Stattdessen
lud er Jelto dazu ein. Der Florenhüter schien dankbar für eine Aufgabe zu sein. Er hockte sich auf einen der beiden vorderen Sitze. Insgesamt gab es sechs Plätze. Cloud setzte sich in die Reihe dahinter - neben Scobee. Hier im Innern des geschlossenen Fahrzeugs, wo eingearbeitete Lichtflächen Helligkeit verströmten, wirkte der ihn bedeckende Amorphe nicht mehr ganz so abstoßend und bedrohlich wie noch wenige Minuten zuvor im Tunnel. Scobee beabsichtigte jedoch nicht, sich davon einlullen zu lassen. John war John - aber das, was ihn gegenwärtig kontrollierte, gehörte zu der Sorte Technik, der sie ein gesundes Misstrauen entgegenbrachte. Sie hatte sich an Bord der RUBIKON II niemals wirklich wohl gefühlt und dieses Unbehagen mit Darnok geteilt. Einzig Cloud hatte stets dementiert, dass er Vorbehalte gegen das Rochenschiff hegte. Aber die RUBIKON II war Vergangenheit. Scobee bezweifelte, dass sie je wieder einen Fuß auf das sonderbare Artefakt setzen würden, das im Inneren um ein Vielfaches größer war, als es von außen preisgab. Eine Stadt war es, kein simples Schiff, und weitgehend unerforscht. Die größten Wunder des Rochens hatten sie wahrscheinlich noch gar nicht geschaut und würden sie niemals schauen. Wie hatte das Sobek-Hologramm es formuliert, kurz bevor er eine ganze Kreuzer-Schwadron der Menschen nur zur Demonstration seiner Möglichkeiten vernichtet hatte: »Ihr sollt wissen, was ihr verliert.« Wenn Scobee ehrlich war und sich nicht selbst etwas vormachte, musste sie sich eingestehen, dass sie froh war, dem unberechenbaren Artefakt der Hirten entronnen zu sein. Sie verspürte keine Sehnsucht danach, und nachdem alles darauf hindeutete, dass Darnok nicht mehr am Leben war, existierte auch gar keine wirkliche Notwendigkeit mehr für ein
Raumschiff. Wohin sollten sie damit fliegen? Sie waren Kinder dieses Planeten. Und mochte er sich noch so sehr verändert haben, dann musste dennoch die erste Herausforderung lauten, sich darauf wieder zurechtzufinden. Sich darauf ein neues Zuhause einzurichten, mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren... Jetzt belügst du dich doch selbst. Würdest du wirklich alles in Kauf nehmen, um ein Erinjij zu werden? Teil eines Systems, das auf der Unterdrückung und Tötung anderer Spezies beruht? Wenn nur die Hälfte dessen stimmt, was sich die Milchstraßenvölker über die Menschen erzählen, sind sie zu völlig skrupellosen Eroberern mutiert. Und unter solchen könntest du niemals leben. Du könntest niemals tatenlos mitansehen, wie... Ein Ruck, und Scobee wurde in den Sitz gedrückt. Der Kriecher hatte sich in Bewegung gesetzt, und offenbar gab es in diesem Fahrzeug nichts, was mit den Andruckneutralisatoren vergleichbar gewesen wäre, die das Karnut und jedes andere Fremdvehikel auf ihrer Odyssee ausgezeichnet hatten. Es war fast wie ein Auto - futuristisch gestylt und ohne Räder auskommend, aber bei weitem kein Wunderding. »Wie bewegen wir uns voran?«, wandte sie sich an Cloud. Man konnte ihm ansehen, dass er versuchte, mit den Achseln zu zucken, doch der Amorphe machte diese Bewegung nicht mit. Also schüttelte er lediglich den Kopf. »Jelto?« Der Florenhüter schien voll auf die Steuerung konzentriert. Sie unterschied sich offenbar doch in einigem von dem, was er gewohnt war - aber selbst Cloud war damit zurechtgekommen. Wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach nur mit Unterstützung des »Exoskeletts«, das ihn führte. »Du hast mir noch nicht erzählt, was es«, sie zeigte auf seinen Panzer, »überhaupt getan hat. Hast du mitbekommen, wie es schaffte, die massive Wand zu durchdringen? Was lag
dahinter? Eine Garage? Gibt es dort noch mehr von diesen Dingern?« Cloud schüttelte den Kopf. »Nein. Und die Wand... Ich habe keine Ahnung. Tarntechnik? Auch das Fahrzeug konnte einfach durch sie hindurch. Vielleicht sieht es nur aus wie die übrige Wand und ist stattdessen ein Energiefeld, dessen Polung neutralisiert wird für die Dauer der Passage... Gott, ich weiß es wirklich nicht!« Scobee gab sich damit zufrieden und blickte hinaus. Der Steuerbereich war nach vorne hin verglast, ermöglichte freie Sicht. Sie schätzte die Geschwindigkeit ihres Gefährts anhand der draußen vorbeiziehenden Wände auf inzwischen mindestens fünfzig Kilometer pro Stunde. »Bei dir alles in Ordnung, Jelto?«, rief Cloud nach vorne. Der Florenhüter bestätigte. »Was wird passieren?«, fragte Scobee und beugte sich so nah zu Cloud, dass sie jedes Detail von dessen unfreiwilliger Umhüllung erkennen konnte. Aus der Nähe betrachtet, erinnerte sie ein wenig an die schwarze Haut des Keelon Darnok. Aber sie war unstrukturierter, es gab keinerlei Maserung darin, keine »Poren«, alles wirkte wie aus einem Guss. »Darf ich mal?« Sie hob die Hand, spreizte den Zeigefinger ab und hielt ihn über Clouds Oberschenkel. »Du willst es berühren?«, fragte er lächelnd. »Ich fürchte, da fragst du den Falschen. Er bestimmt. Aber wenn du meine Meinung wissen willst: Trau dich ruhig.« Sie tippte mit der Fingerkuppe gegen das Material. Es war hart, körperwarm, aber hart - und damit war es schwer begreiflich, wie es jede Verrenkung von Clouds Körper mitmachen konnte. »Und?« Ihr Finger lag immer noch auf der Schicht auf. Sie wollte Cloud gerade ihre Eindrücke mitteilen, als sie zurückzuckte, weil sie eine Veränderung gespürt hatte.
Aus geweiteten Augen sah nicht nur sie, sondern sah auch Cloud zu, wie der Panzer des Amorphen plötzlich abfloss wie Wasser, komplett den Körper des Mannes verließ - und sich binnen eines Sekundenbruchteils über die komplette Innenwand des Kriechers verteilte. Selbst über die Frontscheibe. Im nächsten Augenblick lief eine Erschütterung durch das Fahrzeug, gefolgt von einer rapiden Zunahme von Helligkeit. Scobee schloss geblendet die Augen, hörte Jeltos entsetzten Aufschrei. Doch schon kehrte das Dämmerlicht der Fahrzeugkabine zurück. Scobee öffnete die Augen, blickte zu Cloud, als erwartete sie, dass alles wieder beim Alten wäre - dass der Amorphe zu ihm zurückgekehrt sei. Doch dem war nicht so. Noch immer haftete er wie Lack an Wänden, Boden und Decke. Nur von der Frontscheibe zog er sich wieder zurück und ermöglichte so die Sicht nach draußen. Wo alles war wie zuvor. Jelto brachte den Kriecher wieder auf Fahrt, nachdem er vor Schreck abgebremst hatte. »Was, zur Hölle, war das?«, keuchte Scobee. »Und warum tut es das?« Sie meinte den Amorphen, der das Fahrzeuginnere auskleidete. Cloud schien ihr gar nicht zuzuhören. Die wiedergewonnene Freiheit überwältigte ihn offenbar. Er strich sich über Beine und Arme, über Nacken und Brust, atmete tief durch, schüttelte sich und lachte schließlich befreit auf. »Das möchte ich nicht noch mal erleben«, sagte er. »Freiwillige vor für das nächste Mal.« »Das nächste Mal?« »Du denkst, er begnügt sich künftig mit seiner Rolle als schmucke Lackierung?«
»Er... es ist unberechenbar«, erwiderte Scobee. »Ich wage keine Prognose. Keine!« Sie blickte zur Scheibe hinaus, wo noch immer kein Ende des Tunnels in Sicht war. »Was war das für ein Licht? Und diese Erschütterung...« »Ich bin sicher, er weiß es.« Cloud wies auf die Schicht, die sich in diesem Moment veränderte, nicht wieder abfiel oder zu ihm zurückkehrte, sondern den Grund, auf dem sie haftete, perfekt imitierte. Kurz darauf war sie unsichtbar. Nur wer die Entwicklung dahin verfolgt hatte, wusste, dass da etwas war, was nicht original zum Fahrzeug gehörte. Scobee fiel auf, dass der Kriecher immer noch beschleunigte und jetzt bereits etwa doppelt so schnell fuhr wie vor dem Zwischenfall. »Jelto? Ich bin auch für ein zügiges Tempo«, wandte sie sich an den Florenhüter hinter der Steuerung, »aber...« Jelto drehte sich um. Sein Gesicht war aschfahl. Winzige Schweißtröpfen bedeckten Stirn und Oberlippe. »Ich versuche ja, die Geschwindigkeit zu drosseln. Ich versuche es, seit wir wieder losgefahren sind, aber...« »Aber?« »Die Kontrollen gehorchen mir nicht mehr. Es ist...« Cloud schob sich nach vorne, nahm auf dem Beifahrersitz Platz. »Soll ich es versuchen?« Noch schneller jagten sie dahin. Und der »Kriecher«, der seinem Namen Hohn sprach, beschleunigte unablässig weiter. »Sinnlos!«, heulte Jelto auf. »Es ist, als würde bereits ein anderer steuern. Ich weiß nicht, wie ich das stoppen soll. Ich habe so etwas noch nie erlebt...« Und während Cloud sich bemühte, zusammen mit dem Florenhüter eine Möglichkeit zu finden, das Vehikel doch noch abzubremsen, schwante Scobee Böses. Als würde ein anderer steuern. Sie hielt es für denkbar, dass genau das geschah.
Jemand hatte den Diebstahl des Kriechers bemerkt - und traf nun Vorkehrungen, die Diebe dingfest zu machen. Dingfest... ... oder unschädlich. Worauf auch immer sie zurasten, es konnte zweierlei bedeuten: Gefangenschaft - oder Tod.
6. Mit gesenktem Blick trabte Aylea hinter dem Uniformierten her, der sich rücksichtslos seinen Weg durch die Menge bahnte. Manche beschwerten sich mit rüdem Tonfall, aber die meisten hoben nicht einmal den Kopf und ließen sich einfach beiseite schieben. Aylea hielt sich wieder die Hand vor den Mund, als der überall vorherrschende Gestank nach Schweiß, Dreck und Elend erneute Übelkeit in ihr hervorrief. Sie konnte kaum den Impuls zu niesen unterdrücken. Es ist alles falsch, dachte sie ängstlich. Hier stimmt doch etwas nicht. Ich weiß nicht, ob ich in das Gebäude gehen will. Aber wo soll ich sonst hingehen? Sie wagte einen kurzen Blick zurück. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Halb hatte sie es erwartet, und trotzdem noch gehofft. Gehofft, dass Joe und Jane noch da wären und ihr aufmunternd zuwinkten. Ihr die Beruhigung gaben, dass wirklich alles so war, wie sie es versprochen hatten. Doch ihre Begleiter waren nicht mehr da. Aylea wusste, dass sie jetzt ganz allein war. Der Uniformierte, der sie zu kennen schien, war ihr einziger noch verbliebener Freund in dieser unheimlichen Fremde. Es war besser, sich an ihn zu halten. Plötzlich fühlte Aylea sich an Mashanabá erinnert. Das
Packa-Mädchen war ein Außenseiter gewesen, anders als die anderen. Es hatte keine Freunde gehabt und sich nirgends heimisch gefühlt. Mashanabá musste sich so gefühlt haben, wie Aylea jetzt in diesem Moment. Ayleas Herz krampfte sich zusammen, als sie an die Packa dachte, die nun auf dem Grund des Sees lag. Mashanabá brauchte keine Angst mehr zu haben, und sie konnte auch nicht mehr missbraucht werden. Das rüttelte Aylea auf. Wenn sie nicht belogen worden war, hatte sie hier eine Aufgabe zu erledigen. Wenn diese Stadt ein Mahnmal war, so durfte man auch ungestraft die Wahrheit sagen. »Wissen Sie, weshalb ich hier bin?«, fragte Aylea und beschleunigte ihren Schritt, um den Uniformierten einzuholen. »Aber natürlich«, antwortete er. »Und wie...« »Ich bin nicht befugt, dir Auskunft zu erteilen. Hier ist alles genau geregelt, Mädchen. Folge mir einfach nur.« So allmählich hatte Aylea die ständigen Abfuhren satt. Sie setzte gerade zu einer gereizten Frage an, als sie plötzlich angerempelt wurde. Ehe Aylea sich versah, wurde ihr die Fernsteuerung für den Koffer aus der Hand gerissen, und sie sah einen Jungen, kaum größer als sie, durch die Menge davon flitzen. Nach wenigen Augenblicken beschleunigte ihr Koffer und folgte. »He!«, rief Aylea empört. »Komm zurück! Was fällt dir ein?« Sie hörte ein entferntes Lachen. Machte der Junge sich etwa über sie lustig? Stahl er da tatsächlich gerade ihren Koffer? Das war... das unerhörteste Benehmen, das Aylea bisher erlebt hatte. Kein Mensch stahl mehr, niemand hatte das nötig, jeder besaß gleich viel und konnte sich das besorgen, wonach ihm der Sinn stand.
Aylea schoss die Schamröte ins Gesicht. Sie konnte nicht begreifen, wie jemand etwas so Verpöntes tun konnte - noch dazu ein Kind! »Bleib stehen!«, schrie sie. »Hörst du nicht? Bleib sofort stehen!« Aber der Junge dachte gar nicht daran. Er sauste in eine Seitenstraße und bog dann erneut ab. Aylea konnte seine Spur anhand des Koffers verfolgen. Der Uniformierte war stehen geblieben und drehte sich zu ihr um. Einige Menschen waren jetzt aufmerksam geworden und begleiteten die Flucht des Jungen mit Pfiffen und johlenden Rufen. »Vergiss den Koffer, den brauchst du doch gar nicht«, sagte der Uniformierte und griff nach Ayleas Arm. »Aber er hat ihn gestohlen!«, schnaubte das Mädchen und setzte sich heftig gegen den Griff zur Wehr. »Ich kann ihn damit doch nicht durchkommen lassen! Wieso interessieren Sie sich nicht dafür? Diebstahl ist... barbarisch!« Das Mädchen hoffte, dass dieses Wort den Uniformierten zur Vernunft bringen würde, dass er begriff, worum es hier ging! Aber nichts dergleichen... Er zerrte die zeternde Aylea einfach weiter. Der Spott der Menge ergoss sich nun über sie, und sie fühlte, wie ihr immer mehr das Blut ins Gesicht schoss. Schließlich, in einer Bündelung all ihrer Kräfte, angetrieben von ihrem Zorn, riss sie sich von dem Uniformierten los und rannte dem Dieb hinterher. Hinter ihr brach ein Tumult aus. Der Uniformierte schrie ihr nach, stehen zu bleiben, so wie sie zuvor dem Jungen. Er schien Aylea verfolgen zu wollen, aber einige Menschen vertraten ihm den Weg und hielten ihn auf. Aylea achtete nicht mehr auf das, was hinter ihr geschah. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Durch den Blick von oben, beim
Anflug mit dem Gleiter, hatte sie sich die Straßen automatisch eingeprägt. Aylea verfügte über ein hervorragend trainiertes eidetisches Gedächtnis, sie vergaß so gut wie nie etwas und konnte es vor allem bei Bedarf abrufen. Sie verglich den beobachteten Fluchtweg des Jungen mit dem gespeicherten Plan, während sie rannte, so schnell sie konnte. Sie hatte den Koffer längst aus den Augen verloren und musste sich auf ihren Verstand verlassen, wenn sie den Dieb erwischen wollte. Aylea wechselte in die Seitenstraße und bog dann in eine weitere Gasse ab, soweit sie es beobachtet hatte. Natürlich war von dem Dieb keine Spur mehr zu sehen. Während sie weiterrannte, verglich sie das Aussehen der Häuser mit dem Plan in ihrem Gedächtnis, fügte Stein für Stein zusammen und hatte bald den Bezirk wie ein Schachbrett vor Augen. Der Junge kannte sich hier natürlich weitaus besser aus als Aylea. Aber trotzdem war sie nicht ganz hilflos. Soweit sie gesehen hatte, war er nicht viel älter als sie, und die Art und Weise seines Diebstahls zeigte, dass er nicht sehr originell vorging. Das bedeutete, er lief wahrscheinlich auf direktem Weg zu seinem Schlupfwinkel, um dann die Beute zu begutachten. Ayleas Gedächtnis kramte nach geeigneten Plätzen, wo ein Kind sich abseits von allen, vor allem erwachsenen neugierigen Augen verstecken würde. Hah!, dachte sie triumphierend. So viele Möglichkeiten gibt es hier gar nicht! Drei Gassen, die von hier aus abzweigten, führten ins Nichts. Sie waren entweder durch eine Hausmauer oder einen Zaun versperrt und boten keine weitere Fluchtmöglichkeit mehr. Aylea lief sie ab, hielt sich aber nicht lange auf. Eine Gasse aber war ein Verbindungsstück zu einer größeren Hauptstraße, in der man, wenn mehr los war, gut untertauchen konnte.
Aylea rannte in die Gasse, die nur noch schemenhaft von einer vereinzelten Straßenfunzel zur Hauptstraße hin beleuchtet war. Dann ging sie langsamer. Abgesehen von ihrem keuchenden Atem war es hier sehr still. Nichts rührte sich. Leichter Dunst waberte um die Lampe und verwusch die Konturen. Die Hinterausgänge der Häuser waren alle geschlossen. Wenn der Junge in ein Haus gelaufen war, sah es schlecht aus für Aylea. Andererseits glaubte sie nicht, dass er so dumm wäre. Sicherlich war er nicht der einzige Dieb hier. Wenn er nicht in Gefahr geraten wollte, seine Beute schnell wieder zu verlieren, musste er irgendwo anders sein. Ungefähr in der Mitte der Gasse stand die baufällige Ruine eines Hauses, dessen Wände überall mit Farbe bemalt waren. Seltsame Schriftzeichen, obszöne Malereien, die Aylea erneut in Verlegenheit brachten, alles in schrillen Farben. Die Tür zum Hintereingang stand offen, aber Aylea war sich sicher, dass sich niemand darin aufhielt. Sie konnte durch den Eingang erkennen, dass im Inneren die Treppezusammengebrochen war und jede Menge Schutt den Weg versperrte. Seitlich neben der Regenrinne führte eine verbogene, rostige Leiter bis in den Keller hinunter. Die Treppe zum Keller war ebenfalls verschüttet. Aylea schlich sich an den Zugang heran und starrte angestrengt in die Tiefe. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an das Halbdunkel. Wie es aussah, hörte der Schutt nach etwa vier Stufen auf, dann war alles frei. Ein Leichtgewicht konnte sich auf die wackligen Brocken stellen und sich über die Leiter hinunterhangeln. Keine leichte Sache, aber machbar. Vor allem würde kein Erwachsener auf die Idee kommen, sich hier unten zu verstecken. Die Gefahr, mitsamt der Leiter und dem Schutt abzustürzen, war zu groß. Aylea zuckte zusammen, als sie aus dem Augenwinkel unter
sich plötzlich etwas aufblitzen sah. Es war nur ganz kurz gewesen, innerhalb eines Lidschlages, und konnte eine Täuschung gewesen sein. Aber das Mädchen war sich trotzdem sicher, den frechen Dieb aufgespürt zu haben. Sie hatte nämlich eine Taschenlampe in ihrem Koffer verstaut, die sie einmal fürs Camping von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte. Es befanden sich nur Erinnerungsstücke und ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln in dem Koffer. Dinge, die Aylea wichtig waren und ohne die sie keine so weite Reise unternehmen wollte. Ein Stück Heimat... Und das würde ihr niemand wegnehmen - nicht so einfach und vor allem nicht gleich zu Beginn ihres Abenteuers! Aber wie gelangte sie da hinunter? Aylea war kräftig und gelenkig, sie war in der Schule im Sport die Beste gewesen. Nicht zuletzt deswegen, weil ihre Eltern geradezu FitnessFanatiker waren und Aylea von klein auf dazu angehalten hatten, Sport zu treiben. Es bestand allerdings ein Unterschied zwischen einem sicheren Barren mit einem Antigravfeld, das einen Sturz sanft aufhielt, und dieser Ruine hier. Aylea überlegte nicht lange. Sie wollte um jeden Preis ihren Koffer wiederhaben - und den frechen Dieb der Behörde übergeben. Schlimmster Abschaum war so jemand! Ayleas ausgeprägter Gerechtigkeitssinn würde erst dann wieder zur Ruhe kommen, wenn der Dieb seine Strafe bekommen hatte. Mit klopfendem Herzen und einem mulmigen Gefühl im Magen kletterte Aylea auf den schwankenden Schutt. Sie war jeden Moment darauf gefasst, in die Tiefe gerissen zu werden. Vorsichtig näherte sie sich der Leiter - und stellte erschrocken fest, dass sie sie nicht erreichen konnte. Ihre Arme reichten nicht so weit, und es lagen noch gut fünfzig
Zentimeter dazwischen. Aylea beugte sich vornüber und streckte sich, soweit es ging, jeden Moment drohte sie das Gleichgewicht zu verlieren. Der Untergrund war sehr wacklig und erleichterte die Hangelei nach der Leiter kein bisschen. Sie konnte sich anstrengen, so viel sie wollte - es war zu weit, die Arme zu kurz, Aylea zu klein. Ihre einzige Chance bestand darin zu springen. Hast du dir das auch gut überlegt? Aylea atmete einmal tief durch und schloss die Augen. Sie war ziemlich hartnäckig, wenn sie etwas wollte. Was der Junge konnte, schaffte sie auch. Immerhin ging es um ihren Koffer. Innerlich zitternd, federte sie sich ab, sprang nach vorn und griff nach einer Sprosse. Ihre Finger schlossen sich um eine dünne, rostige, raue Stange, und dann sackte ihr Körper nach unten, bevor die Füße Halt gefunden hatten. Aylea unterdrückte einen Aufschrei, als ein Ruck durch ihre Handgelenke lief. Ihr Körper schwang gegen die Leiter, und sie schlug sich beide Knie an. Trotzdem fand sie mit einem Fuß Halt, und nach kurzem Schwanken auch mit dem zweiten. Dann verharrte Aylea erst einmal regungslos. Sie kämpfte gegen den Schmerz an, das Brennen in den aufgeschürften Knien, und versuchte, ihren zitternden Körper zu beruhigen. Es war doch nicht so einfach, wie sie geglaubt hatte. Sport hin oder her - das war eine grausig schlechte Leistung, für die sie keine gute Bewertung erhalten hätte. Wie sie von hier aus jemals wieder zurück auf die Straße gelangen sollte, war ihr ein Rätsel, und sie wollte lieber noch nicht darüber nachdenken. Mit angehaltenem Atem lauschte sie, aber es war alles still, nichts regte sich. Entschlossen kletterte Aylea nach unten, immer tief er in die Dunkelheit hinab...
* Die Leiter reichte nicht bis ganz unten, aber es war nur noch ein knapper Meter zu springen. Aylea landete sicher auf den Füßen und schnappte nach Luft. Sie hätte niemals damit gerechnet, dass sie heute noch ihrem Körper eine Menge Kraft abverlangen musste. Sämtliche Glieder schmerzten, die aufgeschürften Knie brannten wie Feuer. Wahrscheinlich sah Aylea jetzt bereits genauso abgerissen wie die anderen Menschen aus, die hier lebten. Sie wunderte sich jetzt nicht mehr. Erneut lauschte sie in die Dunkelheit. Anschließend schlich sie langsam weiter, auf der Suche nach einem Eingang oder wenigstens einem Durchschlupf. Irgendwo hier befand sich das Versteck des Diebes, daran glaubte Aylea fest. Sie blieb stehen, als sie erneut ein Licht aufblitzen sah, durch die Ritze eines Bretterverschlags hindurch. Hier war wirklich jemand! Aylea konnte nur hoffen, dass es der Dieb war - und dass er allein war. Doch jetzt würde sie keinen Rückzieher mehr machen. Mit den Händen tastete sie sich weiter und fand schließlich eine Lücke zwischen den Brettern, die groß genug für ein Kind war, um hindurchzuschlüpfen. Aylea zögerte nicht lange, kroch hindurch und kletterte auf der anderen Seite über einen Schrank hinunter. Hier unten war es stockdunkel, ihre Augen konnten kein Restlicht mehr auffangen. Was nun? Ratlos überlegte das Mädchen. Doch wie es aussah, war hier Endstation. Sie konnte sich nicht einfach blind vorwärts tasten, schließlich hatte sie keine Ahnung über die Hindernisse und Räumlichkeiten. Vermutlich musste sie hier auf Warteposition gehen, bis der Junge wieder auftauchte. Irgendwann musste er
ja wieder los auf Beutefang. So lange musste Aylea sich eben gedulden. Doch da blitzte wieder das Licht auf, tauchte den Raum für einen kurzen Moment in ein dämmriges, gespenstisches Licht. Aylea speicherte, was sie sah, wie eine Fotografie, und lief los, um im Lichtschein so weit wie möglich zu kommen. Sie blieb stehen, als das Licht verschwand, doch bald darauf schwenkte es wieder in ihre Richtung. Aylea ging auf Zehenspitzen hastig weiter. Aus dem vereinzelt durch Ritzen blitzenden Lichtstrahl wurde schließlich ein sich allmählich ausbreitender Lichtschein. Von dem ersten Raum ging es auf einen Gang hinaus und von da in einen weiteren Raum. Durch die Löcher in den Zwischenwänden hatte Aylea das Licht gesehen. Aylea betrat einen Raum, der nicht ganz so feucht war wie die anderen, aber dafür deutlich muffiger roch - und zwar nach Mensch. Im matten Lichtschein sah sie in einer Ecke eine große alte Matratze, Decken und Kissen aufgetürmt. Davor stand ein Tisch, daneben zwei zerschlissene alte Sessel. Auf einem Regal flackerten zwei Kerzen, darunter stapelten sich verschiedene Gegenstände, von denen sich Aylea sicher war, dass sie alle Diebesgut waren. In einem der Sessel, mit dem Rücken zu ihr, kauerte der Junge und wühlte in ihrem Koffer herum. Er war so vertieft, dass er Ayleas Anwesenheit nicht bemerkte und zu Tode erschrocken zusammenfuhr, als sie ihn anbrüllte: »Hab ich dich!« Der Junge fuhr zu Aylea herum und schaffte es gerade noch, abwehrend die Hände hochzustrecken, da war sie schon wie eine Furie über ihm. Mit geballter Faust verpasste sie ihm eine Kopfnuss, die ihn rückwärts aus dem Sessel warf. »Du miese kleine Ratte! Abschaum! Gib mir meinen Koffer zurück, los!«, keifte Aylea, während sie weiter auf den Jungen einschlug.
Doch der hatte sich inzwischen von seinem Schrecken erholt und setzte sich jetzt zur Wehr. Ineinander verklammert rollten die beiden Kinder über den Boden, bis der Junge mit dem Kopf gegen die Tischkante stieß und Ayleas Kragen mit einem Keuchen losließ. Er setzte sich auf und hielt sich schwankend den Kopf, zwischen den Fingern sickerte Blut aus einer Platzwunde hervor. »Sag mal, spinnst du?«, fragte er stöhnend. »Gehst wie ein wildes Tier auf mich los. Hast du sie noch alle?« Aylea hatte sich ebenfalls aufgesetzt und wartete mit geballten Fäusten und angespannter Haltung auf die Fortsetzung des Kampfes. »Du hast meinen Koffer gestohlen!« »Ja und? Kein Grund, einen deswegen halb umzubringen!« »Red keinen Stuss! Du bist ein ganz mieser...« »Hör doch endlich auf zu schreien, mir tut der Kopf schon genug weh! Vielleicht habe ich eine Gehirnerschütterung...« Der Junge hielt sich weiterhin den Kopf und ächzte, selbst durch die Finger konnte man sehen, dass auf seiner Stirn eine gewaltige Beule anschwoll. Seine Hände waren inzwischen voller Blut. Das ernüchterte Aylea wieder, und sie fühlte sich auf schreckliche Weise wieder an Mashanabá erinnert. Sieh, was du aus mir gemacht hast!, hatte das PackaMädchen geschrien. Es war zur Mörderin geworden, und Aylea... kannte sich selbst nicht mehr. Sonst war sie nie so angriffslustig gewesen. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben nicht mit jemandem geprügelt. Als sie sich in Mashanabá eingeklinkt hatte, war es das erste Mal gewesen, aber nur deswegen, weil sie es für ein virtuelles Spiel gehalten hatte, bei dem sich keiner wirklich wehtat. Sie hatte nur wissen wollen, wie eine Rangelei so war, es spielerisch austesten. Doch nun war es Realität...
»Lass mal sehen.« Aylea kroch auf den Jungen zu und wollte die Wunde begutachten, aber er wich ihrer Hand aus. »Hau bloß ab, du!« »Ach, stell dich nicht so an!« Aylea blickte sich um. In einem Regal fand sie ein Stofftuch, das noch nicht ganz so fleckig war wie alles andere hier, und riss einen Streifen ab. Einen weiteren Streifen knüllte sie zusammen und kehrte zu dem Jungen zurück. »Nimm deine Hände weg! So kann ich nichts sehen.« Der Junge gehorchte nach kurzem Zögern. »Uuhh«, machte Aylea. »Das sieht beachtlich aus.« »Das war nicht dein Verdienst, sondern der Tisch«, brummte der Junge. »Und das ist nicht einmal was Besonderes. Wenn ich keine Kerzen oder Feuerzeuge finde, tappe ich hier im Dunkeln herum und stoße mich andauernd.« »Warum gehst du nicht woandershin?«, fragte Aylea, während sie die Wunde notdürftig mit einem Stück Stoff und Spucke reinigte. Dann presste sie den zusammengeknüllten Streifen darauf und wickelte den anderen Streifen um den Kopf. »Das ist nun mal meine Bleibe«, antwortete der Junge. »Sie gehört mir, die nimmt mir keiner weg.« »Es ist jämmerlich«, bemerkte Aylea. »Was Besseres findest du in ganz Ameritown nicht, Schwesterchen.« »Ich bin nicht dein Schwesterchen.« »Mir egal, wer du bist. Ich nenne dich, wie es mir passt.« »Aber ich heiße Aylea.« Der Junge zuckte die Achseln, berührte den Verband und zuckte zusammen. »Und wie heißt du?«, fragte Aylea. »Ach, wurscht.« »Das ist aber ein komischer Name.« »Wieso?«
»Na, Wurscht.« Der Junge glotzte Aylea entgeistert an. Dann prustete er unvermittelt los, und Aylea kicherte. »Eigentlich bin ich Josh«, sagte er schließlich, als sie sich wieder beruhigt hatten. »Das klingt schon viel besser. Josh also.« »Hm. Bist du eigentlich verrückt oder so was?« »Wie kommst du da drauf?« Josh kratzte sich das Kinn. »Erst führst du dich auf wie eine Wilde, dann verbindest du mich. Was willst du überhaupt hier?« »Du hast meinen Koffer gestohlen«, antwortete Aylea. »Was ist dir nur so wichtig an dem Koffer, dass du deinen Hals riskierst?« »Was war dir so wichtig daran, dass du ihn gestohlen hast?« Josh blinzelte. Dann seufzte er. »Bist eine ganz Schlaue, was? Okay. Ich lungere oft bei der Kontrollstation herum. Neuankömmlinge bringen hin und wieder Sachen von draußen mit, die nützlich sein können. So wie deine Taschenlampe zum Beispiel. Dann müsste ich nicht mehr im Dunkel herumstolpern.« »Was ist hier eigentlich los?«, wollte Aylea wissen. »Wo bin ich nur gelandet?« Josh grinste. »In der Endstation aller Träume. Willkommen in der Hölle, Schwesterchen. Vor Jahrhunderten nannte man dies Peking.« * Für einen Moment herrschte tiefstes Schweigen. »Aber... aber das ist unmöglich«, stotterte Aylea. »Peking existiert nicht mehr! Das weiß ich aus dem Geschichtsunterricht!« Josh zuckte die Achseln. »Dann ist das eben gelogen. Ich
war zwar nie in einem Geschichtsunterricht, nicht einmal in einer Schule. Aber ich weiß, dass das Gebiet hier Peking war. Meine Mom hat's mir erzählt, als ich noch klein war. Sie starb vor drei Jahren. Da war ich neun. Seitdem schlage ich mich allein durch.« Aylea zog die Beine an und schlang die Arme darum. Sie begann zu frösteln, und nicht nur deshalb, weil es hier unten kühl war. »Das ist ja schrecklich...« »Warum bist du denn hier, Schwesterchen?« Aylea zögerte. Dann aber gab sie sich einen Ruck und erzählte Josh alles. Es konnte schließlich nicht schaden. Und ihr tat es gut, über all das zu reden, was sie beschäftigte. Und warum ihr der Koffer so wichtig war - jetzt mehr denn je. Josh verschwand während der Erzählung hinter einem Regal, und nach einigem Kramen und Rumoren brachte er eine angebrochene Flasche Wasser und eine Dose mit eingelegtem Fisch zum Vorschein. Er bot Aylea etwas an, aber sie ekelte sich vor dem muffelnden Fisch und trank nur etwas Wasser. Als sie geendet hatte, sagte Josh: »Du hast dich ganz übel hereinlegen lassen, Aylea. Wenn du so aufgewachsen wärst wie ich, hättest du gleich geschnallt, dass da was nicht stimmt. Auf dem Flug hierher haben sie dir was in den Saft geschüttet, damit du nicht mitkriegst, wohin es geht. Und dann wollten sie dich verkaufen. Die Kontrolle ist von dem mächtigsten Syndikat hier besetzt, das daran arbeitet, die ganze Stadt zu übernehmen. Dazu suchen sie immer gute Leute, die sie dann konditionieren - und jemanden mit Köpfchen, so wie dich, können die gut brauchen.« Aylea starrte auf ihre Knie. »Aber warum?«, flüsterte sie. »Warum haben sie mir das angetan?« Josh lachte trocken. »Ein IQ von 165 oder so, aber das Einfachste ist dir zu hoch. Du bist unerwünscht, kapiert? Du redest von Dingen, die man öffentlich nicht sagen darf. Damit machst du dich unbeliebt und wirst sehr schnell unbequem für
die Ordnungsbehörde. Denn niemand darf irgendeinen schwarzen Fleck auf den strahlendweißen paradiesischen Traum der Menschheit klecksen. Wer nicht mehr ins Raster passt, wird abgeschoben. Hierher, an die Endstation der Träume. Für immer zum Schweigen gebracht.« »Das dürfen sie nicht tun!«, begehrte Aylea auf. »Ich muss zurück! Ich muss es meinen Eltern sagen! Ich...« »Langsam, Schwesterchen, jetzt raste nicht aus. Das hat überhaupt keinen Sinn, denn deine Eltern waren es ja wohl, die die Leute von der Behörde gerufen haben! Die wissen genau, was mit dir los ist. Glaub mir, für die bist du längst tot.« Ayleas Augen füllten sich mit Tränen. »Du lügst!«, stieß sie erstickt hervor. »Meine Eltern lieben mich, sie würden nie...« »Aber sie haben«, unterbrach Josh erneut und kaute in aller Seelenruhe auf seinem öligen Fisch. »Sie werden dich auch jetzt noch lieben, werden trauern über den bitteren Verlust. Aber solltest du je wieder vor ihrer Tür aufkreuzen, würden sie dich verleugnen.« Aylea konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie hätte Josh gern ins Gesicht geschrien, wie dumm und eingebildet er sei, dass es eine andere Welt da draußen gab, von der er keine Ahnung hatte. Aber tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass der Junge genau wusste, wovon er redete. Er war ihr an Lebenserfahrung weit voraus. Und wenn sie es genauer betrachtete, wusste Aylea im Grunde nicht viel über die Welt, aus der sie stammte. Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass Eltern so herzlos ihr Kind weggaben, nur weil es die Ordnung störte. Und die ganze Zeit hatte ein Gefühl tief in ihr geahnt, dass sie von Anfang an belogen worden war. Es hatte Aylea gewarnt, nicht zu leichtgläubig zu sein. Aber sie hatte es nicht besser gewusst, es nicht wahrhaben wollen. Ihr war bis jetzt noch nie etwas Schlimmes widerfahren. Für Aylea brach eine Welt zusammen. Alles, woran sie je
geglaubt hatte, war eine Lüge. Ihr Glück, das sie empfunden hatte, zerbröckelte, wurde zu Sand, der im Wind verwehte. Vor allem der Schock über das Verhalten der Eltern schmerzte tiefer als alles andere. Sie wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören. Schluchzend und wimmernd verbarg Aylea den Kopf in den Armen, igelte sich ein und zog sich tief in sich selbst zurück. Irgendwann schlief sie ein...
7. So wie der Marsch scheinbar kein Ende genommen hatte, kam ihnen auch die Fahrt endlos vor. Cloud und Jelto hatten das Fahrzeug nach Ess- oder Trinkbarem untersucht, waren aber nicht fündig geworden. Anschließend hatte sich Cloud die Armaturenverkleidung des Vehikels vorgenommen. Für den Fall der Fälle wollte er gerüstet sein, die Fahrt wenigstens über einen Kurzschluss zu beenden. Indem er irgendwelche Teile beschädigte, ohne die der Motor nicht länger arbeitete. Doch selbst das erwies sich als nicht durchführbar. Die Gehäuseverkleidungen ließen sich ohne das entsprechende Know-how oder Werkzeug nicht öffnen. Selbst Jelto, mit irdischer Technik vertraut, war ratlos. »Sprich zu ihm«, sagte Scobee irgendwann. »Ermuntere ihn, sich wieder als Wesen zu etablieren. Er besitzt Möglichkeiten, nicht nur diese wahnsinnige Fahrt zu stoppen, sondern uns auch vor dem, was uns jederzeit begegnen kann, zu schützen.« »Vielleicht tut er das längst - oder hat es getan«, sagte Cloud. Scobee zog die tätowierten Augenbrauen nach oben. »Was meinst du damit?« »Vorhin, als er mich verließ, als sich vollständig und
lückenlos an die Wände schmiegte... Licht brach durch, du erinnerst dich. Es muss unglaublich hell gewesen sein, wenn es uns sogar noch durch ihn hindurch blenden konnte. Was wäre wohl geschehen, wenn er nicht da gewesen wäre und es gefiltert hätte? Oder anders gefragt: Was mag er noch außerdem gefiltert und absorbiert haben?« Sie furchte die Stirn noch stärker. »Tödliche Strahlung?« »Bingo.« Er sah sie an. »Du meinst, man hat so eine Art Säuberungswelle durch den Stollen gejagt, als man...« »... als man bemerkte, dass wir uns dieses Fahrzeug geborgt haben.« Er nickte. »Natürlich, es ist nur eine Vermutung. Aber ich halte es für relativ wahrscheinlich. Zumal Jelto kurz darauf die Kontrolle über die Steuerung entzogen wurde. Seitdem werden wir allem Anschein nach ferngesteuert und rasen seit ein paar Minuten mit Minimum 250 Sachen durch diese Röhre.« Sie dachte darüber nach, fand aber keine wirklich schlüssigen Argumente dagegen - auch wenn sie es sich gewünscht hätte. »Du hast Recht«, sagte sie schließlich. »Die Frage ist, was es für uns bedeutet, wenn wir das Ziel erreichen, das inzwischen andere festlegen. Erwartet uns dort eine weitere Falle oder Maßnahme, wogegen auch dieses Ding keine Mittel mehr hat? Oder wird man uns Zeit lassen, uns zu erklären?« Ich wünschte, ich wüsste es, dachte Cloud. Er zuckte die Schultern. »Wenn wir dieses Tempo noch eine Weile beibehalten, wird es nicht mehr lange dauern, bis wir darauf eine verbindliche Antwort erhalten.« Und Minuten später war es tatsächlich so weit. Der Kriecher bremste rapide ab. Sie wurden beinahe aus ihren Sitzen geschleudert. Keiner von ihnen hatte sich angeschnallt. Cloud zögerte nicht länger, wandte sich an den
Unsichtbaren, der sie umgab und sprach in dem Idiom der Hirten zu ihm. Ohne Erfolg. Als der Kriecher stoppte und sich die Ausstiegsluke öffnete, war abzusehen, dass sie auf sich allein gestellt sein würden. Offenbar zog er es vor, nicht entdeckt zu werden - und dazu gehörte, nicht aktiv zu werden und sich nicht als sichtbare Gestalt zu manifestieren. Verdammter Feigling!, dachte Cloud. Aber er wusste, dass es das nicht traf. Der Amorphe war nicht feige. Er war nur unglaublich berechnend. »Was jetzt?«, fragte Scobee. »Steigen wir aus? Machen wir ein wenig Sightseeing?« Cloud schüttelte den Kopf, fassungslos, woher sie immer noch ihren Spott zauberte. Die Entscheidung wurde ihnen von draußen abgenommen. Durch die offene Luke flog etwas heran, landete metallisch polternd auf dem Boden und rollte geradewegs auf Cloud zu. Noch in derselben Sekunde wusste er, worum es sich handelte. Aber da detonierte die Granate auch schon...
8. Aylea erwachte, als Josh unsanft an ihrer Schulter rüttelte. Für einen Moment glaubte sie, zu Hause zu sein, und erwartete helles, freundliches Licht im Zimmer, als sie sich aus den Decken wühlte und die Augen langsam öffnete. Doch es war nur ein mattes Licht, das den Raum kaum erhellte, und die Luft war nicht sauber und warm, sondern feucht, klamm und muffig. Schlagartig erinnerte sich Aylea. Und wusste, dass sie nicht
geträumt hatte. Dass sie auch nicht in irgendeinem virtuellen Spiel gefangen war, sondern sich in der nackten Realität befand. In der wahren Welt hinter der schönen Fassade, in der das Mädchen wohl behütet aufgewachsen war. »Ich habe furchtbaren Hunger«, stellte sie fest, gähnte und streckte sich. »Seit gestern früh habe ich nichts mehr gegessen.« »Da sind wir schon zwei«, bemerkte Josh. »Deswegen werden wir uns auch als Erstes auf die Nahrungssuche machen.« »Wo kann ich mich waschen?«, fragte Aylea. Josh lachte. »Du wirst schon irgendeinen Brunnen finden. Du darfst nur nichts davon trinken, das Wasser ist meistens verseucht. Ich kenne ein paar Stellen, wo das Regenwasser aufgefangen wird, das ist einigermaßen genießbar.« »Aber... dann kann ich nicht baden?« »Klar kannst du das. Du darfst dich nur nicht genieren, wenn dir jeder dabei zuschaut. Außerdem dürfte das Wasser ziemlich kalt sein. Den Luxus wie bei euch haben wir hier nicht.« Aylea fiel von einem Schock in den nächsten. Aber sie zog es vor zu schweigen. Sie konnte eigentlich von Glück sagen, dass Josh ihren Koffer gestohlen hatte. So hatte sie wenigstens einen Führer durch die erste Zeit hier, bis sie sich selbst zurechtfand. Einen Freund? Sie traute sich kaum noch, dieses Wort zu benutzen. Sie suchte nach wärmerer Kleidung im Koffer, aber sie besaß keine. Die Temperaturregelung bei ihr zu Hause ließ es nie kälter als zweiundzwanzig Grad werden. Hier war alles anders. Aylea zog mehrere Shirts übereinander an, darüber ihre Jacke, und war einigermaßen zufrieden. Dann folgte sie Josh nach draußen. Er zeigte ihr, wie man am geschicktesten wieder
nach oben kam, und nach einigem Herzklopfen langte Aylea auch sicher an. Sie atmete erst mal befreit auf. Selbst diese verunreinigte Luft war frischer und besser als der Muff in Joshs Behausung. Blinzelnd schaute Aylea nach oben zum trüben Himmel. Hier fehlte die Sonne mehr denn je. Das triste Bleigrau des Himmels zeigte die Stadt in einem noch trostloseren Licht. Tagsüber war es keinesfalls besser als nachts, das wurde Aylea rasch klar. Nachts lag wenigstens vieles im Dunkeln, und man konnte sich der Illusion hingeben, dass es in Wirklichkeit besser aussah. Aber tagsüber zeigte sich dann, dass es in Wirklichkeit schlimmer aussah. Die Straßen waren nass. Anscheinend hatte es kurz zuvor geregnet. »Ist es hier immer so ungemütlich?«, fragte sie Josh. »Jeden Tag«, antwortete Josh gleichmütig, »mein ganzes Leben lang. Es wird nie richtig kalt, aber auch nie richtig warm. Wenigstens haben wir keinen Wassermangel, wenngleich es auch nicht sonderlich gesund ist.« »Wie meinst du das?« »Merkst du nicht, wie merkwürdig die Luft ist? Denkst du, das ist sauberer Regen?« Aylea nickte schweigend. Wieder eine dumme Frage mehr. Sie kam sich auf einmal so einfältig vor wie noch nie in ihrem Leben. Was half ihr ihr Verstand, ihr kluges Wissen? Hier gar nichts. Josh schlug sich schon allein durch, seit er neun war. Sie schaffte es mit zehn ohne Hilfe nicht mal von einem Tag zum nächsten. »Und wo gehen wir jetzt hin?« »Wir sehen mal, wo wir was abstauben können.« Josh ging mit schnellen Schritten voran, und Aylea folgte ihm gespannt. »Gibt es denn hier keine Versorgungsstationen oder Läden?«, fragte sie. Josh warf ihr einen Seitenblick zu. »'türlich gibt es die. Es
gibt sogar eine richtige Infrastruktur. Aber wenn man nichts hat, bekommt man auch nichts.« »Das verstehe ich nicht.« »Wie funktioniert das denn bei euch?« »Ich gehe in irgendeinen Laden, drücke den Code für das, was ich will, und nehme es am Ausgang in Empfang.« »Und was bezahlst du?« »Wie... bezahlen? Es gibt doch kein Geld.« Josh blieb stehen. »Ist das dein Ernst? Ich meine, du gehst irgendwohin und packst alles ein, was du haben willst? Nimmst es ohne Gegenleistung mit?« Aylea nickte. Er griff sich an die Stirn und zuckte zusammen, als er dabei an die Beule kam. Der Verband war weg, und die Hälfte der Stirn leuchtete von violett bis grün. »Jetzt verstehe ich. Es ist überhaupt nicht notwendig, bei euch zu klauen, stimmt's?« »Ja.« »Kein Wunder, dass du dich so aufgeregt hast. Trotzdem wundert es mich, dass du deinen Koffer dann so wütend verteidigt hast.« »Weil er Erinnerungsstücke enthält, die ich mir nicht einfach irgendwo besorgen kann. Sie sind wichtig für mich. Außerdem konnte ich es nicht fassen, was du getan hast.« Josh grinste. »Dann wirst du gleich noch viel fassungsloser sein, wenn ich dir sage, dass ab heute auch du dich als Diebin wirst durchschlagen müssen.« »Niemals!«, widersprach Aylea empört. »Hör zu, Schwesterchen.« Josh wedelte mit dem Zeigefinger vor ihrer Nase. »Hier läuft das alles etwas anders. Du bekommst überhaupt nichts umsonst. Wenn du etwas kaufen willst, brauchst du Geld, was so gut wie keiner hier hat. Ohne Geld hast du zwei ehrliche Möglichkeiten: Du unterschreibst einen Schuldschein bei einem Wucherer, den du irgendwann abarbeiten musst, oder du bietest dem
Ladeninhaber deine Arbeitskraft an. Manchmal kann man auch was tauschen. Aber das alles können wir nicht tun, denn wir sind Kinder. Wir können nur stehlen, wenn kein Erwachsener für uns sorgt. Klar?« Aylea nickte langsam, mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck. »Und wenn wir einen Erwachsenen um Hilfe bitten?« »Du hast mehr Chancen, an eine Bande zu geraten, die dich versklavt, als jemanden zu finden, der dir hilft. Ich weiß das besser als jeder andere, Aylea.« »Tut mir Leid. Erzähl mir mehr über Peking.« »Eigentlich nennt sie keiner mehr Peking«, erzählte Josh unterwegs. Er führte Aylea zu einem Brunnen, in dem sie Gesicht und Hände wusch, sich hinterher aber irgendwie dreckiger fühlte als vorher. »Die Stadt ist in einen Haufen Bezirke geteilt«, berichtete er weiter. »In Ameritown sind wir. Daneben liegt Chinatown, dann kommen die Russen, Frankobelgier, Hispanos, und wie sie sich alle nennen. Alle Bezirke werden von zwei bis drei Banden kontrolliert, die in ständiger Fehde miteinander liegen. Als Kind tut man gut daran, allen aus dem Weg zu gehen. Vor allem du, Aylea, denn viele sind an kleinen Mädchen interessiert. Ich bin schon fast aus dem Alter raus. Wie auch immer, das Beste für jemanden in unserem Alter ist es, unsichtbar und unauffällig zu sein. Sei immer auf der Hut und bereit zur Flucht.« Aylea fröstelte es von innen heraus. Sie hatte Angst. Diese Welt war schlimmer als jeder Albtraum. So ganz ohne Hoffnung, ohne Zukunft. Und wenn sie bedachte, wie schnell man hierher kam... Eine falsche Bemerkung reichte schon aus, und man wurde aus dem Paradies gestoßen... »Ich wäre nicht so dumm gewesen wie du«, sagte Josh, als habe er soeben ihre Gedanken gelesen. »Ich hätte meinen
Mund gehalten über das, was ich weiß. Ich hätte mich in deinem Paradies total angepasst und das Leben genossen.« »Aber doch nur, weil du es besser weißt«, erwiderte Aylea mit Tränen in den Augen. »Ich bin im Paradies aufgewachsen, ohne von der Hölle zu wissen. Ich wusste nicht, dass es diese Stadt der Ausgestoßenen gibt. Ich wusste nicht, wie schnell man dazugehören kann. Du hast Hunger und Angst erlitten, Josh, du würdest dich jetzt vielleicht anpassen, nur um das Glück festzuhalten.« »Pah, ich hätte auch so meinen Mund gehalten, wenn ich es nicht besser gewusst hätte«, behauptete Josh. »Und wenn du jetzt zurück dürftest, würdest du garantiert auch nichts mehr sagen, was nicht konform ist, oder?« Aylea dachte kurz nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich würde erst recht nicht schweigen«, sagte sie ernst. »Gerade, weil ich nun dieses Unrecht hier auch kenne. Unser Paradies besteht nur aus einer feinpolierten, glatten Schale, Josh, aber innen drin ist es total verfault. Was sollten sie mir schon antun? Mich erneut deportieren? Nein, ich würde erst richtig um Gerechtigkeit kämpfen. Aber auf andere Weise, nicht mehr so dumm und einfältig.« Josh musterte sie von der Seite. Sein Gesicht wirkte beeindruckt. »Weißt du, wenn ich dich so reden höre, kann ich gar nicht glauben, dass du erst gestern hier eingetroffen bist. Scheinst 'ne echte Kämpfernatur zu sein, Schwesterchen. Wenn wir unsere Mägen gefüllt haben, werde ich dir ein paar Freunde vorstellen.« »Du hast Freunde?«, rief Aylea erstaunt. »Klar. Wer hat die nicht? Aber sie schulden mir nichts, und ich ihnen auch nicht. Wir hängen nur ein bisschen zusammen 'rum, das ist alles. Keiner von denen gehört einer Bande an, und der eine oder andere hat auch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber hey, Schwesterchen, ständige Einsamkeit hält doch keiner aus!«
Bevor Aylea etwas sagen konnte, zerrte Josh sie plötzlich mit sich, in die Deckung eines Hauseingangs. »Mach dich ganz dünn«, flüsterte er. »Dann sehen sie dich nicht.« Aylea wollte fragen, wer sie nicht entdecken sollte. Aber da sah sie es schon. Ein Gleiter schwebte um die Ecke eines Blocks. Aylea bewunderte Josh für seine scharfen Sinne, den Gleiter rechtzeitig bemerkt zu haben, bevor er sichtbar war. Der Junge hatte die Instinkte eines Fluchttieres. Der Gleiter sah merkwürdig aus, keinem der Modelle, die Aylea kannte, auch nur im Entferntesten ähnlich. »Ah, Patrouille 3«, wisperte Josh. »Umgebautes PanzerjeepChassis, Maschinengewehr, Granatwerfer, Schallkanone.« Auf dem Gleiter befanden sich drei Personen, der Pilot und zwei Frauen. Sie bewegten sich langsam in etwa fünfzehn Meter Höhe zwischen den Häuserzeilen hindurch. »Wo gehören die hin?«, flüsterte Aylea. »Niemand weiß es«, antwortete Josh. »Man kennt sie nicht. Man weiß nicht, woher sie kommen. Die einen nennen sie Rebellen. Die anderen die geheime Macht, was auch immer das bedeuten mag. Bisher haben sie nichts getan außer Patrouillen zu fliegen. Einmal haben sich mehrere Banden aus einigen Bezirken zusammengetan und sie angegriffen, aber das ist ihnen sehr schlecht bekommen. Ich gehe ihnen aus dem Weg, wie jeder andere auch, und keiner stellt Fragen.« Aylea sah dem umgebauten Gleiter nachdenklich hinterher. * Die nächsten Stunden waren sehr beschämend für Aylea sie lernte, eine Diebin zu sein. Und das Schlimmste war: Sie stellte sich dabei recht geschickt an. Mit ihrem mathematischen Verständnis konnte sie sehr gut die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs ausrechnen
und Josh von einem Streich entweder abraten oder ihn anspornen. Der Junge war sehr erstaunt über seine Begleiterin und zusehends begeistert. So viele Erfolge wie heute hatte er noch nie verzeichnen können! Es gab durchaus ein befriedigendes Angebot an Nahrungsmitteln; offensichtlich wurden die Geschäfte der Stadt von außen versorgt, aus welchen Gründen auch immer. Josh wollte sich an Fischdosen, lapprigen Hamburgern und in stinkendem Fett frittiertem Gemüse schadlos halten, aber Aylea schüttelte es allein schon bei dem Gedanken daran. Sie brachte Josh dazu, mehr Obst zu stehlen, dazu frisches Brot, Wurst, auch etwas Käse. »Das schadet dir zwischendurch nicht«, entschied sie. Nach den ersten Versuchen stellte sich schnell Routine ein. Aylea konnte rasch die Schwachstellen einer Auslage oder eines Standes herausfinden, erklärte Josh, wie er das Chaos anrichten musste - und kassierte währenddessen ein, so viel sie in wenigen Sekunden greifen konnte. »Dann brauche ich mich nicht einmal mehr bei den Müllcontainern der Restaurants herumzutreiben«, stellte Josh vergnügt fest, als sie sich am Ende des Tages in Joshs Behausung an ihrer Beute gütlich taten. Es hatte auch für einige zusätzliche Kerzen gereicht, was die Luft zwar noch stickiger machte, dafür aber auch wärmer. Und es war etwas heller. Ayleas Koffer lag unbeachtet in einer Ecke. Das Mädchen hatte die wenigen Habseligkeiten aufgeteilt, denn sie gehörten jetzt zusammen. Sie waren ein gutes Team, und sie verstanden sich gut. Warum sollte es nicht so bleiben? Als Erinnerungsstücke wollte Aylea ihre Sachen sowieso nicht mehr behalten. Wahrscheinlich hatte Josh Recht, und ihre Eltern hatten den Anstoß gegeben, Aylea in die Verbannung zu schicken. Als es dann ans Schlafen ging, kehrten die Gedanken
zurück, und Aylea wurde sehr traurig. Sie verkroch sich auf ihrem Lager wie ein kleiner Welpe, rollte sich zitternd zusammen und zog die Decke über ihren Kopf. Sie war Josh dankbar dafür, dass er so tat, als bemerke er es nicht. Aylea hatte in diesen zwei Tagen zwei Dinge erkannt: Dass sie sich schnell anpassen konnte und dass sie über enorme Reserven verfügte. Sie hatte ihren Lebensmut keineswegs verloren und auch nicht vor, sich dem Kummer ganz zu ergeben. Wohin das führte, hatte sie ja nun erfahren. Eines Tages, Mashanabá, dachte sie, eines Tages habe ich dich gerächt, dann werden alle Packa frei sein - und alle Menschen auch...
9. Arglos schlug Scobee die Augen auf. Für einen Moment hing sie fest dem Glauben an, einfach nur geschlafen zu haben. Im Sitz des Kriechers als Folge der Anstrengungen und Entbehrungen eingenickt zu sein. Dann kehrte die Erinnerung zurück. Das Erreichen der Haltestation. Das Öffnen der Luke. Die geworfene Granate... Glücklicherweise hatte es keine verheerende Explosion gegeben, aber etwas war der Waffe entwichen. Ein Gas, das sich blitzschnell ausbreitete und offenbar nur den Hautkontakt benötigt hatte und nicht einmal richtig eingeatmet werden musste, um seine unheilvolle Wirkung zu entfalten. Sie befand sich in einem merkwürdigen Raum. Er war der krasse Gegensatz zu allem, was sie erwartet hätte. Nicht zum ersten Mal fand sie sich in einem Gefängnis wieder, aber noch keines hatte ausgesehen wie dieses. Eine Stube.
Raum war schon der völlig falsche Ansatz, um ihre Umgebung zu beschreiben. Das hier war eine richtig altmodische Stube, wie Scobee sie nicht selbst kennen gelernt hatte - schließlich hatte sie als GenTec keine normale Kindheit hinter sich. Aber es mochte sie noch irgendwo in Teilen der Welt gegeben haben, wo es noch nicht so fortschrittlich zuging wie im Amerika der Zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts... Was sie am meisten in Alarmbereitschaft versetzte und ihr Misstrauen weckte, war, dass es gemütlich aussah. Sie war in einer gemütlichen Umgebung mit viel altmodischem Mobiliar zu sich gekommen, mit Regalen voller Bücher. Auf jeder Kommode, jeder sonstigen Ablagefläche verteilte sich Krimskrams. Nachdem die Granate sie außer Gefecht gesetzt hatte... Beides passte nicht zusammen. Nicht einmal andeutungsweise. Sie war froh, als ihr schweifender Blick John entdeckte... und schon im nächsten Atemzug Jelto. Sie waren noch ohne Bewusstsein und lagen in einem ähnlichen plüschbezogenen Polstersessel wie sie selbst. Sonst war niemand im Raum. Vor die beiden Fenster waren dicke Vorhänge gezogen, was ein dämmriges Licht verbreitete, während es draußen richtig hell zu sein schien. Irgendwann zur Mitte des Tages... Obwohl sie bereits festgestellt hatten, dass sich auch das verändert hatte. Die Nacht brach bestürzend schnell, fast übergangslos auf dieser Erde herein, und ebenso verhielt es sich mit dem Erwachen eines neuen Tages. Der Himmel auf dieser Erde war nachts ohne Sterne und tagsüber ohne Sonne. Nachts war es finster, absolut schwarz, bei Tag hell und lichtdurchflutet wie an einem sonnigen Tag, nur dass das Muttergestirn eben nicht sichtbar als Scheibe am Himmel hing. Den Grund für all dies kannte Scobee nicht. Sie und Cloud
vermuteten, dass es mit dem »Unsichtbarkeitsschirm« zu tun hatte, der sowohl die Erde als auch den Mond optisch und ortungstechnisch vom Parkett des Sonnensystems hatte verschwinden lassen. Aber Genaues wussten sie nicht darüber. Sie stand auf. Sie hatte weder Kopfschmerzen noch spürte sie irgendwelche anderen Nachwehen des K.O.-Gases. Es war tatsächlich so, als wäre sie nur kurz eingeschlafen und nun wieder wach geworden. Ihre heimelige Umgebung führte dazu, dass sich ihr sonst so verlässlicher Instinkt schwer tat. Es stand eigentlich außer Zweifel, dass sie in großer Gefahr schwebten. Falls die These stimmte, dass eine Art Säuberungsstrahl auf ihr Vehikel abgefeuert worden war, der sie ohne die Hilfe des Amorphen getötet hätte, durften sie sich auch jetzt kaum ein Pardon erhoffen. Aller Wahrscheinlichkeit waren sie in der Gewalt derer, die sie seit ihrer Ankunft am Strand verfolgt und zuletzt bei Jeltos Wald-Station überfallen hatten. Die Täuschung des Amorphen hatte die Verfolger aufgehalten, aber letztlich doch nicht überzeugt... Aber passte das? Nein, verdammt! Es passt nicht. Es passt einfach nicht mit dem hier zusammen. Ihr Blick glitt über das fast verschrobene Interieur des Zimmers. Sie trat zu Cloud. Er atmete ruhig, genau wie Jelto, dem sie einen prüfenden Blick widmete. Dann ging sie neben Cloud in die Hocke und schüttelte ihn sanft am Arm. Er reagierte nicht. Sie schüttelte heftiger. Endlich fing er an zu blinzeln. Kurz darauf sah er sie an, schaute an ihr vorbei - und sprang wie von der Tarantel gestochen auf. »Sei stark«, begrüßte Scobee ihn und richtete sich auf, sodass ihre Augen fast auf gleicher Höhe waren. »Die
schlechte Nachricht: Keine meiner Erwartungen hat sich erfüllt. Wir wurden nicht getötet, nicht einmal gefoltert. Die gute Nachricht: Man kannte deinen Einrichtungsgeschmack und hat ihm entsprochen...« Sie machte eine ausholende Geste. Er schüttelte nur den Kopf. »Wo sind wir?« »Keine Ahnung. Ich bin auch eben erst aufgewacht.« »Jelto?« Er sah sich um. »Schläft friedlich wie ein Baby - genau wie du bis vor ein paar Sekunden.« Clouds Miene verdüsterte sich. Er schob Scobee zur Seite und eilte zum Fenster, zog die schwere Übergardine zur Seite und entdeckte als Erstes die Gitter draußen hinter der Scheibe. Er winkte Scobee zu sich, und sie folgte ihm. Gemeinsam blickten sie auf eine Art Hinterhof, der öde und verlassen dalag. Es gab Wildwuchs, Unkraut, das aus dem Teerbelag hervorspross, Mauern, sogar Stacheldraht. »Ganz so heimelig ist es hier wohl doch nicht«, knurrte Cloud. »Nein«, sagte sie. »Das sieht fast aus wie in diesen alten Gangsterfilmen. Prohibition. Voriges Jahrhundert...« Nirgends war auch nur eine Menschenseele zu erspähen, aber Cloud glaubte, von irgendwoher - von ganz fern Stimmen, Schreie, sogar Musik zu hören. Er machte sich am Fenster zu schaffen. Es ließ sich, nachdem er die Konstruktion durchschaut hatte, mühelos nach oben schieben. Er beugte sich vor, stützte die Hände auf die Fensterbank und streckte den Kopf so weit vor, bis er gegen die Gitterstäbe stieß, die zu eng beisammen lagen, um den Schädel zwischendurch zu quetschen. Der ferne Lärm, die unbekannte Musik waren lauter geworden. Stimmen vermischten sich, Worte ließen sich jedoch nicht identifizieren. Am Himmel trieben Schönwetterwolken vorbei.
»Eigentlich haben wir fast alles erreicht, was wir erreichen wollten«, sagte Scobee. »Wir sind nicht tot. Wir sind wieder unter Menschen... Überleg nur, was der Kubus dagegen für ein mieser Ort war! Und alles sieht danach aus, als würden wir bald von irgendjemandem erklärt bekommen, welcher Vergehen wir uns eigentlich schuldig gemacht haben. Immerhin werden wir nicht erst seit unserer Ankunft auf der Erde von Menschen gehetzt. Damit ist jetzt ein für allemal Schluss. Denn sie haben uns. Und das müsste Grund genug sein, uns Antworten auf unsere Fragen zu geben.« »Auf eure Fragen?«, erklang eine unbekannte Stimme. Lachen folgte. Scobee und Cloud fuhren gleichzeitig herum. * Es dauerte eine Weile, bis Cloud begriff, dass er vergeblich Ausschau nach einer echten Person halten würde. Die Stimme kam aus einem Bildschirm, der bisher unbeachtet, und wohl auch ausgeschaltet, auf einem niedrigen Tischchen gestanden hatte. Jetzt war die Mattscheibe erhellt und das Konterfei einer Gestalt sichtbar geworden. Der Stimme nach zu schließen war sie männlich. Genaueres ließ sich nicht über ihn sagen. Es war nur ein bewusst unkenntlich gehaltener Schattenriss. Noch während Cloud sich bemühte, dennoch Einzelheiten zu erkennen, sprach der Mann weiter. »Wie wäre es, wenn ihr der Höflichkeit Genüge tätet und zunächst einmal unsere Fragen beantwortet?« »Wer könnte einer so charmanten Bitte widerstehen?«, flötete die GenTec. Cloud warf Scobee einen tadelnden Blick zu. Er war der Meinung, dass es reichte. Er schätzte ihre Fähigkeit, selbst brenzligste Lagen mit einem lockeren Spruch zu entspannen.
Aber hier und jetzt, endlich im Kontakt mit einem Menschen stehend, der nicht wie Jelto ein völlig einsiedlerisches Dasein geführt hatte, wollte er nicht einmal den Hauch eines vermeidbaren Missverständnisses aufkommen lassen. »Mit wem sprechen wir?«, fragte er. »Mit wem spreche ich? Den Grünen kenne ich...« Cloud blickte unwillkürlich zu Jelto. Ihm war klar, dass nur er gemeint sein konnte. »... aber euch beide nicht. Wie seid ihr in den geheimen Tunnel gelangt? Wie habt ihr ihn entdeckt - und warum seid ihr die Einzigen, die in ihn eingebrochen sind? Woher kommt ihr? Wir haben noch nie erlebt, dass jemand freiwillig den Weg zum Getto hin suchte. Wäre es so gewesen, dass jemand hier eingebrochen wäre und versucht hätte, die Zone zu verlassen, wäre es nachvollziehbar gewesen. Aber ihr seid nicht von hier, ganz bestimmt nicht. Eure Kleidung... ich habe so etwas noch bei keinem gesehen, der verbannt wurde...« »Getto?«, echote Cloud verständnislos. »Verbannt?« Ein vager Verdacht keimte in ihm. »Wo auf der Erde befinden wir uns?« Das verhaltene, nicht unsympathische, aber eine gewisse Ratlosigkeit verratende Lachen wiederholte sich. »Wo wärt ihr denn gerne?« »Egal. Hauptsache, wieder zu Hause.« Jetzt war es an Scobee, ihn tadelnd anzublicken. Aber er war fest entschlossen, dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Bei der Wahrheit. Egal, auf welche Lüge sie sich verstiegen hätten, sie hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Im Grunde, erkannte er im Bruchteil einer Sekunde, war die Wahrheit, die volle Wahrheit, ihre einzige Chance. »Zu Hause?« »Wir werden unser wirkliches Zuhause nie wieder erreichen können. Die Zeit, aus der wir kommen. Aber der Ort, dieser
Planet... Ja, er ist unser Zuhause. Auch wenn ich nicht den Eindruck habe, hier willkommen zu sein.« * Der Unbekannte hörte sich ihre Geschichte an. Sie klang völlig absurd und an den Haaren herbeigezogen. Und dennoch deckte sie sich mit einigen Details, die nur jemand wissen konnte, der tief, sehr tief in die Materie eingetaucht war. Und der sich vieles von dem geächteten Wissen über die Vergangenheit bewahrt hatte. Hier im Getto gab es keinen, der darüber Bescheid wusste. Keiner der normalen Bewohner jedenfalls. Der Mann, der sich Cloud und Scobee nur als Schattenriss auf einem uralt anmutenden Fernseher darbot, entschied sich auf dem Fundament des Gehörten. »Es gibt eine Möglichkeit herauszufinden, ob ihr die Wahrheit gesprochen habt«, sagte er knapp zwei Stunden später. »Und ich werde nicht zögern, sie anzuwenden.« * »Welche?«, fragte Scobee. Keine Antwort. »Okay«, sagte Cloud. »Und wenn wir die Wahrheit gesagt haben - erhalten auch wir dann ebenfalls ein paar längst überfällige Antworten?« Der Bildschirm des Fernsehers erlosch. Knisternd implodierte das Bild. Nur Schwärze blieb auf der Mattscheibe zurück. »Das gefällt mir nicht«, sagte Scobee. »Ich bin immer noch im Zweifel, ob es eine gute Idee war, ihm alles über uns preiszugeben.« »Ich habe nichts von dem verstanden, was ihr ihm gesagt
habt«, meldete sich Jelto zu Wort. Er war Minuten, nachdem der Unbekannte Kontakt aufgenommen hatte, erwacht. Scobee hatte ihm das Wenige berichtet, was sie wussten, während sich Cloud mit dem Fernseher unterhielt. Seine Schlussfolgerung war ohne jeden Zweifel ausgefallen: »Dann sind wir in der Zone.« Das Wort hatte auch der Unbekannte gebraucht. Mehrfach. Ebenso wie den Begriff »Getto«, unter dem sich Scobee nichts Konkretes, aber auf jeden Fall etwas fürchterlich Beklemmendes vorstellte. Sie waren immer noch dabei, Jelto mehr mögliche Informationen zu entlocken, als die Tür von außen entriegelt wurde. Dass sie verschlossen war, hatten sie längst überprüft. Ein einzelner Mann erschien. Sein Gesicht war unter einem gazeartigen Stoff verborgen, der an einem Stirnband befestigt war, in das chinesische Schriftzeichen gestickt waren. Der Mann sagte ihnen, was er von ihnen wollte - und dass Widerstand zu ihrer sofortigen Exekution führen würde. Hinter ihm im Türrahmen wurden weitere Gestalten sichtbar, schwer bewaffnet und ebenfalls vermummt. Der Schmerz, den die Gefangenen über sich ergehen lassen mussten, war geringer als beim Täuschungsmanöver des Amorphen, an den Scobee zwischendurch immer wieder denken musste. Sie machte sich Sorgen. Falls er entdeckt wurde, falls das Fahrzeug, mit dem sie gekommen waren, genau untersucht wurde, würde das ihrer Glaubwürdigkeit und ihren Versicherungen, nichts Unlauteres im Schilde zu führen, schweren Schaden zufügen. Nur kurz nachdem der hagere Mann gekommen, ging er auch schon wieder, zwei Zellproben im Gepäck. Jelto stand offenbar nicht zur Diskussion, seine Herkunft war offensichtlich. »Was wollen sie damit anfangen?«, fragte Cloud. Er ging ungeduldig im Zimmer auf und ab wie ein eingesperrter Tiger.
Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Eine nackte Glühbirne erhellte die Stube schattenreich. »Wir werden es sicher bald erfahren. Klonen wollen sie uns wohl nicht«, versuchte Scobee ihn zu beruhigen. »Obwohl sie sicher kaum besseres Genmaterial erhalten könnten als von mir.« Sie zwinkerte ihm zu. Er schnaufte und setzte sein zielloses Auf und Ab fort. Zwischendurch kam jemand, der ihnen Essen und Trinken brachte - worüber sie schon überglücklich waren -, aber es dauerte bis zum Morgen, ehe sie mit dem Ergebnis des Tests konfrontiert wurden, dem der Unbekannte sie unterzogen hatte. Scobee döste in einem der Sessel, als die Tür aufging und ein unvermummter Mann eintrat. Er trug keine sichtbare Waffe bei sich, wurde aber von Bewaffneten begleitet. Er mochte dreißig, fünfunddreißig Jahre alt sein und war unverkennbar asiatischer Abstammung. Als Scobee sich erhob, um Cloud, der ebenso wie Jelto eingeschlafen war, zu wecken, kam der Fremde ihr mit ausgestreckter Hand und durchaus gewogener Miene entgegen. »Wenn ich mich vorstellen darf? Mein Name ist Shen... Shen Sadako.«
10. »Ich muss dir unbedingt Pete vorstellen«, sagte Josh am nächsten Morgen. Auf Raubzug mussten sie noch nicht gehen, denn sie hatten von gestern noch genug übrig. Es reichte für ein Frühstück und ein Abendessen. Sie waren beide keine Schwergewichte, sondern hatten eher einen Hang zur Magerkeit. Josh war etwas größer als Aylea und schlaksig. Als sie ihn zwang, seine Haare in einem kalten Brunnen zu waschen, stellte sie fest, dass er genauso blond war wie sie.
Die Beule auf seiner Stirn wuchs langsam über die Augen zur Wange hinunter. Das machte Josh aber nichts aus. Im Gegenteil prahlte er damit, einen großartigen Kampf bestanden zu haben. Aylea wusste inzwischen, wie wichtig solche Tagträume waren. Das machte das Leben hier erträglicher. Im Grunde genommen, das hatte sie schon nach dieser kurzen Zeit erkannt, war es gleichermaßen gefährlich wie eintönig. Man suchte nach Essen, versteckte sich vor den anderen und zog sich abends in die »Höhle« zurück, wie Aylea Joshs Behausung nannte. Ein Tag wie der andere, es gab keine Abwechslung. Der Verstand wurde nicht gefordert, ein Entkommen aus diesem Einerlei war unmöglich. So betrachtet, war das die schlimmste Strafe für Menschen. Und Aylea sah, was diese Bestrafung bewirkte, als Josh sie zu seinen Freunden mitnahm. Es war eine große, mehrgeschossige Lagerhalle, in Hunderte winziger Parzellen unterteilt. Als Begrenzung dienten alte Schränke und Regale, auch Schnüre, an denen Wäsche hing. Manch einer hatte sogar uralte, abgetretene Teppiche, die den Schritt auf dem kalten Beton dämpften und die Füße wärmer hielten. Feuer brannte in großen Tonnen, abwechselnd musste jeder einmal vier Stunden Wache halten, damit es nie ausging. Verheizt wurde alles, was man fand und nicht mehr gebraucht wurde. Spezielle Suchtrupps durchstreiften die Stadt, holten das Holz von Bretterverschlägen, alte Schränke, Tücher, Möbel. In den wenigen intakten Wohnungen der Bezirke lebten die Bandenmitglieder. Man hatte kaum eine Chance, in ein Haus einziehen zu können, wenn man »neutral« war. All das erfuhr Aylea, während Josh sie in die Lagerhalle brachte, und sie betrachtete diese »Welt in der Welt« voller
Entsetzen und Faszination zugleich. »Es gibt Strom«, flüsterte Josh ihr zu. »Hin und wieder jedenfalls. Einige Spezialisten haben die unterirdischen Kabel angezapft. Andere haben Dynamos gebaut, oder benutzen die Wasserkraft aus den Kanälen.« Es war also doch nicht alles hoffnungslos. Manche versuchten, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Aylea kam an einer Parzelle vorbei, in deren Mitte ein Bett stand, auf dem ein sehr lethargisch wirkender Mann lag. Er war sehr lang und dünn, und alles an ihm war grau. Seine Bewegungen waren langsam und kraftlos. Die Regale um ihn herum waren mit einem wunderlichen Sammelsurium vollgestopft, das Aylea nicht einmal annähernd identifizieren konnte. Der Mann schien trotz seiner Lethargie Ayleas fragenden Blick bemerkt zuhaben, denn er sprach mit einer raschelnden Stimme, die wie trockenes Papier klang. »Es sind Relikte von damals. Speicherplatinen. Computerchips. Funktelefone. Bevor die Äskulap-Raumer kamen. Zweihundertfünfzig Jahre ist das her. Verstehst du, Kind? Es ist unsere Vergangenheit. Aber auch unsere Zukunft.« »Was kann er damit anfangen?«, fragte Aylea, als sie weitergingen. »Genauso viel wie mit seinem Leben«, antwortete Josh. »Nichts.« Aylea fuhr zusammen, als ihnen plötzlich ein Mann in den Weg sprang. Er trug nur eine ausgeleierte dünne Hose, die Haut spannte sich über die Rippen. »Achte darauf, vergiss nie, dass sie dich beobachten!«, rief er und baute sich mit wild rollenden Augen vor Aylea auf. »Sie sind hier, sie sind immer noch hier, und sie sehen dich, egal wo du dich versteckst! Sie kontrollieren jeden deiner Schritte, sie wissen, wer du bist! Sie benutzen dich, Kind, als Batterie, als Marionette, als Computerprogramm...«
»Ist ja schon gut, Horaz, sie gehört zu mir«, unterbrach Josh den Redeschwall und zog Aylea mit sich an dem augenscheinlich verwirrten Mann vorbei. »Ach, wirklich«, sagte Horaz und drehte den Oberkörper; mit den angewinkelten Armen sah er fast aus wie ein federloser Vogel. »Täusch dich nicht, Junge, die gehört nicht zu dir. Die gehört zu denen! Mich kannst du nicht irreführen, ich bin ein Seher, ich weiß alles. Ich empfange die Botschaften von draußen, sie sind in meinem Kopf, nur kann ich sie nicht immer übersetzen...« »Mach dir keine Gedanken«, sagte eine tiefe Stimme in Ayleas Gedanken hinein, und sie schaute verdutzt zu einem großen, mageren Mann hoch, mit langen grauen Haaren und einem kurzen grauen Bart. Seine blauen Augen blickten gütig. »Horaz ist harmlos. Wie alle hier.« Er streckte Aylea die Hand hin. »Ich bin Pete. Sei willkommen bei uns, kleine Schwester.« Jetzt wusste Aylea, woher Joshs Ausdruck »Schwesterchen« kam. Und auf einmal fühlte sie sich getröstet. * Noch einmal musste Aylea ihre Geschichte erzählen, und diesmal fiel es ihr schon leichter. Allmählich kam es ihr sogar fast absurd vor, jemals in einer anderen Welt gelebt zu haben. Das Paradies verblasste immer mehr, selbst die Gesichter ihrer Eltern. Aber Aylea machte deutlich, dass sie keineswegs vorhatte zu resignieren. »Ich werde hier rauskommen, egal wie.« »Bevor du gleich losmarschierst, solltest du einiges wissen, Aylea«, sagte Pete. »Die allerwichtigste Erfahrung ist folgende: Du kannst hier nicht weg. Nicht einfach so.« »Aber die Stadt hat doch keine Mauer...« »Und keine Wachen. Natürlich kannst du einfach so hinausspazieren, das ist überhaupt kein Problem. Du kannst
sogar etwa einen Kilometer weit ganz friedlich dahingehen. Aber dann beginnt der grüne Todesgürtel.« Aylea blickte Josh an. »Was ist das?« »Hör ihm zu, er sagt dir alles«, meinte Josh und nickte Pete auffordernd zu. Pete berichtete: »Der Todesgürtel ist ein Dschungel, Aylea. Und zwar ein außerirdischer. Als es nicht gelang, in dieser Zone wieder die heimische Fauna und Flora anzusiedeln, hat man außerirdische Pflanzen und Tiere geholt. Sie wuchsen und gediehen prächtig und bilden so einen natürlichen Wall rund um Peking, den man weder von der einen noch von der anderen Seite durchdringen kann.« »Aber hat es denn nie jemand versucht?« »Sicher. Heute noch läuft alle halbe Jahre ein Idiot los, der glaubt, es schaffen zu können. Man hörte nie mehr was von ihm.« »Aber das bedeutet doch nicht, dass er nicht durchgekommen ist!« »Aylea, die meisten erreichen noch nicht einmal das Innere des Dschungels, sie scheitern schon am Rand. Es gibt dort Wesen, die du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst. Raubtiere, die so perfekt angepasst sind, dass du auf ihnen spazieren gehst, direkt in ihr geöffnetes Maul hinein. Pflanzen, die dich einschläfern, in ihre Kannenblüte befördern und dich langsam verdauen.« Aylea schauderte es. Sie glaubte nicht, dass Pete ihr etwas vorflunkerte. Von allen, die sie bisher getroffen hatte, machte er den vernünftigsten Eindruck. Also schied eine lange Wanderung von vornherein aus. Diese Hoffnung zerbarst, schmetterte sie aber noch lange nicht nieder. »Aber... warum...« »Ich erzähle dir etwas über Peking, Kind«, sagte Pete sanft. »Natürlich ist es nicht mehr die originale Stadt, das siehst du ja schon an den Gebäuden. Sie wurde auf dem ehemaligen
Terrain von Peking errichtet, mitten in einer strahlungsverseuchten Zone.« »Strahlungsverseucht? Aber...« »Höre weiter, Aylea. Die Stadt war von Anfang an als Getto geplant. Die strahlungsverseuchte Zone entstand durch die Zerstörung des Äskulap-Schiffes vor über zweihundert Jahren. Die ersten Outsider wurden vor rund einhundertfünfzig Jahren hier angesiedelt. Sie bauten die Stadt weiter auf. Zu ihrer Blütezeit, wenn ich das so ironisch bemerken darf, besaß sie fünfhunderttausend Einwohner. Heute sind es nur noch etwa fünfzigtausend, wenn auch wieder mit langsam steigender Tendenz.« »Wie kam es dazu?« »Die Strahlung. Sie verkürzte unser Leben drastisch, machte uns unfruchtbar, bewirkte Veränderungen, vor allem körperlicher Art. Am auffälligsten ist die Lethargie, wie du sie drüben bei unserem Sammler gesehen hast. Diese Menschen werden von Tag zu Tag weniger und verschwinden irgendwann, von ihnen bleibt nicht viel mehr als eine Hülle übrig. Dann gibt es natürlich noch die geistigen Erkrankungen, wie bei unserem Seher Horaz.« »Aber er hört wirklich Stimmen«, warf Josh ein. Pete nickte. »Das Seltsame ist, dass er auf unbekannte Weise tatsächlich Funksendungen empfangen kann, aber nicht entschlüsseln. Er interpretiert sie auf seine ganz eigene Weise, aber natürlich hat er nicht alle Sinne beisammen. Man kann nie wissen, wo das Quäntchen Wahrheit liegt.« »Und... wer ist hierher geschickt worden?«, fragte Aylea. »Am Anfang vor allem diejenigen, die politisch unbequem waren. Danach und heute sind es vor allem solche, die zu wenig Intelligenz besitzen.« Pete seufzte, als er Ayleas entsetzten Blick sah. »Es ist so, unsere Intelligenz wurde zwar erhöht, aber nicht bei allen. Diese werden als Dumme ausgesondert und hierher geschickt. Ein IQ von unter 125 ist
heutzutage nicht mehr akzeptabel. Bei manchen wirkt sich die Strahlung auch auf die Intelligenz fatal aus, sie werden möglicherweise wirklich dumm. Es wirkt bei jedem anders.« »Dann bin ich jetzt also auch verseucht?«, fragte Aylea besorgt. »Ja. Deswegen wollten die beiden Agenten dich ja gleich zur Kontrollstation bringen. Dort wirst du behandelt, um gegen die Strahlung resistent zu werden. Man nennt das konditionieren, und ich denke mal, aus gutem Grund. Diejenigen, die dort behandelt werden, kehren nie mehr zu uns zurück.« Pete erhob mahnend den Zeigefinger. »Halte dich davon fern, Aylea. Die Strahlung kann dir nicht so viel antun wie das, was dort mit dir geschieht.« Aylea lief ein weiterer kalter Schauer den Rücken hinunter. »Da habe ich ja gerade noch Glück gehabt...« »Sieht so aus.« Josh grinste. Pete drehte sich um und wies auf ein Terminal, das mindestens dreißig Jahre alt sein musste, wenn nicht älter. »Ich habe es aus verschiedenen Teilen zusammengebaut, aber leider funktioniert es nur sporadisch. Die Strahlung wirkt sich leider auch negativ auf die Technik aus. Wir wissen so gut wie nichts, was da draußen vor sich geht. Wir leben hier in unserer eigenen kleinen Welt, die, obwohl sie auf der Erde liegt, Millionen Lichtjahre entfernt ist.« »Und wenn wir einen Gleiter von diesen Patrouillenleuten klauen und uns absetzen?«, kam Aylea eine Idee. Sie war erstaunt, wie schnell sie sich mit dem Beruf des Diebes abgefunden hatte. Pete schüttelte den Kopf. »Sie sind sehr gut bewaffnet, die Leute perfekt ausgebildet. Sie fackeln nicht lange. Es gibt nur wenige Gleiter in der Stadt, und sie sind alle in der Hand dieser Leute im Untergrund, die sich niemandem zeigen, nicht einmal uns.« »Dann müssen wir sie eben finden«, fuhr Aylea hartnäckig
fort. »Ich will hier wieder raus, Pete, und das so schnell wie möglich. Ich werde nicht den Rest meines Lebens hier verbringen und Stück für Stück von mir verlieren. Bevor ich krank werde, muss ich weg. Ich will... ich muss etwas unternehmen! Jetzt erst recht!« Aylea verstummte, als sie die Blicke von Pete und Josh auf sich gerichtet spürte, fragend und zugleich mitleidig. »Du wirst niemanden finden, der mit dir geht«, sagte Josh. »Richtig, Pete?« Pete nickte. »Aber... das verstehe ich nicht!«, stammelte Aylea. »Ihr könnt doch nicht einfach dasitzen...« »Nichts anderes«, sagte Pete. »Wir haben keine Wahl. Josh und ich, wir wurden hier geboren. Wir wissen, wie es läuft. Wo sollen wir denn hingehen? Wir kennen deine Welt nicht. Man würde uns sofort als Outsider erkennen und wieder hierher bringen. Und um im Untergrund zu leben und sich nur nachts heimlich auf die Straße zu wagen, brauchen wir nicht in deine Welt zu gehen.« Ayleas Augen wurden feucht. »Aber ich gehöre hier nicht her. Ich... ich will hier nicht bleiben, das halte ich nicht aus! Wenn... wenn keiner von euch mitmacht, dann gehe ich eben allein!« Schluchzend rannte sie davon. * »Aylea!«, rief Josh ihr nach, aber sie achtete nicht auf ihn. Sie rannte an den Parzellen vorbei, sah das Elend, hörte das Brabbeln Halbwahnsinniger, fiel fast über langsam Dahinsiechende, die für einen einzigen Schritt Minuten brauchten. Als sie den Ausgang erreichte, beschleunigte Aylea und rannte durch die Straßen Ameritowns. Immerhin, sie war schon so gut trainiert, dass sie möglichst nah an den Häusern
vorbeilief, um sofort in Deckung gehen zu können. Vor Tränen konnte sie nur verschwommen sehen, aber das war in diesem Moment vielleicht sogar das Beste. Aylea konnte es nicht mehr ertragen - diese traurige Stadt, ihre Verbannung. Zwei Tage hatte sie sich tapfer zusammengerissen und versucht, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Aber nur deshalb, weil sie stets darauf gehofft hatte, dass es noch einen Ausweg gab. Es war einfach nicht zu fassen, dass die Menschen sich hier nicht zusammentaten und gemeinsam ausbrachen. Hundert oder mehr Leute konnten den gefährlichen Dschungel sicher bewältigen. Man mochte dort einen raschen Tod finden, aber war das nicht immer noch besser als ein Dahinsiechen in dieser heruntergekommenen, ebenfalls gefährlichen Stadt? Aylea verstand die Welt nicht mehr. Diese Menschen hier waren so ganz anders, fast wie Außerirdische. Nichts an ihnen war vergleichbar mit der Welt, aus der das Mädchen stammte. Ich gehöre hier nicht her, dachte Aylea zum wiederholten Mal, Niemals. Ich könnte es vielleicht eine Woche oder einen Monat aushalten, aber nicht länger. Ich muss hier weg! Irgendwann wurde sie müde. Sie wurde langsamer und blieb schließlich stehen, um nach Luft zu schnappen. Sie war blindlings kreuz und quer durch die Gegend gerannt. Wo sollte sie jetzt hin? Zurück in Joshs Höhle, auch wenn sie den Jungen eigentlich nicht mehr sehen wollte. Aber dort waren noch ihre Sachen, die nützlich sein konnten, wenn sie sich ab jetzt selbstständig machte. Zum Glück konnte Aylea sich auf ihr eidetisches Gedächtnis verlassen. Sie fand den Rückweg ohne Probleme. Dabei nahm sie einige Abkürzungen, um schneller zur Behausung zu kommen. Mit ein wenig Glück war Josh gar nicht dort, und sie brauchte sich nicht einmal zu verabschieden. Aylea fuhr zusammen, als sie ein schepperndes Geräusch
hörte. Vielleicht eine Ratte in einer Mülltonne... Die Ratten teilten das Exil mit den Menschen, sie gab es zuhauf. Menschen, Ratten und Kakerlaken. Die drei anpassungsfähigsten Kreaturen. Sonst hielt sich hier nichts. Josh hielt seine Behausung weitgehend rattenfrei, aber gegen die Kakerlaken konnte er nichts machen. Bisher hatten die sich allerdings zurückgehalten. Aylea hatte noch keine Bekanntschaft mit ihnen gemacht - zum Glück. Sie ekelte sich vor beiden Tierarten über alles. Die Strahlung hatte sie ebenfalls verändert, sie waren größer und hässlicher als die Abbildungen in Ayleas Zoologie-Unterlagen, aber wenigstens ziemlich scheu. Ja, bestimmt war es eine Ratte. Kein Grund zur Aufregung, sie konnte Aylea nichts tun. Doch dann sah sie einen Schatten um eine Hauswand herumkriechen. Eine... menschliche Gestalt! Ayleas Herz schlug bis zum Hals. Sie konnte sie jetzt hören, von allen Seiten. Schlurfende Schritte, klappernde Geräusche, wie von... Ketten? Und sie näherten sich Aylea immer mehr. Das muss eine Bande sein, dachte das Mädchen panisch. Was soll ich jetzt tun? Hätte sie nur nicht diese Abkürzung genommen! Ganz ahnungslos war sie mitten in die Falle getappt. Sie kamen immer näher. Aylea konnte nun schon einige magere, abgerissene Gestalten erkennen, die von Leitern herunterkletterten, aus Eingängen und Löchern hervorkrochen. Ihre Köpfe waren mit bunten Tüchern bedeckt, die Gesichter hinter großen dunklen Brillen verborgen. Keine Panik, keine Panik, sprach Aylea sich selbst Mut zu. Sie rief sich den Stadtplan wieder ins Gedächtnis. Ungefähr achtzig Meter weiter kreuzte die Hauptstraße. Aylea war eine gute Sprinterin, sie konnte es schaffen, wenn sie nicht zu lange
zögerte. Noch lag einiger Abstand zwischen ihr und den anderen. Die waren sich ihrer Sache wohl sehr sicher, weil sie sich so viel Zeit ließen. Vermutlich wollten sie diesen Moment, diese Abwechslung in ihrem eintönigen Leben auch so richtig auskosten und sich an der Angst ihres Opfers weiden. * Aylea warf sich herum und spurtete los. Sie rannte um ihr Leben. Hörte die wütenden Schreie hinter sich, das rasche Näherkommen trampelnder Füße. Vielleicht waren sie es nicht gewohnt, dass ein Opfer so schnell reagierte und noch nicht lethargisch war. Aylea rannte weiter, ohne sich umzudrehen, bog in die Hauptstraße ein, überquerte sie und zweigte in eine Nebenstraße ab. Von hier aus gab es eine Abkürzung über ein paar Zäune direkt zu Joshs Höhle. Josh hatte Aylea gezeigt, wie man am schnellsten über den verbogenen Maschendraht klettern konnte. Kaum hatte sie die Hindernisse hinter sich gelassen, bog sie noch zweimal ab und drückte sich dann in einen Hausgang, um nach Luft zu schnappen und festzustellen, ob sie noch verfolgt wurde. Niemand zu sehen. Natürlich, die Bande konnte auch abwarten, bis Aylea ihr wieder über den Weg lief. Man konnte sich hier nicht entkommen. Dann gehe ich eben in einen anderen Bezirk, dachte Aylea. Nach Chinatown oder so. Wenn ich geschickt bin, entdecken sie mich nicht so schnell. Als sie sich wieder erholt hatte und sich sicher war, dass ihr niemand folgte, ging Aylea ohne weiteren Umweg zu ihrem und Joshs Geheimplatz. Sie suchte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Die meiste Kleidung trug sie ohnehin bereits am Körper. Die
Taschenlampe konnte sie brauchen, ansonsten war so gut wie nichts von Nutzen. Egal. Sie würde schon etwas anderes finden. Sie hatte viel gelernt und war nicht mehr ganz so verloren wie zu Beginn. Sie wollte gerade gehen, als Josh herunterkam. »Was hast du vor?«, fragte er. »Ich gehe fort.« »Aber wohin?« Aylea hob die Schultern. »Was kümmert's dich?« Josh blinzelte verwirrt. »Was ist los mit dir, Schwesterchen? Ich dachte, wir wären ein Team!« »Sind wir aber nicht«, antwortete Aylea barscher, als sie beabsichtigt hatte. »Ich habe nicht vor, hier zu verrotten. Ich kann in meine Welt zurückkehren, dort kenne ich mich aus. Ich finde mich schon zurecht, und wie man nicht auffällt, habe ich ja hier gelernt. Aber hier halte ich es keinen Tag mehr aus.« »Das haben am Anfang viele gesagt, die hierher gebracht wurden. Irgendwann haben sie kapiert, dass es keinen Ausweg mehr gibt.« »Und das ist eben falsch!« Aylea wedelte mit der Taschenlampe, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Es gibt immer einen Ausweg, verstehst du? Immer!« »Und du willst ihn finden, ja? Ein kleines Mädchen!« »Spotte ruhig, aber ich kann denken, Josh. Ich brauche nur ein wenig Ruhe. Dann werde ich schon eine Lösung finden. Ich liebe nämlich mathematische Rätselspiele, weißt du? Schwere Kopfnüsse. Aber davon verstehst du nichts.« »Das brauche ich auch nicht. Ich bin bisher sehr gut zurechtgekommen.« Josh zog einen beleidigten Flunsch. »Ist vielleicht wirklich besser, wenn du abhaust, du fängst nämlich allmählich an, mir auf die Nerven zu gehen.« »Umso besser.« Aylea war zum Abmarsch bereit. »Kommst du noch mit rauf?«
Josh zuckte die Achseln. Dann nickte er. Schweigend kletterten sie auf die Straße zurück. »Ich finde, wir sollten uns nicht streiten, sondern Freunde bleiben«, bat Aylea. »Du musst einfach verstehen, dass ich gehen muss.« »Nee«, sagte Josh. »Versteh ich nicht. Aber ich wünsch dir trotzdem alles Gute. Wirst schon wissen, was du willst.« Er gab Aylea die Hand und hielt sie fest. Ungewöhnlich fest, wie Aylea fand, und unangenehm. »Willst du meine Hand zerquetschen? Lass los!«, verlangte sie. Doch da kamen sie schon um die Ecke. »Tut mir Leid, Schwesterchen«, sagte Josh. * Aylea blickte voller Panik um sich, suchte nach einem Fluchtweg, aber diesmal gab es keinen. Zudem hielt Josh sie immer noch fest. Sie starrte Josh ungläubig an. »Warum? Ich dachte, wir sind Freunde!« »Sind wir auch«, antwortete Josh. »Aber sie haben mich erwischt, als ich dir nachgelaufen bin. Entweder ich oder du, Schwesterchen, das war der Deal.« »Ich verstehe«, stieß Aylea bitter hervor. »So einfach ist das.« »Du warst es doch, die immer an einen Ausweg glaubt, oder?« »Aber nicht so einen! Ich hätte dich nie verraten. Wir hätten gemeinsam...« »Ruhe jetzt«, fuhr ein Mann dazwischen. Er packte Ayleas Arm und zog sie mit sich. »Halt die Klappe, Mädchen, und komm mit!« »Aylea!«, erklang Joshs Stimme hinter ihr, dann stieß er
einen keuchenden Laut aus, begleitet von einem dumpfen Geräusch. »Aylea, es tut mir Leid!«, ächzte er. Das Mädchen schwieg. Es hatte Mühe, mit dem Mann Schritt zu halten. Er hielt es so unbarmherzig im Griff, dass an Flucht nicht zu denken war. »Wo bringt ihr mich hin?«, fragte sie mit erstickter Stimme. »Zur Kontrollstation«, antwortete der Mann. »Du wirst uns eine hübsche Summe einbringen. Josh hat uns eine Menge über dich erzählt. Die können jemanden wie dich, vor allem, wenn er so jung ist, sehr gut brauchen.« »Nein!«, rief Aylea. »Nein, nicht dorthin!« Sie versuchte, sich zur Wehr zu setzen, strampelte mit den Beinen, versuchte in die Hand des Mannes zu beißen, aber vergeblich. Sie zerrten sie die Hauptstraße hinunter, und Aylea konnte bald das Gebäude sehen, vor dem sich auch diesmal Menschen drängten. Die Tür zu dem Gebäude öffnete sich und wurde wieder geschlossen. Aylea wollte nicht wissen, was darin war. Sie wollte um keinen Preis konditioniert werden. Plötzlich sackte sie zusammen, wurde ganz schlaff, wie eine Puppe. Der Mann wäre beinahe mit ihr gestürzt, so abrupt geschah dies. »Was ist denn jetzt?«, fragte er. Ein anderer meinte: »Die ist ohnmächtig geworden.« »Wir müssen sie zu sich bringen, sonst kriegen wir nur die Hälfte!« »Los, macht schon! Legt sie einfach auf die Erde und haut ihr ein paar runter! Da wird die schon wieder munter.« Darauf hatte Aylea nur gewartet. Der Griff lockerte sich, sie rollte sich blitzschnell herum, kroch zwischen den Beinen eines Mannes hindurch, sprang auf die Füße und rannte um ihr Leben. Doch sie kam nicht weit.
Sie prallte nach etwa zwanzig Metern auf einen Mann, der ihr unvermittelt den Weg vertrat. Er war groß und durchtrainiert, hatte dunkle blonde Haare und forschende blaugraue Augen. Aylea schluckte und starrte zu dem Mann hoch, während ihre Verfolger näher kamen. Jetzt oder nie, das wurde ihr schnell klar, sie musste alles auf eine Karte setzen. »Du... bist nicht von hier«, sagte sie langsam. »Genauso wie ich. Ich... ich könnte Hilfe brauchen...«
Epilog »Komm mit!« Cloud griff nach der Hand des Mädchens und zog sie zu dem gelandeten Luftkissengleiter, wo Sadakos Leute unmissverständlich zur Eile mahnten. Sie waren auf dem Weg zu ihrem Hauptquartier mit dem Stopp nicht einverstanden gewesen. Aber Cloud war wie sie Zeuge der Verfolgung eines kleinen Mädchens geworden und hatte auf seine Einmischung bestanden. Im Nachhinein war er dankbar für das überlegte Handeln Shen Sadakos, der nicht zufällig denselben Familiennamen wie der im Jahr 2041 amtierende neochinesische Kaiser trug. Er hatte ihnen - ihm und Scobee - eine Zellprobe entnehmen lassen, und die Analyse durch seine Spezialisten hatte zweifelsfrei den Unterschied zu den heute lebenden Menschen aufgezeigt. Er und Scobee besaßen alte Gene. In winzigen Details anders strukturiert als die der neuen Menschheit. Zweihundert Jahre sind eine lange Zeit, dachte Cloud, der das von Sadako Erfahrene noch längst nicht alles verdaut hatte. Und trotzdem schon danach dürstete, mehr zu erfahren. Viel, viel mehr.
Ihre Verfolger gaben auf, als sie erkannten, welche geballte Waffenkraft der Gleiter barg, auf den Cloud mit dem Mädchen zulief. Und wo nicht nur Scobee und Jelto ungeduldig auf ihn warteten. »Wie heißt du?«, fragte Cloud. »Aylea«, kam es scheu, mit tränenerstickter Stimme. »Ich bin John. Alles wird gut.« Das hoffte er wirklich. ENDE
BAD EARTH Die Begegnung wird nicht ohne Folgen bleiben. Endlich haben John Cloud und Scobee Kontakt zu Menschen erhalten, die ihnen mehr, wenn nicht alles, über die gegenwärtige Lage auf der Erde verraten können. Im kommenden Band blenden wir aber zunächst noch einmal um zu den GenTecs Resnick und Jarvis, deren Odyssee sie erneut an einen Ort verschlagen hat, wo sie
Fremde unter Fremden sind. Der Roman wurde grandios in Szene gesetzt von Michael Marcus Thurner.